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German Pages 496 Year 2014
Julia Herzberg Gegenarchive
1800 | 2000 Kulturgeschichten der Moderne | Band 11
Editorial Die Reihe 1800 | 2000. Kulturgeschichten der Moderne reflektiert die Kulturgeschichte in ihrer gesamten Komplexität und Vielfalt. Sie versammelt innovative Studien, die mit kulturwissenschaftlichem Instrumentarium neue Perspektiven auf die Welt des 19. und 20. Jahrhunderts erschließen: die vertrauten und fremden Seiten der Vergangenheit, die Genese der Moderne in ihrer Ambivalenz und Kontingenz. Dazu zählen Lebenswelten und Praxisformen in Staat und Gesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft ebenso wie Fragen kulturund sozialwissenschaftlicher Theoriebildung. Die Reihe weiß sich dabei einer Verbindung von strukturalistischen und subjektbezogenen Ansätzen ebenso verpflichtet wie transnationalen und transdisziplinären Perspektiven. Der Bandbreite an Themen entspricht die Vielfalt der Formate. Monographien, Anthologien und Übersetzungen herausragender fremdsprachiger Arbeiten umfassen das gesamte Spektrum kulturhistorischen Schaffens. Die Reihe wird herausgegeben von Peter Becker, Jane Caplan, Alexander C.T. Geppert, Martin H. Geyer und Jakob Tanner.
Julia Herzberg (Dr. phil.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Rachel Carson Center der Ludwig-Maximilians-Universität München. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die populare Autobiographik sowie die Wissenschafts- und Umweltgeschichte des Zarenreichs und der Sowjetunion.
Julia Herzberg
Gegenarchive Bäuerliche Autobiographik zwischen Zarenreich und Sowjetunion
Zugl. Diss. Universität Bielefeld WS 2010/2011 Die Publikation wurde gefördert mit Mitteln der DFG und des Deutschen Akademikerinnenbundes e.V.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Prolog | 7 1.
Gegenarchive und ihre Orte | 21
1.1 Bäuerliche Autobiographik und Historiographie | 21 1.2 Archivpraktiken | 65 Autobiographik in Presse und Publizistik | 85 2.1 Gelebte Leibeigenschaft, erzählte Sklaverei | 86 2.2 Ansichten eines Dichter-Lebens: Spiridon Drožžin | 116 2.3 Verlorene Söhne: Leben für die orthodoxe Kirche | 162 2.
Schreibaufrufe und Partizipation | 195 3.1 Verfolgte um des Glaubens willen: ›Sektierer‹ schreiben Bonþ-Brueviþ | 200 3.2 Lesen und Schreiben: Rubakins gesammelte Leben | 267 3.3 Pantheon der Besten: Jacimirskijs Talenteschau | 288 3.
Schreiben im Familienkreis | 317 4.1 Für die Familie: Dokumentierter bäuerlicher Alltag | 319 4.2 Schreiben als Familie: Konvention und Kommunikation | 370 4.3 Schweigen oder Verschweigen: Autobiographisches Schreiben von Bäuerinnen | 384 4.
5.
Resümee | 403
Quellen- und Literaturverzeichnis | 419 Schreibweisen und Datierung | 476 Verzeichnis der Abkürzungen | 477 Danksagung | 479 6.
Register | 481
Prolog
Heumarkt, St. Petersburg, Februar 1861. »He, Sie da!« Es ist ein Polizist, der mir hinterher ruft. Soll ich mich umdrehen? War der Ruf wirklich an mich gerichtet? Habe ich etwas falsch gemacht? – Die Hunde kläffen heiser. Ich bin nicht gemeint. Das, was wie ein Ruf klang, kam von dem braunen Köter, der über die Stände mit Kohl wacht. – Er meint mich!? Wenn ich mich umdrehe, gebe ich dann zu, dass ich es bin, den er hieß? – »He, Sie da.« Auf dem Heumarkt ist Gewühl. Die lautstarken Anpreisungen der Waren heben sich gegenseitig auf, verschlucken jedes Wort. Einzelne Stimmen erzeugen Stimmengewirr, viele Stimmen sind ein Rauschen. Niemand hört. In den Abfällen balgen sich zwei Katzen.
Was hier als Momentaufnahme auf einem Petersburger Markt erscheint, ist einer Szene nachempfunden, die Louis Althusser als Anrufung (interpellation) bezeichnet hat.1 Ein Polizist ruft einem Passanten hinterher, der auf vielerlei Art und Weise reagieren kann. Er kann den Ruf ignorieren, er kann ihn überhören, er kann erst auf eine andere Form der Anrufung reagieren. Er kann darauf bestehen, nicht angesprochen worden zu sein. Oder er kann sich umwenden, weil der Ruf ihn gemeint hat. Der Passant kann nur annehmen, dass sein Name gerufen wurde, tatsächlich hat eine schwindsüchtige Marktfrau gehustet. Oder das, was wie ein Name klang, kam von einem schlecht geölten Wagen, der ein seltsames, dem eigenen Namen ähnliches Geräusch hervorbrachte.2 Die imaginierte Szene verweist auf die Etymologie des Wortes Subjekt. Das Subjekt wird erst durch die Annahme und Ablehnung der von außen an es herangetragenen kulturellen Regeln zum gesellschaftlichen Wesen. Intersubjektivität geht der Subjektivität voraus; erst die Anrufung macht den Angerufenen in seiner Reak-
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Althusser, Ideologie, 142-148.
2
Butler, Subjektivation, 91; Butler, »Das Gewissen macht Subjekte aus uns allen«; Scharmacher, Wie Menschen Subjekte werden.
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tion zum Subjekt. Das Benennen kann jedoch, wie Althusser betont, nur ein Versuch sein: Das Rufen kann vergeblich sein, missachtet oder nicht gehört werden. Der Angerufene kann sich umdrehen, obwohl niemand seinen Namen rief.3 Die Stereotypen und Bilder, welche die gebildete Elite zwischen der Bauernbefreiung 1861 und den 1890er Jahren auf Bauern und Bäuerinnen des Zarenreichs projizierte, lassen sich als solche Anrufungen verstehen. Ihnen ist Cathy A. Frierson in einer diskursgeschichtlich angelegten Arbeit nachgegangen.4 Die meist an städtischen Schreibtischen entstandenen Imaginationen bildeten – so Frierson – eine vielfarbige Ikonostasis, auf denen der mužik und die baba in ihrer angeblichen identitäts- und individuumslosen Passivität erschienen oder hingegen als aktiv, aber egoistisch gezeichnet wurden. Dabei – so vermag Frierson eindrucksvoll zu zeigen – hing die Frage nach dem Wesen des Bauern eng mit der prognostizierten oder erwünschten Entwicklung Russlands zusammen.5 In den 1880er Jahren wurden die vor allem in fiktiven Erzählungen und Besinnungsaufsätzen gewonnenen Urteile durch empirische Beobachtungen abgelöst. Ethnologen, Geographen und Soziologen strömten in die Dörfer, betrieben Feldforschung, vermaßen Landstriche, erstellten Statistiken und füllten Formulare aus.6 Mitunter nahmen die Beobachteten selbst den Stift zur Hand, gaben am Leitfaden eines Fragenkatalogs oder anhand der Chronologie ihres Lebens eine Antwort auf das Rätsel, wer der ›russische Bauer‹ sei. Sie erzählten ihre Leben und verstrickten sich dabei auch in die Imaginationen der Besitz- und Bildungseliten. Meine Studie zur bäuerlichen Autobiographik schließt inhaltlich und zeitlich an die Arbeit von Cathy A. Frierson an. Anders als Frierson, der es vor allem um den Wandel des Bauernbilds abseits der dörflichen Welt ging, stelle ich nicht das Sprechen über den Bauern in den Mittelpunkt.7 Das vorliegende Buch zeichnet erstmalig die Übereinstimmungen, Erweiterungen und Konflikte zwischen Selbst- und
3
Judith Butler weist darauf hin, dass die Anrufung auch als Imagination des Angerufenen
4
Frierson, Peasant Icons. Ähnlich die Arbeit von Jeffrey Brooks für die frühe Sowjetunion,
funktionieren kann. Butler, Subjektivation, 91. in der er das Aushandeln von Biographiemustern in der Parteipresse untersucht. Brooks, Revolutionary Lives. 5
Mit Nennung der männlichen Funktionsbezeichnung ist in diesem Buch, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer auch die weibliche Form mitgemeint.
6
Bradley, Subjects into Citizens; Holquist, To Count; Smith-Peter, Defining Russian People; Kingston-Mann, Statistics.
7
Weitere Studien über den Wandel des Bauernbilds in Literatur, Kunst und Geschichtswissenschaft: Fanger, The Peasant in Literature; Petrovich, The Peasant in NineteenthCentury Historiography; Donskov, The Changing Image; Zink, Wie aus Bauern Russen wurden.
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Fremdverortung aus der Perspektive der Bauern nach. Versucht man Friersons und meine Studie mithilfe des von Althusser vorgeschlagenen Bilds zu unterscheiden, so spürt Frierson den Rufen des Polizisten nach, der in Althussers Schlüsselszene der Anrufung nicht zufällig als Polizist erscheint und neben der Sprache auch noch andere Mittel besitzt, um jemanden zum Umdrehen zu bewegen. Ich hingegen interessiere mich für den Angerufenen in der Reaktion seines Umwendens. In diesem Buch geht es um die Art und Weise, »Hier bin ich!« zu sagen – eine Aussage, in der die Frage »Wer bist du«? noch nachklingt. Bäuerliche Autobiographik wird in dieser Studie als Ergebnis einer komplexen Kommunikationssituation gelesen, wie sie sich in der Szene zwischen Polizist und Passant anekdotisch verdichtet. Eine Autobiographie oder ein Tagebuch sind, so meine Annahme, dem Umwenden nach einer Anrufung verwandt. Sie sind keine Monologe in leeren Räumen. Sie sind Teil einer Interaktion, bei der sich Rufender und Angerufener erkennen lassen. Mitunter verbergen sie sich hinter Institutionen oder in Lektüren. Manchmal ist es Verwandtschaft oder es sind Freundschaftsbande, die ein Netz zwischen ihnen spannen. Die Gründe, sich im Schreiben eines autobiographischen Texts umzuwenden, können über ein »Hier bin ich!« hinausgehen. Sie speisen sich aus der Sehnsucht, wahrgenommen zu werden, zu sprechen und dabei die eigene Stimme zu hören, oder dem, der rief, auf Augenhöhe ins Angesicht zu schauen. Das Ziel meiner Arbeit ist es, im Blick auf bäuerliche Autobiographik das Bild des russischen Bauern zu erweitern. Statt weiterhin ein Bauernbild zu zeichnen, das sich zwischen grau und rosarot, Phlegma und Gewalt bewegt, möchte ich die Wahrnehmung für bisher Übersehenes schärfen.8 Um die Vielfalt der Selbstverortungen sichtbar zu machen, habe ich bei der Quellenauswahl keine sozialhistorischen Kriterien angelegt. Statt struktureller Merkmale, die im Vorhinein benannt haben würden, wer ein Bauer sei und wer nicht als solcher gelten könne, berücksichtige ich bei der Zusammenstellung des Quellenkorpus die Selbstzuschreibungen. Nur so lässt sich zeigen, dass Sozialstruktur auch diskursiv erzeugt wird und wie Autobiographen sich in dieser verorten. Dieses Vorgehen enthüllt nicht nur die Vorstellungen, die sich die Autobiographen von der gesellschaftlichen Struktur der Wirklichkeit machten, sondern gestattet in einem nachfolgenden Schritt auch die Frage, wie die Schreiber mit ihren Selbstdeutungen zu Stabilität und Wandel der sozialen
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Die Studie von Pipes steht beispielhaft für eine sich nur langsam verlierende Sicht, die mit den Bauern im Zarenreich vor allem das Fehlen persönlicher Identität, Egoismus und Fatalismus verbindet. Für Pipes ist der russische Bauer ein »primitiver Mensch«, der durch seinen Anarchismus für die Oktoberrevolution verantwortlich zeichnet: Pipes, Russland vor der Revolution, 163-164.
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Ordnung beitrugen.9 Zudem lassen sich durch diese Vorgehensweise jene Zuschreibungen hinterfragen, mit denen Personen und Institutionen wie Historiker und Archive diese Texte als bäuerlich klassifizierten. Eine Bäuerin oder ein Bauer ist in dieser Arbeit zunächst einmal jede und jeder, der sich selbst in seinem Tagebuch oder in ihrer Autobiographie als krest’janka oder krest’janin, baba oder mužik, als Leibeigene (krepostnaja) oder Leibeigener (krepostnoj) vorstellt.10 Die Selbstbezeichnung steht an erster Stelle, unabhängig davon, ob sie noch mit der Ständekategorie krest’janstvo oder einer ländlichen und dörflichen Lebenswelt übereinstimmt, ob sie die einzige Form der Selbstbeschreibung ist oder neben anderen steht.11 Dass nach der Bauernbefreiung 1861 die Ständeordnung vor allem für die sich zwischen Stadt und Land bewegenden Bauern erodierte, haben Arbeiten zum Ständerecht und zur sozialen Mobilität nachgewiesen.12 Welche Auswirkungen aber die Freisetzung aus vorgegebenen Rollen auf die Selbstinszenierungen und das Selbstverständnis der Bauern hatte, ist bisher noch nicht untersucht worden. Ich gehe im Unterschied zu sozialgeschichtlichen Arbeiten offen vor und reduziere Identität nicht auf Ursprung, Wesen und Einheit, sondern betone die Entstehung des Selbstbilds im kommunikativen Prozess.13 Ein solches Vorgehen erlaubt einerseits, das in den Semantiken fassbare Übergleiten in gebräuchliche Kategorien wie Kleinbürger (mešþanin), Kaufmann (kupec) oder Arbeiter (raboþij, truženik) zu erkennen, andererseits, auch alternative Selbstzuschrei-
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Gergen, Das übersättigte Selbst, 43.
10 Der russische ›krest’janin‹ und die russische ›krest’janka‹ verweisen etymologisch auf ihren christlichen Glauben, während der englische ›peasant‹ oder der französische ›paysan‹ auf ihre vorchristlichen Wurzeln rekurrieren. Haruki, The Inner World, 61-62. 11 Den Selbstverortungen von Wanderarbeitern spüren in ihren Studien James von Geldern und Mark D. Steinberg nach. Vor allem von Geldern betont die transitorische Identität der sich zwischen Stadt und Dorf bewegenden Wanderarbeiter. Von Geldern, Life InBetween; Steinberg, Proletarian Imagination. Dass die Ständekategorie Bauer nicht zwangsläufig mit landwirtschaftlicher Arbeit verbunden war, betonen zahlreiche Arbeiten zur russischen Ständeordnung. Wirtschafter, Social Identity, 102; Moritsch, Landwirtschaft, 13-14. 12 Hildermeier, Ständeordnung; Schmidt, Ständerecht. 13 Dass ein struktureller, sozialhistorischer Begriff von Identität zu kurz greift, verdeutlicht das von Ricœur angeführte Beispiel eines Prinzen, der in einen Flickschuster verwandelt worden ist. Statt sich auf eine der Identitäten festzulegen, plädiert Ricœur dafür, den Zusammenprall entgegengesetzter Identitätskriterien ernst zu nehmen. Es sei unentscheidbar, ob der Flickschuster noch der Prinz ist, der er in seiner Erinnerung zu sein vermag, oder ob die Zuschreibungen der anderen, die ihn ihm nur den Flickschuster erkennen können, wichtiger sind. Ricœur, Personale und narrative Identität, 157.
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bungen wie Sklave (rab), Autodidakt (samouþka), Naturtalent (samorodok) oder Leser (þitatel’) zu entdecken. Es verweist auf die »hartnäckigen Klumpen« kultureller Identifikation, wie sie in Wortverbindungen wie Bauernpoet (poơtkrest’janin), Bauernarbeiter (krest’janin-rabotnik) oder aber auch Bauernastronom (krest’janin-astronom) augenscheinlich wird.14 Zudem zeigt dieses Vorgehen deutlich, wie das Inanspruchnehmen einer Position im sozialen Raum zu einer Sprecherlaubnis werden kann. Sie wird je nach Kontext, Adressat und Schreibform gewählt. Das autobiographische Schreiben von Bauern wird damit zum Indikator für nicht mehr in klare Kategorien zu fassende Zugehörigkeiten. An den semantischen Verschiebungen wird ein Zugewinn an Wahlmöglichkeiten sichtbar. Die nachlassende Bedeutung der Ständekategorie korrespondiert mit der Chance und dem Zwang, sich in oder auch abseits der Herkunftsgemeinschaft zu verorten. Hinter den Semantiken der Selbstbeschreibung eröffnen sich Zwischenräume zwischen Dorf und Stadt. Statt Dorf und Stadt, Bauern und Gebildete einander antagonistisch gegenüberzustellen, lassen sich anhand bäuerlicher Autobiographik die Bewegungen, Berührungspunkte und Verflechtungen zwischen bäuerlichen und städtischen Kulturen aufzeigen, ohne Eigenheiten zu negieren.15 An den autobiographischen Texten zeigt sich, dass sich die Lebensweise in Stadt und Dorf nicht auf eine Reihe von Dichotomien reduzieren lässt. Die autobiographischen Texte der Bauern im ausgehenden Zarenreich und der frühen Sowjetunion ähneln einem Treppenhaus. Sie erlauben Bewegungen zwischen den Zuschreibungen. Sie spiegeln und ermöglichen soziale Mobilität und werden darin zum Ausdruck und Mittel zwischen den Identitätsbestimmungen. Es wird daher gefragt, inwieweit Adressaten und Leser die Selbstverortungen akzeptierten und ob es den Bauern gelang, sich dauerhaft und erfolgreich in Gruppen einzuschreiben und Bindungen zu bestätigen. Überwiegt in den autobiographischen Erzählungen der Bauern die situative Logik oder glückte es ihnen, in der sich stark wandelnden russischen Gesellschaft zeitstabile Identitätsentwürfe zu etablieren?16 Autobiographisches Schreiben ist eine Form, durch die sich die Bauern und Bäuerinnen Identitäten erschrieben, indem sie sich in einem Repertoire von Narrativen verorteten. In ihren Aufzeichnungen positionierten sie sich zu bestehenden
14 Die postkoloniale Theorie plädiert auf sehr anregende Weise dafür, beim Fragen nach kultureller Identifikation Ambivalenzen sichtbar zu machen. Reflexionen über hybride Bindestrichidentitäten bei: Bhaba, Die Verortung der Kultur, 327. 15 Es gibt zahlreiche Studien, die die Kluft zwischen den Eliten und den Bauern stark betonen. Beispielhaft: Heretz, Russia. 16 Der Soziologe Hartmut Rosa beschreibt, wie in beschleunigten Gesellschaften das biographische Sprechen vermehrt einer situativen Logik folgt. Rosa, Beschleunigung, 371.
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Identitätsangeboten, eigneten sich bereits vorhandene Narrative an und führten diese fort, so wie sie unpassende ver- und neue entwarfen. Im Schreiben eines Tagebuchs oder einer Autobiographie bestätigten die Autoren ihre Bindungen, setzten sich von ihren Herkunftsmilieus ab oder schrieben sich in neue Gruppen ein.17 Identitäten sind narrative Konstruktionen. Sie erweisen sich – dies wird ein zentraler Punkt in dieser Studie sein – als Orte ohne feste Grenzen. Sie werden performativ hervorgebracht, sei es in dem Umdrehen nach einem Ruf, sei es durch das Verfassen einer Autobiographie. Besonders gut sichtbar werden die Prozesse des Einschreibens in den Momenten ihres Versagens und Haperns, in Augenblicken, in denen die Vorstellung einer kohärenten und stabilen Identität erschüttert wird.18 Der Einbruch der Lebenswelt, der die Autobiographen über die Stricke ihrer Erzählung straucheln lässt, ist besonders gut dort abzulesen, wo frühere Formen des Schreibens nicht mehr funktionieren, neue Elemente hinzukommen, anderes beiseite gelegt wird. Es zeigt sich besonders häufig bei jenen Bauern, die für unterschiedliche Adressaten geschrieben haben, die im Familienkreis und zugleich für eine große Leseöffentlichkeit ihre Tagebücher und Autobiographien verfassten oder denen nach 1917 die Bol’ševiki ihre vertrauten Selbstbilder und damit auch ihre bisherigen Schreibformen streitig machten. Die Möglichkeiten des Sagbaren – dies hat eine Vielzahl von Studien gezeigt – schrieben auch an Autobiographien und den Tagebüchern mit.19 Während Jochen Hellbeck und Igal Halfin eindrücklich die Wirkmächtigkeit eines Diskurses in den Mittelpunkt gestellt haben, möchte ich in meiner Arbeit den Blick auf die Vielfalt der Schreibformen lenken.20 Sie ging nach 1917 keineswegs in Einheitlichkeit auf. Der Blick auf Vielgestaltigkeit, Ambivalenzen und Widersprüche erlaubt es, autobiographisches Schreiben als soziales Handeln zwischen mehreren Akteuren und Akteursgruppen fassbar zu machen.21 Statt die Dominanz eines Diskurses nachzuzeichnen, der sich zwischen einer anonym bleibenden Macht und dem Einzelnen entfaltet, untersuche ich in dieser Arbeit kleinere Beziehungsnetze.22 Ihr Zusam-
17 Grundlegend für meine Ausführungen ist das Konzept der narrativen Identität von Ricœur und Somers: Somers, The Narrative Constitution; Ricœur, Personale und narrative Identität. 18 Žižek, Jenseits der Diskursanalyse; Stäheli, Poststrukturalistische Soziologien, 57. 19 Steinmetz, Das Sagbare; Landwehr, Geschichte des Sagbaren; Foucault, Die Ordnung des Diskurses. 20 Hellbeck, Revolution on My Mind; Halfin, Terror in My Soul. 21 Bourdieu, Was heißt sprechen, 41, 144-145. 22 Sandra Dahlke hat in ihrer Biographie zu Emel’jan Jaroslavskij eindrucksvoll gezeigt, dass die stalinistische Ideologie innerhalb von Beziehungsnetzen entstand. Sie unterzog damit auch die Arbeiten von Halfin und Hellbeck einer Kritik, die die Zusammenhänge
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menhalt beruhte nicht allein auf ungleichen Machtrelationen, sondern auf zwischenmenschlichen Kontakten, Freundschaft und Verwandtschaft.23 Der Kitt, der diese Gruppen zusammenhielt, entstand mit und im Schreiben. An den Beziehungsnetzen lässt sich zeigen, dass die Autobiographieforschung verliert, wenn sie wie Halfin und Hellbeck nur einen restriktiven Diskurs in das Zentrum ihrer Betrachtung stellt und Differenzen als »vormodern« abtut.24 Autobiographisches Schreiben ist das Resultat von kollektiven wie individuellen Aneignungsprozessen, es ist selbst für die Zeit des Stalinismus kein ungebrochener Spiegel verinnerlichter, sowjetischer Werte.25 Möglicherweise erlaubt gerade der Blick auf die konkreten, mitunter wechselnden sozialen Beziehungen, in denen autobiographisches Schreiben steht, das Verhältnis zwischen Freiheit und Notwendigkeit neu zu bewerten. Auch in den 1930er Jahren konnte durch autobiographisches Schreiben gehandelt werden. Das Schreiben und Adressieren, Sammeln und Archivieren bäuerlicher Autobiographik lässt sich selbst für die Zeit des Stalinismus nur unvollständig in der Dichotomie von Opfern und Tätern beschreiben. Die Arbeit zeigt auf drei Ebenen anhand konkreter Personen und Gruppen, wie Bedeutungssysteme hergestellt wurden, in denen Bauern über ihr Leben sprechen konnten und die es erlaubten, dass sie von ihren Angehörigen, aber auch außerhalb des Familienkreises gehört, ihre Lebensbeschreibungen bewahrt, gesammelt und bis heute überliefert wurden. Statt Praxis und Diskurs gegeneinander auszuspielen, soll die Spannung zwischen den beiden ausgeleuchtet werden. Ausgehend von
zwischen Diskurs, Herrschaft und Intention weitgehend leugnen. Dahlke, Individuum und Herrschaft, 26. 23 Aufgrund mangelnder Überlieferung haben vor allem Forschungen zur Frühen Neuzeit Quellen von Autobiographen benutzt, deren Stimme die Konfrontation mit der Macht in ihrer Funktion als Polizei, Justiz und Irrenanstalt hörbar machte und auch bewahrte. Winfried Schulze hat versucht, diesen Umstand auch begrifflich zu fassen. Seine Definition des Ego-Dokuments schließt Verhörprotokolle ausdrücklich mit ein. Foucault, Das Leben der infamen Menschen, 16-27; Schulze, Ego-Dokumente, 21. 24 Hellbeck, Revolution on My Mind, 62-63. 25 Welskopp, Sprache und Kommunikation, 2. Lesenswerte Kritiken der ›SovietSubjectivity-Forschung‹, die unter dem Begriff vor allem die Arbeiten Jochen Hellbecks und Igal Halfins fassen, finden sich bei Naiman, Griesse, Fitzpatrick und Schattenberg. Sie bemängeln das Ausblenden der horizontalen Bezüge, in denen das Subjekt steht, und die Überzeichnung eines autonomen, implizit überhistorischen Diskurses. Naiman, On Soviet Subjects; Griesse, Kommunikation und Kritik, 1-2; Fitzpatrick, Becoming Soviet, 6-9; Schattenberg, Stalins Ingenieure, 19. Siehe auch meine Rezensionen zu den Arbeiten von Hellbeck und Halfin. Herzberg, Rezension zu: Halfin, Intimate Enemies; Herzberg, Rezension zu: Hellbeck, Revolution on My Mind.
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einzelnen diskursiven Praktiken und den ihnen zugehörigen Kommunikationsräumen wird der Autobiograph in dieser Studie als Akteur seines (Schreib-)Handelns betrachtet, ohne ihn damit gleichzeitig zum allgewaltigen Souverän seines Schreibens zu machen. Anhand von drei Kommunikationsräumen soll das wechselseitige Verhältnis von Erinnern und Schreiben, Adressieren und Überliefern beleuchtet werden. Dabei schließt der Begriff des »Kommunikationsraums« sowohl an einen konkreten als auch einen metaphorischen Raumbegriff an.26 Presse und Publizistik, Autobiographieprojekte sowie autobiographisches Schreiben im Familienkreis waren Orte, wo Kommunikation stattfand und die sich gleichfalls durch Kommunikation und ihre zugehörigen Semantiken und Praktiken konstituierten. Ein Ziel der Studie ist es, die Grenzen zwischen diesen drei Kommunikationsräumen herauszuarbeiten. Herrschten in ihnen verschiedene Semantiken, Diskurse und Codes, die außerhalb der jeweiligen Räume nicht galten oder eine andere Bedeutung hatten? Wie wurde in diesen drei Räumen über Lebenswege und damit auch über soziale Ordnung und Machtverhältnisse geschrieben? Inwieweit wirkten die Räume auf das zurück, was im Tagebuch oder der Autobiographie vermerkt werden konnte? Wem gelang es in diesen Räumen, seine Definition von Wirklichkeit durchzusetzen?27 Die drei Kommunikationsräume waren mit verschiedenen Vorstellungen von biographischem Erfolg verbunden, die die Lebensführung, aber auch das Schreiben und Sprechen über eigenes und fremdes Leben beeinflussten. Diese Studie ist somit auch ein Beitrag zu einer Ideen- und Diskursgeschichte des sozialen Erfolgs in Russland. An der bäuerlichen Autobiographik lässt sich herausarbeiten, wie sich die Vorstellungen von sozialer Mobilität und biographischem Gelingen zwischen Bauernbefreiung und Kollektivierung veränderten.28 Die Studie zeigt, wie die Verfasser autobiographischer Texte versuchten, durch ihr Schreiben Anspruch auf Mitsprache anzumelden und biographischen Erfolg zu erringen. Durch autobiographisches Schreiben wurden Handlungen vollzogen, die mehr umfassen als über das eigene Leben zu berichten. Besonderes Augenmerk wird auf den Inklusions- und Exklusionsprozessen liegen, die diese Kommunikationsräume erst hervorbrachten: Nicht in jedem der drei Räume konnte auf die gleiche Weise als ›Bauer‹ über sich geschrieben werden. Um über sich zu sprechen und mit seinem Text überliefert zu werden,
26 Mein Begriff des »Kommunikationsraums« schließt methodisch an die Überlegungen des Bielefelder Sonderforschungsbereich 584 »Das Politische als Kommunikationsraum in der Geschichte« an. Mergel, Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Politik; Frevert, Politische Kommunikation und ihre Medien, 11-13; Frevert, Neue Politikgeschichte. 27 Landwehr, Diskurs – Macht – Wissen, 108-109. 28 Neckel, Erfolg. Siehe auch die Studie von Cawelti über die Erfolgsvorstellungen in den Vereinigten Staaten: Cawelti, Apostles of the Self-Made Man.
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mussten verschiedene Zugangserfahrungen vorgezeigt und durch bestimmte Selbstbezeichnungen an kollektive Identitäten angeknüpft werden, die immer auch für eine bestimmte Vorstellung von Wirklichkeit und sozialer Ordnung standen.29 Adressieren, sammeln und archivieren Die autobiographischen Texte russischer Bauern und Bäuerinnen stehen in dieser Arbeit in ihrem Gemachtwerden im Mittelpunkt. Ich lese sie als eine Struktur von Praktiken, Techniken und Institutionen, die ihre Adressierung, Speicherung und ihren Gebrauch erlaubten. Dieses Zusammenspiel ermöglichte Erfahrungen, präformierte ihre Niederschrift und wirkte auf die Überlieferung zurück. Um die Faktoren nachzuzeichnen, welche die Überlieferung bäuerlicher Erfahrungen förderten, behinderten oder als bäuerlich etikettierten, werden mit ›Adressierung‹, ›Sammeln‹ und ›Archivierung‹ drei Aspekte in den Mittelpunkt gestellt, die bisher unterbelichtet sind. Eine wichtige Frage aus den frühen postcolonial studies wird hier aufgegriffen und neu gestellt. Statt allein zu fragen, ob Subalterne überhaupt sprechen können, wird durch den Einbezug der Sammel- und Archivierungspraktiken gezeigt, welche Praktiken das Hören subalterner Stimmen ermöglichten oder verhinderten.30 Die Orte und Praktiken der Überlieferung erweisen sich als blinder Fleck der Autobiographieforschung, die allzu oft das Vorhandene für das Gewesene hält und Schwerpunkte sowie Lücken in den Archivregalen nur selten hinterfragt.31 Die Überlieferungsbedingungen ähneln der Straße, auf der sich Rufender und Angerufener befinden. Sie wirken nicht nur auf die Hörbarkeit des Rufs zurück, sondern auch auf das, was als Antwort ertönt. Sie entscheiden über die Flüchtigkeit eines Moments. ›Adressierung‹, ›Sammeln‹ und ›Archivierung‹ sind, so meine These, eng mit den heute lesbaren Selbstverortungen, Deutungsmustern und Schreibweisen verflochten. Im Nachzeichnen dieser konkreten Praktiken lassen sich die gegenseitigen Abhängigkeiten zwischen der Geschichtlichkeit von Texten, zu der in einem elementaren und materiellen Sinn eben auch die Überlieferung gehört, und der Textualität von Geschichte aufzeigen. Der Aspekt der ›Adressierung‹ erlaubt es, sich von einer formalen Gattungsbestimmung zu verabschieden und Tagebücher und Autobiographien unter dem gemeinsamen Oberbegriff der Autobiographik zu fassen. Die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen fast täglichem und rückblickendem Schreiben lassen sich
29 Stichweh, Inklusion und Exklusion, 39. 30 Guha, Vertreter der subaltern studies, hat in Anlehnung an den frühen Foucault das Verhältnis von Wissen und Macht aufgegriffen, indem er danach fragte, was Archive seien und wer sie hergestellt habe. Guha, The Prose of Counter-Insurgency; Chakrabarty, A Small History of Subaltern Studies, 478-479. 31 Herzberg, Russische Trojaner; Esch, Überlieferungs-Chance.
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als Ausdruck sozialer Beziehung begreifen. Dass die überlieferten autobiographischen Texte aus Beziehungsnetzen hervorgehen, offenbart auch das Augenmerk auf ›Sammeln‹ und ›Archivieren‹. Die autobiographischen Texte, die in Bauernhütten, Museen, Handschriftenabteilungen und Bibliotheken aufgespürt werden können, sind die Erträge gelungener Adressierung und Zusendung. Nur selten kann ihr Bleiben dem bloßen Zufall in Rechnung gestellt werden. Keineswegs ist das Hinaufgelangen eines Tagebuchs auf ein Archivregal die zwangsläufige Apotheose bäuerlichen Schreibens. Die Frage, die dem Sprechen vorangeht, ist die Frage nach dem Zuhören. »Warum nicht wegwerfen?« folgt dem Schreiben nach. Wie kommt es, dass mitunter recht unansehnliche Kladden einen Erben fanden? Was prädestinierte gerade jene 300 bäuerlichen Lebensgeschichten, die das Quellenkorpus dieser Arbeit bilden, dazu, bewahrenswerte Zeichen zu werden? Was und wer hielt ihr Verschwinden auf? Wie wirkten die Überlieferungswege auf die heute hörbaren Stimmen zurück? Wie beeinflussten die Stimmen in den Schriftstücken den Weg, den sie zur Quelle nahmen?32 Diesen Fragen und Überlegungen geht die Arbeit in vier Kapiteln nach. Das erste Kapitel lotet die Interdependenzen zwischen Entstehung und Überlieferung aus. In einem ersten Schritt stelle ich hier Forschungen zu bäuerlicher Autobiographik aus Russland vor. Dabei wird auch dargelegt, an welchen Punkten sie mit der deutschsprachigen Autobiographieforschung übereinstimmen oder abweichen. Besonderes Augenmerk gilt Begriffen wie ›Authentizität‹, ›Zeugnis‹ und ›Zeuge‹, mit denen seit der Entdeckung bäuerlicher Autobiographik in der Mitte des 19. Jahrhunderts die Bildungseliten ihre Zuwendung zu den Texten der Unterschichten begründeten. Der autobiographischen Texten zugeschriebene Zeugnischarakter leitete in Russland und der Sowjetunion nicht nur ihre Lektüre, sondern bestimmte auch ihre Archivierung und Überlieferung. In einem zweiten Schritt wird die Wahl des Untersuchungszeitraums erläutert sowie die Quellen vorgestellt, die dieser Arbeit zugrunde liegen. Im Anschluss daran steht eine Topologie der Aufbewahrungsorte bäuerlicher Autobiographik, die nicht nur die begrenzten Beobachterpositionen und Erkenntnismöglichkeiten heutiger Historiker und Literaturwissenschaftler problematisiert, sondern auch auf die Entstehungsbedingungen autobiographischer Texte verweist. An ihnen lassen sich die Kommunikationen, Netzwerke und der Gebrauch ablesen, welche die Überlieferung von Tagebüchern und Autobiographien bestimmten. Ich werde die Gründe darlegen, warum in dieser anfänglich als Lokalstudie zum russischen Norden entworfenen Arbeit die Frage nach den konkreten Orten, an denen Bauern zum Stift griffen, in den Hintergrund getreten ist.
32 Sehr anregend sind die Überlegungen Didi-Hubermans über das »durchlöcherte Wesen« des Archivs. Er plädiert für ein Nachdenken über dessen Lücken: Didi-Huberman, Das Archiv brennt, 30.
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Stattdessen stehen nun Kommunikationsräume im Zentrum, in denen über Autobiographien kommuniziert wurde oder die mitunter erst durch die Lebensbeschreibungen entstanden. Die auf diese grundlegenden Überlegungen folgenden drei Kapitel stellen die Kommunikationsräume – Presse und Publizistik, Autobiographieprojekte sowie Familienkreis – vor, in denen autobiographisches Schreiben zwischen Bauernbefreiung und Kollektivierung praktiziert wurde. Das zweite Kapitel rekonstruiert die soziale Dimension der Textproduktion bäuerlicher Autobiographik. Es fragt nach den publizierten Autobiographien, die seit der Bauernbefreiung vermehrt in den neuen historischen Zeitschriften, ›dicken Journalen‹ und der kirchlichen Presse erschienen. Während ehemalige Leibeigene sich mit ihrer Lebensgeschichte in eine globale Gemeinschaft der Unfreien einschrieben, bestärkten andere Bauern mit ihrer Erzählung ihre Bindungen zur Intelligencija oder zur orthodoxen Kirche. Die Autobiographien ehemaliger Leibeigener werden zu Beginn des Kapitels im Mittelpunkt stehen. Ihnen gelang es wenige Jahre nach der Bauernbefreiung, ihre Lebensgeschichten einem größeren Lesepublikum zu präsentieren. An ihren autobiographischen Texten wird gezeigt, wie sie die Erfahrung der Leibeigenschaft als Sprecherlaubnis nutzten, um über sich und ihr Leben zu sprechen. In den 1880er Jahren trat eine neue Gruppe bäuerlicher Autobiographen auf, die nicht mehr auf die Erfahrung der Leibeigenschaft rekurrierte, um über sich zu schreiben. Sie entwarfen sich als Ausnahmetalente, die, allen Widrigkeiten zum Trotz, Bedeutendes für Russland geleistet hätten. Ihr autobiographisches Schreiben wird exemplarisch an Spiridon Drožžin vorgestellt, dem es seit 1884 mehrfach gelang, als ›Bauernpoet‹ seine Autobiographie zu publizieren.33 Drožžins autobiographische Texte ermöglichen einzigartige Einblicke: Sie erlauben es am Beispiel eines Lebens, den Wandel autobiographischen Schreibens zu greifen. Drožžin hat mehr als sechzig Jahre lang über seinen Werdegang geschrieben und nicht alle seine autobiographischen Texte waren für ein Lesepublikum außerhalb der Familie bestimmt. Indem er mit unterschiedlichen Autobiographien auf verschiedene Anrufungen reagierte, hielt er die Aufmerksamkeit für sein Schreiben und seine Person wach. Der dritte Teil des zweiten Kapitels beleuchtet jene autobiographischen Texte, die unter der Ägide der orthodoxen Kirche erschienen sind. Der Kirche nahe stehende Publizisten hatten in den 1880er Jahren gleichfalls die Möglichkeit erkannt, ihre Ansicht über Russlands Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft mit bäuerlicher Autobiographik zu belegen. Zu diesem Zeitpunkt stand die offizielle Orthodoxie unter starkem Druck, da immer mehr Gläubige sich von der Staatskirche ab-
33 Drožžins Autobiographie erschien erstmals 1884 in der Zeitschrift Russkaja Starina: Drožžin, Poơt-krest’janin Spiridon Drožžin v ego vospominanijach 1848-1884.
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wandten und zu den sogenannten ›Häretikern‹ und ›Sekten‹ überliefen.34 Die orthodoxe Kirche reagierte auf diese Abwanderung, indem sie Autobiographien veröffentlichte, in denen auch Bauern über ihr Leben als Rückkehr zum ›wahren Glauben‹ sprachen. Die (Re-)Konversion war das entscheidende Kriterium, um in diesem Kontext gehört zu werden. Auch das dritte Kapitel wendet sich Autobiographien zu, die in einem institutionellen Umfeld entstanden sind. Es untersucht die bisher kaum beachtete Geschichte der vorrevolutionären Autobiographieprojekte. An ihnen soll gezeigt werden, wie verschiedene Sammler und Schreiber miteinander um die Deutungshoheit konkurrierten, wer ›der Bauer‹ sei und was für ein Leben er zu führen habe. Diese Initiativen ermunterten eine Vielzahl von Bauern, sich zu äußern. Zahlreiche frühsowjetische Erinnerungsprojekte knüpften methodisch an sie an. Deutlicher als in den anderen Teilen der Arbeit lässt sich in diesem Kapitel autobiographisches Schreiben in seinem dialogischen Charakter fassen. Klar zeigt sich hier, dass autobiographische Texte im epistemologischen Sinn einem Palimpsest gleichen. Diese Kontakte bewirkten epistemischen Einschnitte im autobiographischen Schreiben der Bauern. Sie lassen sich nicht allein als Folge einer ungleichen Machtrelation, sondern auch als wechselseitiger Aushandlungsprozess begreifen. Drei Autobiographieprojekte stehen im Mittelpunkt: Das von Vladimir BonþBrueviþ Anfang des 20. Jahrhunderts initiierte Projekt lässt sich als direkte Reaktion auf die Anstrengungen der orthodoxen Kirche lesen. Der ›Sektenforscher‹ sprach seine Korrespondenten als durch Autokratie und Kirche Verfolgte an. Er forderte all jene zum Schreiben auf, die sich von der orthodoxen Kirche abgewandt hatten und ihm nun als ›Sektierer‹ und ›Märtyrer‹ antworten konnten. Der Kontakt zwischen Bonþ-Brueviþ und seinen Korrespondenten brach nach 1917 nicht ab. In diesem Unterkapitel wird daher auch gefragt, wie sich die Beziehung zwischen Bonþ-Brueviþ und seinen Korrespondenten veränderte, als die Autokratie Geschichte geworden war, die orthodoxe Kirche rapide an Ansehen verlor und religiöse Lebensformen unter Beschuss gerieten. Wie sprach Bonþ-Brueviþ, der als enger Vertrauter Lenins galt, seine Korrespondenten nach 1917 an? Mit welchen autobiographischen Texten antworteten sie auf seine Anrufung? Konnten sie dem Bol’ševik auch noch in Zeiten der Kollektivierung und ›Entkulakisierung‹ vertrauen?
34 Die Bezeichnung ›Sektierer‹ und ›Sekten‹ wurde vor allem von der orthodoxen Kirche als Benennung religiöser Gruppen verwendet. Durch diese Begriffswahl stellte sie sich als die ›wahre‹ Kirche dar und versuchte ihre Konkurrenten abzuwerten. Um meine Distanz zu den polemisch gebrauchten Begriffen ›Sekten‹, ›Sektierer‹ und ›Sektentum‹ anzuzeigen, verwende ich sie in Anführungszeichen. Mitunter bezeichneten sich religiöse Gruppen – wie zum Beispiel die Tolstojaner – selbst als ›Sektierer‹.
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Das zweite Autobiographieprojekt weist die größte Konstanz auf. Schon in den späten 1880er Jahren forderte der Publizist und Leseforscher Nikolaj Rubakin seine Korrespondenten zum autobiographischen Schreiben auf. Er bat sie, über ihre Lebenswege und ihre Bildungs- und Leseerfahrungen zu berichten. Auch Rubakin verstand die bäuerlichen Autobiographien als Gegenarchiv. Er sah in ihnen ein Mittel, Autokratie sowie Besitz- und Bildungseliten zu kritisieren, die ihm zufolge das Bildungsstreben des ›einfachen Volks‹ und damit auch dessen Anspruch auf gesellschaftliche Teilhabe ignorierten. Gefragt werden soll, ob es Rubakin und seinen Korrespondenten gelang, ihre Vorstellungen vom ›richtigen Leben‹ und autobiographischen Schreiben auch in die Sowjetunion zu tragen. Dass durch die Autobiographieprojekte ein Leistungswettbewerb in Gang gesetzt wurde, verdeutlicht das dritte Beispiel. Der Slawist Aleksandr Jacimirskij bat 1901 alle erfolgreichen ›Naturtalente‹ und Autodidakten, ihm ihre Autobiographie zuzusenden. Mit den Texten wollte er beweisen, dass Russland in punkto Eigeninitiative und Talentdichte keineswegs hinter westeuropäischen Ländern zurückstehe. Nun reichte es nicht mehr, als lesender Bauer über sich zu sprechen, sondern es musste besonderes Können und Talent bewiesen werden. Beleuchtet werden soll, wer sich als ›Naturtalent‹ angesprochen fühlte und wen die gestiegenen Ansprüche vom Schreiben einer Autobiographie abhielten. Auf welche Erzählmomente griffen seine Korrespondenten zurück, um sich als ›Naturtalent‹ zu präsentieren? Dabei soll auch gefragt werden, warum Jacimirskijs Projekt in Vergessenheit geriet, obgleich hinter seinem Aufruf große Ambitionen standen. Schließlich stellt das vierte Kapitel autobiographisches Schreiben im Familienkreis in den Mittelpunkt. Es wird gezeigt, dass autobiographisches Schreiben, das in den Familien verblieb, meist in der Form eines Tagebuchs praktiziert wurde. Drei Schreibsituationen werden beleuchtet: Zuerst werden autobiographische Texte untersucht, die von einem einzelnen Schreiber verfasst und nicht fortgeführt wurden, als dieser das Schreiben aufgab. Da in diesen Texten das Verhältnis von Anrufung und Umwenden weniger deutlich als in den vorhergegangenen Kapiteln hervortritt, wird in der Analyse besonderes Gewicht auf die Anfänge des Schreibens gelegt. Es wird gefragt, was die Bauern motivierte, eine Autobiographie oder ein Tagebuch zu beginnen. Welchen Veränderungen waren diese Motivationen unterworfen? Zu welchen Zeitpunkten brachen die autobiographischen Texte ab? In einem zweiten Schritt wird der Blick auf die gemeinsamen Konstellationen gerichtet, die es diesen Bauern erlaubten, einen autobiographischen Text zu beginnen und zu überliefern. Welche Formen des Schreibens und Gebrauchs ermöglichten oder verhinderten Archivierung? Im zweiten Teil dieses Kapitels werden Tagebücher untersucht, die nicht mit dem Tod des ersten Schreibers oder aus anderen Gründen abbrachen, sondern die von Familienmitgliedern, meist von den Söhnen, fortgeführt wurden. Diese über mehrere Generationen verfassten Familientagebücher offenbaren die Bedeutsamkeit von kleinen sozialen Netzen mit wenigen Knotenpunkten und Teilnehmern
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für das autobiographische Schreiben des Einzelnen. An ihnen lässt sich die Beharrungskraft familiärer Schreibkonventionen und Archivierungspraktiken ablesen, die es bisweilen vermochten, auch großen gesellschaftlichen Umbrüchen zu trotzen. Statt allein zu fragen, wie sich in den autobiographischen Texten Familienleben abbildet, wird die Perspektive – ähnlich den vorangegangenen Kapiteln – verschoben. Es wird nachgespürt, wie sich Familien, die durch eine angeblich ›natürliche‹ Verwandtschaft zusammengehalten werden, auch durch autobiographisches Schreiben konstituierten. Im letzten Teil des Kapitels steht das autobiographische Schreiben von Bäuerinnen im Mittelpunkt. Es wird erörtert, warum es in der gesamten Studie nur eine marginale Rolle spielt. Doch statt die Lücken im Archiv allein mit mangelnder Alphabetisierung und fehlender Schreibzeit zu erklären, zeige ich, dass Bäuerinnen bei der Archivierung ihrer Texte benachteiligt waren. Wie Bäuerinnen mit ihren autobiographischen Texten zuweilen der Eintritt in die Sammlungen und Archive gelang, wird in diesem Abschnitt ebenfalls nachgezeichnet. Besonderes Augenmerk richte ich auf Grenzen und Übergänge. Einige bäuerliche Autobiographen waren in mehreren Kommunikationsräumen zu Hause. Sie veröffentlichten ihre Autobiographie in Zeitschriften und sandten sie an Wissenschaftler, manch einer hielt zudem noch seinen Alltag in einem Tagebuch fest. So wie Personen die Grenzen überschreiten konnten, indem sie ihre Lebensbeschreibung unterschiedlich adressierten und mehrere Sprachregister bedienten, so vermochten sich auch einzelne Schreibweisen an mehreren Orten zu etablieren. Andere Sagbarkeitsformen dagegen blieben in einem Raum verhaftet. Ob es an diesen Schnittstellen zu Konflikten in der Durchsetzung von Deutung kam, ist zentrales Erkenntnisinteresse.
1. Gegenarchive und ihre Orte »Niemand, sagt Pascal, stirbt so arm, daß er nicht irgend
etwas
hinterläßt.«
Gewiß
auch
an
Erinnerungen – nur daß diese nicht immer einen Erben finden.1 WALTER BENJAMIN
1.1 B ÄUERLICHE A UTOBIOGRAPHIK
UND
H ISTORIOGRAPHIE
In der Historiographie und der Literaturwissenschaft ist Russland vor der Folie des ›Westens‹ mit seinen autobiographischen Texten das Beispiel für absolute Andersartigkeit. Fehlende Individualität, mangelnder Blick nach Innen und die bloße Darstellung der Zeitenläufte unterscheide Autobiographik aus ›Ost‹ von der aus ›West‹. Statt vorschnell einen wesensmäßigen Unterschied zwischen den autobiographischen Texten aus Russland und den in Westeuropa entstandenen zu konstatieren, werde ich die Gründe aufzeigen, die hinter diesen Argumentationen standen. An den Zuschreibungen, die den Autobiographen im Zarenreich als Chronisten seiner Zeit deklarierten, den westeuropäischen dagegen als getreuen »Zeugen seiner selbst«, lässt sich nicht nur die Wirkmächtigkeit des Diskurses vom »Westen und dem Rest« ablesen, der das andere lediglich in einer Sprache des Mangels zu beschreiben vermag.2 Dabei stehen das Zarenreich und die Sowjetunion als das Fremde nicht allein: Eine fehlende Individualität und Innerlichkeit wurde nicht nur für autobiographisches Schreiben aus Russland deklariert, sondern auch andere nichtwestliche Formen fielen und fallen unter dieses Diktum. Schon ein oberflächlicher Blick auf Erinnerungen und Tagebücher in Westeuropa zeigt, wie sehr dieses Argument auf einseitiger Kenntnis der dortigen Autobiographik beruht. Die Form des Bekenntnisses war nur eine Spielart autobiographischen Schreibens. Der Maßstab des beständigen Blicks nach innen bildete sich an klassischen Texten von Männern
1
Benjamin, Der Erzähler, 400.
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wie Jean-Jacques Rousseau und Johann Wolfgang von Goethe aus. Ihre Nachfolge beanspruchten vor allem bildungsbürgerliche Schichten. Sowohl in Russland als auch in Deutschland war und ist die Diskussion um autobiographische Texte auch ein Disput über die Gegenstandsbereiche der Geschichtswissenschaft, über die Gewichtung personaler und strukturaler Faktoren, ja letztlich über die Determiniertheit und Freiheit des Menschen und des Geschichtsverlaufs. Die Auseinandersetzung mit autobiographischen Texten offenbart zudem die Eigenlogiken verschiedener Wissenschaftsverständnisse. Die Diskussion über die Bereiche, für die solche Texte Quelle sein können, zeigt ferner deutlich, wann (bäuerliche) Individualität kommunikationsfähig wird oder trotz aller gegenteiligen Evidenzen verleugnet werden muss. Das Argument, darin einer wahrhaftigen Zeugenschaft zu begegnen, lässt je nach Standpunkt bäuerliche Individualität oder die Eingebundenheit des Einzelnen in größere Kollektive zum Argument gerinnen. Diese Diskussionen lehren damit gleichzeitig Vorsicht, Individualität und das Vorhandensein dieser Art von Quellen in ein zu enges, sich gegenseitig bedingendes Verhältnis zu setzen, die dort keine Individualität erkennen können, wo autobiographische Texte fehlen. Die akademischen Debatten zu diesem Thema laden dazu ein, in ihnen auch das Streben nach Selbstpositionierung – sei es als einzigartiger Mensch oder Teil eines Kollektivs – zu erkennen. In dem Ab- und Zusprechen von Individualität spiegeln sich nicht immer die Quellen wider, häufig zeugt es mehr vom Selbstverständnis des akademischen Autors. Die Aufmerksamkeiten für die Autobiographik russischer Bauern und Bäuerinnen zu rekonstruieren, ist ein erster Schritt, Begriffe wie ›Individuum‹ oder ›(bäuerliche) Individualität‹ für das Zarenreich und die frühe Sowjetunion zu historisieren und ihre engen Verflechtungen mit Begriffen wie ›Zeuge‹ und ›Zeugnis‹ aufzuzeigen.3 An autobiographischen Quellen wurden und werden Theorien getestet, angenommen und verworfen, welche die Skripte dafür liefern, nach denen Geschichten erzählt werden können. Während andere Schriftstücke unumstritten einen Quellenwert besitzen und man in ihnen zweifellos Vergangenheit zu finden vermeint, wird im Umgang mit autobiographischen Texten die bisweilen umstrittene Karriere vom
2
Gusdorf, Voraussetzungen, 122; Hall, Der Westen; Warneken, »Populare Autobiographik« (Bericht). Für die indische Autobiographik: Chakrabarty, Europa provinzialisieren.
3
Spivak hat als eine der ersten auf die unkritische Romantik hingewiesen, die in den frühen postcolonial studies hinter der Suche nach der ›wahren‹ Stimme der Marginalisierten stand. Nur allmählich lösen sich die Forschungen zur russischen Alltagsgeschichte von der Vorstellung, mit Selbstzeugnissen einen Blick auf das ›wahre‹ Leben gewinnen zu können. Noch 1998 wurde eine Anthologie zu den Tagebüchern der Stalinzeit mit Das wahre Leben betitelt. Garros, Korenewskaja, Lahusen (Hrsg.), Das wahre Leben.
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Ding, vom bloßen beschriebenen Papier zur Quelle sichtbar.4 Auch wenn sich der praktische Umgang mit autobiographischen Texten weniger durchgängig unterschied, sie sowohl in Deutschland als auch in Russland als Faktensteinbruch und Illustrationsrepertoire dienten, so waren doch die Begründungen in den beiden Ländern sehr verschieden, die die Publikation und Interpretation autobiographischer Texte begleitete. Das Sprechen darüber, für was autobiographische Texte Quellen sein können, war in beiden Ländern unterschiedlicher, als es Textgestalt und Inhalte vermuten lassen. Diese verschiedenen Bewertungen wirkten auch auf die Aufmerksamkeiten und Lesbarkeiten zurück, mit denen Publizisten, Historiker und Literaturwissenschaftler bäuerlicher Autobiographik entgegentraten. Unter sehr verschiedenen Vorzeichen und zu verschiedenen Zeitpunkten geriet das bäuerliche autobiographische Schreiben in ihr Blickfeld, wurden solche Texte gesammelt, ihr Fehlen in den Archiven als schmerzlich empfunden oder aber ihr Vorhandensein ignoriert. Die Ursachen für die andersartige Bewertung waren zum großen Teil geschichtstheoretischen und wissenschaftsphilosophischen Debatten geschuldet. Die russische Geschichtswissenschaft stellte anders als die deutschsprachige nicht das ›Verstehen‹, sondern gemäß ihrer vorrangig soziologischen Ausrichtung im ausgehenden Zarenreich und den Doktrinen des historischen Materialismus in der Sowjetunion das ›Erklären‹ in den Mittelpunkt.5 Die Eigenheiten und Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Wissenschaftskulturen beim Umgang mit bäuerlicher Autobiographik werden durch einen Vergleich besser sichtbar. Er kann zeigen, dass das (wissenschaftliche) Sprechen über Autobiographik, vor allem der unteren Schichten, immer auch von politischer Bedeutung war. Anstelle eines Forschungsstands, der zu behebende Mängel und zu füllende Lücken konstatiert, wird in diesem Kapitel der zirkuläre Zusammenhang zwischen Geschichtswissenschaft, Autobiographietheorie, den Aufmerksamkeiten für bäuerliches Schreiben und seiner Archivierung aufgezeigt. Damit plädiere ich nicht nur für eine reflexive Beziehung zu früheren Forschungen, sondern auch zu dem ›Archiv‹, das die Möglichkeiten vorzeichnet, in denen Geschichten erzählt werden können. Nicht systematisch vorgestellt werden jene Arbeiten, die ihre Thesen von den fehlenden zivilgesellschaftlichen Werten in der russischen Kultur bis hin zur Abwesenheit des Individuums überhaupt auch auf den angeblichen Mangel an bäuerlichen Selbstzeugnissen stützten, ohne ernsthaft nach ihnen gesucht zu haben.
4
Einige Thesen – vor allem die allgemeine Autobiographietheorie betreffend – finden sich ausführlicher belegt in: Herzberg, Autobiographik als historische Quelle.
5
Der Methodendualismus ist in der letzten Zeit verstärkt in die Kritik geraten. Es wurde darauf hingewiesen, dass ›Verstehen‹ und ›Erklären‹ allein in geschichtstheoretischen und wissenschaftsphilosophischen Debatten ein Gegensatzpaar sei, das sich in der historiographischen Praxis kaum nachweisen lasse. Welskopp, Erklären, 158.
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Für die Forschung im deutschsprachigen Raum lassen sich nach dem durch Wilhelm Dilthey und Georg Misch verfassten Prolog drei sich mitunter überlagernde Traditionen unterscheiden. Nutzte man bis in die 1970er Jahre autobiographische Quellen als Steinbruch für Fakten, spekulierte über ihren Wahrheitsgehalt und erfreute sich mit ihnen am Reichtum abendländischer Kultur, so wandte man sich ab den 1980er Jahren nach ›innen‹ und stellte das ›Selbst‹ des Schreibenden in den Mittelpunkt. Um schließlich in der dritten Phase mit dem ›Tod des Autors‹ auch das Ende der Autobiographie zu betrauern und als Überrest die Textualität zu feiern. So sehr sich die unterschiedlichen Herangehensweisen unterscheiden, ja sich letztlich gegenseitig ausschließen, so weisen sie doch uneingestanden Gemeinsamkeiten auf. Wilhelm Diltheys Aufwertung der Autobiographie zur historischen Quelle sowie Georg Mischs monumentale Geschichte der Autobiographie bilden nicht nur den Beginn der Autobiographieforschung, sondern sind bis heute Referenz- und Abgrenzungspunkt der einzelnen Ansätze.6 Während die ›westliche‹ Autobiographieforschung Diltheys Erbe mehr oder weniger enthusiastisch angetreten oder aber ausgeschlagen hat, waren seine Reflexionen über die Selbstbiographie für die russische Forschung kein Bezugspunkt.7 Die Unterschiede in der Bewertung autobiographischer Quellen und damit auch des bäuerlichen Autobiographen lassen sich somit eher durch die Disparität der Wissenschaftstraditionen erklären als mit der Differenz zwischen den Quellen selbst, die Teil eines gesamteuropäischen, mitunter sogar globalen Phänomens sind. Autobiographieforschung im deutschsprachigen Raum Beim Versuch, das Terrain der Geisteswissenschaften gegenüber den Naturwissenschaften abzustecken und die Historie mit einem wissenschaftstheoretischen Fundament zu versehen, erhob Dilthey erst die Biographie, später dann die Selbstbiographie zur idealen Quelle. In ihnen sah er nicht nur ein heilsames Gegenmittel »zu den toten Abstraktionen, die meist aus dem Archiv entnommen werden«8, sondern ebenso die Inkarnation des hermeneutischen Paradigmas: Jedes Leben hat einen eigenen Sinn. Es liegt in einem Bedeutungszusammenhang, in welchem jede erinnerbare Gegenwart einen Eigenwert besitzt, doch zugleich im Zusammenhang der Erinnerung eine Beziehung zu einem Sinn des Ganzen hat.9 Diese Aufwertung des Individuums war nicht nur nach außen gerichtet, sondern bezog innerhalb des zeit-
6
Misch, Geschichte der Autobiographie.
7
Erst seit dem Jahr 2000 erscheinen Diltheys einschlägige Schriften in einer Gesamtausgabe auf Russisch. Dil’tej [Dilthey], Sobranie soþinenij v 6 tomach.
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Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften, 33-34.
9
Dilthey, Das Erleben, 28.
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genössischen Geschichtsdiskurses Stellung gegenüber der Geschichtsphilosophie Hegels sowie dem mechanistischen Positivismus eines Auguste Comte und Henry Thomas Buckle.10 Schon im zweiten Buch seiner Einleitung in die Geisteswissenschaften unterzog Dilthey 1883 jene Kategorien einer kritischen Überprüfung, die die metaphysische Tradition bewegt hatten, das Individuelle durch Letztbegründungsansprüche zurückzuweisen. Erkenntnis – so Dilthey – lasse sich nicht durch die Herstellung von Kausalzusammenhängen gewinnen, sondern allein mithilfe der Sammlung individueller Erfahrungen. Während die Naturwissenschaft nach allgemeinen Gesetzmäßigkeiten sucht, sie der empirische Durchschnitt interessiere, sollten die Geisteswissenschaften einzig das Individuum, das sich am reinsten in der »Selbstbiographie« offenbart, in den Mittelpunkt stellen. Damit verschaffte Dilthey der »Selbstbiographie« nicht nur eine theoretische Grundlegung, sondern ebenso einen festen Platz in der Psychologie, der Geschichtswissenschaft, Philosophie und der Literaturwissenschaft. Die theoretischen Vorgaben Diltheys setzte Misch um. Er etablierte die Lebensbeschreibung mit seiner enzyklopädischen Geschichte der Autobiographie endgültig als wissenschaftlichen Gegenstand. Die Autobiographie lasse sich – so Misch – kaum näher bestimmen als das, »was der Ausdruck besagt: die Beschreibung (graphia) des Lebens (bios) eines Einzelnen durch diesen selbst (auto).«11 Diese Definition war bis in die 1970er Jahre maßgeblich. Die einzelnen Phasen in der theoretischen Auseinandersetzung um autobiographische Texte in Deutschland lassen sich zum großen Teil auf die unterschiedliche Gewichtung, die stetige Verschiebung von bios zu autos und schließlich zur graphia zurückführen. Während die russische Geschichtswissenschaft fast ausschließlich darüber stritt, ob der Autobiograph ein vertrauenswürdiger Zeuge für politische und gesellschaftliche Ereignisse sei, stand in der ›westlichen‹ Autobiographietheorie häufiger die Frage im Mittelpunkt, inwieweit der Autobiograph als Gewährsmann für sein eigenes Leben, als »Zeuge seiner selbst«12 gelten könne. Damit waren die Gegenstandsbereiche, die autobiographische Texte als historische Quellen abdecken sollten, höchst unterschiedlich definiert.13 Sie bestimmten die Wertschätzung oder Ablehnung, die autobiographischen Texten entgegengebracht wurden. Irrtümer, Mehrdeutigkeiten, Widersprüche waren in der ›westlichen‹ Autobiographietheorie um den Preis der Individualität verzeihbar, hingegen im vorrevolutionären Russland ungeliebt und in der Sowjetunion als ›Subjektivismus‹ verfemt.
10 Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften, XVI. 11 Misch, Begriff und Ursprung, 7. 12 Gusdorf, Voraussetzungen, 122. 13 Mahrholz, Der Wert der Selbstbiographie, 72-74.
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Die Achtung jedoch, welche die Autobiographie im ›Westen‹ errang, nährte sich nicht allein aus der Präferenz des Verstehens, sondern ebenso aus den Eigenschaften, die Dilthey und Misch mit der Selbstbiographie verbanden und auf deren ausgrenzende Folgen nachdrücklich die Frauen- und Geschlechtergeschichte sowie die postcolonial studies hingewiesen haben. Für beide war die Autobiographie ein Mittel der Selbsterkenntnis, und damit repräsentativer Ausdruck des Selbstbewusstseins und der Persönlichkeit ihres Autors.14 Die Autobiographie war Indikator für das Erreichen »höherer Kulturstufen«15 und allein »Augustin, Rousseau, Goethe zeigen ihre typischen geschichtlichen Formen«.16 Als nicht repräsentativ und damit zu vernachlässigen galten jene, die diesem Autonomieklischee nicht entsprachen oder denen man Individualität absprach wie Frauen, Angehörigen der Unterschichten, Leibeigenen und Sklaven. Alltägliche Formen der Selbstbeschreibung, wie Tagebücher oder Briefe, die aufgrund fehlender Narrativität, Ästhetisierung und Literarisierung nicht deutlich genug von höheren Kulturstufen kündeten, fielen in der weiteren wissenschaftlichen Beschäftigung aus dem Kanon autobiographischer Texte heraus. Sie passten nicht in Mischs evolutionistische und teleologische Vorstellungen, der die gesamte europäische Autobiographik allein als Vor- oder Nachspiel der dichterfürstlichen Ergüsse Goethes deutete. Die Autobiographie war ihm zufolge neuzeitlich, möglichst säkular und aufgeklärt, von Männern verfasst, auf das Abendland beschränkt und blühte insbesondere zwischen 1770 und 1830. Mischs und Diltheys Epigonen nutzten bis in die 1970er Jahre diese Quellen bevorzugt als Beweis historischer Einmaligkeit ›großer Männer‹ oder als Gradmesser für die kulturelle Reife des Bürgertums. Die Autobiographie war gleichermaßen beliebt in der ›alten‹ Politikgeschichte wie der Geistes- und Ideengeschichte und galt als Hilfsmittel für das Abfassen von Biographien. Nur einer Handvoll Bauern gelang es, die »ragenden Gipfel« der Selbstdarstellung zu erklimmen. Ihre Selbstbiographien galten den Handbuchautoren zumeist als »geringere Erhebungen« und wurden als »Belastung der Darstellung« abgetan.17 Die Autoren aus den unteren Schichten standen im Ruf, den sich an einer »Höhenwanderung« ergötzenden Leser hinabzuziehen.18 Erstmalig waren schreibende Bauern wegen der Genieästhetik im Sturm und Drang als »lateinische«, »philosophische«, »gelehrte« Bauern oder als »lesende Landmänner« in das Blickfeld aufklärerisch gesinnter Intellektueller geraten, die sie mitunter auch als »Manschetten-
14 Misch, Begriff und Ursprung, 15. 15 Misch, Begriff und Ursprung, 6. 16 Dilthey, Das Erleben, 26. 17 Klaiber, Die deutsche Selbstbiographie, VII. 18 Klaiber, Die deutsche Selbstbiographie, VII.
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bauern« verlachten.19 Die Entdeckung eines »Socrate rustique« versprach mehr als nur Prestige, denn sie besaß auch politische Bedeutung. Mit den Autodidakten als Argument traten die Gebildeten für eine Harmonisierung der Ständegesellschaft und für die Aufklärung der bäuerlichen Bevölkerung ein. Begeistert von bäuerlichen Schriften, bestärkte beispielsweise der Pfarrer Martin Imhof 1787 Hans Heinrich Füßli, die »natürlichen Abenteuer« des Bauern Ulrich Bräker herauszugeben: »Und habt ihr die Wahrheit bekräftigt, dass echte Weisheit und Tugend an kein Land und an keinen Stand unter den Menschen gebunden, oft auch in der einsamen Hütte des Landmanns gesucht werden muß, so ist der Zweck eurer Bekanntmachung vollkommen erreicht.«20 Wie hier so ging auch in den anderen Fällen die Publikation bäuerlichen Schreibens auf Zuspruch und Hilfestellung traditionell Gebildeter zurück. Ulrich Bräker, der als »Kleinjogg« bezeichnete Jakob Guyer, Isaak Mauss, Heinrich Bosshard und der Bauernastronom Johann Georg Palitzsch aus Prohlis – so die Namen der Bekanntesten – wurden als rousseausche Naturkinder, literarische Naturtalente und ›edle Wilde‹ im eigenen Land bestaunt. Johann Caspar Lavater, der in seinen physiognomischen Fragmenten die Begegnung mit dem Kleinjogg beschrieb, war mit seiner Begeisterung nicht allein. Die Bauern waren Anlass für große Hoffnungen, sie verkörperten das unverfälschte Menschsein: »Diese ganze Menschengestalt vor mir! Der ganze Mensch Bauer! Der ganze Bauer – Mensch! – So ohne Sorgen! Ohne Anstrengung! Ohne Plan! Ein Licht ohne Blendung! Wärme ohne Hitze! So inniges Gefühl seiner selbst – ohne Selbstsucht! Solch ein Glaube an sich ohne Stolz. […] So treffend alles, was er sagt – Immer Gold im Erdenkloß! Oft Diamante auf’m Mist!«21 Bäuerinnen vermisste in diesem gelehrten Olymp des Landlebens niemand. Nur wenigen war der Zutritt zur ›Galerie bemerkenswerter Bauern‹ vergönnt. Die Auserwählten blieben in ihrer Aufwertung zum Subjekt Sonderfälle. Ihre Singularität als ›gelehrte‹ Bauern war im ausgehenden 19. Jahrhundert geeignet, dem angstbesetzten Begriff der bäuerlichen und proletarischen Masse etwas entgegenzusetzen. Die Mehrheit der Bauern fiel jedoch einer abschätzigen Beurteilung anheim. Bei ihnen vermuteten Historiker und Literaturwissenschaftler Naivität, Borniertheit und Gewalt, keineswegs jedoch autobiographische Selbstbeobachtungen.22 Diese Wer-
19 Von Hippel, Die pädagogische Dorf-Utopie. 20 Füßli, Vorbericht, 5. 21 Zit. nach: Von Hippel, Die pädagogische Dorf-Utopie, 33-34. 22 Peters, Mit Pflug und Gänsekiel; Bräker, Lebensgeschichte; Siegert, Isaak Maus; Siegrist, Zwischen Objekt und Subjekt; Böning, Gelehrte Bauern; Böning, Dichten als autobiographisches Erzählen. Troßbach verbindet sein Plädoyer für die Auflockerung des statischen Bauernbilds mit einem historiographischen Überblick. Er zeigt, wie die aus der Aufklä-
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tungen veränderten sich wie der Kanon bäuerlicher Selbstzeugnisse bis in die 1980er Jahre kaum. Eine zweite Welle der Autobiographietheorie seit den 1970er Jahren, die nicht das Versanden der ersten bedeutete, zeichnet sich durch vergleichsweise große Heterogenität aus. Zu verschieden waren die jeweiligen Anliegen, die eine Neukonzeption der Autobiographietheorie einforderten. Was sie jedoch verband, war ein Bedürfnis, das Verständnis von der Autobiographik als unmittelbarer Entäußerung eines autonomen Subjekts ins Wanken zu bringen und das autobiographische Schreiben von elitären Implikationen zu befreien. Die Umsetzung dieser Vorhaben geschah auf verschiedenen Wegen. Die Forderung, die eine erste Gruppe von Autobiographietheoretikern stellte, lautete Ausweitung: hinunter von den mit Rousseau und Goethe erstiegenen Berggipfeln, weg von den prächtigen Höfen, hinein in die Hinterhöfe und in die Bauernkaten. Statt vermeintlichen Idealtypen nachzujagen, registrierten die Historiker nun Verschiedenartigkeit und untersuchten Autobiographik in Abhängigkeit von sozialer Schicht, Kultur und Geschlecht. Die Ausweitung des Kanons und die Abkehr von literarischen und moralischen Ansprüchen an den Autobiographen boten die Möglichkeit, einen Blick nicht nur auf die Lebens- und Arbeitswelten jener sozialen Schichten zu werfen, die bisher ausgeschlossen gewesen waren, sondern auch den zeitlichen Rahmen zu erweitern. In den Fokus geriet autobiographisches Schreiben in Mittelalter und Früher Neuzeit, das sich nur schwer in die von normativen Kriterien geprägte Trias Autobiographie, Memoiren und Tagebuch einordnen ließ.23 Einige dieser Arbeiten, vor allem die der 1970er bis 1990er Jahre, blieben allerdings entgegen ihres Anspruchs im hermeneutischen Denkansatz verhaftet. Ihre Verfasser suchten weiterhin die in den Texten eingeschriebene Persönlichkeit, die nur entschlüsselt, ›verstanden‹ werden müsse, während andere Forscher nicht das Individuum entdecken wollten, sondern in autobiographischen Texten Sozialtypen ermittelten. Zweifel an der außertextuellen Referenz, von denen die Historiker wenige Jahre später heimgesucht werden sollten, waren noch gering. Von diesen Entwicklungen hat die bäuerliche Autobiographik zusammen mit der von Frauenhand am meisten profitiert. Der Abschied von literarischen Kriterien und die Hinwendung zu einer nun sozial verstandenen Repräsentativität lenkten den Blick auf die Erinnerungen der vordem Ausgeschlossenen. Groß war das Verdienst jener »Barfußhistoriker«, die nun nicht mehr nur hinter ihren Schreibtischen interpretierten, zählten und rechneten, sondern, »damit es nicht verloren geht«, das di-
rung stammenden Stereoypen bis in die 1980er Jahre hinein zur Ausgrenzung der Bauern aus der Sozialgeschichte geführt haben. Troßbach, Beharrung und Wandel. 23 Tersch, Vielfalt der Formen, 69.
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rekte Gespräch mit den Bauern und Bäuerinnen suchten.24 Die Alltagsgeschichte verließ das Terrain universitärer Selbstgenügsamkeit. Sie wollte zeigen, dass die Geschichte konkreter Orte sich nicht nur in bürgermeisterlichen Dekreten spiegelte, sondern auch in den Tagebüchern und Erinnerungen ihrer Bewohner.25 Wichtige Impulse gingen auch von Historikern aus der DDR aus, die ihre Hinwendung zu den bäuerlichen Selbstzeugnissen mit der marxistischen Historiographie als der Geschichtsschreibung der Unterdrückten und Marginalisierten begründeten.26 Geschickt weiteten sie das vorgegebene Interesse an der Arbeiterfrage und damit auch an der Arbeiterautobiographie auf die »Werktätigen« im Dorfe aus und plädierten auch unter den Bauern für eine breite Sammeltätigkeit ohne ausgrenzende Kriterien.27 Jan Peters, ihr bekanntester Vertreter, musste sich weniger als seine westdeutschen Kollegen gegen die Polemiken eines Hans-Ulrich Wehler verteidigen. Stattdessen war er genötigt, sein Interesse an den umstrittenen Quellen mit den Prämissen der sich als marxistisch verstehenden Geschichtswissenschaft in Einklang zu bringen. Offensiver als seine sowjetischen Kollegen, die erstmals seit den 1930er Jahren die als subjektiv verworfenen Texte zaghaft wieder aufwerteten, bettete er sein Plädoyer für bäuerliche Selbstzeugnisse als historische Quellen in Reflexionen über ›Verstehen‹ und ›Erklären‹ ein: »In der marxistischen Historiographie ist durch die Einbindung des Besonderen in das Allgemeine eine wichtige Erkenntnismethode in den historischen Forschungsprozeß eingebracht worden, zugleich aber auch (wie die Praxis zeigt) die Gefahr gewachsen, dass der Zusammenhang von Erklären und Verstehen aufgelöst und zugunsten des Erklärens von (nur) großen Zusammenhängen und Strukturen vereinseitigt wird. Wir brauchen ganz dringend das Verstehen, das Besondere, auch in seiner Form als Ausnahme.«28
In den 1980er Jahren – fast hundert Jahre später als in Russland – entstanden in der DDR, der Bundesrepublik, Österreich und der Schweiz Sammelstellen für lebens-
24 Wehler, Geschichte, 64. »Damit es nicht verloren geht…« ist seit den 1980er Jahren der Reihentitel der Wiener Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen. 25 Zum Beispiel für Westfalen: Richter, Ein Bauernleben. 26 Peters, Bäuerliche Schreibebücher, 99. 27 Ein wissenschaftliches Interesse an der Arbeiterautobiographie war in der DDR in den frühen 1970er Jahren entstanden. 1975 öffnete Wolfgang Emmerich mit einer Bibliographie dieses Forschungsfeld auch für die Bundesrepublik. Münchow, Die Begründer des Marxismus; Münchow, Frühe deutsche Arbeiterautobiographie; Emmerich, Bibliographie. Zitat: Peters, Erfahrungen, 121; Peters, Alte bäuerliche Schreibebücher, 157. 28 Peters, Erfahrungen, 132.
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geschichtliche Aufzeichnungen.29 Erzeugten die Wissenschaftler anfänglich im Gespräch und durch Befragungen ein ethnographischen Ansprüchen gehorchendes Erinnerungsbild dörflicher Lebenswelten, standen später immer mehr das Schreiben und die subjektiven Deutungsmuster der Bauern im Mittelpunkt.30 Die Wissenschaftler begleiteten den Schreibprozess und ermutigten die Bauern mit Schreibaufrufen, Gesprächskreisen und Briefen. Sie verstanden ihr Tun nicht allein als Mittel, um Quellen für die wissenschaftliche Analyse zu erzeugen, sondern als »Biographiearbeit«, deren therapeutische Effekte sich in der Sozial- und Altenarbeit nutzen ließen. Statt allein einen Zeugen für das Vergangene zu finden, betrachteten die Initiatoren der Sammelstellen die Lebensbeschreibungen auch als Lebenshilfe.31 In ihnen sahen sie ein Mittel der Selbsterkenntnis für den Autobiographen. Vor allem Frauen bot der Zuspruch von außen erstmalig eine Legitimation, ihre Lebensgeschichte zu verfassen und sie an ein Publikum außerhalb des Familienkreises zu richten.32 Michael Mitterauer betonte in seinem Vorwort zu den Aufzeichnungen der Bäuerin Maria Gremel die außerordentliche Bedeutung der Selbstbiographien sowohl für die Angehörigen als auch für die gesamte jüngere Generation. Das Zuhören und Lesen helfe auch ihnen beim Verständnis ihrer selbst.33 In diesem Bezug auf das ›Verstehen‹ unterschieden sich die Aufwertungsstrategien in Deutschland, der Schweiz und in Österreich von den Bemühungen in Russland. Während die Alltagshistoriker dem Autobiographen in historistisch anmutender Tradition empathisch begegneten und ihn mit seinen Erinnerungen zum Teil des eigenen Lebens machten, sahen die Historiker in Russland in ihm eher den Zeugen (svidetel’), der als Dritter oder Überlebender den Lauf der Vergangenheit
29 In Deutschland entstanden beispielsweise das Tagebucharchiv in Emmendingen, das Tübinger Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft, das Freilichtmuseum Cloppenburg, das Volkskundliche Seminar in Münster sowie die an der Akademie der Wissenschaften der DDR eingerichtete »Konsultationsstelle für Schreibebücher«. In der Schweiz: das Autobiographieprojekt von Pro Senectute und Rudolf Schenda im Bezirk Winterthur. In Österreich: die Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen sowie die Sammlung Frauennachlässe in Wien. 30 Mitterauer, Lebensgeschichte sammeln, 23. 31 Müller, »Vielleicht hat es einen Sinn«, 306; Müller, »Vielleicht interessiert sich mal jemand...«, 87. Allgemein zur Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen siehe: Müller, Dokumentation. 32 Nach Schreibaufrufen überwiegt die Zahl der schreibenden Frauen: Warneken, Populare Autobiographik, 16; Lorenzen-Schmidt, Poulsen, Bäuerliche (An-)Schreibebücher, 27; Schenda, Alltagsgeschichte, 11. 33 Mitterauer, Vorwort zu: Gremel, Mit neun Jahren, 8. Ähnlich: Schenda, Alltagsgeschichte, 13.
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beglaubigen konnte. Die hagiographische Tradition, in denen gottgefälliges Leben, Wunder und Martyrium durch Viten bezeugt wurde, blieb auch in der bäuerlichen Autobiographik des 19. und 20. Jahrhunderts lebendig. Doch nicht nur die Alltagsgeschichte hat im deutschsprachigen Raum in den 1970er und 1980er Jahren diese Quellen gesammelt und genutzt. Auch die Alphabetisierungs- und Bildungsgeschichte, eine sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Agrargeschichte, die Kulturvergleichs- und Kommunikationsforschung sowie die Kalender- und Volksaufklärungsgeschichte schaute nun von unten auf ihren Gegenstand. Ihre Vertreter schlossen sich dem Interesse an bäuerlichen Selbstzeugnissen an und tasteten sich ausgehend von den Oral-History-Befragungen immer mehr in die historische Tiefe vor.34 Sie ließen sich von der hohen Zahl an Quellenfunden überzeugen, dass die »Auffassung von der ›Beinahe-Schriftlosigkeit des Volkes‹ […] Produkt und Mitproduzent einer Neglektionsspirale war«.35 Die damit verbundene Ausweitung des Kanons bedeutete nicht zwangsläufig die Abkehr von alten Prämissen. Der Konstruktionscharakter der Quellen sowie die Umstände ihrer Entstehung und Überlieferung gerieten nur selten in den Blick. Erst seit wenigen Jahren gibt es Studien, die untersuchen, wie Autobiographieprojekte an den meist als authentisch gelesenen Quellen mitschrieben. Nur vereinzelt sprachen die Mitarbeiter der Autobiographieprojekte darüber, wie auch ihre Stimme im bäuerlichen Text hörbar wird.36 Sammler wie zum Beispiel Rudolf Schenda verstanden die von ihnen zusammengetragenen Quellen als »farbige Wolle der Zeit«, mit der sich farblose Sozialgeschichte bunt einkleiden ließ. Am nachdrücklichsten haben Frühneuzeithistoriker wie Harald Tersch und Jan Peters darauf verwiesen, dass Autobiographik keinen ungebrochenen Zugang zur bäuerlichen Mentalität biete, ohne jedoch solche Vorstellungen ganz aufzugeben.37 Erst die Übernahme von Theorieangeboten aus der Philosophie sowie der Sprach- und Literaturwissenschaft brachte die Vorstellung von der Autobiographik als unmittelbarem Ausdruck eines Subjekts ins Wanken. Die Annahme neuer Konzepte und Modelle ging mit der Abkehr von der Vorstellung eines autonomen, kohärenten Selbst einher. Sie ließen die »biographische Illusion«,38 der Bourdieu zufolge sowohl die (Auto-)Biographen als auch ihre Theoretiker immer wieder verfallen waren, wie eine Seifenblase zerplatzen. Die Angriffe kamen aus mehreren Rich-
34 Peters, Mit Pflug und Gänsekiel, 306. 35 Warneken, »Populare Autobiographik« (Bericht), 120; Zitat aus: Warneken, Populare Autobiographik, 11. 36 Burckhardt-Seebass, »So wia s Leben is a mei Schreibn!«, 135-139; Am deutlichsten: Garstenauer, Zwischen Hofchronik. 37 Peters, Zur Auskunftsfähigkeit, 175; Tersch, Österreichische Selbstzeugnisse, 5. 38 Bourdieu, Die biographische Illusion.
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tungen. Der gemeinsame Feind war die enge Bindung der Autobiographie an den Subjektbegriff sowie die damit verbundenen Implikationen für die Autorschaft und die außertextuelle Referenz. Diese neuen Theorieansätze stellten die vorgängigen Konzepte eines autonomen Selbst in Frage und zerstörten die Bindekraft zwischen den drei Elementen – bios, autos, graphia –, die für Misch und seine Erben das Wesen der Autobiographie ausgemacht hatten. War die Autobiographie bei Dilthey Modell für das Verstehen gewesen, nutzten einige Poststrukturalisten sie als Paradigma für das Schreiben. Sie erwählten sie zu der Textsorte, an der sich die postmodernen Überzeugungen am eindrücklichsten darlegen ließen.39 Mit keiner anderen Gattung könne man den Tod des Autors, das Verschwinden des Subjekts nachdrücklicher einläuten als mit jener, für welche die Bindung an den Subjekt- und Autonomiebegriff konstitutiv sei. Autobiographisches Schreiben als Akt der Selbsterkenntnis – wie Dilthey, Misch und ihre Nachfolger es verstanden hatten – musste unter den Prämissen der Poststrukturalisten misslingen. In dieser Sicht gleiche der Autobiograph einem Achill, der das eigene Ich niemals erreichen kann, weil er es erst im Akt des Schreibens immer wieder neu hervorbringt. Nach ersten, mitunter reflexartigen Abwehrreaktionen unter den Historikern, die vor allem die an Autobiographik demonstrierte Aufhebung vormalig fester Grenzen zwischen Fakten und Fiktionen provozierte und die mit dem Ende der Autobiographie auch den Untergang der Geschichte nahen sahen, machte sich einige Jahre später geschäftige Gelassenheit breit.40 Das Abklingen des Kampflärms ermöglichte den Blick für die Vorteile und Erweiterungen, die die dekonstruktivistische Kritik für die Arbeit des Historikers bedeutet. Sie ermahne dazu – so Volker Depkat –, die Textualität der Quellen ernst zu nehmen, und erlaube es, autobiographische Texte nicht als Ausdruck eines selbstgewissen Subjekts zu lesen. Autobiographische Texte offenbaren aus dieser Perspektive die Prozesse der Identitätsproduktion. Sie seien ein Ort der Genese des Subjekts, an der nicht allein der Autobiograph als Schöpferfigur seines Texts beteiligt ist. Das Einbeziehen der Textualität verweise die Historiker darauf, dass die Bewertung autobiographischen Schreibens nicht in den Krite-
39 Eines der lesenswertesten Bücher zur Thematik: Finck, Autobiographisches Schreiben, 12. 40 Paul de Mans 1978 erschienener Aufsatz Autobiographie als Maskenspiel wird gemeinhin als Zäsur in der Autobiographietheorie genannt. Er provozierte die hermeneutisch arbeitenden Historiker und Literaturwissenschaftler durch zwei Thesen: 1. Es ist nicht möglich, eine Unterscheidung zwischen Autobiographie und Fiktion zu treffen. 2. Autobiographie ist keine Gattung oder Textsorte, sondern eine Lese- oder Verstehensfigur, die in allen Texten auftreten kann. De Man, Autobiographie, 133-134.
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rien von Wahrheit, Echtheit und Unmittelbarkeit aufgehen kann.41 Diese Gedanken lassen sich weiterführen, ohne das Moment der Referenz vollkommen aufzugeben. Autobiographisches Schreiben ist nicht nur Teil der Lebenswelt, sondern formiert sie als Teil ihrer sozialen Konstruktion wesentlich mit. Referentialität und Textualität – so auch eine Grundannahme dieser Studie – widersprechen sich nicht. Von diesem dritten Umschwung in der Autobiographietheorie haben sich Wissenschaftler, die sich mit bäuerlicher Autobiographik befassen, bisher kaum beeindrucken lassen. Die Gründe hierfür sind weniger Folgen von Ignoranz, noch allein mit unterschiedlichen Generationen oder Wissenschaftsstilen erklärbar. Vielmehr offenbart die Enthaltsamkeit von den poststrukturalistischen Theorien ein tiefergehendes Missbehagen, das sich aus der Unversöhnlichkeit der Prämissen speist: Das Sprechen von der Unmöglichkeit des Subjekts und die Bestrebung, den Dominierten nun endlich ihre verweigerte Stimme zurückzugeben, sind nur schwer miteinander zu vereinbaren. Autobiographieforschung in Russland und zu Russland Der Umgang mit autobiographischen Texten aus dem Zarenreich und der Sowjetunion war von eigenen Traditionen geprägt. Er unterschied sich vor allem in der Gewichtung, die man dem Autobiographen als Individuum oder in seinen Bindungen zu Kollektiven beimaß, sowie in den Bereichen, für die der autobiographische Text Quelle sein sollte. Im Erkennen seiner Einzigartigkeit galt der russische Autobiograph als Mangelwesen, wahrhaft entfalten könne er sich nur in Gruppen. Das »Individuum ist im russischen Denken kein autonomer Wert« – so die These jener, die trotz intensiver Suche in den Texten nur »eine geringere Vertiefung in das eigene Selbst«42 finden können. Die »individuelle Persönlichkeit« rangiere in der russischen Autobiographik eindeutig hinter der Darstellung der Zeitläufte.43 Jedoch versäumten die Vertreter dieser These, ihr mit komparatistischen Studien empirischen Rückhalt zu verleihen. Auch zeitlich und kulturell verschiedenartige Individualitätsformen bezogen sie in ihr Urteil nicht ein. Die durch Orthodoxie, Leibeigenschaft, geringere Urbanität und nicht zuletzt durch die Autokratie geprägte russische Mentalität habe eben keinen Wert auf Individualismus und Persönlichkeit gelegt. Daher wurden jene Quellen in der
41 Depkat, Autobiographie, 452. Weniger offensiv: Günther, »And now for something completely different«. 42 Gretchanaja, Viollet, Russische Tagebücher, 47. Nach Abels hat die Umverteilungsgemeinde (obšþina) die Ausbildung von Individualität in Russland verhindert. Abels, Individuum, 5. 43 Stephan, Erinnertes Leben, 8.
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russischen Geschichtswissenschaft als ›Memoiristik‹ (memuaristika), in der Literaturwissenschaft als ›(auto-)dokumentarische Texte‹ ([avto-]dokumental’nye teksty) und ›nichtfiktive Prosa‹ (nevymyslennaja proza) bezeichnet, die schon in der Benennung den Bezug zur Außenwelt herausstellen und die Beziehung zum autos negieren. Doch unterscheidet sich Autobiographik aus Russland wirklich so sehr von ihren westeuropäischen Parallelen? Die Quellen lassen, wenn man nicht Goethe und Rousseau als alleinige Vertreter des ›Westens‹ zugrunde legt, jene proklamierten Unterschiede nicht erkennen. Die anders geartete Bewertung autobiographischer Texte beruht vielmehr auf einem Fort- und Abschreiben alter Prämissen, wobei sich vier Herkunftszweige auftun: Dieser Standpunkt hat – erstens – seine Ursache in dem Fehlen von Begriffen und Institutionen, die das Individuum als Selbstzweck würdigen. Diskurse, die den Menschen als Individuum definieren, wie das Persönlichkeitsrecht oder auch die Psychoanalyse, haben in Russland im Vergleich zu Westeuropa geringere Wirkkraft entwickelt.44 Zweitens ist die orthodoxe Tradition entscheidend, die von allen christlichen Kirchen das Sprechen über sich am nachdrücklichsten als Hybris verurteilt. Der Todsünde des Stolzes stellt sie Demut als höchste christliche Tugend entgegen. Drittens liegen die Ursachen für die verschiedene Bewertung in einer anderen Wissenschaftskultur, die nicht dem ›Verstehen‹ autobiographischer Texte als Ausdruck des Individuums anhing, da sie in ihren geschichtsphilosophischen und wissenschaftstheoretischen Betrachtungen seit den 1860er Jahren von anderen Voraussetzungen ausging. Historiker und ihre Kollegen aus der Literaturwissenschaft waren gehalten, mit autobiographischen Quellen andere Metaerzählungen zu stützen. Zwar ging die Theoretisierung autobiographischer Quellen ebenso wie in der ›westlichen‹ Autobiographietheorie mit einem immanenten Wahrheitsanspruch auf die jeweiligen Meistererzählungen einher: War es dort das autonome Selbst, das nur verstanden werden müsse, galt in Russland der Autobiograph als Zeuge für Ereignisse, dem ein Anspruch auf ein individuelles Moment in seinen Erinnerungen verneint wurde. Historiker, Literaturwissenschaftler und Publizisten schätzten autobiographische Quellen als Gegenarchiv. Sie sahen in ihnen Dokumentationen jener Ereignisse, die sonst unzugänglich in der Arkansphäre der wechselnden Macht verblieben: verschlossen hinter Archivmauern, verschwiegen durch die Zensur. Der Autobiograph verdiene – so die seit Alexander Herzen bis in die heutige Zeit fortgeführte Argumentation – sein Ansehen nicht als Zeuge seiner Selbst, sondern als Bote jener Ereignisse, die der Nachwelt sonst verborgen geblieben wären.45 Die autobiographischen Texte galten in Russland als auf das Vergessene oder zu Vergessende
44 Ebert, Vorwort, 9; Goldt, Freiheit in Einheit, 31. 45 Gercen [Herzen], Predislovie, 406.
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verweisende Reste, die den begrenzten Zugriff von Herrschaftssystemen aufzeigen und sie ins Wanken bringen konnten. Möglicherweise erkannten die Schreiber, insbesondere aber die nachgeborenen Leser, das Potenzial zur Systemveränderung, welches in den autobiographischen Texten lag, deutlicher als in den deutschsprachigen Ländern. Sie wurden immer dann vermisst und gesucht, wenn nach Herrschaftsumbrüchen die alten Eliten desavouiert und das Neue begrüßt werden sollte. Zudem korrespondiert – viertens – die Einschätzung vom fehlenden Individuum mit dem insbesondere an der Zeitgeschichte und der Auseinandersetzung mit dem Stalinismus geschulten Blick auf den russischen Menschen, der viele Jahre durch zwei Theorien geprägt war: Gemäß der Totalitarismustheorie besaßen die unter dem Sowjetstern lebenden Menschen keine eigenen Handlungsspielräume, sondern waren den durch Ideologie und Terror regierenden Machthabern hilflos ausgeliefert. Die nachfolgende ›revisionistische‹ Geschichtsschreibung entstand vor allem aus der Verdrossenheit der Historiker an der allumfassenden Bedeutung von Gewalt, Kontrolle und diktatorischer Fremdbestimmung in den von der Totalitarismustheorie geprägten Arbeiten. Statt die sowjetische Geschichte aus der Warte der Machtzentralen zu beleuchten, plädierten die sogenannten ›Revisionisten‹ dafür, den Stalinismus ›von unten‹ zu betrachten. Sie stellten demgemäß vor allem jene sozialen Gruppen in den Mittelpunkt, mit denen sich zu arrangieren das Regime gezwungen war. Dem einzelnen Menschen schenkten sie hingegen keine große Aufmerksamkeit. In gewisser Weise erfahren diese Einstellungen in den jüngeren Arbeiten zu autobiographischen Praktiken des Stalinismus – nun unter kulturgeschichtlichen Vorzeichen – ihre Fortsetzung. Ihre Verfasser heben die Dichotomie zwischen Privatem und Öffentlichem auf und zeigen, wie die Autobiographen ihr Selbst mit dem sozialistischen Kollektiv zu verschmelzen suchten, indem sie sich in ihren autobiographischen Texten dem offiziellen Diskurs anpassten.46 Insgesamt lassen sich in der russischen Auseinandersetzung mit Autobiographik drei Zäsuren unterscheiden, in die sich auch der Umgang mit bäuerlicher Autobiographik einordnen lässt. Die erste, in den 1870er Jahren beginnende Phase zeichnet sich durch eine Pluralität der Ansichten aus, wobei schon zu diesem Zeitpunkt die Anlehnung an den Positivismus und die Suche nach generell erklärenden Sätzen eine hermeneutische Lesart weitgehend verhinderte.
46 Siehe die Arbeiten von Jochen Hellbeck, Oleg Kharkhordin und Igal Halfin. Hellbeck, Revolution on My Mind; Hellbeck, Working; Hellbeck, Writing the Self; Hellbeck, SelfRealization; Hellbeck (Hrsg.), Tagebuch aus Moskau; Hellbeck, Fashioning the Stalinist Soul; Hellbeck, »Wo finde ich mein Spiegelbild?«; Hellbeck, Speaking Out; Kharkhordin, Obliþat’ i licemerit’; Kharkhordin, The Collective and the Individual; Halfin, Terror in My Soul. Kritisch dazu: Etkind, Soviet Subjectivity; Erren, »Selbstkritik« und Schuldbekenntnis, 29.
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Erste Phase – 1870er Jahre bis 1917 Autobiographische Quellen gerieten im Zuge der Professionalisierung der Historikerausbildung erstmalig in das Blickfeld der Hochschullehrer, die nun ähnlich wie in Deutschland, Österreich und der Schweiz begannen, zusammen mit ihren Studierenden den richtigen »Quellenblick«47 einzuüben. Der kritische Umgang mit historischen Quellen, der sich in der Tradition August Ludwig von Schlözers und der sogenannten Skeptischen Schule um Michail Kaþenovskij in den 1820er und 1830er Jahren vor allem auf Chroniken beschränkt hatte, wurde mit der Ausweitung des Quellenfundus auf andere Quellenarten übertragen. Nun erprobten die Historiker auch an Behördenakten, Gesetzestexten, Briefen sowie an autobiographischen Texten die innere und äußere Quellenkritik.48 In den frühen 1870er Jahren wurde der quellenkritische Umgang mit autobiographischen Quellen Unterrichtsgegenstand an den historischen Fakultäten des Zarenreichs. Diese Aufwertung erwies sich als zeitgemäße Entwicklung: Zu dieser Zeit lernten auch Studierende an den historischen Seminaren in Berlin, Wien oder Zürich, wie autobiographische Texte zu lesen und zu analysieren seien. Die größere Beachtung der vorher übersehenen Quellen wirkt zwingend, betrachtet man die politischen und gesellschaftlichen Veränderungen der vorangegangenen Jahre, in der die Autokratie angesichts der Schmach des verlorenen Krimkriegs eine Beteiligung der ›Gesellschaft‹ an den großen Reformvorhaben – wie beschränkt auch immer – zugelassen hatte.49 Mit der Aufwertung der ›Gesellschaft‹ ging auch eine neue Wertschätzung des Individuums einher, die den Blick auf Selbstzeugnisse und autobiographische Texte aller Schichten freigab. Gradmesser für jene Veränderungen sind der Publikationseifer und die Bibliographiebemühungen, mit denen Selbstzeugnisse und autobiographische Texte bedacht wurden.50 Memoiren, Erinnerungen und Tagebücher scheinen in jenen Jahren eine Möglichkeit gewesen zu sein, freier als in anderen Medien – die Vorzensur fiel in den ›dicken Journalen‹ ohnehin weg – über Vergangenheit und Gegenwart zu sprechen. Während die Herausgeber vor allem bei Autobiographien aus der Unter- und Mittelschicht die Repräsentativität des geschilderten Lebens für die Allgemeinheit betonten, wirkte es auf die Zensoren in seiner Einzigartigkeit vermeintlich harmlos. Ereignisse, die im journalistischen Teil der Zeitschriften und Gazetten kaum Widerhall fanden – wie zum Beispiel die Bauernunruhen vor und nach dem enttäuschenden Befreiungsmanifest 1861 – gelangten in Form von Erinnerungen und Lebensgeschichten in die Blätter hinein. Die vermeintliche Harmlosigkeit des auto-
47 Saxer, Vermittlungsweisen, 23, Fn. 6. 48 Šapiro, Russkaja istoriografija. 49 Schierle, Zur politisch-sozialen Begriffssprache; Kelly, Volkov, Obshchestvennost’. 50 Pekarskij, Russkie memuary; Gennadi, Zapiski; Pyljaev, Spisok glavnejšich memuarov.
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biographischen Genres erlaubte es, ihren Abdruck, häufig bearbeitet, gekürzt und mit Pseudonymen versehen, zu gestatten.51 Autobiographische Texte waren demnach längst präsent, bevor die Historiker auch an ihnen »das richtige Benutzen der Quelle« erläuterten und die Notwendigkeit der äußeren und inneren Quellenkritik vorführten.52 Die skeptische, mitunter ablehnende Bewertung, die autobiographischen Texten zuteil wurde, lässt sich nicht ohne die politischen und wissenschaftsgeschichtlichen Hintergründe verstehen. Sie waren dafür verantwortlich, dass das Individuum in den Reflexionen über Autobiographik einen Eigenwert besaß, jedoch insbesondere nach der Niederlage im Krimkrieg hinter Kollektivbegriffen wie Volk (narod), Nation (nacija) und Gesellschaft (obšþestvo) zurückstehen musste. Den Überschwang eines Wilhelm Dilthey, der die Selbstbiographie zur besten historischen Quelle kürte, teilten die russischen Historiker angesichts ihrer Gegenwart nicht. Dabei spielten zwei Prozesse eine Rolle: erstens die seit den 1830er Jahren vor allem aus liberalen Kreisen erschallende, seit der Katastrophe auf der Krim unüberhörbare Kritik an der Autokratie und der Ruf nach Mitsprache und Partizipation. Die Forderung nach Reformen und Wandel war in aller Munde. Und Veränderung sei nicht mehr durch das selbstherrliche Walten eines Einzelnen zu erreichen, sondern allein durch Masse! Folglich ließ sich das Individuum nur in seiner Gebundenheit denken, während autobiographische Quellen als Selbstbeweihräucherung der Eliten vor allem bei den jungen Sozial- und Wirtschaftshistorikern unter den Verdacht des Reaktionären gerieten. Zweitens war der Übergang der Geschichtswissenschaft von einem idiographischen zu einem nomothetischen Wissenschaftsverständnis entscheidend. Er führte zu einer veränderten Einstellung gegenüber dem, was Historiker, Soziologen und Philosophen als Antriebskräfte historischen Wandels sahen. Ein Indikator für diese Entwicklung sind die Veränderungen, die der russische Begriff für ›Persönlichkeit‹ (liþnost’) in diesen Jahren durchlief. Hatte der Begriff am Ende des 18. Jahrhunderts in der Sprache des Sentimentalismus die persönlichen Eigenschaften eines Menschen, seine Würde sowie die Fähigkeit zu tiefen Empfindungen bezeichnet, bildete er sich in den 1820er Jahren als Gegenbegriff zu ›Gesellschaft‹ heraus, indem er wie seine deutsche Entsprechung ›Individuum‹ den einzelnen Menschen als unteilbares, unabhängiges und einmaliges Wesen bestimmte. Wenige Jahre später wurde liþnost’ nicht mehr in Abgrenzung zur Gesellschaft gedacht,
51 Zur Zensur autobiographischer Texte siehe ýekunova, Russkoe memuarnoe nasledie, 5965; Žitomirskaja (Hrsg.), Vospominanija i dnevniki, 4. Hiroaki Kuromiya vertritt dieses Argument auch für die Sowjetunion. In der ›Tauwetterperiode‹ sei es weniger riskant gewesen, streitbare Ansichten der Vergangenheit in Form autobiographischer Texte zu äußern. Kuromiya, Soviet Memoirs, 234. 52 Bestužev-Rjumin, Russkaja istorija, 10.
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sondern das Individuum in seiner Abhängigkeit von gesellschaftlichen Gruppen entworfen.53 Die Gesellschaft habe die Rechte jedes Einzelnen zu gewährleisten, während auf das Individuum Pflichten gegenüber der Gesellschaft zukämen. Liþnost’ in seiner engen Verbindung mit Gesellschaft (obšþestvo) wandelte sich in seiner Konnotation innerhalb weniger Jahre zum »Erwartungsbegriff«, an dem sich Staat und Gesellschaft auszurichten hatten und mit dem die Aufholjagd des rückständigen Russland gelingen sollte.54 Nachholende Modernisierung und soziale Stabilität waren die hehren Ziele, die mit der Forderung nach Individualisierung verbunden waren. Dies wirkte auf die Bewertung autobiographischer Texte zurück. Entgegen der hermeneutischen, individualisierenden Lesart des deutschen Historismus galten autobiographische Texte nicht als unmittelbarer Ausdruck eines Einzelnen, sondern gesellschaftlicher Gruppen. Die Schwächung der Autokratie als Integrationsklammer des Imperiums, die Forderung der Intelligencija nach Mitbestimmung und Meinungsfreiheit, der Aufbau der Zemstva und das damit gestiegene Interesse an den Provinzen ließ neben der den Staat überbetonenden und damit affirmativen Geschichtsschreibung neue Stimmen ertönen. Historiker wie Nikolaj Kostomarov, Konstantin BestuževRjumin, Afanasij Šþapov sowie die in die Provinzen hinausströmenden Ethnographen wandten sich der Lokalgeschichte zu, die in ihrem Anliegen nicht nur mit den nach dem Krimkrieg eingeforderten Reformen harmonierte, sondern die zudem durch das Aufzeigen ihrer historischen Wurzeln die Rufe nach Dezentralisierung und Partizipation aller gesellschaftlichen Schichten an der staatlichen Verwaltung erst legitimierte.55 Anstelle des nur unterschwellig wirkenden und in seiner Abhängigkeit von ›großen Menschen‹ passiv gebliebenen Volks der Historischen Rechtsschule (juridiþeskaja škola oder gosudarstvennaja škola), die von dem Historiker Sergej Solov’ev und dem Juristen Konstantin Kavelin dominiert wurde, stand bei der nachfolgenden Historikergeneration die gesamte Gesellschaft als Antrieb historischen Wandels im Mittelpunkt.56 So widersprüchlich es klingt, bedeutete dies einerseits
53 Vinogradov, Liþnost’, 273, 300. 54 Koselleck, Die Geschichte der Begriffe, 68. 55 Starr, Decentralization, 90-107; Bojarþenkov, Problema mestnoj istorii, 40-43. 56 Sowohl Solov’ev als auch Kavelin gingen seit den 1840er Jahren davon aus, dass die Staatsverfassung im Zarenreich sich aus dem patriarchalischen Stammesverband (rodovoj byt) entwickelt habe. Kavelins und Solov’evs Arbeiten besaßen eine große Strahlkraft. Durch sie wurden rechtshistorische Arbeiten populär. Vor allem durch die Schriften Solov’evs fanden mit der historischen Methode die Standards der modernen Geschichtswissenschaft Eingang in die Universitäten des Zarenreichs. Solov’ev hatte Peter I. zum »gro-
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eine Aufwertung des Individuums jenseits von Stand und Geburt, andererseits seine gleichzeitige Nivellierung, indem es nur in seinen Bezügen und als Teil der Gesellschaft gedacht werden konnte. Diese Entwicklung erhielt Auftrieb von der sich in Russland institutionell nur mühsam etablierenden Soziologie. Ihr bekanntester Vertreter Petr Lavrov hatte als Verbannter in seinen Historischen Briefen 1866 die »kritisch denkende Persönlichkeit« als Antriebskraft historischen Wandels gefeiert. Die die russische Soziologie begründenden Texte von Lavrov und Nikolaj Michajlovskij begeisterten gerade durch ihren aufmüpfigen Charakter die nach Westen blickende Intelligencija. In ihren Schriften war das Individuum sowohl Schöpfer als auch Produkt der Gesellschaft. Die Aufdeckung jener Gesetze, die den Gang der Geschichte steuerten und die das Individuum verlangsamen oder beschleunigen konnte, versprach eine goldene Formel, mit der sich die Gesellschaft wirkungsvoll umgestalten ließe.57 Euphorisch wurden in diesen Jahren die Schriften von Auguste Comte und Herbert Spencer begrüßt. Noch mehr Aufsehen erregte die History of Civilization in England von Thomas Henry Buckle, der die Aufgabe des Historikers darin sah, die Vielzahl historischer Ereignisse auf ein Minimum allgemeiner und nicht veränderbarer Gesetze zu reduzieren.58 Anders als in Deutschland, wo sich der Historismus auch noch nach dem sogenannten Methodenstreit behaupten konnte und sozialgeschichtliche Ansätze auf lange Zeit verhinderte, suchten die russischen Historiker schon vor der Jahrhundertwende die Nähe zu den Naturwissenschaften.59 Für die russischen Leser schien der Vorteil Comtes Kausalität gegenüber Hegels Dialektik darin zu bestehen, dass Kultur darin nicht vom Kopf her, durch den Staat definiert wird, sondern sich von unten, aus den einzelnen gesellschaftlichen Kräften aufbaut. Erst das Zusammenspiel der einzelnen Elemente bringt hier das Ganze hervor.60 Dies gab auch den Blick auf das Handeln der Unterschichten frei. Die sich als Exegeten von Comte und Buckle gefallende jüngere Historikergeneration knüpfte seit den 1870er Jahren die Wissenschaftlichkeit ihrer Disziplin an die Gesetzmäßigkeit des Geschichtsverlaufs sowie die Suche nach allgemeinen Strukturzusammenhängen. Institutionen, Bräuche, Mentalität, Traditionen, Klima und geographische Faktoren waren in den Augen der sich an der Soziologie orientierenden Historiker wichtiger als Ideen und Individuen, welche die Historische
ßen Menschen« erklärt, der die Aufgabe vollendet habe, die der historische Prozess an ihn herangetragen hätte. Grothusen, Die Historische Rechtsschule. 57 Vucinich, Social Thought, 24. 58 Bokl’ [Buckle], Istorija civilizacii v Anglii. 59 Zur Rezeption des ›Methodenstreits‹ in der russischen Geschichtswissenschaft siehe Norkus, Historismus und Historik, 369-386; Malinin, Staroe i novoe napravlenie, 38. 60 Bohn, Russische Geschichtswissenschaft, 98; Troeltsch, Dynamik der Geschichte, 11.
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Rechtsschule in den Mittelpunkt gestellt hatte. Aufgrund dieser Prämissen verlor der einzelne Mensch seine Bedeutung als Ursache historischen Wandels und konnte in den Arbeiten der jüngeren Historiker nur noch als Spiegel und Katalysator dienen.61 Es verwundert daher kaum, dass sowohl Konstantin Bestužev-Rjumin in seiner Einführung in die russische Geschichte aus dem Jahre 1872 als auch Vasilij Kljuþevskij mit seinen Vorlesungen zur Quellenkunde von 1894 autobiographische Texte sehr skeptisch beurteilten.62 Sie schätzten den Autobiographen als unbeteiligten Augenzeugen, dessen Bericht die Mängel anderer Quellen ausgleichen könne, fürchteten aber sein Beteiligt-Sein, Unaufrichtigkeit und Parteilichkeit. Den Vorzug vor dem Einzelschicksal gaben auch Bestužev-Rjumin und Kljuþevskij der Gesellschaft. Die Unterschiede zwischen der ›Petersburger Schule‹, die Bestužev-Rjumin vertrat, und der ›Moskauer Schule‹, deren Mittelpunkt Kljuþevskij darstellte, waren in der Bewertung autobiographischer Quellen marginal.63 An jenen Quellen bündelten sich die Zweifel, die aus quellenkritischen Überlegungen entstanden, wie sie die Petersburger vertraten, sowie der Argwohn gegenüber dem Elitären und Einzigartigen, den die sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Themen bevorzugenden Moskauer Historiker pflegten.64 Zudem offenbart der Umgang mit autobiographischen Texten auch disziplinäre Ansprüche: Waren bis in die 1860er Jahre das Verfassen von Memoiren und die Geschichtsschreibung nicht klar getrennt gewesen, so werteten die Historiker mit fortschreitender Institutionalisierung und Professionalisierung ihrer Disziplin die als parteiisch und unwissenschaftlich deklarierte Konkurrenz ab.65 Auch sie vertraten die Devise, dass der eine Geschichte mache, der andere sie aufzuschreiben habe. Nicht Memoirenschreiber, sondern an Universitäten ausgebildete Historiker seien dazu berufen, Geschichte zu verfassen. Professionelle Historiker hätten über die Lebensmodelle zu entscheiden, die in die ›große Geschichte‹ Eingang finden könnten. Positionen wie die eines Nikolaj ýeþulin, der in seinem Vorlesungsdebüt 1891 anhand autobiographischer Quellen ›Verstehen‹ und ›Erklären‹ verbinden wollte und der den Wert autobiographischer Quellen nicht allein in
61 Obgleich Kljuþevskij ein Meister im Schreiben biographischer Skizzen war, galten sie ihm weniger als Hinwendung zum Individuum denn als didaktisches Mittel, mit dem sich Geschichte lebendig vermitteln lasse. Kljuþevskij, Istoriþeskie portrety. 62 Bestužev-Rjumin, Russkaja istorija; Kljuþevskij, Lekcija IV. 63 Die Bezeichnung ›Moskauer Schule‹ geht auf Pavel Miljukov zurück, der damit den sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Ansatz der Moskauer Historiker von den in der Tradition Schlözers stehenden quellenkundlichen Bemühungen der Petersburger Historiker schied. Bohn, Russische Geschichtswissenschaft, 177. 64 Bohn, Russische Geschichtswissenschaft, 181. 65 Tartakovskij, Russkaja memuaristika, 340; Tartakovskij, 1812 god, 262.
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der Sicherstellung von Fakten erkennen mochte, blieben als die vergeblich ambitionierten Äußerungen eines Privatdozenten kaum beachtet.66 Explizit über bäuerliche Selbstzeugnisse haben russische Historiker in ihren Quellenkunden und schriftlich niedergelegten Vorlesungen nicht reflektiert. Ihre Stimmen lassen sich allein in den Vorworten zur bäuerlichen Autobiographik vernehmen, in denen sie aus einer nicht disziplinär verstandenen Position über die Ansprüche und Leseerwartungen an den bäuerlichen Autobiographen sprachen und ihr besonderes Interesse an den bäuerlichen Lebenswelten begründeten. Waren die Bauern und das Dorf zur Zeit der Leibeigenschaft kaum Gegenstand wissenschaftlichen Nachdenkens gewesen, weil beim Sprechen über sie auch ihre Rechtlosigkeit hätte thematisiert werden müssen, nahmen nach der Bauernbefreiung nicht nur Historiker, sondern auch Geographen, Statistiker, Ethnographen, Heimatkundler und Philologen sie als Teil der Gesellschaft, mithin als wissenschaftliche Tatsache wahr. Nun begannen die Historiker eine Geschichte des russischen Bauern zu vermissen. Biographische Skizzen über Leibeigene, die in der Zeit ihrer Verknechtung Einzelfälle geblieben waren, entstanden nach der Bauernbefreiung vermehrt. Auch autobiographische Texte von Leibeigenen erschienen: Waren vor 1861 nur zwei lebensgeschichtliche Texte von Bauern veröffentlicht worden, wuchs die Zahl der Autobiographien, in denen Bauern über sich als ehemalige Leibeigene sprachen, in den Jahren nach der Aufhebung der Leibeigenschaft auf ein Dutzend an.67 1883 erschien die erste größere Studie über die leibeigene Intelligencija (krepostnaja intelligencija), die geeignet war, dem literarischen Sujet des singenden, tanzenden und schreibenden Leibeigenen soziologisch inspirierte Empirie an die Seite zu stellen.68 Vasilij Semevskij, dessen Bruder Michail in der Russkaja Starina zahlreiche bäuerliche Autobiographien veröffentlicht hatte, setzte sich nieder und begann mit der Arbeit an einer Geschichte der Bauern.69 Die Forscher und Publizisten versuchten,
66 ýeþulin, Memuary, 3. 67 Über die Quantitäten lassen sich keine sicheren Aussagen erzielen. Ich stütze mich vor allem auf die Bibliographie Zajonþkovskijs, in der allerdings – wie weitere Quellenfunde zeigen – nicht alle publizierte bäuerliche Autobiographik erfasst ist. Zajonþkovskij (Red.), Istorija doerevoljucionnoj Rossii. 68 Letkova, Krepostnaja intelligencija. Zur vorrevolutionären und sowjetischen Historiographie über die leibeigene Intelligenz siehe: Kurmaþeva, Krepostnaja intelligencija, 15-57. Die leibeigene Intelligencija als literarischer Gegenstand findet sich u.a. bei Herzen in den Arbeiten: Kto vinovat’?, Soroka vorovka, sowie: Byloe i dumy, bei Belinskij: Dmitrij Kalinin, bei Ševþenko: Varnak; Chudožnik, sowie: Muzykant. Auch in Radišþevs Reise von Petersburg nach Moskau treten gebildetete Leibeigene auf, besonders im Kap. Gorodnja: Radišþev, Putešestvie. 69 Moon, The Russian Peasantry, 4.
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ihre Wissenslücken, denen Leerstellen in Archiven, Bibliotheken und Sammlungen entsprachen, zu füllen. Doch ließ sie nicht nur ein Mangel an Material auf die Stimmen der Bauern zurückgreifen. Ihre Hinwendung zu den Marginalisierten war auch eine Geste politischer Selbstverortung. Damit holten sie die Bauern in Kollektive hinein, die sie Volk, Gesellschaft, Nation oder Intelligencija nannten und denen sie sich selbst ebenso zugehörig fühlten, während die Bauern gleichfalls ihre Stimmen als Äußerungen dieser Gemeinschaften Nachdruck verliehen. Als Währung des Ruhmes und Ausweis der Zugehörigkeit dienten der Abdruck in den Zeitschriften oder Urkunden und Medaillen, die Organisationen wie die Geographische Gesellschaft, das Komitee für Alphabetisierung sowie die Akademie der Wissenschaften an schreibende Leibeigene und Bauern vergaben. Sie würdigten damit nicht nur bäuerliches Bildungsbemühen, sondern bestätigten sich als Richter und Mäzene in ihren erhöhten Positionen.70 Mit Epitheta wie ›volkstümlich‹ (narodnaja) oder ›leibeigen‹ (krepostnaja) wiesen sie auf die Differenzen jenseits des gemeinsamen Oberbegriffs Intelligencija hin. Das Lesen und Aneignen bäuerlicher Lebenswege verhieß das Abheilen der Wunde, die die Leibeigenschaft geschlagen hatte. Bäuerliche Autobiographik versprach ›innere Kolonisation‹: Auch mit ihr ließen sich die ›dunklen Ecken‹, vergessenen Provinznester und die fremde Welt der Bauern in vertrautes Land und eine gemeinsame Geschichte verwandeln.71 Und so »wie sich die Sonne in einer geringen Menge Wasser spiegelt«, so gaben einzelne Orte das »ganze bäuerliche Leben Russlands wieder«.72 Die Siedlung Pavlovo, für die der Bauer Sorokin in seiner Autobiographie fortdauernde Ungerechtigkeiten nach der Bauernbefreiung beschrieb, stehe – so der Redakteur des Severnyj Vestnik – stellvertretend für viele Orte. Und während Historiker und Publizisten in den deutschsprachigen Ländern am gelehrten Bauern Einzigartigkeit und Besonderheit schätzten, durch die er sich gleich einer Perle von der grauen Masse abhebe, betonten sie in Russland seine Repräsentativität. Der bäuerliche Autobiograph stand nicht für sich, sondern war Zeuge aller Bauern. Er sprach nicht nur für seine Person, sondern war Sprachrohr seines Standes und sollte mit seinem Leben Spiegel historischer Vorgänge sein. Zwischen der Bauernbefreiung und der Oktoberrevolution wurden dem russischen Lesepublikum hunderte bäuerliche Lebenswege präsentiert, in denen Bauern als ehemalige Leibeigene, Konvertiten, Autodidakten, ›Sektierer‹ und Naturtalente auftraten. Die sich mit der Sichel schmückende Sowjetunion erreichte diese
70 Mehrere Beispiele für die Auszeichnungen von Leibeigenen und Bauern bei: Koc, Krepostnaja intelligencija, 192, 195, 204. 71 Zum Topos der ›inneren Kolonisation‹ in der russischen Historiographie des 19. Jahrhunderts: Frank, »Innere Kolonisation«. 72 Sorokin, Avtobiografija krest’janina, 82.
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Zahl nicht. Sie gab dem Hammer den Vorzug, der für die Arbeiter stand. Die Argumentationen, die in den Vorworten für die bäuerlichen Lebensgeschichten warben, weisen dagegen vor und nach 1917 starke Gemeinsamkeiten auf. Es ist die Sprache des Rechts, die in ihnen hörbar wird und die dem Autobiographen nicht Selbstbeobachtung und Verstehen abforderte, sondern die vorurteilslose Darlegung einer als Streitfall verstandenen Vergangenheit. Über das Gewesene sei das Urteil noch nicht gefällt, die Beweisaufnahme noch in vollem Gange.73 Es war der aus der Hagiographie stammende Gestus des Bezeugens, dem die Historiker und Publizisten im autobiographischen Schreiben der Unterschichten nachspürten. Er bestimmt bis heute das Sprechen über bäuerliche Autobiographik aus Zarenreich und Sowjetunion und kündet damit von der Wirkmächtigkeit des in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erstmalig auf Leibeigene und Bauern angewandten Topos. Während Historiker und Herausgeber in Deutschland, Österreich und der Schweiz unter der Prämisse des ›Verstehens‹ Verbindungen und Gemeinsamkeiten zwischen Autobiograph und Leser postulierten, kündete das Sprechen über den bäuerlichen Autobiographen aus Russland von der Ungleichzeitigkeit der Erfahrungen. Die Kluft zwischen der Position des Sprechens und der des Zuhörens wurde häufig thematisiert. Sie musste immer wieder aufs Neue durch das beharrliche Versprechen, die Wahrheit zu sagen, überwunden werden, während die Publizisten in ihren Vorworten ebenso stetig den Anspruch formulierten, dass in einem Selbstzeugnis (svidetel’stvo) die Wahrheit zu sprechen sei.74 In Russland war (bäuerliche) Autobiographik weit mehr war als eine stilistische Alternative zu den »toten Abstraktionen«75 des Archivs. Sie sprach in den Augen ihrer Sammler, Publizisten und Schreiber verborgene Wahrheiten aus und knüpfte auch in diesem Aspekt an die biographischen Schreibformen der Hagiographie an. Immer wieder hatte der Erzpriester Avvakum, der als Wortführer der Altgläubigen gegen die Reformen des Patriarchen Nikon aufbegehrte, in seiner 1672/73 verfassten Lebensbeschreibung (žitie) versichert, nicht zu lügen. Wie seine Epigonen im autobiographischen Schreiben verwies er auf die einfachen Worte und die Nüchternheit, in denen er sein Leben präsentierte: »[N]icht schöne Worte will Gott, sondern unsere Werke.«76
73 Weigel, Zeugnis und Zeugenschaft, 116. 74 Beispielhaft die Vorworte der folgenden Autobiographien: Purlevskij, Vospominanija krepostnogo, 320; Golyšev, Vospominanija. Dagegen verspricht der sich hinter seinen Initialen verbergende Schreiber A. Š. Echtheit und Wahrhaftigkeit schon im Titel seiner Autobiographie Authentische Erinnerungen eines ehemaligen Leibeigenen. Die Autobiographie ist 1883 im Russkoe Bogatstvo erschienen: A. Š., Podlinnyja vospominanija; Koževnikov, Rasskaz byvšago staroobrjadca, 9. 75 Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften, 33-34. 76 Hildebrandt (Hrsg.), Das Leben, 7; Lichatschow, Der Mensch, 188, 211.
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Der Autobiograph versprach, seine Geschichte ohne Rücksicht auf eigene und fremde Interessen zu schildern, und machte sich so den Zeugenstand zur Bühne. Das Moment der Wahrheit bildete den Gradmesser der Beurteilung. Es legitimierte nicht nur den Abdruck in den Zeitschriften, sondern war auch die immer wieder vorgebrachte Rechtfertigung für die im ausgehenden Zarenreich entstehenden Autobiographieprojekte, die meist als inoffizielle Kollektionen begannen. Kunstfertigkeit und Literarizität, die die deutschsprachigen Liebhaber von autobiographischen ›Höhenwanderungen‹ so sehr schätzten, waren in Russland keine solch wirkmächtigen Kriterien. Mit ihnen ließen sich die Erinnerungen der Unterschichten nicht ausschließen. Sie galten in einer Kultur, in der holprige Worte und krakelige Schrift Authentizität verhießen, sogar als verdächtig. Eine zu sehr an Berufsliteraten erinnernde Sprache ließ den bäuerlichen Autobiographen als bloßen Verleiher seines Namens erscheinen, der zu Unrecht einen ›autobiographischen Pakt‹ anbot.77 Nikolaj Šþerban, der 1877 die Memoiren des ehemaligen Leibeigenen Savva Purlevskij herausgab, wurde nicht müde, im Vorwort zu betonen, dass die von ihm stilistisch überarbeiteten Erinnerungen als authentische Handschrift vorlägen. Diese gebe die eigenhändig verfassten Notizen eines kaum schriftkundigen Menschen wieder.78 Und auch im prächtig ausgestatteten Erinnerungsbuch Die große Reform, das fünfzig Jahre nach Aufhebung der Leibeigenschaft erschien, griffen die Herausgeber auf das Tagebuch eines der Schrift kaum mächtigen Bauern aus dem Gouvernement Kostroma zurück. In seinen mit schwerer Hand niedergelegten Notizen spiegele sich angeblich »wie in einen kleinem Wassertropfen« die erneute »Unterwerfung der Bauern« nach 1861 wider.79 Vom Autobiographen als Zeugen wurden nicht nach außen getragene Betroffenheit und literarische Verfeinerung eingefordert, sondern kühle Beobachtung des Geschehens. Es war die Nähe zu den Orten des Geschehens, die vermeintliche Authentizität des Augenscheins sowie das Sprechen um der Mitteilung willen, die das bäuerliche Schreiben als Zeugenaussage so wertvoll machten. Zudem zeigen diese Elemente deutlich, wie sehr es sein Ansehen auch aus hagiographischen Sprechund Schreibformen bezog. Die Autobiographen und Publizisten vermieden um jeden Preis den Eindruck, Fiktionen zu veröffentlichen. Sie unterstellten den Lesern das Interesse an Echtheit als einzige Leseerwartung. Dichtung und Wahrheit durchdrangen sich nicht gegenseitig, sondern schlossen sich in den Reflexionen über Autobiographik aus. Auch die Gründe, die der Herausgeber der Erinnerungen Ljubov’ NikulinaKosickajas für die Veröffentlichung in seinem Blatt angab, hätten bei deutschen
77 Lejeune, Der autobiographische Pakt, 231. 78 Purlevskij, Vospominanija krepostnago, 320-321. Siehe auch Kap. 2.1. 79 Popel’nickij, Dnevnik krest’janina, 219.
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Publizisten wohl eher zu ihrem Ausschluss geführt. Er pries die 1878 in der Russkaja Starina erschienenen Notizen der ehemaligen Leibeigenen wegen ihrer »Naivität und Wahrhaftigkeit, beim vollständigen Fehlen eines Anspruchs auf Autorschaft« an. Nikulina-Kosickaja, die als Leibeigene in ihrer Kindheit auf dem Gutshof Grausamkeit und Ausbeutung erlitten habe, sei eine einfache Frau, welche die »Anforderungen des gedruckten Wortes nicht kenne«. Ihre Nähe zu der Welt des Theaters, auf dessen Brettern sie in den 1850er Jahren als Schauspielerin große Erfolge gefeiert hatte, fiel bei der Bewertung nicht ins Gewicht.80 Die Autobiographen übernahmen die Ansprüche. Sie maßen ihre eigenen Darlegungen an der Nähe zur Wahrheit und beanspruchten durch eine vorgeblich uneigennützige Ehrlichkeit ein Publikum: Auch wenn es mitunter unangenehm war, die Wahrheit mitzuteilen, gab es zu der gleich einer Aussage vor Gericht verstandenen Zeugenschaft keine Alternative. Die eigenen und fremden Ambitionen, die an sie als Chronistin ihres Lebens gestellt wurden, schilderte Nikulina-Kosickaja in einem Brief an einen Freund. Auf seine Anregung hin hatte sie sich zur Niederschrift ihres Lebens entschlossen. Gleich einer Vielzahl russischer Autobiographen – schon Avvakum hatte die Aufforderung seines Beichtvaters Epifanij angegeben81 – hatte auch am Beginn Nikulina-Kosickajas Lebensbeschreibung nicht die Lust am Erzählen, sondern eine autoritäre Weisung gestanden: »Ich, die ich fürchtete, die Wahrheit meines Lebens einem Publikum zur Beurteilung zu überlassen, habe nicht wenig Widerstand geleistet. Und dies nicht weil die Wahrheit bitter und nicht gut ist, nein – die Wahrheit ist überall und immer gut, wie und wo sie auch gezeigt wird – nur fürchten wir trotzdem die Wahrheit. Da ist nichts zu machen, ihrem Wunsch muss nachgegeben werden. Ich gebe mein gesamtes Leben weg zur Beurteilung durch würdige Personen und auch zur Beurteilung durch Personen, die es nicht wert sind, Richter zu sein!«82
Die Wahrheit, die in den autobiographischen Texten – angeblich auch gegen den Willen ihrer Autoren – nach außen dringe, war nicht nur für bäuerliche und leibeigene Autobiographen eine oft benutzte Authentizitäts- und Legitimitätsstrategie. Sie findet sich sowohl in der žitie Avvakums als auch in der Vorrede, die der Publi-
80 Nikulina-Kosickaja, Zapiski, 68. 81 Hildebrandt (Hrsg.), Das Leben, 7. Die Auflistung jener, die den Autobiographen ermutigt oder aufgefordert hätten, ihre Lebensbeschreibung zu verfassen, ist ein wiederkehrendes narratives Element in der bäuerlichen Autobiographik. So listete beispielsweise der Bauer Matvej Ožegov zu Beginn seiner Autobiographie auf zwei Seiten jene Personen auf, auf deren Wunsch hin er seine Lebensgeschichte verfasst habe. Ožegov, Moja žizn’, 4-5. 82 Nikulina-Kosickaja, Zapiski, 69.
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zist Alexander Herzen seinen Memoiren vorangestellt hat. Die Ähnlichkeiten zeigen, wie sehr das Sprechen über bäuerliche Autobiographik dem allgemeinen Sprechen über Memoiren, Erinnerungen und Tagebüchern gleicht. Keinem anderen Land seien – so Herzen – Memoiren so nötig wie Russland, denn sie offenbaren eine Wahrheit, die geeignet sei, zu erschrecken und zu erstaunen. Vor allem Zensoren und kaiserliche Kommandanten hätten sie zu fürchten.83 Die Historiker begegneten dem Beharren auf Wahrheit, durch das die Autobiographen versuchten, als vertrauenswürdige Zeugen aufzutreten, sich dabei aber auch widersprachen und unterschiedliche Ansichten der Vergangenheit aufzeigten, mit Argwohn. Sobald sie aus einer disziplinären Position – sei es in Quellenkunden oder Vorlesungen – sprachen, nahmen sie eine skeptische Position ein. In ihren explizit als Historiker veröffentlichten Schriften lehrten sie Misstrauen beim Umgang mit autobiographischen Texten. Sie versuchten, die Interessen zu entlarven, die hinter den Wahrheitsansprüchen standen. Autobiographien, deren Deutungen der Vergangenheit nicht mit den eigenen übereinstimmten, wurde Unaufrichtigkeit unterstellt. Zweite Phase – 1917 bis 1970er Jahre Bis 1917 galten Memoiren, Tagebücher und Autobiographien als wichtige, gleichwohl mit Vorsicht und einer aufmerksamen Kritik zu behandelnde Quellen. Sie seien zwar außergewöhnlich weit von der objektiven Wahrheit entfernt, doch dank seines hilfswissenschaftlichen Handwerkszeugs könne der Geschichtsschreiber sie als zusätzliche Quelle nutzen.84 Ihr besonderer Wert ergebe sich aus der Unzulänglichkeit anderer Quellen. Vor allem ihre »Lebendigkeit« und ihre Redseligkeit in Bezug auf Ereignisse, über welche die Zensur und Archive den Mantel des Schweigens gelegt hätten, wurden geschätzt.85 Der nach 1917 eingetretene Wandel zeigte sich nicht nur in den großen gesellschaftlichen Prozessen, sondern fand seinen Niederschlag auch in der Quellenkritik, speziell im Umgang mit autobiographischen Texten. Gerade sie erwiesen sich in den Augen der marxistischen Historiker als besonders geeignet, um eine neue Lesart der Geschichte in den Universitäten und vor allem außerhalb – in den Fabriken und Betrieben – zu etablieren und mit einer neuen Sicht auf die Vergangenheit zugleich eine neue Zukunft zu entwerfen. Wie keine andere Quellenart wurden Tagebücher und Erinnerungen genutzt, um die Möglichkeiten einer neuen, marxistischen Geschichtswissenschaft zu thematisieren.86 In der
83 Gercen [Herzen], Predislovie, 406. 84 Als Beispiel für diese Position kann die Arbeit des Kljuþevskij-Schülers Michail Kloþkov gelten. Kloþkov, Oþerki, 43, 46. 85 Piþeta, Vvedenie, 61. 86 Diese Entwicklungen finden sich auch in anderen Disziplinen, z.B. der Psychologie, Pädologie oder Pädagogik. Pädagogen wie N.A. Rybnikov plädierten seit der Oktoberrevo-
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zweiten Phase veränderte sich nicht nur der quellenkritische Umgang mit autobiographischen Quellen sowie die Einstellung zu staatlichen Archiven und früheren Aufbewahrungspraktiken, sondern ebenso die Rolle, die dem Historiker und dem Autobiographen zugewiesen wurde. Die Bewertung autobiographischer Quellen war paradox: Persönliche Erinnerungen, Tagebücher und Memoiren galten nach der Oktoberrevolution als die besten und zugleich als die schlechtesten aller möglichen Quellen. Der Autobiograph fiel in der Bewertung durch die Historiker ebenfalls schizophrenen Ansprüchen anheim: Einerseits sollte er lebendig, bescheiden und aufrichtig über die Vergangenheit berichten, andererseits setzte er sich damit dem Vorwurf des Subjektivismus (sub-ektivizm) aus.87 Bis in die 1980er Jahre war dies das Schlüsselwort, welches die Ablehnung der Quellenart begründete. Historiker, die den Autobiographen des sub-ektivizm bezichtigten, verfolgten damit zwei Ziele: Zum einen markierten sie ihre eigene Zugehörigkeit zur objektiven, marxistisch-leninistischen Geschichtsphilosophie, zum anderen verhängten sie auf diese Weise über den Autobiographen die Fama der »subjektiven Blindheit«, mit der Lenin die von Kant, Fichte und Hume geprägte philosophische Richtung bedacht hatte.88 War die Quellenkritik in der vorrevolutionären Geschichtswissenschaft ein Distinktionsmerkmal gewesen, mit dem sich der professionelle Historiker vom Amateur unterschied, so setzte sich nun der marxistische Historiker mit ihr von seinem ›bourgeoisen‹ Vorgänger ab. Dabei wies er sich eine neue Rolle bei der Quellensuche zu: Er spürte autobiographische Texte nicht mehr als »Archivratte«89 zwischen den Akten, in den Bibliotheken und Nachlässen auf, sondern erzeugte sie ›spontan‹ zusammen mit dem Autobiographen.90 Vergangenheit – und dies stellt eine Umkehrung der frühen Kriterien der Historikerausbildung dar – fand sich nicht mehr auf verblichenem Papier wieder, sondern erschien greifbar in den mündlichen
lution bis in die 1930er Jahre hinein für die Gründung eines Biographischen Instituts sowie für die Sammlung von Tagebüchern und Autobiographien von Arbeitern und Bauern. Großes Gewicht legten sie auch auf das autobiographische Schreiben von Heranwachsenden. Rybnikov, Avtobiografija raboþich; Rybnikov, Biografiþeskij institut; Rybnikov, Biografii i ich izuþenie; Rybnikov, Izuþenie biografii; Rybnikov, Central’nyj Pedologiþeskoj Institut. Vgl. Hellbeck, Revolution on My Mind, 40-41. 87 Einige bäuerliche Autobiographen reagierten in den 1930er Jahren auf diese Anforderungen. Sie versprachen schon im Titel, nur Fakten zu präsentieren. Vgl. Novikov, Fakty o moej žizni. Avtobiografija, RGB f. 369 398.22, 1935. Siehe Kap. 3.1. 88 Lenin, K voprosu o dialektike, 322. 89 Siehe die Polemik Stalins gegen die ›bourgeoisen‹ Historiker in der Proletarskaja Revoljucija 1931. Stalin, Über einige Fragen der Geschichte, 61. 90 Gelis, Kak nado pisat’ vospominanija, 197.
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oder aufgrund von Schreibaufrufen verfassten Erzählungen ihrer Akteure. Früher bevorzugte Quellenarten wie Gesetzessammlungen oder Chroniken wurden als ›bourgeoise Quellen‹ abgewertet. Damit einher ging die Kritik an den staatlichen Archiven als zaristischer Herrschaftsinstitution und an den durch sie geschaffenen, nun nicht mehr für recht befundenen Wissenskonstruktionen. Die Inbesitznahme dieses Symbols autokratischer Herrschaft hatte unter den Bol’ševiki ein paradoxes Gefühl von Freude und Enttäuschung erzeugt, das sich in seiner ganzen Widersprüchlichkeit am deutlichsten bei den Reflexionen über autobiographische Texte offenbarte. Die Archive schwiegen.91 Der Mythos eines hinter Archivmauern verschlossenen Schatzes, der die ›richtige‹ Wahrheit über die Vergangenheit barg, bekam unübersehbare Risse. Über die Arbeiterbewegung und die ›bäuerliche Bewegung‹ ließen sich aus den dort verwahrten Akten – so die Klagen marxistischer Historiker – nur wenige Informationen ziehen. Der vorrevolutionäre Klassenkampf, der in der Oktoberrevolution seinen Höhenpunkt gefunden habe, blieb im Dunklen. Diese Lücke im Archiv (maloarchiv’e)92 war einer der Hauptgründe, mit denen die marxistischen Historiker und Publizisten das Sammeln autobiographischer Texte und den dabei zu erbringenden Aufwand legitimierten. Der Archivbesuch als Initiationsritus, der bis 1917 den ›richtigen‹ Historiker vom Dilettanten unterschieden hatte, verlor mit der Schwerpunktsetzung auf die kaum vergangene Zeitgeschichte an Bedeutung. Hatte vormals vor allem die äußere Quellenkritik – also Fragen nach Echtheit und Datierung – den Weg in das Archiv unumgänglich gemacht, verloren diese Kriterien zusehends an Wert. Autobiographische Quellen waren veränderbar und in ständiger Überarbeitung (obrabotka).93 Sie wurden nach den Wünschen und Ansprüchen des Historikers verfasst und standen danach für sich selbst. Historische Arbeiten, die diese Vielzahl von neuen Quellen ausgewertet haben, fehlen bis heute fast völlig. Bedingungslose Sammelleidenschaft ersetzte den fehlenden Reflexionseifer. Die Bol’ševiki nutzten die effizienteste Möglichkeit, bestimmte Erinnerungen auszulöschen: Sie erzeugten einen Überschuss an anderen Informationen.94 Arbeiter und Bauern wurden »massenhaft« ermutigt, von ihrem Leben zu berichten, ihre Lebensläufe an die Redaktion der Bauernzeitung (Krest’janskaja Gazeta)95 zu senden oder
91 [Pokrovskij], Ot Istparta, 3. 92 Gelis, Kak nado pisat’ vospominanija, 198. 93 Aris, Die Metro; Clark, »The History of the Factories«, 268-278; Ruder, Making History, 95-113. 94 Esposito, Soziales Vergessen, 29. 95 Die auflagenstärkste Massenzeitung der jungen Sowjetunion ermutigte die Bauern, ihre Lebensgeschichte an die Zeitung einzusenden und als sel’kor (Landkorrespondent) für die Zeitung zu schreiben. Bei dem Antrag zur Aufnahme in die Reihe der sel’kory musste
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an den von Maksim Gor’kij 1931 initiierten Großprojekten mitzuarbeiten.96 Während den sogenannten bourgeoisen Historikern und Publizisten mit der Schließung vorrevolutionärer historischer Zeitschriften die Möglichkeit zur Publikation von Quellen genommen war, entstanden zahlreiche, meist der revolutionären Bewegung gewidmete Zeitschriften – wie zum Beispiel Katorga i ssylka, Proletarskaja Revoljucija, Krasnyj Archiv – , die sich der Verbreitung der neu erzeugten autobiographischen Texte sowie der auch auf ihnen fußenden marxistischen Geschichtsschreibung verschrieben hatten. Das Bemühen, die Erinnerungen von Arbeitern und Bauern zu sammeln, war von dem Wunsch getragen, jene nicht nur als Objekt der Geschichtswissenschaft zu gebrauchen, sondern sie zum Autor ihrer eigenen Geschichte zu machen. Das in autobiographischen Texten nur mit viel Tinte zu leugnende Moment der Subjektivität kollidierte jedoch mit dem marxistischen Anspruch, eine objektive, überindividuelle Wahrheit zu vertreten. Auf drei Arten versuchten die marxistischen Historiker das Problem der »Subjektivität« in den Griff zu bekommen. Eine erste Möglichkeit war die »Verbesserung der Quellen« (uluþšenie) durch Schreibanleitungen.97 Diese Schreibanleitungen lehnen sich an jene Schreibaufrufe an, mit denen Wissenschaftler wie Vladimir Bonþ-Brueviþ, Nikolaj Rubakin und Aleksandr Jacimirskij vor 1917 Bauern zum Schreiben aufgefordert hatten. Sie sind aber im Ton strenger und in der Formulierung ihrer Anforderungen präziser. Ein Beispiel hierfür gibt Iosif Gelis’ Artikel Wie Erinnerungen zu schreiben sind in der Proletarskaja Revoljucija aus dem Jahr 1925. Er sollte der Verbesserung, die eigentlich eine Normierung war, schon im Entstehungsprozess dienen: Zwei Teile des Aufsatzes widmen sich unter den Überschriften »Was nicht zu schreiben ist« und »Was man schreiben muss« diesem Anliegen. Damit die Erinnerungen für die Geschichtswissenschaft brauchbar wurden, war der Autobiograph gehalten, seine »Persönlichkeit«, seine eigenen Ansichten
ein Fragebogen mit Lebensdaten ausgefüllt und eine Kurzautobiographie geschrieben werden. Da insgesamt 10.000 Bauern als sel’kory für die Zeitung gearbeitet haben, findet sich im Fond der Krest’janskaja Gazeta eine Vielzahl von Autobiographien aus der ganzen Sowjetunion. Während andere Massenzeitungen, wie die Pravda oder Izvestija, sich mehr an die städtischen Arbeiter wandten, war die Krest’janskaja Gazeta für die ländliche Bevölkerung konzipiert. Sokolov (Red.), Golos naroda, 7-8; Fond: Redakcija Krest’janskaja Gazeta 1923-1939 gg., RGAƠ, f. 396. 96 Gor’kij hat mehrere Schreibprojekte angeregt. Die bekanntesten sind Die Geschichte des Bürgerkriegs (Istorija graždanskoj vojny) sowie Die Geschichte der Fabriken und Betriebe (Istorija fabrik i zavodov). Die Geschichte der Städte (Istorija gorodov) und Die Geschichte des Dorfes (Istorija derevni) haben bisher nur wenig wissenschaftliche Aufmerksamkeit erfahren. Žuravlev, Istoþniki, 267. 97 Gelis, Kak nado pisat’ vospominanija, 197.
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und Bewertungen aus seinen Erinnerungen herauszuhalten. Als gute Erinnerungen erschienen in der Anleitung Iosif Gelis’ jene, die das von ihm vorgeschlagene Frageschema bedienten: genaue Angabe des Orts und des Zeitpunkts eines Ereignisses sowie eine Auflistung und Charakteristik der beteiligten Klassen, Parteien und Personen.98 Der Autobiograph musste, wenn er als Zeuge gehört werden wollte, seine Erinnerung in einer vorgegebenen Ordnung präsentieren: »Es ist nötig, dass in den Erinnerungen der Geist der Beweisführung (duch dokazatel’nosti) herrscht.«99 Die zeitliche und örtliche Nähe, die bloße Beobachtung, reichten nun nicht mehr aus. Die zweite Möglichkeit, dem einzelnen Autobiographen das Eigengewicht zu nehmen und ›Dichtung‹ von ›Wahrheit‹ zu trennen, war die »massenhafte« Sammlung autobiographischer Texte (v massovom masštabe). Ein Zeuge war auch hier kein Zeuge. Die dritte und radikalste Lösung des ›Problems‹ war die Schaffung ›neuer Menschen‹ in und durch autobiographische Texte. Vor allem Maksim Gor’kijs Konzeption der Geschichte der Fabriken und Betriebe (IFZ)100 gründete auf dieser Überlegung. Sie fand auch in den Lagern des Gulag ihren Niederschlag. Auf den Solovki hieß die Lagerpresse Umschmiedung (Perekovka) und die Autobiographie galt auch ihr als Amboss, auf dem sich neue Lebensentwürfe formen ließen. Die Initiatoren der IFZ erhofften sich von ihren Schreibaufrufen viel. Tagebücher und Erinnerungen galten als geeignetes Mittel erzieherisch wirksamer Selbstreflexion sowie als Möglichkeit äußerer Kontrolle. Durch sie sollte die Grenze zwischen Privatem und Öffentlichen durchbrochen und ein alternatives proletarisches Geschichtsverständnis durchgesetzt werden. Dieses Geschichtsbewusstsein war auf Gegenwart und Zukunft gerichtet und von großen Vorbehalten gegenüber der Institution Archiv als Überbleibsel einer abzulegenden Vergangenheit geprägt: »Man soll den heutigen Tag fixieren, um ihn später nicht in Erinnerungsberichten und Archiven suchen zu müssen.«101 Die Überlegungen gingen jedoch nicht auf. Die Arbeiter griffen nur zögerlich zur Feder, zudem hielt die Begeisterung für die Fremdund Selbstüberwachung nicht lange an.102 Direkt in ihrem sozialen Status wurden die Bauern von der Krest’janskaja Gazeta angesprochen.103 Sie war unter ihrem Chefredakteur Jakov Jakovlev Ende der
98
Gelis, Kak nado pisat’ vospominanija, 207.
99
Gelis, Kak nado pisat’ vospominanija, 201.
100 Auf Russisch: Istorija fabrik i zavodov. 101 Gelis, Kak nado pisat’ vospominanija, 198; Rožkova, Kak zapisat’ vospominanija, 140; Zitat: Aris, Die Metro, 49; Žuravlev, Fenomen, 108. 102 Aris, Die Metro, 140-150; Žuravlev, Fenomen, 105. 103 Unter den ersten, die nach 1990 die an die Krest’janskaja Gazeta gerichteten autobiographischen Texte ausgewertet haben, waren Irina Koznova und Sheila Fitzpatrick.
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1920er Jahre mit 1,5 Millionen Exemplaren die auflagenstärkste Zeitung der Sowjetunion. Die Redaktion der Zeitung warb unter den Bauern Landkorrespondenten (sel’kory), die direkt aus den Dörfern berichten sollten. In der Vorbereitung des ersten Dezenniums der Oktoberrevolution forderte die Krest’janskaja Gazeta die Bauern auf, die Geburt des Umschwungs aus dem Geiste der Unzufriedenheit mit den zaristischen Verhältnissen zu schildern. Der bäuerliche Kampf gegen Gutsbesitzer und die provisorische Regierung galt den Initiatoren der Erinnerungsbände mit Titeln wie Das Jahr 1917 im Dorf oder Der Krieg der Bauern gegen die Gutsbesitzer als besonders beschreibenswert.104 Die Bauern wurden 1925 in den Aufrufen nicht nur zur Niederschrift einer in der Oktoberrevolution kulminierenden Lebensgeschichte ermutigt, sondern nachdrücklich in den Zeugenstand gesetzt: »Wenn du der Schrift kaum mächtig bist, dann schreibe in Großbuchstaben«, stand neben der dringlichen Aufforderung, nur die überprüfte Wahrheit niederzuschreiben.105 Die Bauern ihrerseits übernahmen für ihre Schilderungen die gleichfalls vor Gericht verwendeten Redefiguren, die jeden Verdacht auf beschönigendes Literatentum ausräumen sollten. Der mit dem Herausgeber Jakov Jakovlev im Briefwechsel stehende Sel’kor M. Suchorukov kühlte die Erwartungen an die Kunstfertigkeit seiner Erinnerungen ab, bemühte sich aber zu zeigen, dass er kein einseitig subjektives Bild der Vergangenheit gezeichnet habe, sondern berechtigt sei, für die gesamte Bauernschaft zu sprechen: »Obgleich meine Erzählung ungebildet [und] bäurisch ist, so sind doch in ihr keine Phantasien und Lügen, sondern nur reine Wahrheit, was alle Bauern bestätigen [können].«106 Gleich einer Zeugenaussage war jede der zwischen 1926 und 1932 erschienenen bäuerlichen Erinnerungen durch die Unterschrift des Autors, Datum und weiterführende biographische Angaben als authentisch beglaubigt. Die Bauern wiesen die von professionellen Autoren überarbeiteten Erinnerungen so als die ihrigen aus. Während die marxistischen Historiker auf die Textgestalt der neu entstehenden, organisiert gesammelten Erinnerungen Einfluss nehmen konnten, waren die vor 1917 entstandenen autobiographischen Texte vor diesem Zugriff gefeit. Sie wurden nun vor der Folie der neuen Texte als etwas vollkommen anderes diffamiert und in ihrem Quellenwert herabgewürdigt. Ihre Aussagen seien falsche Geständnisse und
Fitzpatrick, From Krest’ianskaia Gazeta’s Files; Koznova, XX vek. Andrej Sokolov und Svetlana Krjukova haben in Quellenbänden bäuerliche Briefe und Petitionen an die Krest’janskaja Gazeta herausgegeben: Sokolov (Red.), Golos naroda; Krjukova (Red.), Krest’janskie istorii. 104 Vojna krest’jan s pomešþikami v 1917 g; Derevnja v 1905 godu; 1917 god v derevne; Revoljucija v derevne; Krawtschenko (Hrsg.), Kollektivbauern über sich selbst. 105 Krjukova (Red.), Krest’janskie istorii. 106 Igrickij, 1917 god v derevne, 18.
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deshalb nicht mehr zu gebrauchen. Die Erinnerungen der vormaligen Besitz- und Bildungseliten könnten höchstens als schlechte Beispiele dienen. Manche vor der Revolution veröffentlichte bäuerliche Autobiographie erlebte in dieser Zeit hingegen eine weitere Auflage. Bevorzugt waren dabei jene Schilderungen, in denen die Leibeigenschaft und das bäuerliche Leben im Zarenreich in dunkelsten Farben gezeichnet wurden. Sie passten in ihrer eschatologischen Metaphorik ausgezeichnet in die offizielle Erinnerungskultur.107 Solche Lebenswege sollten helfen, wie N. Jakovlev 1933 im Vorwort zu den Memoiren Nikolaj Šipovs betonte, die Vergangenheit »nicht nur zu kennen, sondern sie auch zu beherrschen«.108 Kurz nach Aufhebung der Leibeigenschaft hatten Šipovs Erinnerungen die Geographische Gesellschaft so sehr beeindruckt, dass sie den ehemaligen Leibeigenen mit einer Silbermedaille ehrte. Noch siebzig Jahre später wurden seine Memoiren als »authentische, dokumentarische Lebenswahrheit« gelesen.109 Was wahr und unwahr voneinander schied, war in der frühen Sowjetunion das ›richtige‹ Klassenbewusstsein, welches der Bauer gleich dem Arbeiter vorweisen musste. Bewertet wurden die bäuerlichen und proletarischen Erinnerungen dabei in der Dialektik von Spontaneität (stichijnost’) und Bewusstsein (soznatel’nost’). Schon seit den 1890er Jahren hatten diese beiden Pole die Diskussionen der russischen Marxisten bestimmt; 1902 legte Lenin sie in seiner programmatischen Schrift Was tun? als die wirkmächtigste Dialektik zur Deutung historischen Wandels fest.110 Sie stand noch vor dem Erklärungsmuster des Klassenkampfs.111 In dieser politisierten Variante des Bildungsromans sollten Lebenswege gemäß der Schreibanleitungen als Wege der Bewusstwerdung (rost soznanija) geschildert werden, an deren Ende die Revolution stand.112 Bewusstsein meinte allerdings nicht das Erreichen eines humanistischen Aufklärungsideals, sondern den richti-
107 Vgl. Prežde i teper’. Den eschatologischen Charakter autobiographischen Schreibens für die frühe Sowjetunion hat vor allem Igal Halfin herausgearbeitet: Halfin, From Darkness to Light; Halfin, Terror in My Soul. 108 Jakovlev, Predislovie, 21. 109 Jakovlev, Predislovie, 8. 110 Lenin, Was tun; Clark, The Soviet Novel, 21. 111 Es ist auffällig, dass sich das Klassenkampfinterpretament erst gegen Ende der 1920er Jahre durchsetzen konnte. Weder Platonova nutzte es 1921 in ihrem Aufsatz über die bäuerlichen Autodidakten noch Koc in ihrem 1926 erschienen Buch über die leibeigene Intelligencija. Platonova, Krest’jane-samouþki; Koc, Krepostnaja intelligencija. 112 Rožkova, Kak zapisat’ vospominanija, 141. Steinberg kann zeigen, dass auch Arbeiter aus Druckereien ihren Lebensweg als Weg der Bewusstwerdung beschrieben. Durch ihren Bewusstseinsgrad meinten sie sich von anderen Arbeitern abgrenzen zu können. Steinberg, Moral Communities, 116.
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gen Klassenstandpunkt. Die Dichotomie, die Spontaneität mit Masse verband, Bewusstsein dagegen mit dem Mensch als Einzelnen, galt im Dienst der großen Sache als überwindbar. Schon 1906 hatte Maksim Gor’kij dieses marxistischsozialistische Biographiemuster in seinem Roman Die Mutter verwendet. Nur wenige Jahre später bildete der Antagonismus Spontaneität und Bewusstsein den masterplot in den Erzählungen des sozialistischen Realismus, der sich – wie Katerina Clark gezeigt hat – vor allem biographischer Narrative bediente.113 Literatur- und Geschichtswissenschaft standen in ihren Urteilen, mit denen sie Lebenswege bewerteten, nah beieinander. Autobiographische Quellen waren vor Clio in ihrem Nutzen und ihrer Unvollkommenheit nicht gleich. Den Wert der Quelle bestimmten nicht die Ergebnisse der Quellenkritik, sondern der richtige Klassenstandpunkt des Autobiographen. Erst er gab den Ausschlag, ob die geschilderten Fakten für die marxistische Geschichtsschreibung nutzbar waren. Kriterien der Echtheit, wie sie die äußere und innere Quellenkritik eruieren sollten, stellten unter dieser Prämisse keinen eigenen Wert mehr dar. Wenn die Quellen nicht den Erfordernissen entsprachen, wurden sie überarbeitet und passend gemacht. Die mit den autobiographischen Texten betriebene Herrschaftslegitimierung, die nur die offizielle Erinnerungsversion duldete, führte zur Ausgrenzung nicht organisiert gesammelter Autobiographien und Tagebücher. Sie gerieten in die neu entstehenden Archive und Textsammlungen nicht hinein. Mit der Liquidierung des Verlags der IFZ 1938 brach die staatliche Förderung und Publikation des Memoirenschreibens ab.114 Vom Boom der dreißiger Jahre überlebte allein das Misstrauen, das bis in die 1970er Jahre weitgehend ungebrochen blieb. Seit Michail Tichomirov und Sergej Nikitin in ihrer Quellenkunde 1940 autobiographische Texte als subjektiv verworfen hatten, beteten die nachfolgenden Quellenkunden diese Einschätzung einstimmig nach.115 Die autobiographischen Texten mitunter zugestandene Bedeutung speiste sich allein aus dem Versagen anderer Quellenarten und der Beschränktheit der zarischen Archive.116 Die sich in autobiographischen Quellen äußernde Individualität war für die sowjetischen Historiker der 1950er und 1960er Jahre kein eigener Wert, sondern in ihrer Widersprüchlichkeit eine Bedrohung. In ihren Augen untergruben die Individualität und Subjektivität des Einzelnen die Bedeutung von Kategorien wie Klasse sowie die gesellschaftlichen und ökonomischen Abhängigkeiten, in denen sie den Menschen verhaftet sahen. Zufälliges, Unvorhersehbares, Widersprüchliches in der Geschichte
113 Clark, The Soviet Novel, 15-30. 114 Schattenberg, Auf der Suche nach der Erfahrung, 155. 115 Tichomirov, Istoþnikovedenie, 221; Nikitin, Istoþnikovedenie, 99. 116 Vgl. Zajonþkovskij (Hrsg.), Istorija dorevoljucionnoj Rossii, Bd. 1, 3.
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ließ sich am einfachsten leugnen, indem man es willentlich übersah. Der Bezug auf Hegel und Marx legte die Historiker auf die Analyse der Gesetzmäßigkeiten in der Geschichtsentwicklung fest. Ähnlich der vorrevolutionären Sozial- und Wirtschaftshistorikern verknüpften sie die Wissenschaftlichkeit ihrer Disziplin mit dem Aufdecken von Entwicklungsgesetzen sowie mit dem naturwissenschaftlichen ›Erklären‹. Aufgrund dieser Prämissen tendierten sie dazu, strukturelle Faktoren in den Mittelpunkt zu stellen und personelle zu verneinen. Der Schwerpunkt der sowjetischen Geschichtswissenschaft jener Jahre lag in erster Linie auf der Wirtschafts-, Politikund Diplomatiegeschichte. Als besonders geeignete Quellen galten Behördenakten, Rechtstexte und statistische Materialien. Bäuerliche Selbstzeugnisse boten den Historikern keinen Anlass zur Reflexion. Sie erschienen selten und illustrierten dann – wie die mit Mein Leben überschriebene und 1950 veröffentlichte Erinnerung des Bauern Efremov – die angeblich freudig mitgetragene Kollektivierung.117 Selbst bäuerliche Autobiographien, die zwischen den 1880er und 1930er Jahren mehrfach veröffentlich wurden, wie beispielsweise die Lebensgeschichte des Bauerndichters Spiridon Drožžin, gab es nach der Liquidierung des traditionellen Bauerntums nicht mehr als Neuauflagen zu kaufen. Nur bewährte bäuerliche Lebenswege über die Segnungen der Oktoberrevolution erlebten 1967, vierzig Jahre nach ihrem ersten Erscheinen, eine reduzierte Neuauflage, aus der 16 vormalig erschienene Autobiographien ausgeschlossen wurden. Nach »Überprüfung der Fakten« wären sie nicht geeignet gewesen, die »Gesetzmäßigkeiten der Agrarrevolution« wiederzugeben.118 Allein an den Jahrestagen zur Aufhebung der Leibeigenschaft erinnerten sich vereinzelte Historiker mit bäuerlichen Aufzeichnungen an eine Lebenswelt, die es nicht mehr gab.119 Das Dorf war auch im kommunikativen Gedächtnis weitgehend unterworfen.120 An peripheren Orten – in Bibliotheken und Museen – hielten Archivare mitunter an eigensinnigen Sammlungspraktiken fest: Sie sammelten Texte, die sie entgegen offizieller Direktiven als wichtig für ihre Sammlungen empfanden, warfen nicht weg oder hielten Leser durch fehlende Verzeichnung oder interne Vermerke von brisanten Texten fern. Über diese Praktiken sprachen sie erst seit der Perestrojka offen.
117 Efremov, Moja žizn’. 118 Igrickij, 1917 god v derevne. 119 Snytko (Red.), Vesti o Rossii. 120 Harald Welzer verweist in seinen Studien sehr eindrücklich auf den Umstand, dass individuelle wie kollektive Vergangenheit beständig neu durch Kommunikation gebildet wird. Welzer, Das kommunikative Gedächtnis.
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Dritte Phase – 1970er Jahre bis zur Perestrojka Seit den frühen 1970er Jahren zeichnete sich im Umgang mit autobiographischen Texten in der Geschichtswissenschaft ein langsamer Wandel ab.121 In dieser dritten Phase wurde der in der bisherigen Rezeption verfemte Subjektivismus als wesentliche Eigenschaft autobiographischer Quellen erkannt.122 In diesem offeneren Klima konnten die wichtigen Arbeiten von Andrej Tartakovskij entstehen, die von Petr Zajonþkovskijs in diesen Jahren erscheinenden Bibliographieprojekt über vorrevolutionäre Autobiographik sehr profitierten.123 Die Arbeiten Tartakovskijs und die Bibliographie Zajonþkovskijs bewirkten eine Wende beim Umgang mit autobiographischen Quellen in der russischen Geschichtswissenschaft. Tartakovskij drehte die bisherige Herangehensweise um: Statt Memoiren als Faktensteinbruch und illustratives Material zu gebrauchen, stellte er autobiographische Texte in den Mittelpunkt seiner Untersuchungen. Ziel seiner Arbeiten war es nicht, historische Fakten über Ereignisse durch Memoiren abzusichern, sondern im Gegenteil zu fragen, wie historische Ereignisse auf das Entstehen von Memoiren zurückwirkten; wie sich durch sie die soziale Zusammensetzung der Memoirenschreiber veränderte.124 Er verstand autobiographisches Schreiben als soziale Praxis: Nicht allein das Beschriebene besitze einen Wert, sondern auch die Handlungen, die im autobiographischen Schreiben vollzogen werden.125 In diesem Aspekt ist meine Studie methodisch wesentlich von Tartakovskij beeinflusst. Um die Handlungen sichtbar zu machen, verschob Tartakovskij das Augenmerk weg vom Beschreibungszeitraum hin zum Schreibund Publikationszeitpunkt. Als die entscheidenden biographischen Impulse nennt Tartakovskij das Jahr 1812 und das entstehende Pressewesen. Diese zwei Faktoren hätten das Heraustreten der Memoiren aus dem Kreis der Familie ermöglicht. Durch sie hätten autobiographische Texte »von einer Angelegenheit für sich zu einer Sa-
121 Dieser Einstellungswandel in der Geschichtswissenschaft folgte – wie Susanne Schattenberg gezeigt hat – gesellschaftlichen Veränderungen. Mit dem Ende des Personenkults ging eine erneute Hinwendung zum ›kleinen Mann‹ als historischem Akteur einher. Die Geschichte der Fabriken und Betriebe erschien erneut und der Buchmarkt erlebte in den 1960er Jahren einen Biographieboom. Schattenberg, Stalins Ingenieure, 25. 122 Golubcov, Memuary kak istoþnik. Eine sehr positive Rezension zu Golubcovs Buch hat Kurnosov verfasst. Er lobt die Verschiebung in der Subjektivismus-Objektivitätsdebatte durch Golubcov: Kurnosov, Liþnost’ v istorii, 197-200. 123 Tartakovskij betonte, dass seine Arbeiten ohne die Bibliographie Zajonþkovskijs nicht möglich gewesen wären. Zajonþkovskij (Red.), Istorija doerevoljucionnoj Rossii; Tartakovskij, Russkaja memuaristika, 5. 124 Tartakovskij, 1812 god i russkaja memuaristika, 3. 125 Tartakovskij, 1812 god i russkaja memuaristika, 22-24.
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che für alle« werden können.126 Diese Aufzählung ist um das Jahr 1861 zu ergänzen. Die Auseinandersetzung um die Leibeigenschaft, Ständeordnung und soziale Ungerechtigkeit wurde auch mit bäuerlicher Autobiographik geführt: Bäuerliche Lebenswege fanden nach der Bauernbefreiung Eingang in Presse und Publizistik. Wissenschaftler und Publizisten forderten nun biographische Skizzen von und über Bauern mithilfe von Schreibaufrufen ein. Für Tartakovskij waren die Memoiren Ausdruck des sich seiner eigenen Geschichtlichkeit bewussten Individuums (istoriþeskoe samosoznanie liþnosti), eines Bewusstseins, das semantisch noch an seine marxistische Herkunft erinnerte, es aber nicht mehr allein als Klassenbewusstsein zu fassen versuchte. Eine subjektive Beziehung der Autobiographen war nun kein Makel mehr, sondern von »außerordentlicher Wichtigkeit«. Denn auch die Subjektivität der Memoirenschreiber half, den ideengeschichtlichen und gesellschaftspsychologischen Raum zu erkennen, in dem Memoiren entstehen und publiziert werden konnten.127 Trotz der neuen Tendenzen spielten bäuerliche Selbstzeugnisse in der sowjetischen Geschichtswissenschaft bis zur Perestrojka aber eine marginale Rolle. Allein das 1983 erschienene Buch von Maja Kurmaþeva über die leibeigene Intelligencija stellt eine Ausnahme dar. Um die Lebenswelt der Leibeigenen nachzuzeichnen, befragte und publizierte sie auch ihre Autobiographien. Den Widerspruch zwischen der benutzten Klassenkampfrhetorik und der Unterstützung, welche die von den Gutsherren auserwählten Leibeigenen auf ihrem Weg zum Dichter, Arzt, Schauspielerin oder Musiker erfahren hatten, benannte sie dabei nicht.128 Außerhalb der Sowjetunion war es nicht der Klassenkampf, sondern die vom Kalten Krieg bestimmte Auseinandersetzung, die in den 1980er Jahren die ›wahre‹, ›authentische‹ Stimme russischer Bauern zum Klingen brachte. Wenn in der damaligen Emigrantenpresse bäuerliche Autobiographik erschien, waren dies meist Erinnerungen an im Bürgerkrieg und in der Kollektivierung erlittenes Unrecht.129 Die
126 Tartakovskij, Russkaja memuaristika XVIII – pervoj poloviny XIX v., 16; Zitat: Tartakovskij, Russkaja memuaristika i istoriþeskoe soznanie, 13. 127 Tartakovskij unterschätzt die Rolle der Archive. Aufgrund seines Bestrebens, seine Thesen auf ein vordergründig vollständiges Quellenkorpus zu stützen, bewertet er die Möglichkeit, in den Archiven und Sammlungen unveröffentlichte autobiographische Texte zu finden, als zu gering. Tartakovskij, 1812 god i russkaja memuaristika, 97-98, Aufwertung der Subjektivität: 32. 128 Kurmaþeva, Krepostnaja intelligencija. 129 Siehe die kürzlich erschienene Bibliographie über Autobiographien und Tagebücher in der russischsprachigen Emigrationspresse: Tartakovskij, Emmonce, Budnickij (Red.), Rossija i rossijskaja ơmigracija. Als typisch für diese Art von Autobiographien kann die 1953 in der Münchner Monatsschrift der Vereinigung ehemaliger politischer Gefange-
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größte Aufmerksamkeit erreichte der 1986 in Paris veröffentlichte Lebensweg Ivan Stoljarovs (1882-1953). Stoljarov konnte eine wechselvolle Karriere vom Bauern zum Revolutionär hin zum Emigranten und schließlich zur persona non grata in der Sowjetunion vorweisen und schilderte zunächst in fast an die vorrevolutionäre Ethnographie anknüpfender Manier seine Kindheit im Gouvernement Voronež. Mit eintretender Adoleszenz verändert sich die Narration: Stoljarov wählt nun das Biographiemuster der revolutionären Bewusstwerdung, ohne seine Distanz zur Sowjetunion zu verschweigen. Mehrfach brachte er sein Unverständnis darüber zum Ausdruck, wo und wie in der Sowjetunion Verräter gesucht und gefunden wurden. Warum Georgij Plechanov, Fedor Rodiþev, Pavel Miljukov, Petr Kropotkin in der leninistischen Lesart Klassenfeinde sein sollten, konnte der in Paris lebende russische Bauernsohn in den 1950er Jahren nicht verstehen.130 Mit der Schilderung des Jahrs 1905 bricht die Erzählung ab. Stoljarovs Tod verhinderte die Fertigstellung der Memoiren. Der Pariser Professor Pierre Pascal bewarb Stoljarovs Aufzeichnungen als die Niederschrift eines Kentaur aus Bauer und Intelligent.131 Stoljarovs Zeugnis (svidetel’stvo) sei – so der französische Herausgeber Basile Kerblay – besonders wertvoll, obgleich es nicht geeignet sei, »den Ablauf der Ereignisse auf nationaler Ebene, geschweige denn für das Ausland wiederzugeben«.132 Einige Deutungen ließen sich dessen ungeachtet mit ihm korrigieren. Zudem – und auch in diesem Punkt schließen die beiden in Frankreich lehrenden Akademiker an die marxistische Interpretation geschichtswürdiger Lebenswege an – ermögliche Stoljarovs Werdegang, »die Geburt des revolutionären Bewusstseins« nachzuzeichnen.133 Stoljarovs doppelgesichtige Rolle als Opfer zaristischer und bol’ševistischer Repressionen und damit Vertreter eines wahrhaftigen Sozialismus erlaubte schließlich 1989 den Abdruck
ner Volja erschienene Autobiographie des Kursker Bauern G. Škurin gelten. Škurin beschrieb darin die Zerstörung seiner Familie durch Kollektivierung, Säuberungen, Krieg und Lagerhaft. Am Ende seiner Erinnerungen forderte er seine Leser auf, ihre Erfahrungen niederzuschreiben und damit »gegen Kommunismus und für das Glück des Volks« zu kämpfen. Škurin, Moja sem’ja, 13. Die 1950 im Socialistiþeskij Vestnik, dem Auslandsorgan der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei in Paris, erschienene Autobiographie des Bauern Kazimirov ist ebenfalls eine kritische Abrechnung mit der Kollektivierung. Er war wie Škurin aus der Sowjetunion emigriert. Kazimirov, Istorija odnogo krest’janina. 130 Stoljarov, Zapiski russkogo krest’janina, 143. 131 Stoljarov, Zapiski russkogo krest’janina, 9. 132 Stoljarov, Zapiski russkogo krest’janina, 168-169. 133 Stoljarov, Zapiski russkogo krest’janina, 9.
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der Memoiren in der Sowjetunion.134 In Zeiten der ›Umgestaltung‹ war auch das Schicksal eines Emigranten geeignet, um sich über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu verständigen. Mark Popovskijs 1983 in London erschienenes Buch Russische Bauern erzählen folgte ähnlichen Zielen. Popovskij versuchte, die in der Kollektivierung vernichtete bäuerliche Lebenswelt am Beispiel der Tolstojaner dem Vergessen zu entreißen. Jene den philosophischen Schriften Tolstojs anhängenden Bauern wurden nach Stalins endgültigen Aufstieg an die Spitze des Staates 1928 wegen ihrer Weltanschauung verfolgt und unterdrückt. In dem Anliegen, eine verschwiegene und vergessene Geschichte im öffentlichen Gedächtnis zu aktualisieren, stellt es wie die Veröffentlichung der Memoiren Stoljarovs eine über den Kreis der Emigranten hinausgehende Auseinandersetzung mit der Sowjetunion dar. Mark Popovskij adressierte sein Buch an all jene, die auch außerhalb der Sowjetunion prosowjetischen Ideen anhingen und potemkinsche Dörfer für Wahrheit hielten.135 In seinem Bemühen stützte sich Popovskij auf die Tagebücher und Autobiographien bäuerlicher Tolstojaner, die er – wie der Verlag beglaubigte – zu einem Archiv zusammengetragen und nach London überführt hatte. Dabei ist die Bezeichnung ›Archiv‹ keine Marginalie: Gerade durch diese Benennung beanspruchte die Sammlung auch eine Beweisfunktion. Bei der Zusammenstellung seiner reichhaltigen Quellenbasis konnte er sich auf die unter Tolstojanern gebräuchliche Praktik der Selbstbildung und Selbstvervollkommnung durch Selbstbeobachtung stützen. Auch durch den Austausch autobiographischer Texte konstituierten sich die der Philosophie Tolstojs anhängenden Bauern als Gruppe. In seinem Buch belebte der nach Großbritannien emigrierte Publizist und Historiker die Konnotation von Autobiographik als Gegenarchiv neu: Das Schreiben der Tolstojaner sei ein Anschreiben der Opfer gegen staatliche Gewalt und »staatliche Geheimnisse«, das geeignet sei, das Verborgene ans Licht zu bringen. Die Erinnerungen der unschuldig verfolgten Tolstojaner vermögen in seiner Sicht, die offizielle, sowjetische Erinnerungsversion zu überschreiben. Immer wieder betonte Popovskij die Integrität seiner wie Zeugen vor Gericht angeführten Autobiographen: »In bestimmten Punkten muss man nicht mit diesen Leuten übereinstimmen, doch man muss ihnen vertrauen. Sie sind vollkommen ehrliche Zeugen ihrer Zeit und ihres Schicksals.«136 Obgleich Popovskij sein Buch in London veröffentlichte und es die Kollektivierung ›von unten‹ aus dem Blickwinkel ihrer Opfer schilderte, war ihm nur eine geringe Rezeption beschieden. 1989 erschienen dann in der untergehenden Sowjet-
134 Stoljarov, Zapiski russkogo krest’janina, in: Vostryšev (Red.), Zapiski, 323-484. 135 Popovskij, Russkie mužiki rasskazyvajut, 312-314. 136 Popovskij, Russkie mužiki rasskazyvajut, 196.
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union Erinnerungen von Tolstojanern, auf die sich auch Popovskij bezogen hatte. Vier Jahre später wurden sie in englischer Übersetzung einem größeren Publikum zugänglich gemacht.137 Deutlich zeigt sich an dieser verzögerten Rezeption, dass die Sehnsucht nach der ›authentischen‹ Stimme im ›Westen‹ nur ein oberflächliches Begehren war, und deshalb nach bäuerlicher Autobiographik nur selten intensiv gesucht wurde. Die Öffnung der Sowjetunion und die Zuwendung zu anthropologischen Ansätzen fielen in der Osteuropäischen Geschichte zusammen. Sie profitierte nicht nur von der verspäteten Ankunft der Alltagsgeschichte und der Historischen Anthropologie, sondern auch von den Semantiken des Gegenarchivs, die mit Autobiographik in Russland seit Avvakum und Herzen verbunden waren. Die Betonung des dokumentarischen Charakters bäuerlicher Autobiographik erlebte in der Perestrojka eine Renaissance, die dem Sprechen über autobiographische Texte nach der Aufhebung der Leibeigenschaft und der Oktoberrevolution glich. In der Perestrojka galten autobiographische Texte erneut als besonders geeignete Quellen für die Aufarbeitung der nun vergangenen sowjetischen Geschichte.138 Damit einher ging eine sich rapide verändernde Einschätzung anderer Quellenarten: Während statistische Materialien und Gesetzestexte einem abermaligen Glaubwürdigkeitsverlust unter Historikern ausgesetzt waren, stellte die bis dahin umstrittene Subjektivität nun keinen Hinderungsgrund mehr für den Gebrauch autobiographischer Texte dar. Erstmalig werteten Historiker autobiographische Texte auch in ihren Quellenkunden auf, an Orten also, an denen sie explizit als Vertreter ihrer Disziplin sprachen: »Memoiren sind besonders wertvoll, da unsere Geschichte schlecht durch Dokumente wiedergegeben ist.«139 Statt ihnen eine Neigung zur Lüge zu unterstellen, bejubelten nun auch Historiker ihre besondere Glaubwürdigkeit und Authentizität. Jene, die Rechenschaft über die Bestände staatlicher Archive ablegten, vermissten sie dort. Die Autoren von Lehrwerken über die Archivkunde ga-
137 Gromova (Red.), Vospominanija krest’jan-tolstovcev; Edgerton (Hrsg.), Memoirs of Peasant Tolstoyans. 1988 veröffentlichte die Zeitschrift Novyj Mir die Erinnerungen des Tolstojaners Boris Mazurin. Mazurin, Vospominanija. Schon 1981 war die Autobiographie des Tolstojaners Dmitrij Morgaþev in der russischsprachigen Emigrationspresse erschienen. Sowohl Edgerton als auch Gromova und Popovskij haben sie genutzt oder erneut publiziert. Morgaþev, Moja žizn’, in: Kontinent; Morgaþev, Moja žizn’, in: Minuvšee; Morgachev, My Life, in: Edgerton (Hrsg.), Memoirs of Peasant Tolstoyans, 109-180; Morgaþev, Moja žizn’, in: Gromova (Red.), Vospominanija krest’jantolstovcev, 233-308. 138 In seinem 1990 veröffentlichten quellenkundlichen Aufsatz schilderte Kuromiya den damals einsetzenden Autobiographieboom, dessen Wert er in den sonst nicht greifbaren Fakten sah. Kuromiya, Soviet Memoirs, 247. 139 Kabanov, Istoþnikovedenie, 164.
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ben als Alternative Bibliotheken und Museen an und gelobten gleichzeitig Besserung für die staatlichen Archive: »Heute hat sich die Beziehung der Archivare zu den Dokumenten der ›kleinen Leute‹ geändert.«140 Ihr Wert speise sich – die Argumentation ändert sich nur in ihren Vorzeichen – aus dem Ansehensverlust und der Unzulänglichkeit der Archive. Autobiographisches Schreiben war einmal mehr vor allem eins: Zeugenaussage über Ereignisse. Der bäuerliche Zeuge war nun nicht mehr ein unbeteiligter Dritter. Er hatte nicht nur dabei gestanden, sondern Kriegskommunismus, Hunger und Kollektivierung überstanden. In seinem Sprechen erklang die Stimme des Überlebenden, die daher als besonders wertvoll galt. Erneut profitierte die bäuerliche Autobiographik von einem Herrschaftsumschwung, wobei sich die Energie der Historiker und Publizisten in den frühen 1990er Jahren vor allem in der Veröffentlichung von Quellen erschöpfte. Sobald sie über Russlands Vergangenheit und Zukunft sprechen wollten, zogen sie wie nach dem verlorenen Krimkrieg, der Bauernbefreiung und der Oktoberrevolution bäuerliche Lebenswege heran. Die gesellschaftliche Auseinandersetzung über die untergehende Sowjetunion schärfte nach der Perestrojka die Aufmerksamkeit vor allem für das autobiographische Schreiben jener Bauern, die der Welt des Gulag, Säuberungen und Verfolgungen anheimgefallen waren. Ihre Lebenswege standen für alle Gequälten und Getöteten, die selbst nicht sprachen oder deren Stimmen verloren gegangen waren.141 Mit der Hinwendung zu den Opfern gerieten insbesondere die 1920er und 1930er Jahre ins Zentrum. Die Aufwertung des Subjektiven und die erhöhte Aufmerksamkeit für das autobiographische Schreiben der Unterschichten resultierten jedoch nicht nur aus der gesellschaftlichen Auseinandersetzung, sondern waren auch ein Ergebnis innerdisziplinärer Debatten. Zum einen nahmen Geschichtswissenschaft, Ethnologie, Literaturwissenschaft und Soziologie nun vermehrt an internationalen Diskussionen teil, in denen anthropologische und mikrohistorische Zugänge sich wachsender Beliebtheit erfreuten. Zum anderen entdeckten die sowjetisch sozialisierten Wissenschaftler die Disziplingeschichten ihrer Fächer wieder. Sie erinnerten sich an nach 1917 geächtete, emigrierte und verstummte Wissenschaftler sowie an die vor der
140 Kabanov, Istoþnikovedenie, 164; Petrovskaja, Biografika, 18, 21; Zitat: Alekseeva, Afanas’eva, Burova, Archivovedenie, 217. 141 Die Erinnerungen des verfolgten Bauern Aržilovskij stünden, so der Herausgeber, für all jene, deren Stimme nicht mehr vernehmbar sei. In dem Selbstzeugnis spiegle sich die tragische Geschichte der Sowjetunion wider. Aržilovskij, Dnevnik 36-37-go godov, 140. Ähnliche Argumentationen auch in den Vorworten zu den Aufzeichnungen Karpovs und Plotnikovs: Markelov, Žizneopisanie severodvinskogo krest’janina, 51-52; Plotnikov, Avtobiografiþeskie zapiski, 36-41.
