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German Pages 456 Year 2017
Thomas S. Eberle (Hg.) Fotografie und Gesellschaft
Sozialtheorie
Thomas S. Eberle (Hg.)
Fotografie und Gesellschaft Phänomenologische und wissenssoziologische Perspektiven (unter Mitarbeit von Niklaus Reichle)
Der Herausgeber dankt dem Dr. Alfred Bühler-Reindl-Fonds und der Forschungskommission der Universität St. Gallen für den Druckkosten-Beitrag.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:// dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt Vorwort | 9 Fotografie und Gesellschaft Thematische Rahmung Thomas S. Eberle | 11
E rster T eil : F otografieren Fotografisches Handeln Subjektive Über formung von fotografischen Repräsentationen der Wirklichkeit Nina Baur und Patrik Budenz | 73
Der Akt des Fotografierens Eine phänomenologische und autoethnografische Analyse Thomas S. Eberle | 97
App-Fotografie Zur Veralltäglichung interpretativer Konser vierung Paul Eisewicht und Tilo Grenz | 117
Fotografieren (lassen) in der lebensweltanalytischen Ethnografie Das Foto als Wissensform Michaela Pfadenhauer | 133
Die Kamera im Dienste soziologischer Objektivierung Pierre Bourdieus fotografisches Archiv Franz Schultheis | 147
Subversionen des Lichts Helmar Lerskis fotografische Kritik soziologischer Fotografie Felix Keller | 163
Der Schweizer Fotograf Herbert Maeder Ein Meister des Lichts und das »immutable mobile«-Phänomen in der dokumentarischen Fotografie Christoph Maeder | 177
Z weiter T eil : B etrachten von F otos Als schautest Du mich an Das Foto als Präsenzvehikel Ronald Hitzler | 197
Präsenz des Bildes – Präsenz im Bild Betrachtungen zur Präsenzer fahrung Aida Bosch | 213
Zwischen Leben und Bild Zum biografischen Umgang mit Fotografien Roswitha Breckner | 229
Digitale Alltagsfotografie und visuelles Wissen Bernt Schnettler | 241
Slowest Motion Das Foto im Film Jörg Metelmann | 257
D ritter T eil : A useinandersetzungen mit F otos Bilder des Unsichtbaren Hermeneutik und Wahrnehmung Hans-Georg Soeffner | 269
Ein amerikanischer Held in Zeiten moderner Technik Oder: das Wunder vom Hudson Jo Reichertz und Sylvia Marlene Wilz | 293
Die Wahrheit der Bilder Angelika Poferl und Reiner Keller | 305
Ist ein Foto »nur ein Foto«? Die Fotografie als Medium des Gedächtnisses in der Verarbeitung von Traumata Anna Lisa Tota | 317
Techno-Imagination Vilém Flussers Anregungen zur kreativen Interpretation von Technobildern Oliver Bidlo und Norbert Schröer | 331
Selfies Oder: kein fotografisches Selbstpor trät ohne den Anderen Klaus Neumann-Braun | 343
Die Sichtbarmachung des Soziologischen Manfred Prisching | 349
V ierter T eil : B eiträge zur T heorie der F otografie Sehen als kommunikatives Handeln und die Fotografie Hubert Knoblauch | 367
Fotografie und Phänomenologie Zur Methodologie einer wissenssoziologischen Konstellationsanalyse Jürgen Raab | 381
Versuch über eine Rezeptionsästhetik der Fotografie Konstruktion und Konstitution des fotografischen Bildes Jochen Dreher | 395
Typus, Zeichen und Bildpräsenz Ilja Srubar | 411
Das Lichtspiel der Fotografie als Phänomenologie des Blicks Achim Brosziewski | 425
F ünfter T eil : A bschlussmeditation Momentaufnahmen der Reflexion Bernard Langerock und Hermann Schmitz | 437
Autorinnen und Autoren | 451
Vorwort
Man soll ein Hobby nie zu seinem Beruf machen, lautet eine alte Alltagsweisheit. So führte auch ich ein Leben in mannigfaltigen Wirklichkeiten, die ich untereinander oft unverbunden bewohnte. Seit meiner frühen Kindheit entwickelten sich das Fotografieren und das Tauchen zu meinen wichtigsten Hobbies, aber ich hielt sie immer säuberlich getrennt von meiner beruflichen Tätigkeit als Soziologe. Ich nahm die Alltagsweisheit wohl einfach zu wörtlich, denn die verschiedenen Bereiche zu verbinden war ja eigentlich nicht untersagt – und erwies sich schließlich als sehr fruchtbar. Wie so oft, waren es gute Freunde, die mir mehr oder weniger emphatisch zur Verbindung dieser Bereiche rieten. Der erste war Hubert Knoblauch, der mich immer wieder sanft anstupste, das Thema Fotografie phänomenologisch und wissenssoziologisch zu bearbeiten. Seine Einladungen waren indes wohl allzu zurückhaltend, als dass sie mich wirklich in Bewegung gebracht hätten. Es bedurfte der zusätzlichen Initiative eines weiteren guten alten Freundes, Ronald Hitzler, der mich nachhaltig ermahnte und auch sehr engagiert unterstützte, dieses Projekt endlich – kurz vor meiner Emeritierung – anzupacken. Nach einigen eigenen Artikeln zum Thema bin ich stolz darauf, hier ein schönes Buch herausgeben zu dürfen, welches das Thema Fotografie in vielen verschiedenen Aspekten phänomenologisch und wissenssoziologisch aufarbeitet. Mein herzlicher Dank geht zunächst an die beiden erwähnten Freunde, mit denen ich schon mein ganzes berufliches Leben lang einen intensiven fachlichen und bereichernden persönlichen Austausch pflege. Er richtet sich aber auch an sämtliche Autorinnen und Autoren, die alle auf je unterschiedliche Weise Expert(inn)en auf dem Gebiet der phänomenologischen Bildanalyse und der visuellen Wissenssoziologie oder verwandter Gebiete sind. Sie haben nicht nur fachlich sehr fundierte Beiträge für diesen Band geschrieben, sondern zu den meisten von ihnen haben sich im Laufe meines Lebens auch persönliche und freundschaftliche Beziehungen entwickelt. Mit ihnen gemeinsam dieses Buch gestalten zu dürfen, war mir eine außerordentliche Freude. Ich danke Miriam Augustine für ihre redaktionellen Arbeiten zu Beginn dieses Projekts und vor allem Niklaus Reichle, der mit großem Engagement dieses Buch mitlektoriert und auch formal in die richtige Form gebracht hat – vor allem die Einarbeitung des Bildmaterials war für uns
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ungewohnt und erwies sich als sehr aufwändig. Ein herzliches Dankeschön geht auch an Aida Bosch, Roswitha Breckner, Jürgen Raab und Jo Reichertz für ihr Feedback zu meiner Darstellung ihrer Ansätze in der ›Thematischen Rahmung‹ sowie an Emmanuel Alloa für seinen fachkundigen Beistand auf dem Glatteis der Husserl-Interpretation. Ferner danke ich Kathrin Popp und Gero Wierichs vom transcript Verlag, die den Herstellungsprozess dieses Buchs so fachlich kompetent wie auch geduldig und verständnisvoll begleitet haben. Ein großer Dank geht überdies an den Dr. Alfred Bühler-Reindl-Fonds und die Forschungskommission der Universität St. Gallen für den Druckkostenbeitrag. St. Gallen, im Oktober 2016 Thomas S. Eberle
Fotografie und Gesellschaft Thematische Rahmung Thomas S. Eberle Die Fotografie ist in geradezu rasantem Tempo allgegenwärtig geworden. Zum einen begegnen wir in unserem gesellschaftlichen Alltagsleben seit langem überall Fotos: auf Plakaten, in Zeitungen und Illustrierten, auf dem Computer, auf Tablets und Smartphones. Sowohl der öffentliche als auch der private Bereich sind von Fotos durchsetzt, und seit der Verbreitung von Kino, Fernsehen und elektronischen Geräten zunehmend auch von bewegten Bildern, also von Filmen und Videos. An die Ubiquität von Fotos haben wir uns seit Jahrzehnten gewöhnt, das ständige Betrachten von Bildern ist uns zur Selbstverständlichkeit geworden. Zum anderen – und dies ist ein neues Phänomen – ist auch das Fotografieren selbst allgegenwärtig geworden. Seit der Erfindung der Digitalfotografie, insbesondere seit der Verbreitung des digitalen Fotografierens per Smartphone, scheint mittlerweile jedermann zu fotografieren – überall auf der Welt begegnen wir Menschen, die ihre Kompaktkamera oder ihr Smartphone zwischen sich und das jeweils Betrachtete halten, Fotos machen und diese anschließend auf den kleinen Bildschirmen betrachten. Die entsprechenden Gesten und Posen sind universell und transkulturell geworden. So scheint heutzutage beinahe alles fast jederzeit fotografiert oder gar gefilmt zu werden – es wird geschätzt, dass täglich weltweit etwa 1,8 Milliarden Fotos aufs Internet geladen werden, also über 20.000 pro Sekunde (Stamm 2015). Angesichts dieser Entwicklung drängt sich eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Thema »Fotografie und Gesellschaft« geradezu auf – Aktualität und Relevanz stehen außer Frage. So versammelt das vorliegende Buch eine Reihe von Beiträgen namhafter Soziologinnen und Soziologen, die in diesem Bereich versiert sind. Ihnen gemeinsam ist, dass sie vom interpretativen Paradigma ausgehen und ihre Analysen vorwiegend aus einer phänomenologischen oder wissenssoziologischen bzw. sozialkon struktivistischen Perspektive vornehmen. Angesichts der thematischen Breite des Buchtitels soll dieses Einleitungskapitel nicht nur in den Inhalt des vorliegenden Buchs einführen, sondern diesen auch etwas umfassender rahmen. Wie viele Themen dabei angeschnitten werden können, hat bereits Gisèle Freund (1976) in ihrem gleichnamigen Buch gezeigt. In unserem Kontext scheinen mir vor allem folgende Fragen relevant:
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• Erstens, wie hat sich die Fotografie seit ihrer Erfindung in der Gesellschaft verbreitet? • Zweitens, wie hat sich die Polarität zwischen Alltagsfotografie und Kunstfotografie entwickelt? • Drittens, warum begann die Soziologie – die Wissenschaft von der Gesellschaft – sich so spät mit Fotografie auseinanderzusetzen? • Viertens, was zeichnet phänomenologische und wissenssoziologische Perspektiven auf Fotografie aus? Im Anschluss an diese thematische Rahmung wird der Auf bau des Buchs erläutert und der Inhalt der einzelnen Buchkapitel skizziert.
D ie V erbreitung der F otogr afie in der G esellschaf t Die Geschichte der Fotografie ist einerseits Technikgeschichte, andererseits gesellschaftliche Gebrauchsgeschichte. Beide sind komplex und können hier nur kursorisch skizziert werden. Beide sind auch auf mannigfaltige Weise miteinander verwoben, nicht im Sinne einer deterministischen Beziehung, sondern im Sinne eines vielschichtigen Wechselspiels: Die Techniken der Fotoapparate, der Filmentwicklung und schließlich der digitalen Speichermedien eröffneten Optionen für vielerlei Gebrauchsweisen, und diese wiederum weckten Ideen für technische Weiterentwicklungen, die schließlich zum Teil auch realisiert wurden. Die Erfindung der Fotografie wird in der Regel auf das Jahr 1839 angesetzt, als zum einen mit der Daguerreotypie – benannt nach ihrem Erfinder Louis J. M. Daguerre – in Paris ein modernes Bildaufzeichnungsverfahren vorgestellt und zum anderen im selben Jahr in Deutschland auch der Begriff »Photographie« geprägt wurde (vgl. Baatz 2008). In Form der Camera obscura, der Laterna magica und der Camera lucida gab es frühe Vorläufer. Ab 1800 hatte sich eine ganze Reihe von Forschern mit ähnlichen Verfahren beschäftigt. Zur selben Zeit wie Daguerre, aber unabhängig von ihm, entwickelte der englische Privatgelehrte William Henry Fox Talbot das Negativ-Positiv-Verfahren. Dieses setzte sich später durch, weil man vom selben Bild mehrere Abzüge machen konnte – die Daguerreotypien waren demgegenüber Unikate. Während die technische Entwicklung der folgenden Jahrzehnte beträchtliche Fortschritte brachte, entstand der Beruf des Fotografen, der mit einer ganzen Wagenladung Fotoausrüstung von Dorf zu Dorf zog und gegen Bezahlung Fotos von Kunden – meistens in Sonntagskleidung und aufgrund der langen Verschlusszeiten in steifen Posen – anfertigte. Im Jahre 1888 präsentierte der amerikanische Unternehmer Eastman die ›Kodak Nr. 1‹, eine 8 × 9 × 16 cm große tragbare Kamera mit einem Fixfokusobjektiv und einem Rollfilm, auf dem hundert kreisförmige Bilder im Durchmesser von jeweils 65 mm Platz hatten. Mit dem Slogan »You Press the Button. We Do the Rest« wurde ein umfassender Fotoservice angeboten: Die Kamera wurde mit dem Film gekauft; nachdem dieser belichtet war, schickte
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man die Kamera an die Eastman Company und erhielt sie mit einem neuen Film geladen wieder zurück, zusammen mit den Abzügen des belichteten Films. Damit war der Weg zur gesellschaftlichen Verbreitung des Fotografierens geebnet. Mit dem Aufkommen der Illustrierten bildete sich der Beruf des Fotoreporters heraus. Der Fotojournalismus begann im breiten Stil in den 1920er Jahren, als die reproduktionstechnischen Voraussetzungen für eine rasche Verbreitung aktueller Fotos geschaffen waren. Gleichzeitig wurde mit der Leica im Jahr 1924 eine qualitativ hochwertige Kleinbildkamera erfunden, die sich unter Reportern wegen ihrer Handlichkeit und Präzision über Jahrzehnte großer Beliebtheit erfreute. Allerdings bevorzugten viele Profifotografen aus Qualitätsgründen weiterhin (auch) größere Formate, wie etwa die Ermanox (1924), die Rolleiflex (1929) oder die Has selblad (1948) und deren Nachfolgemodelle, sowie auch eine ganze Reihe weiterer Apparate. Ab den 1960er Jahren etablierten sich zunehmend japanische Hersteller auf dem Markt, allen voran Pentax, Nikon und Canon. Sie produzierten einerseits Profi-Kameras, andererseits aber auch etwas einfachere Modelle für den anspruchsvollen Amateur. 1963 erfolgte die Markteinführung der Kodak Instamatic, die wie ehemals die ›Kodak Nr. 1‹ für die breite Masse konzipiert war: Eine Billigkamera die einfach zu bedienen war – da das korrekte Einfädeln der Kleinbildfilme vielen Leuten Probleme bereitete, wurden die Filme als Kassetten verkauft und konnten handlich eingelegt, herausgenommen und eingesandt werden. Das Kodak Instamatic System war ein gigantischer Erfolg: Während der folgenden 20 Jahre wurden über 150 Millionen Kameras verkauft. So verbreitete sich das Fotografieren zunehmend in der Gesellschaft, und das Angebot an Kameratypen wurde immer vielfältiger. Auch die Qualität des Filmmaterials war mittlerweile hervorragend, weshalb selbst Profifotografen vermehrt großformatige durch Kleinbild-Kameras ersetzten. Ab den 1970er Jahren verdrängte schließlich der (1938 erfundene) Farbfilm in Form von Diapositiven und Farbfotos kontinuierlich die herkömmliche Schwarz-Weiß-Fotografie. Illustrierte und Zeitungen, Plakate, Kinos und Fernsehen haben Bilder zum selbstverständlichen Bestandteil unseres Alltagslebens gemacht. Zur Verbreitung des Fotografierens als Tätigkeit haben einerseits die einfach zu bedienenden Billigkameras sowie die wirtschaftliche Erschwinglichkeit von Spiegelreflexkameras für den anspruchsvolleren Amateur beigetragen, am nachhaltigsten aber die digitale Revolution. Der erste Bildsensor, das Herzstück der digitalen Kamera, wurde bereits 1969 entwickelt. Doch erst nach der Jahrtausendwende setzte die Massenproduktion von Digitalkameras ein. Vor allem dank den digitalen Kompaktkameras und Ultrakompaktkameras, die relativ kostengünstig, leicht zu tragen und einfach zu bedienen sind und auch in der Automatik-Einstellung hochwertige Bildqualität liefern, erfreute sich das Fotografieren steigender Beliebtheit. Einen weiteren Entwicklungsschub brachten die Smartphones sowie die Tablets – inzwischen trifft man überall auf der Welt Menschen, die Personen, Kunstwerke, Denkmäler, Konzerte oder Landschaften und immer
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häufiger auch sich selbst auf dem Bildschirm solcher Geräte betrachten und das Betrachtete entweder als Foto oder Video festhalten – die entsprechenden Gesten und Posen beim Fotografieren haben inzwischen selbst schon fast einen ikonischen Status erlangt. Mit Smartphones und Tablets verbreitete sich auch eine Vielzahl von Apps, die spezielle Aufnahme-Modi mit Filtern und Verfremdungseffekten sowie einfache Bildbearbeitungsmöglichkeiten enthalten. Diese rasante Entwicklung seit der digitalen Revolution kann anschaulich mit Zahlen illustriert werden. Gemäß dem deutschen Statistik-Portal ›statista‹ (http://de.statista.com) kulminierte der Verkauf von Digitalkameras im Jahr 2011 mit 148 Millionen verkauften Exemplaren. Danach sank der Absatz beträchtlich: 2014 betrug er nur noch die Hälfte, nämlich 74 Millionen, und 2016 noch 49 Millionen. Schuld am Absatzrückgang sind die Smartphones, die mittlerweile annähernd vergleichbare Qualität von Fotos liefern wie die Kompaktkameras (mittlerweile selbst Videos in Full-HDund 4K-Auflösung). Gemäß demselben Portal beträgt die Anzahl Smartphone-Nutzer 2015 weltweit 1,86 Milliarden und im Jahr 2019 schätzungsweise 2,66 Milliarden. Laut BITCOM-Umfragen macht in Deutschland jeder Smartphone-Nutzer ab 14 Jahren mit seinem Gerät auch Fotos. »Für Schnappschüsse im Alltag oder kurze Videoclips ist das Smartphone mit Abstand das beliebteste Gerät« (BITCOM 2014). Gleichzeitig bleiben digitale Spiegelreflex- und Systemkameras mit großen Bildsensoren und Wechselobjektiven weiterhin gefragt (ebd.); mittlerweile haben auch die meisten Profifotografen auf die digitale Fotografie (mit hochwertigen Kameras) umgestellt – zu überzeugend sind ihre Vorteile, wie die kostengünstige Aufnahme und Speicherung, die sofortige Bildkontrolle, die rasche Bearbeitung sowie die bequeme Übermittlung und Verbreitung der Fotos. (In der Kunstfotografie wird weiterhin auch mit traditionellen Verfahren gearbeitet.) Nach wie vor sind die technischen Unterschiede zwischen hochwertigen Spiegelreflex-Kameras und billigen Kompaktkameras oder Smartphones beträchtlich; sie werden aber zunehmend kleiner und von bloßem Auge wohl bald nicht mehr sichtbar sein. Inzwischen gibt es für Smartphones Linsenaufsätze, die mehr Weitwinkel- oder mehr Telefokus erlauben, bereits auch Smartphones mit zwei Linsen unterschiedlicher Brennweite, und bald werden wohl auch Smartphones regulär neben digitalem auch optisches Zoomen ermöglichen. Vorbei ist die Zeit der flauen Bilder, die mit Billigkameras geschossen wurden; heute liefern auch digitale Kompaktkameras und Smartphones Fotografien von erstaunlich guter Qualität. Im Zuge dieser Entwicklung reduzieren sich die Qualitätsunterschiede daher immer mehr auf das, was der kulturellen Unterscheidung von »guter« und »schlechter« Fotografie schon immer zugrunde lag: die Kompetenz des Fotografen.
