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German Pages 246 [248] Year 2003
Linguistische Arbeiten
474
Herausgegeben von Hans Altmann, Peter Blumenthal, Hans Jürgen Heringer, Ingo Plag, Beatrice Primus und Richard Wiese
Horst J. Simon
Für eine grammatische Kategorie >Respekt< im Deutschen Synchronie, Diachronie und Typologie der deutschen Anredepronomina
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2003
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-484-30474-X
ISSN 0344-6727
© Max Niemeyer Verlag G m b H , Tübingen 2003 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: Hanf Buch- und Mediendruck G m b H , Darmstadt Einband: Industriebuchbinderei Nädele, Nehren
Dank
Die Erstfassung der vorliegenden Arbeit wurde im Oktober 1999 von der Philosophischen Fakultät II der Humboldt-Universität zu Berlin als Dissertation angenommen. Eine Überarbeitung erfolgte im wesentlichen im Sommer 2002. Dieses Buch ist dank der Unterstützung zahlreicher Menschen entstanden. All denen, die jeweils auf ihre Weise zum Entstehungsprozeß beigetragen haben, gilt mein aufrichtiger Dank. Zuerst sind da meine Eltern zu nennen, die mir ein sorgenfreies Studium ermöglichten. Entscheidende Impulse, mich ernsthafter mit Linguistik (und den anderen schönen Dingen der Welt) zu befassen, gab mir Kordelia Nitsch. Am Passauer Lehrstuhl von HansWerner Eroms konnte ich beobachten und lernen, daß das Nachdenken über die deutsche Sprache aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln interessant sein kann. Prägend für meine heutige Sicht auf die Sprachwissenschaft und für die Grundperspektive dieses Buchs ist die Arbeit am Institut für deutsche Sprache und Linguistik der Humboldt-Universität zu Berlin. Karin Donhauser hat hier meine linguistischen Bemühungen kontinuierlich begleitet und in zahlreichen ausführlichen Gesprächen dazu beigetragen, meine Argumente zu schärfen; sie trug essentiell zur Präzisierung meiner Gedanken bei. Daneben hat sie ein Umfeld geschaffen, das es mir ermöglicht, meine eigenen Ideen zu verfolgen. Für dies alles gebührt ihr mein ganz besonderer Dank. Annette Fischer bin ich für jahrelange freundliche Opposition und konstruktiven Dialog verbunden; mit ihr zusammenzuarbeiten, ist eine echte Freude. Einen gravierenden Anteil an der Entstehung dieses Buchs hat Heike Wiese: sie hat mich einmal während einer .Diachronen Teestunde' durch hartnäckiges Nachfragen gezwungen, meine These zu konkretisieren und auf den entscheidenden Punkt zu bringen; ihr freundschaftlicher Rat war mir in mehr als einer Hinsicht hilfreich. Elvira Glaser und Maria Selig, die beide auch die Erstfassung begutachteten, haben mir jeweils neue Sichtweisen auf meine Fragestellung eröffnet. Bei etlichen Gelegenheiten habe ich durch Kolleginnen und Kollegen (z.B. in Passau und in Zürich) inhaltlichen Zuspruch erfahren - darüber hinaus haben sie mich aber dankenswerterweise nicht vergessen lassen, daß es noch andere reizvolle Probleme in der Linguistik gibt; insbesondere Thomas Fritz erinnert mich immer wieder daran, daß man vieles auch ganz anders sehen könnte. Dieses Buch wäre nie fertig geworden, wenn am Schluß nicht mehrere Menschen konkret mitgeholfen hätten: Die Erstfassung hat Koyka Stoyanova unter schwierigen Bedingungen abgabebereit gemacht. Lars Mecklenburg hat das Layout der vorliegenden Fassung eingerichtet. Ulrike Freywald hat mich in der Zeit der Fertigstellung der Endfassung in vielfältiger Weise unterstützt und jede einzelne Formulierung überprüft. Daß mein Leben während der Arbeit an diesem Buch nicht an Annehmlichkeit verloren hat, verdanke ich Freundinnen und Freunden, die mir ihre Zeit und ihre Zuneigung schenkten. Ich nenne hier nur die wichtigste Person aus diesem Kreis: Rose Littmann, die mit mir jahrelang das richtige Verhältnis von häuslicher Ruhe und geistiger Anregung gemixt hat. Berlin, im September 2002
Horst Simon
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
IX
Abkürzungsverzeichnis
XI
0. Hinführung und Vorschau
1
1. Perspektivierung
4
1.1. Tradierte Ansätze der Anredeforschung 1.1.1. Primär soziolinguistisch orientierte Arbeiten zur Anrede 1.1.2. Germanistische Untersuchungen zur Diachronie der Anrede 1.2. Die Sicht der Grammatiker auf die Anrede 1.2.1. Die deskriptiven Grammatiken des Gegenwartsdeutschen 1.2.2. Theoretische Untersuchungen zu grammatischen Kategorien 1.3. Versuch eines Neuansatzes - These 2. Grammatische Kategorien 2.1. Eigenschaften grammatischer Kategorien 2.2. Das kategoriale Umfeld von 'Respekt' im Deutschen 2.2.1. Numerus 2.2.2. Person 2.2.3. Genus 2.2.4. Kasus 2.3. Ait und Ort der Markierung der Kategorien 2.4. Zusammenfassung zu den pronominalen Kategorien
4 4 8 10 11 18 22 24 24 34 35 41 52 54 56 61
3. Höflichkeit und Respekt 3.1. Höflichkeit 3.2. Respekt 3.2.1. Dimensionen des Respektziels 3.2.2. Anzahl der Respektwerte 3.2.3. Art der Respekt-Markierung
63 64 75 76 82 84
4. Diachronie der deutschen Anredepronomina 4.1. System II: du vs. ihr 4.1.1. Althochdeutsche Anfänge 4.1.2. Mittelhochdeutsche Variabilität 4.2. System III: du vs. ihr vs. er/sie 4.3. System IVa: du vs. ihr vs. er/sie vs. Sie 4.4. System IVb: Sonderpronomina, insbesondere dieselben 4.5. System V: Der Wechsel von erlsie und ihr 4.6. System VI: Die moderne ¿Λν-Sïe-Dichotomie im Standard und dialektale Variationen
92 93 93 96 106 110 115 120 124
Vffl 4.7. Zusammenfassende Interpretation der Diachronie der deutschen Anredepronomina
128
5. Die Grammatik des Respekts im Deutschen: Sie und anderes 5.1. Standarddeutsch 5.1.1. Die Syntax von Sie als Pronomen der 2. Person 5.1.1.1. Komplexe DPs 5.1.1.2. Relativsätze 5.1.1.3. Morphosyntaktische Zusatzevidenz: Reflexivierung und noch einmal komplexe DPs 5.1.1.4. Orthographie (als Spiegel der Grammatik?) 5.1.2. Respekt im Verbalsystem 5.1.2.1. Das Imperativ-Paradigma 5.1.2.2. Kongruenzerscheinungen 5.1.3. Markiertheitsrelationen: [+Honorativ] oder [-Intimativ]? 5.2. Bairisch 5.2.1. Formeninventar der Pronomina der 2. Person im Nominativ 5.2.1.1. Traditionelles Paradigma der 2. Person 5.2.1.2. Eine Inklusiv-Exklusiv-Unterscheidung in der 2. Person Plural? 5.2.2. Der grammatische Status des Honorativ-Anredepronomens: 2. Person Singular Honorativ vs. 3. Person Plural 5.2.2.1. Das Fokuspronomen 5.2.2.2. Die obliquen Kasusformen und die Reflexiva 5.2.3. Respektflexion außerhalb der Personalpronomina 5.2.3.1. Verbalsystem 5.2.3.2. Weitere 'nach Person und Numerus flektierende ' Wortarten
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6. Rückblick - mögliche Konsequenzen 6.1. Zusammenfassende Interpretation 6.2. Das synchrone Konzept der'morphologischen Parasiten' 6.3. Das evolutionäre Konzept der 'Exaptation' als diachrone Explikation
188 188 191 197
7. Fazit
203
Literatur
207
144 146 149 149 152 158 167 168 168 171 175 176 177 182 182 183
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1 : Paradigma der deutschen Personalpronomina nach Duden (1959) Abbildung 2: Paradigma der deiktischen Personalpronomina des Deutschen nach Heidolph/Flämig/Motsch (1981) Abbildung 3 : Paradigma der deutschen Personalpronomina nach Duden ( 1998) Abbildung 4: Übersicht über die Terminologie zu den grammatischen Kategorien Abbildung 5: Genus und Numerus bei den deutschen Personalpronomina der 3. Person Abbildung 6: Genus und Numerus bei den englischen Personalpronomina der 3. Person Abbildung 7: Genus und Numerus bei den französischen Personalpronomina der 3. Person Abbildung 8: Person, Genus und Numerus bei den arabischen Personalpronomina . . . Abbildung 9: Numerus und Zahligkeit Abbildung 10: Personalpronomina im Mandarin Chinesischen Abbildung 11: Kommunikationsmodell (vereinfacht) Abbildung 12: Pronominale Entscheidungsprozedur im Deutschen Abbildung 13: Pluralbildung bei Nomina und Pronomina im Türkischen Abbildung 14: Personalpronomina des Deutschen (traditionell) Abbildung 15: Verbalflexion nach Person-Numerus im Italienischen Abbildung 16: 'Verbalflexion'nach Person-Numerus im Schwedischen Abbildung 17: Verbalflexion nach Person-Numerus im Deutschen Abbildung 18: Respekt-relevant erweitertes Kommunikationsmodell Abbildung 19: 'Respekt-Komposita'im Tibetischen Abbildung 20: Anredepronomina im Niederländischen Abbildung 21: Anredepronomina im Spanischen Abbildung 22: Anredepronomina im Isländischen Abbildung 23: Diachronie der Anrede an eine einzelne Person im Deutschen Abbildung 24: Anrede in einem Ausschnitt aus dem Nibelungenlied Abbildung 25: Diachrone Wanderung der Höflichkeitsanrede durch das Pronominalparadigma des Deutschen Abbildung 26: Imperativ-Paradigma des Deutschen nach Donhauser ( 1986) Abbildung 27: Numerus-Respekt-Paradigma der Anredepronomina im Deutschen Abbildung 28: Kasus-Respekt-Paradigma der Anredepronomina im Deutschen Abbildung 29: Numerus-Respekt-Paradigma der Anredepronomina im Bairischen (traditionell) Abbildung 30: Numerus-Respekt-Paradigma der Anredepronomina im Bairischen (revidiert) Abbildung 31 : Plural-Paradigma der Pronomina im Abchasischen nach Hewitt Abbildung 32: Kasus-/Reflexiv-Paradigma der Personalpronomina im Bairischen (Ausschnitt) Abbildung 33: Imperativ-Paradima im Bairischen
11 14 16 27 29 29 29 30 36 40 41 46 47 49 57 57 58 79 86 90 90 90 93 99 129 151 160 160 168 172 173 178 183
χ Abbildung 34: Modellierung der parasitären Kategorie 'Respekt' im Gegenwartsdeutschen Abbildung 35: Modellierung einer fiktiven parasitären Kategorie 'Pseudo-Respekt' im Deutschen um 1800
193 194
Abkürzungsverzeichnis
In den Morphemglossierungen werden folgende Abkürzungen verwendet: ABS AKK APPL AUX DEM DET ERG EXKL FEM GEN HON IND INKL KAUS KOP MASK NOM NONHON PL POSS PRÄT
Q REFL REL SG TOP VR 1 2 3
Absolutiv Akkusativ Applikativ Auxiliar Demonstrativ Determinierer Ergativ Exklusiv Feminin Genitiv Honorativ Indikativ Inklusiv Kausativ Kopula Maskulin Nominativ NonHonorativ Plural Possessiv Präteritum Fragepartikel Reflexiv Relator Singular Topik Verbalisierer 1. Person 2. Person 3. Person
0. Hinführung und Vorschau
R-E-S-P-E-C-T find out what it means to me (Aretha Franklin in ihrer Version eines Songs von Otis Redding)
Wahrscheinlich werden die strukturellen Eigenschaften menschlicher Sprachen durch ein Bedingungsgefüge mit im wesentlichen zwei Komponenten bestimmt: Einerseits wird der Variationsspielraum, innerhalb dessen sich die Einzelsprachen unterscheiden können, durch die universellen Gegebenheiten der menschlichen Sprachfahigkeit begrenzt. Andererseits wird die Struktur jeder Einzelsprache durch ein ganzes Bündel von Faktoren determiniert, unter denen die Funktionalität von Sprache nicht der geringste ist, denn eine grundlegende Funktion der Sprache ist unbestreitbar die, als Kommunikationsmittel zwischen menschlichen Individuen zu dienen. Auf welche Weise eine der hervorstechendsten dieser kommunikativen Determinanten Rückwirkungen auf die Sprachstruktur hat, soll in der vorliegenden Arbeit exemplarisch untersucht werden. In allen Sprachen läßt sich beobachten, was landläufig unter dem Begriff der Höflichkeit verbucht wird, daß nämlich die Gesprächspartner bei der Wahl ihrer Worte im allgemeinen die Befindlichkeiten ihres jeweiligen Gegenübers berücksichtigen. Diese sozial vorgegebene Bedingung prägt die strukturelle Organisation der Einzelsprachen auf unterschiedliche Weise. Eine Erscheinung, die dabei immer wieder eine Rolle spielt, ist die Variationsmöglichkeit von sprachlichen Ausdrücken, die direkt auf den Adressaten einer Äußerung referieren: Die höflichkeitssensitive Wahl von adressatenbezüglichen Nomina und Pronomina ist vielfach durch Kriterien beeinflußt, die im weiteren Sinne vom sozialen Verhältnis der Gesprächspartner zueinander abhängen. Ich werde genau diesen mit dem Adressaten verbundenen Aspekt der Höflichkeit herausgreifen und untersuchen, wie sich die grammatischen Zusammenhänge der sozial bedingten Varianz bei der Anrede darstellen. Ich werde also Überlegungen anstellen, die auf eine Klärung der Grammatik von Systemen abzielen, in denen mehr als eine Anredeform in systematischer Weise zur Verfügung steht. - Die Konzentration auf grammatische Phänomene hat außer dem weitgehenden Verzicht auf die Berücksichtigung soziologischer Parameter zweierlei Einschränkungen zur Folge: Erstens rücken dadurch nominale Anredeformen in den Hintergrund, da die Variation in diesem Bereich wohl als lexikalische Substitution mit prinzipiell unbegrenzter Vielfalt an Entscheidungsalternativen zu werten ist und dadurch aus der Grammatik im engeren Sinne herausfällt. Statt dessen werde ich die pronominale (und die damit verbundene verbale) Variation analysieren. Damit hängt zweitens zusammen, daß der Schwerpunkt auf Formen liegen wird, die syntagmatisch in den jeweiligen Satz integriert sind. Außerhalb der Satzsyntax und der spezifischen satzintonatorischen Kontur stehende, sozusagen vokativische Formen werden nicht untersucht. - Im Zentrum der Betrachtungen steht zwar das Deutsche, jedoch werde ich diese Sprache stets
2 vor dem Hintergrund des derzeitigen sprachvergleichenden Wissens behandeln. Ich werde deshalb auch gezielt Evidenz aus der Typologie- und Universalienforschung heranziehen. Zur Annäherung an mein Thema werde ich im ersten Kapitel - gewissermaßen zur Standortbestimmung - einen Überblick über die Forschungslage geben und dabei einerseits die traditionelle Anredeforschung und andererseits den höflichkeitsrelevanten Beitrag der deskriptiven Grammatikschreibung zum Deutschen sowie der theoretisch orientierten Grammatikforschung darstellen. Da deren Ergebnisse - soweit sie für meine Untersuchung von Bedeutung sind - in den nachfolgenden Kapiteln eingehender ausgeführt werden, kann sich die Perspektivierung in Kapitel 1 auf eine umrißhafte Skizze beschränken; auch methodologische Fragen werden lediglich angeschnitten. Der Hauptteil der Arbeit wird sich mit der Frage beschäftigen, inwieweit es für das Deutsche gerechtfertigt ist, von einer grammatischen Kategorie zu sprechen, die als das innersprachliche Äquivalent zur 'weltseitigen' Höflichkeit angesehen werden kann. Sie soll mit dem Terminus 'Respekt' belegt werden. Um eine Antwort auf dieses Problem zu finden, versuche ich zunächst in Kapitel 2, einige generelle Eigenschaften grammatischer Kategorien herauszuarbeiten, wobei ich insbesondere die hier relevanten (und traditionell auch unumstrittenen) Kategorien 'Person' und 'Numerus' behandeln werde. Danach werde ich in Kapitel 3 Evidenzen für die Kategorie Respekt zusammentragen, die aus der Grammatik anderer Sprachen vorliegt. Dabei wird es notwendig sein, über die Gruppe der indogermanischen Sprachen hinauszugehen. Dem Versuch eines vorläufigen Panoramas von Respekt-Phänomenen wird die Frage nach der inhaltlichen Füllung der Kategorie vorangestellt: Ich werde darlegen, wie sich aus linguistischer Perspektive mit Hilfe des sogenannten 'Face-Modells' das Phänomen der Höflichkeit fassen läßt. In den beiden darauffolgenden Kapiteln werde ich dann vor dem Hintergrund der gewonnenen Erkenntnisse das System der Anredepronomina untersuchen und damit den grammatischen Ort, an dem - nach meiner Überzeugung - die Kategorie Respekt im Deutschen wirkt. Dazu skizziere ich in Kapitel 4 die Strukturgeschichte des deutschen Anredesystems. Die schrittweise Herleitung des gegenwärtigen Sprachzustands wird dabei alle einzelnen Entwicklungsstufen vom frühesten erschließbaren Stadium bis zum derzeitigen Varietätengefiige beinhalten. Es ergibt sich das Bild eines langwierigen kontinuierlichen Aufbaus zu einem sehr komplexen System (dessen Höhepunkt in der Zeit um 1800 lag), bevor dann ein Abbau zugunsten der heute geläufigen Anrededichotomie du vs. Sie erfolgte. Dieser Situation der deutschen Gegenwartssprache ist das 5. Kapitel gewidmet. Ich werde zuerst die Argumente sichten, die dafür sprechen, eine grammatische Kategorie Respekt in der Standardsprache anzunehmen. Neben dem reinen Pronominalsystem werden auch damit in Verbindung stehende Aspekte der Verbalflexion und der verbalen Kongruenz behandelt. - Daran schließt sich im zweiten Abschnitt des Kapitels eine Detailstudie zum Bairischen an, um zu zeigen, daß manche deutschen Dialekte womöglich einen stärkeren grammatischen Niederschlag des Respekts aufweisen als die Standardsprache: Im Bairischen zeigen sie Respekt-Distinktionen oberflächennah (das heißt selbst in der phonologischen Form) in einer breiten Palette von Wirkfeldern. Im abschließenden Kapitel 6 werte ich die Ergebnisse der vorherigen Untersuchungen im Hinblick auf zwei Fragestellungen aus, die von allgemein-theoretischer Relevanz sein dürften: Wenn es stimmt, daß für das Deutsche mit einer grammatischen Kategorie 'Respekt' zu rechnen ist, dann sollte das dazu führen, das Spektrum von morphologischen
3 Ausdrucksmitteln, die in die paradigmatische Organisation grammatischer Felder eingehen, zu erweitern und einen zusätzlichen Typ anzusetzen, nämlich sogenannte 'morphologische Parasiten'. Schließlich lassen sich die Beobachtungen zur diachronen Grammatik der deutschen Anredepronomina an eine derzeit wieder neu geführte Debatte anknüpfen, die für eine Modellierung des Sprachwandels die methodische und konzeptionelle Verbindung zur Evolutionsbiologie sucht.
1. Perspektivierung
1.1. Tradierte Ansätze der Anredeforschung
Die Anzahl der linguistischen Untersuchungen zur Anrede ist mittlerweile praktisch unüberschaubar angewachsen, wie bereits ein Blick in die umfangreiche Bibliographie von Braun/Kohz/Schubert (1986) und das daran anschließende Supplement in Braun (1988: 333-365) lehrt (wichtige neuere Entwicklungen sind in Braun 1998 zusammengefaßt). - In der Fülle der Arbeiten lassen sich aus einer am Deutschen orientierten Perspektive vor allem zwei Haupterkenntnisziele ausmachen: Das eine ist ein genuin soziolinguistisches Interesse, das in Untersuchungen zu allen Sprachen verfolgt wird. 1 Hier wird eine Antwort auf die Frage gesucht: Wer verwendet gegenüber wem welche der im gegebenen syntaktischen Rahmen grundsätzlich zur Verfügung stehenden Anredeformen (und auch: in welcher Situation aus welchem Grunde und zu welchem Zweck)? Im Rahmen der Germanistik interessiert darüber hinaus als zweites die Frage, wie es zu der in den Sprachen der Welt sehr seltenen Notwendigkeit der Entscheidung zwischen zwei Anredepronomina kommt, von denen das höflichere traditionell so beschrieben wird, als sei es ein Pronomen der '3. Person Plural': Es handelt sich hier um die im gegenwärtigen Standarddeutschen vorliegende Dichotomie du vs. Sie. Im folgenden werde ich diese beiden Forschungsstränge soweit wie möglich getrennt beschreiben: einerseits der generell zu findende soziolinguistische Zugriff, der meist mit einer synchronen Perspektive einhergeht, und andererseits der im engeren Sinne germanistische, welcher der diachronen Herkunft der Form des höflichen Anredepronomens besondere Aufmerksamkeit schenkt. Man muß sich jedoch darüber im klaren sein, daß in den einzelnen Untersuchungen die beiden Perspektiven einander häufig überschneiden und dementsprechend auch ineinander verwoben in Erscheinung treten.2
1.1.1. Primär soziolinguistisch orientierte Arbeiten zur Anrede Bereits die erste größere spezielle Arbeit, die sich einzig der Anrede im Deutschen widmet, die in vier Teilen erschienene Darstellung von Ehrismann (1901-1904), ist von einem stark soziolinguistischen - oder in der Terminologie der Zeit: ,,stilistische[n]" (Ehrismann 1903/04: 216) - Erkenntnisinteresse geleitet. In wahrhaft positivistischem Sammeleifer listet Ehrismann die verschiedensten in den mittelalterlichen deutschen Texten vorkommenden Gebrauchsweisen der beiden Anredepronomina du und ihr auf, ohne zu wesentli-
1
2
Vgl. auch den auf die Soziolinguistik fokussierenden Untertitel der genannten allgemeinen Bibliographie von Braun/Kohz/Schubert (1986). An dieser Stelle soll nur ein kursorischer Überblick erfolgen; die für das Thema der Arbeit inhaltlich relevanten Fakten werden an den entsprechenden Abschnitten detailreicher behandelt.
5 chen Abstraktionen vom Einzelfall weg zu gelangen; seine Gliederung ist dabei von literaturgeschichtlichen Kategorien bestimmt.3 Die an die Ausführungen Ehrismanns unmittelbar anschließende Untersuchung von Keller (1904/05) führt den Betrachtungszeitraum bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts fort. Auch hier werden detailliert einzelne Vorkommen aufgelistet, jedoch strebt Keller eine stärkere Systematisierung an. Was die pronominale Anrede betrifft, hält er als wichtigstes soziolinguistisches Ergebnis folgendes fest:4 Ihr sagen sich alle besseren Kreise, alle, zu denen man aufblickt, bekommen es, während die Überlegenheit irgendwelcher Art sich durch Duzen ausdrückt; niedere Leute, die von allen geduzt werden, reden Ihresgleichen im Singular an, auch wo sie sich nicht kennen. (Keller 1904/05: 129)
Im zweiten Teil seines Aufsatzes beschreibt Keller das sich enorm verkomplizierende Bild des späten 16. und frühen 17. Jahrhunderts, wo neben die beiden Pronomina du und ihr sowohl Syntagmen mit nominalen Abstrakta vom Typ Euer Gnade(n), Euer Liebden usw. als auch etwas später die pronominalen Anreden mit er und sieTlM s0 treten. Auch die erste Monographie, die der Anrede im Deutschen gewidmet ist (die materialreiche Studie von Metcalf (1938), der in mehreren Schnitten die Zeit von 1500 bis 1800 untersucht), versteht die Anredeformen als „a reflection of underlying social conditions" (S. 172). Darüber hinaus widmet Metcalf sich ausfuhrlich der Frage der Entstehungsbedingungen der in diesem Zeitraum aufkommenden und bis heute fortdauernden höflichen Anrede mit dem Pronomen sierL, worauf ich in Abschnitt 1.1.2 genauer eingehen werde. Den drei vorgestellten Arbeiten sind mehrere Eigenschaften gemein: erstens die weitestgehende Beschränkung auf das Deutsche; zweitens die Wahl eines ausschließlich nach Jahrhunderten definierten Ausschnitts aus der Sprachgeschichte als Untersuchungszeitraum, der dann möglichst detailliert analysiert wird, wobei eine synchrone Betrachtungsweise vorherrscht; drittens die Benutzung vornehmlich literarischer Quellen (Romane, Dramen; aber auch Briefsammlungen und vereinzelt metasprachliche Äußerungen); viertens das Bemühen um eine möglichst vollständige Erfassung der in den Texten nachweisbaren Konstellationen von Gesprächspartnern und deren jeweiligen Anredeverhaltens, wodurch die gegebenenfalls daraus ableitbaren Systematiken etwas in den Hintergrund geraten; und schließlich die Erkenntnis, daß sich in den erforschten literarischen Werken häufig einzelne Abweichungen von den als üblich erachteten Anredenormen feststellen lassen, was die Forscher als literarisches Stilmittel oder ähnliches werten. Insgesamt sind die Untersuchungsmethoden als traditionell-philologisch zu charakterisieren; für die eigentlich im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses stehenden, soziologisch zu bestimmenden Charakteristika der Anrede fehlt eine prinzipiengeleitete Theorie. Im Gegensatz dazu stellt der in seiner Wirkungsmacht kaum zu überschätzende, mehrfach nachgedruckte und übersetzte Aufsatz von Brown/Gilman (1960) eine echte Neuerung 3
4
Auf Ergebnisse bezüglich der Datierung des Aufkommens der Anrede an eine einzelne Person mittels des Pronomens ihr, das den Wert '2. Person Plural' trägt, werde ich in Abschnitt 4.1 ausfuhrlicher eingehen. Es ist nicht deutlich, auf welchen Zeitraum sich diese Aussage bezieht, da Keller an dieser Stelle keinerlei einschränkende Angaben macht. Insofern das Zitat aber unter der Überschrift „Fortdauer der alten Verhältnisse" steht und ab S. 155 das nächste Kapitel „Die neuen Anredeverhältnisse" sich mit dem späten 16. sowie dem 17. Jahrhundert befaßt, ist eine ungefähre zeitliche Einordnung in die Periode vor der Mitte des 16. Jahrhunderts anzunehmen.
6 dar. Sein Hauptverdienst besteht darin, das Beschreibungsinstrumentarium der soziolinguistischen Anredeforschung stärker abstrahiert und dadurch wesentlich systematisiert zu haben. Auf diese Weise wurde es möglich, von einer bloßen Auflistung der vielen Einzelfálle wegzukommen und statt dessen einige wenige soziologische und psychologische Parameter herauszufiltera, die den Gebrauch unterschiedlicher Anredeformen steuern. Insbesondere zwei Analyseschritte bilden die Grundlage für die tiefere Erkenntnis: Erstens argumentieren Brown/Gilman - wenn auch in sehr bescheidenem Umfang - sprachübergreifend. Zu diesem Zweck führen sie die Kürzel ' T ' und Ύ ' ein, 5 wodurch einzelsprach-unabhängige Labels für das 'vertraute' (also z.B. ital. tu, dt. du) und das 'höfliche' (z.B. ital. Lei, dt. Sie) Anredepronomen zur Verfügung stehen. Zweitens - und das ist der entscheidende Gedanke - erkennen die Autoren, daß den jeweiligen Anredepronomina für sich betrachtet noch gar keine Semantik zukommt - abgesehen natürlich vom adressatenbezüglichen Referenzpotential, worin die beiden Formen sich aber nicht unterscheiden. Die dem Pronominalgebrauch zugrunde liegende soziale Bedeutung läßt sich dagegen nur ablesen, wenn man in einer gegebenen Zweierkonstellation das Anredeverhalten beider Gesprächspartner gemeinsam in Betracht zieht: Nur in der paarigen Kombination - im Hin und Her - gewinnen die Anredepronomina an funktionalem Wert. So läßt ein asymmetrischer Gebrauch, also die nicht-reziproke Anwendung der T- und V-Anrede, auf eine ausgeprägte sogenannte „power semantic" (Brown/Gilman 1960: 255) schließen, wie sie für sozial stratifizierte Gesellschaften charakteristisch ist. Hier muß der mit weniger sozialer Macht ausgestattete Gesprächspartner gegenüber dem Mächtigeren das V-Pronomen verwenden, erhält im Gegenzug aber 'nur' das T-Pronomen. Personen gleicher gesellschaftlicher Schicht geben sich gegenseitig das jeweils dieser Schicht zustehende Pronomen. 6 Demgegenüber läßt sich ein System mit vorwiegend symmetrischem Pronominalgebrauch nach der Dimension der Solidarität beschreiben. Hier deutet gegenseitiges T-Anreden auf eine gewisse Intimität hin und eine gegenseitige V-Anrede auf ein Fehlen derselben, d.h. auf einen höheren Formalitätsgrad der Gesprächssituation. Für die mittels einer Fragebogenaktion untersuchten Sprachen Französisch, Italienisch und Deutsch (bzw. die diese Sprachen tragenden Gesellschaften) konstatieren die beiden Autoren einen Rückgang asymmetrischer Anredeverhältnisse. Als Ursache dafür nehmen sie einen Wandel im zugrunde liegenden Regelsystem an: Das Anredeverhalten ändert sich von einer machtorientierten zu einer eher solidaritätsbasierten Verwendungsweise im Laufe des 19. Jahrhunderts. Schließlich untersuchen sie noch eine Reihe von Einzelfragen bezüglich der hinter den Gebrauchsbedingungen liegenden gruppenspezifischen, ideologischen usw. Einstellungen. - Die Suggestivkraft der Analyse von Brown/Gilman hat mehrere unmittelbare Nachfolgeuntersuchungen mit jeweils leicht modifizierenden, aber im Grunde bestätigenden Ergebnissen angeregt. 7 Trotz der unbestreitbaren Vorreiterrolle, die dem Aufsatz der Etablierung einer modernen, soziolinguistisch strenger zukommt, sind manche seiner methodischen Vorgaben und unangefochten geblieben. Insbesondere von Braun (1984a,
5 6 7
von Brown/Gilman (1960) bei arbeitenden Anredeforschung analytischen Ergebnisse nicht 1988: 18ff.) wurden kritische
Abgeleitet von lat. tu und vos (Brown/Gilman 1960: 254). Dem entspricht also z.B. das im obigen Zitat von Keller (1904/05) dargestellte System. Vgl. beispielsweise die Untersuchung von Slobin (1963) für das in den USA gesprochene Jiddische.
7 Einwände gegen diese Theorie vorgebracht. Brauns Hauptvorwurf lautet, Brown/Gilman hätten allzu sehr simplifiziert. Sie ließen nämlich eine Reihe von wesentlichen Phänomenen außer acht: So ignorieren sie etwa die in vielen Sprachen (z.B. Persisch, Türkisch) bestehende Varianz bei der Wahl des sprecherbezüglichen Höflichkeitspronomens, d.h. bei den 'untertänigen Selbstbezeichnungen'. Ebenso suggerieren sie durch die ausschließliche Verwendung der Symbole ' T ' und 'V', daß pronominale Anredesysteme immer dichotomisch aufgebaut seien. Wenngleich dies für die von Brown/Gilman untersuchten Sprachvarietäten durchaus zutrifft, lehrt bereits ein Blick auf historische Varietäten des Deutschen oder Dialekte des Italienischen, daß auch mehrgliedrige Systeme mit drei und sogar vier unterschiedlichen Anredepronomina möglich sind. 8 Ein weiterer grundlegender Kritikpunkt an Brown/Gilman ist laut Braun (1984a: 6Iff.) die unzureichende Berücksichtigung der Variation zwischen verschiedenen Sprecher(gruppe)n einer Sprache (wobei Faktoren wie z.B. soziale Schicht, geographische Herkunft oder Alter eine Rolle spielen können). Sowohl in Sprachen mit geringem Standardisierungsgrad als auch in Fällen, in denen eine Sprache gerade massivem Wandel bei den Verwendungsbedingungen einzelner Anredeformen ausgesetzt ist, kann es vorkommen, daß asymmetrisches Anredeverhalten nicht auf ein Machtgefalle im Sinne von Brown/Gilman hinweist, sondern durch unterschiedliche Regeln, denen die beiden Sprecher folgen, bedingt ist. Als ein Beispiel sei das Türkische genannt: Sprecher, die vom Lande kommen oder zu den niedrigeren Schichten in den Städten gehören, gebrauchen oft keine V-Anrede. [...] So kann es dort ohne weiteres vorkommen, daß ein solcher Sprecher einen Höherstehenden oder Übergeordneten mit Τ anredet, und ebenso, daß dieser ein V zurückgibt, wenn es sich um einen gebildeten Sprecher handelt, der es sich zum Prinzip gemacht hat, alle Erwachsenen (ohne Ansehen ihres sozialen Status) mit dem V anzureden. Damit wäre die Regel 'V nach oben - Τ nach unten' ins genaue Gegenteil verkehrt. (Braun 1984a: 6)
Die Konsequenz aus dieser prinzipiell immer möglichen - und in vielen vor allem nichteuropäischen Sprachen tatsächlichen gegebenen - Variabilität wäre nach Braun (1988: 18ff.) die Abkehr von einer zu eng verstandenen Systemlinguistik und statt dessen eine alle soziologischen Parameter einbeziehenden Soziolinguistik. 9 - Darüber hinaus wurde an Brown/Gilman die Technik der Datenerhebung kritisiert, und zwar sowohl inhaltliche Details des benutzten Fragebogens als auch die Auswahl der Probanden - beides entscheidende Faktoren bei Forschungen mit soziologischem Interesse. - Nichtsdestotrotz arbeiten auch nach Brauns Einwänden noch viele Linguisten mit dem Brown/Gilman'schen Beschreibungsrepertoire (in jüngerer Zeit z.B. Berger 1996), nicht zuletzt wohl deshalb, weil es sich - mit einem wohldosierten Caveat versehen - als ein nützliches Mittel erwiesen hat, kurz und prägnant wesentliche Teile eines Anredesystems darzustellen und mehrere Systeme übersichtlich zu vergleichen. Auch fur diachrone Beschreibungen ist es durchaus geeig-
8
9
Zur Beschreibung solcher Systeme wird dann in der von Brown/Gilman beeinflußten Forschungstradition oftmals auf Indizes ('T', 'Vi', 'V 2 ') zurückgegriffen; vgl. z.B. Braun (1984b) für das Rumänische sowie Braun (1984c) für das Tigrinya. Die Validität dieses Einwands sei dahingestellt. Meines Erachtens müßten sich systemhafte Beschreibung und soziologisch genügend differenzierende Betrachtungsweise nicht notwendig ausschließen - eine Orientierung an den methodischen Feinheiten der empirischen Sozialforschung wäre aber auf jeden Fall wünschenswert.
8 net. 10 Allerdings wurden - was schon Braun (1984a: 67-69) gefordert hatte - zur Wiedergabe der semantischen Werte der (a-)symmetrischen Anredeformenverwendungen gelegentlich neue Begrifflichkeiten anstelle der alltagssprachlich negativ konnotierten Termini 'Macht', 'Distanz' usw. eingeführt." Eine Weiterentwicklung des Modells von Brown/Gilman liegt in Ervin-Tripp (1972) vor: Während Brown/Ford (1961) noch versucht hatten, die nominalen Anredeformen des Amerikanischen Englisch 12 in ein simples T-V-Schema zu pressen, erkennt Ervin-Tripp an, daß im Bereich der Nomina ein größerer Variationsspielraum besteht, so daß mit einem differenzierteren Repertoire an Formen, d.h. einem komplexeren Anredesystem umgegangen werden muß. Hier gelingt es ihr, mit Hilfe eines Flußdiagramms von der Art, wie sie auch in der Informatik zur Darstellung von Algorithmen verwendet werden, die Entscheidungsprozedur zu modellieren, die ein Sprecher bei der Auswahl der adäquaten Anredeform in einer gegebenen Situation durchläuft. Die Bezeichnungen an den Verzweigungen im Diagramm thematisieren diejenigen Kriterien, die bei der Verwendung des Anredesystems eine Rolle spielen. Der Erfolg der Aufsätze von Brown/Gilman und Ervin-Tripp läßt sich unter anderem daran ablesen, daß das Anredekapitel in der Überblicksdarstellung von Crystal (1997: 44f.) praktisch ausschließlich darauf beruht. Auch innerhalb der germanistischen Linguistik wurden die eben besprochenen Ansätze rezipiert. So erstellt beispielsweise Äugst (1977: 19) ein soziolinguistisches Flußdiagramm zur Ableitung der gegenwärtigen du-SieDichotomie. 13
1.1.2. Germanistische Untersuchungen zur Diachronie der Anrede Die ältere germanistische Forschung zur Anrede war durchwegs historisch orientiert; dabei herrschte in erster Linie ein synchrones soziolinguistisches Interesse vor, nur eben in bezug auf ältere Sprachstufen. Neben den bereits genannten Arbeiten von Ehrismann (19011904), Keller (1904/05) und Metcalf (1938) gehören z.B. auch die überwiegend stilistisch argumentierenden Analysen von Vennemann/Wagener (1970) hierher. Daneben aber wurde bereits sehr früh der 'deutsche Sonderweg' bei der Pronominalanrede erkannt, denn eine höfliche Anrede mit der - traditionell formuliert - formalen Spezifikation '3. Person Plural' (nämlich Sie) ist crosslinguistisch gesehen recht selten. Aus diesem Grunde schenken die Sprachhistoriker der allmählichen Herausbildung dieser Anredeform schon seit dem 19.
10 11
12
13
Vgl. z.B. van den Toorn (1982) für das Niederländische und Wales (1983) für das Englische. Für einen rezenten Vorschlag und gute Übersichten über den bisherigen Usus sowie Beispiele vgl. Spencer-Oatey (1996). Eine pronominale Unterscheidung findet im heutigen amerikanischen und britischen Standardenglischen bekanntlich nicht statt: Alle Adressaten (außer vielleicht Gott) erhalten you. An weiteren wichtigen Arbeiten zur synchronen Soziolinguistik der deutschen Anrede wären zu nennen: Ammon (1972), Hartmann (1975, 1978), Bayer (1979), Yamashita (1990) und Glück/ Koch (1998).
9 Jahrhundert ihre besondere Aufmerksamkeit. An Erklärungsansätzen sind dabei zwei verschiedene Denkrichtungen zu unterscheiden, wie Listen (1999: 7-26) herausgearbeitet hat. 14 Die eine Tradition, die bis auf Schmeller (1827-37) zurückreicht, betont vor allem den Zusammenhang der pronominalen Anredeformen mit den nominalen. In dieser Sicht ist die pronominale Anrede Sie auf das im 17. Jahrhundert gehäufte Auftreten nominaler Abstraktbildungen vom Typ Euer (bzw. Ihro) Gnaden oder Euer Liebden wie in (1) zurückzufuhren. (1)
Ich vermeine, dass Eu. L. [d.i. Euer Liebden; HS] albereit werden sich imbarcirt haben und dieweil sie durch dero Schreiben sich bei mir erkundigt haben, wem sie obediren sollen, so berichte ich sie, dass ich das dem Herrn von Harrach remittirt hab, er wird ihnen gewiss kein vorstellen, der ihnen nicht angenemb ist. (Wallenstein 1626 an Herzog Franz Albrecht von Sachsen; zitiert nach Metcalf 1938: 109; die adressatenbezüglichen Ausdrücke sind von mir hervorgehoben, HS)
Nach dieser Annahme steht das Pronomen der 3. Person ursprünglich als wiederaufnehmendes Anaphorikon nach einem der erwähnten Nominalausdrücke. Die wichtigsten Vertreter dieser Auffassung sind Paul (1919: 123), Behaghel (1923: 324), Metcalf (1938) und unter Einbezug von ähnlichen Erscheinungen in anderen indogermanischen Sprachen Svennung (1958; insbesondere S. 103-108). Die zweite Erklärungsstrategie, die bereits bei Gedike (1801: 113) anklingt und insbesondere von Grimm (1898: 368f.) 15 vertreten wurde, betont demgegenüber die den unterschiedlichen grammatischen Kategorien und ihren Werten innewohnende, gewissermaßen kognitiv-metaphorische Kraft. Wenn jemand statt mit der ihm eigentlich zukommenden 2. Person Singular mit einem Pronomen der 3. Person angeredet wird, so erfolgt dadurch sozusagen eine metaphorische „Verabwesendung". Wenn zusätzlich dazu die bereits bei der Ausbildung der mittelalterlichen iTir-Anrede wirksame „Vervielfachung" stattfindet (die beiden Begriffe stammen bereits von Gedike), entsteht aus einer rfu-Anrede über eine Zwischenstufe mit er-Anrede die zu erklärende Sie-Anrede. Dieser Gedanke findet sich - wenn auch oft nur angedeutet - in vielfaltiger Form bei neueren Autoren wieder, insbesondere bei solchen, die auch sprachvergleichend argumentieren wie z.B. Kohz (1984: 36f.), Schubert (1985) und Herbermann (1988). Die beiden eben beschriebenen Thesen zur Herausbildung der deutschen Sie-Anrede (Anapher und Metapher) müssen einander keineswegs widersprechen. Aufgrund genauer Analysen eines eigens erstellten computerisierten Korpus von hoch- und niederdeutschen Texten des 15. bis 18. Jahrhunderts kommt Listen (1999: 152) im Rahmen eines Grammatikmodells Langackerscher Prägung bezüglich des Sie zu folgendem Ergebnis: Thus, although the initial impetus for its emergence is indeed anaphoric reference, the new address strategy cannot be motivated simply by an anaphor, but draws on general conceptual models of power, indirectness and distance. Ultimately, 2nd person Sie emerges as the product of a series of strategies involving the métonymie and metaphoric use of the categories plural and third person.
14
15
Hier sei nochmals betont, daß ich auf die für meine Fragestellung relevanten Argumente in einigen der späteren Abschnitte nochmals genauer eingehen werde. Es sollen an dieser Stelle lediglich die Grundlinien skizziert werden. Weniger deutlich auch schon Grimm (1819: 342).
10 Mittlerweile scheint darüber hinaus eine gewisse Konsolidierung und Kanonisierung der germanistischen Anredeforschung eingetreten zu sein, denn im letzten Jahrzehnt sind mehrere zusammenfassende Überblicksdarstellungen zur deutschen Anrede erschienen. Deren gemeinsame Merkmale sind ein betont lockerer, essayistischer Stil sowie die Verknüpfung eher anekdotischer Aussagen zur Verwendung der Anredeformen in der jüngsten Vergangenheit und Gegenwart mit einer Beschreibung der wichtigsten Stationen bei der historischen Abfolge der Anredesysteme. Die interessanteste Arbeit in diesem Bereich ist die von Kretzenbacher (1991), die auch ausführliche Literaturhinweise enthält. Femer sind zu nennen die kurze diachrone Abhandlung von Pastor (1995) sowie das - auch kommerziell erfolgreiche - Buch von Besch (1998), der sich explizit „an Laien" (S. 5) wendet. Den in den bisherigen Abschnitten angesprochenen Arbeiten ist gemein, daß sie grammatische Fragen, die gegebenenfalls im Zusammenhang mit der Anrede auftreten, weitestgehend ausblenden. Dies ist zwar angesichts ihres primär soziolinguistischen Interesses durchaus legitim, bewirkt aber in gewisser Hinsicht eine verkürzte und einseitige Sicht auf die Faktenlage. Die traditionelle Anredeforschung hat zur Grammatik der Anrede wenig beizusteuern.16
1.2. Die Sicht der Grammatiker auf die Anrede
Das Deutsche zählt zu den am intensivsten studierten Sprachen der Erde: Der Grammatik der deutschen Gegenwartssprache sind zahlreiche Monographien gewidmet. - In diesem Abschnitt werde ich nun einen - zwar exemplarischen, doch möglichst repräsentativen Überblick über die Art geben, wie Anredepronomina in deskriptiven Grammatiken des Deutschen behandelt werden. Sodann werde ich auf neuere Arbeiten aus dem Bereich der allgemeinen Grammatiktheorie, insbesondere auf Arbeiten zu grammatischen Features/Merkmalen eingehen, um zu prüfen, welche Anregungen fur theoretisch begründete Analysen zur Morphosyntax der Anrede gegeben werden. - Insgesamt soll es darum gehen, das derzeit vorhandene Wissen über die Grammatik der Anrede im Deutschen zusammenzutragen und sich ein Bild von den Vorstellungen der Grammatiker über den strukturellen Aufbau des deutschen Anredesystems zu machen. Die zwei wesentlichen Komplexe werden dabei die paradigmatische Strukturierung des Pronominalsystems und - in geringerem Maße - das Verhalten der Pronomina im syntagmatischen Kontext (z.B. Kongruenz) sein.
16
Ein Grund, warum von den Anredeforschern grammatische Fragen so wenig behandelt werden, könnte natürlich schlicht darin zu suchen sein, daß es in diesem Zusammenhang nichts Interessantes abzuhandeln gibt. Falls sich nämlich Anredeformen, insbesondere die hier interessierenden höflichen Pronomina, grammatisch vollkommen unauffällig verhalten sollten, wäre es selbstverständlich unsinnig zu erwarten, daß ihnen eigens Aufmerksamkeit zuteil wird. Dies ist jedoch eine Frage, die erst einmal empirisch anzugehen wäre.
11 1.2.1. Die deskriptiven Grammatiken des Gegenwartsdeutschen Explizite Aussagen zur Anrede finden sich in den Grammatiken des Gegenwartsdeutschen stets in den Abschnitten zu den Personalpronomina. Darin wird meist mit Hilfe einer Paradigmentafel eine Übersicht über die verschiedenen Formen der Pronomina gegeben, wobei üblicherweise die grammatischen Kategorien Person und Numerus die beiden Achsen einer zweidimensionalen Darstellung aufspannen, innerhalb derer dann noch einmal nach Kasus und in der 3. Person Singular nach Genus unterschieden wird. 17 Ein typisches Beispiel stellen die älteren Auflagen der Duden-Grammatik dar: Abbildung 1: Paradigma der deutschen Personalpronomina nach Duden (1959: 238) 1. Person Sing. Nom.
2. Person
3. Person Mask.
Fem.
Neutr.
ich
du
er
sie
es
Gen.
meiner (veralt.: mein)
deiner (veralt.: dein)
seiner (veralt.: sein)
ihrer
seiner (veralt.: sein)
Dat.
mir
dir
ihm
ihr
ihm
Akk.
mich
dich
ihn
sie
es
ν Plur.
Nom.
wir
ihr
sie
Gen.
unser
euer
ihrer (veralt.: ihr)
Dat.
uns
euch
ihnen
Akk.
uns
euch
sie
Innerhalb eines derartigen Modells werden die höflichen Anredepronomina überhaupt nicht als Problem wahrgenommen. Entsprechend lapidar äußern sich die Grammatiker: Als höfliche, distanzwahrende Anredeform wird gegenüber einem oder mehreren Fremden die großgeschriebene Pluralform der 3. Pers. [...] gebraucht. (Erben 1980: 213) [...] l'utilisation de la troisième personne comme forme de politesse (ou de distance sociale). — [...] la forme de politesse, qui est identique à la 3 e personne du pluriel (elle ne se distingue que dans le code écrit, où la majuscule est obligatoire) [...] (Feuillet 1993: 640 bzw. 641) Die Höflichkeitsform ist für beide Numeri gleich. Sie wird immer groß geschrieben und mit den Formen des Plurals der 3. Person des Personalpronomens gebildet. (Helbig/Buscha 1994: 251) Das Pronomen Sie ist für die respektvolle Anrede reserviert; es ist formal mit der dritten Person Plural identisch und wird mit einer entsprechenden Verbform verbunden. (Hentschel/Weydt 1994: 216) 17
Die Pronomina der 3. Person werden des öfteren auch aus dem Bereich der Personalpronomina im engeren Sinne ausgegliedert und als eigene Gruppe daneben oder gar zusammen mit den Demonstrativa behandelt. Die Berechtigung einer solchen Vorgehensweise werde ich im Abschnitt 2.2.2 diskutieren.
12 [...] während für die höflich-formale Anrede Sie [...] verwendet wird, das in Form und syntaktischem Gebrauch dem Personalpronomen der 3. Person Plural entspricht. (Sommerfeldt/Starke 1998: 117)
Nach Ansicht der zitierten Autoren läßt sich die Grammatik der Anrede also ganz einfach fassen: Es existiert gewissermaßen ein 'Normalpronomen' du mit der Spezifikation '2. Person Singular',,das als solches auch im Paradigma erscheint. In geeigneten Kontexten, d.h. falls der Sprecher höflich sein will (bzw. muß), wählt er anstelle dieses du ein anderes Pronomen, das ebenfalls bereits im Paradigma zur Verfügung steht. Mit anderen Worten, das Pronomen der 3. Person Plural, nämlich sie, wird mit einer zusätzlichen Aufgabe bedacht und in einen neuen Verwendungszusammenhang gebracht. Das einzige, was sich bei dieser Doppelnutzung ändert, ist die graphematische Repräsentation des Worts. In seiner Eigenschaft als Pronomen der höflichen Anrede wird das Pronomen der 3. Person Plural mit Majuskel geschrieben: vs. . Die phonologische Repräsentation hingegen und diese wird trotz mancher Einwände der neueren Schriftlichkeitsforschung 18 vielfach immer noch als die primäre angesehen - ist in beiden Fällen identisch: /zi:/. Dies bedeutet: Die Tatsache, daß ein Pronomen der 3. Person Plural nicht in seiner eigentlichen Eigenschaft, sondern in Anredefunktion verwendet wird, wird allenfalls im abgeleiteten, schriftlichen Kode deutlich; in der Mündlichkeit ist eine solche Form immer zweideutig. Über die Numerusspezifikation läßt sich der äußeren Form des Pronomens an sich nichts entnehmen, denn im Deutschen - wie in fast allen Sprachen - bilden die Personalpronomina ihr Paradigma nicht regelmäßig flektierend (also nicht durch beispielsweise einen morphemischen Pluralmarker wie im Chinesischen), sondern suppletiv. 19 Aufgrund der fehlenden morphologischen Binnengliederung ist man bei der Analyse der Pronomina auf syntagmatische Evidenz angewiesen: Für welchen Numeruswert ein Pronomen spezifiziert ist, wird gemeinhin über sein Kongruenzverhalten ermittelt; dabei wird für die Subjektspronomina die Spezifikation des finiten Verbs des Satzes zugrunde gelegt. Wenn mit dem höflichen Anredepronomen lediglich auf eine einzelne Person referiert wird, führt ein solches Verfahren zu einer Aussage wie der folgenden: Großgeschriebenes „Sie" ist, obwohl es eigentlich pluralisch ist, auch zum Anredepronomen für eine Person geworden. (Duden 1959: 241)
In einer solchen Perspektive erscheint die Spezifikation des höflichen Anredepronomens nicht als durch referentielle Gegebenheiten bedingt, sondern vielmehr als durch die zufälligen kategorialen Werte desjenigen Pronomens bewirkt, das eben zur Anrede wiederverwendet wird. Die grammatischen (Kongruenz-)Eigenschaften des Anredepronomens erscheinen dadurch als reines Epiphänomen ohne eigenen Erklärungswert und auch ohne Erklärungsbedarf. Der Gedanke, daß höfliche Anrede lediglich durch die Wiederverwendung eines bestimmten Pronomens in einer zweiten, abgeleiteten Funktion konstituiert wird, findet sich auch in der Grammatik von Eisenberg (1999). Hier figuriert diese Doppelnutzung als ein -
18 19
Vgl. z.B. Krämer (1996) für eine sprachphilosophisch inspirierte Argumentation. Zum Zusammenwirken der Kategorien Person und Numerus bei Personalpronomina s.u. Abschnitt 2.2.2; für Literatur zur Binnenstruktur der deutschen Personalpronomina vgl. Anm. 126 in Kapitel 2.
13 allerdings besonders prominenter - Spezialfall eines in größerem Rahmen zu betrachtenden Phänomens: Sprecher und Adressat sind in der normalen Äußerungssituation anwesend, deshalb gibt es keinerlei Schwierigkeiten bei der Referenzfixierung der Personalpronomina der 1. und 2.Ps. Dies hat zur Konsequenz, daß ich, du, wir, ihr sowie das unpersönliche Personalpronomen man (das nur als Subjekt vorkommt) weitgehend funktional äquivalent sind, wenn nur die Äußerungssituation genügend Hinweise auf das jeweils Gemeinte gibt. [...] Nur so ist es auch möglich, daß Pronomina der 1., 2. und 3.PS im Sg und im PI sozusagen semantisch abweichend als Höflichkeitsformen oder sonstwie an soziale Rollen gebunden zur Referenz auf den Adressaten verwendet werden. Der Variabilität von Anredeformen sind kaum Grenzen gesetzt. (Eisenberg 1999: 171)20 Was hier aber übersehen wird, ist die Tatsache, daß nicht alle dieser spezielleren Verwendungsweisen den gleichen Status innerhalb des Sprachsystems haben. Während manche Anrede-Verwendungen, insbesondere die von Sie anstatt du fest im System verankert sind, stellen andere lediglich „[kommunikativ bedingte Gebrauchsvarianten" (Heidolph/Flämig/ Mötsch 1981: 651-656) 21 dar, die nicht als grammatikalisiert gelten können. Vielmehr ist ihre Umdeutung auf relativ klar umrissene Sonderbedingungen beschränkt. 22 - Im Modell von Eisenberg aber, der eine solche Unterscheidung zwischen mehr oder weniger stark grammatikalisierten Formen nicht trifft, sind höfliche Anredeformen generell als „semantisch abweichend" vom Normalfall zu charakterisieren. Sie seien demnach einer rein pragmatischen Analyse zu unterziehen und fallen nicht in den Gegenstandsbereich einer Grammatik. Konsequenterweise verzichtet Eisenberg dann auch auf eine weitere Behandlung der Anrede in seinem Buch. 23 In den bislang behandelten Grammatiken sind die allenthalben abgedruckten Flexionsparadigmen für die traditionellen Personalpronomina ich, du, erlsieles, wir, ihr, sie reserviert. Die Formen der höflichen Anrede stehen außerhalb dieser Paradigmen, denn ihnen kommt nach Auffassung der betreffenden Autoren kein eigener grammatischer Status zu; sie sind sozusagen nur zusätzliche Anhängsel an das 'eigentliche' System. - Es gibt jedoch auch eine Reihe von Grammatikern, die sich bemühen, die Si'e-Anrede in die Paradigmen zu integrieren. Einen ersten Schritt in diese Richtung macht Weinrich (1993; insbesondere S. 87-108). Er verfährt dabei allerdings nicht sehr konsequent. Im Kapitel über die „Rollenpronomina" (S. 94ff.), die die Gesprächsrollen „Sprecher", „Hörer" und „Referenzrolle" (letztere nochmals differenziert in „Thema" und „Rhema") markieren, 24 erscheinen höfliche Anredeformen zunächst nicht im Paradigma (S. 96). Sodann jedoch widmet er den ,,[p]ronominale[n] Höflichkeitsformen" (S. 102) einen eigenen Abschnitt, in dem er neben Hinweisen zum historischen Gebrauch der Formen auch eine tabellarische Übersicht über
20
21 22
23
24
In der einbändigen Vorgängerversion dieser Grammatik lautete die unterstrichene Formulierung noch: „weitgehend ohne Bedeutungsveränderung gegeneinander austauschbar sind" (Eisenberg 1994: 190). Auf diese Stelle bezieht sich auch Eisenberg. Hierzu zählt beispielsweise das sog. 'Krankenschwestem-wiV: Na, haben wir heute schon unsere Medizin genommen? Ein ähnlicher Fall scheint beispielsweise auch bei Blatz (1895/96) vorzuliegen, der zwar insgesamt sehr ausfuhrlich schreibt, an keiner Stelle aber - soweit ich sehe - auf die höflichen Anredepronomina eingeht. Über die höchst unglückliche Terminologie, die hier zugrunde gelegt ist und die nur Verwirrung stiften kann, vgl. Abschnitt 3.2.1.
14 die Pronomina der „ H ö r e r r o l l e " gibt. Hier stehen sich in einem Paradigma die Kasusformen von du (bzw. ihr) und von Sie gegenüber. Zwischen diesen als „Vertrautheitsform" bzw. „Distanzform" bezeichneten Pronomina verläuft die sogenannte „Höflichkeitsgrenze" (S. 103). Das du erscheint somit in zwei verschiedenen Paradigmen: einmal in Opposition zu den anderen Rollenpronomina ich, er/sie/es und der/die/das und einmal in Opposition zur Distanzform Sie. Ob und inwieweit eine Verbindung zwischen den beiden Paradigmen herzustellen ist, wird aus Weinrichs Darstellung zunächst nicht deutlich; allerdings kommentiert er Form und Gebrauch des höflichen Pronomens unter anderem folgendermaßen: Zur Bildung der Distanzformen dienen nur die (weniger direkten!) thematischen, nicht die rhematischen Referenz-Pronomina. [ . . . ] D i e Distanzform der Pronomina in der Hörerrolle unterscheidet sich nur durch das orthographische Kennzeichen der Großschreibung des Anfangsbuchstabens v o n den thematischen Referenz-Pronomina im Plural (sie/'sielihnen!ihrer), von denen sie historisch abstammen. Mit diesen Referenz-Pronomina teilen sie auch die Verbkongruenz im Plural, unabhäng i g davon, ob die Bedeutung der Distanzform singularisch oder pluralisch ist. (Weinrich 1993: 103)
Hier werden im wesentlichen dieselben Informationen gegeben wie bei den weiter oben zitierten Autoren. - Der Unterschied besteht lediglich darin, daß die -Du-S/e-Differenzierung graphisch als in ein Paradigma eingebunden dargestellt wird, wobei die entscheidende Trennung durch eine „Höflichkeitsgrenze" erfolgt. Im Kommentar wird auf den diachronen Konnex der Höflichkeitsform mit Formen der 3. Person Plural hingewiesen. Der synchrone Status bleibt allerdings unscharf. Differenzierter geht die Grammatik von Heidolph/Flämig/Motsch (1981: 649-651) vor. In dieser Darstellung erscheinen die Höflichkeitsformen in das Paradigma der Personalpronomina integriert: Die Gruppe der Pronomina der 3. Person bildet als „StellvertreterPronomen" (S. 636) eine eigene Subklasse; bei der davon abgegrenzten Gruppe der „deiktischen Personalpronomen (ich, du, wir, ihr, Sie)" (S. 649) steht das höfliche Anredepronomen wie selbstverständlich und ohne nähere Erläuterung in der Liste. Ebenso nimmt es in der Paradigmentafel eine eigene Spalte ein: Abbildung 2: Paradigma der deiktischen Personalpronomina des Deutschen nach Heidolph/Flämig/Motsch (1981: 649) Kasusformen
1. Person Sing.
Plur.