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Revolution gebräuchliche Methodik.142 Die Geschichts- und Literaturwissenschaftler fanden erneut Gefallen an der Lokal- und Religionsgeschichte, die Soziologen und Ethnologen an Oral-History-Befragungen auf dem Lande.143 Mit dem Untergang der Sowjetunion wurden Fragen von Ethnizität und Nationalität erneut wichtig und die fast vernichtete Lebensweise des russischen Bauern »zum größten geistigen Wert der Nation«.144 Wegweisend bei der Erforschung autobiographischer Texte aufstrebender Unterschichten waren die Studien Natal’ja Kozlovas, die an ihnen Merkmale sowjetischer Modernisierung herausgearbeitet hat. Ihre Arbeiten stellen Meilensteine der Historisierung des homo sovieticus dar. Erstmalig stützte sie sich bei ihren Studien auf die Materialien des in den 1990er Jahren entstandenen Volksarchivs (Narodnyj archiv). Anhand von Petitionen, Briefen, Erinnerungen und Tagebüchern ging sie der Frage nach, was sowjetische Modernisierung sei und welchen Anteil an ihr jene hatten, die mit dem Weggang in die Städte ihre bäuerlichen Wurzeln kappten. Sie maß Sprache und Sprachgebrauch beim Wechsel des sozialen Milieus eine bedeutende Rolle bei. Dabei sah sie in den sowjetischen Subjekten eine Inkarnation postmoderner Subjekttheorien. Die Selbstzeugnisse seien Ausdruck einer subjektlosen Kultur, sie würden den Tod des Subjekts und das Verschwinden des Autors offenbaren.145 Nicht neu gesammelte, sondern in erster Linie übersehene Quellenbestände stellte Irina Koznova in den Mittelpunkt, die sich in ihrer soziologischen Studie über das bäuerliche Gedächtnis vor allem auf Selbstzeugnisse stützte, welche die Bauern an die Krest’janskaja Gazeta gesandt hatten.146 An die Gedächtnistheorie von Maurice Halbwachs anknüpfend ging sie der kulturellen Konstruktion von Gedächtnis in der sozialen Gruppe der Bauern nach. Dabei gelang es ihr, nicht nur die Bedeutsamkeit der Krest’janskaja Gazeta für das autobiographische Gedächtnis der Bauernschaft herauszuarbeiten, sondern gleichfalls die Wirkmäch-
142 Afanas’ev, Die Geschichtswissenschaft, 15-16, 21. 143 Ein Beispiel für die Zuwendung zu bäuerlichen Lebensgeschichten in der Soziologie: Golosa krest’jan; Vinogradskij, Krest’janskie semejnye chroniki. Berdinskichs Studie über die bäuerliche Zivilisation erinnert in ihrer Machart an die vorrevolutionäre Ethnographie: Berdinskich, Krest’janskaja civilizacija. Auch Musikwissenschaftler, die in den 1970er Jahren auf Expeditionen in die Dörfer Folklore gesammelt hatten, konnten nun die aufgezeichneten bäuerlichen Erinnerungen über die Kollektivierung veröffentlichen. Razumovskaja, 60 let kolchoznoj žizni; Razumovskaja, Rasskazy krest’jan. 144 Berdinskich, Krest’janskaja civilizacija, 424. 145 Kozlova, The Diary as Initiation; Kozlova, Sovetskie ljudi; Kozlova, Krest’janskij syn; Kozlova, Gorizonty povsednevnosti, 62-63. 146 Koznova, XX vek.
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tigkeit von Gedächtniszäsuren wie Revolution, Kollektivierung und Eintritt in die Kolchosen aufzuzeigen. Die Interessen, mit denen die ›westlichen‹ Forscher (bäuerlicher) Autobiographik entgegentraten, glichen denen ihrer russischen Kollegen. Auch sie schauten in den 1990er Jahren vor allem auf die Opfer und auf die Gegenwelten zur sowjetischen Propaganda, die sich in deren Autobiographien offenbarten.147 Jedoch ließen sich die Säuberungen der 1930er Jahre und die Dauer der Sowjetunion mit dem Blick auf die Opfer nicht erklären. Jochen Hellbecks und Igal Halfins Studien zum autobiographischen Schreiben in der Sowjetunion lassen sich auch als eine Reaktion auf diese einseitige Sichtweise lesen. Beide versuchten, in den autobiographischen Quellen eine sowjetische Subjektivität aufzuspüren – die sich in einem sowjetischen Diskurs spiegelte und dem sich auch Regimegegner nicht entziehen konnten.148 Sprache war für sie kein Maskenspiel, sondern sie schrieb sich in das Selbst des Sprechers ein. Der Adressat und die Schreibsituation spielten in diesem Modell keine gewichtige Rolle. Anders ging Sheila Fitzpatrick vor, die sich mehr für Identitäten und soziale Praktiken denn für Subjektivität und Diskurs interessierte. Ausgehend von sowjetischen Sprechweisen, die das autobiographische Sprechen als Möglichkeit der Entlarvung von Feinden und Gegnern priesen, orientierte sie sich am Bild der Maske. Für sie besaß der situative Gebrauch autobiographischen Sprechens größere Bedeutung als die Aneignung und Verinnerlichung eines Diskurses. Fitzpatrick konnte zeigen, dass das Sprechen über das eigene Leben von den Kontexten abhing. Es gleiche weniger einer Selbsterkundung als vielmehr der Suche nach einem »angemessenen Selbst« (usable self).149 Die Forschungsarbeiten zeigen, dass mit dem autobiographischen Schreiben der Unterschichten immer auch Archivfragen verhandelt wurden und werden. Neu gegründete Archive wie das Volksarchiv werden aufgesucht oder übersehene Quellenbestände konsultiert. Einen anderen Weg ist Orlando Figes mit seiner Studie Die Flüsterer gegangen, der darin nachzuzeichnen versucht, was die Menschen im Sta-
147 Die Aufwertung der Opfer lässt sich an dem Sammelband Das wahre Leben ablesen. Die Herausgeber sehen in den regimekritischen Tagebüchern die objektiveren Quellen. Garros, Korenewskaja, Lahusen (Hrsg.), Das wahre Leben, 9. Nüchterner dagegen Fitzpatrick. Sie präsentiert in ihren Arbeiten eine breite Palette an Autobiographien, die sie in Anlehnung an die lateinamerikanische Tradition als Testimonien liest. Besonderes Augenmerk legt sie bei ihrer Auswahl auf die Opfer und auf die sozialen Aufsteiger. Fitzpatrick, Slezkine, In the Shadow of Revolution; Fitzpatrick, Lives under Fire. 148 Hellbeck, Revolution on My Mind. 149 Fitzpatrick, Slezkine, In the Shadow of Revolution; Fitzpatrick, Becoming Soviet, 9. Eine Sammlung ihrer wichtigsten Aufsätze zur Thematik: Fitzpatrick, Tear Off the Masks; Zitat: Fitzpatrick, Lives and Times, 17.
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linismus »wirklich« dachten und fühlten.150 Für sein Panorama von Familiengeschichten im Stalinismus hat er auf den Besuch von Archiven weitgehend verzichtet, denn als bruchstückenhaft und schwer lesbar erschienen ihm die Quellen, die er in Archiven und Sammlungen fand. Stattdessen griff er auf Interviews zurück, die er und seine Mitarbeiter im Rahmen des Buchprojekts geführt haben. In den Familienerinnerungen erkannte er ein – auch hier klingen die Semantiken des Gegenarchivs an – »Gegengewicht zur offiziellen Darstellung der Sowjetgeschichte«. Auch er betonte, durch seine Website ein sicheres Archiv für gefährdete Familienerinnerungen geschaffen zu haben.151 In den letzten Jahren hat sich die einseitige Aufmerksamkeit für das Schreiben im Stalinismus abgeschwächt.152 Die disziplinäre Neuverortung, die sich vor allem auch als eine Anknüpfung an vorrevolutionäre Tendenzen verstand, lenkte die Aufmerksamkeit auf die im ausgehenden Zarenreich in den ›dicken Journalen‹ und historischen Zeitschriften erschienenen autobiographischen Texte. Sie wurden in den letzten Jahren vermehrt publiziert, wobei vor allem die Anthologie Vjaþeslav Košelevs durch den Abdruck von zehn bäuerlichen Selbstzeugnissen Material für vergleichende Analysen bereitstellt.153 Auch John MacKay griff für seine Anthologie autobiographischer Texte von Leibeigenen vor allem auf Zeitschriften zurück, die im Zarenreich erschienen sind. MacKay gehört zu den Pionieren in der Erforschung von Selbstzeugnissen der Leibeigenen. In seinen Arbeiten verfolgt er einen vergleichenden Ansatz. Er fragt nach Ähnlichkeiten und Unterschieden zwischen den afroamerikanischen slave narratives und dem autobiographischen Schreiben der russischen Leibeigenen. Ähnliche Schreibweisen führt er vor allem auf ähnliche Erfahrungen von Unfreiheit zurück. Der Diskurstransfer zwischen den Vereinigten Staaten und dem Zarenreich spielt in seiner Analyse der Selbstzeugnisse nur eine geringe Rolle.154 Das Abkühlen der gesellschaftlichen Debatten im postsowjetischen Russland ließ beim Umgang mit autobiographischen Texten den Opferdiskurs verstummen, ohne zugleich Subjektivität als Makel wieder einzuführen. Auch ihre politische Bedeutung schliff sich gleich den Semantiken von Autobiographik als Gegenarchiv
150 Figes, Die Flüsterer, 26. 151 Figes, Die Flüsterer, 918. 152 Siehe beispielsweise: Schattenberg, Die korrupte Provinz, 38-40. 153 Gorshkov (Hrsg.), A life under Russian serfdom; Nikitenko, Up from Serfdom; Nikitenko, Zapiski i dnevnik; Košelev (Hrsg.), Vospominanija russkich krest’jan; MacKay (Hrsg.), Four Russian Serf Narratives. 154 MacKay, Form and Authority; MacKay, »And Hold the Bondman Still«; MacKay (Hrsg.), Four Russian Serf Narratives. Siehe auch meine Rezension zu MacKays Anthologie: Herzberg, Rezension zu: MacKay (Hrsg.), Four Russian Serf Narratives.
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ab. Es setzte ein deutlich entspannter Umgang mit diesen Quellen ein, der den Wissenschaftlern die Rückkehr zu ihrem Kerngeschäft erlaubte: Philologen ordneten die bäuerlichen Tagebücher und Autobiographien in die altgläubige Handschriftentraditionen ein, wie sie gleichfalls lokale Sprachformen und Soziolekte an ihnen abzulesen begannen.155 Historiker wie Natal’ja Uvarova nutzen Tagebücher als Quellenmaterial, um bäuerliche Weltanschauungen für das ausgehende Zarenreich nachzuzeichnen.156 Erstmalig war (bäuerliche) Autobiographik in Russland kein offensives Kampfmittel mehr, sondern einfach Quelle. Die vorangegangenen Seiten haben die Unterschiede im Umgang mit bäuerlicher Autobiographik in Russland und der Sowjetunion in Abgrenzung zu den deutschsprachigen Ländern deutlich gemacht. Publizisten, Historiker und Laien, die sich mit autobiographischen Texten von Bauern und Bäuerinnen im Zarenreich und der Sowjetunion auseinandersetzten, betonten ihre angeblich besondere Wirklichkeitsnähe. Für sie war der bäuerliche Autobiograph ein ehrlicher Zeuge und der dokumentarische Charakter bäuerlicher Autobiographik nicht nur eine Strategie ihrer Bewahrung. Er ließ die Texte als geeignetes Mittel der Sozialkritik erscheinen. Von ihm machten nicht nur die Zeitgenossen, sondern auch Historiker regen Gebrauch. Das Interesse am autobiographischen Schreiben der Bauern war in den meisten Fällen ein kritisches Interesse, das die Widrigkeiten des sozialen und kulturellen Lebens im Zarenreich und später in der Sowjetunion nachzuweisen versuchte. Vor allem in gesamtgesellschaftlichen Debatten – sei es im Disput über die Erinnerung an die Leibeigenschaft oder über die Auswüchse des Stalinismus – diente Autobiographik als Argument. Gerade nach Zeitenwenden empfanden die Publizisten das Fehlen bäuerlicher Selbstzeugnisse als Lücke. Bisweilen schrieb sich die Authentizitätserwartung auch in die Texte ein. Die starke Betonung ihres referentiellen Charakters war eine Ursache dafür, dass der Konstruktionscharakter bäuerlicher Autobiographik bisher nur selten in den Blick geraten ist. Die Euphorie für die Stimme der Marginalisierten stand in engem Zusammenhang mit gesamtgesellschaftlichen Umbrüchen wie zum Beispiel der Bauernbefreiung, Revolution oder Perestrojka. Nach ihnen wurde die vermeintlich authentische Stimme des ›kleinen Manns‹ – nur selten die der Frauen – als Gegenarchiv aufgewertet und ihr Schreiben im institutionellen Rahmen forciert. Ihre Lebenswege waren sowohl für die Schreiber als auch für ihre Sammler ein Mittel, Anspruch auf Mitsprache anzumelden und eigene Versionen der Wirklichkeit und der zu erwartenden Zukunft durchzusetzen.
155 Während Melichov sein Interesse an den autobiographischen Aufzeichnungen mit der nordrussischen Handschriftentradition verband, standen für den Herausgeber der Notizen Plotnikovs vor allem dialektale Fragen im Mittelpunkt. Melichov (Red.), Peþorskij staroobrjadþeskij pisatel’, 3-6; Plotnikov, Avtobiografiþeskie zapiski, 7-30. 156 Uvarova, Mirovosprijatie.
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1.2 A RCHIVPRAKTIKEN Eine Historiographiegeschichte des Umgangs mit bäuerlicher Autobiographik, die sich als Entmythologisierung versteht, ist immer auch eine Art kartographische Tätigkeit. Sie macht die Entfernung messbar zwischen dem, was in den Quellen sagbar ist, und was über autobiographische Texte gesagt werden kann. Die folgende Topologie der Aufbewahrungsorte schließt daran an. An ihr sollen drei Zusammenhänge verdeutlicht werden, welche in allen Teilen der Studie eine bedeutende Rolle spielen: Erstens kann sie darstellen, wie Aufbewahrungs- und Sammlungspraktiken an den Geschichten mitschreiben, die erzählt werden können. Zweitens offenbart sich an ihr die Wirkmächtigkeit geschichtswissenschaftlicher und gesellschaftlicher Diskussionen auf die Bewertungsmaßstäbe, mit denen Hinterlassenschaften und Überreste als archivierungswürdig eingeschätzt oder dem Abfall zugehörig angesehen werden. An der Topologie lässt sich darstellen, dass nicht Prämissen und Ideologien die autobiographischen Texte auf den Archivregalen ablegten, sondern Archivare. Es sind oft durch niedrige Löhne und geringes soziales Prestige herabgewürdigte Frauen, seltener Männer, die geflissentlich Vorgaben umsetzen, die aber auch eigene Interessen verfolgen können.157 Mitunter folgen sie den Logiken ihrer Sammlungen und führen Praktiken weiter, die durch frühere Sammlungstätigkeit vorgezeichnet sind. Diese bieten häufig mehr Grund zum Handeln als tagespolitische Sammlungs- und Kassationsanweisungen. Eine Topologie der Aufbewahrungsorte kann – drittens – zeigen, zu welchen Zeitpunkten und mit welchen Mitteln Archivare auch der zarischen und sowjetischen Erinnerungsversion widersprechendes oder umstrittenes Archivgut bewahrten. Sie verdeutlicht, wann Archivmitarbeiter die Semantiken von autobiographischen Texten als Gegenarchive so ernst nahmen, dass sie bäuerliche Notizen nicht wegwarfen, obgleich es in vielen Fällen opportuner gewesen wäre. Doch bevor dies beleuchtet werden soll, möchte ich darlegen, welche Kriterien die im Zentrum dieser Arbeit stehenden Quellen erfüllen. Dafür wird zuerst der Zeitrahmen vorgestellt, bevor ausgeführt wird, was unter bäuerlicher Autobiographik zu verstehen ist. Dabei werden auch Abgrenzungen und Gemeinsamkeiten mit den in der Autobiographietheorie gebräuchlichen Gegenbegriffen wie ›Ego-Dokument‹ und ›Selbstzeugnis‹ erörtert.
157 Über die prekären Lebensumstände der sowjetischen Archivare schreibt 1929 Heinrich Otto Meisner, Staatsarchivar im Preußischen Geheimen Staatsarchiv. In anderen Punkten ist Meisner voll des Lobs. Er preist die »Fensterkreuze aus Asbest« und das fehlende Eigentumsrecht, das die Bewahrung der Dokumente auf einem anderen Niveau als in der Weimarer Republik möglich mache. Meisner, Über das Archivwesen, 194-195; Gorjaeva, Die Archivwelt Russlands, 95.
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Zeit Die frühesten Tagebücher und Lebensbeschreibungen markieren den Beginn meines Untersuchungszeitraums. Es sind nur wenige Tagebücher und Autobiographien überliefert, die vor der Bauernbefreiung 1861 entstanden sind. Der Schwerpunkt der Studie liegt daher auf der Zeit nach der Aufhebung der Leibeigenschaft, in der, nicht nur durch wachsende Schreibfähigkeit bedingt, autobiographisches Schreiben zum vertrauten Bestandteil bäuerlicher Kultur wurde. In diesen Jahren wandelte sich auch das Verhältnis der bäuerlichen Autobiographen zur Öffentlichkeit. War vor der Aufhebung der Leibeigenschaft die Publikation bäuerlicher Lebenswege keine gebräuchliche Option gewesen, wurde sie nun zum beliebten Mittel, um gesellschaftliche Ordnungsvorstellungen und Fragen sozialer Ungleichheit zu verhandeln und über den Weg des Zarenreichs in die Zukunft zu sprechen. Wissenschaftler und Publizisten wandten sich auffällig oft in den 1890er Jahren an Bauern mit der Bitte, ihre Lebenswege zum Nutzen der Wissenschaft aufzuzeichnen. Immer mehr bäuerliche Familien entdeckten die Möglichkeit, mithilfe eines Tagebuchs oder einer Autobiographie Erfahrungen zu überliefern. Erstmalig entstand in dieser Zeit eine breitere Debatte über bäuerliche Autobiographik und mit ihm auch ein Markt für lebensgeschichtliche Texte. Auf ihm wurde ausgehandelt, wie Lebensbeschreibungen inhaltlich und formal auszusehen hätten, damit mit ihnen soziale Beziehungen und soziale Gruppen gebildet, sie unterschiedlichen Leserschaften angeboten und von diesen nachgefragt werden konnten. Um über sich öffentlich zu schreiben oder zu sprechen, mussten die Bauern an bestimmte Anlässe und gesellschaftliche Erfahrungen wie die Leibeigenschaft oder die Konversion anknüpfen. Auf diesem Markt wurden die Unterschiede zwischen den Geschichten taxiert und ein Preis – Aufmerksamkeit, Publikationsmöglichkeiten, Stipendien, Medaillen, Zugehörigkeit zu einer Gruppe – festgesetzt. War dieser hoch genug, ließ sich mit ihm, bildlich gesprochen, Überlieferung erkaufen.158 Den zeitlichen Schlusspunkt meiner Arbeit bildet die Kollektivierung, auch wenn es einigen Bauern gelang, ihre Lebensbeschreibung über diese Zäsur hinweg weiterzuführen. In den 1930er Jahren veränderte sich parallel mit der Zerstörung des traditionellen Bauerntums auch das autobiographische Schreiben. Hatten sich die Schreibweisen bäuerlicher Lebenswege in den Zeitschriften nach 1917 recht schnell den neuen Umständen gebeugt, so bewiesen einige Autobiographieprojekte einen längeren Atem. Am Ende der 1930er Jahre brachen jedoch die letzten vorrevolutionären Autobiographieprojekte ab. Ende der 1930er Jahre ›liquidierten‹ die Bol’ševiki sogar staatsnahe Projekte wie die von Gor’kij in den 1930er Jahren initi-
158 Bourdieu, Was heißt sprechen, 41; Bourdieu, Der sprachliche Markt, 117; Sloterdijk, Literatur und Organisation, 20.
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ierten Buchvorhaben im Rahmen der Geschichte der Fabriken und Betriebe. Zugleich veränderten sich das autobiographische Schreiben sowie die Überlieferungsbedingungen im Familienkreis. Nicht wenige Bauern verzichteten mit der Kollektivierung auf das Schreiben eines Tagebuchs. Andere verhinderten durch Verbergen oder Zerstörung ihre Überlieferung. Doch nicht nur der autobiographische Text wurde Opfer der Angst. In den 1930er Jahren gaben viele Bauern auch ihre Familienarchive auf.159 In dieser Studie wird somit ein Zeitraum betrachtet, der bisher in der Forschung – die vor allem das autobiographische Schreiben im Stalinismus im Blick hatte – unterbelichtet ist. Im Gegensatz zu den Arbeiten von Jochen Hellbeck, Sheila Fitzpatrick oder Igal Halfin stehen vor allem Quellen im Mittelpunkt, die im Zarenreich ihren Anfang nahmen, also vor der Oktoberrevolution begonnen wurden oder sich an vor 1917 initiierte Autobiographieprojekte wandten. Um Veränderungen und Kontinuitäten aufzuzeigen, kontrastiere ich mitunter das Quellenkorpus mit autobiographischen Texten, für deren Niederschrift Bauern erstmalig in der Sowjetunion zur Feder griffen. Begriffe Wie schon oft auf den vorangegangenen Seiten praktiziert, werden die in dieser Arbeit im Mittelpunkt stehenden Quellen unter dem Begriff der ›bäuerlichen Autobiographik‹ subsumiert. Dieser Begriff hebt die schichtenspezifische und nichtprofessionelle Urheberschaft der Schreiber hervor, zudem zeichnet er die Grenzen genauer als die Konkurrenzbegriffe ›Ego-Dokument‹ und ›Selbstzeugnis‹.160 Mit seinem Epitheta ›bäuerlich‹ verweist er auf die Ständekategorie, durch die die Autoren, Zeitgenossen, Archivare und Historiker diese Quellen klassifizierten, veröffentlichten und bewahrten. Wie viele Autobiographien zeigen, bezeichnet die Zuordnung ›bäuerlich‹ mehr als den Stand der Schreiber. Mit ihm sind Imaginationen verbunden, die dazu führten, dass diese Quellen zusammengetragen und bewahrt wurden. Mitunter waren diese Imaginationen auch Anlass, das Sammeln einzustellen oder gewaltsam zu unterbinden. Der Begriff ›Autobiographik‹ erscheint mir besonders geeignet, da er nicht die problematischen Implikationen vom autobiographischen Text als Dokument und
159 Markelov, Krest’janskie archivy, 500. 160 Die nichtprofessionelle Urheberschaft sowie die nicht aus der Oberschicht und der Intelligenz stammende Herkunft der Autoren war für Bernd Jürgen Warneken vom Uhland-Institut in Tübingen maßgebliches Kriterium beim Sammeln autobiographischer Texte. Der Schwerpunkt seines Begriffs liegt auf ›popular‹, weniger auf Autobiographik. Warneken, »Populare Autobiographik« (Bericht), 119.
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Zeugnis in sich trägt. Im Mittelpunkt dieser Studie stehen Quellen, welche ihre Autoren mithilfe textueller und paratextueller Merkmale als Beschreibung ihres Lebens markiert haben. Die Begriffe ›Selbstzeugnis‹ und ›Ego-Dokument‹ dagegen beanspruchen diese Gattungs- oder Textreflexivität als lebensgeschichtlicher Text nicht für sich. Sie erfassen all jene Schriften, in denen das ›Selbst‹ freiwillig, bei Winfried Schulze auch erzwungen, thematisiert wird. Den Begriff ›egodocument‹ hatte der niederländische Historiker Jacob Presser bereits in den 1950er Jahren eingeführt. Er definierte ›egodocumente‹ als »historische Quellen persönlichen Charakters«, in denen »ein ›Ich‹ schreibendes und beschreibendes Subjekt« zugleich ist.161 Winfried Schulze erweiterte den Begriff um Quellen, die auch unfreiwillige Aussagen zur Person einschließen. Seine Definition fasst neben Autobiographien, Tagebüchern, Erinnerungen, Reisebeschreibungen und Briefen jegliche Quellen, die autobiographische Informationen enthalten. Eine solche weite Definition bietet den Vorzug, dass sie illiterate Gruppen – Schulze dachte vor allem an Frauen aus den Unterschichten – einbezieht, die aufgrund mangelnder Schreibfähigkeit nur selten von ihnen verfasste Zeugnisse hinterlassen haben, sondern vor allem in administrativem und gerichtlichem Schriftgut ihr ›Selbst‹ offenbarten. Trotz dieses Vorteils wird in dieser Arbeit Schulzes Quellenbegriff nicht übernommen. Eine Definition, nach der jeder Text durch die implizite Selbstthematisierung des Schreibers ein ›Ego-Dokument‹ sein kann, ist für eine quellenkundliche Arbeit unbrauchbar, die ein begrenztes Korpus untersuchen möchte und für die der Anspruch des Schreibers, einen autobiographischen Text verfasst zu haben, entscheidend ist. Es lassen sich zwar auch Visionen, þastuški,162 Märchen und Lieder als autobiographische Praktiken lesen, doch gelingt es nicht, sie zeitlich und personell einzuschränken.163 Benigna von Krusenstjern, die die Diskussion um den Begriff des ›EgoDokuments‹ durch ihre Typologisierung von Selbstzeugnissen stark geprägt hat, verwarf den Terminus von Winfried Schulze nicht generell. Stattdessen bezeichnete sie Selbstzeugnisse als Teilmenge der ›Ego-Dokumente‹, wobei sie sich mit dem Aspekt der freiwilligen und bewussten Aussage in die Nachfolge des niederländischen Begriffs stellte. Die deutschsprachige Autobiographieforschung hat in ihrer Mehrheit von Krusenstjerns Begriff den Vorzug gegeben. Er wird meist als Oberbegriff für Tagebücher, Autobiographien, Memoiren, Familienchroniken, bisweilen auch für Briefe gebraucht.164
161 Presser, Memoires, 277. 162 Bezeichnung für kurze lyrische Lieder, in denen der dörfliche Alltag besungen wurde. 163 Hellbeck und Heller gebrauchen einen weiteren Quellenbegriff ohne inhärente Gattungs- und Textreflexivität. Hellbeck, Heller (Hrsg.), Autobiographical Practices. 164 Krusenstjern, Was sind Selbstzeugnisse.
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Ich bezeichne die Quellen als ›Autobiographik‹. Dabei lehne ich mich an Eva Kormann an, die eine Studie über autobiographisches Schreiben von Frauen im 17. Jahrhundert vorgelegt hat.165 Anders als Kormann sehe ich aber in den Texten eine bloße Einladung, sie als authentisch und referentiell zu lesen. Ob und inwieweit die autobiographischen Texte gelebtes Leben schildern und auf eine Wirklichkeit verweisen, bleibt auch abseits theoretischer Überlegungen, in einem mitunter viel einfacheren Sinn, unentscheidbar. Nicht nur der Fund der gleichen Autobiographie in zwei unterschiedlichen Handschriften und in zwei verschiedenen Sammlungen lehrt Vorsicht, Handschrift und Eigenname als simples Kriterium für die Echtheit der Quelle heranzuziehen.166 Mit dieser wichtigen Einschränkung lehnt sich der Quellenbegriff dieser Studie an die Definition der Autobiographie durch Georg Misch von 1907 an: Die Autobiographie ist die Schilderung des Lebens eines Einzelnen durch diesen selbst.167 Während für die ältere Forschung die drei Elemente – autos, bios, graphia – identisch und damit unproblematisch waren, gilt inzwischen der Glaube an die Kongruenz zwischen dem Akt, dem Subjekt und dem Objekt des Schreibens als Unbedarftheit. Mischs Definition, ohne teleologische Perspektive und ohne Festschreiben formaler Aspekte, ermöglicht fließende Grenzen. Sie ist damit besonders geeignet, um unterschiedliche historische Formen einzubeziehen und dem hybriden Charakter autobiographischen Schreibens gerecht zu werden.168 So bilden in dieser Arbeit sowohl Autobiographien als auch Tagebücher das Quellenkorpus, obgleich sie formal – vor allem in der Zeitstruktur – Unterschiede aufweisen. Dafür gibt es mehrere Gründe, die vor allem in der Auffassung von Autobiographik als sozialem und kommunikativem Handeln liegen: Zum einen lässt sich an einer Zusammenschau von Tagebuch und Autobiographie zeigen, dass die Schreibform immer auch eine Hinwendung zum Adressaten ausdrückt. In der
165 »Als autobiographisch gelten Texte, in denen sich ein Autor oder eine Autorin auf sich selbst bezieht (im Sinne des autobiographischen Pakts Lejeunes) und in denen Leben beschrieben wird, das heißt, in denen ein referentieller Pakt vorgeschlagen wird. Der dritte Bestandteil des Wortes Autobiographik macht deutlich, dass die Autor(inn)en Ich und Leben erschreiben, das heißt: auswählen, konstruieren, modellieren.« Kormann, Ich, Welt und Gott, 298. 166 Das saubere Schriftbild der Handschrift spricht dafür, dass die in der Handschriftenabteilung des Historischen Museums (GIM) verwahrten Erinnerungen eine Kopie sind. Wie die Quelle sowohl in den Nachlass des Sammlers und Kaufmanns Petr Šþukin (GIM) und Nikolaj Rubakin (RGB) geriet, lässt sich heute nicht mehr rekonstruieren. Vospominanija krest’janina, GIM f. 83 op. 2 d. 65; Vasil’ev, Moi vospominanija, RGB f. 358 19.10 l. 80-96, 1893; Vasil’ev, Moja ispoved’, RGB f. 358 19.10 l. 30-33, 1893. 167 Misch, Begriff und Ursprung, 7. 168 Holdenried, Autobiographie, 21.
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Wahl offenbaren sich soziale Beziehungen, in denen der Autobiograph steht. Sie können die Unterschiede zwischen dem fast täglichen und dem rückblickenden Schreiben bedingen, aber auch nivellieren: Nicht selten sandten die Bauern auch Abschriften ihrer Tagebücher an Autobiographieprojekte, wie sie in ihre an Haus und Hof gebundene Journale mitunter auch längere retrospektive Abschnitte eingefügt haben. In dieser Studie stehen also Quellen im Mittelpunkt, die aufgrund textueller und paratextueller Merkmale im zeitgenössischen als auch im gegenwärtigen Diskurs als Autobiographie (avtobiografija), Memoiren (memuary), Erinnerungen (vospominanija), Tagebuch (dnevnik, dnevnye zapiski) oder Aufzeichnungen (zapiski) bezeichnet werden. Dabei ist die Benennung durch den bäuerlichen Autobiographen wesentlich, denn sie offenbart den Versuch, das eigene Leben in einer sozial akzeptierten Narration zu präsentieren.169 Sie diente zusammen mit der Selbstbezeichnung als Bauer, Leibeigener, ›Sektierer‹ oder Ausnahmetalent als Sprecherlaubnis. Mit der Wahl des Titels legitimierten sich die Autobiographen öffentlich, in ihrer Familie und vor sich selbst dazu, über das eigene Leben zu schreiben.170 Die Bauern und Bäuerinnen stellten sich mit der Bezeichnung ihres Schreibens als Lebensbeschreibung in eine Reihe von vorherigen Texten und brachten so Zugehörigkeiten zum Ausdruck. Wie diese Wahl auf den Inhalt zurückwirkte und damit die »Praxis der Sprache« präformierte, ist zentral für die Interpretation der Quellen. Die Wahl der Schreibform und der Selbstbezeichnung sind niemals beiläufig, sondern
169 Die Bezeichnungen, welche die Autobiographen ihren Texten gaben, sind mannigfaltig. Unter anderen fanden folgende Benennungen Verwendung: Erklärung (ob-javlenie), Chronik (letopisnaja kniga), Aufzeichnungen (zapiski), Beschreibung (opisanie), Lebensbeschreibung (obzor moej žizni, opisanie moej žizni, žizneopisanie), Notizbuch (zapisnaja kniga), Journal (žurnal, žurnal’naja tetrad’), Journal der Dinge, die mir in meinem Leben widerfahren sind (žurnal, þto mne sluþilos’ v žizni moej), Geschichte meines Lebens (istorija moej žizni), eigenhändige Aufzeichnungen (sobstvennoruþnye zapiski), Tagebuch (dnevnye zapiski, diaruš), offenherziges Geständnis (þistoserdeþnoe priznanie), Hauskalender (domašnyj kalendar’), Hauschronik (domovaja letopis’), Anekdoten (anekdoty), Leben (žizn’), Erzählung (povest’). Die Bezeichnungen ›avtobiografija‹ oder ›memuary‹ waren bis Ende des 18. Jahrhunderts kein Begriff der Quellensprache. Gareth, Biography, 59; Clyman, Autobiography, 28; ýekunova, Russkoe memuarnoe nasledie, 6. 170 In Lejeunes Gattungsbestimmung der Autobiographie ist der Titel zusammen mit dem Autorennamen ein wesentlicher Bestandteil. Der »autobiographische Pakt« zwischen Leser und Autor, der für die Identität von Autor, Erzähler und Hauptfigur bürgt, wird nach Lejeune nicht nur durch textinterne, sondern auch durch paratextuelle Merkmale wie das Titelblatt geschlossen. Sie präformieren die Art der Textlektüre und lassen den Text als Autobiographie erscheinen. Lejeune, Der autobiographische Pakt, 231.
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sie gehen mit dem Ausschluss anderer Gattungen und der ihnen zugehörigen Möglichkeiten und Adressaten einher.171 Aufbewahrungsorte Bäuerliche Autobiographik gelangte nicht nur wegen des wechselhaften historiographischen Interesses kaum in staatliche Archive.172 Privates Alltagsschriftgut – auch sogenannter führender Persönlichkeiten – blieb bis in die 1970er Jahre wie in zahlreichen westeuropäischen Ländern außen vor.173 In diesen Jahren wurde erstmals seit den 1920er und 1930er Jahren die Lücke in den Archiven spürbar; auch Historiker begannen nun, die vormals als subjektiv geschmähten Quellen in ihren Quellenkunden aufzuwerten.174 Bis dahin waren meist nur jene Personen aus den Unterschichten in das Blickfeld von Archivaren gelangt, die Michel Foucault als »infame Menschen« bezeichnet hat. Damit meinte er Akteure, deren auch administrativ verfolgte Fehltritte Dokumente hervorbrachten.175 Damit bäuerliche Selbstzeugnisse aber nicht nur nach der Konfrontation ihrer Protagonisten mit der staatlichen oder kirchlichen Macht in die Depots gerieten, bedurfte es des aktiven Sammelns – eine Aufgabe, die staatlichen Archiven aufgrund ihrer den Behörden nachgebildeten Struktur weniger lag. Auch der Versuch, am entgegengesetzten Ende, in nichtstaatlichen Sammlungen, bäuerliche Selbstzeugnisse zu finden, blieb für den in dieser Arbeit im Zentrum stehenden Zeitraum erfolglos. Weder im Archiv von Memorial in Moskau noch im sogenannten Volksarchiv konnte bäuerliche Autobiographik ausfindig gemacht werden, die im Zarenreich ihren Anfang genommen hatte. Der Schwerpunkt beider Archive liegt auf der Sowjetunion, wobei sich die
171 Dusini, Tagebuch, 21, Zitat: 37. 172 Siehe auch: Herzberg, Verwahrt und vergessen. 173 Belov, Zur Geschichte, 51-52; Dmitriev, Liþnye archivnye fondy, 35-48; Sudmann, ›Archive von unten‹, 3. 174 Golubcov, Memuary kak istoþnik; Zajonþkovskij (Red.), Istorija doerevoljucionnoj Rossii; Tartakovskij, 1812 god i russkaja memuaristika. 175 Foucault, Das Leben der infamen Menschen, 16. So ist dann auch eine der frühesten überlieferten Autobiographien der Lebensweg des ins Ausland geflohenen Leibeigenen Smirnov. In ihr schilderte er die Beweggründe für seine Flucht vor der Geheimexpedition (tajnaja ơkspedicija). Seine Lebensbeschreibung weist Parallelen zu dem geflohenen Leibeigenen auf, dem Radišþev in dem Kapitel Gornaja seines umstrittenen Buchs Reise von Petersburg nach Moskau ein Denkmal gesetzt hat. Sivkov (Red.), Avtobiografija krepostnogo intelligenta; Radišþev, Reise, 250-257.
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Nichtregierungsorganisation Memorial vor allem auf die Selbstzeugnisse von Repressierten und Gulag-Häftlingen konzentriert.176 So sind es vor allem drei Arten von Orten, an denen sich zwischen Zarenreich und Sowjetunion entstandene bäuerliche Autobiographik bewahrt hat. Unpublizierte Texte lassen sich erstens in den Handschriftenabteilungen der großen Bibliotheken in Moskau und St. Petersburg, zweitens in den unter der Ägide der Akademien der Wissenschaften entstandenen Sammlungen sowie drittens in den über das ganze Land und bisher nur unvollkommen inventarisierten Heimatkundemuseen finden. Wie wirkmächtig die Logiken der Sammlungen sind, zeigen die Wege, auf denen bäuerliche Tagebücher und Autobiographien in sie hineingerieten. An unterschiedlichen Orten herrschten unterschiedliche Kriterien des Sammelns und Verwahrens. Was an dem einen Ort zur Missachtung führte, konnte an einem anderen Ort einen Eintrag ins Findbuch verheißen. Mitunter beeinflussten sich die Sammlungen in der Art ihrer Quellenbeschaffung gegenseitig, sodass regional übergreifende Moden erkennbar sind. Archive und Sammlungen in Russland und in der Sowjetunion waren Orte mit starken Eigenlogiken, ein historiographischer Überblick reicht deshalb beim Nachzeichnen der Aufmerksamkeiten für autobiographisches Schreiben der Unterschichten nicht aus. Benötigten Historiker autobiographische Texte der Unterschichten, suchten sie nämlich meist nicht an bestehenden Orten, sondern legten wie beispielsweise die marxistischen Historiker der frühen Sowjetunion auf die vermeintlichen Lücken verweisend neue Sammlungen an. Zudem kann eine Topologie der Aufbewahrungsorte zeigen, auf welch schwankendem Boden Aussagen über regionale Verteilung, Religiosität sowie Geschlechtszugehörigkeit stehen, die nicht die Archivierung und die dahinterstehenden Interessen mitbedenken. Die Handschriftenabteilungen der beiden großen Bibliotheken in Moskau und St. Petersburg waren – zusammen mit den Literaturarchiven – die Aufbewahrungsstätten für nichtbehördliches Archivgut. Und hier wie dort war vor allem Ruhm die entscheidende Archivierungskategorie.177 So wie sie in gewisser Weise nur die Schriften wichtiger Zeitgenossen und kanonisierter Autoren bargen, bestätigten sie darüber hinaus durch Bewahrung ihrer Hinterlassenschaften deren Wichtigkeit und bereiteten die Kanonisierung vor. Erst die Gründung des Volksarchivs 1988 hat offensiv diese Sammlungspraktiken hinterfragt. Seine Initiatoren wollten jedem Menschen die Überlieferung zukommen lassen, die er sich wünschte: »Mit der Zeit haben wir verstanden,
176 Es ist sehr schwierig, einen Überblick über die laufend anwachsenden Bestände der Organisation Memorial in Moskau zu bekommen. Die Findmittel sind nicht sehr detailliert. 177 Fohrmann, »Archivprozesse«, 23.
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dass Dokumente eines gewöhnlichen Menschen und die eines großen Dichters für einen Archivar Zeugnisse von gleicher Bedeutung sein müssen.«178 Bis dahin hatte es ein unbekannter Bauer schwer gehabt, die erforderliche Menge verbürgtes Ansehen oder Außergewöhnlichkeit vorweisen zu können, um seine Schriftstücke in Handschriftenabteilungen und Archiven zu überliefern. Es ist daher nicht verwunderlich, dass ein bäuerliches Selbstzeugnis häufig nicht als Einzelstück, sondern meist im Verbund mit den Schriften jener in die Sammlungen geriet, die als archivierungswürdig galten. Für das hölzerne Pferd, welches das bäuerliche Selbstzeugnis in die Moskauer Leninbibliothek einschleusen konnte, gab es zwei Wege. Sie lassen sich auch für andere Sammlungen verallgemeinern: Sammeln am Ort und Sammeln vor Ort. Das Sammeln am Ort war vor allem im ausgehenden Zarenreich beliebt. Wissenschaftler und Publizisten nutzten Schreibprogramme, um Bauern – seltener Bäuerinnen – zum Schreiben anzuhalten. Die Sammler mussten ihren Schreibtisch nicht verlassen. In den Nachlässen der Sammler, die sich in ihrem Eifer keineswegs nur auf das Sammeln bäuerlichen Schreibens beschränkten, kamen sie schließlich in die Handschriftenabteilungen. Unter den Namen des ›Sektenforschers‹ Vladimir Bonþ-Brueviþ und des Emigranten, Leseforschers und Volksaufklärers Nikolaj Rubakin gelangte bäuerliche Autobiographik in die Handschriftenabteilung der Leninbibliothek, während sie in die Handschriftenabteilung der Russischen Nationalbibliothek in St. Petersburg als Nachlass des Jaroslavler Heimatkundeforschers Aleksandr Titov179 oder des Slawisten Izmail Sreznevskij180 geriet. Der Eintritt in die Handschriftenabteilung des Historischen Museums in Moskau konnte in der Kollektion des bedeutenden Kunst- und Autographensammlers und vermögenden Kaufmanns Petr Šþukin181 sowie im Nachlass des Sammlers
178 Ilisarov, Das Moskauer »Volksarchiv«, 111. 179 Im Nachlass Aleksandr Titovs (f. 775) befinden sich die handschriftlichen Erinnerungen des Bauern Aleksandr Artynov, die 1882 mit einem Vorwort Titovs in der Publikationsreihe der Historischen Gesellschaft an der Moskauer Universität erschienen. Titov war ein Industrieller aus Rostov, der sich der Lokalgeschichte verschrieben hatte. Er schenkte noch zu Lebzeiten sein Archiv der Russischen Nationalbibliothek in St. Petersburg. In ihm befinden sich die Erinnerungen und heimatkundlichen Studien des Bauern Artynov: Artynov, Vospominanija krest’janina sela Ugodiþ Aleksandra Artynova, RNB f. 775 d. 4582, o.J.; Artynov, Vospominanija krest’janina sela Ugodiþ Aleksandra Artynova, RNB f. 775 d. 1585, 1882. 180 In dem in der Russischen Nationalbibliothek verwahrten Nachlass von Izmail Sreznevskij (f. 734) befinden sich kürzere lebensgeschichtliche Aufzeichnungen von Bauern, wahrscheinlich zu gestellten Themen. 181 Die Sammlung Petr Šþukins wurde 1905 dem Historischen Museum übergeben. In ihr befinden sich die Erinnerungen eines Jaroslavler Bauern. Siehe Kap. 1.2, Fn. 166.
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und Friedensrichters Nikolaj Stromilov182 glücken. Jene Intellektuellen, Forscher und Laien interessierten sich jeweils, wie später detailliert gezeigt wird, für bestimmte Lebenswege, während sie andere nicht nachfragten oder vernachlässigten. Indem sie die bäuerlichen Lebenswege in ihre Sammlungen einspeisten, verliehen sie ihnen einen Wert und fachten das Interesse bei anderen Sammlern an: Wo schon Licht strahlte, fiel noch mehr Licht hin. Mitunter richtete sich die Aufmerksamkeit auch auf andere Familienmitglieder. Während der Heimatforscher Titov die Erinnerungen des Bauern Aleksandr Artynov in sein Archiv einspeiste, erwarb der Archäograph Vladimir Luk’janov 1955 das Tagebuch des Sohns.183 Es findet sich heute in der Handschriftenabteilung der Akademie der Wissenschaften.184 Die erste Schwelle, die eine bäuerliche Lebensaufzeichnung zu überspringen hatte, war, das Interesse dieser aus den Bildungseliten stammenden Leute zu erregen, die einem Bauern auch eine ›Adresse‹ in den Sammlungen sichern konnten. Wie sich an den Autobiographieprojekten zeigen lässt, bereitete die Archivierung im Namen eines anderen die Archivierung unter dem eigenen Namen vor. Manch ein dichtender Bauer geriet – die Autobiographieprojekte hatten die Aufmerksamkeit auf ihn gelenkt – in die vor allem kanonisierte Autoren schätzenden Literaturarchive hinein. Die Steigbügelhilfe, die jene Sammler und Forscher mit ihrem Namen den bäuerlichen Autobiographen beim Erklimmen der Archivregale gaben, war für ihre Nutzung als Quelle hingegen keine Hilfe. Die autobiographischen Texte blieben häufig in den Nachlässen verborgen und konnten nur schwierig aufgefunden werden. Dass ein Großteil der Quellenfunde für dieses Buch in den Handschriftenabteilungen der Leninbibliothek und der Russischen Nationalbibliothek gemacht wurden, liegt auch an ihren innovativen Findmitteln. Das 1951 herausgegebene Verzeichnis der in der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek verwahrten Tagebü-
182 Im Nachlass (f. 195) von N.S. Stromilov (1842-1894) befindet sich das Tagebuch des Bauern und Ikonenmalers S.M. Judin, welches ich zur Zeit meines Forschungsaufenthalts nicht einsehen konnte, da es zur Publikation vorbereitet wird. 183 Luk’janov, Kratkie svedenija o rukopisnych, 514-517; Budaragin, Vladimir Vasil’eviþ Luk’janov, 430-433; Dnevnik Ja.A. Artynova, BAN f. 72 d. 129, 1896. 184 Auch andere Forscher bemühten sich um die Schriftstücke des Bauern und Heimatforschers Aleksandr Artynov, dessen Erinnerungen 1882 die Historische Gesellschaft der Moskauer Universität herausgegeben hat. So findet sich auch im Nachlass des bibliophilen Holzhändlers N.Ja. Kolobov in der Nationalbibliothek die von Aleksandr Artynov verfasste Geschichte der Siedlung Ugodiþ, die gleichfalls im Nachlass A.A. Titovs (f. 775) vorhanden ist. Artynov, Istorija sela Ugodiþi, RNB f. 359 (Sobranie Kolobova) d. 82, 1873; Artynov, Vospominanija krest’janina.
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cher und Autobiographien war eine Sensation.185 Während die staatlichen Archive sich nur langsam aus den Fängen des NKVD zu lösen begannen, war es die Absicht des unter Elizaveta Konšina begonnenen und unter der Ägide von Petr Zajonþkovskij vollendeten Zusammenstellung, Auskunft über die Bestände an Selbstzeugnissen vom 18. bis zum 20. Jahrhundert zu geben.186 Das schon fertige Buch stieß, wie Sarra Žitomorskaja, die Zajonþkovskij als Leiterin der Handschriftenabteilung in der Staatsbibliothek nachfolgte, in ihren Memoiren offenlegte, auf die Ablehnung der Bibliotheksleitung und der hauseigenen Zensurbehörde, dem Redsovet. Die Anstrengungen der Mitarbeiter, sich der sowjetischen Sprache anzupassen, wurden nicht honoriert.187 Das Mitspielen der Sprachspiele sei dem stellvertretenden Direktor – in Žitomirskajas Erzählung der Bösewicht – zu wenig gewesen: Die Bestände des 20. Jahrhunderts dürften keinesfalls so offenherzig verzeichnet werden. Bei den zeitnahen und brisanten Quellen seien Kürzungen nötig – Kürzungen, zu denen der damalige Leiter der Handschriftenabteilung Zajonþkovskij nicht bereit gewesen sei. Žitomirskaja präsentierte in ihren 2006 publizierten Memoiren Zajonþkovskijs Standhaftigkeit als vorausschauende Prophezeiung: »Nein – sagte Petr Andreeviþ – wir werden die Forscher nicht betrügen und ihnen anstelle vollwertiger Informationen über Memoiren des 20. Jahrhunderts in unseren Beständen nur traurige Essensreste präsentieren. Wir werden einfacher und ehrlicher auftreten: So wird dieses Verzeichnis nur ein Verzeichnis über die Handschriften des 17.-19. Jahrhunderts sein! Es wird noch die Zeit kommen, zu unserem Jahrhundert zurückzukehren.«188
Zajonþkovskij behielt Recht. 1976 konnte das Verzeichnis auch mit den Einträgen zum 20. Jahrhundert erscheinen.189 1990 zog die Nationalbibliothek in Leningrad nach.190 Dabei stehen Arbeitsaufwand und Enthusiasmus, den Zajonþkovskij bei seinen Inventarisierungsarbeiten zeigte, im starken Gegensatz zu dem Bescheidenheitsduktus, in dem er über den Quellenwert autobiographischer Texte sprach. Für ihn lag der Wert der Memoirenliteratur – und damit weist auch er das leninsche Diktum von der »subjektiven Blindheit« von sich – allein in den Fakten. Den sub-
185 Dass die Handschriftenabteilung unter den Sammlungen und Archiven eine besondere Stellung einnahm, zeigt ein Aufruf von 1954 in der Zeitschrift Voprosy Istorii. Darin forderten die Mitarbeiter eine höhere Benutzerfreundlichkeit im sowjetischen Archivwesen. Žitomirskaja, Kudrjavcev, Šlichter, O pravil’nom ispol’zovanii, 120-121. 186 Von 1938 bis 1960 war die Zentrale Archivverwaltung dem NKVD unterstellt. 187 Žitomirskaja, Prosto žizn’, 216. 188 Žitomirskaja, P.A. Zajonþkovskij – archivist, 143. 189 Žitomirskaja (Red.), Vospominanija i dnevniki XVIII-XX vv. 190 Zubkoba, Rukopisnye fondy Publiþnoj biblioteki.
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jektiven Urteilen der Autobiographen sei hingegen keine Aufmerksamkeit zu schenken.191 Auch in anderen Momenten bewiesen die Mitarbeiter der Moskauer Handschriftenabteilung mit Klugheit gepaarten Mut. Sie kauften das Archiv des Tolstojaners Vladimir ýertkov, legten es aber nicht in den »Giftschrank« (spezchran). Dies hätte nur ungewollte Aufmerksamkeiten auf sich gezogen.192 Ihre Taktik war eine einfachere: Sie behielten den Ariadnefaden, der zu den Regalen führte, bei sich. Sie verzeichneten den Bestand nicht und schützten mit den Texten auch sich selbst vor einem Zugriff von außen. Oft war es eine Strategie der Bewahrung, verzeichnete Quellen nicht zur Verfügung zu stellen. So wurde beispielsweise ein Aufsatz des Bauern Michail Novikov nur mit der Erlaubnis des Leiters der Handschriftenabteilung herausgegeben. In einer ungehemmten Philippika hatte Novikov in diesem Schriftstück den Sozialismus als »grobe Gewalt am russischen Volk« bezeichnet. Wie der Ausleihzettel zeigt, gab es die Lektüreerlaubnis nur einmal 1967. Nach der politischen Wende wurde der Text zwischen 1989 und 1994 mehrfach ausgeliehen, danach ebbte die Nachfrage ab.193 Ebenso gingen die Mitarbeiter der Handschriftenabteilung mit Erinnerungen von Emigranten sowie mit Gulag-Memoiren um, die ihnen ehemalige Häftlinge anvertrauten, um ihre marginalisierten Erinnerungen zu bewahren – Erinnerungen, für die es in den 1950er Jahren nicht nur in den staatlichen Archiven keinen Platz gab. Ihre Zeit sollte noch kommen; Bewahrung, nicht Benutzung war das Ziel. Indem sie diese Dokumente nicht vermerkten, blieben sie im Verborgenen. Ohne Adresse zu den Dokumenten blieb auch eine vermeintlich zugängliche Sammlung unzugänglich. Trotz ihrer physischen Betretbarkeit wurde die Sammlung dieser Dinge zu einem Ort, der sich nicht in Relation zu anderen Orten setzen ließ.194 Während der Mut für nicht konforme Bauern, Emigranten und Gulag-Häftlinge reichte, erschien Žitomirskaja die Bewahrung der Erinnerungen eines ehemaligen Häftlings und früheren Geheimdienstmitarbeiters als zu gewagt, in denen der Autobiograph auch die Vorbereitungen zur Ermordung Trockijs beschrieb. Die versteckten Drohungen wirkten, mit denen zum Beispiel der stellvertretende Direktor des Marx-Engels-
191 Zajonþkovskij (Red.), Istorija doerevoljucionnoj Rossii, T. 1, 4. Siehe Kap. 1.1, Fn. 88. 192 Ein Teil des Archivs befindet sich im Tolstojmuseum. 193 Novikov, Socializm, nazyvaemyj grubym nasiliem russkomu narodu [...], RGB f. 369 398.21, 1920. 194 Zu ýertkov und anderen »heiklen Richtungen in der Sammlungstätigkeit«: Žitomirskaja, Prosto žizn’, 304-310. Peter Holquist hat am nachdrücklichsten betont, dass die ›Archivrevolution‹ in den 1990er Jahren nicht in der Öffnung vormalig geschlossener Archive bestand, sondern in dem freieren Zugang zu Findmitteln: Holquist, A Tocquevillean »Archival Revolution«, 77.
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Lenin-Instituts die Mitarbeiter der Leninbibliothek davor gewarnt hatte, Erinnerungen über die Auswüchse des sogenannten ›Persönlichkeitskults‹ zu bewahren. Der Leiter der Handschriftenabteilungen in der Leningrader Publiþka, Aleksandr Myl’nikov, besaß – wie Žitomirskaja anerkennend hervorhob – mehr Mut. Er gab den heiklen Memoiren nicht nur wenige Jahre später einen Platz, sondern verzeichnete sie auch in den Mitteilungen der Bibliothek. In Leningrad, an der Peripherie, seien – so Žitomirskaja – andere Dinge möglich gewesen.195 Während in die Moskauer Handschriftenabteilung vor allem bäuerliche Selbstzeugnisse zusammen mit den im Zarenreich noch inoffiziellen Kollektionen gerieten, steht die als Drevlechranilišþe bezeichnete Abteilung des Puschkinhauses in St. Petersburg nicht nur beispielhaft, sondern in einer Vorreiterrolle für den zweiten Weg, auf dem bäuerliche Tagebücher und Autobiographien in Sammlungen eingespeist werden konnten: dem Sammeln vor Ort. Die Mitarbeiter der Abteilung für altrussische Literatur nutzten seit den 1940er Jahren Expeditionen, um verstreute altrussische Schriftdenkmäler und Beispiele für die altgläubige Handschriftentradition in ihre Sammlungen einzugliedern. Die Dorfbewohner präsentierten den Forschern aus Leningrad ihre Familienarchive, die neben Apokryphen, hagiographischen Texten und weltlicher Literatur aus dem 17. und 18. Jahrhundert auch jüngere autobiographische Texte umfassten. Heute befinden sich in St. Petersburg vierzehn Beispiele bäuerlicher Autobiographik im Drevlechranilišþe sowie sechs gleichfalls auf diesen Expeditionen erworbene Schriftstücke in der Handschriftenabteilung der Akademie der Wissenschaften. Sie gelangten als Nebenprodukte in die Sammlungen hinein, da sie den Suchkriterien – altgläubige Handschriftentradition, lokaler Bezug und bäuerliche Herkunft – entsprachen. Ihr Wert stieg durch das Sammeln beträchtlich, doch erst in der Perestrojka konnte er vor allem durch den Gebrauch der Semantiken vom autobiographischen Text als Gegenarchiv kommuniziert werden. Mithilfe dieser altbewährten Semantiken holten die Mitarbeiter des Drevlechranilišþe vor allem jene autobiographischen Texte, in denen Kriegskommunismus und Kollektivierung geschildert sind, aus dem Zwischenreich zwischen Gebrauch und Entsorgung heraus. Mit ihnen ließen sich die fast vergessenen Reste der Vergangenheit in Zeichen der Zeit verwandeln. Noch in den 1970er Jahren hatte Vladimir Malyšev, der Gründer und Leiter des Drevlechranilišþe, mit Bleistift »Nicht an den Leser herausgeben« auf den Aktendeckel der Autobiographie Ivan Karpovs geschrieben.196 In dieser beschrieb der nordrussische Bauer gleich der alttestamentarischen Hiobsgeschichte die Kollektivierung. 1990 erschien die in apokalyptischen Bildern gefasste Autobiographie in dem populären Journal Ogonek, zwei Jahre später in der renommierten Literatur-
195 Žitomirskaja, Prosto žizn’, 312. 196 Karpov, Biografija, IRLI, Krasnob. sobr., Nr. 162.
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zeitschrift Novyj Mir.197 Der Stolz, diese Autobiographie bewahrt zu haben, spricht aus den Vorworten des Mitarbeiters Gleb Markelov, der die Publikationen angeregt hatte. Auch die Mitarbeiter des Drevlechranlišþe hätten Beweise für Unrecht und Gewalt bewahrt: »Heute haben sich, Gott sei Dank, die Zeiten geändert. Das Geheime kommt ans Licht.«198 Wie sehr sich mit der Perestrojka der Stellenwert änderte, der den bäuerlichen Texten zugebilligt wurde, offenbart sich auch an den Semantiken, die mit den Sammlungen verbunden waren. Noch in den 1970er Jahren umschrieb Vladimir Malyšev die Kollektion in der Bibliotheksmetaphorik. Für ihn war die Sammlung eine »Bibliothek der Vergangenheit«, ein »Speicher (chranilišþe) der schriftlichen Kultur des nördlichen Bauern«.199 Die semantische Verschiebung, die Markelov 1993 vornahm, brach mit dem Bild der Büchersammlung, welche Informationen bereitstellt, jedoch anders als das Archiv die Zeitenläufe nicht durch das Beibringen von Dokumenten beglaubigen kann. Indem er die Sammlung als »riesiges Archiv des russischen Bauern« beschrieb, wies er ihr, wie es schon Popovskij mit der in London erschienen Dokumentation über die Tolstojaner zehn Jahre früher getan hatte, eine Beweisfunktion zu.200 Er ließ damit die Sammlung bäuerlicher Texte in direkte Konkurrenz zu den staatlichen Archiven treten, die versucht hatten, den Begriff ›Archiv‹ exklusiv für sich zu beanspruchen.201 In den späten 1990er Jahren verloren die Texte an Brisanz. Damit veränderten sich auch die Semantiken, mit denen bäuerliche Autobiographik als Einzelstück oder im Verbund bezeichnet wurde. Ähnlich wie Malyšev in den 1950er Jahren betonte die Literaturwissenschaftlerin Elena Ryžova nun wieder den Informationscharakter der Quellen. Sie bezeichnete im Jahr 2000 ein Tagebuch aus dem russischen Norden als Enzyklopädie.202 Da der russische Norden, wo besonders die an die Peripherie des Reichs geflüchteten Altgläubigen Handschriften und Bücher abschrieben, sammelten und bewahrten, als besonders schriftkundig galt, suchten die Wissenschaftler vor allem dort. Sie knüpften damit an Suchstrategien an, die um die Jahrhundertwende Archäographen wie Vsevolod Sreznevskij dazu gebracht hatten, die hauptstädtischen Bibliotheken mit bei der Bevölkerung gemachten Funden zu füllen. Ihr Sammeleifer erscheint heute als zwiespältig: Einerseits bewahrten sie Texte, deren Wert für die in der Sowjetunion Geborenen immer weniger nachvollziehbar war, andererseits nahmen die Forscher die Texte aus dem alltäglichen Gebrauch heraus und raubten
197 Karpov, Po volnam žitejskogo morja, in: Ogonek 1990 und Novyj Mir 1992. 198 Karpov, Po volnam žitejskogo morja, in: Ogonek, 13. 199 Malyšev, Sobranie drevnerusskich rukopisej, 335. 200 Markelov, Krest’janskie archivy, 502; Popovskij, Russkie mužiki rasskazyvajut. 201 Alekseeva, Afanas’eva, Burova, Archivovedenie, 55. 202 Ryžova, Dnevnikovye zapiski udorskich krest’jan-staroobrjadcev, 83.
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damit den (ehemaligen) Bauern und ihren Kindern die Möglichkeit, auf das schriftlich niedergelegte Wissen über ihre Vergangenheit, ihr Dorf, ihre Familien und Glaubensgemeinschaft zuzugreifen. Bewusst oder unbewusst verstärkten die Wissenschaftler damit jene Prozesse, die dem traditionellen Bauerntum neben den wirtschaftlichen auch seine kulturellen Grundlagen entzogen. Die Sammlung und Speicherung ohne alltäglichen Gebrauch ging auch hier – möglicherweise erklärt dies auch die Verwunderung, welche die Recherchen zu diesem Buch immer wieder hervorriefen – dem Vergessen voraus. Das Vorgehen der Wissenschaftler erinnert an den allmächtigen Staat in der Anti-Utopie 1984 von George Orwell, der den Menschen mit den Quellen auch ihre Geschichte und die Möglichkeit nimmt, Alternativen zum Geschichtsverlauf zu erkennen.203 Mitunter ist auch die Sprache, mit denen die Wissenschaftler Rechenschaft über ihre Expeditionserfolge ablegten, erschreckend jener ähnlich, die Soldaten im Krieg und Geheimdienste im Feindesland benutzen: Da wird ausgekundschaftet, eine Marschroute abgeschritten, beschlagnahmt, abgeschwatzt, jedoch selten für Geld gekauft. Es sind die Semantiken der Kolonialisierung, Disziplinierung und Unterwerfung, die die Wissenschaftler aus Leningrad gebrauchten. Sie sprachen den bäuerlichen Familien ab, rechten Gebrauch von den Handschriften zu machen. Die Bauern könnten, so der Vorwurf, die Schriften in den meisten Fällen nicht mehr lesen und bewahrten sie häufig unsachgemäß auf. Die alten, immer wieder abgeschriebenen Handschriften hätten ja nun, da in jedem Dorf eine Lesestube eingerichtet sei und auch Bauern Zeitungen abonnieren und Bücher erwerben könnten, ihre praktische Bedeutung verloren.204 Zudem – und diese Beweiskette brachte die Besitzer in Argumentationsnöte – sei unklar, worin der Gebrauch der meist religiös genutzten Schriften in einer sozialistischen und atheistischen Gesellschaft noch bestehen könne. Der einzige Nutzen, den die alten Schriften noch erbringen könnten, sei ihre Verwendbarkeit für die Wissenschaft. Dies war ein Anliegen, welches den Dorfbewohnern mitunter recht fremd blieb und für dessen Vermittlung die hauptstädtischen Wissenschaftler lokale sowjetische Organisationen und Parteiorgane aufboten.205 Die lokale Administration hätte sehr geholfen, so lautete der Dank, die hehren Ziele den mitunter recht uneinsichtigen Dorfbewohnern verständlich zu machen. Manchmal jedoch war es nicht Renitenz, sondern ein Bekenntnis zur Sowjetunion, welches die Wissenschaftler zu spät kommen ließ. Das beherzte Handeln einer jungen Frau, die die Hütte von verstorbenen Altgläubigen bezogen hatte, offenbart die Waghalsigkeit, den Wert der alten Schriften zwischen Müll und Reich-
203 Orwell, 1984, 39-41, 71. 204 Malyšev, Zametki o rukopisnych sobrannijach Petrozavodska i Tobol’ska, 154; Malyšev, Otþet o kommandirovke, 470-471. 205 Begunov, Panþenko, Archeografiþeskaja ơkspedicija, 390.
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tum der Vergangenheit oszillieren zu lassen: »Mit Stolz und klarem Bewusstsein teilte sie ihre Verdienste mit, dass sie alle alten, kirchlichen Bücher, von denen die Alten einen ganzen Schrank besessen hatten, niemandem gegeben, sondern alles vernichtet habe.«206 Obgleich die Archäographen das gesamte Register der Überzeugungskunst, Drohung und Liebenswürdigkeit nutzten, um auf Sinn und Zweck der zentralen Sammlung zu verweisen, trafen sie neben bereitwilliger Abgabe jedoch auch auf Zurückhaltung. Die Bauern gaben an, keine Handschriften und Bücher zu besitzen, zeigten nur Bruchstücke vor, verwiesen auf Nachbarn oder andere Dörfer, antworteten nicht auf Anfragen oder ließen sich verleugnen. Deutlich zeigen die in den Berichten geschilderten Konflikte, dass die Handschriften und Bücher auch noch in den späten 1960er Jahren zum Taufen, Beichten, Abendmahl und für die Totensorge genutzt wurden.207 In den Expeditionsberichten waren es vor allem die Frauen, die sich weigerten, Bücher und Handschriften herauszugeben. Die Greisin P.S. ýuprova (sowohl die Geber als auch die Verweigerer werden in den veröffentlichten Berichten mit vollem Namen geführt) lehnte es etwa ab, ihre Handschriften und alten Bücher dem Puschkinhaus zu überlassen. Sie fürchtete falschen Gebrauch: »Nein, ich werde nicht verkaufen, ihr werdet es nur im Radio bringen und im Museum zeigen.«208 Andere Befürchtungen hegte die Bäuerin Taisija Kambalina, die ihre liturgischen Bücher und Schriften nicht abgeben mochte. Von den Nachbarn erfuhren die Wissenschaftler, dass die alte Frau die Gebete für die Verstorbenen lese und sich im Dorf eines großen Ansehens erfreue.209 Die alten Schriften waren die Grundlage für den Vollzug der Riten und für den ihr entgegengebrachten Respekt. Misst man jedoch das Gelingen der Expeditionen mit den Kriterien ihrer Initiatoren, nämlich einfach an den Zahlen der gesammelten Texte, so waren die Forschungsreisen trotz der »religiösen Intoleranz«, des »konservativen Geistes« und des »Misstrauens gegenüber Fremden« in der Bevölkerung ungemein erfolgreich. Dank ihres Einsatzes, so die Version der hauptstädtischen Wissenschaftler, konnten weitere Verluste durch feuchte, unabgeschlossenen Keller, Hausbrände und mangelnde Wertschätzung abgewendet werden. Hatte die 1932 gegründete Abteilung für altrussische Literatur 1949 nur 32 Handschriften besessen, konnte Vladimir Malyšev 1982 schon mehr als 8.000 Einheiten vorweisen, heute sind es 12.000.210
206 Dmitriev, Kopanev, Archeografiþeskaja ơkspedicija, 534-535. 207 Malyšev, Vozmožny li ešþe rukopisnye nachodki, 374. 208 Malyšev, Otþet ob archeografiþeskoj komandirovke na Peþoru, 513. 209 Grebenjuk, Roždestvenskaja, Otþet ob archeografiþeskoj ơkspedicii, 318. 210 Baskakov, Rukopisnyj otdel Puškinskogo Doma, 30; Budaragin, Drevlechranilišþe, 350. Die Legitimationsrhetoriken, die mit den drohenden Verlusten für das Sammeln der
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Dank des gewachsenen Bestands gelang es ihm, sich von der Abteilung für altrussische Literatur zu lösen und mit dem Drevlechranilišþe eine eigene Sammlung im Puschkinhaus einzurichten. Er wurde ihr Leiter. Malyševs Expeditionsmethode fand in der Sowjetunion zahlreiche Nachahmer. Seit den späten 1950er Jahren bewegte sich eine regelrechte Expeditionswelle über das Land. Aufrufe in den Tageszeitungen bereiteten den Ansturm vor. In ihnen forderten Wissenschaftler die Landbevölkerung auf, alte und jüngere Handschriften nach Leningrad zu senden. Nicht nur die Mitarbeiter der großen Bibliotheken, auch Universitäten und Heimatkundemuseen stellten nun Expeditionsgruppen zusammen, um ihre Sammlungen zu bereichern. In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre häuften sich in den Expeditionsberichten dann aber die Klagen über die eigene Erfolglosigkeit bei der Suche. Ein massives Problem sei die Landflucht, denn mit den Dorfbewohnern migrierten auch die Handschriften und Bücher. Größtes Ärgernis waren in den Augen der professionellen Wissenschaftler jedoch die privaten Sammler, die das Vertrauen der Bevölkerung ausnutzten, sich ohne jegliche »ethische Norm« an den Handschriften bedienten und dabei alle Bemühungen um Zentralisierung durchkreuzten.211 Das Sammeln war, und dies wird auch an den Rhetoriken deutlich, mit denen zum Beispiel Malyšev die lokalen Museen und Bibliotheken an den Pranger stellte, auch ein Versuch, die eigene Professionalität zu betonen. Mit dem Sprechen über die Sammlungspraktiken wurde ausgehandelt, wo Zentrum, wo Peripherie sei. Indem Malyšev immer wieder betonte, dass nur die Leningrader Sammlung sachgerechte Überlieferung gewährleiste, wertete er die lokalen Sammlungen als provinziell und unprofessionell ab. Nicht nur in seinen Schilderungen waren lokale Museen, Bibliotheken und Sammlungen Höllen aus Staub, Schimmel, Chaos und fehlendem Sachverstand.212 Doch auch die anderen Unternehmungen, sogar die geschmähten Museen, waren auf ihren Expeditionen erfolgreich; auch sie konnten ihren Sammlungen bäuerliche Selbstzeugnisse hinzufügen. Das Tagebuch des Bauernjungen Efim Besov, der während des Russisch-Japanischen Kriegs in japanische Gefangenschaft geraten war, übergab sein Taufpate 1965 einer archäographischen Expedition durch Karelien. So gelangte es schließlich in das Petrozavodsker Hei-
Texte werben, finden sich in jedem Expeditionsbericht, der in den Trudy Otdela Drevnerusskoj Literatury (TODRL) veröffentlicht wurde. Beispielhaft: Šþapov, Archeografiþeskaja ơkspedicija, 614; Malyšev, Zametki o rukopisnych sobrannijach, 155, 158. Zitate: Malyšev, Otþet ob archeografiþeskoj komandirovke na Peþoru, 513. 211 Demkova, Sazonova, Otþet o pinežskoj ơkspedicii, 324. 212 Malyšev, Svedenija o sobranijach rukopisej, 248; Golubev, Rukopisnye i staropeþatnye knigi, 572; Malyšev, Zametki o rukopisnych sobrannijach, 155,158.
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matkundemuseum.213 Auch das Tagebuch des Bauern Ignat Frolov brachte im gleichen Jahr eine Expedition in das Moskauer Umland unter der Ägide von N.B. Tichomirov in die Handschriftenabteilung der Leninbibliothek.214 Der russische Norden blieb bevorzugtes Ziel. Die sogenannten ›Sektierer‹ und Altgläubigen galten als Gewähr für sichere Funde. Sie sind auch als Autobiographen im Quellenkorpus dieser Arbeit überrepräsentiert. Die Ursache dafür ist nicht nur ihre besondere Schriftkundigkeit, sondern auch die Aufmerksamkeiten der Forscher. In meinem Quellenkorpus lässt sich zudem ein starkes Übergewicht an Bauern aus dem Gouvernement Jaroslavl’ feststellen. Dafür waren nicht nur die frühe Industrialisierung, das Kleingewerbe, Wanderarbeit, die Ökonomisierung der Landwirtschaft, das Auflösen traditioneller bäuerlicher Identitäten sowie der hohe Anteil an Altgläubigen verantwortlich, sondern auch die starke heimatkundliche Bewegung in dieser Region vor der Revolution. Sie glaubte an einen besonderen jaroslavler Typ des Bauern und sammelte Beweise für seine Existenz.215 Aufgrund der von Malyšev ausgelösten Expeditionswelle sind die Funde heute sehr verstreut: Neben den großen ›Nestern‹ wie den hauptstädtischen Handschriftenabteilungen gibt es zahlreiche kleine. Vor allem die Heimatkundemuseen haben dazu beigetragen, dass bäuerliche Tagebücher und Autobiographien in ihrem lokalen Zusammenhang verblieben. Was jedoch fehlt, sind umfassende Inventarisierungsarbeiten, die auch die Bestände der Museen einbeziehen. Sichere Aussagen über regionale Schwerpunkte autobiographischen Schreibens lassen sich so nicht treffen, eher über die Vorannahmen jener Wissenschaftler, die in bestimmten Gegenden auf die Suche gingen, und weil sie suchten, auch dort fündig wurden. Um diese Perspektive nicht zu doppeln, habe ich davon Abstand genommen, den russischen Norden als alleinige Untersuchungsregion in den Mittelpunkt zu stellen, obgleich eine Vielzahl der Quellen aus dem russischen Norden stammt. In dem Kapitel über bäuerliche Autobiographik im Familienkreis dominieren Quellen aus dem russischen Norden, da sie häufig erst durch die Expeditionen in den 1960er Jahren in Sammlungen eingespeist wurden. Bäuerliche Autobiographik, die nach Aufrufen entstanden ist und sich zum Beispiel in den Nachlässen Bonþ-Brueviþs und Rubakins befindet, weist hingegen keine solch eindeutige Dominanz des Nordens auf. In letzter Zeit nehmen die Bemühungen zu, auch Selbstzeugnisse von Vertretern anderer Ethnien in die Autobiographieforschung einzubeziehen. Diese Anstrengungen werden durch das neuerliche Interesse an ›imperialen Biographien‹ ver-
213 Besov, Knižka zapisnaja, Petrozavodsk: KGM – 1158/1. 214 Frolov, Dnevnik, RGB f. 218, 1283.12-15, 1934-1935. 215 Beispielhaft: Košelev (Hrsg.), Vospominanija russkich krest’jan, 12.
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stärkt.216 Diese Perspektive spielt hier keine entscheidende Rolle. Russland und die Sowjetunion als Vielvölkerreiche bilden die Quellenbasis nicht ab. Dafür gibt es mehrere Gründe: Der erste Grund ist methodischer Natur. Da in der Studie Sprache und Semantiken eine wichtige Rolle spielen, habe ich in der Arbeit nur Texte berücksichtigt, die überwiegend auf Russisch verfasst worden sind. Darüber hinaus scheint autobiographisches Schreiben eine Praxis gewesen zu sein, an der nichtrussische Ethnien oder schriftfremde Kulturen mitunter nur beschränkt teilnahmen. Möchte man all jene erfassen, käme man nicht umhin, von der Schrift als alleinigem Aussagemodus sowie von dem Prinzip der Narrativität Abstand zu nehmen und das Formenarsenal autobiographischer Aussagen um Lieder, Sprichwörter und Bilder zu erweitern. Zudem waren nichtrussische Bauern bei der Archivierung ihrer Texte benachteiligt. Die Zeitschriften publizierten in erster Linie die Texte russischer Bauern, während sich die Schreibaufrufe auf Russisch an Korrespondenten aus den unteren Schichten wandten. Nur in sehr wenigen Fällen überschritten die vorrevolutionären Zeitschriften und Autobiographieprojekte den Ural und wandten sich explizit an nichtrussische Bevölkerungsgruppen. In die durch Expeditionen zusammengetragenen Sammlungen, die vor allem altrussische Schriftdenkmäler und damit die altgläubige Handschriftentradition im Blick hatten, gerieten gleichfalls nur russischsprachige autobiographische Texte.
216 Bäuerliche Autobiographik spielt in diesen Forschungen bisher keine Rolle, da der Blick vor allem auf die Funktionsträger des Imperiums gerichtet wird. Siehe Hofmeister, Jüdische Grenzgänger; Norris, Sunderland (Hrsg.), Russia’s People; KáaĔska, Schtetl; Parush, Reading. Siehe auch das von Malte Rolf und Jörn Happel 2011 in der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft herausgegebene Heft Grenzgänger in Vielvölkerreichen sowie das von Ab Imperio 2009 herausgegebene Heft Homo Imperii Revisits the Biographic Turn.
2. Autobiographik in Presse und Publizistik
Die vorrevolutionäre Presse war neben dem Familienkreis und den von Wissenschaftlern angeregten Autobiographieprojekten einer der drei Kommunikationsräume, in denen Bauern zwischen Bauernbefreiung und Kollektivierung autobiographisch schrieben. In diesem Kapitel werden jene Autobiographien in den Mittelpunkt gestellt, die in den sogenannten ›dicken Journalen‹, historischen Zeitschriften und der kirchlichen Presse nach der Bauernbefreiung erschienen. An ihnen lassen sich die gegenseitigen Abhängigkeiten in Abgrenzung zueinander zwischen dem Ort der Äußerung, der Adressierung und der Wahl der Schreibformen aufzeigen. Dabei orientiert sich die Gliederung des Kapitels an einer Typologie der Publikationen, die zeigt, dass es nur gewissen Bauern erlaubt war, ihr Leben öffentlich zu erzählen. Am Anfang des Publikationsbooms bäuerlicher Autobiographik standen die Autobiographien von Leibeigenen, die seit den 1870er Jahren in großer Zahl veröffentlicht wurden. Mit diesen Texten verteidigten die Autobiographen, Herausgeber und Leser die Aufhebung der Leibeigenschaft gegen Zweifler und Kritiker. Die Empathie für Sklaven und Leibeigene führte dazu, dass die in vermeintlich größerer Freiheit lebenden Staatsbauern oder Apanagebauern eine viel geringere Chance hatten, in die Blätter zu gelangen. Nur langsam kamen in den 1880er Jahren die Autobiographien jener Spätgeborener hinzu, zu deren eigener Erfahrenswelt die Leibeigenschaft nicht mehr gehörte. Sie sprachen über sich als durch ihre soziale Herkunft beeinträchtigte Ausnahmetalente. Die Narrative gruppieren sich um ein ›trotzdem‹: Die bäuerlichen Autobiographen präsentierten sich als wichtige Mitglieder der Gesellschaft ungeachtet aller Hindernisse. Sie hätten Bedeutendes für Russland geleistet, obgleich sie keine reguläre Schule besuchen konnten und von Armut, mitunter auch von Krankheit und prekären Familienverhältnissen betroffen gewesen seien. Trotz der Hindernisse sei ihr Lebensweg vor allem Bildungsweg gewesen. Auch die orthodoxe Kirche und die autokratiekritischen ›Sektenforscher‹ erkannten in den 1880er Jahren die Möglichkeit, Evidenz für ihren Blick auf Russland aus autobiographischen Texten von Bauern zu ziehen. Dabei sind die sich än-
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dernden Narrative augenfällig: Biographischer Erfolg beruhte demnach nicht mehr auf Standeswechsel und wirtschaftlichem Erfolg, sondern auf der Wahl des rechten Glaubens. Die Lebensbeschreibungen enden gleichartig – am Ende steht die Konversion. Obgleich die Texte oft eine ähnliche Erzählstruktur aufwiesen, konkurrierten Herausgeber, Sammler und Schreiber um die Deutungshoheit, was als ›richtiges‹ Leben gelte und worin sich biographischer Erfolg bemesse. Die Schreiber versuchten mit ihrem Lebensweg andere Möglichkeiten der (religiösen) Lebensführung als falsch abzuwerten. Insgesamt gab es für die Bauern bis 1917 drei mögliche Narrative, um ihr Leben einer größeren Öffentlichkeit anzubieten: das Thema der Leibeigenschaft, außerdem Talent und autodidaktisch erworbene Kenntnisse sowie – drittens – die religiöse Konversion.
2.1 G ELEBTE L EIBEIGENSCHAFT ,
ERZÄHLTE
S KLAVEREI
Lasterhafte Lust, sadistische Gewalt und Leichen im Keller – in den vor 1917 publizierten bäuerlichen Autobiographien waren die angeblich so idyllischen ›Adelsnester‹ Orte des Verbrechens. Grausame Gutsbesitzer saugten ihre leibeigenen Bauern durch Zins und Fronarbeit aus. Sie vergingen sich an Bauernmädchen, wie sich ihre Ehefrauen ihrerseits mit Lakaien und anderen Liebhabern amüsierten. Aus Freude an der Quälerei hetzten sonst müßige Herrschaften bissige Hunde auf Bauernkinder, sodass deren Mütter erst ihren Verstand verloren, ehe sie aus Gram ihr Leben binnen dreier Tage aushauchten. Es waren unglaubliche Episoden, die ehemalige Leibeigene nach der Bauernbefreiung 1861 in der vorrevolutionären Publizistik aus ihrem Leben erzählten. Sie standen anderen Schilderungen der Sklaverei, sei es der jüdischen in Babylon oder der afrikanischen in Baltimore, weder in ihrer Motivwahl noch in ihrer Dramatik nach.1 Die Hauptthese des Unterkapitels ist, dass die bäuerlichen Autobiographen, die durch die Publikation in Zeitschriften eine Öffentlichkeit erreichen wollten, die Erfahrung der Leibeigenschaft als Erlaubnis nutzen mussten, um über ihr Leben sprechen zu können. Die drastische Schilderung des Verhältnisses zwischen Leibeigenem und Gutsherrn war ein Mittel der Adressierung. In den Autobiographieprojekten und im autobiographischen Schreiben im Familienkreis spielte die Leibeigenschaft als Aspekt bäuerlichen Lebens keine bedeutende Rolle. In den ›dicken Journalen‹, historischen Zeitschriften und Zeitungen hingegen fand kaum Gehör, wer nicht über die Leibeigenschaft sprach. Wer sich jedoch auf die Anrufung als Leib-
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Erste Überlegungen zu den Autobiographien ehemaliger Leibeigener habe ich in einem Aufsatz für die Zeitschrift Jahrbücher für Geschichte Osteuropas entwickelt: Herzberg, Onkel Vanjas Hütte.
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eigener umdrehte und: »Hier bin ich«, rief, verortete sich damit nicht nur im sozialen Raum. Er veränderte auch das Wissen über die Leibeigenschaft und bewertete damit gleichzeitig die Position der anderen neu. Ich werde an den Autobiographien der Leibeigenen Savva Purlevskij und Fedor Bobkov exemplarisch zeigen, dass auch Bauern aus dem Zarenreich an globale Sprechformen über Sklaverei und Unfreiheit anknüpften, um anderen von ihrem Leben zu erzählen. Ihre Lebensgeschichten fanden Verleger und Leser, weil sie an weltumspannende Sprechweisen über Freiheit anschlossen. Die autobiographischen Texte waren Teil eines globalen Diskurses über Freiheit, der sich immer wieder an der Aufhebung der Sklaverei entzündete.2 Bevor die beiden Autobiographien analysiert werden, wird nachgezeichnet, wie und durch wen die Semantiken der Sklaverei in das Sprechen über die Leibeigenschaft eingingen. Ich vertrete die These, dass die Empathie für die schwarzen Sklaven seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert die Entdeckung der Gutsbauern als handelnde Subjekte vorbereitete. Die Publizisten trauten den Leibeigenen autobiographisches Schreiben zu. Sie hielten ihre Texte für lesenswert, erzieherisch wertvoll und politisch bedeutsam. Bis in die 1880er Jahre hinein war die Aufhebung der Sklaverei und der Leibeigenschaft ein Thema, das die ganze Welt beschäftigte. Einige wenige Jahreszahlen können dies verdeutlichen: 1792 erließ Dänemark ein Sklavenhandelsverbot, 1807 hob Preußen die Leibeigenschaft auf, von 1833 bis 1838 wurde die Sklaverei in den Britischen Kolonien abgeschafft, 1848 fiel die Sklaverei im französischen Herrschaftsgebiet, 1861 ist das Jahr der Bauernbefreiung in Russland, 1865 endete die Sklaverei in den Südstaaten von Amerika und 1888 schließlich in Brasilien. Jedes Reformereignis war eine Zeitungsmeldung wert, an jedem Datum konnte auch die eigene soziale Ordnung diskutiert werden. Die bäuerlichen Autobiographien sind Teil dieses Dialogs zwischen den Kulturen. Obgleich Sklaverei und Leibeigenschaft jeweils unterschiedliche Lebenswelten hervorbrachten, so ähnelte sich doch das Sprechen über sie. Bisher sind die Sklaverei und die Leibeigenschaft nur vergleichend sowie klar voneinander getrennt untersucht worden.3 Inwieweit es vor allem in der Diskussion über ihre Abschaffung
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Begriffshistorische Studien zu den russischen Begriffen der Freiheit »svoboda«, »vol’nost’«, »prostor« und »volja« bieten Fedotov, Wittram, Geyer, Hagen und Schmidt. Die globalen Bezüge gewichten sie nur gering. Fedotov, Russland und die Freiheit; Wittram, Das Freiheitsproblem; Geyer, Die Idee der Freiheit; Hagen »Volju nevolja uþit«; Schmidt, Freiheit in Russland.
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Unerreicht die beeindruckende Studie von Kolchin: Kolchin, Unfree Labor; Suponickaja, Amerikanskij rab, 52-61. Einen guten Überblick über die Unterschiede zwischen Leibeigenschaft und Sklaverei bietet: Pipes, Rußland vor der Revolution, 153-157.
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zu einem Diskurstransfer kam, wurde bisher kaum beleuchtet.4 Die bäuerlichen Autobiographien aus dem Zarenreich bieten sich dazu an, diese Dimension stark zu machen und die Erinnerungen an die Leibeigenschaft und die Bauernbefreiung 1861 auch in ihren globalen Bezügen zu verorten. Der Entdeckung des Leibeigenen als Chronisten seines Lebens und damit auch als Subjekt seiner eigenen Geschichte ging im Zarenreich seine Auffindung als Objekt von Kunst, Literatur und Wissenschaften voraus. 1770 malte Dmitrij Levickij das erste Porträt eines leibeigenen Bauern. Seit den 1840er Jahren erschienen vermehrt Prosadichtungen über den russischen Bauern, in denen sich die Erzählperspektive auffällig verschob: Immer häufiger wurde nicht über, sondern aus der Sicht der Bauern und Unterdrückten erzählt.5 Auch Geographie, Ethnographie und Statistik teilten das Interesse an dem ›einfachen Volk‹. Institutionen wie die Geographische Gesellschaft erforschten nicht nur die Provinzen, sondern forderten auch Bauern auf, über sich und ihre Lebensbedingungen zu berichten.6 Schließlich gab Ivan Turgenev in seinen 1852 erschienenen Aufzeichnungen eines Jägers nicht nur seinen Hunden ein lebendiges Gesicht, sondern zeichnete auch leibeigene Bauern als Wesen mit eigenen Willen und Gefühlen. Anders als Harriet Beecher Stowes zeitgleich fertiggestellter Bestseller Onkel Toms Hütte, welcher der Sklaverei ihre Legitimation absprach, konnten die russischen Werke nur unterschwellig eine Diskussion über die Leibeigenschaft in Gang setzen.7 Ihr Wirkungsfeld blieb infolge
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Ausnahmen stellen die Arbeiten von Blakely und MacKay dar. Blakely untersucht aus der Perspektive afroamerikanischen Lebens im Zarenreich und in der Sowjetunion auch die russischen Diskurse über ›Schwarze‹ und Sklaverei. Ihm gelingt es, die Parallelen zwischen den abolitionistischen Diskursen über die Sklaverei und über die Leibeigenschaft deutlich zu machen. Blakely, The Negro in Imperial Russia; Blakely, American Influences; Blakely, Russia and the Negro; Blakely, African Imprints on Russia. Im Mittelpunkt von MacKays Arbeiten stehen die Rezeptionsgeschichte von Uncle Tom’s Cabin im Zarenreich und das autobiographische Schreiben von ehemaligen Leibeigenen. MacKay hat 2009 eine Anthologie mit autobiographischen Texten von Leibeigenen vorgelegt: MacKay (Hrsg.), Four Russian Serf Narratives; MacKay, The First Years; MacKay, »And Hold the Bondman Still«; MacKay, Form and Authority.
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Woodhouse, Tales from Another Country.
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Smith-Peter, Defining Russian People. Über die Programme der Geographischen Gesellschaft: Matveeva, Filonoviþ, Jarukova, Russkie geografy, 9-12. Zur Entdeckung der Provinz trug auch der Ausbau der Eisenbahn bei: Sperling, Der Aufbruch der Provinz.
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Der russische Erziehungsminister hatte in einem Geheimbericht Turgenevs Werk als gefährliches Schriftstück bezeichnet. Es sei geeignet, bei den Bauern Respektlosigkeit gegenüber ihrem Herren zu wecken. In liberalen Kreisen wurde es hingegen begeistert begrüßt. Bis 1857 war die Publikation von Uncle Tom’s Cabin im Zarenreich verboten. Da-
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der Zensur bis in die 1860er Jahre hinein beschränkt. Regierungszirkel diskutierten zwar seit der Herrschaft von Alexander I. eine Aufhebung der Leibeigenschaft, sie achteten jedoch peinlich genau darauf, dass die Diskussion die erlauchten Kreise nicht verließ. Immer wieder wurden Maßnahmen ergriffen, ergänzt und verfeinert, die das Schicksal der Bauern und damit auch die Forderung nach Aufhebung der Leibeigenschaft unter dem Mantel des Schweigens halten sollten. Besonders argwöhnisch betrachteten die Zensoren all jene Artikel, die das Verhältnis zwischen dem Gutsherrn und den leibeigenen Bauern thematisierten, eine Veränderung der ländlichen Verhältnisse anmahnten und die Laster und Missbräuche der Herrschaften beschrieben. Frei von den Fesseln der Zensur konnten die Kosten der Leibeigenschaft nur in der russischen Emigrantenpresse erörtert werden. Hierbei tat sich vor allem die von Alexander Herzen und Nikolaj Ogarev erst in London, später in Genf herausgegebene Zeitschrift Kolokol hervor. Die Lebensgeschichten schwarzer Sklaven wie die des nach Virginia und London verschleppten Afrikaners Olaudah Equiano erschienen hingegen auch im Zarenreich.8 Bauern berichteten dem Leseforscher Nikolaj Rubakin, dass sie Onkel Toms Hütte gelesen hätten.9 Der identifikatorischen Gleichsetzung von Sklave und Leibeigenem war im Zarenreich die Sympathie für die afrikanischen Sklaven und bei Russlandreisenden die abwertende Parallelisierung von ›Negern‹ und Russen als devot und arbeitsscheu vorausgegangen. Seit Peter dem Großen hatten die Mohren (arapy) dem Zarenhof zum Schmuck gereicht wie Meißner Porzellan. Im Zarenreich erhielten sie, auch wenn sie als Sklaven erworben wurden, ihre persönliche Freiheit.10 Alexander Puschkin, der seinem afrikanischen Urgroßvater Abram Hannibal in der Erzählung Der Mohr Peters des Großen ein Denkmal setzte, zeichnete seinen Titelhelden als empfindsame, reine Seele in schwarzer Haut, der dank seiner Andersartigkeit, Ursprünglichkeit und Tiefe auf weiße Frauen anziehend wirkte und im Unterschied zu seiner gekünstelten Umgebung zu wahrer Liebe fähig war. Wie der Zar, so begeis-
nach feierte es erste Erfolge als Kinderbuch. 1858 gaben Nikolaj Nekrasov und Nikolaj ýernyševskij die Erzählung als Beiheft der Zeitschrift Sovremennik heraus, 1858 erschien sie auch im Syn Oteþestva. Pal’mer, Chižina djadi Toma (1857); Žizn’ v južnych štatach, in: Sovremennik 67 (1858), 129-208; Žizn’ v južnych štatach, in: Sovremennik 68 (1858), 209-352. Ausführlich zur Rezeptionsgeschichte von Uncle Tom’s Cabin siehe: MacKay, The First Years. 8
Über Leibeigenschaft, Bauernbefreiung und Zensur siehe: Eschment, Die »Große Reform«, 77; Field, The End of Serfdom, 149-152. Zu Equiano, dessen Autobiographie 1794 im Zarenreich erschien: Gould, The Rise, 21; Equiano, The Interesting Narrative.
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Kuzjunin, Opisanie biografii, naþataja 1911 goda janvarja 20-go dnja, RGB f. 358 245.22 l. 3-16, 1911, l. 14.
10 Blakely, The Negro in Imperial Russia, 354; Turgenev, Rußland und die Russen, 107.
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terten sich auch die russischen Adligen für schwarzhäutige Bedienstete, die immer seltener aus Afrika stammten, sondern häufig in Amerika geboren waren.11 In Radišþevs 1790 erschienener Reise von Petersburg nach Moskau war der Unterschied zwischen den russischen Gutsbauern und den »unglücklichen Opfern von den heißen Ufern des Niger und des Senegal« nur noch gering. Das Zarenreich mit seinen Leibeigenen ähnle dem durch Sklavenarbeit in falscher Schönheit erblühten Amerika: »Zittert, geliebte Freunde, dass man nicht von euch sage: Ein anderer Name und die Geschichte erzählt von euch.« Empörung und Abscheu überfallen den Erzähler beim Anblick des Zollhafens mit Schiffen voll Zucker und Kaffee. Das Bild erinnert damit an den von britischen Abolitionisten in den 1780er Jahren ausgerufenen Zuckerboykott. Die fremden Aromen schmeckten dem um ihre Herstellung Wissenden weder süß noch anregend herb, sondern allein nach Schweiß und Blut. Gut sei es, die bittere Süße zu verschmähen, so wie es in Russland besser sei, zu fasten, als jenes Brot zu essen, welches von den Äckern russischer Gutsherren stamme. Das von den Leibeigenen als Getreide geerntete, gemahlene und gebackene Brot sei gleichfalls mit Tränen getränkt.12 Auch andere russische Publizisten entdeckten in ihren Essays Amerika und zogen immer häufiger die Parallele zwischen Sklaven und Leibeigenen. Am Beispiel der Vereinigten Staaten wurde stellvertretend die von der Zensur misstrauisch beäugte Diskussion geführt, wie unfreie Arbeit auf ein Gemeinwesen zurückwirke. Schon 1784 verurteilte der Aufklärer Nikolaj Novikov den Sklavenhandel in einem anonymen Artikel für die Moskovskie Vedomosti.13 Vasilij Popugaev versetzte sich 1804 in die Gefühlswelt des Sklaven Amru, der angstvoll auf das Schiff wartete, welches ihn nach Amerika und in die Knechtschaft bringen sollte. Um nicht die Wachsamkeit der Zensoren zu erregen, wurde diese Erzählung als eine Übersetzung aus dem Spanischen angekündigt.14 In einem Brief an Ivan Turgenev sprach Nikolaj Nekrasov offen darüber, was er sich von der Publikation von Onkel Toms Hütte in der Zeitschrift Sovremennik versprach – eine Auflagensteigerung.15 Die Situation der Sklaven werde in der russischen Öffentlichkeit heiß diskutiert, insbesondere in Bezug auf die »eigenen Neger«.16 In der äsopischen Sprache der russischen Presse konnten die Plantagen der Südstaaten schnell russische Güter und die Sklaven leibeigene Bauern sein. Im Zarenreich war ›Neger‹ eine Formel, um gegen Unterdrü-
11 Blakely, Russia and the Negro, 39; Puškin, Der Mohr Peters des Großen, 179-227. 12 Radišþev, Reise, 182-183, 193-194. 13 Novikov, On the Injustice of Slave-Holding (1784), 74-75. 14 Popugayev, The Negro, 103-106. 15 Zu der Rezeption von Uncle Tom’s Cabin siehe auch: MacKay, The First Years, 67-88; Saul, Distant Friends, 302-303. 16 Nekrasov, Excerpt from a Letter to Ivan Turgenev, 214.
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ckung und Ungerechtigkeit aufzubegehren. Im Gebrauch dieser Sprechweisen ähnelt Russland anderen europäischen Ländern, beispielsweise Irland in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts: »If Negro was not Negro, Irishmen would be Negro.«17 Das Eigene wurde sowohl auf der irischen Insel als auch in Russland mithilfe des Fremden auf den Prüfstand gestellt. Die Sympathie für die Sklaven erstreckte sich nicht nur auf die kritische Intelligencija, sondern war auch am Hofe des Zaren zu finden. Nikolaj Karamzin pries in seinem Journal Vestnik Evropy die Haitianische Revolution und ihren Anführer und Märtyrer Toussaint L’Ouverture. Auch Frédéric-César de La Harpe, der Tutor Alexanders I., betrauerte in seinen Briefen dessen gewaltsamen Tod im Gefängnis. Schließlich verurteilten Vertreter des Zaren auf dem Aachener Kongress 1818 den Sklavenhandel und forderten die Kontrolle der Handelswege ein. Nicht nur Verfemte wie der Dekabrist Nikolaj Turgenev erinnerten den Zaren bei seinem Einsatz für die fremden Sklaven an die noch ausstehende Bauernbefreiung im eigenen Land: »Auf dem europäischen Kongress hat sich der russische Autokrat für einige tausend Neger ausgesprochen – in der gleichen Zeit könnte er mit einem Wort mehreren Millionen der eigenen Untertanen die Freiheit schenken.« Die Sklaverei der Schwarzen erschien Turgenev als »gehässig«, die Leibeigenschaft der russischen Bauern dagegen als »gehässig und unsinnig zu gleicher Zeit«. Während die schwarzen Sklaven sichtbar anders seien, unterschieden sich die Leibeigenen von ihren Unterdrückern nicht einmal durch Hautfarbe und Religion.18 Auch Russlandreisende wollten mitunter keinen Unterschied zwischen einem Bauern aus Tver’ und einem Sklaven aus Tennessee erkennen. Der Franzose Germain de Lagny griff den auf Sigmund von Herberstein zurückgehenden Topos vom zur Sklaverei geborenen Volk auf. Für ihn gebe sich der russische Bauer dem Alkohol wie ein »Neger« hin, wie ein Schwarzer scheue er die Arbeit und verstehe allein die Sprache der Schläge: »Like the Negro, he entertains the greatest aversion for work; like him, he has the most sovereign contempt for death; and, like him, too, he practices the art of dissimulation to an extent of which it is perfectly impossible to convey an idea.«19 Während für de Lagny die Gleichsetzung von »Negern« und Russen zwischen rassistischer Abwertung und einer allgemeinen Verurteilung der Sklaverei oszillierte, kündigte in Russland die Gleichsetzung des Leibeigenen mit den Schwarzen immer häufiger eine von Empathie getragene Entdeckung des Gutsbauern als handelndes Subjekt an. Diese Identifikation war einfacher als in anderen
17 Berkley, A Word to the Wise, 68; Wolff, Von Fremdherrschaft, 76. 18 Turgenev, Rußland und die Russen, 65; Turgenev, Rossija i russkie, 246. 19 de Lagny, The Knout, 155.
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Ländern, da das Zarenreich nicht am Sklavenhandel beteiligt war. Es kannte zwar Fremdenhass, gleichwohl keine institutionalisierte Form des Rassismus.20 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts änderte sich die Situation eklatant. Zar Nikolaus I. starb 1855 und Russland verlor 1856 den Krimkrieg. Statt der Soldaten allein sollten nun alle gesellschaftlichen Kräfte mobilisiert werden, um das Zarenreich wieder auf die Straße der Sieger zu bringen. Auch die bisher so gegängelte Presse und Publizistik war nun aufgefordert, ihren Beitrag dazu zu leisten.21 Sie öffnete sich neuen Leserschichten und verlor die bis dahin vorherrschende Bindung an die schöne Literatur. Die Leibeigenschaft und die Agrarverhältnisse im eigenen Land blieben dennoch ein schwieriges Thema, dessen Diskussion erstmalig am 16. Januar 1858 für einen kurzen Moment von der Zensur ausgenommen wurde. Schon drei Monate später erregte es wieder das Misstrauen der Zensoren, nachdem der Publizist Nikolaj ýernyševskij und der Jurist Konstantin Kavelin im Sovremennik die Reskripte zur Bauernbefreiung kritisiert hatten.22 Aus den immer wiederkehrenden Beschränkungen, auch über die Schattenseiten bäuerlichen Lebens sprechen zu dürfen, entstand ein breites Interesse an bäuerlicher Autobiographik, das mit dem allgemeinen Verlangen nach autobiographischen Texten korrespondierte. Seit der Niederlage auf der Krim wurden auch über Autobiographik gesellschaftliche Ordnungsvorstellungen diskutiert. Nichts konnte die Tatsächlichkeit der umstrittenen Tatsachen besser beweisen als das vermeintlich wahre Leben. Und Leser, Herausgeber sowie die Bauern selbst wollten die Frage, wer der russische Bauer eigentlich sei, nicht mehr nur dem Augenschein und Hörensagen elitärer Kreise überlassen. Zudem ließen sich anhand von Autobiographien drängende Fragen auf anschauliche Weise thematisieren, ohne der Zensur Vorwände zu liefern. Das Leben eines Menschen war in seiner Gesamtheit der Ereignisse und Erfahrungen kaum widerlegbar. Gerade dadurch blieb es jedoch immer auch Einzelfall. Die Lebensbeschreibungen schwankten zwischen Ausnahme und Regel. Je nach Anspruch und Problem konnten sich sowohl die Herausgeber als auch die Schreiber auf die eine oder die andere Position zurückziehen. Mitunter taten sie es innerhalb weniger Sätze. Die Bauernbefreiung war die entscheidende Zäsur, die bäuerliche Autobiographien in Journale und Zeitungen gelangen ließ. Vor 1861 waren lediglich zwei lebensgeschichtliche bäuerliche Texte veröffentlicht worden, in denen Stand, Standeswechsel, Leibeigenschaft und die Sehnsucht nach Freiheit noch keine zentralen
20 Blakely, Russia and the Negro, 166. 21 Zur Entwicklung der Presse und der Zensur in den 1850er und 1860er Jahre siehe: Ruud, Fighting Words; McReynolds, The News; Gromova (Hrsg.), Istorija russkoj žurnalistiki. 22 Eschment, Die »Große Reform«, 15.
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Themen darstellten.23 In den 1870er Jahren erschienen dann die bäuerlichen Autobiographien in kurzen Abständen, wobei unter ihren Autoren die Leibeigenen überrepräsentiert sind. In ihnen vermischte sich der verschlüsselte Austausch über die soziale Ordnung mithilfe von Autobiographien mit der Taktik, über die amerikanischen Sklavenhalterstaaten zu sprechen und doch die russische Leibeigenschaft zu meinen. Bei der Publikation tat sich besonders die historische Zeitschrift Russkaja Starina hervor. Von den 21 publizierten Autobiographien ehemaliger Leibeigener, in denen die Leibeigenschaft das Narrativ antreibt, sind allein sieben Texte in dem von Michail Semevskij herausgegebenen Journal erschienen. Es war das gleiche Publikum, das in den Zeitschriften über den Aufstiegswillen russischer Leibeigener las und in den Petersburger und Moskauer Theatern den dunkelhäutigen Schauspieler Ira Aldridge beklatschte. Er galt auf den russischen Bühnen in den frühen 1860er Jahren als der beste Schauspieler für Shakespeares Dramen. Kein noch so guter russischer Schauspieler, auch wenn vortrefflich mit schwarzer Schuhwichse geschminkt, gab einen so meisterlichen Othello ab. Aldridge brillierte überdies als rebellischer Sklave Mungo, der in dem Stück The Padlock neben amerikanischen Weisen auch russische Volkslieder sang. Er erschien den liberalen Kreisen, vor allem denen, die sich für die Bauernbefreiung eingesetzt hatten, als Verkörperung dessen, was Sklaven erreichen können, wenn die Sklaverei aufgehoben sei. So wie die Akademie der Künste einzelne Leibeigene dank ihrer Talente mit Medaillen auszeichnete, so nahm sie Aldridge in ihre Reihen auf. Und vor allem unter den Angehörigen der sogenannten ›leibeigenen Intelligencija‹ fand Aldridge gute Freunde: Eine tiefe Zuneigung verband Aldridge mit Taras Ševþenko, der seine Karriere als ukrainischer Volksdichter und Künstler als leibeigener Kammerdiener des Gutsherrn Vasilij Ơngel’gardt begonnen hatte. Ševþenko zeichnete 1858 ein Porträt von Aldridge mit Fliege. Der gleichfalls aus leibeigenen Verhältnissen stammende Historiker Michail Pogodin war tief bewegt, als er Aldridge in einer Vorstellung sah. Er pries ihn mit den gleichen Worten, mit denen er und andere Zeitgenossen Literatur und künstlerisches Schaffen aus dem narod, dem Volke, bejubelten.24 Flucht zur Freiheit – Savva Purlevskij Sowohl Savva Purlevskij als auch Fedor Bobkov haben ihre Lebensgeschichte nach der Bauernbefreiung 1861 verfasst. Ich möchte an diesen beiden Autobiographien zeigen, wie sich die Rolle der Leibeigenschaft in den Narrativen veränderte. Beide, und dies hat mich bewogen, gerade diese zwei Texte zu vergleichen, versprechen
23 Suchanov, Putevoj žurnal krest’janina; A.Šþ., Nezatejlivoe vospitanie. 24 Marshall, Stock, Ira Aldridge, 233.
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schon im Titel, die Lebensgeschichte eines Leibeigenen zu liefern. Sowohl Purlevskij als auch Bobkov stammten aus einer altgläubigen Umgebung, beiden gelang der Standeswechsel zum Kaufmann. Sie unterscheiden sich aber in ihrer Generationenzugehörigkeit und dem Zeitpunkt, zu dem sie ihre Lebensgeschichte veröffentlichen konnten. Purlevskij wurde 1800 geboren, Bobkov 31 Jahre später. Purlevskij schrieb seine Autobiographie 1868, erschienen ist sie 1877, im Autobiographieboom der siebziger Jahre. Veröffentlicht hat sie die Zeitschrift Russkij Vestnik, die unter ihrem Herausgeber Michail Katkov einen anglophilen Liberalismus vertrat und die russische Öffentlichkeit mit westlerischen Überzeugungen vertraut zu machen suchte. Katkov hatte es sich zum Ziel gesetzt, mit seiner Zeitschrift die Reformen der 1860er Jahre, besonders aber die Bauernbefreiung zu unterstützen. In ihnen sah er eine Möglichkeit, Russland von oben zu modernisieren.25 Die Redakteure des Russkij Vestnik haben in die Textgestalt der Autobiographie eingegriffen. Wie sehr, lässt sich nicht nachweisen, da das Manuskript Purlevskijs nicht auffindbar ist. Nikolaj Šþerban, der die Autobiographie zum Druck vorbereitet hat, vollführte in seinem Vorwort einen Balanceakt: Einerseits versuchte er die Autobiographie als echt und wahr erscheinen zu lassen, andererseits war er nicht gewillt, die eigene redaktionelle Arbeit zu verschweigen. Es sei unmöglich gewesen, die Lebensgeschichte in ihrem Wortlaut abzudrucken. Zu ungeschliffen und voller Wiederholungen sei die Sprache des »kaum Schriftkundigen« gewesen. Andererseits beteuerte Šþerban, der Erzählung kein Wort hinzugefügt zu haben. Er habe aus der Handschrift nur das gemacht, was auch Purlevskij getan hätte, wenn er die russische Schriftsprache besser beherrscht hätte.26 Bis in den Wortlaut hinein gleicht diese Argumentation den Bemerkungen nordamerikanischer Abolitionisten, die so ihre Eingriffe in die Autobiographien der Sklaven zugleich kaschierten und legitimierten, wenn die Anpassungsbemühungen der ehemaligen Sklaven nicht ausreichend gewesen waren.27
25 Purlevskij, Vospominanija krepostnogo, in: Russkij Vestnik (1877) H. 7, 320-347, H. 9, 34-67; Gorshkov (Hrsg.), A life under Russian serfdom. Ich zitiere nach: Purlevskij, Vospominanija krepostnogo, in: Košelev (Hrsg.), Vospominanija russkich krest’jan, 108155; Zu Katkov und dem Russkij Vestnik: Renner, Russischer Nationalismus, 78-79; Renner, Defining a Russian Nation. 26 Purlevskij, Vospominanija krepostnogo (Kommentar), 712. 27 Vgl. Henson, The Life of Josiah Henson, iii-iv. Das slave narrative wurde von den Historikern lange Zeit gemieden, weil sie in den Texten der Sklaven nur Propagandaliteratur erkennen konnten. Die epistemischen Probleme, die sich aus Co-Autorschaften ergeben, haben vor allem die postcolonial studies in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen gestellt. Diedrich, Ausbruch aus der Knechtschaft, 11; Meyer, Post/koloniale kooperative Au-
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Purlevskij begann seine fünfzig Druckseiten starken Erinnerungen eines leibeigenen Bauern mit der Geschichte seines Dorfs Velikoe im Gouvernement Jaroslavl’. Es gehörte dem Fürsten Petr Repin, der Land und Leute so sehr geliebt habe, dass er weder Zins noch Fronarbeit verlangte. Doch der Fürst geriet in Geldnot und musste seine Bauern und seine Domäne verkaufen. Als das Dorf schließlich an einen Gutsbesitzer gelangte, der in der Nähe eine Papierfabrik errichtete und die Bauern dorthin zur Arbeit trieb, änderte sich deren Leben schlagartig. Der neue Eigentümer erschien der altgläubigen Bevölkerung als Strafe Gottes für die Nikonischen Reformen und die Sünde des Tabakgenusses. In ihm sahen sie ein Anzeichen dafür, dass der Weltuntergang und die Ankunft des Antichrist kurz bevorstanden. »Grenzenlose Freiheit« (bujnaja svoboda) wurde durch sklavische Unterwürfigkeit ersetzt (zamenilas’ rabskoju pokornost’ju).28 Dabei knüpft die Wortwahl »sklavisch« (rabskij) an die Semantik unrechtmäßiger Versklavung an. Sie zeigt anders als der Begriff »leibeigen« (krepostnoj) keine rechtliche, sondern eine moralische Kategorie auf. Krepost’ – dies nur zur Ergänzung – ist das russische Wort für Besitz- oder Kaufurkunde.29 Das Wort »Sklave« (rab) war in Russland ursprünglich sehr positiv besetzt. Während die russischen Bibelübersetzungen das griechische Wort doulos bevorzugt mit rab, »Sklave«, wiedergaben, wurde es in die anderen europäischen Sprachen in abgemildeter Form übertragen.30 Im Englischen war doulos ein »servant«, im Deutschen ein »Diener« oder »Knecht«, im Polnischen ein »sáuga«. In der Selbstbezeichnung als »Sklave Gottes« (rab božij) zeigte der russische Gläubige seine Verbundenheit mit dem leidenden Christus, erniedrigte sich wie er zum Sklaven (prinjav obraz raba).31 Verbundenheit durch Demut, Hilfe durch Bedürftigkeit ersehnten auch jene Bittsteller, die sich gegenüber dem weltlichen Herrscher als »Sklave« bezeichneten. Noch unter Peter I. war der Ausdruck »alleruntertänigster Sklave« (vse-
to/biographie; Couser, Making, Taking, and Faking Lives; Sanders, Theorizing the Collaborative Self. 28 Purlevskij, Vospominanija krepostnogo, 110. 29 Krepost’, 144. 30 In der großen Konkordanz zur Lutherbibel kommt das Wort »Sklave« an 45 und »Sklavin« an zehn Stellen vor. »Knecht« erscheint dagegen an 570, »Magd« an 105, »Diener« an 104, »Dienerin« an drei Stellen. In der Simfonia (Konkordanz) des Alten und Neuen Testaments in russischer Sprache offenbart sich ein umgekehrtes Verhältnis. Große Konkordanz zur Lutherbibel, 241-242, 828-830, 960-961, 1283; Simfonija. Vetchij i Novyj zavet, 638-643, 729-731. 31 Vgl. Phil 2,6-7: »Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein, sondern entäußerte sich und wurde wie ein Sklave (russ. prinjav obraz raba, griech. morfe doulou) und den Menschen gleich.«
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poddannejšij rab) eine Formel gewesen, um den autokratischen Machtanspruch des Zaren anzuerkennen. Wer eine Bittschrift in korrekter Form stellen wollte, unterschrieb sie als rab.32 Dagegen verwahrte sich Katharina II. Sie hielt solche Unterwerfungsgesten nicht mehr für zeitgemäß und verbot in einem Erlass vom 15. Februar 1786, in Bittschriften diese Selbstbezeichnung zu gebrauchen. Widerhall fand dieser kosmetische Akt in einer Ode des Schriftstellers Vasilij Kapnist, der im Wandel der Benennungen die Ankunft der Freiheit sah.33 Die Semantiken um rab und rabstvo änderten sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Das Wort rabstvo wurde nun in erster Linie für nichtrussische, vor allem antike Formen der Unfreiheit benutzt. Im Gegensatz zu rabstvo und rabskij waren die Begriffe cholopstvo und krepostniþestvo rechtlich und auch zeitlich präziser, mit ihnen ließ sich dadurch aber schwieriger an die globalen Semantiken anknüpfen.34 Während der »Leibeigene« im Prinzip an die Scholle gebunden war, galt der cholop durch Erbschaft oder Verschuldung einer Person zugeeignet. Dies war die erste Bedeutung, die dem Wort cholop innewohnte. In anderen Kontexten war die Selbstbezeichnung cholop dagegen sehr prestigereich gewesen. Die Oberschichten hatten sie benutzt, um ihre Verbundenheit mit dem Zaren und dem Thron auszudrücken, bis Peter I. lieber von »Sklaven« umgeben sein wollte.35 Die beiden Begriffe cholopstvo und krepostniþestvo verschmolzen nun miteinander. Radišþev gebrauchte in seiner Reise von Petersburg nach Moskau am Ausgang des 18. Jahrhunderts cholop synonym mit rab und krepostnoj, wobei die ersten beiden stark abwertende Konnotationen in sich trugen.36 Cholop als Selbstbezeichnung findet sich dagegen in den nach der Bauernbefreiung entstandenen Autobiographien der Leibeigenen nicht. Das Wort
32 PSZ, T. IV, Nr. 1899; Marasinova untersucht den Wortgebrauch für die Selbstbezeichnung in Petitionen und Bittschriften. Marasinova, »Rab«. 33 PSZ, T. XXII, Nr. 16329; Kapnist, Oda na istreblenie, 101-103. 34 Rabstvo, in: Nastol’nyj ơnciklopediþeskij slovar’, T. 7, 4177-4178; Rabstvo, in: Brokgauz, Efron, Ơnciklopediþeskij slovar, T. 16, 35-51. 35 Ausführlich zur Wortgeschichte und den mit cholop verbundenen Semantiken: Poe, What Did Russians Mean, 585-608. 36 Vgl. die Episode von Gorodnja in der Reise von Petersburg nach Moskau, in der sich die Gutsherrin weigert, mit dem gebildeten leibeigenen Freund ihres Manns an einem Tisch zu sitzen. »Als aber am Abend eine ziemlich zahlreiche Gesellschaft versammelt war und man sich zum ersten Gastmahl an den Tisch des jungen Gutsherren niederließ und ich nach meiner Gewohnheit am unteren Ende der Tafel Platz nahm, sagte die junge Herrin ziemlich laut zu ihrem Gatten, wenn er wünsche, dass sie sich mit den Gästen zu Tisch setze, so dürfe er keine Knechte in ihrer Mitte dulden (cholopej za onyj ne sažal).« Radišþev, Reise, 256.
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hatte in seinem nicht adäquaten Gebrauch seine Kraft an das auch dank seiner religiösen Konnotationen schillernde rab verloren, um Mitgefühl zu mobilisieren.37 Auffällig bei der Schilderung der neuen Verhältnisse ist, dass Purlevskij in seiner Wahrnehmung offen eine Nachträglichkeit vermerkte: »In meiner Jugend haben die Erzählungen der Alten nur einen geringen Eindruck auf mich gemacht. Später habe ich mich ihrer erinnert, und das hat in mir den Gedanken bestärkt, dass unsere bäuerliche Abhängigkeit wahrhaft bitter war.«38 Der neue Gutsherr lebte in der Erzählung Purlevskijs ein liederliches Leben: In seinen Gemächern durften sich die Gäste sogar vollkommen ihrer Kleidung entledigen, er selbst erlag immer wieder der Liebe zum Kartenspiel. Erst die Heirat mit einer Schauspielerin ließ Ordnung und Familienglück in das Haus und auf den Ländereien einziehen. Nachdem in der Erzählung die Gutsherrin bei der Geburt der siebenten Tochter gestorben war und auch der Gutsherr 1817 das Zeitliche gesegnet hatte, wandte sich Purlevskij seiner eigenen Familie zu. Damit sind wir beim ersten Charakteristikum, welches den Autobiographien der Leibeigenen, aber auch den amerikanischen slave narratives zueigen ist: Das Verhältnis zwischen Gutsherr und Leibeigenem wird als das entscheidende Beziehungsnetz vorgestellt; erst danach kommt die Familie. Diese Wertigkeit erstaunt. In ihr unterscheiden sich die publizierten Quellen von den autobiographischen Texten aus dem Familienkreis und den Autobiographieprojekten. Sie entsprachen zudem mehr der Lebenswelt auf den Plantagen in den amerikanischen Südstaaten als den russischen Verhältnissen, wo die Gutsherren und ihre Leibeigenen nur sehr selten in so engen, persönlichen Kontakt kamen. Zum einen besaßen russische Adlige mehr Leibeigene als ein Pflanzer Sklaven, zum anderen waren ihre Güter weitläufiger. In Russland kamen im Jahr 1858 auf jeden männlichen Adligen 24,4 männliche Leibeigene, während in den Südstaaten jedes Mitglied einer Sklavenhalterfamilie nur 2,1 Sklaven sein Eigen nannte.39 Zudem hielt sich der vermögende Landadel anders als die Pflanzer, die eng mit ihren Sklaven zusammenlebten, die meiste Zeit des Jahrs in St. Petersburg und Moskau auf. Der Gegensatz zwischen oben und unten ließ sich jedoch am besten dort entfalten, wo Freiheit und Unfreiheit sich direkt gegenüberstanden – wie zum Beispiel auf dem Gutshof. Daher sind unter den Autobiographien der Leibeigenen die von Bediensteten (dvorovye ljudi) überrepräsentiert, die unter den Leibeigenen nur sieben Prozent ausmachten. Während sich die landwirtschaftlich arbeitenden Gutsbauern als rechtmäßige Besitzer des Lands fühlten, welches sie bestellten, war für die Bediensteten die
37 Turgenev thematisiert explizit den Sprachgebrauch. Das Verhältnis zwischen Leibeigenen und Gutsbesitzern sei der Sklaverei so ähnlich, dass für den Leibeigenen nur das Wort Sklave passe. Turgenev, Rußland und die Russen, 64. 38 Purlevskij, Vospominanija krepostnogo, 112. 39 Kolchin, Unfree Labor, 51.
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Gleichsetzung zwischen Leibeigenem und Sklave einfacher nachvollziehbar.40 Sie besaßen nichts, lebten bei den Gutsherrschaften unter ständiger Kontrolle und waren deren Launen und Lüsten ungeschützt ausgesetzt. Bobkov, der Schreiber unserer zweiten Quelle, wird – ich greife kurz vor – zu ihnen gehören. Die Purlevskijs gehörten einer wohlhabenden Bauernfamilie an, ihr Haus war eines der ersten Steinhäuser in Velikoe. Dem Großvater, der zwanzig Jahre in Moskau gelebt hatte und einen florierenden Handel betrieb, gelang es, 20.000 Rubel anzuhäufen. Mit dieser Summe wuchs auch das soziale Kapital – viele Jahre stand der Großvater dem Dorf als Gutsvogt (burmistr) vor. Seine Kindheit schilderte Purlevskij als glückliche Zeit, allein die Trunksucht des Vaters warf immer wieder Schatten.41 Die Bewertung der Leibeigenschaft schwankt in der Erzählung sehr stark. Die Unentschiedenheit korrespondiert mit Purlevskijs späterem Zaudern, sich freizukaufen. Das Dorf erlebte durch den Handel einen Aufschwung und unterschied sich in seinem Wohlstand auffällig von der Umgebung. Die Eltern unterhielten ein gutes Verhältnis zu den Herrschaften und waren in ihrer Handelstätigkeit durch die Leibeigenschaft kaum eingeschränkt. Nur als der Gutsherr seinen Vater ein Jahr in St. Petersburg festhielt, um sich vor den anderen Gutsbesitzern mit seinem tüchtigen Leibeigenen zu brüsten, wurde der Familie die Unfreiheit schmerzlich bewusst. Schließlich starb der Vater an seiner Alkoholsucht, wobei dieses Ereignis mehr als ein biographischer Fakt ist. Wodka und Freitod fungierten in vielen Erzählungen der Leibeigenen als letzte Fluchtmöglichkeit. Sie wurden als direkte Folge der Unfreiheit angeprangert. Nicht nur Aufsätze über die ›leibeigene Intelligencija‹, auch die Reiseberichte der Russlandreisenden nannten die Maßlosigkeit bei alkoholischen Getränken als eine Nachwirkung der Unfreiheit. Sie reihten sich mit diesem Motiv in die Argumentationen der Antisklavereibewegung ein. Auf dieses narrative Element treffen wir auch in den nächsten Kapiteln: Vor allem verhinderte Talente brachten ihren Misserfolg mit ständerechtlichen und ökonomischen Beschränkungen in Verbindung, denen sie im Rausch zu entfliehen versuchten.42 Ein zweites Motiv, aus dem die Autobiographien der Sklaven, aber auch der Roman Onkel Toms Hütte einen Großteil ihrer Dramatik und Spannung beziehen, ist bei Purlevskij noch schwach ausgebildet, während es in Bobkovs Lebensgeschichte sowie in den später erschienenen Autobiographien schließlich zur entscheidenden Zäsur wird. Die Unmöglichkeit, das eigene Leben zu gestalten, findet ihren Höhepunkt in einer drohenden Trennung von der Familie. Während in den Südstaaten
40 Blum, Lord and Peasant, 469. 41 Purlevskij, Vospominanija krepostnogo, 124. 42 Als bekanntestes Beispiel wird der leibeigene Volksdichter Taras Ševþenko angeführt, der sein Talent in Branntwein ertränkte und früh starb. Letkova, Krepostnaja intelligencija, 175, 195; Sakulin, Krepostnaja intelligencija, 88; de Lagny, The Knout, 167.
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der inneramerikanische Sklavenhandel die Familien zerriss, waren es im Zarenreich der Soldatendienst oder das Leben als Bediensteter im Hause des Gutsherrn.43 Das Schicksal, die eigenen Wege nicht bestimmen zu können, traf nach dem Tod des Vaters auch Purlevskij selbst. Immer wieder bestand die Gefahr, dass der Gutsherr den jungen Mann zu den Soldaten befehlen oder als seinen Diener nach St. Petersburg holen würde. Einmal musste ihn der Gutsvogt persönlich von der Liste der Unglücklichen streichen. Seine Mutter suchte einen Ausweg aus dieser ständigen Bedrohung und fand für Purlevskij eine Braut. Die Heirat folgte umgehend. Genau beschreibt er das Gefühl der Stärke, das er nach seiner Hochzeit empfand. Er versuchte nun, an die Erfolge des Großvaters und Vaters anzuschließen, was ihm ausgezeichnet gelang, bis der Gutsherr den Zins unverhältnismäßig stark erhöhte: »In diesem Moment habe ich zum ersten Mal in meinem Leben einen tiefen Schmerz angesichts meines leibeigenen Standes empfunden. Zum ersten Mal habe ich mir in meiner Unerfahrenheit die schreckliche Frage gestellt ›Was sind wir?‹«44 Die Antwort erfolgt über Umwege. Purlevskij verortete sich und die anderen Leibeigenen, indem er über die eigenen und über fremde Herrschaften sprach. Sie seien grausam, könnten nicht wirtschaften und verletzten durch die sexuellen Dienste, die sie von den unverheirateten Bauernmädchen einforderten, die soziale Ordnung im Dorf. Ihrer Willkür fielen Menschenleben zum Opfer. Sinnlos sei es für die Bauern, klug zu wirtschaften, denn der Gutsherr nehme alles an sich. Sogar Kinder fielen ihrem Sadismus zum Opfer. Diesem Klagelied wird die Beschwichtigung nachgeschoben, dass es unter den Gutsbesitzern auch kluge und verdiente Persönlichkeiten gebe, dass auch andere Stände nicht Huld und Barmherzigkeit für sich gepachtet hätten. Die Beispiele, die Purlevskij für Missetaten der Kaufleute anführt, wirken gegenüber den Untaten der Gutsherren jedoch eher harmlos: Ein Fabrikant betrog seine Gläubiger durch falsche Bücher, ein wohlhabender Teehändler war so geizig, dass er seinem Sohn keine Bildung ermöglichte. Es ist das Verhalten der Gutsherren, das in seinem Text gewogen und für zu leicht befunden wird. Damit offenbart sich ein drittes Merkmal, in dem die Autobiographien der Leibeigenen untereinander und mit den Narrativen der afroamerikanischen Sklaven übereinstimmen. Beide Gruppen schilderten das Leben der Herrschaften als Irrweg. Sie bedienten sich dabei biblischer Motive, nach denen den Fehltritten letztendlich die Apokalypse folgt. Das Gottesgericht ist in den Erzählungen der Leibeigenen und Sklaven der Modus, in dem soziale Veränderung erzählt werden kann: Das sündige Leben der Herrschaften kündigt den Niedergang der Gutsherrschaft oder
43 Osterhammel, Sklaverei und die Zivilisation des Westens, 53. In den amerikanischen slave narratives wird die Trennung von der Familie sehr häufig thematisiert. Vgl. Douglass, Das Leben des Frederick Douglass, 34. 44 Purlevskij, Vospominanija krepostnogo, 134.
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der Pflanzergesellschaft an.45 Die irdischen Gesetze können versagen, doch Gott richte die Übertretung sittlicher und moralischer Gebote. Regelmäßig befällt in Purlevskijs Erzählung die Gutsherren eine schwere Krankheit oder es sucht sie ein früher Tod heim.46 Nachdem er sich in den »Gemächern der Kaufleute«47 verloren hat, kehrt Purlevskij zu seiner Erzählung zurück, die – so seine Worte – das Schicksal eines ehemaligen Leibeigenen zu schildern hat. Vor allem die Bücher hätten seine beschränkten bäuerlichen Ansichten verändert, immer mehr habe er die Diskrepanz zwischen Sein und Sollen gespürt. Bildung, so eine vierte gemeinsame Eigenschaft der autobiographischen Texte von Leibeigenen und afroamerikanischen Sklaven, spielt in den Narrativen eine entscheidende Rolle, um sich vom Herkunftsmilieu abzugrenzen. Wie ein roter Faden zieht sich Wissenseifer und der Drang nach Büchern durch alle Lebensgeschichten der Leibeigenen. Wie die afroamerikanischen Sklaven nutzten die Leibeigenen die Struktur des Bildungsromans, um ihren Weg zu erzählen. Diese Entscheidung ließ hagiographische Formen in den Hintergrund treten. Ihre bäuerliche Herkunft zeichneten die Autobiographen als das Zurückgelassene – zuerst in geistiger, nach dem Standeswechsel auch in rechtlicher Hinsicht. Das Kapital, welches Purlevskij durch Handel anzuhäufen hoffte, sollte ihm die Möglichkeit zum Freikauf geben. Doch die Stärke seines Wunsches schwankte. Immer wieder schreckte er vor diesem Schritt zurück, immer wieder erinnerten ihn Körperstrafen daran, wie gefährdet und rechtlos der bäuerliche Stand war. Damit sind wir beim fünften Charakteristikum, das in den späteren Autobiographien eine wesentliche Erweiterung erfährt. Purlevskij schilderte das Zaudern vor der Freiheit, verknüpfte es aber anders als Bobkov noch nicht direkt mit der Frage nach der sklavischen Natur des Leibeigenen. Das Zögern, die entscheidende Lebenskehre zu vollziehen, hatte hagiographische Wurzeln. In den autobiographischen Konversionserzählungen, die die kirchliche Publizistik veröffentlichte, war es ebenfalls ein festes Element. Als der Gutsherr ihn für seine erfolgreichen Geschäfte mit einer Prämie von 500 Rubeln belohnte, schmerzte ihn seine Unfreiheit nur noch wenig. Er war stolz auf seine Erfolge, die er auch in der gemeinnützigen Arbeit vorweisen konnte. Als Gutsvogt errichtete er eine Schule und kümmerte sich um die medizinische Versorgung im Dorf. Doch dann schlug die Willkür des Gutsherrn erneut zu. Er beschuldigte seinen Leibeigenen, für ein misslungenes Geschäft verantwortlich zu sein. Purlevskij reiste zu ihm nach St. Petersburg, um sich zu rechtfertigen, wur-
45 Paperno hat gezeigt, dass beim Schreiben und Sprechen über die Leibeigenschaft christliche Symbolik gebraucht wurde. Paperno, The Liberation of the Serfs. 46 Purlevskij, Vospominanija krepostnogo, 140, 149. 47 Purlevskij, Vospominanija krepostnogo, 145.
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de jedoch nicht empfangen. Mitten im Satz brechen die Erinnerungen ab. Ein seltsames Ende. Erst das Nachwort des Herausgebers vollendet die Teleologie, die wir in allen Autobiographien von Leibeigenen finden können. Sie bildet als sechstes Merkmal die auffälligste Parallele zu den amerikanischen Sklavenautobiographien.48 Auch Purlevskijs Geschichte wird eine Geschichte, als deren Finale die Freiheit steht. Sie ist das Lebensziel und bildet den Schlusspunkt der Erzählung. Diese nimmt mit den drei typischen Stadien der Heilsgeschichte Grundmuster autobiographischen Schreibens auf, die der Hagiographie entlehnt sind: Der Dunkelheit folgt der Kampf und schließlich die Erlösung. In dem Insistieren auf den Begriff der neuzeitlichen Freiheit unterscheiden sich die Autobiographien der Leibeigenen stark von oralen Erzähltraditionen. Die russischen Volksmärchen kennen zwar den Gegensatz zwischen den Leibeigenen und den Gutsbesitzern. Doch in ihm sehen sie nicht allein Gewalt, Strafen und sexuelle Ausbeutung, wie es die Autobiographien der Leibeigenen nahelegen. Die Freiheit als Endzweck der Erzählung propagieren die Märchen nicht. Vielmehr versprechen sie das kleine Glück des vollen Magens und der Schadenfreude. Sie verheißen eher den Freiraum der »Wegelagerer« – die volja – als die mit der liberté verschwisterte, rationale svoboda, die die Leibeigenen in ihren Autobiographien ersehnen.49 Während die schreibenden Leibeigenen der aus der neuzeitlichen, konstruktiven Gesellschaftskritik entstandenen gemeinnützigen Idee der Freiheit anhängen, denken die Bauern in den Märchen vor allem an sich. Ihnen gelingt es, den meist als reich, aber dumm gezeichneten Gutsherrn zu überlisten, einen schönen Schatz nach Hause zu tragen oder auch nur einmal anständig zu essen.50 Nach Jahren des Zögerns gewann Purlevskij durch Flucht – eine typische Praktik der volja – die ersehnte Freiheit. Purlevskij verstand den Befehl des Gutsherrn, auf das Dorf zurückzukehren und dort auf Anweisungen zu warten, als Drohung. Er floh erst nach Kiev, später nach Kišinev. Dort fand er Aufnahme bei den skopcy,
48 Andrews, To Tell a Free Story, xi. Eine Ausnahme stellt die Autobiographie der Leibeigenen Chrušþova dar. Sie ist eine kooperative Autobiographie, die die Tochter der Gutsherrin niedergeschrieben hat. In ihr begründet Chrušþova ihren Verzicht auf die Freiheit mit der Liebe zu ihrer Herrin und deren Kindern. Zudem sei sie am Tag der Bauernbefreiung schon zu alt für ein freies Leben gewesen. Chrušþova, Vospominanija krepostnoj, 542; Wendland, Leben und gelebt werden. Siehe Kap. 4.3. 49 Fedotov, Russland und die Freiheit, 513. 50 Eine dem Verhältnis Bauer und Gutsherr gewidmete Märchensammlung hat Sokolov zusammengestellt, der sich dabei vor allem auf die Kollektionen des 19. Jahrhunderts stützte, wie sie beispielsweise Aleksandr Afanas’ev zusammengetragen hat. Sokolov, Barin i mužik. Weitere Märchen in: Brodskij (Red.), K vole, 75-147.
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einer in Enthaltsamkeit lebenden ›Sekte‹. Schließlich las er in der Zeitung, dass sich in der Region Novorossijsk diejenigen geflohenen Leibeigenen ansiedeln dürften, die keine Verbrechen begangen hätten. Er ging nach Odessa, erlangte schließlich den Status eines Kleinbürgers und verdingte sich als Kellner in einer Schenke. Erst später gelang es ihm – im Zuckerhandel sehr erfolgreich –, sich in die zweite Gilde der Kaufmannschaft einzuschreiben und sich damit in den Zustand der ersehnten svoboda zu versetzen. Ab 1852 lebte Purlevskij wieder in Moskau, vier Jahre später kaufte er seinen einzigen Sohn für 5.000 Silberrubel aus der Leibeigenschaft heraus. Das Nachwort der Herausgeber endet mit den Tränen des alten Manns, der vor Freude weint, als er das Befreiungsmanifest 1861 vernimmt. Die Bauernbefreiung als Weg zur Freiheit – Fedor Bobkov Die Geschichte Bobkovs weist zu der von Purlevskij viele Parallelen auf. Auch hier korrespondiert der moralische Niedergang der Herrschaften mit dem Aufstieg des Leibeigenen. Auch an ihrem Ende steht die Freiheit. Bobkovs Autobiographie ist 1907, vierzig Jahre später als Purlevskijs, im Istoriþeskij Vestnik veröffentlicht worden, einer Zeitschrift, die für ihre Quellenpublikationen berühmt war. Zu ihren Beiträgern gehörten mit Nikolaj Kostomarov und Konstantin Bestužev-Rjumin bekannte Vertreter der Lokalgeschichte und der Historischen Soziologie, die in der ›Gesellschaft‹ eine bedeutende historische Antriebskraft sahen und das ›Volk‹ sowie die Provinz in ihren Studien aufwerteten. Geschrieben hat Bobkov seine Aufzeichnungen eines ehemaligen leibeigenen Menschen wahrscheinlich in den 1880er Jahren.51 Sie sind mit 79 Druckseiten wesentlich länger als Purlevskijs Text. Deutlicher als ihr Vorgänger haben sie von den globalen Diskussionen über unfreie Arbeit und einem Diskurstransfer zwischen Russland und Amerika profitiert: Sklaverei und Leibeigenschaft werden gleichgesetzt. Bobkov thematisierte sehr explizit jene Fragen, die auch die Sklaven und ihre Förderer mithilfe der Lebensgeschichten stellten. Noch deutlicher als bei Purlevskij sind bei ihm die sechs vorgestellten Charakteristika akzentuiert, freimütiger als sein Vorgänger bezeichnete er sich als »Sklave« (rab). Indem er sehr genau das Jahr 1861 und die Reaktion auf das Befreiungsmanifest schilderte, lieferte er zudem eine Geschichte, die in der russischen Publizistik sehr selten war. Meist waren es Friedensrichter und Geistliche, kaum
51 Bobkov, Iz zapisok byvšego krepostnogo þeloveka, in: IV 108 (1907) H. 5, 446-474; H. 6, 734-764; H. 7, 143-164. Ich zitiere nach: Bobkov, Iz zapisok byvšego krepostnogo þeloveka, in: Košelev (Hrsg.), Vospominanija russkich krest’jan, 575-655.
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Leibeigene und Bauern selbst, die über ihre Erwartungen und Erfahrungen vor und nach den Februartagen des Jahrs 1861 berichteten.52 Wie Purlevskij eröffnete Bobkov seine Erzählung mit der Geschichte des Dorfs und der Familie der Herrschaften. Der Gegensatz zwischen Gutsherrn und Leibeigenen wird symbolisch durch Mensch-Tier-Vergleiche hergestellt. Die Gutsherrin rauchte Pfeife und lachte, als ihr Sohn im Spiel die leibeigenen Kinder wie Pferde mit einer Peitsche antrieb. Schon früh waren die Rollen verteilt. Der eine darf schlagen, der andere wird geschlagen. Die Gutsherrin, bar jeden mütterlichen Gefühls, schaute seelenruhig den kindlichen Grausamkeiten zu, wobei der Tabakgenuss – man bedenke die altgläubige Umgebung, aus der Bobkov stammt – ihre Verbundenheit mit dem Teufel anzeigte. Auch bei Bobkov ist das Verhältnis zwischen Gutsherrn und Leibeigenen das entscheidende, zuerst vorgestellte Beziehungsnetz. Da der Vater in der Schriftkundigkeit seines Sohns keinen Nutzen sah, musste Bobkov Lesen und Schreiben autodidaktisch erlernen. Erst als Bobkov von den anderen Dorfbewohnern zum Vorlesen eingeladen wurde und das Budget der Familie durch das Abschreiben religiöser Bücher aufbesserte, strafte ihn der Vater nicht mehr für seinen Bildungseifer.53 Seine Kenntnisse unterschieden Bobkov früh von den anderen Dorfbewohnern. Er verließ zeitweise sein Heimatdorf im Gouvernement Kostroma, um andere Kinder zu unterrichten. Wenig später und noch immer im Jugendalter half er bei der Landvermessung. 1846 begann er, angeregt durch einen alten Kalender mit Leerseiten, Tagebuch zu führen. Auch in Bobkovs Autobiographie droht die Trennung von der Familie. Es hieß wie bei Purlevskij, dass der Gutsherr die ansehnlichsten und tüchtigsten Mädchen und Jungen zu sich in den Dienst nehmen wolle. Anders als bei Purlevkij hatten die Bemühungen, das Schicksal noch abzuwenden, keinen Erfolg. Drastisch schilderte Bobkov die Verzweiflung der Eltern, die ihren Sohn wie einen Rekruten oder Toten beweinten. Die Eltern sahen in der Trennung von ihrem Sohn so etwas wie seinen ›sozialen Tod‹, mit der Herauslösung aus der Familie war er ihrer Welt entzogen. Ihr Wehrufen und die Abschiedsriten erinnern stark an russische Totenklagen.54
52 Vgl. die Erinnerungen an die Bauernbefreiung aus nichtbäuerlicher Sicht: Rošþachovskij, Memuary vremeni osvoboždenija krest’jan; [N.N.], Iz dnevnika i þastnogo pis’ma sel’skogo kontoršþika. 53 Bobkov, Iz zapisok byvšego krepostnogo þeloveka, 580. 54 Auf die Ähnlichkeiten von Totenklage und Rekrutenklage hat Mahler hingewiesen. Bobkov wird wie ein Rekrut beschenkt und von den Eltern mit der Ikone gesegnet. Mahler, Die russische Totenklage, 177-207. Auch in anderen Autobiographien werden die Leibeigenen beklagt, die auf den Gutshof gehen müssen. Als beispielsweise die Leibeigene Vasil’eva in das Haus der Gutsherrin gebracht wird, weint ihre Großmutter um sie wie »um eine Tote«. Vasil’eva, Zapiski krepostnoj, 147.
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Doch das rechte Lebewohl misslang, nicht einmal für den Besuch der Banja ließ der Gutsherr ausreichend Zeit. Die Erfahrung, nicht selbst über die familiäre Gemeinschaft bestimmen zu können, teilte Bobkov mit einer Vielzahl anderer leibeigener Autobiographen. Hierin offenbarte sich wie für die afroamerikanischen Sklaven ihre vollkommene Abhängigkeit und Schutzlosigkeit. In den Lebensgeschichten wurden Sklaven und Leibeigene wie Eigentum verkauft, verschenkt oder mit ungewollten Ehepartnern zwangsvermählt. Ihr Leben war nicht mehr wert als ein Einsatz beim Glücksspiel. Die Leibeigene Avdot’ja Chrušþova schilderte in ihrer Autobiographie, wie ihr Gutsherr am Kartentisch ihr Schicksal entschied. Sie gehöre weder dem Vater noch der Mutter, sondern allein dem Herrn, der sich ihrer erinnerte, obgleich er Hunderte von Werst entfernt wohnt. Noch als Kind wurde sie von ihren Eltern getrennt und auf den Gutshof gebracht.55 Der Leibeigene A. Š., der in seiner Autobiographie nur seine Initialen preisgab, musste als Zwölfjähriger den gleichen Weg nehmen. Nach dem Tod seines Vaters verlor er dadurch auch noch seine Mutter. »Doch das war nur der Anfang meiner Leiden.« Einige Jahre später wurde ihm auch die Heirat mit seiner erwählten Braut verweigert, stattdessen zwangen die Herrschaften ihn, die Schweinehirtin Agaška zu heiraten, die ein Jahr zuvor wegen ihres Ungehorsams körperlich gezüchtigt worden war und der man als Zeichen der Demütigung den Zopf abgeschnitten hatte.56 Fedor Bobkov sah den Weggang aber auch als Chance, dem Leben eines Bauern zu entkommen: »Ich dachte über mich nach, dass ich kein einfacher Bauer (prostym mužikom) werden wollte […]. Ich wollte gern Angestellter in einer Fabrik sein und solch ein rotes Hemd tragen wie der Onkel Kornelij.«57 Es gab einiges, was ihm anfänglich in Moskau missfiel. Vor allem die Ehe zwischen den Herrschaften erschien ihm als unnatürlich. Ihr Verhalten im Ehebereich war auch für Bobkov die einfachste und reizvollste Form, um Andersartigkeit zu erfassen und zu vermitteln. Während der Herr schon so alt war, dass er sich beim Essen nicht einmal mehr die Nase putzen konnte, war die Gutsherrin jung und schön. Doch das Vertrauen der Herrschaften zu ihm wuchs und stachelte seinen Arbeitseifer an. Der neu gewonnene Respekt zeigte sich an seinem Namen. Statt Fed’ka wurde er nun – wie früher in seinem Dorf – respektvoll Fedor gerufen. Bobkov hatte die Verkleine-
55 Chrušþova, Vospominanija krepostnoj, 529. 56 A. Š., Podlinnyja vospominanija byvšago krepostnago, 352-353, Zitat: 343. Der Leibeigene Šipov berichtet von der Unmöglichkeit, seine Tochter mit dem gewünschten Ehemann zu vermählen. Der Gutsherr gab seine Erlaubnis nicht, sondern zwang Šipov, seine Tochter mit einem armen Bauern zu verheiraten. Šipov, Istorija moej žizni, in: Košelev (Hrsg.), Vospominanija russkich krest’jan, 156-274, hier: 204. 57 Bobkov, Iz zapisok byvšego krepostnogo þeloveka, 587.
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rungsform nicht als ein Zeichen von Nähe gedeutet. Für ihn war der Kosename ein Ausdruck der Herabwürdigung gewesen. Die Diminutivform des Eigennamens, in der nicht nur Nikolaj Turgenev, sondern auch die afroamerikanischen Autobiographen eine demütigende, den Sklavenstatus herausstellende Anrede sahen, die wie ein anderer, fremder Name ihren ›sozialen Tod‹ bestätigte, hatte er dank seiner eigenen Leistung hinter sich gelassen.58 Schließlich verschaffte ihm der Tod des Gutsbesitzers mehr Freizeit, die er zum Lesen und Lernen nutzte, wobei die Gutsherrin und der Schauspieler Ivan Samarin ihn in seinen Bildungsbemühungen unterstützten. Bobkov konnte sich ihrer Bibliotheken bedienen; häufig besuchte er nun das Theater. Immer wieder spielt in seiner Erzählung die Frage eine Rolle, ob die »Sklaverei« (rabstvo) von Gott gewollt sei. Sie wurde, so Bobkov, nicht nur zwischen den Adligen, sondern auch unter den Bediensteten erörtert.59 Einmal berichtete ein Dienstmädchen, das seine Herrin nach Paris begleitet hatte, in Frankreich gebe es keine Leibeigenen. Jeder lerne, was er wolle. Immer wieder delegitimierte Fedor Bobkov die Leibeigenschaft durch Episoden, die den Herrschaften ihre Moral sowie jegliches menschliches Gefühl absprachen. Sie unterschieden sich kaum von den Grausamkeiten, über die Purlevskij berichtete. Sogar das ius primae noctis nahmen sich die Herren heraus.60 Als ein frisch vermählter Bauer seinem Gutsbesitzer die nächtliche Kurzweil verwehrte, fand er sich schon am nächsten Tag bei den Soldaten wieder. Anders als in der Hochzeit des Figaro, wo es durch List gelingt, dem Herren das Schäferstündchen mit Susanne, der Braut des Figaro, zu verweigern, kam der russische Gutsherr an sein Ziel. Nichts war vor dem Zugriff der Adligen sicher – das symbolisiert das nicht nur in Sittenkomödien, Opern und der Pornographie des 19. Jahrhunderts beliebte Motiv des Herrenrechts auf die Jungfräulichkeit.61 Dem Leibeigenen gehörte nicht einmal der eigene Leib. Jederzeit konnten ihre Familien und ihr Wohlstand durch den Willen der Herrschaften zerstört werden. Vor allem der weibliche Körper, der von sexuellen Übergriffen bedroht war,
58 Turgenev, Rußland und die Russen, 102. 59 Bobkov, Iz zapisok byvšego krepostnogo þeloveka, 601, 617. 60 Die sexuelle Ausbeutung von Bäuerinnen durch die Gutsherren wird in einer Vielzahl der Autobiographien thematisiert. In der Schilderung wird neben dem ius primae noctis auch auf den Orient rekurriert. Zajcev spricht von einem Adligen als sultangleichem Gutsherrn (sultan-pomešþik), der auf dem Bette liegend die Einwohnerlisten durchblättert, um zu erfahren, mit welcher Bauerntochter er sich die Langeweile vertreiben könnte. Zajcev, Vospominanija starogo uþitelja, 665-666. 61 Auch Friedrich Engels gebrauchte in seiner Schrift über den deutschen Bauernkrieg das Motiv, um die Verfügungsgewalt der Herren über die Bauern aufzuzeigen. Engels, Der deutsche Bauernkrieg, 14.
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wurde zum symbolischen Ort, an dem sich Macht und Ausgeliefertsein demonstrieren ließen.62 Doch als sich die Gerüchte über eine bevorstehende Bauernbefreiung verdichteten, ergriff Bobkov eine ganz andere Angst, nämlich die Angst sich entscheiden zu müssen und selbst für sein Schicksal verantwortlich zu sein. Trübsinnig vor Furcht suchte er Halt im Glauben. Seine Autobiographie ist von den gleichen Zweifeln bestimmt wie die von Purlevskij. Für Bobkov und seine Herrin waren die Wochen unmittelbar vor der Bauernbefreiung eine von elementaren Sorgen beherrschte Zeit. In dieser Zeit bediente Bobkov mehrfach auf Veranstaltungen, auf denen auch Michail Katkov und Michail Pogodin sprachen. Katkov – dies nur zur Erinnerung – wird 1877 die Memoiren Purlevskijs herausgeben, der Historiker Pogodin den schwarzen Othello Ira Aldridge bewundern. Von den Trommlern für die Befreiung der Bauern schaute Bobkov sich nicht nur die Sprechweisen ab. Als er auf einer Wohltätigkeitsveranstaltung für bedürftige Studenten im Januar 1861 die Rede Pogodins über die Dringlichkeit der Bauernbefreiung hörte, fühlte Bobkov sich angesprochen. Ihn, der dort nur Wein und Braten zu servieren hatte, erfasste ein seltsames Gefühl: »Mir schien es, dass ich wuchs, größer wurde.«63 Das neue Selbstbewusstsein kollidierte mit der diensteifrigen Unterwürfigkeit, die seine Herrin von ihm einforderte. Immer wieder entlud sich die Spannung in Streitereien und offenbarte dabei auch eine große emotionale Verbundenheit. Schon am 11. Februar 1861, mehr als eine Woche vor der Unterzeichnung des Befreiungsmanifests durch den Zaren, schenkte die Herrin ihren Bediensteten die Freiheit. Bobkov hatte in diesem Moment das Gefühl, etwas verloren zu haben. Er nahm ihr Angebot an, blieb aber in ihrem Dienst. Doch immer weiter entfremdete sich Bobkov von seiner Herrin, die neue soziale Ordnung ließ sich nicht in ihre Beziehung einfügen. Umso mehr wuchs seine Dankbarkeit gegenüber Alexander II., dem Befreier. Viel Zeit und Kraft widmete er der Erinnerungsarbeit an das große Ereignis. Er plante, ein Haus der Wohlfahrt zu gründen, um der Aufhebung der Leibeigenschaft zu gedenken; er schrieb Dankesreden auf den Herrscher und verfasste Gedichte, die seine Tat priesen. Sie gelangten bis zum Zaren, der ihm in einem Schreiben für seine Verse dankte.
62 Boureau hat für Frankreich nachgewiesen, dass durch die hochmittelalterliche Verschiebung der Terminologie für den Unfreien von »servus« zu »homo (proprius) de corpore« (Leibeigener; frz. homme de corps) der Leib zum Definitionsort von Abhängigkeit wurde. Das ius primae noctis sei ein Bild, indem sich dieser Sprachgebrauch verdichtet habe. Das Herrenrecht habe es jedoch im mittelalterlichen Frankreich nicht gegeben, es sei eine Erfindung des 18. und 19. Jahrhunderts. Boureau, Das Recht der Ersten Nacht, 174, 325; Bobkov, Iz zapisok byvšego krepostnogo þeloveka, 612. 63 Bobkov, Iz zapisok byvšego krepostnogo þeloveka, 625.
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Bobkov webte wie eine Vielzahl leibeigener Autobiographen an einem Zarenmythos um Alexander II. mit. Das Bild des Befreier-Zaren wurde nach dessen Tod und zum Publikationszeitpunkt der Autobiographie besonders von Gruppen getragen, die auf diese Weise Kritik an der bestehenden Regierung äußerten. Vor allem Michail Pogodin, dem Bobkov in seiner Erzählung mehrfach die Ehre erwies, unterstützte den ehemaligen Leibeigenen. Er gab ihm Ratschläge, wie dem Zaren zu danken und zu begegnen sei.64 Als Historiker vertrat Pogodin die Ansicht, dass nicht große Persönlichkeiten und Kabinette, sondern vor allem die unteren Schichten den Geschichtsverlauf antrieben.65 Pogodin, der nicht müde wurde, sich selbst als Abkömmling eines leibeigenen Bauern zu zeichnen, galt wie Michail Lomonosov als ›Naturtalent‹ (samorodok), das es aus eigener Kraft bis auf den Gipfel der Wissenschaft, auf einen Lehrstuhl an der Moskauer Universität, geschafft hatte. In diese Reihe der Autodidakten und Fähigen versuchte sich auch Bobkov einzuschreiben. Bobkov nutzte für seine Lebensbeschreibung neben der Erfahrung der Leibeigenschaft ein Narrativ, das seit den 1880er Jahren mit dem Erfolg der Schriften des schottischen Moralphilosophen Samuel Smiles auch in Russland immer wichtiger wurde. Es steht unter anderem im nächsten Unterkapitel im Zentrum, wo Bauern wie Spiridon Drožžin nicht mehr Verknechtungsmotive gebrauchten, sondern über Bildungserfolge und Begabung sprachen, um über ihr Leben zu berichten.66 Zunehmend wurde die Bauernbefreiung das Thema, durch das Bobkov an öffentlichen Diskussionen partizipieren konnte. Mehrfach gelang es ihm, seine Meinung in Zeitschriften zu veröffentlichen. Dabei waren die von Michail Katkov herausgegebenen Moskovskie Vedomosti die erste Bühne, auf der Bobkov sich und seine Ansichten präsentieren konnte. Ihm wurde zugehört und er erzählte.67 Die Leibeigenschaft treibt auch nach ihrer Aufhebung seine Erzählung an. Gegliedert ist sie
64 Pogodin wird von einigen bäuerlichen Autobiographen als Förderer genannt. Auch den heimatgeschichtlich interessierten Artynov ermutigte er, seine Memoiren niederzuschreiben. Artynov, Vospominanija krest’janina sela Ugodiþ. 65 [Jacimirskij], Russkie samorodki, Vyp. I: Istoriki: Golikov, Zabelin, Pogodin; [N.N.], Russkie samorodki, 34-48; [N.N.], Russkie samouþki. 66 Das Interesse an Autodidakten gab es auch in anderen Ländern. Die (Auto-)Biographie als Erziehungsmittel stand zum Beispiel im Mittelpunkt der Schriften von Samuel Smiles’. In der russischen Ausgabe wurden die Geschichten über Autodidakten aus den Unterschichten durch russische Beispiele ergänzt. Smajl’s [Smiles], Samodejatel’nost’. Siehe Kap. 2.2. 67 Siehe seine Rezensionen, Artikel und Gedichte. [Bobkov], Zametka, 455. Seine Gedenkrede zum Tod Alexanders II. ist ein Aufruf, an dem Ort des Attentats, des Zaren »Golgatha«, eine Kirche zu errichten. [Bobkov], Iz Likavy, 3; Bobkov, Pamjat’ o 19 fevralja, 188.
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nun nach Jahren, als Stichtag dient der 19. Februar, an dem Bobkov jedes Jahr die Erfolge und Misserfolge der neuen Freiheit bilanzierte. Immer wieder wird er ärgerlich über seine Unentschlossenheit, die Freiheit zu nutzen, immer wieder klingt die Trauer darüber an, dass er noch immer bei den Herrschaften im Dienst steht. Sein Zaudern vor der Freiheit führte ihn zu Überlegungen, die eine mehr als tausend Jahre mit der Sklaverei verknüpfte Ideengeschichte aufnahmen. Er stellte sich die aristotelische und biblische Frage, ob die Sklaverei eine natürliche, gar göttliche Einrichtung und ob er zur Unfreiheit geboren sei: »So wie die Herrschaften an unsere Dienste gewohnt sind, so sind wir es gewohnt, Sklaven zu sein und ihnen auf den Taschen zu liegen und uns nicht um die Zukunft zu kümmern.«68 Während die Verteidiger der Sklaverei in den amerikanischen Südstaaten vorgaben, eine von Gott gewollte Ordnung umzusetzen, spielte dieses Argument, wie Peter Kolchin nachgewiesen hat, in der Apologie der russischen Leibeigenschaft eine geringe Rolle.69 Dass Bobkov dieser in den Südstaaten so gebräuchlichen, in Russland dagegen wenig vorgebrachten Rechtfertigung mehrfach widersprach, offenbart, woher er seine gedanklichen Anleihen nahm. Wie die afroamerikanischen Sklaven sich dem Stereotyp vom im Joche glücklichen Sambo widersetzten, so nahm Bobkov seine Feststellung als Ausgangspunkt, um mit seinem weiteren Lebensweg das Bild vom ›natürlichen Sklaven‹ als Lüge zu entlarven. Bobkov, der im Theater sah, wie der als ehemaliger Sklave angekündigte Aldridge seine russischen Kollegen in der Kunst der Darstellung und Diktion übertraf, versuchte ähnliches zu vollbringen: »Ungeachtet dessen, dass er [Ira Aldridge, J.H.] Englisch sprach und ich folglich kein Wort verstand, so erschienen mir all die übrigen Schauspieler, die für mich verständliches Russisch sprachen, neben ihm als flach, unscheinbar und lächerlich.«70 Als ihm schließlich eine Stelle bei der Eisenbahn versprochen wurde, lehnte er zunächst ab, da der Sohn der Gutsherrin erkrankt war. Mit der Schilderung des Zauderns verband Bobkov seine Erzählung mit hagiographischen Erzählformen. Erst später nahm er die Stelle an. Schnell machte er Karriere. Zur unfreien Arbeit – dies will die Autobiographie sagen – war der tüchtige Bobkov nicht geboren. Ich will dies nicht ideengeschichtlich überinterpretieren, doch illustrierte Bobkov mit seinem Leben gängiges Gedankengut seiner Zeit, das Sklaverei und Leibeigenschaft
68 Bobkov rekurriert hier auf die von den Verteidigern der Sklaverei vor allem in den Südstaaten vorgebrachten Argumente, die sich auf die aristotelische Kategorie der »natürlichen Sklaverei« sowie auf die Verfluchung Hams (Gen 9,18-29) beriefen, um die Institution der Sklaverei zu rechtfertigen. In den Südstaaten wurden die Afrikaner mit den Hamiten gleichgesetzt. Aristoteles, Politik, Buch I, 1254a-1255b; Goldenberg, The Curse of Ham. Zitat: Bobkov, Iz zapisok byvšego krepostnogo þeloveka, 637. 69 Kolchin, In Defense of Servitude, 815. 70 Bobkov, Iz zapisok byvšego krepostnogo þeloveka, 635.
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auch aus ökonomischen Gründen, nicht nur sittlich und moralisch verurteilte. Gleich den Schriften und Lehrsätzen vieldiskutierter Philosophen und Aufklärer wie John Millar, Adam Smith und des ersten amerikanischen Mitglieds der Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg, Benjamin Franklin, demonstrierte Bobkov mit seiner Lebensgeschichte, dass die freie Lohnarbeit die produktivste Arbeitsform sei.71 Dies war eine Idee, die vor allem durch die Arbeiten der SmithExegeten Heinrich Storch und Christian Schlözer, des Sohns des berühmten Historikers, schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts an den russischen Akademien und Universitäten verbreitet worden war und der sich in seiner 1818 in St. Petersburg erschienen Theorie der Steuern auch der zukünftige Dekabrist Nikolaj Turgenev anschloss. Er wurde nicht müde, sie auch nach seiner Flucht aus dem Zarenreich zu wiederholen: »Ackerbau, Industrie, Handel können im Schatten der Willkür nicht gedeihen, sie bedürfen der freien Luft und der Sonne der Freiheit.«72 Vor allem die politischen Ökonomen führten in Russland das Argument in die Debatte ein, dass die Leibeigenschaft das nationale Wohlergehen behindere, ineffizient sei und eine niedrige Produktivität nach sich ziehe. Die Leibeigenschaft sei nicht nur eine Belastung für die »Sklaven«, wie auch Storch die Gutsbauern nannte, sondern für das gesamte Gemeinwesen. Am Ende des Jahrhunderts war der Gedanke so anerkannt, dass ihn sogar der russische Brokgauz verbreitete. Dennoch blieb diese Deutung umstritten.73 Bis 1880 hatte Bobkov ein solches Vermögen zusammengetragen, dass er sich in die erste Gilde der Kaufmannschaft einschreiben konnte. Anders als Purlevskij musste Bobkov nicht den Umweg über den Kleinbürgerstand gehen. Dieser hatte bei den Bauern, nachdem ihnen die persönliche Freiheit zuerkannt worden war, seine Attraktivität ohnehin eingebüßt. Auch Bobkovs wirtschaftliche Leistung überragte die von Purlevskij, der nur die Steuer für die zweite Gilde aufbrachte. Damit sind wir bei der Essenz der Geschichte: Bobkov war nicht nur frei, sondern er hatte auch den ungeliebten Stand eines Bauern hinter sich gelassen. Während die Adligen wegen ihrer Verstöße gegenüber den sittlichen Maßstäben menschlicher und göttlicher Setzung ihren Niedergang erlebten, befand sich der Tugendhafte auf der Sonnenseite des Schicksals.
71 Die Liste der Literatur, die unfreie Arbeit als unrentabel kennzeichnet, ist lang. Smith, Untersuchung (1776), 412; Millar, Vom Ursprung des Unterschieds (1779), vor allem Kap. VI,2, 236-240; Cairnes, Slave Power. Einen Überblick bieten: Delacampagne, Die Geschichte der Sklaverei, 24-25; Finley, Die Sklaverei in der Antike, 31-34. 72 Turgenev, Rußland und die Russen, 92; Turgenev, Opyt teorii nalogov. 73 McGrew, Dilemmas of Development; McCaffray, Confronting Serfdom, 12-13; Storch, Cours d’Économie politique; Rabstvo, in: Brokgauz, Efron Ơnciklopediþeskij slovar’, T. 16, 37; Turgenev, Rossija i russkie, 219, 236-237.
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Autobiographik und die Mobilisierung von Gefühl Auch in Russland waren die Autobiographien der Unfreien ein Mittel, um die Herrschaften moralisch auf die Anklagebank zu setzen, um Empathie zu erzeugen und politisch zu instrumentalisieren.74 Die bäuerlichen Autoren und ihre Herausgeber sahen in den Autobiographien eine Möglichkeit, um bei ihren meist nichtbäuerlichen Lesern einen Wandel im Umgang mit dem einfachen Volk, dem narod, herbeizuführen. Sie knüpften damit an das Menschenbild der Aufklärung an, in der Bauern als Inkarnation des edlen, natürlichen und unverdorbenen Wilden galten. Andere Ansichten über den Bauern sollten durch die Idealisierung verblassen. Während früher die Bauern auch als monströs, fremd und in ihren unbeherrschten Leidenschaften mehr als Tiere denn als Menschen dargestellt worden waren, traf nun der Vorwurf mangelnder Zivilisiertheit die Adligen. Der Leibeigene sei zwar der Sklave seines Herrn, der Herr jedoch ein Sklave seiner Gelüste.75 Ähnlich den afroamerikanischen slave narratives war die publizierte bäuerliche Autobiographik ein erfolgversprechendes Mittel, um unfreie Arbeit zu diskreditieren und soziale Ungleichheit anzuprangern. Während aber in Amerika die Autobiographien das Ende der Sklaverei propagandistisch vorbereiteten, hielten sie im Zarenreich die ungeliebte Erinnerung an die Leibeigenschaft und das »überflüssige Jubiläum« ihrer Abschaffung wach.76 Die Autobiographien boten eine Möglichkeit, über die Vergangenheit zu sprechen und dabei auch zu erörtern, auf welcher Entwicklungsstufe Russland hätte sein können, wenn es die Leibeigenschaft nicht gegeben hätte. Sie traten – und dies erklärt ihr Aufkommen in den 1870er Jahren – jenen Argumentationen entgegen, die in den Zeiten der Leibeigenschaft eine für die Bauern bessere Ära sahen, da mit den Interessen der Gutsherren auch die Belange der Bauern geschützt gewesen seien.77 Die Autobiographien der Leibeigenen ergänzten andere Dokumentationen, die nachzuweisen versuchten, dass die Leibeigenschaft nicht nur für die Unfreien eine Belastung gewesen sei. Auch für die Gutsherrschaften sei die Verknechtung der Bauern eine Bürde gewesen, die bei ihnen zur Verrohung geführt habe. So sollte die gleichfalls in den 1870er Jahren in
74 Osterhammel, Sklaverei und die Zivilisation des Westens, 65. 75 Die Autobiographien der Leibeigenen führten vertraute literarische Biographiemuster weiter, die an Figuren wie dem »bereuenden Adligen« (kajušþijsja dvorjanin) und dem »überflüssigen Menschen« (lišnij þelovek) die demoralisierenden Auswirkungen der Leibeigenschaft erörterten. Lauer, Die Geschichte der Russischen Literatur, 258. 76 Der konservative Publizist M.O. Menšikov sprach auf diese Weise dem Tag der Bauernbefreiung seine Bedeutung ab. Eschment, Die »Große Reform«, 77. 77 Diese Tendenz diskutiert sehr offen Letkova in ihrem Essay über die leibeigene Intelligencija: Letkova, Krepostnaja intelligencija, 197.
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der Russkaja Starina erschienene Darstellung über die legendär grausame Gutsherrin Dar’ja Saltykova, die im 18. Jahrhundert ihr Unwesen getrieben hatte, belegen, dass für eine Gesellschaft, in der die Frauen nicht einmal mehr ihre Mutterrolle wahrnahmen, keine Hoffnung mehr bestehe.78 Mit ihrer inhärenten Aufforderung zu Mitleid und Empathie versuchten die Autobiographen sowie ihre Herausgeber und Förderer, die von oben durchgesetzte Reform in der Gesellschaft zu verankern. Wie sich die schwarzen Sklaven in ihren Lebensgeschichten als Menschen, als Brüder und Schwestern empfahlen, so dienten die Biographien auch den russischen Leibeigenen, um sich als gleichwertige Mitglieder einer größeren Gemeinschaft – der lokalen Gesellschaft, der Intelligencija, der Nation, der Menschheit – darzustellen. Sie taten es, indem sie ein aufgeklärtes Menschenbild für sich in Anspruch nahmen und Werte wie Bildung, Fleiß, Eigeninitiative, Wohlstand und Gemeinwohl vertraten. So wie sich ehemalige Sklaven wie beispielsweise Frederick Douglass in ihrer Autobiographie als ›representative American men‹ zeichneten, so offerierten auch Purlevskij und Bobkov Möglichkeiten der Nachahmung.79 Gerade in ihrem Vorbildcharakter erwiesen sich die Autobiographien als Zivilisierungsstrategie für Schreiber und Leser. Sie erzeugten neue soziale Normen, in denen biographischer Erfolg nicht mehr von Herkunft oder göttlicher Vorsehung abhängig war, sondern das Ergebnis individueller Leistung darstellte. Neben den Parallelen gab es zwischen dem autobiographischen Schreiben von Sklaven und Leibeigenen auch große Unterschiede. Sie fußten auf anderen Lebensumständen, der Bedeutung der Religion und auf Unterschieden der Hautfarbe und Ethnie. Während sich die Sklaven in ihren Autobiographien in erster Linie als gute Christen zeichneten, trat die Imitatio Christi in der Autobiographik der Leibeigenen zurück. Nur an der Struktur der Erzählung lassen sich hagiographische Schreibformen erkennen: Die Betonung eines alles entscheidenden Wendepunkts erinnert stark an die Konversionserzählung, ansonsten spielten Religion und Frömmigkeit eine untergeordnete Rolle. Darin offenbaren sich sowohl Herausgeberziele als auch Leseerwartungen: Während die Zeitschriften, in denen die Sklaven veröffentlichen konnten, von Quäkern, Methodisten, Baptisten und Mennoniten herausgegeben wurden, wiesen die russischen Journale, die die Autobiographien der Leibeigenen veröffentlichten, keine solchen religiösen Bindungen auf. Zudem zeigt sich an den Autobiographien deutlich, dass anders als in den Vereinigten Staaten die Mobilitätshoffnungen der Bauern sich nicht auf den Beweis gründeten, ebenso gute Christen wie die Unterdrücker und die Gönner zu sein. Stattdessen gaben die ehemaligen
78 Studenkin, Saltyþicha; Kondrat’ev, Saltyþicha. 79 Stauffer, Frederick Douglass’s Self-fashioning.
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Leibeigenen genaue Auskunft über ihr Vermögen und über jedes gelesene Buch. Neben den Bildungserfolgen bestätigte jeder einzelne Rubel ihre Ebenbürtigkeit. Die leibeigenen Autobiographen versuchten zu belegen, dass der Dualismus zwischen dem ›einfachen Volk‹ und den Besitz- und Bildungseliten überwindbar sei. Die wechselseitige diskursive Durchdringung und Angleichung, wie sie in den Autobiographien sowohl für die Schreiber als auch die Leser sichtbar wird, erlaubten die Konstruktion eines nationalen Selbstbilds. An ihm hatten vor allem jene ein großes Interesse, die der Autokratie keine ausreichenden Bindungskräfte zutrauten, um Nation und Imperium als Gemeinschaft erfahrbar zu machen. Es verwundert daher nicht, dass vor allem Herausgeber wie Michail Katkov, die ein neues Nationskonzept vertraten, früh an den Autobiographien der Leibeigenen Gefallen fanden. Gerade sie waren es, die in ihren Vorworten die Autobiographen als gleichwertige und »wirkliche russische Menschen« priesen und ihnen damit auch eine Bühne boten, sich in ihrer Ethnizität als Russen in das obšþestvo, die aktive Gesellschaft, einzuschreiben.80 Um die Wegstrecke, die sie gegangen waren, in ihrer ganzen Länge abzumessen, zeichneten die Autobiographen die zurückgelassene Welt als eine Sklavenhaltergesellschaft, in der die Herren ein absolutes Herrschafts- und Gewaltprimat besessen hatten.81 Wer die Welt so nicht gesehen und erlebt hatte, da er möglicherweise zwar Bauer, jedoch kein Leibeigener gewesen war, hatte es schwer, in den historischen Zeitungen und Zeitschriften mit seiner Autobiographie Platz zu finden. Die Leibeigenschaft als Teil ihrer Lebensgeschichte eröffnete den Bauern einen Zugang zu den Öffentlichkeitsarenen. Ehemalige Leibeigene wie Fedor Bobkov mit seinen zahlreichen Publikationen nutzten ihn virtuos. Ausländer, die zu Zeiten der Leibeigenschaft Russland besucht hatten, schilderten selten gutsherrliche Gewalt, während Reisende in Amerika häufig von Gewaltexzessen auf den Sklavenplantagen berichteten.82 Der klar imaginierte Feind, den man in den grausamen Gutsbesitzern zu finden meinte, ermöglichte den ehemaligen Leibeigenen den Schulterschluss mit jenen, die sich selbst der ›neuen‹ Intelligencija zurechneten. Das düstere Bild, welches die Autobiographen von den Adligen zeichneten, offenbart den tiefen Wandel, den auch die Intelligencija nach der Bauernbefreiung vollzog. Hatten die Intellektuellen vor 1861 zumeist dem Adel angehört, so rekrutierten sie sich danach in stärkerem Maße auch aus Emporkömmlingen. Gerade die sozialen Aufsteiger interessierten sich für die Autobiographik der unteren
80 Bobkov, Iz zapisok byvšego krepostnogo þeloveka (Kommentar), 752; Serjakov, Moja trudovaja žizn’ (1824-1875), 361. 81 Eine Unterscheidung zwischen der Gesellschaft mit Sklaven und einer Sklavenhaltergesellschaft bei: Finley, Die Sklaverei in der Antike, 9. 82 Pipes, Rußland vor der Revolution, 157.
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Schichten, publizierten und lasen sie. Der Zeitpunkt ihres Erscheinens nach der Aufhebung der Leibeigenschaft sowie der allgemeine Konsens darüber, dass die Befreiung der Bauern unausweichlich war, führte dazu, dass den in der russischen Presse erschienenen Autobiographien weniger Ablehnung entgegenschlug als in Amerika. Dort wurden nicht nur Menschen und Waffen mobilisiert, sondern auch Pamphlete geschrieben, die den afroamerikanischen Sklaven Lüge und Wahrheitsverzerrung in ihren Lebensgeschichten vorwarfen. Diese erbitterte Auseinandersetzung um die Autobiographien der Unfreien hat es in Russland nicht gegeben. Gegenreden wie die 1900 veröffentlichten Notizen der Gutsherrin Aniþkova oder die fast wie eine Autobiographie betitelte ethnographische Studie Das Leben Ivans von Ol’ga Semenova-Tjan-Šanskaja sahen in den Bauern zwar fremde und unverständige Wesen. Explizit über die Autobiographien der Leibeigenen sprachen sie jedoch nicht.83 Die fehlende Auseinandersetzung wirkte sowohl auf die Texte als auch auf die Rezeption zurück. Während die ehemaligen Sklaven ihre Lebensgeschichten mit Briefen, Urkunden und anderen dokumentarischen Zeugnissen gegen den Verdacht der Fiktion abzusichern versuchten, so ist dieses Element in den Autobiographien der Leibeigenen nicht ausgeprägt.84 Zudem ist die fehlende Auseinandersetzung sicher auch ein Grund dafür, dass sie bisher kaum in den Fokus der Geschichts- und Literaturwissenschaft geraten sind.85 Die abolitionistischen Sagbarkeitsformen funktionierten nur beschränkt in anderen Räumen autobiographischen Sprechens. Im Familienkreis und in den Autobiographieprojekten lassen sich die Verknechtungsmotive kaum finden.86 Mit ihren effektvollen Überzeichnungen traten die Leibeigenen wie auch die Sklaven für eine Freiheit ein, die sie vor allem als Gleichheit begriffen. Sie haben an der Universalisierung dieser Freiheitsidee sicher einen größeren Anteil gehabt als ihnen die immer
83 Aniþkova, Zametki iz derevni; Semenova-Tjan-Šanskaja, Žizn’ Ivana. 84 Stepto, Authenticitation, 33-34. 85 Die sowjetische Geschichtswissenschaft hat sich vor allem für die Ausbeutung der Leibeigenen durch die Gutsherren interessiert. Kulturelle Aspekte, und damit auch das autobiographische Schreiben der Leibeigenen, gerieten nur selten in ihr Blickfeld. MacKay (Hrsg.), Four Russian Serf Narratives, 5. 86 Es gibt wenige Ausnahmen: Der Schreiber einer anonymen Autobiographie im Fond Rubakin gibt die Erzählungen der Alten wieder, die über die Grausamkeit ihres Gutsbesitzers S.M. Golicin geklagt hatten. [Anonymus], Krest’janskaja žizn’, RGB f. 358 25.1, 1905-1907, l. 1-1ob. Auch der Bauer Kuzjunin aus dem Gouvernement Saratov berichtete in den Semantiken der Sklaverei über die Leibeigenschaft und die Willkür des Gutsherrn. Zudem gab er an, Onkel Toms Hütte gelesen zu haben. Kuzjunin, Opisanie biografii, naþataja 1911 goda janvarja 20-go dnja, RGB f. 358 245.22, 1911, l. 10ob-12, l. 14.
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noch auf die großen Denker fixierte Ideengeschichte zugestehen will.87 Ähnliche Diskurse finden sich auch in der Frauenbewegung nicht nur des Zarenreichs.88 Doch war dies – wie so oft – eine einseitige Aneignung, die allein die Richtung von West nach Ost kannte? Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass die Lebensgeschichten der Leibeigenen auch in Amerika und Westeuropa rezipiert wurden. Dennoch gab es Protagonisten, die, aus Russland kommend, den Gutsbauern in den allgemeinen Antisklavereidiskurs überführten. Vor allem Nikolaj Turgenev, der häufig in der amerikanischen abolitionistischen Presse Beiträge veröffentlichte, tat sich hierbei hervor. Geschickt zerstreute Turgenev 1853 in der Liberty Bell Zweifel daran, dass der Vergleich zwischen Sklaven und Leibeigenen nicht berechtigt sei. Wie die Sklaven stünden auch die Leibeigenen außerhalb des Rechts, sie seien weniger geschützt als in England die Tiere.89 In seiner umfassenden Studie Russland und die Russen erörterte er die Probleme der russischen Ständeordnung vor der Folie der Sklavenhaltergesellschaft in den Südstaaten und sah mitunter erstaunliche Parallelen: So wie der aus Zuckerrohr gewonnene Zucker, der mit Sklavenarbeit gewonnen werde, so sei auch der russische Runkelrübenzucker zu verschmähen. Er sei gleichfalls kein Produkt freier Arbeit. Das Buch erschien 1847 in Paris, Grimma und Den Haag auf Französisch und Deutsch. Turgenev sandte die Schrift nach seinem Erscheinen führenden Abolitionisten zu, in der europäischen Presse erhielt sie wohlwollende Rezensionen.90 Am Vorabend der Bauernbefreiung richtete Nikolaj Turgenev ein Grußwort an die amerikanische Antisklavereibewegung, in dem er ihre Verdienste um die »farbige Rasse« als Heil bringend auch für seine russischen Landsleute pries.91 Die Leser des Harrisburg Telegraph konnten 1867, wenige Jahre nach Aufhebung der Leibeigenschaft in Russland und der Sklaverei in Amerika, das Verbrüderungsangebot des Petersburger Bauern Teodor Seminoff lesen: »Belonging, in my own great country – Russia – to the number of twenty three millions of former slaves set free by the kindness of our great Alexander II, I consider the citizens of
87 Gestrich, Die Antisklavereibewegung im ausgehenden 18. und 19. Jahrhundert. 88 Pietrow-Ennker, die das Standardwerk zur Frauenbewegung in Russland geschrieben hat, verweist leider nicht auf diese Parallelen in den Argumentationen, obgleich sie in ihren Quellenbelegen sichtbar sind. Pietrow-Ennker, Rußlands »neue Menschen«. 89 Laserson, The American Impact on Russia, 153; Turgenev, Rußland und die Russen, 64; Turgenev, Lettre, 211-225. 90 Žitomirskaja, Golos ot togo sveta, 642. 91 Turgenev, Letter, 16.
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America as brothers, not merely on account of the principle that all men are brethren, but by the force of those feelings which must unite the freedmen of one land to those of another.«92
Doch der Antisklavereidiskurs schuf nicht nur Gemeinschaft mit den Unterdrückten und Befreiten. In Amerika und Westeuropa vermischte sich schließlich, wie der schon mehrfach erwähnte Reisebericht von Germain de Lagny beispielhaft zeigt, der neuere Antisklavereidiskurs mit der seit Herberstein gepflegten Rede über die Russen als zur Tyrannei und Sklaverei geborenem Volke.93 Nach 1917 lebten diese Schreibformen fort. Auch die Bol’ševiki sammelten und veröffentlichten die lebensgeschichtlichen Texte jener, die sonst von der Überlieferung ausgeschlossen waren. Auch ihnen galt niedriger sozialer Status als Sprecherlaubnis. Vor allem die den Bol’ševiki nahe stehenden Autobiographen bedienten sich der eschatologischen Lichtmetaphorik, um über sozialen und gesellschaftlichen Wandel zu sprechen und den Gegensatz zwischen oben und unten zu betonen.94 Während in der vorrevolutionären Presse das Jahr 1861 die entscheidende Zäsur zwischen Dunkelheit und Licht gewesen war, zeichnete die sowjetische Autobiographik auf eine sehr ähnliche Weise das Jahr 1917. Nicht allein die Zeit vor der Bauernbefreiung, sondern das gesamte Leben im Zarenreich wurde als Sklaverei bezeichnet.95 Der erst 1876 geborene Bauernpoet Savin veröffentlichte 1925 ein Gedicht, in dem der Erzähler gegenüber seinem Leser bekräftigte, dass er nicht zum Sklaven geboren sei. Auch der ›Bauernpoet‹ Drožžin, dessen Leben im nächsten Unterkapitel im Mittelpunkt steht, widmete Lenin 1924 einige Verse, in denen er mit der Zarenzeit als Periode der Sklaverei abrechnete.96 Obgleich Drožžin unter der Leibeigenschaft, die er nur als Kind erlebt hatte, nicht gelitten hatte, zeichnete er sich seit den 1920er Jahren als einen Geknechteten. Um Drožžin vor zunehmenden Anfeindungen zu schützen, sprachen auch seine wohlmeinenden Kritiker über ihn als einen Leibeigenen, der unter dem Joch der Unfreiheit gelitten habe. Ausgewogene Urteile, wie sie Michail Fenomenov in einer auf Befragungen der Landbevölkerung gestützten ethnographischen Untersuchung vertrat, hatten ab den
92 Zit. nach: Blakely, Russia and the Negro, 43. 93 Ausführlich zu diesen Diskursen: Poe, »A People Born to Slavery«. 94 Vgl. Halfin, From Darkness to Light. 95 Vgl. die aufgezeichnete Autobiographie der »gottlosen kolchoznica« Vasjunkina, die über ihr Leben im Zarenreich in den Semantiken der Sklaverei berichtete. 1931 wurde die Autobiographie veröffentlicht, die zudem für den Eintritt in die Kolchosen warb: Vasjunkina, Žizn’ kolchoznicy. 96 Siehe das Gedicht »Ty ne sozdan byt’ rabom« von Savin, in: Zavolokin (Hrsg.), Sovremennye raboþe-krest’janskie poety, 20; Drožžin, Poơt-pachar’, 12; Il’in, Spiridon Dmitrieviþ Drožžin, 16.