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A lltagsfotogr afie und K unstfotogr afie Es besteht ein breites und ausdifferenziertes Spektrum an fotografischen Kompetenzen, dessen Pole leicht zu bestimmen sind: Auf der einen Seite steht der »Knipser«, der alles mit der automatischen Einstellung seiner Kamera fotografiert und nicht weiß, dass diese oft suboptimale Ergebnisse liefert; der auch nicht weiß, dass sein Blitz weder die Landschaft noch entfernte Gebäude aufzuhellen vermag und dass Menschen und Gegenstände in starkem Gegenlicht nur als schwarze Konturen abgebildet werden. Oft ist der Bildauf bau solcher Fotografien miserabel, das Lächeln von Menschen wirkt darin gefroren, ihre Augen sind in vielen Fällen ganz oder halb geschlossen, weil sie gerade blinzelten. Oft ist auch einiges abgeschnitten, selbst Teile von Personen, weil der Knipser nur aufs Zentrum des Bildes blickte und die Partien entlang des Bildrahmens nicht beachtete. Und beim Abdrücken lief dann womöglich noch irgendwer überraschend ins Bild, weil der Knipser das Geschehen rund um den Bildausschnitt nicht im Blick hatte. Auf der anderen Seite stehen die Profifotografen, die die technischen Möglichkeiten ihrer Kamera bis ins Detail beherrschen und sie zum Zwecke der Bildgestaltung voll ausschöpfen. Jene Fotografen, die sorgfältig auf die optimalen Lichtverhältnisse achten und sowohl die Perspektive, Brennweite, Blende, Verschlusszeit als auch den ISO-Wert und Filter-Einsatz mit Bedacht wählen und die ihre Bilder kreativ und möglichst einmalig gestalten. Hinzu kommt, dass Profifotografen seit jeher ihre Fotos auch selbst in der Dunkelkammer entwickelten und nachbearbeiteten oder – im Fall von Fotojournalisten – diese Aufgabe professionell arbeitenden Kollegen im Labor überließen. Auch wenn diese Arbeit heute am Computer geschieht: Bilder werden professionell nachbearbeitet, um sie so perfekt wie möglich zu gestalten. Die Werke vieler TopFotografen wurden weltweit verbreitet – einige ihrer Bilder sind geradezu Ikonen geworden – und haben nachhaltig dazu beigetragen, dass die Fotografie sich nach langem Ringen schließlich als eigenständige Kunstform etablieren konnte. Dass Kunst indes brotlos sein kann, zeigte sich auch in der Fotografie. Als exemplarisches Beispiel sei auf W. Eugene Smith (1918–78) hingewiesen, dessen Bilder legendär wurden: Walk to Paradise Garden, die Guardia Civil in Spanien, die Stahlarbeiter in Pittsburgh, der US-Soldat der ein Baby rettet, oder die japanische Mutter in der Umweltkatastrophe in Minamata, die ihr mit Quecksilber vergiftetes Baby aus dem Bad hebt. Aus existenziellen Gründen auf Aufträge angewiesen, blieb Smith ein Grenzgänger und Gratwanderer zwischen dem Beruf als Fotojournalist und seiner inneren Berufung als Kunstfotograf. Er kämpfte bei ›Life‹ und ›Newsweek‹ dafür, seine Filme nicht nur als Rohstofflieferant abzuliefern, sondern die Fotos selbst entwickeln und vergrößern zu dürfen und auch beim Layout der Story miteinbezogen zu werden. Seine ästhetischen Standards waren jedoch derart hoch, dass er sich immer wieder mit seinen Auftraggebern verkrachte und zudem auch seine künstlerischen Projekte nicht zum Abschluss brachte. So plante er beispielsweise, in kurzer Zeit und mit wenig
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Geld den Aufschwung Pittsburghs zu dokumentieren; daraus wurde ein Projekt von drei Jahren, während denen er Zehntausende von Fotos schoss und dabei seine Ehe sowie seine Gesundheit ruinierte. Aus künstlerischästhetischen Gründen manipulierte er seine Bilder und inszenierte ganze Szenen: Während vom Fotojournalismus eine neutrale, objektive Chronik verlangt wurde, ließ Smith für seine Reportage ›The Spanish Village‹ ein ganzes Dorf Statisten spielen, mietete Lastwagen und Kuhherden um das Dorfleben zu bereichern und verwandelte einige Bilder in der Dunkelkammer zu abgründig-dunklen Bildern (Mora/Hill 1998). Sein Kommentar: »This is the way I see it. This is the way I feel it, and I think this is perfectly legitimate in that photography has very little of reality in it, and then only on the lower level of simple recognition. Beyond that, in transmission of the inner feeling, I feel that everything that is honest to the situation is honest to the photograph« (zit. in: Hughes 1989: 388).
Nicht nur Smith, sondern auch etliche andere Fotografen litten unter dem Widerspruch zwischen Fotojournalismus und Kunstfotografie. Einige von ihnen gründeten daher die Fotoagentur ›Magnum‹ mit dem expliziten Ziel, die Qualität des Fotojournalismus hochzuhalten. Die Idee entstand 1934 bei einem Treffen von Henri Cartier-Bresson, David Seymour und Robert Capa in Paris, wurde jedoch erst 1947 mit der Gründung der Agentur in New York Wirklichkeit. Magnum sollte die Verwertung der Bilder ihrer Mitglieder steuern und ihre Rechte an den Fotos sichern. Ab den 1950er Jahren entstanden überall neue Zeitschriften, womit die goldenen Jahre der Live-Fotografie einsetzten. Die Agentur Magnum versammelte einen illustren Kreis von Top-Fotografen (u. a. auch Gene Smith während seines Pittsburgh-Projekts), die einen eigenen, eng an die Leica gekoppelten Stil entwickelten und nicht nur Auftragsbilder machten, sondern auch eigene Konzepte umsetzten. Fotografische Qualität war oberstes Gebot. Beim Fotojournalismus gesellte sich das Kriterium der Aktualität hinzu: Zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Auch diesbezüglich erwarben sich die Magnum-Fotografen einen hervorragenden Ruf. Magnum wurde zur berühmtesten Foto-Agentur der Welt, die inzwischen auch Filialen in Paris und London hat und ein halbes Jahrhundert Geschichte des Fotojournalismus verkörpert. Noch heute ist Magnum ein exklusiver Eliteclub (vgl. Baatz 2008: 160 f.; www.magnumphotos.com). Wenn man sich nun den Theorien der Fotografie zuwendet, so fällt auf, dass sie sich vor allem mit dem Medium Fotografie als solchem sowie der Fotografie als Kunstform beschäftigen (vgl. die Anthologie von Kemp/v. Amlunxen 2006 oder die Einführung von Geimer 2009). Zu dieser Ausrichtung beigetragen haben viele Fotografen selbst, aber auch Philosophen – Walter Benjamin, Pierre Bourdieu, Roland Barthes und Vilém Flusser sind nur die bekanntesten Namen – sowie Natur- und Geisteswissenschaftler, Kunsthistoriker und Kuratoren. Ähnlich anderen Kunstformen wurden zum einen kollektive Stile unterschieden – wie etwa Straight Photography, Neue Sachlichkeit, Avantgarde, Surrealismus, Pop-Art oder Hyperrealis-
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mus – gleichzeitig aber auch der persönliche Stil der jeweiligen Fotografen herausgearbeitet. Im Laufe der Zeit wurden immer mehr Fotoausstellungen organisiert, Ausstellungskataloge und Fotobücher publiziert, und das Sammeln und Kuratieren von Fotografien entwickelte sich selbst zu einer Kunst. So gibt es neben stilistischen Sammlungen auch biografische (nach Fotograf), historische (nach Zeitepoche), technische (nach bestimmten Verfahren wie Daguerreotypie) oder thematische (z. B. dokumentarische Fotografie und Fotojournalismus, Reise- und Landschaftsfotografie, Porträt-, Akt- und Modefotografie, Bilder vom Krieg oder Still-Leben usw.) (vgl. Noble 2006). Wie unterschiedlich konkrete Themen fotografisch umgesetzt werden können, manifestiert sich bei allen thematischen Sammlungen (aktuell in Bezug auf die Landschaftsfotografie siehe z. B. Brugger/ Steininger 2015). Es ist wohl für alle Kunstformen typisch, dass sich die Theorien vorab an den elaboriertesten, kreativsten und innovativsten Werken orientieren – sowohl in der Musik, der Malerei, der Literatur wie der Fotografie. Diese repräsentieren den »state of the art« und geben damit den Maßstab vor, anhand dessen andere Werke beurteilt und »herausragende« von »mittelmäßigen« oder »minderwertigen« und »gute« von »schlechten« Kunstwerken unterschieden werden. Dies hält Laien allerdings nicht davon ab, selbst zu musizieren, selbst zu malen, selbst zu schreiben und zu dichten – und selbst zu fotografieren. Bei der Fotografie kommt hinzu, dass viele Laien beim Fotografieren keinerlei künstlerische Ambitionen hegen, sondern einfach selbst erlebte Szenen festhalten wollen. Ihre Qualitätsansprüche sind ganz anderer Art. In der Regel gibt es indes auch für sie »gelungene« und »missglückte« Fotos, und auch sie legen Sammlungen an, seien es Familienalben oder Fotoalben von speziellen Ereignissen (Ferienreisen, Hochzeits- und Geburtstagsfeste usw.); bei Hobby-Fotografen trifft man oft auch weitere thematische Sammlungen an. In der Folge der digitalen Revolution hat sich nicht nur das Fotografieren als Tätigkeit enorm verbreitet, sondern auch das Teilen von Fotos. Zum einen hat sich das Anlegen von Sammlungen beträchtlich vereinfacht, indem auf dem Computer aus einer bestehenden Bilddatenbank nach unterschiedlichen Kriterien geordnet eine ganze Reihe verschiedener Alben erstellt werden kann (die auch bequem bei einem »Fotolabor« als Printalben in Auftrag gegeben werden können). Zum anderen sind seit dem Web 2.0 mit den »Social media« ganz neuartige Arten des »sharings« aufgekommen: Das Teilen von Fotos mit Freunden, Verwandten und Kollegen oder selbst mit einer weiteren Öffentlichkeit hat sich völlig revolutioniert und geschieht heute per Webgalleries, Fotoblogs, facebook, twitter, instagram, flickr, google+, slideshare, app.net, tumblr, linkedin, xing, tripadvisor, myspace, dropbox, youtube – und wie sie alle heißen. Die Logik konkreter Social media, wie facebook und twitter, hat auch neue Arten des Fotografierens befördert: Die früher primär von den Japanern präferierte Praktik, sich bei allen Fotos kultureller Ikonen immer auch selbst mit ins Bild zu setzen, ist ubiquitäre Praxis geworden – »Selfies« sind zur Selbstpräsentation auf Social media fast unerlässlich geworden, und das Smartphone mit
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dem »Selfie stick« als Aufnahmemedium ist heutzutage auf der ganzen Welt anzutreffen. Die gesellschaftliche Verbreitung des Fotografierens hat dazu geführt, dass sich zwischen den beiden Polen des bloßen »Knipsers« und des professionellen Kunstfotografen das Spektrum von künstlerischen und (alltags-)ästhetischen Ambitionen immer feiner ausdifferenziert hat. Auch »Knipser« lernen im Laufe ihrer Praxis dauernd hinzu, und immer mehr Amateure entwickeln auch »höhere« Ansprüche an die Ästhetik und Originalität ihrer Fotos. In der Masse der Milliarden von Fotos, die täglich produziert werden, gibt es immer auch »gute« Fotos von Nicht-Profis – bemessen nach unterschiedlichsten Kriterien – gleichzeitig wird es auch für Top-Fotografen immer schwieriger, Fotos zu kreieren die herausstechen und sich signifikant von den anderen abheben.
F otogr afie und S oziologie Obwohl der Fotojournalismus im Laufe des 20. Jahrhunderts für die Darstellung des sozialen Geschehens in unterschiedlichsten gesellschaftlichen und kulturellen Milieus immer wichtiger wurde und auch ausführliche sozialdokumentarische Reportagen entstanden, tat sich die Soziologie lange schwer mit der Fotografie. Noch im Jahr 2000 konstatierte Harper (2000: 402), dass sich der visuellen Soziologie und Anthropologie nur einige akademische Kleingruppen verschrieben haben, sie ansonsten aber entschieden abgelehnt werden. Nachdem die ›American Sociological Association‹ (ASA) Mitte der 1980er Jahre dem Antrag auf eine Sektionsgründung nicht stattgegeben hatte, organisierten sich die visuellen Soziologen in der ›International Visual Sociology Association‹ (IVSA; http:// visualsociology.org); ihr gehörten bald Mitglieder aus aller Welt und vieler verschiedener Disziplinen an. Die Ethnologie bzw. Kulturanthropologie entwickelte demgegenüber ein ungezwungeneres Verhältnis zur Fotografie. Schon die frühen Forscher machten Fotos und drehten Filme vom Alltagsleben der indigenen Stämme, die sie erforschten (oft mit einer kolonialistischen Attitüde). Das visuelle Material wurde aber jeweils eher zur Illustration der wissenschaftlichen Texte benutzt und nicht als eigenständige Datensorte betrachtet. Obwohl sich verschiedene Ethnologen auch in der sozialdokumentarischen Fotografie engagierten, stand diese nicht im Dienste der Wissenschaft, sondern war eher mit dem Fotojournalismus verwandt: Meist von sozialreformerischen Kreisen oder dem Staat beauftragt, hielten die Fotografen die spezifischen, oft elenden Lebens- und Arbeitsbedingungen bestimmter gesellschaftlicher Gruppen fest – soziale Benachteiligung, Ungerechtigkeit, Armut, Obdachlosigkeit, Kinderarbeit, soziales Elend. Diese Reportagen sollten aufrütteln und eine politische Wirkung erzielen; sie waren daher meist tendenziös, oft mit konkreten Anklagen verbunden und nicht unbedingt faktengetreu – es ist bekannt, dass viele der fotografierten Szenen aufgrund von Regieanweisungen inszeniert wurden. Einen beson-
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deren Platz in der Fotografie-Geschichte erhielten die von der ›Farm Security Administration‹ (FSA) in Auftrag gegebenen Reportagen über die Lebenssituation armer Farmer; Fotografen wie Walker Evans (1973) oder Dorothea Lange wirkten dabei stilbildend für die fotografische Dokumentation sozialer Probleme und gingen in die Fotokunstgeschichte ein. Für eine detaillierte Darstellung der sozialdokumentarischen Fotografie von 1900–2000 siehe Stumberger (2007; 2010). Der Beginn der visuellen Ethnografie im wissenschaftlichen Sinn wird im Allgemeinen in der Studie von Mead und Bateson (1942) über den ›Balinesischen Charakter‹ gesehen. Mit über 25.000 Aufnahmen (und auch einigen Kurzfilmen) dokumentierten sie die materielle Kultur (Gebäude, Werkzeuge usw.) und die Handlungsweisen der Balinesen. Soziale Rituale, Alltagsroutinen und Interaktionen wurden in Bildsequenzen festgehalten, so dass sie in ihrem zeitlichen Ablauf wie in einem Filmclip betrachtet werden können. Mit diesem Bildmaterial, das sie während ihrer Feldforschung erstellten, versuchten Mead und Bateson ihre textbasierte ethnografische Analyse zu bereichern und zu untermauern. Bahnbrechend in methodischer Hinsicht waren schließlich die Arbeiten von John Collier Jr., der als Fotograf im FSA-Projekt mitgearbeitet hatte. Sein Buch ›Visual Anthropology: Photography as a Research Method‹ (Collier 1967), in Ko-Autor schaft mit seinem Sohn überarbeitet und 1986 neu aufgelegt (Collier/ Collier 1986), propagiert Fotografie als eigenständige Forschungsmethode zu verwenden; dabei wird ein breites Spektrum methodischer Probleme und Verfahren behandelt. John Collier Jr. benutzte die Kamera nicht nur, um beobachtete kulturelle Szenen zu fotografieren, sondern empfahl auch Fotos in ethnografischen Interviews zu verwenden: Wenn er den Befragten Fotos vorlegte und diese kommentieren ließ, erfuhr er oft viel mehr als wenn er sie bloß von Angesicht zu Angesicht befragte. Solche »photo elicitation techniques« erwiesen sich als fruchtbarer Weg, Beforschte zu Erzählungen und Kommentaren anzuregen, die durch bloße Fragetechniken kaum hätten hervorgerufen werden können. Warum dauerte es nach Colliers ›Visual Anthropology‹ 45 Jahre, bis auch ein Buch über ›Visual Sociology‹ (Harper 2012) erschien? Warum tat sich die Soziologie derart lange so schwer mit der Fotografie? Folgende Gründe dürften dafür ausschlaggebend gewesen sein: Erstens beschäftigt sich ein Teil der Soziologinnen und Soziologen mit »grand theories« (wie sie Talcott Parsons genannt hat), also mit abstrakten Theorien komplexer Gesellschaften, und ist wenig an den Niederungen empirischer Forschung interessiert. Zweitens war empirische Forschung seit der Zwischenkriegszeit lange Zeit gleichbedeutend mit Survey-Forschung, also Datenerhebung mittels standardisiertem Fragebogen und Datenauswertung mittels quantitativer Methoden; die beschriebenen empirischen Phänomene waren dadurch auf eine merkwürdige Art abstrakt, oft in Zahlen, Tabellen und Grafiken repräsentiert, und standen in einem unüberbrückbaren Gegensatz zur konkreten bildlichen Darstellung von Fotografien. Drittens war diese Forschungspraxis in der Regel mit einem szientifischen bzw. positivistischen wissenschaftstheoretischen Selbstverständnis gekoppelt.