2. Person Sing.
Plur.
Sg./Pl.
Nom.
ich
wir
du
ihr
Sie
Akk.
mich
uns
dich
euch
Sie
Dat.
mir
uns
dir
euch
Ihnen
Gen.
meiner
unser
deiner
euer
Ihrer
Im (oder neben dem?) Bereich der 2. Person erscheint neben den Spalten für Singular (du) und Plural (ihr) eine Spalte für Singular/Plural (Sie). Wie es zu dieser merkwürdigen Zusatzspalte kommt, bleibt unklar; eine Bezeichnung dafür fehlt. In der nachfolgenden Bedeutungsbeschreibung wird dem Sie die gleiche Semantik zugeschrieben wie dem du bzw.
15
ihr (S. 649f.). Erst im folgenden Paragraphen findet sich eine Erläuterung, w o n a c h hier „gesellschaftliche Beziehungen" relevant sind, nämlich die sozialen Rollen, die Sprecher und Hörer innehaben und deren Klassifikation nach bestimmten Kriterien als Bedingung für die Verwendung der Anredepronomen du, Siesg bzw. ihr, Siep¡ fungiert. (Heidolph/Flämig/Motsch 1981: 650) Diese Rollenverhältnisse w e r d e n sodann näher charakterisiert. Eine g r a m m a t i s c h e Interpretation j e d o c h - auch w a s etwaige (Verb-)Kongruenzfragen bei zwei Varianten von Sie betrifft - erfolgt nicht. Ein Paradigma, das im wesentlichen mit d e m gerade diskutierten identisch ist, steht in der G r a m m a t i k von Engel (1996: 651). Hier findet sich indes eine zusätzliche Bezeichnung: Die K a s u s f o r m e n von du und ihr sind unter d e m Begriff „ [ v e r t r a u l i c h e F o r m " versammelt, w o h i n g e g e n Sie unter d e m Label „ D i s t a n z f o r m " figuriert (S. 651). D a z u b e m e r k t Engel (S. 652), daß die letztgenannte F o r m „kein A u s d r u c k der H ö f l i c h k e i t " sei, vielmehr gar nichts damit zu tun habe; statt dessen „signalisiert diese F o r m immer soziale Distanz". In der G r a m m a t i k von Z i f o n u n et al. (1997) n e h m e n funktional-pragmatisch fundierte Erscheinungen des grammatischen Systems breiten R a u m ein. 2 5 So w i d m e n die A u t o r e n d e m Phänomenbereich „Sprecher-Hörer-Relation, personale B e z u g n a h m e und Beziehungskonstitution" ein eigenes Kapitel (S. 911-952). D o c h bereits im Abschnitt über „Persondeixis und Objektdeixis" (S. 316-326) findet sich ein erster Hinweis auf höfliche Anredepronomina, wonach die Hörerdeixis ('Hörer' verstehen wir hier stets als 'adressierten Hörer') in nach sozialer Distanz differenzierte Formen zerfällt. (Zifonun et al. 1997: 317) A n dieser Stelle erfolgt auch eine graphische Gegenüberstellung der „ B a l a n c e f o r m " du und der „ D i s t a n z f o r m " Sie·, weiterhin n e h m e n die A u t o r e n B e z u g auf die bereits b e k a n n t e ' K o n g r u e n z r e g e l ' : Die Distanzform „regiert [ . . . ] die 3. Person (Plural)". - W i e m a n sich das Verhältnis der Anredeformen zueinander genau vorzustellen hat, wird in einem SpezialKapitel über das Verhältnis von Sprecher und Adressat erklärt. Darin reduzieren die Autoren die (lexikalische) Vielfalt der nominalen Anredemöglichkeiten auf zwei Grundtypen, die parallel gehen zu den beiden pronominalen Formen: Anredeformen gibt es viele [Vor-, Zu-, Kosenamen, Verwandtschaftsbezeichnungen, Titel, Funktionsbezeichnungen u.ä.], aber es gibt im Deutschen nur zwei Anredemodi: den Du-Modus und den Sie-Modus. Die Hörer(gruppen)deixis du, ihr (samt den Flexionsformen) kennzeichnet (als 'Balanceform') den d u - M o d u s , die nicht numerusdistinkte Hörerdeixis Sie ('Distanzform') den S i e - M o d u s . [...] Diese Art expliziter, impliziter oder erschließbarer personaler Bezugnahme wird hier als Anredemodus bezeichnet. Anredemodus ist eine funktionale Kategorie und hat nichts mit dem Gebrauch von Modus in den Termini 'KM-Modus* und 'Verbmodus' zu tun. (Zifonun et al. 1997: 915f.; Hervorhebungen im Original, HS) Bei der Interpretation dieser Stelle ist es wichtig zu beachten, daß mit „funktionale Kategorie" hier o f f e n k u n d i g nicht der Terminus technicus der Generativen Grammatik gemeint ist, sondern eher ein P h ä n o m e n bezeichnet wird, bei dessen B e h a n d l u n g ganz elementar auf f u n k t i o n a l - p r a g m a t i s c h e P h ä n o m e n e z u r ü c k g e g r i f f e n w e r d e n m u ß - w a s i m m e r das im
25
Vgl. die Hinweise in der Einleitung sowie die fast 1000 Seiten des gesamten ersten Bandes.
16 einzelnen bedeuten mag; es geht dabei in erster Linie wohl um Bereiche wie „Selbstdarstellung, Partnerdarstellung, Beziehungskonstitution" (S. 938-952). - Festzuhalten bleibt, daß hier mit 'Anredemodus' ein grammatikographischer Fachbegriff eingeführt wird, der wesentlich dadurch bestimmt ist, daß er auf die Z)u-Si'e-Unterscheidung abhebt. Ob der Terminus als solcher glücklich gewählt ist und wie genau die 'Kategorie' zu fassen ist, sei vorerst dahingestellt. 26 Während die älteren Auflagen der Duden-Grammatik die höfliche Anrede außerhalb des eigentlichen Paradigmas der Personalpronomina behandeln (s.o.), gehen die neueren Ausgaben 27 einen anderen Weg: Abbildung 3: Paradigma der deutschen Personalpronomina nach Duden (1998: 330) 1. Person, 2. Person, die angedie von sprochen wird sich selbst vertraulich höflich spricht familiär distanziert
3. Person (Sache/Sachverhalt), von der/dem gesprochen wird Mask.
Fem.
Neutr.
Nom. 103 » Gen. 3 M ¿73 Dat. Akk.
ich meiner [mein] mir mich
du deiner [dein] dir dich
Sie Ihrer
sie ihrer
Ihnen Sie
er seiner [sein] ihm ihn
es seiner [sein] ihm es
Nom. 2 Gen. 3 CU Dat. Akk.
wir unser uns uns
ihr euer euch euch
Sie Ihrer Ihnen Sie
sie ihrer [ihr] ihnen sie
ihr sie
Nach diesem Schema sind die Sie-Formen völlig gleichberechtigt ins System integriert. Sie erscheinen - mit dem Merkmal „höflich distanziert" versehen - neben den Formen von du als Teil der Spalte unter „2. Person, die angesprochen wird". Allein aufgrund dieser Aufstellung würde man also annehmen, Sie wäre ein Pronomen der 2. Person, das sich auf eine wie auch immer geartete, hier jedenfalls nicht näher erläuterte Weise von du unterscheidet. Das Irritierende an der Darstellung der Duden-Grammatik ist aber, daß man im Kongruenzkapitel die Grundregel erfährt: „Subjekt und Finitum stimmen hinsichtlich der grammatischen Person miteinander überein" (Duden 1998: 726; ähnlich auch Duden 1984: 646 und Duden 1995: 699). Die anschließende Auflistung von Sätzen piaziert die „Höflichkeitsform" als eigene Form unterhalb der sechs Person-Numerus-Kombinationen; das dabei verwendete finite Verb haben sieht genauso aus wie die Formen der 1. bzw. 3. Person Plu26
27
Aufgrund der Kürze der Darstellung bei Zifonun et al. ist eine genauere Bewertung kaum möglich. - Im übrigen sei angemerkt, daß in einem anderen Kapitel der Grammatik (Zifonun et al. 1997: 39) eine Paradigmentafel erscheint, die den oben beschriebenen Schaubildern von Heidolph/ Flämig/Motsch (1981) und von Engel (1996) sehr ähnelt, weil auch darin die Abteilung 'Hörer(gruppen)deixis' dreispaltig erscheint: diesmal differenziert in „Singular - Plural Distanzform". Seit der 3. Auflage: Duden (1973: 274), Duden (1984: 317), Duden (1995: 325).
17
ral und eben nicht wie diejenigen der 2. Person, nämlich hast und habt. Zur Klärung der Verhältnisse trägt auch nicht bei, daß - im Zusammenhang mit den Personalpronomina ein bereits oben zitierter Satz aus den früheren Auflagen überlebt hat (jedoch orthographisch modernisiert und stilistisch leicht überarbeitet), denn laut Paradigmentafel erscheint Sie sowohl im Singular- als auch im Plural-Feld:28 Großgeschriebenes Sie ist, obwohl pluralisch, auch Anredepronomen für eine einzelne Person. (Duden 1998: 332; ähnlich schon Duden 1959: 241, Duden 1984: 319 und Duden 1995: 326)
Ich habe es gerade vermieden, eine genauere terminologische Spezifizierung der kategorialen Verhältnisse hinsichtlich der ¿w-Sze-Distinktion zu geben. Das hat seinen Grund darin, daß die Duden-Grammatik an dieser Stelle keinerlei Informationen gibt. Jedenfalls steht unmittelbar unterhalb des in Abb. 3 zitierten Schemas quasi als Legende der Satz: Neben der grammatischen Person werden beim Personalpronomen also Singular und Plural sowie - in der 3. Person Singular - auch das Genus unterschieden. (Duden 1998: 330)
Damit sind diejenigen drei grammatischen Kategorien angesprochen, die abgesehen von Kasus traditionellerweise für die Personalpronomina angenommen werden: Person, Numerus, Genus. Nicht geklärt ist damit allerdings die Frage, wie die Unterscheidung zwischen den Eintragungen „vertraulich familiär" und „höflich distanziert", welche in der Abbildung zu sehen sind, begrifflich und konzeptuell zu fassen ist. Eine entsprechende Bezeichnung im Schema fehlt und — obwohl rein graphisch vollkommen parallelisiert - kann es 'Genus' ja nicht sein, denn diesbezüglich wird explizit die Einschränkung auf die 3. Person Singular gemacht. - Ein beträchtlicher Teil der nachfolgenden Erörterungen wird darauf abzielen, eine Lösung für genau dieses Problem zu finden. Was läßt sich bislang als unter Anredegesichtspunkten relevante Essenz aus dem in diesem Abschnitt gebotenen Querschnitt durch die Grammatikographie zur deutschen Gegenwartssprache destillieren? - Zweierlei Typen von Auffassungen über die Grammatik der Anredepronomina können demnach - leicht vereinfachend - unterschieden werden: Erstens gibt es eine Ansicht, wonach ich, du, er/sie/es, wir, ihr, sie (und deren jeweilige Kasusformen) als kompletter Bestand der deutschen Personalpronomina anzunehmen sind und höfliches Anrede-S/e als ein Pronomen der 3. Person Plural in gleichsam sekundärer Funktion zu betrachten ist. Die pronominale Anrede gewinnt ihre Variabilität demzufolge gewissermaßen aus einer pragmatisch bedingten Verwendungsregel, die über bereits vorhandenem lexikalischen Material operiert, ohne dadurch eine nur ihr zukommende grammatische Strukturierung aufzubauen.29 Nach dieser Auffassung verhalten sich die beiden Varianten von /zi:/ aus grammatischer Sicht identisch; sie stellen lediglich zwei Varianten eines einzigen grammatischen Elements, des Pronomens der 3. Person Plural dar. Dies gilt unabhängig davon, ob sie auf eine Gruppe von Unbeteiligten, also weder Sprechern noch 28
29
Ein Großteil der Verwirrung ließe sich im übrigen vermeiden, wenn man bei der Behandlung grammatischer Kategorien konsequent zwischen der formalen morphologischen und der funktionalen 'weltseitigen' Ebene trennen würde (so schon die Forderung von Koschmieder [ 1945] 1965). Näheres dazu siehe unten in Abschnitt 2.1. Daß die Regeln, die der Entscheidung über die Verwendung der einen oder anderen Form zugrunde liegen, pragmatischer Natur sind, ist trivial, denn sie involvieren (sozial-)psychologische Kriterien. Davon unabhängig kann man sich aber eben auch fragen, ob sich die Formen als solche allein über den Rückgriff auf Pragmatisches fassen lassen.
18 Adressaten, referieren oder ob sie im höflichen Adressatenbezug gebraucht werden.30 Ein eigener Platz im Paradigma - und damit einhergehend ein eigener Eintrag im mentalen Lexikon - ist für das höfliche Anredepronomen also nicht vorgesehen. Zweitens finden sich verschiedene Modelle, die das höfliche Sie als solches in die Paradigmentafel der Personalpronomina integrieren und ihm dadurch den Status eines selbständigen Personalpronomens zuweisen.31 Eine solche Vorgehensweise verlangt jedoch eine wie auch immer im Detail zu begreifende - grammatische Differenzierungsmöglichkeit zwischen den beiden Pronominalreihen in der 2. Person: du/ihr vs. Sie. Die vorliegenden Grammatiken des Gegenwartsdeutschen vernachlässigen diesen Aspekt aber bislang. Entweder sie schmuggeln die Formen ins System, ohne sie weiter zu kommentieren, oder sie benennen sie mit Begriffen wie 'Distanzform' oder 'höflich distanziert', lassen dann aber wie aus der Abbildung aus der Duden-Grammatik (1998) und dem zugehörigen widersprüchlichen Kommentar schön ersichtlich ist - den Status der Differenzierung völlig offen. Will man ein Schema wie dieses in seinem Aufbau ernst nehmen, dann muß man sich fragen, worin genau die Parallelität zwischen den Genera 'Maskulin', 'Feminin' und 'Neutrum' einerseits und den beiden Varianten des Anredepronomens andererseits liegt. - Eine mögliche Antwort könnte in den theoretischen Untersuchungen zu den grammatischen Kategorien oder Features/Merkmalen zu suchen sein, die in letzter Zeit sowohl von germanistischer Seite als auch von seiten der Allgemeinen Sprachwissenschaft angegangen worden sind.
1.2.2. Theoretische Untersuchungen zu grammatischen Kategorien Ähnlich enttäuschend wie bei den deskriptiven Grammatiken ist die Ausbeute, wenn man versucht, in den grammatiktheoretischen Arbeiten Anhaltspunkte über die Grammatik der Anredepronomina zu finden. Ich werde im folgenden Abschnitt sichten, was dazu seitens verschiedener grammatischer Strömungen geäußert wurde. Dabei kann es keinesfalls darum gehen, einen vollständigen Abriß der grammatiktheoretischen Positionen zu Kategorien, Merkmalen, Features usw. zu liefern. An dieser Stelle soll nur die bisherige Herangehensweise der Grammatiker an den Fragenkomplex, der sich mit der du-Sie-Varianz befaßt, demonstriert werden. Dabei wird - das sei vorweggenommen - nur wenig zu berichten sein. - Genaueres zu den grammatischen Kategorien, insbesondere zu 'Person' und 'Numerus', werde ich erst im nächsten Kapitel entwickeln. Im Zuge der 'pragmatischen Wende' in den 70er Jahren32 ist in der Germanistik wiederholt der Zusammenhang von Pragmatik und Grammatik diskutiert worden. Dabei ist auch der Bereich der Anrede in das Blickfeld der Grammatiker gerückt.33 Besonders hervorzu30 31
32 33
Zur hier angesprochenen rollendeiktischen Differenzierung vgl. unten Abschnitt 2.2.2. Man sollte annehmen, daß sich ein solcherart eigenständiges Pronomen auch in irgendeiner Hinsicht eigenständig verhält und eben nicht die gleichen grammatischen Eigenschaften (z.B. hinsichtlich Kongruenz oder anderer syntagmatischer Erscheinungen) wie das Pronomen der 3. Person Plural aufweist. Darüber ist meines Wissens jedoch nichts aus den Grammatiken zu erfahren. Vgl. z.B. Heibig (1986: 148-152). Schmid ([1972] 1983) hatte bei der Behandlung der Korrelation von pragmatisch zu fassender Deixis und grammatischer Kategorie 'Person' noch auf den Einbezug der Anredevarianz
19 heben ist hier die IdS-Tagung von 1983: 34 So sammelt Lewandowski (1984) in seinem Beitrag „grammatische Erscheinungen [, die] nur unvollständig oder gar nicht hätten beschrieben werden können, wenn nicht wesentliche pragmatische Koordinaten errichtet worden wären" (S. 17). Dazu gehört neben Satzgliedstellung, Artikelwahl, Modalwörtern und anderem auch „der Pronominalbereich". In der abschließenden Liste von künftig bei der Analyse von Äußerungen zu berücksichtigenden Problemfeldern finden sich unter anderem personale, lokale und temporale Deixis, Emotionalität, Intentionalität und „die Beziehung der Äußerung zu Sprecher und Hörer unter sozialem Aspekt" (Lewandowski 1984: 31). Was genau man sich unter der letztgenannten Beziehung vorzustellen hat, wird nicht ausgeführt. Im selben IdS-Band ist auch eine auf die interpersonale Beziehungen fokussierende Betrachtung erschienen (Vorderwülbecke 1984), bei der es in erster Linie um Anredeformen und Höflichkeit geht. Der Autor verzichtet jedoch darauf, genauere grammatische Analysen vorzunehmen. Statt dessen bettet er Anrede und Höflichkeit in ein sprechakttheoretisch fundiertes Modell der Beziehungskonstitution ein. Als Aufgabe für die Grammatikschreibung formuliert er dabei den Anspruch, die grammatischen Formen „nicht abstrakt sozusagen in einer pragmatischen Ruhelage [zu] beschreiben, sondern in ihrem Vorkommen in Institutionen" (S. 309). 35 Auch Wolf (1985) ist im selben Diskussionszusammenhang zu sehen. Er geht auf diverse grammatische Erscheinungen ein, die die Berücksichtigung pragmatischer Aspekte erfordern. Als Unterpunkt im Rahmen der Rollendeixis nennt er dabei die durch die Wahl des Anredepronomens gegebene „Möglichkeit, bestimmte Sprecherhaltungen auszudrücken" (S. 401). Die bislang vorgestellten Autoren reflektieren jeweils recht allgemein über den Einbau von pragmatischen Phänomenen in grammatische Beschreibungen. Sie gehen dabei nicht auf konkrete Grammatikmodelle ein und explizieren ihre Auffassung auch kaum detailliert. - Mehr könnte man sich in dieser Hinsicht von neueren Arbeiten erhoffen, die versuchen, die nominalen und verbalen Flexionskategorien (und deren syntaktische Relevanz) zu erfassen. Doch der Stellenwert, den viele der formalgrammatisch orientierten Autoren den 'höflichen' Anredepronomina in ihren Analysen zuweisen, ist sehr gering. Die Varianz bei den adressatenbezüglichen Personalpronomina wird häufig marginalisiert, fur irrelevant erklärt oder gar 'vergessen'.
Das zeigt sich z.B. darin, daß allein diejenigen Pronomina (bzw. die ihnen entsprechenden Verbformen), die in der oben angeführten Abb. 1 aufgelistet sind, in die Analysen eingehen. Sie wird also ausgeblendet. Wahrscheinlich wird dabei im Einklang mit der bereits zitierten älteren Grammatiktradition bis hin zu Eisenberg angenommen, daß die höfliche Anrede einen pragmatischen Sonderfall darstelle, der den Grammatiker nicht weiter zu interessieren brauche. Manche Autoren schließen die 5/e-Anrede mehr oder weniger explizit aus dem Untersuchungsfeld aus, so z.B. Wiese (1994): Nicht erörtert werden zudem spezielle Verwendungsweisen (etwa Höflichkeitsformen). (Wiese 1994: 162)
34 35
verzichtet. - Auch die Weiterentwicklung des Schmidschen Modells von Beifuss et al. (1985) bringt in diesem Punkt keine Neuerung. Dokumentiert in Stickel (1984). Wieweit dies mit einer modernen, an einem kognitiv orientierten Sprachbegriff ausgerichteten Grammatiktheorie kompatibel ist, sei offen gelassen.
20 Ausführlicher wird dieser Gedanke von Wunderlich/Fabri (1995) formuliert: Usually each inflectional feature corresponds to some particular information available in the syntax. However, it may be the case that certain inflectional forms are used for a different purpose. For instance, the polite 'imperative' in German in expressed by means of [- 2, + pi, - subj, - prêt] forms, and while the forms agree with the 3pl pronoun, they nevertheless may be related to a single adressee. Thus, certain forms delivered by the morphology may be adopted for a special purpose in the syntax. (Wunderlich/Fabri 1995: 272; Orthographie original, HS)
Leider verzichten Bredel/Lohnstein (2001: 222, Anm. 7), die auf den gerade zitierten Arbeiten aufbauen, auf die Behandlung pluralischer Formen; 36 deshalb ist nicht zu erkennen, wie sie mit dem uns interessierenden Problem umgehen würden. In anderen Arbeiten wird die Sïe-Anrede jedoch ohne nähere Begründung vernachlässigt. So beschreibt Wunderlich (1970/71) zwar kurz eine Art von 'Höflichkeitskongruenz' im Deutschen und Japanischen (S. 159f.), läßt dann aber bei der Formalisierung der Pronomina diesen Aspekt beiseite: [D]ie soziativen Beziehungen, die wir statt ich, er statt du und Sie statt du / ihr ergeben, werden nicht berücksichtigt. (Wunderlich 1970/71: 187)
Ferner kommt beispielsweise Fries (1997) trotz aller sonstiger Ausführlichkeit - soweit ich sehe 37 - nur an einer Stelle kurz auf 'höfliche' Formen der Anrede zu sprechen, nämlich im Zusammenhang mit der Feststellung, daß das Sie numerusindifferent sei (S. 93, Anm. 77). Auch in bezug auf Sprachen, bei denen das adressatenbezügliche Höflichkeitspronomen aufgrund formaler Distinktivität nicht wie im Deutschen als wiederverwendetes Pronomen interpretiert werden kann, wird das Problem gern beiseite geschoben. Ein eklatantes Beispiel für dieses Verfahren bietet die orthodox-generative Analyse der grammatischen Kategorien 'Person', 'Numerus' und 'Genus' des Niederländischen von Kerstens (1993). Im Abschnitt über die Personalpronomina und ihre Kategorien (S. 44-47) wird die 'höfliche' Anredevarianz keines Wortes gewürdigt, so daß der Eindruck entsteht, das Niederländische kenne in der Anrede nur die Numerusopposition zwischen jijsa und julliefL . Daß daneben auch noch ein numerusindifferentes höfliches Anredepronomen U existiert, das zumindest in der heutigen Standardsprache der Niederlande nicht an eine andere Form im System angebunden werden kann, erfahrt der Leser nur aus zwei lakonischen Anmerkungen in einem späteren Kapitel zu „Finite INFL": Here I ignore the cultivated polite (or plural) form veegt! 'sweep!' - If the subject is the polite form U, we have the verb form gaat. I have nothing to say about that. (Kerstens 1993: 179, Anm. 15 bzw. 180, Anm. 22)
Durch die Ausblendung des Personalpronomens U wird zwar eine gewisse Eleganz der Beschreibung erzeugt - denn zugegebenermaßen verlangt sein ungewöhnliches Kongruenzverhalten zusätzlichen, nicht leicht zu formalisierenden Beschreibungsaufwand - , die Adäquatheit der Beschreibung bleibt meines Erachtens allerdings auf der Strecke, wenn 36
37
Zur Begründung führen sie an, daß ihrer Meinung nach „die Pluralformen in Bezug auf ihre didaktische [?] Deutung [...] andere Eigenschaften" haben als die Singularformen. Diese Einschränkung ist deshalb notwendig, weil die mir vorliegenden Exemplare der Arbeit alle auf Seite 96 mit der Anmerkung 100 abbrechen, laut Haupttext aber 131 Anmerkungen zu erwarten wären. Der Apparat bricht genau inmitten der Behandlung der Kategorie 'Person' ab.
21 von neun Pronomina lediglich acht behandelt werden. 38 - Im Einklang mit der bisherigen Forschung nehmen auch die formalgrammatischen Analysen, deren Beschreibungsanspruch von vornherein übereinzelsprachlich ist, in den allermeisten Fällen keinerlei Notiz von etwaigen grammatikrelevanten Höflichkeitsdistinktionen: Stellvertretend für die Masse an Arbeiten seien zwei aktuelle Publikationen genannt: Grewendorf (2002; insbesondere S. 154ff.) erwähnt in seiner Darstellung der Rolle der Phi-Features im Modell der Minimalistischen Syntax lediglich „Merkmale wie Person, Numerus, Genus", 39 und Wunderlich (im Druck) scheint in seinem Versuch, einen allgemeinen Überblick über Kongruenzphänomene zu geben, vorauszusetzen, daß die drei genannten Merkmale (Kategorien) die einzig relevanten seien. Im Gegensatz zu den bislang vorgestellten Untersuchungen beschreitet Bybee (1985) einen streng induktiven Weg. Angesichts ihrer unbedingten Ausrichtung an einem Sample, das aus 50 genetisch und geographisch möglichst weit gestreuten Sprachen besteht, behandelt auch sie keine Höflichkeitsaspekte, da diese nur ein einziges Mal in ihrem Material aufscheinen: Only two new categories had to be created during the examination of the data. [...] The other was status which refers to markers of relative social standing of the speech act participants. This was found as a verbal inflection only in Korean. (Bybee 1985: 29; Hervorhebung im Original, HS)
Methodisch aufschlußreich an dieser Aussage scheint mir die Formulierung „had to be created". Hier spiegelt sich nämlich ein möglicher weiterer Grund wider, warum die grammatische Differenzierung nach 'sozialen' Kriterien relativ wenig Beachtung findet. Die hierzu notwendige Kategorie - so sie denn überhaupt eine ist - muß erst neu 'erfunden' werden. 40 Sie ist nicht von vornherein im Bewußtsein der Forscherin, so wie dies für Tempus, Modus oder Person gilt. Die immer noch - auch wenn oft anderes behauptet wird - auf der (griechisch-)lateinischen Tradition fußende Grammatikschreibung liefert nämlich zu Höflichkeitsfragen keine Vorbilder, allein schon deshalb, weil weder im Altgriechischen noch im Klassischen Latein die Anredepronomina (oder eine andere Wortklasse) eine entsprechende Distinktion grammatikalisiert haben. 41 Trotz der aufgezeigten Defizite der grammatiktheoretischen Forschung tauchen 'honorific distinctions' vereinzelt in neueren crosslinguistischen Überblicksdarstellungen zu grammatischen Kategorien (Flexionskategorien) auf, wenngleich sie stets sehr kurz abgehandelt werden. So weisen z.B. Lyons (1968: 280), Sasse (1993: 672f.) und Stump (1998: 30) auf
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Nämlich die zwei mal drei Person-Numerus-Konstellationen plus zwei weitere für die GenusDifferenzierung in der 3. Person Singular (vergleichbar mit dem Deutschen). Der letzte Satz des Zitats kommt im übrigen wohl einer Kapitulation des Theoretikers vor der Komplexität der Welt gleich. - Für eine Kurz-Analyse des Niederländischen im Rahmen des hier vorgetragenen Ansatzes vgl. unten Abb. 20. Er läßt dadurch - bei wohlwollender Interpretation - offen, ob womöglich weitere Merkmale existieren. Entsprechend äußern sich auch Klein/Rieck (1982: 39), die bei der Erfassung der Du-Si'e-Differenz gewissermaßen ad hoc und ohne nähere Erläuterung ein Merkmal [+/- Höflichkeit bzw. Distanz] einführen. Zu den grammatischen Kategorien bei Donatus, dem wohl wirkungsmächtigsten antiken Grammatiker, sowie seinen Quellen vgl. Borsche (1989, insbesondere die Tabelle S. 21).
22 entsprechende grammatische Differenzierungen hin. 42 - Bei den formalgrammatischen Ansätzen wird zwar - wie bereits demonstriert - die Anredevarianz meist ignoriert, doch gibt es zumindest ein grammatisches Modell (die Head-Driven Phrase Structure Grammar), das einen Teil seines Erklärungspotentials genau aus der angesprochenen Problematik gewinnt. Unter Berufung auf Überlegungen von Barlow (1992) nutzen nämlich Pollard/Sag (1994: 9Iff.) die Numerusambivalenz von Sie sowie „honorific agreement" im Koreanischen, um fur eine Analyse der Subjekt-Verb-Kongruenz zu plädieren, wonach Wortformen neben verschiedenen syntaktischen und semantischen Indizes auch für sogenannte „ B A C K G R O U N D values of the CONTEXT attribute" (Pollard/Sag 1994: 91; Hervorhebung im Original, HS) spezifiziert sind. 43 Andere formale Modelle bringen meines Wissens nichts Vergleichbares.
1.3. Versuch eines Neuansatzes - These
Die Betrachtung der bisherigen germanistischen und allgemein-grammatischen Forschung zum Thema der Anredepronomina und deren Grammatik hat folgende Grundzüge erkennen lassen: - die weitgehend soziolinguistische Fixierung der traditionellen Anredeforschung - die Konzentration auf die Frage der (soziolinguistischen) Faktoren bei der Herausbildung der heute gültigen Dw-Äe-Dichotomie und der einzelnen diachronen Vorstufen dazu - die weitgehende Ausblendung bzw. 'Bagatellisierung' der Anredeproblematik von seiten der germanistischen Grammatikschreibung sowie seitens der Grammatiktheorie, was deren Beschreibungsadäquatheit z.T. empfindlich mindert Die grammatische Seite der Variation bei den Anredepronomina des Deutschen (und anderer Sprachen) ist also in einem nicht geringen Maße vernachlässigt worden.
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Andererseits fehlen jedoch in manchen ansonsten recht ausführlichen Darstellungen entsprechende Hinweise, so beispielsweise in der frühen Zusammenschau von Sapir (1921: 86-126). Auch - um nur z w e i im Grunde b e l i e b i g e w e i t e r e B e i s p i e l e zu n e n n e n - Wurzel ( 1 9 7 7 ) und Bergenholtz/Mugdan (1979) schneiden das Phänomen nicht an - und das obwohl beide aus Sicht der Indogermania durchaus 'exotische' grammatische Kategorien anführen; z.B. Generationsabstand bei Personalpronomina im Lardil (Pama-Nyungan, Queensland (Nord-Australien)) (Bergenholtz/Mugdan 1979: 146) oder Willkürlichkeit v o n Handlungen bei Verben im Cupeño (Uto-Aztecan, Kalifornien) (Wurzel 1977: 133). [Bei seltener diskutierten Sprachen gebe ich auch im folgenden knappe Angaben zur genetischen und geographischen Einordnung, wobei ich mich entweder an der jeweiligen Spezialliteratur oder an den Daten aus dem SIL -Ethnologue orientiere (14. A u f l a g e , 2002; abrufbar unter: http://www.ethnologue.com). Hinsichtlich der Wahl der Gliederungsebene bei der sprachgenetischen Zuordnung verfahre ich dabei so, daß ich diejenige Bezeichnung auswähle, die mir den größten Wiedererkennungswert zu haben scheint.] Die hierbei eine Rolle spielenden 'BACKGROUND values' werden im Rahmen der Theorie beschrieben als „felicity conditions on the utterance context" (Pollard/Sag 1994: 27).
23 Andererseits finden sich in diversen Untersuchungen, die auf der Suche nach grammatischen Regularitäten einen Blick über die Grenzen der Indogermania hinaus wagen, Hinweise darauf, daß Distinktionen, die mit Höflichkeit, sozialen Rollen und Ähnlichem zu tun haben und die im Deutschen durch die Anredevarianz zum Ausdruck gebracht werden, in anderen Sprachen mit Hilfe vielfaltiger morphologischer Markierungen, oft auch an Verben oder Nomina, gekennzeichnet sind. Diese Markierungen haben auch Einfluß auf die Paradigmenorganisation. Die dabei herangezogene grammatische Kategorie wird mit Begriffen wie 'Status' (Bybee 1985: 29), 'Reverenz' (Herbermann 1988a), 'Honorativ' (Irvine 1995) oder 'Respekt' (Haase 1994) benannt. Ich nehme diese Beobachtung zum Anlaß, darüber nachzudenken, inwieweit es sinnvoll sein kann, diese aus der allgemein-sprachvergleichenden Forschung bekannte Kategorie auf die Beschreibung der deutschen Sprache anzuwenden. Dabei könnte sich eine typologisch fundierte Lösung des germanistischen Anrede-Problems abzeichnen. Es geht also darum, den Stellenwert zu erkunden, der einer möglichen grammatischen Kategorie 'Respekt' im System des Deutschen zuzuschreiben ist. Um zu einer Beurteilung dieses Vorschlags zu gelangen, werde ich die bereits einleitend angesprochenen Denkschritte vollziehen, die sich mit Blick auf die Hypothese folgendermaßen formulieren lassen; es sollen also Antworten auf folgende Fragen gesucht werden: - Was sind die wesentlichen Eigenschaften grammatischer Kategorien? - Wie funktioniert die Kategorie 'Respekt' in einigen nicht-indogermanischen Sprachen und was ist ihr 'weltseitiges' Korrelat? - Wie hat sich das System der Anredepronomina im Deutschen entwickelt von den Anfangen der Überlieferung bis heute und wie läßt sich diese Entwicklung unter Einbezug von Ergebnissen der linguistischen Universalienforschung interpretieren? - Welche grammatischen Besonderheiten kennzeichnen das System der heutigen Anredepronomina im Standarddeutschen sowie in den Dialekten? Welche grammatischen - d.h. morphologischen und syntaktischen - Effekte hat 'Respekt' im Deutschen? - Welche Konsequenzen für unsere Vorstellungen von Morphologie und von Sprachwandel ergeben sich aus der Respekt-Diskussion? Bei der Beantwortung dieser Fragen steht zu hoffen, daß sich durch die konsequente Berücksichtigung des Wissens der empirischen Typologie- und Universalienforschung neue Perspektiven auf die Grammatik des Deutschen eröffnen. Es rücken Erscheinungen (und eventuell dazugehörige Erklärungsmuster) in den Vordergrund, die bislang weitgehend unbeachtet geblieben sind. - Der neue Blick wird auch Möglichkeiten eröffnen, das Bild der deutschen Anrede detailreicher und genauer zu beschreiben. Womöglich verkompliziert sich dadurch unsere bisherige Vorstellung der Anredegrammatik. Eine adäquate Darstellung der Phänomene wird zunächst vielleicht sogar erschwert. Dies ist aber vorderhand unumgänglich, denn in dem Maße, wie unsere differenzierte Kenntnis über die typologisch relevanten Vergleichsinstanzen wächst, wächst auch die Kenntnis unserer Unkenntnis. (Lang 1996: 14)
Eines ihrer Ziele würde die vorliegende Arbeit schon erreichen, wenn sie durch Vermehrung der Kenntnis die Einsicht in die Unkenntnis befördern helfen könnte.
2. Grammatische Kategorien
In den vorangegangenen Abschnitten wurde gelegentlich der Begriff 'grammatische Kategorie' verwendet, ohne daß näher auf dessen Bedeutung eingegangen worden wäre. Angesichts der zentralen Rolle, die dieses Konzept bei der Explikation des grammatischen Verhaltens der Anredepronomina in der vorliegenden Arbeit spielt, werde ich im folgenden einige grundlegende Eigenschaften grammatischer Kategorien herausarbeiten sowie in aller Kürze exemplifizieren; dabei werde ich auch zu zeigen versuchen, inwieweit eine dynamische Sprachauffassung dazu beitragen kann, die Schärfe mancher Aporien einer rein synchron-strukturellen Auffassung von Kategorien zu mildern (Stichwort: Grammatikalisierung). Weiterhin werde ich diejenigen Kategorien, die bei der späteren Behandlung von 'Respekt' im Deutschen zentrale Relevanz erlangen, unter Einbeziehung typologischen Wissens genauer darstellen. Es handelt sich dabei insbesondere um die Kategorien 'Numerus' und 'Person'; die Kategorien 'Genus' und 'Kasus', die für die nachfolgende Anredediskussion weniger relevant sind, werden nur am Rande behandelt. Mit diesem allgemein-grammatischen Überblick soll die konzeptuelle Grundlage geschaffen werden für die anschließende Untersuchung der deutschen Anredepronomina und ihrer kategorialen Auffächerung.
2.1. Eigenschaften grammatischer Kategorien
Noch immer gilt, was bereits Lyons (1968: 270) formuliert hat: There is very little consistency or uniformity in the use of the term 'category' in modern treatments of grammatical theory. It is frequently employed, like 'class' or 'set', to refer to any group of elements recognized in the description of particular languages.
Mit einem solchen Vorgehen stehen die Linguisten zwar durchaus in Übereinstimmung mit der alltagssprachlichen Verwendung des Wortes 'Kategorie', 1 jedoch ist dadurch leicht die Gefahr gegeben, aneinander vorbei zu reden und zu denken. Dies gilt insbesondere dann, wenn dieser Begriff für eng miteinander verwandte, aber dennoch deutlich zu unterscheidende Konzepte verwendet wird. In den verschiedenen Richtungen der Linguistik sind derzeit mindestens die folgenden Bedeutungsnuancen in Gebrauch, oftmals ohne explizite Definition und ohne Hinweis auf andere terminologische Festlegungen in konkurrierenden Forschungstraditionen. Einmal werden in kognitiv-semantischen Ansätzen diejenigen Gruppen von Konzepten als linguistische Kategorien im weiteren Sinne betrachtet, die mit einer bestimmten 'Weltsicht' verbunden sind und die sich in irgendeiner Weise durch ähnliche sprachliche Strukturen miteinander verbinden lassen (z.B. durch gemeinsame 'Classifier').2 Daneben sind verschiedene, nicht immer klar voneinander zu trennende Spielarten 1 2
Vgl. hierzu auch Kaden (1996: 107f.). Vgl. z.B. Lakoff (1987) als eine wichtige Ausprägung dieser Sichtweise.
25 des Konzepts 'grammatische Kategorie' zu nennen. Allgemein werden darunter diejenigen grammatischen Elemente verstanden, die - in einer gegebenen Einzelsprache - „in irgendeiner Weise in formbildenden, das heißt in morphologischen, phonologischen oder syntaktischen Regeln berücksichtigt werden müssen" (Fries 1997: 12; Hervorhebungen im Original, HS); oft erfolgt dann eine terminologische Einschränkung auf eine Subklasse dieser Entitäten. So versteht man in einem der derzeit einflußreichsten Grammatikmodelle (spätestens seit Chomsky 1970) unter grammatischen Kategorien in erster Linie syntaktisch definierte Lexemklassen, also Teile desjenigen, das traditionell von der Theorie der 'Wortarten' erfaßt wird. Diese Kategorien werden manchmal als 'lexikalische Kategorien' von den 'funktionalen Kategorien' abgegrenzt (dazu s.u.), manchmal aber auch als 'syntaktische Kategorien' bezeichnet.3 Eine solche Auffassung kann im übrigen auf der philosophischen Seite über die Kantsche bis auf die Aristotelische Kategorienlehre zurückverfolgt werden, wie Naumann (1986: 20-45) gezeigt hat. - Eine andere, bereits seit langem an reich flektierenden Sprachen entwickelte Tradition verzeichnet unter 'grammatischen Kategorien' primär diejenigen Unterscheidungen, die den einzelnen Wortarten 'akzidentiell' zukommen, d.h. die Kategorien, nach denen die veränderbaren Wortarten flektiert werden können.4 Insofern bei der Bestimmung dieses Typs von grammatischen Kategorien auf Eigenschaften des Flexionssystems, also der Morphologie, Bezug genommen wird, werden sie gern auch als 'morphologische Kategorien' bezeichnet. Im Zuge des Sprachvergleichs wird aber deutlich, daß natürlich nicht alle Sprachen das gleiche morphologische System besitzen. Dies bedeutet, daß Kategorien, die in einer Sprache flexivisch realisiert werden, in einer anderen Sprache beispielsweise mittels einer analytischen Konstruktion zum Ausdruck gebracht werden, also durch systematische Kombination zumeist zweier einzelner Wortformen (z.B. von Auxiliarverb und lexikalischem Vollverb). Manche Autoren (z.B. Wurzel 1984: 60-63) nennen die durch solche Konstruktionen markierten Kategorien dann auch wiederum 'syntaktisch', so daß dieser Begriff je nach Grammatikmodell sehr mehrdeutig sein kann.5 Im folgenden werde ich von der traditionellen morphologiebezogenen Grundkonzeption ausgehen. Dabei sind allerdings zwei Modifikationen notwendig, denn zum einen ist die Terminologie bezüglich der morphologisch determinierten Kategorien sehr uneinheitlich. Zum anderen scheint es mir unter einer modernen typologischen Perspektive unerläßlich, den Kategorienbegriff dergestalt auszuweiten, daß nicht unbedingt auf Flexionseigenschaften zurückgegriffen werden muß, so daß Sprachen mit wenig oder gar ohne Flexion ebenso vom Modell erfaßt werden können. In ähnlicher Weise sollen manche der mehrgliedrigen,
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So beispielweise in Muysken/van Riemsdijk (1986a: 2) und Sasse (1993: 647ff.). Der gängigere Terminus hierfür scheint allerdings 'lexikalische Kategorie' zu sein, so z.B. in Fanselow/Felix (1987: 6 6 f f ), Cann (1996: 397) und Radford (1997: 64f.); Chomsky (1995: 6) nennt sie „substantive categories". Vgl. in dem Zusammenhang auch die Titelgebung von Rauh (1993), die unter der Überschrift „Grammatische Kategorien" im Grunde nur Wortarteigenschaften von Präpositionen diskutiert. - Zu diesem Themenkomplex insgesamt vgl. auch J.M. Anderson (1997, z.B. S. 26).
4
Stellvertretend für die reichhaltige Literatur zur antiken Frühgeschichte dieser Konzeption sei hier Borsche (1989) genannt. Der Beginn der deutschsprachigen Adaptation dieser Vorstellung ist in Ising (1966) dokumentiert. Man spricht dann auch von analytisch (im Gegensatz zu synthetisch) realisierten grammatischen Kategorien. Z.B. werden auf diese Art die periphrastischen Verbalformen beschrieben; vgl. die Perfektformen des Deutschen (im Kontrast zum Lateinischen): hat_ge-lieb-t (vs. ama-vi-t).
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26 nur syntagmatisch zu bestimmenden Formen in flektierenden Sprachen (periphrastische oder analytische Formen) in das Modell integrierbar sein. Es soll also um denjenigen Typ grammatischer Kategorien gehen, unter den traditionellerweise (Flexions-)Kategorien wie 'Person', 'Numerus', 'Genus', 'Kasus', 'Tempus', 'Modus', 'Aspekt' usw. fallen. Diese Kategorien sind diejenigen, die in der Mehrzahl der Überblicksdarstellungen als „the most typical noun-forming and verb-forming elements" (so Sapir 1921: 113) aufgeführt werden - was ihre Verbreitung sowohl in den indogermanischen Sprachen als auch darüber hinaus in den Sprachen der Welt betrifft. 6 Die Liste umfaßt in etwa auch das Spektrum dessen, was beispielsweise im Rahmen der Generativen Grammatik als 'Features' von 'Funktionalen Kategorien' diskutiert wird, also die Menge derjenigen grammatisch veränderlichen Merkmale von Wortformen, denen beim Aufbau syntaktischer Phrasen besondere Relevanz zukommt. 7 Wie noch zu explizieren sein wird, sind diese grammatischen Kategorien dadurch gekennzeichnet, daß sie sich aus mehreren in einer bestimmten Relation zueinander stehenden Elementen zusammensetzen; so ist beispielweise im Deutschen die Kategorie 'Numerus' in 'Singular' und 'Plural' untergliedert oder 'Kasus' in 'Nominativ', 'Genitiv', 'Dativ' und 'Akkusativ'. Während die Einzelelemente ebenso wie die durch sie konstituierten Gruppen an sich jeweils relativ einheitlich bezeichnet werden, herrscht große Verwirrung bei der Benennung der beiden involvierten Ebenen. Die Terminologie in diesem Bereich wird von unterschiedlichen Autoren höchst ungleich verwendet, wie die folgende Auswahl aus deutsch- und englischsprachigen Publikationen demonstriert (Abb. 4):8
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Aus der umfangreichen Literatur seien hier nur ein paar der leichter zugänglichen Auflistungen zusammengestellt: Bergenholtz/Mugdan (1979: 144-147), Anderson (1985: 174-179 u. 189-191), Bybee (1985: 20-24), Stump (1998: 26-31). - Daneben werden vielfach weitere Kategorien angenommen, so z.B. Komparation bei Adjektiven im Deutschen und diversen anderen Sprachen (vgl. Wurzel 1987 für einen Überblick) oder Definitheit als Flexionskategorie bei Nomina in skandinavischen Sprachen (im Gegensatz zu Balkansprachen, vgl. Börjars 1992, 1997; für Hypothesen zur Entstehung dieser Erscheinung vgl. Braunmüller 1982: 222-238). - Als Beispiel für ein rezentes Plädoyer für eine nicht allgemein als solche erkannte, der 'Evidentialität' nahestehende Kategorie - nämlich 'Mirativität' - sei auf DeLancey (1997) verwiesen (kritisch dazu Lazard 1999). Vgl. hierzu z.B. Ouhalla (1991), Olsen/Fanselow (1991) und Thráinsson (1996). Andere Autoren sind in Carstairs-McCarthy (2000: 267) aufgeführt.
TI Abbildung 4: Übersicht über die Terminologie zu den grammatischen Kategorien Autor
Einzelelemente (z.B. Singular, Plural)
Gruppe der Elemente (z.B. Numerus)
Risch (1985: 400)
kategorielies Einzelglied
kategorielle Reihe
Wurzel (1977: 139; 1984:61)
Kategorie
Kategoriengefüge
Rix (1992: 106f.)
Kategorie
Dimension
Lieb (1993: 15f.)
Kategorie
Klassifikation
Eisenberg (1998: 17f.)
Kategorie
Kategorisierung
Weigand (1978: 24)
Subkategorie
Kategorie
Matthews (1991: 39f.)
morphosyntactic property morphosyntactic category or feature
Lehmann (1995a: 139)
subcategory (or value)
category
Stump (1998: 13)
feature
category
Angesichts der Tatsache, daß mir dies der international am weitesten verbreitete Usus zu sein scheint, werde ich im folgenden von 'Kategorien' sprechen, die jeweils in mehrere 'Werte' untergliedert sind. 9 Wortformen sind demnach jeweils für einzelne dieser Werte spezifiziert - insofern bei vielen Wortformen mehrere Kategorien involviert sind, gilt, daß bei solchen Formen jede der Kategorien jeweils einen bestimmten Wert annimmt. 10 - Jenseits aller Begrifflichkeiten ist jedoch vor allem entscheidend, daß die beiden Strukturierungsebenen klar geschieden werden." Im Hinblick auf die zweite notwendige Modifikation - eine Bestimmung grammatischer Kategorien ohne ausdrückliche Bezugnahme auf die Morphologie, um auch die Grammatik von Sprachen eher isolierenden Typs abdecken zu können - werde ich nun versuchen, einige allgemeine Eigenschaften grammatischer Kategorien aufzuzeigen. Hierbei kann wohl als allgemeinster gemeinsamer Nenner aller Grammatikauffassungen gelten, daß die Grammatik derjenige Teil des sprachlichen Systems ist, der sich mit den obligatorischen Strukturen und den damit transportierten Bedeutungen beschäftigt. 12 Dieser Gedanke findet sich in
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Thieroff (1992: 4, Anm. 3) merkt jedoch an, daß auch in der englischsprachigen Literatur diesbezüglich keine Einheitlichkeit herrscht; vgl. dort auch S. 3-6 eine Diskussion der terminologischen Möglichkeiten. Zum Begriff des 'Werts' im hier relevanten Sinne vgl. de Saussure (1916/1984: 155ff., insbesondere S. 161 f.). Carstairs-McCarthy (2000) faßt die zentralen Konzepte der Diskussion zu Kategorien und ihren Werten zusammen; dazu gehören z.B. die Frage nach dem möglicherweise binären Aufbau der Kategoriensysteme sowie der Gedanke der kategorialen 'Unterspezifikation' von Wortformen. Mel'cuk (1993: 261) zitiert in diesem Zusammenhang ein Diktum der mittelalterlichen Scholastik: „grammatica ars obligatoria", was er als „La grammaire est un art obligatoire" übersetzt. Da er leider keine Quellenangabe anführt, ist nicht genau zu überprüfen, ob der zitierte Satz überhaupt einschlägig ist, denn ohne speziellen Kontext würde man ihn wohl eher in einen ganz anderen Zusammenhang stellen: Mir scheint, hier wird entgegen der Annahme Mel'cuks von der Obligatorizität der sprachlichen Strukturen auf die Tatsache angespielt, daß es im mittelalterlichen Bildungskanon obligatorisch war, die Grammatik als Grundlagenwissenschaft während der Ausbildung im Trivium zu studieren.
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allen mir bekannten grammatischen Theorien; stellvertretend sei hier Serébrennikow (1975: 168) angeführt: Die Eigenschaft, daß eine grammatische Bedeutung ausgedrückt werden muß, ist wohl das universellste (vom Sprachtyp unabhängige) Kriterium für die Bestimmung dessen, was zur Grammatik im eigentlichen Sinne gehört. Auf dieser Eigenschaft beruht eigentlich die Zugehörigkeit der grammatischen Moneme [d.i. Morpheme, HS] zu einem begrenzten Inventar sowie der umfassende und regelmäßige Charakter der grammatischen „Regeln", auf Grund dessen sich die ganze Vielfalt der sprachlichen Äußerungen auf begrenzte Gesamtheiten von Systemen und Strukturen reduzieren läßt. Die Gesichtspunkte, die hier angesprochen werden, kreisen alle um den Begriff des grammatischen Paradigmas. Dieser kann folgendermaßen genauer gefaßt werden: Die das Paradigma konstituierenden Formen stehen in einem kommutativen Verhältnis zueinander, d.h. an einer Stelle einer Struktur kann immer nur entweder das eine oder das andere Zeichen stehen; beide gemeinsam sind ausgeschlossen. 1 3 Andererseits muß aber aufgrund des Kriteriums der Obligatorizität immer eines der Zeichen wirklich stehen - bei grammatischen Kategorien ist stets eine distinkte Entscheidung zwischen mindestens zwei Möglichkeiten notwendig. Beispielsweise veranlaßt dieses Kriterium Werner (1994: 15), bei den zahlreichen Kombinationen von Präposition und Artikel im Deutschen - wie z.B. am, zum, zur nicht von einer „Präpositionsflexion" zu sprechen [...]. Sowohl die Präp. wie der Art. können ja auch unabhängig voneinander auftreten: in Not; dem Rat folgen; in dem Haus, das neu hergerichtet wurde. Es gehört nicht zur obligatorischen Ausstattung einer Präp., den Art. bei sich zu haben (wie das finite Verbum ein Tempus haben muß); und der Artikel ist kein bloßes Affix an Präp. (wie die Tempus-Flexive beim Verbum). 14 Dies bedeutet allerdings nicht, daß in allen Fällen wirklich eine Entscheidung für oder gegen den einen oder anderen Wert einer Kategorie getroffen werden muß. Es ist stets mit Formenneutralisationen zu rechnen. So kommt es bei der Verschränkung mehrerer grammatischer Kategorien häufig vor, daß die Werte einer der beiden Kategorien neutralisiert werden, wenn die andere Kategorie einen markierten Wert annimmt. 15 Eines der bekanntesten Beispiele für solche Neutralisationen stellt die häufige Numerus-Genus-Verschränkung bei Nominalen dar. Gemäß der beiden Greenbergschen Universalien (A) und (B) sollten zumindest in manchen Sprachen Genus-Oppositionen des Singulars im Plural aufgehoben sein. 1 6
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Dieser Gedanke bildet auch den Kern der Kategorien-Auffassung beispielsweise bei Mel'éuk (1993: 268) und Leiss (1998: 155); s. auch Stump (1998: 13f.). Vgl. in dem Zusammenhang auch das „Vertauschbarkeitsexperiment" von Koschmieder [1957] 1965: 165). Für eine ausführliche Diskussion dieser Thematik vgl. Nübling (1992: 143-250). So schon die Beobachtung von Jakobson ([1940]1971: 222). Vgl. Aikhenvald/Dixon (1998) für eine Studie über verschiedene (Inter-)Dependenzen zwischen grammatischen Kategorien. - Über Markiertheit im hier relevanten Sinne vgl. z.B. die Darstellung in Croft (1990: 64-94). Diese vorsichtige Formulierung ist unter anderem dadurch bedingt, daß Plank/Schellinger (1997) Evidenzen aus einer breit gestreuten Fülle von Sprachen beigebracht haben, wonach die Verhältnisse bei genauerer Betrachtung oft umgekehrt sind, d.h. daß vielfach sogar eine gewisse Präferenz für nur-pluralische Genus-Distinktionen zu finden ist, beispielsweise bei Sprachen, die ein spezielles Genus besitzen, das bei genus-gemischten Gruppen Anwendung findet.
29 (A) A language never has more gender categories in non-singular numbers than in the singular. (Greenberg 1966b: 95; universal 37) ( B ) If there are gender distinctions in the plural of the pronoun, there are some gender distinctions in the singular also. (Greenberg 1966b: 96; universal 45)
Ein Blick z.B. auf die Personalpronomina der 3. Person des Deutschen (Abb. 5) und des Englischen (Abb. 6) bestätigt die Voraussage aus (A): 1 7 Abbildung 5: Genus und Numerus bei den deutschen Personalpronomina der 3. Person Deutsch
Singular
Maskulin
er
Feminin
sie
Neutrum
es
Plural sie
Abbildung 6: Genus und Numerus bei den englischen Personalpronomina der 3. Person Englisch
Singular
Maskulin
he
Feminin
she
Neutrum
it
Plural they
Die Neutralisation - und dementsprechend eine nicht durchgängig realisierte Distinktion spricht natürlich nicht gegen die Annahme einer Kategorie 'Genus' im Deutschen; sie besagt lediglich, daß die Kategorie nicht in allen denkbaren Fällen in relevanter Weise präsent ist. Ein Vergleich mit dem Französischen (vgl. Abb. 7) zeigt, daß dort die Domäne des pronominalen Genus größer ist, da die singularischen Genera genaue Entsprechungen im Plural aufweisen (vgl. Universalie (B)): Abbildung 7: Genus und Numerus bei den französischen Personalpronomina der 3. Person Französisch
Singular
Plural
Maskulin
il
ils
Feminin
elle
elles
In ähnlicher Weise operiert in Sprachen des afroasiatischen Sprachstamms das pronominale Genus nicht nur über Personalpronomina der 3. Person, sondern auch über solchen der 2. Person (oft ebenso im Plural); 18 vgl. - um nur ein beliebiges Beispiel herauszugreifen - die Pronomina des Nigerianischen Arabisch (Owens 1993: 83): 1 9 17
18
19
In den Kapiteln 5 und 6 werde ich genauer auf Neutralisierungen und Korrelationen zwischen den grammatischen Kategorien bei Personalpronomina (im Deutschen) eingehen. Vgl. dazu Sasse (1981: 138-144) und die Beiträge zu den einzelnen afroasiatischen Sprachfamilien in Heine/Schadeberg/Wolff (1981). Eine Maskulin-Feminin-Opposition bei Pronomina der 2. Person Singular operiert auch in diversen Papua-Sprachen (vgl. Wurm 1982: 37-39). Darüber hinaus existiert eine solche Opposition in
30 Abbildung 8: Person, Genus und Numerus bei den arabischen Personalpronomina Nigerianisches Arabisch
Singular
Plural
2. Person Maskulin
inta
íntu
2. Person Feminin
inti
íntan
3. Person Maskulin
hú
húmma
3. Person Feminin
hi
hínna
Anders ausgedrückt heißt das: Jede Kategorie hat eine für sie spezifische Domäne, über der sie operiert; die Einzelsprachen unterscheiden sich unter anderem darin, welche Domänen sie jeweils fur eine Kategorie aufweisen. 20 So sind die Kategorien 'Tempus' und 'Modus' (und 'Aspekt') typischerweise - wie auch im Deutschen - verbale Kategorien, d.h. Kategorien von (oft auch nach Person und Numerus) flektierten Verben. In vielen tschadischen Sprachen flektieren aber auch freie Personalpronomina nach derartigen Kategorien (vgl. Burquest 1986: 73-80, Mel'cuk 1994a: 21f.). 21 Angesichts der Vorstellung, daß Kategorien jeweils nur für bestimmte Domänen relevant sind, die darüber hinaus sprachspezifisch variieren können, ist es nicht notwendig, wie Wurzel (1977: 140f.) das Kriterium der Obligatorizität aufzugeben. Solange mindestens einmal im System eine Entscheidung zwischen zwei grammatischen Formen unvermeidlich, d.h. obligatorisch ist, ist dies als Hinweis auf eine - wenn auch in einem solchen Fall nur gering ausgeprägte - grammatische Kategorie zu werten. Die bisherige Argumentation basierte gewissermaßen auf strukturalistischen Grundannahmen. Demnach wäre es in jedem gegebenen Einzelfall möglich, klar zu erkennen, ob man von einer grammatischen Kategorie sprechen kann, und zwar indem man prüft, ob eine Entscheidung zwischen Formen irgendwo obligatorisch zu treffen ist, d.h. ob sie sich auch wirklich ausdrucksseitig manifestiert und die Formen deshalb in einem paradigmatischen Verhältnis zueinander stehen. Nun ist es allerdings so, daß im Zuge der in den 1980er Jahren in Schwung gekommenen Grammatikalisierungsforschung immer deutlicher geworden ist, daß wegen des dynamischen Charakters von Sprache oft keine eindeutigen Ja-NeinDifferenzierungen möglich sind. Zum einen ist in diesem Zusammenhang auf diachron bedingte Funktionsüberlappungen von unterschiedlichen Werten einer Kategorie hinzuweisen: In the independent development theory, grammaticization is always in progress and may occur despite existing elements in a language. [...] While a structuralist view of grammatical meaning leads
20
21
seltenen Fällen sogar in der 1. Person Singular, so z.B. bei manchen Sprechern des GolfArabischen (vgl. Holes 1990: 160; ein Beispiel aus einer Papua-Sprache bei Foley 1986: 80). Das Ost-Tocharische (d.i. Tocharisch A, Indogermanisch) besaß wohl - und ist damit einzigartig die Genus-Opposition ausschließlich in der 1. Person Singular (vgl. Sieg/Siegling/Schulze 1931: 162-164 und Krause/Thomas 1960: 162). Vgl. hierzu auch die Formulierung von Jacobsen (1980: 206), wonach eine Kategorie „more or less well installed in a given language" sei (Hervorhebung im Original, HS), dazu auch Hamp (1980: 228f.). Anderson (1985: 179) äußert sich hinsichtlich vergleichbarer Fälle von (vermeintlicher?) TempusFlexion bei Nomina - nämlich im Kwakiutl (Wakashan, British Columbia, Kanada) und im Marshallesischen (Austronesisch, Marshall Inseln) - jedoch skeptisch.