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1930er Jahren keine Chance mehr. In der 1925 in St. Petersburg erschienenen Studie durften sich die Bauern sowohl der Strafe als auch der Hilfe durch die Gutsbesitzer erinnern. Nur wenige Jahre später wurde ein solch harmonisierendes Urteil offen gerügt.97 Genosse Šulc, der 70 Jahre nach der Aufhebung der Leibeigenschaft die Lebensgeschichte der Bäuerin Dunaeva aufzeichnete, mokierte sich über deren unklaren, zu versöhnlichen Klassenstandpunkt. Ihre Freude über die Aufhebung der Leibeigenschaft war für die offizielle Erinnerungsversion der Sowjetunion zu verhalten: »Ich habe damals die Freude nicht verstanden, da ich im Vergleich zu den anderen nicht schlecht lebte.«98 In den im Familienkreis verbliebenen Autobiographien und Tagebüchern erwies sich dennoch weder das Jahr 1861 noch 1917 als umwälzende Zäsur. Erst die Kollektivierung bildete hier die Scheidelinie zwischen Licht und Finsternis.
2.2 A NSICHTEN EINES D ICHTER -L EBENS : S PIRIDON D ROŽŽIN »Sage mir, wen du bewunderst, und ich will dir sagen, wer du bist.«99 Ein schönes Bonmot, doch stimmt es auch? Was verrät die Bewunderung, die Spiridon Drožžin für sein Leben, seine Autobiographie und seine Gedichte entgegenschlug, über jene, die ihn bestaunten? In welcher Zeit und an welchen Orten konnten Bauern wie Drožžin auf die Bühne treten und Aufmerksamkeit für sich und ihr Schreiben gewinnen? Kaum einem anderen Autor, der seine Autobiographie als die eines Bauern überschrieb, war dies so konstant geglückt wie Spiridon Drožžin aus dem Dorf Nizovka. Mit verschiedenen Versionen seiner Lebensgeschichte antwortete er auf die Erwartungen, die an ihn gestellt wurden. Er nahm verschiedene Anrufungen wahr und wandte sich auf unterschiedliche Weise um. Mehrfach gelang es ihm seit den 1880er Jahren, seine Autobiographie als das Leben eines Naturtalents (samorodok), Autodidakten (samouþka) und Bauernpoeten (krest’janin-poơt) zu veröffentlichen. Obgleich Drožžin nicht der einzige war, dem es glückte, seine Lebensgeschichte als Narrativ biographischen Erfolgs zu publizieren, bietet er sich als Hauptfigur dieses Teilkapitels aus mehreren Gründen an. Drožžin sticht unter den Autobiographen bäuerlicher Herkunft aufgrund der guten Quellenlage heraus. Die Aufmerksamkeit für sein Leben begünstigte Archivierung und Überlieferung, so wie Archivierung und Überlieferung erst Aufmerksamkeit – auch meine eigene – ermöglichten. Drožžin hat mehrfach sein Leben beschrieben, mehrfach wurde seine Autobiogra-
97 Fenomenov, ýto rasskazyvajut v Gadyšach pro krepostnoe pravo, 239. 98 Dunaeva, Rasskazy krepostnoj, 109. 99 Bonmot von Saint-Beuve, zitiert nach: Smiles, Der Charakter, 43.
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phie publiziert. Gegen Ende seines Lebens hat er Kontakt zu Archiven und Museen gesucht, damit seine Schriften auch nach seinem Tod bewahrt und überliefert würden. In Archiven und Handschriftenabteilungen finden sich nicht nur die zahlreichen Entwürfe für seine publizierten Autobiographien, auch unpubliziertes Material, Briefe, Tage- und Rechnungsbücher sind in großer Zahl in seinem Nachlass im Archiv für Literatur und Kunst (RGALI) in Moskau und in der Handschriftenabteilung des Instituts für Russische Literatur (IRLI) in St. Petersburg vorhanden. Sie zeigen, dass Drožžin sein ganzes Leben an seinen Autobiographien und Tagebüchern arbeitete, sie umschrieb, ergänzte, manches wegließ. Die konstante Präsenz seiner autobiographischen Texte deckt den gesamten Untersuchungszeitraum meiner Studie ab. Doch Drožžin schrieb nicht nur selbst über sein Leben. Er gehörte zu den bäuerlichen Autobiographen, über die auch berichtet wurde. Außerhalb seiner Familie traf er auf Anerkennung und Beifall, aber auch auf Ablehnung: Seine Gedichte wurden gedeutet, seine Lebensbeschreibung kommentiert. Manch einer sah ihn ihm allein einen Epigonen vorangegangener ›Dichter aus dem Volk‹, dem unredlich Ruhm zufiel. Zwischen Stolz und Ablehnung schwankte auch das Verhalten seiner Familie. Eltern, Frau und Enkelin meinten, den Preis für Drožžins Eifer zahlen zu müssen. Zudem lässt sich an Drožžin zeigen, wie bäuerliche Autobiographen das mitunter sehr verschiedene Interesse an ihren Lebensgeschichten für sich zu nutzen wussten. Wie kein anderer verband Drožžin die drei Kommunikationsräume autobiographischen Sprechens, die in diesem Buch im Mittelpunkt stehen. Er hat mehrfach seine Autobiographie veröffentlichen können und zudem mit Vladimir BonþBrueviþ, Nikolaj Rubakin und Aleksandr Jacimirskij, den Initiatoren jener Autobiographieprojekte korrespondiert, die im nächsten Kapitel näher beleuchtet werden. Auch sie wussten um ihn, auch sie lasen und archivierten seine Lebensbeschreibungen. Immer häufiger maßen sie ihre anderen Korrespondenten an der Autobiographie Drožžins. Offen bezogen sich andere Autoren auf ihn, die gleichfalls Aufmerksamkeit für ihre Autobiographie und für sich als ›Bauer‹, ›Talent‹ oder ›Dichter aus dem Volk‹ gewinnen wollten. Sie verorteten Drožžin in einer Genealogie der Talente und Fähigen, bevor sie sich selbst als seine Epigonen zeichneten.100 Überdies gibt es in seinem Nachlass auch Texte, die bis kurz vor seinem Tod den Familienkreis nicht verlassen haben. Sie als Folie zeigen, durch welche Techniken Drožžin sein Leben unterschiedlich adressierte und was für ihn in diesen unterschiedlichen Räumen sagbar war. Drožžin hat nicht nur die Grenzen zwischen den Räumen autobiographischen Sprechens überschritten: Auch der Zeitraum, in dem er Tagebücher und Autobiographien verfasste, ist außergewöhnlich lang. Drožžin schrieb über Zäsuren wie das
100 Nazarov (Slavjanskij), Avtobiografija, IRLI RO f. 193 d. 261, 1900-1901, l. 1.
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Jahr 1905, den Ersten Weltkrieg, Februar- und Oktoberrevolution, Bürgerkrieg und Kriegskommunismus hinweg. Er erlebte den Niedergang des Zarenreichs und die Etablierung einer neuen Macht. Inwieweit war sein Schreiben eine Reaktion auf den Verlust überkommener und sichtbarer Zuordnungen, die durch Bauernbefreiung, Industrialisierung, Krieg und Revolution erodierten? Wie wurden über diese Brüche hinweg Zugehörigkeiten bestätigt oder verneint? Drožžin begann 1867 mit dem Schreiben eines Tagebuchs. 1884 erschien seine Autobiographie zum ersten Mal in der Zeitschrift Russkaja Starina, bis in die 1920er Jahre hinein veröffentlichte er regelmäßig erweiterte Versionen seiner Lebensgeschichte. Die Aufmerksamkeit für seinen Lebensweg flaute erst nach seinem Tod 1930 ab, während sich das Interesse an seinen literarischen Werken hielt. Drožžins sich über sechs Jahrzehnte erstreckendes autobiographisches Schreiben erlaubt es, am Beispiel eines einzigen Lebens auf den Wandel bäuerlicher Autobiographik zu blicken. Es zeigt die Flexibilität einer Lebensgeschichte, die über die Grenzen seines Standes hinaus rezipierbar war. Drožžins Autobiographien belegen, dass sich die Wandlungskraft seiner Autobiographie nicht allein aus inhaltlichen Erzählmomenten ableitet, sondern insbesondere von der Erzählstruktur der Geschichte bestimmt ist. Um noch einmal auf das Ausgangsbild dieses Buchs zurückzukommen: So wie sich die Anrufungen veränderten, so wandelte sich auch die Art und Weise, wie Drožžin sich umdrehte und: »Hier bin ich!« rief. Zudem lässt sich an Drožžins zahlreichen Lebensbeschreibungen zeigen, dass das Verhältnis zwischen Anrufung und Antwort nicht nur eine Wirkrichtung kennt. Seine lebensgeschichtlichen Texte beeinflussten die Art und Weise, wie er und auch andere Bauern angesprochen und zur Niederschrift eines autobiographischen Texts ermuntert wurden. Drožžin rief durch seine Lebensbeschreibungen jene Erwartungen hervor, die an seine weiteren autobiographischen Texte gestellt wurden und die auch Archivierung und Überlieferung bestimmten. Ferner erlauben seine lebensgeschichtlichen Texte und der lange Zeitraum, in denen sie entstanden, die Praktiken und Techniken nachzuzeichnen, mit denen Drožžin, Herausgeber und Leser die Aufmerksamkeit aufrechterhielten. Gefragt werden soll, mit welchen Mitteln und in welchem Umfeld das Interesse an diesem Leben immer wieder neu geweckt wurde. Wie banden Drožžin und die Herausgeber seine Autobiographien an jenen Diskurs zurück, der Autobiographik mit Zeugenschaft verband und als Gegenarchiv feierte? Wie gelang es Drožžin und seinen Förderern, die Aufmerksamkeit für seine Lebensgeschichte zu verstetigen? Was ging verloren, als bestimmte Praktiken nicht mehr ausgeübt werden konnten oder neue hinzukamen? Inhalt und Form seiner Autobiographie sowie der Umgang mit seinem Schreiben geben Einblick in die Hoffnungen und Zweifel, mit denen Menschen wie Drožžin Anspruch auf Teilhabe an der Gesellschaft anmeldeten und mit denen die Besitz- und Bildungseliten dem ›einfachen Volk‹ begegneten.
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Um die unterschiedlichen Adressierungen und Erwartungen nachzuzeichnen, auf die Drožžin mit seiner Lebensgeschichte reagierte, werden verschiedene Perspektiven eingenommen. Dadurch lässt sich zeigen, dass, erstens, autobiographisches Schreiben in Beziehungsnetzen entsteht. Zweitens wird sichtbar, dass mit Autobiographien in verschiedenen Kommunikationsräumen unterschiedliche Handlungen vollzogen werden. Der erste Teil des Unterkapitels führt in das Jahr 1884 zurück, als es Drožžin erstmalig gelang, seine Autobiographie zu publizieren. Wie präsentierte er sein Leben, sodass es Herausgeber und Leser fand? Inwieweit war die damals erprobte Schreibform seiner Autobiographie dafür verantwortlich, dass das Interesse an ihr bis in die 1930er Jahre nicht schwand? Durch welche Elemente erweiterte Drožžin die Möglichkeiten auch für Dritte, über ihren Lebenslauf in Presse und Publizistik zu sprechen? Gab es andere Autobiographen, die diese Neuerungen übernahmen? Das Bild, welches Drožžin 1884 von sich für ein Publikum zeichnete, unterschied sich stark von jenen autobiographischen Texten – Entwürfen, Vorstudien, tagebuchartigen Schriften –, die nicht an eine Leseöffentlichkeit gelangten. Diese Texte, die auf das in einer größeren Öffentlichkeit Unsagbare verweisen, stehen im zweiten Abschnitt im Mittelpunkt. Sie erlauben es, das öffentliche Bild zu konturieren. Zudem zeigen sie, dass Drožžin sich der Konstruiertheit seiner Autobiographien und den Erwartungen seiner Adressaten vollauf bewusst war. Der dritte Abschnitt beleuchtet den Zeitraum zwischen dem Erscheinen seiner ersten Autobiographie 1884 und dem politischen Umbruch 1917. In dieser Zeit wurde Drožžin, der sich zuvor als zwischen Stadt und Land frei bewegendes Ausnahmetalent gezeichnet hatte, immer mehr auf die Identität eines Bauern festgelegt, immer häufiger sprach er über sich als Bauer. War dies auch eine Strategie, um die Aufmerksamkeit für seine Person neu zu beleben? Die letzten beiden Abschnitte führen in die Sowjetunion hinein. Es wird untersucht, ob Drožžin in seinen letzten beiden Autobiographien die Metamorphose vom Talent des 19. Jahrhunderts zum sozialistischen Helden vollziehen musste, um seine Lebensgeschichte auch nach 1917 publizieren zu können. Abschließend wird ein Ausblick auf die Zeit nach Drožžins Tod bis in die späte Sowjetunion gegeben. Welche Aufmerksamkeit konnte das Leben eines ›Bauernpoeten‹ noch erringen, nachdem der traditionellen bäuerlichen Lebenswelt mit der Kollektivierung die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Grundlagen entzogen worden waren? Wie wandelten sich die Deutungen, die Drožžins Lebensgeschichte gegeben wurden, nachdem er auf sie keinen Einfluss mehr nehmen konnte?
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Genealogie der Autodidakten Russland war nicht das einzige Land, in dem Hoffnungen in diejenigen gesetzt wurden, die durch ihr Handeln die Begrenzungen ihrer Herkunft und ihres Standes überwanden. Die Schriften des schottischen Moralphilosophen Samuel Smiles fanden in ganz Europa seit den 1850er Jahren weite Verbreitung. Smiles, der sich selbst als Autodidakt bezeichnete, schilderte in seinen Büchern das Schicksal ›einfacher‹ Männer, die durch ihre Taten und Werke einen guten Einfluss auf die Gesellschaft ausübten. Indem er über sie sprach, verwies er gleichzeitig auf sich selbst.101 Nach der Bauernbefreiung erschienen die Bücher von Smiles in zahlreichen Auflagen im Zarenreich. Die Besitz- und Bildungseliten liebten die unter Smiles’ Namen veröffentlichten Lebensgeschichten, auch bei Bauern, Arbeitern und Angestellten fanden sie starken Zuspruch. Auf die schwarzen Listen gelangten sie erst in der Sowjetunion.102 Die Rezeption von Smiles’ didaktischen Schriften trug auch in Russland zum Erstarken jener Individualitätsdiskurse bei, die mit Gemeinwohlvorstellungen verbunden waren. Mehrfach berichteten Bauern und Arbeiter, dass sie Smiles’ Bücher gelesen hätten, vor allem das mit Selbsttätigkeit (samodejatel’nost’) oder Selbsthilfe (samopomošþ’) übersetzte Self-Help.103 In ihnen erzählte der populäre Philosoph die Lebensgeschichte jener Tüchtigen, die sich aus eigener Kraft aus den Beschränkungen ihrer Herkunft gelöst hatten. Die Herausgeber haben in den russischen Ausgaben die englischen Biographien durch russische Beispiele ergänzt: Neben dem Patriarchen Nikon, dem Fischersohn und Universitätsprofessor Michail Lomonosov und dem Erfinder Ivan Kulibin marschierte in der russischen Version von Self-Help eine ganze Riege an Schriftstellern und ›Dichtern aus dem Volke‹ auf: Fedor Slepuškin, Aleksej Kol’cov, Ivan Nikitin, Taras Ševþenko.104 Die Geschichten waren attraktiv. Auch Drožžin knüpfte an sie an, um öffentlich über sein Leben zu sprechen. Am Anfang großer Tat stand der Charakter. Durch Fleiß, Männlichkeit und Willensstärke hätten selbst ›einfache‹ Menschen Großartiges für das Gemeinwesen
101 In seiner Autobiographie gab Smiles an, den Großteil seines Wissens autodidaktisch erworben zu haben. Bildung sei, wie Smiles an seiner eigenen Autobiographie exemplifizierte, der Garant für biographischen Erfolg. Smiles, The Autobiography, 7, 13. 102 Kelly, Refining Russia, xvii, 215. 103 Drožžin, Poơt-krest’janin Spiridon Drožžin v ego vospominanijach 1848-1884, 23; Zelnik (Hrsg.), A Radical Worker, 166. Auch Aleksandr Jacimirskij gründete sein Projekt »Galerie der Autodidakten« auf den Ideen von Smiles. Jacimirskij, Predpologaemyj plan izdanija knigi »Galereja russkich samouþek«, IRLI RO f. 193 d. 22, 1901, l. 4; Kelly, Refining Russia, xvii, 217. 104 Smajl’s, Samodejatel’nost’ (Self-Help). Perevod N. Kutejnikov.
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geleistet, bedeutende Erfindungen gemacht oder Kunst und Literatur bereichert. Selbst bitterste Armut konnte in Smiles’ Musterbiographien fehlendes Streben nicht entschuldigen, denn auch der von Natur und Herkunft Benachteiligte könne durch die Kraft des Willens und die Wahl seiner Ziele Außerordentliches erreichen. Mit dem Aufstiegsnarrativ gingen – wie sowohl die publizierten Autobiographien als auch die Autobiographieprojekte Rubakins und Jacimirskijs zeigen – zwei Erscheinungen einher: Zum einen entstand mit dem Autodidakten (samouþka, seltener avtodidakt) eine neue Persona der Fremd- und Selbstverortung, zum anderen wurden nun vermehrt die Parameter für Erfolg und Aufstieg über Lebensgeschichten verbreitet.105 Dabei verloren bisherige Gradmesser für Erfolg wie beispielsweise Geld und Besitz rapide an Ansehen, während Beharrlichkeit und stetige Mühe Anerkennung erfuhren. Zusammen mit der Biographie wurde die Autobiographie ein häufig gebrauchtes didaktisches Mittel. Die Figur des Autodidakten war aus zwei Gründen attraktiv: Erstens war sie Teil eines vertrauten, vieldiskutierten Bilds. Im Zarenreich gab es zu wenige Schulen und nicht alle Bauern konnten eine Lehranstalt besuchen. Wenn ja, so drückten sie häufig kaum länger als zwei Winter die Schulbank, denn ihre Eltern entbehrten sie nur ungern als Arbeitskräfte. Sie waren darauf angewiesen, Kenntnisse durch das Selbststudium von Büchern zu erwerben.106 An der Figur des Autodidakten ließ sich zeigen, dass eigenverantwortliches Bildungsstreben mangelnde Schulbildung auszugleichen vermochte.107 Autodidakten konnten in unterschiedlichen Erscheinungen auftreten, zum Beispiel als Bauernpoet, Erfinder, Bauernastronom und Ingenieur. Unabhängig von ihrer Gestalt sprachen sie davon, dass jeder Bildung erwerben könne, wenn er sich aufrichtig bemühe. Die Autodidakten waren eine Möglichkeit, mit dem Schulwesen auch die Autokratie zu kritisieren, die das Potenzial ihrer Untertanen leichtfertig ignoriere. Die Biographien der Autodidakten passten zweitens in eine Zeit, die Niederlagen mit Sinn zu versehen suchte. Die Lebensgeschichten der Autodidakten kamen sowohl in England als auch in Russland in einer Situation auf, in der die beiden Großmächte ihre Erfolge in der Weltgeschichte als angreifbar und die Stellung im Gefüge der Staaten als fragil empfanden, in einer Zeit, in der Autokratie und Monarchie unter kritischer Beobachtung standen.108 Der Fortschritt eines Lands – so
105 Zu dem Konzept der Persona siehe: Daston, Sibum, Introduction, 1-8; Fitzpatrick, Becoming Soviet, 4; Olshen, Subject, Persona, and Self, 8. 106 Brooks, When Russia Learned to Read, 37-59; Eklof, Peasants and Schools, 123-127. 107 Samouþka, in: Slovar’ russkogo jazyka, 51-52. 108 Travers, Samuel Smiles and the Origins of »Self-Help«, 187; Morris, Samuel Smiles, 90-91. Das Interesse in den Vereinigten Staaten am self-made man deuteten sowohl Harriet Beecher Stowe 1889 als auch John G. Cawelti als Krisenphänomen und Aus-
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der Subtext der Biographien – hänge nicht von den Taten eines Einzelnen ab, sondern basiere auf den unzähligen individuellen Handlungen vieler Menschen. Insbesondere die liberale und slavophile Publizistik zog aus der Niederlage des Zarenreichs im Krimkrieg eine Lehre: Die Kraft eines Lands speise sich auch aus der Sittlichkeit und dem Eifer des ›einfachen Volks‹. Wie in den Autobiographien der Leibeigenen wurde in den russischen Ausgaben von Smiles’ Schriften ein Gesellschaftskonzept vertreten, das allen Schichten der Bevölkerung Bedeutung zumaß. Dabei ließen einige russische Ausgaben von Self-Help die Schar der russischen Autodidakten gegen die homines novi anderer Länder antreten. In der dritten russischen Ausgabe von Self-Help 1867 endete der Wettstreit für das Zarenreich unrühmlich. Da der russische Staat die Entfaltung seiner Bewohner durch Zensur, Polizei und eine fehlende Öffentlichkeit einschränke, fehle es den Menschen an Energie und dem Gemeinwesen an Stärke, dewegen gebe es in Russland weniger Autodidakten.109 Der Begriff »Autodidakt« (samouþka) entstand im 17. Jahrhundert, populär wurde er jedoch zur gleichen Zeit wie die Bezeichnung »leibeigene Intelligencija« (krepostnaja intelligencija) in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.110 Dem Begriff samouþka waren jedoch mehr harmonisierende Konnotationen eingeschrieben. Die Ordnung, die jedem einen Platz in der Gesellschaft und einen Ort zum leben zuwies, wurde durch den Begriff des Autodidakten weniger in Frage gestellt als durch die Bezeichnung krepostnoj intelligent und jene Begriffe für soziale Aufsteiger, die in Ländern wie den Vereinigten Staaten und in Frankreich im Umlauf waren. Anders als der amerikanische self-made man sowie der französische parvenu und noveau riche sollte der samouþka dort wirken, wo er hingestellt war. Nicht durch sein erworbenes Vermögen setzte er sich von seinem Herkunftsmilieu ab, sondern durch seine Bildung ragte er hervor. Während der parvenu und nouveau riche das Neuartige betonten und wie der Begriff des self-made man vor allem in ökonomische Traditionen eingebunden waren, so lenkte der Begriff samouþka den Blick auf eigene Anstrengung und Bildung.111 Eine ähnliche Konnotation enthielt auch der Begriff krepostnaja intelligencija, der durch die Diskrepanz zwischen befreiender Bildung und erzwungener Bindung Zorn und Wi-
druck großer Umwälzungen. Cawelti sieht darin kein spezifisch amerikanisches Phänomen. Zeiten beschleunigten kulturellen Wandels – wie die späte römische Republik und die Renaissance – hätten eine Sehnsucht nach self-made men erzeugt. Cawelti, Apostles of the Self-Made Man, 1; Beecher Stowe, The Lives and Deeds, vi. 109 Auch Pädagogen priesen die Biographie als Mittel, der Schulbildung eine nationale Färbung zu geben, die ihr angeblich fehle. ýernjaev, Vospitatel’naja sistema, 5. 110 Kelly hält »aus dem Volk« (iz naroda) für die gängigste russische Entsprechung zu selfmade man. Kelly, Refining Russia, 229; Kurmaþeva, Krepostnaja intelligencija, 3-4. 111 Cawelti, Apostles of the Self-Made Man, 3.
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derspruch erregen sollte. Indem die Lebensgeschichte eines Schauspielers, Dichters, Malers oder Erfinders als die Geschichte eines vernunftbegabten Leibeigenen erzählt wurde, konnten sich Schreiber und Herausgeber in Frontstellung zu den alten Besitz- und Bildungseliten begeben. Diese unterschiedlichen Lesarten beeinflussten im Zarenreich auch die Rezeption von Smiles’ Self-Help. Die Biographien, die unter seinem Namen erschienen, stellten die Frage, inwieweit Standesgrenzen und soziale Schranken überhaupt gerechtfertigt seien, wenn selbst der Geringste durch sein Talent dem Gemeinwesen großen Nutzen bringen könne. Die Unduldsamen verbanden mit dem Ruf nach Selbsttätigkeit soziale Mobilität, während die Etablierten bei dem Ruf nach Selbstbildung innere Selbstvervollkommnung hören konnten, die die soziale Ordnung nicht unbedingt angreifen musste. Für sie sollten die Früchte der Selbstbildung dort geerntet werden, wo man stand.112 Die Persona des Autodidakten war daher vor allem für jene interessant, die die Schattenseiten der Industrialisierung und Urbanisierung sahen und trotzdem die Bauern nicht zum Verlassen des Dorfs ermutigen wollten. Zudem hatte nach der Aufhebung der Leibeigenschaft 1861 der ›leibeigene Intellektuelle‹ die Klammer seines Daseins und den Rahmen seiner autobiographischen Erzählung verloren. Die Persona des Autodidakten trat nun an diese Stelle. Damit einher ging in gewisser Weise auch ein Wandel in den Tätigkeiten, mit denen sich Ruhm erwerben ließ. In den Biographien und Autobiographien jener, die den Großteil ihrer Lebenszeit vor der Bauernbefreiung verbracht hatten, waren es vor allem Musik, Theater und Malerei gewesen, in denen Talent gezeigt werden konnte. Diese Fertigkeiten benötigten Instrumente, Aufführungsorte und Schulung, die häufig nur die Gutsherrschaften bereitstellen konnten. Sie bauten Theater und schickten ihre talentiertesten Leibeigenen an die Kunstakademie nach St. Petersburg.113 In den Autobiographien und Biographien, die nach 1861 handelten, waren es hingegen Dichtkunst und technische Erfindungen, wo sich Talent bewies. Bauernpoeten und Erfinder brauchten nicht viel, sie waren weniger auf materielle Förderung angewiesen. Verse ließen sich am Küchentisch schmieden; Erfindungen verlangten nach Ideen, verwirklichen ließen sie sich aus Abfällen. Zudem setzten solche Tätigkeiten den Einzelnen nicht außerhalb seiner Lebenswelt. Sie waren mit bäuerlicher Arbeit vereinbar und veränderten die bäuerliche Lebenswelt von innen heraus, ohne dass der Einzelne sich von ihr lossagen musste. Der Bindestrich in den Fremd- und Selbstbezeichnungen,
112 Kelly, Refining Russia, 218. 113 Stites, Serfdom; Kurmaþeva, Krepostnaja intelligencija.
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zum Beispiel in Bauern-Poet (krest’janin-poơt) oder Bauern-Astronom (krest’janinastronom), zeigt diesen Wandel an.114 Mit dem Aufstiegsnarrativ ging eine Aufwertung der Biographie und schließlich der Autobiographie einher. Wie Jeffrey Brooks gezeigt hat, war die populäre Literatur des ausgehenden Zarenreichs reich an Lebensgeschichten, in denen nicht nur Räuber und Banditen, sondern auch Autodidakten große Erfolge errangen.115 Auch die Verfasser dieser Werke folgten den Mustern, die schon Smiles benutzt hatte. An den (Auto-)Biographien wurde vorgeführt, wie das Individuum Einfluss auf seine Umgebung nehmen konnte und wie die Umgebung auf das Individuum zurückwirkte. In Anlehnung an Jean-Jacques Rousseau, Johannes Heinrich Pestalozzi, Robert Owen und Samuel Smiles priesen auch russische Pädagogen den Erwerb von Erfahrungswissen als das richtige Mittel der Erziehung. Sie glaubten, dass der (auto-)biographische Text auch dem einfachsten Bauern zugänglich sei. Jenen Pädagogen und Aufklärern galten Autobiographien und Biographien als ideale Mittel der Unterrichtung. So schlug der Pädagoge Aleksandr ýernjaev 1909 ein Curriculum vor, das auf den Lebensgeschichten »großer Menschen« basiere. Zwischen 250 und 500 Biographien solle ein russischer Schüler während seiner Schullaufbahn lesen, denn sie könnten besser als alles andere Lehrmaterial oder gar Strafen die Eigeninitiative, die Liebe zur Heimat und moralische Überzeugungen wecken.116 Auch Drožžins Lebensgeschichte erschien mehrfach als preiswertes Kinderbuch und Schullektüre. Eine Geschichte der Tat könne jedes Kind verstehen, ein Beispiel spreche ohne Zunge, die beredteste Sprache, die es gebe.117
114 Der bekannteste »Bauernastronom« war Konstantin Tezikov, der als Leibeigener autodidaktisch die französische Sprache gelernt hatte, um mit französischen Astronomen zu korrespondieren. Vgl. [Jacimirskij], Russkie samorodki. 115 Brooks, When Russia Learned to Read, 269-286. 116 »Die Biographie ist ihrem Wesen nach eine nützliche, allgemein interessante Sache, insbesondere die Autobiographien berühmter Menschen.« Zitat von Thomas Carlyle auf dem Innenumschlag der russischen Ausgabe. Smajl’s, Žizn’ i trud; ýernjaev, Vospitatel’naja sistema, 1-8; Rubakin, Rasskazy o druz’jach þeloveþestva. Weitergeführt wurde der Ansatz von ýernjaev auch in der Sowjetunion. Siehe zum Beispiel die Arbeiten von Nikolaj Rybnikov, der in Biographien ein wertvolles Erziehungsmittel sah: Rybnikov, Biografiþeskij institut, 6; Rybnikov, Biografii i ich izuþenie, 32-33; Remezov, Materialy dlja istorii narodnogo prosvešþenija. 117 Siehe beispielsweise die Autobiographie Drožžins aus dem Jahr 1915, die das Ministerium für Volksaufklärung herausgab. Drožžin, Žizn’ poơta-krest’janina S.D. Drožžin (1848-1915 gg.).
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1884. Drožžin tritt auf die Bühne russischer Talente Drožžins Autobiographie war für Herausgeber, Leser, aber auch für Drožžin selbst ein Beweis dafür, dass es die Helden aus Smiles’ Talenteschau nicht nur in England gab. Michail Semevskijs Vorwort zur Autobiographie Drožžins erinnert stark daran, wie Samuel Smiles die Biographien englischer Talente und Autodidakten präsentierte. Auch Drožžin sei Teil einer Genealogie von Naturtalenten und Autodidakten, die sich dank »ihrer Energie, ihrer Arbeit und Ausdauer« einen Platz in der Kunst erarbeitet hätten. Anders als seine Vorgänger Kol’cov und Nikitin sei Drožžin vom Schicksal nicht begünstigt gewesen. Ihm sei es nicht gelungen, die schwierigen Lebensumstände hinter sich zu lassen, die seine Selbstbildung und seine Dichtkunst behinderten. Doch ein Leben, das selbst den widrigsten Lebensumständen Gedichte abtrotze, sei »interessant und lehrreich«. Die Redaktion der Russkaja Starina habe Drožžin daher aufgefordert, »die traurige Geschichte seines Lebens« zu erzählen. Auch sein Werdegang könne zeigen, dass selbst ein Bauer seine soziale Welt gestalten könne, auch er Bedeutung, Einfluss und Wirkmächtigkeit für die Gesellschaft habe, auch er Anerkennung und Mitgefühl verdiene. Michael Semevskij, der in seiner Zeitschrift zahlreiche Autobiographien veröffentlichte, sprach mit der Publikation von Drožžins Lebensgeschichte Bauern neben Individualität auch Relevanz für das obšþestvo zu.118 In verschiedenen Episoden und mit verschiedenen Protagonisten spielte Drožžin in seiner Autobiographie drei Grundfiguren durch: Erstens sei es unklar, wer er eigentlich sei. In seiner Autobiographie aus dem Jahre 1884 ist über seine Identität keine Sicherheit zu gewinnen. Die von Drožžin präsentierte Identitätsunsicherheit weist auf gesellschaftliche Umbrüche und die neuen Möglichkeiten sozialer und regionaler Mobilität hin, die – so suggeriert es Drožžins Autobiographie – bisherige Zuordnungen wie zum Beispiel das Ständerecht unbrauchbar gemacht hätten. Anders als in den Autobiographien der Leibeigenen und Konvertiten, die ihr Leben um eine Wende gruppierten, die den Übergang von einem Sein zu einem anderen anzeigt, bleiben in Drožžins Autobiographie die Fremd- und Selbstverortungen auf schwankendem Boden. Es gibt darin keine radikale Wende und damit nichts, was dem Erlangen der Freiheit oder dem Glaubenswechsel der Konvertiten vergleichbar wäre. Drožžin ist unterschwellig immer ein anderer als der, für den man ihn hält und was seine Herkunft verspricht. Dies führt zu zahlreichen Verwechslungen und Konflikten, vor allem mit seinen Eltern. Zweitens wird sein Handeln, das bisherige Zuordnungen unbrauchbar werden lässt, in verschiedensten Lebensabschnitten durch zwei Schlagwörter begründet: Charakter (charakter) und Selbsttätigkeit (samodejatel’nost’). Beide Begriffe sind
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eng mit Schreiben und Lesen verbunden. In Drožžins Autobiographie sind vor allem jene dem Verdacht der Charakterlosigkeit ausgesetzt, die nicht schreiben und lesen können und die damit ihr Potenzial zur Selbstbildung leichtfertig verschenken. Doch samodejatel’nost’ ist mehr als ein inhaltliches Motiv, das Drožžin mit Smiles’ Helden teilt. Die Autobiographie als Beweis der Selbsttätigkeit wirkt auch auf die Struktur zurück. Die Konzentration auf das Werden, nicht auf das Sein lässt Drožžins Lebensgeschichte zu einer Fortsetzungsgeschichte werden, die er mehrfach publizieren konnte. Während in den Autobiographien der Leibeigenen und der Konvertiten mit dem Gang in die Freiheit oder dem Glaubenswechsel der Zweck des ganzen Lebens erzählt ist, gibt es bei Drožžin mit jedem gelebten Tag wieder etwas Neues zu erzählen. Einen Ziel- und Endpunkt erreicht seine Autobiographie nicht. Drittens ist allen Schritten, die Drožžin geht, ein ›trotzdem‹ eingeschrieben. Selbst die widrigsten Umstände können ihn nicht daran hindern, seine Ziele umzusetzen und sein Talent zu zeigen. Gerade vor der Folie der Widrigkeiten – bäuerliche Herkunft, mangelnde Bildung, wenig Geld – strahlen Drožžins Talent und Willensstärke umso heller. Drožžin begann seine Lebensgeschichte damit, dass er die pittoreske Lage seines Heimatdorfs Nizovka im Gouvernement Tver’ beschrieb. Die Verbindungen Nizovkas zur Weltgeschichte waren lächerlich gering. Viel mehr als ein Durchgangsort war es nie gewesen. Gefangene französische Soldaten wurden durch das Dorf getrieben, einige starben hier. Nizovka war ein Ort absoluter Bedeutungslosigkeit, die sprichwörtliche russische Provinz. Was sich jedoch an Drožžins unspektakulärer Herkunft zeigen ließ: An jedem Ort kann Talent entstehen. Schon mit Nizovka als Geburtsort konnte Drožžin das Narrativ des ›trotzdem‹ begründen. Nur beiläufig verband er seine Lebensgeschichte mit der Leibeigenschaft. Auch sein Vater sei ein Leibeigener gewesen. Er habe dem Gutsherrn Grigorij Bezobrazov gehört, der ihm eine Ausbildung ermöglichte. Der Vater konnte in St. Petersburg Zeichnen sowie Lesen und Schreiben erlernen. Von Quälereien, wie sie Bobkov und Purlevskij beschrieben, berichtete Drožžin nicht. Stattdessen legte der Sohn die Erfolge seines Vaters dar, den selbst gebildete Menschen mit Beifall für seine Bilder bedachten. Unter dem Strich jedoch war die Bilanz negativ. Ob es die Leibeigenschaft war, die das Talent des Vaters erstickte, darüber schwieg Drožžin sich in seiner publizierten Autobiographie aus, auch wenn er durch die Nähe dieser beiden Episoden eine Kausalität zwischen Unfreiheit und dem Absterben von Talent andeutete: »Er war im Wortsinne ein Naturtalent, ein Talent, dass sich nicht richtig entwickeln konnte, sich nicht zur vollen Blüte ausbilden konnte und unwiderruflich abstarb.«119 In einer unpublizierten Version seiner Lebensgeschichte von 1877
119 Drožžin, Poơt-krest’janin Spiridon Drožžin v ego vospominanijach 1848-1884, 1.
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nannte Drožžin einen anderen Grund für das Scheitern des Vaters. Seine Trunksucht habe einem besseren Schicksal im Wege gestanden.120 Schon durch seinen Vater könnte Drožžin in der Genealogie der Talente stehen, doch er beschrieb ihn als einen Gescheiterten, dem er nichts als seine Geburt zu verdanken habe. Drožžins Vater heiratete die Tochter eines Zimmermanns, worauf in der Nacht zum 6. Dezember 1848 Spiridon als erstes Kind seiner Eltern das Licht der Welt erblickte. Ihm wurden jedoch keine Chancen eingeräumt, die ersten Jahre seiner Kindheit zu überleben. Hier kommt wieder einmal jenes ›trotzdem‹ zum Tragen, dass seine ganze Lebensgeschichte durchzieht. Drožžin, der fast Totgeborene, überlebte. Totgesagte leben länger – noch als alter Mann führte Drožžin sein hohes Alter auf diese Spruchweisheit zurück.121 Das narrative Element, wonach keine Sicherheit über seine Identität zu gewinnen sei, zeigt sich an Drožžins Beschreibung seiner frühen Kindheit. Als er drei Jahre alt war, brachten ihm Großvater und Mutter die wichtigsten Gebete bei. Bald habe er sie nicht schlechter als ein Geistlicher gesprochen. Die Nachbarn, vor allem die Bäuerinnen staunten: »Was ist das für ein Knirps, man darf sagen, er liest sie [die Gebete, J.H.], wie sie geschrieben sind, nicht schlechter als ein Kirchendiener.«122 Was diese Episode zeigen soll: Schon als Dreijähriger wuchs Drožžin über die Beschränkungen seiner Herkunft hinaus. Über ihn ließ sich nur sprechen, wenn Vergleiche mit der Außenwelt bemüht wurden. Dieses Ereignis steht am Beginn einer langen Kette ähnlicher Schilderungen. Seine Fähigkeiten übertrafen nicht nur die Kenntnisse eines Kinds, sondern auch jene eines Bauern. Wie sich in den Viten der Heiligen die Heiligkeit schon in der Kindheit durch Andersartigkeit andeutet, so auch bei Drožžin: Statt mit anderen Kindern herumzutollen, war er lieber mit seinen Träumen und Gedanken allein und erdachte Lieder. Freundschaft schloss er angeblich nur mit Ol’ga, die in ihrer Schönheit dem Ideal seiner zukünftigen Braut entsprach, und mit Leška, an dem sich der Zusammenhang zwischen Charakter sowie Schreib- und Lesefähigkeit aufzeigen ließ. Für Leškas Vater, der nicht schreiben konnte, war es keine Sünde, um Almosen zu bitten, obgleich die Kammern voller Vorräte waren. Auch Leška bettelte ohne Not unter den Wolgatreidlern. Drožžin eiferte ebenso seinem Vater nach und versuchte, eines seiner Gemälde nachzuzeichnen. Als das sein Großvater sah, warnte er seinen Enkel, so zu werden wie der Vater, den er des Müßiggangs in St. Petersburg verdächtigte. Die Unzufriedenheit mit Drožžins Vater war in dieser Zeit groß. Die existenziellen Ängste offenbart ein Brief von Drožžins Mutter aus dem Jahre 1854, den Drožžin in seiner Autobiographie in voller Länge wiedergab. In diesem Brief fragt die Mutter
120 RGALI f. 176 op. 1 d. 70, 1872-1884, l. 37ob. 121 Drožžin, Avtobiografija s priloženiem, 47. 122 Drožžin, Poơt-krest’janin Spiridon Drožžin v ego vospominanijach 1848-1884, 5.
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ihren Mann, warum er kein Geld an die Familie schicke, ob er die Familie verlassen habe. Drožžin, der sich zum Schreibzeitpunkt seiner Autobiographie häufig mit seinem Vater über Geldsendungen stritt, rückte seinen Vater durch die Dokumente aus dem Familienarchiv in ein schlechtes Licht. Dass er auf die 30 Jahre alten Briefe zurückgreifen konnte, zeigt, dass es in Drožžins Familie ein über mehrere Generationen hinweg reichendes Familienarchiv gab. Der Vater antwortete nicht. Kein Geld kam bei der Familie an. Drožžins Mutter machte sich daher auf den Weg, um ihren Mann zu suchen. Sie versprach dem weinenden Spiridon, Spielzeug und Süßigkeiten aus der Hauptstadt mitzubringen. Doch Drožžin – was für ein besonderes Kind – wünschte sich Bleistift und Papier. Auch mit dieser Episode präsentierte sich Drožžin als ein Mensch, der Erwartungen übertraf. Im Mittelpunkt seiner Kindheitsschilderung steht fast ausschließlich der Erwerb von Bildung. Drožžin lernte Lesen und Schreiben von seinem Großvater, mit acht Jahren konnte er die kirchliche und die weltliche Schrift problemlos lesen, auch wenn der Großvater nur kirchliche Bücher besaß. Beeindruckt von seiner Lektüre fühlte Drožžin sich von christlichen Helden, Märtyrern und Asketen umgeben. Er träumte von Außergewöhnlichkeit und sah sich als Prediger Menschenmassen anziehen, die seinen frommen Reden lauschten. Auch er zitierte hagiographische Biographiemodelle an, wie sie die Konvertiten in ihren Autobiographien gebrauchten. Er verfolgte sie jedoch nicht weiter, sondern schrieb seine Geschichte als Bildungsgeschichte fort. Das Streben nach Bildung ersetzte in seiner Erzählung den Eifer, Anerkennung durch Gottgefälligkeit zu gewinnen. Als er das zehnte Lebensjahr erreicht hatte, konnte er eine Schule besuchen. Bald half er dem Geistlichen, den anderen Bauernsöhnen Lesen und Schreiben zu vermitteln. Auch diese Episode war geeignet, sich narrativ von seiner Herkunft abzusetzen. Angeblich erfüllte der Junge die Obliegenheiten wie »ein richtiger Lehrer«. Doch mit Zahlen und Rechnen tat er sich schwer, und die Peitsche des Lehrers ging auch auf seinem Rücken spazieren.123 Kritisch bemerkte er, dass die meisten Schüler trotz des Schulbesuchs Lesen und Schreiben kaum gelernt hätten. Allein er hätte in seinem Eifer nicht nachgelassen und selbst in der Ferienzeit kirchliche Bücher abgeschrieben. Als er glaubte, bei dem Geistlichen nichts mehr lernen zu können, stellte er seine Schulbesuche ein, die die Familie dringend benötigtes Geld gekostet hatten. Eine Fußnote begleitete die Episode und übertrug die Kritik aus der Zeit vor der Schulreform 1864 in die damalige Gegenwart: Solch miese Schulen würden auch in den 1880er Jahren noch existieren.124 Auch die Rückkehr des Vaters nach Nizovka 1860 bot Drožžin Episoden, die sich in das Narrativ des ›trotzdem‹ einbauen ließen. Das neue Familiengefüge er-
123 Drožžin, Poơt-krest’janin Spiridon Drožžin v ego vospominanijach 1848-1884, 14. 124 Drožžin, Poơt-krest’janin Spiridon Drožžin v ego vospominanijach 1848-1884, 16.
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laubte es Spiridon, mit seinem Onkel nach St. Petersburg zu gehen, das er sich als »zauberhaftes Wunder mit Flüssen voll Milch«125 vorgestellt hatte. Diese Phantasien wurden jedoch von einer schmutzigen Realität heimgesucht, die Drožžin mit drastischen Worten ausmalte. Er musste in der Kaschemme Kapkaz die Bediensteten des Hotels Europa bedienen. Die Räume der Kneipe waren voll wodkageschwängerter Luft und die Wände mit Schimmel überzogen. Drožžin, der sich bald in eine Bauernhütte zurücksehnte, litt unter den Beschimpfungen, der harten Arbeit und dem Schlafmangel. Erst als er dank der Liebenswürdigkeit des alten Büffetiers versetzt wurde, besserte sich seine Situation. Er nutzte die neu gewonnene Freizeit, um sich von seinem Trinkgeld Bilder und Bücher zu kaufen. Der neue Vorgesetzte meinte es jedoch mit Drožžin weniger gut: Sobald er ihn beim Lesen erwischte, verprügelte er ihn. Einmal verbrannte er sogar Drožžins Bücher. Trotz der bildungsfeindlichen Umwelt und der schweren Arbeit ließ Drožžin – so seine Autobiographie – nicht von seinem Ziel ab. Bildungshunger war Motivation, Beharrlichkeit und Charakterstärke führten zum hehren Ziel. Die Zeit in St. Petersburg schildert Drožžin als eine Zeit, die viele neue Erfahrungen gebracht habe. Er besuchte zum ersten Mal das Theater, las weltliche Bücher, lernte Zeitschriften kennen und versank in der Lektüre von Gedichten. Mehrfach wechselte er seine Arbeitsstellen, bis er schließlich Angestellter in einem Tabakgeschäft wurde. Angeregt durch ein Gedicht in seiner Lieblingszeitschrift Iskra schrieb er 1865 sein erstes Gedicht Heimatsehnsucht, um unzufrieden mit dem Ergebnis das Dichten gleich wieder aufzugeben.126 Doch Rückschläge konnten Drožžin nicht beeindrucken. Sie – so die Autobiographie – seien ihm vielmehr Ansporn gewesen, in seinem Bildungsstreben nicht nachzulassen. Um seine dürftige Bildung zu ergänzen, wurde er Leser in einer Bibliothek; den Großteil seines Lohns gab er angeblich für Bücher aus. Besonders gern las er in dieser Zeit die Biographien »großer Menschen«, vor allem von anerkannten Dichtern und Autodidakten, die »aus dem Volk« hervorgegangen waren.127 Seine eigenen Leser konnten leicht die Parallele zwischen ihnen und Drožžins Lebensgeschichte ziehen. Wie in deren Lebensgeschichten oder den Biographien, die unter Smiles’ Namen in Russland erschienen, war Drožžins Bildungsstreben mit Gemeinwohlvorstellungen verbunden. Er träumte davon, »für irgendetwas nützlich zu sein, für sich oder für die Gesellschaft«. Gern wollte er Volkslehrer werden und
125 Drožžin, Poơt-krest’janin Spiridon Drožžin v ego vospominanijach 1848-1884, 16. 126 Drožžin, Poơt-krest’janin Spiridon Drožžin v ego vospominanijach 1848-1884, 19. 127 Neben der Autobiographie von Robert Burns befasste sich Drožžin auch mit den Biographien Kol’covs, Goethes, Byrons, Nikitins, Ševþenkos: Drožžin, Poơt-krest’janin Spiridon Drožžin v ego vospominanijach 1848-1884, 22, 26, 51.
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den »Kinderchen auf dem Dorf Lesen und Schreiben beibringen«.128 Doch Fleiß allein macht keinen Schriftsteller. Auch Drožžin schilderte sein Werden zum Dichter als romantische Initiation durch Begehren. Auch hierin versuchte er jenen Vorbildern zu gleichen, deren Biographien er las und denen er sich als ebenbürtig zeichnete. Robert Burns, dem Drožžin in seiner Autobiographie mehrfach die Ehre erwies, hatte in seiner Autobiographie kundgetan, durch das Feuer der Liebe von der Muse geküsst worden zu sein.129 Ein Mädchen hatte am Beginn seiner Karriere zum schottischen Nationaldichter gestanden.130 Und Maša, die Nichte eines Dienstmädchens, ließ nun in Drožžin Sehnsucht und Lieder erklingen. Große Bedeutung für sein Werden als Schriftsteller sprach Drožžin seinem Tagebuch zu, das er am 10. Mai 1867 zu führen begann und in dem er Fortschritte und Misserfolge kontrollierte und bilanzierte. Den Wert, den das Tagebuch für ihn besaß, zeigt sich auch daran, dass die Autobiographie mit Beginn dieses Beschreibungszeitraums einen anderen Charakter annimmt: Die Chronologie der Tage ersetzt rückblickende Passagen. Drožžin brachte nun seitenweise Ausschnitte aus seinem Tagebuch, die kaum mehr schildern als seine Lektüren. Offen schrieb er, dass nicht alles aus seinem Tagebuch für die Augen der Öffentlichkeit bestimmt sei: »[…] es werden nur die Stellen gebracht, die am deutlichsten das Auftreten meines inneren Lebens und meiner Selbsttätigkeit (samodejatel’nosti) zum Ausdruck bringen.«131 Ereignisse, die nicht von Eifer und Tatenlust sprachen, wolle er aus der Autobiographie heraushalten. Anhand unpublizierter Texte wird später gezeigt, was Drožžin vor den Augen der Öffentlichkeit verbarg. Seine tagebuchartigen Notizen in der Russkaja Starina ähneln Leseanleitungen, die den spezifisch didaktischen Anspruch seiner Lebensbeschreibung unterstreichen. Sie zeigen auf, was gelesen werden müsse, um zu den Gebildeten zu gehören, und wie man mit einem Tagebuch Bestrebungen und Bildungserfolge kontrolliert. Die Autoren, die Drožžin anführte, entsprachen den Lektüreempfehlungen, die liberale, dem narodniþestvo nahestehende Leseforscher wie Aleksandr Prugavin oder Nikolaj Rubakin gaben: Alexander Puschkin und Aleksej Kol’cov sind vertreten, die Zeitschrift Sovremennik, Heinrich Heine, Nikolaj Nekrasov, Ivan Turgenev und auch Taras Ševþenko. Drožžins Lesepensum versprach seinen Lesern vor allem
128 Drožžin, Poơt-krest’janin Spiridon Drožžin v ego vospominanijach 1848-1884, 20. 129 Robert Burns galt im Zarenreich als Modell eines Dichters, der sich von ganz unten nach oben gearbeitet hatte. Aleksej Kol’cov, der trotz seiner Herkunft als Sohn eines Viehhändlers in das Pantheon der russischen Literatur aufgenommen wurde, galt im 19. Jahrhundert als »russischer Burns«. Waegemans, Geschichte der Russischen Literatur, 109. 130 Feustel, Robert Burns, 6. 131 Drožžin, Poơt-krest’janin Spiridon Drožžin v ego vospominanijach 1848-1884, 21.
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eins: Es genüge, die richtige Literatur zu lesen, um mit der Bildung auch das Ansehen der Bildungseliten zu erringen. Die von den Eliten verschmähte populäre Literatur findet sich in seiner Autobiographie nur marginal. Sie galt unter den Eiferern für die Volksbildung als Übergangsstadium, das, auch mit vorbildhaften Autobiographien, überwunden werden sollte.132 Auch Samuel Smiles’ Self-Help gehörte zu Drožžins Lesefrüchten. Diese Texte trugen den Lobpreis des Charakters, der Arbeit und der Anstrengung in seine Autobiographie hinein. Sie stellten – so schildert es jedenfalls Drožžin – jene Fremdund Selbstzuschreibungen auf den Prüfstand, denen er als Bauer und Angestellter unterlag. Die Lektüren hätten seine früheren Überzeugungen ins Wanken gebracht, wenn nicht gar zerstört. An die Stelle überkommener Gewissheiten sei – und wieder gebrauchte Drožžin den Begriff samodejatel’nost’ – das Vertrauen in die eigenen Kräfte und die eigenen Taten getreten.133 Hier zeigt sich erneut eines der zentralen Grundmotive: Der Mensch ist nicht fertig, sondern muss sich erst ausbilden. Er selbst hat an seinem Charakter zu arbeiten, mit dem er sich von den anderen unterscheidbar macht. Die Fort- und Rückschritte bei den Bemühungen, das wirkliche Selbst hervorzubringen, müssen kontrolliert werden. Wer an diesen Anstrengungen scheitert, offenbart die Schwäche seines Willens, die eigene Charakterlosigkeit. Drožžins Bewertungen gelebten und fiktiven Lebens ähneln stark jenen Urteilen, die Smiles in seinen Büchern gab. Die Verwunderung, die seine Lektüren hervorriefen, zeigte an, dass er den richtigen Weg beschritten hatte. Studenten, die in seinem Geschäft einkauften, stellten zum Beispiel infrage, welchen Nutzen ein Bauernsohn wie Drožžin aus einer Theorie der Literatur ziehen könne, in die er sich vertieft hatte: »[…] besser wäre es für ihn, Romane und Märchen zu lesen.«134 Damit verwiesen sie ihn auf seinen angeblich besser passenden gesellschaftlichen Platz und ins Dorf zurück. Doch – und das suggeriert seine Autobiographie – anders als die Studenten wusste Drožžin genau, warum er die populäre Literatur mied. Indem er auch vor schwieriger Literatur nicht zurückschreckte, stählte er Willensstärke und Charakter. In seiner Autobiographie schrieb auch diese Episode am Narrativ des ›trotzdem‹ mit. Rückschläge und Schwierigkeiten verschwieg Drožžin nicht, denn nach der Schilderung von Schatten und Dunkelheit strahlten seine Leistungen und Erfolge umso heller. Das Jahr 1870 brachte ihm viel Ungemach. Mehrfach wechselte er die Arbeitsstellen, schließlich erkrankte er und musste sich im Krankenhaus behandeln lassen, was seinen finanziellen Engpass weiter verschlimmerte. Der Vater traktierte ihn mit Geldforderungen. Die Unfähigkeit, in dieser Situation angefangene Gedich-
132 Brooks, When Russia Learned to Read, 296. 133 Drožžin, Poơt-krest’janin Spiridon Drožžin v ego vospominanijach 1848-1884, 24. 134 Drožžin, Poơt-krest’janin Spiridon Drožžin v ego vospominanijach 1848-1884, 26.
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te auch zu Ende zu führen, kratzte am Selbstbewusstsein. Das Gefühl, nicht so handeln zu können, wie er wollte, stellte die ganze Existenz in Frage: »Was bin ich, wer bin ich, mein Gott, was ist das für ein quälender Zustand, wenn man fühlt und es einem bewusst wird, dass man ein Nichts ist.«135 Die Schicksalsschläge nahmen kein Ende. Nachdem er sich mit seinen Gedichten das erste Mal an die Öffentlichkeit gewagt und sie an die Zeitung Illustrirovannaja Gazeta geschickt hatte, erhielt er sie mit einer vernichtenden Kritik zurück. Seine Verse seien schwach, sie würden nur Altbekanntes nachahmen. Drožžin – so der Redakteur – müsse sorgfältiger an sich und seinen Gedichten arbeiten.136 Drožžin beschloss nun, nur noch für sich zu schreiben. Immer mehr verdüsterte sich seine Stimmung, auch Gedanken an Selbstmord blitzten auf. Seinem billigen, kalten Zimmer entfloh er in die Öffentliche Kaiserliche Bibliothek, in der er in Zeiten folgender Obdachlosigkeit tagsüber ein Dach über dem Kopf fand. Selbst in existenzieller Not ließ Drožžin von seinem Streben nicht ab, trotz der Schicksalsschläge boten ihm – das soll diese Episode zeigen – Buch und Bibliothek Geborgenheit im harschen Alltag. Im November 1871 ging Drožžin in sein Dorf zurück, wo ihm der Groll seiner Eltern entgegenschlug. Sie sahen in seiner Begeisterung für Literatur den Grund für seinen ausbleibenden Erfolg und die verfrühte Heimkehr und erkannten in ihm nicht mehr einen, der zu ihnen gehörte. Drožžin – das versucht die Begebenheit zu belegen – war seinem Herkunftsmilieu intellektuell entwachsen. In dieser schlimmen Zeit erschien sein erstes Gedicht im Druck, auch seine Lebens- und Arbeitssituation besserte sich allmählich. 1872 begann er als Lakai bei der Gutsherrin Sof’ja Sikerina zu arbeiten, danach verdingte er sich auf dem Gut der Vladykins, wo er große Freiheit genoss und sich der Bibliothek bedienen durfte. Nun begann er auch wieder mit dem Schreiben seines Tagebuchs. Mit dem Tagebuch als Grundlage und Erinnerungsstütze änderte sich erneut der Schreibstil seiner Autobiographie. Auf dem Gut erfuhr Drožžin zum ersten Mal die Anerkennung, nach der er dürstete. Im Kreis der Herrschaften durfte er seine Gedichte vortragen. Vladykins Begeisterung ging sogar so weit, dass er sie den Versen Kol’covs für ebenbürtig erklärte. Drožžin, der in seiner Autobiographie das Motiv der Selbsttätigkeit als Sprecherlaubnis nutzte, verschmähte die Semantiken der Sklaverei nicht, wenn sie mit der eigenen Lebensgeschichte in Übereinstimmung zu bringen waren. Anders als Purlevskij und Bobkov musste er nicht sein gesamtes Leben erzählen, um mit ihnen zu brechen. Schon drei kleinere Episoden bewiesen in steigender Intensität, dass Drožžin alles werden konnte, nur nicht Sklave und Diener. Auf Bällen, die Vladykin ausrichtete, wurde Drožžin zur Schau gestellt: Er deklamierte seine Gedichte und die Gäste schauten auf ihn wie »auf ein Wunderding«, er selbst sah sich als »dichtender Lakai in
135 Drožžin, Poơt-krest’janin Spiridon Drožžin v ego vospominanijach 1848-1884, 30. 136 Drožžin, Poơt-krest’janin Spiridon Drožžin v ego vospominanijach 1848-1884, 30.
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einer komischen Situation«.137 Schon in der ersten Episode erzeugt die Fremdthematisierung als »dichtender Lakai« Unwohlsein, Drožžin kann sie jedoch nicht von sich weisen. In der zweiten Episode, in der Drožžins Wesen als Lakai erörtert wird, erscheint sie selbst dem Gutsherrn als falsch. Als Drožžin sich aus finanziellen Gründen als Lakai andienen wollte, eine Tätigkeit, zu der er sich – so die Autobiographie – nicht hingezogen fühlte, antwortete ihm der Gutsherr im Scherz: »Du, Bruder, bist ein wunderbarer Mensch, doch zum Teufel, zum Lakai taugst du nicht.«138 Nicht nur er selbst sah sich als »Bruder« der Gebildeten, auch andere sprachen ihn trotz seines niedrigen Standes so an. Auch mit dieser Episode suggeriert die Autobiographie, dass die äußere Ordnung, soziale Stellung, Vermögen und Ständerecht nicht mehr die richtigen Kategorien bereithielten, um zu entscheiden, wer zu dienen und wer zu herrschen habe. Als ihn der Fürst Obolenskij, bei dem er Schreibarbeiten verrichtet hatte, zum Lakai machen wollte, kündigte Drožžin unverzüglich. In der dritten Episode wusste er bereits genau, dass er nicht zum Dienen geboren sei. Nachdem diese Geschichte erzählt war, knüpfte er in seiner 1884 erschienenen Autobiographie nicht mehr an die Semantiken der Sklaverei an. Selbst im sich abkühlenden Verhältnis zu seiner Braut differierten die Wahrnehmungen. Auch an dieser Beziehung erörterte Drožžin die Frage, ob sich Fremdund Selbstbild je in Übereinstimmung bringen lassen. Er beschrieb seine Persönlichkeit als einem steten Wandel unterworfen und brach mit diesem Element wohl am stärksten mit hagiographischen Erzählformen autobiographischen Schreibens. Veränderung und Reifung machten es für Außenstehende schwierig, in ihm den Menschen zu finden, den sie kannten. Während bis auf wenige Autodidakten alle anderen Protagonisten in seiner Autobiographie stagnierten, entwickelte er sich im rasanten Tempo: »[…] vollkommen zufällig habe ich sie [die Braut, J.H.] auf der Straße getroffen, wo sie auf mich blickend mit einem bitteren Lächeln sagte: ›Man kann Sie heute nicht mehr wieder erkennen!‹ – Ja, antwortete ich – leider bin ich nicht mehr der, den Sie früher kannten.«139 Seine Fähigkeit zu Veränderung sowie sein Geschick, widrige Lebensumstände hinter sich zu lassen, sollte wohl auch Drožžins Schilderung seines Taschkenter Abenteuers aufzeigen. Drožžin präsentierte sich als Glücksritter, den es reizte, seiner Herkunft und dem Bekannten endgültig zu entfliehen. Fremde Länder wollte er sehen und rasch viel Geld verdienen. Als ihm Stepan Agamalov, der in Taschkent eine Tabakfabrik besaß, ein lukratives Geschäft anbot, schlug er ein. Drožžin würde 1200 Rubel erhalten, wenn er den Fabrikanten für drei Jahre nach Taschkent begleiten würde. Er ließ sich auf die Offerte des ihm kaum bekannten Armeniers ein und
137 Drožžin, Poơt-krest’janin Spiridon Drožžin v ego vospominanijach 1848-1884, 41. 138 Drožžin, Poơt-krest’janin Spiridon Drožžin v ego vospominanijach 1848-1884, 44. 139 Drožžin, Poơt-krest’janin Spiridon Drožžin v ego vospominanijach 1848-1884, 45.
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erlebte ein Desaster. Agamalov hatte zahlreiche Russen nach Taschkent gelockt, die er in seiner Fabrik ausbeuten konnte, da sie mit dem Leben in Taschkent nicht vertraut waren und die Rückreise weit und teuer war. Drožžin jedoch gelang es, von Agamalov um seinen Lohn betrogen, 1875 in sein Heimatdorf zurückzukehren.140 Die Sehnsucht nach dem schnellen Rubel endete in Mittellosigkeit. Das Ethos des Leistungserfolgs, das nicht auf Glück, Zufall und Wunder vertraut, bewies sich an dieser Episode erneut. Schon drei Tage nach seiner Heimkehr fand er in der Bauerntochter Marija eine Braut, die er binnen zweier Wochen heiratete. Sie sei schön, habe ausdrucksstarke schwarze Augen und einen guten Sinn für Humor. Wunderbar könne sie russische Volkslieder singen. In seinen literarischen Ambitionen sehe sie jedoch nur Zeitverschwendung. In ihrem harschen Urteil über Drožžins Schreibleidenschaft stimme sie – so Drožžin – mit der gesamten Familie und allen schriftunkundigen Leuten überein. Verständnis für seine Andersartigkeit konnte er bei Ungebildeten, selbst bei seiner Frau, nicht finden. Nachdem er für kurze Zeit Stipendiat einer Molkereischule war, wo er Savva Derunov, gleichfalls ein ›Dichter aus dem Volke‹, kennen lernte, ging er wieder nach St. Petersburg. Derunov half Drožžin, seine Gedichte zu überarbeiten.141 Stolz berichtete Drožžin, dass sie wie gleichberechtigte Freunde ihre Fotografien ausgetauscht hätten. Fotografien waren in dieser Zeit eine Währung, mit der sich Bindungen anbahnen und bestärken ließen; auch andere Autobiographen berichten von Porträtfotografien als Freundschaftspfand. Sie hatten eine ähnliche Funktion wie die gegenseitigen Erwähnungen in den autobiographischen Texten. Die Schilderung des Zusammentreffens mit Derunov ist eine der wenigen Episoden in der Autobiographie, in denen keine Unsicherheit über die eigene Identität anklingt. Gegen die Anrufung als ›Dichter aus dem Volk‹ wehrte sich Drožžin nicht. Bald bekam Drožžin eine gute Anstellung in einem Tabakladen auf dem Nevskij Prospekt. In dieser glücklichen Zeit – so schrieb er – habe er wieder Zeit und Lust gefunden, sein Tagebuch fortzusetzen. Und immer wieder tauchen in seinen Notizen Ansichten über das Leben auf, wie Samuel Smiles sie kaum besser hätte formulieren können und durch die Drožžin sich selbst als charakterstark zeichnete: Wegen ihrer Charakterlosigkeit könnten sich die Ärmsten nicht aus ihrer Situation befreien. Der Mangel an Bildung verhindere ihr Fortkommen: »Gebt diesem
140 Drožžin, Poơt-krest’janin Spiridon Drožžin v ego vospominanijach 1848-1884, 46-48. 141 Savva Derunov war zu dieser Zeit schon erfolgreich im Zemstvo tätig. In den darauf folgenden Jahren erwarb er sich Anerkennung als Verfasser einer Broschüre über die Milchwirtschaft sowie als Ethnograph und Korrespondent der Geographischen Gesellschaft. Siehe seine heimatkundlichen Artikel in der Ơtnografiþeskoe Obozrenie. Derunov, Oþerki pošechon’ja; Derunov, Materialy dlja narodnago snotolkovatelja.
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Menschen zuerst die Mittel zur Bildung, dann wird sich bei ihm die Fähigkeit zur Selbsttätigkeit (samodejatel’nost’) zeigen, verbunden mit dem Streben nach materiellem Wohlstand und persönlichem Glück.«142 Mit Smiles’ Vokabular ließ sich auch der bescheidene Wohlstand eines Tabakverkäufers in große Gedankengebäude einbauen und als Erfolg der Selbsttätigkeit feiern. Ausführlicher als alle anderen Ereignisse schilderte Drožžin die Tage nach Nikolaj Nekrasovs Tod am 27. Dezember 1877. Die Trauer um den großen Dichter habe alle Stände vereinigt. Drožžin deutete den Begräbniszug als Symbol für ein neues, anderes Russland, in dem die Mauern zwischen oben und unten geschleift seien.143 Das Sterben seiner Kinder war hingegen kaum mehr als einen Nebensatz wert. Es spielte für seine Autobiographie 1884, die vor allem das Werden eines Bauernpoeten nachzeichnete, eine geringe Rolle. Erst in seinen späteren Autobiographien, in denen die Reifung zum Dichter erfolgt und auch anerkannt war, schilderte er seine Trauer.144 Sein Eintritt in einen Literaturzirkel 1878 verschaffte ihm schließlich die Bestätigung, die er in seiner Familie nicht finden konnte. Hier traf er auf andere ›Dichter aus dem Volk‹ und ihre Förderer. In diesem Kreis lernte er nicht nur weiteres Handwerkszeug, sondern er konnte Aufmerksamkeit auf seine Person vereinen. Er begegnete Herausgebern und Verlegern, die begannen, seine Werke publizieren, und die ihm erklärten, wie er finanzielle Unterstützung erlangen könne.145 Neues Selbstbewusstsein erwuchs aus der Anerkennung, die er in dem Literaturzirkel erfuhr: »Ich begann meinen Stärken zu vertrauen und strenger mit meinen Werken und dem gedruckten Wort umzugehen.«146 Immer mehr nahm seine Autobiographie den Charakter einer Publikationsliste an. Drožžin berichtete von seinen Erfolgen, indem er seine Gedichte und die Orte ihrer Veröffentlichung aufzählte. Die Währung, mit der sich biographischer Erfolg scheinbar objektiv bemessen ließ, war nun gefunden.
142 Drožžin, Poơt-krest’janin Spiridon Drožžin v ego vospominanijach 1848-1884, 53. 143 Nekrasovs Begräbnis galt unter Sozialrevolutionären, Narodniki und Marxisten als Demonstration des fortschrittlichen Russland. Nach Plechanov habe an ihm »fast der ganze Stab der russischen Revolution« teilgenommen. Dudek, Vorwort, 12. 144 Vor allem den Tod seiner »Lieblingstochter« Zina sowie seiner Frau betrauerte er öffentlich in seiner 1923 erschienenen Autobiographie. Drožžin, Avtobiografija s priloženiem, 42, 69. 145 Dass diese Hilfe nötig war, zeigen Briefe Michail Semevskijs und Aleksandr Jacimirskijs an Drožžin. In diesen erklärten sie ihm, in welcher Form er sich zum Beispiel an die Akademie der Wissenschaften zu wenden habe, um Unterstützung zu erhalten. RGALI f. 176 op. 1 d. 294, 29.11.1884; RGALI f. 176 op. 1 d. 324, 10.06.1901. 146 Drožžin, Poơt-krest’janin Spiridon Drožžin v ego vospominanijach 1848-1884, 56.
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Die Anerkennung, die er für seine Gedichte erfuhr, erlaubte es ihm schließlich, mit Ivan Surikov in Kontakt zu treten. Surikov war schon zu dieser Zeit berühmt und galt als vertrautes Gesicht in der Galerie der Autodidakten, Naturtalente und ›Dichter aus dem Volke‹. Schon früh hatten Herausgeber, Kritiker und Leser ihn in eine Reihe mit Kol’cov und Nikitin gestellt. Einige Jahrzehnte später wurde auch Drožžins Name in der Genealogie der Unterschichtenpoeten genannt. Auch der Briefwechsel zwischen Surikov und Drožžin war dazu geeignet, seinen Eintritt in den Kreis der Dichter zu legitimieren. In Briefen bekundete Surikov seine Hochachtung für Drožžin und ermahnte ihn, hart zu arbeiten und in seinem Streben nicht nachzulassen. Der Abdruck des Briefwechsels war – wie die Schilderung seiner Treffen mit Savva Derunov – eine geschickte Strategie, um die Nähe zu seinen Vorbildern zu beweisen.147 Sie erlaubte es Drožžin, Gutes über sich zu schreiben, ohne es selbst sagen zu müssen.148 Einen ähnlichen Zweck erfüllte 1880 die Gründung eines neuen Zirkels, des Puschkinkreises. Der Zirkel sollte helfen, Publikationen zu veröffentlichen, bedürftigen Mitgliedern finanzielle Hilfe zu gewähren und Liebhaber russischer Literatur, ungeachtet ihres Standes, zusammenzuführen. In diesem Kreis konnte sich Drožžin als Poet geben. Sie nahmen ihn als den wahr, der er auch sein wollte. Außerhalb des Puschkinkreises blieb er jedoch Bauer, der durch sein seltsames Tun Misstrauen erregte. Seine Bücherkiste rief sogar eine Hausdurchsuchung hervor, wobei sich ein Polizist regelrecht entrüstete, als er feststellte, dass Drožžin nicht der zu sein schien, als der ihn sein Pass ausgab, seine Anrufung nicht den gemeint hatte, der sich umdrehte: »Wie, Bücher!? Was können bei ihm für Bücher sein!? Wenn es in seinem Pass klar heißt: Bauer des Gouvernements und Kreises Tver’, Amtsbezirk Gorodensk, Dorf … Sag bitte, ich frage dich, was können bei ihm für Bücher sein und wofür braucht er sie!? Hä?!«149 Ohne einen markanten Schlusspunkt bricht die Autobiographie ab. Drožžin schilderte zwar noch einmal Unglück und Leid, welches über ihn hereingebrochen sei, legte aber weder Ausweg noch endgültiges Scheitern dar. Nachdem er seine Stelle in einem Büchergeschäft 1882 verloren hatte, versuchten er und seine Familie, allein von seiner Literaturtätigkeit zu leben. Sie litten Hunger, der neugeborene
147 Drožžin gab in seiner Autobiographie 1884 an, den ersten Brief an Surikov nicht aufbewahrt zu haben. Dieser Brief ist im Fond Ivan Surikovs im RGALI erhalten: RGALI f. 295 2.2, 17.04.1879. 148 Schon 1899 stellt das Buch von Vasilij Brusjanin Surikov und Drožžin gemeinsam vor. Auch in dem Literaturlexikon Ignatovs folgt Drožžins Biographie der Lebensgeschichte Surikovs nach. Brusjanin, Poơty-krest’jane Surikov i Drožžin; Ignatov (Hrsg.), Gallereja russkich pisatelej, 375. 149 Drožžin, Poơt-krest’janin Spiridon Drožžin v ego vospominanijach 1848-1884, 66.
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Sohn starb. In dieser schwierigen Situation bewilligte ihm der Puschkinzirkel eine finanzielle Unterstützung. Schließlich kehrte er im Juli 1883 erneut in sein Heimatdorf zurück, wo seine Eltern und sein jüngerer Bruder bezweifelten, dass er noch ein richtiger Bauer sei. Die Zwietracht innerhalb der Familie erlebte ihren Höhepunkt bei dem Fest zur Geburt seiner Tochter. Beinahe hätte der betrunkene Vater Spiridon Drožžin erschlagen. Der Gegensatz zwischen fehlender Zivilisiertheit, für die der Vater steht, und gemeinwohlorientierter Bildung, als deren Vertreter sich Drožžin zeichnet, wird nicht aufgelöst. Weder der Vater, der wegen seiner Ablehnung der Literatur nur die Sprache der Gewalt zur Verfügung hat, noch Drožžin können einen Sieg verzeichnen. Die Autobiographie Drožžins endet seltsam unvollendet mit seiner Rückkehr nach St. Petersburg, wo ihm der Fond für Literatur eine Unterstützung von 50 Rubeln gewährte. Wie es wohl mit Drožžin weitergeht? Vermutlich haben sich das auch die Leser seiner Autobiographie in der Russkaja Starina gefragt. Drožžin und die Frauen Das Kriterium der Selbsttätigkeit bestimmte, was in die 1884 publizierte Autobiographie geriet und was außen vor bleiben musste. Die nicht publizierten Versionen seiner tagebuchartigen Aufzeichnungen und seiner Autobiographie zeigen deutlich, welche Ereignisse Drožžin verschwieg, um seine Autobiographie einem größeren Lesepublikum anzubieten und den Erwartungen zu entsprechen, die an einen schreibenden Bauern gestellt wurden.150 Drei Themenbereiche – sexuelles Begehren, Müßiggang sowie Träume – sparte Drožžin in seiner publizierten Autobiographie fast vollständig aus, während er in seinen zahlreichen nicht veröffentlichten autobiographischen Texten, Umschriften und Abschriften häufig über Leidenschaft, Vergnügungen und Nachtmahren sprach. Während in der publizierten Autobiographie Männer und Bücher dominierten, nahmen in den unpublizierten Texten Drožžins Beziehungen zu Frauen einen großen Raum ein. Drožžin präsentierte sich in seinen nicht veröffentlichten Texten – vor allem für die Jahre 1867 bis zu seiner Heirat 1875 – als begehrenswerten Mann, dem die Frauen zu Füßen lagen. Um die Fülle zu verwalten, wies er ihnen Nummern zu.151 Er verursachte Liebesleid, wie ihm die jungen Frauen gleichfalls Herzweh zufügten. Anders als in seiner publizierten Autobiographie, wo er alle
150 Es ist schwierig, Sicherheit über die Datierung der unpublizierten Versionen zu gewinnen. Mitunter erwähnt Drožžin, dass ihm die Texte als Grundlage für weitere Publikationen dienten oder er in ihnen jene Ereignisse niederschrieb, die er woanders nicht veröffentlichen konnte. IRLI RO f. 101 d. 23, 1854-1872, l. 18. 151 RGALI f. 176 op. 1 d. 69, 1868-1876, l. 14ob.
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Kraft in seine Selbstbildung setzte und die Zuneigung zu den Frauen allein als fruchtbringend für seine Dichtkunst beschrieb, berichtete Drožžin in seinen unpublizierten Texten von seiner Hingezogenheit zu verschiedenen Frauen, von denen nur vier Eingang in die publizierte Autobiographie fanden. Maša war eine von ihnen. Sie schaffte es als seine erste Muse, die Drožžins Werden zum Dichter beschleunigt hätte, in die publizierte Autobiographie hinein. Die Zuneigung, die Drožžin im Jahr 1866 für das Mädchen empfand, beschrieb er seinem Lesepublikum als Sorge eines »jungen Idealisten«, der sich des »armen Mädchens« annahm und ihr Gedichte widmete.152 Liebe war hier frei von eigennützigen Gedanken. In den unpublizierten Texten hingegen hatten auch Eros und Eifersucht ihren Platz. In großer Schrift ist dort protokolliert, was angeblich niemand sah: »Marija, wie sehr ich dich liebe, sieht allein Gott.«153 Als der Laufbursche Aleksandr damit prahlte, Mašas Lippen geküsst zu haben, tobte Drožžin. Er schwärzte den Jungen bei dem Dienstherrn an, der den Nebenbuhler sofort entließ. Dieser Streit ist – anders als die Konflikte mit Vorgesetzten und der Familie um Bildung und Bücher – in seiner publizierten Autobiographie nicht geschildert.154 Er passte nicht zum Bild des jungen Dichters, der all seine Leidenschaft der Literatur widmete und nur die Vervollkommnung seines Charakters im Sinn hat. Die publizierte Autobiographie verschwieg auch, dass die Liebe zu Maša ihn nicht davon abhalten konnte, sich mit anderen Mädchen zu treffen.155 Vor allem Annuška zog Drožžin in ihren Bann, obgleich sie schon einen Bräutigam hatte und drei Jahre älter als er war. In seiner publizierten Autobiographie überging er Annuška völlig, während er in seinen unpublizierten Texten mehrfach erwähnte, wie sie den Nevskij Prospekt entlang flanierten und vor Verlegenheit nicht wussten, über was sie sprechen sollten. Schließlich gestanden sie einander ihre Liebe und Drožžin küsste Annuška auf ihren »halbgeöffneten Mund«.156 Doch die »heißen Küsse«157 konnten nicht über die Sprachlosigkeit hinweg helfen, die zwischen beiden trotz aller Anziehung herrschte: »Zum Teufel was Annuška sagt.«158 Drožžin küsste weiterhin auch andere Mädchen. Während er in seiner veröffentlichten Autobiographie gleich den Helden aus Smiles’ Talenteschau die Stärke seines Willens zelebrierte, gab er in den unpublizierten Texten der Kraft des Begehrens nach. Nachdem er Annuška eine Woche nicht gesehen hatte, lauerte er ihr »mit sündigem Sinn« in der Kirche auf, wo sie das Abendmahl
152 Drožžin, Poơt-krest’janin Spiridon Drožžin v ego vospominanijach 1848-1884, 20. 153 IRLI RO f. 101 d. 24, 1867-1871, l. 24. 154 IRLI RO f. 101 d. 23, 1854-1872, l. 21. 155 IRLI RO f. 101 d. 23, 1854-1872, l. 29ob. 156 RGALI f. 176 op. 1 d. 69, 1868-1876, l. 49. 157 IRLI RO f. 101 d. 23, 1854-1872, l. 37. 158 IRLI RO f. 101 d. 24, 1867-1871, l. 66.
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empfangen wollte: Er konnte sein Lachen kaum zurückhalten, als sie ihn mit einem Lächeln auf den Lippen bemerkte.159 Doch Annuška spielte mit ihm, so wie er es mit Matrena (in anderen Texten verbarg Drožžin ihren Namen hinter dem Kürzel N.) nicht ernst meinte, die zur gleichen Zeit versuchte, Drožžin an sich zu binden. Sie warf ihm vor, ein steinernes Herz zu haben und flehte ihn an, Maša abzuschwören.160 Von Annuška wusste sie anscheinend nichts. Sie versprach Drožžin, auch noch als verheiratete Frau zu ihm zu kommen: »[…] mein Herz wird wie früher dir gehören und nur für dich schlagen.«161 Tränen vergoss sie, als Drožžin ihr offenbarte, dass er sie nicht heiraten würde. Die Worte, die er ihr gegenüber wählte, zeigen die Entfernung zwischen publizierter Autobiographie und unpubliziertem Text. Während die publizierte Autobiographie ein Werden für die Zukunft schilderte, verneinte Drožžin Matrena gegenüber diese Zukunftsbezogenheit: »Ich sagte ihr, dass ich nur im Heute lebe, nicht in der Zukunft.«162 Auch Matrenas Bräutigam, mit dem sie Drožžin eifersüchtig zu machen versuchte, lebte mehr im Hier und Jetzt. Im Dorf hatte er eine schwangere Geliebte sitzen und Matrena begann, ihren Kummer in Wodka zu ertränken.163 Anders als Drožžin fand sie kein anderes Ventil für ihr Seelenleid. So wie sich die unpublizierten Texte für die leidenschaftliche Liebe und für die Liebesheirat aussprachen, so propagierte die Autobiographie in der Russkaja Starina die Ehe als sorgende Verbundenheit. Während Drožžin in seinen unpublizierten Texten Annuška bat, ihrem Bräutigam den Laufpass zu geben, da sie ihn ja doch nicht liebe, heiratete er gleichfalls aus pragmatischen Erwägungen. Von »heißen Küssen« zwischen den Eheleuten berichtete Drožžin in der Russkaja Starina nicht; stattdessen erfreute sich das Ehepaar an russischen Volksliedern. Dass Drožžin seine geschlechtlichen Erfahrungen nicht einem größeren Lesepublikum präsentierte, ist nicht ungewöhnlich. Möglicherweise haben auch – dies lässt sich jedoch an den Quellen nicht belegen – die Redakteure eingegriffen und die Episoden aus Drožžins Liebesleben aus der Autobiographie entfernt. Sie passten nicht zu der Persona des Autodidakten und Bauerndichters, der keinen Versuchungen nachgab außer seinem Drang zur Literatur. Vor allem aber ziemte es sich nicht, öffentlich über sexuelle Adoleszenzerfahrungen zu sprechen. Ungewöhnlich für das gesamte Quellenkorpus bäuerlicher Autobiographik ist die Freimütigkeit, mit der Drožžin in den unpublizierten Texten seine amourösen Abenteuer beschrieb. Andere Bauern berichteten selbst in den Texten, die den Familienkreis
159 IRLI RO f. 101 d. 24, 1867-1871, l. 63. 160 IRLI RO f. 101 d. 23, 1854-1872, l. 30ob; IRLI RO f. 101 d. 24, 1867-1871, l. 38. 161 IRLI RO f. 101 d. 23, 1854-1872, l. 34. 162 IRLI RO f. 101 d. 24, 1867-1871, l. 38. 163 IRLI RO f. 101 d. 24, 1867-1871, l. 52.
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nicht verließen, kaum über Liebe und Sexualität.164 Drožžin, der viel las und in den hauptstädtischen Theatern Liebeskomödien und -tragödien anschaute, fand in seinen unpublizierten Texten die Worte, um seinen Gefühlen schriftlich nachzuspüren. Dies zeigt dreierlei: Die Bauernsöhne und Bauerntöchter, wie zum Beispiel Drožžins Freundinnen, nutzten die Freiheiten in der Stadt, um abseits elterlicher und dörflicher Aufsicht sexuelle Erfahrungen zu sammeln, ihre Lebenspartner fanden sie hingegen in den Metropolen nur selten. Zudem war die Abwesenheit von der Familie nötig, um auch darüber zu schreiben. Zum einen weil man sich unbeobachtet fühlen konnte, zum anderen weil das Gespräch mit der Familie sowie die ritualisierten Formen, Bräuche und Spiele fehlten, um sich über Partnersuche und sexuelle Erfahrungen auszutauschen. Drittens war sich Drožžin seiner Leser bewusst und unterschied genau zwischen dem, was ihren Augen angenehm und nützlich sein konnte und was er allein für sich vermerkte. Auch der Umgang mit Geld und Zeit erscheint in der publizierten Autobiographie geglättet. Während Drožžin in seiner Lebensgeschichte für die Russkaja Starina behauptete, alles Geld für Bücher ausgegeben zu haben, ist das Bild in seinen unpublizierten Texten bunter.165 In ihnen trug er sein Geld in die Hotels auf dem Nevskij Prospekt, um seine Freundinnen mit Tee zu bewirten, suchte Kurzweil im Theater und in Museen. Annuškas Gunst versuchte er sich zu sichern, indem er ihr Geschenke machte. Die vorbildliche Zeitökonomie, die seine publizierte Autobiographie bewarb, hielt er in seinen unpublizierten Texten nicht ein. Statt jede freie Minute mit Schreiben und Lesen zu verbringen, stand Drožžin mitunter erst zu Mittag auf, bisweilen verschlief er sogar die Messe.166 Während die publizierte Autobiographie die Klagen des Vaters als ungerecht und maßlos erscheinen ließ, erweisen sie sich als berechtigt, wenn die unpublizierten Texte zugrunde gelegt werden. Drožžin vergaß, vor allem wenn Frauen an seiner Seite waren, dass seine Familie auf dem Dorf auf seine Zuwendungen angewiesen war, dass sie Geld und Briefe erwartete. Die geschilderten Traumgesichte und Visionen erzeugen den größten Unterschied zwischen Drožžins autobiographischen Texten, die nicht für ein größeres Lesepublikum bestimmt waren, und dem publizierten Text in der Russkaja Starina. Träume und Visionen kamen in der unpublizierten bäuerlichen Autobiographik häufig vor. Sie gehörten seit dem 17. Jahrhundert zu der ersten Textgattung, in der
164 Eine Ausnahme bilden die Autobiographien und Briefe, die an Nikolaj Rubakin gerichtet waren. In ihnen berichteten einige Bauern auch von partnerschaftlichen Problemen. Die Offenheit basierte auf einem längeren, vertrauensbildenden Briefwechsel. Siehe Kap. 3.2. 165 Drožžin, Poơt-krest’janin Spiridon Drožžin v ego vospominanijach 1848-1884, 20. 166 RGALI f. 176 op. 1 d. 69, 1868-1876, l. 16.
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Bauern autobiographisch schrieben.167 Ihre Popularität speiste sich aus zwei Traditionssträngen: Erstens der hagiographischen Tradition, die Visionen als Gnadengaben deutete, zweitens aus den antiken Traumdeutungsbüchern und der lokalen mündlichen Traumdeutungstradition.168 Das Grundmuster der gedruckten Traumdeutungsbücher und der von Ethnographen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zusammengestellten Listen ist simpel. Es folgte dem Prinzip klarer Auflösbarkeit geträumter Symbole: So kündigte zum Beispiel eine im Traum erscheinende nackte Frau schlechte Nachrichten an.169 Traumdeutungsbücher erfreuten sich in der bäuerlichen Bevölkerung und den städtischen Unterschichten großer Beliebtheit, während sie unter den Bildungseliten des Zarenreichs als Aberglauben verpönt waren, bis die wissenschafts- und technikgläubige Sowjetunion sie gänzlich ächtete.170 Während in Drožžins publizierter Autobiographie Träume kaum vorkommen, schilderte er in den unpublizierten Texten häufig Traumgesichte, die deutlich an die Traumdeutungsbücher anknüpften. Mitunter ist sogar eine Psychologisierung der Träume erkennbar, wenn Drožžin sie als Ausdruck verdrängter Wünsche und Ängste deutete: Im Traum liefen zwei Jungen an ihm vorbei, wobei einer der beiden ein großes Messer in seiner Hose trug. Er fürchtete, die Burschen könnten ihn töten.171 Im Schlaf traf Drožžin auf den Schatten Alexander Puschkins, der ihm just in dem Moment erschien, als er sich in einer Kirche voll Tanz und Spiel wähnte.172 Ebenso verstörend war es für Drožžin, Ag. Iv. zu küssen, wobei er an dieser Stelle nicht verriet, für wen diese Abkürzung stand.173 Seine publizierte Autobiographie löst das Kürzel auf, ohne jedoch den Traum zu erwähnen. Agrafena Ivanovna war die Frau seines besten Freunds in Taschkent, der er das Schreiben beibrachte. Die Beziehung zu dem Paar war so gut, dass es Drožžin als Taufpaten für ihre erste Tochter in die Familie einband.174
167 Pigin, Videnija; Romodanovskaja, Rasskazy, 141. 168 Ausführlicher zu Visionsliteratur und der bäuerlichen Traumdeutung: Herzberg, Von der Vision. 169 Balov, Son i snovidenija, 210. 170 Wigzell, Reading Russian Fortunes, 11-30, 165-167. Mehr zu Traumaufzeichnungen in Selbstzeugnissen aus der Sowjetunion bei: Herzberg, Von der Vision; Paperno, Stories, 161-208. Siehe Kap. 4.1. 171 IRLI RO f. 101 d. 23, 1854-1872, l. 30. 172 Wenig später kehrte Puschkin in seinen Träumen wieder. Drožžin fragte ihn im Traum, ob er mit einer Rezension des Literaturkritikers Dmitrij Pisarev einverstanden sei. IRLI RO f. 101 d. 24, 1867-1871, l. 42ob, l. 52ob. 173 IRLI RO f. 101 d. 23, 1854-1872, l. 30; RGALI f. 176 op. 1 d. 70, 1872-1884, l. 33. 174 Drožžin, Poơt-krest’janin Spiridon Drožžin v ego vospominanijach 1848-1884, 48.
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In einem der wenigen Träume, die sich auch in seiner Autobiographie für die Russkaja Starina finden lassen, erschien Drožžin gleichfalls eine schöne Frau. Offen konnte er vermuten, wer sie sei. Sie sei wohl seine »arme, russische Muse«, eine Allegorie seiner Dichtung.175 Die Strategie, in seiner veröffentlichten Autobiographie die Hingezogenheit zu den Frauen in einen Bezug zur Dichtkunst zu setzen, kennen wir schon von seinem Sprechen über Maša. Eine profane Lust an Frauen und Träumen gestand Drožžin sich vor einem größeren Lesepublikum nicht zu. Sie hätte nicht den Erwartungen entsprochen, denen er sich ausgesetzt sah. Zu sehr widersprach die Zukunftsschau durch Träume dem Bild des aufgeklärten, strebsamen Bauern, das seine Autobiographie in der Russkaja Starina präsentierte. Lust und Hingabe waren mit den Idealen, die Narodniki wie der Herausgeber Michail Semevskij mit Drožžin verbanden, nicht vereinbar.176 Der selbsttätige Mensch war in Drožžins öffentlicher Darstellung kein Spielball seines Schicksals, dessen zukünftige Macht aus kleinsten Anzeichen heraus gelesen werden musste. Dank der Kraft seines Willens konnte selbst ein Bauer seine Zukunft gestalten. Er hing nicht metaphysischen Überlegungen, sondern dem positivistischen Denken eines Auguste Comte an, er kannte das Rezept für Erfolg und die Gesetze der Natur. Und dank seines Verstands und seiner Bildung wusste er sie für sich zu nutzen. Drožžin und seine Herausgeber verstärkten das Bild des werdenden Schriftstellers über Auslassungen. Situationen, die der Persona des dichtenden samouþka widersprachen, wurden übergangen. Müßiggang und zweifelhaftes Verhalten, abergläubige Träume, aber auch das orthodoxe Lesepublikum provozierende Besuche von Anatomiemuseen kamen in seiner publizierten Autobiographie einfach nicht vor.177 Dabei lassen die Kürzungen einige Episoden ins Leere laufen. Besonders deutlich wird dies an seiner Kindheitsschilderung, in der er nur kurz erwähnte, dass Ol’ga das Ideal seiner zukünftigen Braut gewesen sei. Ganz anders die unpublizierten Texte, in denen Ol’ga an verschiedenen Stellen immer wieder auftauchte: Drožžin vermerkte nicht nur ihren Tod im Herbst 1868, ja noch zwei Jahre nach ihrem Tod erschien ihm Ol’ga in einem Traum, in dem er sich mit ihr vermählte.178 Die Freundschaft zu dem Mädchen sei maßgeblich für die Ausbildung seines Charakters gewesen. Diese Episode gebe, wie er 1876 schreibt, ein »klareres Verständnis über meine Persönlichkeit (falls einmal mein Manuskript gedruckt wird zur Kenntnis der Leser)«.179 Möglicherweise hatten auch die Redakteure der Russkaja
175 Drožžin, Poơt-krest’janin Spiridon Drožžin v ego vospominanijach 1848-1884, 23. 176 Ausführlicher zu den Vorstellungen, die sich die Besitz- und Bildungseliten von den Bauern machten: Frierson, Peasant Icons. 177 IRLI RO f. 101 d. 23, 1854-1872. l. 14ob, l. 16; IRLI RO f. 101 d. 24, 1867-1871, l. 6. 178 IRLI RO f. 101 d. 24, 1867-1871, l. 62ob. 179 RGALI f. 176 op. 1 d. 70, 1872-1884, l. 35.
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Starina andere Vorstellungen, wie ›Persönlichkeit‹ entstehe, und kürzten diesen Handlungsstrang aus der Autobiographie heraus. Auch seine Jugendliebe und ›Muse‹ Maša durfte in den unpublizierten Texten wieder auftauchen, während die Narration der publizierten Autobiographie das Interesse an ihr verlor, nachdem sie Drožžin auf den Weg der Dichtung gebracht hatte. Die stark gealterte Maša besuchte Drožžin 1877 in seinem Geschäft, um ihm ihr Leid zu klagen. Ihr Mann sei gestorben und sie habe nun allein zwei kleine Kinder zu versorgen. In seinen unpublizierten Texten wünschte sich Drožžin, sie wiederzusehen, obgleich er schon verheiratet war: »Ich möchte sie (ungeachtet der Liebe zu meiner Frau) wie ein altes Gemälde anschauen, das je älter desto teurer für den wahren Liebhaber großer Kunst ist.«180 In seiner Autobiographie für die Russkaja Starina sprach Drožžin, nachdem er von seiner Heirat berichtet hatte, kein einziges Mal mehr von Begegnungen mit anderen Frauen. Geschichten, die vor 1917 nicht erzählt werden konnten, gelangten auch nach der politischen Wende nicht in die Neuauflagen seiner Autobiographie hinein. Die Leiden des jungen Drožžin passten auch in der Sowjetunion nicht in das Bild, das er sich selbst, Herausgeber und Leser von dem Bauernpoeten machten. Drožžin präsentierte sich nach 1917 als guter Bauer, Familienvater und Großvater. Dabei blieb die Praktik der Auslassung das wichtigste Werkzeug, um seine Autobiographie auch den Erwartungen in der Sowjetunion anzupassen, wobei neue Tabuisierungen hinzukamen. Während Drožžin in seinen unpublizierten Texten ausführlich die religiösen Bestattungsriten bei der Beerdigung seiner Frau beschrieb, fanden sie in der publizierten Version keinen Niederschlag.181 Das Ausmaß seines Verlusts lässt sich in der 1923 publizierten Autobiographie daran absehen, dass er den Tod seiner Frau als das Sterben seiner Muse beweinte. Wieder chiffrierte Drožžin seine Gefühle, indem er über Dichtkunst sprach. Die Kürzungen und Auslassungen erlaubten es ihm, seine Lebensgeschichte mehrfach zu veröffentlichen, ohne dass er sein Leben neu bewerten musste. Inwieweit sich seine Selbstdarstellungen in den publizierten Autobiographien zwischen 1884 bis 1930 veränderten, wird im nächsten Abschnitt untersucht. An dem Wandel lässt sich zeigen, dass sich auch die Erwartungen veränderten, mit denen seine Lebensgeschichte gelesen, aber auch anderen schreibenden Bauern und Arbeitern entgegengetreten wurde.
180 RGALI f. 176 op. 1 d. 70, 1872-1884, l. 43. 181 RGALI f. 176 op. 1 d. 80, 1913-1923, l. 33ob-34.
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1884-1915. Drožžin wird Bauer »Drožžin (Spiridon Dmitrieviþ) – Dichter-Bauer, geb. 1848 in armer Bauernfamilie im Kreis Tver’, gelernt beim Dorfgeistlichen, 1860 nach SPb [St. Petersburg] gebracht, wo er mehrere Jahre als Laufbursche in Wirtshäusern gearbeitet hat, trotzdem hat er Zeit erübrigt, um seine Bildung zu vervollständigen; sein gesamtes Leben hat er Not gelitten; zur Zeit wohnt er in seinem Heimatdorf, wo ihn nichts davon abhalten kann, Bauer zu sein. […]. Besonders seine frühen Gedichte sind dem Dorfleben gewidmet. D. zeigt Talent und Gefühlswärme. Charakteristische Merkmale seiner Dichtung sind Mut, der Glauben an die ›Welt des Ideals‹ und die Suche danach.«182 BROKGAUZ 1893
Drožžin konnte stolz auf sich sein! 1893 adelte ihn der russische Brokgauz mit einem Eintrag, er bekam Stipendien, um seiner Dichtkunst nachzugehen, seine Gedichte und die Autobiographien fanden ihre Leser. Seine 1884 erschienene Autobiographie hatte ihn und sein Werk bekannt gemacht. Andere Poeten aus den Unterschichten, die gleichfalls ihren dichterischen Ruhm durch Autobiographien zu festigen suchten, rekurrierten in ihren Lebensbeschreibungen auf Drožžin. Der Kleinbürger Ivan Nazarov, der 1900 dem Slawisten Aleksandr Jacimirskij nach dessen Schreibaufruf seine Autobiographie zusandte, stellte ihr ein Zitat Drožžins voran.183 Mit Leichtigkeit gelang es Drožžin seit den 1890er Jahren, Gedichte in Zeitschriften zu platzieren, siebenmal veröffentlichte er bis 1923 erweiterte Versionen seiner Autobiographie. Wie der Eintrag im Brokgauz zeigt, wurde Drožžin in dieser Zeit auf die Identität eines Bauern festgelegt: »Nichts könne ihn abhalten,« – so das Nachschlagewerk – »Bauer zu sein«. Und auch Drožžin selbst rekurrierte in seinen publizierten Autobiographien immer weniger auf die Persona des Autodidakten, der alle Möglichkeiten, welche insbesondere die Stadt ihm bot, für seine Bildung nutzte. Stattdessen wurde für Drožžin, seine Förderer und Leser wichtiger, dass er ein Kentaur aus Bauer und Poet war, der Pflug und Feder gleichermaßen zu führen wusste. Wie die ›Sklaven‹ und ›Konvertiten‹, so brachte auch Drožžin Zugehörigkeiten durch das Schreiben seiner Autobiographie zum Ausdruck. Mit seinen Lebensgeschichten bewies er, dass er zur Welt der Literatur und der Welt der Bauern in derselben Weise gehörte. Es lässt sich daher an Drožžin zeigen, wie er durch sei-
182 Drožžin, in: Brokgauz, Efron (Hrsg.), Ơnciklopediþeskij slovar’, T. 11, 182. 183 Nazarov (Slavjanskij), Avtobiografija, IRLI RO f. 193 d. 261, 1900-1901, l. 1. Im Exposé zu seinem Schreibaufruf hatte Jacimirskij Drožžin in einer Genealogie der »Naturtalente« verortet. An ihrem Ausgangspunkt stehe Michail Lomonosov, an ihrem Endpunkt würden, so Jacimirskij, Drožžin und Maksim Gor’kij erscheinen. Jacimirskij, Predpologaemyj plan, IRLI RO f. 193 d. 22, 1901, l. 1.
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ne Lebensgeschichte das Prädikat ›bäuerlich‹ in Anspruch nahm, und auch wer daran Interesse hatte, ihn, seine Gedichte und autobiographischen Texte als ›bäuerlich‹ zu klassifizieren. Drožžin gab sich größte Mühe, dem Bild eines Bauern zu entsprechen, auch wenn gerade die Bauern aus Nizovka daran zweifelten, dass der in der Stadt erwachsen gewordene Drožžin noch zu ihnen gehöre. Als er 1884 für kurze Zeit wieder einmal auf das Dorf und in seine Familie zurückkehrte, war für ihn kein Platz mehr. Sein jüngerer Bruder Ivan hatte in den Jahren seiner Abwesenheit fest die Stellung des Erstgeborenen eingenommen. Die Bauern des Dorfs feixten, als Drožžin sich im Pflügen erprobte, selbst sein Vater lachte mit, wie Drožžin in seiner Autobiographie klagte: »Gewiss, es plagt sie der Neid, gewiss, ich nehme ihnen irgendetwas weg.« Drožžin kontrastierte den Spott, den seine ›Pflügkünste‹ hervorriefen, mit der Befriedigung, die er bei der bäuerlichen Arbeit empfand. Sie wies ihn – so die Autobiographie – als »echten Bauern« aus.184 1896 gelang Drožžin die endgültige Rückkehr auf das Dorf. Nachdem er viele Jahre Abwegen gefolgt sei, sei er nun wieder dort, wohin er gehöre: »[…] am 4. [April 1896] war ich schon bei mir in Nizovka, wo ich nach langen Irrwegen über die weite Welt beschloss, bis zum Ende meiner Tage zu bleiben.«185 Drožžin nutzte hagiographische Schreibweisen, um seine Rückkehr zu beschreiben: Das gelebte Leben sei ein Irrweg gewesen, nach seiner Heimfahrt ins Dorf befinde sich der ›verlorene Sohn‹ wieder an dem Ort seiner Bestimmung. Drožžin zitierte jedoch das hagiographische Modell nur kurz an, das Leibeigene und Konvertiten in ihren Autobiographien deutlicher gebrauchten. Statt eine Wende zu präsentieren, die ihn schlagartig zu einem neuen Menschen machte, schilderte er seine Wohnortwahl als gewachsene, rationale Entscheidung. Sie sei bestimmt gewesen von ökonomischen Erwägungen, Familiensinn und der Sehnsucht nach Natur. Ausschlaggebend für diesen Schritt war die vom Vater und jüngeren Bruder erzwungene Haushaltsteilung. Sie brachte ihn zwar um eine Bleibe in seinem Elternhaus, ermöglichte es ihm aber, als sein eigener Herr in einer eigenen Hütte zu leben.186 Seine Entscheidung für das Dorf wurde – wie er mehrfach in seiner Autobiographie berichtete – von seinen Förderern sehr begrüßt. Schon vorher hatten sie ihm immer wieder Geld gegeben, damit er länger in Nizovka bleiben konnte.187 Lev Tolstoj, den Drožžin 1897 in Moskau besuchte, »freute sich«, als er von der Kehre
184 Drožžin, Žizn’ poơta-krest’janina S.D. Drožžin (1848-1905 gg.), 80-81. 185 Drožžin, Žizn’ poơta-krest’janina S.D. Drožžin (1848-1915 gg.), 96. 186 Drožžin, Žizn’ poơta-krest’janina S.D. Drožžin (1848-1915 gg.), 95. 187 Drožžin wandte sich mit einer Geldbitte an Michail Semevskij, um länger auf dem Dorf bleiben zu können. RGALI f. 176 op. 1 d. 196, 20.11.1886, l. 1ob.
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im Lebensweg erfuhr.188 Drožžin, der in seiner 1884 veröffentlichten Autobiographie noch die Kluft zwischen Sein und Herkunft betont hatte, stellte nach der Rückkehr auf das Dorf seine Nähe zur bäuerlichen Welt und der bäuerlichen Arbeit heraus. Drožžin überschrieb seine Gedichtbände als die Lieder eines alten Pflügers, seine Autobiographie als die Geschichte eines Bauern.189 Dies war auch eine Hommage an den ›Volksdichter‹ Aleksej Kol’cov, der eins seiner berühmtesten Gedichte Lied eines Pflügers genannt hatte. Mit dieser Huldigung stellte Drožžin sich in seine Nachfolge.190 Immer häufiger riefen ihn seine Leser, Förderer und Herausgeber als Bauern an, immer häufiger drehte Drožžin sich nach diesen Anrufungen um. Publikationserfolge, Preise und Auszeichnungen ließen sich damit gewinnen. Die Laudatoren begründeten ihre Entscheidung damit, dass Drožžin trotz der Güte seiner Dichtkunst ein echter russischer Ackerbauer sei, der auf dem Dorf lebe und hinter dem Pflug hergehe.191 Drožžin, der in seiner Autobiographie immer häufiger über sich schrieb, indem er ihm gezollte Ehrerweisungen zitierte, widersprach der Zeitschrift Severnyj Kraj nicht, die über seine 1898 erschienenen Gedichtbände Lieder eines Bauern und Jahr des Bauern urteilte: »Das Dorf erfreut sich der alleinigen Neigung des Dichters, obgleich er in ihm schlecht lebt. Die Stadt mit ihrer Fabrik-Sklaverei scheint der bekannte Poet aufgrund seiner Erfahrung nicht zu lieben.«192 Und immer häufiger verschwiegen die Zeitschriften, deren Beurteilungen Drožžin in seiner Autobiographie wiedergab, seine Erfahrungen in der Stadt. Drožžins Leben bestehe aus Feldarbeit und Verskunst. Er sei ein Ackerbauer (krest’janin-pachar), der das Dorf nicht verlassen habe, der ihm bis ins Grab treu bleiben würde.193 Dieser Ruf reichte bis ins Deutsche Kaiserreich. Die Schriftstellerin Lou Andreas-Salomé und ihr Geliebter, der junge Dichter Rainer Maria Rilke, besuchten Drožžin in Nizovka, weil er ihrem Bild eines russischen ›Idealbauern‹ glich, weil er für all die Hoffnungen stand, die sie in Russland setzten: »Jetzt sind wir bei dem lieben Spiridon Dim. im Dorfe Nizovka und fühlen uns in seiner großen Gastfreundschaft sehr wohl. […]
188 Drožžin, Žizn’ poơta-krest’janina S.D. Drožžin (1848-1915 gg.), 96. 189 Vgl. die im Verlag Posrednik sowie bei Ivan Sytin und Ivan Kušnerev Ende der 1890er und 1910er Jahre erschienenen Gedichtbände Drožžins: Drožžin, God krest’janina; Drožžin, Pesni krest’janina; Drožžin, Pesni starago pacharja. 190 Waegemans, Geschichte der Russischen Literatur, 109. 191 1901 unterstützte ihn die Akademie der Wissenschaften mit 180 Rubeln, 1910 erhielt er die Prämie der Akademie der Wissenschaften, 1915 bekam er den Puschkinpreis für die Lieder eines alten Pflügers. IRLI RO f. 101 d. 30, 1910-1915, l. 5. 192 Drožžin, Žizn’ poơta-krest’janina S.D. Drožžin (1848-1915 gg.), 97. 193 Drožžin zitierte Artikel aus der Zeitung Birževye Vedomosti: Drožžin, Žizn’ poơtakrest’janina S.D. Drožžin (1848-1915 gg.), 105-106, 110.
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Mit diesen Tagen tun wir einen großen Schritt auf das Herz Russlands zu, nach dessen Schlägen wir schon lange hinhorchen im Gefühl, dass dort die richtigen Taktmaße sind auch für unser Leben.«194 Wie sehr Drožžin der Persona eines dichtenden Bauern zu entsprechen versuchte, zeigen auch die Fotografien, die seine publizierten Autobiographien und Einträge über ihn in Literaturlexika schmückten.195 Während andere ›Dichter aus dem Volke‹ ihren Erfolg und sozialen Aufstieg damit anzeigten, dass sie sich in städtischer Kleidung – in Jackett, Hemd, mitunter gar Krawatte abbilden ließen – lichtete sich Drožžin mit einer gefütterten Jacke und Fellmütze ab, die ihn auch äußerlich als Bauern auswiesen.196 Stolz schrieb er in seiner Autobiographie, dass auch die Bauern Nizovkas in ihm bald einen der ihren erkannten. Der ehemalige Nichtsnutz, der so sehr der landwirtschaftlichen Arbeit entwöhnt gewesen war, dass er beim Pflügen Blasen an den Händen bekam, wurde nicht mehr verlacht. Pflug und Federkiel schlossen sich – so schildert es die Autobiographie – selbst in der Wahrnehmung der Bauern von Nizovka nicht mehr aus. Schon 1900 war er im Dorf so anerkannt, dass sie ihn zum Dorfältesten wählten. Ob sein externes, gerade nicht durch landwirtschaftliche Arbeit erworbenes Prestige die Wahl beeinflusst hat, darüber schwieg Drožžin sich aus.
194 Rilke hatte von Russland, vor allem von der russischen Kunst, eine sehr idealisierte Vorstellung, die den Annahmen der Slavophilen ähnelte. Russland war für Rilke das Land seiner Sehnsucht, dessen gute Eigenschaften er bei den russischen Bauern am deutlichsten zu finden meinte. Er hegte sogar den Wunsch, nach Russland zu ziehen. Drožžin, dessen Gedichte er teilweise ins Deutsche übersetzte, war für Rilke die Verkörperung des russischen Künstlermenschen. Rilke, Brief an Sofja N. Schill [10. Juli 1900], 172-173. Eine Sammlung von Selbstzeugnissen gibt einen guten Einblick in Rilkes Beziehung zu Russland. Asadowski (Hrsg.), Rilke und Russland. Siehe auch den Reisebericht von Rilkes Reisegefährtin sowie die Ausgabe des Marbacher Magazins, die seiner Russlandreise gewidmet ist: Andreas-Salomé, »Russland mit Rainer«, 105111; Storck, Rainer Maria Rilke in Jasnaja Poljana. Drožžins Erinnerungen an Rilke erschienen 1929 in der deutschen Zeitschrift Das Inselschiff: Droshshin, Der Dichter Rainer Maria Rilke. 195 Eine Ausnahme ist die Autobiographie aus dem Jahr 1915, in der Drožžin mit sorgsamer Bartfrisur und Anzug abgebildet ist. Diese Fotografie ließ er nach seiner Audienz beim Großfürsten von sich machen. In seiner Autobiographie schildert er die Entstehung des Bilds: Drožžin, Žizn’ poơta-krest’janina S.D. Drožžin (1848-1915 gg.), 113. 196 Drožžin und Gor’kij sind die einzigen, die sich beispielsweise in dem Literaturlexikon Ignatovs nicht in städtischer Kleidung ablichten ließen. Ignatov (Hrsg.), Gallereja russkich pisatelej, 373, 579.
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Aus dieser Versöhnung zwischen Stadt und Land speisen sich die drei wesentlichen Gründe, die es Drožžin ermöglichten, seine Autobiographie zwischen 1884 und 1923 mehrfach zu publizieren. Der erste Grund sei nur kurz wiederholt, ich habe ihn zu Beginn der Studie detailliert ausgeführt. Drožžins Autobiographien wurden in einer Zeit veröffentlicht, in der die Gewissheit schwand, mithilfe von Essays und fiktionalen Texten vertrauenswürdige Informationen über die Bauernschaft gewinnen zu können. Abhandlungen, die das Leben auf dem Land und in den Fabriken aus sicherer Entfernung beschrieben, wurden seit den 1880er Jahren von Texten und Methoden abgelöst, die Bauern selbst zu Wort kommen ließen. Aufmerksamkeit für bäuerliche Autobiographik, Korrespondenten im Dorf sowie Programme, die auf Fragebögen fußten, waren die Folgen dieses Wandels.197 Beobachtungen über die Bauernschaft sowie ihre Texte galten als Gegenarchive zu anderen Ansichten über diesen Stand, als Mittel, um Kritik an den herrschenden Zuständen zu üben. Auch den zweiten Grund für Drožžins Erfolg und wiederholte Auflage habe ich oben erwähnt: Die narrative Struktur seiner Lebensgeschichte erlaubte es ihm, seine Autobiographie als Fortsetzungsgeschichte zu erzählen. Anders als die Konvertiten und auch die Leibeigenen, für die es nach der Rückkehr in den angeblich natürlichen Zustand – orthodoxe Kirche oder Freiheit – nichts mehr zu erzählen gab, führte Drožžin seine Autobiographie weiter. Die Rückkehr auf das Dorf war nur ein Markstein in einer offenen Entwicklung. Mit jedem vergangenen Tag gab es neuen Erzählstoff. Die hybride Form der Autobiographie unterstützte diese Narration: Immer wieder lösten kurzatmige, nach Tagen gegliederte Abschnitte aus dem Tagebuch längere erzählende Passagen ab. Der wesentliche Grund für die mehrfache Publikation von Drožžins Lebensgeschichte lag aber in den Hoffnungen, die im ausgehenden Zarenreich in die Bauernschaft gesetzt wurden. Sein Erfolg hatte stark mit seinem Status als Bauer zu tun, auf den er zunehmend bestand und den ihm seine Förderer und Herausgeber zuwiesen. Drožžins Leben war vor allem für jene interessant, die den narod als die Grundlage ihrer Hoffnungen ansahen, die durch das Volk nicht nur die Literatur, sondern das ganze Land belebt wissen wollten.198 Drožžins Autobiographie verhieß die Lösung des populistischen Dilemmas. Narodniki wie Michail Semevskij, die mit ihm korrespondierten, hatten kein Interesse, die Nachteile des Dorfs zu verschweigen. Sie wollten aber auch die Bauern nicht ermutigen, das Dorf zu verlassen und ihr Glück in der Stadt und in den Fabriken zu suchen. So wie ein Fisch nur im Wasser schwimmen kann, so könne auch ein Bauer nur auf dem Lande glücklich
197 Frierson, Peasant Icons, 6, 183, 192-193. 198 Einflussreiche Personen wie Lev Tolstoj oder Vissarion Belinskij glaubten, dass gute Literatur volkstümlich zu sein habe. Ihnen galt die Sprache der Bauern auch als Vorbild für das eigene Schreiben. Tolstoj, Wer soll bei wem schreiben lernen, 35.
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leben und dichten.199 Drožžins Autobiographie war für seine Förderer als Gegenentwurf zur sozialen Mobilität durch Urbanisierung besonders lesenswert und didaktisch wertvoll. Sie konnte die Utopie einer Modernisierung Russlands durch das Dorf und auf dem Land illustrieren.200 Seine (Auto-)Biographie und seine Gedichte wurden daher in Publikationen veröffentlicht, die sich ausdrücklich an Kinder und Schüler wandten.201 Anders als die populäre Literatur, die wundersame Aufstiegsgeschichten präsentierte, legte Drožžins Autobiographie dem Leser nahe, sich mit den äußeren Umständen des Seins – Stand, Klasse und Herkunft – auszusöhnen, sich aber mit der inneren Gestalt der Welt nicht abzufinden. Die Veränderung der Welt beginne nicht mit Bomben und Gewalt, sondern bei sich selbst. Russlands Rückständigkeit ließe sich, so das Versprechen, das Drožžins Autobiographie und Gedichte gaben, auch auf dem Dorf abstreifen. Seine Lebensbeschreibung fand wiederholt Anklang und wurde mehrfach publiziert, da sie biographischen Erfolg mit Gemeinwohlvorstellungen anstatt mit ökonomischem Reichtum verband, wie es Kopekenhefte, aber auch Ratgeber wie Selbstbildung als Weg zum Reichtum mit Vorliebe taten. Drožžin setzte – so die Autobiographien – seine Kenntnisse für die Dorfgemeinschaft ein.202 Er wurde nicht müde, zu betonen, was er für Nizovka und seine Nachbarn geleistet habe. Dank ihm gebe es im Dorf eine Bibliothek und eine Schule, dank seines Vorbilds lernten die Kinder mit Begeisterung: »Im gegenwärtigen Jahr 1900 haben sie mich zum Dorfältesten gewählt und ich werde alles tun, was in meiner Kraft und meinem Können steht, um dem Heimatdorf zu dienen.«203 Drožžins Autobiographie, die Kommentare zu ihr und Drožžins Person waren von dem Glauben getragen, dass jeder sein Leben durch Eigeninitiative, Anstrengung und die rechte Nutzung eigenen Talents verändern und verbessern könne. Die
199 Ausführlich zum Dorf als Sehnsuchtsort populistischer Ideen: Stites, Revolutionary Dreams, 24-30. 200 Siehe das Dissertationsprojekt von Katja Bruisch Auf der Suche nach der ländlichen Moderne. Agrarismus und wissenschaftliche Expertenkultur im ausgehenden Zarenreich und der frühen Sowjetunion, das die Verwissenschaftlichung dieser Ideen durch den Agrarismus nachzeichnet. 201 Die Autobiographien, die 1905 und 1915 erschienen, waren explizit für Kinder und den Schulgebrauch gedacht. Ihr Preis war daher besonders niedrig. Drožžins Autobiographie kostete nur 45 Kopeken. Drožžin, Žizn’ poơta-krest’janina S.D. Drožžin (18481905 gg.); Drožžin, Žizn’ poơta-krest’janina S.D. Drožžin (1848-1915 gg.). 202 Buchtitel aus dem Jahr 1908, siehe: Kelly, Refining Russia, 170. 203 Zitat: Drožžin, Žizn’ poơta-krest’janina S.D. Drožžin (1848-1900 gg.), 120; Drožžin, Žizn’ poơta-krest’janina S.D. Drožžin (1848-1905 gg.), 98; Drožžin, Žizn’ poơtakrest’janina S.D. Drožžin (1848-1915 gg.), 115.
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wichtigsten Instrumente, sich und seine Lebenswelt umzugestalten, seien Bücher, Feder und Papier. Drožžin gewann in den 1890er Jahren als dichtender Bauer Popularität, in einer Zeit, in der sich die Grenzen zwischen Stadt und Dorf aufzulösen begannen, es immer weniger klar schien, was es hieß, ein Bauer zu sein. Seine Erfolge liegen zudem in einer Zeit, in der Autoren aus dem Arbeitermilieu immer sichtbarer wurden und die Fremd- und Selbstbezeichnung als Arbeiterpoet an Prestige gewann. Sozialgeschichtlich waren die Unterschiede zwischen Arbeiter- und Bauernpoeten gering, häufig glichen sich ihre Biographien. Nur die Art und Weise, wie und warum Aufmerksamkeit erregt und gespendet werden sollte, unterschied sich. Obgleich die Arbeiterschriftsteller seit den 1870er Jahren gefördert wurden, erfreuten sie sich erst nach 1900, vor allem nach 1905, immer größerer Aufmerksamkeit.204 Das Interesse für dichtende Arbeiterpoeten, Barfüßler (bosjaki) und Landstreicher (oborvancy), die sich die Gebildeten und Reichen gern in ihre Salons einluden, ging mit dem schlechten Gewissen einher, den Bauern zu vernachlässigen.205 Drožžin konnte dieses schlechte Gewissen besänftigen. Drožžin, der in seiner publizierten Autobiographie über Gefühle oft nur sprach, indem er sie in ihren Auswirkungen auf seine Dichtkunst deklarierte, zeichnete die Stadt als düsteren Ort, der ihm alle Kräfte geraubt habe und für seine Dichtkunst wenig fruchtbringend gewesen sei. Wie eine Vielzahl von Arbeiterpoeten bewarb er das Dorf als Sehnsuchtsort, mit dem sich der harte, schmutzige Alltag in Fabrik und Stadt anprangern ließ.206 Dass er den Weg zum Dichter wahrscheinlich nicht genommen hätte, wenn er in den Petersburger Jahren nicht Bücher, Theater, andere Schriftsteller und Herausgeber kennen gelernt hätte, floss in seinen Rückblick nicht ein. Drožžin und seine Förderer waren bei der biographischen Sinngebung seines Lebens der gleichen Meinung. Die Stadt galt ihnen – auch im Sprechen über andere ›Dichter aus dem Volke‹ – als Fessel bäuerlicher Dichtkunst.207 Vor allem nachdem die Konflikte mit dem Vater verebbt waren, zeichnete Drožžin eine harmonische Sicht auf das Dorf und die bäuerliche Arbeit. Aufgrund dieses Aspekts tragen die publizierten Autobiographien paradoxe Züge: Einerseits verkörperte Drožžins biographischer Erfolg die Vorzüge der modernen Welt. Bildung und Eigeninitiative verhießen Wertschätzung und Aufstieg. Andererseits stehen seine Lebensgeschichten sowie die Kommentare und Ansichten, die sie auf sich zogen, für ein tiefes Misstrauen gegenüber der Moderne, die mit
204 Steinberg, Proletarian Imagination, 16. 205 Katzer, Maksim Górkijs Weg, 119-120. 206 Steinberg, Proletarian Imagination, 169. 207 Der Volksaufklärer Nikolaj Rubakin präsentierte 1898 auf die gleiche Weise das Leben Ivanovs, der, so Rubakin, sein dichterisches Talent der Fabrikarbeit in der Stadt geopfert habe. Rubakin, ýitateli-pisateli-samouþki, 154.
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Vermassung, Ausbeutung und fehlender Moralität assoziiert wurde.208 Letztendlich war auch seine Autobiographie ein Instrument, das den einzelnen wieder an seinen Platz in der sozialen Ordnung zurückverwies. Auch wenn Drožžin mit und in seiner Autobiographie dem Sein eines Bauern diskursiv zu entfliehen versuchte, gelang es ihm nicht, die Identität eines Bauern abzustreifen und allein als Dichter aufzutreten. Nur indem er – durch alle autobiographischen Wandlungen hindurch – die Kategorie ›Bauer‹ in Anspruch nahm, konnte er als Dichter auftreten. Drožžin und seine Herausgeber legten mit seiner Autobiographie die Schwachstellen der gesellschaftlichen und sozialen Ordnung bloß, griffen sie jedoch in ihren Grundfesten nicht an. Dieser Hang zur Harmonie wurde ihm, seinem Ansehen und seiner Autobiographie in der Sowjetunion schließlich zum Verhängnis. 1923-1925. Drožžin und die frühe Sowjetunion »Es kommt eine Zeit – sie ist nicht mehr weit weg –, da wird uns die Heimat nicht Autodidakten schenken, sondern mächtige Führer des Volks. Und sie werden von dort kommen, woher die bescheidenen Poeten kamen, über die ich erzählt habe.«209 Der Publizist Konstantin Chrenov, der 1910 sein Buch über Drožžin und andere Schriftsteller aus der Bauernschaft und dem Arbeitermilieu veröffentlichte, blickte prophezeiend in die Zukunft. Nicht das Wort allein sollte die nächste Generation beherrschen. Ging Drožžin auf diese Sehnsüchte ein? Konnte er, nachdem 1917 die Gegensätze zwischen oben und unten explodiert waren, seine harmonische Sicht auf das Dorf auch in die Sowjetunion tragen? Wie musste er sein Leben präsentieren, um nach dem gesellschaftlichen Umbruch weiterhin Leser zu finden? Und was verrät die Bewunderung und Anerkennung, die er in der Sowjetunion hervorrief, über ihn und seine Bewunderer? Drožžin konnte nach der Oktoberrevolution seine Autobiographie noch dreimal veröffentlichen. 1923 erschien sie in einer ausführlichen Version von 80 Seiten, zwei Jahre später als fünfseitige Kurzfassung in einem Sammelband über Arbeiter- und Bauernpoeten, den der Schriftsteller Pavel Zavolokin zusammengestellt hatte. In seinem Todesjahr 1930 wurde ein Ausschnitt seiner Lebensgeschichte bis 1881 zudem in einer Anthologie zur Bauernliteratur veröffentlicht. Ein Vergleich der vor der Revolution entstandenen Autobiographien
208 Vgl. die Laudatio des Großfürsten Konstantin Konstantinoviþ, der in Drožžin einen Gegenpol zu Dekadenz und verwerflicher Moderne sah. Drožžin, Žizn’ poơta-krest’janina S.D. Drožžin (1848-1915 gg.), 114. 209 Chrenov, Skromnye talanty, 32.
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mit den nach 1917 erschienenen Texten vermag Kontinuitäten und Brüche in der Selbst- und Fremddarstellung aufzuzeigen.210 Um es vorwegzunehmen: Drožžin gelang es, seine Autobiographien zu veröffentlichen, ohne sein Leben neu zu bewerten. Er stilisierte sich weder zum sozialistischen Helden und ersehnten Führer noch zum Opfer der dunklen Zarenzeit. Auch in der Anordnung seiner Lebensgeschichte und den Deutungen, die er ihr gab, sind keine großen Veränderungen ersichtlich. Drožžin präsentierte sich weiterhin als Autodidakt und Naturtalent, für seine zweite Lebenshälfte als Bauer, der Pflug und Dichtkunst miteinander verband. Allein durch Weglassungen, kleinere Hinzufügungen und geringe Verschiebungen in der Deutung passten Drožžin und seine Herausgeber die Lebensgeschichte an die neue politische Wirklichkeit an. Anhand von drei Episoden, die auf unterschiedliche Weise in seinen Autobiographien erzählt werden, möchte ich die Anpassungen sichtbar machen. Am stärksten haben Drožžin und seine Herausgeber den Anfang seiner Lebensgeschichte bearbeitet. Seine Autobiographie für die Russkaja Starina begann er – wie schon zu Beginn des Unterkapitels ausgeführt – damit, dass er nicht über sich sprach, sondern die Merkdaten zu Nizovkas unspektakulärer Geschichte vermeldete. Erst danach begann er, den Werdegang seiner leibeigenen Eltern zu erzählen. Anders als in den autobiographischen Texten Bobkovs und Purlevskijs bewertete Drožžin die Leibeigenschaft jedoch nicht.211 In der letzten Publikation seiner Lebensgeschichte im Zarenreich 1915 präsentierte sich Drožžin hingegen als Christ aus frommer Familie. Diese Sicht kam dem Herausgeber, dem Ministerium für Volksaufklärung, besonders entgegen, das Drožžins Autobiographie als Schullektüre für günstige 45 Kopeken erneut auflegte.212 Während er 1884 seine Autobiographie begonnen hatte, ohne sich als den Hauptakteur seiner Erzählung zu nennen, setzte er 1915 ein, indem er das Dorf Nizovka gleich in Bezug zu seiner Person brachte: »Nizovka, wo ich geboren bin und meine Kindheit verbracht habe […].«213 Eine ausführliche Genealogie der Familie, die bis zu seinem Ururgroßvater zurückreichte, bewies die Religiosität der Familie. Sein Ahn sei so fromm gewesen, dass er »Jerusalemer Großvater« genannt worden sei. Er habe seinen Söhnen die Liebe
210 Drožžin, Avtobiografija s priloženiem; Zavolokin (Hrsg.), Sovremennye raboþekrest’janskie poety, 132-136; Drožžin, Avtobiografija, in: Antologija krest’janskoj literatury, 95-99. 211 Drožžin, Poơt-krest’janin Spiridon Drožžin v ego vospominanijach 1848-1884, 2-3. 212 Diese Autobiographie stimmt mit der Autobiographie aus dem Jahr 1905 weitgehend überein. Sie wurde lediglich um die weiteren Jahre ergänzt. Drožžin, Žizn’ poơtakrest’janina S.D. Drožžin (1848-1905 gg.); Drožžin, Žizn’ poơta-krest’janina S.D. Drožžin (1848-1915 gg.). 213 Drožžin, Žizn’ poơta-krest’janina S.D. Drožžin (1848-1915 gg.), 7.
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zum Gotteswort, zum Lesen und Schreiben gelehrt; die Schriftkundigkeit in der Familie sei bis Drožžin nicht abgebrochen. Der Haushalt der Drožžins sei wohlhabend gewesen. Nur kurz und erneut ohne Wertung erwähnt er auch hier, dass seine Familie Leibeigene gewesen seien. Der Einstieg seiner 1923 und 1930 veröffentlichten Publikationen ist vollkommen anders. Er unterscheidet sich durch seine Formelhaftigkeit. Der erste Satz erinnert an die Autobiographien, wie sie in den 1920er Jahren in der Krest’janskaja Gazeta erschienen, oder an denjenigen, mit dem Studenten ihre Lebensläufe einleiteten, die sie beim Eintritt in die Universität abzugeben hatten: »Geboren wurde ich in einer sehr armen Bauernfamilie am 6. Dezember 1848.«214 Schon im ersten Satz beantwortete Drožžin alle möglichen Fragen nach seiner sozialen Herkunft, Klassenstatus und der verfemten Nähe zu reichen Bauernfamilien, den sogenannten ›Kulaken‹. Die Genealogie ist stark verkürzt, allein dass sich seine Vorfahren von den anderen Bauern durch ihre Schreibkundigkeit unterschieden hätten, führt er hier an. Die Religiosität und die eigenen Kirchbesuche werden – wie in der Version für die Russkaja Starina – erwähnt, sie bestimmen aber anders als in der Schullektüre von 1915 nicht die Handlung. Dass seine Eltern Leibeigene gewesen waren, verschwieg er, obgleich das Erleben der Leibeigenschaft im Sprechen über Drožžin in der frühen Sowjetunion immer wichtiger wurde. Unvermittelt und anders als in seinen bisherigen autobiographischen Texten ist jedoch geschrieben, dass die Bauernbefreiung am 19. Februar 1861 insofern spürbar gewesen sei, als sich die Gäste des Hotels noch maßloser als sonst der Zecherei hingegeben hätten.215 Die Korrekturen auf den Manuskriptseiten sprechen dafür, dass Drožžin nicht der Autor dieser Episode ist.216 Ebenso fremd ist eine zweite Begebenheit, die sich bisher in keiner seiner bis 1923 erschienen Autobiographien fand. Drožžin präsentierte sich in ihr als Zeuge einer brutalen Staatsmacht. In den 1860er Jahren habe er an der Fontanka Kolonnen von Gefangenen gesehen, »unter denen vielleicht einige unserer großen Schriftsteller gewesen sind«.217 Auch mit seiner Autobiographie ließ sich mit dem überwundenen Herrschaftssystem abrechnen. Wer jedoch alte Rechnungen beglich – Drožžin oder die Herausgeber – muss wegen der fehlenden Manuskriptseiten unklar bleiben. In der Autobiographie, die Drožžin 1925 in dem Sammelband Zavolokins veröffentlichte, ist wieder klar genannt, dass er ursprünglich ein Leibeigener gewesen war.218 Dies wirkt schon allein durch die Kürze des Texts prägnant, durch
214 Drožžin, Avtobiografija s priloženiem, 8; Drožžin, Avtobiografija, in: Antologija krest’janskoj literatury, 95; Koznova, XX vek, 53, 91. 215 Drožžin, Avtobiografija s priloženiem, 12. 216 IRLI RO f. 101 d. 17, 1884-1923, l. 84. 217 Drožžin, Avtobiografija s priloženiem, 12. 218 Zavolokin (Hrsg.), Sovremennye raboþe-krest’janskie poety, 132.
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die auch andere Passagen mehr Bedeutung gewinnen: Zum Dienen sei er nicht geboren, dem Fürsten Obolenskij habe er sofort gekündigt, als dieser ihn zum Lakai machen wollte.219 Was zeigen diese unterschiedlichen Anfänge von Drožžins Autobiographie? Erstens eine Verschiebung hin zu seiner Person. Immer deutlicher nennt er sich schon zu Beginn seiner Autobiographie als ihr wichtigster Akteur. Die Bedingungen, die sein Handeln prägten, sah Drožžin immer weniger in der Beschaffenheit seines Herkunftsorts, sondern in den sozialen Beziehungen, in denen er und seine Familie standen. Sowohl im Zarenreich als auch in der Sowjetunion schrieb Drožžin über seine eigene Religiosität, passte jedoch die Intensität seinem Publikum an. Den Lesern der Russkaja Starina und seiner Leserschaft in der Sowjetunion präsentierte er sich vor allem als jemand, der einem säkularen Menschenbild entsprach: Er kenne die Gesetze der Natur und wisse sie für sich zu nutzen. Ähnlich verhielt es sich auch mit der Armut auf dem Dorf, über die Drožžin gleichfalls mehr in der Russkaja Starina und den sowjetischen Autobiographien berichtete. Seine Leser konnten sie als Sozialkritik oder als Abrechnung mit der überwundenen Zeit verstehen. Die Episode, die die Audienz beim Großfürsten Konstantin Konstantinoviþ 1912 schildert, bestätigte dieses Bild. 1915, in der Schulpublikation, wurden auch mit Drožžins Autobiographie die Säulen der offiziellen Pädagogik im Zarenreich zementiert: Orthodoxie, Autokratie und Volkstum.220 Minutiös gab Drožžin den Empfang beim Großfürsten wieder, dem er schon lange für eine Rezension danken wollte, die ihm eine großzügige Prämie der Akademie der Wissenschaften eingebracht hatte. Drožžin beschrieb für die Schulausgabe den Ablauf des Besuchs detailliert: das Äußere des Palasts, die Prozeduren beim Einlass, den Gehrock, den er sich hatte borgen müssen. Er gab auch den genauen Titel an, mit dem ein Großfürst anzusprechen sei. Das erhabene Gefühl, welches er im Palast empfand, wurde jedoch ruiniert, als Drožžin aus dem Inneren des Gebäudes einen Betrunkenen auf den Steinstufen des Ufers erblickte: »[D]urch ihn war irgendwie sofort meine festliche Stimmung zerstört«, denn Drožžin erinnerte sich, wie er selbst in St. Petersburg ohne ein Dach über dem Kopf hatte leben müssen.221 Doch das Symbol biographischen Misserfolgs wurde aus seinem Blickfeld entfernt und die Audienz konnte beginnen. Sie war geeignet, die Verbundenheit der Autokratie mit dem ›einfachen Volk‹ zu versinnbildlichen, sie zeugte von gegenseitigem Respekt. Der Großfürst
219 Zavolokin (Hrsg.), Sovremennye raboþe-krest’janskie poety, 132-133. 220 Diese Trias galt als das Ideal des offiziellen Russentums. Sergej Uvarov, Minister für Volksaufklärung, hat sie 1832 in einem Bericht über die Revision der Universität Moskau erstmalig geprägt. 221 Drožžin, Žizn’ poơta-krest’janina S.D. Drožžin (1848-1915 gg.), 112.
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warf Drožžin nicht nur einen »zärtlichen Blick« zu, mehrfach gab er ihm die Hand, schließlich küsste er ihn zum Abschied auf die Wangen.222 Beseelt verließ Drožžin den Marmorpalast. Sein erster Weg führte ihn in die Erlöserkirche, die auf dem Blut des Zaren Alexander II. errichtet worden war. Der Symbolgehalt dieses Bilds ist enorm: Die Kirche galt unter ehemaligen Leibeigenen als das Golgatha des ›Befreier-Zaren‹, als Ort, an dem der Bauernbefreiung gedacht werden konnte.223 Sie war ein Symbol dafür, dass Leibeigenschaft und gesetzliche Ungleichheit nun der Vergangenheit angehörten. Zwischen dem narod, dem Volk, und der Autokratie gebe es, das bekundet das Gebet Drožžins in der Kirche, keinerlei Risse, sondern nur dankbare Verbundenheit. Drožžin wollte den denkwürdigen Tag auch bildlich festhalten. Er ging zu einem Fotografen, um sich in jenem Aufzug ablichten zu lassen, in dem er dem Großfürsten entgegengetreten war. Auch in der sowjetischen Ausgabe von 1923 berichtete Drožžin von seinem Treffen mit dem Großfürsten. Dieses Mal war es wesentlich kürzer geschildert, doch gleichfalls als positives Ereignis beschrieben. Anders als acht Jahre zuvor fanden sich jedoch keine symbolischen Elemente, die seine Verbundenheit mit der Autokratie anzeigen. Im Gegenteil: Statt wie 1915 des Großfürsten vollen Titel anzuführen, gab Drožžin an, nicht diesen sehen zu wollen. Anstelle des Großfürstens wollte er in dieser Version dem Dichter K. R. für seine Rezension danken, welche die Rubel der Akademie der Wissenschaften nach Nizovka rollen ließ. Unter dem Pseudonym K. R. veröffentlichte der Großfürst Konstantin Romanov seine Gedichte, die auch in Bauernhütten und Fabriken gelesen wurden.224 Auch 1923 verließ Drožžin fröhlich den Marmorpalast, jedoch berichtete er weder über seinen Abstecher zum ›Befreier-Zaren‹ noch über den zum Fotografen. Als gestrig galt 1923 der Respekt vor der Autokratie und vor marmornen Palästen. Was auffällt: Drožžin musste nur etwas kürzen, um seine Autobiographie den neuen Erfordernissen anzupassen. Erkaufte sich Drožžin die Anerkennung, die er als Bauernpoet auf sich zog, dadurch, dass er sich für die Zeit nach der Revolution klar auf die Seite der Bol’ševiki schlug? Nein. Nicht einmal in seiner publizierten Autobiographie trug er speichelleckerische Loyalität zur Schau, obgleich er sie in einigen Punkten neuen Ansprüchen anpasste. Am auffälligsten unter den Neuerungen: Auch Drožžin gebrauchte
222 Drožžin, Žizn’ poơta-krest’janina S.D. Drožžin (1848-1915 gg.), 113. 223 Siehe beispielhaft den Zeitungsartikel des ehemaligen Leibeigenen Fedor Bobkov, in dem er sich für die Errichtung einer Kirche für den »Befreier-Zaren« einsetzte. [Bobkov], Iz Likavy, 3. 224 Ožegov, der gleichfalls dichtete und aus einer Bauernfamilie stammte, suchte ebenfalls die Nähe zum Großfürsten Konstantin. RGB f. 358 260.20, 15. März 1896, l. 24-29ob.
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seit dem 6./18. Dezember 1918 den neuen Kalenderstil.225 Die Oktoberrevolution, die in den an die Krest’janskaja Gazeta übersandten Autobiographien häufig zwischen Licht und Finsternis schied, war bei Drožžin aber nicht das Tor zum Licht. Anders als die Februarrevolution 1917 brachte sie ihm keine Freude und Hoffnung: »Die Volksrevolution hat zu Anfang meine Muse geweckt und ich habe viele neue und muntere Lieder geschrieben. […] Heute, angesichts des Volkselends, hat sich meine Muse beruhigt.«226 Große Sorgen brachen 1918 über Drožžin hinein, der für die bäuerliche Arbeit schon zu alt war und dessen Haushalt allein aus seiner greisen Frau sowie seiner Enkelin Marija bestand. Seine Autobiographie endet mit der Schilderung seiner Bemühungen, größere Lebensmittelrationen zugeteilt zu bekommen, und einem Dankesbrief an den Rat der Volkskommissare (Sovnarkom), welcher ihm in dieser Not tatsächlich eine höhere Rente bewilligte. Drožžin umrahmte diese Schilderungen mit Belegen seiner Beliebtheit: Er brachte Briefe von Schulkindern, Ehrerweisungen zahlloser Zirkel und Auflistungen von Treffen. Sogar ein Dampfer wurde 1919 nach ihm benannt.227 Ganze Schulklassen kamen ihn in diesen Jahren besuchen, wie er in seiner Autobiographie berichtete. Schüler, Lehrerinnen und beginnende Dichter widmeten ihm Gedichte, in denen sie Drožžin als guten Großvater, Freund und Lehrer ansprachen. Die Ehrerweisungen, die ihn als gütigen Großvater feierten, stehen in Diskrepanz zu den Empfindungen, die seine Enkelin Marija ihrem Tagebuch anvertraute.228 Der Großvater sei grob, schenke ihr keine Aufmerksamkeit, benötige sie lediglich als Küchenhilfe.229 In Drožžins Autobiographie ist die Liste der Ehrbezeugungen allein unterbrochen durch den Tod seiner Frau und einen Traum, der ihn wieder mit ihr zusammenführt. Er küsst sie auf ihre erkalteten Lippen, doch sie entschwindet: »Ich wachte auf und musste widerwillig daran denken, dass sie gekommen war, um mich dahin zu rufen, von wo niemand zurückkehrt.«230 Seine Todesahnungen waren Antrieb, für seinen Nachruhm vorzusorgen. Er übergab dem Museum in Tver’ seine Schriften und schuf damit – wie später noch gezeigt wird – günstige Bedingungen, damit andere sich auf seine Person und seine Dichtkunst berufen konnten. Auch
225 Drožžin, Avtobiografija s priloženiem, 61. 226 Drožžin, Avtobiografija s priloženiem, 59. 227 Drožžin, Avtobiografija s priloženiem, 62. 228 Titova-Drožžina, Dnevnik, RGALI f. 176 op. 1 d. 381, 20.8.-7.10.1925. 229 Drožžin zitierte Briefe und Gedichte, in denen er als Großvater angesprochen wurde. Drožžin, Avtobiografija s priloženiem, 55, 72. Dichter wie Ivan A. Nazarov stellten sich in seine Nachfolge, indem sie auch an anderen Orten Panegyriken auf Drožžin veröffentlichten. Zavolokin (Hrsg.), Sovremennye raboþe-krest’janskie poety, 172; RGALI f. 176 op. 1 d. 381, 20.8.-7.10.1925, l. 10-11. 230 Drožžin, Avtobiografija s priloženiem, 76.
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dieser Schritt erlaubte ihm einen erfolgreichen Eintritt in den Literaturkanon, der selbst unter veränderten kulturpolitischen Bedingungen nicht einfach rückgängig gemacht werden konnte.231 Seine wohldosierten Loyalitätserweisungen sowie sein Ruhm waren ausreichend, um seine Autobiographie auch in der Sowjetunion veröffentlichen zu können. Sie feiten ihn aber nicht vor weiterer Vereinnahmung und wachsender Kritik an seinem Leben und seinem Schreiben, vor allem nachdem er auf die Deutungen, die seiner Vita gegeben wurden, keinen Einfluss mehr nehmen konnte. Aneignungen. Der tote Drožžin »Drožžin Spiridon Dmitrieviþ (1848-) – Dichter. Geb. im Dorf Nizovka im Gouv. Tver’ in einer Familie von Leibeigenen des Gutsbesitzers Bezobrazov. Die Armut der väterlichen Wirtschaft zwingt den Dichter, als er 12 Jahre alt ist, in die Stadt zu gehen und sich an verschiedenen ›Orten‹ durchzuschlagen. Erst als er große literarische Bekanntheit erreicht hat, kehrt er in seine Heimat zurück, um sich dort fest niederzulassen. […] Das soziale Sein der Dorfarmut hat sich nicht nur in Motiven der Klage und der Hoffnung gezeigt, sondern auch in Motiven des Aufstands, der Verbitterung und des Hasses, wie zum Beispiel bei S. Pod-jaþev. Doch diese Stimmungen finden wir nicht im Werk Drožžins, sie sind bei ihm gedämpft durch Motive des tolstojanischen Allesverzeihens […]. Formal gesehen sind die Gedichte D. zum großen Teil nachahmend.«232 LITERATURNAJA ƠNCIKLOPEDIJA 1930
Die Einträge in den großen Lexika sind ein guter Gradmesser, um den Wert einer Person für und in der Öffentlichkeit festzustellen. Die Bewertungen, die Drožžin widerfuhren, waren einem Wandel unterworfen, der von Begeisterung 1893 über zwiespältige Bewertungen in den 1930er Jahren bis hin zu Anerkennung und Vereinnahmung in den 1970er Jahren reichte. Der Brokgauz 1893 versprach mit seinem Eintrag über Drožžin seinen Lesern eine Option auf Zukunft.233 Ganz anders das Literaturlexikon von 1930, welches ihn schon als eine gestrige Person zeichnete. Drožžins Wert für seine Gegenwart nahm in der sich etablierenden Sowjetunion rapide ab, die Kritik an ihm und seiner Dichtkunst hingegen zu, ohne ihn jedoch eindeutig zu verdammen und aus den Literaturgeschichten herausschreiben zu können. Wie der Eintrag aus der Literarischen Enzyklopädie zeigt, wurde Drožžin zu Beginn der 1930er Jahre auf zwei Ebenen kritisiert.
231 Drožžin, Avtobiografija s priloženiem, 80; Werner, Literaturarchive, 138. 232 Revjakin, Drožžin, in: Literaturnaja ơnciklopedija, T. 3, 581-583. 233 Drožžin, in: Brokgauz, Efron (Hrsg.), Ơnciklopediþeskij slovar’, T. 11, 182.
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Die erste Kritik betraf die Frage nach seiner Originalität.234 Diese Kritik kam in der Sowjetunion nicht zum ersten Mal auf. Seit Drožžin im Licht der Aufmerksamkeit stand, wurde an ihm und über ihn erörtert, wie viel Neues ein Schriftsteller bringen müsse, ob Drožžin und die anderen ›Dichter aus dem Volk‹ in künstlerischer Hinsicht überhaupt Aufmerksamkeit verdienten. Sof’ja Schill versuchte 1900 ihren Bekannten Rainer Maria Rilke in seiner enthusiastischen Begeisterung zu bremsen, indem sie Drožžin als wenig individuell und wenig einfallsreich charakterisierte: »Ihre Bewunderung von Spiridon Dmitriþ Drožžin war für mich sehr unerwartet. Er scheint mir nicht so bedeutend. Wir haben eine Reihe von solchen Poeten aus dem Volke, Drožžin, Surikov und andere, sie haben alle dieselbe Art, denselben Vers und sind nur die Epigonen (sozusagen) von Kol’cov, welcher diese Art von Gedichten zu ersten Male in unsere Literatur eingeführt hat. Kol’cov ist viel talentvoller, jarþe i svežee [klarer und frischer], und die neueren wiederholen nur, was er schon gesagt hat. Surikov ist derjenige, welcher am meisten noch individuell ist.«235
Dieser Vorwurf traf nicht allein Drožžin. Auch der Slawist Aleksandr Jacimirskij warnte vor schiefen Versen, die allzu eilfertig beklatscht wurden, weil sie »aus dem Volke« stammten.236 Die zweite Kritik, die in der frühen Sowjetunion an Drožžin geäußert wurde, war jedoch neu. Drožžin wurde in Lexikoneinträgen, Vorworten und Abhandlungen wegen seines unklaren Klassenstatus und seiner harmonischen Weltsicht gerügt. Hatte er in der ersten Hälfte der 1920er Jahre noch als »alter Kämpfer für neue Ideen« gegolten, wurde ihm Ende der 1920er Jahre vorgeworfen, nicht klar genug für die Unterdrückten eingetreten zu sein, ein allzu harmonisches Bild von den bäuerlichen Lebensverhältnissen verbreitet und nicht zum Kampf gegen die Gutsbesitzer aufgerufen zu haben.237 Drožžin lasse fehlende Parteilichkeit erkennen.238 Dieser Vorwurf beschuldigte ihn, das zentrale Kriterium des sozialistischen Realismus
234 Revjakin, Tvorþeskoe lico krest’janskogo pisatelja, 70. 235 Schill, Brief an Rilke [15./27. Februar 1900], 125. 236 Jacimirskij, Rez: Pisateli iz naroda, 384-386. 237 Vladimir Bonþ-Brueviþ hatte Drožžin 1919 in einer Bücherwidmung als »alten Kämpfer für neue Ideen« bezeichnet. Drožžin, Avtobiografija s priloženiem, 61. 238 Diese negative Einschätzung Drožžins trug Leonid Il’in bis in die 1950er Jahre hinein. Er ging jedoch immer mehr dazu über, Drožžin als Sympathisanten der Oktoberrevolution zu zeichnen: Il’in, S.D. Drožžin, XVII; Il’in, Spiridon Dmitrieviþ Drožžin.
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zu verfehlen.239 Nicht einmal seine guten Beziehungen zu Vladimir Bonþ-Brueviþ und Maksim Gor’kij konnten ihn vor diesen Vorwürfen schützen, obgleich seine Verbindungen und die Hochachtung, die er immer noch als Bauernpoet genoss, ihm zu Lebzeiten bessere Lebensmittelrationen und eine höhere Rente einbrachten.240 Zwei Entwicklungen wurden Drožžins Ansehen Ende der 1920er Jahre bis in die 1950er Jahre zum Verhängnis. Erstens geriet auch Drožžin in die Auseinandersetzung um eine neue, marxistische Literatur hinein: Die Abwertung der vormarxistischen, volkstümlichen Literatur sollte Platz machen für neue Dichter, neue Organisationen und eine neue Ästhetik. Der bäuerliche Dichter galt – nicht nur in einem programmatischen Aufruf des Volkskommissars für Bildungswesen Anatolij Lunaþarskij – als Übergangstypus, der durch den proletarischen Schriftsteller abgelöst werden sollte.241 Die Vertreter der Surikov-Schule, zu der auch Drožžin gerechnet wurde, galten nicht mehr als zeitgemäß, ihre Nähe zu Lev Tolstoj und pazifistischen Ideen als Feigheit.242 Sie seien für die junge Sowjetunion zu melancholisch und zu sentimental. Statt in die Zukunft zu schauen, blickten die surikovcy angeblich nur zurück. Die bäuerliche Symbolik, die im Christentum verankert war, die harmonische Sicht auf das Dorf und die traditionelle bäuerliche Arbeit passten nicht zu einer industrialisierten Landwirtschaft, welche nun parteinahe Schriftsteller in Kollektivierungsromanen propagierten.243 Zweitens rächte es sich, seine Lebensgeschichte als eine Geschichte der Selbsttätigkeit präsentiert zu haben, die jedem Erfolg garantiere, der sich nur bemühe.
239 Kurilenkov, O poơzii S.D. Drožžina, 24; Städtke (Hrsg.), Russische Literaturgeschichte, 322; Clark, The Soviet Novel; Waegemans, Geschichte der Russischen Literatur, 289. 240 Siehe die im vertraulichen Ton gehaltenen Briefe zwischen Bonþ-Brueviþ und Drožžin in den 1930er Jahren. Drožžin bat Bonþ-Brueviþ um Hilfe bei der Arbeitssuche seines Enkels. Die Beziehung zwischen den beiden bestand seit den 1890er Jahren. 1896 hatte Bonþ-Brueviþ einen Gedichtband herausgegeben, zu dem auch Drožžin beigetragen hatte. RGB f. 369 145.24, 1930; RGALI f. 176 op. 1 d. 121, 11.06.1930. Siehe auch das Album Drožžins, in das sich V.D. Bonþ-Brueviþ eintrug. RGALI f. 176 op. 1 d. 99, 1928-1930; Bonþ-Brueviþ (Hrsg.), Rodnyja pesni. 241 Lunaþarskij, Krest’janskaja literatura, 55; Karpinskij, Kogo sþitat’ krest’janskim pisatelem, 5-24. 242 Il’in, S.D. Drožžin, XVII. 243 Zwischen 1927 und 1932 verloren Bauernschriftsteller wie Drožžin ihren institutionellen Rückhalt: 1927 wurden in der Allunions-Gesellschaft bäuerlicher Schriftsteller (VOKP) die als ›Volkstümler‹ bekämpften Gründungsmitglieder abgesetzt, 1932 lösten sich die Reste des Surikov-Zirkels auf. Hofmann, Das Bauernthema in der sowjetrussischen Prosa der 20er Jahre, 68-69; Lauer, Die Geschichte der Russischen Literatur, 599; Städtke (Hrsg.), Russische Literaturgeschichte, 319.
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Drožžin untergrub damit den Anspruch des jungen Staats, erstmals nicht an den Fähigkeiten von Bauern und Arbeitern vorbeizugehen.244 Zudem brach er mit dem aus der Hagiographie stammenden Erzählmuster der Konversion, das in der frühen Sowjetunion wieder en vogue wurde, da es neue Inhalte an bekannte Formen knüpfte. Durch Übernahme ließen sich religiöse Schreib- und Erzählweisen nachhaltig entwerten. Drožžin hatte sich in seinen Autobiographien nicht als zaristisches Opfer beschrieben, das 1917 von der Finsternis ins Licht getreten war. Es war schwer, in dem hochdekorierten Bauernpoeten ein Opfer des Zarenreichs zu sehen. Er hatte nicht in Gefängnissen gesessen, sondern war in Salons und Palästen empfangen worden. Möglicherweise war es eine Strategie seiner befreundeten Literaturkritiker wie zum Beispiel Ivan Belousov, beim Sprechen über ihn nun sofort das Bild der Leibeigenschaft zu evozieren und ihm damit zum fehlenden Opferstatus zu verhelfen. Über Drožžin wurde seit der zweiten Hälfte der 1920er Jahre immer öfter in den Semantiken der Sklaverei gesprochen. Auch er sei ein Leibeigener gewesen, der die Unfreiheit erlitten und die Freiheit wie den Aufgang der Sonne nach einer langen Nacht herbeigesehnt habe.245 Dabei wurde die Zäsur 1861 durch 1917 ersetzt. Die Kommentatoren seiner Lebensgeschichte banden Drožžins Schreiben in der frühen Sowjetunion an jenen Diskurs zurück, der Autobiographik mit Zeugenschaft verband und Autobiographien als Gegenarchive feierte. Um weiter Aufmerksamkeit auf ihn zu lenken, musste Drožžin für etwas Zeuge sein, das er nur als Kind erlebt und unter dem er, so jedenfalls seine Autobiographien, nicht gelitten hatte. Talent und das Streben nach Gemeinwohl reichten nicht mehr aus, um jenseits eines lokalen Bezugs die Erinnerung an den 1930 verstorbenen Drožžin weiterzutragen.246 Während andere Dichter und Schriftsteller in der Auseinandersetzung, was marxistische Literatur sei, ihren Ruhm aus der Zarenzeit nicht in die Sowjetunion überführen konnten, schliffen sich hingegen beim Sprechen über Drožžin die negativen Aspekte ab. Letztendlich gelang es nicht, ihn aus der Literaturgeschichte herauszuschreiben, auch wenn er vor allem von jenen, die in den 1930er Jahren die Existenz einer ›bäuerlichen Literatur‹ vor 1917 bestritten, oft nur als schlechtes Bei-
244 Für Autodidakten wurden neue Organisationen geschaffen und damit ihre früheren Zirkel durch Schriftstellerverbände und durch Organisationen wie Assnat (Associacija naturalistov-samouþek) gleichgeschaltet. Ausführlich zum Wirken der Vereinigung siehe: Kisljanskij, Izobretateli i issledovateli-samouþki, 3-21. 245 Belousov, [Vorwort], 5. Siehe auch Belousovs Vorwort zu einem 1924 erschienenen Gedichtband Drožžins: Drožžin, Poơt-pachar’, 3-12. 246 Nachdem Nizovka einem Stausee weichen musste, wurde Drožžins Wohnhaus nach Zavidovo gebracht und darin 1938 ein Museum eingerichtet.
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spiel erwähnt oder sogar vollkommen übergangen wurde.247 Drožžin war einfach zu beliebt, trotz der literaturwissenschaftlichen Kritiken wurden seine Gedichte rezitiert und gesungen. Als in den 1960er Jahren das Dorf in die Literatur zurückkehrte, schwanden die kritischen Beiträge. Drožžins Gedichte profitierten von einer literarischen Bewegung, die nun nicht mehr über die Schaffung von Kolchosen sprach, sondern den Blick auf die traditionelle bäuerliche Lebensweise richtete, auf Lebens- und Wertvorstellungen, die seit der Kollektivierung zu verschwinden drohten. Die Vertreter der neuen Dorfprosa glaubten wie Drožžin an eine sittliche Überlegenheit des Dorfs gegenüber der Stadt; sie riefen Arbeitsliebe, Familiensinn und Verantwortung innerhalb der Dorfgemeinschaft und im Umgang mit der Natur wieder in das Bewusstsein.248 Mit ihrem Auftritt konnten auch Drožžins Gedichte wieder in den Kanon zurückkehren und das Lob der Literaturkritiker erringen. Dies gelang auch, da das Andenken an Drožžin durch Archivgaben und das 1938 eingerichtete Museum in Zavidovo latent geblieben war. Seine Gedichte galten in den 1970er Jahren als die Verse eines ehemals leibeigenen Bauern und »Teilnehmers am Aufbau des ersten sozialistischen Staats der Welt«.249 Dafür wurden Angaben, die Drožžin gegeben hatte, in falsche Zusammenhänge gestellt. Mehrfach hatte Drožžin in seiner Autobiographie erwähnt, dass er die Zeitschrift Iskra gern gelesen habe und sie ihm Ansporn gewesen sei, selbst Gedichte zu schreiben. Il’in, der 1949 eine Einführung zu den Gedichten Drožžins schrieb, verschwieg, dass Drožžin damit ein satirisches Journal meinte, das zwischen 1859 und 1873 erschienen war. Unkommentiert gab Il’in vor, dass Drožžin ein eifriger Leser der von Lenin 1900 gegründeten illegalen, marxistischen Zeitung Iskra gewesen sei.250 Auch im wichtigsten sowjetischen Nachschlagewerk, in der Großen Sowjetischen Enzyklopädie, zeichnete Il’in 1972 den Bauerndichter als vom Klassenkampf beseelten Menschen: »Drožžin Spiridon Dmitrieviþ [6[18].12.1848, Dorf Nizovka, heute Bezirk Kalinin – 24.12.1930, ebendort], russischer, sowjetischer Dichter. Geboren in der Familie eines Leibeigenen. Begann im Jahre 1873 zu veröffentlichen, wurde bekannt als talentierter ›DichterAutodidakt‹, Verteidiger der elenden Menschen, Sänger der landwirtschaftlichen Arbeit und
247 Selbst in Publikationen zur ›Bauernliteratur‹ kommt Drožžin in den 1930er Jahren nicht vor. In Lehrbüchern zur Literatur des 20. Jahrhunderts wird die vorrevolutionäre ›Bauernliteratur‹ nicht erwähnt: Zamojskij u.a. (Red.), Puti krest’janskoj literatury; Michajlovskij, Russkaja literatura XX veka. 248 Städtke (Hrsg.), Russische Literaturgeschichte, 383-384. 249 Il’in, Samorodok Rossii, 28. 250 Il’in, S.D. Drožžin, VIII.
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der russischen Natur. Der Dichter hat die Oktoberrevolution begrüßt, er sah in ihr die Verwirklichung der Sehnsucht des Volks […].«251 BOL’ŠAJA SOVETSKAJA ƠNCIKLOPEDIJA 1972
Nach 1930 erschien Drožžins Autobiographie nicht mehr. Alles, was über Drožžins Leben zu sagen war, schrieben nun andere. Drožžins Leben zwischen Selbsttätigkeit, Dichtkunst und traditioneller Landwirtschaft war nach der Kollektivierung kein Modell mehr für biographischen Erfolg. Die Sowjetunion hatte neue Helden zu bewundern.
2.3 V ERLORENE S ÖHNE : L EBEN FÜR DIE ORTHODOXE K IRCHE Das historische Urbild der Verwandlung ist die reli252
giöse Konversion.
PETER BERGER, THOMAS LUCKMANN
Es waren vor allem Fragen der Zugehörigkeit, die in der vor 1917 erschienenen bäuerlichen Autobiographik erörtert wurden: Die Schreiber bäuerlicher Herkunft erhoben mit ihren Lebensgeschichten Anspruch auf Mitgliedschaft. Purlevskij und Bobkov lösten ihr Eintrittsbillet in das obšþestvo, indem sie ihre autobiographischen Texte als Lebensgeschichten von Leibeigenen darreichten, die sich aus grausamster Unfreiheit zu erfolgreichen Kaufleuten emporgearbeitet hatten. Für Drožžin spielte der ökonomische Erfolg hingegen eine geringere Rolle. Er empfahl sich Lesepublikum und Intelligencija, indem er sich als talentierter Dichter aus der Mitte des Volks präsentierte. Alle in dieser Studie vorgestellten Autobiographien zeigen deutlich, dass Gemeinschaft und Zugehörigkeit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht mehr allein eine Frage der Herkunft waren. Radikale Veränderungen des Bauernbilds, die sich auflösenden Bindungskräfte innerhalb der Bauernschaft sowie die gewachsenen Aufmerksamkeiten für das ›einfache Volk‹, den narod, ermöglichten es aber nicht nur Purlevskij, Bobkov und Drožžin, ihre Lebensbeschreibungen einem größeren Publikum zu präsentieren. Auch die kirchliche Publizistik blieb von der Praktik nicht unberührt, Gemeinschaft durch autobiographisches Schreiben herzustellen. Auch sie partizipierte an der Vorstellung, Evidenz über Empirie, und diese wiederum über das vermeintlich
251 Il’in, Drožžin, in: Bol’šaja sovetskaja ơnciklopedija, T. 8, Zitat: 508; Drožžin, Spiridon Dmitrieviþ, in: Surkov (Red.), Kratkaja literaturnaja ơnciklopedija, T. 2, 802. 252 Berger, Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion, 169.
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›wahre Leben‹ heraufzubeschwören. Begreift man die orthodoxe Kirche als Körper, wie es Paulus für die christliche Gemeinschaft getan hat, dann waren in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht nur periphere Gliedmaßen vom Absterben bedroht. Nein, sogar der Rumpf wies Verletzungen auf. Die vormals enge Verbindung zwischen Kirche und Staat erodierte, wie auch die Beziehung zwischen den Geistlichen und den Laien großen Belastungen ausgesetzt war. Der Gesetzgeber verschloss sich nicht mehr dem von der orthodoxen Kirche misstrauisch vernommenen Ruf nach Freiheit des Bekenntnisses und religiöser Toleranz, der aus den Salons, der säkularen Presse sowie aus Bittgesuchen und Petitionen erklang.253 Das Toleranzedikt von 1905 vollendete die stetige Rücknahme von Verboten und Beschränkungen, unter denen nichtorthodoxe Religionsgemeinschaften, vor allem die Altgläubigen, jahrzehntelang gelitten hatten. Die orthodoxen Kirchenführer und Geistlichen deuteten das neue willige Erdulden der sogenannten ›Spalter‹ und ›Sektierer‹ als Verrat an ihrer als gottgegeben empfundenen Vorrangstellung.254 Auch das Fundament, auf dem das Haus der Kirche stand, bekam immer größere Risse. Immer offener und vehementer äußerten die Gläubigen ihre Kritik an den Popen, die mitunter so sehr dem Alkohol zusprachen, dass sie während der Liturgie am Altar einschlummerten. In entlegenen Gebieten mussten die Gläubigen sogar einen betrunkenen Geistlichen entbehren, da die religiöse Grundversorgung nicht überall sichergestellt war. Fabrikarbeit, das Leben in den Städten, neue Lektüren sowie Kino, Schaubuden und andere Formen der Unterhaltung entfremdeten junge Bäuerinnen und Bauern dem Rhythmus des Kirchenjahrs und traditionellen Moralvorstellungen: Das Einhalten der Fasten- und Feiertage, voreheliche Enthaltsamkeit und Gehorsamkeit gegenüber den Vätern schien immer mehr Menschen entbehrlich. Zunehmend begeisterten sich die Bauern für Frömmigkeitsformen, die nicht der offiziellen Lehre entsprachen. Dies war kein neues Phänomen, es ist in der Forschung als Volksfrömmigkeit und – in letzter Zeit sehr kritisch bewertet – als Doppelglauben (dvoeverie) beschrieben worden.255 Die Bauern achteten kirchliches Dogma gering und bezogen magische Praktiken in ihre religiöse Weltsicht ein, ohne dabei ihr Selbstverständnis als rechtsgläubige Christen beeinträchtigt zu sehen. Häufig nahmen sie weder Kirche noch Priester als unabkömmlich für das eigene Seelenheil wahr. Diese undogmatischen Formen der Frömmigkeit lockerten gegen Ende des 19. Jahrhunderts immer mehr das Band zwischen russischer Bauernschaft und orthodoxer Kirche. Nachdrücklicher als bisher machten verlockende religiöse Offerten auf sich aufmerksam, während die Aufhebung der Leibeigenschaft sowie
253 Werth, Orthodox as Ascription, 250. 254 Hauptmann, Russlands Altgläubige, 77. Die Begriffe ›Sektierer‹, ›Sekte‹ und ›Sektentum‹ sind nicht unproblematisch. Siehe: Prolog, Fn. 34. 255 Bsp. Heretz, Russia, 15-21; Chulos, Converging Worlds, 7.
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wachsende Lese- und Schreibkundigkeit vielen Bauern erstmals auch in religiösen Belangen eine eigene Wahl ermöglichten.256 Nicht wenige Bauern suchten, unzufrieden mit den Leistungen der orthodoxen Kirche und ihrer Popen, ihr Heil bei den Altgläubigen, die sich als Bewahrer der orthodoxen Tradition sahen, in der orthodoxen Kirche hingegen das Wirken des Antichrist vermuteten. Zudem konnten die Bauern ihr Bedürfnis nach Partizipation und Einfluss bei den Altgläubigen einfacher verwirklichen: Während in den orthodoxen Gemeinden die Popen von oben eingesetzt wurden, beriefen und wählten sich die priesterlichen Altgläubigen ihre Priester selbst. Wenn der Priester seine Aufgaben nur schlecht erfüllte, trank oder einen ausschweifenden Lebenswandel führte, konnten die Altgläubigen ihn entlassen, während die orthodoxen Gemeinden lange klagen mussten, bevor sie sich ihres Popen entledigen konnten. Mitunter spielten auch wirtschaftliche Anreize eine Rolle, der orthodoxen Kirche den Rücken zuzuwenden. Erfolgreiche, altgläubige Fabrikbesitzer, die in den neuen Industrieregionen Lohn und Brot boten, drängten bäuerliche Anwärter auf ihre Arbeitsplätze zur Konversion und setzten damit die orthodoxe Kirche unter Druck. Massenweise traten zum Beispiel jene Bauern zum Raskol über, die sich in der Manufaktur von Guslicy verdingten.257 Dabei half auch, dass die altgläubige Lehre vertraut war. Auch die Altgläubigen sahen sich als Vertreter der Orthodoxie. Nicht nur das Kirchenjahr, Fest- und Fastentage, Gebete und Gottesdienste, sogar die Heerschar der Heiligen waren fast gleich. Andere Bauern schlossen sich ebenso mühelos freikirchlichen Gruppierungen an, die von der orthodoxen Kirche abfällig als ›Sekten‹ bezeichnet wurden und zu denen unter anderen die Baptisten, Štundisten, Molokanen, duchoborcy und Tolstojaner gezählt wurden. Als ebenso gefährlich galten die ›orthodoxen Häretiker‹, wie die streng fastenden postniki, die Ioanniter und besedþiki, die sich selbst in der orthodoxen Kirche verorteten, jedoch aufgrund ihrer abweichenden religiösen Vorstellungen bisweilen exkommuniziert worden waren. Ihre charismatischen Führer, Ioann von Kronštadt war unter den in der Stadt lebenden Bauern der Bekannteste, verhießen auf dem Markplatz religiöser Sinn- und Deutungsangebote ›wahre‹ Gemeinschaft.258 Sie werteten den Einzelnen als wichtiges Mitglied ihres Zusammenschlusses auf und versprachen mehr Partizipation, mehr Moral, mehr gelebte Frömmigkeit.259 Einige dieser Gruppierungen lehnten Priestertum, Hierarchie und Unterwürfigkeit innerhalb ihres Glaubens ab und kündeten wie die Molokanen: Wir
256 Chulos, Converging Worlds, 22; Engelstein, Holy Russia, 134, 152-153. 257 Hildermeier, Alter Glaube, 519; Pleyer, Das russische Altgläubigentum, 53. 258 Große Popularität gewann auch der Bauer Mokšin, der eine eigene Lehre vertrat, sowie Vater Gapon. Chulos, Converging Worlds, 24-25; Engelstein, Holy Russia, 152. 259 Clay, Orthodox Missionaries, 38-40.
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sind alle Priester, die wahre Kirche ist nicht aus Baumstämmen, sondern aus Rippen gemacht.260 Zudem war dank einer sich liberalisierenden Gesetzgebung der Preis für die Wahl eines nicht der offiziellen orthodoxen Kirche entsprechendes Bekenntnisses gesunken: Ein Orthodoxer, der sich den Altgläubigen anschloss, gefährdete seit dem Tod von Nikolaus I. weder sein eigenes Leben noch seine ökonomische Existenz. Innerhalb der Kirche erzeugten die Erleichterungen für die ›Spalter‹ und ›Sektierer‹ jedoch Angst. Sie stellte sich der Herausforderung und bot Menschen und Material, Anstrengung und Arbeit auf, um dem Abfall von der ›wahren‹ Kirche Einhalt zu gebieten. Als Markstein im Kampf mit Andersgläubigen und Abgefallenen kann die Gründung der Orthodoxen Missionarischen Gesellschaft (Pravoslavnoe Missionerskoe Obšþestvo) in der Mitte des 19. Jahrhunderts gelten, zu der sich bald 20.000 Mitglieder bekannten.261 Professionelle und gut bezahlte Missionare drangen seitdem in die Randbereiche der Orthodoxie vor, um Andersgläubige von der Gottgefälligkeit ihres Glaubens zu überzeugen. Seit 1837 durften die Missionare die Annahme des orthodoxen Glaubens nicht mehr pekuniär vergüten, bald galten auch Zwang und Überredung als unlautere Mittel. Die 1860 für das Verfahren der Konversion aufgestellten Regeln verlangten, dass der Glaubensnovize aus freiem Willen und religiösen Gründen das orthodoxe Bekenntnis annahm. Der einzige Lohn, den die Missionare den Konvertiten in Aussicht stellen sollten, hatte im Glauben und seinen jenseitigen Versprechungen zu liegen.262 Doch nicht allein Berufsbekehrer wurden angeheuert, um die Abfallbewegung zu stoppen, Glaubensinhalte zu vermitteln und die Verbindung zwischen den Laien und den Geistlichen zu stärken. Seit den 1850er Jahren entstanden zahlreiche orthodoxe Zeitschriften, wobei ihre Zahl in den 1870er Jahren noch gesteigert wurde. Die Publizisten verstanden ihre Organe als Reaktion auf die immer lauter werdende Kritik an der orthodoxen Kirche. Ihre Stimme war auf dem religiösen Markt besonders wirksam, da die ›Spalter‹ und ›Sektierer‹ im Zarenreich bis 1905 nicht legal publizieren konnten.263 Allein im Jahr 1882 stellte der Heilige Synod 4.000 Rubel für den Druck von Broschüren und ›aufklärenden‹ Büchern zur Verfügung, deren Ziel es war, die Toleranz der Bauern gegenüber den ›Häretikern‹ abzuschwächen und die Unterschiede zwischen dem ›wahren‹ und dem ›häretischen‹ Glauben zu verdeutlichen.264
260 Busse, Die Wirtschaftsethik des russisch-orthodoxen Christentums, 85. 261 Klibanov, Russkoe pravoslavie: vechi istorii, 439. 262 Werth, Orthodox as Ascription, 250. 263 Eine Ausnahme war die Zeitschrift Duchovnyj Christianin, die der Molokane A.S. Prochanov herausgab. Ơtkind, Chlyst, 62; Simon, Pobedonoscev, 176. 264 Conybeare, Russian Dissenters, 249; Brooks, When Russia Learned to Read, 300; Simon, Pobedonoscev, 159-160.
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Das forschende, sich wissenschaftlich deklarierende Interesse, mit dem die orthodoxe Kirche und die Regierung die Altgläubigen sowie die ›Sektierer‹ bedachten, lässt sich gleichfalls als Ringen um Diskurshoheit beschreiben. Philologen und Theologen, Historiker und Ethnographen wandten sich seit den 1850er Jahren den Altgläubigen und den ›Sektierern‹ zu. Nicht alle kamen mehr aus der Mitte der Orthodoxie.265 Autoren und Publizisten, die den linken Strömungen nahe standen, deuteten das Wirken der Altgläubigen und ›Sektierer‹ in der Nachfolge Alexander Herzens als sozialpolitische, vor allem gegen die Kirche gerichtete Widerstandsbewegung, als »Demonstration eines politischen Protestes unter religiöser Maske«.266 Historiker wie Afanasij Šþapov, Nikolaj Kostomarov und Aleksandr Prugavin sahen in den Altgläubigen jenen Drang zur Selbstbildung (samoobrazovanie) und jene Aufmüpfigkeit gegenüber Vorschriften und Regeln versinnbildlicht, die sie auch bei den anderen Bauern zu finden hofften.267 Die Staatskirche und die Regierung reagierten auf das Bündnis ihrer gemeinsamen Feinde und die Verquickung gefährlicher Weltsichten und schickten mit den Werkzeugen der Statistik ausgestattete Forscher auf die Dörfer und in die Gebiete der ›Sektierer‹, um deren Geschichte, Motivation und Zahl zu eruieren.268 Gleich den ›dicken Journalen‹ und den populären historischen Zeitschriften entwarf die orthodoxe Publizistik in ihrem Abwehrkampf immer öfter ihre Inhalte in den Narrativen gelebter und erfundener Lebensgeschichten.269 Möglicherweise fiel dies den kirchlichen Blättern leichter als ihren weltlichen Konkurrenten: Seit jeher bringt das Christentum Glaubensinhalte aus einer akteurszentrierten Perspektive, in Gleichnissen und Viten, ihren Gläubigen nahe. Zeitschriften wie die in den Eparchien erscheinenden Nachrichten (Eparchial’nye Vedomosti), Pilgerheftchen wie die Troickie Listki270 und das Bratskoe Slovo schilderten Gottesgnade und Gottlosigkeit an
265 Conybeare, Russian Dissenters, 250. 266 Herzen sah die Gemeindeidee innerhalb der ›Sekten‹ verwirklicht und glaubte, dass aus diesen Gruppierungen eine nationale und kommunistische Volksbewegung entstehen könne, die an revolutionäre Ideen aus Westeuropa anschließen würde. Iscandre [Herzen], Von der Entwicklung der revolutionären Ideen in Russland, 85. 267 Pleyer, Das russische Altgläubigentum, 22. 268 Stadnikov, Moskovskoe staroobrjadþestvo, 44. 269 Daniel Brower beschreibt die Hinwendung zur »human-interest story« in der russischen Kopeken-Presse. Brower, The Penny Press, 152-153. 270 Die Troickie Listki aus dem Kloster Troice hat Chris Chulos für seine Studie über die populare Frömmigkeit herangezogen. Sie wandten sich vor allem an nur gering schreibund lesekundige Bauern und waren für wenige Kopeken erhältlich. Chulos, Converging Worlds, 68, 135.
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den Lebensgeschichten von Heiligen, Laien, Gottesnarren und Heiden.271 Lebensgeschichtliche Erzählungen in der dritten Person bereiteten das Interesse an autobiographischen Texten vor. Wie die Autobiographien der Leibeigenen und Autodidakten korrespondierten sie mit Entwicklungen in der Belletristik, Malerei und den Wissenschaften, wo Bauern nicht mehr als passive Objekte gezeichnet wurden, sondern als handelnde Personen auftraten.272 Die Autobiographik von Bauern, die den Glaubenswechsel hin zur orthodoxen Kirche vollzogen hatten, gerieten in das Blickfeld der Herausgeber kirchlicher Zeitschriften, wobei auf dem Markt für lebensgeschichtliche Texte autokratiekritische ›Sektenforscher‹ wie Vladimir Bonþ-Brueviþ am direktesten mit der orthodoxen Kirche um autobiographische Texte konkurrierten. Einige Bauern nutzten die Gelegenheit: Sie schilderten für kirchliche Zeitschriften ihren Weg als das Leben ›verlorener Söhne‹, die aufgrund von Verführung, Hoffart und Blendung die orthodoxe Kirche wie ein väterliches Haus verlassen hatten und denen der Vater nach allen Irrungen nun die Hand zur Rückkehr reichte. Lebenswege, die nicht auf (Re-)Konversion zur orthodoxen Kirche hinausliefen, fanden hingegen nur vereinzelt Platz. Wie die Erfahrung der Unfreiheit es ehemaligen Leibeigenen erlaubte, über ihr Leben zu sprechen, so gewährte die religiöse Wende den Bauern Zugang zu den kirchlichen Zeitschriften. ›Verlorene Töchter‹ kamen hingegen wie auch ›Bauern-Poetinnen‹ nicht zu Wort. Der folgende Abschnitt stellt bäuerliche Lebensgeschichten vor, die in der kirchlichen Publizistik im ausgehenden Zarenreich erschienen sind. Zuerst wird allgemein dargestellt, welche Zeitschriften bäuerliche Autobiographik veröffentlichten und welche Bauern in ihnen das Wort ergreifen konnten. Wie in den vorangegangenen Teilen stehen die gegenseitigen Abhängigkeiten zwischen Ort der Äußerung, Adressierung und Wahl der Schreibform im Mittelpunkt. Sie werden an drei Fragenkomplexen erörtert: 1. Kirchliche Publizistik als Raum autobiographischen Sprechens: Was waren die Ziele, die die Herausgeber und die schreibenden Bauern mit der Publikation bäuerlicher Lebensgeschichten verbanden? Inwieweit lassen sich die kirchlichen Zeitschriften als eigener Kommunikationsraum fassen? An welche anderen Räume schloss er an, gegen welche verwahrte er sich? 2. Adressierung: In wem sahen die Autobiographen und Herausgeber ihre Adressaten? Wie wurde in den Autobiographien die orthodoxe Kirche als Adressat und Gemeinschaft definiert? 3. Schreibform und Sagbarkeiten: Mit welchen Mitteln wurde biogra-
271 Es gibt keine Studien, die sich explizit mit der kirchlichen Publizistik befassen, meist finden die religiösen Zeitungen und Zeitschriften nur Erwähnung am Rande. Etwas ausführlicher: Oswalt, Kirchliche Gemeinde, 19-44. 272 Woodhouse, Tales from Another Country, 171-186.
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phischer Erfolg sprachlich vermittelt? Welche Deutungen gelebten Lebens fanden in der Publizistik der orthodoxen Kirche hingegen keinen Platz? In einem zweiten Schritt werden die Fragenkomplexe konkretisiert. Ich wende mich zwei Autobiographien zu, die im Bratskoe Slovo 1875 und 1884 erschienen sind, jeweils ein Jahr nachdem die Altgläubigen und ›Sektierer‹ von der Gesetzgebung mit neuen Erleichterungen bedacht worden waren. Wie sprachen die Bauern Vasilij Koževnikov und Stepan ýurakov in dieser Umgebung über ihr Leben? Welche Rolle spielten in einem kirchlich markierten Umfeld hagiographische und säkulare Biographiemuster und wie wirkten sie auf die beschriebenen Erfahrungs- und Deutungsmuster zurück? Welche Bindungen bestätigten Koževnikov und ýurakov in ihrer Autobiographie, von welchen Gruppen setzten sie sich mit ihren Lebensbeschreibungen ab? Abschließend wird diskutiert, ob und wie Bauern im Zarenreich an globalen Sprechformen über Konversion partizipierten. Konversion ist nicht nur – wie Berger und Luckmann herausgestellt haben – das Urbild der Verwandlung, sondern das Sprechen über Konversion war für die Staatskirche und ihre Gläubigen eine Antwort auf gesellschaftlichen Wandel, der ihnen immer mehr die Gewissheiten entzog. Religiöse Vergemeinschaftung und autobiographisches Schreiben Die Hinwendung zur orthodoxen Kirche erlaubte es Bauern im Zarenreich seit den 1860er Jahren, ihr Leben zu erzählen.273 Schon 1861 präsentierte der Bauer Krylov in der Kopekenzeitschrift ýtenie dlja soldat seine Lebensgeschichte, die viele Gemeinsamkeiten mit den zwei Jahrzehnte später in großer Zahl veröffentlichten Autobiographien aufwies. Das Schisma – so der Ausgangspunkt seiner autobiographischen Erzählung – wirkte bis in das Familienleben hinein. Seine Familie war religiös gespalten. Der Vater, der früh starb, war orthodox, die Mutter hing dem Altgläubigentum an. Entgegen der mütterlichen Widerstände fand Krylov schließlich zum orthodoxen Glauben, auch seine Brüder folgten ihm nach.274 Die Suche nach dem rechten Glauben offenbarte sich in der Mehrzahl der Autobiographien als familiärer Konflikt, nicht selten schilderten die Autobiographen, wie das familiäre und religiöse Zerwürfnis in Schlägen, Verfolgung und Trennung gipfelte. Besonders hart traf es den Bauern Vostrjakov, als er sich von den Altgläubigen abwendete: Seine Eltern verstießen ihn, seine Frau tötete den gemeinsamen Sohn, damit die-
273 Die russische Version von Smiles’ Self-Help nutzte Elemente der Konversionserzählung, um über den ›Bauernpoeten‹ Fedor Slepuškin und den Fischersohn Michail Lomonosov zu sprechen. Die Konversion habe ihrem Talent entsprochen, das ›Richtige‹ zu tun. Smajl’s, Samodejatel’nost’, 144, 176. 274 Krylov, Nevymyšlennyj rasskaz.