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Gemäß diesem liegt die Objektivität wissenschaftlicher Aussagen darin, dass sie intersubjektiv nachprüf bar sein müssen (Popper 1966: 18). Indes: Sind Fotografien im selben Sinn intersubjektiv überprüf bar wie schriftliche Sätze – oder ist die Sozialwissenschaft zwangsläufig eine Textwissenschaft (Gross 1981)? Diese Frage führt uns in schwierige epistemologische und methodologische Debatten über das Verhältnis von Bild und Text. Das bekannte Sprichwort »Ein Bild sagt mehr als tausend Worte« betont den Mehrwert eines Bildes gegenüber bloßem Text. Ob ein Bild eine Eigenlogik besitzt oder erst aufgrund eines verbalen Diskurses Bedeutung entfaltet, bildet indes Gegenstand anhaltender Kontroversen. Unstrittig ist, dass Bilder von Rezipienten interpretiert werden müssen und aufgrund ihrer offenen Auslegungshorizonte gegenüber verbalen Beschreibungen immer einen Bedeutungsüberschuss aufweisen; Bilder sind daher durch Texte nie vollständig darstellbar und substituierbar. Umgekehrt enthalten Bilder aufgrund ihrer Vieldeutigkeit und ihres Interpretationsbedarfs auch keine eindeutigen Aussagen, die intersubjektiv nachgeprüft werden könnten. Verbale Sätze die sich auf ein Bild beziehen, können demgegenüber intersubjektiv überprüft werden – allerdings, wie uns die Bildhermeneutik zeigt, oft nicht in jener Eindeutigkeit, die die szientifische Wissenschaftstheorie zum Leitbild erhob. Vielmehr stehen Bild und Text miteinander kombiniert in einer komplexen Wechselbeziehung. Wenn Harper (2000) – wie vor ihm John Collier Jr. (1967) – die Fotografie als eigenständige Forschungsmethode proklamiert, überrascht es daher nicht, dass er sie explizit als »Ergänzung« der herkömmlichen Methoden empirischer Sozialforschung bezeichnet. Text und Bild seien nie gleichwertig – so Harper – oft bestünde zwischen ihnen ein Bruch, der durch Bildlegenden und Kurztexte überbrückt werde. Die Entwicklung und Etablierung visueller Methoden in der Soziologie bedingte eine Abkehr von positivistischen Grundpositionen. Hilfreich war daher das (Wieder-)Erstarken des Interpretativen Paradigmas seit Ende der 1960er Jahre, in dessen Rahmen das Problem der Datenkonstitution präziser analysiert wurde. Alfred Schütz hatte aufgrund seiner Lebensweltanalyse gefordert, dass sich sozialwissenschaftliche Konstruktionen auf die alltäglichen Konstruktionen beziehen und diesen »adäquat« sein müssen. Garfinkel (1967) und Cicourel (1964) zeigten daraufhin, dass in der empirischen Forschung laufend common-sense Interpretationen vorgenommen werden, die von den Wissenschaftlern methodisch nie reflektiert werden – die »harten«, in Zahlen ausgedrückten Daten der Survey-Forschung sind realiter viel »weicher« als oftmals dargestellt. Das Interpretative Paradigma bildet die methodologische Grundlage dafür, die Lebenspraxis konkreter Akteure zu erforschen, einen offeneren Umgang mit verschiedenen Datensorten zu pflegen und empirische Sozialforschung als ein kreatives, innovatives und inspirierendes Unterfangen zu verstehen, das auf die Entdeckung von Neuem zielt. Es überrascht nicht, dass einer der Pioniere, Howard S. Becker, aus der ethnografischen Tradition der ›Chicago School‹ stammt, die genau diesem Selbstverständnis verpflichtet war. Becker (1974, 1981, 1995) empfahl die soziologischen Theorien als praktisches
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Hilfsmittel zu benutzen, um Ordnung in die visuellen Informationsmengen zu bringen. Der Soziologe muss beim Fotografieren theoretisch denken: Fotos müssen unter einem bestimmten theoretischen Gesichtspunkt aufgenommen werden. Bereits vor ihm hatte dieses Vorgehen auch Pierre Bourdieu gewählt, als er sich in den 1950er Jahren während seines Militäraufenthalts in Algerien für die Kultur der Kabylen zu interessieren begann und sie systematisch fotografierte. Dabei ließ er sich von soziologischen Fragen leiten, beispielsweise: Würde er die Clan-Struktur, die er auf dem Friedhof vorfand, auch auf dem lokalen Markt wiederfinden (vgl. Schult heis in diesem Band)? Bourdieu war vom zusätzlichen Erkenntniswert der Fotos überzeugt – kein positivistisches Korsett hielt ihn davon ab. Sein soziologisches Verständnis entwickelte sich geradezu im Einklang mit seiner fotografischen Arbeit (Bourdieu 2003; Bourdieu et al. 1981 [1965]). Da sich die Soziologie mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit beschäftigt und diese prozesshaft und flüchtig ist, stellt sich das Problem ihrer methodischen Fixierung (Bergmann 1985). Fotografien sind lediglich Momentaufnahmen, frieren also einen bestimmten Augenblick ein. Um der Flüchtigkeit der sozialen Welt Einhalt zu gebieten, eignen sich daher Verfahren, die das soziale Geschehen in seinem zeitlichen Verlauf aufzeichnen. Harvey Sacks, der Begründer der ethnomethodologischen Konversationsanalyse, konnte anhand von Gesprächsaufzeichnungen zeigen, dass Konversationen viele Verlaufselemente beinhalten, die man als Beteiligter oder als Beobachter gar nicht wahrnimmt – ja gar nicht wahrnehmen kann, weil sie so kurz auftreten und gleich wieder vorbei sind (Sacks 1992a+b). Tonbandaufzeichnungen haben viele überraschende Einsichten ermöglicht, wie Menschen miteinander »wirklich« sprechen. Bald entwarf Sacks mit Garfinkel das Projekt des »taping the world«: Sämtliche Alltagsroutinen sollten in ihren typischen Formen aufgezeichnet werden (was aufgrund von Sacks’ frühem Tod dann nicht realisiert wurde). Bald war aber auch klar, dass sich Tonbandaufzeichnungen nur für Telefongespräche eigneten, denn face-to-face Interaktionen vollziehen sich nicht nur auditiv, sondern auch visuell (und evtl. auch haptisch und olfaktorisch), d. h. Mimik, Gestik, Proxemik und die Körperhaltungen und -bewegungen der Interaktionen spielen eine wichtige Rolle in der Kommunikation und müssen in die Analyse derselben miteinbezogen werden. Auch hierfür half die technische Entwicklung: Hatte Sacks in den 1960er Jahren die ersten tragbaren Audio-Recorder benutzt, so kamen später portable Video-Kameras auf den Markt; inzwischen sind audiovisuelle Aufzeichnungen für Interaktionsanalysen Standard geworden. Aufgrund ihres Interesses am sequenziellen Verlauf von Interaktionen haben sich viele Soziologinnen und Soziologen gleich mit Video-Aufnahmen beschäftigt, ohne sich je mit Fotografien auseinandergesetzt zu haben. So scheinen die methodologischen Überlegungen zum Einsatz von Videos heutzutage bereits ausgereifter zu sein als jene zur Verwendung der Fotografie (vgl. Heath/Hindmarsh/Luff 2010; Reichertz/Englert 2011; Tuma/Schnettler/ Knoblauch 2013).
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P hänomenologische und wissenssoziologische P erspek tiven auf F otogr afie Es ist kein Zufall, dass sämtliche im vorliegenden Buch versammelten Autorinnen und Autoren dem interpretativen Paradigma und der qualitativen Sozialforschung verpflichtet sind; sie sind also offen für Neues, geleitet von Neugier und Entdeckungsdrang. Viele haben auch einen phänomenologischen Hintergrund; diesen verstehen sie meist als Protosoziologie, und ihre (darauf gründende) empirische und soziologische Arbeit als Wissenssoziologie. In der Regel vertreten sie eine sozialkonstruktivistische Perspektive in der Tradition von Berger und Luckmann (1970). Andere wiederum sind eher von der Tradition des Symbolischen Interaktionismus oder auch von Bourdieu beeinflusst, haben aber durchaus Affinitäten zu Phänomenologie, Wissenssoziologie und Sozialkonstruktivismus.
Einige Grundlagen Die Phänomenologie wurde von Edmund Husserl (1950a; b; 1952a; b; c) begründet. Dieser diagnostizierte eine Krise der Europäischen Wissenschaften und erblickte die Ursachen darin, dass die Wissenschaften ihre Modelle mit der Wirklichkeit verwechselten: Sie überziehen die Welt mit einem Ideenkleid, indem sie die konkret-anschaulichen Gestalten der Lebenswelt mit Zahlen-Induzierungen versehen und mit mathematischen Formeln in Modelle transponieren. Husserl hatte dabei zwar die Naturwissenschaften im Blick, die Diagnose trifft jedoch auch auf die positivistischen Sozialwissenschaften zu: Wenn in der Umfrageforschung Meinungen und »Einstellungen« der Bevölkerung erhoben werden, erfolgt die Analyse schließlich nur noch auf der Ebene von Zahlen, Tabellen und Grafiken, und die effektiven lebensweltlichen Orientierungen der Akteure werden überblendet. Husserl empfahl zur Problemlösung eine phänomenologische Analyse der Sinnkonstitution in den Akten des subjektiven Bewusstseins. Er erkannte im »ego-cogito-cogitatum« des subjektiven Bewusstseins den geeigneten Ausgangspunkt phänomenologischer Deskription: bei den Dingen-wie-sie-im-subjektiven-Bewusstsein-erscheinen. Der Ruf der Phänomenologen war daher: »Zu den Sachen selbst!« Das Bewusstsein ist intentional, d. h. auf etwas gerichtet: Wir sehen immer etwas. Phänomene bilden immer eine »noetisch-noematische Einheit«, d. h. sie werden in »noetischen« Wahrnehmungsakten konstituiert; das »noema« bildet das Wahrnehmungskorrelat und kann von den konstituierenden Bewusstseinsleistungen nicht entkoppelt werden. Mit diesem Ausgangspunkt der Analyse versuchte Husserl die Transzendentalphilosophie nochmals neu anzusetzen und die Aporien des Rationalismus einerseits und des Empirismus andererseits zu überwinden. In seinen phänomenologischen Untersuchungen klammerte er mittels der »epoché« die Frage nach der realen Seinsweise ein und konzentrierte sich ausschließlich auf die Gegebenheitsweisen, auf das »Wie« der Phänomene. Wesentliche Erkenntnisse waren beispielsweise, dass Sinn immer in der Zeit konstituiert wird,
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im »Strom« des Bewusstseins; dass Sinnlichkeit und Sinnhaftigkeit sich eng verkoppeln, unsere Wahrnehmung also nicht nur sinnlich, sondern in der Regel auch sinnhaft ist; dass wir immer mehr wahrnehmen als unserer Wahrnehmung unmittelbar gegeben ist, d. h. wir sehen beispielsweise ein »Haus«, obwohl wir streng genommen nur dessen Fassade sehen. Unsere Apperzeptionen werden also immer durch Appräsentationen ergänzt – mit der Mitvergegenwärtigung von Aspekten, die für das Phänomen konstitutiv sind, die wir aber nicht unmittelbar wahrnehmen können (bei einem »Haus« also beispielsweise die Rückseite, die Innenräume usw.). Unsere Wahrnehmung ist nicht einfach ein »Abbild« der Wirklichkeit, sondern unsere Wirklichkeitsauffassung beruht auf einem komplexen Prozess der Sinnkonstitution in aktiven und passiven Bewusstseinssynthesen. Alfred Schütz (2004 [1932]) machte Husserls Analysen fruchtbar für die Methodologie der Sozialwissenschaften. Max Weber folgend, forderte er dass gesellschaftliche Ereignisse immer auf die Handlungen konkreter Individuen zurückgeführt werden. Dabei entsprechen soziologische Erklärungen nur dann dem methodologischen Postulat der Sinnadäquanz, wenn sie sich auf den Sinn beziehen, den konkrete Akteure mit ihren Handlungen tatsächlich verbinden. So analysierte Schütz, wie sich der Sinn von Handlungen im Bewusstsein des Akteurs konstituiert, wie er von einem alltagsweltlichen Beobachter interpretiert wird (nämlich basierend auf beobachtetem Verhalten) und wie er vom wissenschaftlichen Beobachter erschlossen werden kann (nämlich als Typus im Rahmen des jeweiligen wissenschaftlichen Relevanzsystems). Weiter zeigte er anhand der sozialen Aufschichtungen der Lebenswelt auf, dass sich das Verstehen von Mitmenschen konstitutiv unterscheidet vom Verstehen von Zeitgenossen oder von Vorfahren und Nachfahren. Ziel von Schütz’ Analysen war es, die formalen Strukturen der Lebenswelt zu beschreiben, die universal für sämtliche Menschen gelten: Überall auf der Welt leben Menschen in einer sinnhaften, kulturell geprägten Wirklichkeit; in allen Kulturen operieren sie mit (sprachlichen wie nicht-sprachlichen) Typisierungen und sind geleitet durch subjektive und soziale Relevanzsysteme; alle Menschen erleben Zeitverläufe als irreversibel und unterscheiden zwischen »vorher« und »nachher«, und sie nehmen die räumlichen Aufschichtungen egozentrisch, also konzentrisch von der lokalen Position ihres Leibes aus wahr; und alle konstituieren Sinn jeweils auf der Basis ihres biografisch erworbenen Wissensvorrats. Wie konkrete Akteure im Einzelnen die Wirklichkeit wahrnehmen und interpretieren, welche Typisierungen sie verwenden, von welchen Relevanzsystemen sie in situ geleitet sind und auf welche Wissensbestände sie sich konkret beziehen, ist kulturell und historisch jedoch variabel. Diese kulturellen und historischen Varietäten zu erforschen ist Aufgabe der empirischen Sozialwissenschaften. Der Sozialkonstruktivismus von Berger/Luckmann (1970) ist ein theoretischer Ansatz der Soziologie, der die »Strukturen der Lebenswelt« als protosoziologische Grundlage betrachtet. Wirklichkeit wird als »gesellschaftlich konstruiert« betrachtet, und
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die Soziologie hat die Prozesse zu untersuchen, in denen dies geschieht. Da das Alltagswissen grundlegend für die lebensweltliche Sinnorientierung der Akteure ist, muss Soziologie als Wissenssoziologie konzipiert werden. Gesellschaft wird einerseits als subjektive Wirklichkeit untersucht, andererseits aber auch als objektive Wirklichkeit. Das Verhältnis beider Perspektiven bezeichnen die Autoren als »dialektisch«: Grundlegend ist die Frage, wie subjektiver Sinn zu objektiver Faktizität wird und wie die Objektivationen auf den subjektiven Sinn zurückwirken. Als Kernprozesse beschreiben sie die Externalisierung, die Objektivation und die Internalisierung: »Gesellschaft ist ein menschliches Produkt. Gesellschaft ist eine objektive Wirklichkeit. Der Mensch ist ein gesellschaftliches Produkt« (1970: 65). Im Sozialisationsprozess werden Menschen durch Internalisierung gesellschaftlicher Wissensbestände zu einem gesellschaftlichen Wesen und wirken als solche auf die Gesellschaft zurück, indem sie die institutionale Ordnung und deren Legitimierungen und Machtgefüge reproduzieren und allenfalls verändern. Im Unterschied zu anderen Spielarten von Konstruktivismus wird nicht insinuiert, dass jeder sich eine andere subjektive Wirklichkeit konstruiert; die Wirklichkeit ist vielmehr eine »objektive«, intersubjektiv geteilte, die in gesellschaftlichen Prozessen als reales Faktum produziert wird. Luckmann (2007) unterscheidet konzeptionell auch klar zwischen der Konstitution von Sinn im subjektiven Bewusstsein und der sozialen, insbesondere kommunikativen Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Der Sozialkonstruktivismus impliziert also durchaus einen Realismus, indem er die institutionale Ordnung als »objektive« Wirklichkeit bezeichnet und die Institutionalisierungs- und Legitimierungsprozesse untersucht, die einem gegebenen gesellschaftlichen Gefüge ein derartiges Beharrungsvermögen sichern. Mit dem Begriff der »gesellschaftlichen Konstruktion« wird indes betont, dass die von Menschen geschaffene Wirklichkeit grundsätzlich auch auf andere Art produziert werden kann – ein Blick auf die Vielfalt der Kulturen und auf die Geschichte gegenwärtiger Gesellschaften belegt dies eindrücklich.