31 us to expect a one-to-one relation between grams [d.i. grammatical morphemes; HS] and grammatical notions, the facts of natural language are quite different: new grams seem to develop despite the existence of old grams in similar functions. [...] In these cases, no two grams are precisely synonymous in all uses, but they have enough overlapping functions to falsify the notion that grams only exist in languages in sets of contrasting oppositions. (Bybee 1986: 28; vgl. auch Bybee/Perkins/Pagliuca 1994: 148f.) Zum anderen suggeriert der klassische grammatische Paradigmenbegriff eine fest umrissene Gruppe von Entitäten, deren Mitglieder vollständig aufzählbar sind und sich in systematischer Weise zueinander verhalten. 22 Die Idee der Grammatikalisierung hebt aber nun genau darauf ab, daß linguistische Einheiten, die ursprünglich als Teile des Lexikons aufgefaßt werden müssen, in die Grammatik wandern können. Umgekehrt betrachtet heißt das, daß die Gruppe der grammatischen Elemente beständig neue Mitglieder aus der Gruppe der (freien) Lexeme rekrutiert. Der Gegensatz zwischen offenen und geschlossenen Morphemklassen (Lexikon vs. Grammatik) wird dadurch relativiert. 23 - Eine solche Relativierung gilt aber nicht nur aus diachroner Perspektive (diachrone Zuwanderung aus der Klasse der lexikalischen Zeichen in die der grammatischen), sondern auch aus synchroner: Anstatt eines strikten Dualismus Lexikon-Grammatik ist vielmehr mit einer Skala zu rechnen, bei der die genannten Bereiche lediglich als Extrempunkte aufgefaßt werden können, zwischen denen mehrere Zwischenstufen denkbar sind. Ein konkretes Zeichen ist demnach stets als mehr oder weniger grammatisch, als mehr oder weniger stark grammatikalisiert, zu beschreiben. 24 Zeichen können sich also gewissermaßen im Graubereich zwischen Lexikon und Grammatik befinden. 25 Ein wesentlicher Gesichtspunkt bei der Bestimmung des Grammatikalisierungsgrades eines Zeichens ist die Menge der Elemente, mit denen es in einem Kommutationsverhältnis steht. A m grammatischen Pol der Skala gilt hinsichtlich der beteiligten Oppositionen:
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25
Zu diesem Vollständigkeitskriterium vgl. z.B. Rhodes (1987: 224) und Gvozdanovic (1991: 133). Darüber hinaus schließt z.B. die Beobachtung, daß andererseits in nicht wenigen Sprachen auch Adjektive eine geschlossene Klasse bilden - so sie überhaupt als eigene Wortart isolierbar sind (vgl. die Beispiele in Dixon [1977]1982: 3-7) - , eine strenge Korrelation zwischen Abgeschlossenheit der involvierten Gruppe von Elementen und Grammatik-Definition aus. Für eine kompakte Darstellung der verschiedenen bei der Skalierung involvierten Parameter vgl. Lehmann (1985; mit generellerer Perspektive: 1995b). Hopper/Traugott (1993) diskutieren an mehreren Stellen das Konzept und die theoretischen Implikationen der Gradualität und der nondiscreteness sprachlicher Strukturen unter dem Begriff der „clines", entlang derer die diachronen Grammatikalisierungsprozesse ablaufen. - In eine ähnliche Richtung gehen die Überlegungen von Werner (1994); er behandelt die „Entwicklung und Skalierung von freien zu obligatorischen Syntagmen, zu Enklisen und zu grammatischen Kategorien, die zunehmend fusionierter und irregulärer ausgedrückt werden; von der Aufspaltung in Flexionsklassen geht es weiter bis hin zum Suppletionsprinzip bei Einzelwörtern" (S. 7). So auch die Auffassung von Mel'òuk (1993: 271): „Le caractère gradué de la régularité grammaticale rend gradué le concept même de catégorie flexionelle [...]. Il n'y a pas de ligne de démarcation absolue et infranchissable entre, d'une part, les grammèmes et, d'autre part, les autres significations grammaticales (= quasi-grammèmes et dérivatèmes) et lexicales." - Das prekäre Verhältnis von Flexion und Derivation und die letztlich noch nicht befriedigend gelöste grammatiktheoretische Einordnung der letzteren verkomplizieren die Sachlage zusätzlich.
32 The most grammaticalized categories of a language system usually consist of a two-member paradigm, i.e. a binary opposition. (Lehmann 1995a: 136) 2 6
Im Extremfall kann dies sogar bedeuten, daß eine binäre Opposition besteht zwischen zwei Zeichen, von denen eines gar keine spezifische Markierung der entscheidenden Kategorie trägt; das heißt mit anderen Worten, daß eine Opposition zwischen einem overten Zeichen und einem sogenannten 'Nullzeichen' vorliegt. 27 Als zentrale Charakteristika grammatischer Kategorien im hier relevanten Sinne können also gelten: ihr obligatorisches Vorhandensein in denjenigen Strukturen, die als sprachspezifisch festgelegte Domäne der jeweiligen Kategorie gelten können, bei gleichzeitiger gegenseitiger Exklusion der einzelnen Werte, sowie ihre Eingebundenheit in ein (mehr oder weniger geschlossenes) Paradigma. Mit dem Wissen um die charakteristischen Eigenschaften grammatischer Kategorien ist es nun möglich, sich vom engen flexionsgebundenen Kategorien-Begriff zu lösen und eine Bestimmung ohne expliziten Rückgriff auf die Morphologie zu leisten. Denn die genannten Bedingungen gelten auch für freiere grammatische Marker: und zwar sowohl für die bereits erwähnten periphrastischen Fügungen, bei denen die Markierung der Kategorie durch die Kombination mehrerer freier Wortformen erreicht wird, als auch fur freie grammatische Partikeln, wie sie in Sprachen mit wenig oder ohne Morphologie vorkommen. 28 - Mit einer solchen Auffassung lassen sich im übrigen auch die verschiedentlich Schwierigkeiten bereitenden Suppletivformen zwanglos ins System integrieren. Denn es ist grundsätzlich irrelevant, ob die verschiedenen Formen, die die einzelnen Werte einer grammatischen Kategorie konstituieren, jeweils mittels morphologischer Regeln auseinander ableitbar sind oder nicht: Die entscheidenden Kriterien der Obligatorizität und der Kommutation bleiben unangetastet - sie sind unabhängig vom Typ der Markierung. 29 Die grammatischen Kategorien stellen also Gruppen von Zeichen dar, die in bestimmter Weise aufeinander bezogen sind und somit in einer besonders engen Relation zueinander stehen. Ansonsten gilt für die einzelnen grammatischen Zeichen, was für alle sprachlichen Zeichen gilt: Sie haben eine Inhalts- und eine Ausdrucksseite, oder anders ausgedrückt: Sie haben eine bestimmte Funktion (eine meist abstrakte 'Bedeutung'), der bestimmte formale Eigenschaften zugeordnet sind. Bei der Analyse der grammatischen Kategorien sind diese beiden Ebenen, die inhaltsseitige und die ausdrucksseitige, streng auseinanderzuhalten. 30 26
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29 30
Über auf der anderen Seite empirisch feststellbare Obergrenzen für die Größe von morphologischen Paradigmen in Sprachen verschiedenen Typs vgl. Plank (1986). Vgl. dazu insbesondere die klassisch-strukturalistische Position von Jakobson ([1939] 1971) Meier (1961) bietet einen im großen und ganzen jedoch ablehnenden Überblick über die unterschiedlichen Ansätze zur Problematik. Vgl. z.B. Bakker/Post/van der Voort (1995) für eine kurze Beschreibung entsprechender Daten aus verschiedenen Kreolsprachen und Mosel/Hovdhaugen (1992: 140-142 u. 337-374) für eine in dieser Hinsicht sehr klare austronesische Sprache. Näheres zur Suppletion bei Personalpronomina s. Abschnitt 2.3. Um Mißverständnisse zu vermeiden, plädiert Koschmieder ([1945] 1965: 24) dafür, die erstere mit deutschen, die zweite mit lateinischen Bezeichnungen zu belegen. - In dem Zusammenhang ist auch Jespersens (1924: 55-57) Unterscheidung in 'syntactic categories' und 'notional categories' zu sehen. - Verwirrendenveise nennt im übrigen Kaden (1996: 109) die inhaltsseitigen Kategorien 'synthetische' und die ausdrucksseitigen 'analytische'; er meint mit diesen Termini also offenkundig nicht die oben erwähnten Arten der Markierung von Kategorien (Einwort- vs. Mehrwortmarkierung).
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Die Beziehung zwischen ihnen ist alles andere als eineindeutig, es existieren vielerlei Funktionsüberschneidungen und sekundäre Verwendungsweisen. Inhalts- und Ausdrucksseite sind also nicht direkt aufeinander bezogen. 31 Wichtig ist es, sich bewußt zu machen, worin der grundlegende Unterschied dieser beiden Strukturierungsebenen liegt: Während die Inhaltsseite Bezug nimmt auf „bestimmte perzeptive 'Grundordnungskategorien'" (Wurzel 1977: 132), die von allgemein-menschlichen kognitiven Eigenschaften bestimmt zu sein scheinen, ist deren Gliederung durch die Grammatik (welche sich wiederum ausdrucksseitig manifestiert) sprachspezifisch festgelegt. - Der springende Punkt ist nun folgender: Gemäß Searles „principle of expressibility" sollte es grundsätzlich in allen Sprachen möglich sein, alles auszudrücken. 32 Die eigentlich interessante Frage ist deshalb eher: Welche Information muß in einer Sprache aufgrund ihrer spezifischen grammatischen Eigenschaften ausgedrückt werden? Unter sprachvergleichender Perspektive ist also folgende Feststellung entscheidend: Languages differ in what they must convey and not in what they can convey. (Jakobson [1959a] 1971: 264; Hervorhebungen im Original, HS) 33 Der Unterschied zwischen den Einzelsprachen ist im wesentlichen bedingt durch die jeweilige Menge an grammatischen Kategorien, deren jeweiliger Domäne sowie deren jeweiliger Untergliederung in Einzelwerte. 3 4 Beispielsweise sind Sprecher des Indonesischen, das weder eine Kategorie 'Tempus' noch eine Kategorie 'Aspekt' besitzt, nicht bei jedem Satz gezwungen, eine zeitliche Einordnung des Geschehens mittels einer Tempus/AspektSpezifikation des Verbs vorzunehmen. So kann sich ein Satz wie (1) sowohl auf ein vergangenes oder ein gerade stattfindendes Ereignis oder auch auf immer wiederkehrende Ereignisse beziehen: 35 31
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Ein mögliches Modell, wie dieses Verhältnis in einem allgemeinen Sinne verstanden werden kann, wird bei Weigand (1978) vorgestellt (vgl. z.B. ihr Schema S. 25). - Die Abstraktheit der 'Bedeutungen' betont auch beispielsweise Mel'òuk (1993: 272f.). „[WJhatever can be meant can be said" (Searle 1969: 19). - Es ist nicht ganz deutlich, welchen Status diese Aussage haben soll, denn einerseits wird gern auf sie verwiesen, um gewissermaßen ein universell-pragmatisches „anything goes" zu behaupten (vgl. z.B. Dressler/Merlini Barbaresi 1994: 65) und dadurch auch die absolute gegenseitige Ineinander-Übersetzbarkeit von Sprachen zu unterstreichen (vgl. dazu aus übersetzungswissenschaftlicher Perspektive Koller 1992: 159-188). Andererseits äußert sich aber beispielsweise Levinson (1983: 241f.) skeptisch bezüglich der Allgemeingültigkeit dieses Prinzips, ohne allerdings darauf hinzuweisen, daß bereits Searle selbst einschränkend bemerkte: „Any language provides us with a finite set of words and syntactical forms for saying what we mean, but where there is in a given language or in any language an upper bound on the expressible, where there are thoughts that cannot be expressed in a given language or in any language, it is a contingent fact and not a necessary truth" (S. 20). - Trotz der sprachphilosophischen Problematik der (vermeintlich?) universellen Ausdrückbarkeit, die sich in den hier angesprochenen unterschiedlichen Sichtweisen widerspiegelt, scheint klar zu sein, daß unabhängig von der grammatischen Struktur der jeweiligen Einzelsprache ein breites Spektrum an Bedeutungen kommuniziert werden kann - gegebenenfalls mittels komplizierter erklärender Umschreibungen. Ähnlich auch in Jakobson [1959b] 1971, wo diese Idee auf Franz Boas zurückgeführt wird. Der Zwang, den die grammatische Struktur einer Sprache ihren Sprechern auferlegt, kann im übrigen bei Übersetzungen dazu führen, daß der zielsprachliche Text expliziter sein muß als der Ausgangstext, d.h daß zusätzliche interpretatorische Festlegungen erforderlich sein können. Für instruktive Beispiele aus Bibelübersetzungen vgl. Mel'cuk (1993: 274f.). Die Daten stammen im wesentlichen aus Sneddon (1996: 197).
34 (1)
Dia pergi ke kantor. er/sie/es geh Richtung Büro 'Er/sie/es geht/ging ins Büro.'
Wer mag, kann durch zusätzliche temporale oder aspektuelle Angaben wie setiap hari 'jeden Tag' oder tadi pagi 'vergangenen Morgen' die Aussage präzisieren; man muß dies aber nicht tun, in den meisten Fällen genügt für den Hörer das Kontextwissen allein, um die relevante Interpretation zu erlangen. Die fakultativen Mittel zur zeitlichen Einordnung gehören einer offenen Klasse von Ausdrücken an, sie sind also nicht Teil der Grammatik im engeren Sinne. 36 Ein Sprecher des Deutschen muß sich dagegen in jedem Einzelsatz entscheiden, ob er das finite Verb ins Präsens oder ins Präteritum (oder eine andere Tempus/Aspekt-Form) setzen will; jede dieser Entscheidungen legt ihn auf eine bestimmte zeitliche Interpretation des Satzes fest. Das bedeutet, daß die Sprachen ihren Sprechern in unterschiedlicher Weise Entscheidungen aufzwingen. 37 Die Grundidee zum Verständnis des Wesens der grammatischen Kategorien lautet folglich: „Alles kann, manches muß." Die grammatischen Kategorien werden so zu einem zentralen Parameter der Sprachtypologie. Im folgenden werde ich nun diejenigen grammatischen Kategorien genauer betrachten, deren Verständnis die Grundlage für die Erklärung von 'Respekt' im Deutschen liefern soll. Wie noch zu zeigen sein wird (Kapitel 4 und 5), ist dabei in erster Linie der pronominale Bereich angesprochen, denn 'Respekt' entsteht - im Deutschen! - durch die Interaktion verschiedener (anderer) pronominaler Kategorien, und zwar primär von Person und Numerus.
2.2. Das kategoriale Umfeld von 'Respekt' im Deutschen
Es kann nicht die Funktion der Ausführungen in diesem Abschnitt sein, einen umfassenden typologischen Überblick über die behandelten Kategorien zu geben; vielmehr sollen die in Abschnitt 2.1 erläuterten Konzepte beispielhaft angewendet werden. Dennoch soll es die etwas über das übliche Blickfeld der Germanistik hinausgehende Diskussion ermöglichen, wesentliche Eigenschaften der pronominalen Grammatik des Deutschen vor einem allgemeineren Hintergrund zu verstehen und die deutschen Phänomene entsprechend einzuordnen. - Insofern die Kategorie Person nur begriffen werden kann, wenn man die Referenz auf Gruppen (also eine spezielle Numerus-Spezifikation) betrachtet, werde ich mit der so gesehen weniger komplexen Kategorie Numerus beginnen; hierbei wiederum konzentriere ich mich zunächst auf Numerus bei Nomina; die Behandlung des Spezialfalls 'pronominaler Numerus' verschiebe ich weitgehend auf Abschnitt 2.2.2.
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Vgl. Sneddon (1996: 197ff.) für eine Zusammenstellung der wichtigsten Formen. In der Grammatik von Kähler (1965) findet sich keine klare Aussage zu diesem Problemkomplex, die Frage der 'fehlenden' Tempus-Markierung spielt für ihn keine große Rolle; er führt auf S. 15Iff. lediglich Verwendungsweisen von „Zeitangaben" vor. Jedoch warnt Wierzbicka (1980: 60-66) davor, diesen Gedanken überzubewerten, denn ihrer Meinung nach gibt es stets Möglichkeiten, sich mit Hilfe einer anderen Struktur auszudrücken und so den 'Zwang' zu umgehen.
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2.2.1. Numeras 'Numeras' ist die grammatische Kategorie, die in Verbindung steht mit der Menge der Entitäten, auf die referiert wird. Die Werte der Kategorie umfassen in allen Sprachen mindestens einen 'Singular' und einen 'Plural', wobei der Plural für 'mehr als Singular' steht. 38 Im Deutschen hat die Kategorie Numerus über die Wortarten hinweg ein breites Wirkfeld: Nicht nur Nomina und Pronomina, sondern auch Artikel, Adjektive und Verben unterliegen numerusbezogener Veränderung. Jedoch hat die Kategorie nicht in allen Systembereichen den gleichen Stellenwert (vgl. dazu auch die Diskussion in Abschnitt 2.3): Bei deutschen Verben fungiert Numerus lediglich als 'deplazierte' Kongruenzkategorie; 39 aus diesem Grunde konzentriere ich mich im folgenden auf nominalen Numerus (von dem der pronominale abgeleitet werden kann). Nominaler Numerus bezieht sich also, wie bereits erwähnt, auf die Anzahl der Entitäten, auf die die Nominalphrase referiert. Sein inhaltsseitiges Korrelat soll deshalb 'Zahligkeit' genannt werden. Seine Funktionsweise ist am leichtesten bei sogenannten Zählnomina 40 zu erläutern, für die charakteristisch ist, daß sie für mehrere Numeruswerte spezifiziert vorkommen können. Der einfachste Fall besteht bei einer Opposition zwischen Singular und Plural: Numerale Nomen sind (per definitionem) genau dann pluralmarkiert, wenn sie auf mehrere Realisierungen des betreffenden Begriffs referieren. N„ besitzen daher stets Pluralformen, und diese werden genau dann verwendet, wenn das Denotat der NP als „many" charakterisiert ist. Gleiches gilt mutatis mutandis für Singularformen (Nn mit Singularmarker oder Indefinitartikel). Diese treten offensichtlich genau dann auf, wenn der Referent als „one" charakterisiert ist, d.h. eine Realisierung des betreffenden Begriffs denotiert werden soll; Sprachen mit numeralen Nomen besitzen
38
39
40
Für eine ebenso weitgespannte wie detailgenaue Darstellung der grammatischen Eigenschaften von Numerus und dessen Funktionen vgl. Corbett (2000). Daneben existiert in einer Reihe von Sprachen ein anderer, für das Deutsche irrelevanter Typ von verbalem Numerus, der mit Eigenschaften der dargestellten Verbalhandlung(en) an sich korreliert. Hierdurch wird kodiert, ob eine Handlung öfter stattfindet, mehrere Teilhandlungen umfaßt oder ähnliches So decken beispielsweise im Southern Paiute (Uto-Aztecan, westliche USA) Verben mit Pluralmarkierung folgende Funktionsbereiche ab: „They characterize events, not things. They distribute actions over time, indicating iterative or continuous action, or over space, indicating multiple locations or participants" (Mithun 1988: 221). Diese Erscheinung ist nicht nur typisch für sehr viele der nordamerikanischen Indianersprachen (vgl. Mithun 1999: 83-87), sondern auch z.B. für viele Tschad-Sprachen (hier auch mit einer vergleichbaren Funktionsspannbreite; vgl. Frajzyngier 1997: 195-198 und die dort angeführte ältere Literatur zu verbalem Numerus allgemein); Daten aus der Indogermania bespricht Dressler (1968). Einen Überblick über verschiedene Eigenschaften von verbalem Numerus liefert Corbett (2000: 243-264). - Funktionsähnlichkeiten des verbalen Numerus mit der 'Aspekt'-Kategorie scheinen mir unverkennbar; eine Charakterisierung als 'Numerus' ist aber wohl dennoch sinnvoll, denn erstens ist das angegebene Funktionsspektrum so breit, daß häufig auch nominale Zahligkeit eingeschlossen sein kann, und zweitens sind die formalen Markierungsmittel für Numerus an Nomina und Verben vielfach identisch. - Da verbaler Numerus für die Interpretation der 'Respekt'-Kategorie im Deutschen keine Rolle spielt, werde ich ihn im folgenden vernachlässigen und statt dessen unter 'Numerus' immer nur die nominale, d.h. auf Nominalgruppen bezogene Variante betrachten. Diese werden im folgenden auch als numerale Nomina bezeichnet. Zur Terminologie vgl. Wiese (1997a: 149f.); dort auch - unter einer anderen Perspektivierung - ausfuhrliche Darlegungen zu Syntax und Semantik von „Nomen und Numerus" (S. 149-214).
36 daher generell einen Indefinitartikel oder nominale Singularaffixe. (Wiese 1997a: 163f.; Hervorhebungen im Original, HS)
Daneben kommt es vor, daß eine Sprache das 'Pluralfeld' weiter unterteilt, so daß (maximal) eine Sequenz von Dual, Trial, Quadral/Paukal und Plural entstehen kann. 41 Die Referenzmengen, die den einzelnen Numeruswerten zugeordnet sind, lassen sich dabei folgendermaßen schematisieren: Abbildung 9: Numerus und Zahligkeit 42 Ausdrucksseite: Numerus
Funktion: Zahligkeit (Anzahl der Referenten)
Plural
mehrere
(((Quadrai bzw. Paukal)))
vier bzw. wenige
((Trial))
drei
(Dual)
zwei
Singular
eins
Nach klassisch-strukturalistischer Auffassung ändert sich die 'Bedeutung' der Pluralkennzeichnung j e nachdem, welche anderen Werte ihr im System gegenüberstehen: In Sprachen mit einer reinen Singular-Plural-Dichotomie umfaßt sie alle Vorkommen von 'mehr als eine Entität', wohingegen in Sprachen, die darüber hinaus auch den Dual kennen, die B e deutung des Plurals eingeschränkt ist auf 'mehr als zwei Entitäten' usw.; Duale, Tríale etc. okkupieren in semantischer Hinsicht also gewissermaßen Teile des Pluralfeldes. Jedoch ist im Auge zu behalten, daß die Gegenüberstellung von Numeruswerten und Zahligkeit nur für Standardfalle Gültigkeit besitzt. Neben diesen Default-Zuordnungen sind aufgrund des nur indirekten Zusammenhangs der beiden Ebenen mancherlei Komplikationen zu beobachten - eine Tatsache, die nach Weigand (1978: 57) als generelles Merkmal grammatischer Kategorien zu gelten hat. 43 Zum einen ist die Funktionsbreite pluralisch markierter Nominalphrasen nicht nur auf „mehrere Realisierungen des betreffenden Begriffs" (Wiese) beschränkt, sondern umfaßt im Deutschen auch sogenannte Sortenplurale bei transnumeralen Nomina (s.u.) wie in (2): 4 4 (2)
die besten Weine Frankreichs
In anderen Sprachen lassen sich darüber hinaus noch weitere Funktionen des nominalen Plurals nachweisen. 4 5 Eine sehr wichtige, weil auch bei deutschen Pronomina relevante 41
42
43
44 45
Zu den relativ seltenen und augenscheinlich nur bei Pronomina erscheinenden Werten 'Trial' usw. vgl. Corbett ( 2 0 0 0 : 2Iff.). Die Klammerung soll symbolisieren, daß nach Greenberg (1966b: 94, universal 3 4 ) ein implikatives Verhältnis zwischen den Vorkommensmöglichkeiten der Numeruswerte besteht: Nur Sprachen mit Plural können auch einen Dual haben und nur die, die einen Dual haben, können auch einen Trial haben. Vgl. hierzu auch die Diskussion von Corbett (2000: 38ff.). Im folgenden betrachte ich nur noch die für das Gegenwartsdeutsche relevante Singular-PluralDifferenzierung. Vgl. hierzu Wiese (1997a: 158). So führt Mel'éuk ( 1 9 9 4 a : 4 - 6 ) unter anderem folgende Möglichkeiten an: Betonung einer großen Menge bei Nicht-Zählnomina im Französischen (i) oder Expressivität im Spanischen (ii):
37 Funktion (vgl. Abschnitt 2.2.2) stellt Assoziativität dar. Mit einem Zugehörigkeitsplural wird in Sprachen wie z.B. dem Spanischen (3a) oder dem Türkischen (3b) signalisiert, daß auf eine Gruppe von Individuen referiert wird, die mit dem verwendeten Nomen in assoziativer Verbindung steht: 46 (3a)
(3b)
los
padre-s
DET.PL
Vater-PL
'Vater und Mutter', 'die Eltern' Mehmet-ler [Name]-PL 'Mehmet und die Seinen' (d.i. j e nach Kontext: Familie, Freunde)
Zum anderen gibt es Lexeme, denen eine ganz bestimmte Numerus-Spezifikation eigen ist, d.h. sie sind inhärent spezifiziert fur einen bestimmten Wert; sie werden mithin nicht nach Numerus flektiert. Erstens zählen dazu die sogenannten Pluralia tantum, die sich trotz ihrer Pluralität (synchron) auf eine als Einheit konzeptualisierte Entität beziehen: (4a) (4b)
die Tropen, Ferien trousers, scissors
Zweitens sind hier umgekehrt die Singuralia tantum zu nennen: (5a) (5b)
Obst, Vieh furniture, information
Diese zweite Gruppe entspricht den von Wiese (1997a: 150) in Anschluß an Greenberg so genannten 'transnumeralen Nomina'. Für diese Wörter ist generell kennzeichnend, daß „der Unterschied 'Einheit vs. Vielheit' nicht obligatorisch markiert ist" (Wiese 1997a: 150). In semantischer Hinsicht sind sie oft als Massennomina charakterisiert worden, was jedoch nach Wiese nicht gerechtfertigt ist, denn der Sprachvergleich zeigt, daß ein und dasselbe Konzept in unterschiedlichen Sprachen einmal als numerales (6a, Deutsch) und einmal als transnumerales (6b, Persisch) Nomen kodiert werden kann: 47 (6a) (6b)
Haus - Häuser xäne ('Haus/Häuser')
Was die Verteilung der beiden Typen von Nomina auf die Lexeme einer konkreten Einzelsprache betrifft, so lassen sich typische Grundmuster feststellen, die im Extremfall einem (i)
les neiges de la montagne DET.PL Schnee.PL REL DET Gebirge 'der viele Schnee im Gebirge' (ii) Qué grande estás! Y con barbas! Wie groß du.bist und mit Bart.PL 'Wie groß du bist! Und mit was für einem Bart! ' 46 Daten nach Mel'éuk (1994a: 6) bzw. Lewis (1967: 26, 40, 65). - Über die Interaktion von Assoziativität w i e in (3) und nominalem Numerus vgl. Corbett/Mithun ( 1 9 9 6 ) s o w i e Corbett (2000: 101111). 47 Demgegenüber versucht Wierzbicka ( 1 9 8 5 ) nachzuweisen, daß die Zuordnung von Konzepten zu Typen von Nomina nicht-arbiträr erfolgt, daß im Gegenteil die kognitive Salienz der einzelnen Bestandteile der 'Masse', d.h. der Grad ihrer „uncountability" (S. 335), eine entscheidende Rolle spielt.
38
Fehlen der grammatischen Kategorie 'Numerus' bei Nomina gleichkommen können. Konkret bedeutet das, daß nur jeweils eine Untergruppe der Nomina (die numeralen Nomina eben) obligatorisch für den Wert 'Plural' spezifiziert ist, wenn auf mehrere Instanzen referiert wird. Crosslinguistisch gesehen ergibt sich dabei ein relativ konsistenter „plurality split", den ursprünglich Smith-Stark (1974) herausgearbeitet hat. Demnach lassen sich mögliche Nominalphrasen anhand einer Animiertheitshierarchie folgendermaßen reihen: Animacy. first, second-person pronouns < third-person pronoun < proper names < human common noun < nonhuman animate common noun < inanimate common noun (Croft 1990: 112) 48 Die Hierarchie besagt nun, daß die links von einer bestimmten Grenze stehenden Typen von Nominalphrasen Numerus obligatorisch kennzeichnen (also numerale Nomina sind), während eine Kennzeichnung bei den rechts dieser Grenze liegenden Typen bestenfalls fakultativ ist. Die Grenze selbst ist wiederum einzelsprachlich parametrisiert. 49 Beispielsweise gilt für das Mandarin Chinesische (Beijing): The suffix -men [...] is restricted to human nouns and pronouns only. When a human noun takes on this suffix, it becomes a plural noun. It is entirely optional and would generally be used only when there is some reason to emphasize the plurality of the noun. (Li/Thompson 1981: 40; Hervorhebungen von mir, HS) Deshalb ergibt sich ein Kontrast zwischen einem N o m e n mit dem Merkmal [+human] wie in (7a/b), bei dem eine Pluralmarkierung zu Betonungszwecken grundsätzlich möglich (wenn auch nicht notwendig) ist und einem [-human]-Nomen w i e in (7c), w o eine Pluralisierung keinesfalls erscheinen kann: 50 (7a)
(7b)
háizi Kind 'ein Kind / Kinder' háizi-men Kind-PL
(7c)
48
49
50
'mehrere Kinder, nicht nur eins' wömen yü shü wir haben Buch 'Wir haben {einBuch/Bücher}.'
Bei Croft (1990: 111-117) findet sich auch eine Diskussion dieser Hierarchie, bei der mehrere Teilhierarchien ineinanderfließen. Smith-Stark (1974: 664) meint im übrigen, das gliedernde Prinzip der Hierarchie sei wohl in der „likelihood of participation in the speech event" zu suchen. Für Überlegungen zu den diese Hierarchie steuernden Prinzipien vgl. auch Comrie (1989: 185-200, insbesondere S. 197ff.) und ausführlich Corbett (2000: 89-132). Für diesbezügliche Übersichten s. Smith-Stark (1974: 663f.). Wiese (1997a: 157-163) stellt am Beispiel des Deutschen und des Persischen graduelle diachrone Grenzverschiebungen entlang dieser Hierachie dar. - Die Animiertheitshierarchie spielt im übrigen eine prominente Rolle bei der Kontroverse um den Versuch, einen eher isolierenden Sprachtyp für das Ürindogermanische zu rekonstruieren (vgl. dazu beispielsweise Shields 1982: 63ff., 1991/92, 1997, und Adrados 1985: 31 f.; Adrados 1992: 1-4 diskutiert mögliche Konsequenzen dieser Position für die Binnengliederung der indogermanischen Sprachfamilie). Daten zitiert nach Wiese (1997a: 153-155).
39 Noch restringierter ist die Pluralmarkierung im Kantonesischen Chinesisch (Hongkong): -deih is the plural suffix forming pronouns, but is not used with nouns, with the exception o f yàhn ['(other) people']. (Matthews/Yip 1994: 34; Hervorhebung im Original, H S )
Die semantische Wirkung des Plurals bei an sich transnumeralen Nomina kann auch anhand der Beispiele (8a) und (8b) aus dem Persischen demonstriert werden, wo die Pluralmarkierung ebenfalls „eine eher emphatische Funktion" aufweist (nach Wiese 1997a: 155): (8a)
(8b)
mehmän dästim Gast haben.l.PL.PRÄT 'Wir hatten {Gäste / einen Gast} / Wir hatten Besuch.' mehmän-hä däStIm Gast-PL haben.l.PL.PRÄT 'Wir hatten {viele / „alle möglichen"} Gäste.'
Doch nicht allein die Animiertheitshierarchie beeinflußt die Numerusdifferenzierung bei Nominalen, denn darüber hinaus scheinen teilweise auch andere Faktoren eine Rolle zu spielen bei der Entscheidung, ob Numerus obligatorisch kodiert werden muß oder nicht: Entgegen Teilen der älteren Literatur zeigt z.B. Unterbeck (1996: 146-148), daß „Definitheit ein steuerndes Kriterium für die Verwendung des Pluralmarkers im Koreanischen" ist (S. 148). 51 Für die Kategoriendiskussion ist folgender Gedanke entscheidend: Unabhängig davon, wie eine Sprache ihr Lexeminventar konkret gliedert und dementsprechend in numerale und transnumerale Nomina einteilt, kann man, sobald bei Referenz auf eine Vielheit wenigstens in einer Teilmenge der Lexeme Pluralmarkierung obligatorisch ist, davon sprechen, daß die betreffende Sprache die Kategorie 'Numerus' grammatikalisiert hat. Die Domäne des Numerus ist aber auf genau diese Gruppe von Lexemen beschränkt, d.h. sie ist über die Sprachen hinweg großer Variation unterworfen: Während im Deutschen und Englischen sehr viele Nomina unter die Domäne des Numerus fallen (die wesentliche Ausnahme bildet die semantische Klasse der Massennomina), gilt das für Sprachen wie das Persische oder Chinesische nicht. Bei letzterer Sprache ist es sogar bei der überwiegenden Mehrzahl der Lexeme überhaupt nicht möglich, einen Plural zu bilden; und bei den wenigen Nomina, wo die Möglichkeit zumindest grundsätzlich besteht, ist die Pluralmarkierung lediglich optional, d.h. sie kann zu Betonungszwecken gebildet werden, niemals muß sie gebildet werden. So gesehen ist Numerus bei chinesischen Nomina keine grammatische Kategorie; es besteht lediglich die pragmatische Möglichkeit, (in beschränktem Umfang) Mehrzahligkeit hervorzuheben, wenn der Sprecher dies wünscht. 52 Dennoch muß man auch für das Chinesische eine grammatische Kategorie ' N u m e r u s ' annehmen, denn die Personalpronomina kodieren obligatorisch eine Singular-PluralUnterscheidung (Daten aus dem Mandarin Chinesischen, Li/Thompson 1981: 134): 53
51 52
53
Ähnlich bereits Biermann (1982: 232). Vgl. auch die Hervorhebungen im oben angeführten Zitat aus Li/Thompson (1981). - Zur Abgrenzung von Grammatik und Pragmatik warnt Matthews (1993: 115) jedoch prinzipiell: „...in marginal cases it can be very hard to say when a difference is merely pragmatic and when it should be brought under a syntactic rule." Vgl. hierzu auch Kaden (1964; insbesondere S. 124ff.). - Kantonesisches Chinesisch geht hier strukturell vollkommen parallel, vgl. Matthews/Yin (1994: 79).
40 Abbildung 10: Personalpronomina im Mandarin Chinesischen Mandarin Chinesisch
Singular
Plural
1. Person
wo
women
2. Person
ni
nlmen
3.Person
tä
tämen
Gemäß Greenbergs Universalie 42 sollte diese verbindliche Differenzierung für alle Sprachen gelten, so daß jede Sprache die Kategorie Numerus besitzt - wenn auch gegebenenfalls mit einer nur sehr engen Domäne: 54 All languages have pronominal categories involving at least three persons and two numbers. (Greenberg 1966b: 96)
Als Ergebnis der typologischen Umschau zu Numerus in diesem Abschnitt bleibt folgendes festzuhalten: Fast alle bekannten Sprachen besitzen eine grammatische Kategorie Numerus im Bereich der Nominale, wenn auch mit unterschiedlichen Domänen (die entlang einer allgemeinen Animiertheitshierarchie angeordnet sind). Die kategoriestrukturierenden Werte sind vielfach auf das Singular-Plural-Paar beschränkt; weitergehende Differenzierungen sind zwar nicht selten, sie gehen jedoch nie über vier - oder extrem selten fünf - Werte hinaus. Neben dem einfachen Zusammenhang von Numerus und Zahligkeit kann bei manchen Nomina einer Sprache (Pluralia tantum etc.) eine inhärente Spezifikation für einen bestimmten Numeruswert konstatiert werden; darüber hinaus fungiert nichtsingularischer Numerus in einigen Sprachen zur Bezeichnung assoziativ korrelierter Gruppen. Bei Personalpronomina ist die Kategorie 'Numerus' in ganz grundsätzlicher Weise komplexer strukturiert als bei Nomina; sie hängt hier eng mit der Kategorie 'Person' zusammen. Ich werde im folgenden zunächst die Idee der Rollendeixis und ihr Verhältnis zu den 'grammatischen Personen' (d.h. zur internen Gliederung in die einzelnen Werte von 'Person') herausarbeiten, um auf diese Weise das Konzept 'Person' möglichst allgemein herzuleiten; dadurch werde ich gleichzeitig die Verflechtung der beiden Kategorien 'Numerus' und 'Person' verdeutlichen. Sodann werde ich charakteristische Eigenschaften der einzelnen Person-Werte, insbesondere der '3. Person', herausarbeiten und deren traditionelles Formeninventar problematisieren.
54
Somit wäre Numerus ein Kandidat, um die Vorhersage von Koschmieder ([1945J1965: 13) zu entkräften, „daß es kaum eine gr. Kat. gibt, die nicht in irgendeiner Sprache fehlt." - Jedoch sind entgegen Greenbergs Vorhersage - mehrere Sprachen dokumentiert, die selbst bei Pronomina keine obligatorische Numerusspezifizierung verlangen und somit als mögliche Ausnahmen gelten können. Eine davon ist Pirahä (Mura, Brasilien): In dieser Sprache existieren eigenständige Pronomina nur für jeweils einen Sprecher, Adressaten und Unbeteiligten. Im Falle von Mehrzahligkeit muß auf verschiedene syntaktische Mittel zurückgegriffen werden, von denen keines obligatorisch zu sein scheint (vgl. Everett 1986: 280ff.). Eine andere Sprache ist Chrau (Mon-Khmer, südliches Vietnam), für dessen Personalpronomina gilt: „These may be used as plurals without modification, especially nèh [d.i. 3. Person Singular, HS], but plurality is o f t e n indicated by preposing kha or khây" (Thomas 1971: 138; Hervorhebung von mir, HS). Für beide Sprachen sind die mir zugänglichen Beschreibungen jedoch nicht vollkommen zweifelsfrei verständlich.
41
2.2.2. Person Zentrales Definitionskriterium für jegliche Art von Kommunikation ist die Tatsache, daß mindestens zwei Individuen involviert sind, von denen mindestens eines Zeichen aussendet, die von mindestens einem anderen Individuum interpretiert werden. 5 5 Im einfachsten Fall ist dabei von folgendem vorläufigen Modell auszugehen: 5 6 Abbildung 11 : Kommunikationsmodell (vereinfacht)
Jemand (der Sprecher) 5 7 richtet seine zeichenhafte Äußerung an jemand anderen (den Adressaten) 58 , wobei in vielen Fällen eine weitere, am kommunikativen Geschehen nicht unmittelbar partizipierende Entität (ein Unbeteiligter) 5 9 eine Rolle spielen kann. 6 0 D i e Unterscheidung dieser verschiedenen Gesprächsrollen bezieht sich primär auf personale, d.h. menschliche oder gegebenenfalls als menschenähnlich gedachte Entitäten in der Welt. D i e 55
56
57
58
59
60
Für eine ausführliche Begründung eines solchermaßen kognitiv-pragmatisch orientierten zeichentheoretischen Ansatzes vgl. z.B. Keller (1995) und das Modell des Sprachgebrauchs als .joint action" von Clark (1996). Eine im Hinblick auf die Berücksichtigung höflichen Sprachverhaltens in manchen Sprachen nicht unwesentliche Erweiterung des Modells erfolgt in Abschnitt 3.2.1. Einer zwar nicht unbedingt ehrwürdigen, doch zumindest alten und fest etablierten Tradition gemäß sind im folgenden Ausdrücke wie 'Sprecher' und 'Adressat' - außer an den eigens vermerkten Stellen, wo weitere Unterscheidungen relevant werden - erstens als generisch zu verstehen (Personen weiblichen Geschlechts werden also trotz der maskulinen Genusspezifikation nicht ausgeschlossen) sowie zweitens als neutral im Hinblick auf den verwendeten Kommunikationsmodus (also nicht unterscheidend, ob die Aussendung der Signale im gesprochenen, geschriebenen oder gebärdeten Modus erfolgt). Warum die Bezeichnung 'Hörer' für den Adressaten - die sich in der älteren Literatur, aber auch noch z.B. bei Weinrich (1993: 87ff.) und Zifonun et al. (1997: 317) findet - im Hinblick auf manche höflichen Gesprächssituationen unglücklich ist, wird in Abschnitt 3.2.1 behandelt. Dieser non-speech act participant wird in der Literatur höchst uneinheitlich bezeichnet; es finden sich beispielsweise die folgenden Termini: „non-personne" (Benveniste [1946] 1966: 228; [1956]1966: 256), „external object" (Kurytowicz (1964: 245), „other" (Ingram 1978: 223), „Dritter" (Klein/Rieck 1982: 41), „Besprochener" (Müller 1983: 37; Bellmann 1990: 155), „nonparticipant" (Givón 1984: 354), „Anderer" (Plank 1984: 197), „délocutaire" (Wunderli 1990/91: 36), „Referenzrolle" (Weinrich 1993: 87f.), „Besprochenes" (Eisenberg 1998: 356). - Mit der terminologischen Festlegung auf 'Unbeteiligter' folge ich im weiteren dem Usus von Plank (1985: 113) und Fries (1997: 27). Zur langen Geschichte der Rollenmetapher in diesem Zusammenhang vgl. z.B. Kretzenbacher (1991: 20f.) und die dort S. 62, Anm. 27, angegebene Literatur.
42 Rollen sind deshalb als von der Sprache per se unabhängige ontologische Größen zu verstehen. In der natürlichen sprachlichen Kommunikation - dem Dialog - vertauschen Sprecher und Adressat fortwährend ihre Rollen, indem sie abwechselnd Äußerungen an das jeweilige Gegenüber richten.61 Die von den Gesprächsteilnehmern verwendeten Zeichen können auf im Prinzip unendlich viele verschiedene Gegenstände und Sachverhalte verweisen, d.h. auf 'alles' und somit auch auf die am jeweiligen kommunikativen Akt beteiligten Individuen selbst. 62 Die Ausdrucksmittel, die die Sprache dazu zur Verfugung stellt, sind durch eine grammatische Kategorie gegliedert, die den drei grundlegenden Rollen 'Sprecher', 'Adressat' und 'Unbeteiligter' in gewisser Hinsicht parallelisiert ist. Im Normalfall stellt sich das Verhältnis der beiden streng zu trennenden Strukturierungsebenen wie folgt dar: Person deixis concerns the encoding of the role of participants in the speech event in which the utterance in question is delivered: the category first person is the grammaticalization of the speaker's reference to himself, second person the encoding of the speaker's reference to one or more addressees, and third person the encoding of the reference to persons and entities which are neither speakers nor addressees of the utterance in question. (Levinson 1983: 62; Hervorhebungen im Original, HS)
Diese Durchnumerierung der morphologischen Personen entspricht der abendländischen Tradition der Grammatikschreibung. 63 Nimmt man die Trennung der beiden Aspekte grammatischer Kategorien aber wirklich ernst (einerseits Ausdrucksseite: grammatische Personen, d.h. 1., 2., 3. Person - andererseits Inhaltsseite: Rollen, d.h. Sprecher, Adressat, Unbeteiligter), dann sollte man sich bemühen, unabhängige grammatische Kriterien zu finden, die es erlauben, eine hierarchische Anordnung der Rollen vorzunehmen, die sich dann in der Numerierung widerspiegeln sollte. Erst durch eine solche Analyse sollte es möglich sein, Aussagen über eine mögliche In-Beziehung-Setzung von grammatischen Personen einerseits und Gesprächsrollen andererseits zu treffen. 64 Eine mögliches Kriterium, um die Rollen untereinander zu gewichten, wodurch eine unabhängige Basis zur Numerierung erlangt werden kann, liegt im grammatischen Verhalten
61
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63
64
Eine vergleichbare Bestimmung der „canonical situation of utterance" nimmt beispielsweise Lyons (1977: 637) vor. Daß wegen mancherlei zeitlicher Überlappungen der Gesprächsbeiträge aus Sicht der Gespächsanalytiker hierbei jedoch zu problematisieren ist, zeigen Henne/Rehbock (1982: 266-271). Da also auch Sprecher und Adressat Referenten sein können, über die gesprochen wird, halte ich manche der oben in Anm. 59 erwähnten Begriffe wie 'Referenzrolle', 'Besprochener' usw. für die Unbeteiligten-Rolle ('weder-Sprecher-noch-Adressat') für zumindest irreführend - in einem Satz wie ich liebe dich erscheint zwar keine Unbeteiligten-Rolle, dennoch wird natürlich referiert und besprochen. Vgl. Colombai (1994) zum antiken Erbe. Benveniste ([1946] 1966: 225) verweist in diesem Zusammenhang allerdings auf die altindische grammatiktheoretische Überlieferung, die die Zuordnung von 1., 2. und 3. Person zu Unbeteiligter, Adressat und Sprecher in genau umgekehrter Reihenfolge vornimmt. Greenberg (1993: 10) nennt darüber hinaus auch Misch-Ansätze in der hebräischen (und arabischen) Grammatiktradition. Einen anderen Weg geht z.B. Henderson (1985: 301) mit der Feststellung: „First person is appropriate for the speaker, since he is necessarily the 'first cause' of any utterance: no words at all would emerge if he did not utter them".
43
ihrer pluralischen Formen und in der 'Bedeutung' der entsprechenden 'Plural'-Werte. 65 Wie bereits im vorangehenden Abschnitt angedeutet, interagieren die Kategorien 'Person' und 'Numerus' bei Personalpronomina in komplexer Weise miteinander. Die referentiellen Eigenschaften der Pluralformen der Sprecher- und der adressatenbezüglichen Pronomina unterscheiden sich in einem Punkt gravierend von denen der unbeteiligtenreferentiellen Pronomina und der Nomina. Denn bei einem numeralen Nomen wie Hund bezieht sich die Pluralform Hunde auf eine Menge von Entitäten, die dadurch charakterisiert ist, daß sie aus lauter in relevanter Hinsicht gleichartigen Elementen besteht. Das heißt natürlich nicht, daß die Hunde alle vollkommen gleichartig sein müssen; die Menge kann beispielsweise durchaus aus Doggen, Dackeln und Pudeln bestehen. Entscheidend ist nur, daß alle Tiere zur Gattung 'Hund' gehören. Befindet sich in der Menge, auf die referiert werden soll, auch eine Katze, so läßt sich in bezug auf die gesamte Gruppe nicht mehr sinnvoll der Plural von Hund verwenden. - Anders ist dies bei den Pronomina. Zwar wird wir traditionell - und aus gutem Grund - als die Pluralform zum singularischen ich aufgefaßt, doch die Menge der Referenten, auf die mit wir verwiesen wird, besteht nicht automatisch nur aus mehreren 'ich'-Instanzen. Abgesehen von den seltenen Sonderfállen, in denen ein einziger Text simultan von verschiedenen Individuen gesprochen wird, 66 wird auch ein wir nur von einem Sprecher geäußert. Die anderen Elemente der Referenzmenge stellen dann entweder ein oder mehrere Adressaten (9a), Unbeteiligte (9b) oder eine Kombination daraus (9c) dar: 67 (9a) (9b) (9c)
Wir sollten mal wieder einen trinken gehen. - ('Spr + Adr [+ Adr...] [+Unb...]') Schade, daß du nicht dabei warst. Der Film, den wir gestern gesehen haben, war echt gut. ('Spr + Unb [+ Unb...]') Wir sollten alle mehr Energie sparen. - ('Spr + Adr [+ Adr...] + Unb [+ Unb...]')
Eine in den Sprachen der Welt weit verbreitete Erscheinung stellt die formale Unterscheidung der Fälle in (9a) und (9b) dar, die mit den Begriffen 'Inklusiv' vs. 'Exklusiv' gefaßt wird: Bei ersterem ist der Adressat in der Menge der Referenten inkludiert, bei letzterer
65
66
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Allgemeiner: der Nichtsingularformen. Im folgenden beschränke ich mich auf die einfachen Fälle der Singular-Plural-Dichotomie; eine Einbeziehung von z.B. dual-markierten Formen brächte keine grundsätzlich neuen Aspekte in diesem Gedankengang. - Vgl. aber die Diskussion um die Analyse einiger weniger pronominaler Systeme mit Hilfe der Kategorie [+/-restricted] bzw. [+/minimal] anstatt einer Kategorie 'Numerus' zwischen Greenberg (1988), McGregor (1989), Greenberg (1989) und McKay (1990) im Anschluß an die ältere Literatur; s. dazu auch Hymes (1972), Heger (1980: 12-14) und zusammenfassend Cysouw (2001: 154ff.). In dem Zusammenhang wird immer wieder auf die Chöre antiker Tragödien hingewiesen, doch finden sich auch heutzutage noch vereinzelte Beispiele in rituellen Kontexten, z.B. in kollektiven Gebeten (Großer Gott, wir loben Dich), vgl. MühMusler/Harré (1990: 201-205); weitere Textsorten, in denen chorisches wir in der Gegenwart zu finden ist, stellen Gesänge von Fußball-Fans (Kopiez/Brink 1998) oder Rufe nach einer Zugabe nach einem Popkonzert (we want more) (Cysouw 2001: 375) dar. Hingewiesen sei schließlich noch auf den Fall, bei dem mehrere Autoren gemeinsam einen schriftlichen Text verfassen: Auch hier ist das wir wirklich ein Plural im Sinne von 'mehrere Instanzen von 'ich". Mit den folgenden Beispielen sollen nur die wichtigsten Kombinationsmöglichkeiten demonstriert werden, um den Grundgedanken zu illustrieren. Mehrere Arbeiten zur Pronominaltheorie fuhren die Typen ausführlicher auf, z.B. Zwicky (1977: 717), Plank (1985: 132f.) und Henderson (1985).
44 nicht.68 Beispielsweise differenziert das Indonesische (wie die austronesischen Sprachen allgemein recht häufig, vgl. Kähler 1974: 287) folgendermaßen:69 (10a)
(10b)
kita manusia. wir1NKL Mensch 'Wir sind Menschen.' kami saudagar. wirEXICL Kaufmann 'Wir sind Kaufleute, du nicht.'
Was die Gesprächsrollen der einzelnen Mitglieder der Referenzmenge betrifft, so verweist wir also auf eine inhomogene Gruppe. Sie besteht in den allermeisten Fällen aus einem Sprecher und weiteren Personen, mit den Rollen 'Adressat' und/oder 'Unbeteiligter'. Mit anderen Worten, die 1. Person Plural ist nicht der Plural der 1. Person. Analoges gilt für die Bedeutung von ihr. Auch hier ist es keineswegs immer so, daß die Referenzmenge rollenbezüglich homogen ist - wenngleich dies bei ihr sicherlich häufiger zu beobachten sein wird als bei wir. Während in (IIa) die Referenten des Pronomens ihr alle angesprochen werden - weil sie alle anwesend sind und auch alle zuhören, zumindest was die Intention des Sprechers betrifft -, kann sich ihr in einem Satz wie (IIb) auch auf nicht anwesende Personen beziehen, diese sind dann automatisch nicht am Sprechakt beteiligt, also Unbeteiligte. (1 la) (IIb)
Als Hausaufgabe sollt ihr einen Aufsatz schreiben. Na, was habt ihr denn heute in der Schule gelernt?
Im letzteren Fall ließe sich ihr auch paraphrasieren als 'du und die, die mit dir zusammenhängen', wobei die Gruppe derer, die 'mit dir zusammenhängen', kontextuell bestimmt ist - damit sind irgendwie mit dem Adressaten in Beziehung gesetzte Personen gemeint, bei denen irrelevant ist, ob sie auch anwesend - und dadurch adressierbar - sind oder nicht.70 Eine solche Funktionsbestimmung der pluralischen Personalpronomina der 1. und 2. Person ist vergleichbar mit den oben in (3) angeführten Pluralen der assoziativen Zugehörigkeit.71 - Die gleiche Idee faßt de Fornel (1994: 186f.) mit dem Begriff der Metonymie:
68
69 70
71
Hagège (1995: 111) gibt an, daß mehr als ein Drittel der Sprachen aus dem von ihm untersuchten Sample diese Unterscheidung besitzen; Nichols (1992: 124 u. 197) gibt Statistiken (mit insgesamt etwas höheren Prozentzahlen als Hagège) über die weltweite areale Verteilung der Kategorie, S. 179 auch Hinweise auf ausgewählte Sprachfamilien. - Unter den Sprachfamilien, in denen die Differenzierung kaum oder gar nicht vorkommt, sind nach Mel'éuk (1994a: 172) die BantuSprachen sowie die ural-altaischen, die semitischen und die indogermanischen zu nennen. - Bezüglich der letzteren Gruppe rekonstruiert allerdings zumindest Sihler (1993) ein System, wonach die überlieferten Dual-Formen der Einzelsprachen auf eine ursprüngliche Inklusiv-ExklusivUnterscheidung in der Ursprache zurückzuführen seien. Die Unterscheidung in einigen modernen indo-arischen Sprachen scheint jedenfalls eine Neuerung unter dravidischem Kontakteinfluß zu sein (vgl. Jacobsen 1980: 206f.). Daten nach Kähler (1965: 48f.). Der heiklen Frage, ob in irgendeiner Sprache eine Inklusiv-Exklusiv-Differenzierung auch bei den adressatenbezüglichen Pronomina existiert, gehe ich in Abschnitt 5.2.1.2 im Zusammenhang mit der Diskussion der Verwendung der Anredepronomina im Bairischen genauer nach. Vgl. zu diesem Gedanken auch den Hinweis auf den „elliptic plurfal]" im Griechischen von Kurylowicz (1964: 149, ähnlich S. 242).
45 Il s'agit en fait d'un pluriel que l'on peut caractériser comme métonymique et qui peut se définir comme une pluralité „désignée par un élément privilégié (je-tu) accompagné de plusieurs autres". (Hervorhebung im Original, HS) Anders hingegen sind die Verhältnisse in der 3. Person: Sowohl die Singular- als auch die Pluralformen referieren ausschließlich auf Unbeteiligte, d.h. ein sierL verweist auf eine Gruppe von Individuen, auf die einzeln jeweils ein erlsieles verweisen würde. 72 Die Semantik der Pronomina der 3. Person ist somit einfacher und läßt sich deshalb mit derjenigen der oben in Abschnitt 2.2.1 besprochenen numeralen Nomina vergleichen. Dieses asymmetrische Verhalten der Pluralformen der Personalpronomina kann nun genutzt werden bei dem Versuch, die interne Hierarchie der Rollen mit Hilfe linguistischer Kriterien festzulegen. 73 Die Grundidee ist dabei, daß bei Gruppen von Referenten, die unterschiedlichen Rollen angehören, beim Abgleich der Rollen stets eine Rolle 'gewinnen' wird, und zwar diejenige, die als referentiell herausgehoben anzusehen ist. Diese hat dann als höchste der Hierarchie zu gelten. - Wenn die Menge der Referenten rollenbezüglich in sich homogen ist, dann besteht auch kein Problem: Es wird einfach die entsprechende 'Plural'-Form verwendet, also wir statt ich, ihr statt du und siePL statt erlsieles. Bei ungleichmäßiger Referenzmenge tritt jedoch die Hierarchie in Kraft. Der Mechanismus läßt sich demonstrieren, wenn man die pluralischen Pronomina gewissermaßen in ihre Bestandteile auflöst: (9a') (9b')
Ich und du, wir sollten mal wieder einen trinken gehen. Schade, daß du nicht dabei warst. Der Film, den wir - nämlich ich und die anderen gestern gesehen haben, war echt gut. (9c') Ich und du und die anderen auch, wir sollten alle mehr Energie sparen. (IIb') Na, was habt ihr - also du und die anderen - heute in der Schule gelernt?
Die hierdurch exemplifizierte Hierarchisierung der Rollen besagt also: Wann immer in einer Referenzmenge der Sprecher eingeschlossen ist, wird - unabhängig davon, welche sonstigen Rollen vielleicht noch beteiligt sein mögen - das Pronomen wir verwendet; wann immer ein Adressat eingeschlossen ist, aber der Sprecher nicht, dann findet ihr Verwendung; andernfalls, also wenn weder Sprecher noch Adressat involviert sind, gilt siefL. - Die Hierarchie kann auch als binäre Entscheidungsprozedur modelliert werden (vgl. Abb. 12):
72
73
Die Genusdifferenzierung liegt im Deutschen nur im Singular vor; dies ändert aber nichts an der hier einzig relevanten rollenbezüglichen Situation. Bei der folgenden Argumentation stütze ich mich im wesentlichen auf Überlegungen von Plank (1984, 1985).