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ser nicht so werde wie er.275 Die Familien waren uneins, ihnen gelang es in den Autobiographien nicht, Gemeinschaft und Geborgenheit zu bieten.276 Die Schreiber benutzten in ihren Lebensgeschichten einen typisierten Modus autobiographischen Sprechens. Es wurden keine Lebensgeschichten erzählt, die den Anspruch erhoben, einzigartig zu sein. Vielmehr erinnern sie in ihrem stark formalisierten Aufbau sowie der weitgehenden Ausblendung gesellschaftlicher und politischer Ereignisse an die Hagiographie. Der bäuerliche Stand wird in den Lebensgeschichten der Konvertiten mitunter zwar recht explizit in Fußnoten und Überschriften erwähnt, spielt aber in den Lebensgeschichten selbst kaum eine Rolle. Themen wie die Beziehung zum Gutsherrn, wirtschaftliches Wohlergehen, Wanderarbeit, Haus, Hof- und Dorfleben, der Mangel an Büchern und Schulen kommen in den Konversionserzählungen kaum vor, während sie für Bauern in anderen Räumen autobiographischen Sprechens überaus wichtig waren.277 Während die Herausgeber der autobiographischen Texte von Leibeigenen in ihren Vorworten betonten, dass ein Bauer seine Lebensgeschichte von eigener Hand niedergeschrieben habe und dass solche Texte selten seien, war dies in den Konversionserzählungen kaum erwähnenswert. Bäuerlicher Stand gepaart mit Schriftkundigkeit war in diesem Publikationsumfeld offensichtlich keine Sensation.278 Wie in den Heiligenviten wurden überzeitliche, allgemein gültige Geschichten erzählt.279 Dieses Bemühen um Gleichheit muss ernst genommen werden. Die gleichartige Form, der geringe Wandel innerhalb der Konversionserzählungen, ist Teil der Botschaft, die mit den Autobiographien vermittelt werden sollte. In den Augen ihrer Schreiber war Nachahmung kein Plagiat. Stattdessen verwiesen sie mit ihren stereotypen Texten gleich den Heiligenviten auf die Biographie Christi. Die Konvertiten schrieben sich in das an irdische Orte und Zeiten nicht geknüpfte göttliche Heilsgeschehen ein. Sie zeichneten ihren Lebensweg als »Weg zur Erlösung«.280
275 Vostrjakov, Krest’janina Sidora Ivanova Vostrjakova rasskaz, 194. 276 Lavrent’ev, Razskazy byvšich staroobrjadcev, 374-375; Vlasov, Razskazy byvšich staroobrjadcev, 215. 277 Eine Ausnahme stellt die Autobiographie Orechovs dar, den seine Eltern 1840 wegen des Hungers auf dem Dorfe zur Arbeit in eine Papierfabrik nach St. Petersburg schickten. Orechov, Moja žizn’ v raskole, 129. 278 Nur selten betonten die Herausgeber den Umstand, dass ein Bauer schrieb. Vgl. die Erzählung Serebrenikovs, die in den Oloneckie Eparchial’nye Vedomosti erschienen ist. Serebrenikov, Rasskaz krest’janina, 155, Fn. 1. 279 Über diese Elemente in der Hagiographie: Lichatschow, Der Mensch, 35, 190; Benz, Einführung, 12, 15; Kologriwow, Das andere Russland, 23. 280 Rudi sieht in der Imitatio Christi das wichtigste Merkmal russischer Heiligenviten. Rudi, Topika russkich žitij, 62.
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Die Autobiographen schritten ihren Werdegang ab, indem sie gleichartige Stationen schilderten. Für die meisten Autobiographen war das orthodoxe Bekenntnis der erste Glaube gewesen. Meist waren sie orthodox getauft worden, erst der Tod der Eltern oder eine erzwungene Heirat machten den Übertritt zu den Altgläubigen oder den ›Sekten‹ nötig. Häufig lockten junge Frauen die Autobiographen in den religiösen »Irrglauben« hinein.281 In grellen Farben zeichneten die Schreiber die Unterschiede zur orthodoxen Kirche, während sie Gemeinsamkeiten verschwiegen. Auch schon für die Zeit vor der Wende präsentierten sich die Konvertiten als große religiöse Eiferer. Ihr Streben nach Gottgefälligkeit, ihre besonderen Leistungen in Gebet, Schrift und Askese bescherten fast allen die Anerkennung ihrer ›häretischen‹ Brüder. Gerade diese Wertschätzung erschwerte ihnen die Hinwendung zur orthodoxen Kirche. Glaubt man den Autobiographien, dann waren es die Besten unter den Altgläubigen und ›Sektierern‹, die sich schließlich von der ›Irrlehre‹ abwendeten, denn gerade sie vermochten es, den ›wahren‹ Glauben vom ›falschen‹ zu unterscheiden. Die Rückkehr zur orthodoxen Kirche wurde mit innerer Ruhe belohnt.282 Mit der Konversion ließen sie die quälende Heimatlosigkeit hinter sich, die in den Autobiographien der Konvertiten als ebenso schmerzhaft geschildert wurde wie die Unfreiheit in den Texten der Leibeigenen. Während die Konvertiten die krisenhafte Zeit vor der Konversion ausführlich beschrieben, fand die Zeit nach der Konversion nur kurz Erwähnung. Friedlich und fröhlich endet in allen Fällen der Lebensweg, der zwischen Beichte der eigenen Sündhaftigkeit und Zeugenaussage für die Läuterung oszilliert. Wie vor Gericht wurde das Bekenntnis durch Unterschrift beglaubigt. Es ist nicht möglich, die genaue Zahl an bäuerlichen Lebensgeschichten, die in der orthodoxen Presse erschienen, ausfindig zu machen. Zu groß ist die Zahl der Publikationen, zu verstreut ihre Überlieferung. Allein die Durchsicht des Bratskoe Slovo wie auch einiger Eparchialnachrichten zeigt deutlich, dass die Zahl weit über den vierzig Konvertitenautobiographien liegt, die in Zajonþkovskijs Bibliographie verzeichnet sind.283 Die Mehrzahl der bäuerlichen Autobiographien, die das Leben als Glaubenswende schilderten, ist in den 1880er Jahren erschienen, kurz nachdem die ›dicken Journale‹ begonnen hatten, die Geschichten leibeigener Bauern zu veröffentlichen, die ihr Leben als Unfreie in den Semantiken der Sklaverei darboten. Innerhalb der orthodoxen Presse lassen sich Unterschiede ausmachen. Während das Bratskoe Slovo seinem Lesepublikum ausschließlich Geschichten von ehemaligen Altgläubigen anbot, ließen die Nachrichten aus den Eparchien auch sogenannte ›Sektierer‹ wie zum Beispiel die Molokanen oder skopcy zu Wort kommen. Die
281 Vgl. Ispoved’ edinoverca, 214. 282 Beispielhaft: Bauškin, Rasskaz krest’janina, 32; Martynov, Povestvovanie byvšego beglopovca, 683; Vlasov, Razskazy byvšich staroobrjadcev, 220. 283 Zajonþkovskij (Red.), Istorija dorevoljucionnoj Rossii, T. 3. ý. 1.
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Blätter teilten das Interesse an Lebensgeschichten, die um eine religiöse Konversion gruppiert waren, wobei sie sich auf christliche Bekenntnisse beschränkten. Der Abfall vom Islam oder Buddhismus hin zum orthodoxen Glauben wurde in den Zeitschriften nicht in Form von Autobiographien verhandelt. Es bedurfte der Überwindung des als Dunkelheit beschriebenen Glaubens, um als Bauer Platz in der Publizistik zu finden, die der orthodoxen Kirche nahe stand. Lediglich das Streben nach Gemeinwohl, Bildung sowie die Fähigkeit, das eigene Leben schriftlich niederzulegen, verschafften keinem Bauern Zugang zur kirchlichen Publizistik. Die orthodoxe Presse war damit ähnlich selektiv wie die ›dicken Journale‹ und historischen Zeitschriften, die nur Bauern zu Wort kommen ließen, die über ihre Leibeigenschaftserfahrung sprachen und in Freikauf oder Bauernbefreiung den entscheidenden Wendepunkt in ihrem Leben sahen. Lebenswenden als brüderliches Wort Im Mittelpunkt des folgenden Abschnitts stehen die Lebensgeschichten von Vasilij Koževnikov und Stepan ýurakov. Sie versinnbildlichen die zwei Kritikpunkte, mit denen die orthodoxe Kirche dem Altgläubigentum den Boden zu entziehen versuchte: Koževnikov verkörperte die theologischen Paradoxien im altgläubigen Glauben, während ýurakovs Leben die Uneinigkeit innerhalb der Altgläubigen demonstrieren sollte. Die Autobiographien weisen zahlreiche Gemeinsamkeiten auf, obgleich die erste von einem priesterlichen, die zweite von einem priesterlosen Altgläubigen stammt. Beide Schreiber werden in der Überschrift oder im Vorwort als Bauern angekündigt, beide Male betonen die Herausgeber den Zeugnischarakter der Autobiographie. Beide Lebenswege wurden in der seit 1875 erscheinenden Zeitschrift Bratskoe Slovo veröffentlicht. Die Zeitschrift war das Organ der von Nikolaj Subbotin 1872 begründeten Bruderschaft des Heiligen Metropoliten Petr von Moskau, wo Subbotin als Professor an der Geistlichen Akademie lehrte.284 Er war ein enger Mitarbeiter und Vertrauter Konstantin Pobedonoscevs, der seit 1880 das Amt des Oberprokurors des Heiligen Synods innehatte. Von dieser Position aus versuchte Pobedonoscev, den konservativen Anstrich der orthodoxen Kirche zu bewahren und ihre Bindung an den Staat zu stärken. Sowohl Subbotin als auch Pobedonoscev waren der Überzeugung, dass man seine Feinde und religiösen Widersacher kennen müsse, beide wehrten sich vehement gegen gesetzliche Erleichterungen für die Altgläubigen. Beide sahen in der Kirche eine Hauptstütze des Staats und vertraten die
284 Die Bruderschaft hatte es sich zur Aufgabe gemacht, Literatur gegen das Altgläubigentum herauszugeben. Nach Angaben von Gerhard Simon brachte die Bruderschaft in den ersten 25 Jahren nach ihrer Gründung 125 Buchtitel in ungefähr einer halben Million Exemplaren heraus. Simon, Pobedonoscev, 179.
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Ansicht, dass die Gesetze der Kirche die des Staats zu sein haben.285 Als Berichterstatter Pobedonoscevs scheute Subbotin nicht davor zurück, Kollegen zu denunzieren. Ihm gelang es, Obstruktionen bei Pobedonoscev durchzusetzen, die den Altgläubigen die Ausübung des Glaubens erschwerten.286 Trotz dieser Feindseligkeiten pflegte er persönliche Beziehungen zu den Altgläubigen und setzte sich dafür ein, dass sie sich ohne finanzielle Einbußen der orthodoxen Kirche wieder zuwenden konnten.287 Die Konvertiten, die ihre Lebensgeschichte in seinem Blatt veröffentlichen konnten, versorgten ihn mit Material, das nicht nur Basis für über 400 Publikationen über den Raskol war, sondern seine Arbeiten trotz ihres polemischen Gehalts noch heute zu wichtigen Quellen für die Geschichte des Altgläubigentums machen.288 In seinen Studien betonte Subbotin den Wert, den nichtoffizielle Dokumente wie Briefe, Erinnerungen und Autobiographien für eine Geschichte des Schismas hätten.289 Das Bratskoe Slovo sollte der Erforschung des Raskol dienen und ihn gleichzeitig bekämpfen. Subbotin sah in der Zeitschrift ein Mittel, das Altgläubigentum durch Historisierung gleichfalls zu Geschichte zu machen. Dies gelang nicht, stattdessen musste 1899 die Zeitschrift ihr Erscheinen endgültig einstellen. Es wurden nie mehr als 600 bis 700 Exemplare im Jahr verkauft.290 Das Blatt existierte nur dank der Subventionen der Regierung, die Nachfrage nach religiöser Belehrung blieb gering. Zudem war der Preis aufgrund der wenigen Abonnenten
285 Zu Pobedonoscev: Walicki, A History of Russian Thought, 297-300. 286 Pleyer, Das russische Altgläubigentum, 17-18. Die Broschüre Über das Wesen und die Bedeutung des Raskol in Russland, die Subbotin im Auftrag Pobedonoscevs 1881 verfasst hatte, spiegelte die Denkweisen beider wider: »Die persönliche Freiheit des Raskol gesetzlich zu schützen, bedeutet die böseste Feindschaft gegen die Orthodoxie zu sanktionieren […].« Zit. nach: Smolitsch, Geschichte der russischen Kirche, Bd. 2, 185, zu Subbotin: 184-185, 199. Ausführlich zu Subbotin: Heller, Die Geschichte der russischen Altgläubigen, 143-144. Das Verhältnis zwischen Subbotin und Pobedonoscev zeichnet der Briefwechsel zwischen beiden nach, den V.S. Markov 1914 herausgegeben hat. Siehe den Brief, den Pobedonoscev Subbotin am 30. Januar 1883 zusendete: Markov (Hrsg.), K istorii raskola-staroobrjadþestva, 194. 287 Markov (Hrsg.), K istorii raskola-staroobrjadþestva, 112. 288 Gabriele Scheidegger, die in ihrer Habilitationsschrift Grundlagenforschung zu den Anfängen der Kirchenspaltung geleistet hat, griff vielfach auf die Publikationen Subbotins zurück. Sie betonte den Wert der vorrevolutionären Raskolforschung trotz ihrer Polemik und Voreingenommenheit. Scheidegger, Endzeit; Scheidegger, Altgläubige, 361362. 289 Vgl. Subbotin, Proischoždenie belokrinickoj ierarchii, VII-VIII. 290 Markov (Hrsg.), K istorii raskola-staroobrjadþestva, 649.
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sehr hoch.291 Deutlich sah Subbotin, dass er den gut gemachten Schriften der Altgläubigen nur wenig entgegensetzen konnte: »Die Subskriptionen für das ›Bratskoe Slovo‹ gehen schwerfällig. […] Aber die Spalter (raskolniki) schlafen nicht. Sie verbreiten ihre Bücher mit einem ungewöhnlichen Eifer: Ihre Erzbischöfe, obgleich Bauern (mužiki), machen ihre Sache gut.«292 Mehrfach beschwerte sich Subbotin bei seinem Freund Pobedonoscev, dass alle die Schriften Nikolaj Leskovs, Aleksandr Prugavins und I. Juzovs läsen, die das Altgläubigentum als soziale Bewegung deuteten, während nur wenige das Bratskoe Slovo nachfragten.293 Als Subbotin begann, eine neue Reihe Materialien für eine Geschichte des Raskol herauszugeben, geriet die Bruderschaft an die Grenze ihrer finanziellen Mittel. Das Geld für das Bratskoe Slovo floss nun in das neue Publikationsprojekt, dessen Titel der ›Sektenforscher‹ Vladimir Bonþ-Brueviþ einige Jahre später mit vollkommen anderer Intention aufgreifen würde.294 Obgleich das Bratskoe Slovo mit dem Ziel angetreten war, die Entfernung zwischen Gläubigen und Geistlichen zu verringern und vor allem den missionierenden Geistlichen als Forum der Selbstverständigung zu dienen, lasen es weder die Geistlichen noch die Gläubigen mit Leidenschaft. Über die Gründe dafür lässt sich nur spekulieren. Es ist zu vermuten, dass militanter auftretende Konkurrenzblätter, wie der Freund der Wahrheit (Drug Istiny), dem Bratskoe Slovo das Terrain streitig machten.295 Zudem setzten die Texte – wir werden dies auch an den Autobiographien von Koževnikov und ýurakov sehen – umfassendes religiöses Wissen voraus. Dass trotz ihres kurzen Publikationszeitraums die im Bratskoe Slovo erschienenen Autobiographien im Mittelpunkt des Unterkapitels stehen, hat fünf Gründe. Erstens sticht diese Zeitschrift in der Publikation bäuerlicher Lebensgeschichten quantitativ aus der orthodoxen Publizistik heraus. Von den 40 bäuerlichen Konvertiten-Autobiographien, die Zajonþkovskij verzeichnet hat, sind 22 dort er-
291 Die Gründe für das geringe Interesse erörtert Subbotin in einem Brief an Pobedonoscev 1886. Er sieht sie vor allem im hohen Preis: Markov (Hrsg.), K istorii raskolastaroobrjadþestva, 414. 292 Brief Subbotins an Pobedonoscev vom 30. Dezember 1884: Markov (Hrsg.), K istorii raskola-staroobrjadþestva, 388. 293 Brief Subbotins an Pobedonoscev 1882: Markov (Hrsg.), K istorii raskolastaroobrjadþestva, 226. Der Narodnik Iosif Kablic nutzte als Pseudonym den Namen I. Juzov. 294 Lisovskij, Russkaja perodiþeskaja peþat’, 78. 295 Die Konkurrenz war nur von kurzer Dauer. 1890 musste die wöchentliche Zeitung Drug Istiny ihr Erscheinen einstellen. Sie hatte seit 1888 bestanden. Conybeare, Russian Dissenters, 250.
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schienen.296 Epigonen, die gleichfalls bäuerliche Autobiographik veröffentlichten, bezogen sich, zweitens, auf das überregionale Bratskoe Slovo als ihr Vorbild.297 Drittens weist die Zeitschrift anders als die Eparchialnachrichten einen überregionalen Zuschnitt auf. Sie bietet sich an, danach zu fragen, wie in den Autobiographien Kirche als nationale und imperiale Institution entworfen wurde. Viertens sind gerade die Autobiographien im Bratskoe Slovo stark miteinander vernetzt. Im Text und in Fußnoten verwiesen Autobiographen und Herausgeber auf das Handeln und Schreiben anderer Konvertiten, deren Lebensgeschichten ebenfalls in dem Blatt erscheinen konnten. Sie bildeten durch die Ehrerweisungen eine Gemeinde von ›verlorenen Söhnen‹, die sich unter dem Dach des Bratskoe Slovo als Gruppe fühlen konnte. 298 Fünftens übernahmen die Altgläubigen und ›Sektierer‹ für ihre Autobiographien in den Publikationen der ›Sektenforscher‹ Schreibweisen und Deutungsbausteine, die – unter umgedrehten Vorzeichen – im Bratskoe Slovo erprobt worden waren. Sie stehen im Teilkapitel über das Autobiographieprojekt Bonþ-Brueviþs im Mittelpunkt. Paradoxien des Glaubens – Vasilij Koževnikov Vasilij Koževnikov veröffentlichte seine Autobiographie als Erzählung eines ehemaligen Altgläubigen über seine Abkehr vom Raskol hin zur Orthodoxie. Sie erschien 1875 zu Beginn des bäuerlichen Autobiographiebooms, der die Publizistik des Zarenreichs erfasste. Obgleich sein bäuerlicher Stand in der Fußnote der Herausgeber genannt wird, spielte er für Koževnikov weder als Mittel der Selbstverortung noch als Sprecherlaubnis eine Rolle. Koževnikov stand – wie ein Heiliger in seiner Vita – außerhalb der Ständestruktur. Es waren vor allem innere Erlebnisse, nicht äußere Ereignisse, die das Sprechen über das eigene Leben legitimierten. Koževnikov erzählte eine überzeitliche Geschichte, eine Geschichte, die immer wieder so geschehen könne. Er sprach dank seiner Konversion und er konvertierte mit dem Sprechen über seine Lebenswende. Die Autobiographie trug das Unsichtbare nach Außen und reihte den Schreiber sichtbar in die neue Gemeinschaft ein.
296 Zajonþkovskij (Red.), Istorija dorevoljucionnoj Rossii, T. 3. ý. 1. 297 So zum Beispiel die Oloneckie Eparchial’nye Vedomosti: Serebrenikov, Rasskaz krest’janina, 155, Fn. 1. 298 Sowohl Koževnikov als auch ýurakov wurden in den Autobiographien anderer Konvertiten erwähnt, wie sie gleichfalls in ihren Texten auf Konvertierte verwiesen, deren Autobiographien im Bratskoe Slovo erschienen waren. Koževnikov kommt in der Autobiographie Dudarevs vor, während das Wirken ýurakovs als Missionar in Kozmins Autobiographie Niederschlag findet. Kozmin, Moja žizn’; Dudarev, Vospominanie.
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Es mag wie ein Widerspruch erscheinen, doch gerade die Schilderung des eigenen Lebens als überzeitliches Ereignis war eine Antwort auf beschleunigten Wandel im Verhältnis von Staat, Kirche und den Anhängern verschiedener Stände und religiöser Gemeinschaften. Der lebensgeschichtliche Text Koževnikovs wurde nach Reformen veröffentlicht, die den Altgläubigen das Leben erleichterten. Seit den frühen 1870er Jahren war es den ›weniger schädlichen‹ Gruppen der Altgläubigen erlaubt worden, öffentliche Ämter zu bekleiden. Eine weitere Milderung ging mit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht einher. Die örtlichen Behörden wurden 1874 angewiesen, die Ehen von Altgläubigen in besondere Standesregister einzutragen, wodurch sie erstmals Gültigkeit erlangten. Mit diesem Gesetz war die standesamtliche Eheschließung abseits der orthodoxen Kirche möglich geworden.299 In einer Fußnote offenbaren die Herausgeber des Bratskoe Slovo ihre Beweggründe, das Leben Koževnikovs einer Leseöffentlichkeit zu präsentieren. Erstens aus einem allgemeinen Interesse heraus, das jede »Beichte«, jede Schilderung innerer Umwälzungen interessant mache. Zudem – und diese Erklärung offenbart die Nähe zum allgemeinen, aus der Hagiographie stammenden Autobiographiediskurs – habe Koževnikov mit bedeutenden Vertretern des Raskol in engem Kontakt gestanden, er sei »Augenzeuge« (oþevidec) und »unbefangene Beweisperson« (neposredstvennyj svidetel’). In seinem Leben spiegele sich das Wirken wichtiger Personen. Es ist die Nähe zu den Orten und dem Geschehen, die es den Herausgebern geboten erscheinen ließ, die Autobiographie Koževnikovs zu veröffentlichen. In einer Zeit, in der die rechtlichen Unterschiede zwischen der orthodoxen Kirche und den ›Häresien‹ eingeebnet wurde, bot Koževnikov mit seinem Leben einen Beweis, dass die Unterschiede immer noch bestünden. Sein Leben war ein Exempel für die geringe Heilserwartung, auf die ein Altgläubiger hoffen könne. Koževnikov buhlte unter den Altgläubigen für eine Zuwendung zur orthodoxen Kirche, wie er innerhalb der Orthodoxen um Vertrauen bat, dass die Konvertiten keine Lügner seien, sondern sich wahrhaftig gewandelt hätten. Wie die anderen Konvertiten im Bratskoe Slovo hatte er zweifelnde Altgläubige, vor allem aber andere Bekehrte sowie orthodoxe Gläubige als seine Leser im Blick. Vorwendezeit – Krise und Kritik Koževnikovs Lebensgeschichte weist den typischen Dreischritt der Konversionserzählung auf: Es gibt eine Wende, eine ausführlich geschilderte Zeit davor und einen knapp gefassten Zeitraum nach dem Umschwung. Sein Leben läuft in der Autobiographie auf die Konversion zum orthodoxen Glauben hinaus, die einem kompletten
299 Hauptmann, Russlands Altgläubige, 77; Conybeare, Russian Dissenters, 234; Smolitsch, Geschichte der russischen Kirche, Bd. 2, 184.
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Wechsel der Weltsicht gleichkommt. Koževnikov schrieb als orthodoxer Christ. Seine Geschichte als Suchender ist aus der Perspektive des Angekommenen verfasst. Der Zeit bis zu seiner Konversion räumte Koževnikov in seiner Lebensgeschichte den meisten Platz ein. Mit dem Beginn des Kindesalters wurden erste Begründungen für die Wende angeboten, die Konversion wurde durch die Kindheitsbeschreibung als »zentrales, die ganze Biographie« betreffendes Ereignis geschildert.300 Der erste Teil der Lebensgeschichte ist als permanente Krise dargestellt, wobei selbst radikale Veränderungen in Lebensform und Familie nur kurzfristig Linderung brachten. Koževnikov ließ seine Lebensgeschichte mit seiner orthodoxen Taufe beginnen, Angaben zum Geburtsjahr, Geburtsort, Geschwistern und womit die Familie ihr tägliches Brot verdiente, gab er nicht. Als Siebenjähriger verlor er – so die Autobiographie – seinen Vater und mit dem familiären Rückhalt auch den ›wahren‹ Glauben. Er sei in der Familie des Onkels aufgenommen worden, wo er gemäß der altgläubigen Riten als popovec, als am Priestertum festhaltender Altgläubiger, erzogen wurde. Das familiäre Drama, den Verlust des Vaters, fasste Koževnikov als erzwungene Entfremdung von der Orthodoxie. Den Onkel schilderte er als großen Verfechter des altgläubigen Glaubens, der ihn auf den Irrweg führte. Er wurde von ihm sehr religiös und in Feindschaft zur orthodoxen Kirche erzogen, wobei vor allem die Lektüre der Soloveckaja þelobitnaja die Abscheu nährte. Diese Bittschrift hatten 1668 Mönche des Klosters von Solovki an den Zar Aleksej Michajloviþ gesandt. Sie ist eine kritische Abrechnung mit den Nikonischen Reformen. In der Bittschrift bezichtigten die Mönche den Patriarchen Nikon und die orthodoxe Kirche der Verfälschung des alten Glaubens. Sie behaupteten, dass Russland kein orthodoxes Land mehr sei, sich die göttliche Verbitterung über die Neuerungen in Hungersnöten, Seuchen und Kriegen offenbare.301 Der Zar erwiderte die Bittschrift mit der Belagerung Solovkis, die nach acht Jahren mit der Erstürmung und einem Gemetzel endete. In den folgenden Jahrhunderten fand die Bittschrift als Credo der Altgläubigen weite Verbreitung. Die Lektüre der alten Schriften lässt sich in jeder Autobiographie altgläubiger Konvertiten entdecken. Die Schilderung der Leseerfahrungen stellte als narratives Element das Leben des Schreibers in die Tradition der Kirchenspaltung und aktualisierte das Schisma. Konvertieren können nur diejenigen, die die Unterschiede kennen. Die alten Texte zementierten die Differenzen. Zudem zeigt die Schilderung dieser wiederkehrenden Erfahrung, für wie wichtig Lesen und Schreiben in altgläubigen Familien gehalten wurde. Früh wurde
300 Ulmer bietet eine instruktive Analyse mündlicher Konversionserzählungen. Zu den strukturellen Merkmalen zählt er den dreigliedrigen Aufbau: die ausführliche Schilderung der Kindheit, Krise vor der Konversion sowie das neue Bekenntnis als Wendepunkt. Ulmer, Die autobiographische Plausibilität, 289. 301 Hauptmann, Russlands Altgläubige, 53-54.
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den Kindern die Schriftkundigkeit gelehrt, denn nur wer lesen könne, vermöge die richtigen Texte von den falschen zu scheiden.302 Schon als Kind wurde Koževnikov – so die Autobiographie – mit den liturgischen Regeln vertraut gemacht und bald las er die Messe im Haus seines Onkels.303 Schnell ließ er das Mittelmaß hinter sich. Seine Autorität unter den Altgläubigen wuchs, er war ihnen in Askese und Eifer Vorbild. Sie hörten ihm zu, wenn er verkündete, dass die Richtung der am Priestertum festhaltenden Altgläubigen gemäß des Rogožsker Friedhofs (Rogožskoe kladbišþe) die einzig wahre Auslegung des Glaubens sei.304 Koževnikov glaubte, seine Hingabe zum Glauben nicht mit dem Eheleben verbinden zu können. Obwohl er schon verheiratet war, ersehnte er seinen Eintritt in ein altgläubiges Kloster. Doch der Ikonenmaler Ivan Veselev und der Mönch Iraklija rieten ihm von diesem Schritt mit dem Argument ab, dass es den Klöstern an Führung fehle. Koževnikov beschloss, »in der Welt zu bleiben«.305 Doch die Saat des Zweifels war nun gesät. Sie fand schließlich auch in der vermeintlichen Fehlerhaftigkeit seiner Freunde fruchtbaren Boden. Veselev erregte sein Misstrauen, indem er auch Frauen an der Liturgie teilhaben ließ und seinen Mitbrüdern erlaubte, zur Messe in die »ketzerische Kirche« zu gehen.306 Koževnikov versuchte, seinen früheren Berater mit der Soloveckaja þelobitnaja auf diesen Frevel aufmerksam zu machen. Die Bittschrift warne vor jeglicher Berührung mit der orthodoxen Kirche. Veselev entgegnete ihm, dass in dieser Schrift nicht nur Wahres dargelegt sei. Die Altgläubigen würden sich von der orthodoxen Kirche nicht im Glauben, sondern nur in ihren Riten unterscheiden. Was die Episode offenbart, ist die Verunsicherung über das geschriebene Wort, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht nur die Altgläubigen erfasste. Selbst sakrosankte Schriften konnten nun angezweifelt werden; die Verbindungen zum Vergangenen, das erst Gemeinschaft schafft, waren brüchig geworden, auch mit den alten Schriften ließ sich kein sicherer Boden, keine Gewissheit für die eigene Lebensführung mehr gewinnen. Mit seinen Äußerungen offenbarte Veselev seine Nähe zur ›Eingläubigkeit‹ (edinoverie), einer von den priesterlichen Altgläubigen an der Wende zum 19. Jahrhundert angeregten Bewegung, die die Union mit
302 Brooks, When Russia Learned to Read, 26. 303 Koževnikov, Rasskaz byvšago staroobrjadca, 9. 304 Während der Pest 1771 boten die Altgläubigen ihre Hilfe bei der Versorgung der Kranken und der Bestattung der Toten an. Die am Priestertum festhaltenden Altgläubigen (popovcy) erhielten für ihre Quarantänestationen, Hospitäler und Friedhöfe ein Gelände im Osten Moskaus (Rogožskoe kladbišþe) und die priesterlosen Altgläubigen (bespopovcy) im Nordosten der Stadt (Preobraženskoe kladbišþe). 305 Koževnikov, Rasskaz byvšago staroobrjadca, 11. 306 Koževnikov, Rasskaz byvšago staroobrjadca, 11.
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der Staatskirche befürwortete. Die Anhänger der ›Eingläubigkeit‹ hofften darauf, ihren Glauben ohne Verfolgung leben, das Problem der »wahren Hierarchie« und der Priesterweihe lösen und in ihrer Gemeinschaft Gottesdienste und Sakramente der orthodoxen Kirche bewahren zu können. Zar und Metropolit waren auf diese Anregung eingegangen und hatten 1800 eine Einrichtung gegründet, die den Altgläubigen die Rückkehr in den Schoß der Kirche erlauben sollte.307 Den Altgläubigen wurde gestattet, ihre liturgischen Regeln, das Zweifingerkreuz308 und ihre alten Bücher beizubehalten, sie mussten dafür aber den Moskauer Patriarchen anerkennen. Die ›Eingläubigkeit‹ gewann in den Jahren der Verfolgung unter Nikolaus I. große Bedeutung. Ihre Anziehungskraft schwand in dem Maße, wie die Nachstellungen abnahmen.309 Orthodoxe Herausgeber wie Subbotin sahen in der ›Eingläubigkeit‹ eine Möglichkeit, die orthodoxe Kirche auf Kosten der Altgläubigen wachsen zu lassen. Koževnikov konnten Veselevs Ansichten nicht überzeugen. Er strebte – so die Autobiographie – der größtmöglichen Trennung von der orthodoxen Kirche zu. 1845 wurde eine neue, aus Lužki stammende Richtung des Altgläubigentums im Dorf populär, die sich von den Denominationen aus Tula und Moskau durch einen sehr asketischen Lebensstil unterschied. Ihren Anhängern war es nicht nur verboten, mit den Gläubigen der orthodoxen Kirche gemeinsam zu beten, sondern sogar zu essen und zu trinken. Die lužkovcy machten sichtbar, wer dazu gehörte und wer außen stand.310 Koževnikov ersehnte die Zugehörigkeit zu diesem Kreis, der Erlösung verhieß. Nachdem er sich mit »erfahrenen« Menschen beraten hatte, verband er sich schließlich mit den Altgläubigen von Lužki, noch bevor 1848 die Pest wütete und sich das Gerücht verbreitete, dass nur die lužkovcy vom drohenden Tod errettet würden: »Sogar viele Orthodoxe gingen aus Blindheit und Unvernunft zum Glauben von Lužki über und in unserem Ort ist das Altgläubigentum (raskol) stark gewachsen.«311 Indem Koževnikov den Übertritt der orthodoxen Christen zu den Alt-
307 Smolitsch, Geschichte der russischen Kirche, Bd. 2, 169. 308 Das Dreifingerkreuz gehörte zu den umstrittendsten Neuerungen, die der Patriach Nikon durchzusetzen versuchte. Die Altgläubigen blieben beim traditionellen Kreuzzeichen mit zwei Fingern. Ausführlich zu den Nikonischen Reformen: Scheidegger, Endzeit. 309 Hauptmann, Russlands Altgläubige, 83-84. 310 Weder Hollberg noch Hauptmann geben in ihren Standardwerken Informationen über die Denomination aus Lužki. Wenige Angaben in: Pleyer, Das russische Altgläubigentum, 36. 311 Koževnikov, Rasskaz byvšago staroobrjadca, 13-14. Auch andere Konvertiten schrieben von der Anziehungskraft, die die lužkovcy nach der Pest 1848 im Gouvernement Kaluga entfalteten. Orechov, Moja žizn’ v raskole, 130.
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gläubigen als Weg in die Dunkelheit bezeichnete, offenbarte er deutlich die Position, aus der er sprach. Als Altgläubiger schrieb er nicht mehr. Eindrücklich schilderte Koževnikov die Schwierigkeit einer das Priestertum anerkennenden altgläubigen Gemeinde. Die popovcy besäßen im Zarenreich keine legitime Hierarchie, um Priester weihen und die Sakramente spenden zu können. Es gebe kaum Popen, die die religiöse Grundversorgung sicherstellten, und wenn welche zur Verfügung stünden, müssten sie zuerst in Moskau geweiht werden. Zudem beginne manch einer der auf umständlichen Wegen gewonnenen Geistlichen das Trinken. Koževnikov legte mit seiner Analyse den Finger in die Wunde der priesterlichen Altgläubigen, denn die Priesterfrage war auch durch die Aufnahme flüchtiger Priester (beglye) aus der orthodoxen Kirche nur schlecht gelöst. Nicht immer wandten sich die orthodoxen Priester aus religiösen Gründen den Altgläubigen zu. Kirchenstrafen und weltliche Vergehen ließen auch geschasste Priester sowie einfache Betrüger bei den Altgläubigen Schutz und ein Einkommen als Pope suchen. Zudem haftete an den flüchtigen Priestern der Makel der Unreinheit, die als ansteckend galt und von der man glaubte, dass sie wie eine Krankheit durch Berührung übertragen werden könne. Die Ordination eines Priesters erfolgte durch das Handauflegen eines Patriarchen, eines Metropoliten, eines Erzbischofs oder Bischofs, was die Priesterlosen (bespopovcy) dazu verleitete, die Aufnahme ehemaliger Priester aus der orthodoxen Kirche als unrein abzulehnen.312 Erst die Gründung der Hierarchie von Belaja Krinica 1846 in der Bukowina, damals Teil des Habsburgerreichs, erlaubte die eigenständige Weihe altgläubiger Priester. Sie war möglich geworden, da der Metropolit Amvrosij nach einem Zwist mit der orthodoxen Kirche zu den Altgläubigen übergetreten war. Obgleich Zar und Regierung bei den österreichischen Behörden intervenierten und die russische Polizei versuchte, Grenzübertritte der dort geweihten, altgläubigen Bischöfe zu verhindern, gab es bald zehn »österreichische« Bischöfe im Zarenreich und damit die Möglichkeit, Priester zu weihen und Sakramente zu spenden.313 Über die »österreichischen« Bischöfe sprach Koževnikov sehr kritisch, gleichwohl gerade er bis in ihre Vorzimmer gelangt war. Koževnikov hatte in der Gemeinde seines Dorfs eine besondere Stellung inne, denn er begleitete die angehenden Priester nach Moskau, damit sie in die Reihe der Geistlichen aufgenommen werden konnten. Auf den Reisen nach Moskau erwuchsen neue Zweifel gegenüber der Hierarchie von Belaja Krinica. Sein Argwohn entzündete sich vor allem an dem Gebet für den Zaren, das die Priesterlosen ablehnten, während die Priesterlichen es
312 Zu den unterschiedlichen Reinheitsvorstellungen der priesterlichen und priesterlosen Altgläubigen: Scheidegger, Endzeit, 46. 313 Smolitsch, Geschichte der russischen Kirche, Bd. 2, 167; Subbotin, Proischoždenie belokrinickoj ierarchii.
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eigentlich gestatteten. Während die dem Priestertum anhängenden Altgläubigen, zu denen sich Koževnikov zählte, in dem Gebet für den Zaren ursprünglich kein Problem sahen, da sie davon ausgingen, dass er der gottgenehme Herrscher sei, der nicht der Antichrist sein könne, da dieser erst am Weltende erscheinen würde, sahen die Priesterlosen im Zaren den Widergott.314 Doch auch die loyalen Priesterlichen wurden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von den Ideen der radikaleren Priesterlosen erfasst. Die altgläubigen Erzbischöfe Antonij (Šutov) und Konon hatten dem neuen Popen streng verboten, für den Zaren zu beten und ihn bei der Proskomidie, der Vorbereitung der Gaben in der Eucharistie, zu erwähnen. Dieses Verbot, welches die Grundsätze der popovcy ins Wanken brachte, alarmierte nicht nur den Geistlichen, sondern mit Koževnikov auch die anderen Altgläubigen in der Gemeinde.315 Diese Beunruhigung setzte sich in den nachfolgenden Ereignissen fort. Die Jahre 1860 bis 1863 nehmen in der Erzählung Koževnikovs den größten Raum ein. Doch ist es nicht die Bauernbefreiung, die in der Lebensgeschichte ihre Spuren hinterließ. Die Welt jenseits der Dichotomie Glaube und Unglaube spielte in Koževnikovs Autobiographie keine Rolle. Trotz konkreter Bezüge waren Koževnikov und seine Herausgeber bemüht, eine überzeitliche Geschichte zu erzählen, die sich zwischen diesen beiden Polen bewegte. In dieser Zeit lernte Koževnikov Ilarion Kabanov kennen, der die Unterschiede zwischen dem Glauben der Altgläubigen und der orthodoxen Kirche für gering hielt und den altgläubigen Erzbischöfen Antonij und Konon kritisch gegenüber stand. Sie verstünden es nur, »goldene Kappen zu tragen«. 1862 wurde Kabanov von Antonij nach Moskau gerufen, um mit anderen einflussreichen Altgläubigen die Lebensbedingungen ihrer Gläubigen zu diskutieren. Kabanov bat Koževnikov, ihn nach Moskau zu begleiten. Auf der Versammlung sprach sich Kabanov dafür aus, jene »gotteslästerlichen« Bücher zu zerstören, die von den Priesterlosen herrührten. Er bat, ein Rundschreiben (okružnoe poslanie) veröffentlichen zu dürfen. Dies wurde anfänglich abgelehnt, erst als Koževnikov auf die Anwesenden einredete, gestatteten sie Kabanov, das Rundschreiben zu verfassen. Alle unterschrieben, nur Antonij weigerte sich und unterzeichnete erst, als weiterer Widerstand unmöglich schien. Dass die Vorgänge um Kabanovs Rundschreiben so ausführlich geschildert werden, hat mehrere Gründe: Im Narrativ bildeten sie einen weiteren Anlass, an dem Verhalten der priesterlichen Altgläubigen zu verzweifeln, ihre Grundsätze als falsch zu entlarven und als ultimo ratio die Vereinigung mit der orthodoxen Kirche anzustreben. Nicht nur auf dem Dorf wurde Koževnikov demzufolge durch das
314 Smolitsch, Geschichte der russischen Kirche, Bd. 2, 161-162. Detailliert zu den russischen Vorstellungen über den Antichristen: Isupov, Antichrist, 21-22; Scheidegger, Endzeit, 27-70. 315 Koževnikov, Rasskaz byvšago staroobrjadca, 17.
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Verhalten der Gläubigen und Popen mit den Unzulänglichkeiten des Altgläubigentums konfrontiert, nein, auch die Spitze war stumpf und morsch. Dabei war das Rundschreiben von Ilarion Kabanov keine Bagatelle. Es erzeugte nicht nur theologische Zwistigkeiten unter den Altgläubigen, sondern rief sogar eine Spaltung innerhalb der Hierarchie von Belaja Krinica hervor. Indem Kabanov zehn Lehrsätze aufstellte, versuchte er, den Priesterlosen und ihren Lehren Einhalt zu gebieten. Er verwahrte sich gegen die Theorie vom geistlichen Antichristen und lehrte die Dauer der orthodoxen Kirche und das unaufhörliche Priestertum bis zum Ende der Welt. Die Altgläubigen, die russisch-orthodoxe Kirche und die griechische Kirche hätten denselben Gott, das Schisma sei durch den Patriarchen Nikon und das Konzil 1667 verursacht worden. Zudem brandmarkte sein Rundschreiben jene Beschimpfungen als falsch, mit denen die Priesterlosen die orthodoxe Kirche bedachten.316 Wenig später reiste Kabanov mit Koževnikov erneut nach Moskau. Koževnikov sollte auskundschaften, wie das Rundschreiben von den Altgläubigen aufgenommen worden war. Er stieß vor allem auf Ablehnung und Misstrauen. Viel Tinte und Papier verbrauchte Koževnikov, um die theologischen Zwistigkeiten zwischen den Befürwortern und den Gegnern des Rundschreibens darzulegen, Papier, das auch der Herausgeber Subbotin Koževnikov gern einräumte. Subbotin hatte an den Vorgängen um das Rundschreiben größtes Interesse. Sie stützten seine Geschichte des Raskol, die innerhalb des Altgläubigentums Zwist und theologische Paradoxien entdecken wollte und die nicht dogmatische Differenzen, sondern persönliche Zwistigkeiten für die Kirchenspaltung im 17. Jahrhundert verantwortlich machte.317 Das Rundschreiben stand in mehreren Publikationen Subbotins im Mittelpunkt, sowohl das Bratskoe Slovo als auch die Eparchialnachrichten veröffentlichten bäuerliche Autobiographik, in der die Vorgänge um das Rundschreiben geschildert werden.318 Wende als Wunder Streitdebatten zwischen Priesterlichen und Priesterlosen, bei denen keine Argumente überzeugen konnten, das unmoralische Verhalten der ›österreichischen‹ Bischöfe, die Übertritte von geschätzten Freunden zur orthodoxen Kirche, das Zerwürfnis unter den Priesterlichen – es sind viele Dinge, die Koževnikov als falsch am Glauben der Altgläubigen schilderte. Sie lieferten jedoch in seinem Narrativ nicht die Letztbegründung für seine Konversion. Koževnikov schilderte die Wende
316 Ausführlicher zu dem Rundschreiben (okružnoe poslanie) Ilarion E. Kabanovs: Smolitsch, Geschichte der russischen Kirche, Bd. 2, 168-169; Hauptmann, Russlands Altgläubige, 150-151; Heretz, Russia, 64-65. 317 Schon in seiner Dissertation 1874 sei dies die Meinung Subbotins gewesen, wie Vasilij Kljuþevskij berichtete: Kljuþevskij, Doktorskij disput G. Subbotina, 242-243. 318 Subbotin, Neskol’ko slov v raskol; Skosyrskij, Povestvovanie obrativšegosja, 29.
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nicht als rationale Entscheidung, nicht als eine Antwort auf Nöte und Miseren. Es war ein Wunder, das die Umkehr auslöste.319 Sie vollzog sich plötzlich, war kein rationales Probieren, sondern brach über Koževnikov herein. Wie in der Vita eines Heiligen konnte die freie Wahl zwischen Gut und Böse allein solch eine einschneidende Veränderung nicht erklären. Erst das Wunder brachte Bewegung in die Biographie der Heiligen wie auch in die Lebensgeschichte Koževnikovs.320 Das Konversionswunder begann als Kirchgang, dessen Tatsächlichkeit durch die genaue Angabe des Orts und des Zeitpunkts beglaubigt wird. Wie von einer geheimnisvollen Kraft angezogen betrat Koževnikov in Kaluga eine orthodoxe Kirche. Das Wundersame des Ereignisses bestätigte sich auch dadurch, dass dort eine Messe für Nikol, für den unter den russischen Heiligen mit dem Beinamen »Wundertäter« versehenen Nikolaj, gelesen wurde. Koževnikov verließ seine anfängliche Angst urplötzlich (tot-þas), nachdem er Nikolaj ýudotvorec und die Ikone der Gottesmutter angebetet hatte, ihn zu erretten. Koževnikov glaubte das erste Mal zu erleben, dass Kirche nicht nur ein Haus, sondern Gemeinschaft ist, dass die orthodoxe Kirche die einzig »heilige«, »apostolische« Kirche sei. Ab diesem Zeitpunkt fuhr er öfters heimlich nach Kaluga, um Gottesdienst zu feiern. Doch der innere Umschwung ließ sich nicht verbergen, vor allem Glaubensbrüder im Geiste erkannten ihn als den Ihrigen. Der Bauer Michail Dudarev, ein Verwandter Koževnikovs, der selbst den altgläubigen Glauben hinter sich gelassen hatte, ermahnte ihn in Briefen und Gesprächen, seine Entscheidung nicht aufzuschieben, sondern sich so schnell wie möglich mit der orthodoxen Kirche zu vereinigen. Dudarev gab ihm auch Bücher, mit denen er den orthodoxen Glauben prüfen konnte.321 Der Aufwand hatte Erfolg, in den Schriften fand er seine gewachsenen Vorbehalte gegenüber den Altgläubigen bestätigt. Dem Wunder folgte in dem Narrativ Koževnikovs schließlich auch die ratio. Anders als in der Heiligenvita ist das Wunder nur noch Katalysator des Wandels, erst die Vernunft erlaubte bleibende Veränderung.
319 Koževnikov, Rasskaz byvšago staroobrjadca, 33. 320 Lichatschow, Der Mensch, 102. 321 Die Lebensgeschichte Michail Dudarevs (1836-?) weist viele Gemeinsamkeiten mit Koževnikovs Vita auf. Auch er wurde im Dorf Dvorec geboren, auch er vereinigte sich mit den lužkovcy, bevor er der orthodoxen Kirche beitrat, für die er als Missionar und orthodoxer Geistlicher tätig war. Seine Lebensgeschichte erschien zehn Jahre später nach ýurakovs im Bratskoe Slovo. Subbotin erwähnte sie lobend gegenüber Pobedonoscev. Dudarev, Vospominanie; Markov (Hrsg.), K istorii raskola-staroobrjadþestva, 405.
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Nachwendezeit Es ist allein die Vorgeschichte zur Konversion, die für Koževnikov und seine Herausgeber interessant war. Koževnikov verschwieg in seiner Autobiographie nicht das vergangene Leben, sondern belegte wie die anderen Konvertiten seinen Lebensweg vor der Konversion mit einem Amnesieverbot. Auch er spaltete das alte, ›falsche‹ Leben nicht ab, sondern deutete es als wichtige Vorstufe zur jetzigen, ›richtigen‹ Lebenskonzeption.322 Seit 1864 ging Koževnikov nicht mehr zu den Altgläubigen beichten, am 25. März 1865, an Mariä Verkündigung, trat er zur orthodoxen Kirche über. Ob er den Weg zur orthodoxen Kirche wie ýurakov zehn Jahre später über die Regeln der ›Eingläubigkeit‹ nahm, bleibt unausgesprochen. Vielsagend ist dagegen das Datum: Er erwies damit nicht nur der Gottesmutter die Ehre, die ihn in Kaluga aus der Finsternis herausgeführt hatte. Das Hochfest Mariä Verkündigung ist zudem liturgisch mit dem Weihnachtsfest und der Taufe Christi am 6. Januar verbunden. Mit diesem Datum als Abschluss schlug Koževnikov einen Bogen zu dem Beginn seiner Lebensgeschichte, die mit Geburt und Taufe begonnen hatte. Zudem konnotierte er dadurch sein Leben als Mittel der Verkündigung, als Werkzeug der Mission. Innerhalb eines Jahrs überzeugte er seine »nicht kleine« Familie, die in seiner Lebensgeschichte bisher keine Erwähnung gefunden hatte, der orthodoxen Kirche beizutreten. Sein Entschluss war, anders als die vorherigen Suchbewegungen, von Dauer. Stolz verkündete er seinen Lesern, dass er schon neun Jahre der orthodoxen Kirche angehöre und dass es außerhalb der orthodoxen Kirche »keine Rettung« gebe.323 Die persönliche Krise schwand nach der Konversion und in seiner Lebensgeschichte stellte sich ungetrübtes Glück ein. Kein Ort. Nirgends – Stepan ýurakov Auch Stepan ýurakov präsentierte seine Lebensgeschichte im Bratskoe Slovo unter einem langwierigen Titel, der die Eckdaten der Lebensgeschichte zusammenfasste und sich schon in einem Sinnangebot versuchte: Die Erzählung eines Bauern über das, wo er war, was er gesehen hat, als er herumirrte im Dickicht des Altgläubigentums, und wie er durch Gottesgnade auf dem Pfad der Wahrheit herausgeführt wurde. Die Autobiographie ýurakovs erschien 1884, ebenfalls nach einer Reformwelle, die in der Gesetzgebung die rechtlichen Unterschiede zwischen den Altgläubigen und den Orthodoxen weiter glättete. 1883 war es zu einer grundsätzlichen Regelung der Altgläubigenfrage gekommen, die bis 1905 nicht angetastet wurde. Sie ging weit über die Erleichterungen von 1874 hinaus: Den Altgläubigen wurde
322 Luckmann, Kanon und Konversion, 44; Ulmer, Die autobiographische Plausibilität, 290. 323 Koževnikov, Rasskaz byvšago staroobrjadca, 40.
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volle Bewegungsfreiheit gewährt, man gestattete ihnen das Recht auf Pässe für Auslandsreisen und baute die Zugangshürden für öffentliche Ämter auf örtlicher Ebene ab.324 Geboren wurde Stepan ýurakov im Gouvernement Archangel’sk. Obgleich der russische Norden eine große Zahl von Altgläubigen aufwies, wurde ýurakov wie Koževnikov orthodox getauft. Der orthodoxe Glaube ist bei ihm, wie bei den meisten im Bratskoe Slovo erschienenen Autobiographien, der erste, hiermit ›natürliche‹ Glaube. Erst später fand die Wende zu den Altgläubigen statt, über deren Gründe ýurakov in seiner Lebensgeschichte keine Worte verlor. Aufgezogen wurde er als Filippianer, in einer Abspaltung der priesterlosen Altgläubigen, die sich als besonders strenge Richtung einen Namen gemacht hatte: Die Filippianer propagierten asketisches Leben, geschlechtliche Enthaltsamkeit und weigerten sich, die Fürbitte auf den Zaren auszubringen.325 Sie galten als Fanatiker in der Ablehnung des Staats, mehr als andere altgläubige Strömungen waren sie der Verfolgung ausgesetzt gewesen.326 ýurakov gestaltete seine Konversionserzählung wie Koževnikov. Auch er habe früh, schon mit neun Jahren, Lesen und Schreiben gelernt, wobei gleichfalls der Onkel die Erziehungsaufgabe übernommen habe. Wie bei Koževnikov machte ihn dieser mit den alten Schriften vertraut, die nicht nur die Verbindung zum Vergangenen und den Ursachen des Schismas versinnbildlichten, sondern, folgt man dem Narrativ, auch zukünftige Handlungen hervorriefen. ýurakov beeindruckten vor allem die Schriften Ephraems des Syrers und die Schriften über die Wiederkunft Christi am jüngsten Tag: »Die Lektüre hat so stark meine Seele berührt, dass ich weinte und mich an einen abgelegenen Ort zurückzog, um Gott anzubeten, dass er mich vor den Fallstricken des Antichrist und der ewigen Verdammnis bewahren möge.«327 Die Schriften Ephraems hatten eine ähnliche große symbolische Kraft wie die Bittschrift von Solovki, die Koževnikov in seiner Lebensbeschreibung als handlungsleitendes Erweckungserlebnis erwähnte. Der Widerstand der Altgläubigen gegen die Nikonischen Reformen hatte sich auch an der verringerten Zahl der Niederwerfungen beim Bußgebet Ephraems des Syrers entzündet. Sein asketisches Leben war ýurakov Vorbild, sodass er wie Koževnikov erwägte, seine Eltern zu verlassen. Doch sein Vater hatte andere Pläne. Er wollte ihn verheiraten, damit eine
324 Hauptmann, Russlands Altgläubige, 77. 325 Unter den drei Hauptrichtungen des priesterlosen Altgläubigentums waren die Filippianer (filippovcy) die jüngste und kleinste Gruppe. Sie hatten sich im Jahr 1737 von den Pomorischen (pomorcy) abgespalten, da sich ihr Gründer weigerte, die Fürbitte für den Zaren wieder einzuführen. Hauptmann, Russlands Altgläubige, 207-208; Smolitsch, Geschichte der russischen Kirche, Bd. 2, 159. 326 Hauptmann, Russlands Altgläubige, 128. 327 ýurakov, Krest’janina, 501.
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zusätzliche Arbeitskraft in den Haushalt käme. Sein Flehen, sich dem Dienst an Gott in der Einöde widmen zu dürfen, erhörte der Vater nicht. Wie Koževnikov gelang es auch ýurakov nicht, vor der ›Welt‹ in ein Kloster zu entfliehen. Eine passende Frau aus wohlhabender Familie hatte der Vater schon ausfindig gemacht. Ihr einziger Makel war, dass sie der orthodoxen Kirche angehörte: »Das hat mich noch mehr in Verwirrung gebracht.«328 Ebenso unverständlich war, dass sogar die religiösen Lehrer auf ihn einredeten, sich dem Willen des Vaters zu beugen. Schließlich fügte er sich und ließ sich in einer orthodoxen Kirche trauen. Die Folgen waren verheerend. Er wurde geschnitten, verlacht und zum Außenseiter gemacht: »Mit einem Wort, sie behandelten mich wie einen Häretiker. Mich hat das alles schrecklich verwirrt und mir das Eheleben verleidet.«329 Er beschloss, seine Frau und seine bald nach der Hochzeit geborene Tochter zu verlassen. Glaubt man seiner Autobiographie, dann fiel ihm dieser Schritt nicht leicht.330 Nun begann die Irrfahrt ýurakovs. Wie der verlorene Sohn zog er in ein gottfernes Land, wobei der orthodoxe Glaube, Anfang und Endpunkt seiner Lebensgeschichte, wie der gütige Vater aus dem Lukasevangelium in der Heimat auf ihn wartete. Zuerst ging er in den Amtsbezirk Kem’ zu einem gewissen Vater Taras, dem nachgesagt wurde, dass er seinen Glauben sehr streng lebe. Schon der Aufnahmeritus war eine Hürde, denn er bestand aus sechswöchigem Fasten. Doch schnell stellte sich heraus, dass der angeblich so gottgefällige Taras seinen Mitbrüdern nicht nur Geld entwendet, sondern auch achtzehn von ihnen an die Polizei verraten hatte. Weitere Schwächen nährten ýurakovs Vorbehalte. Er konnte nicht glauben, dass er bei Taras den Weg zur Wahrheit finden würde. Er floh daher mit einem Mitbruder, doch auch sie wurden von dem falschen Lehrer an Soldaten verraten. Nach diesem Erlebnis schloss sich ýurakov dem Vater Sergej in einer fünfzig Werst entfernten Einsiedelei an. Auch hier wurde er freudig empfangen, doch das religiöse Glück mit seinem neuen geistlichen Vater währte nur zwei Wochen. Sergej kam in Arrest, allein mit einem anderen Mönch blieb er in dem Kloster in der Einöde zurück. Filipp, ein Soldat im Ruhestand, der als religiöser Wanderer (strannik) durch die Lande zog, unterbreitete ihm schließlich ein neues religiöses Angebot. ýurakov solle sich umtaufen lassen und gleichfalls ein strannik werden. Anfänglich missfiel es ýurakov, die neu gewonnene Mönchswürde, die ihm erstmalig auch einen Ort in der Welt verhieß, schon wieder hinter sich zu lassen. Es gelang ihm jedoch nicht, sich den verführerischen Reden Filipps zu entziehen. Auch ihn faszinierte die Lebensweise der stranniki, die mit ihrem Leben einen Gegenentwurf zur örtlich verhafteten orthodoxen Frömmigkeit boten, dank ihres fremden Ausse-
328 ýurakov, Krest’janina, 502. 329 ýurakov, Krest’janina, 501. 330 ýurakov, Krest’janina, 503.
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hens anziehend wirkten und Geschichten von fernen Ländern erzählen konnten. Dieser Verlockung erliegend reihte sich ýurakov angeblich gegen seinen Willen in die Reihe der spirituellen Vagabunden ein: »Das passierte natürlich nicht ohne den Willen Gottes, indem ich diese Unheil bringende, altgläubige Irrlehre erprobte, wandte ich mich noch eifriger der Wahrheit zu.«331 ýurakov erteilte der Faszination, die aus seinem Text trotz harscher Urteile spürbar ist, eine Absage. Wie die orthodoxe Kirche konnotierte ýurakov mit der Figur des Wanderers keinen frommen, gottgefälligen Pilger, sondern sah aus der Rückschau in ihm eher den kriminellen, außenstehenden Landstreicher (brodjaga).332 Er teilte mit dem Staat und der orthodoxen Kirche das tiefe Misstrauen gegenüber den Umherschweifenden und Ortlosen. Pilgerfahrten, welche im 19. Jahrhundert unter der bäuerlichen Bevölkerung immer populärer wurden, betrachtete die Kirche skeptisch, während der Staat versuchte, sie durch Passvorschriften einzuschränken.333 Die Irrfahrt ging aber weiter. ýurakov berichtet von den »Geldlosen« (bezdenežnye), der nächsten ›Sekte‹, die ihn faszinierte. Sie lehnten nicht nur Pässe, sondern auch Münzgeld und Scheine als Erzeugnisse des Antichrist ab. Auch sie versuchten, ihn zum Beitritt zu bewegen. Wieder stimmte ýurakov zu, doch fand sich niemand, der ihn hätte taufen können.334 ýurakov trat wie ein unsteter Wanderer unterschiedlichsten Richtungen bei, nirgends fand er eine Heimat. Mit seinem Lebensweg zeichnete er die Altgläubigen als uneinige Richtung, die in zahlreiche Denominationen zerfiel. Dies war auch eine Strategie der orthodoxen Kirche, die im Gegensatz versuchte, als einige Großkirche aufzutreten. Auch hier offenbart sich, dass ýurakov seine Lebensgeschichte als orthodoxer Christ für eine der orthodoxen Kirche nahe stehende Zeitschrift verfasste. Lektüre, Zweifel und Symbole Allein in der Einöde, begann er zu lesen. Unter den Büchern war auch eine Geschichte der russischen Zaren. »Dieses Buch öffnete mir als erstes die Augen.«335 Daraus erfuhr er, dass es falsch sei, den zweiköpfigen Adler als Zeichen des Antichrist zu deuten. Der doppelköpfige Adler stamme nämlich aus Griechenland, nicht Peter der Große, sondern Ivan III. habe ihn nach Russland gebracht. Er sei allein ein Symbol für die weltliche Herrschaft.336 Diese Entdeckung nährte bei ihm die Zwei-
331 ýurakov, Krest’janina, 506. 332 Ausführlich zu den Bedeutungen, die den stranniki zugewiesen wurden: Jessl, Der russische Strannik. 333 Chulos, Converging Worlds, 67; Jessl, Der russische Strannik, 42. 334 ýurakov, Krest’janina, 507. 335 ýurakov, Krest’janina, 508. 336 ýurakov, Krest’janina, 508-509.
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fel an der ›Sekte‹ der »Geldlosen«, für die gerade die Deutung des doppelköpfigen Adlers als Symbol des Bösen den Zusammenhalt begründete. Für ihn gab es nun keinen Grund mehr, dort zu bleiben. Nun wollte er den Nikitins beitreten, einer ›Sekte‹, von der sich wiederum drei ›Sekten‹ abgespalten hatten. Als er unter ihnen lebte, wurde ihm die Frevelhaftigkeit ihres Glaubens bewusst. ýurakov begann, eine »Beschuldigung« (obliþenija) gegen die ›Sekte‹ und die Schriften Nikitas, den Begründer der ›Sekte‹, zu verfassen, die er aber ihrer Brisanz wegen versteckt aufbewahrte. Die Getreuen Nikitas entdeckten allerdings das Schreiben; ýurakov wurde aus der Gemeinschaft verjagt. Der Ausschluss schmerzte ihn wenig, schwerer wog der Verlust der Papiere. Daher bat ýurakov den Kaufmann Ivan Vasjutin um Hilfe. In direkter Rede ist das Gespräch und die Argumentation geschildert, mit der ýurakov die Unterstützung Vasjutins gewann: Nikita handle selbstherrlich und nach eigenem Gutdünken, sein Tun stütze sich nicht auf die Heiligen Schriften und die Worte der Kirchenväter.337 Immer wieder breche er die mönchischen Regeln.338 Auf dem Jahrmarkt in Nižegorod versuchten ýurakov und der Kaufmann, Nikita des falschen Glaubens zu überführen. Doch ihr Vorhaben wurde verraten, Nikita stellte sich dem Streitgespräch nicht. Stattdessen wurde ýurakov wegen fehlenden Passes verhaftet und in seine Heimat gebracht, wo er acht Jahre nicht gewesen war. Hier konnte er seine orthodoxe Frau überzeugen, ihm in die Wälder Sibiriens zu folgen, in denen er den ›wahren Glauben‹ zu finden hoffte. Anfänglich machte die sibirische Einöde einen sittlichen Eindruck: Die Skiten der Männer und Frauen lagen weit auseinander, Kontakt gab es nur über einen alten Abt. Alles wurde selbst hergestellt, der Kontakt zur ›Welt‹ gemieden. Doch auch diese Situation war nicht von Dauer. Unter dem Mantel der Frömmigkeit verbarg sich ýurakov zufolge auch hier die Irrlehre.339 Das Ausmaß ihrer Ketzerei sei an Zahlen ablesbar: Wie bei einer Hydra hätten sich ausgehend von der Denomination der kungurcy neun Subströmungen unter den sibirischen Altgläubigen entwickelt.340 ýurakov zählte sie alle auf. Er beschrieb genau, wer sich aus welchen Gründen von wem getrennt hatte. Darin lag wohl auch der Wert der Lebensgeschichte für Herausgeber wie Nikolaj Subbotin, die an einer Geschichte des Altgläubigentums arbeiteten und die mit ihrer Forschung Mission betrieben und rechtfertigten. Der Frevel der einzelnen Richtungen offenbare sich darin, dass sich die neuen Führer immer wieder selbst tauften. Den Wunsch, sich in Sibirien den kungurcy anzuschließen, verwarf ýurakov schließlich. Er trug sich nun mit dem Gedanken, in die Türkei zu gehen, wohin viele Altgläubige geflohen waren und wo unter ihnen noch Einigkeit herrschen sollte.
337 ýurakov, Krest’janina, 512. 338 ýurakov, Krest’janina, 512-513. 339 ýurakov, Krest’janina, 515. 340 ýurakov, Krest’janina, 517.
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Bevor er sich auf die Reise machte, traf er auf einen Altgläubigen, der in der Türkei geboren und dort groß geworden war. Doch auch er verkündete Unheilvolles. Auch die türkischen Altgläubigen seien zersplittert, unter ihnen herrsche ebenfalls Zwietracht. ýurakov dankte Gott für diesen Hinweis und trat die gefährliche Reise nicht an. Die persönliche Krise, die ihn nirgendwo einen Ort zum Bleiben finden ließ, wurde für ýurakov wie für die Vielzahl der Schreiber von Konversionserzählungen zu einem Problem, das sich auch durch fromme Wanderschaft nicht lösen ließ.341 Wende durch Vernunft Dann geriet ýurakov das Buch Der Zarenweg (Carskij put’) von Vater Pavel in die Hände. Nachdem er es gelesen hatte, fragte er sich, ob »der wahre Glauben sich möglicherweise in der großrussischen Kirche befinde, vor der wir die ganze Zeit fliehen«.342 Altgläubige, die ihren früheren Glauben hinter sich gelassen hatten, bestärkten ihn, sich auch der orthodoxen Kirche zuzuwenden. Sie schenkten ihm Bücher, die seine Ansichten stützten. Anders als bei Koževnikov war es kein Wunder, sondern allein die Lektüre, die den entscheidenden Ausschlag gab. ýurakov übernahm unausgesprochen Biographiemuster, an denen schon Samuel Smiles’ Epigonen ihre Autobiographien ausgerichtet hatten. Seine Lektüren verwiesen nicht nur in Inhalt und Anliegen auf das Bratskoe Slovo, sondern auch in Fußnoten wurden die Bezüge zu dem Blatt und vorhergegangenen Publikationen und Lebensgeschichten hergestellt. Geschichtlichen Büchern wie zum Beispiel Die Geschichte des Raskol des Metropoliten Makarij gelang es, ýurakov eine andere Sicht der Vergangenheit und des Glaubens zu vermitteln. Die altgläubigen Schriften verloren rasant an Wert: »Danach habe ich alle altgläubigen Heftchen und Textsammlungen (cvetniþki) jeglicher Machart beiseite gelegt und wie ein reuiger, verlorener Sohn beschloss ich, zu meiner Mutter, der orthodoxen Kirche zurückzukehren, von der ich in der Kindheit die Taufe empfangen hatte.«343 Und wie der verlorene Sohn im Gleichnis kehrte er – so die Autobiographie – aus Sibirien zuerst in die Heimat zurück, um sich dann 1875 in St. Petersburg mit der ›Eingläubigkeit‹ zu vereinigen. Eine Geschichte des Lebens nach der Konversion bot ýurakov, der nun »im Lichte der Wahrheit« wandelte, seinen Lesern nicht. Nach der Lösung der religiösen Krise gab es nichts mehr zu erzählen.344
341 Ulmer, Die autobiographische Plausibilität, 291. 342 ýurakov, Krest’janina, 518. 343 Auch andere Konvertiten bezeichnen sich selbst als »verlorene Söhne«. ýurakov, Krest’janina, 519; Korelin, Moi vospominanija, 601. 344 ýurakov, Krest’janina, 519.
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Autobiographien als Mittel der Domestizierung Die Autobiographien Koževnikovs und ýurakovs enden gleichartig. Sie teilen mit der Dreigliederung ihrer Lebensgeschichte, in der die Konversion die entscheidende Wende darstellt, die gleiche Oberflächenstruktur. Beide schrieben aus ihrer Konvertitenposition heraus, beide bewerteten das Leben vor der Bekehrung als negativ, spalteten es jedoch nicht von ihrer Lebensgeschichte ab. Vordergründig ergeben sich Unterschiede nur dadurch, dass Koževnikov den priesterlichen Altgläubigen angehört, ýurakov sich hingegen bis zu seiner Konversion zu den Priesterlosen gezählt hatte. Während Koževnikovs Leben für die theologischen Paradoxien innerhalb der priesterlichen Altgläubigen steht, zeichnete ýurakov sein zurückgelassenes Leben als strannik, als religiöser Wanderer, an dessen erfolglosem Suchen sich die Zersplitterung innerhalb der Altgläubigen aufzeigen ließ. Beiden bot erst die orthodoxe Kirche Heimat, beide Autobiographien waren geeignet, das Altgläubigentum zu diffamieren und zu zeigen, dass die Missionstätigkeit unter den Altgläubigen nicht vergeblich sei; vielmehr seien sogar die eifrigsten Altgläubigen empfänglich für die Lehren der orthodoxen Kirche. Allein in der Tiefenstruktur lässt sich ein Wandel erkennen. Während Koževnikov die Wende als Wunder schilderte, vollzog sie ýurakov dank seiner Lektüre und abwägender Vernunft. Dieser Wandel lässt sich an den bäuerlichen Konvertitenerzählungen in ihrer Gesamtheit ablesen. Trotz des Gebrauchs traditioneller hagiographischer Erzählelemente traten jene Erklärungsmuster zurück, die in den Antriebskräften für das eigene Leben allein ein von Gott, bösen Kräften und Herkunft bestimmtes Schicksal (sud’ba) vermuteten und machten einer größeren Selbstbestimmtheit Platz. Es ist daher an dieser Stelle kritisch zu fragen, ob die Diagnose von der Beharrungskraft bäuerlicher Kausalitätsvorstellungen, die Leonid Heretz für ›die‹ Bauern im ausgehenden Zarenreich aufgestellt hat, zutreffend ist.345 Die bäuerlichen Autobiographen, die das Narrativ der Konversionserzählungen für ihre Lebensbeschreibung nutzten, hinterfragten ihre Herkunft sowie den elterlichen Glauben und verorteten sich in sozialen, politischen und religiösen Kontexten ihrer Wahl. Sie waren darin sicher auch ein Beispiel für religiöse Individualisierung. Die orthodoxe Publizistik, die eigentlich eine traditionelle Weltsicht vertrat, verhielt sich ambivalent. Sie propagierte über die Autobiographien Verantwortlichkeit für das eigene Leben, gab aber zugleich Normen vor, wie dieses auszusehen habe. Der Bauer Vlasov, dem sein Vater mit Mord drohte, wenn er der orthodoxen Kirche beiträte, bekundete in seiner Lebensbeschreibung, sich selbst nicht hinter dieser Drohung verstecken zu können. Nicht einmal des Vaters Trachten nach seinem Leben entbinde ihn von seiner Verantwortung: »[…] vergebens nennst du
345 Heretz, Russia, 34-37.
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mich einen Ketzer. Du bist nicht verantwortlich für mich. Vor Gott antwortet jeder für sich selbst.«346 Auch wenn sich die orthodoxe Kirche gegen Glaubenstoleranz und die Freiheit des Bekenntnisses verwahrte, konnte sie sich diesen Diskursen nicht verschließen. Vielmehr nutzten die Herausgeber und Konvertiten sie für ihre Sache: Die Konvertitenerzählungen traten für die Macht des Gewissens und die Wahl des Bekenntnisses ein, solange dies die Abwahl der ›Sekten‹ und altgläubiger Vorstellungen bedeutete. In diesem Fall durfte und sollte der orthodoxe Glaube Gesinnung sein, eine Gesinnung, die sich zugleich gegen die liberale Forderung der Gewissensfreiheit verwahrte.347 Damit zeigen die Autobiographien auch einen Wandel in der Konzeption von Kirche auf. Kirche war in den Autobiographien keine Institution mehr, die an Orte gebunden war. In den Texten war Kirche viel mehr als ein Gebäude, sie erwies sich als nationale und imperiale Institution. Zudem zeigt sich darin, dass der einzelne Gläubige an Gewicht gewann. In den Autobiographien war Kirche nicht allein das Wirken der Bischöfe und das Befolgen von Dogmen, sondern sie wurde lebendig erst im Handeln des gläubigen Laien. Auf diese Weise standen die bäuerlichen Autobiographien dem Entwurf von Kirche als Gemeinde (obšþina), wie sie zum Beispiel Aleksej Chomjakov in seiner 1860 erschienenen Schrift Die Kirche ist eine vertrat, näher als der Konzeption des Metropoliten Makarij, der zwar die Bedeutung von Bischöfen und Laien betonte, in den Bischöfen aber die zentralen Gestalten der Kirche sah.348 Die orthodoxen Zeitschriften reagierten mit den Autobiographien auf die Gefahren von innen und die Aushöhlung des Glaubens, der die orthodoxe Kirche durch die Konkurrenz anderer Sinnangebote im 19. Jahrhundert verstärkt ausgesetzt war. Sie übten bei ihren Schreibern, aber auch bei ihren Lesern das richtige Wissen um religiöse Dogmen, Kirchengeschichte und die Exegese der Schriften ein. Durch die Autobiographien wurde ein verbindlicher Glaubenskanon vermittelt und die Grenzen zwischen Innen und Außen scharf gezogen. Sie zeigten, dass die Mission unter den Altgläubigen kein vergebliches Unterfangen sei. Die autobiographischen Texte waren damit ein Mittel, Spannungen innerhalb der orthodoxen Kirche abzubauen und nach außen zu verlagern. Indem sie großen Aufwand betrieben, die Unterschie-
346 Vlasov, Razskazy byvšich staroobrjadcev, 216. 347 Matvej Ožegov, der sich in seiner Autobiographie als dichtendes Ausnahmetalent beschrieb, übernahm Aspekte aus der Konversionserzählung. Er gab an, Gedichte gegen das Altgläubigentum verfasst zu haben, die jedoch – so Ožegov – nichts getaugt hätten. Die Altgläubigen hätten ihn geschätzt, da er lesen und schreiben konnte. Er übernahm jedoch nicht das Narrativ der Konversionserzählung für die Beschreibung seines Lebenswegs, obgleich er in seiner Autobiographie erwähnte, solche Geschichten gern zu lesen. Ožegov, Moja žizn’ i pesni dlja naroda, 11. 348 Shevzov, Russian Orthodoxy, 27-38.
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de zwischen ›Sekten‹, Altgläubigen und Orthodoxen herauszuarbeiten und Intoleranz zu fördern, reagierten die Konvertiten und die orthodoxe Kirche auf die als falsch bewerteten Angleichungen in der Gesetzgebung und auf die ihrer Ansicht nach leichtfertigen Übertritte ihrer Gläubigen zu den ›Sektierern‹ und Altgläubigen. Inwieweit die Leser die Unterschiede internalisierten, ist schwer zu sagen.349 Auffällig jedoch ist, dass in den 1890er Jahren die Gewalt gegenüber Andersgläubigen stieg. ›Sektierer‹, die zum Beispiel für Bonþ-Brueviþ ihr Leben beschrieben, berichten für diese Jahre von erneut einsetzenden Verfolgungswellen. Der geschürte Hass entlud sich in Pogromen. Vor allem Juden, aber auch ›Sektierer‹ und Altgläubige gehörten zu den Opfern. Auch die Gesetzgebung zog in Bezug auf die Altgläubigen wieder die Zügel an.350 Wie Thomas Luckmann allgemein für Konversionserzählungen herausgearbeitet hat, so stand auch bei den bäuerlichen Konvertiten die Bindung an eine Weltsicht in enger Beziehung zu der Kanonisierung inhaltlicher Erzählmomente in ihrer Autobiographie. Indem die Konvertiten gleichartige Stationen ihres Lebenswegs abgingen, bestätigten sie ihrem Lesepublikum, die richtige ›Zugangserfahrung‹ zu besitzen.351 Obgleich die Autobiographen sehr direkt andere Altgläubige aufforderten, ihren Weg nachzugehen und sich der ›Eingläubigkeit‹ oder der orthodoxen Kirche anzuschließen, so zielte ihre Lebensgeschichte vor allem darauf ab, ihren Mitgliedsstatus in der orthodoxen Kirche abzusichern, einen Status, den orthodoxe Geistliche und sogar Bischöfe den Anhängern der ›Eingläubigkeit‹ nicht immer zugestehen wollten.352 Auch für die bäuerlichen Konvertiten waren die Autobiographien ein Mittel, um Beziehungsnetze zu bilden, Zugehörigkeiten sichtbar zu machen sowie um Anerkennung und Wertschätzung in der gewählten Gruppe zu erlangen. Indem die orthodoxen Blätter ihre Erzählungen veröffentlichten, nahmen sie ihren Wandel als glaubhaft an und bestätigten den Bund. Die Autobiographien, die in der orthodoxen Publizistik veröffentlicht wurden, transportierten jenen Diskurs, der in den Altgläubigen und den ›Sektierern‹ gefährliche Kräfte sah, die nur durch Bekehrung unschädlich gemacht werden könnten. Die orthodoxen Blätter und die Autobiographien taten viel, um die ›Häresien‹ nicht als soziale Bewegung, gar als Widerstandsbewegung gegen die Autokratie erschei-
349 Häufiger als auf die Unterschiede zu verweisen, bekundeten die Bauern, die ihre Autobiographien an Nikolaj Rubakin richteten, ihre Hochachtung vor den Altgläubigen. Häufig hatten sie bei ihnen schreiben gelernt. Sie fühlten sich mit ihnen durch die Liebe zur Lektüre verbunden. Ožegov, Avtobiografija, RGB f. 358 21.17, 1912 [?], l. 3; Minaev, Avtobiografija krest’janina, RGB f. 358 21.8, 1894-1898, l. 57-57ob. 350 Hauptmann, Russlands Altgläubige, 78; Chulos, Converging Worlds, 25. 351 Luckmann, Kanon und Konversion, 41-43. 352 Simon, Pobedonoscev, 185-187.
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nen zu lassen, auch wenn sie immer wieder die affirmative Kraft des orthodoxen Glaubens für Zar und Vaterland betonten.353 Die Differenzen lagen in religiösen Belangen, vor allem in Heilserwartung und Moral. Die Konversionserzählungen versuchten den Gläubigen, aber auch dem Klerus fehlende dogmatische Kenntnisse zu vermitteln, die mit dem vermehrten Aufkommen evangelischer ›Sekten‹ und biblizistischer Bewegungen immer wichtiger wurden. Den sozialen und historischen Kontext, der hinter den wachsenden Zahlen der ›Sektierer‹ und Altgläubigen stand, beleuchteten die Autobiographen und Publizisten wie Subbotin kaum. Dies führte dazu, dass selbst Ereignisse wie die Aufhebung der Leibeigenschaft keinen Niederschlag in den Autobiographien fanden. Historiker und Religionsforscher, die dem narodniþestvo354 nahestanden, teilten das dogmatische Erkenntnisinteresse nicht. Sie interessierten sich kaum für die Lehrgebäude und Fragen der Erlösung, sondern interpretierten das Handeln der ›Sektierer‹ und Altgläubigen als sozialen Protest und sahen in ihrem Glauben allein eine politische Bedeutung. Besondere Aufmerksamkeit widmeten sie den kollektiven Lebensformen der ›Sektierer‹, ihrer ökonomischen Lage, Aufständen und Fragen nach Klassenzugehörigkeit und dem Antagonismus zu Staat und Kirche.355 Sie bewunderten die Gleichheit in den Gemeinden der Altgläubigen, in der jedes Mitglied, sogar Frauen, Gemeindevorsteher, Lehrer oder Schriftsteller werden konnten.356 Vladimir Bonþ-Brueviþ sammelte und veröffentlichte bäuerliche Autobiographien, die diese Interpretation stützten und damit der Deutung der orthodoxen Kirche diametral entgegenstanden. Seine Sammlung und Publikationen bildeten sowohl in Diskurs als auch Materialität ein Gegenarchiv zu den kirchlichen Bemühungen. Sein Autobiographieprojekt steht im nächsten Unterkapitel im Mittelpunkt. Gerade im Vergleich dieser beiden konkurrierenden Unternehmungen wird deutlich, wie umkämpft die bäuerliche Stimme im ausgehenden Zarenreich war. Das autobiographische Schreiben galt als Mittel, um Allianzen zu schmieden, Zugehörigkeiten sichtbar zu machen, Normen zu vermitteln und anzunehmen. Auf traditionelle Zugehörigkeiten konnten selbst die orthodoxe Kirche und ihre Gläubigen nicht mehr vertrauen. In gewisser Weise zogen die Auflösung der Ständeordnung
353 Nikolaevs Erinnerungen besitzen eine ähnliche Stoßrichtung. Auch sie betonen die Fehlerhaftigkeit des altgläubigen Glaubens und die Stärke der Autokratie. Die Aufhebung der Leibeigenschaft sei, so Nikolaev, ohne Aufruhr vonstatten gegangen: Nikolaev, Moi vospominanija, 23. 354 Der Begriff ›narodniþestvo‹ ist nicht ins Deutsche übertragbar. Er bezeichnet die Weltanschauung jener sozialrevolutionären Bewegung im Zarenreich, in deren Zentrum das russische Volk (narod) stand. 355 Heller, Die Geschichte der russischen Altgläubigen, 154. 356 Wachendorf, Regionalismus, 104.
P RESSE
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als auch das Aufkommen konkurrierender religiöser Deutungsangebote ähnliche Folgen nach sich. Auf sie wurde mit Autobiographien reagiert. Die Integration des Einzelnen in ein Kollektiv – Leibeigene in das obšþestvo, Abgefallene in die orthodoxe Kirche – sollte über Autobiographien erfolgen. Auf diesen Überlegungen fußten auch die Autobiographieprojekte, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden. Sie ließen die Zahl der möglichen Adressaten ansteigen und zwangen die bäuerlichen Schreiber, sich für eine Narration und einen Empfänger zu entscheiden. Das Schreiben über ein zurückgelassenes Leben, dessen Sinn sich vollkommen verändert hatte, praktizierten nicht nur ehemalige Leibeigene und Konvertiten. Diese auch in kirchlichen Zeitschriften eingeübten Schreibweisen entfalteten bis in die Sowjetunion hinein ihre Beharrungskraft. Bauern und Arbeiter, die in der Sowjetunion ihr Leben beschrieben, nutzten gleichfalls die hagiographischen Modi der Konversionserzählung: Auch die bäuerliche Autobiographik, wie sie zum Beispiel in der Krest’janskaja Gazeta in den 1920er Jahren erschien, wies eine dreigliedrige Struktur auf. In ihr war das Revolutionsjahr 1917 die Wende, die zwischen dem Überwundenen (prežde) und dem Heute (teper’) schied.357 In ihren Autobiographien versuchten die Bauern, ihre radikale Abkehr vom Vergangenen zu beweisen und den Nachweis der richtigen ›Zugangserfahrungen‹ zum Neuen zu erbringen.358 Sie nutzten dafür das Bild der Konversion. Auch Biographien wie die des Pioniers Pavlik Morozov, der den Bruch mit dem Alten vollzogen haben soll, indem er seinen Vater als ›Kulak‹ denunzierte, wurden als Konversionsgeschichten präsentiert.359 Sowohl in den politischen Autobiographien der Stalinzeit als auch in den Ritualen der Selbstkritik wurden eigene Fehlbarkeit, angebliche ›Irrwege‹, Ausschluss und Zugehörigkeit in den Bildern der Konversion verhandelt. Sie blieb auch in der Sowjetunion das Urbild der Verwandlung.
357 Fond: Redakcija »Krest’janskaja Gazeta« 1923-1939 gg., RGAƠ, f. 396; Koznova, XX vek. 358 Koznova, XX vek, 90-91. Dieses hagiographische Muster hatte lang anhaltende Wirkung. Auch die 1950 veröffentlichte Autobiographie des Kolchosbauern Efremov erweist sich in ihrer Struktur als Konversionsgeschichte. Die Oktoberrevolution bildet darin die Wende, die das richtige Leben vom falschen schied. Efremov, Moja žizn’. 359 Vor allem Igal Halfin hat die Konversionserzählung als Modell biographischen Erzählens in der Sowjetunion herausgearbeitet. Halfin, Intimate Enemies, 5, 146; Halfin, Terror in My Soul, 19-20; Halfin, From Darkness to Light; Kelly, Children’s World, 79; Kelly, Comrade Pavlik; Dahlke, Individuum und Herrschaft, 97.
3. Schreibaufrufe und Partizipation
K OMMUNIKATIONSRÄUME
MIT
S IGNATUR
Welche Bedeutung haben Signaturen? Was verraten Findmittel über die Entstehung autobiographischer Texte, was über ihre Überlieferung? Wie kommen autobiographische Texte von Bauern in ein Archiv? Zu Beginn meiner Recherchen habe ich mir diese Fragen nicht gestellt. Am Anfang stand vor allem die Sorge, nicht genügend Quellen finden zu können, um eine Studie über das autobiographische Schreiben russischer Bauern zu verfassen. Das Studium der Archivführer war enttäuschend geblieben, denn sie führten nur selten autobiographische Texte auf. Am ergiebigsten war noch das Verzeichnis der Tagebücher und Memoiren der Handschriftenabteilung in der Moskauer Staatsbibliothek. In manchen Einträgen stand, dass sie von Bauern stammten. Zunächst ohne auf die Signatur zu achten, bestellte ich diese Texte, versuchte sie zu entziffern, gab ihre Inhalte in eine Datenbank ein. 369 oder 358? Irgendwann ertappte ich mich dabei, dass ich aufgrund der Signatur prognostizierte, wie die Schreiber ihre Lebenserzählung aufbauen würden, welche Stationen ihres Lebenswegs sie für erzählenswert hielten. Hinter den Signaturen schienen sich Kommunikationsräume mit eigenen Regeln zu verbergen. Mir wurde klar, dass ich den Entstehungskontexten der Quellen, ihrer Sammlung und Archivierung mehr Augenmerk schenken musste. 369 stand für den Archivfond Vladimir Bonþ-Brueviþs, 358 für Nikolaj Rubakin. Die meisten autobiographischen Texte von Bauern in der Handschriftenabteilung der Moskauer Staatsbibliothek verteilen sich auf diese beiden Archivbestände. Bonþ-Brueviþ und Rubakin hatten mit Schreibaufrufen und Fragebögen zum autobiographischen Schreiben aufgefordert und die Entwicklung ihrer Korrespondenten teilweise über Jahre verfolgt. Wie sie ihre Korrespondenten anriefen, gab bis zu einem gewissen Grad vor, wie diese antworteten. Was sie für bedeutend hielten, bestimmte, was sie aufbewahrten oder in den Abfall gaben. Die Autobiographien aus der Handschriftenabteilung erzählten nicht nur das Leben ihres Schreibers und seiner Familie. Durch sie erfuhr ich auch viel über Bonþ-Brueviþ und Rubakin, beides
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Sammler, die im ausgehenden Zarenreich und in der frühen Sowjetunion Autobiographien einforderten, sammelten, verwahrten und wahrscheinlich auch wegwarfen. Bonþ-Brueviþ und Rubakin benutzten Fragebögen und Schreibaufrufe, um mit ihren ›Untersuchungsobjekten‹ ein Gespräch zu beginnen. Sie schlossen damit an eine Praktik an, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch in Russland populär wurde und die sowohl von einem neuen Wissenschaftsverständnis als auch von der damaligen Faszination der positiven Philosophie und soziologischer Methoden zeugen. Erkenntnisse wurden von nun an nicht mehr allein durch Nachsinnen am Schreibtisch gewonnen, sondern bedurften nachweisbarer Empirie. Nicht mehr der Augenschein allein war ausreichend. Die vordem Beobachteten sollten nun selbst über sich Auskunft geben: Woher sie kamen, in welche Richtung sie sich entwickelten und wohin mit ihnen das Zarenreich ging, waren die Fragen, die hinter dem Interesse standen. Die Obrigkeit verhielt sich der Erzeugung und Sammlung von Daten sowie ihren Sammlern gegenüber ambivalent. Einerseits sah sie den Nutzen, den neues Wissen über das Imperium mit sich brachte. Seit den 1840er Jahren unterstützte sie die Gründung von Organisationen wie der Geographischen Gesellschaft, die statistisch arbeitete und ethnographische Daten sammelte.1 In den 1860er Jahren hat sie zahlreiche Kommissionen beauftragt, Daten in den Provinzen und Dörfern zusammenzutragen. Der Strom an Wissenschaftlern und die Begegnung städtischer und dörflicher Kultur riefen jedoch in Regierungskreisen auch Besorgnis hervor. Nicht immer gelang es den Beamten, in den Daten und Quellen ein Mittel zu erkennen, mit dem sich Russland besser beherrschen ließe. Mitunter erkannten sie darin allein vorlaute Sozialkritik. Man misstraute dem Prozess der Datenerhebung, den Sammlern und auch den Daten selbst.2 Vor allem fürchtete die Regierung Fragen zur Leibeigenschaft. Sie ahnte, dass das ›neue‹ Wissen zur Waffe in politischen Auseinandersetzungen werden könnte. Statistisch arbeitende Ökonomen wie Ivan Vernadskij in den 1850er Jahren und Ethnographen wie der Fürst Vjaþeslav Tenišev in den 1890er Jahren betonten daher vorsorglich, dass ihre Arbeit nicht nur der Gesellschaft, sondern auch Staat und Nation nütze.3 Um das Zarenreich gut zu regieren, sei es wichtig, das ›Volk‹ auch in den ›dunkelsten‹ Provinzecken zu kennen, wie es auch dem narod nütze zu wissen, was er sei. Eine vollständige Beschreibung der
1
Die Geographische Gesellschaft wurde 1845 gegründet. Smith-Peter, Defining Russian
2
Kingston-Mann, Statistics, 120; Smith-Peter, Defining Russian People, 60; Holquist, To
3
Kingston-Mann, Statistics, 117.
People, 58; Tokarev, Istorija russkoj ơtnografii, 216-217. Count, 113.
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bäuerlichen Lebensweisen könne helfen, so Tenišev, die Destabilisierung der Gesellschaft abzuwenden.4 Das Misstrauen der Regierungsbeamten war nicht unberechtigt. Seit den 1860er Jahren gingen auch jene auf die Dörfer, denen nicht die Stabilisierung der Autokratie am Herzen lag, sondern die durch neue Informationen kulturelle und soziale Fehlentwicklungen sichtbar machen wollten. Fasziniert von den Methoden der Soziologie und der Philosophie Auguste Comtes galten ihnen Fragebögen und Schreibaufrufe als Möglichkeit, die Struktur der russischen Gesellschaft zu erfassen. Sie sollte Aufschluss darüber geben, was im Zarenreich verändert werden könne und verändert werden müsse. Die Stimme ›von unten‹ galt dabei als besonders wertvoll, der Lebenslauf als Mittel, Kausalitäten zwischen Umwelt und Individuum zu erkennen. Am Beispiel des russischen Dorfs und der Bauern, der größten Bevölkerungsgruppe des Zarenreichs, glaubten Wissenschaftler unterschiedlichster politischer Couleur, ihre Theorien über die Entwicklung der Gesellschaft aufstellen und prüfen zu können. Hier meinten sie zu erkennen, welche Kraft den Lauf der Geschichte antreibe. Autokratiekritische Publizisten, ›Sektenforscher‹ und Volksaufklärer wie Afanasij Šþapov, Aleksandr Prugavin und Nikolaj Rubakin, aber auch einige der misstrauisch beäugten Zemstvo-Statistiker hatten mehr im Sinn als die Abbildung bäuerlicher Lebenswelten. Nicht immer im Wortlaut, jedoch in der Zielsetzung schlossen sie sich Karl Marx an, der 1866 eine statistische Untersuchung der »Lage der arbeitenden Klasse aller Länder« vorgeschlagen hatte. Für Marx war eine solche Studie kein Unternehmen selbstgenügsamer Wissenschaft, sondern erster Schritt zur Veränderung: »Um erfolgreich zu wirken, muß man das Material kennen, worauf man wirken will.«5 Die meist jungen russischen Wissenschaftler hofften, durch Frageprogramme ihre politischen Ideen auf das Dorf tragen zu können. Der Bauer war Hoffnungsträger und Projektionsfläche ihrer Utopien; er wurde darin erst um die Jahrhundertwende vom Arbeiter abgelöst.6 Sie verstanden jeden ausgefüllten Fragebogen und jede geschriebene Autobiographie als Mittel, Ungerechtigkeiten sichtbar zu machen und ›falsche‹ Zahlen und Ansichten durch die ›richtigen‹ zu überschreiben. Für sie waren ihre Daten- und Quellensammlungen Gegenarchive zu offiziellen Darstellungen. Ich stelle in dieser Studie drei Aufrufe vor, die auch Schreiber aus den unteren Schichten ermutigten, über ihr Leben zu berichten. Die Sammler, die hinter diesen Aufrufen standen, gewährten den Texten mit ihren Namen die Überlieferung. Obgleich es auch andere ›Sammelstellen‹ gab, die sich für Bauern und ihr autobiogra-
4
Russkie krest’jane. Tom 1: Kostromskaja i Tverskaja gubernii, 6-7.
5
Marx, Fragebogen für Arbeiter, 230-237.
6
Steinberg, Proletarian Imagination, 21-23.
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phisches Schreiben interessierten, bieten sich die Projekte Vladimir Bonþ-Brueviþs, Nikolaj Rubakins und Aleksandr Jacimirskijs durch ihre Quellendichte für eine Untersuchung an: Bonþ-Brueviþ und Rubakin haben über mehrere Jahre hinweg mit ihren Korrespondenten in Kontakt gestanden, die Verbindung brach erst in den späten 1930er Jahren ab. Jacimirskijs Schreibaufruf, der erstmals 1901 erschien, generierte innerhalb eines Jahrs hunderte von Autobiographien. Alternative Unternehmungen erlauben es nicht, den Dialog so detailliert nachzuzeichnen, der zu autobiographischen Texten führte. Ähnliche Quellen befinden sich in den Archivbeständen des Slawisten Izmail Sreznevskij7, des Heimatkundeforschers Aleksandr Titov8, des Publizisten Pavel Zavolokin9 sowie im Archiv der Geographischen Gesellschaft.10 Der Fürst Vjaþeslav Tenišev, der Publizist und Ethnograph Aleksandr Prugavin, später auch der Schriftsteller Maksim Gor’kij haben sich gleichfalls mit Schreibaufrufen an den narod gewandt. Auch in ihren Nachlässen sind bäuerliche Autobiographien zu vermuten. Einige Korrespondenten Bonþ-Brueviþs und Rubakins berichteten, dass sie dem Journalisten Lev Klejnbort autobiographisches Material zugesandt hätten, der einige Publikationen über Arbeiter- und Bauernpoeten verfasste.11 So erwähnte der aus einer ›sektiererischen‹ Familie stammende Petr Klokov, der mit Bonþ-Brueviþ im Briefwechsel stand, dass auch Klejnbort Interesse an seiner Autobiographie habe.12 Mitunter gelang es den Korrespondenten, die Aufmerksamkeit, die sie in einem Projekt errungen hatten, auch auf andere Räume zu übertragen. Der Korrespondent Aleksej Nazarov berichtete Bonþ-Brueviþ stolz, dass auch Nikolaj Rubakin Anteil an seinem Leben nehme. Durch solche Hinweise wurde Aufmerksamkeit zu einer Währung, die sich in verschiedenen Kontexten einsetzen ließ und mit der weiteres Interesse erworben werden konnte.13 Die zahlreichen Unternehmungen zeigen zudem, wie attraktiv und umkämpft die »Stimme des geringeren Bruders«14 war. Wer seinen Ansichten über Russland mehr Nachdruck verleihen wollte, suchte sich einen Chor mit ›Stimmen von unten‹. Die Korrespondenten konnten und mussten sich
7
RNB f. 734.36, 1887.
8
Artynov, Vospominanija krest’janina sela Ugodiþ Aleksandra Artynova, RNB f. 775 d. 4582, o.J.; Artynov, Vospominanija krest’janina sela Ugodiþ Aleksandra Artynova, RNB f. 775 d. 1585, 1882.
9
Belov, Avtobiografija i biografija Belova Michajla Nikitiþa, RGALI, f. 1068 d. 12, o.J.; Ožegov, Avtobiografija Ožegova Matveja Ivanoviþa, RGALI, f. 1068 op. 1 d. 111.
10 Georgievskij, Rasskazy gramot’ja krest’janina, RGO, f. 23 op. 1 d. 150, 1853. 11 Klejnbort, Oþerki narodnoj literatury; Klejnbort, Peþatnye organy. 12 Klokov, Pis’ma k Bonþ-Brueviþu, RGB f. 369 285.13, 1909-1916, 1925, l. 6. 13 Nazarov, Pis’ma k Bonþ-Brueviþu, V.D., RGB f. 369 306.8, 1929-1930. 14 Novikov, Golos krest’janina, 15.
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entscheiden, wem sie ihre Autobiographie schickten. Wer sichergehen wollte, mit seinen autobiographischen Texten Interesse, Teilnahme und materielle Unterstützung zu erhalten, versandte sie an mehrere Adressaten. Die drei Autobiographieprojekte lassen sich in Intention und Schreibweise in direkte Beziehung zu der publizierten bäuerlichen Autobiographik setzen. Das Projekt Bonþ-Brueviþs kann als Reaktion auf die Bemühungen der orthodoxen Kirche gelesen werden, die durch autobiographische Konversionserzählungen Evidenz für ihre Version der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erzeugen wollte. Für sie waren die Geschichten der Rückkehr zur orthodoxen Kirche auch ein Mittel der Mission. Dagegen zeigen die von Rubakin und Jacimirskij gesammelten Autobiographien, dass auch ihre Korrespondenten an Muster anknüpften, die durch Publikationen wie beispielsweise durch Drožžins Autobiographie Eingang in die russische Gesellschaft gefunden hatten. Die drei Autobiographieprojekte zeigen, wie hagiographische Schreibformen und leistungsorientierte Biographiemodelle nebeneinander bestanden, gleichzeitig genutzt und miteinander verbunden wurden. Bonþ-Brueviþ, Rubakin und Jacimirskij interessierten sich – wie ich in den folgenden Unterkapiteln zeigen werde – für unterschiedliche Aspekte der Lebensgeschichten. Sie gaben in ihren Aufrufen Parameter vor, wie Lebenserzählungen auszusehen hätten. Die Schreiber gingen auf diese Anrufungen ein, schrieben aber auch an den Wünschen vorbei oder verhandelten in Briefen über Form und Inhalt ihrer Autobiographien. Die Projekte zeigen deutlich, dass es nicht nur Wahlmöglichkeiten im Leben, sondern auch für die Selbstbeschreibung, Deutung und Adressierung gab. Die Sammlungspraktiken wirkten auf die beschriebenen Erfahrungsund Deutungsmuster zurück. Auch die bäuerlichen Autobiographen konnten wählen, wem sie ihre Lebensgeschichte anvertrauten, wessen Forschungsinteresse der Interpretation des eigenen Lebens entgegenkam. Autobiographien hatten mehr Funktionen, als allein Lebenswege abzubilden. Sie wurden genutzt, um Beziehungen anzubahnen und zu pflegen. Sowohl Initiatoren als auch Schreibern galten sie als ›Technologie des Selbst‹, als Mittel, Wissen über sich zu erwerben und auf sich selbst einzuwirken.15 Die in den Projekten entstandenen Autobiographien verweisen direkter als andere autobiographische Quellen auf die Mechanismen der Selbstthematisierung, die immer auch in Beziehungen und Dialogen geschieht.
15 Foucault, Technologien des Selbst, 26.
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3.1 V ERFOLGTE UM DES G LAUBENS WILLEN : ›S EKTIERER ‹ SCHREIBEN B ONý -B RUEVIý »Was bist du nur für ein Mensch«? Eine Antwort auf die im Verhör gestellte Frage gab Griša Bokovoj in seiner Autobiographie. Darin schrieb er, wie er die orthodoxe Taufe auch dann noch verweigerte, als seine »Genossen« Druck und Quälerei nicht mehr aushalten konnten.16 Kerker und eiserne Fesseln habe er ertragen. Orthodoxe Geistliche hätten ihm ins Gesicht gespuckt, als er ihre Überzeugungsversuche verlachte. Ein Gericht verurteilte ihn zum Tod durch Erschießen. Das Urteil wurde nicht vollstreckt, stattdessen habe er siebzehn Jahre »ohne Urlaub« als Soldat dienen müssen.17 In dem Nachlass Bonþ-Brueviþs in der Moskauer Staatsbibliothek befindet sich die 1901 entstandene Autobiographie des den duchoborcy angehörenden Grigorij Bokovoj, der sie auf Bonþ-Brueviþs Bitte in der Emigration in Kanada verfasst hat.18 Die Erzählung offenbart die Stärke autobiographischen Schreibens, die Bonþ-Brueviþ (1873-1955) bewegt hat, solche Texte systematisch einzufordern und zu sammeln. Plastisch exemplifiziert sie an einem Leben die Grausamkeiten kirchlicher und staatlicher Verfolgung. Dabei werden auch die Schwächen dieses Mediums sichtbar: Während Bokovoj noch den Ort der Strafmaßnahmen benennen kann, vermag er nicht, die Namen seiner Peiniger mitzuteilen. Es verwundert nicht, dass Bonþ-Brueviþ in seinen Schreibaufrufen so vehement zu mehr Genauigkeit mahnte. Gingen jene ›Sektierer‹, die sich mit ihrer Autobiographie an Bonþ-Brueviþ wandten, auf seine Wünsche ein? Wie gaben sie in ihren Autobiographien Antworten auf die Frage, wer sie seien? Das Ausgangsbild der Studie bietet sich als Struktur für die Analyse von BonþBrueviþs Autobiographieprojekt an. Nachdem ich Bonþ-Brueviþs Leben mit seinen Widersprüchen und Uneindeutigkeiten vorgestellt habe, werde ich darlegen, wie er zukünftige Korrespondenten anrief und dazu aufforderte, eine Lebensbeschreibung für seine Archive und Sammlungen zu verfassen. In einem zweiten Schritt wird gezeigt, wie sich die Autobiographen mit ihren schriftlich niedergelegten Lebensgeschichten umwandten. Dabei soll auch gefragt werden, wie die verschiedenen Möglichkeiten, über Bonþ-Brueviþs Leben zu sprechen, die Antworten der Korrespondenten, das Sprechen über ihr eigenes Leben, beeinflusst haben. Besonderes Au-
16 Bokovoj, Rasskaz Griši Bokovova, RGB f. 369 43.1, 1901, l. 1080. 17 Bokovoj, Rasskaz Griši Bokovova, RGB f. 369 43.1, 1901, l. 1080-1081. 18 Die duchoborcy waren eine mystisch-rationalistische ›Sekte‹, die Kult und Dogmen der russisch-orthodoxen Kirche ablehnte. Unter Alexander I. wurden ihnen Siedlungsplätze im Gouvernement Taurien zugewiesen. Nikolaus I. siedelte sie schließlich nach Transkaukasien um. 1898 wanderten viele duchoborcy mit Erlaubnis der Regierung nach Zypern und Kanada aus.
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genmerk wird auf die gesellschaftlichen Neuerungen nach 1917 gelegt, die neben den Beziehungen zwischen Bonþ-Brueviþ und seinen Briefpartnern auch das autobiographische Schreiben veränderten. In einigen Punkten kann ich auf die ausgezeichnete Studie von Laura Engelstein über die skopcy zurückgreifen. Die skopcy hofften, durch Kastration den weltlichen Versuchungen zu entsagen und dadurch Erlösung zu finden.19 Engelstein zeigt eindrucksvoll, wie sie Bonþ-Brueviþs Archivierungsanstrengungen benutzten, um ihrer Sicht auf die Vergangenheit einen Platz in den Archiven zu sichern. Sie hat für ihre Arbeit vor allem auf das von Bonþ-Brueviþ zusammengetragene Material im Leningrader Museum für Religion und Atheismus zurückgegriffen, welches sich bis vor wenigen Jahren in der Kazaner Kathedrale in St. Petersburg befand. Während meines Forschungsaufenthalts waren die Archivbestände im neuen Gebäude des Museums nicht zugänglich. Ich beziehe mich daher vor allem auf den Nachlass Bonþ-Brueviþs in der Handschriftenabteilung der Moskauer Staatsbibliothek.20 Die vielen Leben des Vladimir Bonþ-Brueviþ So wie die Korrespondenten verschiedene Möglichkeiten hatten, ihr Leben zu erzählen, so gab es auch mehrere Wege, über den Adressaten zu sprechen. Für die sowjetische Öffentlichkeit existierten drei verschiedene Schreibweisen, in denen über Bonþ-Brueviþs Leben berichtet werden konnte. Bonþ-Brueviþ hat sie selbst in unterschiedlichen Kontexten genutzt. Er erscheint in diesen biographischen Schreibweisen immer als öffentliche Figur, die durch ihren Beruf bestimmt ist. Die drei Schreibweisen – Sammler, Vertrauter Lenins und ›Sektenforscher‹ – hatten alle ihre Berechtigung. In dieser Studie wird aber seine Bedeutung als Sammler beson-
19 Engelstein, Castration. 20 Die Sowjetunion hat Bonþ-Brueviþ an vielen Orten Überlieferung gewährt, galt er doch als Vertrauter Lenins, Bol’ševik der ersten Stunde und Wegbereiter des Oktoberumsturzes 1917. Die Dokumente, welche die Partei und Lenin betreffen, werden im Institut für Marxismus und Leninismus verwahrt. Seine Materialien zu Religion und ›Sekten‹ gelangten in das Museum für Atheismus und Religion, die Dokumente, die er zu Maksim Gor’kij und Lev Tolstoj gesammelt hat, kamen in deren Archive. Dass die Trennlinien nicht immer scharf gezogen wurden, zeigt das disparate Material in der Handschriftenabteilung der Moskauer Staatsbibliothek. Allein 16 des insgesamt 433 Kartons umfassenden Nachlasses beinhalten Materialien und Arbeiten zu ›Sektierern‹, vor allem zu den Altgläubigen. Zudem gibt es Texte und Autobiographien, die das Schreiben und den Werdegang von Dichtern und Schriftstellern aus unteren Schichten dokumentieren. Einen instruktiven Überblick über den Nachlass bieten: Žitomirskaja, Gapoþko, Šlichter, Archiv V.D. Bonþ-Brueviþa, 11.
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ders akzentuiert. Sie erlaubt es, die Beziehung zwischen ihm und seine Korrespondenten nicht nur in ihren Brüchen, sondern auch in ihrer Kontinuität zu erfassen. Bonþ-Brueviþ erkannte früh den Wert archivarischer, vor allem nichtstaatlicher Überlieferung. Er ahnte, dass mit neuen Quellen nicht nur eine neue Vergangenheit, sondern auch eine andere Zukunft erschrieben werden könne. Vor allem Archivare, die seine zahlreichen Hinterlassenschaften in Archivordnungen zu überführen hatten, sprachen über Bonþ-Brueviþ als »leidenschaftlichen Sammler« und »Sammlergenie«.21 Nichts habe er weggeworfen. Selbst in Zeiten des Stalinkults, so betonten 1962 Žitomirskaja und ihre Mitarbeiter in der Handschriftenabteilung, habe er Tagebücher und Erinnerungen verwahrt, die nirgendwo sonst einen Platz gefunden hätten.22 Nicht nur die Menge des überlieferten Materials zeugt von Bonþ-Brueviþs Archivbesessenheit. Durch das Sammeln von übersehenen oder ungeliebten Quellen versuchte er sowohl im Zarenreich als auch in der Sowjetunion jenen einen Platz in der Geschichte zu geben, die sonst dem Vergessen anheim gefallen wären.23 Er wandte sich vor allem den ›Sektierern‹ zu, die in den Lehren der orthodoxen Kirche keine Weisungen für ihr Leben sahen. Erzählt man sein Leben als die Geschichte eines Sammlers, dann erscheint es ohne größere Brüche. Bonþ-Brueviþ hat sein gesamtes Leben lang Quellen zusammengetragen. Auch blieben seine Sammelinteressen konstant: ›Sektierer‹, Lev Tolstoj, ›Dichter aus dem Volk‹.24 Die Suche nach dem Vergessenen, Übersehenen und nicht genügend Gewürdigten trieb seine Arbeit in der Akademie der Wissenschaften, im staatlichen Literaturmuseum, im Tolstojmuseum und dem Museum für Religion und Atheismus an.25 Er organisierte Ausstellungen wie die Galerie russischer Schriftsteller, die die Erinnerung an fast vergessene Autoren wachhielt. Bonþ-Brueviþ sprach sich in einer Zeit, in der die Archive als zaristisches Herrschaftsinstrument und Grundlage einer als ›bourgeois‹ deklarierten Geschichtswissenschaft angesehen wurden und deshalb rasant
21 Žitomirskaja, Gapoþko, Šlichter, Archiv V.D. Bonþ-Brueviþa, 7; Golubeva, BonþBrueviþ izdatel’, 4. 22 Žitomirskaja, Gapoþko, Šlichter, Archiv V.D. Bonþ-Brueviþa, 7-12. 23 1904 gründete er zusammen mit Nikolaj Baturin und seiner Frau Vera Veliþkina das Archiv der Sozialdemokratischen Partei (RSDRP). Petrovskij (Red.), Vladimir Dmitrieviþ Bonþ-Brueviþ, 5. 24 Besonders in den 1890er Jahren hat er sich für die Bildungsmöglichkeiten der unteren Schichten interessiert. Er verurteilte die Lubokliteratur, die seiner Ansicht nach dem Volk nicht nütze, und setzte sich dafür ein, dass auch populärwissenschaftliche Bücher für Bauern, Angestellte und Arbeiter erschienen. Er gab die Reihe Narodnaja Biblioteka heraus, die seine Ansprüche an Literatur für das Volk umsetzen sollte. Golubeva, BonþBrueviþ izdatel’, 5-7. 25 Šachnoviþ, Bonþ-Brueviþ, 294; Šejnman, Bonþ-Brueviþ, 8-9.
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an Ansehen verloren, für ihren Erhalt aus: »Für uns selbst, aber noch mehr für die zukünftige Generationen werden wir sorgfältig die Archive bewahren.«26 Er gab in der Sowjetunion Stalins, in der Archivare nur widerwillig Auskunft über die Inhalte ihrer Sammlungen gaben, ein Verzeichnis über die Bestände des von ihm geleiteten Literaturmuseums heraus. Für Bonþ-Brueviþ waren Sammlungen und Archive keine Sperrzellen, sondern öffentliche Räume, über deren Inhalte nicht nur Archivare Kenntnisse erwerben durften.27 Eine weniger große Kontinuität weist die Persona ›Vertrauter Lenins‹ auf. Diese Sprechweisen wurden erst in Stalins Sowjetunion üblich: In enger Absprache mit Lenin habe Bonþ-Brueviþ dafür gesorgt, dass illegal im Ausland gedruckte sozialdemokratische und bolschewistische Publikationen Leser im Zarenreich erreichten. In dieser Lesart waren unzählige Entscheidungen in Bonþ-Brueviþs Leben durch Lenins Handeln motiviert.28 Bonþ-Brueviþ selbst hat diese Sprechweise in Zeiten politischer Unsicherheit forciert. Seit den 1930er Jahren schrieb er immer häufiger über sich, indem er über Lenin sprach. Seine Erinnerungen, in denen Lenin als die Hauptfigur seines Lebens auftrat, wurden in allen Altersschichten gelesen.29 Populär wurde die Persona ›enger Vertrauter Lenins‹ nach Bonþ-Brueviþs Tod im Jahr 1955, als es immer schwieriger wurde, sein Interesse an ›Sekten‹ und ›Sektierern‹ zu legitimieren.30 Von seinen ›sektiererischen‹ Korrespondenten, mit denen er bis Ende der 1930er Jahre im Briefwechsel stand, ist Bonþ-Brueviþ jedoch nie als Vertrauter Lenins angesprochen wurden. Sara Žitomirskaja, die zusammen mit ihren Kollegen seinen Nachlass verzeichnet hat, bestätigt diese Beobachtung in ihrer 2006 veröffentlichten Autobiographie: Das Bild des Apologeten Lenins würde den Archivmaterialien nicht entsprechen. Die verschiedenen Versionen seiner Memoiren könnten zeigen, wie es dem von Repressionen bedrohten Bonþ-Brueviþ gelang, sich auch durch autobiographisches Schreiben den wandelnden Erfordernissen anzupassen.31 Legt man hingegen den Fokus auf die Geschichte eines ›Sektenforschers‹, dann ist Bonþ-Brueviþs Leben von widersprüchlichen Phasen geprägt. Dann kann man
26 Bonþ-Brueviþ, Sochranjajte archivy, 6. 27 Žitomirskaja betont in ihrer Autobiographie, dass solche Ansichten vor dem Zweiten Weltkrieg selten waren. Žitomirskaja, Prosto žizn’, 270. 28 Golubeva, Bonþ-Brueviþ izdatel’; Bontsch-Brujewitsch, Auf Kampfposten; BonþBrueviþ, Vospominanja. 29 Sarra Žitomirskaja gibt in ihrer Autobiographie an, dass die Erinnerungen Bonþ-Brueviþs selbst in Kindergärten gelesen wurden. Žitomirskaja, Prosto žizn’, 270. 30 Kritik an dieser Sichtweise hat außerhalb der Sowjetunion vor allem Eberhard Müller geübt. Müller, Opportunismus. 31 Žitomirskaja, Prosto žizn’, 270.
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eine Geschichte erzählen, in der er die Sympathie für die ›Sektierer‹ verlor, um sie ab den 1930er Jahren im Namen des Atheismus zu bekämpfen. Seine Sammlungspraktiken und seine konstanten Korrespondenzen spreizen sich gegen die Deutung einer einfachen Wendegeschichte. Seine Biographie als ›Sammler‹ macht unauflösbare Ambivalenzen in seiner Persona als ›Sektenforscher‹ sichtbar. Der Historiker Aleksandr Ơtkind hat versucht, dieser Widersprüchlichkeit Sinn zu verleihen, indem er den ›Sektenforscher‹ als Maske auffasste, hinter der sich Bonþ-Brueviþ, der Feind der ›Sekten‹ und alles Religiösen verbarg.32 Das Bild der Maske verdeckt allerdings die Ambivalenzen in seinem Handeln. Es berücksichtigt zuwenig die Umstände, die ihn veranlassten, in verschiedenen Kontexten verschiedene Deutungen seiner Biographie zu geben. Hierin liegt der Wert der Persona als Untersuchungskategorie; sie bringt individuelle und kollektive Einstellungen, Wahrnehmungs- und Handlungsweisen gleichermaßen in das Blickfeld.33 Das wandelnde biographische Selbst- und Fremdbild ›Sektenforscher‹ informiert nicht nur über Bonþ-Brueviþs Leben, sondern auch über die Veränderungen in den Imaginationen, die Narodniki, Konservative und Marxisten mit den ›Sektierern‹ verbanden. Zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Kontexten präsentierte er verschiedene Deutungen seiner Sammlungsaktivitäten. Nach 1930 wurden in der veränderten Interpretation auch Anpassungszwänge sichtbar. Bonþ-Brueviþ und die sowjetischen Historiker beschrieben sein Leben als ›Sektenforscher‹ als Lebenslauf mit drei verschiedenen Phasen. Die erste Phase endete, so seine Biographen, mit dem Bürgerkrieg 1918. Seit den 1890er Jahren habe BonþBrueviþ, der sein Studium wegen seiner politischen Aktivitäten nicht abschließen konnte, sich für vorrevolutionäre ›Sekten‹ als bäuerliche Protestform gegen Autokratie und Staatskirche interessiert. Kollektive Lebensweise in Kommunen, gemeinsamer Besitz, die Gleichberechtigung von Mann und Frau und die Nivellierung zwischen reich und arm, die man bei den ›Sekten‹ anzutreffen meinte, nahmen die Gesellschaftsordnung voraus, die nicht nur Bonþ-Brueviþ für das Zarenreich ersehnte. Auch ›Sektenforscher‹ vorangegangener Jahre wie Afanasij Šþapov, Aleksandr Prugavin, und ins Ausland emigrierte Publizisten wie Alexander Herzen, hatten diese Haltung vertreten und sich aus diesen Gründen den ›Sektierern‹ zugewandt. Mit dieser neuen Generation von Wissenschaftlern kam es zu einem Wandel in den Forschungsfragen: Hatten in früheren Studien vor allem die Genese des Schismas zwischen orthodoxer Kirche und den Altgläubigen im Blickpunkt der Forschungen gestanden, rückte mit der Deutung der Altgläubigen als sozialer Erscheinung das 19. Jahrhundert in den Mittelpunkt. Mit der jüngeren Geschichte der Altgläubigen gelangten auch andere ›sektiererische‹ Gruppen in den Fokus, deren Entstehung als beschleunigte Differen-
32 Ơtkind, Russkie sekty, 284. 33 Daston, Sibum, Scientific Personae, 2; Olshen, Subject, Persona, and Self, 8.
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zierung der Bauernschaft gedeutet wurde.34 Publizisten und Historiker wie Herzen, Prugavin und Šþapov sahen in den Altgläubigen und den ›Sektierern‹ eine Widerstandsbewegung gegen die Ständeordnung und die Privilegien der Adligen.35 Dabei schlossen sie an europäische und globale Diskurse an, mit denen über die Überwindung von sozialer Ungerechtigkeit gesprochen wurde. Schon 1850 hatte Friedrich Engels in seiner Darstellung des deutschen Bauernkriegs die »Ketzer« als Avantgarde revolutionärer Strömungen im »Volk« beschrieben, bei denen Unterschiede in Stand und Vermögen dank ihrer »urchristlichen« Doktrin geglättet seien. In der »Ketzerei« sah Engels den »direkte[n] Ausdruck der bäurischen und plebejischen Bedürfnisse«, aus denen die ersehnten Aufstände gegen die herrschende Ordnung erwachsen könnten.36 In Bonþ-Brueviþ haben solche Betrachtungen das Interesse an den ›Sektierern‹ entflammt. Die Hoffnungen, die auf diese projiziert wurden, haben nicht immer ihrer Selbstwahrnehmung entsprochen. Das Prädikat »ahistorisch«, welches Leonid Heretz kürzlich für die Einstellungen der revolutionär gesinnten Historiker und Publizisten vergeben hat, scheint dennoch nicht angebracht. Wie später gezeigt wird, hat ein Teil der Korrespondenten Bonþ-Brueviþs diese Imaginationen für die eigene Lebensbeschreibung übernommen und als Ausgangspunkt gewählt, um über sich zu sprechen.37 Die Ansichten des Sozialdemokraten Bonþ-Brueviþ erzeugten polizeilichen Argwohn, sodass er 1896 gezwungen war, zu emigrieren. Mehr als zehn Jahre hat er in Genf und in London gelebt. In der Schweiz arbeitete er für die Gruppe Befreiung der Arbeit und traf mit Georgij Plechanov und Pavel Aksel’rod zusammen. Beide hätten ihn ermutigt, wie er in seinen Erinnerungen schreibt, die Studien des verunglückten Narodniks Sergej Stepnjak-Kravþinskij fortzuführen.38 Auch dieser hatte Dokumente zu ›Sektierern‹, vor allem zu Štundisten, gesammelt, auch er hatte in den ›Sektierern‹ Vorboten der Gleichheit und Gerechtigkeit gesehen.39 Bonþ-Brueviþ schloss sich der Position Stepnjak-Kravþinskijs an, der in den ›Sektierern‹ die intellektuellste Schicht der Bauern zu erkennen meinte.40 In seinen Erinnerungen berichtete Bonþ-Brueviþ, dass sein Wunsch, mehr über ›Sektierer‹ zu erfahren aus seinem Interesse an der Bauernbewegung und Bauernprotesten erwachsen sei.41
34 Robson, Old Believers, 5; Prugavin, Raskol i sektantstvo; Heretz, Russia, 77-78. 35 Wachendorf, Regionalismus, 16. 36 Engels, Der deutsche Bauernkrieg, 18-19. 37 Heretz, Russia, 78. 38 Müller, Opportunismus, 511. 39 Stepniak, Der Russische Bauer, 84-85, 212. 40 Müller, Opportunismus, 511; Bonþ-Brueviþ, Šachmatovu, 306-307. 41 Bonþ-Brueviþ, Moe izuþenie, 268.
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Bäuerlichen Eigensinn meinte Bonþ-Brueviþ vor allem in der Verweigerungshaltung der duchoborcy zu erkennen, eine als ›Sekte‹ bezeichnete Vereinigung, die in der orthodoxen Kirche keine Autorität für ihr Leben sah, den Wehrdienst ablehnte und keine Steuern zahlte: »Das alles war neu, originell und interessant.«42 In der Lebensweise der duchoborcy sah er den »Kommunismus« verwirklicht. Sie bearbeiteten ihr Land gemeinsam und profitierten zu gleichen Teilen von den Früchten ihrer Arbeit. Lohnarbeiter gebe es unter ihnen nicht.43 In engen Kontakt mit ›Sektierern‹ kam Bonþ-Brueviþ in den Jahren 1899 und 1900, als er eine Gruppe von russischen duchoborcy nach Kanada begleitete, die dort ein neues Leben ohne Verfolgung beginnen wollten. In seinen Erinnerungen schreibt Bonþ-Brueviþ, dass er die Zeit dazu nutzte, um ihre bisher nur mündlich tradierte Glaubensgrundlage aufzuzeichnen. Er stellte das Lebendige Buch zusammen, in dem er sich mit einem Fragebogen an seine Leser wandte.44 Das Verfassen des Lebendigen Buchs lässt sich als ambivalenter Eingriff in die Frömmigkeitspraktiken der duchoborcy deuten: Mit der schriftlich niedergelegten Glaubensgrundlage verloren mündliche Tradierung und Memorierungspraktiken ihre existentielle Bedeutung.45 Seine Publikationen zu den duchoborcy haben seinen Ruf als ›Sektenkenner‹ begründet und die ›Sektierer‹ begannen, in ihm einen Anwalt ihrer Belange zu sehen.46 Für Bonþ-Brueviþ waren – nicht nur im übertragenen Sinn – die autobiographischen Texte der ›Sektierer‹ Zeugnisse für eine umstrittene Vergangenheit und der Autobiograph Zeuge von Ungerechtigkeit und Gewalt, aber auch von Standhaftigkeit und Eigensinn. Bonþ-Brueviþ hat diese Texte nach seiner Rückkehr nach Russland in Gerichtsprozessen benutzt, um die ›Sektierer‹ als Experte ihrer Geschichte zu verteidigen. Anhand der Autobiographien meinte er belegen zu können, wann den ›Sektierern‹ Ungerechtigkeit widerfahren sei. Als Kosaken in einem Dorf der duchoborcy wüteten und vergewaltigten, konnte er die Opfer aufzählen. BonþBrueviþ verwies auf sein Archiv, in dem sich Belege für diese Verbrechen befanden.47 Seine Quellensammlung gab seinen Aussagen Autorität.48
42 Bonþ-Brueviþ, Moe izuþenie, 273. 43 Bonþ-Brueviþ, Životnaja kniga, XXXVI, XL. 44 Bonþ-Brueviþ, Životnaja kniga, VII-XI. 45 Detailliert beschreibt Bonþ-Brueviþ die Memorierungs- und Unterweisungspraktiken der duchoborcy, die es schon Dreijährigen ermögliche, die wichtigsten Psalmen zu kennen. Bonþ-Brueviþ, Životnaja kniga, 3-5. 46 Ausführlich zum Verhältnis zwischen den duchoborcy und Bonþ-Brueviþ siehe: Zverev, Coppieters, Bonch-Bruevich; Šejnman, Bonþ-Brueviþ, 8. 47 Dokumenty ob izbienii, 40.
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Als nicht so beständig beschrieben Bonþ-Brueviþ und seine Biographen die Zusammenarbeit mit den Mitarbeitern des Verlags Svobodnoe Slovo, der seinen Sitz in London hatte. Der Verlag gab vor allem in Russland verbotene Schriften Lev Tolstojs sowie Broschüren über die Geschichte des russischen ›Sektenwesens‹ heraus. Vladimir ýertkov, ein enger Vertrauter Tolstojs, hatte den damals in der Schweiz lebenden Bonþ-Brueviþ 1897 gebeten, nach England zu kommen, um beim Aufbau des Verlags zu helfen.49 1902 kam es jedoch zu einem Konflikt zwischen BonþBrueviþ auf der einen, den Tolstojanern Vladimir ýertkov, Anna ýertkova und Ivan Tregubov auf der anderen Seite.50 Grund der Auseinandersetzung war die unterschiedliche Bewertung von Ereignissen, wie sie etwa in dem Dorf Pavlovski geschehen waren. Mit dem Ruf »Hier kommt die Wahrheit! Christus ist auferstanden«, hatten fast dreihundert bäuerliche ›Sektierer‹ die orthodoxe Kirche gestürmt.51 Während Bonþ-Brueviþ gewaltsame Aktionen als Vorboten der Revolution begrüßte, lehnten die Tolstojaner Gewalt und Blutvergießen ab. Bonþ-Brueviþ maß dem Ereignis in Pavlovski große Bedeutung bei. Mehrfach hat er Quellen und Analysen zu dem Geschehen veröffentlicht.52 Die Meinungsverschiedenheit zwischen ihm und den Tolstojanern eskalierte, als er gemeinsam mit seiner Frau Vera Veliþkina in den anonym herausgegebenen Volksblättern (Narodnye Listki) zu gewaltsamen Aktionen und zum revolutionären Kampf aufrief. Um die Blätter an Leser zu bringen, nutzten sie die Wege, auf denen die Publikationen der Tolstojaner ihre Leser erreichten. Die Redaktion des Svobodnoe Slovo war gezwungen, sich gegenüber ihrer Leserschaft von den Inhalten zu distanzieren. Als sie erfuhren, dass ihr Kollege hinter den Blättern stand, kündigten sie die Zusammenarbeit mit Bonþ-Brueviþ und Veliþkina auf.53 Hinter dem Streit verbargen sich widerstreitende Vorstellungen, wer die ›Sektierer‹ seien und welche Bedeutung ihnen für das Schicksal Russlands zukomme. Bonþ-Brueviþ ersehnte die Hilfe der ›Sektierer‹ bei dem Sturz der Autokratie und der orthodoxen Kirche. Die Tolstojaner hingegen setzten auf Überzeugung und die Umwandlung des Einzelnen, dann erst der gesamten Gesellschaft. Sie glaubten, dass Bonþ-Brueviþs Interesse nicht den ›Sektierern‹ mit ihren religiösen Überzeugungen gelte, sondern er in ihnen nur die Katalysa-
48 Rechenschaft über seine Arbeit in den Prozessen legte Bonþ-Brueviþ in einem Brief an A.A. Šachmatov ab. Dieser hatte ihn beim Aufbau einer Sammlung zu den ›Sektierern‹ in der Akademie der Wissenschaften unterstützt. Bonþ-Brueviþ, Šachmatovu, 348. 49 Golubeva, Bonþ-Brueviþ izdatel’, 15. 50 Bonþ-Brueviþ, Sredi sektantov (1902), 150-167. 51 Bonþ-Brueviþ, [Predislovie k knige »delo pavlovskich krest’jan«], 103; Bonþ-Brueviþ (Hrsg.), Delo pavlovskich krest’jan. 52 Bonþ-Brueviþ (Hrsg.), Delo pavlovskich krest’jan. 53 Klibanov, Bonþ-Brueviþ, 12; ýertkov, Zajavlenie, III.
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toren revolutionärer Veränderung sehe. Sie fürchteten, dass durch gewaltsame Aktionen die Verfolgung ihrer Anhänger weiter zunehmen würde.54 Bonþ-Brueviþs Entfernung aus der Redaktion war die erste Gegenmaßnahme, ein Fragebogen die zweite: Mit ihm versuchten die Tolstojaner nicht nur, die Einstellungen ihrer Anhänger zu erfragen, sondern sie erneut in Übereinstimmung mit den religionsphilosophischen Schriften Tolstojs zu bringen. Seien die »russischen Sektierer« wirklich bereit, so die Grundfrage des 1902 erschienenen Schreibaufrufs, für die Umsetzung ihrer Ziele »nichtchristliche Mittel – Gewalt und Mord« anzuwenden? »Ist es gut oder schlecht, wie sich die Bauern aus Pavlovski verhalten haben, als sie die orthodoxe Kirche zerstörten«? Die weiteren Fragen galten der Lebenswelt der ›Sektierer‹: Nach beruflicher Tätigkeit und Lektüren wurde gefragt. Dies war ein Versuch der Initiatoren, moralische und religiöse Überzeugungen mit den sozialen und ökonomischen Lebensumständen in Verbindung zu bringen. Es ähnelt der Art und Weise, wie einige Jahre später Bonþ-Brueviþ seine Korrespondenten ansprechen sollte.55 In der Forschung wird dieser Konflikt als absoluter Bruch beschrieben, was aber unkritisch die Rhetoriken Bonþ-Brueviþs und seiner Biographen übernimmt, die ab den 1930er Jahren begannen, die Distanz zu den ›Sektierern‹ zu betonen. Gegen einen solchen Bruch sprechen einige Indizien: Die Kontakte zwischen BonþBrueviþ, den Tolstojanern und anderen ›Sektierern‹ blieben erhalten, trotz verschiedener Ansichten hat man sich gegenseitig – auch noch in der Sowjetunion – unterstützt. In Zeiten des Bürgerkriegs hatten sich ýerkov und Tregubov mehrfach mit der Bitte an Bonþ-Brueviþ gewandt, einzelne Anhänger Tolstojs vor Verfolgung zu schützen.56 In Bonþ-Brueviþs Nachlass befinden sich zahlreiche Briefe, die zwischen ihm und Tolstojs Familie auch noch nach 1902 gewechselt wurden. BonþBrueviþ war maßgeblich an der Gründung eines Tolstoj gewidmeten Museums beteiligt, das bedeutende Forschungsarbeit zum Werk des Schriftstellers geleistet hat. Immer wieder ist er für eine differenzierte Bewertung Lev Tolstojs eingetreten, des-
54 Bonþ-Brueviþ zitiert in einem seiner Aufsätze den Brief ýertkovs und Tregubovs an die Anhänger Tolstojs. Die beiden Tolstojaner hatten sich in diesem Brief mit einem Fragebogen an diese gewandt, um deren Meinung zu den Geschehnissen in Pavlovski zu erfahren. Sie fragten sie, ob für sie Gewalt ein adäquates Mittel der Auseinandersetzung sei. Bonþ-Brueviþ, Sredi sektantov (1902), 153. 55 Der Brief der Herausgeber des Svobodnoe Slovo an die Anhänger Tolstojs hat BonþBrueviþ in einem seiner Artikel abgedruckt. In diesem Artikel spricht er sehr kritisch über sein Verhältnis zu den Tolstojanern. Bonþ-Brueviþ, Sredi sektantov (1902), 153. 56 Žitomirskaja, Gapoþko, Šlichter, Archiv V.D. Bonþ-Brueviþa, 18, 68.
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sen philosophische Schriften in der Sowjetunion wegen ihres Pazifismus verpönt waren.57 Der Vorwurf der Tolstojaner, Bonþ-Brueviþ nutze die ›Sektierer‹ als Vehikel für die eigenen Überzeugungen, war trotzdem nicht unbegründet. Die Versuche, die ›Sektierer‹ auf die Seite der Sozialdemokratie zu ziehen, nahmen um die Jahrhundertwende zu. Auf dem Zweiten Parteitag der Sozialdemokratischen Partei 1903 mahnte Bonþ-Brueviþ seine Genossen in einem dort verlesenen Papier, die ›Sektierer‹ als Teil der »bäuerlichen Masse« mit Literatur zu versorgen, um sie so für die eigene Bewegung zu gewinnen. Er bat seine Genossen, sich für Religionsfreiheit als »elementares Menschenrecht« einzusetzen.58 Bonþ-Brueviþs Drängen zeitigte Erfolg. In einer Resolution sprachen sich die Sozialdemokraten dafür aus, die Arbeit unter den ›Sektierern‹ zu verstärken.59 Mit dem Rückhalt seiner Partei begann er nach dem Parteitag, in Genf die Zeitschrift Rassvet herauszugeben, die den ›Sektierern‹ ein Forum bieten und sie für sozialistische Ideen begeistern sollte. Schon nach neun Nummern stellte die Zeitschrift ihr Erscheinen wieder ein und Bonþ-Brueviþ wandte sich anderen Aufgaben zu: Seit 1905 gab er mehrere Bände heraus, die er mit Quellen, Analysen und Beobachtungen von und über ›Sektierer‹ füllte. Er überschrieb diese Publikationen als Materialien zur Geschichte und Studium des russischen Sektenwesens und des Altgläubigentums.60 Dieser Titel lehnte sich nicht nur an die Publikationen des Verlags Svobodnoe Slovo an. Er erinnert auch stark an Subbotins Reihentitel, der seine Studien als Materialien für eine Geschichte des Raskol herausgegeben hatte. Auch damit wies Bonþ-Brueviþ, der mit dem Sammeln von Autobiographien an die Methoden der orthodoxen Kirche anschloss, seine Anstrengungen als Konkurrenzveranstaltung aus. Mit den dort publizierten Autobio-
57 Bonþ-Brueviþ, Vospominanja, 80-81; Bonþ-Brueviþ, »Živaja cerkov’«, 59. 58 Golubeva, Bonþ-Brueviþ izdatel’, 20-21; Engelstein, Castration, 3; Bonþ-Brueviþ, Raskol i sektantstvo, 210-212. 59 Klibanov, Bonþ-Brueviþ, 21. 60 Die Benennungen des Altgläubigentums variieren in der Reihe. In den ersten beiden Titeln bezeichnete Bonþ-Brueviþ das Altgläubigentum wie Subbotin als raskol. Erst später wurde der Begriff zum weniger polemischen staroobrjadþestvo. Diese Bezeichnung hat die orthodoxe Kirche wegen des Fehlens negativer Konnotationen fast nie verwendet. Vgl. Bonþ-Brueviþ, Materialy k istorii i izuþeniju russkago sektantstva i raskola, Vyp. 2: Životnaja kniga duchoborcev, SPb 1909; Bonþ-Brueviþ, Materialy k istorii i izuþeniju russkogo sektantstva i staroobrjadþestva, Vyp. 3: Štundisty, postniki. Svobodnye christiane. Duchovnye skopcy. Staroobrjadcy, SPb 1910.
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graphien konnten die Biographiemodelle überschrieben werden, die die orthodoxe Kirche ihren Gläubigen, aber auch den ›Abgefallenen‹ als gut und richtig anbot.61 Im Auftrag der Akademie der Wissenschaften betrieb Bonþ-Brueviþ nach seiner Rückkehr nach Russland in mehreren Gouvernements Feldforschung und legte in der Handschriftenabteilung der Akademie der Wissenschaften eine Quellensammlung zu den ›Sekten‹ an. In den Kommentaren und Vorworten zu den publizierten Autobiographien hat er fast immer auf diese Sammlung und ihre Signaturen verwiesen. Die Akademie der Wissenschaften als Ort der Aufbewahrung gab den Texten der ›Sektierer‹ Autorität. Mit seinen archivarischen Bemühungen und mit seinen Studien deklarierte Bonþ-Brueviþ die ›Sekten‹ als gesellschaftliche Bewegung, an der die Wissenschaft nicht vorbeigehen dürfe.62 Dank seines institutionellen Rückhalts in der Akademie der Wissenschaften gelang es ihm, seine Publikationen über das ›Sektenwesen‹ als wissenschaftliche Erträge auszugeben. Subbotin dagegen, der Herausgeber des Bratskoe Slovo, hatte sich schwerer des Vorwurfs seiner Gegner erwehren können, blinde Polemiken verfasst zu haben. Bonþ-Brueviþs Erfolge fielen in eine Zeit, in der die orthodoxe Kirche ihr Deutungsmonopol über die ›Sektierer‹ allmählich verlor. Das Jahr 1905 wurde schließlich zum Wendepunkt in der restriktiven Religionspolitik des Zarenreichs. Es brachte nicht nur neue Freiheiten im Pressewesen, sondern ein Toleranzedikt räumte nun auch nichtorthodoxen Religionsgemeinschaften Rechte ein. Alternative Ansichten über Altgläubige, Baptisten und Štundisten fanden Eingang in die Presse. Es entstanden Zeitschriften, wie zum Beispiel der Baptist, die über das religiöse Leben im Zarenreich gleichfalls in Konversionsgeschichten berichteten.63 »Wie ich mich von der Orthodoxie abwandte« waren Überschriften, unter denen nun Lebensgeschichten von Bauern erschienen.64 Die Formulierungen erinnern an autobiographische Konversionserzählungen, wie sie im Bratskoe Slovo veröffentlicht wurden. Allein der Weg zum Glück führte jetzt in die entgegengesetzte Richtung.
61 Bonþ-Brueviþ hat die orthodoxe Kirche und mit ihr auch namentlich Konstantin Pobedonoscev mehrfach provoziert. Seine Zusammenstellung der Kosten, die seiner Ansicht nach durch die orthodoxe Kirche entstehen, konnte als deutliche Kampfansage verstanden werden. Im Jahr 1913 bezifferte Bonþ-Brueviþ die Gesamtsumme der Kosten, die die orthodoxe Kirche verursache, auf 36½ Millionen Rubel. Bonþ-Brueviþ, Stoimost’ kulta (1913), 137; Bonþ-Brueviþ, Sektanty i g. K. Pobedonoscev. 62 Bonþ-Brueviþ, Životnaja kniga, V. 63 Die Zeitschrift Baptist erschien seit 1907. Sie wurde von Dej I. Mazaev unter anderem in Rostov na Donu herausgegeben. 64 Ljasockij, Materialy.
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Die zweite Phase in Bonþ-Brueviþs Leben lassen seine sowjetischen Biographen in der frühen Sowjetunion beginnen.65 Die Zeit nach dem Oktoberumsturz brachte Bonþ-Brueviþ in die inneren Zirkel der Macht. Zwischen 1919 und 1920 hatte er einen Posten im Rat der Volkskommissare inne. In dieser Zeit begann er, die Bedeutung der ›Sekten‹ im Kampf gegen den Zarismus hervorzuheben. In der ersten Hälfte der 1920er Jahre war noch nicht entschieden, ob man in den ›Sektierern‹ Mitstreiter oder Feinde sehen wollte und welchen Stellenwert religiösen Überzeugungen zugestanden werden konnte. Damals wurden zwei Vorgehensweisen diskutiert. Die eine wird in der Forschung als evolutionistischer Weg bezeichnet. Diesem Weg hingen Lenin und auch Bonþ-Brueviþ an. Beide glaubten, dass mit den gesellschaftlichen Veränderungen Religiosität und Frömmigkeit überflüssig werden würden. Man hoffte auf Einsicht und setzte nicht allein auf Zwang. Die Gläubigen sollten selbst die Vorteile eines Lebens ohne Gott und Kirchenbesuche erkennen. Doch setzte sich nach dem Tod Lenins der interventionistische Weg durch. Seit der Mitte der 1920er Jahre bekämpften die Bol’ševiki religiöse Überzeugungen unnachgiebig.66 Das Handeln der ›Sektierer‹ wurde nun als Widerstand gegen den jungen Staat gedeutet: Pazifismus, Wehrdienstverweigerung und Widerspruch gegen das Diktum des Klassenkampfs galten als Affront. In dieser Zeit versuchte Bonþ-Brueviþ an seinen früheren Forschungen festzuhalten, geriet jedoch immer mehr unter Druck.67 Sein Engagement für die ›Sekten‹ wurde schwieriger, auch weil er eine angreifbare Taktik wählte. 1924 verteidigte er in der Pravda die ›Sektierer‹ als erfolgreiche Bauern, die durch Fleiß zu Wohlstand gekommen seien. Gerade dadurch setzte er sie aber dem Vorwurf aus, ›Kulaken‹ zu sein.68 In Zeiten, in denen die Trennlinien zwischen Innen und Außen neu und schärfer denn je gezogen wurden, wollte niemand Bonþ-Brueviþs Urteil hören, dass die ›Sektierer‹ nicht zur Dorfbourgeoisie gezählt werden dürften. Stattdessen warfen seine Gegner Bonþ-Brueviþ vor, sich geirrt zu haben. Die Überzeugungen der ›Sektierer‹ seien keineswegs revolutionär. Er habe das ›Sektenwesen‹ idealisiert und maßlos übertrieben, als er den Bildungsgrad der ›Sektierer‹, ihr Streben nach Inno-
65 Šachnoviþ, Bonþ-Brueviþ, 296. 66 Die Unentschiedenheit im Umgang mit Religion und ›Sektierern‹ in der ersten Hälfte der 1920er Jahre zeigte sich an ambivalenten Handlungen. Einerseits gab Lenin BonþBrueviþ den Auftrag, die duchoborcy in die sowjetische Wirtschaft zu integrieren und mit ihnen einen Musterbetrieb aufzubauen, andererseits wollte Lenin nicht, dass dies bekannt würde. Gassenschmidt, Tuchtenhagen, Einleitung, 8; Zverev, Coppieters, BonchBruevich, 83. 67 Ơtkind, Russkie sekty, 299. 68 Müller, Opportunismus, 529. Solche Vorwürfe trafen auch die skopcy: Engelstein, Castration, 209-210.
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vation und kollektiven Lebensformen lobte. Seine Konkurrenten, die versuchten, seinen Platz einzunehmen, haben diese Meinung bis in die späte Sowjetunion vertreten.69 Mit Beginn der Stalinschen Industrialisierung unterwarf sich Bonþ-Brueviþ schließlich der Parteilinie. Ohne ihren stärksten Fürsprecher wurden die ›Sektierer‹ auf dem 15. Parteitag zu ›Kulaken‹ und damit zu besonders gefährlichen Feinden der Sowjetunion erklärt.70 Bonþ-Brueviþ selbst verließ resigniert den Kampfplatz und setzte seine Kräfte für weniger brisante Projekte ein. 1933 gründete er das Staatliche Literaturmuseum, dessen Leiter er wurde.71 Wie später noch zu zeigen sein wird, zog er sich auch immer häufiger aus den Briefwechseln mit seinen ›sektiererischen‹ Korrespondenten zurück. Biographen wie Michail Šachnoviþ ließen nun die dritte Phase in BonþBrueviþs Leben beginnen. Dieser habe aufgehört, Fürsprecher der ›Sektierer‹ zu sein. Die Zeit bis zu seinem Tod sei geprägt gewesen vom Kampf gegen die Religionen.72 In seinen Aufsätzen und vielfach veröffentlichten Erinnerungen begann Bonþ-Brueviþ selbst, seine Nähe zu Lenin und die Distanz zu den ›Sektierern‹ zu betonen.73 1946 wurde er Leiter des Museums für Religionsgeschichte in Moskau; seit 1947 stand er dem Museum für Religionsgeschichte und Atheismus in Leningrad vor, das er wie die Abteilung für Geschichte der Religion und des Atheismus an der Akademie der Wissenschaften bis zu seinem Tod 1955 leitete.74 Seine Archivierungsbemühungen, die einer eindeutigen Distanzierung widersprechen, gab er allerdings nicht auf. Auch im Museum für Religionsgeschichte und Atheismus gründete er 1953 eine Handschriftenabteilung, die gefährdete Spuren der ›Sektierer‹ durch Archivierung für die Nachwelt bewahrte.75 Die Sammlungspraktiken zeigen, dass der zur Schau getragene Umschwung, der sich auch an Bonþ-Brueviþs Schriften zeigen lässt, nicht in einem einfachen Einstellungswandel aufgeht. Wie später beispielhaft an Archivmaterialien und der Beziehung zwischen ihm und dem Bauern Michail Novikov gezeigt wird, hat sich seine Einstellung zu den ›Sektierern‹ keineswegs radikal verändert. Für langjährige Korrespondenten blieb Bonþ-Brueviþ in den 1930er Jahren Ansprechpartner. Auch andere Tolstojaner schrieben über ihn in ihren autobiographischen Texten als positive Figur.76 Vielmehr lässt sich in den
69 Müller, Opportunismus, 531-532; Šejnman, Bonþ-Brueviþ, 14; Klibanov, Bonþ-Brueviþ, 26-27. 70 Müller, Opportunismus, 530; Ơtkind, Russkie sekty, 303. 71 Šejnman, Ot redakcii, 5-6. 72 Šachnoviþ, Bonþ-Brueviþ, 297. 73 Bonþ-Brueviþ, Po povodu pis’ma (1951), 170. 74 Šejnman, Ot redakcii, 5-6. 75 Gendrikov, Kratkij putevoditel’, 212. 76 Mazurin, The Life, 45; Dragunovsky, From the Papers, 216.
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Distanzierungsbemühungen eine Strategie erkennen, um Ansehen zu bewahren und Repressionen von sich und seiner Familie abzuwenden. Wie real die Bedrohung war, sah Bonþ-Brueviþ am Schicksal seiner Tochter Elena und seines Schwiegersohns Leopol’d Averbach, des ehemaligen Vorsitzenden der Arbeiterorganisation der proletarischen Schriftsteller (RAPP). Beide wurden inhaftiert, Averbach 1937 zum Tode verurteilt und erschossen. Auch BonþBrueviþs Stiefsöhne wurden verhaftet. Bonþ-Brueviþ adoptierte schließlich seine Enkel, um sie vor dem Schicksal ihrer Eltern zu bewahren.77 Auch viele seiner Korrespondenten kamen in Haft oder verschwanden spurlos. Die Zeit der Toleranz gegenüber Religion und ›Sektierern‹ war offensichtlich vorbei. Hatten die Trommler für Veränderungen im ausgehenden Zarenreich beispielsweise in den duchoborcy noch die Vorreiter einer neuen Gesellschaft gesehen, galten mit der Kollektivierung religiöse Formen des Zusammenlebens generell als überholt. Ihr Besitz wurde konfisziert, sie selbst deportiert. Die Zahl ihrer Siedlungen nahm – wie zum Beispiel am Fluss Amur in Sibirien – rapide ab. Vor 1926 hatten dort 2311 duchoborcy gelebt, nach 1932 waren es nur noch 207.78 Bevor die ›Sektierer‹ mit ihren Autobiographien im Mittelpunkt stehen, sollen Art und Weise, in der sich Bonþ-Brueviþ an die ›Sektierer‹ wandte, insbesondere der Schreibaufruf, untersucht werden. Wie kamen seine Einstellungen gegenüber den ›Sektierern‹ in diesem Aufruf zum Tragen und wie wirkten sie auf die Antworten der ›Sektierer‹ zurück? Inwieweit wurden durch die Fragen Biographiemuster, Normen und Ideale vermittelt? Wer konnte sich angesprochen fühlen? In einem zweiten Schritt werden die Gründe analysiert, die die ›Sektierer‹ bewegt haben, mit ihrer Autobiographie aus dem Familienkreis oder ihrer Gemeinde herauszutreten. Inwieweit beeinflusste das, was die ›Sektierer‹ über Bonþ-Brueviþ zu wissen meinten, ihre Antworten? Welche Hoffnungen verbanden sie mit ihren Repliken? Wie erfüllten sie mit ihren Lebensbeschreibungen die Erwartungen, mit denen sie der Schreibaufruf konfrontierte? Wie veränderte sich die Beziehung zwischen BonþBrueviþ und seinen Korrespondenten in der Sowjetunion, in der die neuen Machthaber zusammen mit der Religion auch die ›Sekten‹ bekämpften? Anrufungen – Spuren der Evidenz ›Noch ist es nicht zu spät, zum Stift zu greifen!‹79 In Bonþ-Brueviþs Schreibaufrufen ist die Angst vor Verlust und Vergessen allgegenwärtig. Seit 1908 war er mehrfach mit Fragekatalogen an potenzielle Korrespondenten herangetreten und hatte sie um
77 Žitomirskaja, Prosto žizn’, 268. 78 Zverev, Coppieters, Bonch-Bruevich, 85. 79 Bonþ-Brueviþ, Programma dlja sobiranija svedenij (1908), VIII.
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Mithilfe gebeten. Dabei erschienen seine Schreib- und Sammelaufrufe als einzelne Broschüren sowie innerhalb seiner Publikationen wie in den Materialien zur Geschichte und Erforschung des Sektenwesens und des Raskol.80 Diese Form der Kontaktaufnahme war nicht neu. Schon in den 1880er Jahren hatten Aleksandr Prugavin und Jakov Abramov Altgläubige und ›Sektierer‹ mit Fragebögen angesprochen.81 Bonþ-Brueviþ wandte sich in seinem Aufruf an drei verschiedene Gruppen: Erstens an jene, die Material über »Sektierer« und »Altgläubige« besaßen. Zweitens bat er diejenigen um Mitarbeit, die selbst keine »Sektierer« waren, aber Gelegenheit gehabt hatten, deren Leben zu beobachten.82 Im Mittelpunkt seines Aufrufs standen jedoch die ›Sektierer‹ selbst, die mit ihren Erinnerungen und Materialien über ihr eigenes Leben sprechen sollten und damit die Perspektiven von außen auch korrigieren konnten. Mündliche Überlieferung – so der Grundtenor seines Schreibaufrufs – ist nicht genug. Sie ist dem Vergessen stärker ausgesetzt als alles, was in Archiven liegt. Bonþ-Brueviþ bot seine Person als vertrauenswürdigen Bewahrer und die Handschriftenabteilung der Akademie der Wissenschaften als sicheren Ort für die Quellen an. In seinem Aufruf garantierte er seinen Korrespondenten nicht weniger als Ewigkeit. Er versprach die vollständige Bewahrung ihrer Quellen »zum Nutzen zukünftiger Generationen«.83 Archivierung und Gemeinwohl, Schreiben über die Vergangenheit und Handeln für die Zukunft gingen Hand in Hand. Letztendlich forderte der Schreibaufruf den ›Sektierern‹ einen Einstellungswandel ab: Verantwortung für den Glauben bedeutete nun nicht mehr Konspiration und Geheimniskrämerei, sondern den Gang in eine weitgehend anonyme Öffentlichkeit. Es genügte nicht mehr, vor dem eigenen Gewissen, der religiösen Gemeinschaft oder vor Gott Rechenschaft über den Glauben abzulegen. Wer seine religiösen Überzeugungen vor dem Vergessen bewahren wollte, musste – so jedenfalls sah es Bonþ-Brueviþ – nach außen treten. Um die ›Sektierer‹, die teilweise über Generationen hinweg un-
80 Bonþ-Brueviþ, Materialy k istorii i izuþeniju russkago sektantstva i raskola. 81 Prugavin veröffentlichte sein Programm auch in Provinzzeitungen. Auf diese Weise gelangte er in die Lebenswelt der Altgläubigen hinein, die häufig an der Peripherie des Zarenreichs lebten. In 120 Fragen versuchte er Informationen über Dogmen, Aufbau und Struktur der ›Sekten‹ einzuholen. Prugavin interessierte sich besonders für die Beziehungen zur Regierung und zu anderen ›Sekten‹ sowie für die Maßnahmen, die die orthodoxe Kirche ergriff, um gegen die ›Sekten‹ vorzugehen. Im gleichen Jahr veröffentlichte Abramov seinen Fragebogen, der sich nicht nur an Altgläubige, sondern an alle ›Sektierer‹ richtete. Prugavin, Programma dlja sobiranija svedenij o russkom raskole (1881); Abramov, Programma voprosov dlja sobiranija svedenij o russkom sektantstve (1881). 82 Bonþ-Brueviþ, Programma dlja sobiranija svedenij (1908), VIII-IX. 83 Bonþ-Brueviþ, Programma dlja sobiranija svedenij (1908), VIII.
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ter religiöser Verfolgung gelitten hatten, zum Gang in die Öffentlichkeit zu bewegen, bediente sich Bonþ-Brueviþ religiöser Konnotationen. Er forderte sie auf, mit ihren Lebensgeschichten zu bezeugen, wann, wo und durch wen sie wegen ihres Glaubens gelitten hatten. Wie später gezeigt wird, erkannten die ›Sektierer‹ darin die Aufforderung, als Märtyrer über sich zu sprechen. So überlegt Bonþ-Brueviþ religiöse Ausdrucksformen nutzte, so behutsam sprach er auch seine zukünftigen Korrespondenten an. Schon die Anrede zeigt, wie sehr Bonþ-Brueviþ bemüht war, ihr Vertrauen zu gewinnen. Bonþ-Brueviþ gab vor, die »richtigen« Bezeichnungen nicht zu kennen, darauf angewiesen zu sein, dass ihm mit der Antwort auf den Schreibaufruf auch der »wirkliche« Name mitgeteilt werde: »In erster Linie wenden wir uns an diese Menschen, die bei uns gewöhnlich ›Sektierer‹, ›Spalter‹, ›Altritualisten‹ genannt werden und bitten sie um ihre Mitarbeit.«84 Indem Bonþ-Brueviþ die Begriffe in Anführungszeichen setzte, übte er an ihnen Kritik. Die Bezeichnungen waren für ihn mit dem Deutungsanspruch der orthodoxen Kirche, mit Ausgrenzung, Verfolgung und Gewalt verbunden. Es scheint, dass er durch dieses vorsichtige Agieren auch jene zu erreichen hoffte, die im Verborgenen ihren Glauben lebten und die mit Benennungen wie ›Sektierer‹ und ›Spalter‹ aus der sozialen Ordnung herausgedrängt worden waren. Bonþ-Brueviþ bot mit seinem Schreibaufruf Raum, um sich einen Namen zu geben und mit einem Namen auch einen Platz in Geschichte und Gesellschaft zu beanspruchen. In sieben größeren Fragekomplexen und fast vierzig Fragen forderte BonþBrueviþ Informationen über das »Leben« ein. »Leben« war in dem Schreibaufruf das Schlüsselwort, das inhaltliche Vollständigkeit ermöglichen sollte.85 Seine Korrespondenten konnten wählen, ob sie ihr »Leben«, das »Leben« einer ›Sektenfamilie‹ oder ihrer Gemeinde beschrieben. Der erste Fragekomplex oszillierte zwischen der Abrufung von Passdaten und Fragen, die die soziologische und ökonomische Verortung des Korrespondenten ermöglichen sollten. In ihm erkundigte sich BonþBrueviþ nach den finanziellen Mitteln der Familien. Zudem forderte er Listen an, die genaue Auskunft über die Zusammensetzung der Haushalte geben sollten: Wie ist in den Familien und Gemeinden Geschlecht, Alter und Alphabetisierungsgrad verteilt? Reicht die Landwirtschaft zum Leben? Haben die Familien Lohnarbeiter angeheuert?86 Bonþ-Brueviþ maß den Fragen nach Ökonomie und sozialer Herkunft einen hohen Stellenwert zu. Erst die ökonomischen und soziologischen Daten erlaubten es, so suggeriert es die Anordnung, die Antworten seiner Korrespondenten richtig zu bewerten.
84 Bonþ-Brueviþ, Programma dlja sobiranija svedenij (1908), VIII. 85 Bonþ-Brueviþ, Programma dlja sobiranija svedenij (1908), VIII. 86 Bonþ-Brueviþ, Programma dlja sobiranija svedenij (1908), IX.
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Der zweite Fragekomplex wendet sich der Religion und damit dem Kern von Bonþ-Brueviþs Schreibaufruf zu. In diesem Abschnitt steht die religiöse Verwurzelung des Korrespondenten und seiner Familie im Mittelpunkt: Sind sie schon immer »Sektierer« gewesen oder erst kürzlich von der Orthodoxie abgefallen?87 BonþBrueviþ interessierte sich für die gleichen Fragen, die auch die Redakteure des Bratskoe Slovo angetrieben und die ihre Korrespondenten zum Ausgangspunkt ihrer Konversionserzählungen erwählt hatten. Auch hier spielen Namen eine bedeutende Rolle: Wie nennen sich jene selbst, die Bonþ-Brueviþ in Ermangelung der richtigen Begriffe als »Sektierer« bezeichnen muss? Wie werden sie von orthodoxen Missionaren und Geistlichen gerufen? Warum sind sie mit der Religion nicht einverstanden, die – auch hier verwendet Bonþ-Brueviþ die distanzierenden Anführungszeichen – als »orthodox« bezeichnet wird.88 Danach forderte Bonþ-Brueviþ eine »vollständige Beschreibung ihres Verständnisses von Leben und Glauben« ein. Er bat seine Korrespondenten genau zu beschreiben, wie sie religiöse Schriften, vor allem Bibel und Evangelium, verstünden.89 Dies waren brisante Fragen, die geeignet waren, orthodoxe Kirchenführer und Geistliche zu provozieren. Sie hatten vergeblich versucht, die Auslegung der Bibel durch Laien zu verhindern. Erst 1862 war im Zarenreich eine erste Übersetzung der Bibel in modernem Russisch erschienen. Ihre misstrauisch beäugte Verbreitung lag in den Händen ausländischer Bibelgesellschaften und ›Sektierer‹, vor allem in denen westeuropäischer Protestanten.90 Im dritten Fragekomplex bot sich Bonþ-Brueviþ als Zuhörer an, der sich auch für die Schattenseiten im Leben der ›Sektierer‹ interessierte: »Alle, die gelitten haben«, sollten so genau wie möglich die Repressionen beschreiben, die ihnen widerfahren seien.91 Wann und wo waren sie in Gefängnissen, Festungen und Klöstern eingesperrt? Wie liefen die Verhöre ab?92 Wer könne das Geschehene bezeugen? Alle Zeugen seien aufzuführen. Im gleichen Maße sollten seine Korrespondenten als Zeugen für jene auftreten, die selbst nicht mehr über ihr Leben Rechenschaft ablegen konnten, da sie der Verfolgung zum Opfer gefallen waren. Ihre Lebensgeschichte aufzuschreiben, sei – auch hier benutzte er religiöse Konnotationen – Aufgabe der Brüder und Freunde.93 Bonþ-Brueviþ bat seine Korrespondenten, ihm auch ihre Fotografien zuzusenden.94 Die neue Technologie, ein Abbild zu schaffen, sollte ihre Existenz unbe-
87 Bonþ-Brueviþ, Programma dlja sobiranija svedenij (1908), IX. 88 Bonþ-Brueviþ, Programma dlja sobiranija svedenij (1908), IX. 89 Bonþ-Brueviþ, Programma dlja sobiranija svedenij (1908), X. 90 Chulos, Converging Worlds, 85. 91 Bonþ-Brueviþ, Programma dlja sobiranija svedenij (1908), X. 92 Bonþ-Brueviþ, Programma dlja sobiranija svedenij (1908), X. 93 Bonþ-Brueviþ, Programma dlja sobiranija svedenij (1908), IX. 94 Bonþ-Brueviþ, Programma dlja sobiranija svedenij (1908), X.
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streitbar bezeugen. Immer wieder unterbrach er seinen Schreibaufruf mit der Bitte, ihm weitere Quellen zuzusenden, die das Beschriebene beweisen konnten: Handschriften, Inhaltsangaben, Erinnerungen und alle Formen von Aufzeichnungen erbat er für seine Sammlung. Die ›Sektierer‹ sollten ihm zudem alle Bücher schicken, die über sie in freien Verlagen im Ausland gedruckt und illegal nach Russland eingeführt worden waren. Dies war nach Jahren der Verfolgung nicht ungefährlich. Es forderte seinen Korrespondenten ein Höchstmaß an Vertrauen ab.95 Bonþ-Brueviþ bemühte sich, keinen Ort zu vergessen, an denen die ›Sektierer‹ Spuren hinterlassen haben könnten. Auch Provinzsammlungen und ausländische Bibliotheken forderte er auf, Material zuzusenden und Auskunft über ihre Bestände zu geben. Daraus sollte eine umfassende Bibliographie entstehen.96 Hinter dem wiederkehrenden Aufruf, Quellen zu schicken, verbarg sich der Wunsch, Evidenz für die Geschichten der Verfolgung zu erzeugen. Quellen, die das Geschehene aus verschiedenen Perspektiven schildern konnten, versprachen größtmögliche Objektivität. Viel Raum nehmen in dem Schreibaufruf die Fragen nach dem Verhältnis von Wehrdienst und ›Sektentum‹ ein. In der Verweigerung des Wehrdiensts sah BonþBrueviþ eine paradigmatische Situation, in der sich der Einzelne dem Zugriff des Staats auf sein Leben entziehe.97 Auch andere Fälle, in denen die ›Sektierer‹ den Anordnungen der Polizei, der Geistlichkeit und der Regierung nicht nachkamen, interessierten ihn. Warum lehnten sie es beispielsweise ab, Steuern zu zahlen? Der vorletzte Fragekomplex wendet sich dem Bild von außen zu: Bonþ-Brueviþ forderte auch jene zum Schreiben auf, die keine ›Sektierer‹ oder Altgläubigen waren. Er wollte wissen, welche politischen Parteien sich für die ›Sektierer‹ interessierten und ob diese auf die Annäherungsversuche eingingen. Bonþ-Brueviþ hat mehrfach und über Jahre hinweg seinen Schreibaufruf veröffentlicht. Dabei veränderten sich die Struktur und Fragen nur gering. In dem 1916 erschienenen Schreibaufruf kamen allerdings Fragen nach sozialer Interaktion und Organisationsbildung hinzu. Bonþ-Brueviþ reagierte auf die durch die Revolution 1905 ausgelöste gesellschaftliche Aufbruchstimmmung und interessierte sich für die Selbstverwaltung der ›Sektierer‹, für ihre Vereine, kommunalen Geschäfte, ge-
95 Bonþ-Brueviþ, Programma dlja sobiranija svedenij (1908), X. 96 Bonþ-Brueviþ, Programma dlja sobiranija svedenij (1908), X, XII. 97 Die Wehrdienstverweigerung spielte auch eine bedeutende Rolle in den Publikationen des Svobodnoe Slovo. In den Publikationen gehörten Feindesliebe und die Weigerung, zu töten, zur Nachfolge Christi dazu. In der Wehrdienstverweigerung kamen Pazifismus, der Bezug auf das Evangelium und Widerstand gegen die Ansprüche des Staats zusammen. Der Verlag Svobodnoe Slovo hat zahlreiche autobiographische Schriften publiziert, in denen die Schreiber ihre Wehrdienstverweigerung schilderten. Vgl. Ol’chovik, Pis’ma; ýertkov, Gde brat tvoj; Škarvan, Moj otkaz.
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meinsam betriebenen Mensen, Bäckereien, Bibliotheken, Buchgeschäfte und Verlage. Hatten auch die ›Sektierer‹ nach Erscheinen des Oktober-Manifests 1905 neue Zeitschriften und Zeitungen gegründet? Hatten auch sie begonnen, sich verstärkt für die Gesellschaft zu engagieren? Die Schreibaufrufe verlangten seinen Korrespondenten viel ab. Die Fragenkataloge waren umfangreich und forderten umfassende Antworten ein. Orientierung im Wust des Wissenswerten versprach das Umfeld, in dem Bonþ-Brueviþ den Schreibaufruf veröffentlichte. In den 1908 erschienenen Materialien folgten der Schreibbitte die Erinnerungen eines Verbannten nach. Die Autobiographie des Baptisten Vasilij Pavlov berührte die Punkte, die der Schreibaufruf als interessant deklariert hatte. Er beschrieb seinen Lebensweg als Geschichte religiöser Standhaftigkeit und Verfolgung. An der Anordnung von Schreibaufruf und mustergültigem Text konnten seine Korrespondenten ersehen, wie sich ihre eigene Geschichte, die Geschichte ihrer Familie und ›Sekte‹ schreiben ließ. Ob sie diesen Vorlagen auch folgten?98 Umwenden – Als Verfolgte sichtbar werden Der folgende Abschnitt spürt dem wechselseitigen Verhältnis zwischen Anrufung und Umwenden nach, wie es in dem Autobiographie- und Archivierungsprojekt greifbar wird. Dabei stehen zwei Aspekte im Mittelpunkt: erstens die Verortung in der Welt und zweitens Sprecherlaubnis und Gruppenzugehörigkeit. Diese zwei inhaltlichen Aspekte sollen auf die Struktur der Autobiographien sowie auf ihre Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte rückbezogen werden. Dabei lassen sich die Autobiographien grob in zwei Gruppen unterteilen. Die autobiographischen Texte der ersten Gruppe fanden eine größere Öffentlichkeit. In jeder Ausgabe der Materialien zur Geschichte des russischen Sektenwesens hat Bonþ-Brueviþ Autobiographien der ›Sektierer‹ publiziert. Sie erschienen zwei bis drei Jahrzehnte später als die Konversionserzählungen im Bratskoe Slovo. Es wird eine der zentralen Fragen dieses Unterkapitels sein, was sie von den autobiographischen Texten unterscheidet, die in kirchlichen Publikationen erschienen sind. Die Autobiographien der zweiten Gruppe gelangten nicht über die begrenzte Öffentlichkeit des Archivs hinaus. Sie werden bis heute in der Handschriftenabteilung der Moskauer Staatsbibliothek verwahrt. Weitere dort archivierte Dokumente wie zum Beispiel Briefe und Aufsätze zeigen, dass diese Schriften keine isolierten Texte sind, sondern dass sie teilweise aus langlebigen Beziehungen hervorgingen. Die Autobiographien des Bauernsohns Klokov entstanden während seines Briefwechsels mit Bonþ-Brueviþ, der vierzehn Jahre dauerte. Mit dem Bauern Michail Novikov korrespondierte Bonþ-Brueviþ seit 1908. Der Briefwechsel brach erst
98 Pavlov, Vospominanija ssyl’nago.
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1937, nach 29 Jahren ab. Im Vergleich zu den Autobiographien, die sich in den Nachlässen Rubakins und Jacimirskijs befinden, sind die Quellen, die BonþBrueviþ gesammelt hat, weniger einheitlich. Bonþ-Brueviþs Sammelinteressen waren nämlich breiter. Neben ›Sektierern‹ hat er sich auch für ›Dichter aus dem Volk‹ interessiert: Schriftsteller, Dichter, ›Sektierer‹, aber auch dichtende ›Sektierer‹ fühlten sich von Bonþ-Brueviþ angesprochen. Ihre Prosa und Gedichte hat er seit den 1890er Jahren immer wieder herausgegeben.99 Verorten in der Welt Was bestimmt, wohin man geht? Die Welt, aus der man kommt? In der orthodoxen Zeitschrift Bratskoe Slovo wiesen die Autobiographien einen einfachen Aufbau auf. Die Schreiber der Lebenserzählungen kamen aus orthodoxen Familien. Häufig hatten dramatische familiäre Ereignisse wie der Tod des Vaters die Entfremdung von der Orthodoxie verursacht. Die Rückkehr in die orthodoxe Kirche, die (Re-)Konversion war damit auch ein Gang zurück in den ›natürlichen Zustand‹. Die Lebenswege, die Subbotin im Bratskoe Slovo veröffentlichte, sollten überzeitliche Geschichten sein. Immer wieder erzählten sie eine Geschichte der Heimkehr. Historische Umstände, soziale Herkunft oder politische Ereignisse spielten in den Narrativen nur eine geringe Rolle. Schrieben die Korrespondenten Bonþ-Brueviþs ebenfalls so wortkarg über die historischen und sozialen Umstände ihres Lebens? Welche Bedeutung hatte in ihren Texten Ständekategorie und Religionszugehörigkeit? Entsprachen sie Bonþ-Brueviþs Wunsch, der in seinem Schreibaufruf eine historische Herleitung des Lebens einer Gemeinde, ›Sekte‹ oder Person samt Beschreibung der ökonomischen Bedingungen eingefordert hatte? Die meisten Korrespondenten, die an Bonþ-Brueviþ schrieben, kamen seinem Drängen auf Genauigkeit nach. Sie nannten ihren Wohnort und berichteten über ihre wirtschaftliche Lage. Meist sprachen sie wie der Štundist Sofron ýižov über ihren Stand schon im ersten Satz: »Meine Eltern waren arme Bauern.«100 Auch Aleksej Mironenko, dessen Autobiographie 1910 in den Materialien erschien, teilte seinen Lesern mit, dass seine Eltern leibeigene Ackerbauern gewesen seien. Er kam damit aus einer Familie, die seine Zeitgenossen für eine typisch bäuerliche Familie hielten. In knappen, lakonischen Sätzen, die Passvermerken oder Kurzantworten auf Fragebögen ähnelten, präsentierte er seine Familiengeschichte: »Meine Angehörigen waren leibeigene Bauern aus dem Kreis Romny, Gouvernement Poltava, Dorf Zasul’e, Zasul’sker Amtsbezirk. Sie waren Ackerbauern. Vater – Dmitrij, Mutter – Tatjana, beide orthodoxen Glaubens. Meine Mutter war die zweite Frau meines Vaters. Sie
99
Vgl. Bonþ-Brueviþ (Hrsg.), Rodnyja pesni.
100 ýižov, Kratkija svedenija, 52.
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war eine Sünderin. Ihre Sünde war groß: Sie hatte, als sie noch ein Mädchen war, ein Kind geboren und dieses erstickt.«101
Korrespondenten wie ýižov und Mironenko hatten durch den Schreibaufruf oder die Korrespondenz mit Bonþ-Brueviþ erkannt, was mitteilenswert war. Ihnen war klar, dass sich Bonþ-Brueviþ für das ›Sektentum‹ als soziale Erscheinung interessierte, die als Gegenbewegung zu einer als ungerecht empfundenen Ordnung entstanden war. Einstieg und Verweis auf die familiäre Armut ähneln den Autobiographien, die in der Sowjetunion beim Überschreiten jeder Lebensschwelle abgegeben werden musste. Auch in ihnen wurde gleich zu Beginn Rechenschaft über zeitgenössisch als Klassenstatus bezeichnete Kategorie abgelegt, die die soziale Ordnung ab- und ausbilden sollte. In der Autobiographie des Korrespondenten Anton Ikonnikov spielt die Ständekategorie hingegen keine Rolle. Ikonnikov rekurrierte nicht auf sie, um einen Platz in der sozialen Ordnung zu beanspruchen. Er sprach über die Situation seiner Familie, indem er ihre Religiosität beschrieb: »Meine Eltern waren religiöse Menschen.«102 Die Mutter war in seiner Schilderung sehr fromm und enthielt sich alkoholischer Getränke. Sie war so duldsam, dass die Nachbarn sie fragten, wann sie denn zur Heiligen würde. Solche Schmähungen ertrug sie still, was der junge Anton, wie er in seiner Autobiographie berichtete, nicht verstehen konnte.103 Auch der Vater eiferte den Heiligen nach. Er ging jeden Tag in die Kirche und »hatte solch eine Frisur wie die Heiligen auf den Ikonen«.104 Den Kindern missfiel es, jeden Tag um fünf Uhr für den Kirchgang geweckt zu werden, die alten Bäuerinnen hingegen lobten den Vater sehr. Sie verhießen ihm, dass so gut erzogene Kinder als Erwachsene einen frommen Lebenswandel pflegen würden. Diese Prophezeiung ging nicht in Erfüllung: Das Streben nach Gottgefälligkeit und die vielen Gebete bewahrten den Vater nicht vor den Versuchungen des Alkohols. Sein früher Tod stürzte die Familie in Armut. Er beendete ein Leben, das – so die Autobiographie – auf falschem Schein beruhte. Ikonnikov wandte sich daraufhin von der orthodoxen Kirche ab. Seine Autobiographie ist die Geschichte dieser Entfremdung. In Ikonnikovs Narrativ brachte ihn die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit, für die die Figur des Vaters stand, schon in jungen Jahren dazu, Frömmigkeit als Scheinheiligkeit zu hinterfragen. Als beim Gottesdienst das Glöckchen ertönte, behauptete er gegenüber seinem Freund Kolja, dass es in der Komödie ge-
101 Mironenko, Žizn’ Alekseja, 80. 102 Ikonnikov, Avtobiografija A.I. Ikonnikova, RGB f. 369 389.10, 1905, l. 1. 103 Ikonnikov, Avtobiografija A.I. Ikonnikova, RGB f. 369 389.10, 1905, l. 1. 104 Ikonnikov, Avtobiografija A.I. Ikonnikova, RGB f. 369 389.10, 1905, l. 5.
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nauso klinge.105 Dies war eine provokante Feststellung. Kolja verriet sie sofort an den Lehrer. Ikonnikov musste als Strafe den ganzen Gottesdienst lang knien, danach schlug ihm der Lehrer die Hände blutig. Seinen Eltern gegenüber erwähnte er diesen Vorfall nicht, doch schon am nächsten Tag bestellte der Lehrer die Mutter zu sich. Aufgelöst und in Tränen kehrte sie aus der Schule zurück: »Warum ist dein Vater nur ein Säufer, der mich nicht zur Ruhe kommen lässt? So schlimm wie du ist er jedoch nie gewesen. Herr, für welche Sünden schickst du mir eine solche Prüfung?«106 Ikonnikov benutzte vertraute Bilder der Kirchenkritik, durch die die orthodoxe Kirche seit den 1860er Jahren immer mehr unter Druck geriet, um über seine Familie zu sprechen. Trunkenheit, naive Frömmigkeit und die Unfähigkeit, den eigenen Glauben zu hinterfragen, fielen in seiner Familie zusammen. Als der junge Anton seine Mutter fragte, wie ein strafender Gott ein guter Gott sein könne, nannte sie ihn einen »Gotteslästerer«.107 Auch Michail Novikov gab in seinen autobiographischen Texten die erlebte Scheinheiligkeit als Grund für seine Zweifel und die Abkehr von der orthodoxen Kirche an. Er stellte in seiner 1910 von BonþBrueviþ publizierten Autobiographie Alter Glaube die Widersprüchlichkeit religiöser Praktiken heraus. Immer wieder verwies er auf Parallelen zwischen kirchlichen Frömmigkeitspraktiken und »Aberglauben«: Sobald eine neue Hütte errichtet ist, kommt der Pope, der sie segnet. Ein wenig später findet sich dann eine alte Frau ein, die den Hausgeist (domovoj) in die Hütte ruft.108 Die Korrespondenten Bonþ-Brueviþs, die aus orthodoxen Familien kamen, schilderten ihre Familien als zerrissene Gemeinschaften: Sie böten kaum Schutz und Heimat. Kindsmord, Trunkenheit und Streit überschatteten stattdessen das Familienleben. Weder in Mironenkos Lebenserzählung noch in Ikonnikovs Autobiographie hatten Frömmigkeit und Vollzug der orthodoxen Riten die Familien vor Verfehlungen und Schicksalsschlägen bewahrt. Damit hatte die ›orthodoxe Ursprungsfamilie‹ eine andere Bedeutung als in den Konversionserzählungen, die in der Zeitschrift Bratskoe Slovo veröffentlicht wurden. Der Verlust der familiären Einheit hatte dort die Schreiber aus ihrem guten und richtigen Leben gerissen. Sie kamen danach häufig in Familien von entfernten Angehörigen unter, wo sie den ›Häretikern‹ ungeschützt ausgesetzt waren. Die Autobiographien im Bratskoe Slovo schilderten ihre orthodoxen Herkunftsfamilien als gottgefällige Gemeinschaften ohne Makel, wodurch sich sie in direkte Beziehung zur orthodoxen Kirche setzen ließen. Die tadellosen, orthodoxen Herkunftsfamilien waren in den Autobiogra-
105 Ikonnikov, Avtobiografija A.I. Ikonnikova, RGB f. 369 389.10, 1905, l. 5ob. 106 Ikonnikov, Avtobiografija A.I. Ikonnikova, RGB f. 369 389.10, 1905, l. 6. 107 Ikonnikov, Avtobiografija A.I. Ikonnikova, RGB f. 369 389.10, 1905, l. 2. 108 Novikov, Staraja vera. Vospominanija, RGB f. 369 398.18, 1907, l. 16.
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phien des Bratskoe Slovo ein narratives Element, das die (Re-)Konversion als Rückkehr in den natürlichen Zustand erklärbar machte. Korrespondenten, die nicht aus einer orthodoxen Familie stammten, schilderten Bonþ-Brueviþ auf eine andere Weise ihre familiären Wurzeln. Petr Klokov war solch ein Autobiograph, den die Geschichte seiner Familie mit Stolz und Fabulierlust erfüllte. 1910 und 1916 teilte er sie Bonþ-Brueviþ in zwei Autobiographien mit. Diese Texte waren Grundlage für einen langjährigen Briefwechsel. In der Handschriftenabteilung der Moskauer Staatsbibliothek finden sich Klokovs Briefe bis in das Jahr 1925 hinein. Aus ihnen geht hervor, dass er 1910 auch andere ›Sektierer‹ ermutigte, auf Bonþ-Brueviþs Schreibaufruf zu antworten.109 Für Bonþ-Brueviþ war die Bekanntschaft mit Klokov anfänglich sehr attraktiv, hatte dieser ihm doch mitgeteilt, dass seine Familie viele alte Handschriften und Bücher besitzen würde. Immer wieder versuchte Klokov das Interesse an seiner Person mit dem Hinweis auf die Handschriften wach zu halten. Später musste er aber zugeben, dass sein Vater nicht gewillt sei, sich von den »Kostbarkeiten« zu trennen.110 Diese Absage scheint Bonþ-Brueviþs Interesse an Klokov abgekühlt zu haben. Als dieser nach sieben Jahren Stille nur noch Briefe schickte, in denen er um die Rücksendung seiner Autobiographien bat, antwortete ihm Bonþ-Brueviþ nicht. Immer wieder klagte Klokov, der erste Meriten als ›Schriftsteller aus dem Volk‹ erworben hatte, dass er auf seine Sendungen keine Antwort erhalten habe.111 Klokov begann seine »Erinnerungen« aus dem Jahr 1910, indem er die Geschichte seiner Familie erzählte.112 Darin ist der 1769 geborene Ururgroßvater die zentrale Figur. Er starb 1856, ohne die »erwünschte Befreiung«, die Aufhebung der Leibeigenschaft, erlebt zu haben. Immer wieder betont Klokov, dass die Geschichte seines Ururgroßvaters eine Geschichte sei, die für Menschen aus dem 20. Jahrhundert unglaublich klinge. Doch er habe »Pergamente«, die das Leben seines Ururgroßvaters »Matvej Nikiforoviþ Kl-ov« bezeugen können.113 Klokov schrieb den Nachnamen seines Ururgroßvaters nicht aus. Durch das Verschweigen des Namens verwies er auf die Brisanz seiner Familiengeschichte. Noch immer könne sie Verfolgung nach sich ziehen. Seine Autobiographie von 1910 unterzeichnete er mit falschen Namen, als »P. Bogochranilevskij«, als »P[etr] Gottbewah-
109 Klokov, Pis’ma k Bonþ-Brueviþu, RGB f. 369 285.13, 1909-1916, 1925, l. 3. 110 Klokov, Pis’ma k Bonþ-Brueviþu, RGB f. 369 285.13, 1909-1916, 1925, l. 4. 111 Klokov, Pis’ma k Bonþ-Brueviþu, RGB f. 369 285.13, 1909-1916, 1925, l. 18-19; Klokov, Petr Semenoviþ, in: Farber (Red.), Nižegorodskoe oruženie, 83-84. 112 Er selbst hat seinen Text gegenüber Bonþ-Brueviþ so bezeichnet: Klokov, Pis’ma k Bonþ-Brueviþu, RGB f. 369 285.13, 1909-1916, 1925, l. 4. 113 Klokov, RGB f. 369 407.25, 1910, l. 1.