Phänomenologische Bildtheorie Was ist nun Fotografie in einer phänomenologischen und wissenssoziologischen bzw. sozialkonstruktivistischen Perspektive? Husserl hat im Rahmen seiner transzendentalphilosophischen Untersuchungen auch eine phänomenologische Bildtheorie entwickelt. Aufgrund der unterschiedlichen Gegebenheitsweisen unterschied er Wahrnehmungs-, Erinnerungs-, Phantasie- und Bildbewusstsein. In seiner Analyse bildlicher Erkenntnismodi schuf er einige grundlegende Weichenstellungen, die die Entwicklung der phänomenologischen Bildtheorie bis in die heutige Zeit bestimmten. Husserl (1952a, 1980) unterschied das Wahrnehmungsbewusstsein, dessen Korrelate unmittelbar und »leibhaftig« da sind, und das Bildbewusstsein, dessen intendiertes Objekt durch einen Repräsentanten vermittelt wird. Bezüglich Bildbewusstsein ist zu unterscheiden zwi-
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schen 1. dem physischen Bildgegenstand, der leibhaftig wahrgenommen wird (z. B. eine bemalte Leinwand in einem Rahmen; ein papierenes Foto); 2. dem Bildobjekt, also der sichtbaren Bilderscheinung (das gemalte Bild; das auf dem Foto Erscheinende); und 3. dem Bildsujet, das durch das Bildobjekt dargestellt wird. Husserl (1980: 18 f.) illustriert dies anhand eines Fotos seiner Tochter: Der Bildträger ist das gerahmte Emulsionspapier, das Bildobjekt das Bild der Tochter, und das Bildsujet die reale Tochter. Diese drei Momente des Bildes sind eng miteinander verwoben, liegen nach Husserl aber auch im »Widerstreit«: Zum einen kann der materielle Bildgegenstand dem Bildobjekt seine eigene Räumlichkeit aufdrängen und die Bilderscheinung dadurch tangieren. Zum anderen braucht es auch bezüglich Bildobjekt und Bildsujet ein Differenzbewusstsein: Selbst wenn sich beide völlig ähnlich sind, wird dadurch das eine noch nicht zum Bild des anderen (vgl. Alloa 2009: 50). Mit diesen wegweisenden Unterscheidungen grenzte sich Husserl gleich nach zwei Seiten ab: zum einen gegen die Abbildtheorie, zum anderen gegenüber der Semiotik. In Abgrenzung zur naturalistischen Abbildtheorie betont Husserl, dass das Bildsujet nicht identisch ist mit dem Bildobjekt. Die Tochter erscheint auf dem Bild anders als bei einer persönlichen Begegnung. Die Bildwahrnehmung selbst ist dabei ein vielstufiger Prozess: Je nach Aufmerksamkeitsgrad der Zuwendung wird mehr oder weniger beachtet und Gezeigtes und Nichtgezeigtes, Sichtbares und Unsichtbares, Fiktives und Reales unterschieden. Die Phänomenologie grenzt sich zudem auch klar ab von der Semiotik. Husserl unterscheidet das Bildbewusstsein vom Zeichenbewusstsein (vgl. Lotz 2010: 171 ff.): Während sich ein Bildobjekt im Bildding (Bildträger) und das Bildsujet im Bildobjekt präsentiert, konstituiert sich das Bildsujet beim Zeichen außerhalb des Bildobjekts. Beim Bildbewusstsein ist das Sehen zentral, beim Zeichenbewusstsein das Lesen. Beide können sich überschneiden: So werden Zeichen in Bildern auch in der Phänomenologie als Zeichen interpretiert. Mit dem intentionalen Bildbewusstsein reduziert die Phänomenologie die Bildbetrachtung indes nicht nur auf eine Entzifferung von Zeichen, sondern beachtet darüber hinaus sämtliche weiteren, auch präprädikative (vorsprachliche) Bewusstseinsakte, in denen ein Bild konstituiert wird. Damit ebnete sie den Weg zu weit komplexeren bildtheoretischen Reflexionen, die in der Philosophie auch heutzutage weiter vorangetrieben werden (vgl. Alloa 2011; 2015; Wiesing 2000). Während sich in der Semiotik alles auf eine »diskursive Logik« reduzieren lässt, sprechen Phänomenologen von einer »pikturalen Logik«. Die phänomenologische Bildtheorie wurde von vielen weiterentwickelt – berühmt sind etwa die Ansätze von Rudolf Arnheim, Roland Barthes, Hans Belting, Gottfried Boehm oder Bernhard Waldenfels. Im vorliegenden Zusammenhang kann dies nicht weiter vertieft werden. Vielmehr soll das Augenmerk auf die Entwicklung einer Sozialtheorie des Bildes und einer visuellen Wissenssoziologie gerichtet werden.
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Visuelle Wissenssoziologie Bildbewusstsein konstituiert sich nicht nur beim Betrachter, sondern auch beim Produzenten des Bildes. Es empfiehlt sich daher, Fotografie in der Triade Produzent – Objektivation – Rezipient zu betrachten. Dies lenkt den Blick zum einen auf die sozialen Produktions- und Gebrauchsweisen von Fotografie, und zum andern auch auf Charakteristika der Objektivation selbst. In technischer Hinsicht ist ein Foto eine physische Objektivation, die durch ein Zusammenspiel von Optik, Kameratechnik und lichtempfindlichem Datenträger zustande kommt. Die Linse bzw. das Objektiv bündelt das von den fotografierten Dingen reflektierte Licht, welches wiederum auf dem Datenträger Spuren hinterlässt. Die Kameratechnik erlaubt die Menge des Lichts zu steuern und bestimmte Effekte zu erzeugen, wie beispielsweise mehr oder weniger Tiefenschärfe, weichere oder härtere Kontraste usw. Die Materialität des Trägers, der die Lichtspuren aufzeichnet, veränderte sich im Laufe der Geschichte immer wieder: Zunächst wurden Fotoplatten verwendet, später mit einer dünnen Schicht einer lichtempfindlichen Fotoemulsion überzogene Zelluloid-Streifen – daher die Bezeichnung »Film« –, die nach der Belichtung in einem chemischen Prozess »entwickelt« und fixiert wurden. Die resultierenden Negative wurden in der Dunkelkammer in einen Projektor gelegt und auf lichtempfindliches Fotopapier kopiert, das wiederum im chemischen Bad entwickelt und fixiert wurde. In dieser zweiten Bearbeitungsphase konnten am Bild zahlreiche weitere Modifikationen vorgenommen und zusätzliche Effekte erzeugt werden. Seit der digitalen Revolution ist ein lichtempfindlicher Chip an die Stelle des Films getreten. Damit hat sich die Technik der Bildaufzeichnung fundamental geändert: An die Stelle physikalisch-chemischer Prozesse sind die elektronische Speicherung von Pixeln (einzelnen Bildpunkten) und algorithmische Rechenoperationen getreten. Die »Logik« der Produktion und Modifikation von Fotos ist damit eine ganz andere geworden: Fotos werden (meist) nicht mehr im Labor bearbeitet, sondern am Computerbildschirm. Nicht mehr Laborkenntnisse sind erforderlich, sondern Softwarekenntnisse. Eine Fotografie wird also entscheidend durch die angewandte Technik mitbestimmt: Je nach den verwendeten Materialien wird das reflektierte Licht unterschiedlich aufgezeichnet. Die Fotoindustrie hat im Laufe der Zeit die Wiedergabequalität und Farbechtheit der Filme und später der digitalen Bildsensoren, aber auch jene der Fotopapiere, Farbdrucker und Bildschirme immer weiter verbessert. Zudem eröffneten die elektronisch gesteuerten Kameras immer mehr Gestaltungsoptionen. Konstitutive Differenzen bleiben indes bestehen: Das Foto reduziert die leibliche Wahrnehmung – den Raum auf eine zweidimensionale Fläche, die Zeit auf einen Bruchteil einer Sekunde. Die technische Entwicklung mag künftig zwar auch diese Reduktionen mindern: Apple hat kürzlich die ›live photos‹ erfunden, bewegte Bilder von drei Sekunden Länge, die gleichzeitig den Ton registrieren und ein neues Bilderlebnis ermöglichen; und eines Tages gibt es vielleicht auch dreidimensionale Bilddarstellungen,
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zumindest auf dem Monitor. Stets wird Fotografie jedoch darauf beruhen, dass das von Objekten reflektierte Licht aufgezeichnet wird. Dass sich die Abbildtheorie im Common-sense gerade in Bezug auf die Fotografie so lange halten konnte – die Vorstellung »so ist es in jenem Zeitpunkt gewesen« – basiert auf dem physikalischen Prozess der Aufzeichnung: Ein fotografiertes Objekt war zum Zeitpunkt der Aufnahme offenbar in einer physikalischen Form präsent und reflektierte Licht. Roland Barthes (1989: 89) bezeichnet dieses »Es-ist-so-gewesen« als das Noema, den Sinngehalt, ja das Unnachahmliche der Fotografie: Der Betrachter eines Fotos im Hier und Jetzt sieht etwas, was sich in der Vergangenheit so ereignet hat und damals vom Fotografen leibhaftig gesehen wurde. Dem hinzuzufügen ist allerdings, dass das Vertrauen eines Betrachters in das »So ist es gewesen« natürlich stark davon abhängt, wie leicht es ist ein Bild zu modifizieren. Bildretuschen und Bildmanipulationen sind zwar bereits aus dem 19. Jahrhundert bekannt und wurden auch im 20. Jahrhundert oft praktiziert – und dies nicht nur in böswilliger Absicht. Seit Software-Programme wie ›Photoshop‹ die Manipulation digitaler Fotos so leicht gemacht haben, ist das allgemeine Vertrauen in den »Abbildcharakter« von Fotografien jedoch erheblich gesunken. Technisch hält man heute »alles für machbar«, und es ist weitherum bekannt, dass professionelle Fotos, zum Beispiel im Bereich der Werbung, routinemäßig bearbeitet und »geschönt« werden. Die digitale Bildforensik, die die Authentizität von Bildern überprüft, ist zu einer anspruchsvollen Disziplin geworden; so veröffentlichen auch Zeitungen und Zeitschriften immer mehr Fotos, die ihnen als authentische Aufnahmen angeboten werden, in Wahrheit jedoch manipuliert sind (vgl. www.mimikama.at). In ihrer materialen Form als Objektivationen bestehen Fotografien aus Farben und Formen, sei es auf einem Papierträger oder auf einem Bildschirm. (Schwarz-Weiß-Fotos bestehen aus Schwarz-Weiß-Kontrasten mit Graustufen und lassen ebenfalls Formen und Gestalten erkennen.) Sinnhafte Phänomene sieht man auf Fotos indes nur dank menschlicher Sinnkon stitution; so erblickt man in den Farben und Formen beispielsweise fröhlich lachende Menschen bei Speis und Trank in einem Garten mit blühenden Blumen. Dies geschieht über passive Bewusstseinssynthesen, in denen Apperzeptionen sich mit Appräsentationen verbinden. Schütz schlägt vor, vier verschiedene Formen der Appräsentation zu unterscheiden, je nachdem auf welche Wirklichkeitsordnung bzw. auf welchen Wirklichkeitsbereich sich eine appräsentative Verweisung bezieht (Schütz 2003: 132 ff., mit einem Illustrationsbeispiel von Ilja Srubar – vgl. Eberle 2011: 36 f.): • Mit dem Apperzeptionsschema wird das wahrgenommen, was der unmittelbaren Wahrnehmung gegeben ist (ich sehe beispielsweise zwei Balken auf einem Dach, die im rechten Winkel gekreuzt sind). • Mit dem Appräsentationsschema wird der unmittelbar apperzipierte Gegenstand als Glied eines appräsentativen Paares angesehen, die beide demselben Wirklichkeitsbereich angehören (ich sehe die beiden gekreuzten Balken als »Kreuz«, also als ein Zeichen).
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• Mit dem Verweisungsschema wird etwas appräsentiert, das zu einem anderen Wirklichkeitsbereich gehört (z. B. verweist das Kreuz auf die christliche Religion, auf die Geschichte Jesu und seiner Kreuzigung usw.). • Mit dem Rahmen- oder Deutungsschema wird das Verhältnis sichtbar, das zwischen dem Appräsentations- und Verweisungsschema besteht. So ergibt sich die »eigentliche« Bedeutung des Zeichens erst aus dem Kontext eines breiteren Deutungsschemas, in den es eingegliedert wird (z. B. bedeutet das Kreuz-Zeichen für Atheisten etwas ganz anderes als für Protestanten und Katholiken). Schütz selbst exemplifiziert die vier Formen anhand eines Bildes von Albrecht Dürer. Er macht deutlich, dass in einer konkreten Appräsentationsbeziehung irgendeines dieser Schemata als Bezugssystem gewählt wird und sich dieses gegenüber den anderen quasi verselbständigen kann, was sich auch an verschiedenen theoretischen Ansätzen beobachten lässt.1 Die vier Appräsentationsformen verdeutlichen auch die verschiedenen Wissensbestände, die beim sinnhaften Verstehen von Bildern involviert sind. Dabei handelt es sich nicht nur um Alltagswissensbestände, sondern aufgrund der gesellschaftlichen Wissensverteilung auch um unterschiedliche Formen von Sonder- und Expertenwissen sowie – im persönlichen Kontext – auch um biografie- und milieuspezifisches Wissen. Sinndeutungsakte gilt es nach Schütz (2004 [1932]) immer auf die vorausgegangenen Sinnsetzungsakte zu beziehen: Objektivationen verweisen immer auf den Sinn, den der Erzeuger damit verband. Fotografien sind materiale Objektivationen, die dank fotografischer Handlungen entstanden sind, mit denen der Fotograf einen Sinn verband. Nach Schütz geht es also nicht nur darum, ein Foto im Hier und Jetzt auf der Basis allgemeiner kollektiver Wissensbestände zu deuten; es gilt überdies zu verstehen, welchen Sinn der Fotograf mit dem Foto verband. Je nach zeitlicher, sozialer und kultureller Distanz zwischen dem Deutenden und dem Fotografen ist dies eine mehr oder weniger schwierige hermeneutische Aufgabe. Denn beide, der Bildbetrachter wie der Bildproduzent, konstituieren Sinn auf der Basis ihrer jeweiligen biografiespezifischen Wissensvorräte. Bei der Fotografie ist überdies zu berücksichtigen, dass in den optischen, mechanischen und elektronischen Funktionsweisen eines Fotoapparats viel technisches Know-how eingegangen und in der Kamera gleichsam »verkörpert« ist – und damit auch bestimmte Eigenlogiken erzeugt. Basierend auf Schütz‹ Sozialphänomenologie und dem Sozialkonstruktivismus von Berger/Luckmann hat Jürgen Raab (2008) eine Visuelle Wissenssoziologie entwickelt. Dabei widmet er sich besonders auch der Methodologie und Methode einer wissenssoziologischen Bildhermeneutik, die er bei seinen materialen Analysen von Videoproduktionen auch 1 | Die phänomenologische Unterscheidung dieser vier Formen macht Schütz zum Ausgangspunkt seiner (neuartigen) Sprachtheorie.
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selbst anwendet. Das Sehen ist nicht nur ein anthropologisches Charakteristikum des Menschen, sondern ein kulturelles Konstrukt: Es aktualisiert sich »als sozial immer schon geformter, also gesellschaftlich verfeinerter und überhöhter Prozess in historisch und sozialstrukturell vielfältiger Form und unterschiedlicher Intensität« (2008: 317). Die Medialisierung des Sehens führt nun – so seine These – zu einer Veränderung des alltäglichen Sehens, nämlich dazu, dass die »sich wandelnde Präsentation und Rezeption von Sehordnungen […] zu zusätzlichen sozialen und kulturellen Überformungen und Verfeinerungen der visuellen Wahrnehmung führt« (ebd.). Raab zeigt in seinen empirischen Studien, dass sich »Sehgemeinschaften« identifizieren lassen, dass also Bildräume auch soziale Räume widerspiegeln. Da die soziale Wahrnehmung zunehmend von medialen Übersetzungsleistungen abhängt, stellt sich als Forschungsaufgabe unter anderem, diese Übersetzungen sorgfältig zu rekonstruieren. Während Raab seine Überlegungen anhand von Video-Analysen entfaltet, entwickelt Roswitha Breckner (2010) eine ›Sozialtheorie des Bildes‹, und zwar in Bezug auf fotografische Bilder und Collagen. Auf der Basis von Symbol- und Bildtheorien erarbeitet sie grundlagentheoretische Positionen zum Umgang mit der Frage »Was ist ein Bild?« sowie zum Verhältnis von Bild und Wirklichkeit. Sie präsentiert ebenfalls eigene empirische Analysen, etwa von einer Bildserie der »privaten« Darstellung einer Unternehmerfamilie in einem Wirtschaftsmagazin, von einer Kunst-Fotografie von Helmut Newton sowie von Biografiebildern in einem privaten Fotoalbum. Fotografien sind mit ihrem Referenten indexikalisch verbunden. Strittig in den Bildtheorien ist daher vor allem die Frage, ob dadurch ein eigenes Wirklichkeitsverhältnis konstituiert wird. Aufgrund ihrer eingehenden Erörterungen kommt Breckner (2010: 263) zum Schluss, dass es wichtig sei, »keine kategoriale Trennung zwischen der Indexikalität der Fotografie in Bezug auf ihren Referenten und ihren (sozialen) Bedeutungs- und Sinnzusammenhängen vorzunehmen«. Fotografie als Medium entwickelt »ein spezifisches Symbolisierungspotential, welches vor allem in sozialen Gebrauchsweisen deutlich wird«. So fungiert Fotografie beispielsweise als Medium der Gestaltung sozialer Beziehungen, indem sie zur Schaffung von Selbstbildern, von Familien- und Generationenbeziehungen sowie von Beziehungen zu Freunden und Kollegen beiträgt, selbst über den Tod der Abgelichteten hinaus. In methodologischer Hinsicht folgert Breckner, »dass Fotografien von anderen Bildern nicht kategorial zu unterscheiden sind, sondern eher funktional in Bezug auf ihr indexikalisches Potential. Für die Analyse von Fotografien bedarf es deshalb keiner eigenen Methodologie und Methode, sondern lediglich eine Berücksichtigung ihrer spezifischen Medialität und den daraus erwachsenden spezifischen Symbolisierungspotentialen in sozialen Gebrauchszusammenhängen« (2010: 263).