46 Abbildung 12: Pronominale Entscheidungsprozedur im Deutschen Ist der Sprecher Mitglied der Referenzmenge?
ja
nein Ist der Adressat Mitglied der Referenzmenge?
ich/wir
ja
nein
du/ihr
er/sie/es/sie,L
Die Numerierung der Personen nimmt so gesehen Bezug auf die Reihenfolge der Fragen, die man sich bei der Entscheidung stellen muß, welches der Pluralpronomina in einer gegebenen Situation zu verwenden sei. Die singularischen Pronomina ich, du und erlsieles erhalten ihre Zuordnung zu den grammatischen Personen aus ihren parallelen Pluralformen: ich verweist dabei auf diejenige Rolle, nämlich Sprecher, aus der auch eine rollenbezüglich homogene wi'r-Gruppe besteht. Entsprechend ist das adressatendeiktische du die Singularform von ihr, denn letzteres kann sich (auch) auf eine homogene Gruppe - bestehend aus lauter Adressaten - beziehen. Die durch das Verhalten der Pluralformen ermittelte Hierarchie schlägt so auf die an sich nicht gewichtbaren Singularformen durch, so daß ich als 1. Person und du als 2. Person spezifiziert werden kann. - Der weitaus überwiegende Teil der Sprachen der Welt verteilt die Werte der Kategorie Person auf die deiktischen Rollen in der hier anhand des Deutschen exemplifizierten Weise. 7 4
74
Deshalb wird von einer Reihe von Autoren auch eine entsprechende 'universelle Hierarchie der Personen' angenommen (vgl. z.B. Noyer 1997 und darauf aufbauend Harley/Ritter 2002). Daneben scheinen jedoch vereinzelte Ausnahmen zu dieser Korrelation zu existieren; primär handelt es sich dabei um einige (nord-)amerikanische Indianersprachen, wie das Potawatomi (Zentral-Algonkin, Mittelwesten der USA). Die Interpretation der Daten, die schon seit geraumer Zeit diskutiert werden, ist in der Literatur durchaus umstritten (vgl. die Hinweise in Zwicky 1977 und Plank 1985, hier S. 149 außerdem Literaturangaben zu einzelnen Indianersprachen anderer Sprachfamilien; s. auch Hewson 1991: 866). - Eine Sprache, die meines Wissens bislang noch nicht in die Diskussion zur Person-Hierarchie eingebracht worden ist, stellt das Sanuma (YanomanSprachgruppe, Venezuela/Brasilien) dar. Zu deren Pronominalsystem wird von Borgman (1990: 149) folgendes mitgeteilt: „In the first person plural there is also the distinction of exclusive and inclusive, excluding or including the listener or listeners. First person plural inclusive and second person plural have the same pronoun and only context determines which referent is intended" (vgl. auch die Glossierung von Borgmans Beispiel (599) S. 150). Wenn aber nur der Kontext - also kein formales Kriterium - die Bedeutungen differenziert, wäre es ökonomischer, gleich anzunehmen, daß hier nur ein einziges Pronomen im Spiel ist - eines, in dessen Referenzpotential alle Mengen vereinigt sind, die einen Adressaten aufweisen, denn der Adressatenbezug ist das Gemeinsame von 1. Person Plural Inklusiv und 2. Person Plural. Die Frage nach dem Adressaten nimmt in dieser Sprache also den obersten Rang der Hierarchie ein. Im Rahmen des erwähnten Ansatzes von Plank bedeutet dies, daß in manchen Sprachen die 1. Person als adressatenbezogen und die 2. Person als sprecherbezogen definiert werden muß. (Harley/Ritter 2002: 34f. zitieren syntaktische Evidenz aus
47 Die drei Werte der grammatischen Kategorie 'Person' sind nicht nur hierarchisch geordnet, sie legen auch teilweise erhebliche morphosemantische und morphosyntaktische Differenzen (in ihrer Kombinatorik) an den Tag. Sie können keinesfalls einfach nebeneinander gestellt werden. Vielfach weisen die beiden Pronomina der 1. und 2. Person Gemeinsamkeiten auf, die sie von der 3. Person abgrenzen. 7 5 Einige der wesentlichen Eigenschaften seien kurz aufgelistet. 7 6 Die Pronomina der 1. und 2. Person verweisen stets auf die am jeweiligen Sprechakt beteiligten Rollen 'Sprecher' und 'Adressat', die aus diesem Grunde auch als „speech act participants" zusammengefaßt werden. Sie verweisen dadurch immer auf Anwesende, wohingegen 'Unbeteiligte' in der Kommunikationssituation anwesend sein können, aber nicht müssen. Die konkrete Referenz der Zeichen der 1. und 2. Person ändert sich notwendigerweise, wenn sie von unterschiedlichen Individuen geäußert werden: Sie sind die „shifters" par excellence im Sinne von Jakobson ([1957] 1971). 7 7 Pronomina der 1. und 2. Person stehen gemeinsam an der Spitze der Animiertheitshierarchie (vgl. oben in Abschnitt 2.2.1). Aus diesem Grunde verhalten sie sich auch in morphosyntaktischer Hinsicht manchmal anders als die Pronomina der 3. Person, die häufig mit den Nomina konform gehen. Dies gilt beispielsweise für die Numerusmorphologie. Neben der bereits angeführten Tatsache, daß die Pluralmarkierung bei Pronomina der 3. Person gelegentlich nur optional zu sein braucht, ist hier auch das morphologische Material selbst zu nennen. Pronomina der 3. Person weisen vielfach eine regulärere Morphologie auf als die Pronomina der 1. und 2. Person, die durch stärker suppletive Züge gekennzeichnet sind. So unterscheiden sich im Türkischen die Pluralbildungen der Pronomina j e nach Person grundlegend (Daten nach Lewis 1967: 67): Abbildung 13: Pluralbildung bei Nomina und Pronomina im Türkischen Türkisch
Singular
Plural
1. Person
ben
biz
2. Person
sen
siz
3. Person
0
onlar
Nomen (hier: 'Pferd')
at
atlar
Hier trägt das Pronomen der 3. Person das gleiche Pluralsuffix, das auch bei der Pluralbildung bei Nomina verwendet wird, während im Gegensatz dazu die Pluralformen der 1. und
dem Ojibwe, einer weiteren Algonkin-Sprache, die in die hier verfolgte Richtung weist.) - Angesichts der großen Relevanz der Rollenhierarchisierungen für das theoretische Verständnis der grammatischen Kategorie 'Person' schiene mir eine Studie wünschenswert, die die bislang in die Diskussion geworfenen Daten noch einmal systematisch nacharbeitet und bewertet. 75
76
77
So schon die Argumentation von Benveniste ( [ 1 9 4 6 ] 1 9 6 6 ) und vielen weiteren Autoren; jüngst haben z.B. Harley/Ritter ( 2 0 0 2 ) dies zum Anlaß genommen, um in ihrer Merkmalsgeometrie auf einen Knoten für die Repräsentation der '3. Person' zu verzichten. Vgl. auch beispielsweise Greenberg ( 1 9 9 3 ) für ein sprachlich weitgefächertes Panorama von einschlägigen Phänomenen. - Weitere Überlegungen auch z.B. in Vogel (1993). Ich halte es in dem Zusammenhang für nützlich, am traditionellen Jakobsonschen Begriff des 'Shifting' festzuhalten und ihn nicht wie Leiss (1997b: 3 8 ) auszuweiten und aufzuweichen, indem man ihn für jede systematische Bedeutungsdifferenz zwischen den Werten einer grammatischen Kategorie verwendet.
48
2. Person zumindest synchron nicht mehr transparent sind und suppletive Bildungen darstellen.78 In der Ähnlichkeit der Pluralmorphologie der Pronomina der 3. Person zu der der Nomina spiegelt sich im übrigen die oben beschriebene Parallelität der Pluralbedeutungen wider: Im Gegensatz zu den andren Personalpronomina sind sie rollendeiktisch homogen, so wie nominale Plurale meist konzeptuell homogen sind.79 Des weiteren ist keine Sprache bekannt, die nicht mindestens Pronomina der 1. und 2. Person Singular sowie der 1. Person Plural kennen würde.80 Doch steht in bei weitem nicht allen Sprachen ein eigenes Pronomen der 3. Person zur Verfugung.81 In solchen Fällen besitzen die Sprachen zwar spezielle Zeichen (eben die Pronomina) fur die am Sprechakt beteiligten Rollen 'Sprecher' und 'Adressat', bei der Referenz auf Unbeteiligte wird jedoch auf Formen zurückgegriffen, die darüber hinaus in andere Paradigmen eingebunden sind. Als ein Beispiel, bei dem ein Demonstrativpronomen und das Personalpronomen der 3. Person identisch sind, kann wiederum das Türkische dienen: Hier steht o neben seiner Funktion als merkmallos-unbeteiligtenreferentielles Personalpronomen der 3. Person auch in Opposition zu bu und $u, welche gemeinhin als 'this' bzw. 'that' übersetzt werden.82 Außerdem ist die funktionale (und formale) Belegung des Werts '3. Person' wohl komplexer als traditionell angenommen wird. Im allgemeinen wird für die Personalpronomina des Deutschen nämlich ein Paradigma wie das folgende angenommen:83
78
79
80
81
82
83
Zur Herkunft der Pluralformen vgl. von Gabain (1982a: 14, 1982b: 188). Zum /n/ im Plural des Pronomens der 3. Person vgl. Lewis (1967: 67f.). - Im übrigen gilt Entsprechendes für die verbale Kongruenzmarkierung im Türkischen (vgl. Lewis 1967: 96ff., Kornfilt 1990: 632-635). Für weitere Beispiele für die morphologische Nähe der Pronomina der 3. Person zu den Nomina vgl. allgemein Mel'cuk (1994a: 174). - Jakobson ([ 1981/82] 1985: 76f.) beispielsweise demonstriert die morphologische Ambivalenz der Pronomina der 3. Person im Russischen. Auch für das Deutsche läßt sich eine morphologische Zwischenstellung der 3. Person feststellen: Admoni (1982: 69-74) nimmt fünf Haupttypen von Deklinationsparadigmen an: Der erste umfaßt lediglich die Pronomina der 1. und 2. Person, der zweite weitere Arten von Pronomina (darunter auch die der 3. Person) sowie Adjektive; die restlichen drei Paradigmen beinhalten verschiedene Typen von Nomina. Vgl. Ingram (1978: 227 u. 243) im Anschluß an Forchheimer (1953). - Eine Ausnahme stellen möglicherweise manche (süd-)ostasiatischen Sprachen wie das Thailändische dar (vgl. dazu die Literaturhinweise in Kapitel 6, Anm. 14); doch Goddard (2001: 8-10) führt Studien an, die auch für diese Sprachen die Annahme entsprechender Pronomina suggerieren. Laut Hagège (1995: 96) haben nur ca. ein Viertel aller Sprachen ein spezielles Pronomen der 3. Person; Literaturhinweise für Sprachen, in denen ein eigenes Pronomen fehlt, finden sich z.B. in Herbermann (1994: 122, Anm. 53). Vgl. Lewis (1967: 67-72) und Kornfilt (1997: 281 u. 290). Analoges gilt für das Lateinische (vgl. Hofmann/Szantyr 1972: 185f.). - Darüber hinaus macht z.B. Sasse (1993: 670) auf das Dasenech (Kuschitisch, südliches Äthiopien) aufmerksam, das statt eines Pronomens der 3. Person ein Nomen verwendet, das generell als 'Person' übersetzt werden kann. Vgl. dazu auch die Paradigmen in Abschnitt 1.2.1. - Hier und im folgenden verwende ich die Formen des Nominativ Singular stellvertretend für die anderen Kasusformen und die Possessiva.
49 Abbildung 14: Personalpronomina des Deutschen (traditionell) Deutsch
Singular
Plural
1. Person ['Spr']
ich
wir
2. Person ['Adr']
du
3. Person ['Unb']
er
ihr sie
es
sie
Es stellt sich jedoch die Frage, ob mit diesen Formen nicht heterogene Funktionen zusammengepreßt werden. Denn während die Pronomina der 1. und 2. Person zweifelsohne in erster Linie deiktische Funktionen wahrnehmen - sie verweisen auf Sprecher und Adressat, also auf Entitäten der Kommunikationssituation als solcher - , wird die Hauptfunktion von erlsieleslsierL häufig in ihrem anaphorischen Bezug gesehen. 8 4 Die Pronomina der 3. Person verweisen damit nicht primär auf in der Welt befindliche Entitäten, sondern nehmen bereits vorher im Text genannte Wörter/Phrasen wieder auf. Sie stehen gewissermaßen 'fur' bereits erwähnte nominale Phrasen. 85 In manchen Ansätzen wird die anaphorische Funktion von Pronomina sogar als derart dominant gesehen, daß andere Funktionen gar nicht mehr in den Blick geraten. 86 Wichtig ist jedoch, daß nicht alle traditionell als Pronomina der 3. Person bezeichneten Formen gleichermaßen geeignet sind, personendeiktisch zu referieren. So meint Braunmüller (1977: 137), daß die Pronomina er, siesa und siePL - allerdings nur wenn sie betont sind - deiktisch verwendet werden können, nicht hingegen es, wie in (12) als Ersetzung zu (12·): 8 7 (12) (12')
84
85
86
87
* Es hat dies getan! Das Kind hat dies getan!
Für grundlegende Klärungen im Bereich von Personendeixis und anderen Deixisarten (insbesondere auch die Abgrenzung zur Anapher u.ä.) vgl. Lyons (1977: 636-677) und Levinson (1983: 54ff.). Aus dieser Funktion leitet sich auch die traditionelle Bezeichnung 'Pro-Nomen' ('Für-Wort') her, wobei aber - wie in der neueren Literatur allenthalben betont wird - zu beachten ist, daß die Pronomina (der 3. Person) dabei nicht für einzelne Nomina (generativ-phrasenstrukturell formuliert: N°) stehen, sondern für ganze Phrasen (also je nach Modell-Variante NPs oder DPs): D.h. ein er kann nicht für Junge stehen, sondern z.B. für der kleine rotzfreche Junge mit den roten Haaren. So werden in einem grundlegenden Handbuch zur Semantik (von Stechow/Wunderlich 1991) in dem Kapitel „Pronouns" (Reinhart 1991) die Pronomina der 1. und 2. Person überhaupt nicht erwähnt; diese werden - ohne daß das über das Inhaltsverzeichnis oder das Register unmittelbar erkennbar wäre - im Kapitel „Kontextabhängigkeit" behandelt (Zimmermann 1991: 187-189). Der Band liefert keinen Hinweis auf einen möglichen Zusammenhang der pronominalen Typen. - Innerhalb der Generativen Grammatik stellten die mit Syntax und Semantik von Pronomina der 3. Person (und äquivalenten Formen) verbundenen Probleme lange Zeit einen Fokus des Interesses dar, vgl. dazu die umfangreiche Literatur zur Bindungstheorie im Anschluß an Chomsky (1981). Für eine kurze informelle Darstellung, welche Faktoren bei der Analyse von Pronomina eine Rolle spielen können, vgl. z.B. Wiese/Simon (2002). Vgl. Herbermann (1994: 106f.); dort S. 109ff. auch weitere subtile Unterscheidungen von Charakteristika deiktischer und anaphorischer Pronomina der 3. Person im Deutschen. - Das englische it verhält sich in ähnlichem Zusammenhang ebenfalls auffällig, insofern es nämlich nicht mit anderen (Pro-)Nomina koordinierbar zu sein scheint (vgl. die Diskussion zwischen Bourdin und Maillard (S. 66) im Anschluß an Maillard 1994).
50 Rauh (2002: 124) weist zudem darauf hin, daß auch das „Pronomen der dritten Person Plural nicht deiktisch verwendbar [ist], weder betont noch unbetont." Dadurch kann ein Satz wie (13) sich nie auf Unbeteiligte beziehen; das Pronomen wird immer als Höflichkeitsanrede verstanden werden. (13)
Was machen [zi: ] denn hier?
Der anaphorische Bezug der unbetonten Pronomina wird auch im Rahmen der Textlinguistik diskutiert: Dabei gehen mehrere Autoren davon aus, daß die Formen er/sie/es in einem Konkurrenzverhältnis stehen zu der/die/das. So ordnet z.B. Weinrich (1993: 96) diese beiden Pronominalreihen gleichrangig in das System der Personalpronomina ein. Sie unterscheiden sich seiner Ansicht nach hinsichtlich der Merkmale 'bekannt' und 'auffällig' (Weinrich 1993: 380). Den Kontrast faßt er mit den Begriffen 'Thema' und 'Rhema'. So gesehen fungieren die Formen primär im Sinne der textuellen Verknüpfung und gehen nur sekundär in die Gesprächsrollendifferenzierung ein, die die Basis für die Kategorie 'Person' bildet. 88 Insofern die 'rhematischen' Pronomina selbständig etwas Neues, Auffalliges in den Diskurszusammenhang einzuführen vermögen, sind sie die eigentlich rollendeiktischen Pronomina der 3. Person: In dieser Hinsicht bilden die der/die/das-Formen eine natürliche Klasse mit den Pronomina ich und du}9 In dieselbe Richtung weist auch ein völlig andersartiges Argument: In einem Deutschals-Fremdsprache-Lehrbuch für venezianische Kaufleute aus dem 15. Jahrhundert, das in einer Reihe von Handschriften überliefert ist,90 finden sich im morphologischen Abschnitt (ÖNB, Cod. 12514, f.64r-85v) zahlreiche Flexionsparadigmen von Verben in folgender Form:
88
89
90
Zu den beiden Varianten von Pronominalisierungsmechanismen vgl. Weinrich (1993: 372ff.). Eine geringfügig abweichende, aber kompatible Funktionsbestimmung liefert z.B. Wiemer (1996), der statt 'thematisch' und 'rhematisch' die neutraleren Termini 'schwach' bzw. 'stark' verwendet. Vgl. auch die Untersuchung von Bethke (1990) zur grammatischen und textlinguistischen Kontrastierung der beiden Pronominalreihen. Für Restriktionen, die für die Verwendung der der/die/das-Formen gegenüber Menschen aufgrund von 'Höflichkeitsregeln' und ähnlichem gelten, vgl. die kurzen Hinweise in Weinrich (1993: 385f.) und ausführlich Bellmann (1990) für das Deutsche und Thun (1986) für die romanischen Sprachen. S. Pausch (1972) für eine diplomatische Edition der ältesten, heute in Wien befindlichen Handschrift (von 1424) und detaillierte Untersuchungen zu vielfältigen Aspekten des Texts. Vgl. auch z.B. Karnein (1976) für eine erste Orientierung zu diesem Text sowie Glück (2002: 419-427) für grammatische und didaktische Analysen.
51 E Son Ich Pin Tue du pist Quello e der ist Nui semo wir sein Vui sidi Ir seit Quelli sono die sein Io era Ich waz Tu eri du wast Quello era der waz Nui eramo wir waren Vui eri Ir wart Quelli erano die warn (Pausch 1972: 201f.; ÖNB, Cod. 12514, 64r.l-12) Von dialektalen Details abgesehen 9 1 ist hier auffällig, daß als Formen der 3. Person im Deutschen der und dierL gegeben werden. Mit anderen Worten, in einem gewissermaßen grammatikographischen Text, der ganz am Anfang der volkssprachigen Tradition steht (und auch von der später so wirksamen Lateingrammatik noch weitgehend unbeeinflußt ist) und der zudem relativ viele sprechsprachnahe Merkmale aufweist, 9 2 wird die Kategorie 'Person' auf pronominaler Ebene mittels einer ich-du-der-Dreiteiiung kodiert. Interessant scheint mir in dem Zusammenhang aber auch, daß in den an den Morphologie-Teil der Handschrift anschließenden Gesprächssequenzen ganz natürlich die anaphorische er-Form erscheint: 93 (15)
E to pare in chassa Ist dein vater im hauß No ello el noe in questa terra Nein er / er ist nicht in diser stat Ou ello / wo ist er / acremona / zu cremawn Quante che luy e andado Wie lang ist ez daz er dar Ist gegengen (Pausch 1972: 240; ÖNB, Cod. 12514, 86r.29-33)
Diese Beobachtungen sollten Anlaß sein, eine vermeintlich unproblematische Paradigmentafel wie in Abb. 14 in Frage zu stellen - das Pronomen der 3. Person Singular ist nicht selbstverständlich erlsieles. Es könnte auch dafür argumentiert werden, daß zumindest die rollendeiktische und somit für die Kategorie 'Person' konstitutive Form eher in der Reihe der/die/das zu suchen sein dürfte. 94 Bei der Betrachtung grammatischer Kategorien stellt sich stets die Frage nach der Anzahl der Werte, durch die sie gegliedert sind. Bislang bin ich bei der Darstellung von 'Person' davon ausgegangen, daß genau drei Werte vorliegen. In der allgemein-linguistischen
91
92 93
94
Sie verweisen einerseits auf den norditalienischen (venezianischen), andererseits auf den bairischostfränkischen Raum (dazu und allgemein zum Verhältnis der beiden Sprachteile zueinander vgl. Pausch 1972: 78ff.; auch Simon 1996: 268-271). Vgl. dazu die Detailstudie in Simon (1996) und allgemein Simon (2001). Der Vergleich mit dem italienischen Text der Handschrift zeigt im übrigen, daß auch dort zwei unterschiedliche Pronomina Verwendung finden, nämlich quello und el, wobei ersteres zumindest im Gegenwartsitalienischen als Demonstrativum 'jener' übersetzt wird. Interessanterweise wird auch heute noch in für Nicht-Muttersprachler geschriebenen kontrastiven Grammatiken ähnlich argumentiert; so führt z.B. die Deutsch-Grammatik für Schwedischsprachige von Brandt et al. (1973: 334) mancherlei Funktionsäquivalenzen zwischen den schwedischen Personalpronomina und den deutschen ¿-Formen des Pronomens an.
52
Literatur stößt man allerdings gelegentlich auf die Begrifflichkeit von der '4. Person'. Darunter werden innerhalb verschiedener Forschungsrichtungen jeweils unterschiedliche Konzepte verstanden, die jedoch allesamt wenig Relevanz für die Diskussion in diesem Buch haben. 95 Wenn man, wie ich das getan habe, die Kategorie 'Person' als das grammatische Korrelat der weltseitig universell gegebenen Unterscheidung in die drei Gesprächsrollen 'Sprecher', 'Adressat' und 'Unbeteiligter' definiert, ist kein Platz fur eine zusätzliche Aufsplittung in weitere Einzelwerte; die in der Literatur (s. Anm. 95) beigebrachten Fakten sprechen allenfalls für zusätzliche, quer liegende Unterteilungen (ähnlich w i e dies bereits die Kategorie 'Genus' leistet). - Dadurch ist eine anagogische Interpretation einer Heiligen Schrift, w i e sie ein anonymer Autor des 9. Jahrhunderts vorgenommen hat, nicht mehr vonnöten: Person« autem verbis accidunt III. Quod credo divinitus esse inspiratum, ut quod in Trinitatis fide credimus in eloqui[i]s inesse videatur. (Paris, Bibliothèque Nationale, Cod. 7491, f.95 [?]; zitiert in Thurot 1869: 65) 96 Die Kategorien 'Person' und 'Numerus' sind diejenigen Kategorien, die bei der Analyse von 'Respekt' im Deutschen (insbesondere beim Verständnis der diachronen Entwicklung) die entscheidende Rolle spielen werden. Die beiden anderen Kategorien, die bei deutschen Personalpronomina relevant sind - nämlich 'Genus' und 'Kasus' - sind demgegenüber weniger von Belang; sie werden deshalb hier nur kursorisch behandelt.
2.2.3. Genus In den vorangegangenen Kapiteln war bereits mehrfach von der Kategorie 'Genus' die Rede. Der wichtigste Gedanke ist dabei die Verteilung der Genus-Oppositionen über die unterschiedlichen Numerus- und Personwerte, die oben im Zusammenhang mit den in den Abb. 5 bis 8 illustrierten Daten diskutiert wurde. Dort wurde gezeigt, daß Singularformen 95
96
Die einschlägigen Phänomene seien stichpunktartig aufgezählt: erstens der Proximativ-ObviativKontrast in manchen nordamerikanischen Indianersprachen (Akmajian/Anderson 1970 und Frantz 1966, letzterer sogar mit '5. Person'), hier wäre allerdings eher von einer quer zur Rollendeixis liegenden zusätzlichen Kategorie in der 3. Person auszugehen (mit einer Bedeutung nach dem Muster von dt. ersterer/letzterer; so schon der Vorschlag von Bloomfield 1935: 257f. und Moravcsik 1978: 357f.; allgemein zur Kategorie 'Obviation' vgl. Mithun 1999: 76-78); zweitens die Dual- und die Plural-Formen der 1. Person Inklusiv in sogenannten 'minimal/augmented'Systemen (Hymes 1972; vgl. dazu die Literatur aus Anm. 65); drittens die durchlaufende Numerierung der 'Plural'-Pronomina in der Romanistik zur Kennzeichnung der Tatsache, daß z.B. französisch nous kein regelmäßiger Plural zu moi/je ist so wie chevaux zu cheval (Zörner 1996 und Riegel/Pellat/Rioul 1996: 199); viertens die Ausgliederung der Referenz auf Sachen - im Gegensatz zur Referenz auf Personen - im stark semantisch ausgerichteten Ansatz von Rolland (1997: 52f.). Arens (1955: 30) übersetzt die Stelle folgendermaßen: „Das Verbum hat drei Personen. Dies halte ich für von Gott inspiriert, damit unser Glaube an die Dreieinigkeit auch in den Worten in Erscheinung trete." - Die Verbindung des religiösen Konzeptes der göttlichen Dreifaltigkeit mit der Theorie der grammatischen Person hat im übrigen bis ins 16. Jahrhundert überlebt: In einem als Kartenspiel (!) gestalteten Lehrwerk für den Grammatikunterricht wird 'Person' durch drei Spielkarten symbolisiert, die die drei Wesenheiten des christlichen Gottes darstellen; vgl. v. Wieser (1905: 35).
53 in den meisten Fällen mehr Genus-Distinktionen aufweisen als Nichtsingularformen und daß die Domäne der Kategorie Genus innerhalb der Pronominalsystems in erster Linie durch die Pronomina der 3. Person bestimmt ist. - Dennoch ist es darüber hinaus möglich, daß in Sprachen, die keine Genus-Opposition bei Pronomina der 1. und 2. Person kennen, entsprechende Distinktionen auch in solchen Sätzen zu finden sind, die ausschließlich die 'speech-act-participant'-Pronomina enthalten: dann nämlich, wenn via Korrespondenzrelationen andere Wörter im Satz nach Genus flektieren. In der Regel sind dies Adjektive und Partizipien; vgl. das Französische (17), seltener auch andere Wortarten (wie Verben im Russischen, wenn sie im Präteritum stehen (18)):97 (16a)
(16b)
(17a)
tu es distrait-0. du bist zerstreut-MASK 'Du bist zerstreut.' [männlicher Adressat] tu es distrait-e. du bist zerstreut-FEM 'Du bist zerstreut.' [weiblicher Adressat] ty òital-0. du
(17b)
les.PRÄT-MASK
'Du lasest.' [männlicher Adressat] ty óital-a. du
les.PRÄT-FEM
'Du lasest.' [weiblicher Adressat]
Eine entscheidende Frage, die sich bei der Analyse der Kategorie 'Genus' immer stellt, ist die nach der Basis der Zuordnungsregeln von Lexemen zu den einzelnen Genera.98 Grundsätzlich ist dabei zwischen semantisch basierten und formal basierten Regularitäten zu unterscheiden, wobei in den meisten Sprachen gemischte Systeme zu finden sind. Die Regeln, die den Genuszuweisungen bei Personalpronomina zugrunde liegen, scheinen relativ einfach zu sein. Sie sind weitgehend semantisch bestimmbar: Zumindest bei Pronomina der 1. und 2. Person richtet sich - falls überhaupt vorhanden - das Genus des Pronomens (Maskulin vs. Feminin) nach dem natürlichen Geschlecht des Referenten (männlich vs. weiblich). Etwas komplizierter verhalten sich gelegentlich die Pronomina der 3. Person, insbesondere in ihrer anaphorischen Variante: Dann kann es nämlich bei einigen Nomina passieren, daß ihre grammatische Genus-Spezifikation nicht mit dem natürlichen Geschlecht (Sexus) des Referenten übereinstimmt. Ein typisches Beispiel für ein solches „hybrid noun" (Corbett 1991: 183f.) ist das deutsche Mädchen, das - obwohl als Nomen fur Neutrum spezifiziert - auf weibliche Referenten verweist. Das zugehörige Anaphorikon kann dementsprechend entweder eiNEUT oder s/eFEM sein - je nachdem, ob die Wahl aufgrund syntaktischer oder semantischer Kriterien erfolgt.99 - Wichtig ist in dem Zusammenhang 97
98 99
Vgl. Corbett (1991: 106-115). Die französischen Daten sind Grevisse/Goosse (1986: 1000) entnommen; die russischen Corbett (1991: 128). D i e Erklärung für das ungewöhnliche Verhalten der russischen Verben liegt in der Tatsache, daß diese Formen synchron zwar als einfache Präterita zu analysieren sind, diachron gesehen aber ehemalige Partizipialkonstruktionen darstellen, bei denen die Kopula ausgefallen ist (vgl. z.B. Issatschenko 1983: 406f. und 371f., Corbett 1991: 126). - Zu einer bemerkenswerten Genus-Opposition beim Interrogativpronomen im Neugriechischen vgl. Kazazis (1980). Vgl. hierzu Corbett (1991: 7-69). Für eine eingehende Diskussion von die Wahl beeinflussenden Faktoren in einem größeren Kontext vgl. Corbett (1991: 225-248).
54 auch die Tatsache, daß offenbar Unterschiede bestehen zwischen betonten und unbetonten Varianten der entsprechenden Pronomina der 3. Person: Während die unbetonten Formen problemlos anaphorisch wirken können mit grammatischer Genusrelation, besteht bei betonten Pronomina - also z.B. bei Kontrastierungen - insofern eine Einschränkung, als diese im Deutschen nur sexusorientiert eingesetzt werden können, mithin die Referenz auf unbelebte Hntitäten nicht möglich ist (vgl. dazu auch die Gegenüberstellung der Beispiele (18) und (19) aus Herbermann 1994: 1 IO):100 (18) (19)
Ich habe mir gestern eine Waschmaschine und einen Geschirrspüler gekauft. * Sie habe ich sofort angeschlossen; bei ihm habe ich es nicht geschafft. Vor kurzem hatte ich Besuch von einem befreundeten Ehepaar und ihrem kleinen Kind. Beiläufig habe ich denen meine neue Computer-Anlage gezeigt. Ér und sie konnten nichts damit anfangen; aber *és/das Kind wußte sogleich, worauf es ankam.
Der Beleg (19) zeigt überdies, daß die Verwendung von betontem ès generell sehr stark eingeschränkt, wenn nicht gar unmöglich ist.101 Noch einmal die beiden für die nachfolgende Darstellung wichtigsten Aspekte von pronominalem Genus im Deutschen: Erstens, die Domäne erstreckt sich nicht auf die Pronomina der 1. und 2. Person; zweitens, im Zusammenhang mit anaphorischen Verwendungsweisen kann es Schwankungen zwischen eher syntaktisch-genusbezogenen und eher semantisch-sexusbezogenen Zuordnungsmechanismen geben.
2.2.4. Kasus Als letzte grammatische Kategorie, hinsichtlich derer nach tradierter Auffassung die Personalpronomina des Deutschen in paradigmatische Beziehungen treten, ist schließlich die Kategorie 'Kasus' zu nennen. Diese unterscheidet sich insofern grundlegend von den bisher besprochenen Kategorien 'Person', 'Numerus' und (eingeschränkt) 'Genus' (die auch gern als Phi-Features zusammengefaßt werden, s.u.), als sie im Gegensatz zu diesen keine inhärente Kategorie bei Pronomina darstellt. Im Gegenteil, während die Spezifikation der Werte von Person, Numerus und Genus102 abhängig ist von referentiellen Gegebenheiten, wird der Wert der Kasus-Kategorie durch die Valenzeigenschaften syntaktisch übergeordneter Elemente bestimmt, d.h. hier spielen Rektionsbeziehungen eine Rolle, die vom jeweiligen verbalen (oder präpositionalen) Nukleus ausgehend auf die Aktanten, also auf die (pronominalen Argumente wirken. Die Kasus-Werte dienen demgemäß dazu, die unterschiedlichen Aktanten zueinander im Hinblick auf die Verbalhandlung in Beziehung zu setzen.103 Während die erstgenannten Kategorien also dem entsprechen, was von Anderson (1985)
100
Einen vergleichbaren Beleg zitiert auch Corbett (1991: 246). - Fries (2001: 137) weist daraufhin, daß hier womöglich nicht Belebtheit, sondern Sexusbezogenheit das adäquate Kriterium ist. 101 Vgl. auch oben Beleg (12) und Anm. 87. 102 Wie oben angedeutet ist jedoch der Genusbezug bei anaphorischen Pronominal Verwendungen, die zumindest zu einem Teil syntaktisch explizierbar sind, mitbestimmt durch das Genus des wiederaufgenommenen Nomens. 103 Eine solche Funktionsbestimmung gilt natürlich in erster Linie für die sogenannten 'grammatischen Kasus', doch sollte Vergleichbares auch für die davon ohnehin nicht klar abgrenzbaren 'semantischen Kasus' gelten (vgl. dazu Blake 1994: 32-35).
55
unter dem Begriff der 'inhärenten Kategorien' gefaßt wird, ist pronominaler Kasus wohl eher als 'relationale Kategorie' aufzufassen - ähnlich wie die verbale Diathese (Aktiv vs. Passiv usw. bei Verben):104 [A] given inflectional property may be an inherent one, in that it reflects a property whose domain is the inflectional word itself. This property may be one which contributes to the meaning of the word [...], like the difference between singular and plural; or it may be a totally arbitrary and meaningless one, such as (usually) membership in a particular inflectional class. For our purposes, the distinctive aspect of inherent categories is that they are not imposed by the structural position occupied by the word and they do not depend on the properties of other words in the structure. The second class of inflectional properties which we can distinguish is the set of relational categories, which reflect the position the word occupies in larger structures. (Anderson 1985: 172; Hervorhebungen im Original, HS)
Was die Werte der Kategorie 'Kasus' betrifft, so scheint in sehr vielen Sprachen zu gelten, daß bei Pronomina mindestens genauso viele morphologische Differenzierungen vorhanden sind wie bei Nomina. Dies hängt wohl mit Regularitäten beim Abbau von Kasussystemen zusammen: It is generally true that case distinctions are retained more on pronouns, especially clitic pronouns, than on nouns. (Blake 1994: 181)
So haben beispielsweise das Englische, das Niederländische und das Französische ihre nominalen Kasus verloren; die entsprechenden Relationen werden mit Hilfe von Präpositionen markiert. Im Bereich der Personalpronomina sind jedoch noch kasusbezogene paradigmatische Beziehungen vorhanden.105 - Auch im Deutschen ist die Markierung von Kasus-Oppositionen bei den Nomina stark zurückgegangen, doch wird dies zumindest teilweise aufgefangen durch korrespondierende Unterscheidungen im Bereich der Determinierer (Artikel usw.). Innerhalb des Pronominalparadigmas sind die (noch) vorhandenen Kasus-Distinktionen oft ungleichmäßig verteilt. So gilt beispielsweise für das Deutsche, daß in der Gegenwartssprache bei den drei zentralen Kasus-Werten 'Nominativ', 'Akkusativ' und 'Dativ' verschiedene Synkretismen vorliegen: sowohl Nominativ-Akkusativ-Neutralisationen (z.B. 3. Person Singular Neutrum und Feminin und 3. Person Plural) als auch Akkusativ-DativNeutralisationen (1. und 2. Person Plural). Daneben sind aber auch an bestimmten Stellen alle drei Kasus formal distinkt (1. und 2. Singular sowie 3. Person Singular Maskulin).106
104
Der nach Anderson dritte Typ von Kategorien ('Agreement'-Kategorien), deren 'eigentlicher Ort' ein anderes Wort ist und die lediglich 'zusätzlich' auftreten, kommt bei Personalpronomina nicht vor. - Zu einer Abgrenzung der drei Typen von Kategorien bei Verben im Deutschen vgl. Thieroff (1992: 11-14) (bei ihm als „Kategorisierungen" bezeichnet). Zur Abgrenzung der verwandten Konzepte von 'Rektion' und 'Kongruenz' vgl. z.B. Eisenberg (1999: 32-36). 105 Über diachrone Entwicklungen von Kasussystemen (und ihrer Interdependenz mit adpositionaler Markierung) vgl. z.B. Blake (1994: 163-185). - Zum diachronen Abbau der Dativ-AkkusativOpposition in den Pronominalsystemen der germanischen Sprachen vgl. Howe (1996: 105-118). 106 Nominativ-Dativ-Neutralisationen scheinen in der Germania generell nicht vorzukommen (vgl. Simon 1997b: 235f.). - Für eine detaillierte Diskussion der pronominalen Kasusmorphologie in gegenwärtigen deutschen Varietäten vgl. Howe (1996: 262-276).
56 2.3. Art und Ort der Markierung der Kategorien
Neben Fragen nach der Funktion der grammatischen Kategorien und ihrem internen Aufbau stellt sich auch das Problem, wie und vor allem wo die Kategorien jeweils in der Grammatik zu verorten sind. Ist also z.B. die Kategorie 'Determiniertheit' eine Kategorie des Nomens (entsprechende Differenzierungen werden in skandinavischen Sprachen per Nominalsuffix zum Ausdruck gebracht) oder eine Kategorie des Determinierers (in einer Artikelsprache wie dem Deutschen erfolgt die Varianz an dieser Stelle)? Bei der Beantwortung von Fragen dieser Art werden formalsyntaktische Argumente ebenso herangezogen wie semantisch-funktionale. - In den vorhergehenden Abschnitten habe ich mich bei der Behandlung der grammatischen Kategorien Person und Numerus genauso wie bei Genus und Kasus auf eine Analyse der Personalpronomina gestützt. Ein solches Vorgehen ist nicht selbstverständlich. In der neueren germanistischen (und in der deutschsprachigen allgemeinlinguistisch orientierten) Literatur ist es nämlich weithin üblich, die Person-NumerusKonstellationen einer Sprache anhand der Verbalflexion und nicht anhand des Pronominalparadigmas abzuhandeln. In den meisten Fällen wird diese Methode nicht explizit begründet; vielmehr wird ihre Richtigkeit stillschweigend vorausgesetzt. 107 Doch genau diese Annahme gilt es zu hinterfragen. Der entscheidende Punkt ist dabei eben, an welcher Stelle im Satz die Kategorien Person und Numerus lokalisiert sind. Anders formuliert: Sind Person und Numerus verbale oder nominale Kategorien? - Nur in seltenen Fällen nennen Autoren mögliche Gründe für einen verborientierten Ansatz. So argumentiert beispielsweise Wiese (1994: 169-174), daß erstens in manchen Fällen gar kein Pronomen, von dem die Kategorien ausgehen könnten, in einem Satz steht (z.B. bei Imperativen), daß zweitens Nomina (bzw. volle Nominalphrasen) nicht sinnvoll als hinsichtlich Person spezifiziert werden könnten und daß drittens die Morphologie der Pronomina keine ausreichende Numerusspezifikation zuläßt. - Andererseits betrachten manche Autoren die verbale Flexion nach Person und Numerus lediglich als Epiphänomen, das allein durch Kongruenz mit dem Subjektpronomen zustande kommt. 108 In einer solchen Sichtweise ist die verbale Flexion relativ uninteressant, das Entscheidende sind Oppositionen innerhalb des Pronominalsystems. Auch im Falle dieser Kontroverse scheint es mir günstig, gewissermaßen einen Schritt zurückzutreten und das Problem von einem weiten, typologisch informierten Blickwinkel aus zu betrachten. Im Grunde handelt es sich nämlich um die Frage nach dem morphosyntaktischen Verhältnis von Subjekten (und Objekten) von Sätzen zu den jeweiligen (verbalen) Prädikaten. 109 Als zwei Extremfalle von paradigmatischer Organisation können hier 107
S o z.B. Redder (1992: 129-132), Wunderlich/Fabri (1995: 245ff.), Fries (1997: 61-64) und Bredel/Lohnstein (2001). 108 S o beispielsweise Colliander (1998: 122f.) und Duden (1998: 186f.). 109 D a s Phänomen der Objektkonjugation lasse ich im folgenden außer acht, da es für die auf das Deutsche bezogene Problemstellung keine weiteren Aufschlüsse gewährt. Das gilt auch fur Fälle, in denen Subjekt- und Objektkonjugation gemeinsam mittels Portmanteauaffixen an transitiven Verben kodiert wird. - Für ein Beispiel wie komplex die verbalen Paradigmen bei mehrfacher Aktantenkonjugation werden können vgl. Ebert (1994: 22-29 u. Appendix A l S. 140-143) für die Kiranti-Sprachen (Ost-Nepal); auch z.B. diverse Kaukasus-Sprachen sind für reiche Morphologie in diesem Bereich bekannt (vgl. Helmbrecht 1996 und Lazard 1998 für Übersichten).
57
einerseits das Italienische (Abb. 15) und andererseits das Schwedische (Abb. 16) genannt werden: 110 Abbildung 15: Verbalflexion nach Person-Numerus im Italienischen Italienisch 'schlafen'
Singular
Plural
1. Person
(io) dormo
(noi) dormiamo
2. Person
(tu) dormi
(voi) dormite
3. Person
(lui/lei) dorme
(loro) dormono
Abbildung 16: 'Verbalflexion' nach Person-Numerus im Schwedischen Schwedisch 'arbeiten'
Singular
Plural
1. Person
jag arbetar
vi arbetar
2. Person
du arbetar
ni arbetar
3. Person
han/hon/den/det arbetar
de arbetar
Die offenkundige Differenz der beiden Verbparadigmen besteht darin, daß im Italienischen in allen Paradigmenzellen unterschiedliche Verbformen stehen, während im Schwedischen ein und dieselbe Form in allen sechs Zellen auftaucht. Anders ausgedrückt heißt das, daß im Italienischen (zumindest was den Indikativ Präsens betrifft) das Verb alle drei Personen und die beiden Numeri unterschiedlich kennzeichnet, wohingegen im Schwedischen keinerlei Verbflexion hinsichtlich Person und Numerus feststellbar ist. 111 Damit geht die Tatsache einher, daß im Italienischen - im G e g e n s a t z zum S c h w e d i s c h e n - die Personalpronomina in Subjektfunktion optional sind; sie werden nur gesetzt, wenn sie besondere Betonungsfunktion (Kontrastfokus o.ä.) haben. 112 Während also im Italienischen die Last der Person-Numerus-Markierung durch die Verben getragen wird und die Prono110
Daten nach Lepschy/Lepschy (1986: 139-141 und 170; dort etwas differenzierter im Pronominalbereich) bzw. Viberg/Ballardini/Stjärnlöf (1987: 17). Es sind jeweils die Formen des Indikativ Präsens (Aktiv) mitsamt den zugehörigen Subjektpronomina aufgelistet; die Klammerung im Italienischen symbolisiert die prinzipielle Weglaßbarkeit im Satzzusammenhang. 111 Wohl aber hinsichtlich anderer Kategorien, z.B. 'Tempus': arbetaderRAT. Die Nicht-Anzeige von Person und Numerus gilt im Schwedischen im übrigen sogar für die Kopula vara (d.i. är bzw. var), was insofern bemerkenswert ist, als Kopulaverben in anderen Sprachen häufig mehr Distinktionen aufweisen als Vollverben (vgl. z.B. das Englische). Selbst im Schwedischen ist die vollkommene Nicht-Flexion der Verben nach Person und Numerus jedoch Ergebnis eines erst jüngeren Sprachwandels. 112 Diese Charakteristik hat im Rahmen der Generativen Grammatik unter dem Stichwort 'pro-dropParameter' viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen (vgl. z.B. die Beiträge in Jaeggli/Safir 1989b). Allerdings besteht wohl keine direkte Eins-zu-Eins-Korrelation zwischen 'Reichtum' der Verbflexion und Weglaßbarkeit pronominaler Subjekte (wie Jaeggli/Safir 1989a: 26-29 anhand verschiedener Sprachen demonstrieren; vgl. auch Cysouw 2001: 51-53). - Andere Zusammenhänge von 'reicher' Verbflexion einerseits und verschiedenen syntaktischen Eigenschaften andererseits bleiben hier außer acht (stellvertretend fiir die große Masse an Literatur seien nur Stanek 1995 fiir entsprechende generative Interpretationen von Verbstellungsfragen in der Germania sowie Bobaljik 1997 für einen Vorschlag zur Parametrisierung der germanischen Sprachen genannt; ausführlich zu den nordgermanischen Sprachen vgl. Holmberg/Platzack 1995).
58 mina lediglich zusätzlich verstärkende Funktion haben, sagen die Verben im Schwedischen gar nichts über entsprechende kategorielle Spezifikationen aus. Die Markierung der grammatischen Kategorien ist deshalb auf die Pronomina angewiesen." 3 Das Deutsche befindet sich in einer Zwischenstellung zwischen diesen beiden Extremen: Abbildung 17: Verbalflexion nach Person-Numerus im Deutschen Deutsch
Singular
Plural
1. Person
ich arbeite
wir arbeiten
2. Person
du arbeitest
ihr arbeitet
3. Person
er/sie/es arbeitet
sie arbeiten
An den durch Kursivierung, Unterstreichung bzw. Fettdruck hervorgehobenen Stellen sind synchron gesehen Formenneutralisationen sowohl bei den Verbformen als auch beim Pronomen sie zu verzeichnen. 114 Insgesamt lassen sich in der Kombination Pronomen-Verb aber alle Neutralisationen auflösen. Im Standarddeutschen der Gegenwart sind die Subjektpronomina obligatorisch (außer natürlich, wenn das Subjekt durch eine volle Nominalphrase repräsentiert ist). - Was die historischen Stufen des Deutschen betrifft, so hat sich entgegen Annahmen der älteren Forschung 115 gezeigt, daß zumindest in den durch Belege abgesicherten Epochen - von durch die Überlieferungsstruktur bedingten Ausnahmen abgesehen - die Setzung des Subjektpronomens weitgehend notwendig war." 6 Die Situation in den gegenwärtigen Dialekten ist demgegenüber teilweise verworrener; es gibt Ansätze zu pro-drop-Phänomenen; eine umfassende syntaktische Analyse aller Daten steht noch aus. 117 Wenn man nun von einem stärker funktional - oder wenn man so will: pragmatisch fundierten Grammatikbegriff ausgeht, dann sind Art und Ort der Markierung einer Kategorie von sekundärer Bedeutung. Entscheidend ist vielmehr, 'wo die Kategorie interpretiert wird', d.h. von welcher Strukturstelle im Satz aus die kategoriellen Unterscheidungen ihre Wirkung entfalten. Und da scheint es so zu sein, daß Person und Numerus als Verbalkategorien in erster Linie die Funktion haben, Bezug zu nehmen auf jeweils unterschiedlich festzulegende Mengen von Referenten, die als verbale Aktanten fungieren (im Deutschen diejenigen, die die Subjektrolle tragen). Mit anderen Worten, durch unterschiedliche Per-
113
Für eine Übersicht über die verschiedenen Typen von (Kongruenz-)Markierungen an Verben in den europäischen Sprachen s. Faarlund (1998: 161). 114 Im Präteritum und bei starken Verben wären andere Paradigmen mit teilweise anderen Neutralisationen anzusetzen. - Sollten sich die Überlegungen von Leiss (1994: insbesondere S. 286ff.; allgemein zu ihrem theoretischen Ansatz auch Leiss 1997a) zur kognitiven Basis der Morphologie als haltbar erweisen, so wären die angeführten Neutralisationen natürlich alles andere als zufällig. 115 Vgl. die Zitate in Eggenberger (1961 : IX-XI). 116 Vgl. dazu auch die zusammenfassende Diskussion in Wolf (1981: 96). 117 Vgl. z.B. Körner (1984), Werlen (1994: 66f.), Abraham (1995: 535), Cooper (1995), Simon (1998: 142f.). - Für vergleichbare Erscheinungen in niederländischen und friesischen Dialekten vgl. zusammenfassend Zwart (1993: 255-258). Vgl. auch Börjars/Chapman (1998) für eine Argumentation im Hinblick auf manche englischen Dialekte.
59 son-Numerus-Spezifikationen kann auf unterschiedliche Aktanten referiert werden, die Semantik der Verbalhandlung bleibt davon weitgehend unberührt. 118 Unter einer solchen Perspektive unterscheiden sich die erwähnten Sprachen zwar sowohl im Hinblick auf ihre Morphologie (Flexionsreichtum des Verbs) als auch in bezug auf ihre Syntax (Subjekt-Verb-Kongruenz, Obligatorizität des Subjektpronomens), nicht jedoch in der Eigenschaft, Person und Numerus als Kategorien ausgebildet zu haben, die über Aktanten operieren und deshalb als (pro-)nominal angesehen werden können. Bei Sprachen wie dem Deutschen - und in noch stärkerem Maße dem Schwedischen - hängt aufgrund der obligatorischen Setzung von pronominalen Subjekten die Person-Numerus-Spezifikation an genau diesen Subjekten. Im Italienischen - und vielen vergleichbaren Sprachen wie Spanisch, Russisch etc. 119 - tragen die Pronomina auch die entsprechenden Werte. Da diese aber im unmarkierten Fall fehlen, ist man auf die korrespondierenden Verbalformen angewiesen, an denen die Kategorien - in gewisser Hinsicht sekundär - ebenfalls zu finden sind; vgl. dazu oben Abb. 15.120 Sie bilden dort an einer Stelle, wo sie 'nicht primär hingehören', eine sogenannte 'versetzte Kategorie'. 121 - Die hier vorgestellte Konzeption ist auch kompatibel mit der oben (Anm. 104) erwähnten Vorstellung von Thieroff (1992: 11), wonach Person und Numerus als Kongruenz- und nicht als inhärente Kategorien bei Verben aufzufassen sind. 122 Die Tatsache, daß bei Verben die Kategorien Person und Numerus einen anderen Status haben als Kategorien wie Aspekt, Tempus oder Modus wird auch bestätigt durch morphologische Evidenzen, die Bybee (1985) herausgearbeitet hat. Demnach weisen Morpheme, die die erstgenannten Kategorien repräsentieren, weitaus seltener Fusionserscheinungen mit dem Verbstamm auf als diejenigen, die die verb-inhärenten symbolisieren (S. 36f.). In morphologisch komplexen Verbformen erscheinen Person und Numerus auch meist peripher, d.h. vom Stamm jeweils am weitesten entfernt (S. 34f.). Schließlich tendieren sie zur Fusi-
118
Mit dem Vokabular des Minimalistischen Programms der Generativen Grammatik (Stand: Mitte der 1990er Jahre) ließe sich dieser Sachverhalt aus syntaktischer Sicht folgendermaßen formulieren: Diejenigen „interpretable features" - und das sind u.a. die „φ-features on nouns" (Chomsky 1995: 278), also Person, Numerus und Genus -, die als „head features" der Subjektpronomina fungieren, treten in eine „checking"-Relation zu ihren verbalen Entsprechungen. Und genau sie werden dann auch auf LF interpretiert - weil nicht „erased" -, während ihre Pendants beim Verb im Zuge des „checking" „deleted" werden. Vgl. dazu auch die Einfuhrung in das entsprechende Satzmodell von Radford (1997: hier insbesondere S. 170ff.). - Mittlerweile wird in diesem Zusammenhang weniger von 'Merkmalüberprüfung' als von 'Merkmalübereinstimmung' gesprochen; eine entsprechende Argumentation, die den derzeitigen Stand der Theorie zusammenfaßt, liefert Grewendorf (2002: 158-178 und 306ff.). 119 Auch das Französische würde in der Sicht mancher Autoren in diese Reihe gehören, vgl. dazu die Analyse von Kaiser (1992). 120 Aus diesem Grunde spricht die Optionalität der Subjektsetzung auch nicht gegen das Obligatorizitätskriterium für grammatische Kategorien aus Abschnitt 2.1, denn: daß die Kategorien markiert werden, steht außer Zweifel, nur wo sie markiert werden, variiert. 121 Für unterschiedliche Beispiele solcher „catégories déplacées" aus mehreren Sprachen vgl. Mel'iuk (1994a: 21-23). Vgl. auch die in Abschnitt 2.1 erwähnten Fälle von 'tempusflektierenden' Pronomina. 122 Dem entspricht KuryJowiczs (1964: 28) Redeweise von „[syntactical categories" im Gegensatz zu „semantic categories".
60 on, d.h. zur gemeinsamen morphematischen Repräsentation mittels Portmanteauformen, die nicht weiter untergliedert werden können. 123 Der innere Zusammenhang der beiden Typen von Person-Numerus-Markierung (mittels Pronomen bzw. am Verb) wird im übrigen auch bestätigt durch die vielfach nachgewiesenen diachronen Übergänge zwischen beiden. So gehört die Entwicklung von freien Personalpronomina über diverse Zwischenstufen (z.B. klitische Pronomina) zu Kongruenzaffixen zu den Standardbeispielen der Grammatikalisierungsforschung. 124 Doch auch der umgekehrte Fall, bei dem sich aus einem kongruenzanzeigenden Verbaffix ein freies Subjektpronomen entwickelt, scheint - wenn auch weitaus seltener - belegt zu sein. 125 Ein möglicher Einwand gegen eine Analyse der Kategorien Person und Numerus unter Bezug auf Daten aus dem System der Personalpronomina könnte lauten, daß bei den Pronomina gar keine Morphologie im engeren Sinne vorhanden ist. Von seltenen Ausnahmen abgesehen (vgl. oben in Abb. 10 das Chinesische, das zumindest in bezug auf Numerus affigiert), sind Paradigmen von Personalpronomina nämlich stark suppletiv aufgebaut. 126 Nun ist Suppletion ein grammatisches Konzept, das in die meisten Modelle der theoretischen Morphologie schwierig zu integrieren ist. Für die Personalpronomina, insbesondere unter Berücksichtigung der Semantik der Pluralformen der 1. und 2. Person, schlägt Mel'cuk (1994b: 387f.) vor, sie als „different and derivationally unrelated lexemes" aufzufassen. 127 Teilt man diese Meinung, dann könnte man leicht geneigt sein, die Behandlung solcher Formen aus der Grammatik im engeren Sinne auszuschließen und sich statt dessen doch auf die verbale Morphologie zu konzentrieren. Jedoch ist es nicht ausgeschlossen, solche Formen in eine Theorie der Flexionsmorphologie einzubeziehen - dann nämlich, wenn man ein realisationales Modell wie das von Zwicky (1990) anvisierte zugrunde legt: 128 I have treated inflection as the realization of grammatical category features on individual lexemes, and I now propose that particle lexemes are also realizations of grammatical category features pure combinations, in fact, of syntactic and grammatical category features, with no other semantics. [...] [T]he English personal pronoun lexemes like WE and IT are particle-lexeme representatives of a subcategory of nouns, with no semantics beyond that associated with this subcategory and with the grammatical categories of person and number. (Zwicky 1990: 230f.)
123
Hagège (1990: 306, Anm. 3) macht anhand mehrerer Turksprachen darauf aufmerksam, daß bei Person und Numerus solche kumulative Exponenz, die eigentlich den flektierenden Sprachtyp definiert, selbst in ansonsten „'perfectly agglutinative' languages" vorkommt. 124 V g l . z.B. Givón (1976: 154ff. u. 184), Corbe» (1995: 1235-1238) und Lehmann (1995a: 40-42; auf S. 55 ist eine Übersicht zum entsprechenden 'cline' abgebildet). 125 Bybee/Perkins/Pagliuca (1994: 13f.) führen entsprechende Daten aus Dialekten des Irischen an (vgl. dazu auch Russell 1995: 88f.). - Weitere mögliche Fälle von derartiger 'Demorphologisierung', die der Unidirektionalitätsannahme der Grammatikalisierungstheoretiker widersprechen, werden z.B. in Joseph/Janda (1988) besprochen. 126 Allerdings sind im submorphemischen Bereich trotz allem gewisse Muster zu erkennen - vgl. Howe (1996: insbesondere S. 15-59) im Anschluß an ältere Literatur (insbesondere Pike 1965) fur entsprechende Analysen zu den germanischen Sprachen. 127 Für das Verständnis seines Suppletionsbegriffs ist neben dem zitierten Aufsatz auch die Systematisierung in Mel'éuk (1997: 369-392) aufschlußreich. 128 Generell können morphologische Modelle, die das Konzept des Paradigmas in den Mittelpunkt der Überlegungen rücken, gut mit pronominalen Formen umgehen (vgl. hierzu z.B. die Arbeiten in Plank (1991b).
61 Theoretische Überlegungen dieser Art ermöglichen grundsätzlich die Nutzung von suppletiv organisierten Paradigmen von Personalpronomina bei der Behandlung von Fragen nach grammatischen Kategorien. Da im Deutschen die (pro-)nominale Subjektbesetzung ohnehin obligatorisch ist und angesichts der engen Verzahnung der im Zusammenhang mit der deutschen 'Respekt'-Kategorie wichtigen Anredeformen mit syntaktischen Prozessen wie pronominaler Anaphorisierung 129 bietet es sich an, die Kategorien an ihrem 'eigentlichen' Ort (und also nicht im Verbalbereich) zu studieren. Entsprechend werde ich bei der Analyse des Respekts im Deutschen die Personalpronomina in den Mittelpunkt stellen; die korrespondierende Verbalmorphologie ziehe ich nur in zweiter Linie heran. 130
2.4. Z u s a m m e n f a s s u n g zu den pronominalen Kategorien
In der vorhergehenden Diskussion grammatischer Kategorien haben sich folgende Grundcharakteristika als zentral herausgestellt: Diejenigen Oppositionen, die in formbezogenen Regeln 'an der Oberfläche' sichtbar zum Ausdruck gebracht werden müssen, d.h. die in paradigmatische Relationen eingehen, bilden das grammatische Grundgerüst einer Sprache. Sie werden als 'grammatische Kategorien' bezeichnet. Den formalen Gegensätzen entsprechen jeweils (im weiteren Sinne) 'funktionale' Gegensätze. Diese erfüllen neben gelegentlich rein relationalen, d.h. innersyntaktischen Aufgaben auch 'bedeutungsrelevante', referentielle Funktionen, und zwar entweder sozusagen aus sich selbst heraus (inhärent) oder nur im Zusammenhang mit einer Opposition an einer anderen Stelle im Satz (Kongruenz). Jede der grammatischen Kategorien hat eine ihr speziell zugewiesene Domäne, die von Sprache zu Sprache stark variieren kann. Ein zweiter Variationsbereich betrifft die Anzahl und Art der einzelnen Werte, bezüglich derer eine Kategorie spezifiziert werden kann, d.h. zwischen denen sich der Sprecher in einem gegebenen Verwendungszusammenhang zu entscheiden hat. Die grammatischen Kategorien, von denen traditionellerweise angenommen wird, sie seien diejenigen, die als Domäne die Personalpronomina im Deutschen haben, sind Person, Numerus, Genus und Kasus. Während Kasus als vornehmlich relational bestimmbar ist, sind die ersten drei als inhärente Kategorien der deutschen Pronomina zu kennzeichnen. Bei Genus gilt hier allerdings eine doppelte Einschränkung: Zum einen operiert Genus nur über Pronomina der 3. Person Singular, zum anderen gilt nur für deiktische Verwendungen, daß sie inhärent determiniert sind (gemäß Sexus), denn in anaphorischer Verwendung ist die Nähe zur Kongruenz unverkennbar. Was die Werte der einzelnen Kategorien betrifft, so läßt sich für das System der Personalpronomina in der deutschen Standardsprache der Gegenwart festhalten: Wie m der Logik ihrer Definition angelegt, hat die Kategorie 'Person' drei Werte, die im Deutschen - wie in der überwiegenden Mehrzahl der Sprachen - mit den Gesprächsrollen folgendermaßen korrelieren: Sprecher = Ί . Person'; Adressat = '2. Per-
129
Vgl. dazu die oben in Abschnitt 1.1.2 angesprochenen Forschungsmeinungen sowie die diachrone Studie in Kapitel 4. 130 Wobei die grammatiktheoretischen Ergebnisse meiner Untersuchung (vgl. Kapitel 6) für das Verbalsystem und das Pronominalsystem gleichermaßen gelten.