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rer«.114 Mit dieser Namensgebung stellte er sich in die Tradition der Märtyrer, die bereit waren, für ihren Glauben zu sterben. Zugleich verwies er damit auf seinen Geburtsort, das Dorf Bogochranimaja, dessen Entstehung sowohl mit seiner Familiengeschichte als auch der Verfolgung der Altgläubigen verbunden war. Während in den Erzählungen des Bratskoe Slovo religiöse Identitäten klar benannt werden mussten, machte Petr Klokov Unsicherheiten in der Geschichte seiner Familie sichtbar. Er wisse nicht, ob sein Ururgroßvater ein Altgläubiger gewesen sei oder einer ›Sekte‹ angehört habe. »Was er war, bleibt ein ungelöstes Rätsel.« Selbst Klokovs Urgroßmutter hatte auf diese Frage, so die Autobiographie, keine Antwort. Nur eines sei klar: »Er glaubte bis zum Fanatismus.«115 Solche Unsicherheiten beängstigten die orthodoxe Kirche, die auch mit den Konversionserzählungen zwischen Innen und Außen scheiden wollte. Ihr war die individuelle Auslegung des Glaubens, wie sie Klokovs Ururgroßvater praktizierte, ein Dorn im Auge. Sie konnte nicht mit der Erzählung Klokovs einverstanden sein, der von Respekt und Anerkennung berichtete, die der Ururgroßvater mit seinen ›häretischen‹ religiösen Einstellungen auf sich gezogen haben soll.116 Es sind Ungebundenheit und der Gegensatz zur orthodoxen Kirche, die das Leben seines Ururgroßvaters erzählenswert machten. Seine Andersartigkeit setzte ihn, so die Autobiographie, auch den Feindseligkeiten der Nachbarn aus. Da sein Ururgroßvater nicht der Orthodoxie anhing und auch die Kirche nicht besuchte, sondern »sein abgesondertes Leben lebte«, wollte man ihn zu Zeiten der Napoleonkriege zu den Soldaten stecken: »Doch er machte sich nicht auf, um seine Menschenbrüder zu töten.«117 Zuflucht fand der Deserteur im Wald. Klokov konnte mit dieser Episode Bonþ-Brueviþs Interesse an der Geschichte der Wehrdienstverweigerung befriedigen, nach der dieser in seinen Schreibaufrufen eindringlich gefragt hatte. Schließlich habe der Ururgroßvater die Entbehrungen nicht mehr ertragen und sei in das Dorf zurückgekehrt. Zum Kriegsdienst war er nun zu schwach. Statt seiner musste sein jüngerer Bruder in den Krieg ziehen. Der radikale Rückzug aus allen sozialen Bindungen und sein entkräfteter Körper trugen ihm große Anerkennung ein. Nachdem er zwischen 1828 und 1830 zusammen mit anderen Altgläubigen aus seinem Heimatdorf vertrieben worden war, wuchs seine Popularität.118 Die Verbannten gründeten ein neues Dorf, das sie zu Ehren der Menschen, »die Gott und alten Glauben« bewahrt hatten, Bogochranimaja, das Gottbewahrende, nannten.
114 Klokov, RGB f. 369 407.25, 1910, l. 6. 115 Klokov, RGB f. 369 407.25, 1910, l. 1. 116 Zur Haltung der orthodoxen Kirche gegenüber den ›orthodoxen Häretikern‹ siehe: Clay, Orthodox Missionaries, 38-40. 117 Klokov, RGB f. 369 407.25, 1910, l. 1. 118 Klokov, RGB f. 369 407.25, 1910, l. 2.
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Klokov berichtet, wie der legendäre Ruf des Ururgroßvaters eine Pilgerwelle auslöste. Angehörige verschiedener Religionen und Volksgruppen kamen zu ihm: »Für den Ururgroßvater gab es keine Elite, keine Juden – er hat alle Menschen geliebt.«119 Auch »Wahnsinnige« wurden zu ihm geführt, damit er sie heile. Die Ketten im Haus, mit denen die Kranken zur Räson gebracht werden sollten, habe Klokov selbst gesehen. Über sich erzählte Klokov nur indirekt, indem er die Position des Zuhörers und Augenzeugen einnahm, der Wahrheit und Dichtung in der legendären Biographie seines Ururgroßvaters abzuschätzen versuchte: »Für mich damals dreizehnjährigen Jungen […] erschienen die Erzählungen der Urgroßmutter wie schöne, wundersame Märchen.«120 Im Anschluss an die Biographie seines Ururgroßvaters erzählte er die Lebensgeschichten seiner Urgroßmutter Matrena Matvevna und seiner Großmutter Elena Vasil’evna. Das zentrale Ereignis im Leben seiner Großmutter ist dabei die Konversion. Die Großmutter habe sich unter dem Einfluss eines Predigers von der offiziellen Orthodoxie abgewandt und zum Altgläubigentum bekannt. Mit der Konversion endete die religiöse Ungebundenheit und erneut setzte die Verfolgung ein. Ausführlich schildert Klokov den konspirativen Aufwand, den die Großmutter und die anderen Altgläubigen auf sich nehmen mussten, um die Taufe zu empfangen. Mit Drohungen und Gewalt hatten orthodoxe Geistliche und Polizei versucht, den Taufakt zu verhindern.121 Anders setzt die zweite Autobiographie ein, die Klokov 1916 an Bonþ-Brueviþ schickte. In ihr steht zu Beginn er selbst im Mittelpunkt. Schon im ersten Satz werden die zentralen Daten geliefert: »Ich wurde 1879 geboren, am 2./3. Juni, einem Samstag, in der Familie meines Großvaters Evgraf Andreeviþ Klokov [Durchstr. i.O.] im Dorf Bogochranimaja, in der Einöde des Gouvernements Nižegorod, im vierten Jahr der Ehe meiner Eltern.«122 Über sich schrieb er jedoch nur kurz. Erneut bot er in seiner genealogisch aufgebauten Erzählung die Geschichte seiner Familie dar. Erst als er sie erzählt hatte, berichtete er über sein eigenes Leben. Er übernahm damit die Prämissen, die Bonþ-Brueviþ als erfolgreiches Modell der Lebensbeschreibung in seinem Schreibaufruf ausgegeben hatte. Erst die Historisierung der Vergangenheit mache die Gegenwart erklärbar. Um sein Leben zu erzählen, ging er in der Geschichte seiner Ahnen noch einmal bis in die vierte Generation zurück. Er schilderte ein harmonisches Familienleben, in dem die Familie auch nach Konflikten immer wieder zueinander fand. Während die unklare religiöse Identität des Ururgroßvaters in der 1910 entstandenen Autobiographie viel Platz eingenom-
119 Klokov, RGB f. 369 407.25, 1910, l. 2. 120 Klokov, RGB f. 369 407.25, 1910, l. 2. 121 Klokov, RGB f. 369 407.25, 1910, l. 5. 122 Klokov, Avtobiografiþeskie zapiski, RGB f. 369 407.27, 1916, l. 3.
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men hatte, berichtete Klokov 1916, dass sich seine Familie schon eine Generation später zum altgläubigen Glauben bekannt habe. Anders als es Bonþ-Brueviþ eingefordert hatte, beleuchtete Klokov die ökonomische Situation seiner Familie nur am Rande. Beiläufig erwähnte er, dass sein Großvater und sein Vater mit Getreide gehandelt hätten.123 Als der Vater seinen eigenen Haushalt gründete, litten sie dank des handwerklichen Geschicks des Vaters nur kurzzeitig Not. Den »Mangel landarmer Bauern«, so Klokov, kannten sie nicht.124 In der Autobiographie aus dem Jahr 1916 waren für Klokov die Schrifttradition und der Bildungshunger seiner Familie entscheidend. Sein Vater habe als Schreiber gearbeitet und für seine Nachbarn Bittschriften verfasst. Oft fragten sie ihn um Rat. Der religiöse Bezugsrahmen, den er in dem autobiographischen Text 1910 und zu Beginn seiner Autobiographie 1916 gewählt hatte, verlor sich im Fortgang seiner Erzählung allmählich. Nach seinem Weggang in die Stadt fasste Klokov seine Biographie als die Geschichte eines werdenden Dichters. Sie ähnelt der publizierten Autobiographie Drožžins und auch jenen Aufstiegsgeschichten, die unter Samuel Smiles’ Namen in Russland erschienen. In einem Vergleich wird deutlich, welche große Rolle die Herkunft und die Familie in den an Bonþ-Brueviþ übersandten Autobiographien spielten. ýižov, Mironenko und Klokov historisierten die Geschichte ihrer Familien, um ihre Biographie und ihre gegenwärtige Lebenswelt erklärbar zu machen. Autobiographen, die aus orthodoxen Familien stammten, sich aber von der orthodoxen Kirche abgewandt hatten, schilderten ihre Familien als zerrissene Gemeinschaften. Sie bewältigten die Annahme eines neuen Glaubens, indem sie den Glaubenswechsel als familiäre Entfremdung erzählten. Obgleich sich Intention und Wirkweise unterschieden, nutzten die Korrespondenten damit Schreibweisen und Bilder, die zuvor im Bratskoe Slovo und in anderen kirchlichen Zeitschriften gebraucht worden waren. Autobiographen wie Klokov, die ohne eigene Konversion als ›Sektierer‹ sprechen konnten, zeichneten hingegen ihre Familien als harmonische Gemeinschaften. Indem Bonþ-Brueviþ eine Historisierung der Familiengeschichte einforderte, schuf er einen Raum autobiographischen Sprechens, in dem rational begründbare Kausalitäten den Gang der eigenen Biographie antrieben. Darin unterscheiden sich die an Bonþ-Brueviþ gesandten Autobiographien von den Konversionserzählungen, die im Bratskoe Slovo erschienen waren und wo auch Wunder dem Leben Wendungen zu geben vermochten. Während die Lebenserzählungen im Bratskoe Slovo nach der Konversion abbrachen, besaßen die Lebenserzählungen von BonþBrueviþs Korrespondenten keine klar benennbare Teleologie. In diesem Punkt brachen sie mit dem hagiographischen Modell. Die an Bonþ-Brueviþ gesandten Autobiographien erzählten eine Entwicklung, die immer weiter fortgeschrieben werden
123 Klokov, Avtobiografiþeskie zapiski, RGB f. 369 407.27, 1916, l. 8. 124 Klokov, Avtobiografiþeskie zapiski, RGB f. 369 407.27, 1916, l. 13.
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konnte. Diese Struktur ermöglichte es Korrespondenten wie Klokov, mehrfach eine Autobiographie zu verfassen und über lange Zeit mit Bonþ-Brueviþ in Kontakt zu bleiben. Sprecherlaubnis und Gruppenzugehörigkeit Scheinbar unerklärliche Aufmerksamkeit hatte Petr Klokovs Ururgroßvater auf sich gezogen. Gesunde und Kranke pilgerten zu ihm. Immer wenn sein Name genannt wurde, lag ein feierlicher Ton in der Stimme. »Vielleicht waren die erlebten Leiden und Verfolgungen die Ursache dafür.«125 So jedenfalls versuchte Klokovs Urgroßmutter die schwer verständliche, plötzliche Ehrerbietung zu erklären. Wie viel Aufmerksamkeit konnte ein Opfer von Staat und Kirche im ausgehenden Zarenreich gewinnen? Welche Rolle spielte der Nachweis von erlittenen Verfolgungen in den Narrativen der ›Sektierer‹? War Bonþ-Brueviþ, der sich selbst nicht als Christ verstand, ein vertrauenswürdiger Zuhörer für erlittenes Unrecht um des Glaubens willen? Konnten ihm seine Korrespondenten auch noch in der Sowjetunion vertrauen? Der folgende Abschnitt beleuchtet die zentralen Lebenserfahrungen, die es Bonþ-Brueviþs Korrespondenten erlaubten, über ihr Leben zu sprechen. Die Hauptthese ist, dass sie das Bild des Märtyrers zum Ausgangspunkt ihrer Erzählungen machten, welches sie durch Viten, kirchliche Schriften und Apokryphe kannten. Um ihrer Lebensbeschreibung Gewicht zu verleihen und Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, knüpften sie an hagiographische Schreib- und Sprechweisen an. Sie zeichneten sich – vor allem zu Beginn ihres Kontaktes zu Bonþ-Brueviþ – als Verfolgte, die ihrer religiösen Überzeugungen wegen Gewalt erleiden mussten. Gefragt werden soll, wie sich im Laufe der teilweise über mehrere Jahre erstreckenden Beziehungen die Position veränderte, aus der heraus die Korrespondenten mit BonþBrueviþ über ihr Leben sprachen. In welche Gruppen schrieben sie sich in ihren Autobiographien ein? Von wem setzten sie sich ab? Veränderten sich im ausgehenden Zarenreich und der frühen Sowjetunion die Zugangserfahrungen, die präsentiert werden mussten, um mit der eigenen Autobiographie einen Platz in Bonþ-Brueviþs Sammlungen und Archiven zu erlangen? War er der einzige Adressat der Lebensgeschichte oder ging der erhoffte Leserkreis darüber hinaus? Welche Rolle spielte in den an ihn gerichteten Autobiographien die Konversion, die im Bratskoe Slovo Dreh- und Angelpunkt der Narration gewesen war? Sofron ýižov, der zwei autobiographische Texte in den von Bonþ-Brueviþ herausgegebenen Materialien veröffentlicht hat, gehörte zu den Korrespondenten, die aus einer orthodoxen Familie stammten. Seine Eltern starben früh. Auf sich allein gestellt litt er sehr unter den Grobheiten der Nachbarn. In dieser schwierigen Zeit empfand er die »äußere kirchliche Form als Rettung« für seine Seele. Schließlich
125 Klokov, RGB f. 369 407.25, 1910, l. 1.
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heiratete er ein Mädchen aus dem Heimatdorf, doch die Hochzeit beglückte ihn nicht.126 Einen Satz später ist, ohne dass er in den Präliminarien seiner Lebenserzählung Zweifel angedeutet hätte, der Glaubenswechsel vollzogen. Die fehlende familiäre Bindung ließ auch ihn neue Zugehörigkeiten suchen: »Im Jahr 1891 erschien bei uns eine neue Sekte unter dem Namen Štundismus, in der auch ich war.«127 Anders als in den Konversionserzählungen im Bratskoe Slovo werden die Beweggründe für den Glaubenswechsel nicht dargelegt. Auch schilderte ýižov nicht, wie ihn die neuen Mitbrüder in ihren Kreis aufnahmen und wer sie überhaupt waren. Während die Konversionserzählungen im Bratskoe Slovo in erster Linie die Unterschiede zwischen der orthodoxen Kirche und den einzelnen ›Sekten‹ vorführten, spielen die verschiedenen religiösen Lehrgebäude für ýižov und seinen Herausgeber BonþBrueviþ keine Rolle. Nicht nur ýižov, sondern eine Vielzahl der Korrespondenten Bonþ-Brueviþs nivellierten die dogmatischen Unterschiede zwischen den ›Sekten‹ und der orthodoxen Kirche sowie innerhalb der ›Sekten‹. Identität wird durch Verneinung hergestellt. Allein die Gegnerschaft zur orthodoxen Kirche ist für die Autobiographen entscheidend. Der Leser erfährt aus der Autobiographie ýižovs nichts über die spezifischen Frömmigkeitspraktiken des Štundismus, der aus dem Kontakt orthodoxer Russen mit vom Pietismus geprägter deutscher Einwanderer entstanden war.128 Allein ausschlaggebend war, dass auch er nun bedrängt wurde. Seine Zugehörigkeit zu einer neuen Gruppe bewies sich durch Verfolgung und Leid: Der Geistliche hetzte die Dorfbewohner gegen ihn und seine Mitbrüder auf, nicht nur einmal schlugen sie nachts die Fensterscheiben ein, demolierten das Haus und trugen sogar das mit Stroh bedeckte Dach ab.129 Als der Geistliche sah, dass diese Maßnahmen ýižov und die anderen ›Abgefallenen‹ nicht von ihrem neuen Glauben abbrachten, begann er sie, in Kooperation mit der staatlichen Macht, »unmenschlich« zu behandeln.130 Der Landpolizist zeigte ýižov seine zum Dreifingerkreuz zusammengelegte Hand und fragte ihn, was er sehe.131 »Drei Finger«, antwortete ýižov. Für diese frevelhafte Antwort, in der seine Gegner die Ablehnung der Nikonischen Reformen erkannten, prügelten sie ihn fast zu Tode.132 1899 wurde ýižov wegen der »Verbreitung schädlicher religiöser Irrlehren« verhaftet und in eisernen Fesseln nach Warschau verbannt.133
126 ýižov, Kratkija svedenija, 52. 127 ýižov, Kratkija svedenija, 52. 128 Diedrich, Siedler, 117-168; Brandenburg, Christen im Schatten, 49-65. 129 ýižov, Kratkija svedenija, 52-53. 130 ýižov, Kratkija svedenija, 53. 131 Das Dreifingerkreuz gehörte zu den umstrittensten Neuerungen des Patriachen Nikon. 132 ýižov, Kratkija svedenija, 52-53. 133 ýižov, Kratkija svedenija, 55.
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Immer wieder stellte ýižov in seiner Autobiographie der erlittenen Gewalt die Liebe Gottes entgegen. Dabei bediente er sich der Argumentation der Bergpredigt: Wer Gewalt gebraucht, ist Gott fern, wer aber seine Feinde liebt, ist ihm nahe. In seiner Autobiographie vermerkte ýižov, der mit Ivan Tregubov, einem engen Vertrauten Lev Tolstojs, im Briefwechsel stand, dass er sich immer mehr für die philosophischen Schriften des »großen Lehrers« Tolstoj und die Idee der Gewaltlosigkeit begeistert habe.134 Seine Schilderungen ähneln dem, was auch andere Korrespondenten Bonþ-Brueviþs für besonders mitteilenswert erachteten. So wie die meisten von ihnen schrieb auch ýižov über sein Leben, indem er das Leid schilderte, das ihm durch orthodoxe Kirche und staatliche Macht zugefügt worden sei.135 Dabei nutzte er wie auch andere Korrespondenten Bonþ-Brueviþs hagiographische Biographiemuster. Er stellte sich als ›Märtyrer‹ (muþenik) dar, der sein Leiden und Dulden um des Glaubens willen mit seinen vitengleichen Texten bezeugt.136 Allein der Tod als finales Wahrheitszeugnis blieb aus. Der autobiographische Text beglaubigte den geschundenen Körper. Er musste als Ausweis des Martyriums genügen. Das Selbst- und Fremdbild des ›Märtyrers‹ zeigt, dass die Interessen, die BonþBrueviþ und die ›Sektierer‹ mit den autobiographischen Texten verfolgten, sich überschnitten, ohne deckungsgleich zu sein. Am deutlichsten lassen sich die Unterschiede an dem verschiedenartigen Konzept der Zeugenschaft erkennen, das mit der Persona des Märtyrers verbunden war. Die ›Sektierer‹ maßen ihren Autobiographien eine symbolische Dimension zu: Sie drückten mit dem durch Leid und Text bezeugten Glauben ihre Hoffnung auf Erlösung aus und lasen Bonþ-Brueviþs Versprechen, die Texte für »zukünftige Generationen« zu bewahren, als Verheißung von Ewigkeit.137 Ob Bonþ-Brueviþ diese Dimension seines Schreibprojekts bewusst gewesen ist, lässt sich anhand der Quellen nicht nachweisen. Mitunter wird jedoch die Diskrepanz zwischen den unterschiedlichen Anliegen in den Briefen und Autobiographien der Korrespondenten sichtbar. ýižov gab an, nur auf Bonþ-Brueviþs Bitte hin sein Leid zu schildern:
134 ýižov, Kratkija svedenija, 54-55. 135 Ausnahmen im Nachlass Bonþ-Brueviþs in der Handschriftenabteilung der Moskauer Staatsbibliothek sind die Autobiographien Anikanovs und Sacharovs. Beide Autobiographien entstanden erst in den 1920er Jahren. Anikanov präsentiert sich in seiner Autobiographie als ›Dichter aus dem Volk‹, während sich Sacharov als verdienter Bienenzüchter zeichnet: Anikanov, Avtobiografija, RGB f. 369 375.7, 1922; Sacharov, Avtobiografija, RGB f. 369 403.19, 1929. 136 Rudi, Topika russkich žitij, 62-72. 137 Bonþ-Brueviþ, Materialy k istorii i izuþeniju russkago sektantstva i raskola, Vyp. 2: Životnaja kniga duchoborcev (1909), VII; Bonþ-Brueviþ, Programma dlja sobiranija svedenij (1916), 1.
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»Ihr bittet mich, die im vorherigen Brief nicht erwähnten Hindernisse mitzuteilen, welche ich durch Geistliche und die Macht erleiden musste und muss. Ich mag nicht das Übel erwähnen, das uns die Nachbarn zugefügt haben. Doch da Ihr Euch dafür interessiert, mehr über unsere Not zu erfahren, schreibe ich auf Eure Bitte das auf, was mir im Gedächtnis geblieben ist.«138
Auch wenn sich der Štundist zierte, so war es für die ›Sektierer‹ doch attraktiv, sich als Leidende zu zeichnen. Ein solches Bild versprach mehr als den Zugang zu dem Kreis von Bonþ-Brueviþs Korrespondenten, es verhieß Erlösung. Um der erlittenen Gewalt Sinn zu verleihen, rekurrierten die ›Sektierer‹ häufig auf die Passion Christi. So auch der Baptist Egor Ivanov, der Bonþ-Brueviþ seinen Leidensweg mitteilte. Er zog in seiner Autobiographie eine direkte Parallele zwischen seinem Schicksal und dem Leiden Christi. Seine Abkehr von der orthodoxen Kirche hatte er mit Gefängnis bezahlt, wo er Feindseligkeit und schlechte Lebensbedingungen ertragen musste: »Danach ging ich in mich und erinnerte mich, dass ich hierhin [in das Gefängnis, J.H.] nicht wegen Diebstahl oder Mord gekommen war und dass selbst der Herr gelitten hat.«139 Nicht nur unter den duchoborcy kursierten Spruchweisheiten, die Verfolgung zur Bedingung von Erlösung machten: »Wird der duchoborec nicht verfolgt, wird er nicht erlöst.«140 Bonþ-Brueviþs Projekt bot einen Raum, wo über Anspruch und Hoffnung auf Erlösung gesprochen werden konnte. Die Korrespondenten nutzten das Projekt, um aus individueller Erfahrung kollektive Vergewisserung zu machen. Während es Bonþ-Brueviþ vor allem um die Gegnerschaft zur orthodoxen Kirche ging, schufen die Korrespondenten durch die publizierten und auch untereinander ausgetauschten Autobiographien Glaubensgemeinschaften, deren Mitglieder voreinander über ihren Weg zur Errettung sprachen. Es war nicht Bonþ-Brueviþs Anliegen, mit seinem Aufruf den Korrespondenten die Gelegenheit zu geben, um Erlösungshoffnung und Gottgefälligkeit zu bezeugen. Bonþ-Brueviþ wollte, dass der ›Sektierer‹ als Zeuge in dieser Welt und für diese Welt sprach. Der Bestand an religiösen Bildern, Metaphern und Konnotationen war, wie Schreibaufruf und seine eigenen Artikel zeigen, in erster Linie ein Mittel, um die ›Sektierer‹ anzusprechen.141 In seiner Konzeption sollten die Autobiographien den Nachweis erbringen, dass sich Autokratie und Kirche von ihren Untertanen und Gläubigen entfernt hatten. Die Bauern begehrten gegen die Ansprüche des Staats und der Kirche auf, indem sie sich ›Sektierern‹ anschlossen. Sie lehnten die ortho-
138 ýižov, Dopolnitel’nyja svedenia, 57. 139 Ivanov, V tjurme i v ssylke, 41-42. 140 Bonþ-Brueviþ (Red.), Materialy k istorii i izuþeniju russkogo sektantstva, Vyp. 2: Raz’jasnenie žizni christian, 5. 141 Bonþ-Brueviþ, Programma dlja sobiranija svedenij (1908), VIII.
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doxe Taufe für ihre Kinder ab, weigerten sich, Wehrdienst zu leisten und Steuern zu zahlen. Für Bonþ-Brueviþ war der Abfall von der offiziellen Orthodoxie entscheidend, nicht die Zugehörigkeit zu einer bestimmten ›Sekte‹. Er sah in der Abkehr von der Kirche den beginnenden Prozess der Bewusstwerdung, der die ›Sektierer‹ im besten Fall auch der Sozialdemokratie zutragen würde: »Von der Kirche gehen sie in die Sekten; von einer Sekte gehen sie in die nächste, die mehr ihren seelischen Bedürfnissen und Suchen entspricht; sie trennen sich vom Sektentum und gehen in politische Organisationen.«142 Anton Ikonnikov und Petr Klokov waren zwei Korrespondenten, die auf diese Weise ihren Lebensweg für Bonþ-Brueviþ beschrieben. Sie sprachen über ihr Leben als Weg der politischen Bewusstwerdung. Diese Form autobiographischen Sprechens wurde später in der Sowjetunion sehr populär, auch in der Literatur.143 Dabei meinte Bewusstsein immer weniger das Erreichen eines humanistischen Aufklärungsideals, sondern den richtigen Klassenstandpunkt. In den für Bonþ-Brueviþ geschriebenen Autobiographien kündigt sich diese Entwicklung bereits an. Anton Ikonnikov, der darin schilderte, wie ihm schon in der Kindheit die Scheinheiligkeit der orthodoxen Kirche aufgestoßen war, trat einem sozialdemokratischen Zirkel bei, als er in einer Werkstatt der Eisenbahn arbeitete: »Das Ziel dieses Zirkels […] war es, sich mithilfe von Büchern, häuslichen Referaten und Zusammenkünften zu entwickeln.«144 Ausführlich beschrieb er die illegale Arbeit. In dieser Zeit begann er viel zu lesen, auch illegale Zeitschriften, was die Konflikte in der Familie verstärkte. Schließlich starb der trinksüchtige Vater. Befreit von dessen Regime stellte Ikonnikov die häusliche Ordnung um: Die Familie aß nicht mehr gemeinsam; das Kreuzzeichen war kein Bestandteil der Mahlzeiten mehr; den Priester ließ Ikonnikov zu Weihnachten nicht mehr in die Hütte hinein. Die Mutter versuchte mit dem Hinweis, dass die Familie jetzt »wie Juden« leben würde, gegen die Neuerungen zu protestieren. Sie konnte sich aber nicht durchsetzen.145 Immer wieder hinterfragte Ikonnikov Zugehörigkeiten. Nachdem er wegen eines gebrochenen Heiratsversprechens, das er einem Mädchen aus dem Zirkel gegeben hatte, vor das »genossenschaftliche Gericht« gestellt worden war, wuchsen seine Zweifel an der Partei. Ihm missfiel der Optimismus, der unter ihren Mitgliedern herrschte. 1902 trat Ikonnikov aus der Partei aus. Seine freie Zeit verbrachte er nun mit Spaziergängen. Nur selten traf er Freunde, mit denen er dann vor allem über die Möglichkeiten sprach, den Wehrdienst zu umgehen.146 Sein Interesse am Pazifis-
142 Bonþ-Brueviþ, Stoimost’ kulta, 114. 143 Clark, The Soviet Novel, 15-30. 144 Ikonnikov, Avtobiografija A.I. Ikonnikova, RGB f. 369 389.10, 1905, l. 7-7ob. 145 Ikonnikov, Avtobiografija A.I. Ikonnikova, RGB f. 369 389.10, 1905, l. 8ob-9. 146 Ikonnikov, Avtobiografija A.I. Ikonnikova, RGB f. 369 389.10, 1905, l. 15-16.
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mus fiel in die Zeit des Russisch-Japanischen Kriegs, in der Ikonnikovs eigene Einberufung bevorstand. Anders als es die Partei angeraten hatte, wollte Ikonnikov vor der Musterungskommission seine Ablehnung nicht mit ökonomischen Gründen begründen, sondern mit dem »Verlangen seiner Seele«. Er ekele sich davor, Menschen zu töten. Am 9. November 1904 wurde er einberufen.147 Er erklärte der Kommission, dass die Lehre Christi es verbiete, zu töten. Er halte daher den Dienst an der Waffe für eine Sünde. »Wer bist du«?, fragte die Kommission, die ein Etikett benötigte, um dem seltsamen Handeln Sinn zu verleihen.148 Er antwortete, dass er ein Christ sei. Seine Identität als Bauer oder Arbeiter konnte, das zeigt Ikonnikovs Antwort, die Verweigerung nicht erklären. Die Kommission wandte freundliche Worte auf, um ihn von seiner falschen Einstellung zu überzeugen. Die Nachfolge Christi sei doch kein Grund, das Töten zu verweigern. Der Musterungsarzt versuchte die Haltung Ikonnikovs zu ergründen, indem er nach krankhaften Dispositionen in der Familiengeschichte fragte. Ikonnikov konnte berichten, dass sein Vater, sein Großvater und seine Großmutter Säufer gewesen seien. Prompt erläuterte der Arzt, dass die Trunksucht des Vaters auf seine Psyche zurückgewirkt habe. Sein Pazifismus sei eine Folge des familiären Alkoholismus: »Ich antwortete ihm, dass ich mich vollkommen gesund fühle, aber er versucht mir zu erklären, dass ich nicht normal bin, mir scheint, dass er selbst ein psychisch kranker Mensch ist.«149 Während die Kommission Ikonnikov Verständnis entgegenbrachte, indem sie seine Renitenz als Krankheit deklarierte, konnte der Pope wiederum die Weigerung überhaupt nicht verstehen.150 Als sie Ikonnikov zu ihm brachten, hatte er sofort eine Kategorie parat: »Pfui, wie es hier nach Tolstojaner stinkt.«151 Im Januar 1905 war Ikonnikov schließlich gezwungen, in die Verbannung nach Sibirien zu gehen. Der Pakt zwischen staatlicher und kirchlicher Macht – so die Darstellung in seiner Autobiographie – besiegelte auch sein Schicksal. Ikonnikov verfügte über verschiedene Möglichkeiten, Gehör bei Bonþ-Brueviþ zu finden. Seine Autobiographie, das zeigen Korrekturen und die Unterschrift des Publizisten und Tolstojanhängers Ivan Naživin, war sogar zur Veröffentlichung vorgesehen.152 Er konnte sich als ›Sektierer‹, Arbeiter, Wehrdienstverweiger und
147 Ikonnikov, Avtobiografija A.I. Ikonnikova, RGB f. 369 389.10, 1905, l. 16. 148 Ikonnikov, Avtobiografija A.I. Ikonnikova, RGB f. 369 389.10, 1905, l. 19. 149 Ikonnikov, Avtobiografija A.I. Ikonnikova, RGB f. 369 389.10, 1905, l. 19ob. 150 Hier lassen sich übliche Erklärungsmuster der russischen Kriegspsychatrie erkennen. Angststörungen wurden in Russland häufiger als in anderen Ländern mit Alkoholpsychosen erklärt. Dabei galten familiäre Dispositionen als entscheidend. Michl, Plamper, Soldatische Angst, 241. 151 Ikonnikov, Avtobiografija A.I. Ikonnikova, RGB f. 369 389.10, 1905, l. 19ob. 152 Ich habe keine Hinweise gefunden, dass die Autobiographie veröffentlicht worden ist.
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Verbannter zeichnen. Sein Leben war ein Prozess der religiösen und politischen Bewusstwerdung, bei der der Abfall von der orthodoxen Kirche und die Abwendung von der frommen Familie nur die Ausgangspunkte der Lebenserzählung waren. Die Gewalterfahrungen, die er immer wieder beschrieb, und die schließlich in seiner Verbannung nach Sibirien gipfelten, zogen sich als roter Faden durch seine Lebensbeschreibung. Auch Klokovs Autobiographie entsprach Bonþ-Brueviþs Ideal politischer Bewusstwerdung, ausgelöst durch ›Häresie‹ und Widerspruch zur orthodoxen Kirche. Betrachtet man neben den Autobiographien auch die Briefe, die Klokov an Bonþ-Brueviþ schickte, dann lässt sich der Bezug auf seine altgläubige Vergangenheit als Versuch lesen, Aufmerksamkeit für seine Person zu wecken. Sie waren ein Mittel, mit Bonþ-Brueviþ in Kontakt zu bleiben. Er hoffte, dass seine Vorleistungen mit einer Gegengabe entlohnt würden und formulierte in den Briefen eigene Anliegen. Könne Bonþ-Brueviþ ihm nicht helfen, Kontakt zu Zeitschriften und Verlagen herzustellen? »So sehr möchte ich schreiben, so sehr möchte ich das schon längst Geschriebene drucken, doch es gibt keinen Ausweg.«153 Sein Ziel war es, Dichter zu werden und die Provinz hinter sich zu lassen. Schon in seinem ersten Brief von 1909 hatte er Bonþ-Brueviþ geschrieben, wie sehr es ihn nach St. Petersburg ziehe, »wo das Leben kocht, wo geniale Persönlichkeiten geboren werden und aufwachsen« und wo auch Bonþ-Brueviþ wohne.154 Immer wieder fragte er, was Bonþ-Brueviþ von seinen Gedichten halte. Offen legte er in seinen Briefen die Zweifel dar, die er als Schriftsteller hatte, um die Bestätigung zu bekommen, dass er auf den richtigen Weg sei: »In der letzten Zeit fühle ich eine Apathie – ein Zeichen des Misstrauens gegenüber mir und den eigenen Kräften: was für ein Dichter bin ich…«155 Während er sich in seinen Briefen eindeutig als ›Dichter aus dem Volk‹ an Bonþ-Brueviþ wandte, weist seine 1916 verfasste Autobiographie drei Phasen auf. Damit bot Klokov in seinem zweiten autobiographischen Text mehrere Identitäten an. Für die Schilderung seiner Familiengeschichte rekurrierte er auf religiöse Muster, indem er seine Vorfahren als Märtyrer ihres Glaubens beschrieb. Seine eigene Kindheit ist als ein Nebeneinander von religiösen und weltlichen Bezugspunkten gestaltet, während er sein Leben nach der Trennung von seiner Familie als den Werdegang eines Dichters und als »gesellschaftliches Erwachen« schilderte.156 Klokov nutzte die Verfolgungsgeschichte seiner Familie als Eintrittsbillet in die Öffentlichkeit, die Bonþ-Brueviþ mit seinem Schreibaufruf offerierte. Explizit wies er
153 Klokov, Pis’ma k Bonþ-Brueviþu, RGB f. 369 285.13, 1909-1916, 1925, l. 1-2. 154 Klokov, Pis’ma k Bonþ-Brueviþu, RGB f. 369 285.13, 1909-1916, 1925, l. 1-1ob. 155 Klokov, Pis’ma k Bonþ-Brueviþu, RGB f. 369 285.13, 1909-1916, 1925, l. 7. 156 Klokov, Avtobiografiþeskie zapiski, RGB f. 369 407.27, 1916, l. 24.
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in seinen Briefen auf seine Herkunft hin: »Unter anderem möchte ich Ihnen mitteilen, dass ich unter Alt[gläubigen] geboren wurde und aufwuchs.«157 Durch seine Bildung gelang es ihm, sich von seinem Herkunftsmilieu abzuheben, ohne dass dies, wie zum Beispiel bei Spiridon Drožžin, zu familiären Konflikten geführt hätte. Auch die nachlassende Bedeutung von Frömmigkeit und Religiosität provozierte keinen Streit, jedenfalls gibt die Autobiographie davon keine Kunde. Die Familie schätzte seine Bildungsbemühungen. Als er dreizehn Jahre alt war, sollte er eine städtische Lehranstalt besuchen. Doch die Hungerjahre 1891 und 1892 zerstörten den Wohlstand seiner Familie und verhinderten die Erfüllung seines »sehnlichsten Wunschs«. Er blieb im Dorf und erlebte, so seine Autobiographie, eine entsetzliche Zeit des Sterbens: »Ich musste alle Schrecknisse des hungernden Dorfs erleben und ansehen, als die Menschen aufgrund von Nahrungsmangel und Krankheit zusammenbrachen und der Typhus die Kinder zu Dutzenden ins Grab brachte.«158 Die Hungersnot trieb ihn schließlich aus dem Dorf fort. In den Wolgastädten Rybinsk, Jaroslavl’, Nižnij Novgorod, Kazan’ und Samara verdingte er sich als Hafenarbeiter. Er bezeichnete diese Stationen als »Prüfungen in der großen Universität des Lebens« und verwies mit dieser intertextuellen Referenz auf seine Nähe zu Maksim Gor’kij, mit dem er zum Schreibzeitpunkt seiner Autobiographie einen Briefwechsel führte.159 Herausgelöst aus seiner Familie und fern der Heimat begann er mit dem Schreiben von Gedichten. Er selbst nannte Heimweh als Auslöser für das Schreiben. Die neuen Erfahrungen außerhalb des dörflichen Milieus hatten ihn mit neuen Biographiemustern konfrontiert. Obwohl die Gedichte, in denen Klokov die heimischen Felder und Fluren besang, Rückwendung erlauben sollten, entfernte er sich von der bäuerlichen Welt dadurch immer mehr. In seiner Genese zum Dichter ähnelte er Drožžin, der auch in der Stadt mit Schreiben begonnen hatte und in seinen Gedichten vor allem das Dorf besang. Ebenso erfolgte Klokovs Initiation zum Dichter durch die erste Liebe. Das erste Gedicht widmete er einem Bauernmädchen, »das ich, ein vierzehnjähriger Junge liebte, wie nur Kinder lieben können«.160 Fleiß allein machte aus einem Bauernjungen keinen Poeten.161 Das Doppelbild vom ›Märtyrer‹ und ›Dichter‹ war in den Autobiographien, die an Bonþ-Brueviþ gerichtet wurden, sehr häufig zu finden. Während die Korrespondenten Rubakins und Jacimirskijs häufig homogenisierte Autobiographien darboten,
157 Klokov, Pis’ma k Bonþ-Brueviþu, RGB f. 369 285.13, 1909-1916, 1925, l. 3. 158 Klokov, Avtobiografiþeskie zapiski, RGB f. 369 407.27, 1916, l. 14. 159 Der Titel von Gor’kijs 1913 verfasster Autobiographie lautet Meine Universitäten. Klokov, Avtobiografiþeskie zapiski, RGB f. 369 407.27, 1916, l. 18. 160 Klokov, Avtobiografiþeskie zapiski, RGB f. 369 407.27, 1916, l. 14. 161 Auch andere ›Dichter aus dem Volk‹ wie zum Beispiel Spiridon Drožžin und Robert Burns hatten sich auf diese Weise beschrieben (siehe Kap. 2.3).
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in denen sie sich als Leser oder (schreibendes) Ausnahmetalent präsentierten, lösten seine Korrespondenten klare Identitätszuschreibungen auf. Bonþ-Brueviþs Person, sein Schreibaufruf und seine Publikationen begünstigten die gleichzeitige Selbstpräsentation als ›Sektierer‹, Schriftsteller und Dichter, mitunter auch als Arbeiter. Wer eine Gegenposition zur orthodoxen Kirche einnahm und Prosa oder Gedichte schrieb, konnte auf Antwort und Aufmerksamkeit hoffen. Die Korrespondenten nahmen in Autobiographien, aber auch in Fotografien mehrere Identitäten für sich in Anspruch. Der den skopcy angehörende Nikifor Latyšev, der mit Bonþ-Brueviþ im Briefwechsel stand, schickte ihm ein Bild, das ihn mit der Zeitschrift Niva und einem weißen Taschentusch zeigte. Die Symboliken des Bilds hat Laura Engelstein herausgearbeitet: Die Zeitschrift verweise auf seine Liebe zum Lesen und Schreiben, während das weiße Taschentuch in Latyševs Händen sein Streben nach Reinheit symbolisiere.162 Das Tuch sei ein Zeichen für die religiös motivierte Kastration, für die Verweigerung eigener Nachkommenschaft und damit auch für die Absage, den Ansprüchen des Staats und der Kirche zu gehorchen. Erst in der Sowjetunion kam es in den Autobiographien, die an Bonþ-Brueviþ gerichtet wurden, zu einer Homogenisierung in den Selbstdarstellungen. Der Korrespondent Anikanov, der 1922 seine Autobiographie für Bonþ-Brueviþ verfasste, beschrieb sein Leben allein als politische Bewusstwerdung und Genese eines Schriftstellers. Ob auch er aus einer ›sektiererischen‹ oder altgläubigen Familie stammte, teilte er nicht mit.163 Bonþ-Brueviþ verlor in der Sowjetunion immer mehr seinen Ruf als vertrauenswürdiger Adressat ›sektiererischer‹ Lebensentwürfe, während der in der Schweiz lebende Nikolaj Rubakin in den 1920er und 1930er Jahren nun als verlässlicher Adressat für religiöse Themen galt. Bevor Religion und Glaubensausübung in der Sowjetunion bekämpft wurden, hatten Frömmigkeit und Religiosität in den an Rubakin gesandten Autobiographien hingegen kaum eine Rolle gespielt. Klokov fügte der Selbstbeschreibung als ›Sektierer‹ und Dichter noch den Werdegang zum ›Arbeiter‹ und ›Proletarier‹ hinzu. Als er auf einer Anlegestelle an der Wolga arbeitete, lernte er demnach einen gewissen Laptev kennen, mit dem er »über das Proletariat und seine Aufgaben« diskutieren konnte.164 Der Student hatte wegen politischer Umtriebe sein Studium an der juristischen Fakultät aufgeben
162 Eine Selbstbeschreibung als ›Sektierer‹ und ›Dichter‹ findet sich in zahlreichen Autobiographien, die Bonþ-Brueviþ herausgab oder die sich in seinem Nachlass in der Handschriftenabteilung befinden. Beispielhaft: Mironenko, Žizn’ Alekseja; Novikov, Fakty o moej žizni, RGB f. 369 398.22, 1935. Ausführlicher zu Latyšev und den Symboliken seiner Fotografie: Engelstein, Castration, 6. 163 Anikanov, Avtobiografija, RGB f. 369 375.7, 1922. 164 Klokov, Avtobiografiþeskie zapiski, RGB f. 369 407.27, 1916, l. 19.
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müssen. In seiner Autobiographie schreibt Klokov, dass er unter dem Einfluss Laptevs im Herbst 1896 beschlossen habe, nach St. Petersburg zu ziehen. Vor seiner Abreise habe ihn Laptev gebeten, auch dem berüchtigten Kresty-Gefängnis die Ehre zu erweisen. Dies war, wie Klokov im Rückblick bemerkte, weit mehr als eine Reiseempfehlung. Laptevs Prophezeiung erfüllte sich 1905, nachdem er an bewaffneten Protesten teilgenommen hatte. Klokov wurde für mehrere Monate dort inhaftiert.165 Die Freundschaft zwischen Laptev und Klokov sollte zeigen, dass der ›Gang ins Volk‹ und das Bündnis bäuerlicher und städtischer Schichten zur politischen Bewusstwerdung führe. Die Freundschaft zwischen Studenten, Gymnasiasten und bildungsbegeisterten Bauern und Arbeitern spielte in vielen Autobiographien eine Rolle, auch in jenen, die nicht an Bonþ-Brueviþ gesandt worden waren.166 Gewürzt mit einer kräftigen Prise Ironie hatte zum Beispiel Maksim Gor’kij in seiner Autobiographie Meine Universitäten über seine Verbindung zu dem Gymnasiasten Evreinov gesprochen, der ihn ermutigt hatte, sich den Wissenschaften zuzuwenden.167 Angekommen in St. Petersburg fand Klokov Anstellung in einer Fabrik: »Ich wurde Arbeiter.«168 Hier traf er auf Gleichgesinnte und schloss sich dem »Laboratorium der Gedanken« an, einem Zirkel junger Arbeiter, in dem er seine Gedichte vortrug. Klokov schilderte die neuen Erfahrungen in der Hauptstadt als Entfremdung von der dörflichen Lebenswelt. Er zitierte in seiner Autobiographie ein Gedicht, das er seinem Tagebuch bei einem Besuch im Heimatdorf anvertraut hatte: »Das frühere Leben«, so eine Verszeile, »wurde zum Märchen.«169 Während seines Urlaubs traf er sich mit alten Freunden, denen er über sein Leben in der Stadt erzählte. Sie lauschten aufmerksam, als er ihnen vom »Recht auf freies Dasein«, vom »Fortschritt der Menschheit« und über die Entwicklung des Kapitalismus berichtete.170 Die Gespräche, in denen sich Klokov als wissender Lehrer gerierte, der seinen ungebildeten Freunden das Licht der Aufklärung bringen wollte, waren nicht geeignet, Vertrautheit zu erzeugen. Klokov fühlte sich einsam. Seine Freunde waren schon verheiratet und führten das alte Leben fort, während er durch seine Erfahrungen, seine Arbeit, Lektüren und das eigene Schreiben zu einem anderen, neuen Menschen geworden war. Den Gegensatz zu seinen alten Gefährten betonte er, indem er sich selbst als zivilisiert, gebildet und aufgeklärt zeichnete. Seine Einsam-
165 Klokov, Petr Semenoviþ, in: Farber (Red.), Nižegorodskoe oruženie, 84; Klokov, Avtobiografiþeskie zapiski, RGB f. 369 407.27, 1916, l. 24. 166 Drožžin, Poơt-krest’janin Spiridon Drožžin v ego vospominanijach 1848-1884, 26. 167 Katzer, Maksim Górkijs Weg, 28; Gorki, Meine Universitäten, 591. 168 Klokov, Avtobiografiþeskie zapiski, RGB f. 369 407.27, 1916, l. 19. 169 Klokov, Avtobiografiþeskie zapiski, RGB f. 369 407.27, 1916, l. 21. 170 Klokov, Avtobiografiþeskie zapiski, RGB f. 369 407.27, 1916, l. 21.
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keit sei der Preis, den er dafür zu zahlen habe. Das Motiv des Alleinseins zeigt, wie weit er sein Herkunftsmilieu hinter sich gelassen hatte. Schließlich ging er 1899 nach Nižnij Novgorod. Die Stadt habe ihn »wie einen alten Bekannten« empfangen. Während er im Dorf fremd geblieben sei, habe ihn die Stadt als den Ihrigen erkannt. Hier sei er zum »Proletarier« geworden. Die Selbstbezeichnung »Arbeiter« war – so scheint es – nicht geeignet, den neuen Bewusstseinsgrad abzubilden: »Ich bin ein Proletarier. Ich habe mich in die Lektüre von K. Marx, Engels, Kautsky und Plechanov vertieft.«171 Erneut sollten seine Lektüren den Grad seiner Reifung bestätigen. In Nižnij Novgorod lernte er auch Aleksej Peškov kennen, der seit 1892 unter dem Pseudonym Maksim Gor’kij schrieb.172 Hier trat er einem Zirkel von ›Dichtern aus dem Volk‹ bei. Die neuen Verbindungen brachten literarischen Erfolg mit sich. Nun erschienen auch Klokovs literarische Skizzen im Druck. Nachdem seine erste Frau gestorben war, heiratete er erneut. Seine zweite Frau war Lehrerin, was gleichfalls seine erfolgreiche Loslösung aus dem Herkunftsmilieu anzeigen konnte. Die Verbindungen zum Dorf waren gekappt, sie spielten in seiner Autobiographie keine Rolle mehr. Am Ende seines Texts bezeichnete sich Klokov schließlich als »Bürger« (graždanin), schilderte seine Begeisterung für das »gesellschaftliche Erwachen« in den Jahren 1903 bis 1905 und versprach die Fortsetzung seiner Autobiographie. Sein Tagebuch halte noch genügend Material bereit. Sein Werden als Dichter – dies versuchte Klokov mit seiner Autobiographie zu zeigen – ging mit politischer Bewusstwerdung und seinem neuen Sein als Arbeiter einher. Seine Kindheit in einer altgläubigen Familie nutzte Klokov als Einstieg und Sprecherlaubnis. Er deutete eine Beteiligung an der Revolution 1905 an und ging damit den Weg, den Bonþ-Brueviþ als ideale Laufbahn eines ›Sektierers‹ ansah. Darin unterscheidet sich Klokovs Schilderung von autobiographischen Texten, die in anderen Räumen autobiographischen Schreibens entstanden waren, wie zum Beispiel von denjenigen Spiridon Drožžins. Der ›Bauernpoet‹ aus Nizovka hatte zwanzig bis dreißig Jahre vorher viel Aufwand betrieben, um sich trotz seiner Stadterfahrungen als ›Bauer‹ zu zeichnen. Mehr als dreißig Jahre, nachdem Spiridon Drožžin mit seiner Autobiographie in der Russkaja Starina aufgetreten war, ließ sich aber als dichtender Bauer nur noch schwer Aufmerksamkeit erregen. Als Hoffnungsträger für eine Erneuerung Russlands musste der Bauer immer häufiger dem Arbeiter Platz machen. Diese Veränderungen finden ihre Entsprechungen auch in den Künsten, in Theater, Literatur und Historiographie, wo unter anderem mit Begriffen wie ›Kulak‹ immer häufiger ein nega-
171 Klokov, Avtobiografiþeskie zapiski, RGB f. 369 407.27, 1916, l. 23. 172 Katzer, Maksim Górkijs Weg, 63.
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tives Image des Bauern beschworen wurde.173 Dagegen fanden ›Arbeiterpoeten‹ immer größeren Zuspruch. In den von Rubakin und Jacimirskij initiierten Autobiographieprojekten sowie in Zeitschriften und Kopekenheften sprachen Autoren, die aus dem Dorf zur Arbeit in die Stadt gegangen waren, über sich als Arbeiter.174 Das Dorf als idyllische Gegenwelt zur Stadt verlor, wie sich an diesem Wandel zeigt, immer mehr an Glaubwürdigkeit und utopischer Kraft. Klokovs verschiedene Identitäten lassen sich auch als Versuch und Mittel lesen, den Ansprüchen Bonþ-Brueviþs zu entsprechen. Er versuchte dessen Wünsche zu antizipieren, um das Interesse an seiner Person zu erhalten. Diese Strategie zeigte sich noch einmal in der frühen Sowjetunion, als die Verbindung zwischen dem Korrespondenten und Bonþ-Brueviþ abzureißen drohte. Klokov offerierte seinem Briefpartner nun eine sozialistische Biographie, die sein Leben nach der Oktoberrevolution abbilden sollte. In Briefen teilte Klokov die möglichen Inhalte mit und versuchte von Bonþ-Brueviþ eine Aufforderung zu erhalten, einen dritten Text verfassen zu dürfen. Diese Briefe zeigen, dass sich mit dem politischen Wandel nach 1917 auch die Einstellungen verändert hatten, was als biographischer Erfolg und damit als erzählenswert galt. Nachdem in der Autobiographie aus dem Jahr 1916 das Bild des Dichters und Arbeiters die Aspekte der Verfolgung verdrängt hatte, knüpfte Klokov in seinen Briefen von 1918 wieder an das Bild des Märtyrers an: Er habe in Nižnij Novgorod einen Dichterzirkel gegründet, der »auf der Plattform der sowjetischen Macht steht.« Er stellte sich als Verfolgter des Zarismus dar, dessen Texte der zaristische Geheimdienst, die Ochrana, konfisziert habe.175 Seine religiöse Vergangenheit spielte in den nachrevolutionären Briefen keine Rolle mehr. Klokov betonte 1925, dass das Arbeitermilieu seine Heimat sei, und charakterisierte sich als Verfechter der neuen Ordnung: »Die Partei schafft Großartiges in der neuen Geschichte der Menschheit.«176 Er selbst übernahm in der örtlichen Verwaltung wichtige Posten, die er in seinen Briefen mehrfach aufzählte.177 Ob Bonþ-Brueviþ Klokovs Angebot annahm, eine sozialistische Biographie für seine Sammlungen zu verfassen, ist fraglich. Er scheint nach 1917 nicht mehr auf Klokovs Briefe geantwortet zu haben. Eine dritte Autobiographie lässt sich in seinem Nachlass nicht finden.
173 Donskov, The Changing Image, 184-188; Frierson, Peasant Icons, 116-160. 174 Steinberg, Proletarian Imagination, 16; Zacharenkov, Zapiski krest’janin-rabotnika, IRLI RO f. 266 op. 2 d. 437, 1914; Jacimirskij, Poơt-raboþij P.A. Travin. 175 Klokov, Pis’ma k Bonþ-Brueviþu, RGB f. 369 285.13, 1909-1916, 1925, l. 14-14ob. 176 Klokov, Pis’ma k Bonþ-Brueviþu, RGB f. 369 285.13, 1909-1916, 1925, l. 18-18ob. 177 Klokov, Pis’ma k Bonþ-Brueviþu, RGB f. 369 285.13, 1909-1916, 1925, l. 18ob, l. 2122.
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Neue und alte Märtyrer? Bonþ-Brueviþs Korrespondenten in der Sowjetunion Bonþ-Brueviþ bot sich mit seiner Person, seinem Schreibaufruf und seinen Sammlungen an, über Verfolgung sowie kirchliche und staatliche Gewalt zu sprechen. Wie veränderten sich die Beziehungen zwischen ihm und seinen Korrespondenten in der frühen Sowjetunion? Blieb er, der bis Oktober 1920 einen Posten im Rat der Volkskommissare innehatte und als Vertrauter Lenins galt, Ansprechperson für ›sektiererische‹ und damit auch religiöse Lebensgeschichten? Auf welche Weise schilderten die Korrespondenten in Zeiten des Kriegskommunismus, der Kollektivierung und der beginnenden stalinistischen ›Säuberungen‹ ihr Leben und die Zustände auf dem Dorf? In seiner ganzen Ambivalenz lässt sich das Verhältnis zwischen ›Sektierern‹ und Bonþ-Brueviþ an der Beziehung zu Michail Novikov herausarbeiten. Einerseits reagierte Bonþ-Brueviþ auf Bittbriefe, half und unterstützte, andererseits wiegelte er ab und griff nicht ein, jedenfalls in den Quellen nicht sichtbar, als der Bauer aus der Nähe von Tula mehrfach denunziert und schließlich als ›Kulak‹ verhaftet und deportiert wurde. Der Briefwechsel zwischen Novikov und Bonþ-Brueviþ sowie die nach der Oktoberrevolution eingesandten Abhandlungen und Autobiographien zeigen, wie und zu welchem Zeitpunkt die Furcht vor einer »beschädigten Biographie« entstand und wie Novikov versuchte, seinen gefährdeten Platz in der Gesellschaft zu behaupten.178 Die Beziehung verweist damit auf die Genese stalinistischer Sprachregelungen, mit denen auch durch (auto-)biographisches Sprechen neue Mechanismen der In- und Exklusion durchgesetzt wurden. Die Briefe und Autobiographien Novikovs zeichnen die Konjunktur des Begriffs ›Kulak‹ nach. Seit den 1870er Jahren wurde damit der vormalige Gegensatz zwischen Gutsherren und Leibeigenen auf die Bauern übertragen. Der Begriff stand für die Differenzierung der Bauernschaft. Wie die Gutsherren beuteten in dieser Lesart die ›reichen‹ Bauern jene aus, die ärmer oder von ihnen abhängig waren. Schon im Zarenreich war der ›Kulak‹ ein Symbol für den egoistischen Individualismus einzelner Bauern gewesen. Er galt als Gegenentwurf zum ›Volk‹ (narod), ein Begriff, der Harmonie und Gemeinsamkeiten innerhalb der unteren Schichten betonte.179 Hatte der Begriff ›Kulak‹ im Zarenreich noch eine Sozialgruppe bezeichnet, die sich durch Wohlstand und Einfluss von den anderen Bauern abhob, war er in den 1930er Jahren zu einer Chiffre geworden, mit dem sich negatives Verhalten und abstoßende Charaktereigenschaften benennen ließen. Jeder konnte so bezeichnet werden, unab-
178 Figes, Die Flüsterer, 27; Koznova, XX vek, 53. 179 Frierson, Peasant Icons, 139.
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hängig davon, wie viel er besaß.180 Das Fehlen von festen Kriterien machte es schwer, diese Fremdzuschreibung wirksam abzuwehren. Weder die Arbeiten von Jochen Hellbeck und Igal Halfin noch die auf Interviews gestützte Untersuchung zum Leben in Stalins Russland von Orlando Figes haben die Autobiographieprojekte als Vorgeschichte autobiographischen Schreibens und Sprechens im Stalinismus einbezogen.181 Dabei zeigen gerade die Aufzeichnungen Novikovs, dass eine generelle Skepsis gegenüber in Sammlungen und Archiven verwahrten schriftlichen Selbstzeugnissen, wie sie Orlando Figes äußert, nicht angebracht ist.182 Im Gegenteil: Novikovs Briefe, Autobiographien und Essays ermöglichen es, die Strategien nachzuzeichnen, mit denen Menschen in der Sowjetunion versuchten, sich den neuen Ansprüchen anzupassen oder sich der Umgestaltung der Gesellschaft zu verweigern. Die von ihnen verfassten autobiographischen Texte waren dabei wichtige Handlungen. Gerade sie zeigen eindringlich, wie fest geglaubte Beziehungen erodierten, Verstocktheit das Gespräch ablöste und private Räume schwanden. Der Nachlass Bonþ-Brueviþs in der Handschriftenabteilung der Moskauer Staatsbibliothek erlaubt es, die durch Autobiographien, Briefe und zugesandte Materialien geführte Beziehung zwischen Novikov und Bonþ-Brueviþ als Dialog zu verstehen. In dem Bestand werden auch Briefe verwahrt, die Bonþ-Brueviþ an Novikov geschickt hat. Die Handschriftenabteilung ist nicht der einzige Ort, der Novikovs Selbstzeugnissen Überlieferung gewährte. Texte und Briefe, die im Tolstojmuseum und im Petersburger Religionsmuseum archiviert werden, gestatten es, auch jene Zeiträume in seinem Leben zu beleuchten, in denen die Verbindung zwischen Bonþ-Brueviþ und dem Bauern ruhte oder ruhen musste, weil der eigensinnige Korrespondent in Haft oder Verbannung geriet.183 Was auffällt: Die Orte, die
180 Ausführlicher zum Begriff ›Kulak‹: Merl, Bauern unter Stalin, 61-62, 103; Frierson, Peasant Icons, 139-160. 181 Halfin, Terror in My Soul; Halfin, From Darkness to Light; Hellbeck, Revolution on My Mind; Figes, Die Flüsterer. 182 Figes, Die Flüsterer, 918. 183 Auch im Staatlichen Museum für die Geschichte der Religion in St. Petersburg befindet sich ein Archivbestand zu Michail Novikov (f. 15, 1869-1917). Dieser Bestand enthält auch die 1917 verfassten Erinnerungen Iz prošlogo. Moi vospominanija, die ich während meines Forschungsaufenthalts nicht einsehen konnte. Zudem befindet sich in dem Archivbestand eine Abhandlung über Novikovs letztes Zusammentreffen mit Tolstoj Poslednjaja noþ’ v Jasnoj Poljane (1910), ein offener Brief an die Hierarchen der orthodoxen Kirche sowie ein Briefwechsel, den Novikov mit dem Erzbischof Antonij geführt hat. Gendrikov, Kratkij putevoditel’, 218. Auch in Tolstojs Briefen, Aufzeichnungen und Tagebüchern finden sich zahlreiche Verweise auf Novikos Leben. Tolstoj,
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Novikov Überlieferung gewährten, sind alle mit Bonþ-Brueviþs Namen verbunden. Beiden Museen stand er als Leiter vor. Mehrfach hatte er Novikov gebeten, dem Literaturmuseum Schriften und Briefwechsel zu überlassen.184 Nachdem der Vater nach seiner Verhaftung 1937 nicht nach Hause zurückgekehrt war, übergab Novikovs Tochter Anna die Papiere dann dem Moskauer Tolstojmuseum.185 Die Aufmerksamkeit, die Novikov als Weggefährte Tolstojs immer wieder erfahren hatte, ließ sie richtig vermuten: Im Tolstojmuseum gab es einen Platz für die Texte ihres Vaters. 1995 vervollständigte schließlich der russische Geheimdienst, der FSB, die Bestände. Er trat dem Museum einen durch den NKVD, seine Vorgängerorganisation, konfiszierten autobiographischen Text ab, in dem Novikov seine Erfahrungen 1924 und 1925 im Moskauer Butyrka-Gefängnis geschildert hatte. Es scheint, dass Novikov 1937, kurz bevor er in einem außergerichtlichen Schnellverfahren durch eine ›Trojka‹ verurteilt wurde, an diesen Erinnerungen gearbeitet hat, denn der Text bricht unvermittelt ab.186 Auf der Handschrift ist unten der Satz vermerkt: »Diese Notizen, von mir verfasste Memoiren des Vergangenen, wurden mir am 9. August 1937 bei einer Durchsuchung weggenommen. M. Novikov.«187 Drei Wochen später, am 29. August 1937 wurde er erschossen. Todesdatum und Ort der Hinrichtung hat die Familie erst 1994 mit der Mitteilung erfahren, dass Michail Novikov »wegen des Fehlens eines Verbrechens« rehabilitiert worden sei.188 Novikovs Leben, die Aufmerksamkeit, die er erregte, aber auch Verfolgung und Tod, sind eng mit den Imaginationen verbunden, die die Besitz- und Bildungseliten mit dem ›russischen Bauern‹ verbanden. So wie sich Novikov im ausgehenden 19. Jahrhundert nach publizistischem Ruhm sehnte, so erkannte mancher vom Schicksal Begünstigte in dem Bauern sein Vorbild: Der Gutsherr Ivan Cinger, der
Polnoe sobranie soþinenij. 1996 ist in München eine Kompilation des Briefwechsels zwischen Novikov und Tolstoj erschienen: Donskov (Red.), Tolstoj i Novikov. 184 Bonþ-Brueviþ, Pis’ma k Novikovu, M.P., RGB f. 369 185.23, 1928, 1931-1937, l. 6, 11-12, 17. 185 Den genauen Zeitpunkt der Übergabe nennt Gladkova nicht. Gladkova, Krest’janskij pisatel’, 15; Gladkova, Novikov, 323. 186 Zusammen mit weiteren Briefen und einer 1924 verfassten Autobiographie hat Gladkova die Erinnerungen über den Gefängnisaufenthalt 2004 veröffentlicht. Der Publikation ist ein instruktives Vorwort voran gestellt. Novikov, Iz perežitogo; Gladkova, Krest’janskij pisatel’. 187 Novikov, Iz perežitogo, 372. 188 Gladkova, Krest’janskij pisatel’, 15. In früheren Publikationen ist das Jahr 1939 als Todesdatum angegeben. Über die Umstände seines Tods schweigen sich die Publikationen aus. Korolev, Vremen svjazujušþaja nit’...; Tolstoj, Polnoe sobranie soþinenij; Donskov, Tolstoj i Novikov i russkoe krest’janstvo, 12.
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Tolstojs Lebensweise der Mäßigung und ›Vereinfachung‹ (oprošþenie) nacheiferte, nahm 1899 bei Novikov Unterricht im ›Bauernsein‹.189 Das idealistische Projekt endete in beiderseitiger Enttäuschung: Cinger fand, nachdem er Erwartung gegen Erfahrung eingetauscht hatte, wenig Gefallen am Bauernleben, während Novikov klagte, dass der Herr morgens gern ausschlief und nur wenig Eifer in der Feldarbeit zeigte.190 Auch das Interesse Bonþ-Brueviþs an Novikov lässt sich mit Blick auf die Utopien besser verstehen, die der Sozialdemokrat mit der Bauernschaft verband. Anders als Cinger war Bonþ-Brueviþ weniger am mimetischen Erleben des Pflügens, Säens und Erntens interessiert. Er hoffte stattdessen, in dem Bauern einen Beweis zu finden, dass mit einem neuen Bauerntypus auch ein neues Russland entstehen werde. Novikov vereinte in seiner Person eine Vielzahl jener Lebensentwürfe, die Bonþ-Brueviþ in seinen Schreibaufrufen und Publikationen als Anzeichen für das Erwachen der Bauernschaft gefeiert hatte. Novikov hatte nicht nur früh der orthodoxen Kirche den Rücken gekehrt, sondern er war auch gebildet und ambitioniert. Mehrfach war es ihm gelungen, Artikel über die Lage der Bauern in Zeitungen und Zeitschriften zu veröffentlichen.191 Seine Texte fanden als echte ›Stimme eines Bauern‹ mehrfach Gehör. Bonþ-Brueviþ sah in Novikov zudem einen Zeugen für Tolstojs Leben. Diese Perspektive haben fast alle übernommen, die sich mit Novikov befasst haben. Die Bekanntschaft mit Tolstoj gewährte seinen Essays, Briefen und Autobiographien Überlieferung. Sie hob ihn aus der ›Bauernmasse‹ heraus. Novikov hat selbst oft auf seine Freundschaft mit dem Schriftsteller verwiesen, um das Augenmerk auf sich und seine Texte zu lenken.192 Tolstoj und Novikov kannten sich seit 1895, viele Jahre hatten der Schriftsteller und der Bauer einen Briefwechsel gepflegt, wiederholt setzte sich Tolstoj für den »heißblütigen Jüngling« ein.193 Mehrfach hat der Bauer im Gefängnis gesessen,
189 Die Zuwendung zu der »Lebensweise des arbeitenden Volks« hat Tolstoj in seinem autobiographischen Text Meine Beichte beschrieben. Tolstoj, Meine Beichte, 292. Er sah in Vegetarismus, bäuerlicher Arbeit und sexueller Enthaltsamkeit Lebensweisen, durch die sich sein Verständnis der christlichen Botschaft umsetzen ließ. Immer wieder ist Tolstoj aber an seinen Ansprüchen gescheitert. LeBlanc, Tolstoy’s Way of No Flesh; Brang, Ein unbekanntes Russland, 59 -113. 190 Novikov, Iz perežitogo, 142-148, 389. 191 Novikov, Iz perežitogo, 226. 192 Donskov, Tolstoj i Novikov i russkoe krest’janstvo; Korolev, Vremen svjazujušþaja nit’...; Gladkova, Novikov. 193 1896 notierte Tolstoj in seinem Tagebuch, dass er Michail Novikov näher kennen gelernt habe. Tolstoj, Dnevniki 1895-1899, 83. Novikovs Briefe an Tolstoj befinden sich in der Handschriftenabteilung der Moskauer Staatsbibliothek sowie in den Beständen des Moskauer Tolstojmuseums. Sie liegen teilweise publiziert vor. In einer Abhandlung
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weil er Tolstojs verbotene Schriften besessen und dessen Pazifismus geteilt hatte. 1895 hatte Novikov, der damals als Schreiber im Stab der Kampfabteilung des Moskauer Militärbezirks arbeitete, Tolstoj geheime Dokumente über einen Streik in der Fabrik Korzinkin in Jaroslavl’ übergeben und sich damit einem großen Risiko ausgesetzt.194 Die Übergabe blieb unentdeckt. Ein Jahr später jedoch, 1896, wurde er ins Gefängnis geworfen, nachdem er die Ausgaben für die Krönungsfeierlichkeiten Nikolaus II. als Verschwendung kritisiert hatte.195 Auf die im Verhör gestellte Frage, ob der Zar etwa zu Fuß zu seiner Krönung gehen solle, habe er, wie er in seinen Autobiographien schreibt, lakonisch geantwortet: »Ich sagte, dass man für eine Fahrkarte nicht mehrere Millionen benötigt, sondern 18 Rubel, und wer an diesen Feierlichkeiten teilnehmen möchte, solle auf eigene Rechnung reisen.«196 Novikovs Starrköpfigkeit, die hohen moralischen und ethischen Ansprüche und seine Sensibilität für soziale Ungerechtigkeit haben Tolstoj sehr beeindruckt. Für ihn war der streitbare Novikov die Verkörperung dessen, was er im russischen Bauern zu finden hoffte: Ehrlichkeit, Einfachheit, Natürlichkeit.197 In Novikovs Texten erkannte Tolstoj sogar ein Vorbild für das eigene Schreiben: »Seht her, das ist ein Schriftsteller, ein echter Schriftsteller, und was für eine treffsichere, unnachahmliche Sprache! […] Ja, bei ihm, nicht bei uns muss man das Schreiben lernen.«198 Tolstoj fühlte sich im Oktober 1902 verpflichtet, seine einflussreichen Beziehungen zu mobilisieren, um den streitbaren Novikov aus dem Gefängnis zu lösen. Er bat sogar den Finanzminister Sergej Vitte, sich für den Bauern einzusetzen, der sich auf einer von Vitte initiierten Veranstaltung im Amtsbezirk Tula mit einem Papier über die Zustände im Dorf in Gefahr gebracht hatte.199 In einem seiner Bittbriefe hat
über das Verhältnis von Novikov und Tolstoj sind diese Briefe als Quellen benutzt worden. Novikov, Pis’ma k Tolstomu, L.N., RGB f. 369 309.12, 1904; Korolev, Vremen svjazujušþaja nit’… 194 Novikov, Fakty o moej žizni. Avtobiografija, RGB f. 369 398.22, 1935, l. 1; Novikov, Pis’mo v Pravlenie Central’nogo Obšþestva Politkartožan, RGB f. 369 309.11, 24.11.1933, l. 1; Novikov, Iz perežitogo, 78-83. 195 Novikov, Fakty o moej žizni. Avtobiografija, RGB f. 369 398.22, 1935, l. 2. 196 Novikov, Fakty o moej žizni. Avtobiografija, RGB f. 369 398.22, 1935, l. 2; Novikov, Pis’mo v Pravlenie Central’nogo Obšþestva Politkartožan, RGB f. 369 309.11, 24.11.1933, l. 2; Novikov, Iz perežitogo, 86-89. 197 Donskov, Tolstoj i Novikov i russkoe krest’janstvo, 7; Donskov, Essays, 27-62. 198 Nikiforov, Vospominanija o L.N. Tolstom, 369. Tolstoj hat häufig über das bäuerliche Schreiben als Vorbild für das eigene Schaffen reflektiert. Vgl. Tolstoi, Wer soll bei wem schreiben lernen, 10-41. 199 Tolstoj, Pis’mo A.F. Koni, 26. Okt. 1902, 311-312; Tolstoj, Pis’mo V.V. Stasovu, 26. Okt. 1902, 312-313; Tolstoj, Pis’mo S.Ju. Vitte, 26. Okt. 1902, 314-315. Einige
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Tolstoj die Sprengkraft dieses Texts mit Radišþevs Reise von Petersburg nach Moskau verglichen. Er fürchtete, dass den Bauern ein ähnliches Schicksal wie den Aufklärer ereilen könnte.200 Doch die Beziehung zwischen dem Grafen und dem Bauern war nicht frei von Friktionen. Tolstoj reagierte verärgert, als Novikov seine Zweifel am Pazifismus äußerte. Der Bauer vertrat die Ansicht, dass passives Abwarten nicht ausreiche, um die Verhältnisse zu ändern.201 Wie nah er und Tolstoj sich trotz ihrer divergierenden Einstellungen gestanden hätten, stellte Novikov in seinen autobiographischen Texten anhand der letzten Tage Tolstojs heraus, die den Tod des Schriftstellers mit seinem Leben verbanden. Kurz vor seiner verhängnisvollen Bahnreise hatte Tolstoj Novikov gebeten, ihm in seinem Dorf eine Hütte herzurichten, in die er sich zurückziehen könne.202 Novikovs Antwort verzögerte sich, während Tolstoj in der Station Astapovo seinen Tod fand. Novikov machte sich in seinen Erinnerungen große Vorwürfe: »Ich werde mir niemals diesen Fehler verzeihen!«203 Nicht nur in Bonþ-Brueviþ fand Novikov ein Publikum, das las oder lauschte, sobald er über die Ereignisse berichtete, die ihn und Tolstoj zusammengeführt hatten.204 In den 1930er Jahren hat Bonþ-Brueviþ Novikov immer wieder gebeten, dem Literaturmuseum den Briefwechsel zwischen ihm und Tolstoj zu überlassen. Bonþ-Brueviþs Sammelleidenschaft und Interesse an Novikov als Zeugen für Tolstojs Leben waren ein kontinuierliches Element dieser Verbindung. Es ist wahrscheinlich, dass Bonþ-Brueviþ den Bauern seit 1902, wenigstens vom Hörensagen, kannte. Bonþ-Brueviþ arbeitete zu dieser Zeit noch beim Verlag Svobodnoe Slovo in England, dem ein unveröffentlichter Leserbrief Novikovs an die Redaktion der Zeitschrift Žurnal dlja vsech zugespielt worden war. Der Brief war eine bittere Abrechnung mit den Zuständen auf dem Dorf, das – so Novikov –
Kopien der Briefe, wie zum Beispiel der Brief Tolstojs an Vitte, liegen der 1935 verfassten Autobiographie Novikovs im Nachlass Bonþ-Brueviþs bei: Novikov, Fakty o moej žizni. Avtobiografija, RGB f. 369 398.22, 1935, l. 14. 200 Gladkova, Krest’janskij pisatel’, 15; Tolstoj, Pis’mo V.V. Stasovu, 26. Okt. 1902, 313. 201 Tolstoj beklagte sich bei Novikovs Bruder Adrijan, dass Michail Novikov Gewalt befürworte. Tolstoj, Pis’mo A.P. Novikovu, 20. Sent. 1903, 188-189. 1907 kam es erneut zum Streit. Novikov hatte gegenüber Tolstoj die Ansicht vertreten, dass Bauern nicht Bildung und Kunst bedürften, sondern in erster Linie Brot. Novikov, L.N. Tolstomu, 29.08.1907, 417-421; Tolstoj, Novikovu, 04.09.1907, 421-423. 202 Tolstoj, Pis’mo k Novikovu, 24.10.1910, 210-211; ýertkov, O poslednich dnjach L.N. Tolstogo, 342-343. 203 Novikov, Iz perežitogo, 232. 204 Schon 1909, ein Jahr vor Tolstojs Tod, berichtete Novikov im Internationalen Almanach der Tolstojaner über diese Treffen. Novikov, Pis’ma krest’janina, 201-235.
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durch Aberglauben, Alkohol und Abgaben in Armut gehalten werde. Der Staat und seine soziale Ordnung würden Gerechtigkeit und Wohlstand auf dem Land verhindern.205 Der Verlag des Tolstojaners Vladimir ýertkov hat dieses fast fünfzig Seiten umfassende Pamphlet 1904 unter dem Titel Stimme des Bauern veröffentlicht.206 In seiner 1935 verfassten Autobiographie Fakten über mein Leben gab Novikov an, dass ihn Tolstoj zum Schreiben des Briefs ermutigt habe, dem dann auch das fertige Produkt sehr imponiert habe. Am 28. November 1900 vermerkte Tolstoj in seinem Tagebuch: »Gestern habe ich den Artikel Novikovs gelesen und einen starken Eindruck erhalten: Ich erinnerte mich an das, was ich vergessen hatte: das Leben des Volks, Not, Erniedrigung, unsere Schuld.«207 1910 trat Novikov mit der Publikation seiner Abkehrautobiographie Alter Glaube erneut an eine größere Öffentlichkeit. Bonþ-Brueviþ hat diesen Text in den von ihm herausgegebenen Materialien zur Geschichte des russischen Sektenwesens publiziert.208 Beide Texte lassen sich als Bemühungen Novikovs und seiner Förderer und Herausgeber lesen, die autokratiekritischen Besitz- und Bildungsschichten für die Belange der Bauern zu sensibilisieren und damit auch die als schmerzhaft empfundene Entfernung zwischen ›Intelligencija‹ und ›Volk‹ zu verringern.209 Die Beziehung zwischen Bonþ-Brueviþ und Novikov weist insgesamt drei Phasen auf; ihre Wendepunkte stimmen mit den historischen Zäsuren 1917 und 1928 überein. Die erste Phase fiel in das ausgehende Zarenreich und trug den Charakter einer ›Geschäftsbeziehung‹. In den meist kurzen Postkarten, die Novikov BonþBrueviþ zwischen 1909 und 1917 schrieb, erkundigte sich der Bauer nach dem Verbleib seiner Texte und den Möglichkeiten ihrer Publikation. Häufig bat er, sein Schreiben nicht nur mit Aufmerksamkeit, sondern auch pekuniär zu vergüten.
205 Novikov, Golos krest’janina, 17. 206 Novikov, Golos krest’janina. Adrijan Novikov, Michail Novikovs Bruder, hatte einen ähnlichen Text geschrieben, in dem er – obgleich nach der Bauernbefreiung geboren – sein »sklavisches« Leben als Lakaj beschrieb. Tolstoj lobte auch Adrijan Novikov sehr für diesen Text. Das Manuskript wird im Tolstojmuseum in Moskau verwahrt. Tolstoj, Pis’mo k Novikovu, 24.10.1910, 210-211; Tolstoj, Polnoe sobranie soþinenij, T. 54, 663. 207 Novikov, Fakty o moej žizni. Avtobiografija, RGB f. 369 398.22, 1935, l. 6; Tolstoj, Dnevnik 1900-1903, T. 54, 65. 208 Eine Abschrift der Autobiographie befindet sich in Bonþ-Brueviþs Nachlass in der Moskauer Staatsbibliothek, das Original in der Handschriftenabteilung des Tolstojmuseums. Novikov, Staraja vera; Novikov, Staraja vera. Vospominanija, RGB f. 369 398.18, 1907. 209 In Tolstojs Tagebüchern und Briefen finden sich einige Bemerkungen, in denen er Novikov als Lichtblick preist. Bsp. Tolstoj, Pis’mo k S.A. Tolstomu, 8.11.1887, 300.
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Zweifel, ob das, was er in seinen Texten schrieb, gut, richtig oder interessant war, äußerte er in dieser Phase nicht.210 Novikov, um noch einmal das Ausgangsbild der Studie zu bemühen, war sich sicher, wie er sich nach Bonþ-Brueviþs Anrufungen umzuwenden hatte. Nach der Oktoberrevolution 1917 – in der zweiten Phase – intensivierte sich der Kontakt. Ausführliche Briefe ersetzten nun die Postkarten. Auch die Inhalte veränderten sich. Novikov sprach Bonþ-Brueviþ als Politiker an, durch den er Einfluss auf die ›große‹ Politik zu nehmen hoffte. Er wusste, dass sich BonþBrueviþ im inneren Zirkel der Macht befand. In einem seiner Briefe gratulierte Novikov ihm zu seinem neuen Posten im Rat der Volkskommissare, um im gleichen Satz sein Engagement für den Sozialismus zu verurteilen: »Ich begrüße Sie in ihrer neuen Arbeit für das Gemeinwohl, auch wenn ich nicht verstehe, wie Sie dem Sozialismus dienen können. Es ist doch offensichtlich, dass der Sozialismus ein ebenso schlimmer Aberglaube ist wie Gott […].«211 Ausführlich beschrieb er in den Briefen die Missstände, unter denen das Dorf zu leiden habe. Novikov adressierte BonþBrueviþ nun als Obrigkeit, von der er Schutz und Verständnis für die Situation der Bauern erwartete. Er nahm das Partizipationsversprechen ernst, welches BonþBrueviþ als Bol’ševik den Bauern im Zarenreich gegeben hatte. Im Nachlass befinden sich neben den Briefen auch zwei längere Abhandlungen, die Novikov in den frühen 1920er Jahren geschrieben hat. Unter Überschriften wie Der Sozialismus als grobe Gewalt am russischen Volk oder Über die bürgerliche Ehe beschrieb er die Leiden und Sorgen der Bauern.212 Mit scharfen Worten kritisierte er die Wirtschafts- und Sozialpolitik der neuen Regierung: Das Dorf blute aus, wer könne, wandere in die Städte ab. Die Bol’ševiki begingen einen großen Fehler, wenn sie nur die wirtschaftlich Schwachen im Dorf hofierten, die Fleißigen und Tüchtigen hingegen für ihren Eifer bestraften. Der Sozialismus – so Novikovs Bilanz – sei schlimmer als die Leibeigenschaft. Ebenso heftig verurteilte er den Verfall der Moral. Seine Philippika Über die bürgerliche Ehe lässt sich als Entgegnung auf den 1918 verabschiedeten Kodex über Ehe und Familie lesen. Das neue Gesetz hatte die Scheidung zu einem schnellen und preiswerten Verfahren gemacht. Novikov legte einen Zehn-Punkte-Plan vor, der die Trennungen wieder erschweren sollte. Er konnte oder wollte nicht erkennen, dass hinter den erleichterten Scheidungen und der neuen Sexualmoral das Ziel stand, die traditionellen Familien- und Dorfstrukturen aufzubrechen.213
210 Novikov, Pis’ma k Bonþ-Brueviþu, V.D., RGB f. 369 309.8, 1908-1937, l. 1-31. 211 Novikov, Pis’ma k Bonþ-Brueviþu, V.D., RGB f. 369 309.8, 1908-1937, l. 29ob. 212 Novikov, Socializm, nazyvaemyj grubym nasiliem russkomu narodu [...], RGB f. 369 398.21, 1920; Novikov, O graždanskich brakach – zametka, RGB f. 369 398.20, nach 1917. 213 Novikov, O graždanskich brakach – zametka, RGB f. 369 398.20, nach 1917, l. 1.
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Für Novikov war Bonþ-Brueviþ nur eine unter vielen Adressen, um auf die Missstände nach der Oktoberrevolution hinzuweisen. Immer wieder drängte er in die Öffentlichkeit.214 In offenen Briefen klärte er über die Versäumnisse der Regierung auf und warb um Verständnis für die Bauern. 1923 wandte er sich mit einem offenen Brief an die Arbeiter in den Eisenbahnwerkstätten: »Die Gewogenheit der sowjetischen Macht uns gegenüber sollte größer sein als die zarische. Doch es ist vollkommen umgekehrt. Helft uns, sie wieder zu finden, wo sie verloren ging.«215 Die Zugeständnisse an die Bauern, als die Lenin eine im Vergleich zu den brutalen Lebensmittelrequisitionen des Kriegskommunismus relativ mäßige Naturaliensteuer seit dem Beginn der Neuen Ökonomischen Politik (NƠP) 1921 ansah, wurde von Novikov nicht als Entgegenkommen bewertet. Seine Briefe und Streitschriften, die selbst Lenin kritisierten, unterschrieb er in der ersten Hälfte der 1920er Jahre als »krest’janin«.216 Er glaubte, dass seine Stimme immer noch als Stimme eines Bauern Gehör finden würde. Weitere Briefe zwischen Novikov und Bonþ-Brueviþ lassen sich für diesen Zeitraum nicht finden. Einen direkten Hinweis, warum der Briefwechsel 1920 abbrach, geben die Quellen nicht. Möglicherweise offenbart sich im Fehlen weiterer Briefe nicht mehr als eine einfache Überlieferunglücke. Vielleicht verweist das Ausbleiben der Briefe aber auch auf eine gestörte Beziehung, in der sich die Briefpartner nichts mehr zu sagen hatten oder es gefährlich geworden war, sich einander mitzuteilen. Eventuell empfand Bonþ-Brueviþ die Vorwürfe und Kritik des Bauern als Zumutung, worauf er nicht anders als mit Schweigen reagieren konnte. Es ist aber auch denkbar, dass die Belastungen zu groß geworden waren: Bonþ-Brueviþ hatte 1920 nach einigen Querelen und verlorenen Machtspielen seinen Posten im Sovnarkom aufgeben müssen.217 Zudem war – verstärkt nach Lenins Tod – seine Stellung im Machtgefüge unsicher geworden. Seit 1924 wurde er immer häufiger wegen seiner Sympathien für die ›Sektierer‹ öffentlich angegriffen; in der Pravda erschienen Artikel, die seine Positionen rügten.218 Auch Novikov hatte in diesen Jahren, wie seine später verfassten autobiographischen Texte zeigen, mit Repressionen zu kämpfen, die es ihm erschwerten, Briefe zu schreiben. Zwischen 1924 und 1925 saß er im berüchtigten Moskauer Butyrka-
214 Novikov, Rudnevu, þlenu Tul’skogo gubispolkoma, 461. 215 Novikov, Raboþim Tul’skich železnodorožnych masterskich, 457. 216 Vgl. Novikov, Iosifu Iosieviþu Perperu, 453; Novikov, Raboþim Tul’skich železnodorožnych masterskich, 458; Novikov, Rudnevu, þlenu Tul’skogo gubispolkoma, 462; Novikov, I.V. Stalinu, 476; Novikov, A.M. Gor’komu, 497. 217 Ơtkind, Russkie sekty, 295. 218 Müller, Opportunismus, 529-533; Ơtkind, Russkie sekty, 299-303.
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Gefängnis ein.219 Schmerzhaft musste er erkennen, dass die ›Stimme des Bauern‹ als Kritik an der neuen Ordnung keinen Beifall mehr fand. Erst im Sommer 1928 lebte der Briefwechsel wieder auf und die Beziehung zwischen Novikov und Bonþ-Brueviþ kam in ihre letzte Phase. Die zweite und dritte Phase unterscheiden sich durch schwindendes Vertrauen und gestiegener Vorsicht und Angst. Der Ton in den Briefen und Autobiographien veränderte sich auffällig. Mit der beschleunigten Kollektivierung forderte Novikov erstmalig Absicherungen für sein Schreiben ein. Immer häufiger benutzte er die an Bonþ-Brueviþ gesandten Schriftstücke, um sich gegen Fremdzuschreibungen zu wehren und sein Leben als Dienst am Aufbau der Sowjetunion zu rechtfertigen. Vor allem aber bat er um Hilfe und wandte sich – wie zur Zeit des Zarenreichs – als ungerecht Verfolgter an seinen früheren Vertrauten. Fast zwei Jahre zuvor, im Januar 1927, hatte er Stalin einen waghalsigen Brief geschrieben, in dem er auf die »Unnormalitäten« hinwies, die »die Bauernschaft bedrohten«:220 Die Abgaben seien zu hoch, die Faulen würden bevorzugt, während die Fleißigen kaum wüssten, wie sie sich ernähren sollten. Es könne doch nicht sein, dass die Partei die verheerenden Folgen ihrer Politik nicht erkenne.221 Wenn Stalin und die Parteiführung von den Bauern verlangten, in Kommunen und Kolchosen zusammenzuleben, so sollten sie doch mit gutem Beispiel vorangehen, ein großes Haus mieten und gemeinsam Küche, Kantine und Bäckerei betreiben.222 Sicher hätten auch Stalin und Kalinin zwei bis drei Tage im Monat Zeit, die dafür nötigen Tagesdienste zu leisten. Gegen Ende seines Briefs brachte Novikov seine Hoffnung zum Ausdruck, dass Stalin den Brief zum Anlass nehmen werde, »wenigstens einen Teil der Parteipolitik« zu ändern.223 Novikov adressierte Stalin als ›guten‹ Herrscher, der durch eine Kamarilla abgeschirmt nicht wisse, was in den Dörfern vor sich gehe. Dass sich gegen Ende der 1920er Jahre neben den Schreibregeln auch die Herrschaftspraxis geändert hatte, schien Novikov – so wirkt jedenfalls sein gutgläubiger Brief – noch nicht erkannt zu haben. Die Briefe, die er 1928, ein Jahr später, schrieb, zeigen dann jedoch, wie schnell Novikov lernte, aber auch, wie vergeblich dieser Lernprozess letztendlich war. Das Schlüsselerlebnis, welches ihn vorsichtig werden ließ, war die Verhaftung und Verurteilung seines Bruders. Am 17. August 1928 war dieser von der Geheimpolizei (OGPU) in Abwesenheit zu drei Jahren Verbannung verurteilt worden, obwohl er sich nichts hatte zuschulden kommen lassen, er Haus und Hof besaß und
219 Novikov, Vospominanija o prebyvanii v butyrskoj tjurme v 1924-1925. 220 Novikov, I.V. Stalinu, 476. 221 Novikov, I.V. Stalinu, 472. 222 Novikov, I.V. Stalinu, 475. 223 Novikov, I.V. Stalinu, 476.
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die Familie seine Arbeitskraft dringend benötigte.224 Mit seinen bisherigen Erfahrungen konnte Novikov die willkürliche Verhaftung seines Bruders nicht in Einklang bringen: »[…] wie die Sowjetmacht straft, ohne jegliches Gericht, findet nicht seinesgleichen.«225 Sie ließ ihn aber die Gefahr erkennen, in der auch er sich befand. Novikov suchte nun wieder die Nähe zu Bonþ-Brueviþ, seinem ehemaligen Vertrauten. Er sprach ihn – wie in einer Bittschrift – als Patron und Ratgeber an und bat ihn, sich für die Freilassung seines Bruders einzusetzen. Novikov fürchtete augenscheinlich, dass seine gesamte Familie in den Strudel willkürlicher Verfolgung geraten könnte und versuchte seine persönlichen Beziehungen zu nutzen, um dieses Schicksal abzuwenden. Sein Bruder habe nicht mehr getan, als auf einer Dorfversammlung zu seiner Meinung befragt, ehrlich zu antworten.226 Es sei unredlich, zur Meinungsäußerung aufzufordern und danach die Sprecher und ihre Familie für das in bester Absicht Gesagte zu bestrafen: »Wenn es erlaubt ist zu sprechen, muss es gesagt werden; wenn nicht, dann nicht, dann braucht man uns aber auch nicht zur Versammlung zu rufen und in die Sünde zu führen.«227 Dabei war Bonþ-Brueviþ nicht die einzige Karte, auf die Novikov seine Hoffnungen setzte. Er wandte sich gleichfalls an Anatolij Lunaþarskij, um die Freilassung seines Bruders zu erreichen.228 An dem umfassenden Versuch, Beistand zu gewinnen, lassen sich zwei Dinge zeigen. Zum einen offenbart die Mobilisierung von Fürsprechern die zunehmende Angst Novikovs, die Verfolgung seiner Familie nicht abwenden zu können. Zum anderen zeigt sich darin auch ein Verlust an Vertrauen in Bonþ-Brueviþ. Novikov war unsicher, ob Bonþ-Brueviþs Einfluss noch ausreiche, um ihn und seine Familie zu schützen. Es scheint, dass mit den offenen Anfeindungen, denen die ›Sektierer‹ in den späten 1920er Jahren ausgesetzt waren, auch Bonþ-Brueviþs Ruf als ›Sektenforscher‹ verblasste, dem Unrecht geklagt werden konnte und dem wirkungsvolle Hilfe und Empathie zugetraut wurde. Die seltsam distanzierten Antworten Bonþ-Brueviþs, die zwischen Verständnis, konkreter Hilfe und sowjetischen Phrasen oszillierten, trugen sicher zu Novikovs Vorsicht
224 Im Brief an Lunþarskij nennt er den 18. August als Tag des Gerichtsurteils. Novikov, Pis’mo k Lunaþarskomu, A.V., RGB f. 369 309.9, 1928, l. 1. 225 Novikov, Pis’ma k Bonþ-Brueviþu, V.D., RGB f. 369 309.8, 1908-1937, l. 31. 226 Novikov spricht in einem Brief an Anatolij Lunaþarskij ausführlich über den Ablauf der Dorfversammlung. Nach einem Vortrag des Genossen Nikitin »Über die Gefahr eines Kriegs« habe sein Bruder die Ansicht geäußert, dass das Festhalten an der Weltrevolution den Frieden am stärksten bedrohe. Novikov, Pis’mo k Lunaþarskomu, A.V., RGB f. 369 309.9, 1928, l. 1. 227 Novikov, Pis’ma k Bonþ-Brueviþu, V.D., RGB f. 369 309.8, 1908-1937, l. 31. 228 Eine Kopie des Briefs befindet sich in Bonþ-Brueviþs Nachlass. Novikov, Pis’mo k Lunaþarskomu, A.V., RGB f. 369 309.9, 1928, l. 1.
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bei. Widerstand gegen den Umbau der Gesellschaft – so Bonþ-Brueviþ in einem Brief an Novikov 1928 – sei Konterrevolution: »Sie schreiben mir, dass es in der heutigen Zeit keine Freude und Interesse im Leben gebe. […] Die Freude kommt, nachdem der Staat aufgebaut ist.«229 Bonþ-Brueviþs Antworten sind inhaltlich nicht kohärent und damit schwer zu deuten. In den Briefen lehnte er Novikovs Standpunkte als falsch ab. Der inhaltlichen Abwehr widerspricht aber die konkrete Aufforderung, seine Meinung mitzuteilen. Novikovs Mitteilungen hätten einen »außergewöhnlichen hohen historischen Wert«. Bonþ-Brueviþ betonte, dass er ihm zuhören werde, auch wenn dessen Meinung nicht der Parteilinie entspreche: »Die Partei ist für mich wie eine Mutter, doch dass heißt überhaupt nicht, dass sie allen eine Mutter sein muss […].« Er versprach Novikov, die Zusendungen zu verwahren und, wenn es die Umstände erlaubten, abzudrucken.230 Erleichtert bedankte sich Novikov in einem Brief vom 27. November 1928 dafür, offen sprechen zu dürfen: »Lieber Bruder, ich bin Ihnen für Ihre Antwort und das Recht, Ihnen offen über alles zu schreiben, sehr dankbar.«231 Novikov glaubte, jemanden gefunden zu haben, dem er sich öffnen und der sein Schreiben legitimieren konnte. Wie schon in den 1920er Jahren sandte er Bonþ-Brueviþ nun erneut Abhandlungen über die Innenpolitik zu. Im ersten Paragraphen eines Zwölf-Punkte-Plans schlug Novikov vor, das Verspotten der Religionen zu verbieten. Novikov, der im ausgehenden Zarenreich Bonþ-Brueviþs Aufmerksamkeit durch seine kritische Einstellung zur orthodoxen Kirche erlangt hatte, sprach sich angesichts der Verfolgung, die nun auch die orthodoxen Gläubigen traf, für Toleranz aus. Im siebten Paragraph ereiferte er sich über das »leere, theoretische Geschwätz«, welches die Bauern in drei Kategorien – Dorfarmut (bednjaki), Mittelbauern (serednjaki) und Kulaken (kulaki) – einteilte.232 Nicht nur er sei damit unzufrieden. Auf manchen Versammlungen hätten die Bauern den Vortragenden ein Ultimatum gestellt. Sie würden sofort die Versammlung verlassen, sobald die Genossen beginnen würden, »über Kulaken und Dummköpfe« (o kulakach i durakach) zu sprechen.233 Bonþ-Brueviþs noch aus dem Zarenreich stammender Ruf als Zuhörer der Verfolgten führte dazu, dass auch andere Bauern sich bei ihm über Kollektivierung und ›Entkulakisierung‹ beklagten. Für ihn schien es jedoch immer schwieriger zu werden, darauf zu reagieren. So brach zum Beispiel der zuvor regelmäßig geführte Briefwechsel mit Aleksej Nazarov ab, nachdem der Bauer die ›Entkulakisierung‹
229 Bonþ-Brueviþ, Pis’ma k Novikovu, M.P., RGB f. 369 185.23, 1928, 1931-1937, l. 1ob. 230 Bonþ-Brueviþ, Pis’ma k Novikovu, M.P., RGB f. 369 185.23, 1928, 1931-1937, l. 2. 231 Novikov, Pis’ma k Bonþ-Brueviþu, V.D., RGB f. 369 309.8, 1908-1937, l. 32. 232 Ausführlich zu den Begriffen und ihrer Genese: Merl, Bauern unter Stalin, 61-62. 233 Novikov, Pis’ma k Bonþ-Brueviþu, V.D., RGB f. 369 309.8, 1908-1937, l. 32.
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als »genauso falsch« wie die Kollektivierung bewertet und die verfemten »Kulaken« als seine »leiblichen Brüder« bezeichnet hatte. In einem seiner letzten Briefe klagte Nazarov, der eine Publikationsmöglichkeit für seine Schriften zur Landwirtschaft suchte, dass er schon lange keine Antwort mehr auf seine Briefe erhalten habe.234 Selbst sein Verweis auf Nikolaj Rubakin, der an seiner Person, seiner Autobiographie und seinen Ansichten großes Interesse zeige, konnte Bonþ-Brueviþ nicht zu weiteren Briefen und Aufmerksamkeitsbekundungen überreden.235 Bonþ-Brueviþ schickte Nazarov dessen Manuskript Ziel und Bedeutung der Bienenzucht zurück. Die Ablehnung ließ er von einem Mitarbeiter des Volkskommissariats für Landwirtschaft formulieren.236 Mit dem Ende des Briefwechsels verliert sich die erste Spur, die zu Aleksej Nazarov führte. 1931 brach dann auch die Korrespondenz mit Nikolaj Rubakin ab, nachdem Nazarov ihm am 19. Oktober 1931 berichtet hatte, dass die Regierung ihn zusammen mit anderen Tolstojanern immer tiefer in die Taiga treibe.237 Es ist nicht bekannt, ob Aleksej Nazarov die Verfolgung der 1930er Jahre überlebte. Für Bonþ-Brueviþ war die Nähe zu den ›Sektierern‹, Tolstojanern und aufbegehrenden Bauern in den 1930er Jahren gefährlich geworden.238 Seinen Bemühungen, den Kontakt mit den ›Sektierern‹ einzuschränken, entsprachen auf der anderen Seite seine Versuche, sein Interesse an ihnen mit dem Verweis auf eine Anweisung Lenins zu legitimieren.239 Trotz aller Gewogenheit, die Bonþ-Brueviþ Novikov im Gegensatz zu Nazarov noch erwies, veränderte Novikov seit Ende der 1920er Jahre sowohl sein autobiographisches Schreiben als auch den Umgang mit seinen autobiographischen Texten. Dies lässt sich an drei Punkten zeigen, die sowohl Entstehung, Inhalt als auch Überlieferung der Texte betreffen: 1. Sprecherlaubnis, 2. Abwehr von Identitätszuschreibungen, 3. Erbe sichern, Zugang kontrollieren. Lizenz zum Schreiben Novikov wurde vorsichtig. Seit der Verhaftung seines Bruders 1928 unternahm er verstärkt Anstrengungen, sein Schreiben abzusichern. Durch konkrete Nachfragen versuchte er zu eruieren, ob das, was er als Anrufung hörte, auch so gemeint war,
234 Nazarov, Pis’ma k Bonþ-Brueviþu, V.D., RGB f. 369 306.8, 1929-1930, l. 8. 235 Nazarov, Pis’ma k Bonþ-Brueviþu, V.D., RGB f. 369 306.8, 1929-1930, l. 5, 8. 236 Bonþ-Brueviþ, Pis’ma k Nazarovu, A.P., RGB f. 369 180.5, 1929, 1930, l. 2-3. 237 Nazarov, [Pis’ma k Rubakinu, N.A.], RGB f. 358 256.53, 1926-1931, l. 19. 238 Engelstein, die die Beziehung zwischen Bonþ-Brueviþ und den skopcy untersucht hat, hat eine ähnliche Entwicklung beobachtet. Seit Ende der 1920er Jahre zog er sich teilweise aus dem Briefwechsel zurück. Engelstein, Castration, 203. 239 Bonþ-Brueviþ, A.I. Klibanovu, 316.
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ob Umdrehen und über sich und das eigene Leben zu sprechen, mehr Vorteile denn Nachteile brächte. Die Angst wuchs, sich falsch zu positionieren und damit den Verdacht zu erregen, eine ›beschädigte Biographie‹ zu besitzen. Er versuchte, sein autobiographisches Schreiben durch den Verweis auf anerkannte Autoritätspersonen zu legitimieren. Es sei nicht persönliche Eitelkeit gewesen, die ihn zum autobiographischen Schreiben getrieben habe, sondern er habe nur eine Bitte Tolstojs erfüllt. Als Tolstoj Ende der 1920er Jahre immer mehr als »hysterische Heulsuse«240 in die Kritik geriet, die die Gesetze des Klassenkampfs negiere, fragte Novikov bei Bonþ-Brueviþ nach, wie sich das Schreiben einer Autobiographie noch rechtfertigen ließe, wer solch einen Text noch benötige: »Allzu plötzlich haben die Kommunisten das Untere zuoberst gekehrt und zertreten sind die früheren Ideale und geistigen Kostbarkeiten, und selbst ich zweifele, ob irgendjemandem eine solche Autobiographie nützen wird?«241 Diese Zweifel führten dazu, dass er in seinen Briefen und Autobiographien in den 1930er Jahren neue Autoritätspersonen anführte, die ihn zum autobiographischen Schreiben ermutigt hätten. Statt wie bisher allein auf Tolstoj zu verweisen, nannte Novikov den Schriftsteller Maksim Gor’kij als neuen Fürsprecher. Auch er habe ihn 1929 gebeten, sein Leben zu beschreiben: »Es wäre gut, Genosse und Großvater Novikov, wenn sie noch ein Büchlein schreiben würden, in dem sie der Bauernschaft genau über ihre Lebenserfahrung und über die große Arbeit ihres Lebens erzählen. Schreiben sie!«242 Es war geschickt, die Verbindung zu Gor’kij zu betonen, stand dieser doch mit seinen eigenen autobiographischen Texten, aber auch mit seinen auf Autobiographien beruhenden Publikationsprojekten wie der Geschichte der Fabriken und Betriebe und Geschichte des Dorfs für eine neue, sowjetische Autobiographik. Doch wie lange konnte der Bezug auf Gor’kij Schutz garantieren?
240 In der Zeitschrift Proletarij hatte Lenin Tolstoj 1908 mit drastischen Worten charakterisiert und seinen Vegetarismus verunglimpft: »[…] eine liederliche, hysterische Heulsuse, die man russischer Intelligenzler nennt, die sich öffentlich an die Brust schlägt und sagt ›ich bin abscheulich, ich bin widerlich, aber ich befasse mich mit sittlicher Selbstvervollkommnung; ich esse kein Fleisch und nähre mich bloß von Reiskoteletts‹. Diese Sichtweise hat auch Tolstojs Ansehen in der Sowjetunion bestimmt, wo nicht mehr öffentlich über seinen Vegetarismus und Pazifismus gesprochen wurde. Zit. nach: Brang, Ein unbekanntes Russland, 110. 241 Novikov, Pis’ma k Bonþ-Brueviþu, V.D., RGB f. 369 309.8, 1908-1937, l. 34ob. 242 Novikov, Iz perežitogo, 21; Novikov, Fakty o moej žizni. Avtobiografija, RGB f. 369 398.22, 1935, l. 1, 11. Diese Aufforderung ist Teil einer von Gor’kij stammenden Rezension, die 1937 erneut abgedruckt wurde: Alypov, Rez: M. i I. Novikovy, Dedovskie porjadki na peresmotr, 47-48; Gorbunov, Ob opyte I. Novikova, 114.
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Sein Bemühen, in die Gesellschaft der politisch Verfolgten und Verbannten (Vsesojuznoe obšþestvo politkatoržan i ssyl’noposelencev) aufgenommen zu werden, lässt sich als weiterer Versuch deuten, durch die Verbindung mit einer Institution Sicherheit für sein Schreiben zu erlangen. Der Gesellschaft sandte er 1933 eine Kurzautobiographie zu, die Auskunft über seine soziale Herkunft und Bedrängnisse gab, die er im Zarenreich erlitten hatte. Mit dem Aufbau und Inhalt seiner Autobiographie folgte Novikov den Ratschlägen, die ihm Bonþ-Brueviþ in einem seiner Briefe 1931 gegeben hatte, als Novikov auf dem Höhepunkt der ›Entkulakisierungskampagne‹ mehrfach in Haft gekommen war und ihm die Deportation nach Archangel’sk fast das Leben gekostet hatte.243 Die Ratschläge sollten ihm helfen, den Verdacht abzuwehren, eine ›verdorbene Biographie‹ zu besitzen: »Schreiben Sie kürzer, doch teilen Sie alle Fakten mit, vor allem vergessen Sie nicht die Hetze des früheren weißen Offiziers, der jetzt als Lehrer in ihrem Dorf arbeitet. Vergessen Sie nicht mitzuteilen, dass Sie Autor einer Reihe von Broschüren sind, die vom [Verlag, J.H.] Sel’choz herausgegeben wurden, und dass sie eine [Broschüre, J.H.] wegen des Arrests nicht zu Ende schreiben konnten, und berichten sie von ihrem Wunsch, in der Kolchose zu arbeiten, und dass Sie immer für die Kolchose agitiert haben. Ich bin überzeugt, dass die Wahrheit siegen wird.«244
Novikov begann seine Autobiographie, indem er die soziale Lage seiner Familie beschrieb. Die elterliche Leibeigenschaft und Armut, die als narratives Element in seinen früheren Texten keine große Rolle gespielt hatte, erwies sich nun als das wesentliche Mittel der Verortung in der Welt: »Ich wurde 1870 geboren. Mein Vater war ein armer Bauer, der wegen Landmangels im Winter in der Fabrik arbeitete.« Später habe auch er selbst Arbeit in der Stadt und den Fabriken gesucht. Mit dem Freilegen seiner proletarischen Wurzeln versuchte er zu beweisen, dass er kein ›Kulak‹ sein könne. Erst danach präsentierte Novikov Ereignisse, die seine Zugehörigkeit zu dem Kreis der politisch Verfolgten des Zarenreichs bestätigen sollten: Schon vor 1917 habe er der orthodoxen Kirche den Rücken gekehrt, mehrfach sei er für seine Renitenz mit Gefängnis und Verbannung bestraft worden. Diese Geschichten hatte Novikov schon vor 1917 erzählt. Neu war aber, dass er die Geschichte der Verfolgung nun auch auf die Sowjetunion ausdehnte. Die neuen Denunzianten seien die Feinde von gestern. Sie hätten ihn angeschwärzt, da er sie darauf hingewiesen habe, dass sie von der Parteilinie abgekommen seien.245 Die »zentrale Macht«
243 Novikov, Pis’mo k Novikovoj, M.I., RGB f. 369 309.10, 1930. 244 Bonþ-Brueviþ, Pis’ma k Novikovu, M.P., RGB f. 369 185.23, 1928, 1931-1937, l. 3. 245 Novikov, Pis’mo v Pravlenie Central’nogo Obšþestva Politkartožan, RGB f. 369 309.11, 24.11.1933, l. 6.
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habe die auf lokaler Ebene ausgesprochenen Urteile immer wieder zurückgenommen. Novikov erklärte viel, um zu zeigen, dass er ein unschuldiges Opfer sowjetischer Gewalt sei. Wahrscheinlich fürchtete er, dass ihn die Gesellschaft nicht aufnehmen würde, wenn er nicht erklären konnte, warum er auch in der Sowjetunion mit Haft und Verbannung bestraft worden war.246 In seiner 1935 verfassten Autobiographie Fakten über mein Leben schrieb Novikov noch offensiver gegen seine Widersacher an. Rudnev und der Lehrer Kireev, er nennt seine Verleumder mit vollen Namen, handelten aus bloßer Gewinnsucht; sie selbst seien in Wirklichkeit Weißgardisten. Wie es Bonþ-Brueviþ geraten hatte, versuchte er seine Feinde mit den eigenen Waffen zu schlagen und nutzte seine autobiographischen Texte auch als Mittel der Denunziation. Auch dies zeigt, wie sehr das gesellschaftliche Klima in der Sowjetunion vergiftet war.247 Seinem Bittbrief an die Gesellschaft der politisch Verfolgten und Verbannten legte er noch eine Bescheinigung des Dorfrats über seine soziale Lage bei, aus der hervorging, dass er kein ›Kulak‹ sei. Zudem erwähnte er Bonþ-Brueviþ, der den Wert seiner vorrevolutionären Schriften bezeugen könne. Die Vereinigung scheint jedoch seiner Bitte nicht entsprochen zu haben. Offensichtlich hatte sich Novikov zu spät an die Gesellschaft gewandt, deren Mitglieder in den 1930er Jahren selbst unter Druck gerieten. 1935 wurde sie aufgelöst, mehr als die Hälfte der Mitglieder kam in den Repressionen der 1930er Jahre ums Leben.248 Novikov war nun gezwungen, sich an andere Personen und Institutionen zu wenden, die ihm mit einer Rente auch Sicherheit für sein Schreiben zusprechen konnten. In seiner 1935 verfassten Autobiographie berichtete er, dass er auch Michail Kalinin um eine Pension gebeten habe, damit er »ruhig an seinen Erinnerungen arbeiten« könne.249 Die mit
246 Auf ihrem zweiten Kongress hatte die Gesellschaft den Beschluss gefasst, niemanden aufzunehmen, der von der sowjetischen Macht verurteilt worden war. Lur’e, Vremja, 15. 247 Novikov, Fakty o moej žizni. Avtobiografija, RGB f. 369 398.22, 1935, l. 8. Igal Halfin und Berthold Unfried konnten zeigen, dass dies eine übliche Praxis war: Halfin, Intimate Enemies, 152; Unfried, Selbstkritik, 178. 248 Kolesnikova, Istoriþeskie i istoriografiþeskie problemy, 5-6; Lur’e, Vremja, 16. 249 Briefe, Bitten und Petitionen richteten die Bauern in der Sowjetunion meist an Zeitungen wie Bednota, Krest’janskaja Gazeta, Krasnaja Derevnja oder direkt an die höchsten Vertreter der Staatsmacht. Die meisten Petitionen und Briefe erhielten in dieser Zeit Stalin, Kalinin und Molotov. Auch andere Bauern berichten in ihren autobiographischen Texten, dass sie sich an Kalinin wandten. Er galt wegen seiner bäuerlichen Wurzeln als besonders vertrauenswürdig. So bat ihn zum Beispiel 1929 der Bauer Glotov, seine Einstufung als ›Kulak‹ überprüfen zu lassen. Krjukova (Red.), Krest’janskie isto-
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der Rente verbundene Anerkennung durch Kalinin, den höchsten Repräsentanten der Sowjetunion, versprach Schutz vor weiterer Verfolgung. Doch auch Kalinin kam Novikovs Bitte nicht nach, sodass der Bauer weiterhin gefährdet blieb. Er versuchte nun erneut, unter seinen alten Bekannten einen Schutzherrn zu finden. 1935, sechs Jahre nachdem sich Novikov erstmals mit der Bitte um Protektion an Gor’kij gewandt hatte, forderte er von dem berühmten Schriftsteller neue ›Sicherheiten‹ für sein Schreiben ein. Er wandte sich an Gor’kij in einer Zeit, als dieser mit seinen Projekten und seinem autobiographischen Ansatz selbst unter Druck geriet und die Redaktionsmitglieder der Geschichte der Fabriken und Betriebe zunehmenden Repressionen ausgesetzt waren.250 Novikov zweifelte, wie er Gor’kij schrieb, am Sinn, seine Lebenserfahrung nach der Revolution darzulegen, wenn er als einzigen Lohn die Vernichtung seiner Schriften und letztlich seiner Person befürchten müsse. Trotz der fehlenden Anerkennung war er überzeugt, dass seine Autobiographie als Quelle für die Vergangenheit und Zeugnis für die Nachwelt einen Wert besitze: »Natürlich ist eine solche Arbeit für den heutigen Moment überhaupt nicht geeignet, aber in hundert Jahren ist sie wahrscheinlich ›für die Darstellung der Epoche‹ nützlich und wertvoll. Wenn sie mir eine ›Sicherheitsgarantie‹ für die jetzige Zeit geben, würde ich mich mit großer Hingabe an diese Arbeit machen. Oder ich könnte unter derselben Garantie für Sie die ›Geschichte meines Dorfs‹ nach 1861 bis zur Revolution schreiben, welche auch als Einführung in die Geschichte des Dorfs nach der Revolution nützlich sein könnte.«251
Die nicht abnehmende Bedrohung ließ Novikov 1935 daran zweifeln, dass eine im privaten Rahmen geäußerte Sprecherlaubnis, wie sie ihm Bonþ-Brueviþ 1928 in einem Brief gegeben hatte, noch genüge. Er bat ihn nun um ein offizielles Schriftstück des Literaturmuseums, aus dem hervorginge, dass sein Schreiben einen »gesellschaftlichen Nutzen« habe. Als Bonþ-Brueviþ auf diese Bitte nicht reagierte, beklagte sich Novikov am 19. März 1935, dass er auf seine Frage, ob er sprechen dürfe, keine Antwort erhalten habe. Ihm sei nicht klar, ob er seine Aufzeichnungen auch für die Zeit nach der Revolution fortführen dürfe, ob das Museum wünsche, dass er seine persönlichen Erfahrungen in aller Objektivität und Wahrhaftigkeit aufschreibe.252 Endlich antwortete Bonþ-Brueviþ: »Natürlich, fahren Sie mit dem Schreiben ihrer Aufzeich-
rii, 7; Novikov, Fakty o moej žizni. Avtobiografija, RGB f. 369 398.22, 1935, l. 9; Glotov, Na razlome žizni, 210-211. 250 Aris, Die Metro; Žuravlev, Istoþniki, 278. 251 Novikov, A.M. Gor’komu, 494. 252 Novikov, Pis’ma k Bonþ-Brueviþu, V.D., RGB f. 369 309.8, 1908-1937, l. 79.
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nungen fort und senden sie sie uns ins Museum.«253 Die Autobiographie Fakten über mein Leben ist das Ergebnis dieser Ermunterung. Sie versprach schon im Titel, frei von Subjektivität zu sein. Der Titel lässt sich als Versuch deuten, dem in den späten 1930er Jahren häufig zu vernehmenden Vorwurf zu begegnen, dass autobiographisches Schreiben subjektiv und damit nah bei der Lüge sei. Trotz dieser Ermutigungen blieb die Gefahr für den Schreiber bestehen. Am 3. August 1937 sandte Novikov Bonþ-Brueviþ einen verzweifelten Brief. Ausführlicher als bei seinen bisherigen Versuchen erläuterte er, warum ihm eine Rente zustehe und wie dringend er sie benötige. Er sehe es als seine Pflicht an, das Erlebte und Erlittene mitzuteilen. Auch wenn seine Zeitgenossen seine Erfahrung nicht zu schätzten wüssten, so würden sie für »unsere Nachkommen nach zwei Generationen, ja schließlich für zukünftige Historiker« interessant sein. Sein Schreiben sei sowohl für die Literatur- als auch die Geschichtswissenschaft bedeutend.254 Zudem verdiene er eine Rente, da er während seines Lebens elfmal im Gefängnis gesessen habe. Allein in der Sowjetunion sei er siebenmal inhaftiert worden, während nichtsnutzige Denunzianten auf seine Kosten Karriere gemacht hätten: »Ich benötige eine solche Rente nicht so sehr als materielle Hilfe (mein Sohn hilft mir ein wenig), sondern als Legalisierung meiner Lage und meiner Arbeit vor Ort und als unerschütterliche Sicherheit, dass meine Schriften nachts nicht wieder weggenommen werden, wie sie mir bisher während der Arreste weggenommen wurden, und ich nicht erneut in die fünfte Verbannung an noch weiter entfernte Orte getrieben werde.«255
Novikov hoffte, mit der Rente ein sichtbares Zeichen zu erhalten, welches seine Feinde vor Ort zum Schweigen bringen, sein Leben schützen und seinen Schriften Überlieferung gewährleisten konnte. Doch er war sich unsicher, ob Bonþ-Brueviþ überhaupt in der Lage sei, ihm eine solche Rente zu gewähren. Um keine Zeit zu verlieren, teilte er ihm im gleichen Brief mit, was zu tun wäre, wenn es nicht möglich sei, ihm eine Rente zuzusprechen. Indem er erneut die Gefahren aufzählte, in denen er sich befand, versuchte er, Bonþ-Brueviþ zum schnellen Handeln anzutreiben: »Vielleicht rede ich Blödsinn und von einer Rente kann keine Rede sein. Dann habe ich eine andere Frage: Kann ich nicht vom Literaturmuseum oder einer anderen Organisation, die mit Literatur befasst ist, ein Angebot oder eine Bestellung für eine solche Art von Schriften bekommen, die mir das formale Recht gibt, ohne Furcht eine solche Arbeit zu betreiben und
253 Bonþ-Brueviþ, Pis’ma k Novikovu, M.P., RGB f. 369 185.23, 1928, 1931-1937, l. 17. 254 Novikov, Pis’ma k Bonþ-Brueviþu, V.D., RGB f. 369 309.8, 1908-1937, l. 82. 255 Novikov, Pis’ma k Bonþ-Brueviþu, V.D., RGB f. 369 309.8, 1908-1937, l. 82ob-83.
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nicht als geächteter Bücherwurm angesehen zu werden, bei dem es sich nur lohnt, ihn zu denunzieren, ihn zu durchsuchen und zu vertreiben.«256
Letztendlich waren Novikovs Bitten vergebens. Am 9. August 1937, sechs Tage nach dem Verfassen dieses Briefs, wurde er erneut verhaftet. Abwehr von Identitätszuschreibungen In der Sowjetunion der 1930er Jahre barg nicht nur das eigene Handeln, sondern auch die Zuschreibung von Identitäten durch andere Gefahr. Auf wen der Verdacht fiel, ein ›Kulak‹ zu sein, der hatte mit Repressionen zu rechnen. In der Verhaftung seines Bruders und seiner eigenen Inhaftierung sah Novikov ein Zeichen dafür, dass auch er unter Verdacht geraten war, eine ›beschädigte Biographie‹ zu besitzen. Er begann, seine Autobiographien und Briefe zu benutzen, um gefährliche Fremdzuschreibungen abzuwehren, zu überschreiben und jene Zugehörigkeiten zu betonen, mit denen sich Loyalität zur Sowjetunion beweisen ließ.257 Auch die Briefe, die er an seine Familie, Freunde und einflussreichen Bekannten schickte, veränderten sich. Sie wurden ›biographischer‹ und Teil einer öffentlich gedachten Bühne, auf der sich erörtern ließ, wer er ›wirklich‹ sei. Im Gegensatz zu seinen Schreibweisen im Zarenreich und der frühen Sowjetunion vermied er es, als ›Bauer‹ aufzutreten. Er probierte im raschen Wechsel, abhängig von Adressat, Zweck und politischen Konjunkturen, neue Selbstbezeichnungen aus, durch die er hoffte, Gehör zu finden. Novikov versuchte, sich die neuen, sowjetischen Sprachregeln über ›Bauern‹ anzueignen, die Schutz vor Verfolgung verhießen. Die Formeln der Selbstbeschreibung änderten sich jedoch in der frühen Sowjetunion schnell. Jeder Wandel barg die Gefahr, außerhalb des Sagbaren und damit der sozialen Ordnung zu geraten. Dass Novikov diese Verschiebungen erkannte und versuchte, sich ihnen anzupassen, lässt sich daraus ersehen, dass er die Selbstbezeichnung »Bauer« ablegte und 1930 als »werktätiger Mittelbauer« auftrat. Schon wenige Monate später erschien es ihm sinnvoller, sich als »Kolchoznik« zu bezeichnen. Er hatte erkannt, dass die Staatsmacht ihre Vorbehalte und auch ihr Vertrauen gegenüber der Bauernschaft mit diesen Begriffen maß.258 Sein Auftreten als »Mittelbauer« (serednjak) steht zeitlich, inhaltlich und sprachlich in enger Verbindung mit Stalins Anfang März 1930 in der Pravda veröffentlichtem Artikel Schwindel vor Erfolgen (Golovokruženie ot uspechov), der eine Verlangsamung der Kollektivierungskampagne forderte. Die Erfolge hätten »be-
256 Novikov, Pis’ma k Bonþ-Brueviþu, V.D., RGB f. 369 309.8, 1908-1937, l. 82ob-83. 257 Diese Funktion autobiographischen Schreibens im Stalinismus steht im Mittelpunkt von Jochen Hellbecks Studien: Bsp. Hellbeck, Revolution on My Mind. 258 Merl, Sozialer Aufstieg, 251.
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trunken« gemacht und zu Realitätsverlust geführt. Die Kolchosen dürften nicht auf Gewalt, sondern müssten auf Freiwilligkeit gründen. Die lokalen Gegebenheiten seien miteinzubeziehen.259 Die Funktionäre vor Ort seien verantwortlich für den Widerstand gegen die Kollektivierung, da sie gegenüber den Bauern unverhältnismäßig viel Gewalt angewendet hätten. Nicht wenige Bauern hatten in dem Artikel ein Signal gesehen, den Kolchosen den Rücken zu kehren. In diesen Frühlingstagen erfuhr auch der »Mittelbauer« eine Aufwertung.260 Stalin erklärte ihn zu »unserem Verbündeten«, während es mit den »Kulaken«, den »Feinden«, »Blutsaugern«, »Spinnen« und »Vampiren«, niemals Frieden geben könne.261 In einem Brief an seine Frau vom April 1930 bezog sich Novikov mehrfach auf diesen Artikel, vor allem auf die Passagen über die Freiwilligkeit, in die Kolchosen einzutreten. Er nahm die Bezeichnung »Mittelbauer« in Anspruch, um über sich zu sprechen und die Bezeichnung ›Kulak‹ abzuwehren. Dieser Brief befindet als maschinenschriftliche Kopie »wegen eines Fehlers« auch im Nachlass Bonþ-Brueviþs. Es ist unklar, wer diesen »Fehler« begangen hat. Es ist aber zu vermuten, dass Novikov oder seine Familie den Brief an Bonþ-Brueviþ geschickt haben. Der Inhalt des Briefs und die ausgefeilte Argumentationsstruktur sprechen für eine Leserschaft, die über den Familienkreis hinausgehen sollte. Novikov schrieb seiner Frau Makrina aus Archangel’sk, wohin er deportiert worden war. Als »Mittelbauer« bat er seine Familie um Hilfe und gab ihr eine Anleitung, wie er aus der Verbannung zu erretten sei.262 Sein Brief schildert die Entbehrungen während der Reise und nach der Ankunft. Schon auf der Fahrt habe er das Gefühl gehabt, an »Schwindel vor Enge« (golovokruženie ot tesnoty) zu sterben. Sarkastisch rekurrierte er auf Stalins Phrase vom erfolgsverursachten Taumel.263 In Archangel’sk, einer von Verbannten und Gefangenen völlig überfüllten Stadt, ließ man die vermeintlichen ›Kulaken‹ ohne Nahrung und warme Kleidung frei. Für sie gab es keine Unterkünfte. Es herrschten 15 Grad Minus: »Man hat uns in Archangel’sk, wohin man uns gebracht hat, im Stich gelassen, wir streifen wie hungrige Hunde umher, stromern durch die Stadt und über den Basar, suchen, wo wir um ›Christi Willen‹ um ein Stück Brot bitten oder billiger kaufen können, um nicht vor Hunger zu sterben.«264 Er selbst habe schon Dutzende gesehen, die Not und Kälte nicht ertragen hätten und auf den
259 Figes, Die Flüsterer, 164; Merl, Die Anfänge der Kollektivierung, 154; Stalin, Golovokruženie ot uspechov, 3. 260 Figes, Die Flüsterer, 143-144. 261 Stalin, Otvet tovarišþam kolchoznikam (3. aprelja 1930 g.), 216, 224-225. 262 Zu den Kampagnen und ihren jeweiligen Höhepunkten siehe: Figes, Die Flüsterer, 157; Merl, Bauern unter Stalin. 263 Stalin, Golovokruženie ot uspechov. 264 Novikov, Pis’mo k Novikovoj, M.I., RGB f. 369 309.10, 1930, l. 1.
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Straßen von Archangel’sk gestorben seien. Auch das Leben seines Bruders Adrijan endete 1930 in Archangel’sk.265 In dem Brief bat Michail Novikov seine Familie mehrfach, ihn nicht aufzugeben. Es sei nicht wahr, was die anderen über ihn sagten. Novikov schien zu fürchten, dass sie sich von ihm, den durch die Deportation als ›Kulak‹ gebrandmarkten Mann und Vater lossagen könnte.266 Er erklärte seiner Frau, dass die Vorwürfe Lügen seien und ihn der Lehrer Kireev aus persönlichen Motiven denunziert habe. Novikov gab der Familie Argumentationsbausteine vor, die sie für die Mobilisierung von Hilfe nutzen sollten. Sorgfältig reflektierte Novikov, wer er sei und warum er kein ›Kulak‹ sein könne: »Ich verstehe, dass in Verbindung mit der absoluten Kollektivierung Partei und Regierung gezwungen waren, die Liquidierung der Kulaken als Klasse durchzuführen. Aber ich bin doch kein Kulak, sondern ein WERKTÄTIGER Mittelbauer [Herv. i.O.]; ich bin kein Feind der Kolchosen, sondern im Gegenteil; ich bin kurz vor meinem Arrest auf der Dorfversammlung aufgetreten und habe mit Ziffern in der Hand auf die Notwendigkeit der Organisation einer Kolchose verwiesen.«267
Novikov hatte schmerzvoll erfahren, dass es anders als im Zarenreich und in der Sowjetunion der frühen 1920er Jahre keine nachvollziehbaren Gründe – wie materiellen Reichtum und das Anheuern von Lohnarbeitern – mehr geben musste, um als ›Kulak‹ bezeichnet zu werden. Wegen des Fehlens echter Klassenkriterien konnte jeder Bauer als ›Kulak‹ eingestuft werden.268 Allein schon fehlende Begeisterung für die Kolchosen konnte zu diesem Verdikt führen.269 Aus Novikovs Brief spricht Verzweiflung: Er konnte nicht verstehen, dass die Denunziationen des »ungebildeten ›Lehrers‹, Weißgardistens und Schmarotzers« gehört wurden.270 In der Sowjetunion würden »unschuldige Mittelbauern« unmenschlich behandelt, während man zur Zarenzeit selbst mit den größten Verbrechern nicht so umgegangen sei.271 Seine Angst war groß, in Archangel’sk zu sterben. Er verabschiedete sich von seiner Familie. Es bleibe ihr nur noch wenig Zeit, sein Leben zu retten: »Ich bitte
265 Gladkova, Krest’janskij pisatel’, 14. 266 Wie der Verdacht, ein ›Kulak‹ und ›Volksfeind‹ zu sein, die Familienstrukturen zerstörte, zeigt Figes an den Werdegängen von Familien im Stalinismus: Figes, Die Flüsterer. 267 Novikov, Pis’mo k Novikovoj, M.I., RGB f. 369 309.10, 1930, l. 2. 268 In ihren autobiographischen Texten beklagten auch andere Bauern die willkürliche Einstufung ihrer Person als ›Kulak‹. Glotov, Na razlome žizni, 220-234; Rassychaev, Dnevnye zapiski, 65. 269 Merl, Bauern unter Stalin, 62; Merl, Die Anfänge der Kollektivierung, 154. 270 Novikov, Pis’mo k Novikovoj, M.I., RGB f. 369 309.10, 1930, l. 2. 271 Novikov, Pis’mo k Novikovoj, M.I., RGB f. 369 309.10, 1930, l. 1.
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euch, mir so schnell wie möglich etwas Geld und Zwieback zu schicken, sonst sterbe ich vor Hunger […].«272 Vanja, sein Sohn, solle sich rasch um Aufklärung bemühen und auch Kontakt mit Bonþ-Brueviþ aufnehmen, damit dieser erfahre, wie in der Sowjetunion »werktätige Mittelbauern« gequält werden. Bonþ-Brueviþ solle sich bei seinen einflussreichen Bekannten, zum Beispiel bei Kalinin, für ihn einsetzen.273 Novikov hat die Deportation überlebt und konnte, allerdings nur für kurze Zeit, zu seiner Familie zurückkehren. Als Stalin im August 1930 eine zweite Kollektivierungswelle einleitete, war es nicht mehr opportun, an die vorherige Wende zu erinnern. Immer seltener nahm Novikov deshalb nach 1931 die Bezeichnung serednjak in Anspruch.274 Im Oktober 1931 schrieb Novikov Bonþ-Brueviþ als »Kolchoznik« gegen seine wiederkehrende Verfolgung an und versuchte auf diese Weise, Fürsorge und Hilfe zu erreichen. Erneut war er verhaftet worden und musste in Verbannung, diesmal in Voronež, leben. Schon durch die Selbstbezeichnung versuchte er zu zeigen, dass er die ›Kollektivierung‹ mit seiner ganzen Person unterstütze, dass seine Bestrafung ein Versehen sei. Ausführlich schilderte er die Bemühungen der »Kolchozniki«, eine Petition für ihn zu verfassen. Was diese Episode Bonþ-Brueviþ zeigen sollte: Novikov war ein echter ›Kolchoznik‹, die anderen ›Kolchozniki‹ setzten sich für ihn als einen der ihren ein. Enttäuscht musste jedoch Novikov Bonþ-Brueviþ berichten, dass es dem Lehrer und Denunzianten Kireev gelungen sei, seine Unterstützer einzuschüchtern.275 Die Petition kam nicht zustande. In seiner 1935 verfassten Autobiographie Fakten über mein Leben ist »Kolchoznik« die einzige Selbstbezeichnung, auf die sich noch rekurrieren ließ. Sie erlaubte es, über das eigene Leben zu sprechen, sich zu rechtfertigen und um Unterstützung zu bitten. In der Autobiographie wehrte er sich offensiv gegen andere Zuschreibungen. Einen »Kulak« oder »Podkulaþnik«, und damit zu einer Person, die unter den den Einfluss der ›Kulaken‹ geraten ist, lasse er aus sich nicht machen.276 Die Vorwürfe basierten allein auf persönlicher Missgunst, seine Biographie zeige, wer er ›wirklich‹ sei: Er habe vor 1917
272 Novikov, Pis’mo k Novikovoj, M.I., RGB f. 369 309.10, 1930, l. 1ob. 273 Novikov, Pis’mo k Novikovoj, M.I., RGB f. 369 309.10, 1930, l. 2. 274 Ausnahme ist ein Brief vom 11. Oktober 1931 an die OGPU, in dem er Kireev anklagte, ihn aus persönlichen Gründen denunziert zu haben. In dem Brief bat er darum, seine Angelegenheit noch einmal zu prüfen. Unterschrieben hat er ihn als »Mittelba[uer]« (kr-serednjak). Sein ›Bauernsein‹ passt in eine Abkürzung aus zwei Buchstaben. Dieser Brief befindet sich auch im Nachlass Bonþ-Brueviþs. Novikov, Pis’ma k BonþBrueviþu, V.D., RGB f. 369 309.8, 1908-1937, l. 58-59. 275 Novikov, Pis’ma k Bonþ-Brueviþu, V.D., RGB f. 369 309.8, 1908-1937, l. 55. 276 Merl, Bauern unter Stalin, 62.
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in der Fabrik gearbeitet, in Verbannung gelebt und im Gefängnis gesessen.277 Genauso kämpferisch ging er in seiner Autobiographie dagegen vor, als »Tolstojaner« verunglimpft zu werden: »Ich spreche offen, ich weiß bis heute nicht, was das heißt. Dass ich mit Lev Tolstoj bekannt gewesen bin? Ist denn etwa die Bekanntschaft mit einem großen Schriftsteller irgendetwas Entehrendes und zudem etwas, das die sowjetischen Gesetze verfolgen«?278 Er sei sich sicher, dass er dem neuen Staat mehr Nutzen gebracht habe als jene, die ihn als »Tolstojaner« bezeichneten.279 Er wisse zwar, dass auch er Fehler gemacht habe, vor allem seine anfängliche Ablehnung der Kolchosen sei falsch gewesen. Für ihn als »Mittelbauer« wäre es schwer gewesen – die Bezeichnung »Mittelbauer« konnte nur noch als Entschuldigung dienen –, den Sinn der Kollektivierung und der hohen Steuern zu erkennen. Erst später habe er begriffen, dass diese Maßnahmen nötig gewesen seien.280 1935 präsentierte sich Novikov als Person, die erst als »Kolchoznik« Zugehörigkeit erfahren habe. Nie habe er »antisowjetischen Gruppen« angehört, nie die Weltsicht der Narodniki geteilt, weder sei er ein Tolstojaner noch ein ›Sektierer‹ gewesen. Erfahrungen und Episoden, die früher die Aufmerksamkeit von Publizisten und Wissenschaftlern versprochen hatten und die ihm und auch anderen Bauern im Zarenreich und in den ersten Jahren der Sowjetunion erlaubt hatten, über das eigene Leben zu sprechen, konnten es nun beenden. Novikov signierte seine Autobiographie als »Kolchoznik Mich. Nov.« Seinen Namen kürzte er ab, »Kolchoznik« schrieb er aus.281 Mehr ließ sich über ihn nicht mehr sagen.282 Erbe sichern – Zugang kontrollieren Novikov traute sich immer weniger zu, selbst einzuschätzen, was über das eigene Leben noch sagbar sei, was nicht mehr. Er reagierte auf die willkürlichen und raschen Wechsel, mit denen Leben und Personen bewertet wurden, indem er 1934 Bonþ-Brueviþ bat, ihm die »gefährlichen Stellen« in seinen Texten zu zeigen. Er selbst – so Novikov – könne sie nicht erkennen. Novikov hatte jegliche Deutungsmacht über seine eigene Autobiographie verloren. Er zweifelte, noch antizipieren zu können, wie andere seinen Text interpretieren würden. In den 1930er Jahren verloren autobiographische Texte ihren Nimbus vor allem bei jenen, die schon vor 1917 autobiographisch geschrieben hatten: Statt mit ihnen Anerkennung und Aufmerk-
277 Novikov, Fakty o moej žizni. Avtobiografija, RGB f. 369 398.22, 1935, l. 9-10. 278 Novikov, Fakty o moej žizni. Avtobiografija, RGB f. 369 398.22, 1935, l. 9. 279 Novikov, Fakty o moej žizni. Avtobiografija, RGB f. 369 398.22, 1935, l. 9. 280 Novikov, Fakty o moej žizni. Avtobiografija, RGB f. 369 398.22, 1935, l. 10. 281 Novikov, Fakty o moej žizni. Avtobiografija, RGB f. 369 398.22, 1935, l. 11. 282 Die Zugehörigkeit zu den ›Kolchozniki‹ konnte, so Stephan Merl, auch sozialen Aufstieg verhindern. Führungskräfte wurden meist aus der Arbeiterschaft rekrutiert. Merl, Sozialer Aufstieg, 251-259.
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samkeit zu erringen, wurden Autobiographien oder Tagebücher in den 1930er Jahren zu verräterischen Beweisstücken, die missgünstige Leser leicht gegen ihre Verfasser benutzen konnten. Vor allem zwei Episoden seiner Lebensbeschreibung bereiteten Novikov Kopfzerbrechen: Erstens wisse er nicht, wie gefährlich es sei, über die Gespräche mit dem ehemaligen Gutsherrn Nikolaj Dogudovskij zu schreiben. Wie seine 1924 verfasste Autobiographie zeigt, hatte Dogudovskij Novikov schon 1917 vor den Bol’ševiki gewarnt. Die Revolution sei das Machwerk einer Handvoll »Hooligans«, das »Volk« könne nichts Gutes von ihnen erwarten: »Statt einer Seele haben diese Halunken einen trockenen Stock und statt eines Gotts solch einen Juden, Marx.«283 Zweitens war Novikov sich unsicher, ob es klug sei, seine Gespräche mit dem Men’ševik Frolov zu erwähnen, den er 1915 im Gefängnis kennen gelernt hatte. Er habe dazu schon Nikolaj Gusev befragt, der als ehemaliger Sekretär Tolstojs die Handschriftenabteilung im Tolstojmuseum leitete. Gusev sah in dem Gespräch mit dem Men’ševik keine Gefahr. Doch könne er sich auf dessen Meinung verlassen? Vorsichtig fragte er nach, was mit seinen Aufzeichnungen im Museum passiere: Wer habe Zugang zu seinem Text? Könne ihn jeder einsehen und damit auch als Grundlage nehmen, ihn erneut zu denunzieren? Wenn seine Furcht berechtigt sei, dann solle Bonþ-Brueviþ die »gefährlichen Stellen« herausstreichen und ihm mitteilen, was er »politisch« schreiben dürfe und was dem Museum nütze.284 Andere Korrespondenten, die keine solch engen Verbindungen mit Bonþ-Brueviþ hatten, konnten nicht so vertrauensvoll über die ›richtigen‹ Inhalte verhandeln. Aleksej Nazarov teilte 1930 Bonþ-Brueviþ mit, dass er wegen der damit verbundenen Gefahren das Schreiben eingestellt habe: »Ich habe Ihnen versprochen, meine Autobiographie zu schicken. Doch wegen des Umbaus und der vollkommenen Veränderung des Lebens und unter dem Druck der Umstände und Notwendigkeiten muss die schriftstellerische Arbeit für einige Zeit aufgegeben werden.«285 In den 1930er Jahren begann sich Novikov immer mehr für die Überlieferung seiner Texte zu interessieren. Hatte er sich im Zarenreich vor allem für ihre Publikation und damit für ihre Wirkung in der Gegenwart interessiert, glaubte er nicht mehr daran, unter seinen Zeitgenossen ein Publikum finden zu können. Klar zeigt sich, dass sein Gespür dafür stieg, dass mit seinem Leben auch seine Aufzeichnungen gefährdet waren. Schon zahlreiche Seiten seien, so Novikov, durch die Repressionen verlorengegangen:
283 Novikov, Iz perežitogo, 225. 284 Novikov, Pis’ma k Bonþ-Brueviþu, V.D., RGB f. 369 309.8, 1908-1937, l. 75. 285 Nazarov, Pis’ma k Bonþ-Brueviþu, V.D., RGB f. 369 306.8, 1929-1930, l. 6.
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»Doch ich hatte keinen verlässlichen Platz für ihre Aufbewahrung und die richtige Zusammenstellung. Und die einen sind abhanden gekommen, die anderen wurden mir bei Hausdurchsuchungen abgenommen, drittens ist in Vergessenheit geraten, wo sie versteckt sind. Sie gingen verloren oder wurden erst nach einigen Jahren wiedergefunden, nachdem ich dasselbe erneut beschrieben hatte. Auf diese Weise sind einige dutzend Seiten unnützerweise abhanden gekommen.«286
In den Briefen mahnte er Bonþ-Brueviþ, seine Schriften sorgfältig zu bewahren. Er selbst könne ihnen keinen sicheren Platz mehr garantieren. Schon viele Seiten habe er durch Verbannung und Gefängnis verloren, vieles sei bei Hausdurchsuchungen konfisziert worden.287 Novikov ergriff auch konkrete Vorsichtsmaßnahmen, um die Verluste zu verringern. Im Sommer 1934 hielt er Bonþ-Brueviþ an, Briefe und Sendungen nur noch als Einschreiben zu verschicken.288 Die Vorsorge erstreckte sich nicht nur auf seine Autobiographien und Abhandlungen, sondern auch auf seine Familie, die er schützen und für die Zukunft materiell absichern wollte. 1934 bat er Bonþ-Brueviþ um eine Arbeit für seine Tochter. Bonþ-Brueviþ reagierte wohlwollend.289 Er versprach der Tochter eine Stelle im Archivwesen und damit auch eine Position, die dem Vater die Überlieferung seines schriftlichen Erbes erleichtern konnte.290 Die Vorsorge gelang: Einige seiner Kinder machten in der Sowjetunion Karriere. Nicht zuletzt ihre Erfolge sicherten die Überlieferung seiner Texte ab. Die Tochter Anna wurde Professorin für Folklore. Sie war es, die einen Teil von Novikovs Schriften dem Tolstojmuseum übergab. Unsichtbar werden Hatten die verfemten ›Sektierer‹ im Zarenreich in ihrer Antwort auf den Schreibaufruf und in dem Verfassen eines autobiographischen Texts eine Möglichkeit gesehen, sichtbar zu werden und einen Platz in der Gesellschaft in Anspruch zu nehmen, so mühte sich Novikov, seinen Platz in der Gesellschaft durch autobiographische Texte zu bewahren. Dabei war vordergründig nicht mehr Distinktion, sondern Einklang mit dem ›Kollektiv‹ das Ziel. Er erkannte zu spät, dass er gerade durch sein autobiographisches Schreiben gefährdet war, dass er sich mit seinen früheren Texten auf die nun geächtete Seite gestellt hatte. An den immer wieder miss-
286 Novikov, Iz perežitogo, 18. 287 Novikov, Pis’ma k Bonþ-Brueviþu, V.D., RGB f. 369 309.8, 1908-1937, l. 75. 288 Novikov, Pis’ma k Bonþ-Brueviþu, V.D., RGB f. 369 309.8, 1908-1937, l. 72ob. 289 Novikov, Pis’ma k Bonþ-Brueviþu, V.D., RGB f. 369 309.8, 1908-1937, l. 77ob. 290 Aus den Briefen geht nicht hervor, ob Novikovs Tochter die Stelle angetreten hat. Bonþ-Brueviþ, Pis’ma k Novikovu, M.P., RGB f. 369 185.23, 1928, 1931-1937, l. 17.
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lingenden Versuchen, sich mit Bonþ-Brueviþs Hilfe den neuen Erfordernissen anzupassen, lässt sich das Versagen früherer Patronageverhältnisse aufzeigen. Auch Bonþ-Brueviþ und seine Familie waren in den 1930er Jahren gefährdet, was eine klare Parteinahme für seine Korrespondenten verhinderte. Er konnte zwar Rat geben und über das Literaturmuseum finanziell aushelfen, doch gelang es ihm nicht, seine Korrespondenten vor Angriffen von außen zu schützen. Offene Parteinahme war seit Ende der 1920er Jahre schwierig geworden. Bonþ-Brueviþs Distanzierung von seinen Korrespondenten und die Umwertung seiner Sammelleidenschaft setzte die Autobiographen neuen Gefahren aus. Es gab nun niemanden mehr, der in der Verfolgung ein Martyrium sah, das Anerkennung, Beifall und Nachfolge herausfordern konnte. Diese Gefahr, in der jeder schwebte, entfremdete die Menschen voneinander und zerstörte mit dem Verlust von Vertrauen auch Freundschafts- und Familienbande. Während man sich im Zarenreich durch sein Verhalten oder durch seine Antwort auf einen Schreibaufruf dafür hatte entscheiden können, ein ›Sektierer‹ und ›Märtyrer‹ zu sein, gab es diese Entscheidung für den ›Kulak‹ nicht. Als ›Kulak‹ wurde man bezichtigt. Novikov war im Zarenreich nie einer Konfrontation mit Staat und Kirche aus dem Weg gegangen, doch in seiner Verfolgung als ›Kulak‹ konnte er nur Ungerechtigkeit und Willkür erkennen. Novikov, der im Zarenreich aufgrund seiner eigenen Entscheidungen und Leistungen Aufmerksamkeit beansprucht hatte, konnte nicht verstehen, dass sich durch den Begriff des ›Kulak‹ die Vorstellungen von sozialer Mobilität, Selbsttätigkeit und biographischem Erfolg vollkommen verändert hatten. Es ist daher vor allem die Sinnlosigkeit des eigenen Leidens, die er in seinen autobiographischen Texten thematisierte, obgleich sich an den Formen der Verfolgung – Haft, Verbannung, Androhung des Tods – nur wenig geändert hatte. Bonþ-Brueviþs Autobiographieprojekt steht nicht nur zeitlich, sondern auch inhaltlich zwischen Zarenreich und Sowjetunion. Zum einen erzeugte es Kontinuität, vor allem in den hagiographischen Schreibweisen, zum anderen spiegelte es aber auch die gesellschaftlichen Umbrüche zu Beginn des 20. Jahrhunderts wider. Die Bauern hatten Bonþ-Brueviþ als ›Märtyrer‹ geantwortet oder Elemente der Konversionserzählung für ihre eigene Lebensgeschichte verwendet. Sie eigneten sich damit Sprech- und Schreibweisen an, auf die die orthodoxe Kirche im Zarenreich das Monopol erhoben hatte. Indem sie alte Formen mit neuen Inhalten füllten, machten die Korrespondenten sowohl der Staatskirche als auch der Autokratie den Deutungsanspruch auf religiöses, mithin ›richtiges‹ Leben streitig. An diese Art des Schreibens schlossen zahlreiche Autobiographen in der Sowjetunion an, indem sie weiterhin hagiographische Schreibweisen, eschatologische Motive und christliche Symboliken benutzten, auch wenn sich Inhalte und Ziele ihrer Lebenserzählungen geändert hatten. In der Sowjetunion beschrieben sich selbst linientreue Akteure in
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religiösen Bildern, ohne dabei noch auf Erfahrungen als Christ oder ›Sektierer‹ zu rekurrieren.291 Die Autobiographieprojekte machen eine bisher übersehene Stufe in den Aneignungsprozesse sichtbar, die es den Bol’ševiki erlaubte, neue Inhalte durch den Gebrauch alter Formen zu vermitteln.292 Es werden jedoch an Bonþ-Brueviþs Projekt nicht nur Kontinuitäten, sondern auch Brüche zwischen Zarenreich und Sowjetunion sichtbar. Am deutlichsten sind die Veränderungen der Position, aus der heraus die Schreiber über sich und ihr Leben sprachen und die sie in Anspruch nahmen, um gehört zu werden. Die Autobiographien seiner Korrespondenten unterschieden sich von den hagiographischen Schreibformen in der Aufwertung des sozialen Hintergrunds. Anders als noch in den Autobiographien, die in den 1870er bis 1890er Jahren im Bratskoe Slovo erschienen waren, und in denen wie in der Hagiographie vor allem überzeitliche Geschichten erzählt wurden, verknüpften Bonþ-Brueviþs Korrespondenten ihre Lebensumstände mit ihrer sozialen Herkunft und ökonomischen Bedingungen. In vielen Fällen antworteten sie so, wie Bonþ-Brueviþ sie in den Schreibaufrufen angesprochen hatte. Soziologisch inspiriert, ging es ihm um die Zusammenhänge zwischen sozialer Position und Lebensführung. Diese Herangehensweise, die von der Attraktivität der Soziologie im Zarenreich zeugt, blieb in der Sowjetunion populär. Auch in der Sowjetunion galt die soziale Herkunft als wesentliches Element in der Zuweisung von Kausalitäten. So thematisierten zum Beispiel fast alle Bauern, die in den 1920er Jahren ihre Autobiographie an die Krest’janskaja Gazeta richteten, die ökonomischen Verhältnisse, aus denen sie stammten. Wohlstand war gefährlich, Armut hingegen verhieß Prestige, in den 1930er Jahren versprach sie wenigstens etwas Ruhe. Bauern betonten nun ihre Armut, um sich von den ›Kulaken‹ abzugrenzen.293 Andere Schreibformen galten den Bol’ševiki nicht viel. Seit der Mitte der 1920er Jahre lehnten sie offensiver denn je frühere Deutungen ›bäuerlichen‹ Lebens ab. Mit dem Sturz der Autokratie und der nachhaltigen Schwächung der orthodoxen Kirche konnten Lebensentwürfe, die am Gegensatz zur autokratischen Ordnung und der orthodoxen Kirche ausgerichtet waren, keinen positiven Platz mehr in Anspruch nehmen. Durch den Wegfall des gemeinsamen Feinds waren auch die Verbindungen zwischen den Anschauungen der Gegner des Ancien Régime weggefallen. Seit Beginn der stalinschen Industrialisierung 1928 fanden die Schreiber solcher Autobiographien kaum noch einen Platz, der ihren Texten Überlieferung versprach. In eine größere Öffentlichkeit gelangten sie in der Sowjetunion nicht mehr. Es war
291 Halfin, Intimate Enemies, 5, 12. 292 Halfin, Intimate Enemies, 12; Halfin, From Darkness to Light, 1-5. 293 Siehe beispielsweise die Autobiographie, welche die Bäuerin Anna Tret’jakova an die Krest’janskaja Gazeta schickte: RGAƠ, f. 396 op. 2 d. 33, l. 729.
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für ihre Schreiber sogar gefährlich geworden, wenn ihre Selbstzeugnisse Leser fanden und zum Beispiel von der OGPU, der Geheimpolizei, aufgespürt und beschlagnahmt wurden. Akteuren wie Novikov gelang es auch deshalb nicht, sich den ›Säuberungen‹ und schließlich der Hinrichtung zu entziehen, da sie ihre Vergangenheit, die nun als ›verdorbene‹ Biographie deklariert worden war, durch ihre zahlreichen Publikationen im Zarenreich und der frühen Sowjetunion nicht verheimlichen konnten. Es war bekannt, dass Novikovs Überzeugungen, religiöse Werte und Familiengeschichte von den offiziellen Normen der Sowjetunion abwichen. Novikov hatte schon zuviel über sich und sein Leben gesagt.294 Seit den späten 1920er Jahren gab es neue Akteure, deren Sicht auf die ›Sektierer‹ und ›Bauern‹ sich eklatant von den vorrevolutionären Imaginationen unterschied und die mit dem autobiographischen Schreiben auch andere Zivilisierungsziele verbanden. Sie hatten an den Autobiographieprojekten mit ihrem inhärenten Partizipationsversprechen kein Interesse mehr. Die im Zarenreich als wissenschaftliche Unternehmungen begonnenen Autobiographieprojekte lassen sich damit zwar als Wegbereiter eines neuen ›sowjetischen‹ autobiographischen Schreibens lesen. Sie konnten jedoch ihre Existenz über die 1930er Jahre hinweg nicht bewahren. Wie sehr die Biographien der Korrespondenten und Initiatoren wechselseitig miteinander verbunden waren, zeigt sich auch an dem Ansehensverlust, den die Urheber der Autobiographieprojekte seit der zweiten Hälfte der 1920er Jahre erlitten. Im Zarenreich hatte Bonþ-Brueviþ mit seinem Ruf nach autobiographischen Texten mit der orthodoxen Kirche konkurriert, nun rivalisierten frühere Weggefährten mit ihm um die ›Stimme von unten‹. Die neuen Eliten nutzten die neuen autobiographischen Sprechweisen, um frühere Genossen oder alte Feinde auszuschalten. Bonþ-Brueviþ, und auch Rubakin, wurde seit der zweiten Hälfte der 1920er Jahre abgesprochen, Leben richtig beurteilen zu können. Immer häufiger setzte sich die Ansicht durch, dass ihre Sichtweisen auf den narod überholt seien. Wie sehr ihr Ansehensverlust auf die Selbstzeugnisse derjenigen zurückwirkte, denen sie versucht hatten, eine Stimme zu geben, zeigt der Wandel in Michail Novikovs autobiographischen Texten. Die Korrespondenten Bonþ-Brueviþs erkannten Ende der 1920er Jahre, dass sich die Sprachregelungen und die Ansprüche an erfolgreiche Biographien geändert hatten. Sie sahen deutlich, dass Bonþ-Brueviþ nicht mehr bestimmte, was ihm zugesandt werden konnte. Korrespondenten wie Novikov und Nazarov ergriffen ›Vorsichtsmaßnahmen‹, die ihr Schreiben absichern sollten, oder gaben es vollkommen auf. Die Autobiographieprojekte, die auf Austausch, Vertrauen und langjährigen Briefwechseln beruhten, waren in den 1930er Jahren keine geschützten Räume
294 Ausführlicher zu dem Prozess des Verstummens und der Übernahme neuer Sprachregelungen: Figes, Die Flüsterer, 29.
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mehr. Das Schreiben innerhalb der Autobiographieprojekte wurde mit dem Ansehensverlust der Initiatoren zur Gefahr für die langjährigen Korrespondenten. Diese Veränderungen des innenpolitischen Klimas hatten ähnliche Auswirkungen auf Rubakins Korrespondenten. Inwieweit sie auch auf das Schreiben von Autobiographien und Tagebücher zurückwirkten, ist eine zentrale Frage im Kapitel über autobiographisches Schreiben im Familienkreis. Autobiographen wie Novikov zeigen deutlich, dass die Thesen von Jochen Hellbeck und Igal Halfin zur Soviet Subjectivity zu kurz greifen. Novikovs vergebliches Bemühen um Konformismus geht nicht in Hellbecks These von dem Mangel an begrifflichen Alternativen auf. Novikov übernahm die Sowjetkategorien, weil andere Formen der Selbstverortung mit Haft, Verbannung und Tod bestraft wurden. Seine Anpassungsbemühungen erscheinen weniger als Krise des Selbst, sondern lassen sich vor allem als Versuch lesen, Repressionen abzuwenden.295 Sobald Novikov meinte, Freiräume für sein Schreiben zu besitzen, knüpfte er an Schreibformen an, die er schon vor 1917 gebraucht hatte. Sein autobiographisches Schreiben zeigt, dass die Bilder – Maske oder Verinnerlichung –, mit denen über autobiographisches Schreiben im Stalinismus gesprochen wird, immer unvollständige Bilder bleiben. Es ist müßig, über ihre Passgenauigkeit zu streiten. Letztendlich ist es nicht zu entscheiden, ob die Autobiographen die sowjetischen Kategorien verinnerlichten oder sie als Maske benutzten, um ihr wahres Ich zu verbergen. Statt sich anzumaßen, in die Köpfe historischer Akteure hineinzublicken, ist es ein Hauptanliegen dieser Studie, die Beziehungen nachzuzeichnen, in denen autobiographisches Schreiben stand. Soziale Netzwerke, Fragen der Zugehörigkeit und der Abgrenzung sind dafür entscheidend, wie autobiographisch geschrieben wird. Kommunikationsräume entstehen durch soziale Beziehungen. Verändern sich die Bindungskräfte zwischen den Akteuren, verändern sich auch Art und Weise, wie autobiographisch gesprochen und geschrieben wird. Wie ich an der Beziehung zwischen Bonþ-Brueviþ, Novikov und auch Nazarov gezeigt habe, ging autobiographisches Schreiben in den Zeiten des Stalinismus nicht in einem Gegensatz zwischen Individuum und Staat auf, obgleich die neuen Machtstrukturen die etablierten Vertrauensverhältnisse stark belasteten. Immer wieder versuchte Novikov Sicherheiten zu erlangen, sein altes Schreiben fortführen zu dürfen.296 An seinem Bemühen zeigt sich nicht nur der Ver-
295 Hellbeck, Speaking Out, 90. 296 Diese These vertritt auch Orlando Figes, der ein differenzierteres Modell als Jochen Hellbeck für die Verinnerlichung sowjetischer Werte anbietet, jedoch die Autobiographen zu sehr in eine Opferrolle drängt. In ihrer Rezension kritisiert Sandra Dahlke eindrücklich den Opferstatus, den Figes den Zeitzeugen zuweist: Figes, Die Flüsterer, 3233; Dahlke: Rezension zu: Figes, Die Flüsterer. Siehe auch die Rezensionen von Diet-
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trauensverlust in persönliche Beziehungen und die Stärke der neuen sozialistischen Semantiken, sondern auch die Verletzlichkeit privater Räume: Mit Gewalt drang der Staat darin ein, beschlagnahmte Eigentum, Briefwechsel und Autobiographien, verhaftete und tötete. Er versuchte jene Vergangenheiten in Besitz zu nehmen, die Bauern wie Klokov, Ikonnikov und Novikov sich durch das Schreiben angeeignet, für sich und andere geschildert und gedeutet hatten. Letztendlich aber zeigt die Überlieferung von Novikovs Texten, wo der Einfluss des vermeintlich übermächtigen Staats endete. Unter Bonþ-Brueviþs Namen, wenige Meter vom Kreml entfernt, wurden und werden Novikovs Autobiographien, Briefe und Aufsätze verwahrt.
3.2 L ESEN UND S CHREIBEN : R UBAKINS GESAMMELTE L EBEN »Gefällt sie ihnen«? Immer wieder ertönt diese zwischen Hoffnung und Zweifel schwankende Frage in den Briefen an Rubakin.297 Die Autobiographen, die ihre Lebensgeschichten an Nikolaj Rubakin sandten, hofften auf Anerkennung. Sie waren unsicher, ob die Lebensereignisse, die sie zur Niederschrift ausgewählt hatten, Rubakin überhaupt interessierten und ob ihre Schreibkenntnisse ausreichten, um bei ihm Gehör zu finden. Sie wussten nicht, ob er die richtige Adresse für ihren Text sei.298 Rubakins Autobiographieprojekt (1861-1946) ragt unter den vorrevolutionären Versuchen heraus, Bauern zum Schreiben einer Lebensgeschichte zu bewegen. Es gab kein Projekt, das über mehrere Jahrzehnte hinweg so nachdrücklich zum autobiographischen Schreiben aufgefordert hat. Weder Bonþ-Brueviþs noch Jacimirskijs Autobiographieprojekt besaßen diese Konstanz. Seit den späten 1880er Jahren korrespondierten Bauern und Arbeiter mit Rubakin, sandten ihm bis Ende der 1930er Jahre Briefe, Autobiographien und Antworten auf seine Fragebögen zu. Zudem waren Rubakins Schreibaufrufe sehr offen. Indem er sich an jeden Leser wandte, ungeachtet seiner Kenntnisse und Erfahrungen, lud er viele zur Niederschrift ihres Lebens ein. Seine Korrespondenten brauchten keine Konversion. Sie mussten sich auch nicht auf die Leibeigenschaft beziehen, um über ihr Leben zu schreiben. Bonþ-
rich Beyrau, Ekaterina Makhotina und Karl Schlögel in den Jahrbüchern für Geschichte Osteuropas 58 (2010), H. 3, 401-412. 297 Siehe auch meinen Aufsatz zu Nikolaj Rubakin in dem von Walter Sperling herausgegebenen Sammelband zu den Dimensionen des Politischen im Zarenreich: Herzberg, ›Selbstbildung‹. 298 Minaev, Pis’ma k Rubakinu, N.A., RNB f. 358 254.17, 1896, l. 1; Kuzjunin, Pis’mo k Rubakinu, N.A., RGB f. 358 245.22, 1911, l. 2.
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Brueviþ adressierte seine Schreibaufrufe an ›Sektierer‹, Jacimirskij an erfolgreiche autodidaktische Talente. Beide hatten damit einen viel kleineren Kreis im Blick. Trotz dieser Unterschiede sind die Teilkapitel zu den Autobiographieprojekten, vor allem zu Rubakins und Jacimirskijs Schreibaufrufen, eng miteinander verknüpft. Viele Autobiographen, die ihre Lebensgeschichte an Jacimirskij sandten, bezogen sich auf Rubakin als Vorbild und erste Adresse für das eigene autobiographische Schreiben.299 Beim Blick auf die beiden Projekte werden daher vier gemeinsame Aspekte in den Fokus gerückt: Erstens, autobiographisches Schreiben war für die Initiatoren von Schreibaufrufen eine Zivilisierungsstrategie. Gezeigt wird, wie durch die Autobiographieprojekte neue Parameter für biographischen Erfolg entstanden und sich eine Leistungsspirale in Gang setzte. Durch autobiographisches Schreiben sollte beständige Selbstkontrolle eingeübt werden, mit der sich Trieb- und Affektimpulse überwachen ließen. Bei der Setzung neuer Normen konkurrierten die Wissenschaftler nicht nur miteinander. Sie standen zudem im Wettstreit mit Institutionen wie der orthodoxen Kirche, die in ihren Publikationen den Anspruch erhob, die Lebensvorstellungen der ›Unterschichten‹ aus- und abbilden zu können. Die Zivilisierung des bäuerlichen Subjekts war bei Rubakin und Jacimirskij gegen die alten Besitz- und Bildungseliten gerichtet: Arbeit und Leistung, über die die Bauern in ihren Autobiographien Rechenschaft ablegten, stellten aristokratischen Müßiggang an den Pranger. ›Bäuerliche‹ Natur stand gegen leere Etikette, erworbenes Wissen gegen überkommene Rechte, kluge Zeitökonomie gegen Faulenzerei. Der Ruf nach Selbstverantwortung, der in allen Schreibaufrufen hörbar wurde, setzte die Autobiographen aber auch unter Druck. Die Schreibaufrufe gaben Richtlinien vor, die den Weg zu Anerkennung und Wohlstand wiesen. Wer scheiterte, hatte versagt und zu wenig geleistet. Er brauchte auch keine Autobiographie mehr zu verfassen, denn ihm gebührte keine Aufmerksamkeit mehr. Immer häufiger galt es für die Autobiographen als Versagen, sich nicht vom Herkunftsmilieu losgesagt zu haben und immer noch auf bäuerliche Arbeit angewiesen zu sein. Wie der Wandel im autobiographischen Schreiben und die Briefe zwischen Rubakin sowie Jacimirskij und den Bauern zeigen, konnten die äußeren Lebensumstände immer seltener für das eigene Scheitern verantwortlich gemacht werden. Zweitens wird in den beiden folgenden Unterkapiteln untersucht, welche Rolle die Aneignung von Fertigkeiten bei der Bemessung biographischen Erfolgs spielte. Wie veränderten sich mit ihnen die Semantiken der Selbst- und Fremdverortung? Nicht nur innerhalb Rubakins Autobiographieprojekt, sondern auch im Verhältnis zu Jacimirskijs Projekt wuchsen die Ansprüche an autobiographisches Schreiben und wurde die Meßlatte für biographischen Erfolg immer höher gelegt. Ließ sich in den 1880er und 1890er Jahren noch Aufmerksamkeit erringen, weil man als Bauer
299 Ožegov, Pis’ma k Rubakinu, N.A., RGB f. 358 260.20, 1892-1912, l. 32ob.
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lesen und schreiben konnte, so stiegen mit den Erfolgen in Selbstbildung und Alphabetisierung die Erwartungen. Nun genügte es nicht mehr, als ein um Bildung bemühter Leser und Autodidakt das Wort zu ergreifen. Unter Jacimirskij musste besonderes Talent bewiesen werden; auch einfache Bauern sollten wohlklingende Verse schmieden oder bedeutende Erfindungen machen. Eine Untersuchung der Autobiographieprojekte als Mittel der Zivilisierung blickt vor allem aus der Perspektive der Initiatoren auf die Selbstzeugnisse. Diese Blickrichtung greift jedoch zu kurz, sie degradiert die Korrespondenten zu Objekten. Es soll als dritter Aspekt auch gezeigt werden, wie es den Bauern gelang, Partizipationsansprüche durch das Antworten auf Schreibaufrufe zu erheben. Vor der Liberalisierung der Pressegesetze 1905 waren die Autobiographieprojekte und die Briefwechsel für die Bauern ein Forum, mit dem sie Aufmerksamkeit für ihre Person erzeugen und Öffentlichkeit für ihre Belange herstellen konnten. Der Aspekt der Öffentlichkeit verweist auf die vierte Perspektive, die den Sammler und seine Bemühungen um Überlieferung und Archivierung in den Mittelpunkt stellt. Durch einen Vergleich der beiden Projekte kann gezeigt werden, welche bedeutende Rolle den Initiatoren und Sammlern zukam, um Öffentlichkeit für die Lebensgeschichten ihrer Korrespondenten zu erzeugen. Obgleich es Rubakin und auch Jacimirskij gelang, die Autobiographien ihrer Korrespondenten zu archivieren und zu überliefern, so war der Grad ihrer Öffentlichkeit sehr verschieden. Die Bauern, die für Jacimirskij ihr Leben beschrieben, konnten mit diesem Schreibprojekt nur wenig Aufmerksamkeit gewinnen. Der Name Jacimirskij versprach fast kein Prestige. Ihm war es nicht gelungen, seinen Namen in die Sammlung einzuschreiben. Dagegen war die Beziehung zwischen Rubakin und den Autobiographen nicht nur ein bedeutender Bestandteil in den Autobiographien seiner Korrespondenten, seine Sammlung war auch eng mit seinem Namen verknüpft. Der Rückgriff auf Althussers Anrufungsszene bietet sich erneut an, um die beiden nächsten Unterkapitel zu strukturieren: Zuerst wird die Entstehungsgeschichte der Autobiographieprojekte dargestellt und gezeigt, wie Rubakin und Jacimirskij ihre Korrespondenten anriefen. In einem zweiten Schritt wird beleuchtet, wie sich die Bauern umwandten. Dabei wird besonders häufig auf die Autobiographien Matvej Ožegovs und Ivan Ivins rekurriert, die sich mit ihren Lebensgeschichten sowohl an Rubakin als auch an Jacimirskij gewandt hatten. Lesen und Leben Es gibt zahlreiche Aufsätze und Bücher, die dem Leben und Wirken Nikolaj Rubakins gewidmet sind. Immer wieder fanden seine Bemühungen um die Popularisierung von Wissen sowie seine publizistische Tätigkeit Aufmerksamkeit. Die ›Objek-
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te‹ seiner Untersuchungen gerieten jedoch bisher kaum ins Blickfeld.300 Das folgende Teilkapitel möchte die bisherige Forschung ergänzen, indem es sowohl Rubakin und seine Korrespondenten als auch die Kommunikation zwischen ihnen in den Blick nimmt. Als Quellengrundlage für meine Untersuchung dienen mir 22 Autobiographien, die Bauern seit den 1880er Jahren bis in die Mitte der 1930er Jahre hinein an Nikolaj Rubakin gesandt haben. Im Nachlass befinden sich zudem noch ungefähr 20 Kurzautobiographien von Bauern, die als Rekruten in einer Garnison in Kronštadt ihren Dienst verrichteten. Es scheint, dass die jungen Soldaten die Texte in den 1880er Jahren im Rahmen ihres Diensts verfasst haben und sie gesammelt an Rubakin geschickt worden sind. Wortkarg schildern die Rekruten die geographische Beschaffenheit ihres Herkunftsorts, die dortigen landwirtschaftlichen Bedingungen, Familienverhältnisse, ihren Bildungsweg sowie den Rekrutenalltag. Diese Autobiographien bestätigen, dass vor allem die Kinder sozial benachteiligter Familien Kriegsdienst leisten mussten. Selbst standen die Rekruten mit Rubakin nicht im Briefwechsel.301 Begleitet, angeregt und eingefordert wurde die erste Gruppe der Autobiographien in einem Briefwechsel, der mehrere hundert Briefe umfasst, wobei bis in die 1920er Jahre hinein fast vollständige Briefüberlieferungen vorliegen, da Rubakin seine Schreiben als Kopien aufbewahrt hat. Zeitlich weist der Bestand Schwerpunktsetzungen auf. Ab dem Ersten Weltkrieg sind in ihm nur noch vereinzelt Autobiographien vorhanden. Erst zu Beginn der 1930er Jahre nehmen die autobiographischen Texte wieder zu. Heute befinden sich die Quellen in der Moskauer Staatsbibliothek, wohin zwei Drittel von Rubakins Nachlass aus der Schweiz gegen Zahlung einer Pension an seine Assistentin Marija Betman gelangten. Das andere Drittel ging nach ihrem Tod verloren.302 Trotz der Verluste besteht die Möglichkeit, das
300 Die russischen Publikationen erschöpfen sich in einer Leistungsschau, welche Rubakins Bedeutung an den beeindruckenden Zahlen seiner publizistischen Tätigkeit demonstriert: Mavriþeva, Rubakin; Rubakin, Rubakin; Razgon, Pod šifrom »Rb«. Problemorientierter: Andrews, Rubakin; Andrews, Science for the Masses, 61-126; Senn, Nicholas Rubakin; Senn, Rubakin’s Library. Sowohl sein Leben als auch seinen Nachlass stellen die Mitarbeiterinnen der Handschriftenabteilung in der Lenin-Bibliothek in ihrem instruktiven Überblick vor: Ivanova, Sidorova, ýarušnikov, Archiv N.A. Rubakina, 63206. Allein Brooks wendet sich in seiner Studie den konkreten Autobiographien Matvej Ožegovs und Ivan Ivins zu, die zu Rubakins Korrespondenten gehörten: Brooks, When Russia Learned to Read, 82-91. 301 Die Autobiographien der Soldaten befinden sich gesammelt unter der Signatur: RGB f. 358 24.19. 302 Senn, Nicholas Rubakin, 62.
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in Briefen geführte Gespräch zwischen Rubakin und den Bauern in allen Einzelheiten und mit all seinen Wendungen nachzuhören. Anrufungen – Wer liest was? Die Autobiographien sind Nebenprodukt eines großen Forschungsunternehmens, welches der Sozialrevolutionär Rubakin in den 1880er Jahren begonnen hatte. Sein Ziel war die soziologische Erforschung des russischen Lesers, die schließlich in einer ›Bibliopsychologie‹ münden sollte. Das Interesse am Leseprozess teilte Rubakin mit der experimentellen und pädagogischen Psychologie, deren amerikanische Vertreter in jenen Jahren ihren Blick auf ähnliche Fragen richteten.303 Rubakin sah die Ergebnisse seiner Forschung auch als Handreichung für jene Autoren, die für die breiten Massen schrieben: »Das Buch ist für den Menschen da, nicht umgekehrt.«304 So riet er Schriftstellern, die auch Bauern zu ihrem Lesepublikum zählten, den Teufel in ihren Erzählungen nicht zu erwähnen. Über ihn wollten die Bauern – so ein Resultat seiner Recherchen – keine Zeile lesen.305 Rubakin, der zwischen 1889 und 1928 mit einer Gesamtauflage von 20 Millionen Büchern einer der auflagenstärksten Publizisten des vorrevolutionären und frühsowjetischen Russlands war, gelang es überaus erfolgreich, seine wissenschaftlichen Erkenntnisse in die Praxis umzusetzen.306 Zusammen mit den Mitarbeitern einer von ihm gegründeten Organisation zur Erforschung der ›Volksliteratur‹ hatte er 1888 einen Fragebogen erstellt, der ein Jahr später unter anderem auch in der Zeitschrift Russkoe Bogatstvo erschien und der in 139 Fragen biographische Daten, Lektürevorlieben und Lesetempo abfragte.307 Sein Fragebogen reiht sich in eine Reihe ähnlicher Unternehmungen ein. Schon in den 1860er Jahren hatte Lev Tolstoj in der Zeitschrift Jasnaja Poljana Lehrer und Geistliche aufgefordert, auf seine Fragen zur Lesefähigkeit des Volks zu antworten. Später wandten sich Aleksandr Prugavin, Fürst Šachovskij sowie Christina Alþevskaja, eine Lehrerin aus Charkov’, mit ihren Fragebögen an Bauern,
303 Gibson, Levin, Die Psychologie des Lesens, 15-16. 304 Rubakin, Sredi knig. Tom 1, 7. 305 Rubakin, K charakteristike þitatelja i pisatelja iz naroda, 116. 306 Brooks, When Russia Learned to Read, 326. 307 Rubakin, Opyt programmy dlja issledovanija literatury dlja naroda. Einen Überblick über ähnliche Programme zur Erforschung des ›Lesers aus dem Volke‹ geben Brooks und Obolenskaja. Brooks, When Russia Learned to Read, 30; Obolenskaja, Narodnoe þtenie, 204-232.
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Kleinbürger, Geistliche und Lehrer.308 Nutzen und Nachteil der einzelnen Leseprogramme wurde in den 1880er und 1890er Jahren in den Zeitschriften intensiv diskutiert, während die bäuerlichen Korrespondenten die Unterschiede zwischen den Programmen nicht immer entdecken konnten. Rubakin bekam auch Antworten auf den Fragebogen Was liest das Volk? von Aleksandr Prugavin zugeschickt, der ein Jahr früher publiziert worden war und Rubakin als verbesserungswürdiges Vorbild gedient hatte.309 Rubakin kritisierte die Programme Prugavins und Šachovskijs dafür, ihre eigene Rolle als Sammler nicht genügend zu beachten. Sie würden als Fragende die Antworten bereits vorgeben. Zudem kapriziere sich Prugavin allein auf die Bauern. Andere Bevölkerungsschichten habe er nicht im Blick. Šachovskij hingegen bezog in der Kritik Rubakins die Lebensbedingungen der Bauern nur ungenügend ein. Er interessiere sich allein für den Lernort Schule, der für viele Bauern keine Rolle spiele.310 Die gute Resonanz auf seinen Fragebogen brachte Rubakin dazu, wiederholt auf diese Weise mit seinen Lesern in Kontakt zu treten: 1910 erschien ein Fragebogen im Novyj žurnal dlja vsech, 1912 im Russkoe Slovo, ein Jahr später im Vestnik Znanija.311 Rubakin nutzte die eintreffenden Antworten, um mit Bauern, Soldaten, Arbeitern, Schülern und Lehrern in einen Briefwechsel zu treten. Dabei antworteten die Lehrerinnen am eifrigsten, Sanitäter und Geistliche am zögerlichsten. Fabrikarbeiter und Bauern nahmen eine Mittelposition ein: Unter den 458 Antworten, die er zwischen 1889 und 1894 auf die erste Version seines Programms erhielt, stammten 91 von Fabrikarbeitern, 58 von Bauern.312 Zwischen 1889 und 1907 korrespondierte er mit fast 5.200 Lesern, die er im Verlauf des Schriftwechsels aufforderte, eine ausführliche Autobiographie zu verfassen. Diesen Briefwechsel konnten weder seine Verbannung nach Rjazan’ in den 1890er Jahren noch seine Emigration 1907 in die Schweiz unterbrechen. Bereits in der Schweiz wohnhaft, gelang es Rubakin zwischen 1911 und 1915, die Zahl seiner Korrespondenten auf 5.507 auszubauen. Der Austausch mit seinen Korrespondenten überwand nicht nur Landesgrenzen, sondern sogar Ozeane. Rubakin unterstützte den 25 Jahre alten Bauernsohn Ivan Šipuk aus dem Gouvernement Grodno, der sich 1925 einem drohenden Gefängnisaufenthalt durch Emigration nach Uruguay entzogen hatte. Kaum der russischen Schriftspra-
308 Obolenskaja, Narodnoe þtenie, 204; Die Ergebnisse von Prugavins Programm sind referiert in: Prugavin, Zaprosy naroda i objazannosti intelligencii, Fragebogen: 218-229. 309 Ivanova, Sidorova, ýarulinikov, Archiv N.A. Rubakina, 69; Želtov, Otvety na »Opyt programmy dlja issledovanija literatury dlja naroda« (1889-1894), RGB f. 358 227.25, 1892. 310 Rubakin, Opyt programmy dlja issledovanija literatury dlja naroda, 293. 311 Ivanova, Sidorova, ýarušnikov, Archiv N.A. Rubakina, 117. 312 Rubakin, Ơtjudy russkoj þitajušþej publike, 8.
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che mächtig, ersuchte er Rubakin, ihm ein Curriculum zu erstellen, »damit er sich selbst regieren kann«.313 Rubakin schrieb ihm Briefe, in denen er ihn bat, auf Rechtschreibung zu achten und Bücher über Autodidakten wie Thomas Edward zu lesen. Die Lebensgeschichte des schottischen Schusters, der sich in seinen Mußestunden den Naturwissenschaften hingegeben und dadurch Meriten als Biologe erworben hatte, war durch Samuel Smiles’ Self-Help in ganz Europa bekannt geworden.314 Šipuk solle sich zudem einen Lehrer in Uruguay suchen. Zu schwierig sei es, über 6.000 Werst hinweg Anweisungen zu geben.315 Der Erste Weltkrieg schränkte den Briefwechsel zwischen Rubakin und seinen Partnern stark ein, viele seiner Korrespondenten hatten in dieser Zeit keine Möglichkeit mehr, den Austausch fortzuführen.316 In den 1930er Jahren war die Verbindung nach Russland brüchig geworden, der Zweite Weltkrieg zerstörte sie schließlich ganz. Rubakin wandte sich nun dem französischen Leser zu. In seinen Arbeiten schloss Rubakin an eine Theorie zur Autorschaft und Rezeption des französischen Literaturkritikers Emile Hennequin an, dessen Anliegen es war, die Literaturkritik und damit auch die Literatur selbst durch die Verbindung mit der Medizin und der Psychophysiologie aus einer Existenzkrise zu befreien und zur positiven Wissenschaft zu erheben. In einer critique scientifique hatte Hennequin den Versuch unternommen, einerseits die letzten Ursachen eines Werks in den physiologischen und anatomischen Dispositionen ihres Schöpfers zu suchen, andererseits gegen das literaturwissenschaftliche Paradigma der Einheit von Leben und Werk aufzubegehren. Ähnlich wie siebzig Jahre später in den Konzeptionen von Umberto Eco und Hans Robert Jauss war für den französischen Literaturkritiker das Werk nicht allein das Ergebnis biographischer und sozialer Determinanten.317 Seinen Zeichencharakter erhalte es als opera aperta erst durch seinen Leser. Die Wirkung, die es auf ihn ausübe, mache es zu dem, was es sei und immer wieder neu
313 Šipuk, Biografija, RGB f. 358 288.28, 1928-1930, l. 15. 314 Secord, »Be what you would seem to be«, 147-173; Smiles, Self-Help, 8-9. 315 Šipuk, Biografija, RGB f. 358 288.28, 1928-1930, l. 31-35. 316 Die Zahlen werden in der von seinem Sohn verfassten Biographie referiert, die sich dabei höchstwahrscheinlich auf eine im Nachlass aufbewahrte Autobiographie stützt. In dieser Autobiographie bezifferte Rubakin die Zahl seiner Korrespondenten zwischen 1911 und 1915 auf 5.307. Rubakin, Rubakin, 11; Rubakin, Nikolaj Aleksandroviþ Rubakin – Avtobiografija, RGB, f. 358 346.2, l. 31-32. Nach Auskunft der Mitarbeiter in der Handschriftenabteilung der Moskauer Leninbibliothek sind die meisten Briefe für die Jahre zwischen 1910 und 1916 erhalten. Ivanova, Sidorova, ýarušnikov, Archiv N.A. Rubakina, 117. 317 Hennequin, La critique scientifique. Hennequins Arbeit erschien 1892 auf Russisch: Genneken, Opyt postroenija nauþnoj kritiki.