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Ansätze einer wissenssoziologischen Bildhermeneutik Nach ihrem langen Dornröschenschlaf ist die visuelle Soziologie nun in rascher Entwicklung begriffen. Bereits finden sich in Lehrbüchern zur qualitativen oder interpretativen Sozialforschung auch methodische Anleitungen zur Analyse von Fotografien und anderen visuellen Materalien (vgl. z. B. Lueger 2010). Mittlerweile liegen auch verschiedene Ansätze einer wissenssoziologischen Bildhermeneutik vor, die im Folgenden skizziert werden sollen. Die meisten dieser Ansätze suchten den Anschluss an die bereits etablierten hermeneutischen Verfahren, also vor allem die Textauslegung, andererseits aber auch an jene Verfahren der Bildinterpretation, die sich in kunst- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen entwickelt hatten (z. B. in der Kunstgeschichte). Den ersten umfassenden Überblicksartikel in der deutschsprachigen Soziologie verfasste Stefan Müller-Dohm (1997), der die ›Bildinterpretation als struktural-hermeneutische Symbolanalyse‹ konzipierte. Basierend auf dem methodischen Interesse der interpretativen Sozialforschung stellt er dort die Frage, wie die Kultursoziologie sich die Welt der Bilder sinnverstehend erschließen kann? Wie jedes interpretative Verfahren muss die Methode des Bildverstehens ihrem Gegenstand adäquat sein. Im Anschluss an Plessners (1967) nonverbale Ausdrucksgestalten einer Kultur sowie Waldenfels’ (1994) Doppelgestalt des Bildes – »das Bild als Ding, das sich mitzeigt, und das Bild, das die Aufgabe hat, anderes zu zeigen« (238) – arbeitet Müller-Dohm eine Reihe prominenter Theorien der Bildlichkeit auf. Auf dieser Grundlage entwickelt er eine Methodik des Bildverstehens als Symbolanalyse, die von drei Modellen der Bild-Textanalyse ausgeht: der Ikonologie Panofskys, der Ikonik Imdahls und der Semiologie von Roland Barthes. Da diese Ansätze von mehreren wissenssoziologischen Ansätzen der Bildhermeneutik wieder aufgegriffen werden, seien sie hier kurz skizziert. Erwin Panofskys Methode der Ikonologie (1975 [1955]), die auch Bourdieu (1970) als Grundlage eines methodologisch fundierten Zugangs zum Habitus diente, bezieht sich explizit auf die Wissenssoziologie von Karl Mannheim und dessen dokumentarische Methode. Nach Panofsky gilt es zu unterscheiden zwischen der Frage nach dem Was und der Frage nach dem Wie. Die Frage nach dem Was lässt sich in zwei Stufen unterteilen: Auf der a) vor-ikonografischen Ebene erkennt man auf einem Bild beispielsweise die Gebärde des Hutziehens, die man anschließend auf der b) ikonografischen Ebene als »Grüßen« interpretiert, mit dem auch das Um-zu-Motiv benannt ist. Daran schließt sich c) die ikonologische Analyseeinstellung mit der Frage nach dem Wie, bei der man sich von den Vorannahmen des Common-sense löst und den »Dokumentsinn« (Mannheim), die »eigentliche Bedeutung« dieser Lebensäußerung zu eruieren versucht, was Panofsky auch als »Habitus« bezeichnet. Aus phänomenologischer Sicht wird am ikonologischen Verfahren kritisiert, dass die Bildlichkeit in nichts anderes als Sprache übersetzt, figürlich-bildliche Bedeutung also auf begriffliche Bedeutung reduziert werde (Boehm 1978: 453 ff.). Max Imdahl bezeichnete Panofskys vorikono-
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grafisch-ikonografisch gestuften Interpretationsprozess als »für die Sinnbestimmung eines Bildes […] unverzichtbar« (1994: 318), aber zur Erfassung des »Bildanschaulichen« als ergänzungsbedürftig: Da Ikonografie und Ikonologie auf textlich-narrativem Vorwissen auf bauen, erlaubten sie lediglich »wiedererkennendes Sehen«. Imdahl fordert demgegenüber ein »sehendes Sehen«, das von der Ganzheitlichkeit und der Gesamtkomposition des Bildes ausgeht. Imdahls Ikonik (1994) unterscheidet drei Dimensionen des formalen kompositionalen Auf baus eines Bildes, die in der Bildanalyse schrittweise betrachtet werden: a) die Perspektive (Raumgestaltung, Fluchtlinien, Fluchtpunkte), b) die szenische Choreografie (die Beziehungen der handelnden Personen auf dem Bild) und c) die planimetrische Ganzheitsstruktur des Bildes (Größenverhältnisse, Positionierung, Relationen), die für den Bildsinn grundlegend ist. Damit wird die Eigensinnigkeit des Bildes herausgestellt: Konstitutiv für das Bild ist die Simultanstruktur; rein verbale Beschreibungen vermögen den Bildsinn nicht einzufangen. Die strukturale Analyse, die Semiologie von Roland Barthes (1964, 1981), ist gemäß Müller-Dohm (1997: 97) der methodologische Antipode bildhermeneutischer Ansätze. Nach Barthes ist ein »Diesseits der Sprache« prinzipiell unmöglich, auch bei der Bildwahrnehmung: Es gebe keine Wahrnehmung ohne Kategorisierung, auch ein Bild werde im Moment seiner Wahrnehmung verbalisiert. Entsprechend werden Bilder von Barthes analog zu Sprache analysiert: Werbebilder oder Pressefotos haben eine gezielt intentionale Bedeutung. Barthes unterscheidet drei Botschaften: Im ersten Analyseschritt werden die denotativen und konnotativen Aspekte der sprachlichen Bedeutung einer Werbung analysiert; im zweiten Schritt wird die kodierte bildliche Aussage entschlüsselt, und im dritten Schritt die nicht-kodierte bildliche Aussage. Die sprachliche Botschaft verankert das prinzipiell polysemische Bild, fixiert es als »Werbebild« und steuert damit seine Rezeption. Allen drei Ansätzen gemeinsam ist die Dreiphasigkeit des Analyseprozesses: »Sie soll eine zunehmende Durchdringung des komplexen Phänomens im Sinne eines Abtragens von Bedeutungs- und Sinnschichten gewährleisten, die von der Beschreibung der sichtbaren Gegebenheiten, der Freilegung von Strukturelementen und ihrer Relationen bis zur Deutung des Bild-Text-Zusammenhangs im Kontext seiner historisch-kulturellen Bezüge reicht.« (Müller-Dohm 1997: 98)
Müller-Dohm verbindet nun hermeneutische und semiotische Bild-TextAnalysen und schlägt ebenfalls ein dreistufiges Verfahren vor: Erstens die Deskription, die in einer verbalen Paraphrasierung der Bild-Textbotschaften besteht; zweitens die akribische Rekonstruktionsarbeit, also die Bedeutungsanalyse, die in die Tiefe von Bild und Text eindringt; und drittens die kultursoziologische Interpretation, die die rekonstruierten symbolischen Bedeutungsgehalte als Ausdrucksform von kulturellen Sinnmustern deutet. Das Verfahren bezieht sich auf Einzelanalysen. So wird auch kurz
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skizziert, wie man von a) Bildersteindrucksanalysen zu b) hypothetischer Typenbildung, schließlich zur c) Typenbildung sowie zur d) Einzelfallanalyse voranschreitet. Für die Deskription – und leider nur für diese – wird sodann ein detaillierter Leitfaden vorgestellt (1997: 105 f.), der sich als recht praktikabel erwiesen hat und seither von vielen zur Bildinterpretation benutzt wurde. Oft wurde bei wissenssoziologischen Bildinterpretationen auch das sequenzanalytische Verfahren der Objektiven Hermeneutik eingesetzt. Da dieses für die Textauslegung konzipiert worden war – zum Beispiel zur Ausdeutung von transkribierten Interviews oder von Narrationen (vgl. Oevermann et al. 1979) – mussten neue Wege gesucht werden, zumal man es bei Bildern ja nicht mit Sequenzialität (wie bei Videos), sondern mit der Simultanität appräsentativer Verweisungen zu tun hat. Einzelne betonten dennoch, dass auch die Bildinterpretation sequenziell verlaufe. Thomas Loer (1994) schlug beispielsweise vor, dass die Betrachtung eines Gemäldes einer Logik »ikonischer Pfade« folge: Der Sinn werde erschlossen indem der Blick das Bild entlang dieser Pfade durchquere. Während man der Sequenzialität von Blickabfolgen zustimmen kann, ist strittig ob sie bei jedem Betrachter gleich verlaufen, ob also die Sequenzialität durch das Bild vorstrukturiert ist; Reichertz (1992) wandte diesbezüglich kritisch ein, dass verschiedene Betrachter eigenen Landkarten durchs Bild folgen und teilweise auch gegenläufige Lesarten entwickeln. Gleichzeitig stellt sich die Frage, ob es keinen Unterschied zwischen der Analyse eines (statischen) Bildes und jener eines sequenziellen Videos gibt, und keinen Unterschied zwischen der Analyse eines Bildes und jenem eines Texts. Ulrich Oevermann legte kürzlich eine Bildanalyse vor (»Hillary’s Hand«, siehe unten), der er auch einige epistemologische Anmerkungen vorausschickte; die Sequenzialität scheint dabei eher unerheblich zu sein (2014: 31–34). Für das Bild – so Oevermann – hat der Rahmen eine konstitutive Bedeutung: Von ihm aus lässt sich die Mitte bestimmen, und er grenzt das Bild von der wahrnehmbaren Umgebung ab. Es muss sich dabei nicht um einen materialen Rahmen handeln; dieser kann auch durch den Bildrand erkennbar sein (wie oft bei Fotografien). Der Rahmen hebt »das Bild aus dem Zeitstrom der Wahrnehmung des Betrachters heraus«; Bilder sind »erstarrte Lebendigkeit« und daher zeitlos. Am Modell der Sprache orientiert, bezeichnet Oevermann auch Bilder als »Protokolle«, nämlich »materialisierte Protokolle der Praxis von Menschen«, die wie Skulpturen bereits vor der Schrift verwendet wurden; als »Protokolle« entsprechen sie der »Logik von Aufzeichnungen«. Denn auch Bildern und Skulpturen liegt die Sprachlichkeit der menschlichen Gattung als zentrale Konstitutionsbedingung zugrunde. Ohne die Sprache könnte »die kategoriale Differenz von Protokoll und protokollierter Wirklichkeit nicht errichtet werden«. Nur »Protokolle ermöglichen aufgrund dieser Zeitenthobenheit Intersubjektivität und damit methodisierte, d. h. überprüf bare Erkenntnis«. Auf dieser Grundlage schlägt Oevermann vor, ein Bild als eigenlogischen Gegenstand zu analysieren. Er kritisiert an vielen Analysen des »visual turns«, dass sie häufig nicht das Bild als Bild analysieren, sondern
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vielmehr die Prozesse des Betrachtens von Bildern, ohne den Gegenstand dieser Betrachtung zuvor als solchen bestimmt zu haben. Bei einer objektiv-hermeneutischen Analyse von Protokollen jeglicher Art geht es demgegenüber darum, die Analyse rein immanent durchzuführen, d. h. ohne den Einbezug von externem Kontextwissen. Erst wenn die immanente Interpretation ausgeschöpft ist, kann man dazu übergehen, methodisch kontrolliert externes Kontextwissen in die Analyse mit einzubringen und schließlich eine Strukturgeneralisierung zu entwickeln. – Auffallend ist, dass Oevermann vom Paradigma »Welt als Text« ausgeht. Er betrachtet Bilder ähnlich Texten als Protokolle. Wie andere auch, beschreibt und analysiert er das Bild mit Hilfe sprachlicher Aussagen. Auf planimetrische oder andere kompositorische Analysen verzichtet er im vorliegenden Beispiel explizit und begründet dies damit, dass das von ihm analysierte Foto nur sehr begrenzt ästhetisch komponiert sei (45). Solche Analysen machen seines Erachtens wenig Sinn, »wo ein Bild im Wesentlichen aus einer Aufzeichnung, einer vom Akt des Fotografierens weitgehend unabhängig gegebenen Realität besteht« (46). Das Verfahren der Objektiven Hermeneutik wurde von etlichen auf die Bild- und auch Filmanalyse angewandt (so etwa von Englisch 1991 und Ritter 2003) und hat sich auch in diesem Kontext als fruchtbar erwiesen. Eine ähnliche Entwicklung von der Sprach- zur Bildanalyse durchlief die von Hans-Georg Soeffner begründete Sozialwissenschaftliche Hermeneutik (1989), die für die Entwicklung der qualitativen, interpretativen Sozialforschung in der deutschsprachigen Soziologie ausschlaggebend war. Sie verfährt ebenfalls sequenzanalytisch, operiert jedoch mit anderen theoretischen und methodologischen Prämissen: Zum einen wird die Objektivität von Sinnfiguren relativiert, und zum anderen werden dem interpretierenden Subjekt mehr Freiheitsgrade zuerkannt (vgl. Reichertz 1997). Im Weiteren ist Hermeneutik für Soeffner nicht nur ein wissenschaftliches Verfahren, sondern auch Lebenspraxis (Hitzler 2015). Bereits früh befasste er sich auch mit Bildhermeneutik (1993a, b; Bergmann/ Luckmann/Soeffner 1993), was auf seine Umgebung ausstrahlte. So entstand in seinem Umfeld beispielsweise der Aufsatz ›Der Morgen danach‹ von Jo Reichertz (1992), in welchem dieser eine Wissenssoziologische Hermeneutik für Bildanalysen skizzierte (die mit der Sozialwissenschaftlichen Hermeneutik viele Gemeinsamkeiten teilt). Dabei gehe es darum, »den vom Betrachter erstellten Bildtext als Feldprotokoll zu betrachten und in der von Strauss (1991) beschriebenen Weise zu behandeln (siehe auch Soeffner 1992: 180 ff.)« (Reichertz 1992: 145 – im Original kursiv). Wissenssoziologisch sei diese Perspektive zum einen, weil sie untersuche wie Handlungssubjekte (z. B. Fotografen) historisch und gesellschaftlich vorfindliche Welt- und Wahrnehmungsdeutungen sich aneignen, neu ausdeuten und auch neu erfinden; und zum andern weil diese Perspektive sowohl auf den Beobachteten als auch den (wissenschaftlichen) Beobachter angewendet werde. Bei seiner handlungstheoretischen Interpretation einer Werbefotografie trifft Reichertz die wegweisende Unterscheidung zwischen »Handlung vor der Kamera« und »Kamerahandlung« – eine
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Unterscheidung, die er später auch in der Video-Analyse appliziert und bis heute für grundlegend hält (Reichertz 1994, 2000; Reichertz/Englert 2011): Beide müssen zu einer Sinnfigur verbunden werden. Die »Konstanzer Schule« der Wissenssoziologie um Thomas Luckmann befasste sich zunächst ebenfalls mit sprachsoziologischen Fragen (Luckmann 1975, 1979), wandte sich dann aber unter dem Einfluss von Jörg R. Bergmann (1985, 1987) zunehmend der empirischen Analyse von Interaktionen im Stil der ethnomethodologischen Konversationsanalyse zu. Längere Zeit beschäftigte sie sich in Kooperation mit Literaturwissenschaftler(inne)n mit der Theorie der kommunikativen Gattungen mit dem Ziel, den kommunikativen Haushalt der Gesellschaft zu inventarisieren (Luckmann 1986; Günthner/Knoblauch 1997). Nachdem Soeffner 1994 die Nachfolge Luckmanns an der Universität Konstanz antrat, wurden die Kontextbezüge der empirischen Forschung sukzessive erweitert: Es wurden längere Interaktionssequenzen untersucht, die Relevanz der Leiblichkeit erkannt und performative Aspekte (Inszenierungen) in die Untersuchung mit einbezogen, und schließlich wurde in Konstanz die Visuelle Wissenssoziologie begründet. Wichtige Impulse lieferte hierbei auch Hubert Knoblauch, der sich schon früh nicht nur mit Ethnografie, sondern auch mit den Workplace Studies befasste (Knoblauch 2000, 2004) und die dort eingesetzten audio-visuellen Verfahren zu einer ›Videographie‹ entwickelte (Knoblauch 2006; Knoblauch/Tuma/Schnettler 2013; Tuma/ Schnettler/Knoblauch 2013). Während sich Soeffner auch mit der Interpretation von Gemälden und Fotografien befasste, verlagerte das soziologische Interesse an Handlungssequenzen sowie an Medialität den Forschungsfokus zunehmend auf Filme und Videos (Knoblauch/Schnettler/Raab/Soeffner 2006). Eine eigenständige Rolle spielte dabei auch Ronald Kurt, der im Rahmen seiner Forschungsarbeiten sowohl mit Musik als auch mit Bildmaterial arbeitete und selbst Filme produzierte (2006, 2007). In Bezug auf Fotografie ist die von Soeffner (2006) und Tinapp (2006) entwickelte Methode der »Bild-durch-Bild-Interpretation« besonders innovativ: Bilder sollen nicht durch Sprache beschrieben werden, sondern durch sich selbst. Dahinter steht die alte Idee, dass Bilder eine eigentümliche Kraft haben und auch »wahres Wissen« jenseits der Grenzen der Sprache enthalten und vermitteln können. In Analogie zu Geertz’ »dichter Beschreibung« im Medium der Sprache soll durch »visuelle fotografische Konzentration« anhand von Bildsequenzen eine »dichte Beschreibung durch Bilder« versucht werden. Dabei werden Begleittexte vorerst ignoriert, man lässt die Bilder sprechen, d. h. man orientiert sich an den nicht-sprachlichen BildCodes und versucht die in den kulturell gewachsenen Sehgewohnheiten abgelagerten visuellen Typologien zu entdecken. Post-hoc können die Ergebnisse sprachlich evaluiert und allenfalls variiert werden (Soeffner 2006). Michael R. Müller führt diesen Ansatz in seiner »Figurativen Hermeneutik« weiter (siehe unten). Ebenfalls der Konstanzer Schule zuzurechnen ist Angela Kepplers (2002) Untersuchung der Gebrauchsweisen von Fotografie – eine soziologische Studie, die allerdings die Bildhermeneutik überschreitet.