62 son'; Unbeteiligter = '3. Person'. Eine Inklusiv-Exklusiv-Unterscheidung ist im Standarddeutschen nicht nachzuweisen. 131 Die Kategorie 'Numerus' besitzt lediglich die Werte 'Singular' und 'Plural', so daß bei Pronomina und bei numeralen Nomina - außer bei generischem Gebrauch - eine Einzahl-Mehrzahl-Opposition besteht. Die Kategorie 'Genus', deren pronominale Domäne auf die Formen der 3. Person Singular beschränkt ist, richtet sich bei anaphorischer Verwendung in erster Linie nach dem Genus des Bezugsnomens bei Anaphorisierung von 'hybriden Nomina' und bei deiktischer Verwendung der Personalpronomina (hier insbesondere bei den ¿-Formen) kann die Sexus-Eigenschaft des Referenten durchschlagen. Mit der im vorstehenden Kapitel durchgeführten Analyse der grammatischen Kategorien, die im System der deutschen Personalpronomina eine Rolle spielen, sollte die Grundlage gelegt werden für eine Behandlung der 'höflichen' Anredepronomina des Deutschen. Bevor jedoch deren diachrone Entwicklung und ihre synchronen grammatischen Eigenschaften genauer betrachtet werden können, wird es nützlich sein, sich ganz allgemein klar zu machen, wie sich die 'psychosoziale' Kategorie 'Höflichkeit' sprachlich manifestiert, d.h. in welchen sprachlichen Strukturen sie ihren Ausdruck findet. Insbesondere ist dabei von Interesse, welchen Niederschlag die Höflichkeit in der Grammatik einer Sprache hat. Eine solche Bestimmung soll das folgende Kapitel unter Bezugnahme auf die anthropologisch-linguistische und die grammatische Literatur leisten; dabei werden diejenigen Sprachen im Vordergrund stehen, die in der bisherigen theoretischen Diskussion eine prominente Rolle gespielt haben.
131
S. dazu aber die Diskussion zum Bairischen in Abschnitt 5.2.1.2.
3. Höflichkeit und Respekt
„Man sieht nur, was man weiß." - Wer sich mit einer in einer bestimmten Denktradition nicht etablierten Erscheinung bzw. der Konzeptionalisierung einer solchen beschäftigen will, der sollte sich vorher ungefähr klar machen, was er eigentlich sucht. Dazu kann es hilfreich sein, sich Rat bei anderen Denkrichtungen oder Disziplinen zu holen, bei denen die anvisierte Konzeption bereits behandelt wird. Aus diesem Grunde werde ich im vorliegenden Kapitel verschiedene Sprachen vorführen, bei deren grammatischer Beschreibung bereits seit längerer Zeit mit Begriffen wie 'honorific forms', 'respect' o.ä. gearbeitet wird. Dabei kann Vollständigkeit keinesfalls angestrebt werden - weder was die Vielfalt der vorhandenen grammatischen Mittel noch was die Vielfalt der jeweiligen Funktionalisierungen betrifft. Statt dessen soll durch die exemplarische Behandlung einzelner Erscheinungen solcher 'Respekt'-Systeme gezeigt werden, welche Typen von Phänomenen grundsätzlich erwartet werden können. Bevor man zur grammatischen Analyse der einschlägigen Erscheinungen schreiten kann, ist es gemäß der methodologischen Überlegungen von Bybee (1985: 191) erst einmal notwendig, den 'weltseitigen' Hintergrund der betreffenden Kategorie zu erkunden und einzugrenzen: In explicating grammatical categories, the linguist tries to define the general conceptual domain covered by the category and tries to determine how this domain is divided by the members of the category.1
Es sollte deshalb zunächst geklärt werden, welcher Typ von 'Bedeutung' durch die 'Respekt'-Kategorie eigentlich kodiert wird. Dazu werde ich in einem ersten Abschnitt das Schrifttum zum Thema Höflichkeit sichten. Insofern es sich auch hier quasi nur um eine Unterfiitterung der anschließenden grammatischen Analyse handeln kann, werde ich lediglich die für die spätere Arbeit relevanten grundlegenden Forschungseinsichten skizzieren und mich dabei in erster Linie auf diejenigen Konzeptionen beschränken, die in der linguistischen Literatur rezipiert, diskutiert und weiterentwickelt worden sind. 2 Die weitverzweigte Forschung im Bereich der Psychologie, Soziologie und Anthropologie werde ich weitgehend außer acht lassen.
1
2
Ein vergleichbares Vorgehen schlägt auch beispielsweise Householder (1955: 94f.) vor: „the first step in a study of any grammatical category would be to learn how to recognize a category when you see one. [...] The normal linguistic procedure is to suspect the presence of such a set [of forms defining a paradigm; HS], then to formulate a set of defining characteristics, then to determine the class-membership so defined, and finally to set up the semantic contrasts involved, from which the categories follow." Insbesondere ist dabei an das überaus einflußreiche Modell von Brown/Levinson (1987) zu denken; s.u.
64 3.1. Höflichkeit
Fundamental für die Erfassung des Phänomens 'Höflichkeit' ist das Verständnis der psychologischen Konzepte im Bereich der Eigen- und Fremdmodellierung menschlicher Individuen. Innerhalb der Kulturellen Anthropologie wird davon ausgegangen, daß zu unterscheiden ist zwischen zwei einander w i e die beiden Seiten einer Medaille ergänzenden Spielarten der psychischen Verfaßtheit des Individuums: The self refers to a proposed universal human awareness of one's own individual embodiment, while the person is a social concept made up of local notions of one's rights and obligations, and hence varies crossculturally. (Foley 1997: 262f.; dort S. 261 auch ausführliche Literaturangaben) Demgemäß besteht neben einem 'Selbst'-Konzept, das sich auf die 'Eigen'-Konstante im raumzeitlichen Kontinuum bezieht, ein je nach soziokultureller Umgebung variierendes Modell der eigenen 'Person', das nur in einer fortwährenden Interrelation mit der sozialen Umwelt - den anderen 'Personen' - denkbar ist. D.h. die hier gemeinte 'Person' konstituiert sich im eigentlichen Sinne erst im Verhältnis zum Anderen. In der Spiegelung durch die anderen Individualpersonen wird das eigene individuelle Person-Konzept aufgebaut, bestätigt und gegebenenfalls verändert. 3 Die Schnittstelle, an der die Person eines Individuums mit den Personen der anderen Individuen interagiert, wird durch das sogenannte 'Face' gebildet. 4 Dieses wurde folgendermaßen in die Theoriebildung eingeführt: The term face may be defined as the positive social value a person effectively claims for himself by the line others assume he has taken during a particular contact. Face is an image of self delineated in terms of approved social attributes. (Goffman 1955: 213; Hervorhebung im Original, HS) In ähnlicher Weise bestimmen Brown/Levinson (1987: 61) das Face allgemein als „the public self-image that every member [of a society] wants to claim for h i m s e l f . Was in dieser Begriffsbildung mitschwingt, ist das alltagspsychologische Verständnis, das durch Worte und Redewendung wie das Gesicht wahren, Gesichtsverlust usw. 5 repräsentiert 6 wird. Wichtig ist auch hier,
3
4
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Die solcherart explizierte Vorstellung von 'Person' darf natürlich keinesfalls mit der oben in Abschnitt 2.2.2 diskutierten Auffassung, wie sie im Rahmen der Grammatiktheorie üblich ist, verwechselt werden. In Anlehnung an die terminologiekritischen Ausführungen von Held (1995: 63f., Anm. 39) behalte ich hier den englischen Terminus als Fachbegriff bei. Er ist in der Höflichkeitsforschung spätestens seit der intensiven Auseinandersetzung mit der Arbeit von Brown/Levinson (1987) als solcher etabliert. Dagegen konnte sich keine der vorgeschlagenen Übersetzungen wirklich durchsetzen (vgl. die von Held angeführten Beispiele); am weitesten verbreitet dürfte noch 'Image' sein, das in der direkten deutschsprachigen Goffman-Rezeption verwendet wurde (vgl. z.B. Goffman 1991 und Holly 1979). Entsprechende Formulierungen gibt es im übrigen in einer Reihe weiterer Sprachen. Neben der bereits zitierten Literatur ist für eine prägnante Diskussion des Face-Konzepts aus linguistischer Sicht z.B. auf Hudson (1996: 113-115 u. 230-232) hinzuweisen.
65 daß face ein inhärent interaktives Konzept ist, welches erst in der Begegnung und daher aus der Perspektive des jeweiligen ANDEREN seine Daseinsberechtigung und Sinnhaftigkeit erhält. (Held 1995: 62; Hervorhebungen im Original, HS) Face spielt bei allen Arten von sozialer Interaktion eine Rolle. Im Streben nach einem gut funktionierenden sozialen Miteinander ist es für alle Individuen notwendig, daß sie bei ihren Handlungen stets beachten, welchen Einfluß diese Handlungen jeweils auf das eigene Face und auf das Face anderer Interaktanten haben. Maintaining face is not the goal of social interaction. Rather, it is a necessary background for it to continue. Incidents that threaten the face of a participant also threaten the survival of the relationship. Thus, when events challenge the face of a participant, corrective processes called face-work are initiated to avoid embarrassment that might interfere with the conduct of the relationship. (Snyder 1977: 118)7 Die so verstandene 'Face-Arbeit' ist dabei noch nicht unbedingt an Sprache gebunden; sie ist Teil eines umfassenderen Konzepts von sozialer Interaktion. In besonderem Maße gelten die Face-Erwägungen jedoch bei kommunikativen Handlungen. Für jegliche Art von Kommunikation ist nämlich über den konkreten Sprechakt hinaus, der auf ein spezifisches Handlungsziel zusteuert, gewissermaßen noch eine zweite Ebene bei der Analyse einzuziehen: Auf ihr wird fortwährend - mehr oder weniger verdeckt - verhandelt, wie die Kommunikationspartner zueinander stehen bzw. wie sie wollen, daß der jeweils andere denkt, daß sie zueinander stehen bzw. wie sie wollen, daß der andere denkt, daß sie selber denken, wie sie zueinander stehen usw. In der deutschsprachigen gesprächsorientierten Linguistik werden die hier einschlägigen pragmatischen Phänomene im Anschluß an die Arbeit von Watzlawick/Beavin/Jackson (1969) unter dem Begriff des 'Beziehungsaspekts' diskutiert.8 Auf diesem Strukturlevel werden also die jeweiligen FaceAnsprüche der Kommunikationspartner gegeneinander abgeglichen und zueinander ins Verhältnis gesetzt. 9 Wenn nun jedes (kommunikative) Verhalten dazu führen kann, daß auf der Beziehungsebene Verschiebungen der Face-Verhältnisse stattfinden, dann werden in jeder Gesellschaft Mechanismen nötig sein, die es ihren Mitgliedern ermöglichen, trotz alledem noch 'gut miteinander auszukommen', d.h. zu verhindern, 'daß jemand sein Face verliert'. Und in der
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In der zitierten Arbeit wird das Face-Konzept zusammen mit anderen Modellen in den größeren Kontext des „impression management" eingebettet. Vgl. dazu die grundlegenden Arbeiten von Holly (1979), Sager (1981) und Adamzik (1984) sowie zusammenfassend Adamzik (1994). Von Polenz (1988: 222-230) unterzieht einige authentische Texte einer Analyse hinsichtlich des Beziehungsaspekts. Was hier genau unter 'Kommunikation' verstanden werden soll, ist für die Frage des Beziehungsaspekts im übrigen irrelevant. Es macht im Grunde wenig Unterschied, ob man jedwede Handlung darunter fassen will, denn irgendwie ist alles Handeln interpretabel im Hinblick auf die Beziehung der Interaktanten (eine solche Auffassung scheinen beispielsweise Watzlawick/Beavin/ Jackson 1969 zu vertreten), oder ob man zwischen bloßer 'Information' einerseits und mit bestimmten Verstehensprozessen korrelierter 'Kommunikation' andererseits unterscheiden will (wie dies beispielsweise Keller 1995 tut; auch Adamzik 1994: 361 definiert 'Beziehung' „als gedeutete Menge von Verhaltensweisen" (Hervorhebung im Original, HS)). - Vgl. auch Hörmann (1988: 31 Off.) und Helfrich/Wallbott (1980) für Erörterungen in bezug auf nichtsprachliche Kommunikation; bei letzteren findet sich auf S. 268 auch eine Systematisierung der verschiedenen Typen von nonverbalem Verhalten, die deutbar sind.
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Tat scheint ein solches faceschützendes Verfahren in allen Kulturen zu existieren; es wird mit dem Begriff der 'Höflichkeit' gefaßt. 1 0 Diese kann folgendermaßen bestimmt werden: Höflichkeit ist ein sprachliches oder nichtsprachliches Verhalten, das zum normalen Umgang der Menschen miteinander gehört und den Zweck hat, die Vorzüge eines anderen Menschen indirekt zur Erscheinung zu bringen oder ihn zu schonen, wenn er vielleicht nicht vorzüglich sein will. (Weinrich 1986: 24) Im Anschluß an die 'Ritual'-Metaphorik von G o f f m a n " spricht Watts (1992: 56) der H ö f lichkeit die Funktion zu, „to symbolise the sacred nature o f the social person". 12 U m die verschiedenen (mehr oder weniger stark ritualisierten) Strategien zu klassifizieren, die angewendet werden können, um Rücksicht auf das Gegenüber (oder auf andere Personen) zu nehmen, differenzieren Brown/Levinson (1987: 61) zwischen z w e i Arten von Face: -
positive face: the positive consistent self-image or 'personality' (crucially including the desire that this self-image be appreciated and approved of) claimed by interactants negative face: the basic claim to territories, personal preserves, rights to non-distraction - i.e. to freedom of action and freedom from imposition
Hudson (1996: 114) beschreibt diese beiden Untertypen von Face folgendermaßen: 1 3 Solidarity-face is respect as in I respect you for..., i.e. the appreciation and approval that others show for the kind of person we are, for our behaviour, for our values and so on. If something threatens our solidarity-face we feel embarrassment or shame. Power-face is respect as in I respect your right to..., which is a 'negative' agreement not to interfere. [...] When our power-face is threatened we feel offended. Die Grundidee von Brown/Levinson besteht darin, daß diesen beiden Spielarten von Face j e w e i l s unterschiedliche 'Bedürfnisse' zu eigen sind, die durch entsprechendes höfliches Verhalten befriedigt werden wollen. Sie charakterisieren die beiden Bedürfnis-Varianten folgendermaßen: the want of every member that his wants be desirable to at least some others [positives FaceBedürfnis]; the want of every 'competent adult member' that his actions be unimpeded by others [negatives Face-Bedürfnis] (Brown/Levinson 1987: 62)
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Ich beziehe mich dabei in wesentlichen Punkten auf denjenigen Gedankengang, der von Held (1995: 68ff.) als das „GRICE-GOFFMAN-Paradigma" bezeichnet wird. Dort findet sich auch eine umfassende Auseinandersetzung mit der Forschungsgeschichte zum Thema Höflichkeit. - Seither haben beispielsweise Haferland/Paul (1996) weiterführende Überlegungen zum Thema Höflichkeit angestellt und einige grundlegende Konzepte einer kritischen Betrachtung unterzogen. - Einen Vergleich der wichtigsten linguistischen Höflichkeitsauffassungen liefert Lavandera (1988). Vgl. dazu Held (1995: 92f.). Daß (übertriebene) Höflichkeit gewissermaßen auch in ihr Gegenteil umschlagen kann und eher als Aggression charakterisiert werden sollte, wurde mehrfach gezeigt; vgl. z.B. Cherubim (1999). Wenngleich die sich an Brown/Gilman (1960) (dazu s.o. Abschnitt 1.1.1) anlehnende terminologische Neuerung Hudsons durchaus geeignet wäre, die möglicherweise irreführenden, weil wertenden Konnotationen von 'positive' und 'negative' zu verhindern, bleibe ich im folgenden bei letzteren, da sie in der Literatur sehr weit verbreitet sind. - Weitere Terminologien referiert Held (1995:74, Anm. 47).
67 Folgt man diesem Modell von Höflichkeit, dann besteht ihr Wesen darin, bestimmte sprachliche Strategien anzuwenden, um dem Adressaten zu signalisieren, 14 daß man ihn mag, ihm wohlgesonnen ist, mit ihm in einem solidarischen Verhältnis steht (positive Höflichkeitsstrategien) bzw. daß man sein Territorium respektiert, ihm nicht zu nahe tritt, ihm kommunikative Ausweichmöglichkeiten einräumt (negative Höflichkeitsstrategien). Sowohl bei den positiven wie bei den negativen Strategien sind jeweils mehrere Unterstrategien zu unterscheiden, die Brown/Levinson (1987) im Hauptteil ihrer Untersuchung (S. lOlff.) anhand einer Vielzahl von Beispielen - meist aus dem Englischen, dem Tamil (Dravidisch, Süd-Indien/Sri Lanka) und dem Tzeltal (Maya-Sprache, Mexiko) - exemplifizieren. 15 Ich werde im folgenden kurz einige dieser Strategien mit deutschen Beispielen illustrieren. An positiven Höflichkeitsstrategien können dabei u.a. folgende Typen angeführt werden (vgl. die Übersicht Brown/Levinson 1987: 102): -
„Use in-group identity markers." (S. 107ff.): Dazu zählen neben bestimmten Anredeformen wie z.B. Liebling oder Altes Haus auch Kosenamen. Ebenso können allgemeine Variablen, wie umgangssprachliche Ausdrucksweise (bis hin zum Extremfall des CodeSwitching) oder (nach)lässige Sprechweise (phonologische und syntaktische Reduktionsformen), als Zeichen der Zugehörigkeit zur selben sozialen Gruppe eingesetzt werden. - „Seek agreement." (S. 112f.): Durch das Eingehen auf und Bestätigen von Äußerungen und Meinungen des Adressaten kann die Gemeinsamkeit der Kommunikationsbasis betont werden. - „Presuppose/raise/assert common ground." (S. 117ff.): Auch die Bereitschaft zu inhaltlich quasi irrelevantem Small Talk kann vom Adressaten als Solidaritäts- und Gemeinsamkeitssignal gedeutet werden. In diesen Bereich fallt auch z.B. das (pseudo-) mitfühlende, manchmal so genannte 'Krankenschwestern-wir', bei dem so getan wird, als bildeten Sprecher und Hörer eine personale Gemeinschaft: Na, wie geht 's uns denn heute? oder Haben wir heute unsere Medizin schon genommen? - „Offer, promise." (S. 125): Selbst wenn ein Versprechen kein ernstgemeintes sein sollte - und auch alle Beteiligten dies wissen oder spüren - , so kann dadurch doch das positive Face-Bedürfnis nach 'freundschaftlicher Gemeinsamkeit' befriedigt werden. Ein solcher Fall liegt beispielsweise in einem als Abschiedsfloskel gesprächsabschließenden Satz vor, wie Wir telefonieren miteinander..., den jemand nach einer nur zufälligen kurzen Begegnung mit einem entfernteren Bekannten äußert und dann doch nie anruft.
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Streng genommen wird dabei nicht nur dem Adressaten etwas signalisiert, sondern jedem Rezipienten der Äußerung (also auch zufälligen Hörern, unbeteiligten Anwesenden usw.). Für die Signifikanz dieser Einschränkung vgl. unten den Abschnitt 3.2.1. - Darüber hinaus kann das Ziel der Höflichkeit womöglich auch ein gar nicht 'realer' Gesprächsteilnehmer sein, sondern ein lediglich mit einem solchen verbundener Bewohner der 'spirituellen Welt' (vgl. Bing 1993 für Spekulationen in diese Richtung anhand einer Studie zu einer westafrikanischen Kru-Sprache). Durch die Streuung der untersuchten Sprachen soll demonstriert werden, daß es sich bei den behandelten Strategien keineswegs um kulturell kontingente Erscheinungen handelt, sondern daß sie einen gewissen Grad an Allgemeinheit für sich in Anspruch nehmen können.
68 Brown/Levinson nennen u.a. folgende negative Höflichkeitsstrategien (vgl. ihre Übersicht S. 131): - „Be conventionally indirect." (S. 132ff.): Mit dieser Strategie werden die überaus wichtigen indirekten Sprechakte angesprochen. So wird durch die bloße Feststellung Hier zieht 's. kein Hörer auf eine Handlungsobligation festgelegt, wie dies bei Schließen Sie das Fenster, der Fall wäre, wodurch ein höflicher Schutz des negativen Face des Adressaten gewährleistet ist. - „Question, hedge." (S. 145ff.): Unter diese Strategie fallen alle Verfahren, bei denen der Sprecher sich vorsichtig äußert, sich zurücknimmt, seiner Äußerung weniger illokutives Gewicht beimißt. Hierzu gehören z.B. Wörter, die die Sicherheit einer Assertion einschränken wie ziemlich in Ich bin ziemlich sicher, daß... und oder in Das ist ein schönes Auto, oder? - „Minimize the imposition." (S. 176ff.): Bei dieser Strategie spielt der Sprecher die Last herunter, die er dem Adressaten durch die Äußerung aufbürdet, z.B. in Ich bin in zwei Minuten zurück. - „Give deference." (S. 178ff.): Zu den Möglichkeiten, seine Ehrerbietung auszudrücken, zählen neben den im nächsten Abschnitt noch ausführlich zu behandelnden strukturell verankerten 'honorifics' (d.i. Honorativ-markierten Formen) auch Bescheidenheit signalisierende selbsterniedrigende Verfahren, bei denen sich der Sprecher als wenig kompetent darstellt, wie beispielsweise in der Antwort auf eine Gratulation Ach, und ich war ziemlich sicher, daß ich durchgefallen bin. - „Apologize." (S. 187ff.): Durch entschuldigende Floskeln kann der Sprecher kommunizieren, daß es ihm unangenehm ist, auf den Adressaten einzudringen: Entschuldigen Sie die Störung, aber...·, Ich Icrieg das alleine nicht geregelt, deshalb bitte ich Sie. - „Impersonalize." (S. 190ff.): Indem beispielsweise durch Passivierung die Aktanten nicht direkt genannt werden, wird auch auf niemanden direkt referiert: Der Betrag soll bis zum kommenden Monatsersten überwiesen werden. Darüber hinaus besteht noch die Möglichkeit zu sogenannten „off-record"-Verhalten (S. 21 Iff.). Der facebedrohende Sprechakt wird derart indirekt und verklausuliert zum Ausdruck gebracht, daß weder Sprecher noch Adressat auf eine genaue Interpretation festgelegt werden können (wie in der Feststellung Hier zieht 's. als Ausdruck der Bitte, das Fenster zu schließen). 16 Die auf das positive Face abzielenden Höflichkeitsstrategien haben in erster Linie einen allgemein-solidaritätsstiftenden Charakter. Sie scheinen dabei insgesamt wenig strukturellen Einfluß auf die Sprache zu haben. Demgegenüber wirken die negativen Strategien systematisch auf das sprachliche Verhalten der Kommunikationspartner ein und können langfristig unter Umständen sogar Einfluß auf die Sprachstruktur, d.h. auf die Grammatik einer Sprache gewinnen. 17 Aus diesem Grunde soll ihre Funktionsweise nun genauer dargestellt werden.
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Vgl. auch Meibauer (1999: 115) für eine Exemplifizierung von Brown/Levinsons Modell anhand der höflichen Möglichkeiten, „wie ich einen Kuli bekomme." Manche Arbeiten zur Höflichkeitsforschung beschränken sich im übrigen auf die Betrachtung dieser negativen Variante (so z.B. Bublitz 1980), was dadurch gerechtfertigt zu sein scheint, daß
69 Die Hauptfunktion negativer Höflichkeit besteht darin, dem Adressaten zu verstehen zu geben, daß er sich nicht bedrängt zu fühlen braucht und daß sein Territorium keineswegs bedroht ist. Das bedeutet nicht, daß der Adressat nicht verstehen soll, was 'wirklich' die Intention des Sprechers ist. Der Rezipient einer mittels einer negativen Höflichkeitsstrategie kodierten Äußerung versteht im allgemeinen sehr wohl, worin die illokutionäre Kraft des Geäußerten liegt, denn er kann mit einem die Indirektheit einkalkulierenden Verrechnungsverfahren die 'eigentliche' Intention des Sprechers ermitteln. Das entscheidende Verbindungsglied bilden dabei die sogenannten konversationeilen Implikaturen, wie sie seit Grice (1975) 18 diskutiert werden. Demnach wäre es zum Zwecke der reinen Informationsübertragung am effizientesten, wenn sich Sprecher beim Produzieren ihrer Äußerungen an mehrere von Grice benannte Konversationsmaximen halten würden. Zu diesen zählen die Maximen der Quantität (z.B. „Sage genau soviel, wie gerade wichtig ist."), der Qualität (z.B. „Sage nur, was du für wahr hältst."), der Relation („Sage nur, was relevant ist.") und der Art und Weise (z.B. „Sprich unzweideutig, ohne Weitschweifigkeit usw."). 19 Nun gibt es aber in der Alltagskommunikation eine große Anzahl von Äußerungen, die auf den ersten Blick so scheinen mögen, als seien sie unsinnig oder irrelevant etc. Die Kommunikationspartner gehen aufgrund des zugrunde liegenden Kooperationssprinzips in solchen Fällen - bis zum endgültigen Beweis des Gegenteils - davon aus, daß sich ihr jeweiliges Gegenüber dennoch grundsätzlich rational und kooperativ verhält. Mit anderen Worten, sie überprüfen alle Äußerungen darauf, ob in ihnen nicht doch ein Sinn stecken mag. Die Differenz zwischen dem 'wörtlich Gesagten' und dem 'Gemeinten' wird über die konversationelle Implikatur abgedeckt. 20 Doch warum sollte ein Sprecher überhaupt vom Weg der maximalen Effizienz abweichen und eine umständlichere Prozedur wählen? Die Antwort liegt darin begründet, daß es neben der schlichten Mitteilung von Inhaltlichem noch weitere gewichtige Aspekte von Kommunikation gibt, nämlich z.B. die oben angesprochene Beziehungsebene: [S]uch examples suggest an awareness that deviations from clarity (CIs [d.i. conversational implicatures; HS]) tend to occur, especially in their more blatant forms, in order to observe more important principles. Clarity and rationality, in this view, are desiderata in communication, but less so than the maintenance of smooth personal interactions via politeness. So if the most direct and logical communication threatens to compromise the latter, CI will be the result, even at the cost of obscurity. (Lakoff 1995: 5)
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diese auch in unserem Alltagsverständnis von 'Höflichkeit' die vorherrschende, wenn nicht gar definierende Rolle spielt. Dieser Aufsatz ist gemeinsam mit weiteren einschlägigen Arbeiten des Autors nachgedruckt in Grice (1989); vgl. dort insbesondere auch die neueren Überlegungen S. 368-372. Auf Ansätze, die diese Maximen auf eine einzige reduzieren wollen, muß im vorliegenden Zusammenhang nicht näher eingegangen werden (vgl. z.B. Sperber/Wilson 1995). Für eine genaue Definition der konversationellen Implikatur und eine Darstellung der entsprechenden Verrechnungsprozedur vgl. Levinson (1983: 113f. u. 135); vgl. mit leicht anderer Akzentuierung auch Levinson (1979). - Levinson (2000) diskutiert das Implikaturen-Konzept sehr differenziert und geht dabei auch ausfuhrlich auf syntaktische Zusammenhänge ein (insbesondere S. 261-365), zu 'Implikatur und Höflichkeit' s. S. 407f., Anm. 2 u. 5). - Wie wiederholtes Ausnutzen von Implikaturen ganz allgemein zu semantischem Wandel führen kann, zeigen Traugott/ Dasher (2002), dort S. 226-278 Genaueres zur Diachronie von Höflichkeitsmarkierungen im Japanischen (und Englischen).
70 In ähnlicher Weise bestimmt auch Keller (1995: 202-218) im Rahmen einer KostenNutzen-Rechnung die Vor- und Nachteile indirekten Sprechens: Die Wahl des direkten Wegs wird in vielen Fällen als sub-optimal zu beurteilen sein. Die direkt formulierte Äußerung ist zwar im allgemeinen gut verständlich, aber kommunikativ oft weniger erfolgversprechend. Eine direkt formulierte Bitte oder Aufforderung dürfte in manchen Situationen weniger Chancen haben, erfüllt zu werden als eine indirekte, per Implikatur formulierte. (S. 218) 2 1
Der Zusammenhang von Gricescher Maximenverletzung und Höflichkeit kann darüber hinaus auch in die andere Richtung gelesen werden, worauf Brown/Levinson (1987: 95) hinweisen: The whole thrust of this paper is that one powerful and pervasive motive for not talking Maximwise is the desire to give some attention to face. [...] Politeness is then a major source of deviation from such rational efficiency, and is communicated precisely by that deviation. (Hervorhebung im Original, HS)
Das bedeutet, daß Sprecher gegen die Maximen verstoßen, weil sie höflich sein wollen, und durch ihren Verstoß drücken sie auch genau diesen ihren Wunsch aus. Auch im theoretischen Bezugsrahmen der Sprechakttheorie ist der Zusammenhang von Indirektheit und Höflichkeit thematisiert worden. 22 Anhand eines von Searle (1975) ausfuhrlich diskutierten Beispiels lassen sich die einzelnen Analyseschritte, die der Rezipient eines höflichen indirekten Sprechakts vollzieht, nachzeichnen. Das zu analysierende Beispiel ist der Satz (1), der an einem Essenstisch geäußert wird: (1)
Können Sie mir das Salz reichen?
In seiner wörtlichen Bedeutung verstanden, ist (1) eine Frage nach den Fähigkeiten des Adressaten: 'Sind Sie in der Lage, mir das Salz zu reichen?'. In den allermeisten Situationen wird dies eine 'überflüssige' Frage sein; die prinzipiellen und die aktuellen Fähigkeiten, das Salz reichen zu können, stehen wohl kaum zur Debatte. 23 Wenn man trotzdem das Kooperationsprinzip unterstellt, so kann eine solchermaßen formulierte Frage, die oberflächlich betrachtet die Relevanzmaxime verletzt, nur heißen, daß 'eigentlich' etwas anderes gemeint ist. Aufgrund seiner Welt- und Situationskenntnis ist es dem Rezipienten möglich zu erkennen, daß in der Frage eigentlich eine (zurückhaltend formulierte) Aufforderung steckt. 24 Der Sprecher hat mit seiner Frage lediglich geprüft, ob die 'Glückensbe-
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Überlegungen dieser Art haben im übrigen dazu geführt, daß Leech (1983) das Höflichkeitsprinzip zum Dreh- und Angelpunkt seiner pragmatischen Theorie gemacht hat. Vgl. hierzu aber auch die skeptischere Haltung von Verschueren (1985: 461). So verweist Searle (1975: 74) pauschal auf „politeness" als „chief motivation" für indirekte Formen. Etwas differenzierter geht Franck (1975: 225, Anm.) auf die mutmaßlichen Funktionen indirekter Sprechakte ein: Sie erwähnt im Zusammenhang „vorwiegend protektiver Taktiken der sozialen Interaktion" unter anderem „die Schaffung eines breiteren Fortsetzungs- bzw. Auswegpotentials für sich oder den Partner". Anders wäre die Angelegenheit u.U. im Falle einer Behinderung des Adressaten - z.B. mit einem eingegipsten Arm - zu interpretieren. Für eine explizite Analyse vgl. die schrittweise Dekodierung der Äußerungsbedeutung bei Searle (1975: 73f.).
71 dingungen' eines prospektiven Aufforderungsakts erfüllt wären. 25 Eine solche Interpretation kann im übrigen durch das Einfügen von bitte noch nähergelegt werden. 26 (2)
Können Sie mir bitte das Salz reichen./?
Der höfliche Charakter einer Äußerung wie (1) oder (2) kommt nun dadurch zustande, daß das negative Face des Adressaten geschützt wird. Eine direkte Aufforderung w i e in (3) zöge eine Beschränkung des Handlungsfreiraums des Adressaten nach sich - der Adressat müßte sich konkret irgendwie dazu verhalten, entweder indem er die geforderte Handlung vollzieht oder indem er das Ausfuhren der Handlung explizit verweigert. (3)
Reichen Sie mir (bitte) das Salz.
Dagegen ist eine Frage erst einmal nur eine Aufforderung, eine Auskunft zu erteilen. Konkretes nonverbales Handeln ist nicht gefordert. In diesem Sinne werden die negativen FaceBedürfnisse des Adressaten berücksichtigt. - Durch die Verwendung des Konjunktivs in (4) wird die Bedrohung des Adressaten-Face sogar noch weiter zurückgenommen: 27 (4)
Könnten Sie mir bitte das Salz reichen.
Den Extrempunkt an Bedrohungs-Vermeidung dürfte wohl eine Äußerung wie (5) darstellen: 28 (5)
Die Suppe ist wenig gesalzen.
Durch eine solche Aussage legt sich der Sprecher auf keine konkrete Interpretation fest. Umgekehrt muß der Adressat dies auch nicht tun, er kann die Äußerung als eine lediglich informative begreifen. D i e Handlungsfreiheit keines der Interaktanten wird dadurch beschnitten, das negative Face aller bleibt gewahrt.
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In eine ähnliche Richtung läßt sich auch der Versuch von Levinson (1983: 356-364) verstehen, der aus Sicht der Konversationsanalyse die 'indirekten Sprechakte' als Prä-Sequenzen einer mehrzügigen Handlungssequenz analysiert, deren Funktion darin besteht, „to check out whether a request is likely to succeed, and if not to avoid one in order to avoid its subsequent dispreferred response, namely a rejection." bitte dient hier gewissermaßen als Indikator für eine Aufforderung (und damit für das Vorliegen eines indirekten Sprechakts). Vgl. die Bedeutungsparaphrase von Paul et al. (2002: 175, s.v. bitten): „Sprecher kennzeichnet seine Äußerung als höfliche Aufforderung und überläßt die Entscheidung über die Befolgung dem (zumeist sozial höheren oder kompetenteren) Hörer". Eine solchermaßen auf auffordernde Handlungen bezugnehmende Beschreibung trifft im übrigen nicht für den gesamten deutschsprachigen Raum zu: Zumindest in Österreich sind auch echte Entscheidungsfragen (z.B. Hast du bitte die Zeitung heute schon gelesen?) und einfache Assertionen (z.B. Ich bin bitte der neue Kollege.) ohne zwingende Uminterpretation zu Aufforderungen möglich; bitte fungiert hier lediglich als höflichkeitsindizierende Partikel. Hier scheint eine zusätzliche negative Höflichkeitsstrategie „Be pessimistic." zu wirken - vgl. Brown/Levinson (1987: 173f. u. 157f.) für Beispiele und weiterführende Literaturhinweise. Sie würde unter die von Brown/Levinson (1987: 211-227) beschriebenen Verfahren der „off record"-Verfahren fallen. - Diese Interpretation gilt allerdings nur unter der Maßgabe, daß der Adressat der Äußerung nicht der Koch der Suppe ist; in einem solchen Fall wäre ein Satz wie (5) sogar eher als grob unhöflich aufzufassen, weil der Sprecher den Adressaten auf von diesem zu verantwortendes Fehlverhalten aufmerksam macht.
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An diesem Punkt stellt sich die Frage, wieso eigentlich die beschriebenen Formen als weniger facebedrohend und damit höflich wirken können, w o doch allen Beteiligten klar ist, 'worum es eigentlich geht'. Der Schlüssel zum Verständnis höflichen Verhaltens liegt aber genau darin, daß es nicht darum geht, was real passiert (z.B. 'eine Aufforderungshandlung wird vollzogen'), sondern vielmehr darum, w i e die Leute miteinander umgehen. Wenn ein Sprecher den U m w e g über die indirekten Sprechakte geht (oder eine andere der Höflichkeitsstrategien verfolgt, von denen oben eine Auswahl aufgelistet wurde), dann signalisiert er damit dem Adressaten, daß er es der Mühe wert findet, zumindest metaphorisch Maßnahmen zu ergreifen, die dem Face-Schutz dienen. Allein in diesem zeichenhaften Tun steckt schon die höfliche Komponente. Der Entschlüsselungsvorgang beim Adressaten läuft ungefähr so: „Aha, der Sprecher sagt, daß p. Das kann er nicht meinen. Statt dessen meint er wohl q.29 Der Grund fur sein p-Sagen ist wohl darin zu suchen, daß er mein Face (oder seines oder das eines anderen) schützen will." Auch wenn die Ritualität der Höflichkeitsmaßnahmen erkannt wird, wirkt der Face-Schutz-Mechanismus weiterhin, 3 0 wenngleich sich der Effekt im Laufe der Zeit abschleifen kann. 31 Der schöne Schein genügt also. - In diesem Sinne ist wohl auch der Vers von Wilhelm Busch zu verstehen: Da lob ich mir die Höflichkeit Das zierliche Betrügen. Ich weiß Bescheid, du weißt Bescheid Und allen macht's Vergnügen. 32 Im Rahmen eines facebasierten Höflichkeitsmodells ist allerdings nicht von vornherein klar, worin die eigentliche Motivation für einen Sprecher liegen soll, höflich zu sein. Denn insbesondere negative Höflichkeitsstrategien zielen 'bloß' darauf ab, das Face einer anderen Person als der des Sprechers selbst, in erster Linie das des Adressaten zu schützen. Auch hier greift eine Idee, die auf der Grundannahme kooperativer Interaktion basiert.
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Hier fungieren die oben genannten Konversationsmaximen bzw. deren Verletzung sowie allgemeines Welt- und Situationswissen als Verständnisbrücken. Ich unterscheide an dieser Stelle also nicht wie Watts (1992) zwischen lediglich „politic", d.h. in einer gegebenen Situation erwartbarem und soziokulturell vorherbestimmtem Verhalten einerseits, und „polite", d.h. darüber hinausgehendem zusätzlichem Aufwand andererseits, sondern bleibe bei der in der Brown/Levinson-Tradition üblichen Begriffsbestimmung. Zu den diachronen Implikationen einer solchen Annahme vgl. unten Abschnitt 4.7. So zitiert als eines der vielen an den Rand gesetzten höflichkeitsrelevanten Aperçus in Stäblein (1993: 226). - Im übrigen zieht sich durch die gesamte Geschichte der Reflexion über Höflichkeit (in Europa) der Topos, Höflichkeit habe etwas mit dem 'Verschleiern der wahren Verhältnisse' zu tun. Am prägnantesten ist dieser Gedanke in der Stelle in Goethes Faust II formuliert, die auch die Titelgebung von Weinrich (1986) angeregt hat: „Du weißt wohl nicht, mein Freund, wie grob du bist? - / Im Deutschen lügt man, wenn man höflich ist." (Goethe 1888: 98; Vers 6770f.). - Daß diese Behauptung (mitsamt ihrer impliziten Bewertung) keineswegs nur auf den deutschen Sprachraum der Goethezeit beschränkt war, belegen mehrere der Essays in Stäblein (1993): So verfolgt Schneider (1993) entsprechende Wertungen im moralphilosophischen Diskurs in Deutschland und Frankreich durch die Jahrhunderte; Comte-Sponville (1993), Kristeva (1993), Stephan (1993) u.a. diskutieren den Wert von Höflichkeit in modernen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften. - Vgl. auch die Darstellung des barocken Diskurses über Komplimente und Lügen in Deutschland in Beetz (1990: 135ff.) sowie z.B. Woodman (1989: 17-29) für die Diskussion im England des 18. Jahrhunderts.
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Nach einer bereits im Neuen Testament festgehaltenen Regel 33 gehen die Sprecher davon aus, daß man jeweils so handeln sollte, wie man hofft, daß die anderen in derselben Situation handeln würden. Ein solches Motiv beschreibt auch Silverberg (1940: 522) in seiner psychoanalytischen Interpretation der Verwendung der höflichen deutschen Anredepronomina: [W]e may regard the ready acceptance of this language custom throughout society as a kind of social contract, an agreement not to excite the castration anxiety of one's fellows in return for receiving similar treatment from them. 34
Wer höflich gegenüber anderen ist, der hofft, daß diese es auch gegenüber einem selbst sein werden... Wie stark höflich man jeweils in einer gegebenen Situation ist, hängt nach Brown/Levinson vom 'Gewicht' des face-bedrohenden Akts ab: Je größer die 'Gefahr' für das Face des Adressaten bei einem gegebenen Kommunikationsziel ist, in um so höherem Maße müssen die Höflichkeitsstrategien angewendet werden, um diesen Umstand a b zugleichen. 35 In die diesbezüglichen Überlegungen gehen verschiedenerlei Faktoren ein. Zum einen zählen dazu soziologische Variablen, die den von Brown/Gilman (1960) behandelten ähnlich sind; es sind dies der Grad an sozialer Distanz bzw. 'Solidarität' der Interaktanten sowie das evtl. vorhandene Machtgefálle zwischen ihnen. Zum anderen wohnt allen Handlungen ein bestimmter Grad an 'Belastung* für den Adressaten inne. Wer (in westlichen Kulturen) jemanden um einen Gefallen bittet, der bedroht dessen negatives Face stärker als jemand, der jemandem etwas anbietet. Der Belastungsgrad durch eine Handlung wird also eher für eine gesamte Kulturtradition spezifisch bestimmt, während die beiden erstgenannten Variablen (Distanz und Macht) selbstverständlich auf individueller Ebene variieren. Trotz der großen Flexibilität, die dem Modell durch die genannten Variablen zukommt, und der Beschreibungs- und Erklärungsmächtigkeit, die durch eine Vielzahl von empirischen Studien bestätigt wurde, blieb auch das Face-Modell nicht unkritisiert. Die Hauptkritikpunkte, die gegen das Face-Modell nach Brown/Levinson vorgebracht wurden, richten sich zunächst auf konzeptuelle Grundannahmen; demnach sei der kognitive Status der Strategien und der Berechnungsprozedur unklar, d.h. es wird die Frage aufgeworfen, ob diese Schritte bei jedem Höflichkeitsakt durchlaufen werden müssen oder ob die Strukturen nicht bereits als solche prä-formiert sind. - Zweitens wurde in mehreren ethnolinguistischen Studien, die sich mit außereuropäischen Kulturen befassen, gezeigt, daß das Konzept von Face, wie es Goffman und Brown/Levinson vorschwebt, eines ist, das so nicht in allen
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35
Vgl. Matthäus 7,12 und Lukas 6,31. Dieser Aufsatz scheint übrigens die Grundgedanken des Face-Modells der Höflichkeit vorwegzunehmen - wenngleich im Theorierahmen und mit der Terminologie des orthodoxen Modells der Freudschen Psychoanalyse, so daß das später mit der Metapher des 'Face' benannte Konzept hier als 'Penis' mit all den entsprechenden psychosexuellen Konnotationen firmiert. Deshalb muß Silverberg (1940: 513, Anm. 5) auch beispielweise auf ein Konstrukt wie „the female's fantasy penis" zurückgreifen, um erklären zu können, daß auch Frauen höflich sind (für weiterfuhrende Hinweise zu diesem Konstrukt vgl. z.B. Mertens 1992: 107-109 und Laplanche/Pontalis 1996: 383-388). Wie dieses Gewicht 'errechnet' wird, soll die Formel-Notation und ihre Erläuterung in Brown/Levinson (1987: 74ff.) deutlich machen.
74 Kulturen wirksam ist. So konnte Nwoye (1992) nachweisen, daß bei den Igbo (BenueKongo, Südost-Nigeria) neben dem individualitätsorientierten Face, das jedem Mitglied der Gesellschaft zukommt, noch ein weiteres - sogar wichtigeres - gruppenbezogenes Face existiert, für das gilt: Group face [...] refers to the individual's desire to behave in conformity with culturally expected norms of behavior that are institutionalized and sanctioned by society. (Nwoye 1992: 313) 36
Drittens zeigt Duranti (1992), inwieweit Höflichkeit (bei ihm 'respect' genannt) in der traditionellen Kultur von Samoa nicht nur dazu dient, Faces zu schützen: [R]espect is not only given in exchange for something (e.g. request, impositions of various kinds), it is also a pragmatic force that coerces certain behaviors or actions upon people and thus indexes speakers' control over addressees rather than addressees' „freedom" of action. As any Samoan knows, RWs [d.i. respect words, HS] are not just means to say „sorry, but I must ask you x"; they are strategically powerful tools that can force others to assume particular social personae, to wear social masks from behind which it will be very hard to refuse what is requested. (Duranti 1992: 95f.; Hervorhebungen im Original, HS) 37
Und schließlich ist das Brown/Levinson-Modell zwar sicherlich geeignet, um zu zeigen, wie der Schutz des Face des Adressaten gewährleistet wird und somit der Abgleich der Bedürfnisse auf der Beziehungsebene zwischen Sprecher und Adressat. Jedoch ist es alles andere als klar, wie Formen höflichen Verhaltens in bezug auf einfach nur anwesende Personen oder in bezug auf Referenten, die durch bestimmte Ausdrücke denotiert werden, erklärt werden können. 38 - Ungeachtet dieser auf verschiedenen Ebenen an Brown/Levinson (1987) vorgebrachten Kritik werde ich mich im folgenden an geeigneten Stellen auf dieses Modell stützen. Denn erstens wiegen bei einem auf das Deutsche gerichteten Fokus nicht alle der Kritikpunkte gleichermaßen schwer und zweitens ist meines Wissens kein in vergleichbarer Fülle ausgearbeitetes Höflichkeitsmodell auf dem linguistischen Ideenmarkt. Die vorstehende Begriffsbildung und Diskussion bezog sich auf höfliches Sprachverhalten im allgemeinen. Es ging dabei um pragmatische Strategien, die zwar gegebenenfalls grammatische Phänomene integrieren (so involvieren z.B. manche der negativen Höflichkeitsstrategien Verschiebungen im Bereich der grammatischen Kategorien Modus, Genus verbi oder Numerus), doch insgesamt wurde der Bereich der Pragmatik nicht verlassen. Alle behandelten Erscheinungen sind optional, der Sprecher kann sie je nachdem, wie er die Situation (das Gewicht des facebedrohenden Akts) einschätzt, anwenden, variieren etc. 39 Im nächsten Abschnitt wende ich mich nun denjenigen Formen von Höflichkeit zu, die in einem engeren Sinne grammatisch sind. Ich erörtere die für mehrere nicht-indogermanische 36
37
38
39
Nwoye (1992: 310-312) referiert kurz weitere Studien, die unterschiedliche Face- (und Höflichkeits-)Konzeptionen in ostasiatischen Kulturen analysieren; auch Traugott/Dasher (2002: 228f.) erwähnen einschlägige Studien. Vgl. auch Keating (1998) für Beobachtungen anhand einer weiteren pazifischen Kultur, wo durch höfliches Sprachverhalten die Personen mit dem höchsten Sozialstatus in der Gesellschaft dazu gebracht werden, bestimmte Handlungen auszuführen. Zu diesen verschiedenen 'Dimensionen der Höflichkeit (bzw. des Respekts)' vgl. den folgenden Abschnitt. Daß manche der Erscheinungen hochgradig konventionalisiert sind (man denke an die indirekten Sprechakte), ändert an dieser Charakterisierung nichts Wesentliches. Auch die konventionelleren Formen der Höflichkeit stehen in keinem echt paradigmatischen Verhältnis zueinander.
75
Sprachen vorgeschlagene grammatische Kategorie 'Respekt', die als grammatikalisierte Form von Höflichkeit betrachtet wird. 40
3.2. R e s p e k t
In diesem Abschnitt werde ich die bislang vorliegende Literatur zum Thema 'Respekt' 4 1 sichten, um auf diese Weise konzeptuelle Bestimmungen und Anregungen fur die Analyse des Deutschen zu gewinnen. Dadurch soll zum einen die prinzipielle Möglichkeit einer aus traditionell-indogermanischer Sicht eher 'exotischen' grammatischen Kategorie demonstriert werden; gleichzeitig kann damit das funktionale und grammatische Variationsspektrum von Honorativformen aufgezeigt werden. Angesichts der Tatsache, daß Respekt im Gegensatz zu den in Kapitel 2 behandelten Kategorien (Person, Numerus usw.) von der grammatiktheoretischen Forschung eher stiefmütterlich behandelt wurde, 42 werde ich mich auf eine umrißhafte Skizze beschränken müssen. Es sollen lediglich die wichtigsten Punkte geklärt und anhand einiger relativ gut beschriebener Sprachen exemplifiziert werden. Eine umfassende, typologisch gut abgesicherte Darstellung von 'Respekt' steht trotz der Studie von Haase (1994) noch aus. 43 Die Grundcharakteristika der Respektkategorie und der Respektformen beschreibt Irvine (1992: 252) folgendermaßen: To say that honorifics are grammaticalized in a particular language is to say that expressions of deference, or of differential status-marking, are incorporated into the language's grammatical rules (rules which include its lexicon). Thus a system of grammatical honorifics is a system of alternate linguistic expressions which are isosemantic: having the same reference-and-predication values, they differ only in their pragmatic values (expressing degrees of deference, respect, or distance). That pragmatic value operates as part of sentence-meaning, not utterance-meaning. That is, in honorifics, deference is incorporated in the construction of the sentence per se, rather than depending upon how the sentence is deployed in its social or discourse context. (Note that the possibility of regular, sarcastic uses of honorifics depends on this condition.) 44 Die solchermaßen eingegrenzten Formen und die durch sie konstituierte Kategorie lassen sich vornehmlich hinsichtlich dreier voneinander unabhängiger Variablen typisieren: 40 41
42
43
44
So z.B. im Titel von Haase (1994). Diese Erscheinung wird unter unterschiedlichen terminologischen Labels gefaßt: Am weitesten verbreitet sind neben 'Respekt' und entsprechenden Zusammensetzungen insbesondere in der englischsprachigen Literatur solche, die mit dem Terminus 'honorification' und davon abgeleiteten Begriffen arbeiten, so z.B. die Überblicksartikel von Agha (1994) und Irvine (1995). - Ich nenne im folgenden die Kategorie 'Respekt' und ihre einzelnen Werte 'Honorativ' bzw. 'NonHonorativ'; dazu weiter unten mehr. Diese Marginalisierung der Respekt-Kategorie in der Grammatik-Forschung zeigt sich z.B. auch daran, daß Bybee (1985: 29) sie erst nachträglich in die Gruppe der zu untersuchenden Verbalkategorien aufgenommen hat. Vgl. hierzu die ausfuhrliche Rezension von Nicholas (1997, insbesondere S. 129f.); vgl. auch Ehrhardt (1997). - Agha (1994) und Irvine (1995) fassen die englischsprachigen Untersuchungen zu 'Respekt' (mit einem Schwerpunkt auf der anthropologischen Literatur) zusammen. Zum parenthetischen Hinweis vgl. auch Braun (1988: 46ff.).
76 erstens im Hinblick auf die Dimensionen des Respektziels, d.h. hinsichtlich derjenigen Person, gegenüber der die Höflichkeit des Respekts wirken soll, zweitens hinsichtlich der verschiedenen Grade an Respektwerten bzw. der Unterteilung der Respektkategorie in Einzelwerte, und drittens im Hinblick auf die Art der grammatischen Kodierung des Respekts in den jeweiligen Zeichenkörpern.
3.2.1. Dimensionen des Respektziels Hinsichtlich der beiden potentiellen Hauptziele, denen ein Sprecher seinen Respekt zollen kann, ist zu unterscheiden zwischen dem jeweiligen Adressaten einer Äußerung einerseits und einem Individuum in der Gesprächsrolle 'Unbeteiligter', auf das die Respektform referiert, andererseits. Bei ersterem Ziel handelt es sich um sog. Adressatenrespekt, „where politeness is shown to an addressee who is not referred to in the sentence" (Comrie 1976: A5). Der zweite Respekttyp umfaßt solche Formen, „where politeness is shown to someone other than the addressee referred to in the sentence" (Comrie 1976: A5). 45 Morphosyntaktisch besteht insofern ein Unterschied zwischen diesen beiden strikt zu trennenden Varianten von Respekt, als es bei ersterem nicht notwendig ist, daß ein Ausdruck im geäußerten Satz auf den zu ehrenden Adressaten referiert. Bei letzterem Respektziel hat dagegen genau dies der Fall zu sein: Die Respekterweisung kann in einem solchen Fall nur auf Entitäten abzielen, auf die die Honorativform referiert (bzw. eine damit assoziativ fest verknüpfte Größe wie z.B. Ehepartner, Besitzer etc.). 46 Ein klassisches Beispiel für eine Sprache mit Adressatenrespekt stellt das Japanische dar, wo die (a)- und (b)-Varianten der folgenden Sätze identischen denotativen Wert haben und sich lediglich in ihren Gebrauchsbedingungen unterscheiden: (6a) (6b)
(7a) (7b)
Taroo ga ki-ta. [Name] NOM komm-PRÄT Taroo ga ki-masi-ta. [Name] NOM komm-HON-PRÄT 'Taro kam.' (nach Shibatani 1990: 375) ame ga hut-ta. Regen NOM fall-PRÄT ame ga huri-masi-ta. Regen NOM fall-HON-PRÄT 'Es regnete.' (nach Harada 1976: 502)
Die Regeln, die festlegen, in welchen kommunikativen Situationen welche der Varianten (6a) oder (6b) bzw. (7a) oder (7b) zu verwenden ist, werden bestimmt durch das soziale Verhältnis von Sprecher und Adressat zueinander. Die soziale Relation in bezug auf dieje-
45
46
Mel'òuk (1994a: 189-191) nennt die beiden Varianten vielleicht nicht ganz glücklich „politesse" bzw. „respectivité". Zu dieser wichtigen Unterscheidung vgl. im Anschluß an Comrie ( 1 9 7 6 ) die Ausführungen von Levinson (1983: 89ff.) und Haase ( 1 9 8 9 , 1994: 3 0 - 3 3 ) - allerdings mit leicht anderer Schwerpunktsetzung bei der Definition der zwei Grundtypen.
77
nigen Entitäten oder Sachverhalte, auf die im Satz referiert wird (nämlich Taro bzw. das Regnen), ist dagegen für die Determination des Gebrauchs irrelevant. 47 In vergleichbarer Weise sind die Beispiele aus dem Baskischen 4 8 in (8) und (9) zu analysieren: 49 (8a) (8b) (8c) (8d)
(9a) (9b) (9c) (9d)
Pettek [Name].ERG Pettek [Name], ERG Pettek [Name].ERG Pettek
di-k. lan egin arbeitete AUX.3.ERG-NONHON.MASK lan egin di-n. arbeitete AUX.3.ERG-NONHON.FEM lan egin di-zü. arbeitete AUX.3.ERG-HON lan egin du. [Name].ERG arbeitete AUX.3.ERG 'Peter arbeitete.' (nach Oyharçabal 1993: 92f.)
bihar euria eginen di-k. morgen R e g e n . A B S wird_machen AUX.3.ERG-NONHON.MASK bihar euria eginen di-n. morgen R e g e n . A B S wird_machen AUX.3.ERG-NONHON.FEM bihar eginen euria di-zü. morgen R e g e n . A B S wird_machen AUX.3.ERG-HON bihar euria eginen du. morgen R e g e n . A B S wirdmachen AUX.3.ERG 'Morgen wird es regnen.' (z.T. nach Alberdi 1995: 277)
Auch hier sind die Varianten referenzsemantisch betrachtet identisch. In keinem Fall wird auf den Adressaten referiert. Die Wahl der Flexionsform des Auxiliars wird trotzdem durch die Sprecher-Adressaten-Relation determiniert: Bei einer Honorativrelation bezüglich eines einzelnen Adressaten wird (8c) bzw. (9c) verwendet. Liegt eine solche Relation nicht vor, dann gelten die weniger honorativen Varianten (8a) und (8b) bzw. (9a) und (9b), hier wird zusätzlich hinsichtlich des Sexus des Adressaten differenziert. Bei mehreren Adressaten (8d) und (9d) erfolgt keinerlei Unterscheidung; die Domäne des baskischen Adressatenrespekts ist also allein der Singular. Das zweite mögliche Hauptziel von Respekt stellt die Unbeteiligtenrolle dar. Bei diesem Verfahren wird die Respektkodierung durch die soziale Relation auf der SprecherUnbeteiligten-Achse bestimmt. Sie ist nur möglich, wenn auf den Unbeteiligten in irgend-
47
48
49
Besonders deutlich wird dies natürlich in Beispiel (7), wo eine sinnvolle soziale Relation des Sprechers zum dargestellten Sachverhalt überhaupt nicht denkbar ist. - Wenn selbst so sozial harmlose Aussagen wie 'Über-das-Wetter-Reden' bereits obligatorisch eine Einordnung gemäß einer Respekt-Skala verlangen, bedeutet dies umgekehrt betrachtet, daß „in such languages, it is almost impossible to say anything at all which is not sociolinguistically marked as appropriate for certain kinds of addressees only" (Levinson 1983: 90). Die Beispiele in (8) gehören genauer gesagt dem Souletin-Dialekt des Baskischen an, der hinsichtlich der zur Debatte stehenden Konstruktion die konservativste und systematischste Varietät respräsentiert (vgl. Oyharçabal 1993: 92f., Anm. 5f.). Bezüglich (9) gibt meine Quelle leider keine genaue dialektale Spezifikation an. Die Tiefe der morphologischen Analyse ist nicht in allen Fällen identisch, statt dessen hebe ich nur die an dieser Stelle relevanten Phänomene hervor; für weitergehende Segmentierungen vergleichbarer Wortformen vgl. z.B. Haase (1994: 50ff.).