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werden könne.318 Rubakin, als Narodnik sensibel für die Kraft, die in dieser Theorie lag, ging die von Hennequin vorgeschlagene Wende – vom Autor zum Leser – mit. Während es Hennequin durch seinen frühen Tod 1888 versagt blieb, seine Theorie durch Empirie abzusichern, fand Rubakin im jährlich wachsenden Lesepublikum des Zarenreichs zahlreiche Möglichkeiten, sie sowohl auf erfahrene als auch auf wenig erprobte Leser anzuwenden. Rubakin wollte zeigen, dass Lesevorlieben und Lesarten direkter Ausdruck bestimmter Vorbedingungen sind, die sowohl in den Lebensbedingungen des Lesers als auch in seiner Anatomie und Physiognomie gründen. Wie und mit welcher Wirkkraft sie auf den Leser zurückwirken und welche Rolle die Individualität sowie die Emotionen des Einzelnen bei diesem Prozess spielen, versuchte er mithilfe von Autobiographien, Fotografien sowie mit den Briefen seiner Leser und Korrespondenten zu erkunden. Er bat seine Korrespondenten, ihm im Austausch gegen seine eigene Fotografie ein Lichtbild zuzusenden. Großes Gewicht maß er dem Text bei, den erst der Leser im Lektüreakt zwischen die Zeilen schreibe. Die Exegese des Nichtgeschriebenen betrieb auch ein Heizer, den Rubakin in einem Vortrag als Beispiel für die kreative Produktivität des Lesers anführte. Jener erkannte sich und sein Milieu in einem zoologischen Buch über Lemminge wieder, die auf ihren Wanderungen Kälte und Hunger auf sich nehmen müssen. »Ist denn wirklich von Tieren die Rede? Es ist über uns, nicht über Tiere. So wie in den Fabeln, wo auch Tiere handeln.«319 Im autobiographischen Schreiben sah Rubakin als Anhänger der positiven Philosophie und als Sozialrevolutionär nicht nur ein einprägsames Medium für Sozialkritik, sondern auch ein pädagogisches Mittel geduldiger Aufklärung, durch die Bauern und Arbeiter für den Sozialismus gewonnen werden könnten.320 Auch ihm galt Autobiographie und Tagebuch als ›Technologie des Selbst‹, als Trainingsmittel, um die eigenen Kräfte zu erproben, auszubilden und zu kontrollieren.321 Er zollte seinen Korrespondenten besonderes Lob, wenn sie in ihren Autobiographien berichteten, dass sie auch Tagebuch schrieben.322 Manch einer sandte Rubakin sogar Ausschnitte aus seinem Tagebuch zu.323
318 Hoeges, Literatur, 120-123. Siehe auch: LeGouis, Three Versions. 319 Rubakin, Bor’ba naroda, 251. 320 Rubakin war bis 1909 Mitglied der Sozialrevolutionären Partei (PSR). Die Affäre um Evno Azef war für Rubakin der Anlass, die Partei zu verlassen und dem Terrorismus abzuschwören. »Eine saubere Sache« – so Rubakin in seiner Autobiographie – »lässt sich nur mit sauberen Händen erreichen.« Rubakin, Nikolaj Aleksandroviþ Rubakin – Avtobiografija, RGB f. 358 346.2, l. 62. 321 Foucault, Technologien des Selbst, 26. 322 Rubakin; Betman, Pis’ma k Zin’kovskomu, V.M., RGB f. 358 172.37, 1926-1935, l. 10. 323 [Anonymus], Dnevnik-otryvok krest’janina, RGB f. 358 24.25, 1900 [?].
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In Rubakins Theorie der Selbsterziehung spielte die Beschreibung des eigenen Lebens schon vor der Jahrhundertwende eine zentrale Rolle. Besonders interessierte sich Rubakin für die Lebenswege von Autodidakten, die höchstens kurz, wenn überhaupt, eine Schule besucht hatten. Er ging davon aus, dass der Selbstbildung in einem Land, in dem es zu wenig Schulen gab, eine besondere Bedeutung zukomme. Die Autodidakten zeigten, – so Rubakin – was Bücher vermögen! Selbstbestimmte Bildung an allen Orten, unabhängig von Kirche, Schulen und elterlicher Zustimmung. Getreu seiner Devise, dass der Bauer zwar ein »armer Tropf, doch kein Dummkopf« sei und nicht eine besonders simple Literatur benötige, sondern vor allem preiswerte Bücher, stellte er individuelle Leseprogramme zusammen.324 Nach Angaben seines Sohns soll er 15.000 solche Lektüreempfehlungen verschickt haben, die nicht nur die Interessen seiner Korrespondenten, sondern ebenso ihre Lebensumstände berücksichtigten.325 Die Bauern dankten es ihm mit begeisterten Briefen, schickten ihm Autobiographien, Auszüge aus Tagebüchern sowie ihre ersten eigenen literarischen Versuche zu. Rubakin, das zeigt sich sowohl in den Briefen als auch in den Autobiographien, wandelte sich vom Wissenschaftler, den man höchstens als Autor preiswerter Broschüren und Büchlein kannte, zum Freund. Umwenden – Ich, der Leser Rubakin rief die Bauern als Leser an. Und als Leser wandten sie sich um. Das Nachdenken über das eigene Leseverhalten leitete eine umfassende Selbstreflexion an und ein.326 Dabei bildete das in existentiellen Metaphern beschriebene Verlangen nach Büchern (»Bücherhunger«, »Durst, der mit nichts zu löschen ist«)327 und die
324 »Net, narodu nužny ne narodnye knigi, a deševie, potomu þto on bednjak, a ne durak.« Rubakin, Ơtjudy russkoj þitajušþej publike, 142. 325 Rubakin, Rubakin, 95; Mavriþeva, Rubakin, 11. 326 Dass sich der Fragebogen als Biographiegenerator erwies, sah Rubakin deutlich. In einer Befragung aus den späten zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts nahm er erstmals die Verbindung von Formular und Selbstreflexion in seine Fragen auf. Die achtzigste Frage des unter der delphischen Maxime stehenden Fragebogens lautete: »What did you expect from this questionnaire: That it should help you to know yourself? That it should help you to choose your readings? That, by the chosen books, you should be able to know the life and world around you? Do you like to deepen your personality, to reflect about yourself, about your conduct?« Rubakin, Reader Know Thyself, 52. 327 Gurov, Avtobiografija, RGB f. 358 19.28, 1899, l. 2; Nazarov, [Pis’ma k Rubakinu, N.A.], RGB f. 358 256.53, Brief vom 25. Oktober 1926, l. 1; Šeltov, Otvety na »Opyt programmy dlja issledovanija literatury dlja naroda« (1889-1894), RGB f. 358 227.25, 1892, l. 4.
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schwer zu erreichende, jedoch umso kostbarer erlebte Befriedigung durch Lesestoffe die Eckpfeiler der Selbstbeschreibungen. Der sich unabhängig von Schule, Stand, Kirche und Familie selbst bildende und damit allein auf sich und sein Handeln zurückgeworfene ›Leser‹ als Leitbegriff einer nun wählbaren Biographie verweist vor allem auf eins: Er ist Indikator für das Zusammentreffen ländlicher und urbaner, personaler und anonymer Lebenswelten. Die Identität des Lesers wirkte gleichsam als Klammer, als Mittel der Enträumlichung, mit der sich die getrennten Lebensbereiche – Stadt und Dorf – verbinden ließen. Mit ihm konnten die Autobiographen über örtliche, soziale und familiäre Bruchsituationen hinweg schreiben. Dank der Möglichkeit zur Lektüre gelang es Vasilij Zin’kovskij, so jedenfalls seine Autobiographie, einem physisch und psychisch als Grenzerfahrung geschilderten Gefängnisaufenthalt einen tieferen Sinn abzugewinnen. Die gebildeten Mithäftlinge, auf die er dort traf, »verstärkte[n] meine Meinung, dass man in allen Situationen etwas Nützliches und Schönes finden kann. Daher begann ich auf alles ruhiger zu schauen.«328 Die Selbstbeschreibung als Lesender ermöglichte Kohärenz im schriftlich niedergelegten Leben, welche die erhoffte Verbundenheit der Gesellschaft, ungeachtet von Besitz, Stand und Klasse, vorwegnahm. Der Bezug auf das Buch überbrückte in den Lebensbeschreibungen und Briefen soziale, politische und religiöse Interessengegensätze. Er war nicht nur eine Möglichkeit, die Abstände zwischen den Ständen zu verringern, sondern erwies sich in den Autobiographien auch als Mittel, um die Diskrepanz zwischen soslovie und sostojane, zwischen staatlich dekretierter ständischer und berufsständischer Zugehörigkeit aufzulösen.329 Weder Stand, Beruf noch Einkommen waren für den Identitätsentwurf als Leser entscheidend. Der Austausch von Lektüren – gedruckt oder selbst verfasst – ergriff, so die Lebensbeschreibungen und Briefe der Bauern, alle Schichten. Adlige gaben Zeitungen an Bauern weiter, Kaufleute sprachen mit Wanderarbeitern über das gemeinsam Gelesene, Bauern schickten ihre eigenen Gedichte an Zeitschriften, bisweilen sogar an den Zarenhof. So ließ sich denn auch Großfürst Konstantin Konstantinoviþ nicht lumpen und sandte dem Autodidakten Matvej Ožegov, der nach dem Verlassen des Dorfs als Kassierer bei der Eisenbahn arbeitete, als Antwort auf seine Lieder ein prächtiges Holzkistchen.330 Schon die Postgebühr schlug mit fünf Rubeln zu Buche, doch der Schatz, den es barg, war von noch viel höherem Wert: die Gedichte seiner Hoheit.331
328 Zin’kovskij, Biografiþeskie zametki, RGB f. 358 230.36, l. 16. 329 Schmidt, Über die Bezeichnung, 211. 330 Der Großfürst Konstantin Konstantinoviþ Romanov hat den Austausch mit ›Dichtern aus dem Volk‹ gesucht. Auch mit Spiridon Drožžin stand er in Kontakt. Der gleichfalls dichtende Großfürst empfing Drožžin 1912 zu einer Audienz (siehe Kap. 2.2). 331 Ožegov, Pis’ma k Rubakinu, N.A., RGB f. 358 260.20, Brief vom 15. März 1896, l. 2429ob.
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Zu der Selbstbeschreibung als Leser gehörten drei narrative Elemente, die alle Korrespondenten gebrauchten, um an Rubakin zu schreiben. Erstens zeichneten sie sich als Grenzgänger zwischen städtischer und dörflicher Lebenswelt. Obgleich sich die ausgewählten Korrespondenten als ›Bauern‹ bezeichneten, bewegten sie sich in ihren Autobiographien wie selbstverständlich zwischen Stadt und Dorf. Dabei entwarfen sie ein düsteres Bild von der Stadt, die in ihren Texten eine Gefahr für Moral und Sitten darstellte. Die Stadterfahrungen erlaubten es diesen bäuerlichen Autobiographen, wie schon Spiridon Drožžin zur selben Zeit, ihre Geschichte als eine Geschichte des ›trotzdem‹ zu erzählen. Trotz der harten Arbeit, der knapp bemessenen Zeit und der sexuellen Versuchungen waren sie moralisch nicht gefallen, sondern hatten alle Leidenschaft für ihre Bildung aufgewandt. Zudem ließ sich an der Nähe des Stadt- und Dorflebens zeigen, dass die Kategorien brüchig geworden waren, die eine Einbindung in Gruppenstrukturen wie Familie, Dorfgemeinschaft, Stand und auch Geschlechterrolle gewährleisteten. Rubakins Angebot, ihm in Briefen und Autobiographien über ihr Leben zu berichten, schien besonders auf jene verlockend zu wirken, die glaubten, dass für ihr Leben die ›Normalbiographie‹ eines Bauern nicht mehr recht griff. Häufig beschrieben seine Korrespondenten, wie ihre angeblich ›nicht bäuerlichen‹ Interessen sie vermeintlich sicherer Identitätszuschreibungen enthoben. In den Autobiographien gaben sie ihrer Unsicherheit darüber Ausdruck, ob sie noch ›echte‹ Bauern seien. Ein Korrespondent Rubakins, der seinen Namen nicht preisgab, beschrieb in seinem Tagebuch, wie ein Geistlicher ihn beim Schreiben entdeckte: »›Was schreibst du?‹ Ich antworte, dass ich Papier beschreibe. ›Aber was schreibst du auf das Papier?‹ ›Wörter‹, sage ich. ›Darf man neugierig sein?‹ Ich gab ihm eine Seite, er schaute sie sich an und fragte: ›Aus welchem Stand sind Sie?‹ – Aus dem Bauernstand (iz krest’jan), antworte ich.«332 Nachdem der Geistliche die Blätter gesehen hatte, schien das ›du‹ als Anrede nicht mehr zu passen. Die Selbstthematisierung als ›Leser‹ und ›Schreibender‹ war vor allem für jene reizvoll, denen durch die beschleunigte Säkularisierung ihrer Lebenswelten eine Selbstbiographie in hagiographischen Biographiemustern versagt blieb und für die das sich in seiner ganzen Wirkmächtigkeit erst nach 1917 entfaltende Identitätsangebot des Arbeiters noch nicht bereit stand. Die in Rubakins Sinne beschriebene Harmonie des Austauschs von Lektüren täuscht über die in den Briefen und Autobiographien bisweilen anklingende Disharmonie zwischen den Briefpartnern hinweg. Eine Verschiedenheit, die sich darin manifestierte, wer denn nun der Vorreiter auf dem Weg zum gemeinsamen Ziel sei.333 Obgleich Rubakin und die Bauern die Utopie einer egalitären, von stän-
332 [Anonymus], Dnevnik-otryvok krest’janina, RGB f. 358 24.25, 1900 [?], l. 3ob. 333 Strittig waren zwischen den bäuerlichen Korrespondenten und Rubakin auch Fragen der Religion sowie das Verhältnis zu Obrigkeit und Kirche. Einige Bauern äußerten starke
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discher und staatlicher Bevormundung freien Gesellschaft teilten, deren Vorstufe die Einheit des Lesepublikums war, treten in den Autobiographien und Briefen zwischen Rubakin und den Bauern bisweilen Unterschiede zu Tage. Rubakin hoffte, dass sich die Einheit des Lesepublikums verwirklichen könnte, indem sich Intelligencija und ›Volk‹ (narod) aufeinander zu bewegten.334 Dennoch blieb das Ziel an den Ideen der Intelligencija ausgerichtet und forderte dem narod vor allem eins ab: Anpassung. Während die Intelligencija ihren Beitrag durch die Erforschung der ›Volksliteratur‹ leistete,335 sollten die Bauern sich durch ihren Lerneifer, das »Streben nach oben, vorwärts und zum Licht« den Idealen der Intelligencija angleichen. Sie sollten zur »Volksintelligencija« werden, der Rubakin sogar revolutionäre Kräfte zutraute.336 Dabei sei die Entfernung zwischen den beiden Parteien, so Rubakin, gering. Die privilegierten Schichten seien in ihrem Streben nach Wissen längst nicht so herausragend, die Bauern und Wanderarbeiter keineswegs so schlecht.337 Während sich für Rubakin der ideale Leser in den Kriterien des Bildungsideals der Intelligencija erschöpfte, zu der der bäuerliche Leser aufzuschließen hatte, radikalisierten die Bauern in ihren Lebensentwürfen das Bild des Lesers. Sie stellten sich in ihren Erzählungen als die Vorreiter einer neuen Gesellschaft dar. Der bäuerliche Leser zeichne sich nicht nur durch die wohlbekannten Tugenden der Intelligencija – wie Bemühen um Bildung, Mitgefühl und Handeln für das Gemeinwohl – aus. Nein, er übertreffe sie sogar in Moral und Leistung! Den Ausschweifungen der privilegierten Schichten, für die Lektüre und das eigene Handeln, so die Klagen der Bauern, doch getrennte Bereiche blieben, stellten sie eine vermeintlich eigene Ethik entgegen, die jedoch uneingestanden das Intelligencija-Klischee spiegelte. Auch ihre Werte basierten auf vornehmlich männlich konnotierten Eigenschaften wie Ausdauer, Rationalität sowie Zielstrebigkeit und mussten sich im Ringen um ein
Kritik an Rubakins materialistischem Weltbild sowie an seinem optimistischen Humanismus. 334 ›Narod‹ definierte Rubakin nach Bildungskriterien, während materieller Besitz in seiner Begriffsbestimmung keine Rolle spielte. Zum ›narod‹ gehörten in seiner Definition Bauern, Arbeiter und Kleinbürger, die keine oder höchstens Elementarschulbildung erhalten hatten. Rubakin, Opyt programmy, 9. 335 So stellte er seinem Programm zur Erforschung der ›Volksliteratur‹ ein Zitat von Jakov Abramov voran, der die Erforschung des ›narod‹ als Grundaufgabe der Intelligencija bezeichnet hatte, wenn sie Intelligencija bleiben wolle. Rubakin, Opyt programmy, 3. 336 Rubakin; Betman, Pis’ma k Zin’kovskomu, V.M., RGB f. 358 172.37, l. 20ob; Rubakin, Pis’ma Rubakina (Šablij), RGB f. 358 286.56, l.9. 337 So wehrte sich Rubakin gegen die Vorstellung, dass die Literatur für das Volk ähnlich wie für Kinder vor allem einfach zu sein habe. Rubakin, K charakteristike, 113; Rubakin, Ơtjudy russkoj þitajušþej publike, 150.
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Einkommen, um Wissen und Erfolg jeden Tag aufs Neue behaupten. Ihre Vorrangstellung und damit ihr vordringliches Mitspracherecht gründeten die an Rubakin schreibenden Bauern, dies ist die Essenz des zweiten Erzählmoments, auf eine kämpferische, im Sexuellen und im Konsum jedoch beherrschte Männlichkeit. Einer Selbstzügelung, die sie sowohl den gebildeten Privilegierten als auch den noch ungebildeten, nichtschriftkundigen Arbeitern und Bauern absprachen. Anstatt wie die anderen Wanderarbeiter in den Städten neue Freiheiten auszuleben, zogen sich die an Rubakin schreibenden Bauern lieber mit einem guten Buch in ihr Bett zurück.338 Der weiblichen Versuchung, die sich für den jungen Wanderarbeiter Ivan Minaev in der Frau seines Dienstherrn personifizierte und die ihn eines Abends im Dunklen heimsuchte, umarmte und »unbarmherzig küsste«, widerstand er. Während Minaevs Freunde sich mit »Kurtisanen« trafen und dem Alkohol frönten, zeichnete er sich als sparsamen und enthaltsamen Zeitgenossen. Viel Platz verwendete Minaev, um zu erklären, dass seine Syphiliserkrankung nicht die Folge eines leichtfertigen Lebenswandels sei. Sie rühre von verschmutztem Essgeschirr her, aßen doch die Wanderarbeiter alle aus einer Schüssel. Mehrfach betonte er, dass die Krankheit seine Geschlechtsorgane nicht befallen habe.339 Während Rubakin Toleranz und Moral auf einer bisweilen sehr abstrakten Ebene predigte, schilderten die Bauern sich als dem Alkohol und dem Tabak sowie dem Liebesleben entsagende Leser und Schreiber, die, wie auch Drožžin in seinen publizierten Autobiographien, alle Kraft und Leidenschaft für ihre eigene Gelehrtheit sowie für die Bildung ihres Umfelds aufwandten. Ihre besondere Arbeitsleistung und Arbeitskraft sollten die Stimmen der Privilegierten zum Schweigen bringen und ihre eigenen umso lauter ertönen lassen. In einer Philippika äußerte der schon oben erwähnte Matvej Ožegov seinen Unmut über die »privilegierte Intelligencija«, die zwar an schreibenden Autodidakten Gefallen finde, sie jedoch nicht in dem Maße unterstütze, wie es notwendig wäre. Dabei gerieten seine Ausführungen auch zu einer Abrechnung mit Rubakin, der auf die Briefe der Bauern mit großen Verspätungen antwortete und ihre Autobiographien, Gedichte und Erzählungen – so die häufig geäußerte Klage – nicht zurückschickte. Auch seine Unterstützung empfanden die Bauern mitunter als recht launig und ließ manchen Briefwechsel – vor allem sobald Rubakin Autobiographie und Fotografie erhalten hatte – ins Leere laufen: »Was brauchen ›diese Herren‹ [die schreibenden Autodidakten, J.H.]? – könnte man mich fragen. Sie brauchen allein Gerechtigkeit. Dass man sie in den bekannten Redaktionen nicht verrät und ihre Werke in den Papierkorb wirft, ohne sie gelesen zu haben. Oder, was noch schlimmer ist, unter folgenden Vorwand einfach zu ihrem Nutzen ›konfisziert‹, ohne sie je
338 Vasil’ev, Moja ispoved’, RGB f. 358 19.10 l. 1-6, 1893, l. 2ob. 339 Minaev, Avtobiografija krest’janina, RGB f. 358 21.8, 1894-1898, l. 54ob.
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zurückzugeben: ›Der Abdruck der Handschriften fand nicht die Billigung der Redaktion. Sie werden nicht zurückgesandt.‹ Man sollte ihnen [den bäuerlichen Schriften, J.H.] einen würdigen Platz in den Gazetten und Zeitschriften einräumen, und zwar anstelle jener ›Glückspilze‹, die auf der Sonnenseite des Lebens stehen und gewöhnlich über Kleinigkeiten schreiben: Darüber wie sie gereist sind, mit einigen humoristischen Abenteuern, was sie in den Hotels und den Gaststuben getrunken und gegessen haben, ihre Gespräche mit dem Dienstmädchen, den Kutschern und Lastenträgern, die sie geführt haben, um das ›Leben‹ zu erfahren. Wie sie sich ohne Grund nach etwas sehnen, sich vergnügen und in den Kurorten verlieben, wie sie Bekanntschaften machen und mit ebensolchen Müßiggängern über sich schwätzen.«340
Was das Selbstbild der Bauern und Rubakins Bild des bäuerlichen Lesers jenseits aller mitunter durchscheinenden Konflikte jedoch verband, war die Vorstellung, dass der bäuerliche Leser einem Funken gleiche, der ein großes Feuer entfachen könne. Ein Feuer, in dem das Alte verbrennt und Platz für Neues entsteht.341 Das dritte narrative Element, das sich in allen Autobiographien finden lässt, ist das Streben nach Gemeinwohl. Ausführlich beschrieben die Bauern die Einrichtung von Bibliotheken, Schulen sowie Zirkeln. Eingeübt wurde das Sprechen über Gemeinwohl auch durch einen Kniff Rubakins. Er zog sich teilweise aus dem Briefwechsel zurück und forderte seine Korrespondenten auf, sich einander zu schreiben, um sich gegenseitig beim Prozess der Selbstbildung zu unterstützen. Sehr oft gingen Rubakins Autobiographen auf dieses Angebot ein, wobei dies vor allem für die 1920er Jahre dokumentiert ist. Rubakin knüpfte damit an eine journalistische Praktik an, der sich Zeitschriften wie der Vestnik Znanija schon länger bedienten, zu deren Redakteursstab er gehörte. In der Zeitschrift, die vor allem Bauern und Arbeitern wissenschaftliche Sachverhalte auf unterhaltsame Weise darbot, gab es die Rubrik Gegenseitige Leserhilfe, in der ihre Leser Brieffreunde finden konnten, die ihre Interessen an Bildung und Büchern teilten.342 So berichten die Briefe häufig nicht nur über die direkte Lebenssituation ihrer Autoren, sondern gleichfalls darüber, was sich bei ihren Briefpartnern zugetragen hatte. Auch die Autobiographien erfuhren eine Wiederverwendung. Sie wurden erneut verfasst und nun auch dem Brieffreund zur Beurteilung überlassen. In Aleksej Nazarovs Urteil über die Autobiographie seines Briefpartners wird die Stimme Rubakins hörbar: Die Autobiogra-
340 Ožegov, Pis’ma k Rubakinu, N.A., RGB f. 358 260.20, Brief vom 24. April 1912, l. 35. 341 Rubakin, K charakteristike, 125. 342 Der Vestnik Znanija erschien zwischen 1903 und 1918. Herausgegeben wurde er von Vil’gel’m Bitner, einem Stabskapitän im Ruhestand, der sich sehr für Selbstbildung und populärwissenschaftliche Fragestellungen interessierte. Brooks, Popular Philistinism, 92-95.
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phie des jungen Manns aus Sibirien sei noch nicht reich an Inhalt.343 Dabei verlief die Auswahl der Briefpaten nicht willkürlich. Rubakin achtete darauf, dass sie nahe beieineinander wohnten und ihre »Typen«, die er aufgrund der Autobiographien, Lichtbilder und Leselisten gebildet hatte, sich ergänzten. Vasilij Zin’kovskij, den er als »synthetischen Typ« einschätzte, forderte er auf, mit einer gewissen Alla in Briefwechsel zu treten, die als analytischer Mensch die Dinge zwar durchschauen, jedoch nicht verbinden könne. Sie sei »unglücklich« und bedürfe der Hilfe eines Synthetikers, wie auch Zin’kovskij von dem Briefwechsel nur profitieren könne. Unter allen Menschen falle Synthetikern – Rubakin zählte sich selbst zu dieser Gruppe – das Leben am schwersten. Sie seien anfälliger für Sinnkrisen als die in seiner Einschätzung einseitigen Analytiker.344 Die Vernetzung durch den Briefwechsel sowie die in seinen Schriften exemplarisch vorgestellten Lebensläufe, die seinen Lesern als Vorbild und Gradmesser für ihr Tun dienen konnten, führten dazu, dass Rubakins Korrespondenten sich in ihren Lebensbeschreibungen als Gruppe präsentierten. Mitunter kannten sie sich auch persönlich, besuchten und schrieben sich.345 Es scheint für die Korrespondenten prestigeträchtig gewesen zu sein, andere Korrespondenten zu kennen. Stolz erwähnte zum Beispiel Ivan Minaev, dass er Matvej Ožegov auf einem Schiff getroffen habe, wo dieser ihm seine Gedichte und Aufsätze gezeigt habe.346 Die Korrespondenten übernahmen für ihr Autobiographie- und Briefnetzwerk Rhetoriken, die sie aus den Publikationen Rubakins sowie Zeitschriften wie Vestnik Znanija kannten. Auf diese Weise bildeten sie eine imagined community, deren Raum die Briefe waren, die keiner Satzungsordnung bedurfte und deren Mitglieder trotzdem ihr soziales Handeln auf gemeinsame Werte und Interessen zurückführten: »Die Nächsten sind weit weg, die Entfernten sind nah.«347 Zin’kovskij, enttäuscht von seiner zerrütteten Ehe und von der ohne seine Einwilligung vollzogenen Hochzeit seiner Tochter, glaubte, keinen Rückhalt in seiner Familie mehr zu finden. Er suchte Anerkennung und Unterstützung bei Rubakin und bei den von diesem vermittelten Briefpartnern, die seine Interessen und Ansichten vom Leben teilten.
343 Nazarov korrespondierte auch mit Bonþ-Brueviþ (siehe Kap. 3.1). Nazarov, [Pis’ma k Rubakinu, N.A.], RNB f. 358 256.53, 1926-1931, l. 12ob. 344 Rubakin; Betman, Pis’ma k Zin’kovskomu, V.M., RGB f. 358 172.37, l. 28, l. 31. 345 Nazarov kannte zum Beispiel Zin’kovskij. Zin’kovskij war zudem auch mit dem Korrespondenten Šablij bekannt. Zin’kovskij, Pis’ma k Rubakinu, N.A., RGB f. 358 230.38, 1930-1932, l. 6ob; Nazarov, [Pis’ma k Rubakinu, N.A.], RNB f. 358 256.53, 1926-1931, l. 21ob. 346 Minaev, Avtobiografija krest’janina, RGB f. 358 21.8, 1894-1898, l. 42ob. 347 Zin’kovskij, Pisma k Rubakinu, N.A., RGB f. 358 230.38, l. 17.
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Bildung war in den Autobiographien kein Selbstzweck. Zu der Selbstbeschreibung als Leser gehörte in den Autobiographien an Rubakin die Einrichtung von kleineren Bibliotheken, Schulen sowie Lese- und Autorenzirkeln.348 Nicht Bildungstitel und Besitztümer galten hier als Ausweis überlegener Leistungsfähigkeit, mit denen sie ihr Recht auf Mitsprache anmeldeten, sondern die eigene Bildung, die dem Gemeinwohl zugute kam. Nachdrücklich wiesen Rubakins Briefpartner auf ihre Erfolge hin. So wurde Ožegov, der selbst den Sprung vom bäuerlichen Autodidakten zum autodidaktischen Schriftsteller geschafft hatte, nicht müde, in seinen Briefen zu betonen, dass seine Familie in ihrer Hütte eine Dorfschule eröffnet habe. Rubakin solle keinesfalls vergessen, dies – falls er auch über ihn schreiben werde – zu erwähnen. Seine Autobiographie, die er ihm einige Monate zuvor zugesandt hatte, sei in diesem wesentlichen Punkt schon veraltet.349 Auch Ivan Ivin gab die Sorge um andere als Antrieb für sein Handeln an. Nicht aus Eigennutz – so die Autobiographie – wandte er sich der Lubokliteratur zu, deren Fehler er ausbessern und zu der er als Schriftsteller beitragen wollte: »Die ganze Zeit habe ich das Lernen nicht aufgegeben. Ich wollte etwas können und mit anderen mein Wissen teilen, vor allem mit meinen Bauernbrüdern.« Ivins Pläne, in seinem Dorf eine Schule zu errichten, durchkreuzte die Gräfin Uvarova, die ihm die Bekanntschaft mit Lev Tolstoj nicht verzieh.350 Rubakin und die mit ihm korrespondierenden Bauern schrieben an Individualitätsvorstellungen mit, die auch Bauern Verantwortung für ihr Leben zutrauten und zusprachen. Sie standen im Gegensatz zu den aus der Elite stammenden Imaginationen des russischen Bauern zwischen identitäts- und individuumsloser Passivität und egoistischer Aktivität.351 Rubakin und seine Korrespondenten propagierten stattdessen das Leben als vita activa, in der jeder Einzelne seines Glückes Schmied war. Erfolg galt als Beweis eigener Leistung. Wie Ratgeber, Benimmbücher und Kalender versuchten auch die Autobiographien das Ethos des Leistungserfolgs in der russischen Gesellschaft zu verankern, wobei sie nicht nur auf ihre Schreiber zurückwirkten, sondern Rubakin sie eingearbeitet in seine Publikationen auch einem
348 Vorbild war der Ende der 1860er Jahre gegründete Zirkel autodidaktischer Schriftsteller um Ivan Surikov. 349 Ožegov, Pis’ma k Rubakinu, N.A., RGB f. 358 260.20, Brief vom 25. Dezember 1893 sowie Brief vom 17. April 1894, l. 13, l. 15. 350 Ivin, Kratkaja avtobiografija (1850-1892), RGB f. 358 20.11, 1892, l. 2-2ob, Zitat: l. 2ob. 351 Frierson, Peasant Icons.
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großen Publikum zugänglich machte.352 Rubakin und seine Korrespondenten präsentierten anhand der Lebensgeschichten ein Ensemble von Techniken, zu denen neben Zeitmanagement auch schriftliche Selbstbeobachtung gehörte. Beide Techniken machten es den Schreibenden und ihren Lesern möglich, Leistung zu messen. Das Schicksal, das den einen in Lumpen, den anderen in Seide kleiden konnte, war in den Lebensbeschreibungen der Bauern und in den von Rubakin dargereichten Musterbiographien nicht gottgegeben und endgültig, sondern veränderbar. In diesem Anliegen waren sie Anleitung für den erfolgreichen Ausstieg aus dem eigenen Milieu und dienten über den Kreis der Briefschreiber hinaus als Vorbild für die Selbstpräsentation in autobiographischen Texten. Hierin korrespondierten die Selbstzeugnisse mit der kommerziellen populären Literatur, die sozialen Erfolg als Ergebnis gelungener Selbsttätigkeit sah. Dabei lassen sich personelle Übereinstimmungen feststellen. Einige bäuerliche Korrespondenten Rubakins wie Matvej Ožegov oder Ivan Ivin erreichten mit ihren Liedern und Erzählungen hohe Auflagen.353 Zudem, und dies erklärt den Erfolg dieses Schreibmodus, standen die Autobiographien im Dialog mit gleichartigen, literarisch tradierten Persönlichkeitskonzepten. Rubakin und seine Korrespondenten nannten die Werke von Nikolaj ýernyševskij, Fjodor Dostojewski und Lev Tolstoj nicht nur häufig in ihren Leselisten und Lektüreempfehlungen, sondern rekurrierten auf sie auch in ihren Autobiographien. Dabei fällt auf, dass Ende der 1920er Jahre die Referenzen auf ýernyševskij zurücktreten. Mit dem Ende der NƠP und dem Beginn der Zwangskollektivierungsund Entkulakisierungskampagnen suchten nun vor allem die Gewalt ablehnenden und ein erneuertes Christentum vertretenden Tolstojaner das Gespräch mit Rubakin. Ihre Interessen und Themen unterschieden sich von Rubakins früheren Korrespondenten. In ihren Briefen und Autobiographien war nun weniger von Bildung und Büchern die Rede. Auch Rubakins Fragen veränderten sich. Hatte er sich zuvor vor allem nach den Bildungsbemühungen erkundigt, befragte er nun seine Korrespondenten nach ihren religiösen Ansichten, nach ihrem Wahrheitsstreben und ihrem Seelenleben: »Wie, wann und warum begannen Sie die Wahrheit zu suchen […]«?354 Fast scheint es, dass Rubakin an die Stelle trat, die im Zarenreich und in der frühen Sowjetunion Bonþ-Brueviþ besetzt hatte. Der ›Sektenforscher‹ hatte seinen Ruf verloren, eine vertrauenswürdige Adresse für ›Sektierer‹ und damit
352 Neckel, Erfolg, 67; Kelly, Refining Russia. Rubakin reicherte alle seine Schriften über die Möglichkeiten der Selbstbildung mit biographischen Skizzen an. Beispielhaft: Rubakin, Krest’jane-Samouþki. 353 Brooks, When Russia Learned to Read, 269-286. 354 Rubakin, Pis’ma k Nazarovu, A.P., RGB f. 358 179.40, 1927-1931, l. 4. Nazarov zitierte Rubakins Fragen in einem Brief an Bonþ-Brueviþ: Nazarov, Pis’ma k BonþBrueviþu, V.D., RGB f. 369 306.8, 1929-1930, l. 5.
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auch für Tolstojaner zu sein. Rubakin hingegen wandte sich unter dem Einfluss seiner Korrespondenten und seiner zweiten Frau immer mehr den philosophischen Ansichten Tolstojs zu.355 Während es manch einem in diesen Jahren vor Erfolgen schwindelte, offenbarten Rubakin und seine Briefpartner voreinander ihre Schwächen, Ohnmacht und Angst. Das Biographiemuster des 1862 hinter Kerkermauern erdachten kampfbereiten, areligiösen ›neuen Menschen‹ aus ýernyševskijs Roman Was tun? hatten die Bol’ševiki mit ihren autobiographischen Großprojekten erfolgreich monopolisiert.356 Die Sowjetunion und der Anspruch auf Partizipation Mit diesen drei Erzählelementen – Nähe von Stadt und Land, Selbstzügelung und Streben nach Gemeinwohl – legitimierten die Bauern ihr Sprechen über das eigene Leben und meldeten Anspruch auf Mitsprache an. Die Bauern, die Rubakin mit Materialien versorgten, nutzten seine Publikationen als Stimme, um auf Notlagen zu verweisen, während die Briefe und Autobiographien der Bauern Rubakin als Argumentationshilfe dienten, um die Versäumnisse der Autokratie aufzuzeigen. Rubakin hat beispielsweise bäuerliche Texte genutzt, um auf die Hungersnot 1892 hinzuweisen, die er der Autokratie anlastete.357 Zudem hatten Korrespondenten wie Matvej Ožegov erkannt, dass sie mit ihren Autobiographien und Briefen Aufmerksamkeit für ihre Person, vor allem als Schriftsteller, erregen konnten. Sie glaubten, dass es sich auch für den Abdruck der eigenen Publikationen lohne, durch Autobiographien mehrfach und laut: »Hier bin ich« zu rufen. Ožegov bezeichnete Rubakin als »seinen Belinskij« und spielte damit auf die Unterstützung des Literaturkritikers an, der Aleksej Kol’cov, das Urbild des russischen ›Volksdichters‹, aus den einfachen Verhältnissen eines Viehhändlers in die Salons hauptstädtischer Literaturzirkel geführt hatte.358 In seiner publizierten Autobiographie 1901 nahm er sich das Recht, über sein Leben zu sprechen, indem er auf die Aufmerksamkeit verwies, die Rubakin und auch Jacimirskij ihm durch ihre Autobiographieprojekte geschenkt hätten.359 Ožegov erlangte mit seinen Liedern und Gedichten große Popularität. Die Bekanntschaft mit Rubakin und Jacimirskij verhalf ihm zu Kontakten mit anderen Publizisten, die seine Texte veröffentlichten.360 Um die Jahrhundertwende unternahmen die Korrespondenten Rubakins, Jaci-
355 Senn, Nicholas Rubakin, 64. 356 ýernyševskij, ýto delat’. 357 Beispielhaft: Rubakin, Iz perepiski s derevenskoj intelligenciej. 358 Städtke (Hrsg.), Russische Literaturgeschichte, 180. 359 Ožegov, Moja žizn’ i pesni dlja naroda, 5. 360 Ožegov, Pis’ma k Jacimirskomu, A.I., IRLI RO f. 193 d. 281, 1901.
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mirskijs und auch Bonþ-Brueviþs immer häufiger den Versuch, sich durch Antworten auf Schreibaufrufe auch ein Zubrot als Literat zu verdienen.361 Die trotz widriger Bedingungen erfolgreiche Übernahme persönlicher und sozialer Verantwortung bildete das entscheidende Argument, mit dem die bäuerlichen Autobiographen auf Mitsprache und Teilhabe an politischen Entscheidungsprozessen – vor allem in der Bildungspolitik – pochten. Dieser Anspruch auf Partizipation, den Rubakin in seinen Schriften und Briefen vertrat, war Ursache seiner Verbannung und letztendlich seiner Emigration in die Schweiz.362 Jedoch gelang es den zarischen Beamten nicht, das Gespräch zwischen den Bauern und Rubakin zu unterbinden. Den Bol’ševiki war dieses Drängen auf Mitsprache ein ebenso großer Dorn im Auge, der sie schließlich dazu bewog, Rubakin mit effektiveren Methoden aus der Meinungsführerschaft zu drängen. Gleich den vorrevolutionären Soziologen wurde Rubakin als »Individualist« verunglimpft, der die Dialektik nicht beherrsche.363 Seine Bücher wurden mit tendenziösen, den Inhalt entwertenden Einführungen versehen, wenn sie überhaupt noch in der Sowjetunion erscheinen durften. Das Vorwort zu Rubakins Psychologie des Lesers aus dem Jahr 1928 kühlte die Erwartungen der Leserschaft ab: In diesem Buch sei nichts Neues zu erwarten. Rubakin sei immer noch der Eklektiker, als den ihn schon Lenin bezeichnet hatte.364 Immer noch stelle er den Leser als Individuum in den Mittelpunkt, während er Kollektiv und Klasse keinerlei Bedeutung beimesse.365 Rubakin trafen damit Ende der 1920er Jahre ähnliche Vorwürfe wie Drožžin. Das Jahr 1928 war auch für die im Zarenreich begonnenen Autobiographieprojekte eine Zäsur. Sie wirkte auf alle Kommunikationsräume zurück, in denen autobiographisch gesprochen und geschrieben wurde. Rubakins Verdienste galten den Kritikern von da an nur noch wenig. Noch schwerwiegender war aber das angespannte Verhältnis zwischen Rubakin und Lenin. Rubakin hatte den Revolutionsführer 1918 scharf für seine Ungeduld, das Blutvergießen im Bürgerkrieg und seinen Determinismus gerügt: »Lenin hasst die Bourgeoisie viel stärker, als er ›sein‹ Proletariat liebt. […] Diese Liebe und dieser Hass umgeben Lenin wie eine Mauer
361 Ožegov, Pis’ma k Rubakinu, N.A., RGB f. 358 260.20, 1892-1912, l. 19ob. 362 Rubakin, Rubakin, 50. 363 Dieses Urteil findet sich bis in die 1970er Jahre in der Forschungsliteratur wieder. Mavriþeva, Rubakin, 6. Die gesamte sowjetische Literatur zu Rubakin überträgt eine Kritik Lenins über Rubakins bibliographisches Mammutprojekt Sredi knig auf sein gesamtes Werk. In einer Rezension hatte Lenin, offensichtlich gekränkt von Korrekturen, die Rubakin an seinem Aufsatz O bol’ševizme gefordert hatte, ihn des Eklektizismus beschuldigt. Lenin, Recenzija: Rubakin, Sredi knig, 111-114. 364 Lenin, Recenzija: Rubakin, 112. 365 Plotnikov, Predislovie, 3-13.
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und verhindern, dass er die wirklichen, lebendigen, alltäglichen Menschen wahrnimmt.«366 Wie die Briefe in den dreißiger Jahren deutlich zeigen, in denen Rubakin erstmals auch über eigene Sorgen, Krankheiten und finanzielle Nöte berichtete, verstand er die Schizophrenie der Sowjetunion nicht, die ihn gleichzeitig ehrte und schadete. Einerseits sprach der Rat der Volkskommissare ihm 1930 für seine Verdienste um die Bildung eine Pension im Wert von 250 Goldrubeln zu, andererseits demontierten jene, die in der Volksbildung seinen Platz einzunehmen hofften, systematisch seinen Ruf als Experten.367 Rubakin wurde seit den 1920er Jahren vorgeworfen, wissenschaftliche Sachverhalte inhaltlich und sprachlich zu simplifizieren und die Bedeutung des Klassenkampfs für den Geschichtsverlauf zu verkennen.368 Auch ihm wurde – wie Bonþ-Brueviþ zur gleichen Zeit – sein Status als seriöser Wissenschaftler und ausgewiesener Kenner des ›einfachen Volks‹ abgesprochen. Seine Kritiker waren mitunter dieselben Personen, die in den frühen 1930er Jahren auch ›Bauernpoeten‹ wie Spiridon Drožžin und mit ihnen die vorrevolutionäre bäuerliche Literatur als nicht mehr zeitgemäß diffamierten.369 Trotz der Anfeindungen kämpfte Rubakin für das Bild, welches er von sich und seiner Arbeit hatte. 1938, in einer Zeit als die sowjetische Presse Feinde und Verfemte als ›Schädlinge‹ titulierte, bezeichnete sich Rubakin als »Bücherwurm« und »Bibliotheksratte«. Er nahm für seine Person eine Schmähung Stalins an, der 1931 in der Proletarskaja Revoljucija »bourgeoise« Historiker als »Archivratten« verunglimpft hatte. Sie wirbelten – so Stalin – bloß den Staub der Archive auf. Wie Geschichte zu schreiben sei, begriffen sie jedoch nicht.370 Rubakin sprach über sich in den Worten, mit denen ihn seine Kritiker verspotteten.371 Auch seine Korrespondenten ergriffen für ihn Partei: Aleksej Nazarov lobte gegenüber Bonþ-Brueviþ Rubakins Schriften und die von ihm vertretene Forschungsrichtung der Bibliopsychologie. Er bat Bonþ-Brueviþ, sich dafür einzusetzen, dass Rubakin »seine erneuerte Heimat« besuchen könne. Es fehle dem Wissenschaftler an Geld für die Reise.372
366 Rubakin, Lenin-Uljanow, 99. 367 Rubakin war der einzige Fall, wo solch eine Rente gewährt wurde, obgleich er im Ausland lebte. Ivanova, Sidorova, ýarušnikov, Archiv N.A. Rubakina, 66. 368 Karpinskii, Letter to Rubakin, 54-57; Andrews, Rubakin, 9-29. 369 Karpinskij, Kogo sþitat’ krest’janskim pisatelem, 5-24. 370 Stalin, Über einige Fragen der Geschichte, 61; Rubakin, Ispoved’ biblioteþnoj krysy (1875-1938), f. 358 346.4, 1938, l. 7. 371 Vgl. den 1923 veröffentlichen Brief V.A. Karpinskijs an Rubakin: »To speak with a clear conscience, only such a ›bookworm‹, completely divorced from real life and the class struggle, could contemplate such an idea (forgive my plain speaking).« Karpinskii, Letter to Rubakin, 56. 372 Nazarov, Pis’ma k Bonþ-Brueviþu, V.D., RGB f. 369 306.8, 1929-1930, l. 5.
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Rubakins Repliken an seine Kritiker gelangten nicht in die Öffentlichkeit. Fernab der Sowjetunion und gepeinigt von Alter und nachlassenden Kräften konnte er auf die Anfeindungen nicht mehr wirksam reagieren. In dem Maße, wie sich in den 1930er Jahren die Schulbildung etablierte, verlor auch sein Projekt der ›Selbstbildung‹ an Leuchtkraft. Seine Korrespondenten alterten, viele waren zudem im Ersten Weltkrieg und im Bürgerkrieg gestorben. Beharrlich, aber vergebens wies er in Briefen auf seine Verdienste hin, weshalb ihm die Ablehnung ehemaliger Genossen und Verbündeter unerklärlich sei: »Mit meinem Buch wollte ich beim Bau eines wirklich neuen, besseren Lebens helfen. Doch man hat mich nicht verstanden und beschimpft mich stattdessen als Idealist […] und Individualist. Und dies dafür, dass ich zum Wohl des Kollektivs die menschliche, denkende, fühlende und leidende Persönlichkeit (liþnost’) nicht vergesse. Wer mir heute Individualismus vorwirft, tadelt mich zu Unrecht, da doch für mich Individualismus nicht vom Kommunismus und Sozialismus, noch vom Anarchismus abgegrenzt werden kann.«373
Rubakin und seine bäuerlichen Korrespondenten rüttelten mit ihrem Anspruch auf Selbstbildung und Individualität an zwei Grundfesten der jungen Sowjetunion. Erfolgreiche Alphabetisierung war im sowjetischen Selbstverständnis nicht mehr eigener Anstrengung geschuldet, sondern das Verdienst staatlicher Kampagnen.374 Darauf gründete der junge Staat einen Großteil seines Legitimationspotenzials. Zudem wollten die Bol’ševiki dem einzelnen Menschen Individualität jenseits von Klassen und ökonomischen Verhältnissen nicht mehr zugestehen. Die Affekt- und Triebseite des Menschen, die Rubakin und seine Korrespondenten auch durch autobiographisches Schreiben bezähmen wollten, war mit dem Übergang zum Klassenbegriff aufgegeben. In den Autobiographieprojekten der Bol’ševiki wurde nicht humanistische Moral und Toleranz eingeübt, zu der Rubakin seine Korrespondenten in den 1920er Jahren immer häufiger ermahnte.375 Stattdessen wurde in den neuen Projekten das Sprechen vom richtigen Klassenstandpunkt erprobt. Die Briefe zwischen Rubakin und seinen Korrespondenten erreichten nun immer seltener die
373 Rubakin, Pis’ma k Nazarovu, A.P., RGB f. 358 179.40, Brief 22. September 1930, l. 9. 374 James T. Andrews beleuchtet den ›Kampf‹ zwischen den Bol’ševiki und Volksaufklärern wie Rubakin. Er kann zeigen, dass sich das Wissenschaftsverständnis der Bol’ševiki grundsätzlich von Rubakins unterschied. Rubakins Fokus auf die Psyche des Lesers widersprach der Auffassung der Bol’ševiki, die individueller Rezeption wenig Bedeutung beimaß. Andrews, Science for the Masses, 61. 375 Rubakin, Pis’ma k Nazarovu, A.P., RGB f. 358 179.40, 1927-1931, l. 4. Das Bewahren humanistischer Werte spielte nach der Revolution 1917 auch in Autobiographien von Frauen eine größere Rolle als vor der politischen Wende. Gebauer, Mensch sein, 41.
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Adressaten. Mit Beginn des ›großen Terrors‹ brach, wie auch im Projekt BonþBrueviþs, der gesamte Briefwechsel ab. Die neuen sowjetischen Eliten kannten die Kraft autobiographischen Schreibens, Gemeinschaft zu stiften und eine besondere Authentizität zu verheißen. Auch sie sahen in den autobiographischen Texten, in denen der Schreiber sowohl als Zeuge für sein Leben als auch die Zeitenläufte auftrat, das Potenzial, Gegenwart und Zukunft zu verändern. Mit Leidenschaft hatten sie nach 1917 in autobiographischen Großprojekten Belege für ihre Version von der Vergangenheit gesammelt.376 Doch auch autobiographische Großprojekte wie die Geschichte der Fabriken und Betriebe konnten ihre Existenz nicht über das Jahr 1937 retten. Zu sehr galt autobiographisches Schreiben immer noch als Gegenarchiv. Und Gegenarchive, in denen sich ›echte‹ Stimmen sammelten, waren gefährlich. Die in Russland lebendigen Vorstellungen vom autobiographischen Text als Zeugnis verborgener ›Wahrheiten‹ ließen es als geboten erscheinen, das Sammeln von autobiographischen Texten einzuschränken. Selbst die jahrelang geförderte Geschichte der Fabriken und Betriebe wurde eingestellt und ihre Initiatoren und Mitarbeiter verfolgt und verhaftet. Auch sie gaben das Sammeln im gleichen Jahr wie Rubakin und Bonþ-Brueviþ auf.
3.3 P ANTHEON DER B ESTEN : J ACIMIRSKIJS T ALENTESCHAU »Ein Naturtalent!« empfahl man mich einander mit dem gleichen Stolz, mit dem sich Straßenjungen ein kupfernes Fünfkopekenstück zeigen, das sich auf dem Straßendamm fand.377 MAKSIM GOR’KIJ, MEINE UNIVERSITÄTEN
Was Russland sei und wo es stehe? Der junge Slawist Aleksandr Jacimirskij (18731925), der nach seinem Studium eine Mitarbeiterstelle in der Akademie der Wissenschaften ergattert hatte, plante mit der Galerie russischer Naturtalente ein ehrgeiziges Buchprojekt, das Antworten auf diese Fragen zu geben hoffte. In einem Exposé sprach Jacimirskij über Ziele, die er mit diesem Projekt verfolgte.378 Es sol-
376 Nach 1937 erschienen nur noch wenige Publikationen, die auf Autobiographien von Arbeitern und Bauern beruhten. Eine Ausnahme ist der 1938 veröffentlichte Band Prežde i teper’, in dem vor allem Arbeiter über ihr »schlechtes« Leben im Zarismus und über ihr »gutes« Leben in der Sowjetunion berichteten: [N.N.], Prežde i teper’. 377 Gorki, Meine Universitäten, 616-617. 378 Jacimirskij, Predpologaemyj plan, IRLI RO f. 193 d. 22, 1901.
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le alle Begabten des 18. und 19. Jahrhunderts vereinen und seinem Vorbild, Samuel Smiles’ Self-Help, in nichts nachstehen. War in der russischen Ausgabe von Self-Help 1867 Russland noch das Land gewesen, dem es an Autodidakten und generell an Eigeninitiative mangele, stellte sich für Jacimirskij die Situation 1901 vollkommen anders dar: »Russland ist das Land der Naturtalente.« Statt hinter den westeuropäischen Ländern zurückzustehen, hatte Russland in seiner Wahrnehmung längst zum Überholen angesetzt. Es sei nicht nur interessant und lehrreich, sondern geradezu unerlässlich, alle Angaben zu russischen Autodidakten zu sammeln und herauszugeben. Seit Lomonosov auf die Bühne getreten sei, hätten schon viele Werke der Volksdichter Eingang in Sammelbände und Zeitschriften gefunden. »Doch noch viel mehr davon bliebe im Dunkeln.«379 Sie ans Licht zu zerren, war das Anliegen Jacimirskijs, der mittels seines Gegenarchivs jene Vorwürfe entkräften wollte, die Russlands Rückständigkeit mit dem ›einfachen Volk‹ begründeten. Die Leistungen der unteren Schichten, so Jacimirskij, seien nur schlecht archiviert. Zu Lebzeiten der Autodidakten kümmere sich niemand darum, Angaben über sie zu sammeln. »Nach ihrem Tod stirbt auch das Gedächtnis.«380 Überlieferung geschehe rein zufällig, weder Talent noch Leistung garantierten erfolgreiche Tradierung.381 Anrufungen – Auf Talentsuche Jacimirskij wandte sich im Mai 1901 mit einem Schreibaufruf in hauptstädtischen Zeitungen und Provinzblättern an Bauern, Arbeiter und Angestellte. Er bat sie, ihm alle Lebensgeschichten, Handschriften, Porträts und Zeichnungen zuzuschicken, die Auskunft über russische Naturtalente und Autodidakten gaben. Misst man den Erfolg des Aufrufs an der Zahl der Antworten, so war Jacimirskij sehr erfolgreich. Er bekam nach eigenen Angaben innerhalb eines Jahrs zweitausend Antworten »aus allen Ecken Russlands und aus Sibirien« zugesandt. Bauern, Arbeiter und Kleinbürger schickten ihm ihre Autobiographien, Gedichte, Erzählungen und Publikationslisten zu.382 Sie sprachen über sich als Naturtalente und Autodidakten, wie sie über jene Bericht ablegten, die nicht selbst schreiben wollten oder es nicht mehr
379 Smajl’s, Samodejatel’nost’ (Self-Help). Perevod N. Kutejnikov, 24; Smajl’s, Samopomošþ’; Jacimirskij, Predpologaemyj plan, IRLI RO f. 193 d. 22, 1901, l. 1ob. 380 Jacimirskij, Pisateli-krest’jane. Stepan Alekseeviþ Grigor’ev, 19. 381 Jacimirskij, Predpologaemyj plan, IRLI RO f. 193 d. 22, 1901, l. 1ob; Jacimirskij, Neizvestnyj pevec, 140. 382 Jacimirskij, Predpologaemyj plan, IRLI RO f. 193 d. 22, 1901, l. 1ob.
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konnten.383 Der aufstrebende ›Bauernpoet‹ Filipp Škulev sandte Jacimirskij nicht nur seine eigene Autobiographie und panegyrischen Gedichte, die dessen Sammlungsbemühungen in überschwänglichen Worten priesen.384 Er versuchte die verheißungsvolle Verbindung zu dem jungen Wissenschaftler auch zu bewahren, indem er ihm Angaben über den verstorbenen Autodidakten G.V. Konokov sowie seltene Fotografien von verschiedenen Dichterzirkeln anbot.385 Die Leser des Schreibaufrufs von Jacimirskij mussten sich entscheiden, ob sie selbst, der Freund oder Nachbar ein echtes Talent seien: »Er ist ein wahrer Autodidakt und Naturtalent, und wenn ihr Angaben über alle Autodidakten sammeln wollt, so wäre es eine Sünde, Aleksej Ivanoviþ Sljuzov außen vor zu lassen.«386 Andere sprachen ebenso bescheiden über sich selbst. Heute befinden sich allein im Archivbestand des Instituts für Russische Literatur (IRLI) in St. Petersburg 96 Autobiographien. Auch Jacimirskijs Nachlass im Literaturarchiv in Moskau birgt Selbstzeugnisse bäuerlicher Dichter und Schriftsteller.387 Aus der Vielzahl von Autodidakten wollte Jacimirskij zweihundert Personen auswählen, die ihm am talentiertesten und typischsten erschienen. Sie sollten die Galerie russischer Naturtalente bilden, ein Pantheon der Besten. Dabei schwebte ihm ein genealogisches Muster vor. In der Galerie sollten sich vor allem jene versammeln, die das Urbild ihrer Rubrik abgaben: der erste Bauernpoet, der erste Bauernastronom, der erste große Erfinder. Doch auch jene, die es nicht auf die ersten Plätze geschafft hatten, sollte mit zwei, drei Sätzen bedacht werden, wie Jacimirskij auch die westeuropäischen Autodidakten nicht übergehen wollte. Beide Gruppen könnten als »Parallelen und Illustration« dienen. Bevor er sich jedoch an die Niederschrift seines opus magnum machte, forderte er seine Leser in einem zweiten Schreibaufruf dazu auf, ihm zu 44 Autodidakten weitere Angaben zu schicken. Zu dürftig seien seine bisherigen Informationen, zu wenig wisse er über sie.388
383 Im Russischen sind sich die Wörter »Naturtalent« (samorodok) und »Autodidakt« (samouþka) morphologisch und semantisch sehr ähnlich. 384 Škulev, Avtobiografija, IRLI RO f. 193 d. 456, 1901, l. 3. 385 Škulev, Dopolnenija k avtobiografii i stichi, IRLI RO f. 193 d. 455, 1901, l. 1; Škulev, Avtobiografija, IRLI RO f. 193 d. 456, 1901, l. 24. Die gleiche Taktik gebrauchte Matvej Ožegov, der Jacimirskij neben seiner Autobiographie auch einen Bericht über den dichtenden Schuster P. Zajcev anbot. Ožegov, Pis’ma k Jacimirskomu, A.I., IRLI RO f. 193 d. 281, 1901, l. 9ob. 386 Sljuzov, Iz vospominanija o poơte-samouþke Teletova, IRLI RO f. 193 d. 365, 1901, l. 18. 387 Grigor’ev, »Nesþastnaja žizn’«. Avtobiografija, RGALI, f. 584 d. 306, o.J.; Morozov, Avtobiografija, RGALI, f. 584 d. 309, 1910. 388 Jacimirskij, Predpologaemyj plan, IRLI RO f. 193 d. 22, 1901, l. 2ob-3ob.
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Der Slawist Jacimirskij hatte erkannt, dass eine erfolgreiche Kanonisierung von Schriftstellern und anderen Talenten, die nicht aus den Besitz- und Bildungseliten stammten, nur über die gemeinsame Zitierbarkeit von Werk und Lebensgeschichte gelingen konnte. Ohne Namen und ohne biographische Angaben konnte selbst der begnadetste Verskünstler nicht in die Geschichte eingehen. Die Arbeit, die Jacimirskij vorschwebte, sollte einen historisch-soziologischen Zuschnitt besitzen und vor allem Lebens- und Zeitumstände sowie soziale Herkunft einbeziehen. Er nutzte seine breite Quellenbasis später, um bisherigen Arbeiten fehlende Objektivität zu unterstellen und sie damit als unwissenschaftlich abzutun.389 Großes Augenmerk legte er auf die Zusammenarbeit der homines novi mit etablierten Schriftstellern wie Ivan Turgenev, Vsevolod Garšin und Lev Tolstoj.390 Nicht nur in dem Aufruf, sondern auch in seinen zahlreichen Aufsätzen forderte Jacimirskij die professionellen Schriftsteller auf, sich der Benachteiligten anzunehmen, von denen bisher nur die Energischsten – nicht unbedingt die Talentiertesten – Aufnahme in der »Familie der normalen Schriftsteller« gefunden hätten.391 Die Unterstützung der Autodidakten sei »eine heilige Sache«.392 Sie verhieß, Jacimirskij sah das deutlich, auch Prestige für die Förderer. Zwischen 1901 und 1907 publizierte Jacimirskij zahlreiche Aufsätze über erfolgreiche Schriftsteller aus den unteren Schichten. Ob es ihm glückte, sein Buchprojekt umzusetzen, bleibt hingegen ungewiss. In einem Exposé sprach er über seine Hoffnung, die Unterstützung des Wissenschaftlichen Komitees für Volksaufklärung gewinnen zu können, um Lesestuben und ländliche Bibliotheken mit den zusammengetragenen Aufstiegsgeschichten zu bestücken. 1910 erschien zwar eine mehrbändige Publikation des Heiligen Synods, die unter Rubriken wie »Gelehrter«, »Historiker« und »Dichter« die jeweils ersten und vermeintlich besten Autodidakten des Zarenreichs präsentierte. In ihr traten neben vielen anderen auch Michail Lomonosov, Aleksej Kol’cov sowie der Historiker Michail Pogodin mit ihren Lebensgeschichten auf. Die Broschüren verschwiegen jedoch ihren Verfasser.393 Aleksandrina Matkovski, die 1979 ein Schriftenverzeichnis Jacimirskijs vorgelegt hat, hält den Slawisten nicht für den Autor der Bändchen, obgleich Duktus, Argumenta-
389 In seinen Aufsätzen hat Jacimirskij mehrfach Publizisten kritisiert, die in ihren Publikationen aus Unkenntnis falsche Informationen gäben. Dies treffe z.B. auf Konstantin Chrenovs Darstellung von Ivan Tarusins Biographie zu. Jacimirskij, Pisateli-krest’jane. Ivan Egoroviþ Tarusin, 71; Jacimirskij, Surikov, 84; Chrenov, Poơty iz naroda. 390 Jacimirskij, Vospominanija pisatelej-samorodkov, 103. 391 Jacimirskij, Predpologaemyj plan, IRLI RO f. 193 d. 22, 1901, l. 4ob; Jacimirskij, Druz’ja russkich samorodkov, 163; Jacimirskij, Poơt ili pevec, 103, 128. 392 Jacimirskij, Iz vospominanii poơtov-krest’jan, 524. 393 1910 erschienen insgesamt acht Bände: Russkie samorodki.
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tion wie auch einige Autobiographien an Jacimirskijs Aufsätze und die von ihm gesammelten Materialien erinnern.394 Trotz der Fülle der Autobiographien gelang es Jacimirskij nicht, das Interesse an seiner Sammlung aufrechtzuerhalten. Anders als Rubakin scheiterte er als Mittler und Sprachrohr seiner Korrespondenten. Dafür gab es mehrere Gründe: Erstens schon früh hatte Jacimirskij seine Sammlung weggegeben. 1903 schenkte er sie der Akademie der Wissenschaften, die mit den Materialien 1907 ein Museum russischer Autodidakten einrichtete. Die Zeitschrift Vestnik Znanija, die Bauern, Arbeitern und Angestellten die Welt der Wissenschaft nahebringen wollte, lobte die Akademie der Wissenschaften als idealen Museumsort, sei doch der erste Akademiker der »einfache Bauern-Autodidakt Lomonosov« gewesen.395 Fomin, der Redakteur des Artikels, erklärte seinen Lesern auch, was es dort zu sehen gebe: Zur ersten Gruppe der Exponate gehörten die Biographien und Autobiographien jener Autodidakten, die aus dem Volk hervorgegangen waren. Sie geben, und auch darin liege der besondere Wert der Sammlung, zahlreiche Informationen zur ›alten Intelligencija‹. Alexander Puschkin, Vissarion Belinskij und Ivan Turgenev hätten nämlich in den Lebensgeschichten ihrer Epigonen deutliche Spuren hinterlassen. Die zweite Gruppe bestehe aus Briefen, die dritte aus den Manuskripten der literarischen Werke. Die letzte Sektion der Exponate vereine alle Bücher, Broschüren und Aufsätze, die über die Autodidakten seit Beginn des 19. Jahrhunderts entstanden seien. Fomin wies darauf hin, dass die russischen Autodidakten in diesem Museum erstmals in ihrer Gesamtheit sichtbar würden. Das Museum gebe nicht nur Kunde über anerkannte Autodidakten aus der Liga Lomonosovs, sondern auch die zweite und dritte Riege dürfe auftreten. Ebenso betonte Fomin die Bedeutung ihrer Archivierung: Die Bildungsmöglichkeiten nähmen in diesen Jahren zu, mit ihnen aber auch die Autodidakten ab, die sich außerhalb der Schulen bilden müssten. Mit ihrem Verschwinden falle das Wissen über ihr Leben und ihre Anstrengungen dem Vergessen anheim. Fomin setzte die gleichen Akzente wie Jacimirskij, ging jedoch in einem Punkt weit über dessen Äußerungen zu seiner Sammlung hinaus. In dem Museum sah er die Möglichkeit, die Autokratie anzuklagen, die aus Eigennutz den unteren Schichten die ersehnte Bildung verwehrt habe. Dabei griff Fomin auf die Semantiken des Sklavereidiskurses zurück: »Möge das Museum der russischen Autodidakten in der russischen Geschichte ein lebendiger Vorwurf für jenen sein, der die Entwicklung des Volks für nicht gewinnbringend hielt, der es über Jahrhunderte hinweg in Sklaverei und Unwissenheit gehalten hat…«396
394 Matkovski, Jacimirskij, 4. 395 Fomin, K otkrytiju »Muzeja russkich samouþek«, 114. 396 Fomin, K otkrytiju »Muzeja russkich samouþek«, 114. Zu den Semantiken des Sklavereidiskurses siehe auch Kap. 2.1.
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Durch die Stiftung der Materialien ging der Zusammenhang zwischen Sammlung und Sammler verloren, der in Bonþ-Brueviþs und Rubakins Projekten Konstanz gewährleistete. Dadurch – so der zweite Grund – gelang es nicht, die Aufmerksamkeit für das Schreibprojekt zu verstetigen. Weil es Jacimirskij nicht glückte, Aufmerksamkeit für seine Person herzustellen, verlor sich auch das Interesse an seiner Sammlung. Jacimirskij, der sich lange Jahre erfolglos um Professuren bewarb, klagte oft, dass er bei der Stellenvergabe übergangen werde. Seine Bewerbungen an den Universitäten Kazan’, Kiev und Odessa scheiterten allesamt. Schließlich verlor er 1908 wegen der Verbreitung sozialistischer Ideen seine Stelle als Privatdozent an der Petersburger Universität. Nun musste er sich als Lehrer an einer Realschule verdingen. In dieser Zeit versuchte er, erst verbissen, dann zunehmend resigniert, ein Einkommen als Wissenschaftler zu erzielen.397 Zudem häuften sich die Angriffe auf seine Person, die vor allem von der konservativen Zeitschrift Novoe Vremja geführt wurden, seit der Veröffentlichung seiner Monographie Neuere polnische Literatur seit dem Aufstand 1863 sowie eines Aufsatzes über den russischen Poeten Aleksej Kol’cov. Ihm wurde vorgeworfen, die Jugend zur Revolution aufzurufen, nun drohte ihm sogar der Verlust seiner Anstellung als Lehrer. Seine Skizzen über Autodidakten waren im Kampf gegen seine Widersacher nicht förderlich, sie brachten ihm in seiner Publikationsoffensive zu wenig Prestige ein. Immer seltener veröffentlichte er seit 1904 in populärwissenschaftlichen Zeitschriften wie Russkaja Mysl’ oder Literaturnyj Vestnik Aufsätze über Talent und Anstrengung.398 1913 folgte er dem Ruf an die russische Universität Warschau und trat die ersehnte Professur für Slawische Philologie an.399 Die Gründe dafür, dass Jacimirskijs beeindruckende Sammlung in Vergessenheit geriet, sind nicht allein im Schicksal des Sammlers zu suchen, der seine Sammlung früh aus den Händen gab. Die kurzlebige Aufmerksamkeit beruhte, drittens, auch auf der Erwartungshaltung, mit der Jacimirskij den Autodidakten gegenüber trat. Für Rubakin und die mit ihm korrespondierenden Bauern war autobiographisches Schreiben ein Mittel der Transformation, das Fortschritt auf das Land und Bewegung in die Fabriken trug. Immer wieder konnte in Autobiographien und Briefen über Vor- und Rückschritte berichtet werden. Jacimirskij hingegen legte sein Augenmerk weniger auf diesen Prozess. Autobiographisches Schreiben hatte in erster Linie Leistungen abzubilden, mehr den Leser als den Schreiber zu verändern. Während Rubakin betonte, dass jeder Bauer, Arbeiter und Angestellte, der sich nur aufrichtig bemühe, auch Erfolg ernten könne, war Jacimirskij skeptischer. Häufig
397 Matkovski, Jacimirskij, 14. 398 Zwischen 1908 und 1910 wandte er sich nur noch anerkannten Schriftstellern aus dem narod zu: Jacimirskij, Poơt ili pevec; Jacimirskij, Pervyj kružok pisatelej »Iz naroda«. 399 Matkovski, Jacimirskij, 17.
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verwies er auf die Hilfe, deren schreibende Bauern und Arbeiter bedürften, und die Hindernisse, die sie nicht überwinden könnten. Die Ursachen für den Erfolg und die Dauer von Rubakins Schreibprojekt sowie das fast vollständige Vergessen von Jacimirskijs Bemühungen lassen sich daher auch an den drei Begriffen herausarbeiten, die schon im vorherigen Unterkapitel im Mittelpunkt standen: Zivilisierung, Aneignung von Fertigkeiten und Partizipation. Während sich an Rubakins Projekt ein diachroner Wandel in den Autobiographien ablesen lässt, erlauben die zahlreichen Antworten auf Jacimirskijs Schreibprojekt Fragestellungen, die die Gleichzeitigkeit autobiographischen Schreibens in den Blick nehmen. Sie geben einen tiefen Einblick in die Selbstpräsentation durch autobiographisches Schreiben in den Jahren 1901 bis 1903. Sie zeigen den Variantenreichtum, aber auch die Ähnlichkeit, mit der Bauern dem Schreibaufruf zu entsprechen versuchten, ohne dass sie wie die Korrespondenten Rubakins durch einen vorausgehenden Briefwechsel genau wussten, was von ihnen erwartet wurde. Anders als Rubakins Briefpartner konnten sie sich nicht in den Publikationen des Sammlers spiegeln, da Jacimirskij erst über die Autodidakten zu schreiben begann, nachdem er seine Sammlung zusammengetragen hatte. Während Rubakin durch seine zahlreichen Publikationen auch in Bauernhütten und Fabrikhallen geschätzt wurde, kannten die meisten Autodidakten ihr Gegenüber nicht, als sie auf Jacimirskijs Schreibaufruf reagierten. Matvej Ožegov fragte Nikolaj Rubakin, ob er etwas über den Unbekannten und sein Projekt wisse. Ihm sei nicht klar, wer Jacimirskij sei und was er mit einer »Galerie der Naturtalente« bezwecke.400 Anders als bei Rubakin konnten daher die Normen, wie eine Lebensgeschichte auszusehen habe, nicht verhandelt werden. Der Schreibaufruf war als Anweisung zu lesen. Trotz dieser Unwägbarkeiten hat Jacimirskij zahlreiche Antworten auf seinen Schreibaufruf erhalten, zweitausend Menschen sollen sich, so seine nicht nachprüfbare Angabe, von ihm und seinem Appell angesprochen gefühlt haben.401 Sie drehten sich um, als sie als Autodidakten und Naturtalente angerufen wurden, oder glaubten, jemanden mit dieser Begabung zu kennen. Dass die Mehrheit derjenigen, die den Aufruf gelesen hatten, sich nicht angesprochen fühlte, ist überflüssig zu erwähnen. Aber warum antworteten sie nicht? Waren etwa die Ansprüche zu hoch oder der Lohn fürs Schreiben zu gering? Es ist schwer zu sagen, wer warum schwieg. Die Schweigsamen legten meist nicht dar, warum es nichts zu sagen gab. Konstantin Ciolkovskij war eine Ausnahme. Der Autodidakt und Mathematiker, der als Vater der russisch-sowjetischen Raumfahrt- und Raketentechnik gilt, gab 1901 jenen eine Stimme, für die der Schreibaufruf kein gewichtiger Grund war, sein Leben darzulegen. Ja, so antwortete er Jacimirskij auf seine Anfrage, es sei keine
400 Ožegov, Pis’ma k Rubakinu, N.A., RGB f. 358 260.20, 1892-1912, l. 32ob. 401 Jacimirskij, Predpologaemyj plan, IRLI RO f. 193 d. 22, 1901, l. 1ob.
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schlechte Idee, eine einfache, naive Autobiographie zu verfassen. Solch eine Autobiographie sei für die Nachkommen sehr lehrreich, sogar wenn sie von einem gewöhnlichen Menschen geschrieben sei. Doch zieme es sich nicht, zu Lebzeiten eine Autobiographie zu veröffentlichen. Er werde daher keine schreiben. Auch für Ciolkovskij war das Bekenntnis zum Ich die Todsünde der Eitelkeit und die Autobiographie lebendigster Ausdruck der Hoffart: »Ich würde ihren Wunsch erfüllen, 1. wenn ich sicher wäre, dass ich wirklich ein Naturtalent bin; 2. wenn ich es für vernünftig hielte, über mich selbst zu schreiben und meine Physiognomie öffentlich zu zeigen, wie jemand, der Aufmerksamkeit verdient hat.«402 Ciolkovskijs Zweifel, ob er überhaupt ein Naturtalent sei und damit auch das Recht habe, über sich zu sprechen und Aufmerksamkeit einzufordern, nahm den gleichen Platz ein wie die aus der orthodoxen Religiosität stammenden Bescheidenheitsgesten.403 Die Absage zeigt deutlich, welch elitäre Implikationen dem Begriff samorodok innewohnten, wie schwierig es deshalb war, die Identität eines Naturtalents anzunehmen und als Sprecherlaubnis zu nutzen. Erst in den 1920er Jahren verlor Ciolkovskij seine Skepsis gegenüber dem eigenen autobiographischen Schreiben. Als hochdekorierter sowjetischer Wissenschaftler hat er schließlich mehrfach sein Leben erzählt.404 Der Bauer Egor Kuz’miþev, der erst mit 32 Jahren zur Literatur gefunden hatte, hegte ähnliche Vorbehalte. Statt das Schreiben jedoch zu verweigern, schrieb Kuz’miþev über sein Leben in der dritten Person, als berichtete er über das Leben eines anderen.405 Konstantin Tezikov, der Bauernastronom, sowie die bäuerlichen Literaten Efim Gruzdev und Filipp Škulev hatten diese Zweifel hingegen nicht. Sie antworteten in ihren Autobiographien explizit als samorodki. Was sie darunter verstanden und mit welchen Erzählmomenten sie diese Position einnahmen, steht im nächsten Abschnitt im Mittelpunkt. Das Textkorpus, das Jacimirskij zusammentrug, steht für bestimmte Vorstellungen vom eigenen Leben. Das Überlieferungskonvolut, welches zu einem sehr eng umrissenen Zeitpunkt entstand, macht generelle Trends sichtbar. Es zeigt die Kraft bestimmter Erzählmuster, an die fast alle Autobiographen anknüpften, die an Jacimirskij schrieben. Dabei wird auch sichtbar, dass diese Schreibweisen nicht nur zwischen Jacimirskij und seinen Korrespondenten ausgehandelt wurden, sondern an allgemeine Formen autobiographischen Erzählens anknüpften. Bestimmte Stationen gelebten Lebens, über die ihm fast alle Autoren berichteten, finden sich auch in den Autobiographien der Leibeigenen, bei den Konvertiten, bei Drožžin und den Korrespondenten Bonþ-Brueviþs und Rubakins. Mitunter ähneln sie zudem den Auf-
402 Ciolkovskij, ýerty iz moej žizni, 7-8. 403 Schmidt, Einleitung, 11; Herzberg, Autobiographik als historische Quelle, 29-30. 404 Ciolkovskij, ýerty iz moej žizni, 8-9. 405 Kuz’miþev, Avtobiografija, IRLI RO f. 193 d. 200, 1901.
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stiegsnarrativen, die dem russischen Leser unter Smiles’ Namen präsentiert wurden. Klar zeigt sich: Wer bestimmte Erzählmomente ausließ, konnte nicht auf Leser hoffen. Wer sie hingegen in seine Lebensgeschichte integrierte, dem wurde zugehört, dessen Autobiographie hatte somit eine Chance auf Überlieferung. Eine Untersuchung der Autobiographien darf sich nicht in der Feststellung typischer Erzählmuster erschöpfen. Gleichartige Lebensstationen verweisen auf den sozialen Raum, in denen autobiographisches Schreiben entstand. Die Lebenswelt der Schreiber brachte eine bestimmte Form des Erzählens hervor, das wiederum Lebenswelt und soziale Ordnung prägte. Umwenden – Ich, das Naturtalent Die in den verschiedenen Autobiographien wiederkehrenden Erzählsituationen eignen sich, um eine Kollektivautobiographie zu extrahieren. Wie in den Ausführungen zu Rubakins Projekt dienen 22 Autobiographien als Grundlage, die ich aus einem Quellenkorpus von 96 Texten ausgewählt habe. In die Auswahl gelangten besonders die Lebensgeschichten jener Bauern, denen es gelungen war, ihre Lebensgeschichte auch in anderen Räumen autobiographischen Schreibens zu überliefern. Einige, die an Jacimirskij schrieben, hatten beispielsweise das autobiographische Schreiben schon mit Rubakin erprobt. Durch eine Kollektivautobiographie, die vor allem Gemeinsamkeiten hervorhebt, soll sowohl ein zentrales Motiv Jacimirskijs für seine Sammlung zum Ausgangspunkt gewählt als auch sein Anliegen durch eine konstruktivistische Perspektive ergänzt werden. Sein Einfluss auf das autobiographische Erzählen seiner Korrespondenten soll damit ernster genommen werden, als er es selbst tat. Er hatte die Galerie der Ersten und Besten als soziologische Studie geplant, die das Erscheinen und die Tätigkeit der Autodidakten mit den zeitgenössischen Gegebenheiten in Verbindung bringen wollte.406 Jacimirskijs Forschungsvorhaben entsprechend sollen die Bedingungen herausgearbeitet werden, die es seinen Korrespondenten erlaubten, eine Autobiographie zu schreiben und sich in dieser als Naturtalent zu präsentieren. Fast alle seiner Korrespondenten griffen dabei auf fünf Erzählmomente zurück. Das wichtigste Erzählmoment war, dass sie keine oder nur eine unvollkommene Schulbildung erhalten hatten. Die meisten hatten Lesen und Schreiben bei einem Geistlichen gelernt, manche bei ihren Familienangehörigen, meist beim Vater oder den Brüdern. Alle Korrespondenten Jacimirskijs betonten, dass sie ihre Bildungsbemühungen vorzeitig abbrechen mussten und weiteres Wissen nur autodidaktisch erwerben konnten. Oft verwiesen sie auf die Biographien anderer Autodidakten als
406 Jacimirskij, Predpologaemyj plan, IRLI RO f. 193 d. 22, 1901, l. 4.
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Vorbilder für ihr Leben, ihr Bildungsstreben und damit auch für ihre Erzählung. Ivan Ivin, der 1892 schon eine Autobiographie für Rubakin verfasst hatte, nannte einen anerkannten ›Dichter aus dem Volk‹, Ivan Surikov, als sein Vorbild. Die Gräfin Uvarova habe es ihm als Jugendlichen verwehrt, zusammen mit jüngeren Kindern eine Schule zu besuchen: »Ich begann in dieser Zeit zu denken: Wenn es nicht gelang, eine Schule zu besuchen, so ist es nötig, sich wie Surikov autodidaktisch um Selbstbildung zu bemühen.«407 Auch durch fehlende institutionelle Bildung ließ sich Nähe zu schon erfolgreichen Autodidakten herstellen. Ihnen war mit der Bildung auch Teilhabe verweigert worden. Durch die Schilderungen von Fleiß und Willensstärke unterstrichen die Korrespondenten ihren Anspruch auf Nachfolge und gleichzeitig auf Partizipation. Obgleich fast keiner von ihnen über seinen Glauben sprach, stammte doch die Vielzahl der Korrespondenten aus einem altgläubigen Umfeld, sehr häufig aus dem russischen Norden, insbesondere aus dem Gebiet um Jaroslavl’. Ihre Geburtsorte zeichneten sich durch eine vergleichsweise hohe Alphabetisierungsrate aus. Häufig betrieben die Familien neben der Landwirtschaft ein Gewerbe oder die Väter und Brüder verdienten sich ein Zubrot als Wanderarbeiter in den neuen Industrieregionen, da die Landwirtschaft nicht genügend zum Leben abwarf. Lese- und Schreibfähigkeit waren für diese Bauern sehr nützlich. Rubakin hingegen, der keine großen Anforderungen an seine Partner stellte und auch mit kaum Schreibkundigen im Briefwechsel stand, gelang es mit seinem langjährigen Schreibprojekt, Korrespondenten in allen Regionen des Zarenreichs zu gewinnen. Sogar ein emigrierter russischer Bauernsohn aus Uruguay antwortete ihm. Das zweite Erzählmoment ist überraschender, da es sich nicht durch eine höhere Alphabetisierungsrate erklären lässt. Fast alle Korrespondenten, die an Jacimirskij schrieben, berichteten von Katastrophen, die ihr Familienleben zerstört hätten. In den Autobiographien waren Schicksalsschläge Auslöser und Katalysator auf dem Weg zum Naturtalent. An den Unglücksfällen ließ sich die Wegstrecke, die sie gegangen waren, ihre besondere Willensstärke und Fähigkeit narrativ herausarbeiten. Mit dem Verweis darauf konnten auch Jacimirskijs Korrespondenten ihr Leben als eine Geschichte des ›trotzdem‹ erzählen. Am häufigsten suchte die Familien der vorzeitige Tod des Vaters heim, oft verloren sie ihr elterliches Haus durch einen Brand, nicht selten beeinträchtigten Unfälle und Krankheiten ihre physische Arbeitskraft.408 Viele der Autobiographen beklagten den Tod des Vaters als bittere
407 Ivin, Avtobiografija ego i spisok peþatnych trudov, IRLI RO f. 193 d. 159, 1901, l. 30. 408 Den Tod des Vaters schildern: Klimov, Avtobiografija, IRLI RO f. 193 d. 171, 1901; Kuz’miþev, Avtobiografija, IRLI RO f. 193 d. 200, 1901; Nazarov (Slavjanskij), Avtobiografija, IRLI RO f. 193 d. 261, 1900-1901; Potechin, Avtobiografija, IRLI RO f. 193 d. 311, 1901; Škulev, Avtobiografija, IRLI RO f. 193 d. 456, 1901.
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Prüfung, häufig auch als das Ende der Kindheit. Der Verlust des Vaters war ein radikales Bild, um die Ablösung der Autobiographen vom Herkunftsmilieu zu versinnbildlichen. Es erlaubte ihnen, narrativ an neue Lebensentwürfe anzuknüpfen, stellte es doch den Autobiographen nicht an den Endpunkt einer familiären Entwicklung, sondern an deren Beginn. Mit dem Tod des Vaters konnten sich die Autobiographen als potenzielle Väter zeichnen, die neue Generativität ermöglichten und nun selbst entscheiden konnten und mussten, was sie aus sich und ihrem Leben machen wollten. Für den Bauern Potechin aus dem Gouvernement Jaroslavl’ brach die bittere Zeit, wie er in seiner Autobiographie berichtete, schon früh an: »Bis ich vier Jahre alt war, lachte mich das Leben an, doch nach dieser Zeit haben sich die Umstände stark verändert. Im Jahre 1874 widerfuhr unserer Familie ein großes Unglück: nach kurzer Krankheit starb mein Vater.«409 Nach dessen Tod habe es in der Familie niemanden mehr gegeben, der den Pflug führen konnte. Potechin sei noch zu jung gewesen, sein älterer Bruder lernte in Moskau. Hunger und Not seien die Folge gewesen. Wenige Jahre später hätten Potechin und seine Familie die Landwirtschaft aufgeben müssen, um sich für Lohn und Brot in den Fabriken zu verdingen. Auch Ivin berichtete in seiner Autobiographie, wie seine Familie durch den Brand der elterlichen Hütte auseinandergerissen wurde. Als er am 12. Mai 1868 nach Hause kam, hätten inmitten des abgebrannten Dorfs auch seine Eltern geweint. Vater und Sohn seien darauf nach Moskau gegangen, um Geld für die darbende Familie zu verdienen. Andere – wie der ›Bauernastronom‹ Konstantin Tezikov – nahmen dagegen den Brand des elterlichen Hauses als Zeichen, um sich den Wissenschaften zuzuwenden.410 Der Tod des Vaters sowie die Vernichtung von Hab und Gut ist mehr als ein Erzählmoment, das die Schreiber zu bedienen versuchten, um Aufmerksamkeit für sich und ihr Leben zu erregen. Er verweist auch auf die aus Notsituationen entstehenden Freiheiten, die es einer Vielzahl von Jacimirskijs Korrespondenten erst ermöglichten, zur Feder zu greifen. Die Autobiographen mussten aufgrund familiärer Schicksalsschläge schon in jungen Jahren Verantwortung für die Familie übernehmen, den Schulbesuch einstellen und sich bei fremden Dienstherren, in Fabriken oder bei der Eisenbahn verdingen.411 In einer ähnlichen Weise schilderten sie Unfälle, die ihre Gesundheit stark beeinträchtigten. Der Korrespondent Astašin verletzte sich am Bein, als er einen Monat bei der Eisenbahn gearbeitet hatte. Fast acht Monate habe er, wie er in seiner Autobiographie berichtete, im Krankenhaus gelegen, bis ihn seine Freunde in das
409 Potechin, Avtobiografija, IRLI RO f. 193 d. 311, 1901, l. 1. 410 Ivin, Avtobiografija ego i spisok peþatnych trudov, IRLI RO f. 193 d. 159, 1901, l. 1314; Tezikov, Avtobiografija, IRLI RO f. 193 d. 402, 1901, l. 6. 411 Kuz’miþev, Avtobiografija, IRLI RO f. 193 d. 200, 1901, l. 1ob.
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Dorf zurückbrachten. Nicht mehr fähig, in der Landwirtschaft zu arbeiten, habe er Bauernkinder unterrichtet. Befreundete Lehrer hätten ihm schließlich Puschkins Verse geschenkt. Daraufhin habe er im Winter 1889 sein erstes Gedicht verfasst und die Zeitschrift Russkoe Slovo abonniert, zudem sei er zum Dorfältesten gewählt worden.412 Erzählerisch gelang es ihm, das Unglück, welches ihm zum »Krüppel« gemacht hatte, in Erfolge umzumünzen. Ähnlich tragisch waren die Unfälle, die die Korrespondenten Bacharev und Škulev als Wendepunkte ihres Lebens präsentierten. Bacharev verlor durch einen Arbeitsunfall ein Auge, während der junge Škulev bei der Fabrikarbeit mit der rechten Hand in eine Maschine geriet.413 Škulev schilderte seinen Unfall als Opfer auf dem Altar der Bildung. Er habe sich bei der Arbeit beeilt, um den Schulbeginn nicht zu verpassen. Danach musste er ein Jahr im Krankenhaus verbringen und lernen, die linke Hand zu benutzen.414 Sehr häufig waren die Korrespondenten Jacimirskijs körperlich eingeschränkt. Ihnen war damit die Möglichkeit genommen, soziale Anerkennung und ein Einkommen durch körperliche Arbeit zu erwerben. Zudem ließ sich an den Beeinträchtigungen zeigen, dass Willensstärke, Fleiß und Mut große Hindernisse überwinden, dass ein starker Geist einen schwachen Körper bezwingen könne. Dass dabei jene Korrespondenten überrepräsentiert sind, deren Vater starb und deren Haus durch Brände zerstört wurde, liegt nicht allein an den Ansprüchen des Genres sowie an einer hohen Mortalitätsrate, zahlreichen Unfällen oder fehlendem Feuerschutz.415 Wichtiger scheint mir ein anderer Aspekt zu sein: So einschneidend diese Katastrophen auch waren, entbanden sie doch die bäuerlichen Korrespondenten von der Autorität des Vaters und lösten sie aus dem traditionellen Familiengefüge heraus. Diese drei Ereignisse erlaubten es ihnen, Lebensvorstellungen zu erproben, die dem Dorf bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts fast vollkommen fremd gewesen waren. Bauern, die unter der »Macht des Vaters« lebten, fiel es dagegen schwerer, sich der Literatur zu widmen.416 Der junge Bauer Gruzdev klagte Jacimirskij sein Leid. Sein Vater torpediere jegliche literarischen Ambitionen. Als er ihn um Geld bat, um gemeinsam mit einem Freund einen Gedichtband herauszugeben, habe dieser ungehalten reagiert: »[…] es gibt auch ohne euch genügend Schriftsteller, haltet euch lieber an den Pflug und das Gewerbe und an
412 Astašin, Avtobiografija, »Skazka bez zaglavija«, IRLI RO f. 193 d. 51, 1901, l. 1ob5ob. 413 Bacharev, Avtobiografija, IRLI RO f. 193 d. 56, 1901, l. 2. 414 Škulev, Avtobiografija, IRLI RO f. 193 d. 456, 1901, l. 4. 415 Der Tod des Vaters ist in vielen Aufstiegsgeschichten Samuel Smiles’ ein narratives Element. In Smiles’ eigener Autobiographie ist der Tod seines Vaters gleichfalls ein Wendepunkt, der ihn zwingt, Verantwortung zu übernehmen. Smiles, The Autobiography, 43. 416 Gruzdev, Avtobiografija, IRLI RO f. 193 d. 104, 1901, l. 2ob.
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nichts weiter und die Sache wird besser sein.«417 Umso wichtiger war Gruzdev die Bekanntschaft mit dem schon bekannten Volksdichter Ivan Nazarov, der seinen literarischen Eifer schätzte und ihm Selbstvertrauen gab: »Es ist schwer, sich der Sache zu widmen, doch ich werde geduldig sein und die Zeit abwarten, wenn meine Poesie Allgemeinbesitz des Volks sein wird.«418 Der durch Brand, Verletzung oder Tod eines Familienmitglieds erzwungene Weggang in die Stadt riss die Korrespondenten aus der Dorfgemeinschaft und dem gewohnten Umfeld. Jacimirskijs Autobiographen waren nun freier als ihre Nachbarn, um sich in neuen Gruppen zu verorten. Sie konnten und mussten sich Netzwerke außerhalb der Familie suchen, die ihnen Anerkennung und Sicherheit boten. Die Korrespondenten Jacimirskijs widmeten deshalb der Schilderung von Freundeskreisen und unterstützenden Netzwerken viel Platz und Kraft. An ihnen ließ sich demonstrieren, dass sie zu Recht als Ausnahmetalent über sich sprachen, dass sie die Anerkennung anderer Bauern und Literaten schon gewonnen hatten. In den Autobiographien standen die Assoziationen und Gemeinschaften für eine neuere, bessere Gesellschaft. Die Bauern, die sich oft dem Vorwurf ausgesetzt sahen, phlegmatisch und eigennützig zu sein, übernahmen – das sollten die Netzwerke zeigen – Verantwortung für das eigene Leben und für andere. Sie standen solidarisch füreinander ein, teilten miteinander ihr Wissen und Können, zeigten Eifer. Es waren genau diese Episoden, die Jacimirskij bewegt hatten, Autobiographien zu sammeln. Sie verkörperten eine neue Sicht auf den Bauern und damit auf das Zarenreich. Familiäre Katastrophen schilderten auch die Korrespondenten des Bratskoe Slovo, Bonþ-Brueviþs und Rubakins. Diese Unglücksfälle waren jedoch mit anderen Kausalitäten verknüpft. Am deutlichsten wird dies bei jenen Bauern, die ihre (Re-)Konversion für die Publikationen der orthodoxen Kirche beschrieben. Der Tod des Vaters entfremdete sie von ihrem Herkunftsmilieu, sie waren nun dem Einfluss der Häretiker ungeschützt ausgesetzt. Auffällig ist, dass immer wieder die gleichen Namen in den Autobiographien fallen. Manch einer tauchte schon in den vorherigen Kapiteln auf. Bäuerliche Literaten wie Ivan Ivin oder Egor Kuz’miþev schilderten in ihrer Autobiographie an Jacimirskij stolz, dass sie Nikolaj Rubakin, Lev Tolstoj oder berühmte ›Dichter aus dem Volk‹, wie zum Beispiel Ivan Surikov, persönlich kannten. Jene hätten sie ermutigt, den Weg zu Kunst oder Wissenschaft weiter zu beschreiten.419 Rubakin, Tolstoj und Surikov galten als besonders kompetent darin, Begabung und Regsamkeit zu beurteilen. Ihre Nennung sollte bezeugen, dass Jacimirskijs Autobiographen zu Recht über sich als Naturtalente sprachen. Auch die Bekanntschaft mit anderen
417 Gruzdev, Avtobiografija, IRLI RO f. 193 d. 104, 1901, l. 2. 418 Gruzdev, Avtobiografija, IRLI RO f. 193 d. 104, 1901, l. 2ob. 419 Kuz’miþev, Avtobiografija, IRLI RO f. 193 d. 200, 1901, l. 4.
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Autodidakten und Auskünfte über die gegenseitige Hilfe waren wichtige Bestandteile einer Autobiographie an Jacimirskij. Egor Kuz’miþev, der stolz von seinem Briefwechsel mit Rubakin berichtete, verwies ebenso selbstbewusst auf seine Bekanntschaft mit den bäuerlichen Schriftstellern Maksim Leonov und Sergej Semenov.420 Beide konnten schon Publikationen und Erfolge vorweisen. Es lohnte sich für Kuz’miþev, ihnen in seiner Autobiographie Ehre zu erweisen, denn der Glanz ihrer Errungenschaften fiel auch auf ihn, den aufstrebenden Literaten. Jacimirskijs Korrespondenten versuchten die Freundschaft mit anderen Autodidakten in eine Währung umzumünzen, mit der sie auch Aufmerksamkeit für das eigene Leben erkaufen konnten. Besonders geschickt ging Matvej Ožegov vor, der seine Kenntnisse und Autobiographien sowie die Briefe anderer Autodidakten strategisch nutzte, um in die geplante Galerie russischer Naturtalente Eingang zu finden. Er könne Jacimirskij mit anderen Autodidakten bekannt machen und ihm auch seinen Briefwechsel mit anderen Autodidakten zeigen: »Dann wird es leichter fallen, ein Urteil über meine Person und meine Werke zu fällen.«421 Gleichfalls wie mit einer Stimme sprachen die Korrespondenten ihr Verdikt über die Stadt. Sie alle lehnten sie als Lebens- und Schreibort ab, obgleich viele von ihnen immer wieder nach Moskau, St. Petersburg oder Jaroslavl’ zurückkehrten. Sie schilderten die Stadt als unmoralischen Ort, der die Sitten verderbe. Wie die Kopekenhefte für Soldaten, populäre Zeitschriften sowie die Literatur von und für Arbeiter warnten sie vor urbanen Gefahren.422 Auch sie hatten wie die Korrespondenten Rubakins zeitweise oder für immer das Dorf verlassen, um Arbeit in den Städten, Fabriken und häufig auch bei der Eisenbahn zu suchen. Die Hoffnungen, die mit dem Weggang verbunden waren, verflogen allerdings schnell. Sie alle erzählten eine Geschichte großer Enttäuschung. Vor allem das städtische Zeitregime, das anders als der dörfliche Alltag nicht die feste Struktur von Arbeit und Erholung kannte, ließ die Autobiographen in der Stadt Fremdheit spüren. Sie beschrieben, wie sie unter der Auflösung der natürlichen sowie der kollektiven sozialen Rhythmen litten, die im Dorf den Alltag bestimmt und Orientierung gegeben hatten. Immer wieder ertönte die Klage, dass es in der Stadt keine Feiertage mehr gebe. Nicht wenige trugen jedoch, so schilderten sie es jedenfalls selbst, das neue Zeitregime auf das Dorf zurück und propagierten vor allem im Bereich der Bildung Anstrengung ohne Unterlass. Ihre Leistungen kontrollierten sie auch durch autobiographisches Schreiben.
420 Kuz’miþev, Avtobiografija, IRLI RO f. 193 d. 200, 1901, l. 4. 421 Ožegov, Pis’ma k Jacimirskomu, A.I., IRLI RO f. 193 d. 281, 1901, l. 9ob. 422 Benecke, Kopekenliteratur, 267-268; Steinberg, Proletarian Imagination, 169. Heiko Haumann hat die schwierigen Lebensumstände der Arbeiter bäuerlicher Herkunft am Ausgang des Zarenreichs und in der frühen Sowjetunion untersucht: Haumann, »Ich habe gedacht«.
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Ivan Ivin, der nach dem Brand seines Dorfs die Heimat verlassen musste, klagte über Heimweh, das ihn in der Stadt befallen habe: »Bitter und hart kam mir das Leben nach der Freiheit im Dorf vor und ich erinnerte mich mit Trauer an das Dorf und die Schule. Obgleich ich auch im Dorf nicht süß gelebt hatte, so war es hier noch schlimmer.«423 Der einzige Trost für die Entwurzelten seien in dieser Zeit – so die Autobiographien – Lektüre, Bücher, Feder und Papier gewesen. Durch diese Tätigkeit hätten sie Anerkennung in der Stadt und in den Fabriken erringen können. Ivin zum Beispiel gab an, Fabrikarbeitern vorgelesen zu haben.424 Der Beifall für seine Lesekünste habe in ihm den Wunsch freigesetzt, selbst zu schreiben. Glaubt man den Korrespondenten, dann immunisierten Lektüre und Schrift gegen städtische Sittenlosigkeit. Gänzlich jedoch ließ sich den Anfeindungen und Verlockungen der Stadt durch Flucht in Fiktion und Kunst nicht entkommen. Als echte Lösung galt allein die Rückkehr auf das Dorf, die fast alle Autobiographien propagierten. In religiösen Bildern feierte Egor Kuz’miþev seinen Weggang aus dem als Moloch gezeichneten Moskau, das er für seinen physischen und sittlichen Niedergang verantwortlich machte. Wie »einen verlorenen Sohn« habe ihn das Dorf aufgenommen. Dort fand er auch eine Frau, die er alsbald heiratete.425 Auch der junge Gruzdev, der eigenen Angaben zufolge unter der Fuchtel seines Vaters stand, war stolz, sich als Bauer bezeichnen zu können. In seiner Autobiographie dankte er Gott, dass er das Dorf nicht als Wanderarbeiter habe verlassen müssen. Gruzdev, Kuz’miþev und die anderen Korrespondenten hatten wie schon Drožžin erkannt, dass es sich lohnte, in den Autobiographien trotz der Erfahrungen in der Stadt als Bauer aufzutreten.426 Damit ließ sich am nachdrücklichsten Aufmerksamkeit bei jenen Publizisten erregen, die die Proletarisierung Russlands fürchteten und beseelt von slavophilen und populistischen Ideen Heil und Segen im ›Volk‹ suchten. Die Lebensgeschichten konnten zeigen, dass sich biographischer Erfolg auch auf dem Land, in der Provinz und den ›dunklen Ecken‹ Russlands erringen ließ. Das vierte Erzählmoment stellt den größten Unterschied zu dem Autobiographieprojekt Rubakins dar. Kein Bauer wagte es, Jacimirskij seine Lebensgeschichte zu schicken, allein weil er Lesen und Schreiben autodidaktisch gelernt hatte. Stattdessen berichteten die Autobiographen von besonderen Begabungen, die mehr umfassten, als Bücher lesen und den Stift führen zu können. Sie alle zeichneten sich als Ausnahmetalente, die Fähigkeiten, Kenntnisse und Wissen erworben hatten, durch die sie sich von ihrem Herkunftsmilieu abhoben. Anders als Rubakins Korrespondenten, die oft
423 Ivin, Avtobiografija ego i spisok peþatnych trudov, IRLI RO f. 193 d. 159, 1901, l. 15. 424 Ivin, Avtobiografija ego i spisok peþatnych trudov, IRLI RO f. 193 d. 159, 1901, l. 16. 425 Kuz’miþev, Pis’ma ego Jacimirskomu, A.I., IRLI RO f. 193 d. 199, 1901-1902, l. 1. 426 Gruzdev, Avtobiografija, IRLI RO f. 193 d. 104, 1901, l. 1.
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Schreib- und Lesenovizen waren und sich von ihrem Mentor Zuspruch für ihre Vorhaben erhofften, belegten Jacimirskijs Partner ihre schon errungenen Erfolge durch Publikationsverzeichnisse und den Verweis auf ihre Netzwerke. Auffällig ist, dass es eine Hierarchie in den Tätigkeiten gab, mit denen die Korrespondenten Anerkennung zu gewinnen hofften. Die meisten versuchten es als Dichter und Schriftsteller. Andere Fähigkeiten, wie zum Beispiel zeichnerisches Talent, galten als weniger prestigereich, die Liebe zur Musik gar als gefährlich für Moral und Sitten.427 Kuz’miþev, Gruzdev und Potechin, die angaben, sich erst dem Zeichnen zugewandt zu haben, hätten es bald aufgegeben, um stattdessen Verse zu schmieden.428 In meiner Stichprobe ist der ›Bauernastronom‹ Konstantin Tezikov der einzige, der durch naturwissenschaftliches Wissen zu brillieren versuchte. Er trieb großen Aufwand, um zu belegen, dass er ein echtes ›Naturtalent‹ sei. Da er kein Publikationsverzeichnis vorlegen konnte, gestaltete er seine Autobiographie zu einer Abhandlung über Astronomie aus. Jacimirskijs Korrespondenten strebten in ihren Autobiographien, gleichgültig ob sie dichteten oder Sterne beobachteten, Tätigkeiten an, die als unbäuerlich galten. Sie griffen durch die Schilderung ihrer Fähigkeiten und ihres Erfolgs die soziale Ungleichheit an, die sie vor allem in der Ständeordnung repräsentiert sahen. Ihr niedriger Stand hätte es ihnen verwehrt, ihr Talent ungehindert zu entfalten. Die Autobiographen betonten, dass gerade das Schreiben Freiheiten biete, die sie auf anderen Wegen nicht erlangen könnten: »Niemand und nichts zwang und zwingt mich zu schreiben, keine Not, kein Druck, sondern einfach mein guter Wille.«429 Dabei gebrauchten alle Autoren, die sich als Dichter und Schriftsteller präsentierten, einen ähnlichen Aufbau in ihren Lebensgeschichten. Als auslösendes Moment für das eigene Schreiben nannten sie die Lektüre anderer Dichter. Neben den Klassikern wie Alexander Puschkin hätten sie sich vor allem von den Werken und Lebensgeschichten jener ermutigt gefühlt, die wie sie aus den unteren Schichten stammten. Auch Aleksandr Smirnov beschrieb auf diese Weise seinen Werdegang zum Dichter: »Als ich 14 Jahre alt war, kam ich aus Moskau nach Jaroslavl’, begann in der örtlichen Bibliothek Bücher auszuleihen und zu lesen, um seelisch nicht zu fallen. Schließlich las ich Kol’cov, Puschkin, Nekrasov und viele andere, machte mich auch mit ihren Biographien vertraut. Ich fragte mich, warum sie schrieben, woher sie es gelernt hatten und warum nicht alle so schreiben können. Doch auf diese Fragen erhielt ich keine Antworten, da es in meiner Nä-
427 Kuz’miþev, Avtobiografija, IRLI RO f. 193 d. 200, 1901, l. 3. 428 Gruzdev, Avtobiografija, IRLI RO f. 193 d. 104, 1901, l. 1; Potechin, Avtobiografija, IRLI RO f. 193 d. 311, 1901, l. 4-5; Kuz’miþev, Avtobiografija, IRLI RO f. 193 d. 200, 1901, l. 1ob. 429 Gruzdev, Avtobiografija, IRLI RO f. 193 d. 104, 1901, l. 2ob.
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he keine Leute gab, die mir das erklären konnten. Und so entstand in mir der Wunsch, selbst zu schreiben […].«430
Besonders häufig wird in den Autobiographien Ivan Surikov genannt, der zusammen mit Kol’cov und Nikitin zu der Trias der bekanntesten ›Dichter aus dem Volke‹ gehörte.431 Doch was bei der Lektüre so leicht aussah, erwies sich im Selbstversuch als schwierig. Ivin zum Beispiel verschwieg seine Schwierigkeiten nicht, ein Sujet für das eigene Schreiben zu finden. Andere berichteten, dass ihre ersten literarischen Versuche keinen Beifall gefunden hätten. Die Redaktionen hätten ihnen ihre Texte zurückgeschickt. Doch Übung machte auch in diesen Autobiographien schließlich den Meister. Nach anfänglichen Misserfolgen und der häufigen Ablehnung vonseiten ihrer Familien sei es ihnen immer häufiger gelungen, durch die eigene Literaturtätigkeit Geld zu verdienen. Fast alle Autobiographen listeten ihre Publikationserfolge auf, die nicht nur ihnen bewiesen, dass sie und mit ihnen auch Russland auf dem richtigen Weg seien. Die Autobiographien, die an Jacimirskij gerichtet wurden, knüpften an das gleiche Modell biographischen Erfolgs an, das sich schon in den an Rubakin gesandten Autobiographen finden lässt und das durch Publikationen wie Smiles’ Self-Help Eingang in die russische Gesellschaft gefunden hatte. Nicht privater Wohlstand und gute Ernten, sondern sichtbarer, öffentlicher Erfolg galten als Beweis individueller Leistung. Durch Beharrlichkeit und Fleiß konnte ihn jeder erwerben. Dabei veränderten sich auch die Vergleichsmaßstäbe, an denen Erfolg gemessen wurde. Erfolg vor Ort wurde zunehmend unwichtig. Es war entbehrlich, Ansehen in den Familien und Dörfern zu erringen. Sobald die Korrespondenten mit ihren Autobiographien, Erzählungen und Gedichten aus dem Kreis der Familie heraustraten, konkurrierten sie mit all den anderen Talenten im Zarenreich, die gleichfalls aufgrund ihres Könnens Aufmerksamkeit beanspruchten. Der lachende Dritte war Jacimirskij und mit ihm die Bildungseliten. Als Initiator seines Schreibaufrufs versetzte er sich in die Position, Leben bewerten zu können. Seine Partner mussten es nun, wie zum Beispiel Ivan Ivin, hinnehmen, in der Zeitschrift Russkaja Starina als weniger begabt als Spiridon Drožžin bezeichnet zu werden.432 Jacimirskijs Autobiographieprojekt
430 Smirnov, Avtobiografija, stichov, IRLI RO f. 193 d. 367, 1903, l. 16. 431 Diese Lesepräferenzen hat Mark Steinberg auch für die sogenannten Arbeiterdichter herausgearbeitet. Dabei überschneidet sich der Personenkreis seiner Studie teilweise mit den Korrespondenten, die an Rubakin und Jacimirskij schrieben. Steinberg untersucht ihren Werdegang und ihre Schreibweisen vor allem für die Jahre 1910 bis 1925. Steinberg, Proletarian Imagination, 30; Gruzdev, Avtobiografija, IRLI RO f. 193 d. 104, 1901, l. 1ob. 432 Jacimirskij, Ivan Zacharoviþ Surikov, 105.
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spiegelt einen Prozess wider, der sich seit den 1880er Jahren in Russland durch Migration, Urbanisierung und Industrialisierung beschleunigt hatte. Mit der Veränderung der Raum- und Zeitbeziehung durch neue Verkehrs- und Kommunikationsmittel, Wanderarbeit und Presse, entstanden vermehrt Möglichkeiten, die eigene Person nicht mehr allein lokal zu verorten. Jacimirskijs Bewertungen stellten den einzelnen in Beziehung zum gesamten Zarenreich, unterwarfen ihn den gleichen Bewertungsmaßstäben, die auch an englische Autodidakten und amerikanische selfmade men angelegt wurden.433 Durch die Aufforderung zum autobiographischen Schreiben wurde Gesellschaft – sogar über Ländergrenzen hinweg – homogenisiert. Die Antworten auf Jacimirskijs Aufruf verstärkten eine Tendenz, die sich schon in den Antworten auf Rubakins Schreibaufrufe angedeutet hatte. Die Ständekategorie, welche vormals den Begriff des Autodidakten näher bestimmt hatte, wich immer mehr verfeinerten, funktionellen Kategorien. Die Betonung der Unterschiede fand ihren Niederschlag auch in Begriffen: Die Gruppe der bäuerlichen Autodidakten (krest’jane-samouþki) differenzierte sich u.a. in autodidaktische Schriftsteller (pisateli-samouþki), autodidaktische Dichter (poơty-samouþki) und autodidaktische Techniker (techniki-samouþki) aus. Jene Kategorien, die vor allem Samuel Smiles’ in Russland populäres Buch Self-Help vorgegeben hatte, wurden auch durch die Schreibaufrufe und Publikationen Rubakins und Jacimirskijs ins Russische übertragen. Zeit und Zeitnutzung spielten in den Autobiographien eine zentrale Rolle. Die Korrespondenten versuchten zu belegen, dass sie anders als ihre Nachbarn und Brüder ihre Zeit nicht vergeudeten, sondern klug für die eigene Bildung einzusetzen wussten. Sie alle legten in den Autobiographien, so das fünfte Erzählmoment, eine mustergültige Zeitökonomie dar. Sie betonten den Unterschied zu ihrem Herkunftsmilieu nicht nur dadurch, dass sie ihre Zeit anders nutzten, sondern dass sie der Zeit überhaupt Bedeutung beimaßen. In ihren Autobiographien spiegelten sich die Anweisungen wider, die Publizisten und Benimmratgeber gaben, um die Eigeninitiative der Bauern zu wecken.434 Mit ihren Texten antworteten die Bauern auf diese Ansprüche und Vorgaben. Sie übten auch durch autobiographisches Schreiben und durch die Beobachtung von Lebenslauf und Tagesrhythmus eine Zeitplanung ein, die nach Effizienzgesichtspunkten funktionierte. Bauern, die ihr Talent nutzen wollten, durften weder den Tag noch die einzelne Stunde leichtsinnig verschwenden. Sie übertrugen Zeitmodelle auf ihre Selbstpräsentation, die sie in der Stadt als Angestellte, Soldaten oder Fabrikarbeiter kennen gelernt und über die sie sich bitter
433 Cawelti, Apostles of the Self-Made Man; Beecher Stowe, The Lives and Deeds; Smiles, Der Charakter; Smiles, Self-Help; Secord, »Be what you would seem to be«; Travers, Samuel Smiles and the Victorian Work Ethic; Day, Introduction; Travers, Samuel Smiles and the Origins of »Self-Help«. 434 Ausführlich zur Ratgeberliteratur im ausgehenden Zarenreich: Kelly, Refining Russia.
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beklagt hatten. Um die richtige Nutzung der Zeit zu belegen, knüpften Autobiographen wie Efim Gruzdev auch an hagiographische Biographiemuster an. Wie in den Viten der Heiligen hätten sich seine Auserwähltheit und die Berufung zur Literatur schon in der Kindheit angedeutet, wie die Heiligen habe auch er keinen Gefallen am kindlichen Spiel gefunden. Aber anstatt zu beten und zu fasten, habe er lieber gelesen und gelernt.435 Andere hingegen richteten ihr Leben an Leseanleitungen aus, wie sie Rubakin gab oder wie sie in Kopekenheften nachgelesen werden konnten. Egor Kuz’miþev berichtete von seinem selbst gewählten Curriculum, das es ihm ermöglicht habe, Lesen durch Schreiben zu ersetzen. Er habe erst zwei Jahre intensiv die besten Autoren studiert sowie Theater, Museen und Gemäldegalerien besucht, bevor er als Dichter debütierte.436 Zeit war in den Autobiographien immer knapp. Auch Škulev, der sich als Laufbursche verdingte, gab an, fast keine Zeit zum Schreiben besessen zu haben. Nur durch kluges Handeln konnte er sie gewinnen. Er habe stets Papier und Stift bei sich gehabt, um in den wenigen Minuten zwischen den Botengängen etwas aufschreiben zu können.437 Jacimirskijs Korrespondenten beschrieben die nicht selbst bestimmte Zeit als Gewalt, die ihnen unrechtmäßig angetan wurde. In Tezikovs Autobiographie übte der Gutsherr seine Macht aus, indem er Tezikovs Tagesablauf bestimmte. Er habe ihm Freiräume zur selbstbestimmten Bildung verwehrt, indem er ihn zu seinem Schreiber machte. Tezikov konnte diese aufgezwungene Tätigkeit aber nicht von seinem Bildungshunger abhalten. Genau beschrieb er, wie er die knappe Zeit genutzt habe, sodass es ihm gelungen sei, sogar als leibeigener Bauer Meriten in der Astronomie zu erwerben. Autodidaktisch habe er ohne Lehrer, allein aus Büchern die französische Sprache gelernt. Nach der Abschaffung der Leibeigenschaft abonnierte er französische Zeitschriften und machte sich mit astronomischer Fachliteratur vertraut.438 Während die rationale und effiziente Nutzung der Zeit geeignet war, um Anerkennung zu erringen, ließ sich aufgrund des Zeitmangels, über den alle klagten, auch ein Vorwurf an jene richten, welche die Begabung der Korrespondenten ignorierten. Die fehlende Zeit war mehr als ein narratives Distinktionsmittel, das knapp werden ließ, was Bauern angeblich im Überfluss hatten. An der wiederholenden Klage zeigt sich, dass sich mit ›Bauer‹ und ›Dichter‹ zwei Lebensentwürfe gegenüberstanden, die totale Zeitansprüche stellten. Die Korrespondenten Jacimirskijs litten daran, zwei Leben in einem zu führen, aber keiner Aufgabe genügen zu können. In dem Moment, wo sie zu Stift und Papier griffen, um als Talent, Bauernpoet
435 Gruzdev, Avtobiografija, IRLI RO f. 193 d. 104, 1901, l. 1. 436 Kuz’miþev, Avtobiografija, IRLI RO f. 193 d. 200, 1901, l. 4-4ob. 437 Škulev, Avtobiografija, IRLI RO f. 193 d. 456, 1901, l. 5. 438 Tezikov, Avtobiografija, IRLI RO f. 193 d. 402, 1901, l. 6ob-7ob.
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oder Dichter an Jacimirskij zu schreiben, erschien ihnen bäuerliche Arbeit als Zeitverschwendung. In Gesprächen mit ihren Ehefrauen, Vätern und Dienstherren hatten sie sich hingegen zu rechtfertigen, warum sie ihrer Arbeit auf dem Feld, in den Fabriken und Familien nur geteilte Aufmerksamkeit widmeten. Die Autobiographien zeigen, dass die eigenen und fremden Ansprüche an ein Naturtalent, ob Dichter, Maler oder Astronom, mit dem Lebensentwurf als Bauer oder Fabrikarbeiter kollidierten. Anders als Rubakins erste Schreibaufrufe, die sich auch an Anfänger gewandt hatten, setzte Jacimirskijs Projekt die Autobiographen unter Druck, denn nur den Besten, die Zeit und Begabung am klügsten genutzt hatten, wurde ein Platz im Olymp russischer Naturtalente zugestanden. Das Gefühl, immer zu wenig für die Dichtung getan zu haben, und die Hoffnung, von Jacimirskij die Bestätigung zu bekommen, dass es doch zum Aufstieg reiche, ließ die Bauern ausbleibenden Erfolg durch Zeitknappheit entschuldigen. In ihren Autobiographien sehnten sie eine Zukunft herbei, in der die beiden Lebensentwürfe ›Dichter‹ und ›Bauer‹ vereinbar waren, eine Zukunft, in der sie von ihrer Literaturtätigkeit leben konnten. Sie glaubten, ihr Talent werde sich erst richtig entfalten, wenn sie nicht mehr auf profane Feldund Lohnarbeit angewiesen seien.439 Auch in Russland führte der forcierte soziale Wandel zu einem beschleunigten Lebenstempo und immer knapperen Zeitressourcen. Erfahrungsraum und Erwartungshorizont hatten sich Ende des 19. Jahrhunderts immer weiter voneinander entfernt. Die Freisetzung aus vorgegebenen Rollen durch Bauernbefreiung, Urbanisierung und Industrialisierung führte zu einem Verlust von Erwartungssicherheit.440 Die Bauern, die an Jacimirskij schrieben, versuchten sich – auch durch die Antwort auf den Schreibaufruf – neue Möglichkeiten der Lebensführung zu erarbeiten, die ihnen einen Vorteil in einer sich rasant verändernden Gesellschaft gewähren sollten. Sie konnten jedoch nicht alles auf eine Karte setzen, sondern mussten sich eine Vielzahl von Optionen bewahren, um sich und ihre Familien ernähren zu können: Sie gingen auf Wanderarbeit, brachten die Ernte ein, arbeiteten in den Fabriken, wechselten ihre Arbeitsstellen, dichteten, lasen und lernten. Sie haben das Offenhalten der vielen Möglichkeiten mit Zeitnot bezahlt. Zum Erfolg verdammt Jacimirskijs Korrespondenten erhofften sich Sichtbarkeit und Anerkennung für ihre Lebensführung. Auch sie wollten ihre Stimme hörbar machen. Leistung allein, wie sie sich in einem guten Gedicht manifestierte, reichte jedoch nicht aus. Jacimirskij verweigerte jenen Korrespondenten eine Antwort, die es versäumt hatten, ihm ihre
439 Škulev, Avtobiografija, IRLI RO f. 193 d. 456, 1901, l. 26. 440 Rosa, Beschleunigung, 461, 562.
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Autobiographie zu senden. Smirnov, der ihm seine Gedichte geschickt hatte, wartete vergeblich auf eine Bestätigung. Schließlich gab ihm sein Bekannter S.S. Šþenikov, dessen Autobiographie sich gleichfalls in dem Archivbestand befindet, einen Wink: Jacimirskij würde Smirnov nicht antworten, da seine Autobiographie fehle. Seine Nachlässigkeit versuchte Smirnov ungeschehen zu machen, indem er Jacimirskij sofort seine Autobiographie sandte. In dem begleitenden Brief gestattete er ihm, seine Lebensgeschichte nach eigenem Gutdünken zu kürzen und zu verbessern.441 Nur wenige Korrespondenten wollten im Verborgenen bleiben und baten deshalb Jacimirskij, ihre Autobiographie nicht abzudrucken. Sie hätten in Gefängnissen gesessen und unter Verbannung gelitten. Ihnen genügte es, an einem Gegenarchiv teilzuhaben, das latent blieb. Sie schrieben als Zeugen einer Vergangenheit, die erst in einer noch einzutretenden Zukunft auf den Richtstuhl kommen sollte.442 Jacimirskijs Korrespondenten bezahlten ihre Hoffnung auf sozialen Aufstieg sowie ihren Anspruch auf Partizipation damit, dass sie ihr Leben der Beurteilung durch andere überließen und deren Bewertungsmaßstäbe auf ihr Leben und ihre Lebensbeschreibung übertrugen. Literarisch erfolgreiche Bauern wie Spiridon Drožžin, dessen Lebensgeschichte mehrfach publiziert wurde und dem auch Jacimirskij geholfen hatte, ein Stipendium zu erhalten, waren der lebendige Beweis, dass dies keine unberechtigten Sehnsüchte waren.443 Die Autobiographen, die an Jacimirskij schrieben, sahen die Niederschrift ihrer Lebensgeschichte auch als Möglichkeit, sich in der Literaturgeschichte zu verewigen. Ihre Autobiographie war dafür ebenso wichtig wie Talent, Gedichte und Erzählungen. Jacimirskijs Korrespondenten nutzten die Autobiographien in der gleichen Weise, wie sie an Zirkeln teilnahmen, ihre Gedichte an Lokalzeitungen sandten oder einen Briefwechsel mit anderen Autodidakten, Publizisten und Redakteuren aufnahmen. Die Autobiographien sind Teil von Bemühungen, die um die Jahrhundertwende immer häufiger anzutreffen waren. Sie zeigen, dass auch die Bauern erkannt hatten, dass sich Aufmerksamkeit nicht allein durch Leistung, sondern vor allem durch die geschickte Nutzung von Medien und Mittlern erreichen ließ. Škulev, Travin, Drožžin, alles Dichter aus dem Bauernstand, die mit Jacimirskij korrespondierten, schlossen sich 1902 in einem von Maksim Leonov gegründeten Zirkel zusammen, den sie 1903 nach Ivan Surikov benannten.444 Der Surikov-Kreis (Surikovskij
441 Smirnov, Avtobiografija, stichov, IRLI RO f. 193 d. 367, 1903, l. 10. 442 Bacharev, Avtobiografija, IRLI RO f. 193 d. 56, 1901. 443 Jacimirskij, Pis’mo S.D. Drožžinu, RGALI f. 176 op. 1 d. 324, 10.06.1901, l. 1; Drožžin, Pis’ma Jacimirskomu, A.I., RGALI f. 584 op. 2 d. 27, 17.06.1901, l. 1. 444 Ivan Surikov hatte in den 1860er Jahren erstmals Dichter und Schriftsteller aus den unteren Schichten um sich versammelt.
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literaturno-muzykal’nyj kružok) blieb bis 1921 bestehen, danach trat eine Vielzahl der Mitglieder der Allrussischen Vereinigung bäuerlicher Schriftsteller (Vserossijskij sojus krest’janskich pisatelej) bei. Die Aufmerksamkeit, die der Kreis auf sich zog, ermöglichte es insbesondere seinen Gründungsmitgliedern, literarische Erfolge zu feiern. Unter dem Namen dieses Zirkels ließen sich in Zeitungen und Zeitschriften Gedichte veröffentlichen. Diese Aufmerksamkeit hat sich augenscheinlich auch auf die Überlieferung übertragen. Dass unter den angeblich 2.000 eingetroffenen Antworten vor allem Autobiographien bewahrt worden sind, dessen Schreiber auch durch ihre Arbeit in Literaturzirkeln Beachtung gefunden hatten, liegt wohl auch daran, dass Archivare das Bekannte seltener in den Papierkorb warfen.445 Es war der Drang nach Sichtbarkeit und Öffentlichkeit, der die Korrespondenten antrieb, ihre Lebensgeschichte aufzuschreiben. Die Sehnsucht, gesehen zu werden, ließ sie immer wieder sorgvoll fragen, ob auch ihre Lebensgeschichte gedruckt werden würde.446 Bauern wie Ožegov waren besonders rege. Er gab nicht nur seine Gedichte zusammen mit seiner Autobiographie heraus, sondern wandte sich an all jene, die sich für die Lebensgeschichten talentierter Bauern interessierten. Seine Autobiographie gelangte in zahlreiche Archive, seine Lebensgeschichte hatte unterschiedlichen Zielen zu gehorchen, sein Leben wurde in verschiedenen Kontexten zu einem Argument. Ožegov gelang es, die Anerkennung, die ihm zum Beispiel durch Jacimirskij zuteil geworden war, auch in anderen Umgebungen einzufordern. Stolz schrieb er Rubakin, dass sich Jacimirskij für ihn interessiere. Noch 1925 verhießen die alten Adressaten Prestige. Die Literaturhistorikerin Evdoksija Nikitina sammelte in der frühen Sowjetunion für ihre Studien gleichfalls Autobiographien von Schriftstellern.447 Ihr gegenüber betonte Ožegov gleichfalls seine Bedeutung: Schon Jacimirskij und Rubakin hätten seine Autobiographie eingefordert sowie sein Leben und seine Werke als beachtenswert beurteilt.448 Auch für die Durchsetzung von Pensionsansprüchen war es sinnvoll, noch einmal die eigene Lebensgeschichte darzubieten. Anders als gegenüber Rubakin und Jacimirskij verwies Ožegov 1928 in
445 Viele der Korrespondenten Jacimirskijs gaben an, Mitglied des Leonov-Kreises und Surikov-Kreises gewesen zu sein oder mit den Mitgliedern in Kontakt gestanden zu haben. Morozov, Avtobiografija, RGALI, f. 584 d. 309, 1910, l. 3ob; Škulev, Avtobiografija, IRLI RO f. 193 d. 456, 1901, l. 23; Nazarov (Slavjanskij), Avtobiografija, IRLI RO f. 193 d. 261, 1900-1901, l. 5ob-7ob. 446 Kuz’miþev, Pis’ma ego Jacimirskomu, A.I., IRLI RO f. 193 d. 199, 1901-1902, l. 4-12. 447 Die Literaturhistorikerin Nikitina nutzte die Informationen für populärwissenschaftliche Publikationen über bäuerliche und proletarische Schriftsteller wie Aleksandr Fadeev, Maksim Leonov und Ivan Vol’nov. Sie stammte selbst aus einer wohlhabenden bäuerlichen Familie: Nikitina, Šubalov, Belletristy sovremenniki, T. 1-4. 448 Ožegov, Avtobiografija, RGB f. 198 6.85, 1925.
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dem durch eine Autobiographie angereicherten Bittbrief nicht auf seine Selbstbildung, sondern zeichnete sich als Opfer des Zarenreichs. Auch er habe in Gefängnissen gesessen und im Klassenkampf für die Unterdrückten gekämpft.449 Die Aufhebung der Leibeigenschaft, Alphabetisierung, neue Medien, Wanderarbeit sowie Kontakt mit städtischer Kultur machten neue Biographiemuster attraktiv. Die Autobiographieprojekte erweiterten die Möglichkeiten, um das eigene Leben als erfolgreich zu schildern und auch gegenüber anderen sichtbar zu machen. Wie ein Vergleich der Autobiographieprojekte zeigt, nahmen die Ansprüche der Initiatoren zu. Während Rubakin Leselust und Schreibfähigkeit genügt hatten, um seinen Korrespondenten Anerkennung zu zollen, war Jacimirskij sparsam mit Lob. Nur jene, die Verse schmieden konnten oder sich auf anderen Gebieten als Ausnahmetalente erwiesen hatten, gelangten in sein Sichtfeld und wurden mit Aufmerksamkeit bedacht. Mit den steigenden Ansprüchen nahmen anders als bei Rubakin auch jene Redeweisen ab, die Gemeinwohl in den Mittelpunkt stellten. Der Einzelne und seine individuelle Leistung waren nun wichtiger. An sein Leben wurden immer mehr die Maßstäbe professioneller Literaturkritik angelegt.450 Während Rubakins Schreibprojekt in der Anfangsphase wenig vorgegeben und damit von den Korrespondenten erhöhte Selbstbeobachtung eingefordert hatte, konnten die Anforderungen Jacimirskijs nicht brieflich ausgehandelt werden. Jacimirskijs Korrespondenten, die sich mit dem Abfassen einer Autobiographie für die Identität eines Ausnahmetalents entschieden hatten, verfügten über weniger Möglichkeiten, in ihrer Autobiographie auch Scheitern zuzugeben und Misserfolg zu schildern, wie es ihnen in Rubakins Autobiographieprojekt die Identität des Leser erlaubt hatte. Anders als gegenüber Rubakin sprachen Jacimirskijs Korrespondenten nicht über Probleme und Hemmungen, die sie beim Verfassen der Autobiographie gehabt hätten. Autobiographisches Schreiben funktionierte immer weniger als nach außen getragenes, reflexives Projekt.
449 Ožegov, Pensionnye dela pisatelja-surikovca Matveja Ivanoviþa Ožegova, RGALI, f. 1641 op. 1 d. 28, 1928-1930. Ebenso schilderte 1931 Filipp Škulev sein Leben für eine Anthologie über Bauernliteratur: Škulev, Avtobiografija, in: Antologija krest’janskoj literatury, 102-103. 450 So erschienen in der Zeitschrift Russkaja Mysl’, für die auch Jacimirskij schrieb, vernichtende Rezensionen zu den Werken der ›Dichter aus dem Volk‹. Sehr kritisch beurteilte 1900 ein anonym bleibender Rezensent, dessen Schreibweise sehr dem Ausdruck Jacimirskijs ähnelt, die Gedichte Matvej Ožegovs. Rez. Moja žizn’ i pesni, 43-45.
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Autobiographisches Schreiben als Palimpsest Die Texte, die in den Projekten von Bonþ-Brueviþ, Rubakin und Jacimirskij entstanden sind, helfen, sich von einem monologischen Verständnis autobiographischen Schreibens zu lösen. Schreibaufrufe, soziologische Untersuchungen, wissenschaftliche Programme und Fragebögen boten auch Bauern einen Raum, um über ihr Leben zu schreiben. Die Beziehungen zwischen den autobiographisch Schreibenden und den Initiatoren schlug sich in den Texten nieder, beeinflusste ihre Inhalte, Archivierung und Überlieferung. Die Analyse der Autobiographieprojekte zeigt, welche bedeutende Rolle ihren Initiatoren und den Sammlern von autobiographischen Texten zukam. Es ist leichter zu sprechen, wenn jemand zuhört; leichter zu schreiben, wenn jemand lesen will; leichter seine Autobiographie zu überliefern, wenn es Sammlungen und Archive für solche Texte gibt. Die Autobiographien der Korrespondenten gleichen im epistemologischen Sinn Palimpsesten. Die Stimmen der Sammler und Korrespondenten sind dort miteinander verwoben. Es ist eine Illusion, aus diesem Vielklang ›authentische‹ Stimmen heraushören zu wollen. Die Stimme der Initiatoren klingt in den Autobiographien mit, wie auch die Bauern mit ihren Selbstzeugnissen die Anrufungen der Initiatoren veränderten. Eine Analyse bäuerlicher Autobiographik kann sich nicht mit einer Untersuchung der geschilderten Erfahrungen begnügen. Stattdessen muss sie auch darlegen, wann, wo und für wen die Bauern schrieben, wann sie das Schreiben einschränkten oder aufgaben, unter welchen Namen und in welchen Sammlungen ihre Texte überliefert sind. Autobiographisches Schreiben geschieht, das zeigen die Projekte, innerhalb sozialer Beziehungen. Es geht nicht in einem Gegensatz zwischen Individuum und staatlicher Macht auf, wie es vor allem jene Historiker suggerieren, die sich mit dem autobiographischen Schreiben im Stalinismus befasst haben. Der Abbruch der Autobiographieprojekte Bonþ-Brueviþs und Rubakins in den späten 1930er Jahren zeigt zwar, wie wichtig Veränderungen des politischen und gesellschaftlichen Klimas für das autobiographische Schreiben der Korrespondenten waren. Sie wirkten aber auf das autobiographische Schreiben erst in dem Moment zurück, als sich die Beziehungen und damit auch die Kommunikationsräume veränderten, in denen autobiographisches Schreiben stand. Dass bäuerliche Autobiographik erstmals in wachsender Zahl für das 19. Jahrhundert überliefert worden ist, zeugt nicht nur von einer steigenden Alphabetisierung und der zunehmenden Nähe städtischer und ländlicher Räume, sondern auch von grundlegenden Veränderungen in der Konzeption von sozialer Ordnung und dem Platz, den Bauern in ihr beanspruchen konnten oder der ihnen in ihr zugewiesen wurde. Nach 1861 war die ›Stimme der Bauern‹ wertvoll geworden. Sie galt nun als besonders hörenswert, da die Frage, wer der ›Bauer‹ eigentlich sei, offener als je zuvor schien. Frühere Kategorien hatten nach der Bauernbefreiung ihre
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Selbstverständlichkeit verloren. Die Initiatoren der Autobiographieprojekte boten neue Kategorien der Selbstverortung an, die die Korrespondenten verwarfen oder sich aneigneten und mit Leben füllten. Dabei standen die neuen Kategorien im Dialog mit globalen Konzepten von sozialer Mobilität und biographischem Erfolg. So lässt sich der russische Begriff des ›Naturtalents‹ (samorodok), wie er zum Beispiel in dem Autobiographieprojekt Jacimirskijs gebraucht wurde, ohne das Menschenbild der Aufklärung, ohne die Schriften Samuel Smiles’ über ›Talente‹ aus den Unterschichten und ohne die Suche nach self-made men in Amerika nicht denken. Die Imaginationen, die auf die Bauernschaft projiziert wurden, wirkten auf die bäuerlichen Selbstzeugnisse zurück. Bonþ-Brueviþ interessierte sich für ›Sektierer‹, die sich den Ansprüchen des Staats und der Kirche verweigerten, Rubakin für den sich selbst bildenden ›Leser‹, der sein Schicksal selbst in die Hand nahm, Jacimirskij für ›Naturtalente‹, deren Leben das Potenzial des ›einfachen Volks‹ offenbarte. Alle drei Initiatoren nutzen die Autobiographien der Bauern, um soziale Ungerechtigkeit zu kritisieren und Evidenz für ihre Sicht auf die Gesellschaft zu schaffen. Auch daher sprachen die Initiatoren ihre Korrespondenten als Zeugen an und präsentierten die zugesandten Texte einem größeren Publikum als aufrichtige Zeugnisse. Während Rubakin und Jacimirskij auf den Begriff des narod rekurrierten, der mit homogenisierenden und harmonisierenden Vorstellungen von Gemeinschaft verbunden war, betonte Bonþ-Brueviþs Projekt die Differenzen. Der Bezug auf das Buch, Literatur und Schrift war geeignet, die Kluft zwischen oben und unten, Gebildeten und Ungebildeten, Armen und Reichen zu verringern, während Häresie und Devianz nur den Schulterschluss mit bestimmten Gruppen – Sozialdemokraten und Marxisten – erlaubte. Letztendlich setzten auch die Autobiographieprojekte, die den Ungehörten eine Stimme geben wollten, neue In- und Exklusionsprozesse in Gang. Die Korrespondenten schrieben sich mit ihren Autobiographien in Gruppen hinein und auch aus ihnen heraus. Auch durch (auto-)biographisches Schreiben wurde bestimmt, wer dazu gehörte oder wer zu Unrecht Anspruch auf Mitgliedschaft erhob. Die neuen Selbstbezeichnungen schieden ebenso zwischen innen und außen, wie dies alte Zugehörigkeiten getan hatten. Die verschiedenen Autobiographieprojekte und die mit ihnen verbundenen Imaginationen und Semantiken zeigen, dass mit der Erosion der Ständeordnung die Möglichkeiten wuchsen, unter verschiedenen Selbstbezeichnungen eine Lebensbeschreibung zu verfassen. Dabei drängte das wachsende Angebot an Biographiemustern zeitstabile Identitätsentwürfe immer mehr zurück. Initiatoren wie BonþBrueviþ und Jacimirskij versuchten zwar, ihre Korrespondenten auf bestimmte Zugehörigkeiten festzulegen und für ihre Version von Vergangenheit und Gegenwart zu vereinnahmen. Doch die Bauern überschritten die Grenzen zwischen den Kommunikationsräumen und probierten verschiedene biographische Narrative aus, die auch in Widerspruch zu den Wünschen der Initiatoren stehen konnten: Mitunter weigerten sie sich, zu schreiben, antworteten auf mehrere Aufrufe oder ließen sich
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nicht auf eine Kategorie festlegen. Einige Bauern antworteten Bonþ-Brueviþ als ›Sektierer‹ und ›Dichter‹, während Rubakins Korrespondenten in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre begannen, weniger über sich als ›Leser‹ zu sprechen, sondern stärker ihre religiösen Überzeugungen in den Mittelpunkt stellten. Gerade durch die Pluralität der Autobiographieprojekte war es schwierig, den inhärenten Wahrheitsanspruch umzusetzen, den alle Initiatoren pflegten. Es erwies sich daher als geschickte Strategie der Bol’ševiki, in den 1930er Jahren mit den Autobiographieprojekten auch konkurrierende Deutungen auf gelebtes Leben auszuschalten. In öffentlichen Räumen wurde es seit den 1930er Jahren immer schwieriger, über sich zu sprechen, ohne an das sozialistische Narrativ anzuknüpfen. An den vorrevolutionären Autobiographieprojekten wird offenbar, dass die Geschichte der sowjetischen Autobiographiebesessenheit ihre Vorläufer im Zarenreich hat. Das Einfordern von autobiographischen Texten und die Anstrengungen, die Projekte wie die Geschichte der Fabriken und Betriebe und die Krest’janskaja Gazeta seit den 1920er Jahren unternahmen, waren keine Erfindungen der Sowjetunion.451 Elemente wie inszenierte Autorschaft, Arbeit an der eigenen Biographie und permanente Überarbeitung der Autobiographie waren keine spezifisch stalinistischen Phänomene.452 Die Kontinuitäten zeigen, dass auch die sowjetischen Projekte nicht in der Dichotomie von Lüge und Wahrheit, Aufrichtigkeit und Manipulation aufgehen.453 Vielmehr führten die Krest’janskaja Gazeta und die Geschichte der Fabriken und Betriebe vorrevolutionäre Formen weiter, die im Zarenreich durch Schreibaufrufe und Frageprogramme eingeübt worden waren. Die Autobiographieprojekte hatten sich schon vor 1917 von der Hagiographie emanzipiert, indem sie besonderen Wert darauf legten, dass sich ihre Korrespondenten mit der Darlegung ihrer ökonomischen Lage in der sozialen Ordnung verorteten. Die Standesbezeichnung hatte an Aussagekraft verloren. War in den Autobiographieprojekten familiäre Armut erwähnenswert gewesen, weil sich an ihr Leistungswille und Charakterstärke zeigen ließ, wurde in den 1920er Jahren Wohlstand zum Makel. Nun betonten die Bauern ihre Armut, um sich von den ›Kulaken‹ abzugrenzen.454
451 Zu den Möglichkeiten autobiographischen Schreibens im Rahmen der Krest’janskaja Gazeta seit den 1920er Jahren und der Geschichte der Fabriken und Betriebe seit den 1930er Jahren siehe: Aris, Die Metro; Žuravlev, Fenomen; Žuravlev, Istoþniki; Kozlova, Gorizonty povsednevnosti sovetskoj ơpochi; Koznova, XX vek. 452 Diese These wird von Nancy Aris vertreten: Aris, Die Metro, 294; Katerina Clark, »The History of the Factories«, 251-278. 453 Aris, Die Metro, 310. 454 Die Autobiographie der Bäuerin Anna Darmidopovna Tret’jakova beginnt wie fast alle Autobiographien, die an die Krest’janskaja Gazeta gerichtet wurden. Sie kann als Beispiel für das neue Schreiben gelten: »Ich Tret’jakova Anna Darmidopovna bin 24 Jahre
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Dass die Autobiographien einem Palimpsest gleichen, spricht den Bauern nicht die Fähigkeit zum Handeln ab. Vielmehr zeigt die Vielzahl unterschiedlicher Autobiographieprojekte, dass die Bauern gerade durch das Schreiben und Adressieren ihrer Lebensgeschichte neue Handlungsmöglichkeiten gewannen. Die Bauern entschieden selbst, ob sie auf die Schreibaufrufe antworteten, wie sie ihr Leben darstellten und an wen sie ihre Lebensbeschreibung adressierten. Sie wussten mitunter sehr geschickt die Kontexte zu nutzen, in denen autobiographisches Schreiben im ausgehenden Zarenreich und der frühen Sowjetunion stand. Gerade die Korrespondenten, die für mehrere Projekte schrieben, setzten ihre Autobiographie in verschiedenen Zusammenhängen als Argument ein. Sie hatten erkannt, dass ihre Stimme als ›Stimme von unten‹ und als Gegenarchiv zu den Darstellungen von Kirche und Autokratie als wertvoll galt. Durch geschickten Einsatz der eigenen Lebensbeschreibung konnte Aufmerksamkeit für die eigene Person erzeugt werden, die sich in Briefen, Publikationsmöglichkeiten, Lesestoff, Geld und anteilnehmender Patronage auch materialisierte. Die Autobiographien, die nach Schreibaufrufen entstanden sind, spiegeln nicht nur soziale Mobilität wider. Sie ermöglichten – Matvej Ožegov und Ivan Ivin sind dafür die deutlichsten Beispiele – biographischen Erfolg. Sie erleichterten aufstiegswilligen Bauern die Herauslösung aus dem Herkunftsmilieu. Die Antworten auf die Schreibaufrufe waren für die unteren Schichten eine Möglichkeit, sich Zugang zu politischen Räumen jenseits der ländlichen und städtischen Selbstverwaltungsorgane zu verschaffen. Sie ersetzten urbane Infrastrukturen wie Bibliotheken, Museen, Vereine, Restaurants oder Theater, in denen sich Öffentlichkeit konstituieren konnte und aus denen Bauern, Wanderarbeiter und Soldaten häufig aufgrund mangelnder finanzieller Mittel ausgeschlossen waren. Das Besondere an den Autobiographieprojekten ist, dass die Bauern in Verbindung mit jenen sprachen, deren Stimme durch Zensur, Gefängnis, Emigration und Verbannung sowie fehlender beruflicher Perspektiven gleichfalls marginalisiert war. Diese Konstellation passt nur bedingt in die Parameter der postkolonialen Theorie, deren Prämissen die vorliegende Studie in vielen Punkten inspiriert haben. Die Autobiographieprojekte erschöpfen sich nicht in einer simplen Opposition zwischen Herrschenden und Beherrschten. In den Augen ihrer Initiatoren sollten die Schreibaufrufe und die sich anschließenden Korrespondenzen aus den imaginierten Beziehungen zwischen Bauernschaft und Intelligencija reale Beziehungen schaffen, nachdem in den 1870er Jahren der ›Gang ins Volk‹ häufig auf Polizeistationen geendet und damit auch an Strahlkraft verloren hatte. Die Bauern, die auf Schreibaufrufe antworteten, bezogen ihr Leben auf diese Imaginationen. Sie nutzten die Hoff-
alt (1899). Geboren wurde ich im Dorf Berezovka des [unleserlich, J.H.] Landkreises, im Gouvernement Perm’. Mein Vater war Bauer, der aber nur sehr wenig Land besaß.« RGAƠ, f. 396 op. 2 d. 33, l. 729.
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nungen, die mit den Bauern im ausgehenden Zarenreich verbunden waren, um Aufmerksamkeit für das eigene Leben zu erringen. Die Antworten der Korrespondenten und die Aneignungen neuer Kategorien in der Selbstbezeichnung lässt die kulturelle Kluft zwischen Bauern und Gebildeten als weniger tief erscheinen, als sie die Forschungsliteratur häufig zeichnet. Der inhärent politische Anspruch schloss allerdings Frauen vom autobiographischen Schreiben aus. In keinem der drei Autobiographieprojekte sind Texte von Bäuerinnen überliefert. Es fällt schwer, eindeutige Gründe für diese Zurückhaltung zu nennen. Schrieben Bäuerinnen nicht für Bonþ-Brueviþ, Rubakin und Jacimirskij, weil sie nicht schreiben konnten? Fühlten sie sich von den Schreibaufrufen nicht angesprochen? Oder hatten die Sammler etwa kein Interesse an ihren Texten? Es soll daher im folgenden Kapitel zum autobiographischen Schreiben im Familienkreis gefragt werden, unter welchen Bedingungen auch Bäuerinnen zur Feder griffen, um über ihr Leben zu erzählen. Wie gelang es ihnen, ihren Text danach zu überliefern? Mit ihrer Antwort auf die Autobiographieprojekte stellten sich die Schreiber in den gesamten Raum des Zarenreichs hinein und machten ihr Leben – sogar über die Grenzen Russlands hinaus – vergleichbar. Sie trugen damit zu einer biographischen Homogenisierung der Nation und des Imperiums bei, indem sie Identitätsentwürfe präsentierten, die nicht mehr an soziale Herkunft gebunden waren, sondern auf eigenen Entscheidungen, Leistungswillen und Männlichkeit beruhten. Damit sind ambivalente Prozesse verbunden: Einerseits meldeten die Bauern, die auf Schreibaufrufe reagierten, ihren Anspruch auf Partizipation an und nahmen durch das autobiographische Schreiben einen Platz in der sozialen Ordnung ein, der nicht mehr mit Stand und Geburt verbunden war, andererseits wurden die Bauern durch die Schreibaufrufe gedrängt, von außen herangetragene Normen zu erfüllen. Die Initiatoren vermittelten mit den Schreibaufrufen auch ihre Überzeugung, dass nicht nur an der Autobiographie gearbeitet werden müsse, sondern dass auch der eigene Lebenslauf zu gestalten sei. Dieser ambivalente Prozess lässt sie am besten als gegenseitige Aneignung beschreiben, der allen einen Lohn verhieß. Dieses Verhältnis von Gabe und Gegengabe wurde erst durch die gesellschaftlichen und innenpolitischen Veränderungen der 1930er Jahre gestört. Während die Revolution 1905 wenig Spuren hinterließ und auch die Revolutionen von 1917 das autobiographische Schreiben nur unwesentlich veränderten, wandelte sich das autobiographische Schreiben in den 1930er Jahren mit dem Verlust der Vertrauensbeziehungen zwischen Korrespondenten und Initiatoren der Autobiographieprojekte eklatant. Damit ging auch eine Veränderung in der Konzeption von Autobiographik als Gegenarchiv einher. Sowohl die Schreiber als auch die Initiatoren der Schreibaufrufe hatten die autobiographischen Texte als Gegenarchive angesehen, mit denen sich Evidenz für ihre Version der Vergangenheit und Gegenwart erzeugen ließ. In der Sowjetunion wurde diese Verbindung brüchig. Die Initiatoren der Autobiographieprojekte verstanden sich selbst, ihre Arbeit und ihre
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Schreibaufrufe als Wegbereiter der neuen Ordnung. Als sich frühere Weggefährten als Feinde entpuppten, waren Bonþ-Brueviþ und Rubakin mit der neuen Situation überfordert. Sie und ihre Arbeit gerieten unter Druck. Sie zögerten, in den eingesandten Autobiographien Gegenarchive zu erkennen, während ihre Korrespondenten die Vorstellung von Autobiographik als Speicher verborgener Wahrheiten wachhielten. Mit Beginn des ›großen Terrors‹ brachen die im Zarenreich begonnenen Autobiographieprojekte ab. Ob es ähnliche Zäsuren auch im autobiographischen Schreiben für den Hausgebrauch gab?
4. Schreiben im Familienkreis
Bauern im Zarenreich versuchten Aufmerksamkeit außerhalb des Familienkreises durch Autobiographien zu erreichen, die sie an Zeitungen und Zeitschriften sowie an die Initiatoren von Autobiographieprojekten sandten. Dabei bedienten sie sich bestimmter Erzählmomente, die auch mit den Anforderungen und Wünschen ihrer Adressaten im Dialog standen. Mit ihnen versuchten sie zu belegen, dass sie Aufmerksamkeit verdienten. In ihren Autobiographien legten sie ihre Entwicklung zu einer bestimmten Persona dar. Die Annahme einer Persona war sowohl Bilanz als auch Ziel ihres ›erzählten‹ Lebens, auf diese Weise verbanden sie ihr Leben mit dem des Adressaten. Autobiographisches Schreiben, welches sich nicht an einen Adressaten außerhalb des Familienkreises wandte, hatte hingegen anderen Schreibzwecken zu dienen. Dies spiegelt sich in Form und Inhalt wieder. Statt über ihr Leben in rückblickenden Autobiographien zu sprechen, die auf ein bestimmtes Ziel – Freiheit, Konversion, Martyrium und Bildung – zuliefen, beschrieben die Bauern ihren Alltag für sich und ihre Familie meist in Tagebüchern. In ihnen spielten Arbeits-, Familien- und Dorfleben eine größere Rolle als in den Autobiographien, die häufig eine Geschichte der Loslösung vom bäuerlichen Milieu erzählten. In den Tagebüchern schilderten die Bauern entlang der Chronologie der vergehenden Tage ihre Gegenwart und traten dabei häufig als Familienväter und Haus- und Hofherren auf. Das Quellenkorpus dieser Studie beinhaltet 61 autobiographische Texte, die zum Zeitpunkt ihres Schreibens für den Gebrauch in den Familien gedacht waren. Eine Vielzahl dieser Texte gelangte erst durch die archäographischen Expeditionen der 1960er Jahre in Heimatkundemuseen oder in zentrale Sammlungen wie das Drevlechranilišþe in Leningrad. Erst nach der Perestrojka wurden einige dieser Tagebücher publiziert. Anders als in den Autobiographieprojekten, wo die Texte durch ihren Bezug auf einen Adressaten viele Gemeinsamkeiten aufweisen, unterscheiden sich die für den Hausgebrauch geschriebenen Texte mitunter stark voneinander. Manche Schreiber haben nur wortkarg Ausgaben, Einnahmen und Wetterbeobachtungen vermerkt, andere berichten ausführlich über ihr Familienleben. Einige Bauern begannen erst mit dem Schreiben, als sie als Soldaten das Dorf verließen.
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Es werden daher drei verschiedene Situationen autobiographischen Schreibens näher beleuchtet, die auf das Schreiben, die Selbstpräsentation sowie auf das Überliefern und Bewahren zurückwirkten. Erstens werden individuelle Tagebücher untersucht, die von einem einzelnen Schreiber verfasst und nach Abbruch oder Tod des Schreibers nicht oder nur sehr kurz weitergeführt wurden. Im zweiten Teilkapitel wird das Augenmerk auf kollektive Tagebücher gelegt, die nicht mit dem Tod des Schreibers abbrachen, sondern von anderen Familienmitgliedern fortgesetzt wurden. Mitunter wirkten bis zu vier Generationen an einem Tagebuch mit. Die Schreiber eines solchen Tagebuchs fühlten sich durch frühere Einträge angehalten, ihr Leben und ihr Schreiben in Bezug zu ihren Vorgängern zu setzen. Diese Form des kollektiven Tagebuchschreibens hat bisher kaum Aufmerksamkeit erfahren. In den Augen vieler Historiker und Literaturwissenschaftler, die vor allem ihren Blick auf das bürgerliche Tagebuch gerichtet haben, galten und gelten Tagebücher als Texte, denen Geheimnisse anvertraut werden und die wegen ihrer Intimität und Brisanz wirksam vor den Blicken anderer verwahrt werden müssen. Häufig wird das Bild vom Tagebuch als abschließbarer Text evoziert, wo ein kleines Vorhängeschloss unliebsamen Lesern den Eingang in die Innenwelten des Autors verwehrt. Arno Dusini hat zu Recht gefordert, mit dieser Vorstellung zu brechen und Fragen der Textdistribution und des Leserkreises auch bei der Analyse von Tagebüchern einzubeziehen: »Das private Tagebuch ist ein Gespenst in unseren Köpfen. Wäre es nicht unser eigenes, das verschlossen und zeitgerecht vernichtet wird – wir kennten keins.«1 Das bäuerliche Tagebuch, das den Weg in Sammlungen, Museen und Archive fand, war häufig mehr als nur ein intimes Gespräch mit sich selbst. Dies zeigen Verweise und Lesehilfen sowie Einträge anderer Familienmitglieder, aber auch der Umstand, dass die Texte bis heute überliefert sind. Die von Dusini aufgeworfenen Fragen lassen sich daher weiterführen: Wie wurden Tagebücher aufbewahrt und überliefert? Wie gelangten sie in eine Sammlung oder ein Archiv hinein? Wann und wie traten sie aus dem Kreis der Familie heraus? An den Familientagebüchern lässt sich besonders gut zeigen, dass auch Tagebücher innerhalb von Beziehungsnetzen entstehen. Die Bauern schrieben nicht nur für sich, sondern häufig ebenso für Angehörige und Nachkommen. Auch im und durch das Tagebuch wurden Zugehörigkeiten ausgedrückt und Familie als Wir-Gruppe konstituiert. Ob der Familienkreis ein eigener Kommunikationsraum war und welche Rolle familiäre Schreibkonventionen in ihm spielten, sind zentrale Fragen. Dabei folgten die Familientagebücher einem patriarchalischen Prinzip. Meist führten die Söhne das Schreiben ihrer Väter weiter. Töchter begannen häufig erst dann mit dem Schreiben, wenn männliche Nachkommen fehlten. Gerade die sich in
1
Dusini, Tagebuch, 71. Auch Irina Paperno betont die Bedeutung der Kommunikationssituation: Paperno, What Can Be Done with Diaries, 565.
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Tagebüchern offenbarende Verbindung von Autobiographik und Wirtschafts- oder Rechnungsbuch ermöglichte aber im Unterschied zu den vorrevolutionären Autobiographieprojekten auch Bäuerinnen das Schreiben und die Überlieferung ihrer Texte. Im letzten Teil des Kapitels wird daher das autobiographische Schreiben von Bäuerinnen untersucht. Dabei soll – auch mit Blick auf die vorherigen Kapitel – erörtert werden, warum Frauen in dieser Studie kaum vorkommen. In diesem Umstand spiegeln sich Lücken im Archiv wieder, die sich nur teilweise mit ungenügender oder fehlender Schreibfähigkeit von Bäuerinnen erklären lassen.
4.1 F ÜR DIE F AMILIE : D OKUMENTIERTER
BÄUERLICHER
A LLTAG
Das Schreiben über sich, das eigene Leben sowie Haus und Hof war der bäuerlichen Kultur im 19. Jahrhundert nicht fremd. Bauern begannen nicht nur in Autobiographien, sondern auch in Tagebüchern Rechenschaft über ihr Leben abzulegen. Es ist schwer zu sagen, wann das Tagebuch aufs Land kam und inwieweit es eine alltägliche Erscheinung war. Auffällig ist jedoch, dass die Bauern, anders als bei den Autobiographien, die sie an einen Adressaten außerhalb der Familie sandten, das Schreiben eines Tagebuchs nur selten als außergewöhnlich bezeichneten. Häufig teilten die Schreiber in ihren für Presse und Publizistik oder Autobiographieprojekte verfassten Autobiographien mit, dass sie auch Tagebuch schrieben. In vielen Familien scheint das Führen eines Tagebuchs, das sich meist aus Rechnungs- und Anschreibebüchern entwickelte, eine alltägliche Praxis gewesen zu sein.2 Seit den 1840er Jahren gab es Institutionen, die Bauern aufforderten, ihren Alltag zu beobachten und regelmäßig darüber Rechenschaft abzulegen. Die Geographische Gesellschaft warb unter Bauern um Korrespondenten. Sie sollten Bräuche, Sprache und auch das Wetter an ihren Wohnorten täglich beobachten und in Büchern vermerken.3 Geistliche, Lehrer, aber auch Bauern begannen, ihre Wetteraufzeichnungen an die Geographische Gesellschaft zu schicken.4 Möglicherweise haben auch andere Organisationen, wie beispielsweise die Vologdaer Gesellschaft zur Erforschung der nördlichen Region (Vologodskoe obšþestvo izuþenija Severnogo
2
Paperno, What Can Be Done with Diaries, 562.
3
Matveeva, Filonoviþ, Jarukova, Russkie geografy, 9-12.
4
Dobrynkin, Meterologiþeskija nabljudenija v. g. Murom, RGO, f. 6 op. 1 d. 50, 1875; Šajmanov, Žurnal dlja zapiski meterologiþesk. nabljud. v Verchovažskom posade, RGO, f. 7 op. 1 d.25, 1851-1852.
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kraja), Bauern ermutigt, ein Tagebuch zu führen.5 Einige Bauern scheinen die Aufrufe von außen als Anregung verstanden zu haben, auch für den Hausgebrauch autobiographisch zu schreiben. Andere Bauern, die als Schreiber oder Verwalter bei Gutsherren arbeiteten, kamen auf Gutshöfen mit Wirtschafts- und Rechnungsbüchern in Kontakt. Sie sahen, dass durch solche Bücher die Arbeit auf den Gütern organisiert sowie Ausgaben und Einnahmen kontrolliert werden konnten.6 Diese Entwicklung wurde durch Almanache und Kalender unterstützt, die seit dem 18. Jahrhundert im Zarenreich populär waren und die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts häufig explizit an lesende Bauern wandten. So erschien beispielsweise 1859 ein sogenanntes Volkstagebuch. In ihm sind, geordnet nach Monaten und Tagen, die in der Landwirtschaft zu verrichtenden Arbeiten und das zu erwartende Wetter aufgeführt. Das Volkstagebuch sprach den Bauern sowohl als rational wirtschaftenden Landwirt als auch als Christen an, der durch Fleiß, überlegte Entscheidungen und Gebet das Wohlergehen von Haus und Hof sichert. Es ermunterte seine Leser zum Beispiel am 18. August, dem Gedenktag für die Märtyrer Flor und Lavr, für die Gesundheit der Pferde zu beten. Zudem mahnte es zur Eile bei der Aussaat: »Wer nach diesem Tag Roggen sät, wird anstelle von Roggen Flora, d.h. Blumen ernten.«7 Damit bot das Volkstagebuch Orientierung – sowohl für die eigene Wirtschaft als auch das eigene Schreiben. In der Verbindung von Arbeit, Kalender und religiösen Gedenktagen schloss es an religiöse Schreibformen an, die in der Orthodoxie üblich waren. Auch in vielen bäuerlichen Haushalten gab es ein mesjaceslov, ein Ritual- und Andachtsbuch, in dem Biographien von Heiligen und Kirchenfeste in kalendarischer Anordnung verzeichnet sind. Dem Bedürfnis, Arbeit, Zeit und Erträge zu kontrollieren, kamen auch Kalender wie der Kalender des russischen Landwirts aus dem Jahr 1873 entgegen. In ihm befinden sich Leerseiten, die durch die Bauern gefüllt werden konnten.8 Solche Kalender spornten Bauern zum Schreiben eines Tagebuchs an. In seiner Autobiographie berichtete der ehemalige Leibeigene Fedor Bobkov, dass ein alter Kalender von 1824 ihn ermutigt habe, selbst ein Tagebuch zu führen. Sein Onkel Kirill hatte ihm 1846 einen solchen geschenkt. Auf den Leerseiten hatte jemand Unbekanntes verschiedene Ereignisse beschrieben. Das war für Bobkov ein Schlüsselerlebnis: »Sofort nähte ich mir selbst ein Heft, legte ein Tagebuch an und begann, in ihm je-
5
Die Herausgeber von Aleksandr Zamaraevs Tagebuch vermuten, dass es den Mitgliedern dieser Gesellschaft zu verdanken ist, dass Zamaraev so regelmäßig Tagebuch geführt hat. Zamaraev, Dnevnik totemskogo krest’janina, in: Beznin (Hrsg.), Tot’ma, 248.
6
Kurnatov, Cel’sko-chozjajstvennyj dnevnik usad’by Gušþina, Kostromskoj gu., Galiþskago uezda, s 1839 po 1842 god ot pomešþika Kurnatova, RGO, f. 18 op. 1 d. 1, 1850.
7
Narodnyj dnevnik i chozjajstvennaja meteorologija, 16.
8
Kalendar’ russkago sel’skago chozjaina.
S CHREIBEN
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den Tag Notizen zu machen.«9 Dass die Schreiber gedruckte Kalender und Rechnungsbücher nachahmten, lässt sich an der Struktur ihrer Tagebücher erkennen. In den Sammlungen befinden sich allerdings kaum Tagebücher, die auf Vordrucken geführt wurden.10 Möglicherweise fühlten sich die Schreiber durch den limitierten Platz eingeschränkt, vielleicht waren diese Hefte aber auch schlicht zu teuer. Auch die Aufstiegsgeschichten, die unter Samuel Smiles’ Namen erschienen, propagierten das Tagebuchschreiben als Weg zum Erfolg, denn mit einem Tagebuch ließen sich die eigenen Anstrengungen steuern und kontrollieren.11 Smiles’ gesammelte Lebenswege stellten Männer aus den unteren Schichten als rationale Entscheider dar, die Verantwortung für sich, ihre Familie und das Gemeinwesen übernahmen. Wie aber ein Tagebuch zu führen sei, zeigten die Geschichten nicht. Diese Lücke konnten publizierte Tagebücher wie das Exemplar des Bauern Petr Golubev aus dem Dorf Zapjatkovo schließen. Es erschien als Tagebuch eines Bauern von 1909 bis 1916 in der Zemstvo-Zeitung des Gouvernements Pskov. Dieser als Ratgebertagebuch angelegte Text erläuterte die Auswirkungen des harschen Klimas auf Aussaat und Ernte, mahnte zu Fleiß und verwies auf alte Bauernregeln. Golubevs Tagebuch eines Bauern zeigte seinen Lesern, was in einem Tagebuch zu vermerken sei: Wetter- und Naturbeobachtungen, verrichtete Arbeiten, Ausgaben und Einnahmen. Immer wieder zog er den Vergleich zu Beobachtungen, die er in den vorangegangenen Jahren gemacht hatte. Er behauptete in seinem Tagebuch, dass schriftliche Überlieferung der mündlichen Weitergabe von Erfahrung überlegen sei: »Der diesjährige Frühling hat sehr früh, am 10. Februar, begonnen. An solch einen zeitigen Frühling können sich die Alten nicht erinnern.«12 Er ermutigte seine Leser, jegliche Naturerscheinung als Zukunftsvoraussage zu lesen. Wenn am Gedenktag für die vierzig Märtyrer von Sebaste, dem 9. März, Lerche, Kiebitz und Saatkrähe noch nicht aus den warmen Ländern zurückgekehrt seien, würde es ein langer und kalter Frühling werden.13 Das Tagebuch folgt der Chronologie des Kirchenjahrs. Die einzelnen kirchlichen Feiertage sind eng mit Erscheinungen in der Natur verbunden, bestimmte Heilige stehen für bestimmte Naturerscheinungen. Religiosität und gute Wirtschaftsführung sind in Golubevs mustergültigem Tagebuch
9
Bobkov, Iz zapisok byvšego krepostnogo þeloveka, 585. Siehe Kap. 2.1.
10 Im Drevlechranilišþe befindet sich das Rechnungsbuch des Bauern Roman Bogdanov, das auf einem Vordruck geführt wurde. Bogdanov, Platežnaja knižka krest’janina, IRLI, Pinežskogo sobr. Nr. 742, 1875-1917. Es gab im Zarenreich auch Hefte zu kaufen, in denen gelesene Bücher vermerkt und über sie reflektiert werden sollte. Vladislavlev, Tetrad’ dlja zapisi o proþitannych knigach. 11 Smiles, Die Selbsthilfe, 162. 12 Golubev, Dnevnik krest’janina, in: Vestnik Nr. 15, 1910, 11. 13 Golubev, Dnevnik krest’janina, in: Vestnik Nr. 44, 1909, 11.
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unauflösbar miteinander verwoben. Es war auch diese Verbindung, die viele Bauern die 1918 eingeführte Kalenderreform in ihren Tagebüchern ablehnen ließ. Dabei war das Tagebuch eines Bauern nicht nur ein didaktisches Mittel für die Bauern. Es warb auch unter seinen nichtbäuerlichen Lesern um Anerkennung für die landwirtschaftliche Arbeit, indem es belegte, wie ›der russische Bauer‹ sich die Natur durch Vernunft, Erfahrung und Fleiß untertan machte und ihr die Ernte abtrotzte. Die Bauern in Golubevs Tagebuch waren der feindlichen Natur nicht schutzlos ausgeliefert, sondern konnten durch ständige Beobachtung deren Regeln erkennen und mithilfe dieses Wissens angemessen reagieren. Golubev zeigte, dass auch die bäuerliche Wirtschaft nach rationalen Kriterien funktionieren sollte. Das publizierte Tagebuch unterstützte ein positives Bild des Bauern als vernünftigem Landwirt, wie es Publizisten wie Aleksandr Ơngel’gardt und Gleb Uspenskij in den 1870er Jahren skizziert hatten. Ihr Entwurf geriet – wie Frierson in ihrer Studie über die mit den Bauern verbundenen Imaginationen gezeigt hat – seit den 1890er Jahren immer mehr unter Beschuss.14 Das Tagebuch konnte zeigen, und das wird die Intention der Herausgeber gewesen sein, dass dies zu Unrecht geschah. Die Quellengruppe, die in diesem Kapitel im Mittelpunkt steht, beschränkt sich auf Tagebücher, seltener Autobiographien, die nicht für eine breitere Öffentlichkeit bestimmt waren. Im Gegensatz zu den Autobiographien, die publiziert oder an Schreibprojekte gerichtet wurden, ist nicht immer klar, auf wessen Anrufung sich die Schreiber bezogen, wen sie als Adressaten ihres Texts sahen und inwieweit sie auch auf Leser außerhalb der Familie hofften. Anders als die meisten Autobiographien sind Tagebücher als Texte mit offenem Ende angelegt. Daher stehen im Kapitel über den Familienkreis vor allem die Anfänge und die Schlusspunkte autobiographischen Schreibens im Mittelpunkt. Wieso unterzog sich der einzelne Bauer der Mühe, die Ergebnisse des Tags in einem Heft zu notieren? Für wen tat er dies? Wie groß war der Leserkreis, den er damit erreichen wollte? Wie bewahrten sich die Bauern ihre Motivation, mitunter täglich zum Stift zu greifen und ihren Alltag schriftlich zu fixieren? Welche Bedeutung hatten im Schreiben für die Familie die Semantiken des Gegenarchivs, die häufig jenen autobiographischen Texten innewohnten, die für eine größere Öffentlichkeit verfasst worden waren? In welchen Situationen gaben sie ihr Tagebuch auf? Was sollte mit den Texten nach ihrem Tod geschehen? Antworten auf diese Fragen sind nicht immer offen formuliert. Selten äußerten die Bauern, warum sie die Mühe des Schreibens auf sich nahmen. Viel häufiger ist aus der Art des Schreibens erkenntlich, was der Einzelne damit bezweckte. Versucht man die mannigfachen Schreibzwecke typologisch zu erfassen, dann zeigt sich, dass sie auf sehr verschiedenen Ebenen angesiedelt waren. Eine grobe
14 Frierson, Peasant Icons, 76-100.
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Unterscheidung lässt sich jedoch treffen. Die erste Gruppe kann unter dem Begriff ›Wiederholung‹ gefasst werden. Diese Schreibzwecke gruppieren sich um die Chronologie des Jahrs; sie sind ausgerichtet am Wechsel der Jahreszeiten und zielen auf Vergleichbarkeit. Dabei diente das Tagebuch nicht nur als Merkhilfe gegen das Vergessen. Immer wieder äußern die Bauern, dass sie durch die Regelmäßigkeit des Schreibens die eigene Person umgestalten, Disziplin einüben und bestimmte Charaktereigenschaften ausbilden wollten. Nicht auf Wiederholung und Regelmäßigkeit sind jene Motivationen begründet, die im zweiten Teil der Typologie vorgestellt werden. Bauern nutzten ihr Tagebuch, um außergewöhnliche Erfahrungen festzuhalten. Es war für sie eine Bühne, auf der sie als Augenzeugen aufsehenerregender Ereignisse – beispielsweise religiöser Visionen und Kriegsgeschehnisse – auftreten konnten. Doch was passierte mit den Tagebüchern und Autobiographien, wenn die Augenzeugenschaft als Schreibanlass an Bedeutung verlor, weil die Ereignisse beispielsweise zu einem Ende kamen? Rückte dann der bäuerliche Alltag an ihren Platz? Bei der Vorstellung der Motivationen und Schreibzwecke wird besonderes Augenmerk auf Veränderungen gelegt. Mit ihnen lässt sich nicht nur der Stellenwert autobiographischer Texte im Leben ihrer Autoren bemessen, sie verweisen auch auf gesellschaftlichen Wandel, durch den sich das Gefüge von Anrufung, Adressierung, Archivierung und auch Sichtbarkeit verändern konnte. Gezeigt werden soll, was mit den Texten und ihren Schreibern geschah, als in den 1920er und 1930er Jahren frühere Praktiken autobiographischen Schreibens auf neue Ansprüche und Biographiemuster trafen. Nachdem ich die Typologie der Motivationen vorgestellt habe, werde ich analysieren, was jene Gruppe von Bauern vereint, die für den ›Hausgebrauch‹ autobiographisch schrieben, welche Lebensumstände es gerade ihnen ermöglichten, ein Tagebuch zu führen und dieses auch zu überliefern. Wiederholung Der autobiographische Text, insbesondere das Tagebuch, war ein Mittel, um Erfahrungen beim Führen eines Hofs nicht nur zu dokumentieren, sondern auch an die Kinder weiterzugeben. Dies geschah meist in einem bilanzierenden Schreibstil, den ich in Anlehnung an Jan Peters als Wirtschaftsbuch bezeichnen möchte.15 In ihren Tagebüchern gaben die Bauern an, wie viel sie einnahmen und ausgaben, was sie wann und wo aussäten und ernteten, welche Arbeiten sie in welcher Reihenfolge verrichteten, was Ernteerfolge zeitigte, was Missernten, Krankheiten
15 Peters, Wegweiser, 239-240. In der deutschsprachigen Forschungsliteratur werden solche Aufzeichnungen auch als Anschreibebücher bezeichnet. Ausführlicher zu den Begriffen: Hopf-Droste, Vorbilder, 61-65.
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und Tierseuchen verursachte. Besonders das Vieh erfuhr in den autobiographischen Texten viel Aufmerksamkeit, wobei vor allem Pferd und Kuh den Großteil der Fürsorge absorbierten. So bereute der in einem Gasthaus in Jaroslavl’ arbeitende Bauer Andreev am 24. Dezember 1911, dass er seiner Frau aufgetragen hatte, ihn mit dem Pferd in der Stadt abzuholen: »Ich habe vor, nach Hause zu fahren, doch ich weiß nicht wie, da starker Frost herrscht. Ich bin nicht froh, dass ich meine Frau angewiesen habe, mit dem Pferd herzukommen und auf mich am Zaun der Einrichtung zu warten, denn das Pferd wird den ganzen Tag auf der Straße frieren. Das Pferd wird mir sehr leid tun.«16 Die Tagebuchschreiber thematisierten das Wohlergehen des Viehs mitunter ausführlicher als die Gesundheit der eigenen Kinder: Dank seines Tagebuchs wusste der Bauer Frolov genau, dass die Kuh Milka schon hätte kalben müssen. Er vermerkte in seinem Tagebuch erleichtert den Moment, als das Kalb endlich geboren war.17 Der Schreibstil des Wirtschaftsbuchs kam dem Bedürfnis nach einer besseren Organisation der bäuerlichen Wirtschaft entgegen. Er lässt sich darüber hinaus als Mittel lesen, mit dem die Bauern versuchten, Kontingenzerfahrungen zu bewältigen. Für ihre Analyse lassen sich Konzepte aus der Risikosoziologie nutzbar machen, die mit der Unterscheidung von Gefahr und Risiko zwei Modelle des gesellschaftlichen Umgangs mit Unsicherheit entworfen hat. Die Tagebuchnotizen verwandelten Gefahren in Risiken. Durch das Tagebuch wurden diese benennbar, abgrenzbar und damit auch subjektiv kalkulierbar. Die Wahrnehmung von Phänomenen wie Sommerfrost und Tierseuchen als Risiken minderte das Gefühl, dem Schicksal, Gott oder übernatürlichen Kräften schutzlos ausgeliefert zu sein. Das Tagebuch bot Raum für abwägende Reflexion und Reaktion sowie die Steuerung von Einsatz und Ertrag.18 Die Aufzeichnungen verhinderten das Vergessen und Verdrängen negativer Erfahrungen und verwandelten dadurch auch Katastrophen zu Ereignissen, mit denen die Bauern rechnen mussten, aber auch umgehen konnten. Es erlaubte den Bauern nachzuschlagen, wie sich Notlagen ankündigten, wie sie bewältigt werden könnten und in welcher Häufigkeit sie auftraten. Mehr noch als die Autobiographie bot das Tagebuch die Möglichkeit, das Alltägliche – Wetter, Krankheiten, Feiertage, Geburten und Sterbefälle – festzuhalten.
16 Andreev, Iz dnevnika krest’janina, GAJaO, f. 582 op. 1 d. 1172-1175, 1911-1914. 17 Frolov, Dnevnik, RGB f. 218, 1283.12, 1934-1935, l. 24; Frolov, f. 218 1283.15, l. 7; l. 13ob-14, l. 17. Siehe auch Zamaraevs Tagebuch, der ebenfalls sorgfältig vermerkte, wann er seine Kuh hatte decken lassen. Um diesen wichtigen Eintrag schnell wiederfinden zu können, hat Zamaraev ihn unterstrichen. Auch Frolov markierte solche Eintragungen, indem er sie unterstrich. Zamaraev, Dnevnik totemskogo krest’janina, TKM, f.p.i., N 11/35-47 Nr. 39, l. 9. 18 Evers, Nowotny, Umgang mit Unsicherheit, 27-35.
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Gerade das Wiederkehrende und Regelmäßige ist dem Vergessen verstärkt ausgesetzt. Jeder neue Tag konnte die Ereignisse des gestrigen Tags überschreiben. Das Tagebuch erlaubte, Erfahrungen aus dem Gedächtnis auszulagern, verfügbar zu halten und zu vermitteln. Die regelmäßigen Notizen gestatteten den Bauern, Kausalitäten zwischen den Ereignissen zu erkennen. Der Bezug auf vergangene Ereignisse konnte genauer als Bauernregeln, þastuški19 und Sprichwörter helfen, Regelmäßigkeiten abzuleiten und Entscheidungen für die eigene Wirtschaft zu treffen. Um Schlüsse aus den vergangenen und gegenwärtigen Ereignissen zu ziehen, war Vergleichbarkeit entscheidend. Es scheint, als ob einige Tagebuchschreiber nicht nur aus religiösen, sondern auch aus pragmatischen Gründen nach der Kalenderreform 1918 am ›alten‹ julianischen Kalender festhielten. Sie lehnten den ›neuen Stil‹ ab, weil er die Vergleichbarkeit mit früheren Einträgen torpedierte und die Verbindung zwischen Kirchenjahr, Gedenktagen, meteorologischen Erscheinungen und zu verrichtenden Arbeiten aufbrach.20 Natürlich beschränkte sich die Weitergabe von Erfahrungen nicht allein auf die eigene Wirtschaft. Die Bauern versuchten, mit den Tagebüchern ihren Kindern Lebenserfahrungen, moralische Grundsätze und Lösungsmöglichkeiten für Ausnahmesituationen zu vermitteln. Diese Schreibmotivation findet sich beispielsweise im Tagebuch des Bauern Aržilovskij: »Ich schreibe alles auf, was ich weiß, damit die Kinder nicht dieselben Fehler machen wie ich. Obwohl es von der Jugend nicht gewürdigt wird, so ist es doch nützlich, sich das eine oder andere zu merken.«21 Nicht nur solche Widmungen, sondern auch Leseranreden, Fußnoten und Verweise auf frühere Einträge zeigen deutlich, dass die bäuerlichen Autoren mit Lesern im Familienkreis rechneten.22 Auch Lebensberichte dienten häufig der Erfahrungsweitergabe. Der Bauer Bagrecov aus dem Gouvernement Archangel’sk nannte schon im ersten Satz seiner kurzen Lebensbeschreibung den Anlass seines Schreibens: »Ich, Sünder, habe zur Erinnerung mein Leben beschrieben, für die Kinder zum Lesen.«23 Mit den Tagebüchern und Autobiographien entstand eine neue Form der Weitergabe von Traditionen und Lebenserfahrungen.24
19 Bezeichnung für kurze lyrische Lieder, in denen der dörfliche Alltag besungen wurde. 20 In folgenden Tagebüchern wurde durchgängig oder teilweise der julianische Kalender gebraucht: Nikolaev, »Isþez þelovek«; Zamaraev, Dnevnik totemskogo krest’janina; Podomorev, Tetrad’ dlja raznych zapisej, BAN Belomorsk. 22, 1915-1937; Frolow, »Ein epochales Jahr«; Glotov, Na razlome žizni; Lukiþev, Pamjatnaja kniga. 21 Aržilovskij, Dnevnik 36-37-go godov, 117; Zitat: Arschilowski, »Gegenwart«, 50. 22 Sitnikov, Zapiski, IRLI, Mezenskoe sobr. Nr. 151, 1893-1909, l. 3, 16ob, 32ob, 67, 69. 23 Bagrecov, Žizneopisanie krest’janina, IRLI, Mezenskoe sobr. Nr. 177, 1925-1928, l. 1. 24 In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts baten manchmal die Kinder ihre Eltern oder Großeltern, ihre Lebenserinnerungen zu notieren. Auf Wunsch des Enkels schrieb F.A.
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Neben der Wirtschaftsführung thematisierten die bäuerlichen Tagebuchschreiber besonders häufig ihr eigenes Schreiben. Dies geschah meist mit dem Verweis auf mangelnde oder unvollkommene Schulbildung. Die Bauern verstanden das tägliche Schreiben als eine Möglichkeit, die eigene Schreibfertigkeit zu üben und auch zu präsentieren. Viele von ihnen konnten wegen der Feldarbeit die Schule nicht abschließen oder hatten keine Möglichkeit, weitere Studien zu betreiben. Ein durchgängig absolviertes Curriculum war bis in die 1930er Jahre hinein sehr selten.25 Die Bauernkinder waren daher häufig auf Selbststudium und nichtinstitutionalisiertes Lernen angewiesen.26 Dabei war der Weg zum souveränen Schreiben gepflastert mit ›Abschreibübungen‹ schon vorhandener Bücher. So führte zum Beispiel Ivan Rassychaev, ein Bauer aus Ust’-Kulom, am Anfang seiner Täglichen Aufzeichnungen eine Liste mit abgeschriebenen und selbst geschriebenen Büchern an.27 In ihr spiegelt sich der populäre Lesestoff der Zeit: Rassychaev brachte die Inselabenteuer des Robinson Crusoe neu zu Papier, sammelte russische Sprichwörter, kompilierte Bücher über die Heimatkunde seiner Region, stellte einen Familienstammbaum zusammen und legte eine Volksliedersammlung an.28 Viele Bauern begannen ihr Tagebuch mit solchen Schreibübungen: sie schrieben ganze Passagen aus Zeitschriften und Büchern ab, vermerkten Gedichte, die Zubereitung ärztlicher Rezepturen, populäre Prophezeiungen, aber auch Gebete.29 Das Abschreiben religiöser Texte spielte seit den Nikonischen Reformen in Gebieten, in denen viele Altgläubige lebten, eine identitätsstiftende Rolle. Für sie war das Abschreiben mehr als die Anfertigung von Kopien. Es war eine religiöse Praxis, durch die die Schreiber Glauben einübten und ihre Zugehörigkeit zu den Altgläubigen zu beweisen versuchten. Die Bauern, häufig selbst Altgläubige, führten diese
Vinogradov (1896-1987) mit 88 Jahren seine Lebenserinnerungen auf. Vinogradov, »Nu teper’, baryšni, pojdemte po guljanju…«, 4-8. Auf die Bitte seines Sohns hin verfasste V.A. Plotnikov (1906-1994) Anfang der 1980er Jahre autobiographische Aufzeichnungen. Plotnikov, Avtobiografiþeskie zapiski. 25 Eklof, Russian Peasant Schools, 353; Brooks, When Russia Learned to Read, 44. 26 Stepan Podlubnyj (geb. 1914), Sohn eines ukrainischen Bauern, kommt nach der ›Entkulakisierung‹ der Familie 1929 nach Moskau. Um sein Russisch zu verbessern, beginnt er 1931 mit dem Schreiben seines Tagebuchs. Er träumt davon, Schriftsteller zu werden. Hellbeck, Fashioning the Stalinist Soul, 348. 27 Rassychaev, Dnevnye zapiski, 23-25. 28 Rassychaev, Dnevnye zapiski, 24-25. 29 Jakov Artynov schrieb ganze Passagen aus der Zeitung Jaroslavskie Vedomosti ab. Artynov, Dnevnik Ja.A. Artynova, BAN f. 72 d. 129, 1896, l. 11. Der Bauer Glotov, der als Soldat in St. Petersburg lebte, vermerkte in seinem Tagebuch populärwissenschaftliche Abhandlungen über das Herz. Glotov, Na razlome žizni, 44-45.