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Einen eigenständigen, breit rezipierten Ansatz hat Ralf Bohnsack (2011) mit seiner Rekonstruktiven Sozialforschung und seiner dokumentarischen Bildinterpretation entwickelt, die direkt an die Wissenssoziologie von Karl Mannheim anschließen. Zentral ist bei Mannheim die Unterscheidung von theoretischem Wissen und vorreflexivem Wissen, an dem unsere alltägliche Handlungspraxis orientiert ist. Im Anschluss an Schütz nennt man dieses Wissen heutzutage Common-sense Wissen oder Alltagswissen – Konstruktionen erster Ordnung, die sich von Konstruktionen zweiter Ordnung, dem wissenschaftlichen Wissen, unterscheiden. Im Einklang mit Mannheim bezeichnet Bohnsack seinen Ansatz als »praxeologische Wissenssoziologie« und zieht Parallelen zu Bourdieus Praxeologie: Es geht beim handlungsrelevanten Wissen um inkorporiertes Wissen und daher um eine handlungspraktische Herstellung und Konstruktion von Welt. Bohnsack glaubt – ähnlich wie Bourdieu – sich diesbezüglich von Phänomenologie, Symbolischem Interaktionismus und Ethnomethodologie abgrenzen zu müssen, die sich angeblich nur mit einer interpretativen und definitorischen Konstruktion von Welt beschäftigen würden, und nennt seinen Ansatz daher einen »Konstruktivismus im erweiterten Sinne« (17). Gerade bezüglich der pragmatischen Handlungspraxis und der durch diese konstruierten und produzierten Gesellschaft gibt es allerdings zwischen den erwähnten Ansätzen überwiegend Übereinstimmung, wie übrigens auch in Bezug auf die von Mannheim (und Bohnsack) betonte soziale Standortgebundenheit der Interpret(inn)en. Wesentlich für Bohnsack ist nun Mannheims (1964) »dokumentarische Methode der Interpretation«, die einen methodisch kontrollierten Zugang zu handlungsorientierenden Wissensbeständen ermöglicht. In der Textauswertung verfährt sie sequenzanalytisch und versucht durch die Bezugnahme auf Äußerung und Anschlussäußerung die formale Struktur der Diskursorganisation herauszuarbeiten. Zur Entwicklung der dokumentarischen Bildinterpretation orientierte sich Bohnsack an den Bildtheorien und -analysen von Panofsky und Imdahl. Nachhaltiger wurde Bohnsack dabei von Imdahl beeinflusst, der textförmige, sequenzanalytische Interpretationsverfahren vehement kritisiert und als für die Bildinterpretation ungeeignet betrachtet. Bohnsack versucht indes beide Ansätze auf der Metaebene zu versöhnen: Sowohl Kompositionsanalyse als auch Sequenzanalyse operieren mit Vergleichshorizonten und entsprechen daher dem Prinzip der komparativen Analyse. Bohnsack (2011: 55 ff.) empfiehlt ebenfalls eine Bildanalyse in drei Schritten und führt diese anhand einer Werbefotografie exemplarisch vor: a) In der »formulierenden Interpretation« werden Panofkys Schritte der vor-ikonografischen und ikonografischen Interpretation vollzogen; b) in der »reflektierenden Interpretation« wird zunächst die formale Komposition gemäß Imdahl rekonstruiert (Planimetrie, Perspektivität, Szenische Choreografie), gefolgt von einer ikonologisch-ikonischen Interpretation mit Bezug zu soziologischen Theoremen; c) in der »komparativen Analyse« wird schließlich untersucht, wie der im Werbefoto propagierte Lifestyle für einen kulturell anderen Markt komponiert wird. Bohnsack erweitert dieses Verfahren auch für die Film- und Videointerpretation
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(2011: 117 ff.). Die dokumentarische Bildinterpretation hat sich vor allem in den Erziehungswissenschaften etabliert, fand aber auch darüber hinaus Beachtung und wird von zahlreichen Wissenschaftler(inne)n praktiziert (etwa von Michel 2004, 2007 und Przyborski 2014). Die von Jürgen Raab entwickelte wissenssoziologische Konstellationsanalyse (2014, in diesem Band) schließt ebenfalls an Mannheim an und beginnt, wie von Imdahl vorgeschlagen, mit der Rekonstruktion der planimetrischen und perspektivischen Blickordnung. Indem zuerst die kompositorischen Hauptlinien des Bildauf baus betrachtet werden, sollen eine größtmögliche Distanz zu alltäglichen Sicht- und Verständnisweisen erzeugt und mögliche Bedeutungskerne und Bedeutungsränder zunächst rein formal bestimmt werden. Bereits diese formale Analyse erlaubt die Bildung einer ersten Strukturhypothese. Erst danach werden die figürlich-gegenständlichen Inhalte der Darstellung mit einbezogen und schrittweise unmittelbare und mittelbare Bildkontexte methodisch kontrolliert eingeführt. Die Strukturhypothese wird in der Folge weiterentwickelt, korrigiert sowie ergänzt und schließlich nochmals mit der Frage nach dem Warum in einem konkreten Handlungskontext erweitert: Warum wurde als Antwort auf ein vorliegendes kommunikatives Problem gerade diese Darstellungsoption gewählt? Raab (2014) demonstriert die Praxis der Konstellationsanalyse an einem konkreten Beispiel (»Hillary’s Hand«, siehe unten) und erläutert die theoretischen und methodologischen Grundlagen im vorliegenden Band. Einen elaborierten bildhermeneutischen Ansatz für die Analyse von Fotografien bildet die Segmentanalyse von Roswitha Breckner (2010). Sie orientiert sich dabei am Interpretationsprocedere der objektiven Hermeneutik. Breckner legt unter Einbezug der Bildtheorien von Imdahl und Boehm großen Wert auf die Eigensinnigkeit oder Eigenlogik der Bilder und deren eigene Ausdrucks- und Gestaltungsform. Auch sie demons triert die Segmentanalyse unter anderem am Beispiel des Fotos »Hillary’s Hand« (Breckner 2014). Dabei werden zunächst erste Eindrücke festgehalten, gefolgt von einer ersten formalen Bildbeschreibung. Anschließend wird das Foto in einzelne Segmente unterteilt, wobei die Analyse daraufhin bei einem beliebigen Segment ansetzen kann; Breckner geht also nicht von vorgegebenen ikonischen Pfaden aus. Ein Segment können beispielsweise Figuren sein, einzelne Personen oder Gegenstände, die bildlich voneinander abgrenzbar sind. In Bezug auf das gewählte Segment werden dann verschiedene Lesarten entwickelt, indem unterschiedliche Kontexte supponiert werden. In welchem Kontext könnte sich eine Person befinden, in welchen Kontext könnte man die abgebildete Person sinnvoll stellen? Im weiteren Fortgang der Analyse werden die einzelnen ausgedeuteten Segmente aufeinander bezogen, die einzelnen Personen zum Beispiel zu einer Gruppe zusammengesetzt und schließlich Strukturhypothesen generiert. Breckner betont, dass die Segmentanalyse mehr als eine Methode sei – leitend sei vielmehr die grundlegende Frage nach der Konstitution der Sozialwelt. Denn die soziale Dynamik ist ein wesentlicher Bestandteil der Bedeutung eines Bildes; wichtig ist daher auch, die Zirkulation der
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Bilder in die Analyse mit einzubeziehen, im Falle von ›Hillary’s Hand‹ etwa die Memes und Mashups, die zu diesem Foto im Internet kursieren. Im Anschluss an Soeffners Bild-durch-Bild-Interpretation entwickelte Michael R. Müller (2012) eine weitere methodologische Konzeption einer Wissenssoziologie des Bildes, die er Figurative Hermeneutik nennt und die mit einer interpretativen Methodik des Bildvergleichs verfährt. Dabei geht er nicht von einer inneren, syntagmatischen Struktur von Einzelbildern aus, sondern von der lebensweltlichen Gegebenheit von Bildern als symbolische Darstellungen. Wie Soeffner verzichtet Müller auf die übliche, sprachliche Sinnzuschreibung als Deutungsakt und geht davon aus, dass wir über ein anschauliches, nicht-sprachliches Bildwissen verfügen und Bilder immer im Kontext anderer Bilder interpretieren. Die figurative Bildhermeneutik versucht daher durch den Vergleich von gezielt arrangierten Bildsamples, Bildfolgen und Bildkontrasten objektiv mögliche Bildbedeutungen zu rekonstruieren. Das Vorgehen erinnert an Goffmans (1981 [1979]) Studie »Geschlecht und Werbung«, die der Autor auch explizit zitiert. Müller erörtert das methodologisch-kontrastive Vorgehen bezüglich eines mundanphänomenologisch begründeten lebensweltlichen Bildwissens feinsinnig, bezieht die Sinnselektionen auf Berger/Luckmanns (1970) Dialektik von subjektivem Sinn und objektiver Faktizität und diskutiert die Beziehung der besonderen Evidenz bildlicher Darstellungen zu deren sprachlicher Beschreibung. Auf dieser Grundlage erklärt sich auch sein Interesse an den ›Grenzen der Bildinterpretation‹ (Müller et al. 2014).
Gemeinsamkeiten und Bruchlinien Eine Gemeinsamkeit der angeführten Ansätze einer wissenssoziologischen Bildhermeneutik ist der unbeirrte Fokus auf Hermeneutik und nicht auf Semiotik. Die einzige Ausnahme bildet Müller-Dohm, der versucht Barthes’ Semiologie mit einer hermeneutischen Symbolanalyse zu kombinieren. Ansonsten sind sich alle einig, das Bildhafte nicht auf Zeichen zu reduzieren. Dies erklärt auch, warum semiotische Ansätze der Bildinterpretation im vorliegenden Zusammenhang keine Rolle spielen. Es gibt indes zahlreiche Unterschiede innerhalb der wissenssoziologischen Bildhermeneutik: Zum einen in Bezug auf den Zusammenhang von Bild und Sprache und zum anderen in Bezug auf Subjektivität und Objektivität der Interpretation. Die klassische Hermeneutik hat sich vor allem mit Textauslegung beschäftigt, war also vornehmlich an Sprache orientiert. Erst in jüngerer Zeit haben sich einige Ansätze von der Sprachhin zur Bildhermeneutik entwickelt. Wie dargestellt, gibt es Unterschiede in Bezug auf die Frage, inwieweit dem Bild eine Eigenlogik zugeschrieben und inwieweit Bedeutung nicht letztlich doch als in der Sprache verwurzelt betrachtet wird (Stichwort »wiedererkennendes Sehen«). Letztlich kommt natürlich keine Bildinterpretation um die Sprache herum – Beschreibungen sind immer sprachlich. Unterschiede gibt es allerdings in der Vorgehensweise – ob man Bilder direkt sprachlich beschreibt oder Bilder vielmehr durch andere Bilder, also Visuelles durch Visuelles interpre-
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tiert – und bezüglich der Frage, welchen epistemologischen Status man sprachlichen Deskriptionen von Bildern zuerkennt. Sodann gibt es auch Unterschiede in Bezug auf den Grad an Subjektivität bzw. Objektivität, den man einer Bildinterpretation zuschreibt: Die Objektive Hermeneutik operiert beispielsweise mit der Prämisse, dass die Ausdrucksgestalt eines Bildes einen objektiven Sinn enthält, der durch ein adäquates Interpretationsverfahren freigelegt werden kann. Die Sozialwissenschaftliche Hermeneutik betont demgegenüber, dass die Subjektivität des Interpreten nie vollständig ausgehebelt werden kann und jede Sinndeutung immer sowohl im Gegenstand angelegt als auch eine Interpretationsleistung der Deutenden ist. Angesichts der Vielfalt an nuancierten epistemologischen, theoretischen und methodologischen Unterschieden darf man sich auch an den Vorschlag Walter-Buschs (2015) erinnern, die einzelnen Ansätze weniger an ihren (oft überhöhten) Ansprüchen, sondern an ihren Ergebnissen zu messen. Ein diesbezüglich interessantes Experiment stellten kürzlich Kauppert/Leser (2014) sowie Przyborski/Haller (2014) vor, indem sie zehn bzw. vier verschiedene Autor(inn)en dasselbe Pressefoto interpretieren ließen: »Hillary’s Hand«, das Bild von Pete Souza vom 1. Mai 2011 aus dem Situation Room des Weißen Hauses, aufgenommen während des Einsatzes der US-Special Forces im Wohnhaus von Osama Bin Laden. Während Przyborski/Haller (2014) das Bild aus einer journalistischen, einer erziehungswissenschaftlichen, einer soziologischen und einer psychologischen Perspektive analysieren ließen, präsentierten Kauppert/Leser (2014) fünf soziologische Perspektiven, deren Kernfragestellungen sich auf die gesellschaftliche Bedeutung dieses Bildes richten, sowie fünf kunst- und kulturwissenschaftliche Perspektiven, deren Kernfragestellungen am visuell-ästhetischen Wert des Bildes orientiert sind. Irene Leser (2014) sieht diese zehn Perspektiven als »sinfonisches Gemeinschaftswerk«, in dem das »mehrperspektivische Seh-, Ausdrucks- und Wirkpotenzial des Fotos« (2014: 249) nachgezeichnet wird. In ihrer lesenswerten Reflexion der versammelten methodischen Zugänge visueller Analysen legt sie den Schwerpunkt insbesondere auf die Frage nach der Eigenlogik des Bildes, auf die kontextualisierende Analyse sowie auf die Rezeptionsgeschichte des Bildes in Form von Memes und Mashups. In der Schlussbetrachtung erkennt sie in jedem Zugang einen Erkenntniswert und schließt mit der Einsicht: »Die Kunst des Sehens besteht […] in der aufmerksamen bildimmanenten Interpretation, der Verknüpfung von Gesehenem mit (angeeignetem bzw. recherchiertem) (Kontext-)Wissen und dem Zusammenführen der Erkenntnisse verschiedener Interpret(inn)en sowie ihrer Mitinterpret(inn)en« (2014: 264). Wie bereits angemerkt, wurden drei der oben vorgestellten Ansätze auch in Bezug auf ihre Analyse von »Hillary’s Hand« exemplifiziert. Jenseits der Differenzen und Nuancen in den methodischen Vorgehensweisen der Bildinterpretation der hier vorgestellten Ansätze besteht der größte Unterschied, ja eine eigentliche Bruchlinie in Bezug auf die Frage, ob eine visuelle Wissenssoziologie sich überhaupt derart eingehend mit Bild-
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hermeneutik beschäftigen soll. Jo Reichertz (1994, 2000, 2013) moniert seit langem, dass es deplatziert sei, Fotografien in derselben Manier auszudeuten wie Kunsthistoriker(innen) Gemälde interpretieren – insbesondere wenn es sich dabei nicht um Kunstfotos handelt. Eine sozialwissenschaftliche Bildanalyse müsse vielmehr einen andersartigen, nämlich einen kommunikationssoziologischen Zugang wählen und den Fokus auf den Handlungscharakter des bildlichen Ausdrucks richten. Nach Reichertz lehnen sich die bisherigen Ansätze einer wissenssoziologischen Bildhermeneutik viel zu stark an die kunstgeschichtliche Deutungstradition an, statt einen genuin sozialwissenschaftlichen Zugang zu entwickeln. Dieser Argumentation zufolge beschäftigen sie sich zu sehr mit dem Bild selbst und seinem kompositorischen Auf bau, statt »den Handlungs- und Kommunikationscharakter von bildlichen Ausdruckshandlungen in den Blick zu nehmen« (Reichertz/Englert, 2011: 24). Weil Handlungen immer symbolisch sind, sei eine Bildbetrachtung auf vorsymbolischer Ebene – so wie etwa von Bohnsack vorgeschlagen – schlichtweg sinnlos; vielmehr gelte es die Kamerahandlung zu betrachten, die das Bild schafft, konstruiert und komponiert. Durch die Kadrierung bestimme die Kamera, was wie ins Bild kommt. »Die Handlung der Kamera besteht daher nicht im Zeigen, sondern im Kommunizieren. Deshalb muss die Analyse von Kamerahandlungen immer auch Kommunikationsanalyse sein« (26). Weil sich dieser Ansatz nicht als Ergänzung, sondern provokativ als Alternative zu jenen Ansätzen darstellt, die sich eingehend mit Bildanalysen beschäftigen, kann hier von einer eigentlichen Bruchlinie in der gegenwärtigen Debatte gesprochen werden: Die Eigenständigkeit des Bildes wird als geradezu irrelevant für eine soziologische Analyse betrachtet. Eine solche Lesart hat selbstverständlich auch methodologische Implikationen, denn damit erscheint zugleich auch das Problem der Vertextung gelöst: Nicht das Bild muss adäquat vertextet werden, sondern die Kommunikationshandlung. Dass dieser pointierte Ansatz derzeit für Unruhe sorgt ist verständlich, wird damit die Besonderheit von Bildkommunikation doch eingeebnet und mit anderen Kommunikationshandlungen vergleichbar gemacht. Die Gegenfrage aber bleibt, was verloren geht, wenn man die Besonderheit des Visuellen aus dem Blick verliert. Aida Bosch beispielsweise argumentiert, dass die Bilder selbst als Phänomene viel ernster genommen werden müssen: Das Sozialleben und die Lebenswelt sind heute von Bildern durchdrungen, die nur flüchtig und in zunehmender Geschwindigkeit die Wahrnehmung berühren. Wenn Sozialwissenschaftler(innen) die Bilder und das, was sie kommunizieren, in seiner inhaltlichen, ästhetischen und sozialen Eigenart nicht verstehen, dann entgehen uns zentrale Aspekte unseres Zeitalters (vgl. Bosch 2014a, 2015). Das benötigte methodische Bildverstehen müsse das »punctum« (Barthes 1989 [1980]), die Impulse die vom Bild ausgehen, systematisch aufnehmen, und anschließend genaue Bildbeschreibungen vornehmen (»studium«), die wiederum inhaltlich-sachliche sowie formal-ästhetische Dimensionen, wie Komposition, Perspektive, Farbgebung, Linienführung, Kontraste, Lichtverhältnisse und ästhetische Mittel einschließen, um danach symbolische und ikoni-