78 einer Weise referiert wird. 5 0 Die Markierung erfolgt dabei häufig affixal unmittelbar an dem auf den Unbeteiligten referierenden Ausdruck. 51 Auch hier können Beispiele aus dem Japanischen zur Illustration dienen: 52 (10a)
(10b)
go-syuzin
wa
go-zaitaku
HON-Ehemann
TOP
HON-zuhause KOP.HON
desu
ka? Q
'Ist Ihr Mann zuhause?' syuzin wa gaisyututyuu desu. Ehemann TOP außerHaus KOP.HON 'Mein Mann ist außer Haus.' (nach Haase 1994: 62) 53
Neben dieser direkten Form der Höflichkeitserweisung sind jedoch auch indirekte Möglichkeiten zu verzeichnen: nämlich beispielsweise dann, wenn der Respekt nicht unmittelbar hinsichtlich der zu ehrenden Person ausgedrückt wird, sondern statt dessen im Hinblick auf Gegenstände, die der Respekt-Person gehören, von ihr hergestellt wurden, in ihrer Einflußsphäre liegen oder auf sonst eine Art mit ihr assoziativ verknüpft sind. Auch dies geschieht im Japanischen durch das „derivational beautificational prefix" (Kiefer 1998: 275), das zumindest im Prinzip an jedes Nomen (und z.T. auch an andere Wortarten) angefugt werden kann: 54 (11)
(12)
sensei no o-hanashi Lehrer GEN HON-Vortrag 'der Vortrag des Lehrers' (nach Miller 1967: 286) sensei wa o-wakai. Lehrer TOP HON-jung 'Der Lehrer ist jung.' (nach Shibatani 1990: 284)
Auch das Klassische Nahuatl (Aztekisch, Mexiko, 16./17. Jahrhundert) kennt die direkte ((13) und (14b)) und die indirekte (15) Kodierung von Unbeteiligtenrespekt mittels eines Affixes: 5 5 50
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52
53 54
55
Aus diesem Grunde wird dieser Typ von Respekt meist auch 'Referentenhonorifikation' genannt (z.B. von Comrie 1976: A4, Levinson 1983: 90, Haase 1994: 30). Eine solche Aussage ist stark vereinfachend, denn in vielen Sprachen können auch andere Markierungsmuster - z.B. Verbalperiphrasen im Japanischen - zur unbeteiligtenbeziiglichen Respektkodierung eingesetzt werden (vgl. dazu die Ausführungen weiter unten). An diesen Beispielen wird gleichzeitig deutlich, daß neben dem Unbeteiligtenrespekt, der hier mittels des Präfixes go- kodiert wird, im selben Satz auch Adressatenrespekt ausgedrückt werden kann - hier durch die suppletive Honorativform der Kopula desu gegenüber einer Normalform da repräsentiert. Die Daten stammen mit anderer Graphie und Glossierung aus Nagatomo (1986: 212). Die Form des Präfixes - also ob go- (Beispiel (10a)) oder o- (Beispiele (11) und (12)) - hängt in erster Linie von der Herkunft des entsprechenden Wortstammes ab: Sino-japanische Wörter selegieren fast ausschließlich das erstere Allomorph, nativ-japanische hingegen das letztere. Für genauere Angaben zu Verwendungsbedingungen und weitere Beispiele vgl. Miller (1967: 276ff.) und Harada (1976: 504f.) sowie die kultursoziologischen Beobachtungen von Mey (1989: 888f.). Greenberg (1991: 31 Of.) merkt an, daß das Präfix zumindest bei einzelnen Nomina mittlerweile desemantisiert wurde, d.h. seinen Status als Honorativmarker verloren hat (z.B. bei ocha 'Tee'; weitere Beispiele bei Coulmas 1987: 56). Für eine systematische Darstellung der Respektmarkierung des Klassischen Nahuatl vgl. Andrews (1975: 112-117 u. 159-162). - Die Etymologie dieses Affixes ist nicht geklärt: Heine u.a. (1993: 35) schreiben Stolz (1992: 261) zwar zu, er leite es diachron von einem Wort ab, das mit
79
(13)
(14a)
in Motéuczómà-tzin DET [Name]-HON 'der verehrte Moteuczoma' (nach Stolz 1992: 254) in
(14b)
In-tzin
DEM
DEM-HON
(15)
'dieser' (nach Andrews 1975: 181) í-técpan-cal-tzin POSS.3.SG-Palast-Haus-HON 'sein verehrter Palast' bzw. 'der Palast des Verehrten' (nach Stolz 1992: 256f.)
A u s d e n z i t i e r t e n Q u e l l e n ist n i c h t e i n d e u t i g e r k e n n b a r , o b i m K l a s s i s c h e n N a h u a t l d i e B i l d u n g v o n h o n o r a t i v e n A n r e d e p r o n o m i n a m ö g l i c h w a r . 5 6 In v e r s c h i e d e n e n D i a l e k t e n des h e u t e g e s p r o c h e n e n N a h u a t l ist e i n e s o l c h e p r o n o m i n a l e D i f f e r e n z i e r u n g j e d e n f a l l s n a c h z u w e i s e n , w o b e i a u c h h i e r d a s H o n o r a t i v s u f f i x -tzin
(bzw. eine
diachron-phonologisch
d a v o n a b l e i t b a r e F o r m ) v e r w e n d e t w i r d ; d i e s e s ist m i t t l e r w e i l e also ein e c h t e s R e f e r e n t e n honorativ.57 Neben den beiden bisher behandelten Typen von Respektzielen, dem Adressaten- und d e m U n b e t e i l i g t e n - / R e f e r e n t e n - R e s p e k t ist n o c h ein w e i t e r e r , e h e r seltener, f u r d i e T h e o r i e b i l d u n g j e d o c h n i c h t w e n i g e r w i c h t i g e r T y p zu n e n n e n : ' M i t h ö r e r ' - R e s p e k t . 5 8 Z u d e s s e n V e r s t ä n d n i s ist e i n e E r w e i t e r u n g d e s in A b b . 11 v o r g e s t e l l t e n v e r e i n f a c h t e n K o m m u n i k a t i o n s m o d e l l s nötig: A b b i l d u n g 18: R e s p e k t - r e l e v a n t erweitertes K o m m u n i k a t i o n s m o d e l l
(Mithörer)
Äußerung
(Unbeteiligte
56 57
58
'buttocks, a n u s ' glossiert wird; an der betreffenden Stelle findet sich jedoch gar keine entsprechende Aussage. Wahrscheinlich läge hier aber ohnehin eine Verwechslung mit einem durch Vokallängenkontrast unterschiedenen anderen Lexem tzin vor (vgl. Karttunen 1992: 314). Daß dennoch zwischen der von Heine u.a. hier vermuteten lexikalischen Bedeutung einerseits und Konzepten von 'Respekt' andererseits durchaus Korrespondenzen bestehen können, wird übrigens durch die Tatsache illustriert, daß Schubert (1983: 56) einen entsprechenden Zusammenhang für das gegenwärtige Isländische erwähnt. Stolz (1992: 261) scheint dies zumindest zu implizieren, führt aber kein Beispiel an. Vgl. Pittman (1948: 237), Buchler/Freeze (1966: 9Iff.), Buchler (1967: 38ff.) und Hill/Hill (1978: 127ff.). Letztere geben im übrigen eine detaillierte soziolinguistische Analyse des Gebrauchs von Respektformen mehrerer Sprechergemeinschaften des modernen Nahuatl (mitsamt morphologischen Hinweisen). Mit diesem Terminus übersetzt Haase (1994: 24 u. 31) den in der englischsprachigen Literatur üblichen Begriff 'bystander' (gelegentlich auch 'audience' genannt) (vgl. Comrie 1976: A5 u. A13, Levinson 1983:90).
80 Die Neuerung in diesem Modell besteht darin, daß eine weitere kommunikative Rolle angenommen wird, die - soweit ich sehe - einzig bei Respektphänomenen in einigen wenigen Sprachen grammatisch relevant wird. Die Ünbeteiligtenrolle war in Abschnitt 2.2.2 definiert worden als diejenige Person/Entität, die weder Sprecher noch Adressat einer Äußerung ist, sondern auf die lediglich mittels eines Ausdrucks innerhalb der Äußerung referiert wird. Demgegenüber soll unter einem Mithörer eine solche Person verstanden werden, die zwar ebenfalls nicht direkt am Sprechakt beteiligt ist, auf die aber auch nicht referiert wird. D.h. ein Mithörer in diesem Sinne ist eine zwar anwesende, jedoch nicht unmittelbar interagierende, sondern lediglich zuhörende Person, die im gegebenen Sprechakt keine Funktion hat. Wichtig ist dabei, daß ein Mithörer nur mit-hört, er ist nicht diejenige Person, an die der Sprecher seine Äußerung richtet. 59 Inwiefern wird diese Mithörer-Rolle nun relevant bei der Analyse von Respektsystemen? - In einer Reihe von Sprachen müssen Sprecher bestimmte Formen verwenden, falls eine bestimmte Person in Hörweite anwesend ist; wohlgemerkt, es genügt die Hörreichweite; ein Richten der Äußerung an diese Person oder ein Referieren darauf sind nicht notwendig. Die bekanntesten Beispiele für diesen Typ des Respekts liefern die sogenannten ' Schwiegermuttersprachen ' in einer Reihe von Sprachen Australiens. Mit diesem Terminus werden Varietäten von Aborigine-Sprachen belegt, die sich dadurch auszeichnen, daß sie exakt dieselben phonologischen, morphologischen und syntaktischen Eigenschaften haben wie die entsprechenden Alltags-Varietäten der jeweiligen Sprechergemeinschaften, aber ein mehr oder minder - eigenständiges Lexikon. Im Lexikon einer Sprache wie dem Dyirbal (Pama-Nyungan, Queensland/Australien) 60 gibt es also zwei disjunkte Klassen von Lexemen, die mit nur einer Grammatik behandelt werden. 61 Auf welche der beiden Lexemklassen ein Sprecher bei einer Äußerung zugreift, hängt davon ab, ob eine zu ihm in einer Tabu-Relation stehende Person anwesend ist, d.h. die Rolle eines Mithörers übernimmt. 62 Wenn dies der Fall ist, muß der Sprecher Wörter aus der 'Schwiegermutter-Varietät' wählen. 63 An dieser Stelle kann man sich fragen, ob die durch die australischen Schwiegermuttersprachen exemplifizierten Muster des Redens in Anwesenheit bestimmter Personen wirk59
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Angesichts des Status des Mithörers als Auch-Hörer wird klar, warum der in Abschnitt 1.2.1 erwähnte Gebrauch des Terminus 'Hörer' für die Rolle des Adressaten aus universalienorientierter Sicht abzulehnen ist. Oder dem geographisch nahe gelegenen, aber grammatisch stark divergierenden Yidiji (vgl. Dixon 1977: 501-507). Die Disjunktivität gilt nicht für die grammatischen Funktionswörter - sowie (im Dyirbal) auch nicht für genau vier Verwandtschaftsbezeichnungen, die beiden Lexemklassen angehören (vgl. Dixon 1990: 1). - In anderen Sprachen wie z.B. dem Guugu Yimidhirr (Pama-Nyungan, Queensland/Australien) (Haviland 1979) oder dem Gunwinggu (Arnhem Land/Australien) (Harris 1974) ist der lexikalische Überlappungsbereich zwischen den beiden involvierten Varietäten aber um einiges größer als im Dyirbal oder Yidiji. Wer genau in einer solchen Tabu-Relation steht, ist zumindest teilweise je nach Kultur variabel: Für das Guugu Yimidhirr beispielsweise nennt Haviland (1979: 3 83 f.) „actual or classificatory wife givers [and] grandchild's spouse"; vgl. auch Dixon ([1971] 1982: 68ff.) zum Dyirbal. Bzw. mußte, denn die traditionellen Sozialbeziehungen der betreffenden Aborigines sind durch diverse ethnische Vertreibungen, Zusammenlegungen usw. mittlerweile derart gestört, daß kaum mehr so große Sprechergemeinschaften der involvierten Sprachen vorhanden sind, als daß die Systeme intakt funktionieren könnten (vgl. Haviland 1979: 385 für daraus resultierende soziolinguistische Konsequenzen).
81
lieh unter den Begriff des 'Respekts' fallen, wenn unter diesem nicht Höflichkeit im allgemeinen, sondern lediglich die grammatikalisierten Varianten von Höflichkeit verstanden werden sollen. - Die Beantwortung einer solchen Frage hängt natürlich stark von der jeweils zugrunde gelegten Grammatiktheorie - insbesondere der Konzeption des GrammatikLexikon-Verhältnisses - ab. Denn es gibt wahrscheinlich in jeder Sprache Wörter mit unterschiedlichen Stilwerten, deren Gebrauch in Situationen unterschiedlichen Formalitätsgrades unterschiedlich sanktioniert ist. So kann z.B. im Englischen der Gebrauch von to sweat vs. to perspire in bestimmten Fällen auch auf mithörerbezogene Regeln zurückgeführt werden (vgl. Comrie 1976: B l , Anm. δ). 64 Der Unterschied zwischen den stilistischen Merkmalen lexikalischer Einheiten in den europäischen Sprachen einerseits und den Verhältnissen im Dyirbal andererseits besteht allerdings darin, daß in letzterer Sprache erstens die Verwendung der Schwiegermuttervarianten in einer genau spezifizierbaren Klasse von Situationen absolut obligatorisch ist (bzw. war) und zweitens die entsprechende Differenzierung praktisch für das gesamte Lexikon gilt (und nicht nur für einen relativ eng umgrenzten, in erster Linie mit körperlichen Eigenschaften und Funktionen u.ä. korrelierten Bereich). Zumindest eine weitere Sprache ist mir jedoch bekannt, bei der Mithörer-Respekt nachzuweisen ist: das Ponapeanische (Austronesisch, Mikronesien). In dieser Sprache werden neben der 'gewöhnlichen Sprache' zwei Respekt-Ebenen unterschieden, von denen die eine - „royal honorific" - dem Sprechen im Zusammenhang mit den höchsten Spitzen der Gesellschaft vorbehalten ist: Honorific speech, especially to royalty, is used not only in addressing superiors, but in any act of speech in their immediate presence. The use of royal honorifics is mandatory in speaking also of the two highest titles even in their absence. (Garvin/Riesenberg 1952: 203; die erste Hervorhebung stammt von mir, HS)
Wenngleich auch in dieser Sprache die „royal honorifics" in erster Linie durch ein bestimmtes Vokabular konstituiert sind, 65 so spielen hier doch vereinzelt morphologische Prozesse eine Rolle (vgl. Garvin/Riesenberg 1952: 205f.). 66 Wie immer man die Frage des Mithörer-Respekts beurteilen mag, festzuhalten bleibt, daß grundsätzlich zwischen zwei Hauptvarianten von Respektachsen unterschieden werden muß: Adressatenrespekt und Unbeteiligtenrespekt. In den indogermanischen Sprachen ist fast ausschließlich derjenige Respekt grammatikalisiert, der den Adressaten zum Ziel hat. 67 64
65 66
67
Vgl. auch Herbermann (1988: 155-158) für eine Diskussion von deutschen Beispielen für die 'Höflichkeits'-Sensitivität lexikalischer Einheiten. Vgl. Garvin/Riesenberg (1952: 207ff., mit einer Auflistung S. 218-220). Auf die weiterführende Problematik, inwieweit über die behandelten Dimensionen hinaus noch eine eigene „speaker and setting"-Relation anzusetzen ist (Levinson 1983: 90f.), kann ich an dieser Stelle nicht eingehen. Es scheint jedoch so zu sein, daß zumindest die von Levinson (1983: 91, Anm. 14) theoretisch angenommene Adressaten-Unbeteiligten-Achse tatsächlich als RespektAchse existiert (vgl. Agha 1993: 156-159 für das Lhasa Tibetische und Errington 1988: 160ff. für das Javanesische). Vereinzelt kommen auch Respektdistinktionen bei Pronomina der 3. Person (also Unbeteiligtenrespekt) vor; vgl. hierzu die Liste bei Head (1978: 162), die allerdings teilweise unrichtig ist, denn Deutsch sollte nicht dazugehören. An indogermanischen Sprachen sind beispielsweise zu nennen: Rumänisch (Thun 1985: 544f.; Engel u.a. 1993: 776), Russisch (Isacenko 1995: 484), Persisch (Boyle 1966: 22). Außerhalb der Indogermania existiert pronominaler Unbeteiligtenrespekt bei-
82 Hier ist jedoch eine entscheidende Restriktion zu berücksichtigen: Die grammatische Domäne des Adressatenrespekts beschränkt sich fast vollständig auf Anredeformen. D.h. er kann nur kodiert werden, wenn auf das Respektziel auch wirklich im Satz referiert wird. So gesehen verhält sich der indogermanische Adressatenrespekt ähnlich wie der oben beschriebene Unbeteiligtenrespekt in anderen Sprachen. - Definiert man die der Respekttypologie zugrunde liegenden Positionen nicht streng rollendeiktisch, sondern unterscheidet man zwischen Adressaten- und Referentenrespekt, 68 so bildet die Anrede einen Spezialfall, bei dem zwei Respektziele in ihrer Domäne überlappen: Anrede läßt sich also durch die Koreferentialität eines Aktanten mit dem Adressaten definieren bzw. durch den Zusammenfall von Adressaten- und Referentenhonorifikation. Dieser Zusammenfall zeigt, daß es sich bei der Anrede um eine besondere Spielart der Respektkategorie handelt. (Haase 1994: 33)
3.2.2. Anzahl der Respektwerte Den zweiten Parameter, hinsichtlich dessen Respektsysteme typisiert werden können, stellen Art und Anzahl der Wertigkeitsstufen dar, die unterschieden werden. Im einfachsten und auch am weitesten verbreiteten - Fall wird dabei zwischen einem unmarkierten 'Normalwert' ('NonHonorativ') und einem markierten 'Honorativwert' differenziert, 69 wie er beispielsweise in den zweigliedrigen Anredesystemen vieler indogermanischer Sprachen und weit darüber hinaus vorliegt. Diese Zweiteilung hat auch zu der in der Anredeforschung weitverbreiteten Begrifflichkeit von 'T/V'-Systemen gefuhrt. 70 Darüber hinaus sind aber gelegentlich auch drei- oder gar viergliedrige Systeme belegt. So besitzt das Rumänische die drei nach Respektgrad differenzierten Anredepronomina tu, dumneata und dumneavoasträ, die in Subjektsposition jeweils mit Verben der 2. Person kongruieren. 71 Systeme mit vier nach Respekt unterschiedenen Anredepronomina sind relativ selten: Ein Beispiel stellt vielleicht das Deutsche dar, das im Laufe seiner historischen Entwicklung neben einem dreistufigen auch ein vierstufiges System kannte. 72
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spielsweise im Amharischen (Semitisch, Äthiopien)(Leslau 1995: 46f.), im Ladakhi (SinoTibetisch, Nordost-Indien)(Koshal 1979: 104ff.) oder im Tamil (Dravidisch, Süd-Indien/Sri Lanka)(T. Lehmann 1993: 98 u. 101). Letzterer umfaßt dann alle Respektformen, welche auf Entitäten abzielen, auf die referiert wird. Mir ist kein Vorschlag aus der Literatur bekannt, wie man den respektmäßig neutralen 'Normalwert' bezeichnen sollte (auch beispielsweise Haase 1994: 31 f., der begrifflich sehr genau zwischen verschiedenen Respekt-Typen differenziert, bietet hier nichts Einschlägiges). Ich werde mich einstweilen mit dem Hilfsterminus 'NonHonorativ' begnügen. Vgl. auch Abschnitt 5.1.3. für markiertheitstheoretische Überlegungen anhand des Deutschen, aus denen sich diese Terminologie speist. Vgl. dazu oben Abschnitt 1.1.1. Vgl. Braun (1984b: 152-156) und Engel u.a. (1993: 772). - Auch das Ungarische verfugt über ein dreigliedriges System (vgl. Braun 1984a: 53f.). - Für Sprachen diesen Typs hat Braun die Differenzierung in ' T - V r V 2 ' eingeführt. Diese Aussage gilt allerdings nur unter der Voraussetzung, daß man für das Deutsche um 1800 wirklich grammatikalisierten Respekt annimmt. - Zur Diskussion, ob diese Auffassung stichhaltig ist, vgl. die folgenden Kapitel.
83
In einigen - vornehmlich asiatischen - Sprachen, bei denen die Respektkategorie das grammatische System in weit stärkerem Maße durchdringt als dies bei den europäischen Anredesystemen der Fall ist, hat sich eine eigene metasprachliche Begrifflichkeit mit bis zu sechs Abstufungen herausgebildet, und zwar nicht erst im Zuge der modernen linguistischen Beschreibung, sondern bereits in der autochthonen alltäglichen Reflexion über Sprache und (richtiges) sprachliches Verhalten. 73 Interessant ist die Frage, ob es neben der grammatikalisierten Höflichkeit 'Respekt' auch so etwas wie eine grammatikalisierte Unhöflichkeit gibt, d.h. ob die - prinzipiell gesehen nach oben offene Respektwertskala sozusagen einen absoluten Nullpunkt hat oder ob sie auch nach unten hin erweiterbar ist. Sowohl Altmann/Riska (1966: 5; „pejorative") als auch Mel'cuk (1994: 190; „dépréciatif') scheinen davon auszugehen, daß entsprechende Formen existieren. Allerdings fuhren sie - trotz sonstiger Detailfreudigkeit bei Mel'cuk - jeweils kein einziges Sprachbeispiel an. Mir ist auch aus der sonstigen Literatur kein wirklich zweifelsfreier Fall einer 'Dis-Respekt-Kategorie' bekannt. 74 Deshalb muß bis auf weiteres angenommen werden, daß die Postulierung einer solchermaßen von einem Neutralwert ins Unhöfliche ausgreifenden Kategorie eher dem stark deduktiv-taxonomischen Vorgehen der
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Agha (1998: 180) stellt die nati ven Bezeichnungen für verschiedene respektdifferenzierte Ebenen im Samoanischen, Javanesischen, Japanischen und Tibetischen zusammen. - Eine sehr detaillierte Studie zu den verschiedenen Respekt-Ebenen des Javanesischen bietet Errington (1988); über die dort angegebene Literatur hinaus vgl. auch Uhlenbeck (1974). Für experimentelle Ergebnisse zum Sundanesischen, einer nah verwandten Sprache, vgl. z.B. auch E.A. Anderson (1997). - Die kognitive Salienz der mit Höflichkeit verbundenen Kategorien hat im übrigen in der Geschichte der wissenschaftlichen Grammatikographie der ostasiatischen Sprachen dazu geführt, daß die aus indogermanischer Sicht so zentral scheinende grammatische Kategorie 'Person' eher ein Schattendasein führt. Einen Eindruck von den grammatiktheoretischen Konsequenzen dessen liefern die Destillate aus der japanischsprachigen Literatur bei Kishitani ([ 1969] 1985) sowie die Hinweise von Garnier (1994); Wang (1990) zitiert entsprechende Konzepte aus der Koreanistik. Wie die Organisation der verschiedenen Honorativformen des Koreanischen dazu beiträgt, auch ohne ausgeprägte Person-Kategorie die rollendeiktischen Zuordnungen in einer Äußerung zu gewährleisten, führt Kim (1994) vor (vgl. in dem Zusammenhang auch die etwas verwirrende Arbeit von Lee 1996); Coulmas (1980) und Shibatani (1990: 360ff.) diskutieren eine Palette von Zuordnungsmechanismen im Japanischen. Ein möglicher Fall könnte hier allerdings das Klassische Nahuatl sein: Zum einen gibt es dort die Möglichkeit der Apokope des Numerusmorphems „to express ridicule or scorn towards entities suffering from abnormalities or defects" (Andrews 1975: 161). Zum anderen kann das ansonsten als Augmentativsuffix verwendete Affix -pöl zum Ausdruck von Dis-Respekt gegenüber dem Verbsubjekt beitragen (Andrews 1975: 116) bzw. direkt an das Nomen suffigiert werden (vgl. Stolz 1992: 260). Dazu und zu einem weiteren „dépréciatif'-Affix vgl. auch Launey (1979: 108f.). - Auch im ChiBemba (Bantu, Sambia) ist ein Zusammenhang festzustellen zwischen Diminutiven und Augmentativen (morphologisch markiert durch Nominalklassenwechsel) einerseits und DisRespekt (markiert durch Wechsel in die Pluralklasse) andererseits. Doch meint Irvine (1995: 6) in dem Zusammenhang: „While the pejoration conveyed by the size classes may be just a consequence of their semantics, the (pragmatic) honorification conveyed by class 2 overrides its (semantic) plurality." Auch z.B. das Italienische besitzt wohl ein pejoratives Wortbildungsaffix, nämlich -acci- (vgl. Napoli/Reynolds 1995: 160), und beispielsweise im australischen Englisch werden nach Ansicht von Wierzbicka (1984: 127f.) bestimmte Wortbildungsmuster verwendet, um Informalität der Redesituation zu kodieren (ob man dieses Phänomen wie die Autorin unter dem Konzept "depreciative" einordnen sollte, sei dahingestellt). - Jedenfalls wäre der Frage nach möglichen Dis-Respektwerten noch einmal gesondert nachzugehen, wobei auch die FlexionDerivation-Unterscheidung zu berücksichtigen wäre.
84
genannten Autoren geschuldet ist und weniger den empirisch nachweisbaren Fakten. Vor dem Hintergrund der am Beginn von Abschnitt 3.1. skizzierten sozialpsychologischen Überlegungen zur Relevanz des Face-Managements nimmt es auch keineswegs wunder, wenn Unhöflichkeit nie - oder nur sehr selten - grammatikalisiert ist. 75 Die Faktoren, die die Gebrauchsregeln der einzelnen Wertstufen in den jeweiligen Einzelsprachen determinieren, sind seit jeher Gegenstand der soziolinguistisch ausgerichteten Forschung. Zu den wesentlichen Faktoren zählen demnach die auch ansonsten in der Sozialanthropologie relevanten Variablen wie Alter, Geschlecht, Sozialstatus, Gruppenzugehörigkeit, Verwandtschaftsverhältnis, Grad der Vertrautheit usw. 76
3.2.3. Art der Respekt-Markierung Der dritte Aspekt, den es bei der Analyse der grammatischen Kategorie 'Respekt' zu beachten gilt, ist die Frage nach der Art und Weise, wie die Kategorie ausdrucksseitig repräsentiert wird. Abgesehen von der bereits erwähnten eher marginalen Möglichkeit, daß das gesamte Lexikon einer Sprache im Hinblick auf divergierende Respektmerkmale gewissermaßen suppletiv strukturiert ist, wobei jedoch weitergehende syntaktische Effekte wie Kongruenz o.ä. fehlen, 77 lassen sich eine Reihe von morphologischen (und morphosyntaktischen) Markierungsmustern unterscheiden. 78 Die transparenteste Form der Respekt-Markierung ist wohl die direkte Affigierung eines Morphems mit der entsprechenden Semantik an dasjenige Wort, das auf den zu ehrenden Referenten verweist. Ein solches Verfahren wurde oben mit dem Gebrauch von -tzin im Klassischen Nahuatl vorgeführt ((13), (14)); auch die (g)o-Präfigierung im Japanischen funktioniert in sehr ähnlicher Weise (10). Eng damit verwandt ist die Affigierung eines
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Die beobachtete A s y m m e t r i e bei den Respektformen findet interessante Parallelen in anderen Bereichen der Grammatik: So scheinen beispielsweise Diminutivformen weitaus häufiger (und generell unmarkierter) zu sein als Augmentative - und zwar sowohl die denotativen Diminutive als auch die pragmatisch-sprechaktmildernden (vgl. Dressler/Merlini Barbaresi 1994: 430ff.; zu den relevanten p r a g m a t i s c h e n K o n z e p t e n vgl. auch die z u s a m m e n f a s s e n d e n A u s f ü h r u n g e n von Dressler 1995). Ricca (1998: 498) betont in dem Zusammenhang: „in the domain of speech acts, mitigation is more frequent than intensification." Auch im Bereich der Respektformen handelt es sich - wie bereits im Z u s a m m e n h a n g mit den Erscheinungsformen der negativen Höflichkeit erwähnt - typischerweise um die Grammatikalisierung von pragmatischen Abmilderungen. Stellvertretend für die Masse an einschlägiger Literatur (vgl. Braun/Kohz/Schubert 1986) sei hier lediglich auf die theoretischen Überlegungen in Pieper (1984) verwiesen. - Nagatomo (1986) fuhrt a u s f ü h r l i c h am Beispiel des J a p a n i s c h e n (und im Kontrast zum D e u t s c h e n ) vor, w e l c h e weitreichenden soziokulturellen Gesichtspunkte beim Verständnis eines Respektsystems berücksichtigt werden müssen. In diesen Z u s a m m e n h a n g wäre wohl auch noch die 'Hlonipha'-Varietät einiger Bantu-Sprachen im südlichen A f r i k a zu stellen: Hier wird in erster Linie durch phonologische Deformation ein ' V e r m e i d u n g s v o k a b u l a r ' erzeugt, das verheiratete Frauen verwenden müssen, u m bestimmten Namentabus gerecht zu werden (vgl. Herbert 1990a fur eine genaue ethnologische Beschreibung der einschlägigen Praktiken und ihrer Hintergründe; Herbert 1990b: 127ff. beschreibt die phonologischen - und lexikalischen - Effekte). - Für eine Darstellung eines ozeanischen Systems mit namentabu-induziertem Vermeidungsvokabular vgl. Fox (1996). Auch hier kann angesichts der eher dürftigen Literatursituation nur ein kleiner und z u d e m unsystematischer Abriß geliefert werden; einen ersten Überblick bietet Haase (1994: 35-80).
85 Honorativaffixes an ein Nomen oder Adjektiv, das assoziativ mit dem Respektziel verbunden ist ((11), (12), (15)). Ein weiterer Typ von Respektmorphologie wird durch verschiedene Verfahren der Verbalflexion repräsentiert: Am klarsten ist dabei eine Bildeweise des Koreanischen, das seiner agglutinierenden Struktur entsprechend - ein spezialisiertes Verbalaffix besitzt, das Höflichkeit gegenüber dem Subjekt des Verbs ausdrückt: 79 (16a)
cöh-ta gUt-IND
(16b)
'Er/sie/es ist gut.' cöh-usi-ta gUt-HON-IND
'Der/die/das Verehrte ist gut.' (nach Martin 1992: 298f.)
In (16b) wird durch das verbale Flexionszeichen -usi- angezeigt, daß das - im übrigen nicht an der Oberfläche realisierte - Subjekt des Satzes ein zu ehrendes ist. 80 Hier agiert das Affix ähnlich wie die Person-Numerus-Affixe in einer Sprache wie dem Italienischen; es fungiert als Zeichen einer deplazierten Kategorie. 81 - Ein in mancher Hinsicht vergleichbarer Fall scheint - synchron gesehen - womöglich in einigen südpolnischen Dialekten, z.B. in Lublin, vorzuliegen, bei denen nach einem Numerussynkretismus (genauer gesagt: der Verallgemeinerung alter Dualformen auf nichtsingularische Kontexte) das alte Pluralflexiv der 2. Person des Verbs uminterpretiert als Honorativ-Kennzeichen fortlebt. 82 Eine seltene Variante der Respektmarkierung mit morphologischen Mitteln ist für das Tibetische zu verzeichnen. 83 In dieser Sprache wird - wie in anderen auch - Adressatenrespekt durch ein spezielles Honorativ-Vokabular kodiert. Das Besondere ist aber, daß für eine Vielzahl von Wörtern keine honorative Suppletivform zur Verfugung steht. In vielen solcher Fälle können Honorativ-Varianten durch Nominalkomposition erzeugt werden. Die honorativen Komposita bestehen jeweils aus dem 'Normalwort* plus einem Kompositionsglied, das einer Liste von einigen wenigen - ansonsten auch frei auftretenden - Körperteilbezeichnungen (sowie zweier Verben) entnommen ist. Welches 'Normalwort' welches
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Vgl. Martin (1992: 244ff.) für eine Übersicht über die verschiedenen morphologischen 'Slots', die bei der Verb-Agglutination im Koreanischen eine Rolle spielen. Für weitere Beispiele aus dem Koreanischen vgl. z.B. Hwang (1990: 46f.) und Sohn (1994: 359f.); Lee (1989: 87 u. 96-98) grenzt die verschiedenen Typen von Respektmarkierung und -ziel voneinander ab. - Das in den japanischen Beispielen (6b) und (7b) verwendete Morphem -masuweist wohl eine dem koreanischen -usi- recht ähnliche Grammatik auf, denn auch dieses verhält sich stets als gebundenes Morphem und tritt im Unterschied zu den im folgenden zu behandelnden Verben niemals frei auf (vgl. Shibatani 1990: 375, Haase 1994: 45). Eine vergleichbare Sicht auf das Japanische stellt die traditionelle generativ-syntaktische Analyse seit Harada (1976) dar; neuerdings wurden in diesem Theorierahmen aber auch Argumente gegen eine syntaxbasierte Beschreibung vorgebracht (Namai 2000). - Zum Konzept der deplazierten Kategorie vgl. oben Kapitel 2, Anm. 121. So der Eindruck, der aus Meiser (1992: 201 f.) zu gewinnen ist. Zumindest für das nah verwandte Kaschubische (Slavisch, Polen) liegen entsprechende Daten aber auch für die Personalpronomina selbst vor (Breza 1998: 173), so daß hier u.U. gar keine auf das Verbale beschränkte Markierung vorliegt. Vgl. hierzu ausführlich DeLancey (1998; die Beispielwörter finden sich S. 116) sowie Potapova (1997). - Nach Ausweis von Koshai (1987; insbesondere S. 156-158) besitzt auch das Ladakhi ein vergleichbares System von Respektmorphologie.
86 Kompositionsglied selegiert, ist pro Einzellexem geregelt. Da weniger 'Honorativ-Glieder' als zu modifizierende Grundwörter zur Verfügung stehen, besteht keine Eins-zu-EinsRelation zwischen beiden Gruppen. Statt dessen ergibt sich etwas Ähnliches wie Nominalklassifikation. Im Unterschied dazu geben bei den tibetischen Honorifikativa allerdings weniger ontologische als vielmehr funktionsbezogene Kriterien den Ausschlag bei der Klassenzuordnung der einzelnen Lexeme. Um nur ein Beispiel zu nennen: In Abb. 21 sind die mit dem Glied zhal 'Mund' gebildeten 'Respektkomposita' ihren jeweiligen 'Normalformen' gegenübergestellt: 84 Abbildung 19: 'Respekt-Komposita' im Tibetischen Normalform
Respektform
Übersetzung
gdong
zhal-ras
'Gesicht'
mchu-to
zhal-mchu
'Lippe'
kha-chu
zhal-chu
'Speichel'
skyug-pa
zhal-skyug
'Erbrochenes'
Verwickelter ist die Lage in Sprachen wie dem Japanischen und dem Klassischen Nahuatl, wo zusätzlich zu den bereits behandelten einfachen affixalen Respekt-Markierungen komplexe Formen von verbaler Respektmarkierung vorkommen. - Für das Japanische führt Shibatani (1990: 375) aus: There are two subject honorification processes. One involves a form of circumlocution expressing the idea of making indirect reference to someone's doing something by means of a form that directly translates as someone's „becoming to do something." Formally, the nominalized verbal form with the honorific prefix o- (together with the verb's arguments) assumes the role of an adverbial complement of the verb naru 'become'. The other subject honorific process simply attaches the suffix -rare, which is homophonous with the passive, the potential, and the spontaneous suffix. In the object-honorific form, the nominalized verbal form with the honorific prefix o- (together with the verb's arguments) is made the object of the verb suru 'do'. 85
Hier wird Respekt also morphosyntaktisch komplex, nämlich mittels periphrastischer Verbalformen ausgedrückt. Als Exemplifizierung möge eine honorative 'tun'-Periphrase dienen, bei der Unbeteiligtenrespekt im Hinblick auf das Objekt-Argument des Vollverbs kodiert wird: (17a) (17b)
Taroo sensei 0 tasuke-ta. ga Lehrer [Name] NOM AKK helf-PRÄT Taroo sensei 0 o-tasuke si-ta. ga [Name] NOM Lehrer AKK HON-helf tU-PRÄT 'Taro half dem Lehrer.' (nach Shibatani 1990: 376)
Daneben besitzt auch z.B. das Klassische Nahuatl grammatische Muster, wo durch Veränderungen der Argumentkonfiguration Respekt-Effekte erzielt werden. Aufgrund des ausge-
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Zu den verschiedenen bei den Respektformen beteiligten Bildemuster und Allomorphien vgl. DeLancey (1998: 114). Vgl. auch Haase (1994: 64-70; insbesondere die Tabelle S. 68).
87 prägt synthetischen Charakters dieser Sprache handelt es sich dabei aber nicht um Periphrasen, sondern um mittels Affigierung erzeugte Strukturen: 86 (18a) (18b)
(19a) (19b)
tlahtohcäti regiert mo-tlahtohcäti-lia REFL-regiert-KAUS HON 'Er regiert.' ni-qui-hcuil-oa 1 ,SG-3.SG.AKK-schreib-VR ni-c-no-hcuil-huia l.SG-3.SG.AKK-l.SG.REFLSchreib-APPL 'Ich schreibe es.' 8 7
HON
Die wörtlichen Übersetzungen der honorativen (b)-Varianten lauten nach Haase (1994: 78): ( 18b') Er veranlaßt sich zu regieren. ( 19b') Ich schreibe es für mich.
Insbesondere im Falle der Kausativbildung beim subjektbezogenen Unbeteiligtenrespekt in (18b) wird durch die wörtliche Übersetzung deutlich, wie eine funktionale Erklärung aussehen könnte: Durch den Kausativ wird - zumindest an der Oberfläche - betont, daß das Subjekt autonom handelt und nicht durch irgendwelche äußeren Umstände zu seiner Tat gezwungen wird. Eine solche Metapher paßt gut zu den im vorherigen Kapitel behandelten Strategien negativer Höflichkeit, bei denen die Autonomie der Respekt-Person in den Vordergrund gerückt wird. 88 Auf den dennoch erkennbaren Grad an Grammatikalisierung der durch (18) und (19) exemplifizierten Konstruktionen hat bereits von Humboldt ([182729]1963: 263f.) hingewiesen, denn ihre „Charakteristiken gelten nicht mehr einzeln, als solche, sondern verbunden als Ehrfurchtsform", ohne daß auf die Eigensemantik der in die Konstruktion eingehenden Vollverben Rücksicht genommen würde; im Prinzip ist eine solche morphosyntaktische Respektmarkierung bei allen Verben möglich. Während die Einordnung der bislang besprochenen Erscheinungen in den RespektBereich relativ unumstritten sein dürfte (mit der theorieabhängigen Einschränkung bei den 'Schwiegermuttersprachen'), scheinen mir die beiden nun zu behandelnden Phänomentypen weit weniger eindeutig hierher zu gehören. - In diesem Zusammenhang sind erstens Erscheinungen mit illokutiven Effekten zu nennen. Es handelt sich hierbei zum einen um Partikeln im Neugriechischen und im Rumänischen, von denen Haase (1994: 36-44) im 86
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Die folgenden Satzbeispiele stammen eigentlich aus Andrews (1975: 112-114); ich gebe sie hier mit einer Analyse, die die aus Haase (1994: 78) entnommene Segmentierung, die nur die im vorliegenden Zusammenhang interessierenden morphologischen Konstituenten berücksichtigt, mit einer an Stolz (1992: 265ff.) angelehnten Darstellungstechnik kombiniert. Bei (19b) liegt ein Fall von Unbeteiligten-Respekt bezüglich eines Verbobjekts vor - vergleichbar dem japanischen Beispiel in (17b). Den Gedanken der Valenzveränderung beim Respekt im Nahuatl betont auch Stolz (1992) mit dem Begriff des „Scheinaktanten". - Vgl. im übrigen auch Haase (1994: 50-53 u. 84) zu analogen Zusammenhängen im Baskischen.
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Rahmen seiner Typologie des Adressatenrespekts annimmt, daß sie „der familiären Bezugnahme dienen" (S. 37). Dazu zählt er solche Wörter wie griech. moré oder vre oder rumän. mä. Doch Haases Erklärungen legen einen anderen Schluß nahe: In allen zitierten und übersetzten Beispielen fungieren die Partikeln weniger als respektrelevante Formen, sondern vielmehr als Anzeiger dessen, was in der Germanistik unter dem Begriff der 'Abtönung' diskutiert wird - wie er selbst bemerkt (S. 39). Die Partikeln dienen also eher dazu, illokutive Abschwächungen und Nuancierungen in Sätzen auszudrücken - beispielsweise Überraschung, Ärger, Freundlichkeit usw. 89 Die Familiarität, die sich beim Gebrauch solcher Formen einstellt, ist dann gewissermaßen ein Nebenprodukt der Abtönung; nicht von ungefähr werden Abtönungsphänomene von Koch/Oesterreicher (1990: 67-71) unter die universalen Merkmale nähesprachlicher Kommunikation gerechnet. Entscheidend ist jedoch, daß sich die Funktion der Partikeln nicht im Respektanzeigen erschöpft - im Gegenteil, dies ist nur ein Epiphänomen: Je ungezwungener, weniger förmlich, weniger höflich ich rede(n muß), desto häufiger werde ich Formen der Nähesprache verwenden, wozu eben auch die genannten Partikeln gehören. Deshalb sollten die Formen auch nicht als respektrelevant (also als Familiaritätsformen oder ähnliches) gewertet werden. Zum anderen handelt es sich um ein ebenfalls von Haase (1994: 44f.) diskutiertes Phänomen: den sogenannten ethischen Dativ im Deutschen, wie in Beispiel (20a): (20a) (20b)
Das war dir/mir ein Spaß. Das war vielleicht ein Spaß.
Auch hier legt seine Argumentation nahe, es handle sich um ein 'Familiaritätszeichen'. Und auch an dieser Stelle gilt meines Erachtens das schon zu den rumänischen und griechischen Partikeln Ausgeführte: Der Bezug zur Abtönung ist unverkennbar, wie die Gegenüberstellung mit (20b) erhellt. 90 - Je nachdem wie man allgemein das Verhältnis von Familiarität und Abtönung bestimmt (hier haben wir es wohl mit einem Henne-Ei-Problem zu tun), wird man die eine oder andere Funktion der genannten Formen in den Vordergrund rücken; vorderhand jedenfalls scheinen die Abtönungsphänomene im Vergleich mit den oben diskutierten affixalen und periphrastischen Markierungen als weniger klare Respekt-Kennzeichen. Der zweite problematische Phänomenbereich, der gelegentlich in der Respekt-Literatur auftaucht, wird durch parasprachliche Erscheinungen konstituiert. Für mehrere Sprachen wurde gezeigt, daß eine bestimmte Art der Sprechweise (unabhängig vom genauen Wortlaut der Äußerung) obligatorisch ist, wenn die Äußerung eine höfliche sein soll. 91 So erklärt Koshai (1987: 167) für das Ladakhi:
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Dies zeigt sich auch darin, daß in den deutschen Übersetzungen der Beispielsätze auffällig häufig Abtönungspartikeln wie schon oder also auftauchen. Ähnlich sieht dies auch Haase selbst (unter Berufung auf seine Quelle Wegener 1985: 50ff.). Jedoch scheint mir - obwohl die beiden genannten Autoren nicht darauf eingehen - die natürlichste Version des Satzes ohnehin eine zu sein, die beide Ausdrucksformen miteinander kombiniert: Das war dir/mir vielleicht ein Spaß. Dazu kommen womöglich weitere Verhaltensweisen w i e z.B. Körperhaltung, Blickrichtung, Bekleidung (vgl. z.B. Gregersen 1974: 47 für einige Beispiele).
89 When the paralinguistic features described in this paper are not used, although the honorific forms of the language are used, this implies unwillingness, indifference, or even insult and offence. Thus such paralinguistic features are an integrated part of the verbal honorific system of the Ladakhi language.
In eine ähnliche Richtung geht die Beobachtung von Brown/Levinson (1987: 248): [I]n Tzeltal, the distancing and unsureness implications of high pitch have been highly conventionalized so that high pitch is a characteristic of most requests. The use of high pitch in English, and the use of conventionalized indirect speech acts in Tzeltal, are certainly available as viable negative-politeness techniques but are not conventionalized to the same degree. 92
Ein besonders markantes Beispiel fur vielfältige Höflichkeitssignalisierung, auch mittels phonologischer und prosodischer Merkmale, stellt das Wolof (Westatlantisch/Senegambisch, Senegal) dar. In dieser Sprache werden zwei Sprechstile unterschieden, die zumindest gemäß der Argumentation von Irvine (1992: 255-257) als höflichkeitsrelevant eingestuft werden sollten. Diese beiden Varianten unterscheiden sich in ihrer Extremform in erster Linie dadurch, daß die eine - „noble talk" - recht 'unbeholfen' und zurückhaltend wirkt und durch Stottern, wenig Dynamik, leise und tiefe Stimme usw. gekennzeichnet ist, während die andere, also die Sprechweise der Untergebenen, durch das genaue Gegenteil, nämlich Theatralik und übertriebene Lautstärke etc. auffällt. 93 Ob die paralinguistischen Merkmale einen gesonderten Typ der Respektmarkierung konstituieren oder ob sie lediglich zusätzliche Korrelate honorativen Sprechens darstellen, läßt sich beim gegenwärtigen Stand der Forschung schwer entscheiden. Auf jeden Fall werden Phänomene der beschriebenen Art traditionell als nicht zum Kernbereich der Grammatik gehörig betrachtet. In einer Respekttypologie nehmen sie deshalb bestenfalls eine Randposition ein. Neben den bereits diskutierten Typen von morphologischer und morphosyntaktischer Respektmarkierung, die in der allgemein-linguistischen Literatur besprochen werden, sollten meines Erachtens aber auch die aus den indogermanischen Sprachen vertrauten Differenzierungen innerhalb von Pronominalsystemen nicht vergessen werden. So stehen in fast allen modernen (west-)indogermanischen Standardsprachen mindestens zwei im Höflichkeitsgrad unterschiedene Pronomina zur Verfugung, um eine einzelne Person anzureden. 94 In manchen dieser Sprachen besitzt das höfliche/honorative Anredepronomen eine eigene Form, welche ansonsten - synchron - nirgendwo im System anbindbar ist. Ein solcher 92 93
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Levinson (1983: 93) spricht in dem Zusammenhang vom „Tzeltal honorific falsetto". Vgl. Irvine (1990: 136-144) für eine die verschiedenen linguistischen Ebenen berücksichtigende, zusammenfassende Kontrastierung der beiden Varianten. Der Hintergrund dieser erstaunlichen Differenzierung scheint folgender Gedanke zu sein: Wer mächtig genug ist, kann es sich leisten, undeutlich und schlampig zu reden. Wenn jemand sich auf symbolische Weise sozial unter einen anderen stellen will (d.h. höflich sein will), dann strengt er sich besonders auffällig an, um dadurch zu demonstrieren, 'wie nichtswürdig und klein er sei, d.h. wie nötig er es noch habe, sich anzustrengen'. Die einzigen mir derzeit bekannten Ausnahmen bilden das Irisch-Gälische (Ó Siadhail 1988: 11) und das Englische. Auch für die Dialekte ist anzunehmen, daß nicht alle eine entsprechende Differenzierung haben; explizite Aussagen diesbezüglich machen beispielsweise Hagège (1995: 115) für wallonische, Rohlfs (1949: 218f.) für süditalienische sowie Joseph (1987: 262) fur rumänische Varietäten (vgl. allgemein auch die Zusammenstellung zur pronominalen Anrede in 80 indogermanischen Sprachen und Dialekten bei letzterem).
90 Fall ist z.B. das Niederländische, zumindest in der nördlichen, holländischen StandardVarietät:95 Abbildung 20: Anredepronomina im Niederländischen Niederländisch
NonHonorativ
Honorativ
Singular
jij jullie
U
Plural
U
Weitere Beispiele bilden das Spanische96 und das Isländische97: Abbildung 21: Anredepronomina im Spanischen Spanisch
NonHonorativ
Honorativ
Singular
tú
usted
Plural
vosotros
ustedes
Abbildung 22: Anredepronomina im Isländischen Isländisch Singular Plural
NonHonorativ
Honorativ
bú biò
))ér t>ér
Die Etymologie der 'Sonderformen', die zur Honorativanrede verwendet werden, ist in den Einzelsprachen recht unterschiedlich. Als mögliche Grammatikalisierungsquellen können z.B. genannt werden: Possessiv-Nominalphrasen mit einem 'ehrenden Abstraktum' (z.B. span, usted < Vuestra Merced)9* oder ein frei gewordener Numeruswert (z.B. der Plural nach der Dual-Generalisierung im Isländischen). 99 - Festzuhalten bleibt vorderhand die Tatsache, daß in Pronominalsystemen wie den eben beschriebenen spezielle Honorativformen auftauchen, deren paradigmatische Einordnung nicht über den Verweis auf andere
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97 98
99
Vgl. Geerts u.a. (1984: 164-167). Die bei diesen Autoren angeführten g ¡/'-Formen, welche im obliquen Kasus ebenfalls u lauten, kommen nur in einigen, vornehmlich südlichen Dialekten vor und sind selbst dort im Rückgang begriffen (vgl. Deprez/Geerts 1980). Vgl. z.B. Vera-Morales (1995: 161-166). - Das angegebene Paradigma gilt übrigens lediglich für das iberische Spanisch (Kastillisch); in weiten Teilen Lateinamerikas ist dagegen das tú zugunsten von singularischem vos aufgegeben worden - mit entsprechend unterschiedlichen, z.T. recht komplexen Entwicklungen, was die syntaktische Kongruenz betrifft. Vgl. Pétursson( 1981:76). Für eine schematische Übersicht über die mutmaßlichen Entwicklungsstufen vgl. Cárceles (1923: 280). - Für das niederländische U wird traditionell eine ähnliche Herkunft postuliert (nämlich aus uwe edelheid)·, vgl. dazu zusammenfassend van Loey (1970: 139f.), der jedoch auch darauf hinweist, daß im Mittelniederländischen (und in den südlichen Dialekten noch heute, Anm. 95) die betreffende Form auch als oblique Kasusform fungiert. Vgl. zum allmählichen Eindringen des U ins Anredeparadigma auch z.B. die Arbeit von Paardekooper (1987-88). Vgl. z.B. Guòmundsson (1972) und Haugen (1975). - Vgl. hierzu auch die oben (Anm. 82) erwähnten Varietäten in Polen.
91 Stellen im System vorgenommen werden kann. Sie sind statt dessen als autonome Respektzeichen aufzufassen, die bei einer grammatischen Strukturbeschreibung des Pronominalparadigmas auch entsprechend berücksichtigt werden müssen. Konzeptuell weit schwieriger zu fassen sind die höflichen (bzw. wie sich zeigen wird, die teilweise 'honorativen') Anredepronomina in Sprachen wie dem Deutschen (Sie) oder Französischen (vous), denn oberflächlich betrachtet stellen sie 'einfach nur normale' Personalpronomina dar (mit den Spezifikationen '3. Person Plural' bzw. '2. Person Plural'), die an eine andere Stelle im Paradigma transponiert wurden und dort nun in einer sekundären Funktion verwendet werden. Es wird die Aufgabe der nachfolgenden Kapitel sein, diese in der bisherigen Literatur vertretene Auffassung 100 kritisch zu hinterfragen und hinsichtlich ihres Plausibilitätsgrades zu überprüfen. Es wird sich dabei zeigen, daß zumindest für das Deutsche davon ausgegangen werden muß, daß die Verhältnisse weit komplizierter sind und daß gute Gründe dafür sprechen, eine grammatische Kategorie 'Respekt', wie sie für diverse nicht-indogermanische Sprachen plausibel gemacht werden konnte, auch für das Deutsche anzunehmen. Dabei wird allerdings auch deutlich werden, daß die Morphologie der Formen im Standarddeutschen die Respektkategorie weitaus weniger deutlich sichtbar zum Ausdruck bringt, als das bei den im vorliegenden Abschnitt besprochenen Sprachen der Fall ist. Um die Evidenz für eine grammatische Kategorie 'Respekt' im Deutschen zu sondieren, werde ich zuerst die diachrone Entwicklung, die zum heutigen standardsprachlichen Anredesystem geführt hat, nachzeichnen und diese vor dem bislang erarbeiteten typologischen Hintergrund interpretieren. Sodann werde ich synchron untersuchen, welche syntaktischen Erscheinungen bei der Anrede in der deutschen Gegenwartssprache eine wichtige Rolle spielen. In einem weiteren Schritt werde ich mit dem Bairischen ein System betrachten, bei dem die Entwicklung der Kategorie bereits weiter fortgeschritten ist als in der Standardsprache. - Dadurch wird sich auch eine Präzisierung unserer Vorstellungen über die Morphosyntax des Deutschen ergeben. Schließlich sollen die theoretischen Konsequenzen für eine adäquate Konzeption von (Flexions-)Morphologie im allgemeinen skizziert werden sowie eine Anbindung dieser Überlegungen an die aktuelle Sprachwandeldiskussion erfolgen.
100
Vgl. den einleitenden Abschnitt 1.2.
4. Diachronie der deutschen Anredepronomina
In der gegenwärtigen deutschen Standardsprache besteht bei den Personalpronomina, die in bezug auf einen einzelnen Adressaten verwendet werden (also den 'Anredepronomina im Singular'), eine strenge Dichotomie zwischen zwei Formenreihen: den verschiedenen Formen von /du:/ und von /zi:/ .' Was die grammatische Merkmalspezifikation der letzteren Form betrifft, so ist sich die germanistische Grammatikschreibung traditionell weitgehend darin einig, daß es sich bei Sie1 um ein Pronomen der 3. Person Plural handelt, zumal ja auch im Falle eines Gebrauchs als Subjektpronomen die kongruierende Verbalform wie eine Form der 3. Person Plural aussieht:3 (1)
Sie singen. Sie sagen. Sie haben. Sie sind.
Aus diesem Grunde ist bei Sätzen wie denen in (1) ohne kontextuelle, d.h. auch situative Einbettung nicht zu entscheiden, ob es sich um Fälle von Adressaten- oder von Unbeteiligtendeixis handelt. Ich werde im vorliegenden Kapitel zu zeigen versuchen, daß eine solche Annahme aus diachroner Perspektive auf den ersten Blick durchaus ihre Berechtigung zu haben scheint.4 Denn die Geschichte der pronominalen Anrede im Deutschen folgt einer charakteristischen Entwicklungslinie, die das gesamte Paradigma der Personalpronomina (und mehr) umfaßt und dabei in erster Linie auf die grammatischen Kategorien Person und Numerus abhebt. Der Einbezug des bisherigen typologischen Wissens über die Diachronie von pronominalen Anredesystemen im allgemeinen wird demonstrieren, daß das Deutsche in seiner Geschichte durchaus übliche Bahnen genommen hat, wenn auch in einer vergleichsweise radikalen Konsequenz. Die Gesamtentwicklung der deutschen Anredepronomina läßt sich grob vereinfachend folgendermaßen skizzieren:5
1
2
3 4
5
Für die Anrede von Gruppen, bei denen mindestens ein Mitglied die Adressatenrolle trägt, kommen noch die Pluralpronomina und dazu (für Paradigmen vgl. Abschnitt 1.2.1). Im folgenden werde ich - sofern keine Gefahr von Mißverständnissen besteht - das Zeichen 'Sie' verwenden, wenn das höfliche Anredepronomen gemeint ist. Vgl. dazu die in Abschnitt 1.2.1 angeführten Zitate aus der Literatur. In Kapitel 5 wird sich freilich zeigen, daß ein genauerer Blick auf die Datenlage letztendlich zu einer anderen Interpretation führt. Auf Einzelheiten gehe ich in den nachfolgenden Abschnitten ein; insbesondere die Angaben zur absoluten Chronologie sind dabei cum grano salis zu betrachten, denn es geht im vorliegenden Ansatz lediglich um die diachrone Reihung der verschiedenen Systeme; die Zeitangaben dienen lediglich der groben Orientierung. Für etwas anders akzentuierte Schemata zur Geschichte der Anrede im Deutschen, Tschechischen und Polnischen vgl. Betsch (2000: 46-57).
93 Abbildung 23: Diachronie der Anrede an eine einzelne Person im Deutschen
er
sie
dieselben
dieselben
Sie
Sie
er
sie
ihr
ihr
ihr
ihr
er
sie
Sie
du
du
du
du
du
du
Germ.
Ahd.-Mhd.
17. Jh.
18. Jh.
fr. 19. Jh.
(StdDt.)Ggw.
I
II
III
IV
V
VI
Die entscheidende Grundbeobachtung, die sich diesem Schema entnehmen läßt, ist folgende: Im Laufe der deutschen Sprachgeschichte hat sich - zunächst langsam, dann beschleunigt - stufenweise ein mehrgliedriges Anredepronominalparadigma aufgebaut, das zum Zeitpunkt seiner weitesten Ausdifferenzierung in sich zusammengefallen ist und so auf den heutigen zweigliedrigen Stand reduziert wurde. - Ich werde nun die einzelnen Abfolgeschritte nachzeichnen und bei gegebenem Anlaß aus typologischer Sicht kommentieren und interpretieren. Dabei werden die grammatischen Fragen im Zentrum des Interesses stehen; soziolinguistische Zugänge werden nur berücksichtigt, soweit sie relevant sind für die Grammatik.