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Tradition fort und bereicherten sie mit neuen Themen. Das Tagebuch wurde zum Ort, an dem Wissenswertes verfügbar gehalten werden konnte. Den Bauern galten das Kopieren fremder Texte und das Führen eines Tagebuchs als Mittel der Transformation, mit dem sich die eigene Person disziplinieren und der Weg zum Erfolg einschlagen ließ. Häufig ermahnten sie sich, mehr abzuschreiben, um die eigene Schreibfähigkeit zu verbessern und sich selbst zu verändern. Diese Motivation findet sich auch in den 1920er und 1930er Jahren. Sie war aber keineswegs eine neue, sowjetische Erscheinung. Nicht erst der ›Kulakensohn‹ Podlubnyj, den Jochen Hellbeck mehrfach in den Mittelpunkt seiner Forschungen gestellt hat, hielt sich zum Abschreiben an: »Schon mehrfach habe ich mich ermahnt, interessante Sätze aus Büchern herauszuschreiben, aber bisher habe ich das noch nicht angewendet, nicht ins Leben umgesetzt. Schlecht.«30 Der Einfluss dieser ›Abschreibübungen‹ ist nicht nur in den Inhalten und Semantiken spürbar. Er zeigt sich auch äußerlich in der Gestaltung der Tagebücher. Die Bauern haben ihre Schriftstücke teilweise verziert und mit Zeichnungen und Überschriften versehen. Die bäuerlichen Selbstzeugnisse lehnten sich auch in ihrer Gestaltung an handschriftliche Bücher an, die besonders im Norden Russlands weit verbreitet waren. Für viele Tagebuchschreiber stand der Wunsch, das eigene Leben zu kontrollieren, am Beginn ihres Schreibens. Mitunter wurde dieser – wie eine Episode aus Ivan Belaevs Tagebuch zeigt – auch von außen an die Schreiber herangetragen. Als Belaev zehn Jahre alt wurde, schenkte ihm der Oberst, der ihn im Lesen und Schreiben unterrichtete, ein »ziemlich dickes Buch«, das der Schenker mit einer Überschrift versah: »1. August 1863 Beginn des Tagebuchs, der Kontrolle des Lebens I.Ja. Belaevs.« Der Junge machte den Auftrag des Obersten zu seinem eigenen Anliegen und begann von nun an, »jeden Tag streng Aufzeichnungen zu führen«.31 Die Schreibanleitung »Kontrolle des Lebens« war ausreichend, um regelmäßig zum Stift zu greifen. Nicht nur Ivan Belaev sah in dem Tagebuch einen Vertrag, der zu erfüllen sei. Arno Dusinis These von der Gattung Tagebuch als ein auf Zeit geschlossener Kontrakt mit sich selbst lässt sich auf die bäuerlichen Tagebücher übertragen.32 Das Gelübde der Regelmäßigkeit war jedoch nicht immer leicht zu erfüllen: Knappe Schreibmaterialien, fehlende Anerkennung, Zeitmangel und Unlust erschwerten es, der Selbstverpflichtung nachzukommen. Die zahlreichen Klagen über die eigene Säumigkeit bezeugen dies. Immer wieder mahnten sich die Tagebuchschreiber, nicht nachzulassen, sondern regelmäßig zu schreiben. Immer wieder
30 Hellbeck (Hrsg.), Tagebuch aus Moskau, 91. 31 [Anonymus], Dnevnik neizvestnago lica obnaružennoj v bumagach Ivana Jakovleviþa Beljaeva, Ethnographisches Museum SPb [ohne Signatur und Seitenzählung]. 32 Dusini, Tagebuch, 156.
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schrieben sie über ihre Enttäuschung, nicht durchgehalten zu haben.33 Viele von ihnen sahen im Tagebuch eine genaue Entsprechung ihres Lebens, was in ihren Augen eine längere Unterbrechung nicht erlaubte. Sie setzten den Verlauf der Zeit, Erinnerung und Materialität im Tagebuch gleich. Als beispielsweise Aleksandr Zamaraev 1908 erkrankte und sein Bewusstsein für sechzehn Tage verlor, ließ er den Platz für jene Tage frei, derer er sich nicht entsinnen konnte. In den sonst dicht beschriebenen Heften ist fast eine ganze Seite nicht beschrieben. In einem quer über die gesamte Seite geschriebenen Satz berichtet Zamaraev, dass er krank gewesen sei.34 Auch der Bauer Lukiþev aus dem Dorf Vaška, der seit Juni 1920 Tagebuch führte, legte zu Beginn seines Hefts dar, was er mit dem Schreiben bezweckte. Er sah darin eine Chronik der wichtigsten Ereignisse, die sowohl dem Schreiber als auch dem Leser zur Selbstvervollkommnung dienen und die Kontinuität des Familiengedächtnisses sichern sollten. Bei ihm gehörten Abschreiben, die Dokumentation des eigenen Alltags und Selbstvervollkommnung zusammen: »In dem vorliegenden Büchlein sollen alle Ereignisse und Anmerkungen des Familienlebens für das Gedächtnis niedergeschrieben werden. Das Buch soll so wie für mich, so auch für zukünftige Generationen der Familie sorgfältig vor Schaden und Verlust bewahrt werden. Für das Gedächtnis soll nur das niedergeschrieben werden, was der Aufmerksamkeit und des Gedächtnisses wert ist, und auch das, was in materieller und sittlicher Hinsicht nützlich ist; sowie jene weisen und moralischen Sinnsprüche und Sprichwörter, welche lehrreich und nützlich für die eigene Selbstvervollkommnung sind, und für alle, die sie lesen. Gefühle und Gedanken, die niedergeschrieben werden, sollen sorgfältig und grundsätzlich geprüft und mit gesundem Verstand überdacht werden.«35
Selbstdisziplinierung durch das Führen eines Tagebuchs setzte sich auch in anderen Bereichen fort. Die Bauern mahnten sich nicht nur zum regelmäßigen Schreiben, sondern formulierten in ihren Texten auch immer wieder die Aufforderung, Zeit sinnvoll zu nutzen. Die knappe Ressource Zeit durfte nicht durch Müßiggang, mit Trinken oder Rauchen vergeudet werden. Nach ihren Zechereien gingen die Tagebuchschreiber häufig hart mit sich ins Gericht.36 Nicht nur der Bauer und Amtsschreiber Andrej Petrov mahnte sich, seine exzessiven Saufgelage einzuschränken: »10 Juli [1897]. Ich habe mich vergnügt – drei Tage gezecht, ich habe 2
33 Petrov, Dnevnik, IRLI, Krasnob. sobr. Nr. 111, 1895-1906 gg., l. 87. 34 Zamaraev, Dnevnik, Totemskij kraevedþeskij muzej (TKM), 1908, PP, Nr. 35, l. 3. 35 Lukiþev, Pamjatnaja kniga Dmitrija Ivanoviþa Lukiþeva, 388. 36 Zamaraev, Dnevnik totemskogo krest’janina, 59; Petrov, Dnevnik, IRLI, Krasnob. sobr. Nr. 111, 1895-1906 gg., l. 114, 115, 127, 137ob.
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R[ubel] und 30 K[opeken] versoffen. O Herr, verzeih mir meine Sünden.«37 Der lungenkranke Bauer Andreev versuchte hingegen, der Tabaklust zu entsagen: »1912, Februar. Gestern am 14. habe ich versucht, keinen Tabak zu rauchen, ich habe es 3 Stunden ausgehalten, doch dann habe ich mich so danach gesehnt, dass ich erneut Tabak gekauft habe – und nun rauche ich.«38 Durch sein Tagebuch, das Vorsatz und Resultat abzugleichen half, wurde Andreev sein Scheitern – auch in anderen Bereichen – bewusst: »Du liest und planst, du wendest dich an Gott und die Heiligen usw. Doch es gelingt nicht, so zu leben, wie man will.«39 Weil das Geld fehlte, konnte er die Wanderarbeit nicht aufgeben und in sein Dorf zurückzukehren. Etwaige Erfolge, die er verbuchen konnte, verzeichnete er nicht. Für viele Schreiber besaß das Tagebuch auch nach 1917 seine Bedeutung als Bilanz des eigenen Handelns. In der Sowjetunion behielten sie die Tradition bei, Vorsätze und Pläne im Tagebuch zu formulieren. Auch wenn die offiziellen Rhetoriken mehr verlangten, blieben die Schritte auf dem Weg zur ›Umgestaltung‹ der eigenen Person bisweilen bescheiden. So mahnte sich 1933 der Bauernsohn Tichon Puzanov, nun endlich Zeitungen und Zeitschriften zu abonnieren.40 Den Bol’ševiki galt der autobiographische Text gleichfalls als Mittel der Disziplinierung und der Transformation zum ›neuen Menschen‹.41 Dies kollidierte in der frühen Sowjetunion mit früheren Praktiken autobiographischen Schreibens. In den 1920er Jahren nutzen vor allem jene, die schon vor 1917 autobiographisch geschrieben hatten, ihren Text, um sich gegen die Etablierung neuer Biographiemuster zu wehren. Während in der frühen Sowjetunion nicht wenige mit dem Verfassen eines autobiographischen Texts begannen, um ein anerkanntes Mitglied der ›Sowjetfamilie‹ zu werden, präsentierten sich andere Tagebuchschreiber als Christen, die vom Glauben nicht abließen. Sie mahnten sich in ihren Aufzeichnungen, die religiösen Riten zu erfüllen. Dies war auch bei dem Bauern Lukiþev aus dem nordrussischen Dorf Vaška der Fall. Er führte in seinem Tagebuch religiöse Sinnsprüche an, mit denen er sich selbst dazu aufforderte, religiöse Riten zu erfüllen, seinen Nächsten zu lieben und mit seinem Schicksal nicht zu hadern, das ihm in seiner Wahrnehmung immer übler mitspielte. Sein Tagebuch zeugt von einer großen Unruhe. Immer wieder mahnte sich Lukiþev selbst in Zeiten, in denen ein Pud Roggen 300.000 Rubel kostete, ruhig zu bleiben und seinen Nächsten zu lieben. Auch in Zeiten antireligiöser Kampagnen sei es wichtig, seinen Glauben zu bewahren: »Nicht religi-
37 Petrov, Dnevnik, IRLI, Krasnob. sobr. Nr. 111, 1895-1906 gg., l. 94ob. 38 Andreev, Iz dnevnika krest’janina, GAJaO, f. 582 op. 1 d. 1172-1175, Nr. 22, 1912-1913. 39 Andreev, Iz dnevnika krest’janina, GAJaO, f. 582 op. 1 d. 1172-1175, Nr. 22, 1912-1913. 40 Puzanov, »Žatva« 33-go goda, 201. 41 Paperno, What Can Be Done with Diaries, 567.
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öse Bräuche, sondern die Stimmung des Geists hat Bedeutung.«42 In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre nahmen in Lukiþevs Tagebuch die Einträge ab, die vorher so regelmäßigen religiösen Ermahnungen schwinden völlig. Ab 1931 beschrieb er seinen Einsatz für die Kolchosen. Die Anpassungsbemühungen liefen jedoch ins Leere. Am 26. August 1931 wurde die Familie Lukiþev zusammen mit acht anderen Familien aus der Kolchose ausgeschlossen: »Viele Intrigen, viel Klatsch, viele Lügen und, man kann sagen, viel Wahnsinniges geschah am 26. August. Ich bin sicher, dass das noch mehr wird.«43 Die ihm auferlegten Steuern konnte er nicht bezahlen, da ein Großteil seines Eigentums in den Besitz der Kolchose übergegangen war: »30.VIII.[1931]. Lang, quälend, widerlich schleppen sich die Tage dahin. Ich bitte um Gerechtigkeit, doch ich kann sie nirgendwo finden. Bald kommt das Ende. Dies nennt sich Kampf der Dorfarmut mit dem Kulakentum.«44 Aufgrund Lukiþevs wiederholter Beschwerden nahm die Kolchose die Familie noch einmal in ihre Reihen auf. Ruhe und Sicherheit brachte dies jedoch nicht. 1935 wurden Vater und Sohn als »Schädlinge« der Kolchose angeklagt. Das Gericht belegte die Lukiþevs mit Freiheitsentzug, Zwangsarbeit und hohen Geldstrafen. Der Sohn Sergej wurde zu fünf Jahren Zwangsarbeit verurteilt und 1936 nach Ostsibirien verbannt. Im März 1937 erhielt der Vater die Nachricht, dass sein Sohn dort an der Ruhr gestorben sei. Diese Ereignisse haben sich auch in der Materialität des Tagebuchs niedergeschlagen: Die Seiten, die die letzten Monate im Leben Dmitrij Lukiþevs beschreiben, sind teilweise herausgetrennt. Im selben Jahr bricht sein Tagebuch ab. Das Führen eines Tagebuchs war gefährlich geworden. 1938, im Alter von fünfzig Jahren, starb Lukiþev. Der autobiographische Text hatte nicht nur als Mittel der Selbstkontrolle und der Disziplinierung als Christ eine religiöse Funktion. Er offerierte Schutz vor Vergessen durch Wiederholung und erlaubte den Schreibern und ihrer Familie auch eine Regulierung des religiösen und emotionalen Haushalts. Dies wird besonders an Tagebüchern deutlich, die zur Totensorge dienten. Memoria zur Verkürzung des Seelenleids der Verstorbenen erfolgte nicht nur bei Gedenkfeiern und Speisungen, sondern wurde von einigen Bauern auch in ihren Tagebüchern geleistet. Die Bauern übernahmen in ihr Alltagsschriftgut liturgische Zyklen der Ostkirche, mit denen der Toten am dritten, neunten, zwanzigsten und vierzigsten Tag nach dem Tod sowie am Todestag und an Feiertagen gedacht wurde.45 Das Tagebuch wurde zum Mittel, um eine Verbindung zwischen den Toten und den Lebenden zu schaffen. Zamaraev,
42 Lukiþev, Pamjatnaja kniga, 393. 43 Lukiþev, Pamjatnaja kniga, 417. 44 Lukiþev, Pamjatnaja kniga, 418. 45 Kremleva, Pochoronno-pominal’nye obrjady, 72-87; Steindorff, Memoria, 98-103.
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ein Bauer aus Tot’ma, berichtete im Zyklus des liturgischen Erinnerns vom Sterben seiner Angehörigen oder Nachbarn: »18. Heute 9 Uhr morgens starb Avgusta. Sie war 26 Jahre und 4 Monate verheiratet gewesen. […] Heute ist der neunte Tag des Tods von Avgusta und der zwanzigste von Dmitrij Žigulev. Heute beerdigten sie Mišurinskijs Olja aus dem Armenhaus. […] 16 Samstag, neunte Woche, wir fuhren zur Gedenkfeier Dmitrij Žigulevs, vierzigster Tag. 27 ich war auf der Gedenkfeier für Avgusta, vierzigster Tag, abends war ich betrunken.«46
Das rituelle Erinnern an Tote war keine rein persönliche Angelegenheit, die sich nur auf Personen des nahen Umfelds erstreckte. Zamaraev erinnerte in seinem Tagebuch auch an berühmte Verstorbene, von deren Tod er aus der Presse erfahren hatte. Mit der durch die Memoria geleistete Totensorge erhielt die private bäuerliche Biographik eine religiöse Bedeutung, ähnlich der, die Bücher bis zu ihrem Massenaufkommen innehatten. Der Tod von Angehörigen wurde dabei weniger als Ausdruck persönlicher Trauer thematisiert. Vielmehr stand das Erinnern an die Toten als religiöse Handlung im Vordergrund.47 Insbesondere der Tod kleiner Kinder wurde nur wortkarg vermerkt: »Am 13. November wurde die Tochter Evstolija geboren. Am 27. November starb die Tochter Evstolija.«48 Die Tagebücher zeigen, wie häufig Kinder noch vor ihrem ersten Geburtstag starben, oft wenige Tage nach der Geburt. Es scheint, dass ihr Sterben vor allem als Ereignis der Totensorge und der Familienökonomie, als Verlust zukünftiger Arbeitskräfte, Eingang in die Hefte fand. Einträge, wie die des Bauern Frolov, der den Tod seines Enkels schriftlich beweinte, sind selten: »Heute 12 Uhr mittags haben wir meinen geliebten Vitja begraben, allen tut er sehr leid, sein Leben (žitie) dauerte nur 1 Jahr und 2 Monate. Er hatte gerade begonnen zu laufen und zu plappern, vor allem seinen Opa zu rufen.«49 Das Tagebuch als Mittel der Memoria, das im festgelegten Rhythmus an die Toten erinnerte, war nur selten ein Medium, um das Sterben als Prozess zu schildern. Eine Ausnahme ist das Tagebuch Jakov Artynovs, dessen Vater Aleksandr Artynov als gebildeter Bauer in den 1880er Jahren große Aufmerksamkeit erfahren hatte. Michail Pogodin, Professor an der Moskauer Universität, hatte Aleksandr Artynov in seinen schriftstellerischen Ambitionen unterstützt. Dank dessen gelang es ihm, heimatkundliche Schriften und seine Autobiographie als Erinnerungen eines Bauern aus dem Dorf Ugodiþi zu veröffentlichen.50 Jakov Artynov beschrieb das langsame
46 Zamaraev, Dnevnik totemskogo krest’janina, 65-66. 47 Frolov, Dnevnik, RGB f. 218, 1283.12-15, 1934-1935, l. 60-60ob. 48 Lukiþev, Pamjatnaja kniga, 414. 49 Frolov, Dnevnik, RGB f. 218, 1283.13, 1936-1939, l. 60-60ob. 50 Artynov, Vospominanija krest’janina sela Ugodiþ; Artynov, Selo Ugodiþi.
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Sterben seines bekannten Vaters als Tod eines guten Christen, der für seinen Glauben mit einem guten Tod belohnt werde. Als dem Sterbenden angeboten wurde, das Abendmahl in der Hütte einzunehmen, weigerte sich der Greis. Er könne noch bis zur Kirche gelangen: »Seine Kräfte gingen zu Ende, doch sein Geist war wach.«51 Noch kurz vor seinem Tod habe der Vater die Gebete des Geistlichen mit schwacher Stimme mitgesprochen.52 Nach dem Tod seines Vaters schilderte Artynov seine Trauer als ein Gefühl, nun allein in der Welt zu sein: »Um 3 Uhr morgens starb ruhig mein Vater. […] Großer, unaussprechlicher Kummer hat mich ergriffen, ich verstand, dass ich den einzigen Menschen auf der Welt verloren habe, der mich wirklich geliebt hat […].«53 Kurz darauf setzt auch in Artynovs Tagebuch der Zyklus rituellen Erinnerns ein. Er rief nicht nur an den festgelegten Tagen Familie und Freunde zusammen, um bei einem gemeinsamen Essen dem Vater zu gedenken, sondern er räumte an diesen Zeitmarken auch der Erinnerung an seinem Vater Platz in dem Tagebuch ein. Außerhalb des Erinnerungszyklus der Totensorge spielte der Tod des Vaters im Tagebuch aber keine Rolle mehr. Hierin unterscheidet sich das Tagebuch von den Autobiographien, die an Adressaten außerhalb des Familienkreises geschickt wurden. In ihnen trieb der Verlust des Vaters das Narrativ an. Häufig wird er als Wende zwischen glücklicher Kindheit und einem Leben in Armut geschildert. Dies war bei Jakov Artynov nicht der Fall. Das Leben ging weiter. Auf den Seiten seines Tagebuchs fand er schnell wieder in den Alltag zurück. Auch Ivan Rassychaev, der seit 1902 ein Tagebuch führte, hatte anfänglich nur bilanzartig – als Teil der Memoria – vom Sterben seiner Kinder berichtet. Sein schriftlicher Umgang mit Tod und Trauer änderte sich erst in den 1950er Jahren, als seine Schwester und seine geliebte Frau starben. Ihm gelang es nicht, den Verlust im Gedenkzyklus der Totensorge schreiberisch zu bewältigen. Nach dem Tod seiner Frau berichtete er erstmals von Trauer und tiefempfundenem Leid. Das Bemühen, sein Leben nach ihrem Tod ›fortzuschreiben‹, scheiterte nach wenigen Seiten. Rassychaev gab das Schreiben auf. Bevor er sein Tagebuch beendete, schilderte er noch einmal voller Dankbarkeit das Leben mit seiner Frau. Er beklagte den Kummer, den er ohne sie mit seiner Familie, vor allem mit seinem alkoholkranken Sohn habe: »Katja ist früh gestorben und wir wurden getrennt. Damit wurde alles zum größten Unglück und Leid. Deswegen geriet in der Familie alles in Verwirrung und Unordnung. Katja starb und ich blieb allein unter den Lebenden zurück.«54 Es schließt mit der Beschreibung von Träumen, die ihn noch einmal mit ihr zusammenführten.
51 Artynov, Dnevnik Ja.A. Artynova, BAN f. 72 d. 129, 1896, l. 17ob-18ob, Zitat: 18ob. 52 Artynov, Dnevnik Ja.A. Artynova, BAN f. 72 d. 129, 1896, l. 19ob. 53 Artynov, Dnevnik Ja.A. Artynova, BAN f. 72 d. 129, 1896, l. 20. 54 Rassychaev, Dnevnye zapiski, 102.
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Dass Trauer in den Tagebüchern so selten geschildert wird, liegt nicht an ›vorindividuellen‹ Empfindungsweisen. Vielmehr hatten bäuerliche Tagebücher anderen Schreibzwecken zu dienen. Der sich ändernde Umgang der Bauern mit dem Tod, wodurch immer häufiger die Beschreibung individueller Gefühle und Trauer möglich wurde, ist kein Anzeichen für das Entstehen von Emotion. Vielmehr spricht er für ein sich Ende des 19. Jahrhunderts veränderndes Religionsbewusstsein, durch das religiöse Schreibweisen langsam an Bedeutung verloren. Literatur, Kino und eine an Einfluss gewinnende Unterhaltungskultur haben dazu beigetragen, dass über Liebe, Tod und Trauer nicht nur in einem bilanzierenden Modus geschrieben werden konnte. Außergewöhnliches Frömmigkeit, religiöse Riten und Erfahrungen spielten in den Tagebüchern eine größere Rolle als in jenen Texten, die publiziert oder an Autobiographieprojekte gerichtet wurden. Die im Familienkreis verbliebenen Tagebücher und Autobiographien waren für die Bauern auch ein Mittel, um in einen Dialog mit Gott zu treten und sich als guter Christ zu präsentieren. Dabei schrieben die Bauern nicht nur in den Zyklen der Totensorge oder vermerkten regelmäßige Ereignisse wie den Empfang des Abendmahls oder das Ablegen der Beichte. Für manchen Bauern war der autobiographische Text auch ein Mittel, um göttliche Gnadenbeweise zu erbitten. Wie Bauern das Gespräch mit Gott suchten, zeigt sich an der Autobiographie N.G. Bagrecovs. Der 1865 im Gouvernement Archangel’sk geborene Bauer nutzte seine Autobiographie aus dem Jahr 1928, um einen vorläufigen Schlusspunkt hinter sein irdisches Leben zu setzen. Er legte in ihr Rechenschaft über sein bisheriges Leben und die eigene Sündhaftigkeit ab und bat um Vergebung. In einer Zeit, in der es immer schwieriger wurde, bei einem Geistlichen zu beichten, ja überhaupt die religiösen Gebote zu erfüllen, formte Bagrecov seinen autobiographischen Text zur Lebensbeichte um. Nicht nur persönliche Schicksalsschläge – der Tod seiner Frau, seiner Tochter und seiner Söhne – las er als göttliche Strafe für seine Sünden: »Ich kann seit meiner Geburt wegen meiner Sünden nicht in Ruhe leben, und das ist noch wenig, bin ich doch ein sehr sündiger Mensch.«55 Dabei traf ihn die göttliche Vergeltung nicht nur als Individuum. Der ungewöhnlich kalte Sommer 1926 sei, so Bagrecov, die verdiente Strafe für ein Land, das sich über göttliche Gebote hinwegsetze.56 Andere Bauern nutzten nicht die Topoi von Selbsterniedrigung und Sündhaftigkeit, um auf göttliche Gnade zu hoffen. Stattdessen beschrieben sie ihre religiöse
55 Bagrecov, Žizneopisanie krest’janina, IRLI, Mezenskoe sobr. Nr. 177, 1925-1928, l. 2. 56 Bagrecov, Žizneopisanie krest’janina, IRLI, Mezenskoe sobr. Nr. 177, 1925-1928, l. 1ob.
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Auserwähltheit und nutzten die Beschreibung von Träumen und Visionen, um sich in das Heilsgeschehen einzuschreiben. Der autobiographische Text war auch ein Ort, um Zeichen göttlicher Gnade – Träume und Visionen sowie erfahrene Wunder – zu vermerken. Insbesondere im russischen Norden waren hagiographische und apokryphe Texte weit verbreitet, in denen Träume (sny), Visionen und göttliche Erscheinungen (videnija und javlenija) beschrieben wurden oder der Träumende die jenseitige Welt betrat.57 Diese Texte stellten Skripte, Motive und Codes bereit, in denen die Bauern auch ihre Träume und Visionen schildern konnten, während Ikonen und Andachtsbilder visuelle Anknüpfungspunkte boten.58 An den in Tagebüchern und Autobiographien integrierten Traumaufzeichnungen lässt sich sowohl das Verblassen als auch die Beibehaltung religiöser Vorstellungen ablesen. Die Traumprotagonisten, die Häufigkeit der Träume wie auch die vom Schreiber zugewiesene Herkunft geben Auskunft über Frömmigkeit im Leben der Bauern. Dabei spielt die Frage nach dem Verhältnis von Realität und Imagination eine entscheidende Rolle. In Kulturen abnehmender Religiosität wird der ›als-ob-Charakter‹ von Träumen und Visionen betont. Sie stehen außerhalb der Realität, auf die sie nur symbolisch verweisen. In religiös orientierten Gesellschaften hingegen werden Träume von metaphysischen Kräften gesandt und der Realität zugerechnet. Zudem verweisen
57 Als videnie und javlenie werden Ereignisse bezeichnet, in denen ein Mensch mit überirdischen Mächten kommuniziert. Obwohl diese beiden Begriffe allgemein synonym gebraucht werden, unterscheiden sie sich in ihrer Konnotation als auch im Verhältnis zur Hauptperson: Als videnie werden Erzählungen über Erscheinungen bezeichnet, in denen der einfache Mensch im Mittelpunkt steht. Erscheinungen, die als javlenie beschrieben werden, stellen dagegen das Erschienene – in erster Linie christliche Figuren wie zum Beispiel die Gottesmutter, Christus und Heilige – in das Zentrum. Romodanovskaja, Rasskazy sibirskich krest’jan, 145. 58 Die Arbeiten von Peter Burke, Peter-André Alt, Jacques Le Goff und Peter Dinzelbacher, die sich für eine Kulturgeschichte des Traums und der Visionen verwandt haben, bieten theoretisches und methodisches Rüstzeug. Einen Bezug zwischen Selbstzeugnis und Traumaufzeichnung hat erstmalig Sebastian Leutert für Quellen aus dem deutschen Raum herausgearbeitet, wobei er eine wechselseitige Beziehung zwischen der Veränderung innerhalb der gelehrten Traumdeutungstheorie, der Ablösung des Vorsehungsglaubens als Konstruktionsprinzip der Autobiographik sowie einer Anthropologisierung des Selbstzeugnisses im 18. Jahrhundert annimmt. Das Ergebnis dieser Prozesse, so Leutert, war eine Psychologisierung des Traums, der nicht mehr auf externe Ursachen wie Gott und Gestirne zurückgeführt wurde, sondern sich zum Instrument der Selbstdeutung wandelte. Burke, Die Kulturgeschichte der Träume; Burke, Für eine Geschichte des Traums; Alt, Der Schlaf der Vernunft; Le Goff, Phantasie und Realität; Leutert, »All dies, was mir mein Genius vorgezeichnet hatte«, 262, 273.
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Traumaufzeichnungen auf die Erlebniswelt der Träumenden, auf Verdrängtes und Unterdrücktes.59 Obgleich sich das Bild vom Traum als Seelenspiegel nur eingeschränkt auf Traumaufzeichnungen übertragen lässt und es einen gewichtigen Unterschied zwischen ›träumen‹ und ›Träume schreiben‹ gibt, ermöglichen Traumaufzeichnungen Erkenntnisse, die andere Quellen verwehren. Träume und Visionen kommen in autobiographischen Texten, die im Familienkreis verblieben, häufig vor, während sie in der publizierten bäuerlichen Autobiographik selten sind. Dieses Ungleichgewicht lässt sich mitunter sogar an den verschiedenen autobiographischen Texten eines einzelnen Schreibers zeigen: Spiridon Drožžin adressierte durch Hinzunahme oder Weglassen der Träume seine Texte unterschiedlich. Während der erfolgreiche ›Bauernpoet‹ in seinen privaten Texten häufig Träume beschrieb, finden sie sich in seinen publizierten Texten nicht. Er selbst oder seine Herausgeber haben sie wahrscheinlich aus seiner Autobiographie herausgehalten, da sie dem Bild des aufgeklärten und leistungsorientierten Bauern widersprachen. In seinen publizierten Texten vermied Drožžin den Bezug auf antike Traumdeutungsbücher und die lokale mündliche Traumdeutungstradition, in der geträumte Personen und Gegenstände auf die Zukunft verwiesen. Er wollte oder konnte sich Reminiszenzen an eine in gebildeten Schichten als Aberglauben geltende Zukunftsschau nicht leisten. Auch an die hagiographische Tradition, in der Träume und Visionen als Gnadengaben gedeutet wurden, knüpfte der auf seine Selbsttätigkeit insistierende Drožžin in seinen publizierten Texten nicht an.60 Was für eine wichtige Rolle Visionen und Träume in der bäuerlichen Autobiographik einnehmen konnten, zeigt sich deutlich am Tagebuch von Ivan Rassychaev. Er berichtete in seinen Täglichen Notizen von 24 Träumen und Erscheinungen. Der Beschreibungszeitraum seines Tagebuchs ist außergewöhnlich lang. Rassychaev begann 1902 mit dem Schreiben und gab seine Lebensbeschreibung erst 1952 auf, nach dem Tod seiner Frau. In diesen fünfzig Jahren erlebte Rassychaev nicht nur private Umbrüche wie Kriegsdienst, Heirat und Geburt der Kinder, sondern er war auch Zeuge und Teilnehmer einer Umwälzung der traditionellen bäuerlichen Lebenswelten, die das Dorf insbesondere im Zuge der Kollektivierung erfasste. Die große Zahl der Traumaufzeichnungen und die Dauer seines Schreibens ermöglichen es, die Träume in Bezug zum historischen Wandel und seiner persönlichen Entwicklung zu setzen. Dabei stellt sich die Frage, ob und inwieweit die Leugnung göttlicher oder kosmischer Einflüsse auf menschliche Lebenswege nach der Revo-
59 Koselleck, Terror und Traum; Paperno, Stories, 163. 60 Ausführlicher zur bäuerlichen Traumdeutung und zu Traumaufzeichnungen in Selbstzeugnissen aus der Sowjetunion siehe: Herzberg, Von der Vision; Paperno, Stories, 161208. Siehe auch Kap. 2.2.
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lution 1917 zu einer Säkularisierung und Psychologisierung der Traumaufzeichnungen führte. Gliedert man Rassychaevs 24 Traumbeschreibungen nach inhaltlichen und stilistischen Merkmalen, lassen sich vier Phasen unterscheiden. In der ersten Phase, bis in die 1920er Jahre hinein, sind die Einflüsse der hagiographischen wie auch lokalen mündlichen, auf antiken Büchern beruhenden Traumdeutungstraditionen erkennbar: Rassychaev sah nicht nur sein eheliches Glück voraus, sondern bekam auch die Dreifaltigkeit und sogar den göttlichen Erlöser zu Gesicht. Der erste Traum, den er 1903 niederschrieb, erinnert an die nächtliche ›Braut- und Bräutigamsschau‹ der mündlichen Traumdeutungsweisen, die das Eintreffen oder Ausbleiben zukünftigen Ehesegens prognostizieren sollte: »Im Jahre 1903 begab ich mich in den Stand der Ehe. Dieses Ereignis besitzt für mich einen wichtigen und bedeutsamen Wert für das ganze Leben. Für mich hat man als Braut Ekaterina Jakovlevna, die Tochter des ortsansässigen Bauern Jakov Alekseev ýalanov und seiner Frau Matrona Afonas’evna, ausgekundschaftet. Ihr Äußeres ist nicht schlecht und sie ist 21 Jahre alt. Kurz vor der Hochzeit habe ich meine Braut einmal im Traum gesehen. Sie erbat aus meiner Hand den Ring, den ich ihr mit Liebe gab.«61
Rassychaev wurde im Traum die Richtigkeit seiner nicht von ihm getroffenen Brautwahl demonstriert. Hier zeigt sich ein Grundzug von Traumaufzeichnungen, die den Schreibern wohl kaum bewusst war: Meist werden erlebte Träume nicht gedeutet, sondern Entscheidungen werden durch Träume legitimiert und Ereignisse mit Sinn versehen. Rassychaev räumte ihnen einen unmittelbaren Einfluss auf sein Leben ein. Eine schwere Verwundung an der österreichischen Front sei 1915 genauso eingetroffen, wie es ›sein‹ Engel, Ioann Zlatoust, angekündigt habe: »Zur Zeit der Fahrt an unsere Position sah ich einst im Traum, wie ich nachts an den Schützengräben entlangging, wo unter einem Unterstand ein Mensch im Priestergewand stand. Dem Äußeren nach war er 50 oder 60 Jahre alt, besaß wenige rötliche Barthaare und sein Gesicht leuchtete hell. Er sagt mir, dass ich an der Position eine Verletzung erleiden werde. Ich fragte ihn, ob schwer oder leicht. Ein wenig abwartend, um mich nicht zu erschrecken und die Verletzung nicht ernst erscheinen zu lassen, sprach er mit leisen Worten des Mitleids, dass ich schwer verletzt werden würde. Im Vergleich mit den bildlichen Darstellungen auf den Ikonen, dachte ich, dass dieser mir erscheinende schöne Mann mein Engel, der Heilige Ioann Zlatoust, gewesen sein muss.«62
61 Rassychaev, Dnevnye zapiski, 26-27. 62 Rassychaev, Dnevnye zapiski, 36
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Die Grundannahme, dass die nächtlichen Gesichte dem Tagesgeschehen gleichoder gar höherwertig seien, ließ sie handlungsleitend werden. Rassychaev legte nach dieser Erscheinung – so das Tagebuch – ein Gelübde ab, niemals vom Glauben abzuschwören, regelmäßig in die Kirche zu gehen und täglich eine bestimmte Anzahl von Gesängen und Gebeten dem Herrn zu widmen. Sein Ehrenwort erzeugte nach 1917 schwere innere Konflikte.63 In die zweite Phase, und damit in die Zeit der Glaubensanfechtung, fallen 16 der insgesamt 24 Traumbeschreibungen. Sie lehnen sich alle an den biblischhagiographischen und apokryphen Traumdiskurs an. Während Kirchen schließen mussten, Gottesdienste verboten wurden und die Bol’ševiki die Abschwörung vom Glauben forderten, besann sich Rassychaev auf die Biographiemuster von strastoterpenie und terpenie za veru (Dulden und Leiden um des Glaubens willen) der russischen Heiligenviten. Sein Leiden und Dulden – so der Grundtenor des Tagebuchs – fanden seinen Sinn und Lohn in den von Gott gesandten Träumen. Rassychaev schuf ab den 1920er Jahren deutlicher als vorher mithilfe von Träumen, Visionen und erfahrener Wunder seine ›Vita‹. Dabei übernahm er ebenfalls die aus den Heiligenviten bekannten Topoi ›Selbstüberhöhung‹ und ›Selbsterniedrigung‹, mit denen sich vor ihm schon Avvakum in seinem žitie beschrieben hatte.64 Dem Bild des Auserwählten, dem sich Gott in Visionen offenbart, steht die Betonung eigener Nichtswürdigkeit und Sündhaftigkeit gegenüber. Auch dieser Topos fand seinen Niederschlag in den Traumaufzeichnungen: Während der Gefangennahme durch die Weißen 1920, die ihn wegen seiner Anstellung als Schreiber fälschlicherweise für einen Kommunisten hielten, erschien ihm im Traum Nikolaj ýudotvorec, der Wundertäter. Dieser wandte sich jedoch von ihm ab, anstatt mit Blicken zu trösten. Rassychaev schrieb die Abkehr des Heiligen, der ihm selbst in dieser Lage keine Zuwendung schenken wollte, seinem frevelhaften Leben zu. Die Haft wandelte sich zur Strafe Gottes: »Die Ikone hat mich wahrscheinlich deswegen nicht angeschaut, weil ich in meiner Geisteshaltung nicht den Eifer zu einem gottgefälligen Leben habe.«65 Vor allem in den 1920er Jahren, als das Festhalten am Glauben mit großen Gefahren verbunden war, erhielten die Traumaufzeichnungen eine glaubenspraktische Aufgabe. Nicht mehr lebbare Frömmigkeitsvorstellungen verlagerten sich in die Träume. Rassychaev beschrieb in dieser Zeit sein Leben als Wiederholung des biblischen Heilsgeschehens. Er nutzte hagiographische Schreibtraditionen als Zeichen des Widerstands gegenüber den nach 1917 entstandenen Schreibweisen. In der Tradition der Altgläubigen hielt Rassychaev durch Träume und Erscheinungen den An-
63 Rassychaev, Dnevnye zapiski, 56. 64 Hildebrandt (Hrsg.), Das Leben. 65 Rassychaev, Dnevnye zapiski, 39.
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sichten der Bol’ševiki eine höhere Wahrheit entgegen. Wie die Altgläubigen, die ihre religiösen Texte immer wieder abschrieben, schilderte auch Rassychaev mehrfach die gleichen Visionen. Nicht nur bei ihm nahmen die Wiederholungen in den 1920er Jahren zu, als die eigene Frömmigkeit hohen Belastungen ausgesetzt war. Rassychaev aktualisierte seine Erinnerungen, indem er ihnen in seinem Tagebuch neuen Raum gab, wenn sie ihm zu entgleiten drohten. In seiner Erzählstrategie, die den hagiographischen Biographiemustern vom Leiden und Dulden um des Glaubens willen folgte, bekamen selbst als brutal und absurd empfundene Ereignisse einen höheren Sinn. Die Trennung von Kirche und Staat, Kirchenschließungen, Inhaftierungen von Geistlichen erschienen ihm im Stile der Hiob-Geschichte – auf die Rassychaev sich nicht nur versteckt, sondern auch in einem offenen Zitat bezog – als Prüfungen Gottes.66 Die dritte Phase zeigt deutlich, welchen Einschnitt die Kollektivierung für Rassychaev bedeutete. Dass der Verlust der eigenverantwortlichen Wirtschaft schmerzte, ist nicht nur an seinen Klagen über die gewandelte Welt erkennbar, sondern lässt sich auch am Schreibstil des Tagebuchs ablesen: Rassychaev gab das Schreiben in russischer Sprache auf und führte das Heft in seiner Muttersprache Komi weiter.67 Weder die Elemente des Wirtschaftsbuchs noch die Traumaufzeichnungen finden sich von da ab in seinem Tagebuch. Während Rassychaev das Wirtschaftsbuch, die Aufzählung von Ernteerträgen, Einnahmen und Ausgaben, zur Vergewisserung als Haus- und Hofherr genutzt hatte, hatten ihm die Traumaufzeichnungen zur Rechtfertigung seines Lebens als Christ gedient. Träume und Visionen, von deren göttlichen Ursprung er überzeugt war, waren ähnlich den Ernteerträgen im Wirtschaftsbuch Lohn für ein rechtschaffenes Leben gewesen. Ein Leben, in dem man sich für oder gegen Gott entscheiden konnte und ein gottgefälliges Leben mit guten Ernten und Traumgesichten vergütet wurde. Als der Druck vom Glauben abzuschwören nach der Kollektivierung noch unerbittlicher und das Einhalten der Feiertage, Fasten und regelmäßiges Gebet so gut wie unmöglich wurde, konnte auch dieser Lohn nicht mehr verdient werden. Die Traumaufzeichnungen verebbten deshalb. Durch den Verlust von Handlungsmöglichkeiten war es für Rassychaev sinnlos geworden, sich mithilfe der Traumnotate eigener Entschlüsse zu versichern.
66 Mit dem letzten Satz seiner Klage über den Eintritt in die Kolchose rückte er sich in die Nachfolge Hiobs, indem er die Bibelstelle: »Ich bin nackt von meiner Mutter Leibe gekommen, nackt werde ich wieder dahinfahren.« (Hiob 1,21) anzitierte: »Nackt bin ich geboren, nackt werde ich sterben.« Rassychaev, Dnevnye zapiski, 70. 67 Komi gehört zur finno-ugrischen Sprachfamilie. Es ist die Sprache einer Bevölkerungsgruppe, die im nördlichen Uralvorland lebt und trotz hohem Russifizierungsgrad ihre ethnische Identität bewahrt hat. Leont’ev, Kul’tury i jazyki, 220.
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Erst ab 1940, in der vierten Phase, kehrten die Traumaufzeichnungen in das Tagebuch zurück, wobei sich eine Psychologisierung abzeichnete. Die religiösen Traumfiguren traten zurück; Rassychaev wies den Traumgebilden nicht mehr nur einen göttlichen Ursprung zu. Ab 1952 entwuchsen sie ihm zufolge allein der Sehnsucht nach seiner verstorbenen Frau und der Trauer über ihren Tod. Dass eine Säkularisierung der Darstellungsweise stattgefunden hatte, zeigt sich an den beiden Träumen nach dem Verlust seiner Frau. Anstatt göttlicher Figuren und biblischer Bilder erschien sie nun ihm: »Durch dieses Leben bin ich oft traurig und gekränkt. […] Katja sehe ich manchmal im Traum. Einst kam sie nach Hause und ich umarmte sie und sagte: ›Katja ist schon da!‹ Sie sagte: ›Aber ich lebe immer zu Hause.‹ Manchmal, wenn ich mich anschicke, zu dreschen oder zu sensen, erscheint sie mir in der Tenne. […] Bei jeder Erscheinung ist sie wie früher, als ob [Herv. von J.H.] sie lebte, mit einem lustigen Gesicht. […] Sobald ich Katja in meinen Träumen sehe, sie mich besucht und sich zu Hause aufhält, bin ich froh und geht es mir gut. Die Treffen sind sehr notwendig. Wenn du aufwachst, ist aber alles nur ein Traum gewesen [Herv. von J.H.]. Aber die Treffen selbst sind sehr wichtig und heiterer gestaltet sich danach das Leben. Das Gesehene lässt sich nicht vergessen.«68
Rassychaev erkannte den Wunschgehalt seiner Träume und zog zum ersten Mal eine deutliche Grenze zwischen Realität und Imagination. Die Träume verblieben im ›Als-ob‹ und wurden nun – auch in seiner eigenen Wahrnehmung – zum Ausdruck seines Gefühlslebens. Der Traum wandelte sich endgültig zum Seelenspiegel. Der strukturelle Wandel des Tagebuchs, der mit einer Abkehr von hagiographischen Schreibweisen einherging, ist nicht nur im weitgehenden Verschwinden der Traumaufzeichnungen und religiöser Biographiemuster greifbar. Er zeigt sich auch an den beiden ›Wundergeschichten‹ des Tagebuchs. Die Tatsache, dass Rassychaev 1943 nach dem Kentern seines Boots dem Tod durch Ertrinken entkam, ist ausführlich beschrieben. Ebenso dramatisch hatte er 1921 ein früheres Schiffsunglück geschildert, das ihn und seine Familie im Jahre 1906 ereilt hatte.69 Trotz der Gleichartigkeit der Erzählungen fällt ein Unterschied ins Auge: Während er im Narrativ aus dem Jahr 1921 die Errettung aus höchster Gefahr der Anrufung göttlicher Mächte verdankte, war er 1943 allein für seine sichere Heimkehr verantwortlich. Hatte er in den 1920er Jahren an das fünfzehn Jahre zurückliegende Ereignis erinnert, um Gottes Allmächtigkeit zu bezeugen, so nahmen seit den 1940er Jahren göttliches Wirken oder kosmische Ursachen im Narrativ des autobiographischen Texts keinen Einfluss mehr auf Rassychaevs Lebensweg.
68 Rassychaev, Dnevnye zapiski, 106. 69 Rassychaev, Dnevnye zapiski, 45.
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Die Veränderungen, die Rassychaevs Tagebuch formten, korrespondieren mit anderen Tagebüchern, in denen Träume und Visionen beschrieben sind. Hatten solche Erscheinungen vor 1917 vor allem den Altgläubigen gedient, um sich des ›richtigen‹ Glaubens zu versichern, diskreditierten viele Schreiber nach der Oktoberrevolution auf diese Art und Weise den sowjetischen Alltag und den aufgezwungenen Atheismus. In den vorrevolutionären Tagebüchern stehen die religiösen Traumaufzeichnungen meist erratisch im Text; häufig werden sie nicht explizit ausgedeutet. Dass sie als göttliche Gnadengaben zu verstehen seien, war sowohl für die Schreiber als auch für ihre Familien selbstverständlich. So beschrieb der Bauer Ivan Andreev aus dem Dorf Erichovo, wie ihm 1911 Ikonen und die Gottesmutter im Traum erschienen seien. Wie seine Vision zu verstehen sei, legte er jedoch nicht dar: »Traumerscheinung. Im Dezember 1911 habe ich, Iv[an] Gri[gorij] Andreev, im Traum am Himmel zur Nachtzeit 2 Ikonen gesehen, und in der Mitte war die Sonne oder der Mond, von wo sehr helle Strahlen kamen, sodass es auf der Erde hell war. Serafim ging hinter der Wolke zur linken Seite weg. Die Muttergottes ist sofort verschwunden.«70 Die Traumaufzeichnungen waren eine Möglichkeit, sich als Christ zu präsentieren und damit auch Zugehörigkeiten auszudrücken. Häufig konstituierten sie – wie später an dem Tagebuch Sitnikovs ausführlich gezeigt wird – Familie und Nachbarschaft als Glaubensgemeinschaft. In den 1920er Jahren wandelte sich der Charakter der Träume. Immer häufiger wurden in und mit Träumen Erfahrungen notiert, die den Tagebuchschreiber außerhalb der sowjetischen Gesellschaft stellten und daher nicht mehr offen mitgeteilt werden konnten. Vielfach entwarfen die Autoren damit Gegenwelten zum sozialistischen Alltag. Sie selbst deuteten ihre Träume und Visionen als Gegenarchive, die unterdrückte Wahrheiten bargen. Dies traf in den 1930er Jahren nicht allein auf Träume und Visionen mit religiösen Motiven zu. So schilderte Andrej Aržilovskij, der in den 1930er Jahren Tagebuch führte, seine Träume nicht mehr als religiöse Erfahrungen. Aržilovskij war in der Sowjetunion mehrfach angeeckt: Schon 1920 hatte man ihn zu acht Jahren Zwangsarbeit verurteilt; 1923 kam er aufgrund einer Amnestie anlässlich der Gründung der Sowjetunion frei. Im November 1929 erklärten die neuen Machthaber seinen Hof zur »Kulakenwirtschaft«. Sie verurteilten ihn wegen konterrevolutionärer Agitation zu zehn Jahren Lager und deportierten seine Familie zur Waldarbeit. Nach sieben Jahren Haft kam er frei.71 In seinem Tagebuch beschrieb er das erneute Zusammenleben mit seiner Familie, der er sich durch die Lagerhaft entfremdet fühlte. Im Winter
70 Andreev, Iz dnevnika krest’janina, GAJaO, f. 582 op. 1 d. 1172-1175, Nr. 21, 1911-1912; Uvarova stellt Andreevs Tagebuch in ihrer Dissertation vor: Uvarova, Mirovosprijatie, 43-45, 59, 88-96. 71 Aržilovskij, Dnevnik 36-37-go godov, 139; Arschilowski, »Gegenwart«, 16-19.
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1936/37 begann Aržilovskij, seine Träume zu dokumentieren; zwanzig Träume verzeichnete er innerhalb von neun Monaten. In ihnen verarbeitete er beängstigende Ereignisse. Selbst Stalin erschien ihm im Traum: »Man nenne es Unsinn, aber Träume sind doch ein Faktum. Ich möchte einen interessanten Traum aufschreiben. […] Im Zimmer nur Männer; an einfachen Leuten ich und noch ein Schwarzbärtiger. Ohne ein Wort zu sagen, warf Wissarionowitsch den schwarzbärtigen Mann hin, deckte ihn mit einem Leintuch zu und vergewaltigte ihn brutal […]. Mir wird es genauso ergehen! Dachte ich verzweifelt […]. Zweimal habe ich von Stalin geträumt: Vor der Freilassung [aus dem Lager, J.H.] ist er mir erschienen und eben heute. Die Sache ist die, dass mir auch Nikolaj II. vor der Revolution im Traum erschienen ist. Damals dachte ich: Wozu das? Ich habe ihn doch nie gesehen, und interessiert hat er mich kaum. Aber während der Revolution und nach seiner Hinrichtung musste ich häufig an diesen seltsamen Zuspätgekommenen denken. Ich vermute, auch von Stalin träumt man nicht zufällig.«72
Aržilovskij rätselte, welche Bedeutung die Träume für seinen Lebensweg haben könnten. Dabei schwankte er in seinen Bewertungen: Einerseits schrieb er seinen Träumen einen Bezug zur Realität zu, andererseits verwies er sie in das Reich der Imagination: »Es ist zwar dumm, Träume aufzuschreiben, aber wenn es sonst nichts gibt?«73 Anders als Rassychaev knüpfte Aržilovskij nur selten an hagiographische Traditionen an. Er rekrutierte sein Traumpersonal nicht mehr aus der Schar der Heiligen. Doch auch bei ihm erzeugte die Schwierigkeit, Gottesdienste zu besuchen und religiöse Riten auszuführen, innere Konflikte. So träumte er, dass er am Ende einer Ikonenprozession allein die Lieder anstimmte.74 In einem späteren Traum sah er seinen Bruder Miša, der als Diakon in einer Kirche tätig war: Anstatt die Gläubigen in die Kirche zu bitten, versperrte er ihnen den Zutritt. Aržilovskij vermochte es nicht, diesen Träumen Sinn zu verleihen: »Weshalb träume ich so etwas? Das soll einer raten?«75 Die Ursachen für andere nächtliche Phantasien glaubte er klarer zu erkennen: »Vielleicht weil ich besser esse oder auch weil ich überhaupt ausgeruht bin, träume ich schon die zweite Nacht von Frauen. Die reinste Sünde.«76 In seinem Tagebuch äußerte er die Sorge, dass gerade die furchteinflößenden Träume auf seinen zukünftigen Lebensweg verweisen könnten. Nachdem er am 19. April 1937 von einer Kirche geträumt hatte, die ein Gefängnis zu sein schien,
72 Aržilovskij, Dnevnik 36-37-go godov, 148; Zitat: Arschilowski, »Gegenwart«, 54-55. 73 Aržilovskij, Dnevnik 36-37-go godov, 153; Zitat: Arschilowski, »Gegenwart«, 76. 74 Aržilovskij, Dnevnik 36-37-go godov, 152; Arschilowski, »Gegenwart«, 71. 75 Aržilovskij, Dnevnik 36-37-go godov, 154; Zitat: Arschilowski, »Gegenwart«, 76. 76 Aržilovskij, Dnevnik 36-37-go godov, 153; Zitat: Arschilowski, »Gegenwart«, 75.
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gab er das Schreiben seines Tagebuchs auf.77 Die Schreibabstinenz hielt er jedoch nicht einmal drei Wochen durch: »Diese Träume haben mich so erschreckt, dass ich meine ganze Schreiberei weggeräumt und bis zum 1. Mai durchgehalten habe. Scheinbar war nichts Besonderes, sondern alles bloß nächtliche Phantasien.«78 Doch die nächtlichen Bilder entpuppten sich als Vorahnung.79 Der NKVD »entlarvte« im Juni eine »konterrevolutionäre Gruppierung kulakischer Schädlinge«, zu der angeblich auch Aržilovskij gehörte. Am 29. August 1937 nahm man ihm bei einer Hausdurchsuchung das Tagebuch ab. In einem Verhör gab er zu, die Gesinnung eines landbesitzenden Bauern noch nicht abgelegt zu haben. Doch habe er seine Überzeugungen nur seinem Tagebuch anvertraut, sich nie mit ihrer Verbreitung befasst. Mehr Beweise als das Tagebuch konnte die ›Trojka‹, ein unter Leitung des NKVD stehendes Ersatzgericht aus drei Personen, nicht beibringen, doch dies hinderte sie nicht daran, Aržilovskij am 5. September 1937 erschießen zu lassen.80 Das Tagebuch blieb im Gewahrsam des KGB, der Nachfolgeorganisation des NKVD. Erst nach der Perestrojka hat ein Mitarbeiter des Geheimdiensts das Tagebuch dem Schriftsteller Konstantin Lagunov übergeben, der es in der Zeitschrift Ural veröffentlichte.81 Träume und Visionen blieben in der Sowjetunion ein Mittel, um Erfahrungen zu beschreiben, die sich aus der Sicht ihrer Schreiber nicht in die Parameter von Fortschrittsgläubigkeit und Leugnung göttlicher und kosmischer Einflüsse einordnen ließen. Ivan Karpov, der in den 1970er Jahren seine Autobiographie verfasste, stammte wie Rassychaev aus dem russischen Norden und damit aus einer von Altgläubigen geprägten Gegend. Auch er schilderte, wie er wegen seines Glaubens aus der Gesellschaft ausgeschlossen wurde. Er bezeichnete seine Träume und Visionen als Auslöser seiner Lebensbeschreibung. Sein Leben könne »das Wesen der Träume und ihre Bedeutung für den Menschen« erklären. Nicht nur seine eigene Erfahrung habe gezeigt, dass es »besondere Träume« gebe, die sich bis auf die letzte Einzel-
77 In der mündlichen Traumdeutungstradition ist die Kirche ein Symbol für einen drohenden Gefängnisaufenthalt. Paperno, Stories, 170. 78 Aržilovskij, Dnevnik 36-37-go godov, 159; Zitat: Arschilowski, »Gegenwart«, 97. 79 Irina Paperno hat Aržilovskijs Traumaufzeichnungen vorgestellt und analysiert. Sie verweist vor allem auf die paradoxe Situation, in der der NKVD diese als Beweismittel gegen Aržilovskij benutzte, dadurch aber erst die dunklen Vorausahnungen Aržilovskijs erfüllte. Paperno, Stories, 166-171. 80 Aržilovskij, Dnevnik 36-37-go godov, 139-140; Arschilowski, »Gegenwart«, 20. Der NKVD-Befehl Nr. 00447 vom 30. Juli 1937 sah die Einrichtung sogenannter Trojki vor, die als Ersatzgerichte fungieren sollten. Sie hatten die Aufgabe, ›antisowjetische Elemente‹ zu verurteilen und anschließend hinzurichten oder in die Verbannung zu schicken. 81 Aržilovskij, Dnevnik 36-37-go godov, 138.
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heit erfüllen, niemals vergessen werden können und einen großen Einfluss auf die »innere Welt« des Träumenden hätten: »All dies hat mich auf den Gedanken gebracht, diese Fakten in meinem armseligen, radebrechenden Manuskript darzulegen. Der gebildete Materialist der heutigen Gesellschaft, der das liest, wird dies [die Niederschrift der Träume, J.H.] auf die fehlende Kultur und die Ungebildetheit des Schreibers zurückführen, denn in der heutigen Zeit, in der Zeit des Fortschritts und der Wissenschaft werden nichterklärbare Fakten verneint, obwohl niemand die Fakten als solches verneinen kann.«82
In den Traumaufzeichnungen konnte sich Karpov noch in den 1970er Jahren als Christ präsentieren und damit eine Identität einnehmen, die er außerhalb seiner Autobiographie leugnen musste. Er betonte, dass ihm gerade Träume und Visionen Kraft gegeben hätten, um an seinem Glauben festzuhalten.83 Neben Träumen und Visionen empfanden die Bauern auch selbst unternommene Reisen als außergewöhnlich und damit als beschreibenswert. Sie wurden eher als der bäuerliche Alltag Gegenstand der Beschreibung. So schilderte der Bauer Vadaev seine Schiffsreise von Kem’ nach Archangel’sk. Wie Vadaevs Reisetagebuch zeigt, waren die Reisen zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch nicht in normale Alltagsbeschreibungen integriert, vielmehr begannen die Schilderungen mit der Reise und hörten mit ihr auch auf. Ortswechsel und Reisen gewannen aber als beschreibenswerte Ereignisse an Bedeutung. Im ausgehenden Zarenreich fügten die schreibenden Bauern häufig Reisebeschreibungen in ihre Tagebücher und Autobiographien ein.84 Die Fahrt in die Kaserne oder zur Front war für viele Bauern die erste große Reise. Sie war zugleich eine Übergangsphase, die Bauern zu Soldaten machte. Nicht wenige begannen mit dem Eintritt in den Kriegsdienst, Tagebuch zu führen. Für diese Schreiber scheint der Beginn eines Tagebuchs, Teil eines Übergangsritus (rite de passage) gewesen zu sein, durch den der Übertritt zu einem anderen sozialen Zustand vollzogen wurde.85 Dass ein Großteil der bäuerlichen Autobiographik, die außerhalb von Autobiographieprojekten entstanden ist, aus Kriegstagebüchern oder Kriegserinnerungen besteht, liegt nicht allein daran, dass Umbruchsituationen das Schreiben anregen. Seit der russische Winter Napoleons Grande Armée 1812
82 Karpov, Biografija, IRLI, Krasnob. sobr. Nr. 162, 1972, 162. 83 Siehe auch die Notizen des Bauern Nosov, der über sich sprach, indem er über seine Visionen berichtete: Nosov, Zapisi, IRLI, Ust’-Cilemskoe sobr. Nr. 338, 1960-e gg. 84 Vadaev, Morskoj žurnal, IRLI, Kollekcija V.M. Amasova – A.F. Bogdanovoj, Nr. 171, 19. Jahrhundert. 85 van Gennep, Übergangsriten.
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das Fürchten und den Hunger gelehrt hatte, nahm die Zahl der Memoiren stetig zu.86 Mit dem Sieg über Napoleon wuchs das Interesse an geschichtlichen Ereignissen aus persönlicher Sicht. Kriegsbeschreibungen und Erinnerungen von Kriegsteilnehmern entstanden nicht mehr nur im privaten Rahmen; Schreibkampagnen zum 25. Jahrestag des gescheiterten Napoleonfeldzugs als auch das Bedürfnis, sich des Triumphs über Napoleon dauerhaft zu versichern, lösten eine regelrechte Memoirenwelle aus, die Büchermarkt und Pressewesen überströmte.87 Seitdem wurden Erinnerungen über den Krieg von der russischen Gesellschaft bevorzugt gelesen, galten als interessant und mitteilenswert. Die Kriegsmemoiren boten auch Bauern Biographiemuster, in denen sie ihr Leben in Krieg und Gefangenschaft erkennen und beschreiben konnten.88 Der Wehrdienst war im Zarenreich – wie Werner Benecke ihn treffend charakterisiert hat– ein »Bildungserlebnis«. Ein Leben fernab der Heimat und die Konfrontation mit unbekannten Menschen, Hierarchien, fremden Sprachen und Konfessionen waren geeignet, den Horizont zu erweitern. Zudem war die Armee nicht nur in einem übertragenen Sinn eine »Schule der Nation«. Die Wehrpflichtigen konnten während ihrer Ausbildung Lesen, Schreiben und Rechnen lernen.89 Es ist sicher auch auf die höhere Alphabetisierungsrate zurückzuführen, dass unter den Schreibern autobiographischer Texte Soldaten überrepräsentiert sind. Die Zahl der Lesekundigen in der Armee lag erstmals seit Beginn des Russisch-Japanischen Kriegs über der Zahl der Analphabeten.90 Es ist daher nicht verwunderlich, dass erstmals eine größere Zahl von Tagebüchern und Autobiographien von Armeeangehörigen aus dem Bauernstand von Teilnehmern des Russisch-Japanischen Kriegs überliefert
86 Tartakovskij, Russkaja memuaristika i istoriþeskoe soznanie, 18. 87 Tartakovskij zählte 1980 insgesamt 457 Memoiren, in denen an das Jahr 1812 erinnert wurde. Allein 423 Erinnerungen erschienen darüber nach seinen Zählungen im Zeitraum 1812 bis 1916 in Zeitungen, Zeitschriften und historischen Periodika. Tartakovskij, 1812 god i russkaja memuaristika, 94-95. 88 Unpublizierte Beispiele, in denen der Wehrdienst als Auslöser für das eigene autobiographische Schreiben diente: Šþipunov, Dnevnik za 1915-1923 gg., IRLI, Severodv. sobr. Nr. 902; Besov, Knižka zapisnaja, Petrozavodsk: KGM – 1158/1, 1905; Nikiforov, Zapisnaja knižka, IRLI, Pinežskoe sobr. Nr. 754, 1910-1912; Bobrecov, Zapiski matrosa imperatorskoj jachty »Poljarnaja zvezda«, IRLI, Ust’-Cilemskoe sobr. Nr. 186, 18931899; Lobanov, Zapiski, IRLI, Pinežskoe sobr. Nr. 39, 1905; Stupin, Zapiski pinežanina S.A. Stupina, IRLI, Pinežskoe sobr. Nr. 518, 1971; Tomilov, Zapiski pulemetþika, IRLI, Pinežeskoe sobr. Nr. 614, 1914; Lapov, Zapisej, IRLI, Severodv. sobr. Nr. 294, 19. Jh.; Podomorev, Tetrad’ dlja raznych zapisej, BAN Belomorsk. 22, 1915-1937. 89 Benecke, Militär, 176; Beyrau, Militär und Gesellschaft, 147-153. 90 Benecke, Militär, 179.
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sind. Bäuerliche Tagebücher, in denen frühere Kriege, beispielsweise der RussischTürkische Krieg 1877/78 im Zentrum stehen, konnte ich nicht ausfindig machen. Steigende Alphabetisierung und neue Ausbildungsformen in der reformierten Armee ließen auch Bauern zum Stift greifen. Nicht nur die Familien haben die Erinnerungen ihrer kämpfenden Väter und Brüder aufbewahrt; seit dem RussischJapanischen Krieg fanden die autobiographischen Texte ›einfacher‹ Soldaten auch ihren Weg in Presse und Publizistik.91 Dass der Kriegsdienst zum Biographiegenerator werden konnte, liegt aber auch an Textformen, die mit ihm verbunden waren. Kriegstagebücher und Autobiographien stellen eine Weiterführung des Soldatenbuchs dar, welches die russische Armee an ihre Soldaten ausgab. Auch der für fünf Kopeken erschwingliche Kriegstaschenkalender regte zum Schreiben an.92 Die Hefte boten Platz, um Ausgaben, Sold und besondere Vorkommnisse zu notieren. Es gab Leerseiten und vorgedruckte Tabellen. In ihnen konnte die Zusammensetzung des eigenen Regiments erfasst werden. Die tagebuchartigen Aufzeichnungen, die der Soldat P.N. Nikoforov zwischen 1910 und 1912 auf den Blättern seines Soldatenbuchs mit Bleistift notierte, zeigen, dass es eine direkte Verbindung zwischen Soldatenbuch und autobiographischem Schreiben gibt.93 Wie üblich das Schreiben eines Tage- oder Notizbuchs gewesen ist, belegt auch ein Bericht Grigorij Šumkovs, Leiter der psychiatrischen Abteilung im Harbiner Militärhospital. In Erwartung der bevorstehenden Schlacht würden die Soldaten nicht nur nervös in ihren Taschen und Geldbörsen kramen, sondern – Šumkov nennt diese Übersprungshandlung als erstes – auch ihre Notizbücher konsultieren.94 Für viele der als Soldaten eingezogenen Bauern boten Soldatenbuch und Kalender eine Struktur, die leicht mit eigenen Erfahrungen gefüllt werden konnte. Dieses Gerüst fiel mit der Heimkehr aus dem Krieg weg. Wurde damit das Schreiben schwerer? Gaben die Soldaten nach ihrer Rückkehr in die Dörfer das Schreiben wieder auf?
91 Beispielsweise: M., Na vojnu; Najdenov, Vospominanija; Martynov, Vospominanija o japonskoj vojne; Štukaturov, Zapiski unter-oficera. 92 Die Praxis des Soldatenbuchs (soldatskaja knižka) wurde auch von der Roten Armee weitergeführt. In der knižka krasnoarmejca sollten nicht nur empfangene Kleidungszuweisungen und Essensrationen verzeichnet werden, sondern es war auch eine Leerseite für persönliche Eintragungen bestimmt. Damit erweist es sich als fast direkte Übernahme der soldatskaja knižka. Zur Bedeutung der knižka krasnoarmejca für das biographische Schreiben nach der Revolution siehe: Hellbeck, Working, 343; Karmannyj voennyj kalendar’. 93 Nikiforov, Zapisnaja knižka, IRLI, Pinežskoe sobr. Nr. 754, 1910-1912. 94 Michl, Plamper, Soldatische Angst, 215.
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Auch Efim Besov leitete aus seinem Dienst in der zarischen Armee die Erlaubnis ab, über sich und sein Leben zu schreiben. Der Bauer aus der Nähe von Petrozavodsk stellte an den Beginn seines Notizhefts eines Unteroffiziers der Reserve seine Einberufung im Jahr 1896. Der Text beginnt so, wie es die Kalender für Soldaten vorschlugen. Besov führte die Namen der »jüngeren Unteroffiziere« an, denen er als »älterer« vorgesetzt war. Erst danach schilderte er sein bisheriges Leben. Darin ist die Ziehung des Loses, welches ihn zum Soldaten machte, der entscheidende Wendepunkt. Über ihn berichtet er sehr ausführlich. Hingegen war sein ziviles Leben schnell erzählt. Kindheit und Jugend sowie Familienleben spielen in seinem Notizbuch nur eine marginale Rolle, das aufgrund der rückblickenden Passagen mehr einer Autobiographie als einem Tagebuch ähnelt: »Aus meinem Leben: Ich wurde am 1. April 1874, am fröhlichsten Feiertag, dem heiligen Osterfest geboren. Seit meiner Geburt sind 22 Jahre vergangen. Meine Eltern haben mich erzogen, mir Schuhe und Kleider gegeben und ich lebte bei meinen älter werdenden Eltern in Ruhe, kannte keine Not und Kummer. Als ich 22 Jahre alt wurde, erkannten sie [die Verwaltung der Landbezirke, J.H.] in den Aufzeichnungen ihrer Bücher, dass ich für den zarischen Dienst geeignet sei.«95
Besov wurde dem 88. Infanterieregiment in St. Petersburg zugeteilt. Schon die Reise gibt einen Vorgeschmack auf das Zeitregime, dem er als Soldat unterworfen sein würde; sie war als Übergangszeit zwischen zwei Lebensabschnitten beschreibenswert: »Wir reisten den Weg fröhlich, es herrschte keine besondere Strenge, doch es gab auch nicht mehr die Freiheit (volja) wie noch zu Hause.«96 Besovs Notizbuch ist eine hervorragende Quelle, um den Ausbildungs- und Beförderungszyklus in der zarischen Armee aus der Sicht eines Rekruten nachzuzeichnen. Die Armee konfrontierte Besov mit neuen Bildungsansprüchen, die in seinem bisherigen Leben keine Rolle gespielt hatten. Besov beschrieb seine Schwierigkeiten, diesen zu genügen. Vor allem das Lesen und Schreiben falle ihm schwer. Erst als er Gott um Beistand gebeten habe, sei es mit dem Lernen leichter gegangen. Nicht nur Besov stellte den Wehrdienst als eine interessante und gute Lebensphase dar. Es gibt unter den Schreibern des Quellenkorpus dieser Studie niemanden, der die eigene Armeezeit als Phase unmenschlichen und sinnlosen Drills charakterisiert. Die Autobiographien und Tagebücher der Soldaten sprechen für die These Werner Beneckes, dass der Dienst in der russischen Armee mit der Wehrdienstreform 1874 seinen Schrecken verloren hatte.97
95 Besov, Knižka zapisnaja, Petrozavodsk: KGM – 1158/1, 1905, o.Pag. 96 Besov, Knižka zapisnaja, Petrozavodsk: KGM – 1158/1, 1905, o.Pag. 97 Benecke, Militär, 403.
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Ausführlich berichtete Besov über seine Aufgabe bei den Krönungsfeierlichkeiten Nikolaus II. am 14. Mai 1896. Er wurde abgestellt, um die Eisenbahnlinie zu bewachen, auf der der zukünftige Zar reisen sollte. Nikolaus II. kam wohlbehalten in Moskau an. Dank göttlicher Fürsorge sei, so Besov, nichts vorgefallen. Sein unmittelbarer Dienst am Zaren ist das einzige Ereignis, das in seinem Notizbuch den Dienstalltag unterbricht. Es war von enormer Wichtigkeit, da es den Dienst in der Armee in eine personalisierte Beziehung zwischen Soldat und Zar verwandelte. Auch schilderte Besov diese Episode in der ersten Person und trat damit als individuelle Person auf, anstatt allein als Teil eines Kollektivs. Indem er seinen Beitrag an den Krönungsfeierlichkeiten herausstellte, schrieb er sich in die Geschichte Russlands ein.98 In der für Soldaten herausgegebenen Literatur spielte das Bild vom gerechten und guten Zaren eine bedeutende Rolle.99 Die schreibenden Soldaten übernahmen das positive Zarenbild in ihren autobiographischen Text und nutzten ihre Beziehung zum Zaren, in der sie durch den Wehrdienst standen, um über sich zu sprechen. Auch Ananij Bobrecov, der von 1893 bis 1899 als Matrose auf der kaiserlichen Jacht Poljarnaja zvezda diente, stellte die Begegnungen mit der Zarenfamilie in den Mittelpunkt seiner Notizen. Er zählte nicht nur alle Mitglieder der zarischen Familie mit vollem Titel auf, sondern vermerkte auch, wenn ein Mitglied starb.100 Die große Bedeutung des Zaren in den soldatischen Tagebüchern zeigt, dass die Figur des Herrschers für die Soldaten ein entscheidender Integrationsfaktor in die Armee war. Schließlich kam für Efim Besov der Tag der Entlassung, was er in seinem Tagebuch in besonders großer Schrift vermerkte: »[…] Dank Gott, dem Herrn, ging alles gut und ruhig, es kam der Tag, an dem ich mein Buch (svod) und alle staatlichen Sachen abgeben musste, und es kam der Tag, um in mein Heimatland zu fahren.«101 An der ausführlichen Beschreibung seiner Rückkehr zeigt sich, welche große Bedeutung er der Fahrt zu seiner Familie beimaß. Die Reise war mehr als ein Ortswechsel. Sie steht auch für die Zeit zwischen zwei Lebensabschnitten, in der sich die Motivation für das eigene Schreiben veränderte. Besov beschrieb in allen Einzelheiten – bis hin zur Speisenfolge – die Freude, mit der er von seiner Familie empfangen wurde. Die Familie feierte seine Heimkehr mehrere Tage; bald darauf begann jedoch wieder der Alltag und mit ihm die Konflikte. Besov scheint nach dem Armeedienst einige Schwierigkeiten gehabt zu haben, sich erneut den familiären Konventionen zu unterwerfen. Er verließ schließlich sein Heimatdorf, um sich
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Besov, Knižka zapisnaja, Petrozavodsk: KGM – 1158/1, 1905, o.Pag.
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Benecke, Militär, 183-184.
100 Bobrecov, Zapiski matrosa imperatorskoj jachty »Poljarnaja zvezda«, IRLI, Ust’Cilemskoe sobr. Nr. 186, 1893-1899, l. 5. 101 Besov, Knižka zapisnaja, Petrozavodsk: KGM – 1158/1, 1905, o.Pag.
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bei dem Händler Loginov zu verdingen. Den Eltern missfiel, dass Besov seinen Lohn für sich behielt. Noch mehr Unzufriedenheit rief seine Brautwahl hervor: »Ich begann zu geselligen Abenden zu gehen (chodit’ po besedam) und fand für mich [als Braut, J.H.] die Witwe Anna Vasil’evna Chlystova, für mich war das Zusammenleben mit ihr gut, aber wie es für die Eltern war, weiß ich nicht […].«102 Seine Eltern hielten die junge Witwe wohl für keine gute Partie. Sie riefen ihren Sohn nach Hause, um ihn mit einem passenderen Mädchen zu verheiraten. Besov versuchte auf seiner Entscheidung zu beharren, doch nach zwei Tagen Diskussion fügte er sich. Innerhalb weniger Tage war er mit Avdot’ja Avdeevna verheiratet, mit einer Tochter »guter und kluger Eltern«. In seinem Tagebuch beschwerte sich Besov nicht über die ihm aufgedrängte Braut, sondern sprach bald von einem harmonischen Familienleben. Dank seiner eigenen Arbeit und des Zusammenhalts innerhalb seiner Familie sei er schnell zu Wohlstand gekommen: »Ich habe stärker als früher gearbeitet […], meine Frau hat mir bei allen Arbeiten und Tätigkeiten geholfen […], auch alle meine Brüder haben mir geholfen, die Braut, die Schwester, auch der Vater hat gearbeitet und uns geholfen. Und so ging es bergauf. Das Ackerland wurde größer und die Wiesen breiter.«103 Die Heiratsepisode besitzt in seinem Tagebuch fast den gleichen Umfang wie die Zeit des Wehrdiensts. Die vier Jahre des Familienlebens nach seiner Heirat beschreibt Besov hingegen nur kurz, in vier knappen Seiten. Sie nehmen weniger Platz ein als die Heimfahrt und die Begrüßungsrituale nach dem Wehrdienst. Als Bauer und Ehemann hatte er nur wenig zu berichten. Das Notizbuch, welches er als Rekrut begonnen hatte, war für ihn vor allem der autobiographische Text eines Soldaten. Dies zeigt sich besonders deutlich nach dem Ausbruch des RussischJapanischen Kriegs.104 Am 7. August 1904 wurde Besov als Unteroffizier der Reserve einberufen, damit gab es wieder Ereignisse, die das Notizbuch füllen konnten. Ausführlich schilderte er die Rituale, mit denen die Soldaten von ihren Familien, ihren Nachbarn und wildfremden Menschen in den Krieg verabschiedet wurden. Besovs Notizbuch bestätigt die Studie Elsa Mahlers aus den 1930er Jahren. Die Verabschiedung der Rekruten und Soldaten ähnelt in Besovs Beschreibung Beerdigungsriten: Seine Nachbarn kamen zusammen, um den in den Krieg ziehenden Sol-
102 Besov, Knižka zapisnaja, Petrozavodsk: KGM – 1158/1, 1905, o.Pag. 103 Besov, Knižka zapisnaja, Petrozavodsk: KGM – 1158/1, 1905, o.Pag. 104 Die autobiographischen Texte, die im und nach dem Russisch-Japanischen Krieg entstanden, haben bisher kaum Aufmerksamkeit erfahren. Eine Ausnahme bildet das neue Forschungsprojekt von Andreas Renner, der die nach dem Russisch-Japanischen Krieg entstandenen autobiographischen Texte in den Mittelpunkt stellt. Dabei hat Renner vor allem die Erinnerungstexte von Offizieren im Blick. Renner, Captured and Captivated.
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daten zu beweinen.105 Der Geistliche hielt einen Gottesdienst, seine Familie beklagte den Verlust: »Schließlich kam die Stunde des Abschieds, die nicht schlimmer auf der Welt sein kann.«106 Besov schrieb nicht, ob Geschenke, Musik und Lob, mit denen die Soldaten auf ihren Weg an die Front verabschiedet wurden, Trost schenkten. Die schizophrene Aufbruchstimmung, in der sich Wehklagen und Euphorie vermischten, scheint ihn aber beeindruckt zu haben. Er räumte der Verabschiedung durch das »Publikum«, wie er die Menschenmassen auf den Bahnsteigen nannte, viel Platz ein. Die Anerkennung, die ihm und den anderen Soldaten entgegengebracht wurde, war für Besov so wichtig, dass er sie sehr ausführlich beschrieb. Das Tagebuch erscheint als Zeugnis patriotischer Begeisterung, während es von Skepsis, Mobilisierungsunruhen und Kriegsunlust nicht berichtet. Es widerspricht den Thesen Heinz-Dietrich Löwes, der schon für die Zeit des Kriegsausbruchs eine umso größere Unzufriedenheit mit dem Krieg ausgemacht hat, je weiter entfernt die Menschen von den Hofkreisen waren.107 Schon auf der Reise an die Front, die ihn und die anderen Soldaten über Vologda, Jaroslavl’ und Moskau zum Bajkalsee und schließlich nach Harbin und Mukden führte, trafen sie auf japanische Kriegsgefangene. Ob der Anblick des unterlegenen Gegners Gefühle des Triumphs oder Furcht vor eigener Gefangennahme auslöste, beschrieb Besov nicht. Er nutzte die Episode auch nicht, um die Japaner sprachlich herabzuwürdigen. Ausführlicher schilderte er hingegen die Freude und das Gefühl der Zusammengehörigkeit, als er und seine Kameraden jene Soldaten erblickten, die die gefangenen Japaner begleiteten. Mit »Hurra« wurde sich begrüßt, die Soldaten warfen ihre Mützen in die Luft. Besov fühlte sich als Teil einer harmonischen und homogenen Gemeinschaft: »An der Station stiegen wir aus und begrüßten uns, obwohl wir uns nicht kannten und auch nicht wussten, wer von wo kommt, halten wir uns doch für leibliche Brüder eines Vaters und einer Mutter, des Vaters und Imperators Nikolaj Aleksandroviþ, der Mutter Aleksandra Fedorovna, fahren wir, um die orthodoxe Rus’ zu verteidigen und den frechen Feind, den gelbhäutigen Japaner, zu bezwingen.«108
Zusammengehörigkeit entstand durch imaginierte Verwandtschaft. Es ist der anerkannte Dienst für das Vaterland und die prestigeträchtige Beziehung zum Zaren, die es Besov erlaubten, wieder ausführlicher über sich und sein Leben zu sprechen. So nehmen die Reise zur Front und die herzliche und ermutigende Begrüßung durch
105 Mahler, Die russische Totenklage, 177-207; Beyrau, Militär und Gesellschaft, 145-147. 106 Besov, Knižka zapisnaja, Petrozavodsk: KGM – 1158/1, 1905, o.Pag. 107 Löwe, Der Russisch-Japanische Krieg, 149, 153-155. 108 Besov, Knižka zapisnaja, Petrozavodsk: KGM – 1158/1, 1905, o.Pag.
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den berühmten General Kuropatkin in Mukden viel Platz in seinem Tagebuch ein. Nur kurz schildert er hingegen den entbehrungsreichen Alltag an der Front und die Gefechte. Etwas ausführlicher beklagte er, dass den Soldaten wegen der Kämpfe am Tag kein Essen gereicht wurde: »So ist der Posten und das Leben eines Soldaten im Russisch-Japanischen Krieg.« Ein Strich über die gesamte Seite markiert das Ende der Notizen.109 In dem sonst dicht beschriebenen Heft bleibt fast eine ganze Seite frei. Erst auf der nächsten Seite finden sich wieder Einträge, allerdings nicht mehr in Besovs Schrift. Es bleibt unklar, warum Besov sein Notizbuch an den Feldwebel Andrej Ratmanov weitergab. Gründe für die Aufgabe des Schreibens werden im Tagebuch nicht genannt. Vielleicht wurde er verwundet oder Krankheit und Kriegsgefangenschaft hinderten ihn am Weiterschreiben. Gefallen ist er jedenfalls nicht. Er hat den Russisch-Japanischen Krieg überlebt, wie sich mit Fotografien beweisen lässt, die ebenfalls im Ethnologischen Museum in Petrozavodsk verwahrt werden. Eine Fotografie zeigt Efim Besov in Uniform; er hat auch im Ersten Weltkrieg als Soldat gekämpft.110 Möglicherweise liegt die Aufgabe des Schreibens in der Anlage seines autobiographischen Texts begründet. Besov stellte in seinem Heft den Soldatendienst als Gegengabe dar. Er beschrieb die Anerkennung und Erfolge, die er als Soldat erfahren hatte und idealisierte dabei die Zugehörigkeit zum Zaren und zum Vaterland als imperiale Gemeinschaft, in der regionale und soziale Herkunft keine Rolle mehr spielten. Vielleicht sind diese Vorstellungen durch den Kriegsalltag, der Kälte, Hunger und Tod brachte, im wörtlichen und übertragenen Sinne unter Beschuss geraten. Von der Anerkennung, die Besov auf dem Weg zur Front erfahren hatte, blieb nicht viel übrig. Der sicher geglaubte Sieg war nicht zu erringen. Die Demütigung durch die Japaner, in der Besov den Verlust der Gnade Gottes zu erkennen glaubte, war für ihn möglicherweise nicht beschreibenswert. Deutet man den Abbruch des Schreibens als Ausdruck der Desillusionierung, dann korrespondiert er mit Ereignissen an der ›Heimatfront‹: Die Loyalität der unteren Schichten zum Zaren wurde durch den Russisch-Japanischen Krieg sowie durch den sogenannten Blutsonntag 1905 in Mitleidenschaft gezogen. Ein Zar, der auf ›sein‹ Volk schießen ließ und der ›seine‹ Soldaten an der Front nicht ausreichend versorgte, konnte nicht der gütige Vater sein, als den auch Besov ihn dargestellt hatte. Der Feldwebel Andrej Ratmanov führte das Tagebuch dort weiter, wo Efim Besov am 2. Dezember 1904 – auch inhaltlich – mit dem Schreiben aufgehört hatte. In Gedichten, die er teilweise datiert und Besov zugeeignet hat, beschrieb er Mobili-
109 Es ist zu vermuten, dass Besov diesen Strich selbst gezogen hat, da die Schriftfarbe mit seinen vorherigen Eintragungen übereinstimmt. Erst mit den Eintragungen Andrej Ratmanovs wechselt die Farbe. 110 Ryleeva, Zapisnaja knižka E. Besova, 1.
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sierung und Kriegsalltag. Aus den Gedichten spricht eine deutliche Ernüchterung, die fröhliche Stimmung des Aufbruchs hatte sich darin nicht bewahrt. Ratmanov konnte in seinem Gedicht Brief an den Bruder aus der Mandschurei, in dem er die Diensteifrigkeit der Soldaten betonte, seine Enttäuschung über die »zarische Regierung« nicht mehr verschweigen: »Wir haben versprochen, gut zu dienen. Das eigene Leben nicht zu schonen. Wir wollen unbedingt den Japaner besiegen. Doch die zarische Regierung kümmert sich nicht um ihre Soldaten.«111
Ratmanovs Aufzeichnungen zeigen, dass der Glaube an die Autokratie großen Belastungen ausgesetzt war. Der »Vater«, wie Besov den Zaren bezeichnet hatte, kümmerte sich nicht angemessen um ›seine Kinder‹. In seinen Gedichten beklagte der Feldwebel Ratmanov die unzureichende Ausstattung, die katastrophale Versorgung und die schlechten hygienischen Bedingungen. Die Soldaten hätten keine Stiefel und litten an der Kälte. Es gebe keine Möglichkeit, die Kleidung zu waschen. Statt Brot werde den Soldaten Mehl ausgeteilt, Zeit und einen Ofen zum Backen hätten sie jedoch nicht. Ratmanov verwahrte sich mit den gleichen Argumenten wie später der General Kuropatkin gegen Vorwürfe, die Armee sei für die militärische Niederlage verantwortlich.112 Nicht die Soldaten, sondern die ›Heimatfront‹ habe versagt, denn sie habe es nicht geschafft, ihre Soldaten angemessen auszurüsten. Die innenpolitische Krise, welche die Autokratie in den ersten Monaten des Jahrs 1905 erschütterte, wurde durch die Ereignisse in Japan und der Mandschurei noch verschärft, wie Besovs Verstummen und Ratmanovs klagende Gedichte zeigen.113 Im Februar 1905 begann, wie Ratmanov die Kampfhandlungen charakterisierte, das »Gemetzel«. Die Japaner bereiteten den Russen empfindliche Niederlagen, die russische Flotte versank im Meer, viele ertranken oder gerieten in Gefangenschaft. Ratmanov schrieb, wie Besov, kaum über den Feind, wodurch die Japaner seltsam gesichtslos bleiben. Es werden nicht einmal jene Stereotypen über die Japaner anzitiert, die in der russischen Presse und in den Volksbilderbögen, den lubki, üblich waren.114 Die empfindlichen Niederlagen, die die Japaner den Russen zufügen
111 Besov, Knižka zapisnaja, Petrozavodsk: KGM – 1158/1, 1905, o.Pag. 112 Kusber, Siegeserwartungen, 113. 113 Der Zusammenhang von innenpolitischer Krise, wie sie sich im Blutsonntag 1905 entlud, und den Ereignissen in Japan wird von zahlreichen Historikern betont: Grüner, Der Russisch-Japanische Krieg, 197; Kusber, Siegeserwartungen, 113. 114 Norris, A War of Images, 107-134.
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konnten, hatten dem Feindbild und den Stereotypen der Propaganda die Glaubwürdigkeit entzogen. Die Russen hatten die Japaner schlicht unterschätzt. Die Charaktereigenschaften, die die russische Presse und Publizistik den Japanern zu Beginn des Kriegs zugeordnet hatten, konnten die Soldaten bei ihren Gegnern nicht finden. Die Japaner waren weder ›gelbe Affen‹ noch kleine, feminine und manierierte Wesen, als die sie die russische Presse und Publizistik gezeichnet hatten. Angesichts der militärischen Stärke Japans vermochten es Besov und Ratmanov nicht, die Japaner als moralisch und zivilisatorisch zurückgebliebene Gegner zu beschreiben. Die Erwartungen, mit denen die Soldaten in den Krieg gezogen waren, und die Erfahrungen, die sie bei der Begegnung mit dem Feind machten, lagen zu weit auseinander.115 Mit dem Ende des Kriegs brechen auch Ratmanovs autobiographische Gedichte ab. Es bleibt unklar, wann und wie Besov und Ratmanov nach Hause zurückgekehrt sind. Ein Taufpate Efim Besovs hat das Notizbuch 1965 dem Museum übergeben. Besov sei Ende der 1920er Jahre gestorben, wie A.D. Ryleeva, Mitarbeiterin des Karelischen Heimatkundemuseums in Petrozavodsk, berichtet.116 Auch Afanasij Lobanov schrieb sein Tagebuch als ›Augenzeuge‹ des RussischJapanischen Kriegs. Er hatte auf dem Panzerkreuzer Imperator Nikolaj gedient, den die Japaner in der Schlacht in Tsushima am 14. und 15. Mai versenkten. Zusammen mit anderen Überlebenden kam Lobanov nach Fukuoka in japanische Gefangenschaft, wo er wahrscheinlich im Juli 1905 seine Notizen begann. Für ihn waren die Gefangenschaft und damit auch die Erfahrung der Fremde das auslösende Moment für sein eigenes Schreiben. Zu Beginn seines autobiographischen Texts brachte er die Abschrift eines Briefs an seine Eltern: »Ich teile euch mit, dass ich lebe, dass ich – Gott sei dank – lebe und gesund bin und mich in Gefangenschaft in Japan, in der Stadt Fukuoka befinde.«117 Seine Notizen schildern die Vorgeschichte der Gefangennahme. Er beschrieb die angespannte Stimmung vor der Schlacht sowie die Kämpfe, die in großen Verlusten und im Untergang der russischen Flotte endeten. Die Matrosen hätten »ausgezeichnet« gearbeitet, obwohl sie die Niederlage, die Lobanov in die Nähe einer Gottesstrafe rückte, nicht abwenden konnten: »[…] überall Stöhnen und Weinen, lieber Gott, vergib uns unsere Sünden, beteten die Matrosen […].«118Anders als in dem Brief an seine Eltern äußerte Lobanov in sei-
115 Mit dem Fortgang des Kriegs wandelte sich das Bild des Japaners in der russischen Presse und Publizistik. Er wurde nun als ernstzunehmender Gegner beschrieben. Ausführlich zu den Stereotypen, mit denen die Japaner in der russischen Presse belegt wurden: Grüner, Der Russisch-Japanische Krieg; Mikhailova, Japan’s Place, 76-78; Kowner, Japan’s Fifteen Minutes, 50. Norris, A War of Images, 131-134. 116 Ryleeva, Zapisnaja knižka E. Besova, 1. 117 Lobanov, Zapiski, IRLI, Pinežskoe sobr. Nr. 39, 1905, l. 3. 118 Lobanov, Zapiski, IRLI, Pinežskoe sobr. Nr. 39, 1905, l. 7ob.
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nem Schreibheft keine Freude darüber, überlebt zu haben. Stattdessen präsentierte er sich als gedemütigter Verlierer, der die Schmach der Niederlage und Gefangennahme kaum ertragen könne. Besser wäre es gewesen, so Lobanov, auch ertrunken zu sein.119 Lobanov versuchte in dem Tagebuch den Eindruck zu vermeiden, sich geschont zu haben. Die gute Behandlung der russischen Kriegsgefangenen, die den Vorhersagen und Befürchtungen in der russischen Presse und Publizistik diametral entgegenstand, scheint Lobanov verwundert zu haben. Wahrscheinlich beschrieb er sie deshalb so ausführlich. Sie bekamen Decken, Essen, ein Handtuch und Seife. Sie durften sich waschen, auch ein japanischer Arzt untersuchte sie.120 Immer wieder notierte Lobanov für die ersten Tage der Gefangenschaft, dass er gut geschlafen habe. Kritik an den Japanern äußerte er nicht, allein dass sie nur Reis bekamen, war nicht nach seinem Geschmack.121 Japan gefiel Lobanov. Selbst die fremde Landschaft fand bei ihm Anerkennung und Beachtung. Auf dem Weg nach Fukuoka habe er »sehr schöne Berge und Täler« gesehen.122 In Fukuoka angekommen, wurden sie von einem japanischen General freundlich begrüßt. Sie stünden nun unter dem Schutz des japanischen Kaisers, es gebe keine Feindschaft mehr: »[…] ihr wart unsere Feinde, nun sind wir eure Fürsorger. Unser Herrscher, der Kaiser, hat uns befohlen, sich um euch zu kümmern, sodass es euch an nichts fehle.«123 Der General habe die Gefangenen als Brüder angesprochen und ihnen sogar die Hand gereicht. Die Fürsorge erstaunte Lobanov. Er beschrieb auch die kleinen Gesten der Achtsamkeit, die die Japaner den russischen Kriegsgefangenen entgegenbrachten: Die russischen Soldaten hätten sogar Wein bekommen, jene, die enthaltsam lebten, eine Apfelsine.124 Die gute Behandlung der Kriegsgefangenen war eine Strategie Japans, sich nach innen und außen als zivilisierte Macht zu präsentieren und einen Platz in
119 Lobanov, Zapiski, IRLI, Pinežskoe sobr. Nr. 39, 1905, l. 10ob. 120 Wie Andreas Renner in einer Studie über autobiographische Texte russischer Kriegsgefangener herausgearbeitet hat, berichteten viele Kriegsgefangene über die gute Behandlung und medizinische Versorgung. Renner, Captured and Captivated. 121 Lobanov, Zapiski, IRLI, Pinežskoe sobr. Nr. 39, 1905, l. 11. 122 Lobanov, Zapiski, IRLI, Pinežskoe sobr. Nr. 39, 1905, l. 13. 123 Lobanov, Zapiski, IRLI, Pinežskoe sobr. Nr. 39, 1905, l. 13ob. 124 Die Japaner haben die russischen Kriegsgefangenen vor allem an Tagen japanischer Siege beschenkt oder mit besonderem Essen versorgt. Bilder von den Speisungen und Schenkungen wurden für die japanische Propaganda genutzt. Die russischen Kriegsgefangenen haben dies häufig als Demütigung empfunden. Renner, Captured and Captivated.
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der Mächteordnung zu beanspruchen. Die japanische Kriegspropaganda hat häufig Bilder verwendet, die den humanen Umgang mit den Kriegsgefangenen zeigten.125 In seinen Notizen schilderte Lobanov einen doppelten Blick. Er beschrieb nicht nur seine Sicht auf Japan, sondern stellte auch dar, wie die Japaner auf die russischen Kriegsgefangenen blickten. Als die Kriegsgefangenen nach Fukuoka geführt wurden, säumten Menschenmassen ihren Weg. Sie betrachteten die Gefangenenschar »wie ein unbekanntes Tier«.126 Lobanov vermerkte in seinem Heft, dass die Japaner die russischen Kriegsgefangenen mehrfach, ordentlich in Hemd und dunkler Hose gekleidet, zur Schau gestellt hätten.127 Einmal wurden Frauen an ihnen vorbeigeführt. Nachdem eine von ihnen etwas auf Japanisch verlesen hatte, begannen sie vor den russischen Kriegsgefangenen zu weinen: »Und wir schauten ihnen nach als wären wir Verbrecher.«128 Lobanov, so scheint es, fühlte sich beschämt. Er gibt jedoch in seinem Tagebuch keine Hinweise, ob die gute Behandlung und die Beschämungsrituale seine Sicht auf die Kriegsschuld veränderten. Nachdem die erste Zeit der Gefangenschaft erzählt war, wandelte sich der Schreibstil auffällig. Immer seltener notierte er zusammenhängende Erzählungen, stattdessen begann er das Geschehene – Aufbruch in den Krieg, Schlacht, Kapitulation und Gefangenschaft – in Gedichten zu erzählen. Dabei sprang er in der Chronologie der Ereignisse. Seine Hoffnung, bald wieder nach Russland zurückzukehren, beschrieb er zuerst.129 Dabei sprach Lobanov seine Leser als »Brüder« an. Er bezeichnete sie fast auf die gleiche Weise wie die gefallenen »Brüder-Matrosen«, die die Schlachten im Meer nicht überlebt hatten. An der Leseranrede zeigt sich seine Hoffnung, mit seiner Geschichte auf Gehör zu treffen, die Kriegserlebnisse nicht nur für sich zu erzählen. Zugleich verband Lobanov auf diese Art Tote und Lebende narrativ zu einer Gemeinschaft und bot sich als Zeuge für die Toten, für ihr Leben und ihre Geschichte an: Wer wissen wolle, wie es ist, sieben Stunden im Meer zu kämpfen, solle sein Gedicht lesen.130 In Lobanovs Gedichten ist die Stimmung dunkler als zu Beginn seines Notizbuchs, wo die erste Zeit der Gefangenschaft geschildert ist. In den Versen verlieh er auch negativen Gefühlen, der erlebten Todesangst und der Trauer um seine gefalle-
125 Norris, A War of Images, 122-124. 126 Lobanov, Zapiski, IRLI, Pinežskoe sobr. Nr. 39, 1905, l. 13ob. 127 Russische Kriegsgefangene berichten häufig in ihren Erinnerungen über organisierte Besuche von japanischen Zivilisten. Die Zurschaustellung von Kriegsgefangenen hat es 1870 auch in Preußen gegeben, wo französische Kriegsgefangene den Berlinern vorgeführt wurden. Renner, Captured and Captivated. 128 Lobanov, Zapiski, IRLI, Pinežskoe sobr. Nr. 39, 1905, l. 15. 129 Lobanov, Zapiski, IRLI, Pinežskoe sobr. Nr. 39, 1905, l. 20-20ob. 130 Lobanov, Zapiski, IRLI, Pinežskoe sobr. Nr. 39, 1905, l. 28.
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nen Kameraden Ausdruck.131 Dabei sei Gefangenschaft – so Lobanov – keinesfalls besser als der Tod: »So fielen wir in Gefangenschaft und werden jeden Tag gequält.«132 Mit dem Leid rechtfertigte er sein eigenes Überleben. Die gute Behandlung durch die Japaner erwähnte er an dieser Stelle nicht mehr. Er vermied in den Gedichten den Eindruck, dass es Dinge gebe, die ihm in Japan gefielen. Seien ihm anfänglich die Berge um Fukuoka als schön erschienen, schrieb er nun, wie sehr er die japanische Stadt hasse.133 In den Gedichten antwortete Lobanov auf Sagbarkeiten aus der russischen Presse und Publizistik, die Kampfesmut und patriotische Begeisterung stärken sollten. Er versuchte, sich narrativ von den Japanern abzugrenzen. Auch er gehöre nach Russland, auch er habe tapfer für sein Vaterland gekämpft, dieser Kampf setze sich auch in der Gefangenschaft fort: »Wir verbringen die Tage wie Jahre Die Festung umgibt uns Was machen wir mit dem Feind Mit dem Japaner-Dummkopf. Alle Japaner sind auf uns böse Sie hassen uns.«134
Lobanov löste diese auffällige Differenz zwischen positiven und negativen Schilderungen nicht auf. Die Unstimmigkeit scheint mir durch drei Umstände begründet zu sein. Erstens tauschten die Gefangenen sich über ihre Gedichte aus, die Gedichte waren somit für ein größeres Publikum gedacht. In Lobanovs Tagebuch befinden sich auch Verse seines Kameraden Ja. Židkov, die sich in Duktus und Stimmung kaum von seinen eigenen Gedichten unterscheiden. Wollte man nicht als feige und käuflich gelten, war es schwierig, die japanische Fürsorge zu loben. Zweitens lässt sich aus den Gedichten der Eindruck gewinnen, dass die gute Behandlung durch die Japaner im Lauf der Gefangenschaft immer mehr als Demütigung erfahren wurde, in der sich die japanische Überlegenheit offenbarte.135 Möglicherweise sah Lobanov drittens die Gefahr, sich den Japanern zu sehr anzugleichen, und benötigte deshalb sein Tagebuch, um der Differenz zwischen Japanern und Russen Ausdruck zu verleihen. Eventuell hörte er auch aus diesem letzten Grund auf, seinen Alltag in der Kriegsgefangenschaft zu schildern. Er wandte sich nun seiner eigenen Biographie zu.
131 Lobanov, Zapiski, IRLI, Pinežskoe sobr. Nr. 39, 1905, l. 21. 132 Lobanov, Zapiski, IRLI, Pinežskoe sobr. Nr. 39, 1905, l. 30. 133 Lobanov, Zapiski, IRLI, Pinežskoe sobr. Nr. 39, 1905, l. 21. 134 Lobanov, Zapiski, IRLI, Pinežskoe sobr. Nr. 39, 1905, l. 32-32ob. 135 Renner, Captured and Captivated.
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Lobanov nutzte die Gefangenschaft, um sein (Soldaten-)Leben zu beschreiben. Dabei setzte er mit seiner Einberufung ein. Er schilderte die ersten Tage des Soldatendiensts 1898 in Kronštadt, wo sie tagelang »Gymnastik« absolvieren mussten, bis sie eine Waffe in die Hand bekommen hätten.136 Zuerst habe er auf dem Schiff Fürst Požarskij gedient, anschließend auf der Mars. So habe er bis 1890 in Kronštadt gelebt, dann sei er nach Libau gekommen, von wo er 1902 seine erste große Schiffsreise ins Ausland antrat. Diese Reise führte ihn zu den bekannten Plätzen der Kolonialgeschichte Europas, wie eine Aufzählung der besuchten Städte und ihrer Kolonialmächte zeigt: Frankreich, Italien, Spanien, Algier, Malta, Athen und auch Jerusalem habe er auf dieser Fahrt gesehen. Sein Tagebuch wandelte sich zur Merkhilfe. Er zählte die Schiffe auf, die zum Ersten und Zweiten Pazifischen Geschwader gehörten, und führte Hygienevorschriften an, die »alle Kriegsgefangenen« einzuhalten hätten: Nackt zu schlafen und die Kleidung so oft wie möglich zu waschen, gehörten ebenso dazu, wie darauf zu achten, sich nicht zu erkälten.137 Auf den letzten Seiten äußerte er seine Hoffnung auf einen »wirklichen Frieden«, der es allen Völkern erlauben möge, in »freundschaftlicher Beziehung« miteinander zu leben.138 Lobanovs Tagebuch bricht nicht ab, sondern ist bis zur letzten Seite beschrieben und endet mit seiner Unterschrift. Möglicherweise war das Heft einfach voll, schrieb er auch danach noch Tagebuch. Ein weiteres Schreibheft befindet sich jedoch nicht in den Beständen des Drevlechranilišþe. Auch wann Lobanov in seine Heimat zurückkehrte, ist nicht bekannt. Aber dass er zurückkehrte und eine eigene Familie gründete, zeigen Kritzeleien und weitere Einträge. Seine Kinder haben den freien Platz im Heft mit Schreibübungen und Kinderzeichnungen gefüllt.139 Zudem findet sich in dem Notizbuch auch eine undatierte Kurzautobiographie seines Sohns, wahrscheinlich aus den späten 1920er Jahren. Darin beschreibt P.A. Lobanov seinen kurzen Lebensweg als Bildungsweg. Er sei 1912 geboren worden, »acht Jahre habe er in Dunkelheit ohne jegliche Erzählungen« gelebt, dann habe er acht Jahre die Schule besuchen können.140 Die Einträge zeigen, dass das Tagebuch nicht geheim war. Lobanovs Kinder lasen und benutzten es. Es regte sie an, selbst autobiographisch zu schreiben. Der Kriegsdienst, vor allem die Mobilisierung, blieb auch im Ersten Weltkrieg ein Auslöser für das eigene Schreiben. Semen Tomilov begann sein Tagebuch als Soldat eines Schützenregiments. Bevor er seine Kriegserlebnisse in Kurland, Ost-
136 Lobanov, Zapiski, IRLI, Pinežskoe sobr. Nr. 39, 1905, l. 39. 137 Lobanov, Zapiski, IRLI, Pinežskoe sobr. Nr. 39, 1905, l. 42ob-45ob. 138 Lobanov, Zapiski, IRLI, Pinežskoe sobr. Nr. 39, 1905, l. 47ob. 139 Lobanov, Zapiski, IRLI, Pinežskoe sobr. Nr. 39, 1905, l. 23ob. 140 Lobanov, Zapiski, IRLI, Pinežskoe sobr. Nr. 39, 1905, l. 28ob.
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preußen und Polen beschrieb, vermerkte er die zwiespältige Stimmung bei der Mobilisierung im Juli 1914: »Bei der Ankündigung schrien wir ›Hurra‹ und sangen die Hymnen. An der Seite standen einige Frauen und weinten, bei uns allen aber kam so etwas wie Freude auf.«141 Schon im November 1914 bricht das Tagebuch unvermittelt ab. Sein Leben abseits des Kriegsdiensts beschrieb auch Tomilov nicht. Auch er hielt sein ziviles Leben nicht für beschreibenswert. In dieser Beziehung ist das Tagebuch Vasilij Šþipunovs eine Ausnahme: Er setzte sein Schreiben nach seiner Rückkehr auf das Dorf fort.142 Šþipunov begann sein Tagebuch in dem Moment, als er 1915 eingezogen und in den Krieg geschickt wurde. Er schildert das Leben an der Front, Langeweile und die wenigen Momente der Abwechslung. Allein die großen Feiertage brachten etwas Zerstreuung: »April, 22 Ostern. Haben wir gut verbracht, es gab gute Geschenke.«143 Er beschrieb in seinem Tagebuch, wie sie zum ersten Mal die Schützengräben bezogen. Dabei veränderten die Kämpfe auch sein Schreiben. Šþipunov war nicht mehr in der Lage, die genauen Daten anzugeben, sondern konnte nur noch grob Auskunft über die Chronologie der Ereignisse geben. Nur zu den Feiertagen vermochte er es, den Kampfhandlungen Daten zuzuweisen. Dabei gebrauchte er schon vor 1917 den gregorianischen Kalender und nutzte damit die Zeit, die an seinem Einsatzort herrschte. Lakonisch schildert er, wie die Deutschen selbst an den Festtagen die Kampfhandlungen nicht einstellten: »7 [Januar] Geburt Christi. Es gab einige Geschenke. Seit dem Morgen war es ruhig, gegen Abend hat der Deutsche geschossen. Mit chemischen Geschossen.«144 Während seines Urlaubs kehrte er zu seiner Familie zurück. Nur kurz beschreibt er die glückliche Zeit der Erholung: »29.V.-20.VI.[1917] zu Hause gelebt, habe fast nichts gearbeitet, habe mich vergnügt. Der Tag der Abfahrt hat sich genähert.«145 Im September 1917 ging er an die Front zurück, doch schon im Dezember war er wieder bei den Seinen. Šþipunov gehört zu den wenigen Schreibern, die die beiden Revolutionen des Jahrs 1917 in ihrem Tagebuch vermerkten. Am 10. März sei die »Freiheit verkündet« worden, am 7. November eine »Umwälzung« geschehen.146 Danach geriet die Auseinandersetzung zwischen Weißen und Roten in den Mittelpunkt seines Tagebuchs, befand sich doch sein Dorf im Oktober 1918 zwischen den Fronten. Auch das elterliche Haus wurde beschossen. Er floh mit seiner Familie in
141 Tomilov, Zapiski pulemetþika, IRLI, Pinežeskoe sobr. Nr. 614, 1914, l. 3ob-4. 142 Auch Ivan Podomarev setzte sein Tagebuch nach der Heimkehr ins Dorf fort: Podomorev, Tetrad’ dlja raznych zapisej, BAN Belomorsk. 22, 1915-1937. 143 Šþipunov, Dnevnik za 1915-1923 gg., IRLI, Severodv. sobr. Nr. 902, l. 3. 144 Šþipunov, Dnevnik za 1915-1923 gg., IRLI, Severodv. sobr. Nr. 902, l. 4. 145 Šþipunov, Dnevnik za 1915-1923 gg., IRLI, Severodv. sobr. Nr. 902, l. 5. 146 Šþipunov, Dnevnik za 1915-1923 gg., IRLI, Severodv. sobr. Nr. 902, l. 4ob. Vgl. Podomorev, Tetrad’ dlja raznych zapisej, BAN Belomorsk. 22, 1915-1937, l. 14ob.
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den Wald, nur sein Vater blieb zurück. Schließlich wurde er im November 1918 in die Rote Armee einberufen. Nach seiner Demobilisierung und der Rückkehr in sein Dorf werden die Einträge kürzer, immer häufiger fasste er mehrere Monate in wenigen Zeilen zusammen. Erst nachdem er 1923 geheiratet hatte, nehmen die Aufzeichnungen wieder zu. Er schrieb nun als Ehemann und Familienoberhaupt. Im Januar 1923 heiratete er Fekla, kurz darauf erkrankten sie beide schwer. Die Krankheit überschattete den Alltag so sehr, dass er die gesunden Tage zu vermerken begann: »Der [Feiertag] wurde bei mir mit geistiger Freude durchgeführt, wir waren beide gesund und haben ihn gut verbracht.«147 Im November 1923 bekam das Paar ihr erstes Kind: »November. 4 Tochter geboren, haben sie Aleksandra genannt, Geburt war schwer und Fekla wegen ihrer Schwäche im Bett. 24 [November] Aleksandra ist gestorben Beerdigung.«148 Vasilij Šþipunov berichtete nicht mehr, ob sich seine Frau von der Geburt erholen konnte. Kurz nach diesen Einträgen bricht das Tagebuch ab. Möglicherweise gelang es ihm nicht, den etwaigen Zerfall seiner Familie schreiberisch zu bewältigen. Seine Schwester Pavla übergab das Tagebuch in den 1960er Jahren den Philologen aus Leningrad. Sie hatte das Tagebuch ihres Bruders verwahrt, nachdem dieser im Zweiten Weltkrieg gestorben war. Auch in zahlreichen rückblickenden Autobiographien blieb der Kriegsdienst ein einschneidendes Erlebnis. Die historische Bedeutung der Kriege war unstrittig, was es den Bauern erleichterte, diesen Erfahrungsbruch bis in die späte Sowjetunion hinein als Augenzeugen zu beschreiben. Noch in den 1970er Jahren begann Stupin seine Autobiographie mit der Mobilisierung 1914. Dabei ist in seiner Schilderung keine Euphorie zu spüren. Bei der Abfahrt ihrer Söhne in den Krieg seien einige Mütter vor Gram ohnmächtig zusammengesackt. In seinem Text schob Stupin die militärischen Niederlagen auf die deutschen Generäle, die in der russischen Armee dienten. Statt ordentlich Krieg zu führen, hätten sie ihre Zeit lieber in Restaurants verbracht. Stupin kam für mehr als viereinhalb Jahre in deutsche Gefangenschaft. Er schilderte, wie die Deutschen die Russen in Bergwerken schuften ließen. Um die russischen Kriegsgefangenen zu schwächen, hätte es statt Brot gekochte Frösche gegeben. Von den 10.000 Gefangenen hätten innerhalb von acht Monaten 7.000 ihr Leben verloren.149 Nach seiner Rückkehr habe ihn selbst seine Mutter nicht mehr erkannt. Vom Zarenmythos ist in seinem Text nichts zu spüren. In der Autobiographie Stupins, der sich als aktiver Unterstützer der Kolchosen zeichnete, war an die Stelle des Zaren Vladimir Lenin getreten. Er habe den ersehnten Frieden unter-
147 Šþipunov, Dnevnik za 1915-1923 gg., IRLI, Severodv. sobr. Nr. 902, l. 18ob. 148 Šþipunov, Dnevnik za 1915-1923 gg., IRLI, Severodv. sobr. Nr. 902, l. 18ob. 149 Stupin, Zapiski pinežanina S.A. Stupina, IRLI, Pinežskoe sobr. Nr. 518, 1971, l. 6-6ob. Siehe auch die Studie von Oksana Nagornaja über russische Kriegsgefangene im Ersten Weltkrieg: Nagornaja, Drugoj voennyj opyt.
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zeichnet und in einer Rede – bei der Stupin zugegen war – allen Kriegsgefangenen ein halbes Jahr Urlaub versprochen. Autobiographisches Schreiben diente nicht nur Soldaten als Mittel, um neue Eindrücke und Grenzsituationen zu verarbeiten. Auch andere Bauern nutzten es zur psychischen Entlastung. Zweifellos besaßen die Tagebücher durch die Regelmäßigkeit der Einträge und die Möglichkeit, Sorgen auszusprechen, diese Funktion. Sie sind angereichert mit Unmutsäußerungen und Beschwerden, berichten über familiäre Probleme, Ängste und Liebesleid. Sie boten Raum, neben alltäglichen Sorgen auch besonders belastende Lebensphasen zu beschreiben. Vor allem die Brautwahl war – so scheint es in den Tagebüchern – eine kritische Angelegenheit, weil die Bauern unter Druck standen, die Weichen ihres Lebens richtig zu stellen. Viele Bauern beschrieben diese Zeit als Periode der Unsicherheit. Da es wahrscheinlich auch an unparteiischen Gesprächspartnern fehlte, wandten sich schreibende Bauern an ihr Tagebuch. Während Efim Besov das Thema Brautwahl durch Gehorsamkeit gegenüber seinen Eltern bald abschließen konnte, blieb diese Frage für Andrej Petrov über Jahre hinweg ungelöst. In seinem Tagebuch begründete er seine anhaltende Verstimmung mit seinen Schwierigkeiten, eine Frau zu finden. »Mir ist langweilig, langweilig… Was fehlt mir nur? Ich weiß es nicht. Ich fühle nur, dass mir was fehlt. […] Sobald wie möglich heiraten…! Wirklich! Nur zum Teufel damit?! Dafür braucht man eine Braut, aber die gibt es nicht?«150 Die Argumentationen, mit denen er sein erfolgloses Bemühen rechtfertigte, wechselten. Mehrfach widersprach er sich dabei selbst. Mal gefiel ihm keine Frau, dann wiederum bezeichnete er sich als vollkommen anspruchslos: »Reich oder arm – für mich persönlich ist das vollkommen gleichgültig.« Nur ein Mädchen vom Dorf sollte es nicht sein, Dorfmädchen könne er nicht ertragen. Dann wiederum waren selbst die vom »zivilisierten Licht der Stadt« beleuchteten Mädchen »große Idiotinnen«.151 An anderer Stelle suchte er wieder die Schuld bei sich. Er sei nicht fähig, jemanden zu lieben.152 Petrovs Tagebuch bot nicht nur Raum für Junggesellenängste. Seine Verstimmung liege auch an seiner Arbeit als Schreiber des Amtsbezirks. Es sei ermüdend, immer nur abzuschreiben. Immer häufiger beklagte er sein Alkoholproblem, welches mit der Unzufriedenheit über seine Lebenssituation zunahm: »Ich führe ein unmögliches Leben. Sowohl gestern als auch heute war ich betrunken und wieder betrunken. Doch was kann man machen. Wie kann man besser leben?« Er versuchte das Trinken einzuschränken, doch er scheiterte immer
150 Petrov, Dnevnik, IRLI, Krasnob. sobr. Nr. 111, 1895-1906 gg., l. 84. 151 Petrov, Dnevnik, IRLI, Krasnob. sobr. Nr. 111, 1895-1906 gg., l. 27ob. 152 Petrov, Dnevnik, IRLI, Krasnob. sobr. Nr. 111, 1895-1906 gg., l. 25ob.
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wieder. Sobald er einen Tropfen Alkohol in den Mund bekäme, würden alle guten Vorsätze fallen.153 Gerade für Bauern, die wie Petrov allein für sich und nicht für ihre Familie schrieben, war das Tagebuch ein Ort, wo sie ihre Schwächen und Ängste thematisieren konnten. Insgesamt fällt aber auf, dass die Bauern in autobiographischen Texten, die im Familienkreis verblieben, seltener über persönliche und familiäre Konflikte berichteten als zum Beispiel in autobiographischen Texten, die sie an Nikolaj Rubakin schickten und die nur kurz in den Familien verblieben. Jene Schreiber, die mit Lesern aus dem Familienkreis rechnen mussten, offenbarten sich nur selten so offenherzig wie der ledige Andrej Petrov. Sie schrieben über ihre Sorgen und Ängste häufig in verschlüsselter Form, indem sie Träume und Visionen schilderten. In den 1930er Jahren sprachen die Bauern immer häufiger über ihr Tagebuch als einzigen Vertrauten, dem sie ihre Sorgen und Ängste mitteilen konnten.154 Aber mit den Sorgen, die auf Mitteilung im Tagebuch drängten, wuchs auch die Furcht vor unliebsamen Lesern und nahmen Chiffrierungsstrategien zu. Zahlreiche Tagebücher brachen schließlich in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre ab. Konstellationen und Bedingungen Neben den konkreten Schreibanlässen und Motivationen fallen in der Gruppe der bäuerlichen Tagebuchschreiber die Kombination dreier Faktoren auf, die es ihnen erleichterten, ein Tagebuch zu beginnen und zu überliefern: Erstens eine besondere Beziehung zum Schreiben, zweitens eine erhöhte soziale und/oder regionale Mobilität und drittens das Selbstverständnis als Haus- und Hofherr. Es sind diese drei Faktoren, die viele Bauern, die vor der Kollektivierung mit dem Schreiben begonnen haben, von jenen Schreibern unterscheidet, die in der Sowjetunion sozialisiert wurden und häufig erst seit der zweiten Hälfte der 1920er Jahre Tagebuch führten. Bei Bauern, die ihre Autobiographien an sowjetische Schreibprojekte wie zum Beispiel an die Krest’janskaja Gazeta schickten, lässt sich die Wirkmächtigkeit dieser drei Punkte nur selten ausmachen. Die meisten Schreiber, die ihren autobiographischen Text vor 1917 begannen, zeichneten sich durch einen außergewöhnlichen Bezug zu Wort und Schrift aus. Häufig stammten sie aus einem altgläubigen Umfeld, oft kamen sie aus dem russischen Norden. Dieser Umstand gründet sicher nicht allein in den Expeditionen der 1960er Jahre, als Philologen, Historiker und Archäographen gerade bei den Alt-
153 Petrov, Dnevnik, IRLI, Krasnob. sobr. Nr. 111, 1895-1906 gg., l. 139ob, 163, Zitat: 137ob. 154 Aržilovskij, Dnevnik 36-37-go godov, 141, 159; Arschilowski, »Gegenwart«, 25, 97; Hellbeck (Hrsg.), Tagebuch aus Moskau, 199.
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gläubigen des russischen Nordens nach Handschriften und alten Büchern suchten. Er verweist auch auf die intensive Beziehung dieser Gruppe zur Schriftlichkeit. Der russische Norden war durch seine Lage an der Peripherie und Größe staatlicher Kontrolle weniger ausgesetzt gewesen. Er diente den aus der offiziellen Kirche 1667 ausgeschlossenen Altgläubigen als Rückzugsgebiet.155 Diese lehnten die Neuerungen Nikons ab und schätzten aus diesem Grund Schriftkunde und Lesefähigkeit ihrer Anhänger sehr hoch ein, da nur der Gebildete zwischen ›richtigem‹ und ›falschem‹ Text unterscheiden könne.156 Um das nötige Wissen zu vermitteln, gründeten die Altgläubigen Schulen, in denen sie Lesen und Schreiben sowohl an ihre Mitgläubigen als auch an orthodoxe Bauernkinder vermittelten. Die orthodoxe Kirche reagierte auf das Bildungsangebot der Altgläubigen, indem sie ihrerseits ein kirchliches Schulsystem aufbaute. Neben dem aus Aktion und Reaktion entstandenen Schulnetz war auch die reiche Tradition der Weitergabe handschriftlicher Bücher eine Besonderheit der Altgläubigenbewegung, die sich auf die Schriftlichkeit der Bauern auswirkte. Die Tradition des Lesens und Abschreibens handschriftlicher Bücher hat sich – wie beispielsweise das Tagebuch Ivan Rassychaevs zeigt – im russischen Norden länger als in anderen Regionen bis ins 20. Jahrhunderts bewahrt.157 Die Peripherielage der Region bot nicht nur den Altgläubigen Schutz. Um die Abgelegenheit vom Zentrum wusste auch die zarische Administration, die den russischen Norden seit dem 19. Jahrhundert als Verbannungsort nutzte. Auch die Verbannten bereicherten das kulturelle Klima: Sie gaben Journale heraus, gründeten Verlage und verdienten sich ein Zubrot durch das Unterrichten von Bauernkindern. Durch sie lernten die Bauern neben neuen Ideen auch weltliche Bücher kennen.158 Russland befand sich am Ende des 19. Jahrhunderts im Umbruch von einer illiteraten zur literaten Gesellschaft. Bauern lasen Bücher, Zeitschriften und Zeitungen, sie erkannten die Vorteile, die ihnen Schreib- und Lesefähigkeit boten. Trotz der altgläubigen Schrifttradition und der neuen Einflüsse war eine souveräne Schriftlichkeit jedoch für viele Bauern etwas Besonderes. Sie hob die Schreibenden einerseits aus dem traditionellen dörflichen Umfeld hervor, machte sie aber andererseits im Dorfe unentbehrlich. Schreibende und lesende Bauern vermittelten nicht nur das aus Büchern und Zeitungen gewonnene Wissen an ihre Nachbarn, sondern konnten auch eine Vermittlerrolle zwischen schriftlich agierender Obrigkeit und immer noch weitgehend analphabetischer Dorfgemeinschaft einnehmen. Auffallend häufig arbeiteten die Tagebuchautoren als Schreiber, Kassenwart oder Dorfältester in den
155 Crummey, The Old Believers. 156 Brooks, When Russia Learned to Read, 25. 157 Gromyko, Krug þtenija, 195. 158 Rošþevskaja, Ssyl’nye i Komi kraevedenije, 162-168.
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dörflichen Verwaltungseinrichtungen, übten in Geschäften und Kontoren Schreibtätigkeiten aus oder waren Korrespondenten von wissenschaftlichen Einrichtungen wie der Geographischen Gesellschaft. Manch einer von ihnen erprobte seine Schreibfähigkeit auch als Beiträger für Zeitschriften oder Zeitungen.159 Der Beruf des Schreibers besaß in der Gesellschaft des ausgehenden Zarenreichs, in der ein großer Teil der Bevölkerung des Lesens und Schreibens nach wie vor unkundig war, eine besondere Bedeutung. Schreiber sahen, wie Entscheidungen zustande kamen, blickten durch ihre Arbeit über die Dorfgrenzen hinaus und hatten einen leichteren Zugriff auf Zeitungen, Zeitschriften, Bücher, Stifte und Papier. Die Säkularisierung menschlichen Lebens, in der die Schrift ihre sakrale Bedeutung verlor und daher auch für Alltagsbeschreibungen genutzt werden konnte, setzte für die als Schreiber arbeitenden Bauern früher als für die übrige Landbevölkerung ein. Die Tätigkeit vermittelte Selbstbewusstsein und förderte die Schreibpraxis. Für viele Tagebuchautoren, die ihre Aufzeichnungen vor 1917 begannen, waren die Schreibtätigkeit in den dörflichen Verwaltungseinrichtungen und das Führen eines Tagebuchs eng miteinander verbunden. Andrej Petrov fing 1895 just in dem Moment seine Notizen an, als er zum Schreiber des Amtsbezirks berufen wurde. Freude und Stolz über seine neue Tätigkeit, die ihm dreizehn Rubel im Monat einbrachte, flauten jedoch schnell wieder ab. Die Arbeit war längst nicht so glamourös wie anfänglich gedacht. Petrov klagte über die hohe Arbeitsbelastung, vor allem während der Volkszählung 1897, aber auch über die Langeweile, die das »ewige Ab-
159 Artynov, dessen Vater mehrere heimatkundliche Bücher veröffentlichen konnte, hat in einem Geschäft bezahlte Schreibarbeiten verrichtet. Artynov, Dnevnik Ja.A. Artynova, BAN f. 72 d. 129, 1896, l. 7. Vitjazev benötigte für seine Arbeit als Kirchenvorsteher eine besondere Schreibfähigkeit. Vitjazev, Dnevnikovaja kniga, IRLI, Krasnob. sobr. Nr. 58, 1853-1967, l. 3ob. Rassychaev arbeitete seit 1901 als Schreiber, 1902 begann er sein Tagebuch. Rassychaev, Dnevnye zapiski. Glotov arbeitet nach der Revolution 1917 als Sekretär des Rats und als Kassenwart der Kooperative. Die Tätigkeiten, die er in St. Petersburg ausübte, bezeichnete er nicht genauer. Glotov, Na razlome žizni. Auch Sitnikov hatte ein Amt in der dörflichen Administration inne. Er versuchte, die Einträge in seinem Tagebuch zu bezeugen, indem er sie mit einem Stempel des Dorfältesten aus Smolenec versah. Sitnikov, Zapiski, IRLI, Mezenskoe sobr. Nr. 151, 1893-1909. Der Bauer Aleksandr Zamaraev bezeichnete sich im Jahr 1920 als Korrespondent. Es bleibt unklar, für welche Institution er tätig war. Der Bauer Lukiþev war Korrespondent des Russländischen Hydrologischen Instituts (Rossijskij Gidrologiþeskij Institut) in Leningrad und des Zentralen Büros für Heimatkunde (Central’noe bjuro kraevedenija pri Russkom Obšþestve ljubitelej mirovedenija). Zamaraev, Dnevnik totemskogo krest’janina, 224; Lukiþev, Pamjatnaja kniga, 415.
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schreiben«160 mit sich bringe: »Mir scheint, dass ich als Schreiber niemals glücklich werde. Davon bin ich – warum auch immer – überzeugt. Weiß der Teufel warum, meine Arbeit, schreiben, schreiben, schreiben.«161 Seine Entlassung, um die er – wie er berichtet – selbst gebeten hatte, empfand er als Befreiung: »Seit dem 8. Mai bin ich frei […].«162 Die dunkle Stimmung in seinem Tagebuch hellte sich auf. Wenige Seiten nachdem er über die Aufgabe seiner Anstellung berichtet hatte, bricht sein Tagebuch aber ab. Auch bei Ivan Rassychaev, einem Bauern aus Ust’-Kulom, war die Arbeit als Dorfschreiber mit dem Beginn seines Tagebuchs verbunden. Rassychaev, der seine Schreibfähigkeit durch (Ab)schreibübungen geschult hatte, wurde im September 1901 zum Dorfschreiber berufen. Wenig später, im Jahr 1902, begann er seine Täglichen Aufzeichnungen. Rassychaev übte seine Tätigkeit in verschiedenen Verwaltungseinrichtungen aus. Nachdem er 1917 von der österreichischen Front zurückgekehrt war, verdingte er sich in der Landverwaltung des Amtsbezirks (volostnaja zemskaja uprava), worauf 1918 seine »Mobilisierung« für das Exekutivkomitee des Amtsbezirks (Volispolkom) erfolgte. Durch seine Schreibdienste geriet er zweimal zwischen die Fronten der Roten und der Weißen. Im Januar 1919 traf er mit dem Rotarmisten Moritz Mandelbaum zusammen, der von ihm als Schreiber des Exekutivkomitees Fuhrwerke und Pferde für seine Soldaten forderte.163 Rassychaev musste Mandelbaum den Wunsch abschlagen, worauf dieser ungehalten reagierte. Er drohte Rassychaev, eine Bombe in das Gebäude des Komitees zu werfen. Erneut gefährlich wurde es für Rassychaev, als die Weißen im November 1919 Ust’-Kulom besetzten und die Kommunisten des Orts verhafteten. Auch Rassychaev nahmen sie als ehemaligen Kommunisten und Angestellten des Sowjets zeitweise in Arrest. Die Arbeit als Schreiber, die ihn vor 1917 mit Freude erfüllt hatte, stürzte ihn nach der Oktoberrevolution in innere Konflikte. Dies zeigt sich an einem Traum, den er 1924 in seinem Tagebuch niederschrieb. Rassychaev träumte, dass er bei dem Verhör Jesu durch Pilatus zugegen sei. Schließlich habe er die Anklageakte für
160 Petrov, Dnevnik, IRLI, Krasnob. sobr. Nr. 111, 1895-1906 gg., l. 87. 161 Petrov, Dnevnik, IRLI, Krasnob. sobr. Nr. 111, 1895-1906 gg., l. 67, Zitat: l. 46ob-47. 162 Petrov, Dnevnik, IRLI, Krasnob. sobr. Nr. 111, 1895-1906 gg., l. 67, Zitat: l. 46ob-47, l. 168. 163 Moritz Mandelbaum oder Moric Mandel’baum (russ.), 1890 in Österreich geboren, Mitglied der Sozialdemokratischen Partei, geriet während des Erstens Weltkriegs in Gefangenschaft, trat in die RKP(b) ein und nahm am Bürgerkrieg teil. Mandelbaum versuchte, die einheimische Bevölkerung mit äußerster Brutalität gegen die Weißen zu mobilisieren. Russisch soll er nicht gesprochen haben. Dojkov, Krasnyj terror, 15.
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den schriftunkundigen Heiland unterschrieben. Nach dem Erwachen entsetzte ihn sein ›Judasverrat‹, der frevelhafte Gebrauch seiner Schreibfertigkeit: »Im Jahre 1924, einen Tag vor Mariä Schutz und Fürbitte, hatte ich folgenden Traum. Im Haus der Vorgesetzten war der Herr Jesus Christus wegen der Untersuchung seiner Schuld oder um die Freiheit zu verlieren und ins Gefängnis geworfen zu werden, festgenommen und hergeführt worden. Er stand zwischen den ihn Herbeiführenden, Anklägern und Befehlshabern an der Seite der Tür, wo unter anderen auch ich mich befand. In der Mitte des Raums lag ein aufgeschlagenes Buch, in das die Anklage des Herrn wegen Verkündigung religiöser Ideen und der Selbstbezeichnung als Gott vor der kommunistischen Vereinigung der Gottlosigkeit niedergeschrieben war. Man forderte den Herrn auf, eine Erklärung in der Anklageakte zu unterschreiben. Die Ankläger waren überzeugt, dass der Herr nicht gelehrt genug sei, um zu unterschreiben. Wegen der Beleidigungen ihm gegenüber wollte er nicht unterschreiben, wie er auch Pilatus vor Gericht keine Antwort gab. Ja selbst die Ankläger haben seine eigene Unterschrift nicht nachdrücklich gefordert, sondern schlugen vor, dass ich für den nicht schriftkundigen Herrn unterschreiben solle. Obgleich ich der Unterschrift nicht gern zustimmte, gab ich den Forderungen der Ankläger nach und fragte den Herrn, ohne mich mit dem gebührenden Respekt und Ehrerbietung an ihn zu wenden, sondern in einfacher gewöhnlicher Sprache: ›Herr, erlaubst du, dass ich für dich unterschreibe?‹ Er sagte nichts, gab mir aber ein Zeichen, für ihn zu unterschreiben; drehte mir sein Gesicht zu und nickte. Ich nahm die Feder und schrieb auf die Akte folgendermaßen: ›Jesus Christus ist der Schrift nicht kundig, sodass für ihn Ivan Rassychaev unterschrieben hat.‹ Damit endete der Traum.«164
Eine besondere Beziehung zum Schreiben blieb auch für Bauern, die nach 1917 mit dem autobiographischen Schreiben für den ›Hausgebrauch‹ begannen, charakteristisch. Auch unter den Bauern, die in der Sowjetunion ein Tagebuch führten, sind jene überrepräsentiert, die das Schreiben auch beruflich benötigten. Ihr besonderer Bezug zur Schriftlichkeit erleichterte ihnen sowohl das regelmäßige Schreiben als auch die Überlieferung ihrer Texte. Oft gab es in ihren Familien einen Aufbewahrungsort für familiäre Dokumente.165
164 Rassychaev, Dnevnye zapiski, 55-56. 165 ýibiskov wurde 1917 Schreiber in der Kanzlei des Bezirks. ýibiskov, Vospominanija, GIM f. 92 d. 112, 1973, l. 13ob. Stupin war Schreiber, Kassenwart und Buchhalter in einer Kolchose. Stupin, Zapiski pinežanina S.A. Stupina, IRLI, Pinežskoe sobr. Nr. 518, 1971, l. 11, l. 12ob. Auch bei Podlubnyj waren die Arbeit als Brigadier und der Beginn seines Tagebuchs eng miteinander verbunden: Hellbeck (Hrsg.), Tagebuch aus Moskau. Der Bauer Aržilovskij schrieb seit 1906 für den Zeitung Sel’skij Vestnik: Aržilovskij, Dnevnik 36-37-go godov, 145; Arschilowski, »Gegenwart«, 41. Schon Pachamovs Vater hat als Schreiber viel Geld verdient. Später verdiente auch Pachamov sich ein Zu-
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Bauern, die vor 1917 einen autobiographischen Text verfassten, wiesen zudem häufig eine erhöhte soziale und regionale Mobilität auf. Sie arbeiteten nicht allein in der Landwirtschaft, sondern verdingten sich als Schreiber oder Kassenwart, begannen als Soldaten oder Wanderarbeiter in den Großstädten mit dem Schreiben oder lebten in einem Umfeld, in dem das traditionelle soziale Dorfgefüge durch verbannte Intellektuelle in Frage gestellt wurde und städtische Lebenskultur Einzug gehalten hatte. Nicht selten waren sie – wenigstens teilweise – aus ihrem traditionellen Umfeld herausgelöst und übernahmen für ihre Selbstbeschreibungen Identitätsentwürfe, die im ›Bauernsein‹ nicht vollkommen aufgingen.166 Durch den Weggang aus den Dörfern oder ihre Aufgaben als Schreiber in den Verwaltungseinrichtungen erfuhren sie, dass ihr Leben Alternativen und Möglichkeiten bereithielt, für die sie sich selbst entscheiden mussten. Freiheit der Wahl erzeugt aber auch Unsicherheit über die Richtigkeit der Entscheidungen. Mit dem Tagebuch versicherten sich die Bauern der eigenen Entschlüsse. Soziale und regionale Mobilität machte die zweischneidige Freiheit selbstbestimmten Lebens erfahrbar und bildete daher einen der Katalysatoren für das Schreiben. Das Auflösen des Althergebrachten wurde in den Tagebüchern bis zur Kollektivierung nicht als proble-
brot, indem er für andere Dorfbewohner Briefe verfasste. In der Sowjetunion übte er schließlich eine leitende Funktion in einer Kolchose aus. Pachamov, Vospominanija. Istoriþeskij povest’, RGB f. 218 1296.1, 1965, l. 47, l. 71ob. Vinogradov, der auf Bitte seines Enkels in den 1980er Jahren sein Leben aufschrieb, hatte ein Faible für die Archivierung von Dokumenten. Dank seiner Sammelleidenschaft haben einige Mitglieder seiner Kolchose erst ihre Rente erhalten. Vinogradov, »Nu teper’«, 4. Lukiþev, der zwischen 1920 und 1938 Tagebuch führte, war Korrespondent des Russländischen Hydrologischen Instituts in Leningrad. Er hat auch mit dem Zentralen Büro für Heimatkunde zusammengearbeitet. Lukiþev, Pamjatnaja kniga, 387. Železnjakov begann sein Tagebuch als Vorsitzender des Dorfsowjets von Pirogov, wo er Anfang der 1930er Jahre eine Kolchose aufbauen sollte. Železnjakov, Dnevnik A.I. Železnjakova. Nosov hatte schon als Kind religiöse Bücher abgeschrieben und Schreibarbeiten verrichtet. Als er 1960 in Rente ging, hat er seine Freizeit mit dem Abschreiben religiöser Bücher zugebracht. In diesen Jahren begann er auch seine autobiographischen Aufzeichnungen, in denen vor allem Visionen eine große Rolle spielen. Nosov, Zapisi, IRLI, Ust’Cilemskoe sobr. Nr. 338, 1960-e gg. 166 Neben den Schreibtätigkeiten übten die Tagebuchschreiber häufig auch handwerkliche Arbeiten aus, die sie in die Städte führten. Nikolaev arbeitete als Mechaniker eines Telegraphen: Nikolaev, »Isþez þelovek«. Folgende Tagebuchschreiber verfassten ihren autobiographischen Text als Soldaten: Lobanov, Zapiski, IRLI, Pinežskoe sobr. Nr. 39, 1905; Tomilov, Zapiski pulemetþika, IRLI, Pinežeskoe sobr. Nr. 614, 1914; Besov, Knižka zapisnaja, Petrozavodsk: KGM – 1158/1, 1905.
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matisch thematisiert. Hierin unterscheiden sich die für den Familienkreis verfassten autobiographischen Texte von den an Bonþ-Brueviþ, Rubakin oder Jacimirskij gerichteten Autobiographien, in denen häufig Konflikte zwischen Alt und Neu, Herkunftsmilieu und angestrebter Lebenswelt, Vätern und Kindern geschildert werden. Wie schwierig es für die Bauern war, das Tagebuch ohne die durch Mobilität und eigenständige Wirtschaftsführung erfahrene Freiheit weiterzuführen, zeigte sich nach der Kollektivierung. Sein Leben eigenverantwortlich zu führen, selbst die Freiheit zu haben, das eigene Lebensumfeld zu gestalten, kam im Selbstverständnis der Schreibenden als Haus- und Hofherren zum Ausdruck. Das Tagebuch als Verbindung zu Haus und Hof zeigt sich an den Elementen des Wirtschaftsbuchs, in denen bilanzartig aufgeführte Ausgaben und Einnahmen, Wetterbeobachtungen und verrichtete Arbeiten überwiegen. Diese Art von Notizen ist insbesondere zu Beginn des tagebuchartigen Schreibens häufig. Elemente des Schreibebuchs, in dem in geschlossenen Textpassagen Ereignisse und Gefühle geschildert werden konnten, kamen in vielen bäuerlichen Tagebüchern erst mit zunehmender Schreibpraxis hinzu. Die Tagebücher waren mitunter so eng mit der bäuerlichen Wirtschaft verbunden, dass andere Arbeiten, beispielsweise als Wanderarbeiter in der Stadt, nicht beschrieben wurden. Für den Bauern Glotov waren nur die Arbeiten beschreibenswert, die er im Dorf verrichtete. Obwohl er schon seit 1915, als er Soldat war, Tagebuch schrieb, berichtete er nicht über seinen Dienst in Petrograd. Wie sehr die Tagebücher zur Wirtschaft gehörten, zeigt sich auch daran, dass die Schreibhefte in der Familie blieben, wenn ihre Schreiber verreisten. Glotovs Frau führte das Tagebuch weiter, als ihr Mann 1924 nach Leningrad ging.167 Auch der Bauer Frolov nahm das Tagebuch nicht mit auf Fahrt. Erst nach seiner Rückkehr trug er das Erlebte nach.168 Dass die Bauern als Haus- und Hofherrn schrieben, zeigt sich auch am Umfang ihrer Aufzeichnungen. Auffallend ist, dass in schwierigen Zeiten, zum Beispiel im Ersten Weltkrieg oder während des Kriegskommunismus, weniger geschrieben wurde. Der Umfang der Tagebücher nahm bei allen – besonders auffällig zwischen 1918 und 1921 – ab. Die schreibenden Bauern befanden sich zum einen in diesen Jahren in einer Stresssituation, in der ihnen Zeit zum Schreiben fehlte. Zum anderen wurde ihr Selbstverständnis als Haus- und Hofherr beschädigt. Getreideabgaben, die Bereitstellung von Pferden und andere Eingriffe in die familiäre Ökonomie untergruben das Tagebuch als Dokument einer eigenverantwortlichen Wirtschaftsführung. Häufig erfuhren sie diese Ereignisse nicht als Bruchsituationen, die schreiberisch bewältigt und aufgearbeitet werden konnten. Die eigene Ohnmacht, die sich
167 Glotov, Na razlome žizni, 189-190. 168 Frolov, Dnevnik, RGB f. 218, 1283.12, 1934-1935, l. 14-14ob.
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für die Bauern darin zeigte, dass sie keinen Einfluss mehr auf ihr unmittelbares Lebensumfeld besaßen, dokumentierten sie nicht im Tagebuch. Die Kollektivierung, die das Verständnis als Haus- und Hofherr nicht nur beschädigte, sondern grundlegend zerstörte, führte häufig zur auffallenden Veränderung des Schreibens oder zum völligen Abbruch des Tagebuchs. Seine Fokussierung auf die eigene Wirtschaft ließ auch Glotov nach seinem Eintritt in die Kolchose keinen Sinn mehr im Schreiben erkennen. Mit der Aufgabe seines Hofs und der damit verbundenen Verantwortung war die wirtschaftliche Selbstrechtfertigung im Tagebuch unnötig geworden. Glotovs Tagebuch brach 1931 ab. Eine besondere Beziehung zum Schreiben, erhöhte soziale oder regionale Mobilität sowie das Verständnis als Haus- und Hofherr unterschied diese Bauern von jenen, die nach 1917 mit der Beschreibung ihres Lebens begannen. Ihre herausgehobene Stellung im Dorf, die in ihrer besonderen Beziehung zur Schriftlichkeit als auch in ihrer erhöhten Mobilität gegründet hatte, führte dazu, dass sie ihr Tagebuch nicht nutzten, um ihre Loyalität gegenüber der Sowjetunion zu beweisen. Die Tagebuchschreiber, die vor 1917 mit dem Schreiben begonnen hatten, blieben in ihren Tagebüchern auffallend resistent gegenüber den Schreibweisen der Bol’ševiki. Die Bauern hielten an ihren vor 1917 erprobten Schreibweisen fest. Sie beharrten auch nach der Kalenderreform auf den julianischen Kalender und sprachen mit der neuen Zeitrechnung auch der neuen Zeit ihre Rechtmäßigkeit ab. Die Ablehnung des neuen Kalenders schuf Gemeinschaft, wie der Eintrag des Bauern Zamaraev am Jahreswechsel 1920/21 zeigt: »Morgen bricht nach unserer [Zeit, J.H.] das neue Jahr an, doch Hoffnung auf Erleichterung gibt es nicht [Herv. i.O.].«169 Andere Bauern versuchten den Einbruch einer ungewollten Ordnung in ihre Welt aufzuhalten, indem sie weiterhin die alten Orts- und Straßennamen benutzten, an der alten Rechtschreibung festhielten oder die Schrift poluustav gebrauchten.170 Viele Altgläubige hatten diese Schrift auch nach den Reformen Peters I. beibehalten. Sie war im Gegensatz zur Schnellschrift (skoropis’) und zur ›Bürgerschrift‹ (graždanka) religiös konnotiert.171 Die Bauern versuchten auch nach 1917, Werte wie Religion, gewachsene solidarische Sozialgefüge im Dorf sowie die Vorstellung, dass Besitz und reiche Ernten der Lohn guter Arbeit seien, zu bewahren. In ihren Tagebüchern blieben Wohlstand
169 Unterstreichung im Tagebuch: Zamaraev, Dnevnik totemskogo krest’janina, 232. 170 Vgl. Nikolaev, »Isþez þelovek«; Zamaraev, Dnevnik totemskogo krest’janina; Podomorev, Tetrad’ dlja raznych zapisej, BAN Belomorsk. 22, 1915-1937; Frolov, Dnevnik, RGB f. 218, 1283.12-15; Glotov, Na razlome žizni; Lukiþev, Pamjatnaja kniga; Kilin, Vospominanija, MGU d. 2199, 1988; Nosov, Zapisi, IRLI, Ust’-Cilemskoe sobr. Nr. 338, 1960-e gg.; Karpov, Po volnam žitejskogo morja. 171 Torke, Einführung in die Geschichte Rußlands, 293.
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und gute Wirtschaftsführung miteinander verbunden. Hierin unterscheiden sich die Tagebücher für den ›Hausgebrauch‹ auch von den Autobiographien, die die Bauern an Adressaten wie Bonþ-Brueviþ, Rubakin und Jacimirskij außerhalb der Familie geschickt hatten. In diesen Autobiographien buhlten die Bauern um Aufmerksamkeit und Anerkennung, indem sie Armut, Anstrengung und Talent miteinander korrelierten. Gleichzeitig hatten sie mit ihrer besonderen Schreib- und Lesefähigkeit ein Mittel in der Hand, um in ihren Tagebüchern Gegenwelten und ein Selbstkonzept zu vertreten, welches von den nach 1917 propagierten Erinnerungsversionen und Biographiemustern abwich. Bäuerliche Autobiographik ist damit eine Quellenart, in der die sonst kaum fassbare Resistenz gegenüber der staatlichen Macht greifbar wird. Offener Protest wurde selten geschildert, aber der bäuerliche Eigensinn und das Bemühen, an alten Werten festzuhalten, finden sich häufig in den vor 1917 begonnenen und in der Sowjetunion weitergeführten Tagebüchern. Gerade durch das Beharren auf alten Schreibweisen wurde bäuerliche Autobiographik für Schreiber, Archivare, später dann auch für Historiker wiederum zum Gegenarchiv, in dem eine verlorengegangene Welt bewahrt schien. Über Brüche schreiben / Brüche im Schreiben Die 1930er Jahre waren für das autobiographische Schreiben im Familienkreis eine einschneidende Zäsur. Die Zerstörung des traditionellen Bauerntums wirkte unübersehbar auf das autobiographische Schreiben zurück. Die bäuerlichen Tagebücher offenbaren die Notwendigkeit, eine der Hauptthesen Jochen Hellbecks zu spezifizieren. Er vertritt in seinen Arbeiten die Ansicht, dass die 1920er und 1930er Jahre eine produktive Periode für das autobiographische Schreiben waren. Das autobiographische Bewusstsein und damit auch die Zahl autobiographischer Texte haben nach der Oktoberrevolution 1917 quantitativ stark zugenommen. Nun hätten auch Gruppen mit dem autobiographischen Schreiben begonnen, die dies vorher nicht praktiziert hätten. Die These von der produktiven Zäsur lässt sich in dieser Pauschalität nicht aufrechterhalten, sie muss nach unterschiedlichen sozialgeschichtlichen Bezugsgruppen differenziert werden.172 Die Frage, wer wann zu sprechen beginnt, muss durch die Frage nach dem Verstummen ergänzt werden. Hellbeck hat vor allem jene im Blick, die ihre Kindheit und Jugend in der Sowjetunion verbracht haben. Seine These trifft nicht auf Bauern zu, die schon vor 1917 autobiographisch geschrieben hatten und die in den 1920er und 1930er Jahren begannen, ihr Schrei-
172 Hellbeck, Working, 341-349; Hellbeck, Speaking Out, 84-85. Differenzierter: Hellbeck, Self-Realization, 277, 290; Hellbeck, Revolution on My Mind, 4; Hellbeck, Russian Autobiographical Practice, 294.
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ben zu hinterfragen. Für sie brachen in der Sowjetunion die Bedingungen für das eigene Schreiben teilweise weg. Viele Tagebuchschreiber erkannten die Gefahr, in die sie sich brachten. Sie reagierten auf unterschiedliche Weise: Sie versuchten ihr Schreiben einzuschränken, veränderten es und gaben zum Beispiel religiöse Schreibweisen auf. Sie schrieben nicht mehr auf Russisch oder rissen brisante Seiten aus ihrem Tagebuch heraus.173 Nach seinem Eintritt in die Kolchose ließ sich beispielsweise Ivan Rassychaev erstmals zu harten Urteilen in seinem Tagebuch hinreißen. Wahrscheinlich aus Angst vor Aufdeckung und Repressionen beschrieb er seinen Kummer in einer ›Geheimsprache‹, bei der er die kyrillischen Buchstaben durch lateinische ersetzte. Ob er diese Veränderung als eine effiziente Form der Verschleierung ansah, teilte er nicht mit: »Jedoch das Leben wurde ungewollt bitter, kummervoll, zwanghaft, unfreiwillig, aussichtslos. Der ganze häusliche Besitz ist verloren, die neuen Äcker und Heuwiesen sind verloren, alle kirchlichen Feiertage, feierlichen Messen und Vergnügungen sind verloren, für immer und unwiderruflich. Geblieben ist auswegslose Zwangsarbeit, für die es keine Ausreden gibt […]. Die Befehlenden behandeln uns grob, doch es ist klar, dass es jenseits der Kolchose keinen anderen Weg gibt, ja sogar, dass ein Ausweg aus der Kolchose nicht existiert. Für eine Stunde hat der Verstand gefehlt, für ewig bin ich nun den Dummköpfen verfallen. Nackt bin ich geboren, nackt werde ich sterben.«174
Ivan Rassychaev hörte am 9. Mai 1928 endgültig auf, sein Tagebuch auf Russisch zu führen. Er schrieb nun auf Komi weiter. Die meisten Schreiber, die ihr Tagebuch über das Jahr 1917 führen konnten, gaben es schließlich in den 1930er Jahren auf, auffallend häufig 1937.175 Einige ergrif-
173 In den Tagebüchern der Bauern Lukiþev und Frolov wurden zahlreiche Blätter herausgetrennt: Lukiþev, Pamjatnaja kniga; Frolov, Dnevnik, RGB f. 218, 1283.14. Auch in dem Roman Fronarbeit, den die Bäuerin Žuntova-ýernjaeva verfasste, fehlen einige Blätter. Die Herausgeber vermuten, dass auf ihnen das Jahr 1937 beschrieben ist. Žuntova-ýernjaeva, Baršþina, 7; Rassychaev, Dnevnye zapiski, 70. Podlubnyj gab im Dezember 1936 sein Schreiben für ein Jahr auf: Hellbeck, Revolution on My Mind, 212; Hellbeck (Hrsg.), Tagebuch aus Moskau. 174 Rassychaev, Dnevnye zapiski, 70. 175 Folgende Tagebücher des Quellenkorpus, die in diesem Abschnitt im Mittelpunkt steht, brachen in den 1930er Jahren ab: Nikolaev, »Isþez þelovek«; Glotov, Na razlome žizni; Ermakov, Dnevnik 1880-1937, Serpuchovskij istoriko-chudožestvennyj muzej; Aržilovskij, Dnevnik 36-37-go godov; Podomorev, Tetrad’ dlja raznych zapisej, BAN Belomorsk. 22, 1915-1937; Železnjakov, Dnevnik A.I. Železnjakova.
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fen zu spät ihre Vorsichtsmaßnahmen.176 Ihr Tagebuch brach ab, weil es bei einer Hausdurchsuchung konfisziert wurde und sie inhaftiert wurden. Für einige Schreiber ist belegt, dass ihr Tagebuch in den Gerichtsprozessen als Beweismittel diente.177 Die Geheimpolizei suchte gezielt nach Tagebüchern. In seiner Autobiographie berichtet der Bauer Karpov, dass die Geheimpolizei bei einer Hausdurchsuchung im Jahr 1937 selbst die Schulhefte seiner Tochter geprüft hätte. Das Private wurde in die Öffentlichkeit gezerrt. Letztendlich sollte es vollkommen verschwinden.178 Nicht selten beendete der gewaltsame Tod den autobiographischen Text. Als Ivan Podomorev verhaftet wurde, blieb nur sein Tagebuch zurück. Seine Nachbarn, die es in den 1960er Jahren an die Leningrader Sammler verkauften, gaben an, nicht zu wissen, wann und wo Ivan Podomorev gestorben sei.179 Auch Tagebuchschreiber, die ihren autobiographischen Text genutzt hatten, um ihre Loyalität gegenüber dem neuen System zu schulen, mussten mitunter ihr Schreiben in den 1930er Jahren aufgeben. Das Tagebuch Aleksandr Železnjakovs, Vorsitzender des Dorfsowjets von Pirogov, brach 1936 ab, obgleich Železnjakov die neuen, sowjetischen Sagbarkeiten scheinbar mustergültig gebraucht hatte. Trotz seines Einsatzes für die Kolchosen, den er in den Mittelpunkt seines autobiographischen Schreibens gestellt hatte, wurde er 1937 verhaftet. Selbst den loyalen Unterstützern des Systems gelang es in den 1930er Jahren nicht immer, ihr Leben über die Brüche hinweg zu schreiben.
4.2 S CHREIBEN ALS F AMILIE : KONVENTION UND K OMMUNIKATION Tagebücher sind offene Texte. Anders als in der Autobiographie ist ihr Ende nicht im Narrativ angelegt. Sie brechen ab, weil die Außenwelt sich verändert, Schreibzwecke verloren gehen oder ihre Autoren durch Krankheit, Arrest, Streit in der Familie oder Tod nicht mehr in der Lage sind, sie fortzuführen. Mehr als Autobiographien verlangen Tagebücher nach einem Erben, der die niedergeschriebenen Erfahrungen nicht nur konsultiert und nutzt, sondern die Aufzeichnungen auch weiterführt. Es sind einige Tagebücher überliefert, die Familienangehörige so sehr als An-
176 Podlubnyj schrieb 1936 in sein Tagebuch, dass es gefährlich sei, das Tagebuch »unter Leute zu bringen«. Er versuchte das Tagebuch vor ungewollten Lesern zu schützen, indem er es zu Hause verwahrte. Hellbeck (Hrsg.), Tagebuch aus Moskau, 230-231. 177 Nikolaev, »Isþez þelovek«, 46-47; Aržilovskij, Dnevnik 36-37-go godov, 139-140; Arschilowski, »Gegenwart«, 19-21. 178 Tagebücher mit Vorhängeschloss gab es im Stalinismus nicht mehr zu kaufen. Hellbeck, Revolution on My Mind, 8, 53; Karpov, Po volnam žitejskogo morja, 64. 179 Podomorev, Tetrad’ dlja raznych zapisej, BAN Belomorsk. 22, 1915-1937, l. 1.
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rufung verstanden, dass sie sie nach dem ersten Schreiber fortführten. Diese Tagebücher waren nicht nur für die Familie bestimmt, sondern entstanden durch die Familie, häufig über mehrere Generationen hinweg. In der Forschung sind kollektive Tagebücher bisher nur selten in den Blick geraten. Zum einen brechen sie mit Auffassungen, die als Grundprämissen autobiographischen Schreibens gelten. Vorstellungen, in denen das Tagebuch als Seelenspiegel und Ablageplatz geheimer Sehnsüchte galt, erschwerten es, Texte mit mehreren Autoren als autobiographischen Text anzusehen. Auch weit verbreitete Konzepte der Autobiographietheorie wie beispielsweise das Konzept des autobiographischen Pakts, haben den Blick auf kollektive Autorschaften erschwert. In der Konzeption von Philippe Lejeune ist die Identität von Autor, Erzähler und Figur entscheidend dafür, dass ein Text als autobiographisch gelten kann. Durch seinen Eigennamen bestätigt der Autor diese Identität.180 In diesem Teilkapitel soll diese Hauptthese von Lejeune, nämlich dass der Eigenname der eigentliche Gegenstand des autobiographischen Texts ist, hinterfragt werden. Geprüft werden soll, ob auch Familiennamen im Plural – die Vitjazevs, die Matevs, die Glotovs – einen autobiographischen Pakt besiegeln können.181 Die Autobiographieforschung hat mit den kollektiven Tagebüchern eine Erscheinung ignoriert, die öfter vorkommt, als es das Schweigen der Wissenschaftler vermuten lässt. Das Weiterführen eines Tagebuchs war weder ein neues noch ein bäuerliches, geschweige denn ein typisch russisches Phänomen. Elena Greþanaja und Catherine Viollet haben herausgearbeitet, dass es im Zarenreich des 18. Jahrhunderts adlige Familien gab, in denen generationsübergreifende Tagebuchkonstellationen existierten. Bei den Šeremetevs, Suchotins und Muchanovs war es üblich, der Familie und Freunden aus dem Tagebuch vorzulesen. Mitunter setzten die Kinder nach dem Tod ihrer Eltern den »abgerissenen Erzählstrang« in ihren eigenen Tagebüchern fort.182 Auch bei Kaufleuten und in den Familien von Angestellten kam es vor, dass die Söhne das Tagebuch ihres Vaters weiterführten. Die Familie Polušin, die sich aus der Leibeigenschaft heraus zu Fabrikbesitzern und Kaufleuten hochgearbeitet hatte, beschrieb über zwei Generationen hinweg ihre Familiengeschichte als Unternehmergeschichte. Der Beschreibungszeitraum von 1751 bis 1852 beträgt mehr als hundert Jahre.183 Der Enkel, der das Dokument zur Publikation in der Zeitschrift Russkij Archiv vorbereitet und kommentiert hat, bezeichnete die Aufzeichnungen 1898 als »Familienbuch« (semejnaja kniga). Auch die Familie Burmakin führte das Tagebuch ihres Vaters, eines Angestellten in ei-
180 Lejeune, Der autobiographische Pakt, 231. 181 Lejeune, Der autobiographische Pakt, 241. 182 Gretchanaja, Viollet, Russische Tagebücher, 25. 183 Polušin, K istorii russkoj promyšlenosti.
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nem Salzbetrieb, weiter. Petr Burmakin hatte 1843 mit seinem Tagebuch begonnen. Nach seinem Tod im Jahr 1878 schrieben die Familienmitglieder seinen Text noch weitere 34 Jahre fort. Erst 1912 brach das Tagebuch ab.184 Im deutschsprachigen Raum gibt es gleichfalls bäuerliche Tagebücher, in denen das Leben einer Familie über mehrere Generationen hinweg beschrieben ist.185 Die kollektiven Tagebücher, die in bäuerlichen Familien entstanden, gleichen mehr den Schreibtraditionen in adligen Familien und in Kaufmannsfamilien als dem bürgerlichen Tagebuch, in dem ein als Individuum auftretender Schreiber intime Bekenntnisse offenbart oder sein Leben als Bildungsgeschichte präsentiert. Ich werde in diesem Abschnitt zeigen, dass das kollektive Schreiben eines Tagebuchs eine Praxis war, die die Familie als soziale Gruppe definierte. Familie entsteht nicht allein durch Verwandtschaftsbeziehungen, sondern ist auch ein kommunikativer Prozess, in denen gemeinsam verfasste und über mehrere Generationen tradierte Tagebücher eine wichtige Rolle einnehmen können. Folgende Fragen stehen im Mittelpunkt: Wie wurde Familie durch das Schreiben eines Tagebuchs konstituiert? Welche Position nahmen die Autoren damit in der Familie ein und welche wiesen sie in ihren Texten anderen Familienmitgliedern zu? Lassen sich in den Tagebüchern familiäre Schreibkonventionen erkennen? Zu welchen Zeitpunkten ging der Konsens verloren, wie das intergenerationale Gespräch im Tagebuch zu führen sei? Was geschah mit den Familientagebüchern nach ihrem Abbruch? Im Mittelpunkt des Unterkapitels steht das sogenannte Udorskij dnevnik, das Tagebuch der Familie Matev, welches in vielen Punkten einer Familienchronik gleicht. Bevor es näher vorgestellt und analysiert wird, wird gezeigt, dass sich eine Vielzahl der bäuerlichen Tagebücher als familiäres Dokument lesen lässt. Doch erst in den kollektiv verfassten Exemplaren wurde die Genealogie als Ordnungs- und Organisationsprinzip, die in zahlreichen Tagebüchern bestimmend war, auch zur Schreibpraxis. Im Namen der Väter Schon in der Genesis des Alten Testaments wurde Vergangenheit in Generationszusammenhängen erzählt. Auch in den Familientagebüchern ist die Genealogie das wichtigste Strukturprinzip. Das Bemühen, den Familienzusammenhalt durch den Blick in die Vergangenheit und durch die Auflistung der Ahnen herzustellen, war häufig ein zentrales Element. Es findet sich auch in Tagebüchern mit nur einem Autor. So sah der Bauer Lukiþev in seinem Tagebuch ein Mittel, das die Kontinuität des Familiengedächtnisses gewährleisten und Familie über mehrere Generationen hinweg als Gemeinschaft erfahrbar machen sollte. Er schwor daher am Beginn des
184 Barminskaja, Dnevnikovye zapisi sem’i Burmakinych, 6. 185 Peters, Mit Pflug und Gänsekiel, 317.
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Dokuments seine Familie ein, das Schreibheft vor Beschädigung und Verlust zu schützen.186 An der gleichen Stelle gab er den gegenwärtigen Zustand seiner Familie wieder und listete Alter, Geburtsdaten und Namenstage ihrer Mitglieder – seiner Frau und seiner sechs Kinder – auf. Familie war in dem Tagebuch nicht nur Gegenwart, sondern auch Vergangenheit und erhoffte Zukunft.187 Lukiþev verfolgte zur »Erinnerung der Nachkommen« den Stammbaum der Familie über vier Generationen bis zum »Stammvater« zurück. An der Art und Weise, wie Lukiþev den Stammbaum seiner Familie einleitete, sind zwei Dinge auffällig. Erstens verknüpfte er die Familiengeschichte mit dem »Haus« und damit mit der Wirtschaft und dem Eigentum der Familie: »Der Stammbaum unseres Hauses.«188 Das Haus und mit ihm der gemeinsame Besitz werden zum Beziehungsidiom, durch das familiäre Gemeinschaft hergestellt wird. Zweitens spielt der Familienname eine entscheidende Rolle: »Mein Stammvater war ein Bauer, sie haben ihn Luka genannt, von ihm haben wir den Nachnamen Lukiþev erhalten, war doch unser wirklicher Familienname Šarmanov.«189 Durch die Namensgebung hatte die Familiengeschichte einen Anfang. Sie erlaubte es, die Aufzeichnungen als ›Geschichte der Lukiþevs‹ zu fassen. Auch Ivan Podomorev räumte der Genealogie seiner Familie viel Platz im Tagebuch ein. Der Bauer, der seit seiner Mobilisierung als Soldat 1915, Tagebuch schrieb, präsentierte die Genealogie seiner Familie in Form von Tabellen. Die erste Aufstellung versammelte die Lebenden, in ihr vermerkte er die Namen, Geburtsdaten und Namenstage der Familienmitglieder. Die zweite Tabelle war den Verstorbenen gewidmet. In dieser Liste führte er – bis auf die Stunde genau – die Sterbedaten seiner Familienangehörigen auf.190 Durch die Nennung ihrer Namen rief Podomorev die tote Person als Familienmitglied auf und stellte ihre Gegenwart her. Sein Tagebuch führte die voneinander getrennten Gemeinschaften der Toten und Lebenden wieder zu einer Familie zusammen.191 Wenn man die Aufzeichnungen der Familie Vitjazev als Vergleichsmaßstab anlegt, reichte Podomorevs Blick allerdings nicht weit zurück. Den Vitjazevs gelang es in ihren kollektiv verfassten Familienchroniken, sogar zehn Generationen aufzu-
186 Lukiþev, Pamjatnaja kniga, 388. 187 Die Namen seiner Eltern und damit seine Stellung als Sohn stehen auch am Anfang des 1902 begonnenen Tagebuchs Ivan Rassychaevs: »Ich bin der Sohn des Bauern Stepan Semenov Razcychaev [sic!] und seiner Frau Natal’ja Matveevna […].« Rassychaev verortete sich in seiner Familie, indem er den Stammbaum bis zu seinem Großvater zurückführte. Rassychaev, Dnevnye zapiski, 23. 188 Lukiþev, Pamjatnaja kniga, 389. 189 Lukiþev, Pamjatnaja kniga, 389. 190 Podomorev, Tetrad’ dlja raznych zapisej, BAN Belomorsk. 22, 1915-1937, l. 53. 191 Oexle, Die Gegenwart der Toten, 31.
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zählen. Marko Vitjazev hat 1853 den Text begonnen; er bezeichnete sich eingangs als Staatsbauer. Mit der Bitte an Gott, das Geschlecht der Vitjazev zu segnen, listete er in absteigender Linie die Ahnen seiner Familie auf. Der Schreibstil erinnert in der lakonischen Form, die keine Geburtsdaten nennt, sondern nur angibt, welcher Sohn von welchem Vater abstammt, an die Genesis: »Es ist nicht bekannt, von wem das Geschlecht Kozma [sic!] und der Sohn Nikita abstammt.«192 Erst als Marko im beschriebenen Zeitenlauf bei sich angekommen war, wurden die Eintragungen ausführlicher. Er vermerkte die Heirat mit seiner Frau und zählte die gemeinsamen Kinder auf. Dabei war er um Distanz bemüht: In der Aufeinanderfolge der Ahnen sprach er über sich in der dritten Person. Anschließend vervollständigte Marko seine Genealogie, indem er die Todesdaten einzelner Familienmitglieder vermerkte. Während in der Genealogie Frauen keine Rolle spielten, gab er in dieser Reihe auch den Zeitpunkt ihres Sterbens an.193 Es sind die Männer, die Familie (er-)zeugen. Durch die genealogischen Schreibweisen wird ihnen die Verantwortung für den Erhalt der Familie zugewiesen. Nach der Auflistung der Todesdaten ändert sich der Schreibstil. Marko gruppierte seine Aufzeichnungen unter einzelnen Überschriften wie »Bau«, »Dienst« und »Viehwirtschaft«, die er in sich chronologisch gliederte. Er vermerkte, wann sein Haus gebaut wurde, wann er als Kirchenältester gedient hatte, den Zeitpunkt der Haushaltsteilung und die Zusammensetzung seines Viehbestands.194 Den meisten Platz nahmen nun Naturbeobachtungen sowie die Baugeschichte der ersten aus Stein erbauten Kirche vor Ort ein. Dabei regten vor allem zwei Rubriken seine Nachkommen zum Weiterschreiben an. Zum einen ist die Liste der Verstorbenen aktualisiert worden, zum anderen hat Markos Urenkel Fedor im Jahr 1930 jene Aufzeichnungen fortgeführt, die den Eisgang auf dem Fluss vermerkten.195 Dabei benutzte Fedor die gleichen Sprachformeln wie sein Urgroßvater. Er notierte den Zeitpunkt, als das Eis brach, die Nördliche Dvina und das Flüsschen Evda wieder in Bewegung gerieten und der erste Regen fiel. Das Fortführen des Dokuments zeigt, dass Markovs Eintragungen noch in der Sowjetunion gelesen wurden. Selbst achtzig Jahre nach Beginn der Aufzeichnungen präformierten sie die Art und Weise, wie sein Urenkel schreiben konnte. Fedor bewies mit der Übernahme der Schreibformen, dass er das übertragene Erbe gewissenhaft erfülle und dass er noch immer in Beziehung zu seinen Ahnen stehe. Wie groß der Gebrauchswert dieser Aufzeichnungen war, zeigt das zweite Dokument der Familie, das sich in Aufbau und Schreibweise als direkter Nachfolger
192 Vitjazev, Dnevnikovaja kniga, IRLI, Krasnob. sobr. Nr. 58, 1853-1967, l. 2. 193 Vitjazev, Dnevnikovaja kniga, IRLI, Krasnob. sobr. Nr. 58, 1853-1967, l. 3. 194 Vitjazev, Dnevnikovaja kniga, IRLI, Krasnob. sobr. Nr. 58, 1853-1967, l. 3ob-4. 195 Vitjazev, Dnevnikovaja kniga, IRLI, Krasnob. sobr. Nr. 58, 1853-1967, l. 3, 9.
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der Familienchronik erweist. Aleksandr Vasil’eviþ, der dieses Heft anlegte, kannte das Schreibheft seines Großvaters Marko gut. Auch er vermerkte die wichtigen Ereignisse für die Familie. Er berichtete, wann sein Vater und sein Großvater gestorben waren, schrieb über einen Brand, der 1910 in der Stadt Krasnoborsk gewütet hatte, gab den Stammbaum seiner Familie wieder.196 Die Genealogie der Familie übernahm er fast wortgetreu aus dem Heft seines Großvaters, führte sie aber bis zu seiner Person weiter. Wie im Stammbaum, der als Muster diente, spielen auch bei ihm Großmütter, Mütter und Töchter keine Rolle. Es sind die Söhne, die an die Stelle ihrer Väter treten. Frauennamen tauchen auch hier nur in der Auflistung der Sterbedaten auf. In der Ahnentafel folgt Vitalij seinem Vater Aleksandr nach. Gemäß dieser »Ableitungslogik«197 übernahm Vitalij schließlich die Schreibaufgabe und schloss dabei gleichfalls an familiäre Aufmerksamkeiten und Schreibweisen an. Wie Marko und Aleksandr vermerkte er die Zeitpunkte, an denen das Eis auf den Flüssen brach und sich der Frühling ankündigte. Trotz seines Bemühens um Kontinuität ergab der Gebrauch des alten Kalenderstils für ihn keinen großen Sinn. Hatte sein Vater in den 1930er Jahren noch den julianischen Kalender benutzt und damit eine direkte Vergleichbarkeit mit den Aufzeichnungen seines Urgroßvaters ermöglicht, verwendete er seit den 1940er Jahren den neuen Kalenderstil. Am 8. April 1951 notierte Vitalij Aleksandroviþ zum letzten Mal, dass das Eis auf dem Fluss in Bewegung geraten war.198 Mit diesem Eintrag endete das Tagebuch abrupt. Kommentare aus den 1960er Jahren verraten, was mit dem Text weiter geschah. Die Anmerkungen stammen von N.P. Borisov, einem Cousin Vitalij Vitjazevs. Borisov hatte den Kontakt zu den Mitarbeitern des Drevlechranilišþe in Leningrad hergestellt.199 Ihm gelang es, die Vitjazevs zu überzeugen, dass ein Aufbewahrungsplatz außerhalb der Familie der bessere Platz für die Dokumente sei. Es scheint, dass die Vitjazevs die Texte nicht mehr als Mittel der Rückbesinnung auf ihre familiäre Vergangenheit benötigten. Vielleicht gelang es ihnen aber auch nicht, ihre Ansprüche gegenüber den Wissenschaftlern durchzusetzen, die in den 1960er Jahren auf Abgabe drängten, indem sie die Handschriften als wissenschaftlichen Gegenstand, nationales Erbe und damit auch als kollektives Eigentum bezeichneten. In seinen Anmerkungen vermerkte Borisov, welche Schrift zu welchem Schreiber gehörte und wies damit den Eintragungen Autoren zu. In den Aufzeichnungen
196 Vitjazev, Sbornik zapisej, IRLI, Krasnob. sobr. Nr. 64, 1871-1951, l. 2. 197 Weigel, Genea-Logik, 26. 198 Vitjazev, Sbornik zapisej, IRLI, Krasnob. sobr. Nr. 64, 1871-1951, l. 8. 199 Durch die Mitarbeit N.P. Borisovs gelangten auch andere autobiographische Texte in das Drevlechranilišþe. Borisov hat auch den Kontakt zu dem Bauern Ivan Karpov hergestellt, dessen Erinnerungen sich ebenfalls in der Sammlung befinden. Karpov, Po volnam žitejskogo morja, 7.
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selbst hatte individuelle Urheberschaft keine Rolle gespielt. Zum einen scheint es für die Familie selbstverständliches Wissen gewesen zu sein, wer welche Passagen verfasst hatte, zum anderen widersprach das Beharren auf eine individuelle Autorschaft der Anlage der Handschrift als Dokument der ganzen Familie. Schreib- und Lesefähigkeit sowie die Aufbewahrung von Handschriften und Büchern spielte auch in anderen Familien eine große Rolle, nicht selten war das Schreiben und Abschreiben – vor allem religiöser Texte – eine alltägliche Erscheinung. Auch die Familie Matev aus dem Dorf Puþkoma, am Fluss Vaška im Westen der heutigen Republik Komi, besaß eine eindrucksvolle Bibliothek: Einige der überlieferten Konvolute umfassen mehr als tausend Seiten. In den meisten Fällen sind die selbst hergestellten Handschriften in der ›halbaufgestellten‹ Schrift, im religiös konnotierten poluustav verfasst. Unter den Handschriften der Familie, die im Nationalmuseum der Republik Komi und in der Bibliothek der Staatlichen Universität in Syktyvkar verwahrt werden, befindet sich auch das Tagebuch der Familie, welches von vier Familienmitgliedern verfasst worden ist.200 Es unterscheidet sich von anderen Tagebüchern dadurch, dass die Chronologie nicht durchläuft. Das 84 Blätter umfassende Familientagebuch ist in mehreren Etappen zu einem Dokument zusammengenäht und -geklebt worden, sodass Einträge aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts neben solchen stehen, in denen Ereignisse der 1930er Jahre vermerkt sind.201 Doch gerade die sich ähnelnde Schreibweise zeigt, dass sich die Schreiber an den Eintragungen ihrer Vorgänger orientierten, weil es in der Familie ein Einvernehmen gab, wie ein Tagebuch zu schreiben sei. Dieser Konsens bestand über fast hundert Jahre hinweg. Ivan Matev, der auch die meisten Handschriften in der Familienbibliothek verfasst hat, begann das Tagebuch im Jahr 1858. Er hat die Standards gesetzt. Seine Eintragungen lassen sich – um in dem Ausgangsbild der Studie zu bleiben – als Anrufung verstehen. Sie bewegten seine Epigonen, gleichfalls zum Stift zu greifen, und präformierten sowohl ihre Wahrnehmungen als auch ihre Schreibweisen. Erst 1950 bricht das Tagebuch ab, ohne dass es zu diesem Zeitpunkt auch seinen Gebrauchswert verlor. Die Randnotizen von Mar’ja Paleva zeigen, dass es auch danach in der Familie gelesen wurde. Paleva hat nicht nur frühere Eintragungen kommentiert, sondern sie versuchte, die verschiedenen Schriften den jewei-
200 Vlasov (Red.), Staroobrjadþeskij centr na Vaške, 21. Die erste wissenschaftliche Beschreibung der Handschriften der Familie findet sich in: Malyšev, Rukopisnye knigi Syktyvkarskogo respublikanskogo muzeja Komi ASSSR, 404, 406-407. 201 Auch das Tagebuch des Bauern Petr Ermakov aus dem Historischen Museum in Serpuchov wurde später zusammengenäht. Darin gibt es keine durchgehende Chronologie. Ermakov, Dnevnik 1880-1937, Serpuchovskij istoriko-chudožestvennyj muzej [keine Signatur].
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ligen Schreibern zuzuordnen. Als Frau schien sie sich jedoch nicht berechtigt gefühlt zu haben, dass Buch der Familie fortzuschreiben. Möglicherweise passte auch in ihren Augen eine Schreiberin nicht zu der patriarchalischen Logik des Texts, in dem der Name des Vaters mit dem Erbe und der Schreibaufgabe verbunden war. Die Eintragungen der vier Schreiber offenbaren einen großen Drang nach Konformität. Dies zeigt sich insbesondere an vier Charakteristika: 1. begrenzte Anzahl an Themen, 2. Gebrauch gleichlautender Formeln, 3. Verzicht auf Bewertungen und 4. weitgehend fehlendes Beharren auf eigener Autorschaft. Diese Merkmale lassen sich bei fast allen Schreibern finden. Das Tagebuch der Familie Matev weist trotz der langen Schreibdauer und der verschiedenen Schreiber wenig Varianz auf.202 Es gibt keinen Beteiligten, der sich in seiner Themenwahl auffallend über die Auswahl des ersten Schreibers, Ivan Matev, hinwegsetzte. Das Tagebuch ist vor allem gefüllt mit Eintragungen, die Haus und Hof betreffen. Den meisten Platz nehmen Wetterbeobachtungen ein. Der erste Eintrag des Jahrs berichtete meist von dem Moment, als im Frühling die Flüsse wieder in Bewegung gerieten und wenige Tage darauf die Aussaat begann. Zudem gaben die Schreiber an, wann und in welcher Entfernung vom Dorf der Kuckuck das erste Mal im Jahr seinen Ruf ertönen ließ. Sie knüpften mit dieser Beobachtung an eine Bauernregel an, die Ivan Matev in seinen Notizen erläuterte: Ein früh im Jahr und in der Nähe des Dorfs rufender Kuckuck sei der Vorbote einer schlechten Ernte.203 Mit diesen drei Ereignissen – Eisgang, Aussaat und Kuckucksruf – setzte im Tagebuch der landwirtschaftliche Zyklus ein. Er stand im Mittelpunkt der Aufzeichnungen. Mit dem Einbringen der Ernte nahmen daher auch die Einträge im Tagebuch ab. Die Wintermonate, vor allem die Monate Januar, Februar und März, sind nur sehr kurz, häufig gar nicht beschrieben. Für die Jahre 1884 bis 1886 nehmen jedoch die Eintragungen stark zu. Ivan Matev gelang es, seine Beobachtungen durch den Kauf eines Thermometers zu präzisieren. Er verzeichnete neben der Tagestemperatur auch die Temperatur in der Nacht. 1885 war es so kalt, dass das wertvolle Instrument in die Hütte geholt wurde: »Am 15. Dezember 1885 gab es einen grausamen Frost, um die 37 Grad. Seit dem Abend bis Mitternacht ist es auf 45 Grad gefallen. Wir haben das Thermometer (gradusnik) in die Hütte geholt, da es nicht mehr aushalten kann […].«204 Nach Ivan Matevs Tod führte sein Sohn Jakov das Tagebuch weiter, der Temperatur- und Wetterbeobachtungen weniger penibel vermerkte.
202 Dem Tagebuch vorangestellt ist die Vita von Nikolaj ýudotvorec und ein mesjaceslov, ein Ritual- und Andachtsbuch, das die Biographien von Heiligen und die Kirchenfeste in kalendarischer Anordnung enthält. Vlasov (Red.), Staroobrjadþeskij centr na Vaške, 87-88. 203 Udorskij dnevnik Rachmanovych-Matevych-Palevych, 173. 204 Udorskij dnevnik Rachmanovych-Matevych-Palevych, 187.
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Das Tagebuch berichtet in erster Linie von Geschehnissen, die die eigene Wirtschaft betreffen. Der Fokus auf Wiederholung und Kontinuität lässt nur wenige politische Ereignisse Eingang in das Tagebuch finden. Von den vier im Tagebuch erwähnten Kriegen – Russisch-Türkischer Krieg, Erster Weltkrieg, Bürgerkrieg und Zweiter Weltkrieg – ist der Russisch-Türkische Krieg am ausführlichsten beschrieben: »1877. Alle Dinge sind verstummt, da der Krieg mit den Türken schon anderthalb Jahre geht, und die Zeit eine höchst unlustige, kummervolle ist.«205 Der Beginn und das Ende des Ersten und Zweiten Weltkriegs werden nur erwähnt: »Der Weltkrieg endete am 9. Mai 1945. Es mangelte an Brot.«206 Ereignisse aus den jeweiligen Kriegsverläufen, die sich nicht in der Lebenswelt der Familie abspielten, finden keinen Eingang in das Tagebuch. Allein ein Scharmützel zwischen Roten und Weißen während des Bürgerkriegs ist genauer geschildert, wahrscheinlich weil es in unmittelbarer Nähe des Wohnorts der Familie geschah. Selbst die Auswirkungen der neuen Politik, über die die Schreiber anderer Tagebücher ausführlich klagten, findet nur beiläufig Erwähnung. Lediglich im Rahmen der landwirtschaftlichen Arbeiten berichtet er, dass in den 1930er Jahren »Zwangsmaßnahmen« wie Wald- und Flößarbeiten »mit Strafen und allerlei Drohungen« durchgesetzt wurden.207 Auffallend ist, dass Frömmigkeit und religiöse Praktiken hier nicht vermerkt wurden, obgleich solche Schilderungen in anderen Tagebüchern häufig anzutreffen sind. Dies erstaunt, da das Tagebuch auch als Verzeichnis der Toten (pomjannik) zur Totensorge diente. Über die Gründe lassen sich nur Vermutungen anstellen: Möglicherweise haben der Fokus auf die Wirtschaft und das Bemühen um Objektivität zum Ausschluss von religiösen Ereignissen und Schreibweisen geführt. Diese These wird besonders durch einen Eintrag von 1876 gestützt. Darin schildert Ivan Matev eine außergewöhnliche Himmelserscheinung: Er habe beobachtet, wie sich verschiedenfarbige Ringe aus Licht um die Sonne gelegt hätten. Der Schreiber benutzte für die Schilderung wissenschaftliches Vokabular und schrieb recht selbstverständlich über »höhere Schichten der Atmosphäre«. Einen göttlichen Ursprung wies Matev dieser Erscheinung nicht zu, obwohl eine religiöse Interpretation für solche Ereignisse üblich war. In zahlreichen bäuerlichen Selbstzeugnissen wurden sie als Zeichen Gottes gedeutet.208 In dem Fehlen religiöser Themen und der Erwähnung Gottes lässt sich, zweitens, auch das Bemühen der Familie erkennen, irdische und sakrale Welt nicht miteinander zu vermengen. Dies ist auch ein Merkmal anderer kollektiver Aufzeich-
205 Udorskij dnevnik Rachmanovych-Matevych-Palevych, 175-176. 206 Udorskij dnevnik Rachmanovych-Matevych-Palevych, 168. 207 Udorskij dnevnik Rachmanovych-Matevych-Palevych, 164. 208 Udorskij dnevnik Rachmanovych-Matevych-Palevych, 174; Karpov, Po volnam žitejskogo morja, 58-59.