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sche Bezüge zu thematisieren, und schließlich soziale Interaktionsverhältnisse des Bildes herauszuarbeiten (vgl. hierzu Bosch/Mautz 2012). Für Bosch greift eine Analyse zu kurz, welche die Bildkommunikation lediglich auf die Kommunikation zwischen Bildproduzent und Bildrezipient reduziert – vielmehr müssen ihrer Ansicht nach die Interaktionsdynamiken auf verschiedenen Ebenen untersucht werden: beispielsweise die Interaktionsdynamiken, die das Bild im Entstehungszusammenhang verursacht; die Interaktion, die das Bild mit dem Betrachter aufnimmt; die Interaktion, wie das Bild auf andere Bilder antwortet; und die Interaktionsdynamiken, die das Bild anschließend in sozialen Prozessen auslöst. Gegenwärtig entwickeln sich, so Bosch, Ansätze einer globalisierten Bildsprache, womit ikonische Formate an Konturen gewinnen, die über die Kulturgrenzen hinweg in Grundzügen verstanden werden und »funktionieren« – trotz unterschiedlicher kultureller und religiöser (Bild-)Traditionen, und trotz eines immer noch sehr unterschiedlichen Detail- und Kontextverständnisses. Bosch betont, dass die besondere Ästhetik des Bildes bei einer wissenssoziologischen Analyse unbedingt zu berücksichtigen sei, da in den ästhetischen Formaten spezifische Muster der sozialen und kollektiven Sinngenerierung enthalten seien, die gerade wegen ihrer Beiläufigkeit und ihres impliziten Charakters sowie wegen der Unmittelbarkeit und ästhetischen Konkretion der sinnlich-leiblichen Anschlüsse besonders wirksam sind (vgl. Bosch 2014b). Die Autorin schlägt vor, Bilder nicht nur als Repräsentanten von etwas, das abgebildet ist, sondern als paradoxe performative Aktanten zu begreifen, die als solche ständig unzählige soziale Möglichkeitsräume eröffnen und das Imaginäre der Gesellschaft laufend speisen und verändern (vgl. Bosch 2014a). Nur wenn man die Bilderwelt in ihrer Eigenständigkeit begreift, können Problemlagen in den Blick kommen, wie sie beispielsweise Vilém Flusser (1983) schon frühzeitig skizzierte: Dass das gegenwärtige Zeitalter der technischen Bilder paradoxerweise eine magische Wahrnehmung und magisches Denken befördere; dass sich also das Bild- und damit auch das Welt-Verständnis durch die Omnipräsenz, technische Brillanz, gesteigerte Sinnlichkeit und Eindrücklichkeit der Bilder entscheidend verändert (vgl. dazu auch Bosch 2015). Wie oft bei wissenschaftlichen Auseinandersetzungen geht es auch in dieser Debatte darum, welche Fragen gestellt werden sollen und welche methodischen Vorgehensweisen sich zu ihrer Beantwortung eignen. Wer bei der Analyse von Bildkommunikation stets mit einer bildhermeneutischen Interpretation beginnt, wird zu Fragestellungen neigen, bei denen diese Interpretationen auch wichtig sind. Umgekehrt ist auch der Standpunkt legitim, dass wohl nicht alle wissenssoziologischen Untersuchungen von Bildkommunikation notwendigerweise eine differenzierte Ausdeutung der verwendeten Bilder voraussetzen. Eigentlich sind alle der angeführten Repräsentant(inn)en einer – hier ausschließlich auf Fotografie bezogenen – visuellen Wissenssoziologie darin einig, dass die Soziologie nicht nur eine Sozialtheorie, sondern auch eine Gesellschaftstheorie der Visualität entwickeln muss: Es geht nicht nur darum, die grundsätzliche
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gesellschaftliche Eingebettetheit von Bildern in Rechnung zu stellen, sondern sich auch mit den aktuellen gesellschaftlichen Veränderungen auseinanderzusetzen, also mit der enormen Beschleunigung von Produktion und Verteilung von Bildern im globalen Maßstab, durch Massenmedien wie das Internet – wie dies am Anfang dieses Beitrags geschildert wurde. Viele dieser aktuellen Entwicklungen wurden bisher eher von den Medien- und Kommunikations- sowie den Bildwissenschaften aufgegriffen, während die Soziologie diesbezüglich noch erheblichen Nachholbedarf hat. An diesem gemeinsamen Ziel können die einzelnen vorgestellten Ansätze in den kommenden Jahren auch gemessen werden: Erschöpfen sie sich primär in Bildhermeneutik oder stoßen sie tatkräftig zu diesen erweiterten Fragestellungen vor? Wenn wir nochmals auf die Triade von Produzent – Objektivation – Rezipient zurückkommen, von der wir ausgegangen sind, wird deutlich dass Reichertz vor allem die Kommunikation zwischen Produzent und Rezipient betrachtet, für die das Bild, die Objektivation, lediglich ein Medium ist. Die bildhermeneutischen Ansätze haben sich demgegenüber überwiegend mit der Eigensinnigkeit des Bildes als Objektivation sowie den jeweiligen Rezeptionsweisen beschäftigt – im Sinn der Sozialtheorie des Bildes insbesondere auch mit den sozialen Gebrauchsweisen von Bildern. Reichertz nimmt indes auch die Produktionsweisen von Bildern in den Blick, sowohl mit der Handlung vor der Kamera als auch mit der Kamerahandlung. Die Masse der heutigen Bilder, insbesondere die Werbebilder, werden nicht mehr von einzelnen Malern gemalt, sondern von arbeitsteiligen Experten-Teams nach professionellen Standards produziert und auf der Grundlage ausgeklügelter Marketingstrategien zielgruppenspezifisch gestaltet und distribuiert. Reichertz spricht daher auch vom »corporate actor« (Reichertz/Englert 2011). Es ist ganz klar, dass die Sinnwelt dieser korporierten Akteure nicht allein durch Bildhermeneutik erschlossen werden kann. Abschließend sei noch auf den Ansatz von Regula Burri (2008a, b) hingewiesen, einer Pionierin der visuellen Soziologie in der deutschsprachigen Soziologie. Sie unterscheidet sich zwar von den hier dargestellten wissenssoziologischen Ansätzen in einigen zentralen theoretischen und methodologischen Prämissen, ihre Konzeption einer Visuellen Soziologie ist jedoch gerade deswegen bemerkenswert, weil sie ›Bilder als soziale Praxis‹ (2008b) betrachtet. Auch sie kritisiert die von den Sozialwissenschaftlern bisher entwickelten Bildinterpretationsverfahren als unzureichend, um die gesellschaftliche Bedeutung von Bildern erschließen zu können; neben den Bildern und deren Inhalt müssen ihrer Ansicht nach auch die sozialen Praktiken der Herstellung, der Wahrnehmung und des Gebrauchs von Bildern mit einbezogen werden, ebenso wie die Aspekte der Materialität und Visualität. Burri bezieht sich auf die Wissenschafts- und Technikforschung von Michael Lynch (1985), Bruno Latour (1986, 1990) und Lynch/Woolgar (1990), die diesen Anforderungen bisher am nächsten gekommen seien, sowie auf Karin Knorr Cetina (1999, 2001), die mit dem Begriff »Viskurse« die Einbettung visueller Darstellungen in kommuni-
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kative Diskurse betont hatte. Auf dieser Grundlage entwickelte Burri ein Instrumentarium für eine soziologische Bildanalyse, in dem die Visualität von Bildern in Bezug auf drei Dimensionen beschrieben wird: nämlich hinsichtlich des Eigenwerts (visual value), der Darstellung (visual performance) und der Wirkung der Bilder (visual persuasiveness). Am Beispiel ihrer ethnografischen Untersuchung medizinaler Bildpraktiken illustriert sie die Fruchtbarkeit dieses Instrumentariums und zeigt auf, inwiefern die medizinische Bildpraxis durch eine visuelle Logik strukturiert wird. Burris Studie zeigt eindrücklich, wie sich der Forschungsfokus ändert, wenn man nicht mit Bildhermeneutik, sondern mit der Beobachtung sozialer Praxis beginnt. Damit sind die Konturen der wichtigsten Ansätze und der aktuellen Debatten skizziert, die sich auch in den Beiträgen in diesem Buch widerspiegeln.
A ufbau und I nhalt des B uchs Das vorliegende Buch versammelt Beiträge von Autorinnen und Autoren zu ›Fotografie und Gesellschaft‹ aus vorab phänomenologischen und wissenssoziologischen Perspektiven und deckt das gesamte Spektrum von Produktion, Fotografie (als Objektivation) und Rezeption ab. Das Buch ist in fünf Teile gegliedert: Der erste Teil behandelt Fotografieren als Tätigkeit – ein Thema, das in der bisherigen Literatur etwas im Schatten stand angesuchts der Flut bildhermeneutischer Publikationen. Der zweite Teil befasst sich mit dem Betrachten von Fotos und der dritte Teil mit verschiedenen Auseinandersetzungen mit Fotos. Der vierte Teil enthält Beiträge zur Theorie der Fotografie, wobei es vorwiegend um Themen im Schnittpunkt von Phänomenologie und visueller Wissenssoziologie geht. Der fünfte Teil schließlich bildet einen Kontrapunkt, indem die Fotografien im Zentrum stehen und nicht der Text: Gegenüberstellungen von Bildern und phänomenologischen Schlüsselaussagen laden zur Abschlussmeditation ein. Die einzelnen Beiträge werden im Folgenden näher skizziert.
Erster Teil: Fotografieren Fotografisches Handeln wird hier zum einen aus der Perspektive eines Profifotografen, zum anderen aus der Sicht eines Amateurfotografen reflektiert. Angesichts der Tatsache, dass die meisten Fotos heute mit Smartphones gemacht werden, wird die App-Fotografie in einem eigenständigen Kapitel behandelt. Die zwei folgenden Beiträge befassen sich mit dem Fotografieren in der ethnografischen Forschung: Der eine erörtert das Fotografieren (lassen) in der lebensweltanalytischen Ethnografie, der andere befasst sich mit dem inzwischen klassischen fotografischen Werk Pierre Bourdieus und dessen Gebrauch der Fotografie in der soziologischen Feldforschung. Anschließend wird die Kunst des Fotografierens zweier Profifotografen untersucht, zum einen am Beispiel von Helmar
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Lerski (im partiellen Vergleich mit August Sander) und zum andern am Beispiel von Herbert Maeder. Als Erstes untersuchen Nina Baur und Patrik Budenz Fotografisches Handeln. Dieser Beitrag eröffnet den vorliegenden Band, weil er viel Wissenswertes über die Gestaltungsmöglichkeiten des Fotografierens präsentiert. Zunächst wird die Differenz von Bild und Wirklichkeit diskutiert. »Naive« Laien nehmen Fotografien oft als Abbilder der Wirklichkeit hin; weil Fotografien die Sinne ansprechen, ist ihre Scheinobjektivität besonders hoch. Baur und Budenz betonen demgegenüber die subjektive Überformung von fotografischen Repräsentationen der Wirklichkeit. Fotografen wollen etwas vermitteln und gestalten daher den Ausdruckssinn ihrer Bilder bewusst. In jeder Fotografie manifestiert sich daher auch die Subjektivität des Fotografen. Besonders deutlich kommt dies in der professionellen Fotografie zum Ausdruck. Die bisherige soziologische Forschung hat sich nicht nur vor allem auf die Bildrezeption konzentriert und dabei den Produktionskontext vernachlässigt, sondern sie hat sich vorab auch mit Laienfotografie beschäftigt und nicht mit professionellem fotografischem Handeln. Professionelle Fotografen sind jedoch sowohl mit den technischen Möglichkeiten der Fotografie als auch mit den Wahrnehmungsschemata des jeweiligen soziokulturellen Kontexts wesentlich vertrauter als Laienfotografen. Baur und Budenz weisen zunächst auf die Beschränkungen der Gestaltungsmöglichkeiten durch die jeweilige Technik hin. Anschließend werden die Möglichkeiten der Bildgestaltung im Einzelnen, wie Inszenierung und Retusche, Wahl des Ausschnitts, Brennweite des Objektivs, Tiefenschärfe und farbliche Ausgestaltung, anschaulich beschrieben und mit Bildmaterial illustriert. Zu diesen Methoden der Einzelbildgestaltung gesellt sich das nachträgliche Bearbeiten durch professionelle Bildbearbeitungsprogramme sowie das Editing zu Bildserien, die thematisch ganz unterschiedlich gestaltet werden können, je nachdem welche Aussage der Fotograf für das jeweilige Zielpublikum machen möchte. Auch der soziale Kontext wird thematisiert, innerhalb dessen professionelle fotografische Handlungen vollzogen werden: Ähnlich dem Ethnografen muss auch der Fotograf einen Zugang zum Feld für einen längeren Aufenthalt erhalten, das Vertrauen der Leute gewinnen und durch häufige Präsenz zu einem zunehmend unsichtbaren Beobachter werden. Thomas S. Eberle untersucht in seinem Beitrag den Akt des Fotografierens in Form einer phänomenologischen und autoethnografischen Analyse. Als Amateurfotograf steht er punkto Reflexionsgrad beim Fotografieren wohl zwischen dem präreflexiven Laienfotografen und dem hoch reflexiven Profifotografen. Allerdings blickt er heute bereits auf ein halbes Jahrhundert fotografischer Tätigkeit zurück. In der Reflexion auf seine eigene Art des Fotografierens gewinnt er die Schlüsseleinsicht, dass es ihm primär um die Aktivität des Fotografierens mit ihrer hohen Erlebnisintensität geht und nur sekundär um die resultierenden Bilder. Da er seinen fotografischen Blick als eigenen kognitiven Stil erlebt, betrachtet er diesen im Kontext der Theorie mannigfaltiger Wirklichkeiten von Alfred Schütz. Dabei kommt er zum Schluss, dass sein fotografischer Blick keinen »ge-
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schlossenen« Sinnbereich konstituiert, obwohl er in der Regel von einer ästhetischen Einstellung geprägt ist. Die Alltagsästhetik ist vielmehr ein integraler Bestandteil der Alltagswelt und sollte nicht als eigene Wirklichkeit oder als Enklave ausgesondert werden. So fährt man besser, den Einstellungswechsel des fotografischen Blicks durch das entsprechende subjektive Relevanzsystem, die involvierten Wissensbestände sowie deren Typik zu beschreiben. Anschließend wendet sich Eberle der phänomenologischen Handlungstheorie zu, um die Prozesse der Sinnkonstitution beim Akt des Fotografierens in subjektiver Perspektive zu klären. Dabei nimmt er auch Bezug zur Phänomenologie der Wahrnehmung, da der fotografische Blick die Sinnebene von Apperzeptionen auch in Richtung Empfindungen unterschreitet. Der Autor weist auch auf einige Residuen hin, die noch weiter erforscht werden sollten, wie der Eigensinn von Tätigkeiten, die Leiblichkeit des Handelns sowie die Rolle der Leidenschaft. Abschließend wird die Perspektive geöffnet hinsichtlich der Vielfalt fotografischer Handlungstypen. Erstens partizipiert man als Fotograf immer an kollektiven Praktiken, vor deren Hintergrund persönliche Idiosynkrasien erst klarere Konturen gewinnen. Zweitens offenbart sich das gesamte gesellschaftliche Feld fotografischer Praktiken erst durch seine soziologische Erforschung. Diese ermöglicht eine Objektivierung, die die subjektive Perspektive des Einzelnen überschreitet und soziologisch verortet. Paul Eisewicht und Tilo Grenz machen die App-Fotografie zum Thema und untersuchen damit fotografische Praktiken, die vorab – aber nicht nur – von Laienfotografen praktiziert werden. Die Smartphone-Fotografie unter Verwendung von Apps ist ein sehr aktuelles und noch weitestgehend unerforschtes Gebiet, das sich in rascher Entwicklung befindet. Zunächst beschreiben die beiden Autoren den enormen Aufschwung der Smartphone-Fotografie und die laufende Weiterentwicklung von Hard- und Software, was sie tabellarisch an der Entwicklung des iPhones und seiner Standardapplikationen aufzeigen. Parallel entstand eine unüberschaubare Vielfalt von Foto-Apps, die die Standardsoftware erheblich erweitern. Eisewicht und Grenz erstellen eine Übersicht, indem sie die Foto-Apps in drei Kategorien einteilen (Aufnahme-Apps, Bearbeitungs-Apps, Verwaltungs-Apps), von denen jede wiederum drei Unterkategorien aufweist. Diese benutzerfreundlichen und preiswerten Anwendungen geben dem Laien Werkzeuge an die Hand, die bislang lediglich professionellen Fotografen vorbehalten waren, und bilden – zumindest von ihrem Potenzial her – einen inzwischen höchst komplexen, interpretativen Weltzugang. Anhand eines konkreten autobiografischen Fallbeispiels, als Paul Eisewicht ein Foto machen wollte, das seinem subjektiven situativen Erleben möglichst treffend entsprach und er dazu ein Filter-App einsetzte, werden fünf Eigenheiten des App-Fotografierens herauskristallisiert. Filter-Apps objektivieren das Geschehen vor der Kamera auf spezifische Weise und fungieren daher als Interpretationsinstrumente. Überdies ist diese Objektivierung am künftigen, antizipierten eigenen Verstehen des in Augenschein Genommenen orientiert. Dieses Charakteristikum des interpretativen Weltzugangs bei der app-basierten Alltagsfotografie bezeichnen