4.1. System II: du vs. ihr
4.1.1. Althochdeutsche Anfange Das System II löst das eingliedrige urgermanische System I ab, in dem für alle Fälle der Anrede an eine einzelne Person nur ein einziges Pronomen zur Verfügung stand: *¡)u.6 Der ältere Sprachstand gilt noch in weiten Teilen für die uns überlieferten Texte aus der althochdeutschen Epoche (bis nach der Jahrtausendwende). Die gesamte mittelhochdeutsche Literatur (und darüber hinaus weit in das Frühneuhochdeutsche hinein) ist dagegen von
6
S o ist zumindest das Bild, das sich aus der Rekonstruktion des Formeninventars g e w i n n e n läßt ( b e i s p i e l s w e i s e aus Ramat 1981: 93). Über etwaige pragmatische 'Sonderverwendungen' anderer Formen des Paradigmas in vorhistorischer Zeit kann man ohne schriftliche Quellen naturgemäß nichts erfahren. - Der g e r m a n i s c h e Stand entspricht i m w e s e n t l i c h e n w o h l auch der ur-indogermanischen Ausgangssituation (mit der Lautung *tu oder *tü, vgl. dazu Seebold 1984: 2 4 f . und S z e m e r é n y i 1990: 2 2 8 ; leicht a b w e i c h e n d z . B . Shields 1986: 17ff. im A n s c h l u ß an Brugmann 1911: 383). - Seebold ( 1 9 8 3 ) vertritt dagegen die A u f f a s s u n g , es hätte w o m ö g l i c h bereits sehr früh eine höflichkeitsrelevante pronominale Opposition g e g e b e n , deren Formen allerdings - falls überhaupt - nur noch in einigen w e n i g e n Resten greifbar sind; Diskussion auch in Seebold ( 1 9 8 4 : 8890).
94 einer Opposition du vs. ihr geprägt, wobei das ihr neben seiner Primärfunktion als Pronomen der 2. Person Plural auch als höflicher Pol der Anrededichotomie fungiert, so wie das heute beispielsweise auch bei den entsprechenden Formen im Französischen und im Russischen der Fall ist. Es stellt damit das V-Pronomen der T/V-Opposition im Sinne von Brown/Gilman (1960) dar.7 Die frühesten Belege für die Herausbildung der genannten Opposition (mit anderen Worten, für die Verwendung von ¡r 8 als Pronomen der Anrede an eine einzelne Person) lassen sich aber schon in der althochdeutschen Literatur finden. Den ältesten Textbeleg liefert der gereimte Brief an den Konstanzer Bischof Salomo, den der Mönch Otfrid von Weissenburg seiner ca. 863-871 zu datierenden Evangeliendichtung vorangestellt hat: (2)
Lékza ih therara búachi iu sentu in suáborichi, thaz ir irkíaset ubar ál, oba siu frúma wesan scaL; Oba ir hiar findet iawiht thés thaz wírdig ist thes lésannes: (Otfrid: Salomoni Episcopo Otfridus, Vers 5-7) 9
Der zweite althochdeutsche Text, der Belege für höfliche Plural-Anrede enthält, ist unter der Bezeichnung 'Altdeutsche (oder: Pariser) Gespräche' bekannt und stammt vom Ende des 9. oder Anfang des 10. Jahrhunderts. Dabei handelt es sich um mehr oder minder lose miteinander verbundene althochdeutsche Sätze, die in romanisch geprägter Orthographie niedergelegt sind, und denen in den meisten Fällen eine in galloromanisch geprägtem Mittellatein gefaßte Übersetzung gegenübersteht. 10 Die Sätze ergeben insgesamt ein zweckgebundenes Reisehandbüchlein, das Wortschatz und Satzmuster für Körperteile, Kleidung, Dienstleistungen in der Herberge, Bekanntschaft und Konversation mit Fremden, Verkehr mit Dienstboten, Reiten und Waffentragen vermittelt (Sonderegger 1985: 1064). Mehrfach findet sich ein Pronomen der 2. Person Plural." Zwar ist nicht in allen Fällen mit Sicherheit davon auszugehen, daß dadurch eine höfliche Anrede an einen Einzelnen gemeint ist, jedoch legen bei Fragen mit Pluralpronomen der 2. Person oftmals die Antworten im Singular der 1. Person eine entsprechende Interpretation nahe, so z. B. in (3) und (4): 12 7 8 9
10
11
12
Zu diesem Konzept vgl. Abschnitt 1.1.1 So die alt- und mittelhochdeutsche Form. Zitiert nach der Ausgabe von Erdmann/Wolff (1973: 8); in dem kurzen Brieftext an Bischof Salomo finden sich noch mehrere Belegstellen. Die angegebene Textstelle lautet in der Übersetzung von Kelle (1870: 493): „Den Inhalt dieses Werkes hier / Send' ich an euch ins Schwabenreich, / Auf dass ihr bestens untersucht, / Ob einen Werth es in sich trägt. / Wenn ihr hier Etwas des gewahrt, / Was würdig ist, dass man es liest, [...]." - Hier und in den folgenden Zitationen von Originalbelegstellen in diesem Kapitel hebe ich die adressatenbezüglichen Ausdrücke durch Kursivierung hervor. Für eine detaillierte Analyse von Schreibung, Morphologie und mutmaßlicher Lautung des Textes nebst einer kommentierten diplomatischen Edition und reichhaltigen Literaturangaben s. Haubrichs/Pfister (1989). Eine Liste der Belegstellen bieten Meineke (1992: 342, Anm. 49) und die jüngste, auch kommentierende Edition von Gusmani (1999: 153f. u. 166f.). - Zu den nicht leicht zu interpretierenden konkreten Einzelformen - jeweils Varianten von ger - vgl. Haubrichs/Pfister (1989: 66-69); wesentlich scheint dabei zu sein, daß die Formen gewissermaßen als Kontamination von althochdeutschem ir und altniederfränkischem gi/ge zu verstehen sind. Aufgrund der großen Schwierigkeiten, die die überlieferte Form des Textes dem modernen Leser macht, gebe ich neben dem althochdeutschen Text in (3') bis (7') jeweils die ebenfalls überlieferte
95
(3) (3') (4) (4') (5) (5')
Gueliche lande cumen ger - Eh guas mer ingene francia (Satz 20 und 21; nach Huisman 1969: 281) de qua patria - in francia fui; 'Aus welchem Land kommt ihr?' - 'Ich war in Franzien.' Qeusan ger hiuda min herra - Begotta gistra ne casah ih or herra (Satz 80 und 81; nach Huisman 1969: 286) uidisti seniorem - heri nec hodie uidi; 'Habt ihr heute meinen Herrn gesehen?' - 'Bei Gott, gestern (weder gestern noch heute) habe ich euren Herrn nicht gesehen.' Guandi nae guarin ger za metina - ehn ualde - Ger ensclephen bi te uip in ore bette (Satz 60 bis 62; nach Huisman 1969: 287) quare non fuisti ad matutinas - ego nolui - tu iacuisti ad feminam in tuo lecto; 'Weshalb wart ihr nicht in der Matutin [i.e. Frühmesse, HS]?' - 'Ich wollte nicht.' - 'Ihr schlieft bei der Frau in eurem Bett.'
Auch in der Dialogsequenz (5) läßt sich die Pluralverwendung des Pronomens am natürlichsten als höfliche Anrede an einen einzelnen Adressaten interpretieren, da man davon ausgehen kann, daß die Vielmännerei auch in damaliger Zeit den soziokulturellen Normen widersprochen haben dürfte. 13 Weitere Indizien für höfliche Verwendung der 2. Person Plural bieten Fälle wie (6) mit zusätzlicher singularer Nominalanrede: 14 (6) (6')
Guane cumet ger brothro (Satz 17; nach Huisman 1969: 280) unde veni s frater 'Woher kommt Ihr, Bruder?'
Die der damaligen Sprechsprache mutmaßlich recht nahestehenden Altdeutschen Gespräche15 liefern also mehrere Belege für eine höfliche Anrede mit der 2. Person Plural. Daneben sind aber auch eine Menge Beispiele für singularische Anrede zu verzeichnen, so daß hier erstmals auch Fälle von Anredeasymmetrie auftreten: (7) (7')
Guaz queten ger, herra - Cohorestu narra (Satz 64 und 65; nach Huisman 1969: 288) quid dicitis uos - ausculta fol; 'Was sagt ihr, Herr?' - 'Höre, du Narr.'
Die Tatsache, daß ausgerechnet die beiden vorgestellten, eher alltagssprachlich geprägten Texte die einzigen Belege für höfliche Pluralanrede im Althochdeutschen enthalten, scheint mir kein Zufall zu sein. Der weitaus größte Teil der aus althochdeutscher Zeit überlieferten Textmenge umfaßt Texte religiöser und theologischer Natur, die vielfach wenig mehr als eine Bibelnacherzählung mit Interpretation oder kurze Gebete darstellen. 16 Solche Textsorten zeichnen sich generell durch ein hohes Maß an sprachlicher Konservativität aus; selbst heute noch wird in Bibelübersetzungen vieler Sprachen als einzige Anrede die 2. Person
13
14
15 16
lateinische Parallelstelle sowie die neuhochdeutsche Übersetzung, die die Studie von Huisman (1969) bietet; ich benutze dabei auch im Althochdeutschen die leicht normalisierte Fassung von Huisman. Zusätzliche Stützung erhält diese Interpretation natürlich durch die Singularform im lateinischen Paralleltext. - Ähnlich auch schon Beleg (4') und unten (6'). Diese Beobachtung legt nahe, daß die Verwendungsbedingungen der höflichen Anrede in den beiden Sprachen unterschiedlich waren (so auch die Ansicht von Huisman 1969: 286). Auffällig hierbei ist allerdings die Verwendung des Nomens Bruder, denn zumindest in späterer Zeit war genau dies das Lexem, das in familiär-undistanzierter Anrede vorkam (vgl. Deutsches Wörterbuch 1860: II, 418f.; weitere Belege auch in Metcalf 1938: 98). So die einhellige Meinung der Forschung, vgl. z.B. Sonderegger (1987: 136f.). Der am wenigsten christlich geprägte Text des Althochdeutschen - das Hildebrandslied - kennt nach alter germanischer Sitte jedoch auch nur die Singularanrede.
96 Singular verwendet. 1 7 Es kann deshalb damit gerechnet werden, daß die pluralische Anrede an einen einzelnen Adressaten (also eine höflichkeitsrelevante cto-ir-Dichotomie) bereits im Althochdeutschen verbreitet war. Der Eindruck der Seltenheit der fraglichen Erscheinung liegt demnach eher an der durch die Spezifik der althochdeutschen Überlieferungssituation bedingten Schrägsicht des modernen Betrachters. 1 8 Wie weit die pronominale Höflichkeitsopposition schon in den alltäglichen Sprachgebrauch eingedrungen war, läßt sich heute naturgemäß nicht mehr feststellen.
4.1.2. Mittelhochdeutsche Variabilität Mit Einsetzen der breiteren frühmittelhochdeutschen Überlieferung nimmt auch die Beleglage für höfliches ir (insbesondere in der weltlichen Literatur des 12. Jahrhunderts) zu, 1 9 so daß nunmehr umfangreichere Untersuchungen auf soziolinguistischer Basis möglich sind. Aus der Fülle an Einzelbeobachtungen, die wir in bezug auf das Mittelhochdeutsche in erster Linie den Arbeiten von Ehrismann (1902, 1903, 1903/04) verdanken, läßt sich als allgemeines Bild destillieren, was Brown/Gilman (1960: 255ff.) als typisch für die europäischen Gesellschaften traditionellen Zuschnitts beschreiben, die bis weit ins 19. Jahrhundert hinein durch soziale Statusunterschiede geprägt waren: In medieval Europe, generally, the nobility said Τ to the common people and received K; the master of a household said Γ to his slave, his servant and received V within the family, of whatever social level, parents gave Γ to children and were given V. [...] There were also norms of address for persons of roughly equivalent power, that is, for members of a common class. Between equals, pronominal address was reciprocal; an individual gave and received the same form. During the medieval period, and for varying times beyond, equals of the upper classes exchanged the mutual Fand equals of the lower classes exchanged T. (Brown/Gilman 1960: 256)
Im Detail muß diese Vorstellung hinsichtlich des Mittelhochdeutschen allerdings revidiert werden, denn bei genauerem Hinsehen erweisen sich die pronominalen Anrede-Verhältnisse als weit weniger klar. Eine Differenzierung ist in zweierlei Hinsicht nötig: Erstens spielen neben der sozialen Schichtzugehörigkeit noch weitere Faktoren eine Rolle bei der Pronomenwahl. Einer der Hauptfaktoren ist dabei Blutsverwandtschaft; aber auch relatives Alter und die materiellen Verhältnisse können eine Rolle spielen. Dies wird in der folgenden Passage aus dem Parziva/-Roman Wolframs von Eschenbach (ca. 1200) deutlich, in der zwei einander bis dahin unbekannte Halbbrüder - der mächtige Heide Feirefiz und der künftige Gralskönig Parzival - ihr Anredeverhalten thematisieren, nachdem sie ihre gemeinsamen Wurzeln erkannt haben:
17
18
19
Im Englischen hat sich in diesem Zusammenhang sogar die ansonsten im Standard vollständig ausgestorbene Anrede mit thou erhalten. Besonders augenfällig wird dies bei Otfrid, in dessen eineinhalb moderne Druckseiten umfassendem Brief an Bischof Salomo mehrere Belege auftauchen - so der oben zitierte (2). Die darauf folgenden mehr als 250 Druckseiten des Hauptteils der Evangeliendichtung hingegen enthalten meines Wissens keine einzige einschlägige Textstelle. Vgl. hierzu Ehrismann (1902).
97 (8)
dô sprach der riche Feirefìz 'Jupiter hât sînen vlîz, werder helt, geleit an dich, du soit niht mère irzen mich: wir heten bêd doch einen vater.' mit briiederlîchen triwen bâter daz er irzens in erlieze und in duzenlîche hieze. diu rede was Parzivâle leit. der sprach 'bniodr, iur rîchheit glichet wol dem bâruc sich: sô sît ir elter ouch dan ich. min jugent unt min armuot sol sölher lôsheit sin behuot, daz ich iu duzen biete, swenn ich mich ziihte niete.' (Wolfram von Eschenbach, Parzival, 749,15-30) 20
Innerhalb der bürgerlichen Familie veränderten sich im Zuge der soziokulturellen Entwicklungen des Spätmittelalters wohl auch die Normen des Anredeverhaltens; entsprechend deutet beispielsweise Westphal-Wihl (1989: 96f.) die neue Anredeasymmetrie zwischen den Ehepartnern in einer aus dem 15. Jahrhundert stammenden Bearbeitung des ursprünglich vermutlich 200 Jahre älteren Märes Die halbe Decke als ein Zeichen für die sich verstärkende Misogynie im entsprechenden Zeitraum. Zweitens - und das ist der im vorliegenden Zusammenhang entscheidende Punkt - sind die Anredekonstellationen bei weitem nicht so strikt zu trennen, wie man nach dem oben angeführten Brown/Gilman-Zitat vielleicht meinen könnte. Im Gegenteil, der Wechsel zwischen der 2. Pers. PI. und der 2. Pers. Sg. gegenüber der gleichen Persönlichkeit als Ausdruck der Nuancierung des Empfindens [ist] so bekannt, daß Belege dafür sich erübrigen. (Paul/Wiehl/Grosse 1989: 392)
Das Problem bei einer solchen Art von „Mischstil" (Ehrismann 1902: 147) ist allerdings, die Gründe für den - oftmals nur sehr kurzfristigen - Wechsel zwischen du und ir innerhalb ein und derselben Sprecher-Adressaten-Dyade in einer Textpassage zu benennen. Bei einem Teil der Texte konnten in der neueren Forschung literarisch-stilistische Faktoren herausgearbeitet werden. Dabei wurden vielerlei für die jeweiligen Textsorten spezifische Überlegungen geltend gemacht, die beispielsweise auf literarische Konventionen der religiösen Lyrik (Palmer 1988) und der Liebeslyrik (Sayce 1993) sowie deren Entwicklung abheben. 21 - In anderen Texten aber werden kurzfristige Affektänderungen beim Sprecher oder ähnliches als relevant angesehen. Ein nicht dauerhafter Wechsel vom ir zum du innerhalb einer Zweierbeziehung würde dann beispielsweise als 'Ausrutscher' zu deuten sein, bei dem der Sprecher in einem Moment großer Wut zur nicht-höflichen Variante greift (ob unbewußt oder um bewußt zu beleidigen, sei dahingestellt). 22 Auch bei einer solchen Erklä-
20
21 22
Zitiert nach der Ausgabe von Lachmann ([1926] 1965: 340f.). - Diese Stelle ist unter Anredegesichtspunkten kurz interpretiert bei Völpel (1988: 16-18) und bei Ehrismann (1995: 56f.). Hier spielen beispielsweise Veränderungen des Marienbildes oder der Liebesmodelle eine Rolle. Vgl. z.B. Brown/Gilman 1960: 273-276) für mehrere literarische Beispiele für einen „momentary shift of mood" (S. 275).
98 rungsstrategie bleiben aber genügend Fälle, wo „Zweifel, ob man vom heutigen Standpunkt aus diese Schattierung allein aufgrund des Schriftbestandes nachvollziehen kann" (Grosse 1987: 813), angebracht sind. Doch die Unsicherheit hinsichtlich der Interpretation der Anredevariation ist nicht allein auf das heuristische Problem des modernen Linguisten zurückzuführen- also auf die Unzulänglichkeit der rein schriftlichen Überlieferung und auf den mit dem historischen Abstand zwangsläufig verbundenen Mangel an Einfühlungsvermögen des neuzeitlichen Interpreten. Denn bereits die mittelalterlichen Textproduzenten selbst zeigen ein interessantes Verhalten bei ihrer Pronominalverwendung. Sie variieren in einer Weise, die nicht vollkommen systematisch ist. - Das läßt sich in solchen Fällen demonstrieren, wo verschiedene Schreiber ein und denselben Text in unterschiedlichen Handschriften niedergelegt haben. Aus dem Vergleich der Parallelfassungen lassen sich Rückschlüsse auf die Einstellungen der Schreiber (bzw. Redaktoren) gegenüber den Anredekonventionen ihrer Zeit und gegebenenfalls auch auf die Strenge der Anredenorm ziehen. Zu diesem Zweck ist es allerdings notwendig, gewissermaßen 'hinter' die modernen Herausgeberentscheidungen, die hier oftmals nivellierend eingreifen, zurückzugehen und auf die Originalhandschriften zu schauen, denn in den kritischen Apparaten zu den Editionen werden die interessierenden Varianten meist überhaupt nicht eigens vermerkt oder sind bestenfalls nur mühsam indirekt zu erschließen. Aus diesem Grunde bietet es sich an, für die Untersuchung einen Text zu wählen, bei dem verschiedene handschriftliche Fassungen bequem zugänglich sind. Um einen solchen Text handelt es sich beim ca. 1200 entstandenen Nibelungenlied, für das mit der Ausgabe von Batts (1971) ein den Erfordernissen entsprechender Paralleldruck der drei noch im 13. Jahrhundert geschriebenen Haupthandschriften mit Hinweisen zu wesentlichen Lesarten der anderen Überlieferungsträger vorliegt. 23 Zur Demonstration der hier zu diskutierenden Problematik genügt es zu vergleichen, wie in den drei Handschriften A, Β und C 2 4 das Anredeverhalten innerhalb einer kurzen Textpassage variiert. Dazu wähle ich eine Episode aus der Interaktionsgeschichte von König Gunther und dem Helden Siegfried, der dem König mehrmals in schwierigen Situationen beisteht und im Laufe der Geschichte sogar dessen Schwester heiratet. Zum Verständnishintergrund der gewählten Episode ist zu sagen, daß das Anredeverhalten der beiden Figuren grundsätzlich von höfischer Sitte geprägt ist, d.h. „daß auch hier Ihr die Grundlage bildet, Du als Ausnahme fast immer eine bestimmte Gelegenheit voraussetzt" (Ehrismann 1903: 215). 25 Mit anderen Worten, zwischen Gunther und Siegfried ist die Verwendung von du und ir über einen längeren Zeit-
23
24 25
Daß ausgerechnet für das Nibelungenlied eine solche Edition existiert, ist natürlich kein Zufall, sondern der Entstehungsgeschichte und der literarischen Spezifik des Werkes geschuldet, bei dem die einzelnen Fassungen durchaus Anspruch auf künstlerische Eigengestaltung erheben dürfen (vgl. z.B. Heinzle 1998 für zusammenfassende Überlegungen zu dieser Thematik). Inwieweit die relative Eigenständigkeit der Textfassungen Einfluß auf das Analyseergebnis hat, läßt sich ohne weitreichende Untersuchungen und den Vergleich mit anderen mehrfach bezeugten mittelhochdeutschen Texten schwer abschätzen. Ich denke jedoch, daß die Grundbeobachtungen in ihrer Signifikanz erhalten bleiben. Für eine Auflösung der Siglen und kodikologische Kurzbeschreibungen vgl. Batts (1971: 801f.). Ehrismann (1903: 215f.) faßt die wichtigsten Stationen im Gebrauch der Anredepronomina in den Gesprächen zwischen diesen beiden Figuren zusammen. Er meint dazu, daß von allen Zweierbeziehungen innerhalb der Textwelt des Nibelungenlieds das Verhältnis in dieser Dyade ,,[a]m verwickeltsten" (S. 215) sei.
99 räum hinweg nicht stabil; statt dessen schwanken die beiden mehrfach hin und her, wobei die /r-Fälle überwiegen. Der gewählte Textausschnitt stammt aus der 10. Aventiure, in der es unter anderem um die Hochzeitsnacht König Gunthers mit seiner starken isländischen Braut Brünhild geht; konkret beschränke ich mich auf eine Analyse des Gesprächs zwischen Siegfried und dem frustrierten Gunther, in dem dieser seinem - mittlerweile - Schwager über die peinlichen Vorkommnisse in jener Nacht berichtet. Die folgende Abb. 26 gibt schematisiert den Pronomengebrauch der beiden Figuren wieder, wobei die verschiedenen Kasusformen ebenso unter dem zugehörigen Nominativ versammelt sind wie die aus den pronomenlosen Imperativen zu erschließenden Numerus-Spezifikationen. 26 Abbildung 24: Anrede in einem Ausschnitt aus dem Nibelungenlied Strophennummer nach Handschrift C
Handschrift C (Strophenzählung: 653-662)
Sprecher —» Gunther
Siegfried
653
ir
Handschrift A (Strophenzählung : 598-605)
Handschrift Β (Strophenzählung 648-656)
Gunther
Gunther
Siegfried ir
ir
654
ir
keine Anrede
keine Anrede
655
ir
du
du
656 657
ir du
Siegfried
ir
du Strophe fehlt
Strophe fehlt
658
du
Strophe fehlt
du
659
du
??
du
660
du
ir
du
661 662
du
du
du du
du
du
In der Eingangssequenz herrscht noch das übliche höfische Oberschichts-/>. Doch dann geht König Gunther zum du über: In A und Β geschieht dies an der Stelle, wo Gunther Siegfried heimlich in die Geschehnisse der Nacht einweiht: (9)
26
daz sol dir frivntlichen
tovgen sin gechleit. (Hs. A 600,3)
In der Ausgabe von Batts (1971), nach der auch zitiert wird, findet sich die analysierte Stelle S. 194-199.
100 In C erfolgt der Umschwung dagegen erst einen Gesprächszug später, als Gunther über die körperlichen Mißhandlungen klagt, die ihm widerfahren sind:27 (10)
Nv schowe mine hende, die twanc si mir so sere, daz mir blvt zen nagelen
wie di geswollen sint. als ob ich waere ein kint, allenthalben dranch. (Hs. C 657,1-3)
Siegfrieds Reaktion auf den Pronomen-Wechsel des Königs besteht jeweils darin, daß auch er zum du übergeht. Dies geschieht sowohl in Β als auch in C in der unmittelbaren Antwort auf Gunthers Wechsel zum du: (9a) (10a)
ez ist mir werliche leit Des bringe ich dich wol innen; (Hs. Β 650,4b-651,1a) dv maht noch wol genesn. (Hs. C 658,1b)
Aufschlußreich ist nun der Pronomengebrauch in der Handschrift A. Auch hier verwendet Gunther das du, als er Siegfried zum Mitwisser des nächtlichen Geheimnisses macht. Doch dieser geht auf das königliche Duz-Angebot zunächst nicht ein; statt dessen verharrt er in der höfischen j'r-Anrede, wodurch kurzzeitig eine Asymmetrie entsteht. - Problematisch wird dieses Verbleiben beim ir für den Schreiber/Redaktor der Handschrift jedoch in den Fällen, in denen die Pronominalform in Reimposition steht: (11)
ich kvme noch heint also tovgenliche
ze der kemenaten sin in der tarnkappe min. (Hs. A 602,1 -2)
So verlangt die Stelle in (11) aus reimtechnischen Erwägungen eigentlich eine Form von du (nämlich din, im Gegensatz zu iuwer o.ä.). Aus irgendeinem Grunde scheint der Schreiber/Redaktor aber den Gebrauch einer solchen ¿w-Form umgehen zu wollen, denn in der Umgebung der Stelle verwendet Siegfried lauter /r-Formen. Der vom Schreiber/Redaktor gewählte Ausweg mit dem Possessivpronomen der 3. Person Singular sin ergibt an dieser Stelle allerdings keinen Sinn, denn die fragliche Kemenate ist das Schlafzimmer Gunthers, also des Adressaten. 28 Eine mögliche Interpretation könnte dabei sein, daß der Schreiber/Redaktor der Handschrift A weniger 'duzfreudig' war als seine Kollegen und aus diesem Grunde es für unangemessen hielt, daß Siegfried hier eine ί/w-Form verwendet. Wenige Strophen später allerdings kapituliert auch er vor dem Reimzwang und setzt an einer parallelen Stelle eine Form von du: (12)
27
28
„Daz tun ich", sprach Syfrit, daz ich ir niht minne. ist mir vor in allen,
„vf die triwe min, div liebe swester din die ich noch ie gesach." (Hs. A 605,1-3)
An dieser Stelle steht zwar kein explizites Anredepronomen; durch die Singular-Form des Imperativs ist aber eine du-Anredekonstellation impliziert. Die Stelle wird aus diesem Grunde auch von Lachmann (1878: 84) zu in emendiert. - Die Annahme, hier läge wirklich ein adressatenbezügliches Pronomen der 3. Person vor (was angesichts der späteren Entwicklung ja nicht vollkommen absurd schiene, s.u. Abschnitt 4.2), scheidet sicherlich aus, denn alle weiteren Belege sind mehrere Jahrhunderte jünger. - Die Tatsache, daß an manchen Stellen, wo ein höfliches Anredepronomen zu erwarten ist, eine Pronominalform steht (z.B. A 563,1 oder Β 126,1) gibt auch kein diesbezügliches Argument, denn hierbei handelt es sich lediglich um Varianten von ir (vgl. Weinhold 1883: 515); auch die Verbformen deuten in diese Richtung.
101 Nun wäre es aber auch verfehlt anzunehmen, die Handschrift A hätte eben generell Vorbehalte gegenüber dem ¿«-Gebrauch im höfischen Kontext und bevorzuge deshalb ir in den oben angegebenen Auszügen. Denn an anderen Stellen des Textes verhält es sich genau umgekehrt: In A 84,4 verwendet Gunther gegenüber seinem Gefolgsmann Hagen das du wohingegen in Β und C ein ir steht - und umgekehrt redet auch Hagen seinen König in A 120,2 (diesmal in Übereinstimmung mit B, aber gegen das ir in C) und A 1943,1-2 (genauso wie in Β und C) mit du an. 29 Worin liegt nun die Signifikanz der anhand des Handschriftenvergleichs gewonnenen Beobachtungen? - Der zentrale Befund, der über die bloße Konstatierung eines 'Mischstils' hinausgeht, ist die Tatsache, daß die Verwendung der Anredepronomina an eine einzelne Person - ob du oder höfisch-höfliches ir - in der Tat sehr variabel ist: und zwar variabel nicht nur, was die Verwendung innerhalb der textinternen Chronologie, der erzählten Zeit, betrifft, sondern auch - und das scheint mir sehr wichtig - gewissermaßen textsynchronidiolektal über die verschiedenen Handschriften hinweg. Was sich hierin manifestiert, ist eine signifikante Freiheit im Benutzen der einen oder anderen Anredeform (natürlich in gewissen Grenzen). Diese inhärente Freiheit zeigt sich insbesondere darin, daß die einzelnen Handschriften sich nicht konsistent zueinander verhalten - andernfalls könnte man ja annehmen, es läge ein bewußter literarischer Gestaltungswille, beispielsweise im Hinblick auf eine stärker höfische Stilisierung, Modernisierung oder ähnliches, seitens einer der Handschriften-Redaktionen zugrunde (denn der fiktionale Charakter der Texte darf natürlich nicht außer acht gelassen werden). 30 Wenn nun aber drei zeitlich und räumlich vergleichsweise eng aufeinanderliegende Handschriften 31 jeweils unterschiedlichen Pronomengebrauch demonstrieren - und dies noch dazu in unsystematischer Art und Weise - dann verlangt dies eine ins Grundsätzliche greifende Erklärung. Die beschriebene Variabilität kann dahingehend gedeutet werden, daß die höflichkeitsinduzierte ¿w-zV-Opposition im Mittelhochdeutschen zwar eindeutig schon vorhanden war, daß aber die Normen, die in bezug auf die Verwendung der einen oder anderen Form galten, vergleichsweise lax waren, d.h. relativ leicht durchbrochen werden konnten. Das bedeutet freilich aus der in den Kapiteln 2 und 3 entwickelten Perspektive, daß wir es hier womöglich mit einer rein pragmatisch gesteuerten Strategie zu tun haben: Ähnlich wie man im Persischen oder im Chinesischen ein Nomen in den Plural setzen kann, 32 wenn man die Mehr-Zahligkeit besonders betonen will, kann man im Mittelhochdeutschen - zu besonderen pragmatischen Zwecken - die Pronomenwahl steuern. Der Sprecher kann durch den Einsatz des einen oder anderen Anredepronomens situationsspezi29
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Die Anredeverhältnisse in der Aventiure, aus der das letztgenannte Beispiel stammt, werden übrigens von Ehrismann/Ramge (1976: 122) als repräsentativ für die Epoche charakterisiert. Trotz der vorgeschlagenen Analyse schiene es mir lohnenswert, eventuellen Effekten der Anredevariation für die Figurencharakterisierung in den einzelnen Fassungen des Nibelungenlieds einmal genauer nachzugehen; interpretatorisch interessante Beobachtungen können nicht von vornherein vollkommen ausgeschlossen werden. - Für die handschrifteninterne Inkonsequenz bei der Duzfreudigkeit wäre prinzipiell auch ein anderer Erklärungsansatz in Betracht zu ziehen: Wechsel der Schreiberhand. Diese Möglichkeit scheidet jedoch aus, denn ein solcher Schreiberwechsel erfolgt in der Handschrift A erst an späterer Stelle (vgl. Batts 1971: 801), er kann hier also keinen Einfluß haben. Darüber hinaus wäre mit einem solchen Typ von Argument die Differenz zwischen den Handschriften nur schwer erklärbar. Lediglich C ist wohl um wenige Jahrzehnte älter. So dies natürlich überhaupt möglich ist (vgl. Abschnitt 2.2.1).
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fisch agieren; er kann mehr oder weniger 'höflich' sein und das positive oder negative Face seines Gegenübers bedienen. Gunthers (optionaler) Wechsel zum du in den oben beschriebenen Fällen könnte somit dahingehend gedeutet werden, daß er wirklich sein Gegenüber Siegfried direkt anspricht, ohne ihn symbolisch in eine größere Gruppe von Adressaten eintauchen zu lassen, wodurch bei der Brisanz des Themas eine stärkere Verbindlichkeit der Interaktion gewährleistet ist. Eine andere mögliche Interpretation wäre, daß Gunther den Pronomenwechsel benutzt, um vor der Eröffnung eines peinlichen Gesprächsabschnitts erst einmal 'gute Stimmung' zu machen: Er tut dies, indem er das positive Face Siegfrieds unterstützt durch die in Abschnitt 3.1 erwähnte Strategie „use in-group identity markers". Das gelegentliche Schwanken der Handschriften ist so gesehen auf die Tatsache zurückzufuhren, daß die pragmatischen Strategien der facebezogenen Beziehungsarbeit eben keinen zwingenden Charakter haben, sondern in ihrer (Nicht-)Anwendung relativ frei verfügbar sind. 33 Mit einem solchen Erklärungsansatz, der auf die in entscheidender Weise mit optionalen Strategien operierenden Überlegungen von Brown/Levinson (1987) zurückgreift, können möglicherweise auch viele der sowohl von der älteren wie auch von der neueren Anredeforschung zu verschiedenen historischen Sprachen immer wieder mit Verwunderung festgestellten 'unerklärlichen' Anredevariationen innerhalb eines Sprecher-Adressaten-Paares einem pragmatik-geleiteten Verständnis zugeführt werden. 34 - Mit dem Blick des Gram33
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Im übrigen gibt es die Variabilität bei den Pronomina nicht nur in einer 'jV-Situation', wo zum du übergegangen wird, sondern auch in umgekehrter Richtung: Ein besonders ins Auge fallender Beleg ist die Stelle, wo Siegfried unter Eid schwört, er sei es nicht gewesen, der Brünhilds „schonen lip / erste [habe] geminnet" (C 865,3b-4a). Während der ganzen Szene stehen er und Gunther als miteinander Verschwägerte, die darüber hinaus ein Geheimnis teilen, das Gunthers Ehre gefährdet, in einem ¿/«-Verhältnis. So verspricht Gunther: „daz gerihte daz dv bivtest, vn(d) mac daz hie geschehn, / aller valseen dinge wil ich dich ledic lan" (C 867,2-3). Nach Siegfrieds Heben der Schwurhand spricht ihn Gunther in der unmittelbar folgenden Strophe von den Vorwürfen frei mit den Worten: „mir ist so wol erchant / iwer groz vnschulde, ich wil iveh ledic lan, / des iveh min swester zihet, / daz ir des nine habt getan" (C868,2b-4). D.h. in dem Moment, in dem Gunther in seiner Eigenschaft als oberster Gerichtsherr (und als unmittelbar vom Inhalt des Schwurs Betroffener) einen Rechtsakt vollzieht, schwenkt er zum ir über (da dies im Text sein letztes Stück wörtliche Rede an Siegfried ist, wissen wir nichts über den Fortgang seines Anredeverhaltens; Siegfried jedenfalls duzt ihn unmittelbar anschließend weiter). - Ein solches Schwanken in Abhängigkeit von „offizieller vs. nichtoffizieller Kontext" beschreibt auch z.B. Buchenau (1997: 80f.) für das gegenwärtige Russische. Sehr selten kann man auch im Deutschen bei manchen Sprecherinnen Entsprechendes beobachten: beispielsweise in formalen, öffentlichen Prüfungssituationen oder bei Vereidigungen. Vgl. z.B. Formulierungen wie: „Nicht immer verfahren wol die dichter mit bewusster absieht, und man muss, vielleicht doch öfter als ich dies getan habe, das walten des Zufalls anerkennen" (Bernhardt 1901: 381) und „Departures from the norm [...] may in later poets be apparently random" (Sayce 1993: 108; beide zum Mittelhochdeutschen) oder „das rätselhafte Durcheinander von Sing.- und Plur.-Formen innerhalb derselben Rede" (Kisbye 1965: 435; zum frühmittelalterlichen Latein in England). - Numerusbezogene Anredevariation ist darüber hinaus für eine Vielzahl von älteren Sprachstufen konstatiert worden: so z.B. von Stone (1984: 54) für das Polnische des 16. Jahrhunderts und von Lebsanft (1987) für das Altfranzösische. Bruti (2000) versucht, mittels zweier einander überlagernder Markiertheitskorrelationen die Variation in frühneuenglischen Dramen zu erklären; Jucker (2000) plädiert in ähnlicher Weise wie ich für eine stärker pragmatisch-interaktional fundierte Betrachtung der Mikrovariation der Anrede in historischen englischen Texten. Vennemann/Wagener (1970: 26-30) beschreiben „symptomatische Pronominalanreden" in Dramen von Andreas Gryphius aus der Mitte des 17. Jahrhunderts; in Metcalf (1938) finden sich
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matikers, der die strenge Meßlatte der Obligatorizität f ü r grammatische Kategorien anlegt, bedeutet dies aber, daß die mittelhochdeutsche du-ir-Variation lediglich als eine p r a g m a tisch zu beschreibende Höflichkeitsstrategie zu betrachten ist. Die gerade skizzierte Deutung wirft auch ein neues Licht auf die schon jahrhundertealte Frage, w a n n und vor allem w a r u m die pluralische Anrede an einen einzelnen Adressaten im Deutschen a u f g e k o m m e n sei. Der älteste Versuch einer Erklärung stammt bereits aus d e m späten 11. Jahrhundert. So weiß der a n o n y m e Verfasser des Annolieds über Julius Caesar folgendes zu berichten: (13)
Du vrouwite sich der ¡unge man, daz her die riche al gewan. Her vûr du mit geweite ci Róme suî sô her wolte. Rômêre, du sin infiengin, einin nûwin sidde aneviengin: si begondin igizin den heirrin. daz vundin simi cêrin, wanter eini dû habite allin gewalt, der é gideilit was in manigvalt. den sidde hîz er dû cêrin diutischi liuti lêrin. (Annolied 28,1-12) 35
Dieser Textstelle g e m ä ß geht die ;>-Anrede (im Text mit d e m V e r b igizin bezeichnet, das d e m normalmittelhochdeutschen irzen entspricht) also auf einen antiken Brauch zurück: N a c h Caesars militärischen Siegen ehrt das römische Volk den n u n m e h r ganz allein regierenden Kaiser dadurch, daß es ihn mit d e m P r o n o m e n der 2. Person Plural anredet (wie in Kapitel 2.2.2. demonstriert, u m f a ß t die Semantik dieses Pronomens neben dem/den Adressaten gegebenenfalls auch Unbeteiligte, so daß hier von einer metaphorischen Einbeziehung der ehemals an der M a c h t Beteiligten gesprochen werden könnte). In die deutsche Sprache sei der Brauch der Pluralanrede schon zu Zeiten Caesars durch N a c h a h m u n g des bewußt nach außen getragenen römischen Vorbildes g e k o m m e n . 3 6 D u r c h die aus d e m zweiten Viertel des 12. Jahrhunderts s t a m m e n d e Kaiserchronik, die im relevanten Abschnitt im wesentlichen eine modernisierende Ü b e r n a h m e von Abschnitten aus d e m Annolied darstellt, hat die These im Mittelalter weitere Verbreitung gefunden. 3 7
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mehrfach Hinweise verstreut für 'symptomatic du' oder 'symptomatic ihr' des 16. bis 18. Jahrhunderts im Deutschen. - Doch auch ethnologische Untersuchungen am 'lebenden Objekt' zeigen entsprechenden fakultativen Pronomengebrauch: Neben der in Abschnitt 3.2 zitierten anthropologischen Literatur zu 'honorifics' vgl. z.B. Keenan (1974, insbesondere S. 65ff.) für instruktive Beispiele für ein ganzes Bündel von mehr oder weniger fakultativen Strategien, die pluralischen Bezug auf Gruppen involvieren, wenn im Malagasy (Austronesisch, Madagaskar) gegenüber einzelnen Personen sozial adäquat, d.h. höflich, agiert werden soll. Zitiert nach der Ausgabe von Nellmann (1986: 38); dort S. lOOf. auch ein Stellenkommentar. Diese Aussage kann natürlich den Kern der Wahrheit insofern nicht treffen, als es zu Caesars Zeiten noch gar keine deutsche Sprache im eigentlichen Sinne gegeben hat; die Ausdifferenzierung der germanischen Einzelsprachen ist wohl erst jüngeren Datums (vgl. die zusammenfassende Diskussion in Ramat 1981: 10-13). Zum politischen Gehalt der Behauptung vgl. die Angaben bei Nellmann (1986: 101). Vgl. den Abdruck der einschlägigen Passage bei Nellmann (1986: 128).
104 Inwieweit die neuzeitlichen wissenschaftlichen Deutungen direkt von der AnnoliedThese beeinflußt sind, läßt sich im einzelnen nicht feststellen. Auf jeden Fall wird aber die Annahme, es handle sich beim Ursprung der deutschen Höflichkeitsanrede um römerzeitliche Gepflogenheiten, die aufgrund von Sprachkontakt irgendwann später übernommen wurden, weiterhin vielfach erwähnt. Allerdings wird dabei nicht mehr auf die Herrschaft Caesars verwiesen, sondern auf das Doppelkaisertum der Spätantike. Demnach sei es so gewesen, daß zu Zeiten der Doppelherrschaft der beiden Kaiser in Rom und Konstantinopel (ab 395 n. Chr.) diese ihre Erlasse stets mit dem pluralischen wir verfaßt hätten, so daß, wann immer der eine der beiden etwas äußerte, der andere quasi im Hintergrund als MitAutor mitgedacht wurde. Das hätte dazu geführt, daß umgekehrt auch in der Anrede an einen der beiden Kaiser der andere einbezogen wurde, indem das Plural-Pronomen verwendet wurde. Diese Hypothese findet sich - mehr oder weniger zustimmend referiert, stets als möglicherweise zutreffend charakterisiert - beispielsweise bei Brunot (1953: 271), Brown/Gilman (1960: 255) und Buchenau (1997: 21) - um nur drei der vielen Autoren zu nennen. Nach Guiter (1959/61: 201 f.), der im übrigen selbst die Herausbildung der westeuropäischen Anredeformen mit der Spezifikation '3. Person' als kontaktinduzierten „fait impérial" betrachtet, vertritt unter den neueren Autoren wohl Kohz (1982: 6) am deutlichsten die Ansicht vom letztendlich römischen Ursprung des ir: „Dieses Phänomen ist aber weniger auf sprachliche Phantasie, als vielmehr auf eine zufallige geschichtliche Tatsache zurückzuführen." 38 Aus zweierlei Gründen ist die Betonung des lateinischen Kontakteinflusses (und insbesondere die Doppelkaiser-These) mit Skepsis zu betrachten: Erstens sind bereits vor der Teilung des Römischen Reichs die Pluralformen nos bzw. vos im Bezug auf Einzelpersonen zu finden; und zwar überdies zuerst in Briefen von Bürgern, die eher privaten Charakter haben und gar nicht im Umfeld des Kaiserhofs entstanden sind. 39 Zweitens - und hierbei hilft der Blick in die typologische Literatur - ist die höfliche Pluralanrede innerhalb der Sprachen der Welt dermaßen weit verbreitet, daß unmöglich in allen Fällen von einer Beeinflussung durch das Alte Rom ausgegangen werden kann. 40 Zwar lassen sich bei einigen der Sprachen, die außerhalb des nach Besch (1998: 93) in diesem Zusammenhang relevanten Raums mit einer „abendländischen Schrift- und Kulturtradition" im engeren Sinne stehen, gewissermaßen Kontaktketten konstruieren, z.B. nach dieser Art: Das Lesgische, eine Kaukasussprache, übernimmt die höfliche Pluralanrede während der Sowjetzeit aus dem Russischen (Haspelmath 1993: 184), dieses wiederum wurde im 18. Jahrhundert entscheidend durch das Französische geprägt (Friedrich 1972: 273f.; mit leicht anderer zeitlicher Akzentuierung Berger 1995: 47f.), und die letztere Sprache stellt eine der Nachfolgesprachen des Lateinischen dar, wo die höfliche Anrede in der 2. Person Plural wie oben dargelegt angeblich ihren Ausgang nahm. Doch bei vielen Sprachen lassen sich solche Ketten nur schwerlich motivieren, insbesondere dann natürlich, wenn bereits kurz nach dem Erstkontakt mit Europäern eine entsprechende Anredeopposition beschrieben wird - oder wenn 38
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Allerdings wundert auch Kohz (1982) sich in einer Anmerkung, wieso dann im Isländischen des 9. Jahrhunderts bereits vergleichbare Muster belegt sind, w o doch „für die Skalden Beeinflussung durch das romanische Vorbild oder gar den spätrömischen Urkundenstil kaum angenommen werden kann" (S. 6). Vgl. Zilliacus (1962: 179ff.) und bereits Ehrismann (1901: 117ff.). Nach Hagège (1995: 114) besitzt mehr als ein Drittel aller Sprachen eine höflichkeitsrelevante Singular-Plural-Differenzierung in der 2. Person; Head (1978: 157) listet mehr als 80 davon auf.
105 der Kontakt mit neuzeitlichen Engländern stattfindet, die die Unterscheidung selbst nicht haben. 41 Umgekehrt braucht man aber möglichen Kontakteinfluß nicht in allen Fällen kategorisch auszuschließen. Nur sollten dann jeweils spezielle soziolinguistische Gründe geltend gemacht werden können, die sozusagen katalytisch auf die prinzipiell auch aus interner Motivation heraus mögliche Entwicklung haben wirken können. 42 Für den vorliegenden Ansatz bedeutet dies, daß die alte Frage nach der Herkunft der ¡'/--Anrede im Deutschen vielleicht falsch gestellt ist: Eine solche Singular-Plural-Opposition kann unabhängig von etwaigen antiken Vorbildern aufgrund der höflichkeitstheoretischen Überlegungen im Anschluß an Brown/Levinson plausibel gemacht werden. Wie in Abschnitt 3.1 dargelegt, besteht die Funktion negativer Höflichkeit darin, to mitigate the threat to a person's face inherent in the interaction itself by symbolically placing the addressee outside of its confines. They thus give face to the addressee by ritually stating the unwillingness of the speaker to bind the addressee to the behavioral obligations o f the interaction. (Malsch 1987: 417)
Durch die Verwendung von ir an einer Stelle im Gespräch, wo referenzsemantisch betrachtet eigentlich ein du am Platze wäre, gibt der Sprecher dem Adressaten zumindest symbolisch die Chance, sich in eine größere Gruppe zurückzuziehen und dadurch unmittelbare Reaktionsverantwortung zu verweigern. Durch ein Plural-iV nagelt der Sprecher den Adressaten weniger fest als durch ein Singular-^. - Daneben könnte noch ein ganz anderer Typ von Erklärungsmuster angenommen werden, der ohne den Rückgriff auf die abendländische Spätantike auskommt. Listen (1999: 41-47) hat mit der Begrifflichkeit der 'Cognitive Grammar' von Langacker herausgearbeitet, wie Pluralität als Metapher fur Größe und diese wiederum als Metapher für Macht verstanden werden kann. Und die symbolische Kodierung von 'Macht des Adressaten' ist es, wodurch die Höflichkeit der ir-Verwendung konstituiert wird. 43 Festzuhalten bleibt folgendes: Nach vereinzelten Anfängen in althochdeutscher Zeit (wobei aber unsere Schrägsicht durch die ungünstige Überlieferungssituation berücksichtigt werden muß) ist spätestens ab dem 11. Jahrhundert eine höfliche Anrede mit dem Pluralpronomen ir an eine einzelne Person, die mit dem Pronomen du kontrastiert, weit verbreitet. Die Regeln, die die Verwendung der beiden Pronomina steuern, sind im großen und ganzen durch die von Brown/Gilman beschriebene 'Semantik der Macht' (d.h. bei sozialem Gefalle: von oben herab du und von unten aufblickend ir) zu bestimmen; allerdings kann in vielen spezifischen Einzelsituationen das durch diese Regularitäten 'eigentlich zugeteilte' Pronomen durch genau das andere ersetzt werden. Hierbei verfahren die unterschiedlichen Quellen verschieden, was auf eine Grundstruktur schließen läßt, die gewissermaßen (diskurs-)pragmatischen Regeln unterworfen ist. Die Verwendung eines bestimmten Anrede-
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Hierunter fallen beispielsweise viele Sprachen Schwarzafrikas und des indischen Subkontinents; zu letzteren vgl. z.B. Masica (1991: 226 u. 265). Auch Corbett (2000: 220f.) erwähnt einschlägige Sprachen aus mehreren englischsprachig kolonialisierten Weltgegenden. Diese Auffassung vertritt auch z.B. Berger (1998: 310f.). Vgl. auch Thomason/Kaufman (1988: 57-64) für eine generelle Diskussion der Problematik. Gestützt werden solche Überlegungen im übrigen durch die Beobachtung, daß z.B. in zwei (nicht nah miteinander verwandten) Niger-Kongo-Sprachen „le même mot signifie 'honorer' et 'être (ou rendre) nombreux'" (Hagège 1995: 114, Anm. 34).
106 pronomens in einer gegebenen Sprecher-Adressaten-Dyade ist im Mittelhochdeutschen also keineswegs obligatorisch. Diese Beschreibung ist bis weit ins Frühneuhochdeutsche hinein gültig. Noch im 16. Jahrhundert gilt im wesentlichen eine Singular-Plural-Anredeopposition der geschilderten Art; lediglich die soziologischen Faktoren, die ihre Verwendung im Detail steuern, haben sich im Laufe der Zeit verschoben (vgl. Keller 1904/05: 129-155).
4.2. System III: du vs. ihr vs. er/sie
Doch dann geschieht ein für die Geschichte des deutschen Anredesystems folgenreicher Schritt: Ein Pronomen der 3. Person Singular wird neben den bereits vorhandenen Pronomina als dasjenige mit dem höchsten Höflichkeitswert eingeführt: er bzw. sie,44 D.h. für die höfliche Adressaten-Deixis wird ein Pronomen verwendet, dessen 'eigentliche Bestimmung' im Paradigma in der Unbeteiligten-Referenz liegt; die gravierende Neuerung besteht darin, daß nicht mehr die grammatische Kategorie Numerus verwendet wird, um Höflichkeit (bzw. Respekt) zu kodieren, sondern die Kategorie Person. Die Einzelheiten der Entwicklung, im Zuge derer die Pronomina der 3. Person - also er/sie und später Sie - ins Anredesystem eindringen, sind hochkomplex.45 Ich werde in den folgenden Abschnitten bei der Darstellung dieses Ablaufs radikal simplifizieren und lediglich die wesentlichen Entwicklungsstufen herausfiltern. Dies hat mehrere Gründe: Zum einen liegt es in der Natur des uns zur Verfügung stehenden Datenmaterials, daß manche der feineren Differenzierungen, die bei der Analyse der Anredegeschichte an sich notwendig wären, gar nicht oder nur mit unverhältnismäßig hohem Aufwand zu treffen sind. Das liegt an der bei historischen Untersuchungen immer auftretenden Problematik, daß wir die älteren Sprachstufen nur in ihrem schriftlichen Niederschlag kennen können. Bei manchen Fragen wäre es aber unabdingbar, die Wandelerscheinungen in der mündlichen Sprache nachzuverfolgen - nach dem in Abschnitt 3.1. referierten Höflichkeitsmodell, das wesentlich auf diskursive Konzepte zurückgreift, gehört die Anrede zu jenen Strukturen, die in besonderem Maße im Kontext mündlicher 'Echtkommunikation' untersucht werden müßten. Solange die involvierten sprachlichen Phänomene in erster Linie als diskursfunktionale pragmatische Strategien zu charakterisieren sind, kommt den schriftlich überlieferten Tex-
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Das Zeichen bezeichnet im folgenden das Pronomen der 3. Person Singular Feminin und in keinem Fall das der 3. Person Plural. Vgl. das reichhaltige Belegmaterial, das allein in den drei großen Monographien von Metcalf (1938), Svennung (1958) und Listen (1999) sowie in Keller (1904/05) - allerdings nicht immer ganz systematisch - zusammengetragen wurde. - Insbesondere die Arbeit von Svennung liefert darüber hinaus umfangreiches Material zu anderen europäischen Sprachen. Auf Spekulationen bezüglich gegenseitiger Beeinflussung der diversen Sprachen gehe ich im folgenden nicht ein, denn wenngleich die auffälligen Parallelen in den einzelnen europäischen Sprachen nicht von der Hand zu weisen sind, so gibt es doch andererseits auch genügend außereuropäische Vergleichsfälle, die eine allzu einfache Transferannahme wenig attraktiv erscheinen lassen (vgl. z.B. Head 1978: 187 für eine einschlägige Liste (ost-)asiatischer Sprachen mit „pronominalized nouns in address"). Vgl. auch oben die Überlegungen zur Einführung der Pronomina der 2. Person Plural.
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ten demnach nur ein begrenzter heuristischer Wert zu. Insbesondere Fragen der exakten Datierung von Wandelprozessen sind davon betroffen. 4 6 Zum anderen ist im vorliegenden grammatikorientierten Ansatz eine präzise soziologische Fixierung der Verwendungsbedingungen der einzelnen Formen - so eine solche überhaupt möglich wäre - nicht notwendig. Entsprechende Detailbeobachtungen der älteren Literatur bleiben somit ausgeklammert. Es geht im folgenden also in erster Linie um die relative Diachronie der einzelnen Anredesysteme, d.h. um eine Reihung der Abfolgeschritte, die die Entwicklung der Anrede mit einem Pronomen, das grundsätzlich erst einmal für den Wert '3. Person' spezifiziert ist, genommen hat. Im Laufe des 16. Jahrhunderts breitete sich die Verwendung der höflichen Anrede mit dem Pronomen der 2. Person Plural in der Sprechergemeinschaft des Deutschen aus, so daß auch sozial niedriger stehende Sprecherschichten diese Anredeform in ihrem Repertoire hatten und umgekehrt sich auch der Kreis der potentiellen Adressaten vergrößerte (vgl. Keller 1904/05: 129ff.). Ungefähr zur gleichen Zeit wurde zur Anrede der höheren Schichten eine neue Form der besonders höflichen Anrede zunächst zögerlich eingeführt - gewissermaßen als Ausgleich des Verlustes an Exklusivität von /Ar:47 die Verwendung von personenbezeichnenden Nomina wie der (oder: mein) Herr, die Jungfer, der Vater etc. zur Bezeichnung des Adressaten. 48 Typische Fälle einer solchen Anredeform sind z.B.: 4 9 (14a)
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Der Herr lass mich nur machen. Gebe der Herr mir den Rock, so darff mich der Herr so bald nimmer klaiden. (Erzherzog Ferdinand II von Tirol 1584, Drama; zitiert in Keller 1904/05: 168) Der Herr mus von uns in ungut nicht auffnemen, Das wir so ungekleidet den herrn anreden. (Herzog Heinrich Julius von Braunschweig 1594, Drama; zitiert in Keller 1904/05: 168) Ich bitt gantz freundlich, der Herr Woll mir es nicht für vbel deutn, Das ich ihn ansprech bei den Leutn, ... Bitte demnach gantz freundlich nun, Der Herr wolle doch an mir thun, Die Wercke der Barmhertzigkeit. (Herzog Heinrich Julius von Braunschweig 1605, Drama; zitiert in Metcalf 1938: 60) Hertzlieber vatter, ich laß euch wissen ... ich bitte der vatter wolle nicht zürnen das wir nicht sind auf die kirwei komen, wan uns der vatter gern eine kirwei gibt, kan er sie mit meinem herren schicken ... Ich schicke hiemit dem vatter den melissensamen, davon ich dem vatter in der kirwei gesagt habe. (Brief einer Heidelberger Professorentochter 1618; zitiert in Keller 1904/05: 169)
Für jemanden, der von einem dynamischen Sprachbegriff ausgeht, wozu die Annahme von gleitenden Übergängen im Zuge von Grammatikalisierungsprozessen zählt, treten genaue Zeitangaben ohnehin in den Hintergrund. Die Ursprünge dieser Erscheinung dürften indes weit älter sein. So diskutiert Svennung (1958) Beispiele aus einer ganzen Palette von Sprachen; S. 45 bringt er einen Beleg aus dem Mittelhochdeutschen des 13. Jahrhunderts. Auch Grimm (1866: 247-251) erwähnt Beispiele aus diversen alten indogermanischen Sprachen und aus dem Hebräischen; Keller (1904/05: 166-168) zitiert eine Reihe von vereinzelten Belegen aus dem 16. Jahrhundert. - Spätestens ab der Wende zum 17. Jahrhundert ist die Struktur jedenfalls fest etabliert. Zum Gebrauch von Abstrakta wie Majestät, (Euer) Gnaden, (Euer) Ehren usw. vgl. den folgenden Abschnitt. Ich zitiere im folgenden überwiegend aus der in Anm. 45 genannten Sekundärliteratur, wo jeweils die genauen Literaturangaben zu finden sind. Eigene stichprobenartige Erhebungen haben im übrigen kein grundsätzlich anderes Bild ergeben. - Die Zusammenstellung der Belege soll jeweils auf leicht verständliche Weise kontextfrei den relevanten Punkt illustrieren; eine Auswahl im Hinblick auf Häufigkeit, Erstbelegung o.ä. ist nicht angestrebt.