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nungen, die in einem altgläubigen Umfeld entstanden sind. So werden in dem zwischen 1916 und 1923 entstandenen Tagebuch einer altgläubigen Gemeinde, die am Fluss Ket’ nördlich von Tomsk lebte, ebenfalls keine religiösen Praktiken erwähnt. Ljudmila Pril’, die dieses Tagebuch publiziert und analysiert hat, deutet die Abstinenz von religiösen Themen als Zeichen der Ehrfurcht vor der göttlichen Schöpfung.209 Vielleicht war die Enthaltsamkeit von religiösen Themen aber auch einer dritten Ursache geschuldet. Einen Hinweis gibt die Art und Weise, wie 1886 über das Begräbnis einer gewissen Antonida gesprochen wird: »Am 16. März gab es überaus warmes Wetter. An diesem Tag haben wir den Körper der entschlafenen Dienerin Gottes Antonida, nun Marfa, beerdigt.«210 Der doppelte Name spricht dafür, so die Vermutung der Herausgeber, dass die Familie Matev einer radikalen altgläubigen Bewegung, dem skrytniþestvo, angehörte.211 Diese Richtung war Ende des 19. Jahrhunderts unter den Altgläubigen entstanden. Besonderer Beliebtheit erfreute sie sich im russischen Norden und in Westsibirien. Die Verborgenen, die skrytniki, lehnten die orthodoxe Staatskirche und die staatliche Macht als das Wirken des Antichrist ab. Sie weigerten sich, vom Staat ausgestellte Dokumente wie zum Beispiel Pässe zu benutzen, und waren bestrebt, nirgendwo ihren wahren Namen oder Geburts- und Wohnort zu nennen. Erst kurz vor ihrem Tod wandten sich die skrytniki dem ›wahren‹ Glauben zu, ließen sich taufen und nahmen einen neuen Namen an.212 Auch in dem von der Familie angelegten Verzeichnis der Toten (pomjannik) sind häufig zwei Namen für eine Person angegeben.213 Eventuell war die Enthaltsamkeit von religiösen Themen auch ein Mittel der Vorsicht. Die Familie scheint unter der Verfolgung als Altgläubige gelitten zu haben. Um den Nachstellungen zu entgehen, hatte sie zu Beginn des 19. Jahrhunderts ihren Namen von Rachmanov zu Matev gewechselt. Solch ein Namenswechsel war bei altgläubigen Familien im russischen Norden nicht ungewöhnlich, er ging meist – wie auch bei der Familie Rachmanov-Matev – mit einem Wohnortwechsel einher.214 Die begrenzte Varianz kulminierte mitunter in Formelhaftigkeit. Es sind vor allem die identischen Wetterformeln, die das Tagebuch als Familiendokument erscheinen lassen. Der erste Schreiber, Ivan Matev, hat diese Formeln eingeführt.
209 Pril’, Aspekty staroobrjadþeskogo dnevnika, 153. Publikation des Tagebuchs: Pril’, »Ostrovnoj letopisec«, 187-222. 210 Udorskij dnevnik Rachmanovych-Matevych-Palevych, 187-188. 211 Vlasov (Red.), Staroobrjadþeskij centr na Vaške, 95. 212 Kolarz, Religion in the Soviet Union, 369; Vlasov (Red.), Staroobrjadþeskij centr na Vaške, 95. Ausführlicher zur Schrifttradition der skrytniki in der Region siehe: Prokuratova, Rukopisnye sborniki, 427. 213 Pomjannik udorskich dereven’. 214 Vlasov (Red.), Staroobrjadþeskij centr na Vaške, 21.
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Seine Einträge funktionierten als Anrufungen, die bestimmten, was die Nachkommen beobachteten und schließlich im Tagebuch vermerkten. Ivan Matev gab nicht nur vor, was beschreibenswert war, sondern auch, wie es beschrieben werden sollte. An diesen lässt sich besonders gut ersehen, dass die Zugehörigkeit zur Familie auch sprachlich hergestellt wurde, indem die Schreiber die syntaktischen und semantischen Wahlmöglichkeiten reduzierten.215 Die häufigsten Formeln waren: »Das Eis hat sich in Bewegung gesetzt, wir haben zu säen begonnen«, »es gab wenig Wasser«, »es war viel Wasser«, »der Kuckuck begann zu rufen« und »Wind aus nördlicher Richtung«.216 Noch in den 1940er Jahren wird der erste Kuckucksruf im Jahr verzeichnet. Die Bauern maßen auch noch nach der Kollektivierung traditionellen Bauernweisheiten Vorhersagekraft zu.217 Das Streben nach Kontinuität und familiärem Zusammenhalt, wie es in dem Gebrauch gleichlautender Sätze erkennbar wird, zeigt sich auch an anderen Schreibformen. So behielt die Familie auch in der Sowjetunion – vor allem für Einträge, die Wetter und Wirtschaft betrafen – den julianischen Kalender bei. Reflektierten die Schreiber über ihre unmittelbare Lebenswelt, blieben sie in der alten und damit für sie ›richtigen‹ Zeit verhaftet. Nur für politische Ereignisse von außen, wie zum Beispiel für den Beginn und das Ende des Zweiten Weltkriegs, benutzten sie den ›neuen‹ gregorianischen Kalender. Diese Geschehnisse erzeugten Gemeinschaft mit Gruppen, die nicht mit der Familie und dem Dorf verbunden waren, sie machten daher auch im Tagebuch den Gebrauch des geltenden Kalenders erforderlich. Die vier Schreiber des Tagebuchs bewerteten das Erlebte nur sehr zurückhaltend. Das Dokument macht den Eindruck, dass sich die vier Schreiber vor allem als Chronisten verstanden, die sich bemühten, die Schreibposition eines objektiven Beobachters einzunehmen. Sie beurteilten selbst Ereignisse wie die Februar- und Oktoberrevolution 1917 nicht: »1917 hat der Herrscher auf den Thron verzichtet. 1917 haben sie das Gesetz geändert, haben sie die Macht dem Volk gegeben, begann das Volk anstelle des Zaren zu regieren [Herv. i.O.].«218 In der Handschrift ist das Wort »Volk« unterstrichen. Dies ist das einzige Anzeichen für ein gewisses Erstaunen, vielleicht aber auch für Zustimmung oder Ablehnung. Für die Familie und ihr Tagebuch blieben jedoch auch nach der Umwälzung Frost und Hunger die eigentlichen Herrscher: »1918, um den 29. Juli, also am 29. Juli bis morgens 7 Uhr war Frost. Das Getreide war grün, es ist erheblich geschädigt worden. Das Getreide blieb äußerst kümmerlich, es begann der Zar-
215 Medick, Sabean, Emotionen, 32. 216 Die gleichbleibenden Wetterformeln werden in dem Vorwort zur Publikation ausführlich untersucht: Vlasov (Red.), Staroobrjadþeskij centr na Vaške, 92-94. 217 Udorskij dnevnik Rachmanovych-Matevych-Palevych, 169. 218 Udorskij dnevnik Rachmanovych-Matevych-Palevych, 191.
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Hunger zu herrschen.«219 Bis auf solche Ausnahmen, die vor allem die Auswirkungen der Witterung auf die Ernte thematisieren, erscheint das Tagebuch als ruhig fließender Text, in dem positive und negative Emotionen nur wenig Platz haben. Kriege und Revolutionen werden erwähnt, ohne dass jedoch die Folgen dargelegt oder eigene Interpretationen und Einschätzungen angeboten werden. Auch der Schreiber, der die 1930er Jahre schilderte, gab nicht an, wie er oder seine Familie über die aufgezwungenen Wald- und Flößarbeiten dachten.220 Er schilderte allein die »Zweifel und die Besorgnis«, die das »falsche Verhalten der örtlichen Macht« bei den Waldarbeitern hervorrief, ohne zu schreiben, ob auch er davon betroffen sei.221 Die Verfasser des Tagebuchs beschrieben die Welt als ›göttliche‹ Schöpfung, die nicht durch Menschen bewertet werden könne. Vor allem Kontinuität und Wiederholung stehen im Mittelpunkt. Unzufriedenheit, Leid, Fremdes und Unerwartetes kommen in dem Tagebuch nur sehr selten vor: So werden auch Menschen, die nicht zur Familie gehören, kaum erwähnt. Es scheint, dass die altgläubige Familie alles Unbekannte und Plötzliche der Welt des Antichrist zuwies, von der sie sich abwandte, indem sie diese Welt nicht oder höchstens in Andeutungen beschrieb.222 Dass an dem Tagebuch verschiedene Autoren mitgewirkt haben, lässt sich am Dokument mit seinen verschiedenen Teilen und Handschriften ersehen. Die Schreiber selbst verbanden ihre Arbeit jedoch nicht mit ihrem individuellen Namen. Nur durch einen Kommentar Mar’ja Palevas, die das Tagebuch in der Sowjetunion bewahrt hat, wissen wir, wer die ersten beiden Schreiber des Tagebuchs waren: »Ivan Malacheeviþ starb im November 1886, sein Sohn Jakov Ivanoviþ führt es weiter.«223 Der einzige Autor, der seinen Namen nennt, ist Vasilij Matev, der die Jahre 1913 bis 1918 beschrieben hat: »[Dies] schrieb Vasilij Matev.«224 Er verwies auf sich, als er vom Tod Michail Ivanoviþs, des Sohns Ivan Matevs, berichtete. Mit dem Verweis auf seine Autorschaft nahm er die Position eines Zeugen ein, der in der Sterbestunde Michails anwesend war: Dessen Bruder Jakov Ivanoviþ habe sich in der Stadt ýebjug aufgehalten, »Aliksej [sic!] und Dmitri[j] waren im Krieg.«225
219 Udorskij dnevnik Rachmanovych-Matevych-Palevych, 191-192. 220 Udorskij dnevnik Rachmanovych-Matevych-Palevych, 165. 221 Udorskij dnevnik Rachmanovych-Matevych-Palevych, 169. 222 Diese Lesart hat Ljudmila Pril’ für ein altgläubiges Tagebuch angeboten, das zwischen 1916 und 1923 innerhalb einer altgläubigen Gemeinschaft entstanden ist: Pril’, Aspekty staroobrjadþeskogo dnevnika, 150-156. 223 Udorskij dnevnik Rachmanovych-Matevych-Palevych, 191. 224 Udorskij dnevnik Rachmanovych-Matevych-Palevych, 191. 225 Udorskij dnevnik Rachmanovych-Matevych-Palevych, 191. Die Herausgeber des Tagebuchs vermuten, dass Dmitrij Jakovleviþ, der Neffe Michail Ivanoviþs, der vierte
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Mit dem weitgehenden Verzicht auf individuelle Autorschaft gelang es der Familie, einen autobiographischen Pakt zu besiegeln: Nicht der Einzelne, sondern die Familie ist Autor, Erzähler und Figur des autobiographischen, genauer gesagt familienbiographischen Texts. Das Tagebuch machte sowohl in seinen Inhalten als auch in seiner Materialität Familie als soziale Ressource anschaulich. Das gemeinsame Tagebuch diente der Familie als identitätsstiftender Erinnerungsort, der Rückbezug und die Verfertigung einer gemeinsamen Vergangenheit erlaubte. Die Kontinuitäten im Text zeigen, dass das Schreiben als gemeinsame Praxis Familie auch über Generationsgrenzen hinweg konstituierte. Alle Mitverfasser unterwarfen sich dem genealogischen Ordnungsprinzip des Texts und damit auch der Autorität des ersten Schreibers. Ohne Zweifel besaß das Weiterschreiben eine legitimatorische Funktion. Das gemeinsame Tagebuch – an dem offensichtlich nicht alle Familienmitglieder mitschreiben durften – war eine familiäre Strategie, das Erbe zu regeln und Verantwortung für die Wirtschaft zu übertragen. Auf diese Weise nahmen die nachfolgenden Schreiber, meist die Söhne, die Position des rechtmäßigen Erben ein und wiesen anderen Familienmitgliedern den Status des Nichterben zu. Damit war das Familientagebuch auch eine Form des Gabentauschs zwischen Lebenden und Toten. Es war Teil einer Jenseitsökonomie, in der materielle, also dingliche und schriftliche Formen des Erbes gegen Erinnerung getauscht wurde.226 Die Väter übergaben mit dem Tagebuch nicht nur ihr Erbe und die Verantwortung für die Wirtschaft, sondern forderten damit ihre Kinder auch auf, sich die Leistungen ihrer Vorfahren zu vergegenwärtigen und vor dem Vergessen zu schützen. Bei den Matevs vereinte das Tagebuch die Toten und Lebenden besonders deutlich zu einer Familie. Sie hat das Tagebuch zur Totensorge genutzt, denn es diente als Vorlage und ›Sicherheitskopie‹ des pomjannik.227 Kollektive Tagebücher als Familienarchive In gewisser Weise erscheinen die Tagebücher der Familien Vitjazev und Matev als verdichtete Familienarchive, in die alles Wichtige und Erinnerungswerte ausgelagert und für zukünftige Generationen verfügbar gehalten werden konnte. Beide Tagebücher sind in Familien entstanden, die auch ein Archiv oder eine Büchersamm-
Schreiber des Tagebuchs war. Er hat wahrscheinlich die Jahre 1920-1931 beschrieben. Vlasov (Red.), Staroobrjadþeskij centr na Vaške, 89. 226 Weigel, Genea-Logik, 64; Oexle, Die Gegenwart der Toten, 25, 29-31. 227 Pomjannik udorskich dereven’.
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lung besaßen.228 Schreiben, Lesen und Überlieferung gehörte in beiden Familien zum Zusammenleben dazu. Sie waren nicht nur schreiberfahren, sondern besaßen auch Orte und Mittel, um die gemeinsamen Dokumente aufzubewahren. Es sind daher gerade diese beiden kollektiven Tagebücher, die im Quellenkorpus dieser Studie den frühesten Schreibbeginn aufweisen. Beide Familien begannen schon in den 1850er Jahren mit dem Schreiben. Das Tagebuch als familiäres Dokument nahm die ganze Familie in die Pflicht, für seine sichere Aufbewahrung Sorge zu tragen. Dagegen hatten es die autobiographischen Texte einzelner Autoren schwerer, diese Wertschätzung innerhalb der Familie zu erreichen. Möglicherweise gingen Texte mit einem ähnlich frühen Schreibbeginn verloren oder gerieten in Vergessenheit, weil sie nicht diese bedeutende Rolle in der familiären Kommunikation einnahmen.229 Aber warum brach das Tagebuch der Matevs in den 1950er Jahren ab? Warum fand es nach vier Generationen keinen Schreiber mehr, der es fortführen konnte und wollte? Anders als für die Tagebücher einzelner Autoren, die, wie im vorherigen Teilkapitel gezeigt, häufig in den 1930er Jahren endeten, lässt sich keine einzelne politische Zäsur ausmachen. Vielleicht waren familiäre Gründe – beispielsweise das Fehlen eines männlichen Nachfolgers – dafür verantwortlich. Vielleicht verweist der Abbruch aber auch auf äußere Ereignisse, die es der Familie erschwerten, ihre Geschichte in der Form eines kollektiven Tagebuchs weiterzuschreiben: Die Zerstörung des traditionellen Bauerntums, Landflucht und Urbanisierung der Provinz führten dazu, dass die gemeinsame Erfahrungswelt zwischen den Generationen des 19. und 20. Jahrhunderts immer kleiner wurde. Gerade sie war es jedoch gewesen, die Kontinuität im Leben und im Schreiben gewährleistet hatte. Das, was Beobachtung und Schreiblust herausgefordert hatte, verlor in der technikgläubigen Sowjetunion an Bedeutung. Möglicherweise empfanden es die Nachkommen der Familien Matev und Vitjazev in Zeiten von Elektrifizierung und Zentralheizung überflüssig, Frost, Tauwetter und den ersten Kuckucksruf im Jahr zu verzeichnen. Das Abbrechen des Tagebuchs ist auch ein Indiz dafür, dass sich die Inhalte des Erinnerungswerten verändert hatten: Sowjetische Feste, Demonstrationen, Schulbildung, aber auch neue Medien, wie zum Beispiel Fotografie, Kino, Radio und Fernsehen, schufen neue Erinnerungsgemeinschaften und boten andere Anlässe und Formen des gemeinsamen Sich-Erinnerns.
228 Grigor’ev, Zapisnaja knižka krest’jan Grigor’evych, IRLI, Pinežskoe sobr. Nr. 623, 19. Jh.; Borovyj, Platežnaja knižka krest’janina Sol’vyþodskogo uezda Vasilija Borovogo, IRLI, Severdvinskoe sobr. Nr. 301, 1870-1955; Bogdanov, Platežnaja knižka krest’janina, IRLI, Pinežskogo sobr. Nr. 742, 1875-1917. 229 Baggerman, Autobiography and Family Memory, 172.
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Es ist aber auch denkbar, dass Familientagebücher ebenfalls von jenen Zusammenhängen abhängig sind, die nach Harald Welzer das kommunikative Gedächtnis konstituieren. Dieses – so Welzer – lebe »von der interaktiven Praxis von Individuen und Gruppen« und sei an »die Existenz der lebendigen Träger und Kommunikatoren von Erfahrungen gebunden«. Es umfasse drei bis vier Generationen und damit etwa achtzig Jahre. Innerhalb dieses Zeitraums sei es möglich, eine Verständigung der Wir-Gruppe darüber herzustellen, was sie für ihre eigene Vergangenheit halte.230 Es ist auffällig, dass die meisten Familientagebücher vor der fünften Generation und an der Schwelle zu ihrem hundertjährigen Jubiläum abbrechen. Das Tagebuch der Familie Matev büßte 1950, nach fast einem Jahrhundert des Schreibens, seinen letzten Autor ein. Trotzdem behielt es bis in die späte Sowjetunion hinein seinen Gebrauchswert. Erst mit dem Tod Mar’ja Palevas hörte das Tagebuch auf, »bewohntes Gedächtnis« zu sein.231 Die Nichte Palevas, die Journalistin A.N. Sivkova, übergab die Schriften der Familie schließlich dem Museum. Sie und ihre Familie benötigten das Tagebuch nicht mehr in seiner Dinghaftigkeit, um ihrem Handeln Orientierung zu geben.232 Das Tagebuch war für sie zur musealisierten Vergangenheit geworden, für die ein Aufbewahrungsplatz außerhalb der Familie geeigneter schien.
4.3 S CHWEIGEN ODER V ERSCHWEIGEN : A UTOBIOGRAPHISCHES S CHREIBEN VON B ÄUERINNEN Bäuerinnen kamen in dieser Studie vor allem als Protagonisten männlicher Lebenserzählungen vor. Als Autorinnen eigener autobiographischer Texte traten sie bisher nicht in Erscheinung. Damit hat sich auch die Bezeichnung ›bäuerlich‹ vor allem auf Männer bezogen; mithin waren fast alle Aussagen über bäuerliche Autobiographik Aussagen über das Schreiben von Männern. Inwieweit die drei Kommunikationsräume Presse und Publizistik, Autobiographieprojekte und Familienkreis auch Frauen offen standen, ist noch nicht problematisiert worden. Während bäuerliche Tagebücher und Autobiographien ohnehin als übersehene, mitunter auch als verborgene und verschlossene Texte galten, so scheinen Bäuerinnen überhaupt nicht autobiographisch geschrieben zu haben. Doch lassen sich die Leerstellen des Archivs so einfach als originäres Schweigen lesen? Dieses Unterkapitel ergänzt Studien zum autobiographischen Schreiben von Frauen im Zarenreich und der Sowjetunion, die seit den 1990er Jahren vermehrt
230 Welzer, Lenz, Opa in Europa, 14. 231 Assmann, Funktionsgedächtnis, 182. 232 Vlasov (Red.), Staroobrjadþeskij centr na Vaške, 21.
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entstanden sind. Häufig von dem Verweis begleitet, nicht über Quellen aus den unteren Schichten zu verfügen, hat sich das wissenschaftliche Interesse vor allem auf die Autobiographik von Frauen aus den Besitz- und Bildungseliten gerichtet.233 Dabei konzentrieren sich Russlandhistoriker und Literaturwissenschaftler auf die Differenzen zwischen dem autobiographischen Schreiben von Männern und Frauen. Einige Arbeiten suchen in den autobiographischen Texten nach spezifisch weiblichen Erfahrungen. Autoren, die die Referentialität von autobiographischen Texten kritisch bewerten, stellen hingegen deren Textualität in den Mittelpunkt. Die Artikulation ihres Selbst – so eine der geläufigsten Aussagen – unterscheide sich stark. Während Männer kaum über ihre Familien schrieben, fehle in den Texten der Frauen Elemente der Berufsbiographie.234 In den meisten Fällen werden solche Unterschiede sozialhistorisch erklärt. Nicht durchgesetzt haben sich Ansätze, die eine essentialistische Differenz zwischen dem Schreiben von Männern und Frauen proklamieren und nach einer spezifischen écriture féminine fahnden.235 Meine Ausführungen über das autobiographische Schreiben von Bäuerinnen verstehe ich als Versuch, diese geschichts- und literaturwissenschaftlichen Ansätze zum autobiographischen Schreiben von Frauen zu erweitern. Dabei soll der bisherige Fokus von geschlechtsspezifischen Schreibweisen auf geschlechtsspezifische Überlieferung verschoben werden. Zu wenig wird berücksichtigt, dass die Unterschiede im Schreiben von Männern und Frauen auch Folgen von Sammlung und Archivierung sein können. Hier setzt dieses Unterkapitel an. Es soll ein Plädoyer dafür sein, das vermeintliche Fehlen autobiographischer Texte von Bäuerinnen nicht allein als Indiz eines ursprünglichen Schweigens zu lesen. Stattdessen möchte ich dazu anregen, mehr als bisher Sammlungs- und Archivierungspraktiken auf ihre Möglichkeit zu befragen, Autobiographik von Bäuerinnen zu bewahren und vor allem auch auffindbar zu machen. Archivierungs- und Sammlungspraktiken sind in
233 Beispiele für neuere Forschungen zum autobiographischem Schreiben: Savkina, »Pišu sebja...«; Liljestrom, Rosenholm, Savkina (Hrsg.), Models of the Self; Clyman, Vowles (Hrsg.), Russia through Women’s Eyes; Heldt, Women’s Autobiography, 67; Fitzpatrick, Lives and Times, 3-17; Stephan, Von der Küche; Gebauer, Mensch sein. 234 Savkina, »Pišu sebja...«; Heldt, Women’s Autobiography, 67; Kritisch: Fitzpatrick, Lives and Times, 3. 235 Solche Thesen hat beispielsweise Natal’ja Puškareva vertreten: »Weibliche Schrift ist im Vergleich zur männlichen Variante dynamischer und weniger analytisch.« Sehr kritisch hingegen beurteilen Clyman und Vowles in der Einleitung zu einem Sammelband über weibliche Autobiographik essentialistische Sichtweisen auf das Schreiben von Frauen. Puškareva, Wege zur »weiblichen Schrift« in Russland, 471; Clyman, Vowles (Hrsg.), Russia through Women’s Eyes, 5-6.
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der Geschichte männlicher und weiblicher Selbstbeschreibung ein Aspekt, der wenig berücksichtigt worden ist.236 Das Archiv, das zeigen die verschiedenen Überlieferungsbedingungen von Männern und Frauen, ist der blinde Fleck der Autobiographietheorie und damit auch aller Überlegungen zu genderspezifischen Schreibformen. Statt vorschnell fehlende Texte als ungeschriebene Texte zu deklarieren, wird hier gezeigt, dass es für Bäuerinnen schwerer war, Aufmerksamkeit für ihre Schreibarbeiten zu erlangen. Ihre fehlende Repräsentation in Archiven und Sammlungen ist auch Folge fehlender Anerkennung. Dies behindert die Wahrnehmung ihres Schreibens bis heute. Bisher legte die Forschung ihr Augenmerk zu sehr auf Biographiehemmnisse und vernachlässigte dabei Schreibanlässe und Überlieferungshindernisse. Dass Überlieferungschancen sozial bedingt sind, haben Historiker immer wieder betont.237 Andere Faktoren wie regionale Herkunft, Religion oder Geschlecht wurden bisher zu wenig bedacht. Dabei zeigen die wenigen vorhandenen autobiographischen Texte von Bäuerinnen, wie Frauen der Eintritt in eine Sammlung gelang: durch die Hintertür und unter fremdem Namen. Bäuerinnen glückte die Überlieferung ihres Lebenswegs häufig nur im oder am männlich autorisierten Text sowie in Form einer kooperativ verfassten Autobiographie. Hundertfach überlieferten autobiographischen Texten von Bauern stehen kaum ein Dutzend von weiblicher Hand gegenüber.238 Einem Aufsatz von Monika Mommertz folgend wird in diesem Teil die Kategorie ›Geschlecht‹ als tracer benutzt. Mit dem Begriff tracer werden in den Naturwissenschaften »eine Substanz oder Markierung bezeichnet, aus deren Reaktionen auf eine vorgegebene Untersuchungsumgebung neue Erkenntnisse gewonnen werden«.239 Auch im Kontext bäuerlicher Autobiographik lässt sich die Kategorie ›Geschlecht‹ als ›Spurensucherin‹ einsetzen, durch die die Bedingungen autobiographischen Schreibens und Überlieferns sichtbar werden. Anstatt den Blick darauf zu richten, welche spezifisch weiblichen und männlichen Erfahrungen sich in autobiographischen Texten niederschlagen, wird untersucht, wie die Kategorie Geschlecht auf das Schreiben, Sammeln und Überliefern autobiographischer Texte zurückwirkte. Der Blick auf ungleich verteilte Überlieferungschancen von Männern und Frauen macht auch die unterschiedlichen, zeitbezogenen Bedingungen für autobiographisches Schreiben greifbar. Er zeigt, wie durch Aufbewahrung und Überlieferung
236 Häufig wird sich auf geschlechtsspezifische Publikationsbedingungen beschränkt: Clyman, Autobiographien von Frauen, 112. 237 Z.B. Esch, Überlieferungs-Chance, 540, 547. 238 Erste Überlegungen zu den Überlieferungsbedingungen autobiographischer Texte von Bäuerinnen habe ich in einem Aufsatz für die Zeitschrift L’Homme entwickelt: Herzberg, Russische Trojaner. 239 Mommertz, Geschlecht als »tracer«, 21.
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Hierarchisierungen zwischen den Geschlechtern gefestigt, aber auch gelöst und durchbrochen werden konnten. Der Fokus auf Überlieferungshindernisse soll nicht verleugnen, dass Bäuerinnen seltener als Bauern (autobiographisch) geschrieben haben. Dafür gab es drei Gründe: Erstens waren Lese- und Schriftkenntnisse unter der weiblichen Landbevölkerung weniger verbreitet als bei Männern. Während die Bauern bei ihren Söhnen häufiger auf Schreib- und Lesefähigkeit Wert legten, schickten sie ihre Töchter nur selten in die Schule oder in den Unterricht eines schriftkundigen Geistlichen oder Dorfbewohners.240 Zudem fehlte Frauen die Möglichkeit, während des Armeediensts lesen und schreiben zu lernen. Wie die zahlreichen Kriegstagebücher zeigen, war der Armeedienst ein wichtiger Lernort und Biographiegenerator.241 Die eingeschränkten Lernmöglichkeiten für Bauernmädchen erklären, warum zum Zeitpunkt der Volkszählung 1897 die Schreib- und Lesefähigkeit von Frauen gegenüber der von Männern stark abfiel. So konnten zum Beispiel im Gouvernement Vologda, aus dem einige Bauerntagebücher überliefert sind, von den ca. 17 Prozent Lesefähigen in der Landbevölkerung lediglich ca. fünf Prozent der Frauen lesen. Hingegen gaben sich schon ca. 31 Prozent der Männer dem Lesevergnügen hin. Der Grad der Lesefähigkeit nahm unter der weiblichen Bevölkerung erst nach der Revolution deutlich zu, wie eine weitere Volkszählung aus dem Jahr 1920 verdeutlicht. Von den sechzehn- bis siebzehnjährigen Jugendlichen im Gouvernement Vologda, die vor 1917 eine Schulbildung erhalten hatten, konnten 1920 schon fast 70 Prozent lesen. Doch auch noch zu diesem Zeitpunkt lag die Lesefähigkeit der Mädchen mit ca. 57 Prozent deutlich hinter der Literazität von Jungen (ca. 84 Prozent) zurück.242 Für das Fehlen ›weiblicher‹ Tagebücher und Autobiographien lässt sich, zweitens, die höhere Arbeitsbelastung der Bäuerinnen verantwortlich machen. Während die Männer nach der Feldarbeit etwas Zeit hatten, um mit dem Nachbarn zu plauschen, einen Schnaps zu trinken oder eben auch Tagebuch zu führen, mussten sich Bäuerinnen um Haus, Hof und Kinder kümmern. Sie profitierten in geringerem Maß vom Wechsel der Jahreszeiten, der ihren Männern nach Einbringen der Ernte Freiräume bot. Bäuerinnen stand insgesamt weniger Zeit zur Verfügung, die sie für das Schreiben nutzen konnten. Drittens gab es für Bäuerinnen im vorrevolutionären Russland weniger auslösende Momente für das eigene Schreiben. Sie konnten seltener eine erhöhte soziale oder regionale Mobilität vorweisen. Lebensumstände, die
240 Brooks, When Russia Learned to Read, 45. 241 Brooks, When Russia Learned to Read, 22. Das Konzept des Biographiegenerators hat Alois Hahn entwickelt. Er bezeichnet damit Institutionen, Erfahrungen und Diskurse, die die Selbsterforschung intensivieren: Hahn, Biographie und Lebenslauf, 115. 242 VII. Vologodskaja gubernija. Tedrad’ 2, 34; Vajrovskaja, Vvedenie vseobšþego naþal’nogo obuþenija v naþale XX veka, 79.
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die Bauern zur Feder greifen ließen – wie zum Beispiel die Erfahrung des Kriegsdiensts, Reisen oder der Wegzug in die Städte als Wanderarbeiter – kamen für Frauen nicht in Frage oder traten nur gelegentlich auf. Zudem konnten Bäuerinnen nur vereinzelt eine besondere Beziehung zum Schreiben ausbilden, wie sie jene Tagebuchschreiber besaßen, die in der örtlichen Verwaltung ein Amt als Schreiber, Kassenwart oder Dorfältester innehatten. Überdies war es für Frauen schwieriger, jedenfalls solange Väter, Ehemänner und Söhne noch lebten, ein Verständnis als Haus- und Hofherr zu entwickeln, der als Familienoberhaupt die Verantwortung für das wirtschaftliche Wohlergehen der Familie trug. Nur selten erklang eine an Bäuerinnen gerichtete Aufforderung, um noch einmal das Ausgangsbild der Studie zu benutzen, mit einem autobiographischen Text: »Hier bin ich!« zu rufen. Lesende Bäuerinnen fanden in der Presse und Publizistik selten Vorbilder und Biographiemuster für das eigene Schreiben. Frauen hatten es – wie auch in Westeuropa – schwerer, Anlässe zu finden, um über ihr Leben zu sprechen. Sie bedurften anderer Rechtfertigungsstrategien als Männer, um Papier zu beschreiben, das in vielen bäuerlichen Haushalten rar war. Anders als ihre Väter, Männer und Söhne wurden sie selten direkt aufgefordert, über sich und ihre Lebenswege nachzudenken und Auskunft zu geben.243 Nicht nur die Aufstiegsgeschichten, die unter Samuel Smiles’ Namen im Zarenreich veröffentlicht wurden, waren Lebenswege von Männern, in denen männlich konnotierte Eigenschaften wie Mut und Charakterstärke eine zentrale Rolle spielten. Autobiographien von leibeigenen Frauen oder in den Schoß der Kirche zurückgekehrten, vormals ›verlorenen Töchtern‹ gelangten nur selten in Presse und Publizistik hinein.244 Es gab nur wenig Dichterinnen und Schriftstellerinnen, die Bäuerinnen als Vorbild dienen und in ihnen den Wunsch wecken konnten, selbst Gedichte, Erzählungen und Autobiographien zu schaffen.245 Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts, mit dem Aufkommen der ›Frauenfrage‹, erschienen autobiographische Texte von Zarinnen, Ärztinnen, Revolutionärinnen und Schauspielerinnen.246 Die in ihnen beschriebenen Lebensund Erfahrungswelten waren jedoch weit vom Alltag der Bäuerinnen entfernt. Auch Bonþ-Brueviþ, Rubakin und Jacimirskij sprachen mit ihren Schreibaufrufen und Musterbiographien vor allem Männer an. In den von mir gesichteten Nachlässen Rubakins und Jacimirskijs gibt es keine Texte, in denen Bäuerinnen ihr Leben erzählen. Die Autobiographiegemeinschaften, die Rubakin und Jacimirskij auch da-
243 Zur Situation in Westeuropa siehe: Holdenried, Autobiographie, 66. 244 [Drobinin], Razskaz Marfy Gordeevny ýegodaevoj, 274-276. Igumenšþeva, Rasskaz byvšej raskol’nicy, 526-531. 245 Kelly, A History, 1-2. 246 Clyman, Autobiographien von Frauen, 117; Clyman, Vowles (Hrsg.), Russia through Women’s Eyes, 27.
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durch begründeten, dass sie ihre Korrespondenten ermutigten, einander zu schreiben, waren männlich geprägt. Die wenigen Briefpartnerinnen, die Rubakin seinen bäuerlichen Korrespondenten vorschlug, waren keine Bäuerinnen. Die Korrespondentin Anna Knjaževa, die Rubakin dem Bauern Zin’kovskij als Briefpartnerin empfahl, war beispielsweise eine in der Stadt lebende Lehrerin.247 Doch trotz dieser Biographiehemmnisse gibt es eine nicht zu verleugnende Diskrepanz zwischen den zahlreichen Hinweisen auf weibliches (autobiographisches) Schreiben und dem Mangel an Quellen. Auch Bäuerinnen schrieben. Dies zeigen nicht nur der von Olga Yokoyama im Jahr 2008 veröffentlichte Briefwechsel einer bäuerlichen Familie aus dem Gouvernement Vjatka, sondern auch die zahlreichen, mitunter nur beiläufig gegebenen Hinweise auf schreibende Bäuerinnen.248 So diktierte zum Beispiel der fast erblindete ›Bauernpoet‹ und Ethnograph Savva Derunov seiner Tochter seine Lebenserinnerungen. Die Memoiren des Vaters sind überliefert. Sie erschienen 1897 in der Zeitschrift Rodnaja Reþ’. Nicht bekannt ist, ob auch die Tochter ihr Leben in einer Autobiographie oder einem Tagebuch festgehalten hat.249 Autobiographisches Schreiben als Kooperation Die wenigen autobiographischen Erzählungen von Bäuerinnen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Eingang in Zeitschriften fanden, weisen fast alle eine Gemeinsamkeit auf. Gleichgültig, ob die autobiographischen Texte vom ›wahren‹ Glauben oder den Schrecken der Leibeigenschaft zeugten, fast immer fanden sie nur vermittelt durch Männermund und fremde Hand ihren Weg in die Journale.250 Anders als bei den Bauern, die mit ihrem Namen oder Pseudonym für den gesamten Text standen und damit einen autobiographischen Pakt anboten, wurden bei den Texten der Bäuerinnen häufiger Kooperation und Co-Autorschaften angezeigt.251 Mit Authentizitätsmerkmalen im Paratext, wie zum Beispiel dem Hinweis auf die enge Beziehung zwischen Schreiber und Erzählerin im Vorwort sowie genauen
247 Rubakin; Betman, Pis’ma k Zin’kovskomu, V.M., RGB f. 358 172.37, l. 4. 248 Yokoyama, Russian Peasant Letters. 249 Russkie krest’jane. Tom 2: Jaroslavskaja gubernija. ýast’ 2, 546-547; Derunov (Vostrodorodov), Žizn’ odnogo Jaroslavca, IRLI RO f. 193 d. 108, 1897-1898; Derunov, Žizn’ odnogo jaroslavca. 250 Eine Ausnahme ist die Autobiographie der Leibeigenen Nikulina-Kosickaja, die in den 1850er Jahren eine berühmte Schauspielerin war. Sie betonte, dass sie erst nach Aufforderung eines Freunds mit dem Schreiben ihrer Autobiographie begonnen habe. Nikulina-Kositskaia, Notes, 109-157; Nikulina-Kosickaja, Zapiski L.P. Nikulinoj-Kosickoj. 251 Lejeune, Der autobiographische Pakt.
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Orts- und Zeitangaben, wurde kaschiert, dass es sich dabei um Geschichten aus zweiter Hand handelte. Die Mehrzahl autobiographischer Texte von leibeigenen Frauen und Bäuerinnen erweisen sich als Kentaur aus Biographie und Autobiographie. Sie ähneln damit jenen Schreibformen, die in den postcolonial studies als kooperative oder kollaborative Autobiographie bezeichnet werden.252 Kooperativ wird sie genannt, weil die Autobiographin zwar aus eigenem Mund spricht, doch die Hand eines anderen benötigt, um ihre Geschichte festzuhalten. Kritisch werden sie deshalb auch als kollaborative Autobiographien betitelt. Zwischen der Erzählerin, dem Aufzeichner oder der Aufzeichnerin liege eine Machtdifferenz, die sie anfällig für Vereinnahmung und Verfälschung mache.253 Neben ihrer Zahl sticht die große zeitliche Kontinuität dieser Schreibform ins Auge. Kooperative Autobiographien waren im ausgehenden Zarenreich ebenso gebräuchlich wie in der frühen und späten Sowjetunion.254 Noch heute basiert die Mehrzahl der weiblichen Lebenswege aus ländlichen Milieus, die sich im Volksarchiv oder in den Archiven der Nichtregierungsorganisation Memorial befinden, auf Interviews und Befragungen.255 Wie weit die Gründe hierfür allein in einer schwächeren Alphabetisierung liegen, ist schwer abzuwägen. Die Folgen jedoch sind offensichtlich: Die Texte belassen den Bereich der Schriftlichkeit in den Händen der Bildungseliten, vor allem in denen von Männern. Der kooperativ verfassten Autobiographien in Vorworten und Epilogen beigemessene Wert resultiert vor allem aus ihrer als ›authentisch‹ gelesenen Zeugenschaft
252 Meyer, Post/koloniale kooperative Auto/biographie. 253 Couser, Making, Taking, and Faking Lives. 254 Außergewöhnlich sind die Lebenserinnerungen, die die Bäuerin Julija Antonovna Šeljuto ihrem Sohn diktierte. Die aus der Nähe von Gomel’ stammende Bäuerin litt zehn Jahre lang an »Schluckauf« (ikota), der sie nichts essen ließ. Ikota stellte eine Art des klikušestvo dar, bei denen Frauen ein Schadenszauber (porþa) befiel. So besaß Julja Šeljuto magische Fähigkeiten, konnte hellsehen und borgte ihre Stimme Dämonen, die aus ihrem Mund sprachen. Moroz, »A ešþe ona strašno bojalas’ paukov i ljagušek ...«. Zur ikota siehe: Worobec, Possessed, 32-33. Die Musikwissenschaftlerin Razumovskaja hat zusammen mit ihren Studenten in den 1970er und 1980er Jahren Lieder und Lebensgeschichten von Bauern aufgezeichnet: Bazeleva, Dorozhinskaia, Kislova, Stepanova, Peasant Narratives, 241-242, 322-323; Razumovskaja, 60 let kolchoznoj žizni; Razumovskaja, Rasskazy krest’jan. Auch die Lebensgeschichten von Frauen, die Ilizarov veröffentlicht hat, sind wie die biographischen Texte der Kolchosbäuerinnen Vasjunkina und Dunaeva kooperativ verfasst: Ilizarov (Hrsg.), Ženskaja sud’ba; Vasjunkina, Žizn’ kolchoznicy; Dunaeva, Rasskazy krepostnoj. 255 Sowohl im Volksarchiv als auch im Wirtschaftsarchiv überwiegen männliche Autobiographien. Schattenberg, Auf der Suche nach der Erfahrung, 160.
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für religiösen Dissens oder Zugehörigkeit zur orthodoxen Kirche, für die Leibeigenschaft, später dann für die Schrecken der Kollektivierung. Die seit den 1880er Jahren erscheinenden kollaborativ verfassten Autobiographien im Bratskoe Slovo, in den Eparchialnachrichten und auch in den Publikationen Bonþ-Brueviþs zeigen, dass die Stimme der Frauen wichtiger wurde.256 Gerade ihre mehrfach marginalisierte Position machte ihre Lebensgeschichte als (Glaubens-)zeugnis wertvoll. Die Zugehörigkeit zu einer religiösen Gruppe ermöglichte Bäuerinnen die Archivierung ihrer Lebensgeschichte und den Gang in eine größere Öffentlichkeit.257 Insbesondere die Deutung des eigenen Lebens als Martyrium war für Bäuerinnen eine Möglichkeit, begrenzte Handlungsmöglichkeiten aufzuwerten und »Passivität als Passion« zu deuten.258 Am Anfang des 20. Jahrhunderts ging die Vorstellung verloren, ein vollständiges Gegenarchiv unter Ausschluss von Frauen anlegen zu können. So nutzte zum Beispiel BonþBrueviþ 1910 die Lebensgeschichte der Altgläubigen Marfa ýegodaeva, um zum Schreiben und zum Sammeln anzuregen. »Noch ist es nicht zu spät«, Angaben über die Altgläubigen, ihren Alltag und ihre Verfolgung zu sammeln.259 Dabei zeigt die Erzählung ýegodaevas, dass für Frauen mit dem Erzählen der eigenen Lebensgeschichte nicht immer die Darlegung eigener Entscheidungen verbunden war. Die Altgläubige aus dem Gouvernement Perm’ konnte zwar, vermittelt durch die Hand des ›Sektenforschers‹ Kirill Drobinin, über ihr Leben als Geschichte religiöser Verfol-
256 Eine der frühesten Lebensgeschichten einer Bäuerin, die 1874 im Druck erschien, berichtet vom Leben und Sterben der Greisin Pelageja Veršinina, die sich durch Alkoholabstinenz, Reinlichkeit sowie durch regelmäßigen Kirchgang auszeichnet habe. Als Nekrolog betitelt, erhebt diese Lebensgeschichte nicht den Anspruch, Autobiographie zu sein. Der Dorfgeistliche Il’minskij stellte anhand ihrer Lebensgeschichte einen guten Tod als Lohn einer mustergültigen Imitatio Christi in Aussicht. Die Gläubige sei nach dem Empfang des Abendmahls bei vollem Bewusstsein mit 113 Jahren gestorben. Il’minskij, Nekrolog. Weitere kollaborativ verfasste autobiographische Texte von Bäuerinnen, in denen ihr Leben als das Leben von Christinnen thematisiert wird: [Drobinin], Razskaz Marfy Gordeevny ýegodaevoj; Igumenšþeva, Rasskaz byvšej raskol’nicy. 257 Diese Entwicklung findet sich auch in Westeuropa, wo autobiographische Texte von Frauen seit dem 17. Jahrhundert überliefert sind. Diese Texte sind – wie Eva Kormann in ihrer Studie herausgearbeitet hat – meist im Kontext protestantischer Erweckungsbeweckungen oder katholischer Klöster entstanden, gesammelt und überliefert worden. Kormann, Ich, Welt und Gott. 258 Schon im 18. Jahrhundert ist das Martyrium ein attraktiver Ichentwurf gewesen, durch den mangelnde Handlungsmöglichkeiten als Leiden und Dulden um des Glaubens willen gedeutet werden konnte. Schmid, Ichentwürfe, 372. 259 [Drobinin], Razskaz Marfy Gordeevny ýegodaevoj, 276, Fn. 194.
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gung berichten. Die Entscheidung für das ›Martyrium‹ aber traf ihr Vater, der sich weigerte, seine Kinder orthodox taufen zu lassen.260 In den meist zu den Jubiläen der Bauernbefreiung publizierten Memoiren von leibeigenen Frauen wurden vor allem zwei Dinge verhandelt: der Wert der Freiheit und der Gegensatz zwischen oben und unten. Die Bäuerin Chrušþova, deren Autobiographie von der Tochter ihrer langjährigen Herrin aufgezeichnet wurde, vermochte mit der neuen Freiheit nichts anzufangen. Für sie wog das Vertrauen und die Sicherheit, die sie als Kinderfrau bei ihrer Gutsherrin genoss, mehr als die Möglichkeit, im Alter von 65 Jahren einen Neubeginn zu wagen: »Ich habe, wie ihr wisst, schon fast 40 Jahre vor diesem Tag freiwillig auf die Freiheit verzichtet, aus Liebe zu meiner Herrin und ihren Kindern, und am Tag der Befreiung war ich schon gebrechlich und nicht mehr geeignet für ein freies Leben.«261 Die Kluft zwischen den Herrschaften und der Leibeigenen – so der Tenor der gemeinsam verfassten Autobiographie – sei gering, die Verbundenheit hingegen groß. Nachdem der frühere Herr Chrušþova am Kartentisch verspielt hatte, vermochte sie sich im neuen Haus eine Vertrauensstellung zu erarbeiten. Herrin und Leibeigene wurden einander kulturell ebenbürtig, die sozialen Unterschiede verwischten. Man las und weinte zusammen. Die Publizisten in der frühen Sowjetunion beharrten dagegen auf einem unüberwindbaren Klassengegensatz. Genosse Šulc, der 70 Jahre nach der Aufhebung der Leibeigenschaft die Lebensgeschichte der Bäuerin Dunaeva aufzeichnete, kritisierte ihre fehlende Freude über die Aufhebung der Leibeigenschaft und die mangelnde Klassenkampfrhetorik.262 Angemessener erschien dagegen die 1931 publizierte Lebenserinnerung der ›gottlosen‹ Kolchosbäuerin Vasjunkina, die wenig Raum für Ambivalenzen lässt: Die Gutsherrin ist sadistisch, der Pope säuft, die Bauern arbeiten hart. Die Ethnographin Rachil’ Lipec, die die Lebensgeschichte Vasjunkinas zu Beginn der 1930er Jahre bei einer Reise über die Dörfer aufgezeichnet hatte, äußerte im Vorwort ihre Hoffnung, dass Bäuerinnen in Kürze keine Schreibunterstützung mehr benötigten: »Die Zeit ist nicht mehr fern, da werden auch bäuerliche Schriftstellerinnen (krest’janki-pisatel’nicy) solche Bücher schreiben.«263 Dass es vor allem in altgläubigen Familien Bäuerinnen gab, die schon vor 1917 (autobiographisch) geschrieben hatten, erwähnte Lipec nicht. Die Alphabetisierung blieb bei ihr das alleinige Verdienst des neuen Staats.
260 [Drobinin], Razskaz Marfy Gordeevny ýegodaevoj, 275. 261 Chrušþova, Vospominanija krepostnoj, 542. Zuletzt veröffentlicht in: Košelev (Hrsg.), Vospominanija russkich krest’jan, 94-107; Wendland, Leben und gelebt werden. 262 Dunaeva, Rasskazy krepostnoj, 109. 263 Vasjunkina, Žizn’ kolchoznicy, 9-10.
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In der Sowjetunion traten die Bäuerinnen als Augenzeugen und Stimmen von ›ganz weit unten‹, die angeblich erstmals zu vernehmen seien, an die Stelle, die im ausgehenden Zarenreich die Bauern eingenommen hatten. An diese Imaginationen knüpfte in den 1920er Jahren auch die Krest’janskaja Gazeta an. Ihre Herausgeber und Redakteure bemühten sich offensiv um autobiographische Texte von Bäuerinnen. Mit ihnen ließ sich die offizielle Erinnerungsversion von der dunklen Zarenzeit und dem lichten Leben nach der Oktoberrevolution besonders eindrucksvoll belegen. Im Bestand der Krest’janskaja Gazeta im Wirtschaftsarchiv befinden sich hunderte Autobiographien von Bäuerinnen.264 Eingefordert und als Beleg für die offizielle Erinnerungsversion auch aufbewahrt, gelang in der Sowjetunion Bäuerinnen die Überlieferung ihrer Lebensgeschichte. Diese Autobiographien schrieben die Bäuerinnen nun mit eigener Hand. Auch in Tagebüchern findet sich die durch Männerhand vermittelte Stimme von Frauen. Auf eine einzigartige Weise wird sie in dem Tagebuch des Bauern Grigorij Sitnikov hörbar, der im russischen Norden, im Dorf Verchnie Berezniki am Fluss Mezen’ lebte. Sitnikovs Tagebuch ist für die Jahre 1893 bis 1909 überliefert. Es enthält vor allem Traumaufzeichnungen, nicht immer folgt es dem Gang des Kalenders. Darin sind auch längere rückblickende Passagen eingefügt, in denen er seinen religiösen Lebensweg erzählte. Als Grigorij Sitnikov jung war, habe er nicht heiraten wollen. Seine Eltern hatten während einer Krankheit versprochen, ihn für ein Jahr in das Kloster Solovki zu geben. Dieses Versprechen wollte er erfüllen. Gegen seinen Wunsch vermählten ihn seine Eltern aber mit dem Bauernmädchen Evdokija Pavlovna, erst später konnte er das elterliche Gelübde erfüllen.265 Während Sitnikov zu Beginn seiner Aufzeichnungen vor allem seine eigenen religiösen Träume und Visionen beschrieb, räumte er ab 1894 auch seiner Frau Evdokija Platz im Tagebuch ein. Auch sie konnte in dem Schreibheft – sogar in der ersten Person – ihre religiösen Erfahrungen, Träume und Visionen schildern, obgleich sie nicht eigenhändig schrieb, sondern weiterhin Grigorij Sitnikov den Stift führte: »[…] dann bin ich aufgewacht, ich evdokija [sic!] habe solch einen Traum gehabt.«266 Immer häufiger wurde Grigorij Sitnikov zum Chronist von Visionen; bald lieh er seine Hand nicht mehr nur seiner Frau. Er vermerkte, wie sein Bruder Afanasij nachts bei ihm vorbeikam und die ganze Familie weckte: Er sei im Traum in eine neu erbaute Kirche gegangen, wo er Verstorbene getroffen habe. Als er nach
264 Siehe die Briefe von Bäuerinnen: Pis’ma krest’janok v redakciju, RGAƠ f. 396 op. 1 d. 5; op. 2 d. 29; op. 2 d. 30; op. 2 d. 31; op. 2 d. 32; op. 2 d. 33. Bsp. Ežkutova, Aftobiografija, f. 396 op. 4 d. 127, l. 13, o.J.; Dubrovina, Avtobiografija, f. 396 op. 2 d. 33, l. 729, 1924; Skornjakova, Kak ja stala komunistkoj, f. 396 op. 2 d. 33, l. 351, 1924. 265 Sitnikov, Zapiski, IRLI, Mezenskoe sobr. Nr. 151, 1893-1909, l. 17ob-18. 266 Sitnikov, Zapiski, IRLI, Mezenskoe sobr. Nr. 151, 1893-1909, l. 8.
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oben schaute, habe er neben der Ikone des Erlösers auch seinen Bruder Grigorij entdeckt, der auf einem Brett sitzend Gebete las. Die Ikone des Erlösers habe wie ein lebendiger Mensch ausgesehen. Er sei ebenfalls nach oben gestiegen und habe begonnen, zu beten.267 Auch die Vision des Mädchens Marija Efimnova Sitnikova fand Eingang in Sitnikovs Notizen.268 Das Tagebuch konstituierte Familie und Bekanntenkreis als lokale Glaubensgemeinschaft. Fast alle Visionen, die die Familie als Gottesgaben erfuhr, sind mit dem Ortsheiligen Iov Ušþel’skij verbunden. Durch die erfahrenen Wunder und Visionen legitimierten sie ihre Anstrengungen, erneut ein Kloster für den Märtyrer zu errichten. Der Mönch Iov aus dem Kloster Solovki hatte Anfang des 17. Jahrhunderts in Ušþel’, ganz in der Nähe von Sitnikovs Wohnort, eine Glaubensgemeinschaft begründet. Als seine Mitbrüder am 5. August 1628 das Heu einbrachten, überfielen Räuber das Kloster und enthaupteten den allein zurückgebliebenen Iov. 1739, 111 Jahre nach seinem Tod, wurde Iov heilig gesprochen, denn seine Gebeine waren nicht verwest. Nach seinem Tod soll Iov zahlreiche Wunder gewirkt haben, in die sich auch Sitnikov mit seiner Familie einschrieb. Die Bemühungen Sitnikovs, seiner Familie und Nachbarn waren erfolgreich. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde das zerstörte Kloster erneut eröffnet.269 Im weiteren Verlauf wird Sitnikovs Tagebuch zur Chronik religiöser Versprechen und ihrer wohltätigen Folgen. Sitnikov erkannte in den Träumen und Visionen Handlungsanweisungen. Auch Evdokija deutete eines ihrer Traumgesichte als Aufforderung, ein vor dem Heiligen gegebenes Versprechen zu erfüllen. Sie eilte in die Kirche, um dort einen Gottesdienst für Iov zu verrichten. Evdokija litt an starkem Kopfweh.270 Nachdem sie an der Messe für den Heiligen teilgenommen hatte, wich der Schmerz. Auch die ›Wunder‹, die anderen Bäuerinnen widerfuhren, fanden Eingang in die Aufzeichnungen: Vieh ging verloren und kehrte erst zurück, als die Bäuerinnen Kerzen gestiftet oder einen Bittgottesdienst verrichtet hatten.271 Sitnikovs Tagebuch bot den Frauen eine Möglichkeit, sich in das Heilsgeschehen einzuschreiben. Ihm und seiner Frau Evdokija gelang es durch das gemeinsame Tagebuch, innerfamiliäre Bindungen zu stärken. Die einst erzwungene Heirat bekam durch die Visionen einen religiösen Sinn. Besonders deutlich wird diese Art der Sinngebung an einem Traum, den Evdokija ihrem Mann diktierte. In diesem Traum ist Grigorij – wie im Traum seines Bruders – die zentrale Person. Er widersetzt sich der Aufforderung einer alten Frau, die »einer Zigeunerin ähnelt«, mit falsch zusammengelegten Händen zu beten. Durch ihren Traum bestätigte Evdokija
267 Sitnikov, Zapiski, IRLI, Mezenskoe sobr. Nr. 151, 1893-1909, l. 10ob-12. 268 Sitnikov, Zapiski, IRLI, Mezenskoe sobr. Nr. 151, 1893-1909, l. 38. 269 Budaragin, Mezenskaja rukopisnaja knižnost’, 101. 270 Sitnikov, Zapiski, IRLI, Mezenskoe sobr. Nr. 151, 1893-1909, l. 22ob. 271 Sitnikov, Zapiski, IRLI, Mezenskoe sobr. Nr. 151, 1893-1909, l. 55-55ob, l. 58-60.
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die Glaubensstärke ihres Manns und forderte sie zusammen mit einem Bekenntnis zum Altgläubigentum ein.272 Das Traumgesicht seiner Frau ergänzt jene Eintragungen, mit denen Sitnikov sich ermahnte, dem Altgläubigentum treu zu bleiben: »Auf jeden Fall müssen die alten Bräuche eingehalten werden, nicht aber die nach Nikon 1666 [eingeführten] neuen Bräuche, von ihnen muss man sich abwenden.«273 Sitnikov gebrauchte verschiedene Mittel, um die Visionen als echt und damit als göttliche Gnadengaben zu bezeugen. Von seinem Bruder ließ er sich in seinem Tagebuch schriftlich bestätigen, dass er dessen Vision richtig niedergeschrieben habe.274 Die Frauen scheinen hingegen nicht schriftkundig gewesen zu sein. Mit seiner eigenen Unterschrift und dem Stempel des Dorfältesten aus Smolenec beglaubigte er, dass er das Gehörte wortgetreu (so slov) vermerkt habe. Auch durch die Autorität seines Amts – mit Stempel und Unterschrift – versuchte er, die Visionen der Frauen zu bezeugen.275 Eine Kooperation anderer Art offenbaren die aus dem russischen Norden stammenden Tagebücher der Bauern Aleksandr Zamaraev und Ivan Glotov, an denen ihre Frauen und Töchter mitschrieben. Die zwei Fälle zeigen deutlich, wie sehr das Schreiben eines Tagebuchs an die Wirtschaft gebunden war.276 Zamaraevs Tochter Lidija führte das Tagebuch ihres Vaters weiter, nachdem dieser gesundheitlich nicht mehr in der Lage dazu war. Sie vermerkte seinen Tod und berichtete kurz von der Begräbnisfeier: »Am 27. Juni erhielt Papa nach der Messe die letzte Ölung. […] 1. Juli, 10 Uhr am Abend starb Papa. […] Wir beerdigten Papa am 4. Juli um 11 Uhr. Zur Beerdigungsfeier kamen 20 Menschen.«277 Wie das Schriftbild Lidijas verrät, war sie im Schreiben ungeübt. Die Eintragungen wurden danach immer seltener. 1923, zwei Jahre nach dem Tod des Vaters, gab sie die ungewohnte Mühe des Schreibens auf.
272 Sitnikov, Zapiski, IRLI, Mezenskoe sobr. Nr. 151, 1893-1909, l. 55-55ob, l. 83-83ob. 273 Sitnikov, Zapiski, IRLI, Mezenskoe sobr. Nr. 151, 1893-1909, l. 55-55ob, l. 74ob. 274 Sitnikov, Zapiski, IRLI, Mezenskoe sobr. Nr. 151, 1893-1909, l. 12. 275 Sitnikov, Zapiski, IRLI, Mezenskoe sobr. Nr. 151, 1893-1909, l. 36ob, 38, 47ob, 60; Stempel: l. 20, 36ob, 57ob, 66ob, 68ob. 276 Die Ehefrau des Fabrikbesitzers Abram Polušin schloss das Tagebuch ihres Manns ab, als dieser starb: »1852, 13. Februar, 11 Uhr mittags starb mein geliebter Ehemann Abram Filipoviþ Polušin.« Sie führte jedoch die Notizen ihres Manns nicht fort. Polušin (1785-1852) war ein Leibeigener gewesen, bis es ihm gelang, sich in die dritte Gilde der Kaufleute einzuschreiben. Er war mit einer Kattundruckerei zu Wohlstand gelangt. Polušin, K istorii russkoj promyšlenosti, 205. 277 Zamaraev, Dnevnik totemskogo krest’janina, 239. Aufbewahrt werden dreizehn Tagebuchhefte (Sig. TKM, f.p.i., N 11/35-47) im Heimatmuseum in Tot’ma.
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Glotovs Frau Taisija war, anders als Lidija, mit Stift und Papier vertraut. Schon zu Beginn ihrer Anfang der 1910er Jahre geschlossenen Ehe hatte sie mehrere Jahre mit ihrem in St. Petersburg arbeitenden Mann im Briefwechsel gestanden. Sie übernahm das Tagebuch ihres Manns, als dieser im September 1924 erneut für fast zwei Jahre nach Leningrad ging. Auch hier dominiert der bilanzierende Schreibmodus des Wirtschaftsbuchs.278 Nach seiner Rückkehr auf das Dorf, seit Juli 1926, schrieb Glotov wieder selbst. Diese zwei Tagebücher waren nicht an einen Einzelnen, sondern an die Wirtschaft gebunden. Schreiben war für Lidija und Taisija möglich und nötig geworden, weil es in den Familien – jedenfalls zeitweise – keine männlichen Familienmitglieder gab, die die Autorität des Vaters hätten ausüben können. In anderen Bauernfamilien übernahm meist der älteste Sohn das väterliche Tagebuch als Schreibaufgabe. Den Söhnen wurde häufiger zugetraut, das väterliche Erbe, die Wirtschaft und den autobiographischen Text, fortführen zu können. Durch das Schreiben eines Tagebuchs konnte die ›männliche‹ Identität des Familienoberhaupts in Anspruch genommen und eingeübt werden. Auch das bäuerliche Tagebuch hat an der Unterscheidung zwischen männlicher und weiblicher Sphäre in den Familien beigetragen. Es spiegelte nicht nur die Differenzierung verschiedener Arbeitsbereiche in der Familie wider, sondern stabilisierte sie auch.279 Diese patriarchalische Struktur familiärer Verantwortung und Überlieferung blieb bis weit in die Sowjetunion dominant.280 Noch 1965 schloss Pachamov, Bauernsohn und Mitglied einer Kolchose, seine Erinnerungen ab, indem er die Schreibaufgabe an seine männlichen Nachkommen delegierte: »Meine Söhne sollen die Niederschrift fortführen.«281 Auch der Bauer Ivan Volynkin aus der Stadt Malaja Višera sah in der patriarchalischen Überlieferung die ideale Weitergabe familiärer Erinnerung. Er hatte Reisebeschreibungen über China gelesen, die »ihn als Aufgeklärten beschämten«. In seinem Tagebuch äußerte er sich 1898 bewundernd über die Chinesen: »Bei ihnen kennt jedes Familienmitglied den Stammvater bis 2.000 Jahre zurück. Dies führt in jeder Familie der älteste Sohn. Und bei uns wissen viele nicht einmal, wer der
278 Glotov, Na razlome žizni, 189-190. 279 Butler, Das Unbehagen, 16, 22-24; Smith, Watson, Reading Autobiography, 143. 280 Auch Stepan Podlubnyj nennt die Sehnsucht nach den Texten seiner Großväter als Antrieb für das eigene Schreiben. Er glaubte, dass auch seine Nachfahren seine Aufzeichnungen lesen würden: »Mit welchem Genuß und wie liebevoll würde ich mir irgendwelche Aufzeichnungen meines Großvaters – ganz gleich, ob von der väterlichen oder mütterlichen Seite – anschauen, und seien es nur seine Geschäftspapiere.« Hellbeck (Hrsg.), Tagebuch aus Moskau, 261. 281 Pachamov, Vospominanija. Istoriþeskij povest’, RGB f. 218 1296.1, 1965, l. 234ob.
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Großvater war, es geht jedes Mal von vorn los (iz nich pervyj est’ az).282 Doch obgleich er mehrere Söhne hatte, waren es seine Töchter, die für die Überlieferung seines Tagebuchs sorgten. Klavdija bewahrte es auf ihrem Dachboden auf, wo es Marija in den 1960er Jahren fand. Marija führte das Tagebuch ihres Vaters fort. Sie schrieb es ab und konfrontierte die Aufzeichnungen ihres Vaters mit den eigenen Kindheitserinnerungen. Zu diesem Zeitpunkt war sie selbst schon eine alte Frau; die Verantwortung für die väterliche Wirtschaft bestand nicht mehr. Der Vater hatte 1898 mit dem Schreiben des Tagebuchs begonnen, als Marija zwei Jahre alt war. Immer wieder versuchte sie das Handeln ihres Vaters zu erklären, indem sie es durch eigene Erinnerungen ergänzte. Dabei brach sie mit der Schreibweise ihres Vaters. Hatte dieser vor allem Ereignisse vermerkt, die die eigene Wirtschaft, das Wetter und das politische Geschehen betrafen, so stellte sie die Bindung zu ihrem Vater in den Mittelpunkt: »Was weiß ich über meinen Papa«? Mit dieser Frage begann sie die Abschrift des väterlichen Tagebuchs, das zugleich ihre Autobiographie war.283 Indem sie ihr autobiographisches Schreiben mit dem Schreiben des Vaters verband, konnte ihre Person Gegenstand eines autobiographischen Texts werden, der überliefert und schließlich auch publiziert wurde. Ihr eigenes Tagebuch hingegen, das sie seit ihrer Kindheit geführt hatte, ging verloren. Dabei ist es eben nicht allein eine inhaltliche Verbindung zum autobiographischen Schreiben des Vaters, welche Marija wählte, vielmehr schrieb sie sich auf eine radikale Weise in die Lebensgeschichte ihres Vaters und in die Materialität seines Tagebuchs ein. Das gemeinsame Tagebuch der Volynkins zeigt wie auch die Tagebücher der Zamaraevs und Glotovs, dass häufig erst die direkte, materielle Verbindung mit autobiographischen Texten von Männern auch Bäuerinnen die Überlieferung und die Publikation ihrer Lebensgeschichte ermöglichte.284 Dieses Verschmelzen mit dem ›männlichen‹ Text unterscheidet diese Tagebücher von den autobiographischen Texten jener Ehefrauen und Töchter, die allein über den Inhalt den Bezug zu den Lebensgeschichten ihrer Männer und Väter suchten. Sie nahmen sich das Recht, einen autobiographischen Text zu verfassen, indem sie über ihr eigenes Leben im
282 Volynkin, »Sobytija Idut«, 46. 283 Volynkin, »Sobytija Idut«, 46. Carsten Goehrke hat Volynkins Tagebuch erstmals einem größeren Lesepublikum vorgestellt. Goehrke, Russischer Alltag, 287-289. 284 Die Verbindung, die Volynkins Tochter durch das Einschreiben in das väterliche Tagebuch zu ihrem Vater suchte, ähnelt in ihrer Materialität dem autobiographischen Text der mantuanischen Landarbeiterin Clelia Marchi. Marchi begann nach dem Tod ihres Manns, das gemeinsame Leintuch zur Niederschift ihrer Lebenserinnerungen zu nutzen. Das dicht beschriebene Leintuch, das im Archivio Diaristico im toskanischen Pieve Santo Stefano aufbewahrt wird, gehört in seiner Materialität zu den außergewöhnlichsten Selbstzeugnissen. Hämmerle, Nebenpfade, 148.
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Kontrast zu den Biographien ihrer Männer und Väter reflektierten und ihr eigenes Schicksal als »Mein Leben mit…« beschrieben.285 Beim Schreiben geriet Marija – vor allem für die frühen Jahre – an die Grenzen ihres Erinnerungsvermögens. Sie bedauerte, für den Zeitraum zwischen 1902 und 1908, für den keine Tagebücher des Vaters überliefert sind, nur »kurze Erinnerungen« zu haben. Umso ausführlicher schilderte sie ihren ersten Schultag, der durch den Verlust der väterlichen Schriften nicht aus der Perspektive des Vaters überliefert ist. An diesem Tag habe der Vater Marija zum Schreiben eines Tagebuchs ermuntert. Die Aufforderung war Teil des mit dem Schulbeginn verbundenen Übergangsritus in eine neue Lebensphase: »Meine Erinnerungen an diese Jahre sind sehr kurz – war es doch meine Kindheit. Ich kann mich noch erinnern, wie mich Papa am ersten Tag meines Schulbesuchs empfangen hat. Er hat keine Nacherzählung nach meinen Worten geschrieben, sondern gab mir ein Heft als Tagebuch, damit ich selbst diesen herausragenden Tag beschreiben und mein eigenes Tagebuch führen kann. Ich las und schrieb schon gut. Wie lange ich mein Tagebuch geführt habe, weiß ich nicht […].«286
Marija schrieb nicht für sich allein. Der Vater las in den Aufzeichnungen seiner Tochter und kontrollierte mit den Notizen auch den Werdegang seines Kinds. Dies zeigt sich an einer Episode, die Marija in der Abschrift des väterlichen Tagebuchs vermerkte. Die Nachbarstochter Zima hatte ihr die Arbeiter-Marseillaise beigebracht, ein Lied, das die junge Tagebuchschreiberin faszinierte. Sie schrieb das Lied in ihr Tagebuch, das in einer Adaption Pavel Lavrovs neben der Internationale zur Hymne der russischen Arbeiterbewegung geworden war.287 Als der Vater die Mar-
285 Auf diese Weise schrieben die Witwen bekannter Schriftsteller. Frauen wie zum Beispiel Nadežda Mandel’štam erklärten Leben und Werk ihrer Ehemänner aus der Perspektive einer Augenzeugin, die mit einem ›großen Mann‹ zusammen gelebt hat. Gebauer, Mensch sein, 39; Hahn, Wer schreibt, wer spricht, 10. 286 Volynkin, »Sobytija Idut«, 47. 287 Die sogenannte Arbeiter-Marseillaise war keine direkte Übersetzung des französischen Originals. Pavel Lavrov hat 1875 die russische Version verfasst, die mit der Zeile »Lasst uns die alte Welt verdammen« beginnt. Die Arbeiter-Marseillaise galt als Kampfgesang der Arbeiterschaft gegen das Ancien Régime; sie wurde während der Revolution 1905 gesungen. Wegen ihrer Popularität entschied sich der Premierminister Kerenskij im April 1917, sie zur Nationalhymne zu erheben. Auf Lenins Wunsch wurde sie im Oktober 1917 von der Internationale abgelöst, die bis 1943 die Nationalhymne der Sowjetunion wurde. Keghel, Die Staatssymbolik, 62-63; Soboleva, Rossijskaja gosudarstvennaja simvolika, 186-187; Soboleva, Oþerki istorii, 398-404.
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seillaise im Tagebuch seiner Tochter bemerkte, sei er, so Marija, sehr erschrocken: »Er sagte, dass das Lied sehr gut sei, doch sei es verboten, es zu singen und aufzuschreiben. Wenn die Gendarme es hörten oder im Heft entdeckten, würden sie ihn und mich ins Gefängnis stecken. Die herausgerissenen Blätter verbrannte er im Ofen.« 288 Später, vermutlich bezieht sich Marija auf das Jahr 1905, sei der Vater selbst mit vielen anderen die Straße entlangmarschiert und habe das verbotene Lied gesungen: »›Steh auf, erhebe dich, Arbeitervolk‹. Ich begann das bekannte Lied mitzusingen – das heißt, dass man es nun singen darf.«289 Nicht nur Volynkin ermutigte seine Tochter, Tagebuch zu führen. Auch der Bauer Aržilovskij hielt in den 1930er Jahren seine Kinder, sowohl Söhne als auch Töchter, dazu an: »Ich will, dass die Kinder Tagebuch schreiben, dass die Dinge ihren Platz haben. Aber bisher kann ich weder das eine noch das andere erreichen.«290 Seine Kinder weigerten sich, nur Genja, sein ältester Sohn, kam dem Wunsch Aržilovskijs nach: »Genja malt gut und führt ein wenig Tagebuch. Übrigens ist das schon viel. Aber er kommt zweifellos voran. Während die Mädchen sich ausschlafen.«291 Väter, die selbst ein Tagebuch führten, ermutigten auch ihre Töchter zum Schreiben. Diese Texte gelangten aber nur selten in Archive und Sammlungen. Sichtbare Spuren eigenen autobiographischen Schreibens hinterließen Bäuerinnen meist nur in den Tagebüchern ihrer Väter oder Ehemänner. Eine Ausnahme ist das Tagebuch des Mädchens Marija Titova-Drožžina. Im Nachlass ihres als ›Bauernpoet‹ berühmten Großvaters Spiridon Drožžin fand es Eingang in das Moskauer Kunst- und Literaturarchiv. Der Großvater – selbst seit 1867 Tagebuchschreiber – hatte sie 1925 ermuntert, ein Tagebuch zu führen. Seit seine Lebenserinnerung als die Geschichte eines russischen Naturtalents und Autodidakten 1884 in der Russkaja Starina erschienen war, gehörte das Verfassen, Umschreiben und Weiterschreiben des eigenen Lebenswegs zum Familienleben.292 Wie viel Zeit und Raum das autobiographische Schreiben eingenommen haben muss, davon künden die zahlreichen Versionen des Tagebuchs und der Autobiographie. Wie ihr Großvater nutzte auch Marija ihr Tagebuch, um ihre Vorstellungen von einem eigenen Leben zu entwerfen und zu verteidigen. Anders als in den Tagebüchern ihres Großvaters oder der Glotovs und Zamaraevs finden sich hier nur wenige Elemente des Wirtschaftsbuchs. Vom Großvater zum Schreiben ermutigt, benötigte sie den ökonomischen Schreibmodus nicht, um das eigene Schreiben zu legitimieren. Häufiger als ihre Vorgängerinnen vertraute sie dem Tagebuch ihre Sorgen an. Marija, die nach dem
288 Volynkin, »Sobytija Idut«, 48. 289 Volynkin, »Sobytija Idut«, 48. 290 Aržilovskij, Dnevnik 36-37-go godov, 146; Zitat: Arschilowski, »Gegenwart«, 45. 291 Aržilovskij, Dnevnik 36-37-go godov, 156; Zitat: Arschilowski, »Gegenwart«, 83. 292 Siehe Kap. 2.2.
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Tod ihrer Eltern und ihrer Großmutter allein mit dem Großvater lebte, fühlte sich auf dem Dorf eingeschränkt und ungeliebt. Am falschen Platz geboren, sah sie das Leben als Küchenhilfe ihres Großvaters an sich vorbeiziehen. Die Krise zwischen Großvater und Enkelin spitzte sich zu, als sie sich verliebte, doch der Großvater einen Neuanfang durch einen Umzug nach Moskau nicht gestattete: »Sobald er aus dem Haus geht, beginne ich laut und lustig zu singen, wenn ich seine Schritte auf dem Korridor höre, schweige ich.« Sie schob das ausbleibende Liebesglück auf ihre mangelnde Bildung, für die ihr Großvater sich – so ihre Meinung – nicht genügend einsetze. Verzweiflung ergriff sie, als der Angebetete sich mit ihrer fast gleichaltrigen Bekannten aus Leningrad glänzend verstand: »Alles ist Ekel, Ekel, Ekel. Die gestrige schlechte Laune ist nicht verschwunden, sondern hat sich erneuert. Das alles kommt daher, dass er [Name unleserlich] die ganze Zeit mit Julija zusammen ist und ich deswegen leide. Nein, ich bin nicht eifersüchtig, denn das halte ich für zu trivial. […] Ich bleibe abseits, weil ich nicht so reden kann wie sie. […] Ich fühle mich allein, von allen vernachlässigt, niemand braucht mich.«293
Am 7. Oktober 1925 bricht das Tagebuch ab. Auf der Umschlagseite teilte Drožžin mit, dass sein Enkelkind vier Tage später, abends halb sieben, in einem Fluss ertrunken sei. Marijas Tagebuch war – das zeigen die Klagen deutlich – nicht für die Augen des Großvaters bestimmt. Erst nach ihrem Tod konnte Drožžin darin lesen.294 Dass wir noch heute am Liebes- und Lebensleid Marijas teilhaben können, ihr Tagebuch in das Moskauer Literaturarchiv gelangte, ist ihrem berühmten Großvater geschuldet. Fehlte die männliche Autorisierung, wurde weibliches Schreiben verhindert oder blieb unbemerkt. In öffentliche Archive und Sammlungen gelangte es kaum. Wie schwierig Schreiben und Überliefern für Bäuerinnen ohne Schreibpatronage war, zeigt der Fall der Bäuerin Domna Sidorova (Žuntova-ýernjaeva). Sie führte seit ihrer Jugend ein Tagebuch und schrieb zudem noch an einem Roman über die Leibeigenschaft: »Ich begann ›Fronarbeit‹ im Jahre 1905 zu schreiben, als ich 12 Jahre alt wurde. […] Sie tadelten, ja beschimpften mich sogar wegen meiner Tätigkeit. ›Dies ist nichts für Mädchen, nichts für Bäuerinnen.‹«295 Doch Sidorova ließ sich nicht von ihrem Vorhaben abbringen. Ein Koffer mit ihren Schriften begleitete sie auf allen Lebensstationen, manchmal las sie ihrer Familie daraus vor. Dabei fällt auf, dass auch in Sidorovas Tagebuch Elemente des Wirtschaftsbuchs fehlen. Ihr Tagebuch besitzt allein die Charakteristika des Typus Schreibebuch, bei dem zeitlich geschlossene Ereignisse im Vordergrund stehen und literarische Stil-
293 Titova-Drožžina, Dnevnik, RGALI f. 176 op. 1 d. 381, 20.8.-7.10.1925, l. 5. 294 Titova-Drožžina, Dnevnik, RGALI f. 176 op. 1 d. 381, 20.8.-7.10.1925, l. 1. 295 Žuntova-ýernjaeva, Baršþina. Narodnyj roman, 8.
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mittel wie wörtliche Rede, eingefügte Gedichte, Allegorien und Metaphern verwendet werden. Nur schwer lässt sich aufgrund der bisherigen Quellenlage die Frage beantworten, ob die fehlenden Elemente des Wirtschaftsbuchs typisch für die Tagebücher von Bäuerinnen sind. Die Aufzeichnungen Sidorovas und Titova-Drožžinas lassen dies vermuten. Beide haben ihr Tagebuch nicht als Wirtschaftsbuch geführt, mit dem sie Überblick über ihre Ein- und Ausgaben, verrichteten Arbeiten und Ernteerträge behalten wollten und mussten. Erst durch die Abwesenheit des männlichen Familienoberhaupts übernahmen Frauen deren Position und schrieben im spezifisch ›männlichen‹ Stil des Haus- und Hofherrn. Der Leserkreis dieser Tagebücher beschränkte sich nicht nur auf die Schreiberin. Es bot als familiäres Werkzeug gegen das Vergessen individuellen Seelennöten und Liebesleid wenig Platz. Es scheint, dass in Tagebüchern von Bäuerinnen, die keine explizite Funktion in der Haus- und Hofführung hatten, häufiger über Sorgen und Ängste geschrieben werden konnte. Möglicherweise gelang es Bäuerinnen auch daher seltener, ihren autobiographischen Text als ›Zeugnis‹ zu überliefern. Häufig hatten die Familien kein Interesse an ihrem Schreiben und der Überlieferung ihrer Texte. Erst 1994, dreizehn Jahre nach Sidorovas Tod, gab ihre Enkelin den Roman und Teile des Tagebuchs als Beispiel für »naive Literatur« heraus. Erst die Aufwertung zur Literatur, die in ihrer angeblichen Einfalt authentische Zeugenschaft versprach, erlaubte Adressierung und Überlieferung außerhalb des Familienkreises.296 Dass Sammlungs- und Archivierungspraktiken geschlechtsspezifisch organisiert sind, ist nicht überraschend. Auch Sammlungen und Archive im Zarenreich und der Sowjetunion stabilisierten das patriarchalische Prinzip, das Männern Zeugenschaft zutraute und Frauen eher absprach. Mein Anliegen war, die Kategorie ›Geschlecht‹ als tracer zu benutzen und damit einige Praktiken nachzuzeichnen, die die Marginalisierung von Frauen in den Archiven bestätigten, mitunter aber auch unterliefen. Die beispielhaft nachgezeichneten geschlechtsspezifischen Überlieferungsbedingungen mahnen generell einen sensibleren Umgang mit dem Komplex Sammlung, Archivierung und Überlieferung an. Die Anlässe des Schreibens, Schreibweisen und Überlieferung waren nicht nur eng miteinander verbunden, auch die Kategorie ›Geschlecht‹ wirkte auf sie zurück. Der Blick auf geschlechtsspezifische Überlieferungsbedingungen zeigt, dass Aufbewahrungspraktiken, Archive und Sammlungen als Akteure im historischen Feld ernst zu nehmen sind.
296 Sidorova (Žuntova-ýernjaeva), Fragmenty dnevnika, 8; Sidorova (Žuntova-ýernjaeva), »Vperedi«; Sidorova (Žuntova-ýernjaeva), »Novoe pokolenie pojmet«.
5. Resümee
Gewalttätig, naiv und stumm – nach der Aufhebung der Leibeigenschaft 1861 galt diese Charakterisierung des russischen Bauern nicht mehr. Dieser wurde zum Symbol für eine in Bewegung geratene Gesellschaft. In Autobiographien und Tagebüchern erzählten Bauern ihr Leben als Sklaven, Autodidakten oder religiös Erweckte und eroberten eine Leserschaft, die in diesen Texten neben dem vermeintlich ›echten‹ Bauern auch alternative Gesellschaftsentwürfe fand. War vor der Aufhebung der Leibeigenschaft das Sammeln und die Publikation bäuerlicher Lebenswege keine Option gewesen, wurden sie nun zu einem beliebten Mittel, um Ordnungsvorstellungen und Fragen sozialer Ungleichheit zu verhandeln. Dreihundert autobiographische Texte zeigen, wie die Freisetzung aus vorgegebenen Rollen auf die Selbstinszenierungen der Bauern zurückwirkten, die nun auf ein größeres Spektrum an Möglichkeiten zurückgreifen konnten, um über sich zu schreiben. Das Verhältnis von Anrufung, Adressierung und Archivierung war der Ausgangspunkt für die Analyse. Seine Veränderung erlaubt einen neuen Blick auf die Umbrüche, die Individuum und Gesellschaft zwischen Zarenreich und Sowjetunion erfasste. Anrufungen Die historische Forschung verknüpft das autobiographische Schreiben der unteren Schichten bislang meist mit der Sowjetunion, vor allem mit dem Versuch, durch autobiographisches Schreiben die Loyalität zur neuen Ordnung und den neuen Machthabern zu stärken. Bauern und Arbeiter hätten – so die verbreitete These – in wachsendem Maße erst nach 1917 zur Feder gegriffen und ihr Leben erzählt. Erst in der Sowjetunion sei es ihnen gelungen, ein Ohr für Erlebtes und Erlittenes zu finden. Die Selbstzeugnisse, die im Mittelpunkt dieser Studie stehen, widersprechen dieser Sichtweise. Sie zeigen eindrücklich, dass die Autobiographieforschung zu unkritisch Redefiguren übernommen hat, mit denen Publizisten, Sammler sowie ihre bäuerlichen Korrespondenten das Schreiben, Veröffentlichen und Überliefern autobiographischer Texte in der frühen Sowjetunion legitimierten. Die Konzentration auf sowjetische Initiativen – wie beispielsweise die Geschichte der Fabriken
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und Betriebe oder das autobiographische Schreiben für die Krest’janskaja Gazeta – hat den Blick auf frühere Anrufungssituationen verstellt.1 Personen, Ereignisse, biographische Vorbilder, Bücher oder Schreibaufrufe, die Bauern schon vor 1917 ermutigten, ihr Leben in einer Autobiographie oder einem Tagebuch zu erzählen, sind bisher kaum betrachtet worden. Dabei zeigt gerade die Vielfalt der Anrufungssituationen nach 1861 und die erneute Verengung des Sagbaren in den 1930er Jahren, welchem Wandel die mit bäuerlicher Autobiographik verbundenen Imaginationen unterworfen waren und wie sich zwischen Zarenreich und Sowjetunion die Positionen veränderten, die ein Bauer mit seiner Lebensgeschichte in der sozialen Ordnung einnehmen konnte. Die Konzentration auf das autobiographische Schreiben in der Sowjetunion, insbesondere während des Stalinismus, hat dazu geführt, dass bisher vor allem die Beziehung des Autobiographen zum Staat im Mittelpunkt stand. Der Blick auf kleinere soziale Netzwerke ergänzt daher auch auf methodischer Ebene diese Arbeiten. Autobiographisches Schreiben veränderte sich in dem Maße, wie die Bindekräfte zwischen den Bauern und jenen, die sie als Erzähler ihrer Lebensgeschichte ansprachen, zu- oder abnahmen. Die Untersuchung ist damit auch ein Plädoyer dafür, neue Erklärungsansätze in der Autobiographieforschung zum Stalinismus zuzulassen. Statt sich zwischen dem Konzept der Soviet Subjectivity, das von einer Verinnerlichung des Diskurses ausgeht, und dem Konzept der Maske, welches von Sheila Fitzpatrick vertreten wird, zu entscheiden, plädiere ich dafür, den Fokus auf Beziehungsnetze zu richten.2 Sie verweisen auf die Kontexte, in denen autobiographisches Schreiben entsteht, und erlauben damit eine präzisere Einschätzung, für welche Ereignisse und Erlebnisse Autobiographien und Tagebücher Quellen sein können. Autobiographische Texte bieten keinen unmittelbaren Zugang zu den Gefühls- und Gedankenwelten historischer Akteure; sie sind nicht der intime und unmittelbare Ausdruck eines Selbst. Sie gehen weder für die Zeit des Zarenreichs noch für die Sowjetunion in Begriffen wie Authentizität oder Manipulation auf. Meine Studie verschiebt die Prämissen der bisherigen Autobiographieforschung. Statt den Fokus auf die geschilderten Erfahrungen zu legen, wollte ich in erster Linie zeigen, wie autobiographische Texte ›gemacht‹ werden und wie gesell-
1
Hellbeck, Working, 341-349; Hellbeck, Speaking Out, 84-85; Hellbeck, Self-Realization, 277, 290; Hellbeck, Revolution on My Mind, 4; Hellbeck, Russian Autobiographical Practice, 294; Fitzpatrick, Lives under Fire, 22; Fitzpatrick, From Krest’ianskaia Gazeta’s Files, 215-216; Koznova, XX vek, 50; Kozlova, The Diary as Initiation; Žuravlev, Istoþnik; Žuravlev, Fenomen; Halfin, Terror in My Soul, 21; Aris, Die Metro.
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Hellbeck, Speaking Out, 90; Halfin, From Darkness to Light; Fitzpatrick, Slezkine, In the Shadow of Revolution; Fitzpatrick, Becoming Soviet, 9; Fitzpatrick, Tear Off the Masks; Fitzpatrick, Lives and Times.
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schaftlicher, politischer und kultureller Wandel auf ihre Verfertigung, den Gebrauch und die Überlieferung zurückwirkten. Tagebücher und Autobiographien sind die Produkte eines Aushandlungsprozesses. Es gibt kein absolutes, autonomes Sprechen über das eigene Selbst, sondern autobiographisches Schreiben entsteht in sozialen Räumen, die ihrerseits die Möglichkeiten des Sagbaren abstecken. Mit der Anrufung wird ein Raum eröffnet, den der Angesprochene einnehmen und füllen kann. Reagiert er, lässt er sich auf Konventionen und Deutungsmuster ein, die unabhängig von ihm bestehen, die er aber auch bedingt verändern und erweitern kann. Mit dem Blick auf das ›Gemachtwerden‹ der Texte ist ein weiteres Anliegen verbunden. Die bisherige Autobiographieforschung zum Zarenreich und der Sowjetunion hat den Unterschied zwischen dem autobiographischen Schreiben in ›Ost‹ und ›West‹ immer wieder stark betont. Der russischen Autobiographik wurde eine mangelnde Innerlichkeit, fehlender Individualismus und die bloße Darstellung der Zeitenläufte unterstellt, während die als Individuen auftretenden ›westlichen‹ Autobiographen ihre Leser angeblich freimütig in ihre persönlichen Innenwelten entführten. Russland erschien in diesen Argumentationen immer als das Fremde, das sich nur schwer in gesamteuropäische und globale Zusammenhänge einordnen ließ.3 Diese Sprechweisen wurden durch eine andere Tradition des (wissenschaftlichen) Umgangs mit Autobiographik und die Art und Weise, wie Schreiber, Sammler und Publizisten, aber auch Historiker über autobiographische Texte sprachen, immer wieder bestärkt und aktualisiert. Die Semantiken des Gegenarchivs boten in Russland nicht nur Anlass, Bauern zum Schreiben zu ermutigen und als ›Zeuge‹ autobiographisch zu schreiben, sondern sie waren auch eine Strategie, um den Gebrauch autobiographischer Texte zu legitimieren. Die Studie wertet die globalen und gesamteuropäischen Zusammenhänge auf, in denen auch das autobiographische Schreiben von Bauern im Zarenreich stand. Sehr deutlich konnte die Präsenz weltumspannender Schreibweisen in den Autobiographien der Leibeigenen aufgezeigt werden. Aber auch in den Autobiographieprojekten spielten die globalen Bezüge eine wesentliche Rolle. Das Interesse am Schreiben der unteren Schichten nährte sich aus der Bewunderung für biographische Unternehmungen, wie sie beispielsweise Samuel Smiles in Großbritannien und Harriet Beecher Stowe in den Vereinigten Staaten von Amerika initiiert hatten.4 Ihre Arbeiten wirkten sowohl auf autokratiekritische Publizisten als auch auf aufstiegswillige
3
Vgl. Gretchanaja, Viollet, Russische Tagebücher, 35, 47; Stephan, Erinnertes Leben, 8; ýekunova, Russkoe memuarnoe nasledie, 117-126. Nolda und Tartakovskij beleuchten die Gründe für diese divergierende Einschätzung: Nolda, ›Autobiographie‹, 157; Tartakovskij, 1812 god i russkaja memuaristika, 22.
4
Smiles, Self-Help; Smajl’s, Samodejatel’nost’; Smajl’s, Samopomošþ’; Beecher Stowe, The Lives and Deeds.
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Bauern im Zarenreich anziehend, da sie zeigten, dass sich die Gräben, die Leibeigenschaft und Ständeordnung durch die Gesellschaft gezogen hatten, durch Mitgefühl, Leistung und durch das Streben nach gegenseitigem Verständnis überwinden ließen. Lynn Hunt hat herausgearbeitet, wie Romane und Erzählungen im 18. Jahrhundert das eigene Gefühlsleben mit dem Leid anderer verbanden und so die Vorstellung, dass alle Menschen gleiche Rechte besitzen, begründeten.5 Ihre These lässt sich auch auf Smiles und Beecher Stowes Schriften sowie auf die bäuerliche Autobiographik des ausgehenden Zarenreichs übertragen. Das der Fiktion entkleidete Leben selbst sollte die Möglichkeit und Rechtmäßigkeit der Gleichheit aller beweisen. Vor allem die an Presse und Publizistik sowie an Sammler adressierten Autobiographien wirkten nun auch in Russland an einer neuen weltweiten Gefühlsordnung mit, die auf dem Mitleiden mit den Unterdrückten und Rechtlosen gründete und Gleichheit jenseits überkommener sozialer Grenzen wie beispielsweise Stand, Herkunft oder Vermögen propagierte. Zugleich erlaubten die Texte ihren Verfassern und Sammlern, das Zarenreich nach ›Westen‹ zu rücken und es als Gegenstand und Argument in übergreifende Diskussionen, wie etwa um unfreie Arbeit und soziale Ungleichheit, einzubringen. Die Bauern präsentierten sich in den Autobiographien, die sie an Presse und Publizistik sowie an Sammler wie Rubakin oder Jacimirskij richteten, als selbsttätige und eigenverantwortliche Akteure, die sich für Gemeinwohl und Gesellschaft einsetzten. In ihren Lebensgeschichten waren Stand und Herkunft keine unüberwindbaren Hindernisse, um Bedeutendes zu leisten. Die Autobiographen übernahmen gesamteuropäische Biographiemuster und schrieben Russland in eine Welt hinein, in der die Grenzen zwischen ›Ost‹ und ›West‹ passierbar waren. Sie unterwarfen auch den russischen Bauern dem Ethos des Leistungserfolgs und damit den gleichen Bewertungsmaßstäben, den auch in anderen Ländern die sogenannten selfmade men unterlagen. Ebenso lassen sich die autobiographischen Texte der Konvertiten und ›Sektierer‹ globalen und gesamteuropäischen Kontexten zuordnen. Die Aufmerksamkeit, die ihnen im Zarenreich geschenkt wurde, hatte ihre Entsprechung auch in anderen europäischen Ländern. Die Autobiographen, die für die orthodoxe Kirche und für Bonþ-Brueviþ schrieben, nutzten für ihre Lebenserzählung hagiographische Biographiemuster und schilderten ihr Leben als radikale Wende oder als Martyrium. Es ist ein zentrales Ergebnis der Studie, dass sich die autobiographischen Texte weniger durch Aufbau und Sagbarkeiten von jener Autobiographik unterscheiden, die dem ›Westen‹ zugewiesen wird. Vielmehr ergeben sich die Differenzen – wie insbesondere der Aspekt der Adressierung zeigt – aus den Handlungen, die durch das Schreiben, Lesen, Sammeln und Aufbewahren dieser Texte vollzogen wurden.
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Hunt, Inventing Human Rights, 35-70.
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Adressierung Ein Polizist ruft einem Passanten hinterher. Doch wie reagiert der Angerufene? Er kann weitergehen und vorgeben, nichts gehört zu haben. Er kann sich umdrehen, vielleicht auch seinen Namen nennen. Die Anrufung ist eine Einladung zum Handeln, ein Angebot, das die Bauern in den verschiedenen Kommunikationsräumen auf unterschiedliche Weise annahmen. Adressierung erfolgte nicht nur durch Anrede der Leser oder das Schreiben einer Adresse auf einen Briefumschlag. Auch durch die Wahl der Inhalte und der Form antworteten die Schreiber auf eine Anrufung, konnten sie ihre Lebenszählung mit einer Anschrift versehen und durch sie handeln. Und auch wenn sich die Inhalte und damit die Adressierungen unterschieden, so ähnelten sich die Handlungen, die die Schreiber mit ihren Selbstzeugnissen vollzogen. Die Bauern erkannten die Möglichkeit, mit dem Schreiben eines autobiographischen Texts lebensgeschichtlichen Erfolg zu präsentieren und damit auch zu generieren. So wie sie ihre Tagebücher nutzten, um sich innerhalb der Familie als rechtmäßige Erben und verantwortungsvolle Haus- und Hofherren darzustellen, so adressierten sie ihre Lebensgeschichte an einen Empfänger im öffentlichen Raum, um damit auch das Recht auf politische Partizipation einzufordern. Vor allem die Antworten auf Schreibaufrufe eröffneten Möglichkeiten, sich Zugang zu politischen Räumen jenseits von ländlichen und städtischen Selbstverwaltungsorganen zu verschaffen. Der Austausch von Autobiographien ersetzte urbane Infrastrukturen wie Bibliotheken, Museen, Vereine, in denen sich Öffentlichkeit konstituieren konnte und von denen Bauern, Wanderarbeiter und Soldaten häufig räumlich sowie aufgrund mangelnder finanzieller Möglichkeiten abgeschnitten waren. Sowohl das Schreiben autobiographischer Texte als auch ihr Sammeln war ein Mittel, in Verbindung mit anderen Menschen zu treten und gemeinsam Einfluss zu erlangen. Die Studie ergänzt somit Untersuchungen wie etwa von Franziska Schedewie, die am Beispiel der örtlichen Selbstverwaltungen die Bereitschaft von Bauern herausgearbeitet hat, sich in den wandelnden russländischen Staat zu integrieren.6 Der Blick auf autobiographische Texte und Praktiken, die mit ihnen verbunden waren, rückt Bauern als Handelnde mit individuellen Interessen in den Mittelpunkt. Die Studie wendet sich gegen eine immer noch in der Geschichtswissenschaft anzutreffende Vorstellung, die in den Bauern nur kollektivistisch handelnde, mithin »primitive Menschen«7 erkennen kann und damit unkritisch jene Vorurteile weiterschreibt, die Besitz- und Bildungseliten seit dem 18. Jahrhundert vertraten.8 Die au-
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Schedewie, Selbstverwaltung.
7
Pipes, Rußland vor der Revolution, 163.
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Besonders prägnant bei Jörg Baberowski, dessen Urteile über die Bauern Standpunkte wiederholen, die fast im gleichen Wortlaut schon Vissarion Belinskij und Lev Trockij ge-
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tobiographischen Texte und die mit ihnen verbundenen Handlungen zeigen, dass Bauern keineswegs nur Spielball der Ereignisse und der Obrigkeit waren. Sie hatten und kannten mehr Möglichkeiten, als mit Gleichgültigkeit oder Gewalt auf die Veränderungen ihrer Lebenswelt zu reagieren. Indem sie autobiographisch schrieben und ihre Texte unterschiedlich adressierten, brachten sie ihre Deutungen der Wirklichkeit in verschiedenen Öffentlichkeitsarenen ein. Zu Beginn des Stalinismus veränderten sich mit der Anrufungssituation auch die Beziehungen, in denen autobiographisches Schreiben stand. Die Gruppe der Anrufer wurde kleiner, die Vielfalt der Anrufungen reduzierte sich. Die Initiatoren der sowjetischen Schreibaufrufe imaginierten die Autobiographen aus den unteren Schichten immer seltener als handelnde Subjekte, während sich die Schreiber, vor allem in offiziellen Autobiographien, die sie beim Eintritt in Institutionen vorzuweisen hatten, immer seltener als eigenverantwortlich Handelnde zeichneten. Die nach der Bauernbefreiung durch Autobiographien relativierte Bedeutung von Standeszugehörigkeit und damit von Herkunft nahm erneut zu. Sie wurde nun als Klassenzugehörigkeit verstanden, deren Grenzen nicht einmal mehr durch überragende Leistung und Eigenverantwortung überwunden werden konnte. Mit dieser Verengung wandelten sich auch die Schreibweisen und damit die Möglichkeiten, mittels Autobiographien zu handeln. Autobiographische Texte boten im ausgehenden Zarenreich nicht nur die Möglichkeit, Anspruch auf Partizipation und Teilhabe anzumelden. Sie waren auch ein Mittel, Zugehörigkeiten sichtbar zu machen. Die Studie leistet damit auch einen Beitrag zur russischen Identitätsforschung. Der Blick auf Entstehung und Gebrauch bäuerlicher Autobiographik zeigt, wie Selbst- und Fremdbilder durch Kommunikation entstehen und performativ hervorgebracht werden. Wie andere Identitätskonzepte betrachtet auch das Konzept der narrativen Identität die ›anderen‹ als konstitutiv für die Selbstverortung.9 Doch nicht nur die Abgrenzung von anderen, sondern auch die Bezugnahme auf sie, ist wesentlich für Identitätskonstruktionen. Ich habe daher danach gefragt, in welche Gruppen sich die Autoren mit ihren Texten einschrieben. Besonderen Wert habe ich auf die Selbstbezeichnung gelegt. Daran wird das Zusammenspiel von individuellen und kollektiven Einstellungen am deutlichsten. Es ist entscheidend, ob der Autobiograph versuchte, als ›Sklave‹, ›Bauer‹, ›Leser‹, ›Autodidakt‹ oder ›Kolchoznik‹ zu sprechen. Diese Selbstbezeichnungen lassen sich als verdichtete Antworten auf Anrufungen lesen. Sie waren keine feststehenden Einheiten, sondern wurden gewählt, in sozialen Beziehungen ständig neu verhandelt, gegen andere Kategorien der sozialen Ordnung abgesetzt und dabei
äußert haben. Baberowski, Der Rote Terror, 22; Belinskij, Pis’ma, 92; Trotzki, Die Russische Revolution, 48, 50. 9
Somers, The Narrative Constitution; Ricœur, Personale und narrative Identität.
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auch verändert und ergänzt. Sie waren ein Mittel, um Zugehörigkeiten zu verschiedenen Gruppen auszudrücken, und der entscheidende Marker, um der eigenen Lebensgeschichte Gehör zu verschaffen. Wer man ist, ist abhängig davon, mit wem man gerade in Beziehung steht.10 Die Frage: »Wer bist du?«, die die Autobiographien zu beantworten versuchten, war letztendlich vergebens gestellt. Indem innerhalb dieser Beziehungen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft immer wieder neu verknüpft werden konnten, änderten sich auch ständig die Konzeptionen, wer man war, wer man ist und wer man werden will. Diese Wandelbarkeit der erzählten Vita hat sich bei jenen Schreibern besonders deutlich gezeigt, die über Jahrzehnte hinweg an ihrer Lebensgeschichte schrieben oder für unterschiedliche Adressaten verschiedene Versionen verfassten. Eine gewisse Kohärenz erzeugten dabei nicht so sehr die Inhalte, sondern eher das autobiographische Schreiben als Praktik und damit die Autobiographie und das Tagebuch in ihrer Materialität als geliebte, immer wieder aufgesuchte Objekte.11 Identitätskonstruktionen sind veränderbar, sie sind aber keineswegs beliebig. Die Art und Weise, wie Bauern über ihr Leben sprechen konnten, war eingebunden in verschiedene Kommunikationsräume. Die Entscheidung für eine Anrufung schloss andere Formen des Umwendens aus. So spielten beispielsweise autodidaktisches Lernen sowie Lese- und Schreibfähigkeit in den Konversionserzählungen für die orthodoxe Kirche keine Rolle, während diese Erfahrungen als Teil der Lebensbeschreibung in anderen Räumen überaus wichtig waren. Insbesondere an den Autobiographieprojekten lässt sich zeigen, dass das Aushandeln darüber, wie autobiographische Texte auszusehen hatten und welche Zugehörigkeiten in ihnen präsentiert werden konnten, nicht immer konfliktfrei war. Die Initiatoren der Autobiographieprojekte versuchten, ihre Korrespondenten auf bestimmte Zugehörigkeiten festzulegen und für ihre Version der Vergangenheit und Gegenwart zu vereinnahmen. Doch die Bauern überschritten die Grenzen zwischen den Kommunikationsräumen und probierten verschiedene biographische Narrative aus, die auch in Widerspruch zu den Wünschen der Initiatoren stehen konnten: Mitunter weigerten sie sich, zu schreiben, antworteten auf mehrere Aufrufe oder ließen sich nicht auf eine Kategorie festlegen. Einige Korrespondenten nutzten beispielsweise ihre Antwort auf den Schreibaufruf Bonþ-Brueviþs, um ihrer Erlösungshoffnung Ausdruck zu geben und Glaubensgemeinschaften zu bilden. Seltener als dieser es in seiner Anrufung gewünscht hatte, schrieben sie über politische Bewusst-
10 Gergen, Das übersättigte Selbst; Rosa, Beschleunigung, 371; Harböck, Stand, 74; Somers, The Narrative Constitution, 612-615. 11 Hartmut Rosa hat herausgestellt, dass es gerade die »geliebten Objekte« sind, die in einer sich beschleunigenden Gesellschaft Kohärenz und Kontinuität gewährleisten. Rosa, Beschleunigung, 375.
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werdung, häufiger über religiöse Erweckung. Dies war nicht die Intention des ›Sektenforschers‹ gewesen, der seine Korrespondenten als Märtyrer angesprochen hatte, damit sie mit ihrer Verfolgungsgeschichte auch Autokratie und orthodoxe Kirche kritisierten. Die Textanalyse macht deutlich, dass Identitäten eine relative Zeitfestigkeit aufweisen, auch wenn sie situativ und in Beziehungen hervorgebracht werden. Ihre Beharrungskraft zeigt sich besonders in den Momenten, wo neue Fremdbilder an die Autobiographen herangetragen werden, sie aber versuchen, früher erprobte und mit ihrer Lebensgeschichte verbundene Schreibweisen beizubehalten. Bauern wie Michail Novikov, Ivan Rassychaev und Andrej Aržilovskij thematisierten in den 1920er und 1930er Jahren verstärkt Konflikte, die sich ergaben, weil mit Gewalt und Zwang neue Prioritäten und Relevanzen an ihre Lebensbeschreibungen herangetragen wurden. In ihren Texten schildern sie eine zunehmende Unsicherheit, nicht mehr abschätzen zu können, welche Handlungen sie mit ihren Tagebüchern und Autobiographien vollzogen. Sie thematisierten immer häufiger eine Diskrepanz zwischen dem Bild von sich, das sie in den Texten präsentierten, und dem Bild, welches sich ihre Leser von ihnen auch aufgrund ihrer autobiographischen Texte machten. Bis in die 1930er Jahre hinein hatten Schreiber und Adressaten mit den autobiographischen Texten ähnliche Ziele verfolgt. Doch nun glückte die Kommunikation durch autobiographische Texte immer seltener, war das Verhältnis zwischen Anrufung und Umwenden gestört. Dies wirkte sich auf Überlieferung und Archivierung aus. Archivierung Auch durch das Überliefern und Archivieren autobiographischer Texte wird gehandelt, Position bezogen, werden Vergangenheits-, Gegenwarts- und Zukunftsvorstellungen kommuniziert. Es ist auffällig, dass in Russland und der Sowjetunion das Sprechen über autobiographische Texte der unteren Schichten häufig mit Archivfragen, vor allem mit Lücken in den staatlichen Archiven, verbunden war. Die Vorstellung von bäuerlicher Autobiographik als Gegenarchiv bestimmte nicht nur den Umgang mit dieser als historischer Quelle, sondern hat auch bei der Archivierung der Texte eine wichtige Rolle gespielt. Semantiken des Gegenarchivs boten in Russland nicht nur die Erlaubnis, als ›Zeuge‹ autobiographisch zu schreiben, sondern waren auch eine Strategie, um die Aufbewahrung und den Gebrauch autobiographischer Texte zu legitimieren. Anders als in der als Vergleichsfolie herangezogenen deutschen Geschichtswissenschaft, die tendenziell dem ›Verstehen‹ den Vorzug gab, galt der Autobiograph in den russischen Diskussionen, die aufgrund ihrer soziologischen Ausrichtung das ›Erklären‹ präferierte, nicht in erster Linie als Gewährsmann für das eigene Leben. Stärker als es Inhalt und Form der autobiographischen Texte vermuten lassen, unterschieden sich daher in Russland und Deutschland die Bereiche, für die autobiographische
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Texte Quellen sein sollten. Russische wie sowjetische Historiker und Publizisten sahen in ihm vor allem einen ›Zeugen‹ für eine wegen Zensur und verschlossener Archive unzugängliche Vergangenheit. Diese Reputation ließ die Aufmerksamkeit für autobiographische Texte insbesondere nach politischen und gesellschaftlichen Umbrüchen stark ansteigen. Ihre Aufwertung als Dokumentation nicht archivalisch dokumentierter Geschehnisse erlebte mehrere Renaissancen, zuletzt während der Perestrojka. Bäuerliche Autobiographik galt in der zerbrechenden Sowjetunion erneut als vertrauenswürdige Zeugenaussage für Ereignisse wie Kollektivierung oder ›Entkulakisierung‹, über die Zensur, Geheimpolizei und verschlossene Archive den Mantel des Schweigens ausgebreitet hätten. Diese Lesart hat den Blick auf den Konstruktionscharakter (bäuerlicher) Autobiographik häufig erschwert. Bäuerliche Schreiber profitierten von der Vorstellung, dass der Autobiograph vor allem ›Zeuge‹ zu sein habe. Zum ›Zeugen‹ konnte jeder werden, der das Geschehene beobachtet hatte, egal wie gut er schrieb. Diese Prämisse führte dazu, dass die autobiographischen Texte der unteren Schichten in Russland schon seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ins Blickfeld gerieten, gesammelt und archiviert wurden. Ähnliche Sammlungsbemühungen finden sich im deutschsprachigen Raum erst mit dem Aufkommen der Alltagsgeschichte ungefähr hundert Jahre später. Der autobiographische Text als Ausdruck der Persönlichkeit hat hier länger als in Russland den Blick auf das bäuerliche Schreiben verstellt. Die Analyse der Sammelpraktiken verdeutlicht nicht nur die Zeitpunkte, zu denen bäuerliche Autobiographik zum Argument in gesellschaftlichen Diskussionen wurde, sondern zeigt auch die Ambivalenzen, die mit der Archivierung der Texte verbunden waren. Sehr deutlich geben beispielsweise jene Expeditionsberichte, in denen die Wissenschaftler die Ergebnisse ihrer Forschungsreisen in den 1960er Jahren bilanzierten, eine Spannung zwischen Konfiszieren, Konservieren und Vergessen wieder. Die sowjetischen Wissenschaftler verstärkten durch ihren Sammeleifer jene Prozesse, die das traditionelle Bauerntum seiner kulturellen Grundlagen beraubte. Dieses schwer zu bewertende, zwiespältige Verhalten zeigt sich gleichfalls an den Strategien, mit denen Archivare in der Sowjetunion auch brisante Texte verwahrten. Indem sie Findmittel nicht zur Verfügung stellten, Dokumente vor ihren Lesern verbargen oder vorhandene Bestände nicht verzeichneten, schützten sie die Texte und sich selbst vor einem Zugriff von außen. Erst in der Perestrojka sprachen die Archivare offener über ihre Bestände und damit auch über Tagebücher und Autobiographien, in denen Ereignisse wie Kollektivierung und ›Entkulakisierung‹ geschildert sind. Der Blick auf Sammel- und Archivierungspraktiken ermöglicht es, jene Authentizitätserwartungen zu hinterfragen, die immer wieder an das autobiographische Schreiben der unteren Schichten herangetragen wurden. Auch die Praktiken der Überlieferung schrieben an den Geschichten mit, die erzählt werden konnten. An den Orten der Aufbewahrung lassen sich die Netzwerke und der erwartete Nutzen
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erkennen, welche die Entstehung und Überlieferung von Tagebüchern und Autobiographien bestimmten. Sie verweisen auf die drei Kommunikationsräume Presse und Publizistik, Autobiographieprojekte sowie Familienkreis, in denen autobiographisches Schreiben entstehen konnte und die auch durch die ihnen eigene Auffassung von Autobiographik als Gegenarchiv zusammengehalten wurden. Die Publizisten sowie die Initiatoren und Korrespondenten der Autobiographieprojekte sahen in den bäuerlichen Autobiographien Gegenarchive, mit denen sich Evidenz für ihre Version der Vergangenheit und Gegenwart erzeugen ließ. Dabei konkurrierten die Publikationen und Sammlungen vor allem mit staatlich generierten Wissensspeichern, aber auch untereinander. So sammelte beispielsweise BonþBrueviþ die Autobiographien sogenannter ›Sektierer‹, die sowohl in Diskurs als auch Materialität ein Gegenarchiv zu entsprechenden kirchlichen Bemühungen bildeten und die Existenz dieser Gruppe bestätigten. Aber auch im Familienkreis waren Vorstellungen des Gegenarchivs virulent. Dies zeigt sich vor allem für die 1920er und 1930er Jahre. Einige Bauern nutzten ihre Schreib- und Lesefähigkeit, um Gegenwelten und ein Selbstkonzept zu entwerfen, welches von den nach 1917 propagierten Erinnerungsversionen und Biographiemustern abwich. In ihren Tagebüchern zeigt sich bäuerlicher Eigensinn und der Wille, an alten Werten festzuhalten. So blieben einige Bauern in ihren Tagebüchern auffallend resistent gegenüber den neuen Schreibformen: Sie behielten auch nach der Kalenderreform 1918 den julianischen Kalender bei, gebrauchten weiterhin die alten Orts- und Straßennamen, nutzten die alte Rechtschreibung oder schrieben im religiös konnotierten poluustav. Sie sprachen damit der neuen Ordnung Rechtmäßigkeit und Wirksamkeit ab. Einige Bauern präsentierten sich als Gläubige, die versuchten, religiöse Riten zu bewahren. Andere versuchten, in Verruf geratene ökonomische Grundsätze weiterhin an ihre Kinder zu vermitteln, etwa dass Wohlstand der Lohn guter Arbeit sei. Es ist nicht verwunderlich, dass solche Texte, die den Schreiber und seine Familie großen Gefahren aussetzten, häufig im Verborgenen blieben. Dementsprechend lässt sich auch nicht abschätzen, wie viele Tagebücher und Autobiographien sich noch in Familienhand befinden oder verloren gingen. Archivierung ist der blinde Fleck der Autobiographieforschung, die Lücken und Schwerpunkte in der Überlieferung nur selten hinterfragt. Um die Bedeutung von Archivierung abwägen zu können, habe ich in dieser Studie immer wieder gefragt, wer autobiographische Texte aus welchen Gründen publiziert, verwahrt, gesammelt und überliefert hat. Fragen, die für die geschichtswissenschaftliche Arbeit wichtig sind, meist aber nur am Rande als Teil der Quellenkritik thematisiert werden, standen im Zentrum. Der Blick auf Sammlungs- und Archivierungspraktiken hilft, den Entstehungshintergrund der Texte herauszuarbeiten. Sie lassen erkennen – mitunter deutlicher als der Inhalt der Texte – in welchen Beziehungen autobiographisches Schreiben entstand und wie historische Akteure auch mit Autobiographien und Tagebüchern miteinander in Beziehung traten.
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Dass heutige Archive und Sammlungen wahrscheinlich nur einen Bruchteil der bäuerlichen Tagebücher und Autobiographien bergen, hat insbesondere der Blick auf das autobiographische Schreiben von Bäuerinnen deutlich gemacht. Wer nach ›weiblichen‹ Selbstzeugnissen fragt, stößt häufig auf signifikante Lücken. Die Ursachen dafür gehen jedoch nicht in einem originären Schweigen auf. Frauen waren zwar schwächer alphabetisiert und hatten auch weniger Zeit zum Schreiben. Sie konnten zudem seltener eine besondere Beziehung zum Schreiben, eine erhöhte soziale oder regionale Mobilität sowie das Selbstverständnis als Haus- und Hofherr vorweisen, die als auslösende Momente für das autobiographische Schreiben der Männer eine besondere Bedeutung besaßen. Die Diskrepanz zwischen den Hinweisen auf autobiographisches Schreiben von Frauen und der spürbaren Überlieferungslücke spricht allerdings dafür, den Sammlungspraktiken und der Archivierung eine ebenso wichtige Rolle beizumessen. Bäuerinnen wurden nicht nur beim Schreiben behindert, sondern waren auch bei der Archivierung ihrer Texte benachteiligt. An den wenigen Beispielen wird offenbar, dass ihnen die Überlieferung ihres Texts häufig nur in Form einer kooperativen Autobiographie, im männlichen Text oder unter einem männlichen Namen gelang. Indem der Fokus von den geschlechtsspezifischen Schreibweisen auf die geschlechtsspezifische Überlieferung verschoben wird, zeigt sich, dass die bisherige Forschung ihr Augenmerk zu einseitig auf Biographiehemmnisse gelegt hat, während sie Schreibanlässe und Überlieferungshindernisse nur selten hinterfragt. Die fehlende Berücksichtigung von Archivierungspraktiken führt nicht nur zu voreiligen Schlüssen über die Zusammenhänge von sozialer Schicht, Geschlecht, Individualismus, Moderne und autobiographischem Schreiben, sondern verhindert ebenso geeignete Suchstrategien, um die Selbstzeugnisse marginalisierter Gruppen aufzuspüren. Verflüssigen und Verfestigen von Ordnungsvorstellungen Das Zusammenspiel von Anrufung, Adressierung und Archivierung offenbart nicht nur, wie autobiographische Texte zu historischen Quellen wurden, die wir heute lesen und deuten können. Es zeigt auch, dass es im Zarenreich nach 1861 zu einer Verflüssigung von denk- und sagbaren Ordnungsvorstellungen kam. Die Aufmerksamkeit, die autobiographische Texte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erregen konnten, passten in die Zeit der Großen Reformen, als ›Gesellschaft‹ in den öffentlichen Diskursen eine Aufwertung erfuhr, gesellschaftliche Umgestaltung möglich schien, die Autokratie jedoch unmittelbare Mitbestimmung und Pressefreiheit nicht zuließ. Vor allem Kritiker der Autokratie glaubten, mit autobiographischen Texten, denen sie eine besondere Wahrhaftigkeit und soziale Tiefe zutrauten, Theorien über die Entwicklung der Gesellschaft aufstellen und prüfen zu können. Dabei verstanden sie ihre Daten- und Quellensammlungen als Gegenarchive zu
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offiziellen Darstellungen, die – so ihre Meinung – alles taten, um die sozialen, kulturellen und politischen Defizite des Zarenreichs zu verschweigen. Vor allem jene, deren Stimmen im Zarenreich durch Verbannung, Emigration, Zensur oder fehlende berufliche Perspektiven marginalisiert waren oder die wie die orthodoxe Kirche spürten, dass sie an Einfluss verloren, verbündeten sich mit den Bauern, um ihren Ansichten Gehör zu verschaffen. Sie sahen ihre Aufrufe zum autobiographischen Schreiben als Möglichkeit, um mit verschiedenen Regionen und Gruppen in Dialog zu treten und die sozialen und geographischen Ränder des Imperiums in die öffentliche Wahrnehmung zu rücken. Die Autobiographien sollten bei den nichtbäuerlichen Lesern einen Wandel im Umgang mit dem narod herbeiführen, für eine harmonische, ständelose Gesellschaft werben oder die Konstruktion eines nationalen Selbstbilds erlauben. Sammler wie Bonþ-Brueviþ sahen hingegen in den Autobiographien auch ein Werkzeug, mit dem sich Allianzen gegen die Autokratie und die etablierten Eliten schmieden ließen. Die autobiographischen Texte sind ein Indikator für Pluralisierungsprozesse und für die Zunahme von Wahlmöglichkeiten, in denen Ständekategorien als Form der Zuordnung an Bedeutung verloren. Die Ständeordnung, die jedem einen Platz in der sozialen Ordnung zugewiesen hatte, verlor mit der Aufhebung der Leibeigenschaft, mit Urbanisierung, Industrialisierung und vor allem auch durch steigende Alphabetisierung die Bedeutung für die Selbstverortung des Einzelnen und damit auch für die gesamte Gesellschaft. Die Vielfalt der autobiographischen Texte und wählbaren Personae zeigt, dass nach 1861 die Individualitätsvorstellungen von Identität auf Differenz umgestellt wurden. Nun begannen die Bauern mit ihren autobiographischen Texten auf Anrufungen zu antworten, die sie nicht mehr allein als ›Bauern‹ adressierten. Die Autobiographien und Tagebücher belegen, dass sie sich nicht mehr ausschließlich über Herkunft und damit über Zugehörigkeit zu Familien, Ständen und sozialen Schichten definierten. Sie hatten die Wahl, wie sie über sich sprechen wollten. Und erstmals wurde ihnen diese Wahl auch zugestanden. Mit der Erosion der Ständeordnung waren gleichfalls bisherige Vorstellungen von biographischem Erfolg und sozialer Mobilität strittig geworden. Selbst das bäuerliche Subjekt galt nun als Quelle von Erfolgspotenzialen. Die russische Gesellschaft versuchte auch mithilfe autobiographischer Texte zu definieren, was biographischer Erfolg sei. Waren in den Autobiographien ehemaliger Leibeigener ökonomischer Gewinn sowie der Wechsel der Ständekategorie Gradmesser gewesen, wurden diese Parameter nun immer häufiger durch Vorstellungen ersetzt, die ein gelungenes Leben an Bildung, außergewöhnlichem Talent und am Einsatz für das Gemeinwohl bemaßen. Dass sich die Möglichkeiten der Selbstverortung erneut verengten, kündigte sich vor allem nach der Jahrhundertwende in den Autobiographieprojekten an. Sie formulierten immer präziser, was beschreibenswertes Leben sei. Ihre Entwicklung zeigt, dass die verschiedenen Kommunikationsräume nicht nur miteinander konkurrierten,
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sondern auch die Grenzen zwischen ihnen immer deutlicher hervortraten. Die Autobiographien innerhalb der einzelnen Kommunikationsräume wurden homogener. Korrespondenten, die unklare Zugehörigkeiten zum Ausdruck brachten oder der Anrufung widersprechende Erfahrungen beschrieben, konnten nur noch schwer Aufmerksamkeit erringen. Sie blieben vor allem in den öffentlichen Räumen von Publikation, aber auch von Archivierung und Überlieferung ausgegrenzt. Hierin offenbart sich die Ambivalenz der Anrufungssituation, in der Bauern als Schreiber eines bestimmten Lebensentwurfs angesprochen wurden, um mit ihren Texten ein Gegenarchiv zu etablierten Ansichten zu begründen. Mit dem Beharren auf ›Authentizität‹ sprachen sowohl Schreiber als auch Sammler anderen Lebenskonzepten, hinter denen immer auch Gesellschaftsentwürfe standen, ihre Rechtmäßigkeit ab. Die Frage: »Wer bist du?«, die in Presse und Publizistik, aber auch in Schreibaufrufen erklang, war auch ein Versuch, Antworten vorzugeben, Normen durchzusetzen und die Bauern auf die eigene, ›richtige‹ Seite zu ziehen. Die Herausgeber, Sammler und Archivare, aber auch die Schreiber versuchten durch autobiographische Texte nicht nur gelebtes Leben abzubilden. Autobiographische Texte waren für alle, die an diesen Texten mitwirkten, auch ein Mittel der Zivilisierung, durch das die Kluft zwischen Sein und Sollen überwunden werden sollte. Indem Presse und Publizistik sowie die Autobiographieprojekte von den Bauern Tätigkeiten wie Lesen, Verse schmieden oder religiöse Selbstvergewisserung einforderten, leisteten sie dem Anerkennungsverlust von bäuerlicher Arbeit Vorschub. Doch solange verschiedene Anrufungen ertönten, konnten die bäuerlichen Autobiographen in öffentlichen wie privaten Räumen auf unterschiedliche Weise und für verschiedene Adressaten ihr Leben erzählen. In den 1930er Jahren erreichte die Verfestigung von Ordnungsvorstellungen eine neue Qualität. Der Einzelne konnte immer weniger entscheiden, auf welche Anrufung er sich umwenden wollte. Vor allem in der Öffentlichkeit gab es keine Adressaten mehr für gesellschaftskritisches Schreiben. Die Fremdzuschreibungen wurden stärker. Hier zeigt sich, dass die Anrufungsszene keineswegs harmlos ist, Althusser nicht ohne Grund einen Polizisten auftreten lässt.12 Die Entwicklung in den verschiedenen Kommunikationsräumen offenbarte, dass in den 1930er Jahren eine neue Handlungslogik ins Spiel kam. In den durch Unsicherheit, Gewalt, Repressionen geprägten Jahren der Kollektivierung verringerten sich nicht nur die Möglichkeiten der Anrufung, sondern jene, die nun auch Bauern zum autobiographischen Schreiben und Sprechen anhielten, forderten eine andere Verbindlichkeit in der Art und Weise des Umwendens ein. Vor allem in öffentlichen Räumen wurde es schwierig, die als Anweisung zu verstehenden Anrufungen zu ignorieren. Mit der
12 Althusser, Ideologie, 142-148.
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neuen Handlungslogik veränderten sich auch die Praktiken und Techniken der Adressierung und Überlieferung. Konnten sich die Autobiographen nach 1861 in Presse und Publizistik sowie durch die verschiedenen Autobiographieprojekte in Wahlgemeinschaften verorten, wurden sie in der Sowjetunion der 1930er Jahre wieder auf ihre Herkunftsgemeinschaften festgelegt. Nicht mehr Distinktion durch besondere Leistungen, sondern vor allem das Streben nach Einklang mit dem sowjetischen Kollektiv prägte nun die in öffentlichen Räumen präsentierten lebensgeschichtlichen Narrative. Die Abkehr vom Ethos des Leistungserfolgs war für die neuen Machthaber eine Möglichkeit, vormalige Kriterien für biographischen Erfolg auszusetzen. Dies bot die Gelegenheit, auch ehemalige Mitstreiter, Gegner und die nun erneut als rückständig, egoistisch und nicht erziehbar imaginierten Bauern zum Schweigen zu bringen. Aufmerksamkeit und Anerkennung war kein Lohn für stetiges Bemühen, sondern willkürliche Gnadenerweise. Diese Veränderungen korrespondieren mit dem Ansehensverlust der Bauernschaft als sozialer Gruppe, indem mit Begriffen wie ›Kulak‹ immer häufiger ein abfälliges Bild beschworen wurde. Der Bauer als Hoffnungsträger für eine Erneuerung Russlands hatte endgültig ausgedient, an seine Stelle trat nun der Arbeiter. Das Dorf hatte damit auch seine utopische Anziehungskraft als erstrebenswerte Gegenwelt zur Stadt verloren. Die neuen Machthaber versuchten sich auch durch die Durchsetzung neuer Identitätsentwürfe zu etablieren, was ihnen vor allem in öffentlichen Räumen gelang. Der Erinnerungsversion der Sowjetunion widersprechende Lebensentwürfe konnten schon seit Anfang der 1920er Jahren kaum noch in Zeitungen, Journalen oder Büchern erscheinen. Partizipation und Emanzipation durch autobiographisches Schreiben hatte seine Bedeutung verwirkt. Obgleich kritische Stimmen nur schwer in die Archive und Sammlungen gerieten, zeigt der Blick auf kleinere Beziehungsnetze wie Familien, dass die vor 1917 gebrauchten Schreibformen häufig weiter genutzt wurden. Deutlich zeigt sich, dass sich die Bedeutung politischer Wegmarken für das autobiographische Schreiben abschwächte, je dichter die Beziehungsnetze geknüpft waren, die Schreiber und Adressaten autobiographischer Texte verbanden. Die Ereignisse des Jahres 1917 wirkten beispielsweise besonders stark auf die bäuerliche Autobiographik in Presse und Publizistik zurück, während sie das Schreiben innerhalb der Autobiographieprojekte und im Familienkreis deutlich weniger beeinflussten. Erst der Umbruch, der die Sowjetunion seit Stalins Machtantritt erfasste, bedrohte nun auch grundlegend das autobiographische Schreiben in den Autobiographieprojekten und im Familienkreis. Seine Folgen gehen weit über die Zensur unliebsamer Texte hinaus. Die Praktiken der Stalinzeit zielten nicht allein auf das Individuum, sondern sie attackierten vor allem die Beziehungen, in denen der einzelne stand. Sie zerstörten damit auch die Kommunikationsräume, die die verschiedenen Akteure miteinander verbanden. Die Initiatoren der Autobiographieprojekte konnten ihren Korrespondenten keine Sicherheiten mehr gewähren. Vertrauensverlust, physische Gewalt
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sowie die Unterbindung der Briefwechsel führte dazu, dass mit der Beziehung zwischen Initiatoren und Korrespondenten auch die Autobiographieprojekte abbrachen. Auch Bauern, die für sich und ihre Familien autobiographisch schrieben, reagierten auf diesen gesellschaftlichen Umbruch. Sie konnten, da sie anfänglich nicht mit externen Lesern rechneten, länger frühere Schreibweisen beibehalten. Die Familie gewährte Kontinuität über die politischen Zäsuren hinweg. Die Beharrungskraft erprobter Schreibweisen zeigt sich besonders deutlich an den Familientagebüchern mit mehreren Schreibern, für die selbst die Kataklysmen der 1930er Jahre keinen wesentlichen Einschnitt darstellten. Letztendlich lässt sich aber auch an den nicht für eine größere Öffentlichkeit gedachten Tagebüchern ablesen, wie die dort vertretenen Vorstellungen von richtiger Lebensführung zunehmend mit den sowjetischen Biographiemustern kollidierten. Wie schwierig es für die Bauern war, ihr Tagebuch ohne die durch Mobilität und eigenverantwortliche Wirtschaftsführung erfahrene Freiheit weiterzuführen, offenbart vor allem der Widerhall, den die Kollektivierung der Landwirtschaft in den autobiographischen Texten fand. Mit der Abnahme der eigenen Handlungsmöglichkeiten schwand auch die Motivation, sich der eigenen Entschlüsse durch das Schreiben eines Tagebuchs zu versichern. Auch innerhalb der Familien fielen nun die Schreibzwecke, die Bedingungen und auch die Beziehungen weg, aufgrund derer Bauern autobiographisch schrieben. Der autobiographische Text wurde für ihre Schreiber zu einem Gegenarchiv, das die neuen Machthaber misstrauisch beäugten und in Hausdurchsuchungen aufzuspüren versuchten. Es konnte seinen Besitzer der Welt der Lager ausliefern. Autobiographisches Schreiben büßte für die Bauern in den 1930er Jahren das Potenzial ein, eigene Entscheidungen zu rechtfertigen. Vor allem jene Bauern, die vor 1917 mit dem Schreiben eines autobiographischen Texts begonnen hatten, verloren dadurch das Interesse und häufig auch die Möglichkeit, um ihre Lebensgeschichte fortzuschreiben und zu überliefern. Akteure, die in ihren Tagebüchern und Autobiographien widersprechende Lebensentwürfe vertraten, veränderten ihr Schreiben, chiffrierten ihre Einträge oder verharrten im Verborgenen. In vielen Fällen erstickte die Kollektivierung mit der bäuerlichen Autonomie auch das Erzählen über das eigene Leben. Heumarkt, Leningrad, August 1937 »He, Sie da!« Es ist ein Polizist, der mir hinterher ruft. Soll ich mich umdrehen? War der Ruf wirklich an mich gerichtet? Was habe ich falsch gemacht? – Ich bin nicht gemeint, das, was wie ein Ruf klang, kam von einem Auto. – Er meint mich! Was gebe ich zu, wenn ich mich umdrehe? Bin ich der, der ich sein soll? Wie soll ich antworten? Ich habe Angst. – »He, Sie da!« Alle hören den Ruf, jeder dreht sich um. Die schrille Antwort meines Nachbarn verdeckt mein Schweigen. Ich verschwinde in der Menge.
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S CHREIBWEISEN
UND
D ATIERUNG
Bei der Umschrift aus dem kyrillischen Alphabet bediene ich mich der wissenschaftlichen Transliteration. Ausnahmen sind im Deutschen eingebürgerte Schreibweisen wie ›Alexander Puschkin‹, gängige geographische Bezeichnungen und Herrschernamen. Die Datumsangabe folgt für Ereignisse vor 1918 dem julianischen Kalender, der für das 19. Jahrhundert zwölf Tage und für das beginnende 20. Jahrhundert 13 Tage hinter dem gregorianischen Kalender lag.
V ERZEICHNIS AHR altgl. Assnat ASSR BAN BS ý. CEKUBU ýtOIDR d. ƠO f. FSB GAJaO GG GIM Gulag HA HZ IFZ IRLI IV JbGO KGB KGM LV MEW MGU Narkompros NƠP NKVD OGPU op. OZ PSR PSZ
DER
A BKÜRZUNGEN
American Historical Review altgläubig Associacija naturalistov-samouþek Avtonomnaja Sovetskaja Socialistiþeskaja Respublika Biblioteka Rossijskoj Akademii Nauk Bratskoe Slovo ýast’ Central’naja komissija po ulušeniju byta uþenych ýtenija Obšþestva Istorii Drevnostej Rossijskich Delo Ơtnografiþeskoe Obozrenie Fonds Federal’naja služba bezopasnosti Rossijskoj Federacii Gosudarstvennyj Archiv Jaroslavskoj Oblasti Geschichte und Gesellschaft Gosudarstvennyj Istoriþeskij Muzej Glavnoe upravlenie ispravitel’no-trudovych lagerej Historische Anthropologie Historische Zeitschrift Istorija fabrik i zavodov Institut Russkoj Literatury Rossijskoj Akademii Nauk Istoriþeskij Vestnik Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, Neue Folge Komitet gosudarstvennoj bezopasnosti SSSR Karel’skij Gosudarstvennyj Kraevedþeskij Muzej, Petrozavodsk Literaturnyj Vestnik Marx-Engels-Werke Moskovskij Gosudarstvennyj Universitet Narodnyj komissariat prosvešþenija Novaja ơkonomiþeskaja politika Narodnyj komissariat vnutrennich del SSSR Ob-edinennoe gosudarstvennoe politiþeskoe upravlenie Opis’ Oteþestvennye Zapiski Partija socialistov-revoljucionerov Polnoe sobranie zakonov
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RA RAPP RB RGAƠ RGALI RGB RGO RM RNB RO RR RS RSDRP RV SEER Sovnarkom SPb SR SSSR SV T. TKM TODRL VI Volispolkom Vyp. VZ ZfG ZfR
Russkij Archiv Rossijskaja associacija proletarskich pisatelej Russkoe Bogatstvo Rossijskij Gosudarstvennyj Archiv Ơkonomiki, Moskau Rossijskij Gosudarstvennyj Archiv Literatury i Iskusstva, Moskau Rossijskaja Gosudarstvennaja Biblioteka, Moskau Russkoe Geografiþeskoe Obšþestvo, St. Petersburg Russkaja Mysl’ Rossijskaja Nacional’naja Biblioteka, St. Petersburg Rukopisnyj otdel Russian Review Russkaja Starina Rossijskaja social-demokratiþeskaja raboþaja partija Russkij Vestnik Slavonic and East European Review Sovet Narodnych Komissarov St. Petersburg Slavic Review Sojus Sovetskich Socialistiþeskich Respublik Severnyj Vestnik Tom Totemskij Kraevedþeskij Muzej, Tot’ma Trudy Otdela Drevnerusskoj Literatury Voprosy Istorii Ispolnitel’nye komitety volostnych Sovetov raboþich, krest’janskich i krasnoarmejskich deputatov Vypusk Vestnik Znanija Zeitschrift für Geschichtswissenschaft Zeitschrift für Religionswissenschaft
D ANKSAGUNG Das Bild der Anrufung steht nicht nur für das Schreiben der Bauern, sondern lässt sich auch auf mein eigenes Schreiben übertragen. Ich habe während der Arbeit an dieser Studie sehr viel Unterstützung erfahren. Die Aufmerksamkeit und Ermutigung durch Institutionen, meine ›Doktoreltern‹, Kollegen, Freunde und Familie haben mehr als ich es in dieser Danksagung ausdrücken kann, zu diesem Buch beigetragen. Stephan Merl und Susanne Schattenberg bin ich für stetiges Interesse, Rat und Hilfe dankbar. Sie haben mir vor allem in der Endphase, als Zeit- und Kraftreserven erschöpft waren, Sicherheit und Zutrauen gegeben, dass Dissertation und Promotionsverfahren ein gutes Ende finden werden. Ihnen danke ich zusammen mit Kirsten Heinsohn und Malte Griesse auch für eine Verteidigung ganz im Sinne Wilhelm Humboldts. Meine Forschung, Reisen und die Drucklegung der Arbeit haben eine Reihe von Institutionen ermöglicht. An erster Stelle möchte ich mich bei dem DFGgeförderten Graduiertenkolleg 1049 Archiv – Macht – Wissen. Organisieren, Kontrollieren, Zerstören von Wissensbeständen von der Antike bis zur Gegenwart bedanken, das meine Bielefelder Jahre mit einem Doktorandenstipendium unterstützt hat. Der Leiterin des Kollegs, Martina Kessel, danke ich für Gutachten und für wichtigen Rat. Dank der großzügigen Förderung durch den DAAD konnte ich ein Jahr lang in russischen Archiven, Bibliotheken und Heimatkundemuseen forschen. Stellvertretend für all die Hilfe, die ich während meiner Recherchen erfahren habe, möchte ich mich bei Vladimir Budaragin, Gleb Markelov und Oleg Panþenko vom Institut für Russische Literatur in St. Petersburg sowie bei den Mitarbeitern der Handschriftenabteilung der Staatlichen Bibliothek in Moskau bedanken. Der FAZIT-Stiftung bin ich für ein Abschlussstipendium dankbar, das mich befreit von materiellen Sorgen große Teile der Dissertation verfassen ließ. Bedanken möchte ich mich auch bei der DFG und dem Deutschen Akademikerinnenbund e.V., die die Publikation mit einem großzügigen Druckkostenzuschuss unterstützt haben. Neue Perspektiven auf Geschichte und auch auf ein Leben nach der Dissertation bot mir das Rachel Carson Center. Christof Mauch, Martin Schulze Wessel und Helmuth Trischler bin ich nicht nur für Zuspruch und ein spannendes Arbeitsumfeld an der Ludwig-Maximilians-Universität in München dankbar, sondern auch dafür, dass sie den verzögerten Übergang aus der Welt der Bauern in das Reich der Kälte mit Nachsicht ertragen haben. Ein kaum in Worte zu fassender Dank gebührt Christine Hikel und Andreas Renner, die beständig Konzeption und Thesen hinterfragt, Nachdenken eingefordert und die einzelnen Kapitel in ihrer rohesten Form gelesen und kommentiert haben.
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Ich habe von ihrem scharfsinnigen Blick auf Geschichte sehr profitiert. Ein besonderer Dank geht auch an Bianca Hoenig, Alexis Hofmeister, Birte Kohtz, Alexander Kraus, Walter Sperling und Mario Wimmer für kritische Lektüre und unzählbare Anregungen. Ohne ihre Freundschaft wäre dieses Buch nicht zustande gekommen. Aleksandr Lavrov verdanke ich zahlreiche Hinweise auf bäuerliche Selbstzeugnisse. Ihm und Angela Rustemeyer bin ich für ihren Beistand bei meinen ersten ›Gehversuchen‹ im russischen Bibliotheks- und Archivwesen sehr dankbar. Meine Moskauer Freunde – Larisa Frolikova, Aleksandr Chudjakov, Ol’ga Leonova, Dmitrij Leonov, Ol’ga Podkopaeva, Denis Podkopaev, Ruslan Sadekov – waren immer für mich da. Ruslans Eltern und Großmutter haben mir bei meinem ersten Archivaufenthalt nicht nur ein Dach über dem Kopf, sondern auch ein Zuhause gegeben. In St. Petersburg hat mir Ludmila Bulgakova zahlreiche Türen geöffnet, während Wolfgang Sartors Gastfreundschaft mich am wunderbaren Griboedov-Kanal wohnen ließ. Bettina Brockmeyer, Susann Holz, Anja Horstmann, Martina Rokitta, Karsten Wilke und die ›Kinder vom Kesselbrink‹ haben sogar an den vielen regnerischen Tagen, die es in Bielefeld gab, die Sonne scheinen lassen. In München waren Marc Elie, Edith Koller, Julia Landau und Felix Mauch strenger als es jede ›reale‹ Prüfungskommission sein kann. Auch dank ihrer Unterstützung konnte ich mich am 150. Internationalen Frauentag, wie Marc es vorausgesagt hatte, als die »Königin meiner Verteidigung« fühlen. Der Rückhalt, den ich durch meine Familie erfahre, lässt sich kaum in Worte fassen. Meine Eltern, meine Schwester Maria und meine Großmutter haben mich jederzeit vorbehaltlos unterstützt. Meiner Großmutter Erika Berthold widme ich dieses Buch.
6. Register
Personenregister Abramov, Ja.V. 214 Agamalov, S. 133-134 Alþevskaja, Ch.D. 271 Aldridge, I. 93,106, 108 Aleksandra Fedorovna (Zarin) 349 Aleksej Michajloviþ (Zar) 176 Alexander I. (Zar) 89, 91, 200 Alexander II. (Zar) 106-107, 114, 155 Althusser, L. 7-9, 269, 415 Amvrosij (altgl. Metropolit) 179 Andreas-Salomé, L. 146-147 Andreev, I.G. 324, 329, 340 Aniþkova, I.M. 113 Anikanov, S.F. 228, 234 Antonij Šutov (altgl. Erzbischof) 180 Artynov, A.Ja. 73-74, 107, 198, 331332, 362 Artynov, Ja.A. 74, 326, 331-332, 362 Aržilovskij, A.S. 60, 325, 340-342, 364, 369, 399, 410 Astašin, F.V. 298-299 Augustinus 26 Averbach, L.L. 213 Avvakum Petrov (Protopope) 43, 45, 59, 337 Bacharev, A.I. 299, 308 Bagrecov, N.G. 325, 333
Beecher Stowe, H. 88, 121-122, 405406 Belinskij, V.G. 41, 148, 284, 292, 407-408 Belousov, I.A. 160 Benjamin, W. 21 Berger, P. 162, 168 Besov, E.T. 81, 344-352, 359, 365 Bestjužev-Rjumin, K.N. 38, 40, 102 Betman, M.A. 270 Bezobrazov, G. 126, 157 Bobkov, F.D. 87, 93-94, 98, 100, 102-109, 111-112, 126, 132, 152, 155, 162, 320-321 Bobrecov, A. 344, 347 Bokovoj, G.N. 200 Bonþ-Brueviþ, V.D. 18, 49, 73, 82, 117, 158-159, 167, 173-174, 191192, 195-196, 198-268, 281, 283, 285-286, 288, 293, 295, 300, 311316, 366, 368, 388, 391, 406, 409, 412, 414 Borisov, N.P. 375 Bosshard, H. 27 Bräker, U. 27 Brooks, J.P. 8, 124, 270 Buckle, H.T. 25, 39 Burmakin, P. 371-372 Burns, R. 129-130, 233
482 | G EGENARCHIVE
ýeþulin, N.D. 40-41 ýegodaeva, M.G. 391 ýernjaev, A. 122, 124 ýernyševskij, N.G. 89, 92, 283-284 ýertkov, V.G. 76, 207-208, 217, 244 ýertkova, A.K. 207 Chlystova, A.V. 348 Chomjakov, A.S. 190 Chrenov, K.A. 151, 291 Chrušþova, A.G. 101, 104, 392 Cinger, I. 240-241 Ciolkovskij, K.Ơ. 294-295 ýižov, S. 219-220, 225-229 Clark, K. 53 Comte, A. 25, 39, 142, 197 ýuprova, P.S. 80 ýurakov, S.V. 168, 171-174, 182188 Depkat, V. 32-33 Derunov, S.Ja. 134, 136, 389 Dilthey, W. 24-26, 32, 37 Dogudovskij, N. 261 Dostojewski, F.M. 283 Douglass, F. 99, 111 Drobinin, K.M. 391 Drožžin, S.D. 17, 54, 107, 115-162, 199, 225, 233, 235-236, 276-277, 279, 285-286, 295, 302, 304, 308, 335, 399-400 Dudarev, M.S. 174, 182 Dunaeva, D.I. 116, 390, 392 Dusini, A. 318, 327 Eco, U. 273 Edward, T. 273 Efremov, M. 54, 193 Ơngel’gardt, A.N. 322 Ơngel’gardt, V. 93 Engels, F. 105, 205, 236 Engelstein, L. 201, 234, 250 Ephraem der Syrer (Kirchenlehrer) 184
Equiano, O. 89 Ơtkind, A. 204 Fenomenov, M.Ja. 115-116 Fichte, J.G. 47 Figes, O. 62-63, 239, 258, 265-266 Fitzpatrick, S. 13, 50-51, 62, 67, 385, 404 Fomin, A. 292 Foucault, M. 15, 71 Franklin, B. 109 Frierson, C.A. 8-9, 322 Frolov (Men’ševik) 261 Frolov, I.D. 82, 324, 331, 366, 369 Füßli, H.H. 27 Garšin, V.M. 291 Gelis, I. 49-50 Glotov, I.G. 253-254, 258, 325-326, 362, 366-367, 369, 371, 395-397, 399 Glotova, T. 366, 371, 395-397, 399 Goethe, J.W. 22, 26, 28, 34, 129 Golubev, P.S. 321-322 Gor’kij, A.M. 49-50, 53, 66, 144, 147, 159, 198, 201, 233, 235-236, 251, 254, 288 Greþanaja, E. 371 Gremel, M. 30 Gruzdev, E.I. 295, 299-300, 302303, 306 Gusev, N.N. 261 Guyer, J. 27 Halbwachs, M. 61 Halfin, I. 12-13, 35, 52, 62, 67, 193, 239, 253, 266, 404 Hannibal, A.P. 89 Hegel, G.W.F. 25, 39, 54 Heine, H. 130 Hellbeck, J. 12-13, 35, 62, 67-68, 239, 256, 266, 327, 368, 404 Hennequin, E. 273-274 Herberstein, S.v. 91, 115
R EGISTER | 483
Heretz, L. 189, 205 Herzen, A.I. 34, 41, 46, 59, 89, 166, 197, 204-205 Hume, D. 47 Hunt, L.A. 406 Ikonnikov, A.I. 220-221, 230-231, 267 Il’in, L.A. 158, 161-162 Imhof, M. 27 Ioann Kronštadskij (Erzpriester) 164 Ioann Zlatoust (Heiliger) 336 Iov Ušþel’skij (Heiliger) 394 Ivan III. (Zar) 186 Ivanov, E.N. 229 Ivin, I.S. 269-270, 282-283, 297298, 300, 302, 304, 314 Jacimirskij, A.I. 19, 49, 117, 120121, 135, 144, 158, 198-199, 219, 233, 237, 267-269, 284, 288-316, 366, 368, 388, 406 Jakovlev, J.A. 50-51 Jakovlev, N. 52 Jauss, H.R. 273 Juzov, I. 173 Kabanov, I.G. 180-181 Kaþenovskij, M.T. 36 Kalinin, M.I. 247, 253-254, 259 Kambalina, T.I. 80 Kant, I. 47 Kapnist, V.V. 96 Karamzin, N.M. 91 Karpov, I.S. 60, 77-78, 342-343, 370, 375 Katharina II. (Zarin) 96 Katkov, M.N. 94, 106-107, 112 Kautsky, K.J. 236 Kavelin, K.D. 38, 92 Kerblay, B. 57 Klejnbort, L.N. 198 Kljuþevskij, V.O. 40 Klokov, E.A. 224
Klokov, M.N. 222-224, 226 Klokov, P.S. 198, 218, 222-226, 230-237, 267 Kol’cov, A.V. 120, 125, 129-130, 132, 136, 146, 158, 284, 291, 293, 303-304 Kolchin, P. 87, 108 Konokov, G.V. 290 Konon (altgl. Bischof) 180 Konšina, E. 75 Kormann, E. 69, 391 Košelev, V.A. 63 Kostomarov, N.I. 38, 102, 166 Koževnikov, V.E. 168, 171, 173185, 188-189 Kozlova, N.N. 61 Koznova, I.E. 50-51, 61 Kropotkin, P.A. 57 Krusenstjern, B.v. 68 Krylov, A.Chr. 168 Kulibin, I.P. 120 Kurmaþeva, M.D. 56 Kuropatkin, A.N. 350-351 Kuz’miþev, E.K. 295, 297, 300-303, 306 La Harpe, F.-C. de 91 Lagny, G. de 91, 115 Lagunov, K. 342 Latyšev, N. 234 Lavater, J.C. 27 Lavrov, P.L. 39, 398 Lejeune, P. 69-70, 371 Lenin, V.I. 18, 47, 52, 115, 161, 201, 203, 211-212, 238, 246, 250-251, 285, 358, 398 Leonov, M.L. 301, 308-309 Leskov, N.S. 173 Levickij, D.G. 88 Lipec, R.S. 392 Lobanov, A.P. 344, 352-356, 365 Lobanov, P.A. 356
484 | G EGENARCHIVE
Lomonosov, M.V. 107, 120, 144, 168, 289, 291-292 Löwe, H.-D. 349 Luckmann, T. 162, 168, 191 Luk’janov, V.V. 74 Lukiþev, D.I. 325, 328-331, 362, 365, 367, 369, 372-373 Lunaþarskij, A.V. 159, 248 MacKay, J. 63, 88 Mahler, E. 103, 348-349 Makarij (Metropolit) 188, 190 Malyšev, V.I. 77-82 Mandelbaum, M. 363 Markelov, G.V. 78 Marx, K. 54, 197, 236, 261 Matev, I.M. 371-384 Matev, J.I. 371-384 Matev, M.I. 371-384 Matev, V. 371-384 Matkovski, A.A. 291 Mauss, I. 27 Michajlovskij, N.K. 39 Miljukov, P.N. 40, 57 Millar, J. 109 Minaev, I.M. 191, 279, 281 Mironenko, A.D. 219-221, 225, 234 Misch, G. 24-26, 32, 69 Mitterauer, M. 30 Mommertz, M. 386 Morozov, P.T. 193 Myl’nikov, A.S. 77 Napoleon I. (Kaiser) 343-344 Nazarov, A.P. 198, 249-250, 261, 265-266, 280, 281, 283, 286 Nazarov, I.A. 144, 156, 297, 300, 309 Naživin, I.F. 231 Nekrasov, N.A. 88-90, 130, 135, 303 Nikitin, I.S. 120, 125, 129, 136, 304 Nikitin, S.A. 53 Nikitina, E.F. 309
Nikolaj ýudotvorec (Heiliger) 182, 337, 377 Nikolaus I. (Zar) 92, 165, 178, 200 Nikolaus II. (Zar) 242, 341, 347, 349 Nikon (Patriarch) 43, 120, 176, 178, 181, 227, 361, 395 Nikulina-Kosickaja, L.P. 44-45, 389 Novikov, A.P. 243-244, 247-248, 250, 256, 258 Novikov, M.P. 47, 76, 212, 218, 221, 234, 238-267, 410 Novikov, N.I. 90 Ogarev, N.P. 89 Orwell, G. 79 Owen, R. 124 Ožegov, M.I. 45, 155, 190, 269-270, 276, 279, 281-285, 290, 294, 301, 309-310, 314 Pachamov, S.T. 364-365, 396 Palitzsch, J.G. 27 Pascal, P. 57 Pavlov, V.G. 218 Pestalozzi, J.H. 124 Peter I. (Zar) 38, 89, 95-96, 186, 367 Peters, J. 29, 31, 323 Petrov, A.E. 328-329, 359-360, 362363 Plechanov, G.V. 135, 205, 236 Pobedonoscev, K.P. 171-173, 182, 210 Podlubnyj, S.F. 326-327, 364, 369370, 396 Podomorev, I.P. 325, 344, 357, 369370, 373 Pogodin, M.P. 93, 106-107, 291, 331 Polušin, A.F. 371, 395 Popovskij, M.A. 58-59, 78 Popugaev, V.V. 90 Potechin, S.L. 297-298, 303 Presser, J. 68 Pril’, L.N. 379, 381
R EGISTER | 485
Prugavin, A.S. 130, 166, 173, 197198, 204-205, 214, 271-272 Purlevskij, S.D. 44, 87, 93-103, 105106, 109, 111, 126, 132, 152, 162 Puschkin, A.S. 89, 130, 141, 292, 299, 303 Puzanov, T. 329 Rachmanov 379 Radišþev, A.N. 41, 71, 90, 96, 243 Rassychaev, I.S. 258, 326, 332, 335342, 361-364, 369, 373, 410 Ratmanov, A. 350-352 Repin, P. 95 Rilke, R.M. 146-147, 158 Rodiþev, F.I. 57 Romanov, K.K. (Großfürst) 147, 151, 154-155, 276 Rousseau, J.-J. 22, 26, 28, 34, 124 Rubakin, N.A. 19, 49, 69, 73, 82, 89, 113, 117, 121, 130, 140, 150, 191, 195-199, 219, 233-234, 237, 250, 265-288, 292-297, 300-302, 304307, 309-313, 315-316, 360, 366, 368, 388-389, 406 Ryleeva, A.D. 352 Ryžova, E.A. 78 Šachnoviþ, M.I. 212 Šachovskij, S.V. 271-272 Saltykova, D.N. 111 Samarin, I. 105 Savin 115 Šþapov, A.P. 38, 166, 197, 204-205 Šþenikov, S.S. 308 Šþerban, N. 44, 94 Schedewie, F. 407 Schenda, R. 30-31 Schill, S. 158 Schlözer, A.L. v. 36 Schlözer, C. v. 109 Schulze, W. 13, 68 Šþipunov, V.F. 344, 357-358
Šþukin, P.I. 69, 73 Semenov, S.T. 301 Semenova-Tjan-Šanskaja, O.P. 113 Semevskij, M.I. 41, 93, 125, 135, 142, 145, 148 Semevskij, V.I. 41 Seminoff, T. 114-115 Ševþenko, T.G. 41, 93, 98, 120, 129130 Sidorova (Žuntova-ýernjaeva), D.E. 369, 400-401 Sikerina, S. 132 Šipov, N.N. 52, 104 Šipuk, I. 272-273 Sitnikov, G.Ja. 340, 362, 393-395 Sitnikova, E.P. 393-395 Sitnikova, M.E. 394 Sivkova, A.N. 384 Škulev, F.S. 290, 295, 297, 299, 306310 Slepuškin, F.N. 120, 168 Sljuzov, A.I. 290 Smiles, S. 107, 120-126, 129, 131, 134-135, 138, 168, 188, 225, 273, 289, 296, 299, 304-305, 312, 321, 388, 405-406 Smirnov, A.N. 303, 308 Smith, A. 109 Solov’ev, S.M. 38-39 Sorokin, N.P. 42 Spencer, H. 39 Sreznevskij, I.I. 73, 198 Sreznevskij, V.I. 78 Stalin, I.V. 47, 58, 203, 239, 247, 253, 256-258, 286, 341, 416 Stepnjak-Kravþinskij, S.M. 205 Stoljarov, I.Ja. 57-58 Storch, H. 109 Stromilov, N.S. 74 Stupin, S.A. 344, 358-359, 364
486 | G EGENARCHIVE
Subbotin, N.I. 171-173, 178, 181182, 187, 192, 209-210, 219 Suchorukov, M. 51 Šumkov, G. 345 Surikov, I.Z. 136, 158-159, 282, 297, 300, 304, 308 Tartakovskij, A.G. 55-56, 344, 405 Tenišev, V.N. 196-198 Tersch, H. 31 Tezikov, K.I. 124, 295, 298, 303, 306 Tichomirov, M.N. 53 Tichomirov, N.B. 82 Titov, A.A. 73-74, 198 Titova-Drožžina, M.K. 156, 399-401 Tolstoj, L.N. 58, 145, 148, 159, 201202, 207-208, 228, 239-244, 251, 260-261, 271, 282-284, 291, 300 Tomilov, S.N. 344, 356-357, 365 Toussaint L’Ouverture, F.D. 91 Travin, P.A. 308 Tregubov, I.M. 207-208, 228 Trockij, L. 76, 407 Turgenev, I.S. 88, 90, 130, 291-292 Turgenev, N.I. 91, 97, 105, 109, 114 Uspenskij, G.I. 322 Vadaev 343 Vasjunkina, A.G. 115, 390, 392 Ortsregister Algier 356 Archangel’sk 184, 252, 257-258, 325, 333, 343 Astapovo 243 Athen 356 Babylon 86 Baltimore 86 Belaja Krinica 179, 181 Berlin 36 Bogochranimaja 223-224 Britische Kolonien 87
Vasjutin, I. 187 Veliþkina, V.M. 202, 207 Vernadskij, I.V. 196 Veselev, I. 177-178 Viollet, C. 371 Vitjazev, A.V. 371-375, 382-383 Vitjazev, F. 371-375, 382-383 Vitjazev, M.I. 371-375, 382-383 Vitjazev, V.A. 371-375, 382-383 Vitte, S.Ju. 242-243 Vladykin 132-133 Vlasov, I.E. 189-190 Volynkin, I.V. 396-399 Vostrjakov, S.I. 168 Wehler, H.-U. 29 Welzer, H. 54, 384 Yokoyama, O.T. 289 Zajonþkovskij, P.A. 41, 55, 75, 170, 173 Zamaraev, A.A. 320, 324-325, 328, 330-331, 362, 367, 395, 397, 399 Zamaraeva, L.A. 395, 397, 399 Zavolokin, P.Ja. 151, 153, 198 Železnjakov, A.I. 365, 369-370 Židkov, Ja. 355 Zin’kovskij, V.M. 276, 281, 389 Žitomirskaja, S.V. 75-77, 202-203
Bukowina 179 Bundesrepublik Deutschland 29 ýebjug 381 Charkov 271 China 396 Dänemark 87 DDR 29-30 Den Haag 114 England 39, 114, 121, 125, 207, 243 Frankreich 57, 87, 105-106, 122, 356 Fukuoka 352-355
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Genf 89, 205, 209 Gorodensk 136 Grimma 114 Grodno 272 Guslicy 164 Habsburgerreich 179 Harbin 345, 349 Irland 91 Italien 356 Japan 351-355 Jaroslavl’ 82, 95, 233, 242, 297-298, 301, 303, 324, 349 Jerusalem 356 Kaluga 178, 182-183 Kanada 200, 206 Kazan’ 233, 293 Kem’ 185, 343 Kiev 101, 293 Kišinev 101 Kostroma 44, 103 Krasnoborsk 375 Kronštadt 270, 356 Kurland 356 Leningrad 75, 77, 79, 81, 212, 317, 358, 362, 365-366, 375, 396, 400, 417 Libau 356 London 58, 78, 89, 205, 207 Lužki 178 Malaja Višera 396 Malta 356 Mandschurei 351 Moskau 71-73, 82, 97-98, 102, 104, 117, 145, 171, 177-181, 212, 243244, 290, 298, 301-303, 326, 347, 349, 400 Mukden 349-350 Niger 90 Nižegorod 187, 224 Nižnij Novgorod 233, 236-237
Nizovka 116, 126, 128, 145-147, 149, 152, 155, 157, 160-161, 236 Novorossijsk 102 Odessa 102, 293 Österreich 29-30, 36, 43 Ostpreußen 356-357 Paris 57, 105, 114 Pavlovo 42 Pavlovski 207-208 Petrograd 366 Petrozavodsk 346, 350, 352 Pirogov 365, 370 Polen 180, 357 Poltava 219 Preußen 87, 354 Prohlis 27 Pskov 321 Puþkoma 376 Republik Komi 376 Rjazan’ 272 Romny 219 Russischer Norden 16, 78, 82, 184, 297, 327, 334, 342, 360-361, 379, 393, 395 Rybinsk 233 Samara 233 Schweiz 29-30, 36, 43, 205, 207, 234, 270, 272, 285 Senegal 90 Sibirien 187-188, 213, 231-232, 281, 289, 330, 379 Smolenec 362, 395 Solovki 50, 176, 184, 393-394 Spanien 356 St. Petersburg 7, 72-73, 77, 97-100, 109, 116-117, 123, 126-127, 129, 134, 137, 144, 150, 154, 169, 188, 201, 232, 235, 239, 290, 301, 326, 346, 362, 396 Südstaaten der USA 87, 90, 97-99, 108, 114
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Syktyvkar 376 Taschkent 133-134, 141 Tennessee 91 Tomsk 379 Tot’ma 331, 395 Tsushima 352 Tula 178, 238, 242 Türkei 187-188 Tver’ 91, 126, 136, 144, 156-157 Ugodiþi 331 Uruguay 272-273, 297 Ušþel’ 394 Ust’-Kulom 326, 363 Vaška 328-329, 376 Sachregister Aberglaube 141, 221, 244-245, 335 Abolitionismus 90, 94, 113-114 Adel 86, 90, 97, 105, 109-110, 112, 205, 276, 371-372 Adressierung 11-16, 20, 58, 62, 69, 71, 74, 76, 85-86, 117, 119, 167, 193, 199, 201, 226, 234, 245-247, 256, 267-268, 283, 288, 309, 314, 317, 319, 322-323, 332, 335, 368, 401, 403, 406, 407-410, 413-416 Akademie der Wissenschaften 42, 72, 74, 109, 135, 146, 154-155, 202, 207, 210, 212, 214, 288, 292 Alkoholismus 91, 98, 127, 139, 163, 220, 231, 244, 279, 332, 359-360 Almanache 243, 320 Alphabetisierung 20, 31, 42, 44, 215, 269, 287, 297, 310-311, 344-345, 390, 392, 413-414 Anrufung (interpellation) 7-9, 17-19, 86, 116, 118, 134, 136, 146, 199, 213, 218, 245, 250, 269, 271-275, 289-296, 311, 322-323, 339, 376, 380, 403-410, 413-415
Velikoe 95, 98 Verchnie Berezniki 393 Vereinigte Staaten von Amerika 87, 90, 102, 108, 110, 112-115, 312, 405 Virginia 89 Vjatka 389 Vologda 349, 387 Warschau 227 Wien 36 Zapjatkovo 321 Zasul’e 213 Zavidovo 160-161 Zürich 36
Antichrist 95, 164, 180-181, 184, 186, 379, 381 Apanagebauern 85 Apokryphe 77, 226, 334, 337 Arbeiter 10-11, 29, 43, 47-50, 52, 57, 120, 143, 150-151, 160, 193, 197-198, 202, 213, 231, 233-237, 246, 258, 260, 267, 272, 274, 276280, 288-289, 292-294, 297, 301302, 305, 307, 314, 365-366, 388, 398-399, 403, 407, 416 Arbeiterpoet Siehe Dichter aus dem Volk Archivierung 13, 15-16, 19-20, 23, 29, 48-49, 53-54, 65, 67, 71-74, 77-78, 80, 81, 83, 115-118, 182, 195-197, 200-202, 205, 209, 212, 214, 218-219, 269, 288-289, 292, 309, 311, 323, 365, 385-386, 391, 401, 403, 406-407, 410-413, 415 Archivierungs- und Sammelpraktiken Siehe Archivierung Aufhebung der Leibeigenschaft 8, 10, 14, 17, 36, 41-42, 44, 52, 54,
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56, 59-60, 64, 66, 85-89, 91-94, 96, 101-103, 106-107, 110, 112116, 118, 120, 123, 153, 155, 160, 163, 171, 180, 192, 222, 244, 307, 310-311, 392, 403-404, 408, 413414, 416 Authentizität 16, 31, 43-45, 51-52, 56, 59, 64, 69, 113, 288, 311, 389390, 401, 404, 411, 415 Autobiographie, kollaborative 390391 Autobiographie, kooperative 94, 101, 386, 389-401 Autobiographischer Pakt Siehe Pakt, autobiographischer Autodidakt (samouþka) 11, 19, 27, 42, 52, 107, 116, 120-125, 129, 133, 136, 139, 142, 144, 151-152, 160-161, 167, 268-269, 273, 275276, 279, 282, 289-294, 296-297, 301-302, 305-306, 308, 399, 403, 408-409 Autokratie 18-19, 33, 36-38, 85, 112, 121, 154-155, 167, 191-192, 197, 204, 207, 244, 263-264, 284, 292, 314, 351, 405, 410, 413-414 Bäuerliche Autobiographik (Definition) 67-71 Bauernbefreiung Siehe Aufhebung der Leibeigenschaft Bauernpoet Siehe Dichter aus dem Volk Bibliopsychologie 271, 286 Biographie, imperiale 82-83 Biographiegenerator 275, 345, 387 cholop 96 cholopstvo 96 Dichter aus dem Volk 11, 17, 54, 56, 93, 98, 115-117, 119-121, 123124, 129-130, 134-136, 139, 143-
144, 146-147, 150-151, 155, 158162, 167-168, 198, 201-202, 219, 225, 228, 232-234, 236-237, 276, 284, 286, 289, 290, 293, 297, 300, 303-308, 310, 313, 335, 389, 399 Dicke Journale (tolstye žurnaly) 17, 36, 63, 85-86, 166, 170-171 domovoj 221 Doppelglauben (dvoeverie) 163 Dorfarmut (bednjaki) 157, 249, 330 Drevlechranilišþe (IRLI) 77-78, 81, 317, 321, 356, 375 Ego-Dokument (Definition) 67-71 Eingläubigkeit (edinoverie) 177-178, 183, 188, 191 Eisenbahn 108, 230, 246, 276, 298, 301, 347 Entkulakisierung 18, 249, 252, 283, 326, 411 Eparchie 166, 170 Familienarchiv 67, 77, 128, 382 Findmittel 72, 74, 76, 195, 411 Fotografie 134, 147, 216, 234, 274, 279, 290, 350, 383 Fragebögen 48-49, 148, 195-197, 206, 208, 214, 219, 267, 271-272, 275, 311 Freiheit als Motiv 87, 92-93, 95-98, 100-102, 106, 108-109, 113, 125126, 160, 317, 392 liberté 101 svoboda 87, 95, 101-102 volja 87, 101, 346 Gang ins Volk 235, 314 Gedächtnis, kommunikatives 54, 384 Gefängnis 91, 160, 216, 229, 235, 240-242, 246-247, 252, 255, 260262, 272, 276, 308, 310, 314, 341342, 364, 399 Butyrka-Gefängnis 240, 246-247 Kresty-Gefängnis 235
490 | G EGENARCHIVE
Gemeinwohl 111, 120, 129, 137, 149, 160, 171, 214, 245, 278, 280, 282, 284, 310, 406, 414 Genealogie 117, 120, 125, 127, 136, 144, 152-153, 224, 290, 372-382 Geographische Gesellschaft 42, 52, 88, 134, 196, 198, 319, 362 Geschichte der Fabriken und Betriebe (IFZ) 49, 50, 55, 67, 251, 254, 288, 313, 403 Gesellschaft (obšþestvo) 36-42, 85, 92, 102, 112, 118, 125, 129, 196197, 218, 238, 262, 276, 278, 300, 406, 413-414 Große Reformen 36-38, 44, 94, 111, 128, 413 Gulag 50, 57, 60, 72, 76, 340-341, 417 Hagiographie 31, 43-44, 77, 100101, 108, 111, 128, 133, 141, 145, 160, 168-169, 175, 189, 193, 199, 225-226, 228, 263-264, 277, 306, 313, 334-339, 341, 406 Handschriftenabteilung 16, 72-82, 117, 212, 261 Akademie der Wissenschaften (BAN) 72, 74, 77, 210, 214 Historisches Museum (GIM) 69 Russische Nationalbibliothek (RNB) 72-74, 77 Russische Staatsbibliothek (RGB) 72-77, 82, 195, 201-202, 218, 222, 228, 234, 239, 241, 244, 270, 273 Heiliger Synod 165, 171, 291 Herrenrecht Siehe ius primae noctis Ikonen 103, 182, 220, 334, 336-337, 340-341, 394 Illusion, biographische 31 Imperium 38, 83, 112, 196, 315, 414
Intelligencija 17, 38-39, 42, 91, 111112, 162, 244, 278-279, 292, 314 krepostnaja intelligencija 41, 52, 56, 93, 98, 100, 122-123 narodnaja intelligencija 278 ius primae noctis 105-106 Kalender 70, 103, 282, 320-321, 345-346, 377, 393 Gregorianischer Kalender 156, 325, 357, 375, 380 Julianischer Kalender 325, 367, 375, 380, 412 Kalenderreform 322, 325, 367, 412 Kastration 201, 234 Kaufmannschaft 10, 69, 73, 94, 99, 100, 102, 109, 162, 187, 276, 371372, 395 Erste Gilde 109 Zweite Gilde 102 Dritte Gilde 395 Klasse 50, 52-53, 56, 116, 149, 153, 158, 192, 197, 220, 230, 258, 276, 285, 287, 408 Klassenkampf 48, 52, 56-57, 161, 211, 251, 286, 310, 392 Kleinbürger 10, 102, 109, 144, 272, 289 Kolchose 62, 115, 161, 247, 252, 257-258, 260, 330, 338, 358, 364365, 367, 369-370, 396 Kolchoznik 256, 259-260, 408 Kollektivierung 14, 17-18, 54, 5658, 60-62, 66-67, 77, 85, 116, 119, 159, 161-162, 213, 238, 247, 249250, 256-260, 283, 335, 338, 360, 365-367, 380, 391, 411, 415, 417 krepostniþestvo Siehe Leibeigenschaft Kriege 118, 176, 205, 231, 248, 270, 323, 335, 343-345, 358, 378, 381, 387-388
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Bürgerkrieg 49, 56, 118, 204, 208, 285, 287, 363, 378 Erster Weltkrieg 118, 270, 273, 287, 356-358, 363, 366, 378 Kalter Krieg 56 Krimkrieg 36-38, 60, 92, 122 Napoleonische Kriege 223, 344 Russisch-Japanischer Krieg 81, 231, 344-345, 348-356 Russisch-Türkischer Krieg 345, 378 Zweiter Weltkrieg 57, 203, 273, 358, 378, 380 Kriegsgefangenschaft 349-350, 352358 Kriegskommunismus 60, 70, 118, 238, 246, 266 Kriegstagebücher 343-345, 387 Kulak 153, 193, 211-212, 236, 238239, 249-250, 252-253, 256-259, 263-264, 313, 327, 330, 340, 342, 416 Leibeigenschaft 10, 17, 26, 33, 4145, 52, 54, 56, 59, 63-64, 66, 7071, 85-116, 122-126, 145, 148, 152-153, 155, 157, 160-163, 167, 169-171, 192-193, 196, 219, 222, 238, 245, 252, 267, 295, 306, 310, 320, 371, 388-392, 395, 400, 403, 405-406, 414 lubki 202, 282, 351 Märchen 68, 101, 131, 224, 235 Martyrium 18, 31, 91, 128, 215, 223, 226, 228, 232-233, 237-238, 263, 317, 320-321, 391-392, 394, 406, 410 Memoria 330-332 Memorial 71-72, 390 Methodendualismus 23, 39 Erklären 23, 29, 40, 54, 410
Verstehen 23, 26, 29-30, 32, 34, 40, 43, 410 Mittelbauer (serednjak) 249, 256260 Moskauer Schule 40 Museum 30, 69, 73, 76, 80, 156, 160-161, 201-203, 208, 212, 239241, 243-244, 254-255, 261-263, 327, 350, 352, 376, 384 Heimatkundemuseen 82, 352, 395 Museum russischer Autodidakten, SPb 292 narodniþestvo 130, 135, 142, 148, 192, 204-205, 260, 274 Nation (nacija) 37, 42, 61, 111-112, 196, 315, 344, 414 Naturtalent (samorodok) 11, 19, 27, 42, 107, 116, 125-126, 136, 144, 152, 288-290, 294-296, 307, 312, 399 Neue Ökonomische Politik (NƠP) 246, 283 Nikonische Reformen 95, 176, 178, 184, 227, 326, 361 NKVD 75, 240, 242 Ochrana 237 OGPU 247, 259, 265 Onkel Toms Hütte 88-90, 98, 113 Pakt, autobiographischer 44, 69-70, 371, 382, 389 Pazifismus 159, 209, 211, 217, 230231, 242-243, 251 Perestrojka 54, 56, 59, 60, 64, 77-78, 317, 342, 411 Persona 121, 123, 139, 142, 144, 147, 203-204, 228, 317, 414 Persönlichkeit (liþnost’) 26, 28, 33, 37, 39, 49, 133, 142-143, 283, 287, 411 Petersburger Blutsonntag 350-351 Petersburger Schule 40
492 | G EGENARCHIVE
Positivismus 25, 35, 142, 196, 273274 postcolonial studies 11, 15, 22, 26, 94, 314, 390 Presse Siehe Zeitschriften, Zeitungen Proletarier Siehe Arbeiter Raskol Siehe Sekten, Altgläubige Rechnungsbuch 117, 319-321 Referentialität 28, 32-33, 64, 69, 385 Rekruten Siehe Soldaten Revisionismus 35 Revolution 54, 57, 62, 64, 91, 118, 193, 207, 341, 381 Februarrevolution (1917) 193, 341, 357 Oktoberrevolution (1917) 9, 42, 47-48, 51-52, 54, 59-61, 67, 82, 118, 151, 155-156, 158, 162, 193, 237-238, 244, 246, 254, 261, 283, 287, 340, 345, 357, 362-363, 368, 380, 387, 393 Revolution (1905/06) 217, 236, 315, 398 Säuberungen 57, 60, 62, 238, 265 Schreibebuch 319, 323, 366, 400 Sekten 18, 42, 70, 82, 85, 102, 162268, 283, 312-313, 391, 406, 410, 412 Altgläubige 43, 77-79, 82-83, 9495, 103, 163-166, 168, 170184, 186-192, 201, 204-205, 209-210, 214, 217, 223-225, 232, 234, 236, 297, 326, 337338, 340, 342, 360-361, 367, 379, 381, 391-392, 395 Baptisten 111, 164, 210, 218, 229 besedþiki 164
bespopovcy 171, 177, 179-181, 184, 189 bezdenežnye 186 duchoborcy 164, 200, 206, 209, 211, 213, 229 filippovcy 184 Ioanniter 164 kungurcy 187 lužkovcy 178, 182 Molokanen 164-165, 170 Orthodoxe Häretiker 164, 223 popovcy 164, 171, 177, 179-181, 189 postniki 164 skopcy 101, 170, 201, 211, 234, 250 skrytniki 379 stranniki 185-186, 189 Štundisten 164, 205, 210, 219, 227-229 Tolstojaner 18, 58-59, 76, 78, 164, 207-209, 212, 231, 243-244, 250, 260, 283-284 Selbststudium Siehe Autodidakt Selbsttätigkeit 120, 123, 125-126, 130, 132, 135, 137, 159, 162, 263, 283, 335 Selbstzeugnis (Definition) 67-71 self-made man 121-122, 312 Sexualität 99, 101, 105, 137-143, 241, 277, 279 Skeptische Schule 36 Sklave (rab) 11, 26, 85-116, 132, 144, 403, 408 Sklaverei (rabstvo) 85-116, 132-133, 160, 170, 292 slave narratives 63, 94, 97, 99, 110 Soldaten 79, 92, 99, 103, 105, 126, 185, 200, 223, 270, 272, 301, 305,
R EGISTER | 493
314, 317, 326, 343-353, 356, 359, 363, 365-366, 373, 407 Soldatenbuch 345 Soviet Subjectivity 13, 35, 266, 404 Staatsbauern 85 Stammbaum 326, 373, 375 Ständewesen 10, 11, 27, 39, 42, 56, 67, 86, 92, 94, 99-100, 109, 114, 118, 120, 123, 125, 133, 135-136, 148-149, 169, 174-175, 192, 205, 219-220, 276-277, 303, 305, 312313, 315, 406, 408, 414 Technologie des Selbst 199, 274 Totensorge 80, 330-333, 378, 382 Traum 137, 140-142, 156, 332, 334343, 360, 363-364, 393-395 Traumaufzeichnungen 141, 333343, 393 Traumdeutungsbücher 141, 335 Traumdeutungstradition 141, 334336 Überlieferung 14-16, 19, 31, 66-67, 71-83, 115-118, 170, 195, 197, 201-202, 214, 239-241, 250, 255, 261-262, 264, 267, 269-270, 289, 296, 309, 311, 315, 318-319, 321, 344, 360, 364, 370, 383 geschlechterspezifische Überlieferung 384-401 Überlieferungslücke 15-16, 20, 4142, 48, 64, 71-72, 246, 319, 384386, 410, 412-413 Ungleichheit, soziale 66, 110, 155, 303, 403, 406 Universitäten 38, 40, 46, 81, 109, 153 Moskauer Universität 73, 74, 107, 331 Petersburger Universität 293 Universität Kazan’ 293 Universität Kiev 293
Universität Odessa 293 Universität Syktyvkar 376 Universität Warschau 293 Verbannung 39, 218, 223, 227, 231232, 239, 247, 252-253, 255, 257, 259-260, 262-263, 266, 272, 285, 308, 314, 330, 342, 361, 365, 414 Vision 68, 140-141, 323, 334-335, 337-338, 340, 342-343, 360, 365, 393-395 Vita Siehe Hagiographie Volk (narod) 37-38, 42, 88, 93, 102, 110, 112, 122, 148, 154-155, 162, 192, 196, 202, 238, 244, 271-274, 278, 286, 289, 292, 302, 312, 380 Volksarchiv (Narodnyj archiv) 6162, 71-73, 390 Volksbilderbögen Siehe lubki Wehrdienstverweigerung 211, 217, 223, 231 Wetterbeobachtungen 317, 319-321, 324, 366, 377, 379-380, 383, 397 Wir-Gruppe 318, 384 Wirtschaftsbuch 323-324, 338, 366, 396, 399-401 Zeitschriften, Zeitungen 14, 17, 20, 36, 42, 44, 49-50, 55-56, 59, 63, 66, 75, 79, 81, 83, 85-193, 209210, 218-219, 221, 225, 230, 232, 234, 237, 241, 243, 253, 269, 271272, 276, 280-281, 286, 289, 292, 299, 301, 304-306, 308-309, 317, 319, 326, 329, 331, 342, 344-345, 351-353, 355, 361-362, 371, 384, 388-389, 406, 412-413, 415-416 Baptist 210 Bratskoe Slovo 166, 168, 170-188, 210, 216, 218-227, 264, 300, 391
494 | G EGENARCHIVE
ýtenie dlja soldat 168 Drug Istiny 173 Eparchial’nye Vedomosti 166, 169-170, 174, 181, 391 Harrisburg Telegraph 114-115 Illustrirovannaja Gazeta 132 Iskra 129, 161 Istoriþeskij Vestnik 102 Jasnaja Poljana 271 Katorga i ssylka 49 Kolokol 89 Krasnyj Archiv 49 Krest’janskaja Gazeta 48-51, 61, 153, 156, 193, 253, 264, 313, 360, 393, 404 Liberty Bell 114 Literaturnyj Vestnik 293 Moskovskie Vedomosti 90, 107 Narodnye Listki 207 Niva 234 Novoe Vremja 293 Novyj Mir 59, 78 Novyj žurnal dlja vsech 272 Ogonek 77-78 Perekovka 50 Pravda 49, 211, 246, 256 Proletarskaja Revoljucija 47, 49, 286 Rassvet 209
Rodnaja Reþ’ 389 Russkaja Mysl’ 293, 310 Russkaja Starina 17, 41, 45, 93, 111, 118, 125, 130, 137, 139140, 142-143, 152-154, 236, 304, 399 Russkij Archiv 371 Russkij Vestnik 94 Russkoe Bogatstvo 43, 271 Russkoe Slovo 272, 299 Severnyj Kraj 146 Severnyj Vestnik 42 Sovremennik 89-90, 92, 130 Troickie Listki 166-167 Ural 342 Vestnik Znanija 272, 280-281, 292 Žurnal dlja vsech 243 Zemstvo 38, 134, 197, 321 Zensur 34, 36-37, 46, 75, 89, 90, 92, 122, 314, 411, 414, 416 Zeugnis, Zeugenschaft 16, 21-22, 25, 30, 34, 42-46, 50-51, 57-58, 60, 64, 67-68, 73, 113, 118, 153, 160, 170-171, 206, 215-217, 222, 228229, 241, 243, 254, 288, 308, 312, 335, 349, 354, 362, 381, 390, 395, 401, 405, 410-411 Zivilisierung 111, 265, 268-269, 294, 353, 415
1800 | 2000. Kulturgeschichten der Moderne Peter-Paul Bänziger, Magdalena Beljan, Franz X. Eder, Pascal Eitler (Hg.) Sexuelle Revolution? Zur Geschichte der Sexualität im deutschsprachigen Raum seit den 1960er Jahren September 2013, ca. 330 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2064-1
Peter Becker (Hg.) Sprachvollzug im Amt Kommunikation und Verwaltung im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts 2011, 368 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1007-9
Tobias Becker, Anna Littmann, Johanna Niedbalski (Hg.) Die tausend Freuden der Metropole Vergnügungskultur um 1900 2011, 340 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1411-4
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1800 | 2000. Kulturgeschichten der Moderne Manuel Borutta, Nina Verheyen (Hg.) Die Präsenz der Gefühle Männlichkeit und Emotion in der Moderne 2010, 336 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-972-5
Sabine Maasen, Jens Elberfeld, Pascal Eitler, Maik Tändler (Hg.) Das beratene Selbst Zur Genealogie der Therapeutisierung in den ›langen‹ Siebzigern 2011, 318 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1541-8
Christa Putz Verordnete Lust Sexualmedizin, Psychoanalyse und die »Krise der Ehe«, 1870-1930 2011, 260 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1269-1
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