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D i e s e Art der Verwendung von N o m i n a im Satzsyntagma wird von Braun (1988: 11) in ihrer Systematik als „bound form" bezeichnet wird - im Gegensatz zu freien Formen, die außerhalb des Satzes (also sozusagen vokativisch) stehen. Hierbei ist ohne Kontextwissen oft nicht zweifelsfrei zu entscheiden, ob überhaupt ein Anredefall vorliegt oder ob nicht statt dessen über jemanden gesprochen wird. D i e Gruppe der Nomina, die in die Konstruktion eingehen können, ist nicht von vornherein begrenzt: Prinzipiell können alle Personenbezeichnungen verwendet werden, vgl. z.B. (15a) bis (15c); selbst Eigennamen kommen gelegentlich vor (15d): 5 0 (15a) (15b) (15c)
( 15d)
Wil mein schöns Lieb ein Ehrentrunk? (Rinckhart 1613; zitiert in Keller 1904/05: 169) Juncker und Braut verzeihen mir... (Rinckhart 1613; zitiert in Keller 1904/05: 169) Nahchdähm es nicht gnug ist, däm schreiben meiner Schönen gnüge zu tuhn ... so überschikk' ich ihr dasjenige, welches ... mich entbürden würd. (Philip von Zesen 1645, Roman; zitiert in Metcalf 1938: 91) Was sagt Jungfrau Camilla? (Andreas Gryphius ca. 1650, Drama; zitiert in Svennung 1958: 50)
So gesehen ist dieses Höflichkeitsverfahren eines, das mit potentiell unendlichen lexikalischen Mitteln operiert. Grammatik spielt nur als Kongruenzbeziehung eine Rolle: Das zugehörige Verb nimmt den Wert '3. Person' an, wenn die nominale Anredeform als Subjekt des Satzes fungiert. N u n läßt sich in längeren Texten eine rein nominale Anrede auf Dauer wohl schwer durchhalten; der kognitive und artikulatorische Aufwand fur die Produktion der umständlichen Nominalgruppe scheint dafür zu hoch zu sein. 5 1 Statt dessen wird der gleichsam natürliche A u s w e g gewählt, der auch bei unbeteiligtenreferentiellem Nomengebrauch zur Verfügung steht: pronominale Wiederaufnahme mit einem anaphorischen Pronomen in der 3. Person. 5 2 So erscheinen in (14c) und (14d) im Gegensatz zu den beiden vorhergehenden
50 51 52
S. auch die Liste in Svennung (1958: 50f.). So auch die Ansicht von Svennung (1958: 48). Ein konsequentes Durchhalten der reinen Nominalanrede ist, wenn überhaupt, nur in Fällen allerhöchster Höflichkeitsstufe zu finden. - Einer solchen Ausdrucksweise haftet jedoch - zumindest aus heutiger Sicht - durchaus etwas Komisches an, wie auch der kabarettistisch gemeinte Satz „Da werden Herr Graf ganz außer Herrn Grafen sein." demonstriert (für den Hinweis auf diesen Beleg aus dem Film Das Wirtshaus im Spessart danke ich Wolfgang Ullrich Wurzel). - Dennoch muß darauf hingewiesen werden, daß ein Grammatikalisierungsweg, der von einem Ausgangssystem mit nominalen Anreden vom Typ der Herr via anaphorische Wiederaufnahme zu einem Zielsystem mit Anredepronomina mit der Spezifikation '3. Person' verläuft, zwar sehr häufig und auch kognitiv einleuchtend, doch keineswegs zwingend vorhersagbar ist. Das beste Beispiel für ein grammatisch zu beschreibendes System, bei dem eine anaphorische Wiederaufnahme nicht stattgefunden hat, liefert das Polnische: Hier wird in ähnlicher Manier wie im Deutschen um 1700 ein Wort, das mit 'Herr' glossiert werden kann, als höflichste Anredeform verwendet: pan bzw. zur Anrede an eine Frau pani. Mittlerweile sind diese Formen hinsichtlich ihrer Wortart jedoch nicht mehr exakt einzuordnen, sie befinden sich in einem Graubereich mit sowohl nominalen als auch pronominalen Eigenschaften (für die Argumente, die von verschiedenen Seiten für die eine oder andere Einordnung gegeben wurden, vgl. die Diskussion in Kielkiewicz-Janowiak 1992: 14-18 u. 105-109, sowie Buchenau 1997: 49-52 und Betsch 2000: 38-41). - Im Indonesischen fungiert ebenfalls ein mit 'Herr' übersetzbares Wort (nämlich tuan) als eine der (allerdings mehreren) höflichen Anredeformen, ohne jemals anaphorisch wiederaufgenommen zu werden; doch auch hier ist die wortartmäßige Klassifikation nicht klar (vgl. Kähler 1965: 49 und Kridalaksana 1974:
109 Belegen solche Pronomina. Diese treten dabei typischerweise innerhalb komplexer Strukturen auf, beispielsweise bei Satzgefügen. Insbesondere nicht-nominativische Argumentstellen sind von der Ersetzung betroffen; und - wie die 'Unmöglichkeit' des in Anm. 52 zitierten Witzes zeigt - in Reflexivkonstruktionen ist die Pronominalform im Grunde sogar zwingend. In solchen anaphorischen Verwendungsweisen von erlsie liegt die Wurzel für den späteren selbständigen Gebrauch dieser Formen in der Anrede. Daß in einem frühen Stadium der Entwicklung aber noch von echten Anaphorika auszugehen ist, zeigt sich in dreierlei Hinsicht: Erstens treten die Pronomina der 3. Person anfangs nie ohne vorhergehendes Antezedens auf, sie können also nicht für sich stehen; sie haben noch keine eigene deiktische Kraft entwickelt, sondern referieren lediglich indirekt über ihr Bezugsnomen. Zweitens lebt noch eine Zeitlang die Anrede mit einem Pronomen der 2. Person dergestalt fort, daß dieses als die 'eigentliche' Anredeform zu gelten hat und die nominale Anrede gewissermaßen nur als besonders höfliche Option daneben tritt: (16)
Der Juncker hat ja nach mir geschickt, Was ist ewer beger? (Herzog Heinrich Julius von Braunschweig 1594, Drama; zitiert in Svennung 1958: 47)
In seltenen Fällen changieren die Person-Werte, für die die adressatenbezüglichen Pronomina spezifiziert sind, zwischen '2. Person' und '3. Person' sogar in unmittelbar aufeinander folgenden Sätzen: (17)
... wan mein bruder meinem rahte folgen wül, und alles tuhn, was ich ihn heisse, so verhoff ich noch wohl etwas zu wäge zu bringen. Fohr allen dingen halte dich nuhr ganz eingezogen... (Philip von Zesen 1645, Roman; zitiert in Metcalf 1938: 98)
Drittens - und diese Beobachtung gibt den entscheidenden Hinweis auf die Anaphorizität der Pronominalform - gibt es Veränderungen hinsichtlich der Genuskongruenz. Während ursprünglich das Pronomen im Genus mit dem Antezendens kongruiert, schlägt mit zunehmendem Grammatikalisierungsgrad des Anredepronomens er/sie die rollendeiktische Komponente durch, d.h. der syntaktische Bezug wird gelockert und die Verteilung der beiden Formen wird je nach dem natürlichen Geschlecht des Adressaten (also er) bzw. der Adressatin (also sie) geregelt. Zu Beginn des Prozesses erscheinen also noch Formen, deren Genusspezifikation eindeutig nicht durch das Sexus des Referenten bestimmt ist. Bei Wörtern wie Herr oder Jungfrau, deren Genus ohnehin dem Sexus der damit bezeichenbaren Person entspricht, ist hier natürlich nicht zu entscheiden, welche Genuszuordnungsstrategie verfolgt wird. Aufschlußreich sind daher die vereinzelt belegten Fälle, in denen Lexeme wie z.B. Fräulein als Anredeformen fungieren: Obwohl dieses Wort aufgrund des Diminutivsuffixes für den Genus-Wert 'Neutrum' spezifiziert ist, referiert es auf Personen weiblichen Geschlechts, so daß 'natürliches Geschlecht' und 'grammatisches Geschlecht' nicht übereinstimmen. In (18) nimmt das Pronomen Ihm den Wert '3. Person Singular Neutrum Dativ' an, so daß hier von einer rein anaphorischen Anknüpfung ausgegangen werden muß, der deiktische Bezug auf die Adressatin spielt demgegenüber nur eine untergeordnete Rolle.
18). - Das Ausbleiben von Pronominalisierungstendenzen in den eben erwähnten Sprachen mag mit den jeweils vom deutschen System ganz unterschiedlichen Struktureigenschaften von deren Nominalphrasen zusammenhängen, beispielsweise mit der allgemein sehr formenarmen Morphologie im Indonesischen oder der Artikellosigkeit im Polnischen.
110 (18)
Wan es mein gnädiges Fräulein im bästen vermärken wolte, so könt' ich Ihm noch wohl den wahren sün gnugsam eröfnen. (Philip von Zesen 1645, Roman; zitiert in Keller 1904/05: 172) 53
Von einem echten Anredepronomen er/sie kann erst in dem Moment gesprochen werden, in dem das Pronomen selbständig auftritt, d.h. ohne ein Antezedens, auf das es sich beziehen könnte. 54 In einem solchen Fall ist dann direkte Adressatendeixis anzunehmen. Nach Aussage von Metcalf (1938: 64) sind Belege dieser Art ab dem dritten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts regelmäßig zu finden. Dies repräsentiert das System III aus Abb. 25, in dem drei Anredepronomina entlang einer Höflichkeitsskala angeordnet sind. 55 Dabei ist die höchste Systemstelle zweigeteilt, denn hierüber operiert zusätzlich die Kategorie Genus. Deren Werte werden abhängig vom Sexus des Adressaten zugewiesen. Texte, in denen ein solches System gut beobachtet werden kann, sind beispielsweise die Dramen von Andreas Gryphius aus der Mitte des 17. Jahrhunderts. 56
4 . 3 . S y s t e m IVa: du vs. ihr vs. er/sie
v s . Sie
Der nächste Schritt in der Entwicklung der Anrede im Deutschen besteht in der allmählichen Etablierung des Pronomens Sie (3. Person Plural) als Anredepronomen. Dieser Schritt wird ausgelöst durch die nunmehr massenhafte Verwendung von nominalen Abstrakta. 57 Es handelt sich dabei um solche Nomina, die in ihrer 'eigentlichen' Bedeutung menschliche Eigenschaften bezeichnen. Zu diesen Abstrakta gehören beispielsweise Nomina wie (Euer) Majestät, (Euer) Ehren, (Euer) Gnaden usw. 5 8 Der höfliche Charakter einer solchen Anredekonstruktion wird dabei folgendermaßen erzeugt: Concepts such as majesty, grace, favor, friendship and wisdom, conjoined with possessive morphology, are thus part of a conventionalized construction, metonymies of imputed part for whole. 53
54
55 56 57
58
Die Variabilität der Anrede jener Zeit demonstriert wohl die Tatsache, daß im selben Romantext auch ein adressatensexusabhängiger Beleg für s/e-Wiederaufnahme von Fräulein zu finden ist (zitiert in Metcalf 1938: 97). Dies ist wohl auch der Gedankengang von Behaghel (1923: 323-325). - So würde man wohl auch nicht sagen, daß das Französische ein höfliches Anredepronomen der 3. Person Singular besaß, obwohl in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts Sätze des folgenden Typs „pour les domestiques" obligatorisch waren: Monsieur désire-t-il? (Brunot 1953: 273). Vgl. Head (1978: 167) für eine Liste von Sprachen mit einem solchen System. Vgl. dazu die ausführliche Untersuchung von Vennemann/Wagener (1970). Deren Gebrauch läßt sich aber mindestens bis ins 15. Jahrhundert zurückverfolgen, vgl. Metcalf (1941, 1945). Zu den außerordentlich komplexen Daten, die bei der Anrede mittels Abstraktnomina eine Rolle spielen und von denen hier lediglich die Grundlinien wiedergegeben werden können, vgl. die detailreiche Untersuchung anhand eines relativ umfangreichen Textkorpus von Listen (1999: 4 9 f f ) , der auch z.T. die ältere Literatur behandelt. Dort finden sich auch Auflistungen der belegten Anredeabstrakta (die hochdeutschen S. 60-62, die niederdeutschen ausführlich mit Beispielen S. 113ff.). Für das 15. Jahrhundert zählt Metcalf (1941: 243, Anm. 7) eine Reihe weiterer Formen auf; vgl. auch dessen Momentaufnahme im lateinisch-deutschen Vergleich für die Zeit um 1400 (Metcalf 1945).
Ill The abstract nominal address form in this type of usage fulfills the same roles as the personal pronoun. By appealing to the addressee's graciousness, mercy, majesty, holiness or other such flattering characteristics, the speaker brings about a similar sort of indirectness as with second person plural address: the addressee is referenced indirectly via associated entities. In the case of plural pronouns, these entities are real or unreal other individuals in a group to which the hearer belongs. For abstractions, it is the associated entity, an abstract personal trait or virtue, that is named and engaged in conversation. In short, we once again see a strategy whereby a métonymie model enables indirectness. (Listen 1999: 57; Hervorhebungen im Original, HS) Welches der Abstrakta in einer gegebenen Anredesituation Verwendung findet, wird von der hervorstechendsten Eigenschaft des Adressaten bestimmt: So erhalten z.B. Gelehrte und Lehrer oft Eure Weisheit, während gekrönte Häupter mit Eure Majestät angeredet werden (Listen 1999: 56 bzw. 68). Die lexikalische Semantik der involvierten Wörter bleibt bei den Abstraktanreden also weitgehend erhalten. Im Laufe der Zeit nimmt die Konventionalisierung der Abstraktanreden zu, 59 was sich in erster Linie an zwei Eigenschaften zeigt: Die Abstrakta werden (wohl nur in der Schriftlichkeit) zunehmend abgekürzt und die Alternationen mit der /Ar-Anrede gehen zurück; damit korreliert der stärker 'pronominale' Charakter der Abstrakta, sie können im Grunde alle Typen von Argumentstellen innerhalb eines Satzes besetzen. 6 0 Darüber hinaus werden sie um die Mitte des 17. Jahrhunderts geradezu „sociolinguistically or pragmatically mandatory in some speech situations" (Listen 1999: 61 u. 68f.). Doch auch die Abstraktnomina werden - ähnlich wie die oben beschriebenen Personenbezeichnungen - in längeren Passagen anaphorisch wieder aufgenommen mittels Pronomina der 3. Person (wobei allerdings deren Numerusspezifikation nicht immer klar ist). 61 Da im Deutschen alle in Frage kommenden Abstrakta inhärent für den Genuswert 'Femininum' spezifiziert sind, ist im Falle einer singularischen Wiederaufnahme das Anaphorikon
59
60
61
Eine genaue zeitliche Einschätzung ist kaum möglich. Nach Svennung (1958: 103ff.) treten bereits in alt- und mittelhochdeutscher Zeit vereinzelt Belege auf. Doch erst im Verlauf des 16. und v.a. des 17. Jahrhunderts nimmt die Verwendung solcher Formen signifikant zu (vgl. Listen 1999: 59). - Für die klassischen Sprachen ist die Abstraktanrede weitaus früher belegt; das Griechische beispielsweise kennt entsprechende Formen bereits in vorchristlicher Zeit (vgl. die materialreiche Untersuchung von Zilliacus 1949), im Lateinischen sind sie ungefähr seit der Zeitenwende belegt (Zilliacus 1962: 173). So zumindest nach Ansicht von Listen (1999: 60); allerdings sind dort keine expliziten Aussagen über die Verwendung von Abstrakta in Reflexivkonstruktionen zu finden. Von den Schwierigkeiten, die der soziale Druck zur fortgesetzten höflichen Verwendung von Abstraktanreden für den kindlichen Erstspracherwerb verursachte, erfahren wir anekdotenhaft durch einen Briefwechsel, in dem über das sprachliche Verhalten des Sohnes des Kurfürsten Karl Ludwigs von der Pfalz (drittes Viertel des 17. Jahrhunderts) berichtet wird: „Karl Lutz ist gantz retirât vor mihr. Die ursach ist, ... daß ihm Monsieur Reschingeder gesagt, er nicht mehr wie ein klein kind 'Papa' und 'Mamma', sondern Έ . Durchlaucht' und Έ . Gnaden' sagen soll, dafür er sich nun scheuet und lieber nicht redet, ... welches nicht hüpsch ahn ihm ist." - „Reschinger thut sehr woll daß er ihme mores lehrnt; habe es schon längst von ihme begert, daß er 'Ewer Churfl. Durchl.' sagen soll, aber es komt ihm saurer an, sich des worts 'Papa' zu entwehnen als da er von der milch entwehnet worden." - „Ich bin gantz perplex über carl Lutz halssstarrigkeit in puneten der titulatur; darumb hatt er sich gescheut von mein herzlieben schätz Abscheit zu nehmen; darumb scheuet er sich, mit mihr zu reden. Heut hat er mich geertzt und darnach solches verdrehet ... Er redet nicht frey mit mihr und hatt alss die thränen in die Augen, wan ich ihm sage, ob er allzeit ein kind sein wolle, da er schon reitet und ein degen tregt und under die leute kompt, bey welchen das wort 'papa' gar läppisch lautet." (zitiert in Keller 1904/05: 160).
112
oftmals ein ebenfalls als 'feminin' spezifiziertes singularisches sie, selbst wenn der Referent des Pronomens männlichen Geschlechts ist. 6 2 Der B e l e g (19a) beispielsweise stammt aus einer an einen „Freiherrn zu Sonnegk" gerichteten Buchwidmung: (19a)
(19b)
Dis alles haben E.G. nu zubehertzigen vnd zu vberlegen / damit sie ja mit bösem vnd vnruhigem Gewissen / nichts thue / vnd vnterlasse / Vnd fur dem grewlichen Abfall hütte / darzu ich dan E. G. Gottes Segen / vnd den heiligen Geist wündsche / der sie also leite / regiere / vnd füre / das sie bey der erkandten vnd bekandten Warheit / bestendiglich / biss an ir ende verharre. (Erasmus Sarterius 1557; zitiert in Listen 1999: 249) - (Juxton:) Der höchste, wehrter fürst! woll ihn den tag anblicken! - (Carol:) Wir glauben, dass er werd uns, seinen knecht erquicken. - (Juxton:) Drückt ihre majestät noch ein verborgen leid? - (Carol:) Wir finden uns getrost und zu der noth bereit. - (Juxton:) Hat sie der kurtzen nacht genossen sonder sorgen? (Andreas Gryphius ca. 1650, Drama; zitiert in Vennemann/Wagener 1970: 20)
Besonders interessant ist (19b). In drei unmittelbar aufeinander folgenden Äußerungen an den englischen König Karl verwendet der Sprecher drei unterschiedliche Anrede-Formen: Während das 'maskulin'-spezifizierte erste Anredepronomen mit dem Sexus des Referenten übereinstimmt, kongruiert das zweite Anredepronomen genusmäßig mit dem im davorliegenden Gesprächszug verwendeten Nominalabstraktum, wodurch sein noch stark anaphorischer Charakter deutlich wird. Im Zuge des Verselbständigungsprozesses der Anredepronomina der 3. Person nehmen im Laufe des 17. Jahrhunderts Fälle der letztgenannten Art ab, so daß danach an männliche Adressaten nur noch (dann rein deiktisches) er verwendet wird und kein Singular-iie. 6 3 - Im Rahmen der allmählichen Zunahme von Anredepronomina in der 3. Person verändern sich (teils schon seit dem 16. Jahrhundert, verstärkt aber im 17. Jahrhundert) auch die adressatendeiktischen Nominalsyntagmen dahingehend, daß nun auch das zum höflichen Abstraktum gehörige Possessivpronomen den Wert '3. Person'
62
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Listen (1999: 120) spricht in diesem Zusammenhang gar davon, daß das Pronomen der 3. Person Singular Feminin „the dominant form [...] until around 1700" sei. - Für weitere Beispiele vgl. im übrigen Svennung (1958: 106ff.). Instruktiv ist in diesem Zusammenhang der vergleichende Seitenblick auf das Italienische (vgl. hierzu ausführlich Niculescu 1974): Diese Sprache hat lange Zeit eine dem Deutschen ähnliche Entwicklung im Anredebereich durchgemacht. Auch hier gab es im Mittelalter die höfliche Anrede mit der 2. Person Plural (voi), die in manchen Gegenden heute noch fortlebt (vgl. Rohlfs 1949: 219). Dann kam im Zuge der anaphorischen Wiederaufnahme von Abstrakta wie Vostra Eccellenza oder Vostra Signoria die Verwendung von Pronomina der 3. Person Singular in der Adressatendeixis auf. In der Standardsprache der Gegenwart wird nun zur höfliche Anrede einzig das aufgrund der Genuskongruenz zu erwartende Feminin-Pronomen verwendet, unabhängig vom Geschlecht des Referenten: Lei (leicht archaisch auch Ella; vgl. z.B. Schwarze 1995: 331). In diversen oberitalienischen Dialekten werden hingegen zwei genusdifferenzierte Formen der höflichen Anrede verwendet, die gemäß dem Sexus des Adressaten bzw. der Adressatin eingesetzt werden (vgl. Rohlfs 1949: 220 und ausfuhrlich mit Textbeispielen Grand 1930: 69f. u. 86f.). Das zuletzt genannte, dialektale System entspricht dem des Deutschen des 16. und 17. Jahrhunderts. Uber ähnliche, mittlerweile wieder zurückgenommene Entwicklungen im Schwedischen und einen entgegen dem Adressatensexus genuskongruierenden Beleg vgl. Svennung (1958: 110f.).
113
annimmt: Die Anrede lautet dann nicht mehr Eure Majestät o.ä., sondern Ihre (manchmal auch Seine) Majestät.M In den Abstraktnomina liegt darüber hinaus aber auch der Ursprung für die heute noch verwendete Anrede mit dem Pronomen Sie, das traditionellerweise als für den Wert '3. Person Plural' spezifiziert angesehen wird, denn bereits seit dem 15. Jahrhundert scheinen manche der Abstrakta selbst dann mit einer Plural-Spezifikation aufzutreten, wenn der Referent nur eine einzelne Person ist.65 Bei der Entwicklung der Anredeform Sie spielen nun wahrscheinlich verschiedenerlei formal induzierte Ambiguitäten eine Rolle, die es nicht nur für uns heutige Interpreten, sondern auch fur die Muttersprachler der damaligen Zeit unmöglich machen, manche der involvierten Abstrakta immer eindeutig einem Numerus zuzuordnen: Verantwortlich dafür ist in erster Linie die in Anm. 65 angedeutete Flexions(klassen-)variabilität. Stützend kommt hinzu, daß bei den häufig zu findenden Abkürzungen, die meist nur aus den Anfangsbuchstaben der jeweiligen Wörter bestehen, vollkommen unklar bleiben muß, welchen Numeruswert das entsprechende Abstraktum hat. Zusammen mit dem Faktum, daß darüber hinaus auch die flektierten Formen der Pronomina der 3. Person Singular Feminin und der 3. Person Plural bereits seit dem Mittelhochdeutschen weitgehend homonym sind66 und es deshalb der Pronominalform an sich nur in seltenen Fällen anzusehen ist, für welche Werte sie spezifiziert ist, ergibt sich eine Situation, bei der in vielen Fällen mit unauflösbaren Numerusambiguitäten zu rechnen ist. In einer solchen Konstellation ist es auch fur die Spracherwerber nicht immer leicht, die Struktur des sprachlichen Inputs exakt zu erkennen. Funktional gestützte Uminterpretationen des vorhandenen Sprachmaterials werden dadurch gefordert. So können auch hier die oben skizzierten kognitiven Strategien greifen, wonach Plural-Verwendung sowohl im Sinne der negativen Höflichkeit als auch als Metapher der Macht eingesetzt und verstanden werden kann. Einzig im Falle, daß das Pronomen in Subjektfunktion steht, scheint die damit kongruierende finite Verbform desambiguierend zu wirken. Bereits seit dem 16. und massiv verstärkt seit dem Ende des 17. Jahrhunderts finden sich pluralische Verben beim Anredepronomen der 3. Person, wobei aber auch hier oftmals verschiedene Varianten gemischt in ein und demselben Text vorkommen können; der Beleg (20) gibt zwei Ausschnitte aus einem Luther-Brief wieder: (20)
64
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Ich habe EfuerJ k[ur]f[urstlichen] gfnadenj brieff empfangen, V[nd] bedancke mich gantz untertheniglich gegen E.k.f.g., das sie so sorgfeltiglich vnd fleissig fragen nach meiner gesundheit vnd wie mirs gehe mit weib vnd kindem [...] Das auch E.K.f.g. anzeigen, wie es yhr langweilig sey, weil vnser g[nädigs]ter herr, E.k.f.g. gemalh, abwesend sind, kan ich wol gleuben. (Martin Luther 1544; zitiert in Pastor 1995: 9, daraus auch die Auflösung der Abkürzungen)
Vgl. die Daten in Keller (1904/05: 158f.) und insbesondere die Detailanalysen bei Listen (1999: 82fT.). Vgl. aber Metcalf (1941: 242-250, insbesondere Anm. 9 u. 10) zu den Problemen bei der Interpretation der einschlägigen Daten, die v.a. mit der durch mögliche Flexionsklassenübergänge der Nomina bedingten Schwierigkeit zusammenhängen, die auf -n auslautenden Formen von Gnade(n) (und Liebde(n)) zweifelsfrei einem Numerus zuordnen. Lediglich im Dativ wird noch durchgängig unterschieden: ihr vs. ihnen.
114 Hier stehen alle Verben, deren Subjekt Ziel von Höflichkeit ist, im Plural: Dies gilt sowohl bei adressatenbezüglichem Subjekt wie bei fragen und anzeigen als auch bei unbeteiligtenreferentiellem Subjekt, nämlich dem Gatten der Adressatin, wie bei sind. Aufgrund der traditionell angenommenen Numerus-Kongruenz zwischen dem finitem Verb und dem zugehörigen Subjekt identifiziert Pastor (1995: 9) dadurch auch das Pronomen sie als „das logische Personalpronomen der 3. Person Plural". Demgegenüber ist das nachfolgende adressatendeiktische Pronomen der 3. Person, welches für den Kasus-Wert 'Dativ' spezifiziert ist, als singularisch einzuordnen: yhr. Wir haben es hier also mit einem Singular-Plural-Wechsel beim Anredepronomen zu tun. Daß die in (20) exemplifizierte (vermeintliche) kasus-sensitive Numerus-Alternation in der Anrede dabei keineswegs ein Einzelfall ist, bemerkt schon Svennung (1958: 107, Anm. 49), der anmerkt, „dass Dativformen der Pronomina [...] meistens in der Einzahl stehen". Oberflächlich betrachtet wird diese Feststellung bestätigt durch die detaillierten Auszählungen von Listen (1999: 113ff.). Dessen genauere Analyse ergibt jedoch, daß im Anredefall der verbale Numerus insgesamt relativ unabhängig von den zugehörigen Pronominalformen (und auch Abstrakta) auftritt (S. 137), so daß allein aus der Numerusspezifikation des Finitums nicht automatisch auf die anzunehmende Spezifikation des ambigen s/e/Sz'e-Subjekts geschlossen werden kann. Vielmehr wirkt bei den Verben die oben beschriebene Numerus-Metaphorik auch selbständig - und damit unabhängig vom Subjekt, so daß dadurch vielfach höfliche Verbplurale ohne direkte Subjektkongruenz entstehen. 67 Spätestens zu dem Zeitpunkt, an dem die an eine einzelne Person gerichteten höflichen Anredepronomina regelmäßig die Merkmalsspezifikation '3. Person Plural' tragen und zudem autonom auftreten, ist davon auszugehen, daß der Stand erreicht ist, der dem am Anfang dieses Kapitels (Abb. 23) dargestellten System IV entspricht. Dies ist ungefähr zu Beginn des 18. Jahrhunderts der Fall. Von dieser Zeit an - und diese Tatsache gilt bis heute - ist es möglich, eine einzelne Person mit dem Pronomen Sie anzureden. Und zwar ist diese Anrede im Diskurs sozusagen syntaktisch frei wählbar, d.h. ohne die Notwendigkeit der Verwendung einer wie auch immer gearteten nominalen Anredeform im Diskurskontext; lediglich soziale, psychologische, kulturelle und ähnliche Einschränkungen und Bestimmungen entfalten ihre Wirkung auf der Ebene der Sprachverwendungsregeln, indem sie die Alternativen-Entscheidung gegenüber anderen Pronomina steuern. Für die Diskussion zum Status der Anredeoppositionen ist es darüber hinaus wichtig festzuhalten, daß auch noch mindestens bis ins späte 18. Jahrhundert die oben anhand des Mittelhochdeutschen diskutierte interne Verwendungsvariabilität gilt: Wenngleich aufgrund der Gebrauchsregeln für jede Sprecher-Adressaten-Dyade ein (bzw. bei Anredeasymmetrie: zwei) erwartbare 'Normalpronomen' angegeben werden können, läßt sich weiterhin beobachten, daß die Figuren in Dramen manchmal kurzfristig (symptomatisch) eine andere Form wählen. 68
67
68
Eine aus der Perspektive der Respekt-Grammatik gezeichnete Sicht auf dieses höchst bedeutsame Phänomen werde ich in Abschnitt 5.1.2.2 entwickeln. Vgl. z.B. Metcalf (1938), Foulger (1984) oder Schmidt (1996).
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4 . 4 . S y s t e m IVb: Sonderpronomina, i n s b e s o n d e r e
dieselben
Nach traditionellem Verständnis konstituieren die Formen er!sie und Sie die Pronomina der 3. Person. Obwohl diese Pronomina aufgrund ihres thematischen Charakters diejenigen sind, die zur anaphorischen Wiederaufnahme nominaler Anredeelemente geradezu prädestiniert sind, 69 so lassen sich in Texten älterer Sprachstufen des Deutschen doch verschiedentlich Belege finden, in denen auch andere Pronomina als Anaphorika in Anredefunktion vorkommen. In erster Linie ist dabei an die rhematischen ¿-Varianten der Personalpronomina (im Sinne Weinrichs) (nämlich singularisches der/die (21a) und pluralisches die (21b)) sowie an das Identitätspronomen (nämlich derselbe!dieselbe (21d) und dieselben (2le); vereinzelt auch Formen wie selbter (21c)) zu denken: 70 (21a)
(21b)
(21 c)
(21d) (2le)
[...] habe ich solchen Schutz nicht vnbillich bey Ew. F. G. die denn nicht alleine in ihren Bisthumen vnd Fürstenthümen / sondern auch in der gantzen Christenheit / als ein Gottseliger Bischoff beruffen ist [...]. (Christian Gerson 1610, Buchwidmung; zitiert in Listen 1999: 206) So bitten Ewr Mayestät wir nachmals / im Nahmen vnserer Herren Principaln, durch Gottes Barmhertzigkeit / vnd die Bluttrieffende Wunden vnsers Herrn Jesu Christi / hochflehenlich vnd aller vnderthänigst / Die geruhen Sich doch / Dero angebornen / rühmlichen / Oesterreichischen vnd Keyserlichen Müdigkeit nach / dieser Not / Elend vnd Jammers Dero getrewen Ständ / Vntherthanen vnd Inwohnern / allergnädigst zu erbarmen. (Supplication 1620; zitiert in Listen 1999: 261 f.) weil ich nun vernommen, wie ew. excellentz ihre reise nach Teutschland zu nehmen gesinnet seyn, als habe bey selbten ich gehorsame ansuchung zu thun mich erkühnet. (Johann Christian Ettner von Eiteritz 1715; zitiert in Deutsches Wörterbuch 1905: X. 1,507) Glück zu, Monsieur, ich erfreue mich, dass ich die Ehre habe, denselben zum andemmale zu sehen (Christian Weise 1688, Drama; zitiert in Metcalf 1938: 84) daß Ew. förstl. gn. ankomnes schreiben alsbald gelifert worden, werden dieselben aus meinem bericht verstanden haben, (aus dem Preußischen Staatsarchiv 1632; zitiert in Behaghel 1923: 325)
In der Frühphase der Überlieferung der adressatendeiktischen Pronomina mit der Spezifikation '3. Person' kommen die erwähnten Typen nebeneinander vor, ohne daß spezielle Bedeutungs- oder Verwendungsunterschiede festgemacht werden könnten. Im Laufe der Zeit verändert sich ihre Distribution aber dahingehend, daß die erstgenannten ((21a)-(21c)) allmählich seltener werden, so daß in der Mitte des 18. Jahrhunderts einzig die Form die-
69
70
Zu dieser Annahme vgl. die Angaben zur Weinrichschen Auffassung von zwei Pronominalreihen der 3. Person in Abschnitt 2.2.2. Metcalf (1941: 252-255) weist daraufhin, daß die ¿-Pronomina gleichzeitig als Relativpronomina fungieren. Die häufige Verwendung dieser Formen in Relativsätzen, die die Anredeabstrakta modifizieren, stellt seiner Ansicht nach eine „psychological basis" (S. 253) für die ¿-Anrede dar, vgl. z.B. folgenden Beleg: „in erzögung ... gu(o)tes willes, úwern genäden öwiglich ze dienen, die got lang in gesunthait und säligem leben fristen und behalten wolle!" (Heinrich Steinhöwel 1474, zitiert in Metcalf 1941: 254). - Mit den zitierten Belegen wird im übrigen folgende Mutmaßung von Bethke (1990: 92) widerlegt: „eine analog [zu Sie, HS] gebildete Anredeform 'Die' wäre unvorstellbar."
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selben eine Rolle spielt. 71 Im Zuge der (teilweisen) Einbindung von dieselben ins Anredeparadigma werden seine Konkurrenzformen ausgeschieden. Es bleibt als dasjenige übrig, das die höchste Position auf der Höflichkeitsskala einnimmt. Als solches tritt es auch ins Blickfeld der zeitgenössischen Grammatikschreiber. So setzt Johann Christoph Gottsched als der vielleicht einflußreichste Grammatikograph des 18. Jahrhunderts fünf Höflichkeitsstufen an: (22)
natürlich althöflich mittelhöflich neuhöflich
Ich Ich Ich Ich
bitte bitte bitte bitte
dich euch ihn Sie
überhöflich
Ich
bitte
dieselben (Gottsched 1762:280)
Ein ähnliches System beschreibt 20 Jahre später Johann Christoph Adelung: (23)
Nach dieser Verdrehung und Verwirrung der Pronominum wird du nur noch 1. gegen Gott, 2. in der Dichtkunst und dichterischen Schreibart, 3. in der Sprache der engen Vertraulichkeit, und 4. in dem Tone der hochgebiethenden Herrschaft und tiefen Verachtung gebraucht. Außer diesen Fällen redet man sehr geringe Personen mit ihr, etwas bessere mit er und sie, noch bessere mit dem Plural sie, und noch vornehmere wohl mit dem Demonstrative Dieselben oder auch mit abstracten Würdenahmen, Ew. Majestät, Ew. Durchlaucht, Ew. Excellenz u.s.f. an. (Adelung 1782: 684)
Vor dem Hintergrund der in Abschnitt 3.1 skizzierten Höflichkeitstheorie von Brown/ Levinson (1987) und der auf breiter crosslinguistischer Empirie basierenden Auflistung von mehr oder weniger universellen Korrelationen durch Head (1978) muß ein System von Anredepronomina wie das in (22) und (23) geschilderte allerdings erstaunen. 72 Denn es verstößt prima facie gegen eine der (Quasi-)Universalien Heads, die sich auf den Definitheitsgrad von höflichen Anredepronomina bezieht und sich zudem funktional im Sinne Brown/Levinsons gut erklären läßt. Was den unterschiedlichen Grad an Definitheit betrifft, so gilt nämlich für sämtliche Sprachen der Welt folgende Korrelation: In a language in which categories of definiteness are employed to show degrees o f respect or social distance, the one used as indefinite or least definite is also used to indicate greater respect or social distance. (Head 1978: 192)
Demnach wäre also zu erwarten, daß der Grad an Höflichkeit eines in Anredefunktion gebrauchten Pronomens umkehrt proportional zum Grad an Definitheit dieses Pronomens ist; dies paßt ganz gut zum Konzept der negativen Höflichkeit, weil natürlich ein indefinites Pronomen den Referenten weitaus weniger 'festnagelt' als ein definites und ihm dadurch mehr Interpretations- und damit Handlungsspielraum einräumt. - Doch bei dieselben ist genau das Gegenteil der Fall. Durch dieses Identitätspronomen wird der Referent als mit 71
72
Metcalf (1938: 84) schreibt zu diesen Sonderformen: „Such lengthened forms were, however, merely variants of normal third person pronominal usage. They never threatened to develop a distinct and separate mode of address, but merely added a note of formality." Zum folgenden vgl. ausführlicher Simon (1997a: 273-276) und zusammenfassend Simon (1998b: 214f.). - In der erstzitierten Arbeit finden sich auch weiterführende Überlegungen zu methodischen und konzeptuellen Konsequenzen für eine aus crosslinguistischer Sicht argumentierende Sprach- und Sprachwandeltheorie (S. 276-278).
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einer bereits erwähnten Entität identisch charakterisiert, was sicherlich der strengsten Form von Definitheit entspricht. 73 Aus dieser Perspektive betrachtet eignet sich das Pronomen dieselben also denkbar schlecht als höfliches Anredepronomen. 74 Nicht zufällig finden sich deshalb in manchen Sprachen Indefinitpronomina in der höflichen Anrede. 7 5 - Dennoch lassen sich eine Reihe von Charakteristika finden, die eine Verwendung ausgerechnet von dieselben als Höflichkeitspronomen motivieren können, wenngleich keiner der festgestellten Zusammenhänge fur sich betrachtet eine hinreichende Erklärung bieten kann. Sie können höchstens in ihrer Gesamtheit die aufgrund der Anaphorik ohnehin vorhandene Tendenz zum Gebrauch von dieselben stützen. Zunächst einmal scheint in allen Sprachen, die in diesem Zusammenhang bislang diskutiert wurden, im Normalfall eine Ikonizitätsrelation zu bestehen zwischen dem Grad an Höflichkeit auf der einen Seite und der phonologischen Substanz eines sprachlichen Ausdrucks auf der anderen Seite. 7 6 Haiman (1985a: 151) bringt dies auf die prägnante Kurzformel: „The more polite the register, the longer the message". Er exemplifiziert diese Längenkorrelation an einer Gruppe von Sätzen aus dem Javanesischen (Austronesisch, Indonesien), die alle denselben denotativen Wert besitzen. Sie unterscheiden sich lediglich hinsichtlich ihres Formalitäts- oder Höflichkeitsgrades (bzw. hinsichtlich ihres Respektwerts); mit höherem Grad an Formalität geht eine größere Anzahl von Silben in der jeweiligen Äußerung einher. 77 A u f das deutsche Anredesystem bezogen bedeutet dies, daß in 73
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Zu Syntax und Semantik des Identitätspronomens im Deutschen vgl. z.B. Harweg (1969) und Erben (1980: 223f.). Immerhin scheint wenigstens die Pluralisierungsstrategie wirksam zu sein, denn wie bereits erwähnt ist die Mehrzahl der in Texten belegten adressatendeiktischen Identitätspronomina für den Wert 'Plural' spezifiziert (also dieselben statt derselbe/dieselbe)·, dies gilt insbesondere für die Belege aus späterer Zeit (vgl. jedoch Deutsches Wörterbuch 1860: II, 1482 für eine Liste von Singular-Belegen aus dem 17. und 18. Jahrhundert). So beispielsweise im alten Ägypten gegenüber dem Pharao (Gregersen 1974: 53, Grapow 1940). Auch in einigen nordamerikanischen Indianer-Sprachen scheint Indefinitheit eine Rolle bei Höflichkeitsphänomenen zu spielen; vgl. hierzu Collins (1979). - Für das Deutsche ist gelegentliche Indefinit-Anrede schon seit dem 17. Jahrhundert nachweisbar, hier allerdings eher als Vermeidungsstrategie, wenn der Adressat eine für den Sprecher nicht genau lokalisierbare Zwischenposition auf der Werteskala einnimmt (Denecke 1892: 329) - eine Verhaltensweise, die man auch heute noch gelegentlich beobachten kann (z.B. in War man zufrieden mit dem Schnitzel?). Ein marginales und auch nur partielles Gegenbeispiel bildet wohl das Niederländische. Denn das nicht nach Numerus differenzierende höfliche Anredepronomen des Niederländischen ist das kürzestmögliche Wort überhaupt - es besteht nur aus dem Kurzvokal /y/, graphisch . Während im Singular das weniger höfliche Anredepronomen /jei/ auch einsilbig ist, weist dessen zugehöriges Pluralform entgegen der Erwartung zwei Silben auf: /'jeli:/ ; eine mögliche Erklärung mag darin zu suchen sein, daß die letztere Form ein relativ junger Sekundärplural ist, die erst vor kurzem voll grammatikalisiert wurde (vgl. Howe 1996: 209-211 u. 226f.). Im konkret zitierten Beispiel schwankt die Silbenzahl zwischen 15 und 22 (Haiman 1985a: 151f.). Der Autor erwähnt entsprechende Daten auch aus weiteren (süd-)ostasiatischen und australischen Sprachen. - Zwei experimentelle Studien bestätigen und differenzieren im übrigen Haimans Beobachtungen: In dem Versuch von Östman (1989) hatten schwedische und finnische Muttersprachler verschiedenen, unterschiedlich langen Sätzen einer eigens erfundenen Phantasiesprache Formalitätswerte zuzuweisen. Sie ließen sich dabei in erster Linie von einer 'Length Strategy' leiten; lediglich dann, wenn die Mehr-Wörter einsilbig waren (und deshalb auf die Versuchspersonen den Eindruck von pragmatischen Partikeln machten), wurden die dadurch nur wenig längeren Sätze als informeller eingestuft. - Ogino (1989) verwendet in seiner Arbeit dagegen Produktionsdaten: Hier sollten die Versuchspersonen (Sprecher des Japanischen) ein und den-
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dem Moment, in dem bei der Rekrutierung eines neuen adressatendeiktischen Pronomens ein Ausgreifen aus dem Bereich der Personalpronomina im engeren Sinne notwendig war, ein längeres Pronomen einen besseren Kandidaten abgab als ein kürzeres. Das Pronomen dieselben ist als Träger der größten phonologischen Substanz innerhalb des gesamten Pronominalsystems besonders geeignet. Weiterhin wirkt ein Faktor, der zwar häufig mit der Länge eines sprachlichen Ausdrucks korreliert, jedoch keineswegs damit identisch ist: Die morphologische Komplexität einer Form. Haase (1994: 81 f.) zeigt einen Zusammenhang zwischen komplexen Formen einerseits und Höflichkeit andererseits in verschiedenen Sprachen auf. Das Identitätspronomen derselbe ist morphologisch außergewöhnlich komplex, da es aus zwei ursprünglich selbständigen Wörtern besteht (Artikel und Pronomen), die trotz Zusammenschreibung 78 jeweils für sich flektiert werden; dies gilt selbst noch für die Gegenwartssprache. 79 Darüber hinaus gibt es sogar vereinzelt Beispiele für weitergehende Komplexität dadurch, daß in frühneuhochdeutscher Zeit (und z.T. auch noch später) eine durch ein zusätzliches Flexionsmorphem -en- erweiterte Form des Definitartikels in die Konstruktion des Pronomens eingeht. 80 Dies ist z.B. bei der Dativ-Plural-Form Denenselben in Beleg (24) der Fall: (24)
Sr. Wohlgeboren dem Herrn Direktor Iffland Wohlgeborner Herr, Hochzuverehrender Herr Direktor, Ew. Wohlgeboren ersuche ich ganz ergebenst, mir das Stück, das Käthchen von Heilbronn, das ich Denenselben, durch H. Hofrat Römer, zur Beurteilung habe vorlegen lassen, gefälligst, auf ein paar Tage, zurückzuschicken, indem ich es, in einem Kreis von Freunden, der es kennenzulemen wünscht, vorzulesen versprochen habe. Und indem ich mir ein Vergnügen daraus machen werde, es Ihnen wieder zurückzusenden, wenn Dieselben noch nicht sollten Zeit gehabt haben, es Ihrer Prüfung, behufs einer Darstellung auf der Bühne, zu unterwerfen, habe ich die Ehre, mit der vorzüglichsten Hochachtung zu sein, Ew. Wohlgeboren, ergebenster Heinrich v. Kleist Berlin, d. 10. August [18] 10 Mauerstraße, N. 53 (von Kleist 1986: 434f.)
Des weiteren kann in besonders höflichem Sprachgebrauch auch eine Steigerung von dieselben mittels hoch-, höchst- und allerhöchst- vorgenommen werden (vgl. Deutsches Wörterbuch 1860: II, 1024), wodurch der Einstieg in ein durch gradierende Wortbildungsmittel ausbaufähiges und deshalb zumindest im Prinzip beliebig erweiterbares System gewährleistet ist. (25) ist ein entsprechendes Beispiel:
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selben Sachverhalt (eine bejahende Antwort) in Abhängigkeit von verschiedenen Typen von Adressaten versprachlichen; auch hierbei zeigt sich ein quantifizierbarer Zusammenhang zwischen Anzahl von - in diesem Fall - Moren und der zugrunde gelegten Höflichkeitsstufe. Ohne näher darauf einzugehen, verweist Ogino (1989: 196) auf vergleichbare Ergebnisse in anderen Sprachen. Dies ist bereits ab dem 14. und verstärkt seit dem 15. Jahrhundert zu beobachten (vgl. Walch/ Häckel 1988: 519, Anm. 2). Abgesehen von derjenige ist das der einzige Fall von Doppelflexion im Gegenwartsdeutschen (vgl. Engel 1996: 537f.). Zu diesen Erweiterungsformen im allgemeinen vgl. Walch/Häckel (1988: 263-266).
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Ich meine in Ohnmacht zu sinken. Eine solche Malice ist gar nicht erlebt worden. - Endlich ermann ich mich, nähere mich Ihrer Durchlaucht und spreche: Gnädigste Frau! von Bock war so glücklich, Höchstdenenselben das Strumpfband zu überreichen, aber wer das Strumpfband zuerst erblickte, belohnt sich in der Stille und schweigt, (aus Kabale und Liebe, III, 2; 1784; Schiller 1957: 53)
Wenngleich sowohl Gottsched als auch Adelung das Pronomen dieselben kommentarlos und direkt in eine Reihe mit den Personalpronomina im engeren Sinne stellen, so ist dennoch eine funktionale Parallelität nicht vollständig gegeben. Innerhalb des Paradigmas der Anredepronomina nimmt dieselben nur eine Randposition ein, denn auch wenn die Beschreibungen der zeitgenössischen Grammatiker keinen Hinweis darauf liefern, ist der Grammatikalisierungsgrad dieses Pronomens nicht mit dem seiner Konkurrenten zu vergleichen. - Dies zeigt sich erstens, wenn man hinsichtlich des Gebrauchs von dieselben in der Anrede den medialen Aspekt berücksichtigt. Eine an den Darstellungen Gottscheds und Adelungs orientierte Sichtweise würde nämlich die Tatsache verkennen, daß das Höflichkeits-dieselben fast ausschließlich auf Texte beschränkt ist, die der Schriftlichkeit nahestehen. Obschon wir naturgemäß nichts Sicheres über den mündlichen Sprachgebrauch in früheren Sprachepochen wissen, so fällt im Zusammenhang mit dieselben trotzdem auf, daß dieses Pronomen in adressatendeiktischer Funktion fast ausschließlich in Briefen, Dedikationen usw. vorkommt; in der Figurenrede in Dramen oder in der wörtlichen Rede innerhalb von narrativen Texten finden sich so gut wie keine Belege. 81 So ergeben die Tabellen in Bernstorff (1914) eine klare Zweiteilung der Quellen, was die Verwendung des Pronomens dieselben betrifft. 82 Nur in schriftlichen Äußerungen findet dieselben in Anredefunktion häufiger Verwendung. 83 Zweitens ist der unter (24) wiedergegebene, sehr höfliche Brief 84 typisch für die Zeit um 1800: Das fragliche Pronomen dieselben taucht nie allein auf; in allen Fällen kommen weitere adressatenbezügliche Ausdrücke vor. Generell ist zum Anredeverhalten Heinrich von Kleists zu bemerken, daß sich - soweit wir das seinem Briefwechsel entnehmen können - die meisten seiner schriftlichen Sozialbeziehungen in eine ¿«-Sí'e-Dichotomie fügen. 85 Will er nun besonders höflich erscheinen, so stehen ihm dazu zwei zusätzliche, nicht-grammatikalisierte Varianten zur Verfügung: die von Adelung in (23) erwähnten
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Der gerade zitierte Beleg (25) ist diesbezüglich eine ausgesprochene Ausnahmeerscheinung. Nach Ausweis der Übersichten von Carruth/Alder (1897) verwendet beispielsweise Gotthold Ephraim Lessing, dessen Dramen als ein guter Spiegel der Anredeverhältnisse seiner Zeit gelten, kein einziges Anrede-dieselben in seinen dramatischen Texten. Vgl. insgesamt auch Denecke (1892: 328). - Brigitte Schlieben-Lange (persönliche Mitteilung) sah dieses Phänomen deshalb auch in Verbindung mit ihrem Konzept der 'bemühten Schriftlichkeit'. Daß der Brief höflichen Charakter hat, zeigt neben der Einleitung und der Schlußformel auch die Verwendung von gefälligst, dessen Bedeutung im Sinne von 'als Gefälligkeit' bis weit ins 19. Jahrhundert hinein gut belegt ist und hier nicht als Ausdruck des Unwillens wie im modernen Deutsch zu werten ist (vgl. Paul et al. 2002: 379, s.v. gefallen). Obwohl wir über seinen mündlichen Verkehr mit Bediensteten usw. nichts Genaueres wissen, ist es als durchaus wahrscheinlich anzunehmen, daß er dabei auch die Varianten ihr und er!sie verwendet hat.
120 „abstracten Würdenahmen" und das Identitätspronomen. 86 Letzteres scheint dabei so gut w i e nie selbständig aufzutreten, sondern immer nur in Verbindung mit einem nominalen Antezedens, auf das es anaphorisch verweist. 8 7 Es fungiert sozusagen als rein fakultativer S/e-Ersatz, mit dessen Hilfe ein Text eine Art 'höfliche Garnierung' erhalten kann. Das System IV (Abb. 25) besteht also aus vier echten Anredepronomina, die im Höflichkeitsgrad gestaffelt sind: du, ihr, er/sie, Sie. Darüber hinaus steht den Schreibern des 18. und frühen 19. Jahrhunderts mit dieselben noch ein weiteres Pronomen zur Verfügung, das sie pragmatisch einsetzen können, um eine weitergehende Höflichkeitssteigerung zu erzielen.
4 . 5 . S y s t e m V: D e r W e c h s e l v o n er/sie
und ihr
Um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert findet ein innerparadigmatischer Wandel bei den deutschen Anredepronomina statt, indem ihr und er/sie ihren Platz auf der Höflichkeitsskala tauschen. Jacob Grimm konstatiert in diesem Zusammenhang: 88 (26)
Um das jähr 1780 ungefähr behauptete noch das er, sie (sg.) seinen bisherigen rang vor dem ihr. [...] Heutzutage, seit wieder ein halbes jh. abgelaufen ist [ca. 1830; HS], hat sich die läge von ihr und er verrückt, das er ist unter das ihr herabgesunken, die in der vorigen periode geerzt wurden, erhalten jetzt plurales sie, die damals geirzten aber er. [...] ihr hat wieder eine edlere geltung, gleichstehende, in höheren ständen, bedienen sich seiner nicht selten. (Grimm 1898: 369f.)
Im späteren Verlauf des Jahrhunderts sinkt das erlsie dann so weit ab, daß Bellmann (1990:188) angesichts einzelner literarischer Belege meint, „es scheint das Pronomen der verächtlichen Anrede schlechthin geworden zu sein." Und als solches lebt es wohl im historischen Bewußtsein vieler heutiger Sprecher des Deutschen weiter, die sich bei der er/sieAnrede in erster Linie an die Anrede gegenüber Dienstboten in der Literatur des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts erinnern, so beispielsweise an die vielen demütigenden erAnreden an die Titelfigur in Georg Büchners Woyzeck. 86
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Je höher der Höflichkeitsgrad eines Briefes ist, um so höher ist auch die Frequenz der Abstrakta im Text: So gebraucht Kleist beispielsweise in dem einzigen überlieferten Brief, der an Johann Wolfgang Goethe gerichtet ist, fast ausschließlich Ew. Exzellenz (von Kleist 1986: 397f.). Auf einen schönen Gegenbeleg hierzu hat mich Guido Seiler aufmerksam gemacht: In dem folgenden Romanausschnitt wird dieselben nicht nur im gesprochenen Modus realisiert, sondern fungiert darüber hinaus sogar noch gesprächsinitial, d.h. ganz sicher ohne Antezedens: „Als der Schwärm vorüber war, führte man mich eine Seitentreppe hinab in den Hof, und dann durch das Hintergebäude auf die Straße. Bei dem hellen Schein der Laterne erkannte ich in meinem Retter den possierlichen Belcampo. 'Dieselben scheinen,' fing er an, 'einige Fatalität mit dem fremden Maler zu haben, ich trank im Nebenzimmer ein Gläschen, als der Lärm anging, und beschloß, da mir die Gelegenheit des Hauses bekannt, Sie zu retten, denn nur ich allein bin an der Fatalität schuld.'" (aus Die Elixiere des Teufels, Roman 1815/16; Hoffmann 1924: 122). Für Hinweise, wann und wie andere zeitgenössische Grammatiker diesen Wandel registriert haben, vgl. Bellmann (1990: 187f.). - Möller (1969: 147-152) verzeichnet eine Reihe von Detailbeobachtungen zum anredebezogenen Selbstverständnis bürgerlicher Schichten im ausgehenden 18. Jahrhundert.
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Das durch den beschriebenen Wandel entstandene System V ist im Lichte eines crosslinguistisch gut abgesicherten Befundes recht ungewöhnlich bezüglich der Interaktion der grammatischen Kategorien 'Person' und 'Numerus' bei der Konstitution höflicher Anredepronomina.89 Nach Ausweis der typologischen Literatur scheint nämlich in den Sprachen der Welt nur folgende Korrelation belegt zu sein: Variation o f person in pronominal reference indicates greater differences in degree of respect or social distance than does variation in number. (Head 1978: 191)
Demnach sollte ein Pronomen, das fur den Wert '3. Person Singular' spezifiziert ist, auf der Hierarchie der Höflichkeit stets höher eingestuft sein als eines mit dem Wert '2. Person Plural'. Genau dies ist hier aber nicht der Fall: ihr steht auf der Höflichkeitsskala über dem er/sie. - Dennoch lassen sich einige Beobachtungen machen, die Aufschluß über die Hintergründe für den auffälligen Wertewechsel liefern können. Erstens fallt auf, daß das deutsche Anredesystem just zum Zeitpunkt des besagten Wandels sich in einer allgemeinen Umbruchsphase befindet. Zum einen ist die Zeit um 1800 die Periode, in der das Paradigma der Anredepronomina des Deutschen seine größte Komplexität entfaltet (und sogar das Identitätspronomen dieselben besonders häufig Verwendung findet, wenn auch nicht voll-grammatikalisiert, s.o.). Zum anderen breitet sich die Anredeform Sie, die vormals nur der obersten Gesellschaftsschicht vorbehalten gewesen ist, auch in den bürgerlichen Schichten aus. Dadurch geraten genau die fraglichen mittleren Pronomina ihr und er!sie unter Druck; wenig später - um die Mitte des 19. Jahrhunderts - fallen sie zumindest in der Standardsprache vollkommen weg.90 Wir beobachten hier also ein System, das im Begriff ist aufzuweichen. Die aus crosslinguistischer Sicht ungewöhnliche Vertauschung ist dementsprechend wohl (auch) eine Verfallserscheinung, die durch den generellen Umbruch im Anredesystem zumindest mitbegünstigt ist. Zweitens ist zu überlegen, inwieweit es wirklich angemessen ist, von einem „Niedergang des Erzens" zu sprechen (so die Formulierung von Keller 1904/05: 157, auch zitiert in Bellmann 1990: 187). Vielmehr würde womöglich der Komplementärbegriff des 'Wiederaufstiegs des Hirzens', der 'i'Ar-Anhebung' den Sachverhalt adäquater beschreiben. Denn trotz der in Abschnitt 4.1.2 erhobenen Einwände gegen allzu schnellen Rückgriff auf Kontaktphänomene als Erklärungsansatz für Sprachwandel darf natürlich nicht geleugnet werden, daß - entsprechende soziolinguistische Gegebenheiten vorausgesetzt - fremde Prestigesprachen als Katalysator bei sprachlichen Entwicklungen wirken können. - Im hier zu betrachtenden Fall sind die soziokulturellen Umstände durchaus geeignet, um eine Begünstigung der Entwicklung durch Sprachkontakt anzunehmen. Im 18. Jahrhundert ist das Französische Bildungs- und Prestigesprache in weiten Teilen Europas.91 Für eine Reihe von Sprachen wird geltend gemacht, daß ihr pronominales Anredesystem in dieser Zeit unter dem Einfluß des Französischen Wandlungen durchgeführt hat, und zwar durch die Einfuhrung bzw. Stärkung der höflichen Anrede mit dem Pronomen der 2. Person Plural nach 89 90 91
Vgl. zum folgenden auch Simon (1997a: 270-273 und 1998b: 213). Vgl. dazu den nächsten Abschnitt. Zur deutsch-französischen Zweisprachigkeit der Oberschicht im 18. Jahrhundert vgl. von Polenz (1994: 63ff.; mit umfangreichen Literaturangaben). - Blackall (1959: 160ff.) beschreibt die „francomania" (S. 160), die lange Zeit im deutschsprachigen Raum herrschte und die zum Französischen als stilistischem Vorbild (auch und gerade in Frage der Etiquette und des höflichen Sprachverhaltens) führte.
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Vorbild der heute noch genau so funktionierenden ίκ-voMs-Dichotomie der Prestigesprache. Am pointiertesten drücken Mûhlhâusler/Harré (1990) diesen Sachverhalt aus im Hinblick auf die beiden erst relativ spät (Ende 17. Jahrhundert) voneinander getrennten Varietäten des Gälischen ('Irish Gaelic' und 'Scottish Gaelic'): As spoken in Ireland, a culture innocent of the French connection, there is no honorific pronoun system at all. Each person is tu to every other. And the plural form, shib is used simply for indexing a speech act to a multiple target. But in Scotland the influence in the eighteenth century of all things French led to the importation of the custom of using the second person plural, su, as an honorific, in which role it persists today in the few remaining Gaelic-speaking areas. (Mûhlhâusler/Harré 1990: 141)
Auch in bezug auf die Konsolidierung der höflichen vy-Anrede im Russischen während des 18. Jahrhunderts wurde z.B. von Friedrich (1972: 273f.) auf das Französische als wesentlichen Faktor hingewiesen. 92 - Vor dem Hintergrund dieser französischen Kulturdominanz ist es plausibel anzunehmen, daß mitbedingt durch die Analogie zum vous auch das deutsche ihr eine Aufwertung erfahren hat, wodurch die Anrede mit dem singularischen Pronomen der 3. Person quasi automatisch nach unten rutschen mußte und dadurch zur Anrede an sozial weit unter dem Sprecher stehende Personen wurde. 93 Als dritter Punkt, der beim Wechsel des Stellenwertes der Anredetypen eine Rolle gespielt haben kann, ist eine generelle semantisch-grammatische Eigenschaft höflicher Sprachvarianten ins Auge zu fassen. Es konnte nämlich anhand von Material aus den unterschiedlichsten Sprachen gezeigt werden, daß die höflicheren Register bzw. auch nur einzelne sprachliche Formen dazu tendieren, weniger genau, weniger spezifisch zu sein als andere Varietäten und Formen. Konkret heißt das z.B. auf lexikalischer Ebene, daß bestimmte semantische Merkmale neutralisiert sind, wenn das Lexem eines ist, das vornehmlich in einem höflichen Register benutzt wird. So schreibt Harada (1976: 508) über das Japanische: It is interesting to note that suppletive honorifics sometimes neutralize a semantic distinction that holds between nonhonorific forms. For instance, the form irassyar- covers the whole range of meanings expressed by the nonhonorific words ar-, i-, ku-, and ik-. Here, the distinctions between state and motion, between coming and going, are neutralized.94
Etwas Vergleichbares wird auch für die in Abschnitt 3.2.1 erwähnten australischen 'Schwiegermutter-Sprachen' beschrieben. Auch hier werden Lexeme verwendet, die gegenüber den entsprechenden Wörtern der Normalvarietät gewissermaßen Hyperonyme darstellen: For instance, M Guwal [d.i. die 'everyday language' des Mamu Dialekts des Dyirbal, HS] has terms bala magur 'haze', bala gumburu 'mountain mist', bala garan 'smoke' and bala