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die beiden Autoren unter Rückgriff aus die phänomenologisch orientierte Wissenssoziologie als interpretative Konservierung. Im nächsten Kapitel schlägt Michaela Pfadenhauer die Brücke zwischen Fotografie und Ethnografie. In der Tat hat Fotografieren in der ethnografischen Forschung eine lange Tradition, sei es dass die Forscher selbst fotografieren, sei es dass sie die Feldakteure fotografieren lassen. In Pfadenhauers Forschung geht es spezifisch um die lebensweltanalytische Ethnografie, in der die Forscherin leibhaftig ins Feld eintaucht und sich in Form von »beobachtender Teilnahme« selbst am Geschehen beteiligt. Ihr Beitrag trägt daher den Titel Fotografieren (lassen) in der lebensweltanalytischen Ethnografie. Nach einem kurzen Ausflug in die volkskundliche Fotografie, wo die Fähigkeit, Kultur wissenschaftlich zu fotografieren, als unterentwickelt bezeichnet und überdies bemängelt wird, dass dem Fotografieren des Alltags zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet werde, reflektiert die Autorin auf ihr eigenes fotografierendes Handeln im Feld. Bis zum Aufkommen der Smartphone-Kameras hatte Fotografieren in ihrer ethnografischen Praxis gegenüber dem Notizbuch und dem Aufnahmegerät eine nachgeordnete Bedeutung. Mit dem Handy begann sie indes Gelegenheitsaufnahmen zu machen und erkannte ihren methodischen Wert für die Klärung ihrer Beobachterrolle und -perspektive. Anschließend reflektiert sie auf das Fotografieren (lassen) anhand zweier eigener Forschungsprojekte: Im ersten führten die Feldakteure, hier die Studierenden, zu ihrer raum-zeitlichen Nutzung des Campus ein Logbuch, in dem sie zeitnah textförmige Beschreibungen, aber auch Zeichnungen, Fotos und Videos festhielten. Im zweiten geht es um ihre Forschung zum Einsatz »sozialer« Robotik in der Alten- und Demenzpflege, wo sie einerseits ihre ethnografische Erfassung von Situationen fotografisch dokumentierte, ihre Beobachtungen aber auch durch Fotos von Feldakteuren und Zeitungsfotografen irritieren und überdenken ließ. Fotografieren im Feld, folgert sie, ist ein Sich-in-Beziehung-Setzen zu den Gegenständen in diesem Feld, aber auch ein Interagieren mit den »Bewohnern« dieses Feldes. Auch der nächste Beitrag befasst sich mit dem Fotografieren im Kontext ethnografischer Feldforschung. Der Bourdieu-Experte Franz Schultheis stellt in seinem Beitrag Die Kamera im Dienste soziologischer Objektivierung. Pierre Bourdieus fotografisches Archiv heraus, dass Bourdieus fotografische Arbeiten trotz der starken internationalen Rezeption seines Werks weitgehend unbeachtet geblieben sind. Vor allem sei der systematische Stellenwert übersehen worden, den die Fotografie als Forschungsinstrument im Bourdieu’schen Werk einnimmt. Während seiner Feldforschung in Algerien hat Bourdieu ein reichhaltiges soziohistorisches Bildmaterial geschaffen, das werkgeschichtlich außerordentlich interessant ist, bildet es doch konkretes Anschauungsmaterial zu seinen Texten über Habitus und Ethos des vormodernen Menschen und der ihm eigenen Würde; zugleich dokumentiert es den gesellschaftlichen Wandel mit seinen Ungleichzeitigkeiten. Das Fotografieren als visuelle Form der Objektivierung sozialer Wirklichkeit bewirkte bei Bourdieu eine »Konversion des Blicks«, durch die er zum Sozialwissenschaftler wurde und damit auch seine eigene
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biografische Flugbahn und soziale Identität in neuer Perspektive sah. So setzte er die Fotografie als Mittel sozialwissenschaftlicher Feldforschung auch in seiner französischen Heimat, dem Béarn, ein. Überdies förderte in seiner Zeitschrift ARSS den systematischen Gebrauch von Fotografie und anderen Visualisierungstechniken, wie auch das Experimentieren mit unterschiedlichen Darstellungsformen, Stilen und Techniken. Schultheis arbeitet eine ganze Reihe verschiedener Aspekte heraus, die in seinem Austausch mit Bourdieu über dessen Umgang mit Fotografie in seiner Forschung zur Sprache kamen, wie Fotografie als Mittel der Spurensicherung, als ethnografisches Notebook, als materiale Ethnologie, als Objektivierung und Schärfung des Blicks, u. v. a. m. Er schließt mit einem Hinweis darauf, dass Bourdieus Fotoarchiv noch immer nicht vollständig erschlossen ist. Die nächsten beiden Beiträge thematisieren das Fotografieren am Beispiel zweier Profi-Fotografen. Felix Keller schreibt über Subversionen des Lichts: Helmar Lerskis fotografische Kritik soziologischer Fotografie. Lerski hinterfragt die damals führenden fotografischen Repräsentationsweisen des Sozialen und stellte die Frage nach dem Phänomenalen der Fotografie ins Zentrum seines Schaffens. Sein Werk kann, so Keller, nur auf dem Hintergrund der visuellen Kultur der Weimarer Gesellschaft verstanden werden. Der aufkommende Fotojournalismus und die fotografischen Magazine lieferten neue Repräsentationen des Sozialen, erst das öffentliche Gesicht und die Stars, dann die Gesichter unbekannter Menschen auf der Straße. Das Bemühen, angesichts der Bilderflut die Visualisierung des Sozialen zu verwissenschaftlichen und zu versachlichen, erlebte im Werk August Sanders ihren beispiellosen Höhepunkt. Sander versuchte eine systematische fotografische Darstellung der sozialen Ordnung zu erstellen, indem er Menschen in ihrem angestammten sozialen Milieu fotografierte und sämtliche Kollektive der Gesellschaft fotografisch darstellte. Diese Repräsentationsweise sollte eine hinreichend universale Gültigkeit haben, was die Fotografie zur neuen Weltsprache erheben würde. Lerski machte ebenfalls Porträtfotos, ordnete sie aber nicht nach Berufsständen und Hierarchie, sondern stellte sie gleichwertig nebeneinander und entzog ihnen damit ihre interpretierbare Evidenz. Lerski zielte nicht darauf, das Soziale zu repräsentieren, sondern erblickte das Wesentliche am Fotografieren im Einsatz innovativer Lichtkunst. Er brach mit zahlreichen Regeln des fotografischen Handwerks und operierte mit einem exquisiten Belichtungssystem unter Einsatz zahlreicher Spiegel. Damit eröffnete er neue Perspektiven: im Gesicht des Bettlers zeigt sich das Antlitz einer heroischen Figur, die Wäscherin sieht aus wie eine Aristokratin – dasselbe Gesicht erlebt Metamorphosen durch anderes Licht. Um Lerskis Werk entstanden heftige Kontroversen. Es lässt sich unterschiedlich deuten, und daher kann es nicht als Antipode zu Sanders Werk kolportiert werden. Keller erblickt in Lerskis Werk etwas wesentlich Radikaleres, nämlich eine fotografische Erkenntniskritik, die die Grenzen fotografischer Sichtbarkeit aufzeigt. Indem sie die Frage nach dem möglichen soziologischen Gehalt
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von Fotografien stellt, bildet sie zugleich eine fotografische Kritik soziologischer Fotografie. Im folgenden Beitrag zeichnet Christoph Maeder ein Porträt seines Vaters und dessen Praxis des Fotografierens: Der Schweizer Fotograf Herbert Maeder sei ein Meister des Lichts und ein Verfechter des »immutable mobile« Phänomens in der dokumentarischen Fotografie. Der Autor erzählt zunächst vom riesigen Foto-Archiv seines Vaters und dessen Überführung in die Staatsbibliothek, dem Engagement und den politischen Erfolgen des Vaters als Bundesparlamentarier zur Erhaltung unberührter Berglandschaften, dem Gentleman’s Agreement zwischen Vater und Sohn zur Trennung ihrer beruflichen Spielfelder bis hin zu Projekten der gemeinsamen Zusammenarbeit von Fotograf und Soziologe. Herbert Maeder arbeitete als Fotojournalist. Er liebte die Idee der Fotoreportage und das Konzept der dokumentarischen Fotografie – aus dieser Tradition stammten auch seine Vorbilder, wie William Eugene Smith oder die Fotografen der Farm Security Administration, Dorothea Lange, Walker Evans und andere, deren Bilder heute Teil der globalen Erinnerungskultur geworden sind. Einen beachtlichen Einfluss hatte auf ihn auch die Foto-Ausstellung ›The Family of Man‹, die in den 1950er Jahren in der ganzen Welt gezeigt wurde, auch in einem Museum in St. Gallen, wo sie Herbert Maeder als lokaler Kurator betreute. All diese Einflüsse schärften seinen Blick für das Alltägliche, das scheinbar Kleine und Unspektakuläre und gerade deshalb Bedeutsame. Der Autor gibt einen umfassenden Überblick über das fotografische Werk, das aus über 40 monografischen Fotobüchern mit zum Teil umfangreichen Texten besteht, aus zahlreichen Beiträgen in Zeitschriften und auch vielen Ausstellungen, sowie aus dem von Maeder besonders entwickelten Genre des Dia-Vortrags. Sein Werk gliedert sich in verschiedene thematische Schwerpunkte, die teilweise durch Bilder illustriert werden. Dabei werden insbesondere auch die Maximen seines Fotografierens beschrieben, und zwar entlang der (idealisierten) prozeduralen Prinzipien der dokumentarischen Fotografie, wie »der entscheidende Moment«, »available light« (keine künstlichen Lichtquellen), »action« (natürliche Settings, keine Inszenierung) und »documentary« (das ganze Negativ bzw. Positiv muss gezeigt werden, nicht nur Ausschnitte davon). Herbert Maeder konnte sich nicht für die digitale Fotografie erwärmen, weil hier kein Original, kein materialer Beweis der Authentizität eines Bildes mehr vorhanden ist. Christoph Maeder versucht diese Attitüde mit seiner These des »immutable mobile« nach Latour abschließend auch theoretisch zu begründen.
Zweiter Teil: Betrachten von Fotos Die ersten beiden Beiträge dieses Teils beschäftigen sich beide mit Präsenzerfahrungen – mit dem Foto als Präsenzvehikel, das die verstorbene Lebensgefährtin appräsentiert, und mit verschiedenen Aspekten von Präsenz des Bildes und Präsenz im Bild als Spiel von Anwesenheiten und Abwesenheiten. Am Beispiel von Fotoalben wird sodann danach gefragt, welche Beziehung zwischen »Leben« und »Bild« besteht und welche Rol-
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le Fotografien in biografischen Konstruktionsprozessen spielen. Darauf wird untersucht, wie die Smartphone-Fotografie die alltägliche Wissenskommunikation verändert, indem alltägliche Dinge, die schwer in Worten beschreibbar sind, fotografiert und per Bildkommunikation an entfernten Orten gezeigt und dort betrachtet werden können. Eine besondere Form von Bildbetrachtung bezieht sich schließlich auf das Foto im Film, und zwar hinsichtlich seiner Wirkungen wie auch der verschiedenen Bildpraktiken. Ronald Hitzler stellt in seinem Beitrag Als schautest Du mich an. Das Foto als Präsenzvehikel feinsinnige lebensweltanalytische und phänomenologische Reflexionen an über die Art und Weise, wie ihn seine langjährige, verstorbene Lebensgefährtin auf den verschiedenen Fotos, die er zuhause an den Wänden um seinen Arbeitsplatz herum platziert hat, anblickt. Wie Roland Barthes, reflektiert er auf sein alltäglich mitlaufendes Sehen dieser Bilder, die in ihm ein existenzielles Ergriffensein auslösen. Denn es ist als ob ihn die Verstorbene aus der gemeinsamen Vergangenheit anschauen würde, und so erlebt er sie, obwohl als unwiederbringlich deklariert, gleichsam epiphanisch als Als-ob-Gegenwärtiges. Diese Fotos bilden die emotional stärksten und nachhaltigsten Vehikel ihrer Präsenz für den Autor und bewirken weit mehr als etwa die Lektüre ihrer Texte, die ihr intellektuelles Erbe vergegenwärtigen. Unter Rückgriff auf Husserl wendet sich Hitzler dezidiert gegen die implizite Ab-Bild-Theorie, die auch unter Ethnografen verbreitet ist, insbesondere in der dokumentarischen Fotografie. Denn wie Fotos verstanden werden, hängt vom Blickregime, von den situativen Seh-Interessen und Seh-Kompetenzen der Betrachtenden ab sowie vom argumentativ plausibilisierten Sinnzusammenhang, mit dem das Bild gerahmt wird. Der Autor setzt sich auch mit den Fotos auseinander, die seine ehemalige Lebensgefährtin im Wachkoma zeigen. Er hatte ihr Dasein im Wachkoma im Rahmen eines Forschungsprojekts untersucht und insbesondere Fotos von ihrer Körperhaltung und ihrem mimischen und gestischen Ausdruck gemacht. Ist da ein Weingesicht zu erkennen als Ausdruck von Schmerz und Leiden? Aus Respekt vor ihrer Würde sah Hitzler lange Zeit von einer Veröffentlichung solcher Bilder ab, entschied sich nun aber anders. Zu seinem häuslichen Arbeitsplatz zurückkehrend, erörtert er abschließend das Arrangement der Fotos, die als Gesamtensemble eine Art innerhäusliche Gedenkstätte bilden. Die Fotos fungieren als Präsenzvehikel für ein (nur noch) imaginiertes alter ego. Hitzler sucht nun nach dem Verallgemeinerbaren in diesem Einzelfall und untersucht mit Hilfe einer eidetischen Analyse, wie sich anhand eines Fotos ein alter ego konstituiert. Betrachtungen zur Präsenzerfahrung stellt ebenfalls Aida Bosch an in ihrem Beitrag Präsenz des Bildes – Präsenz im Bild. Hans Ulrich Gumbrecht und den Spuren Martin Heideggers folgend, definiert sie Präsenz als ein Phänomen der Unmittelbarkeit, das jenseits von Sinnzuschreibungen und hermeneutischer Zeichendeutung in seiner Materialität und Besonderheit ernst genommen werden will. Präsenz gibt es in zwei Formen: als etwas alltäglich Gegebenes und Vertrautes, das die Lebenswelt (mit-)
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konstituiert, und als besondere, herausgehobene Wahrnehmung, die die Lebenswelt transzendiert – etwa in Krisen des Alltags oder in der ästhetischen Erfahrung. In der Folge arbeitet sie verschiedene Facetten von Präsenz heraus: Zunächst als Spiel zwischen Anwesenheit und Abwesenheit im Rahmen bildlicher Erkundungen. Die Präsenz von Personen bedingt eigentlich deren leibliche Anwesenheit, doch liegt eine solche gerade im Bild nicht vor – nur deren visuelle Spur. Anhand von Fotos von teils in sich gekehrten Menschen zeigt die Autorin, dass Präsenz als Phänomen auch geistige Anwesenheit bedingt. Eine besondere Präsenz hat ihres Erachtens ein Kunstwerk, was sie anhand einer Kunstinstallation illustriert. Heidegger folgend, erblickt sie im Werk ein Geschehen zur Wahrheit: Die ästhetische Erfahrung des Kunstwerks vermittelt eine Unverborgenheit des Seins; das Kunstwerk erhält seine Präsenz durch seine besondere Stofflichkeit, durch das Zusammenspiel von Idee, gestaltender Hand und Stoff. Das Phänomen Präsenz hat materielle, sinnlich-leibliche und geistige Aspekte und liegt im Zwischen, an verschiedenen Schnittpunkten. Sie gibt Gumbrechts Kritik am Konstruktivismus recht, dass der spezifische Eigenwert des Beobachtungsgegenstands und die leiblich-sinnliche Dimension der Wahrnehmung oft verloren gingen. Die Brücke zu Schütz/Luckmann sowie Jean Paul Sartre und Emmanuel Lévinas schlägt sie, indem sie die mittlere Transzendenz und die transzendentale Fremdheit zwischen Ego und Alter erörtert, die normalerweise durch Interaktionsrituale entschärft wird, aber auch in Negation umschlagen und den Handlungsstrom irritieren kann. Der Moment der Kopräsenz kann daher eine machtvolle ästhetische und sinnliche Erfahrung sein, die gerade im geschützten Rahmen der Kunst besonders gut erkundet werden kann. Abschließend setzt sich Bosch mit der Präsenz des Bildes auseinander und den besonderen Möglichkeiten der Fotografie. Zwischen Leben und Bild. Zum biografischen Umgang mit Fotografien lautet der Beitrag von Roswitha Breckner. Sie geht aus von der Beobachtung, dass der alltägliche Gebrauch von Fotografien mannigfaltig ist und diese auch einen wesentlichen Bestandteil biografischer Prozesse bilden, dass wir aber noch wenig über die spezifisch bildlichen Konstruktionsprozesse von Biografien wissen. So geht sie der Frage nach, welche Rolle Fotografien in biografischen Konstruktionsprozessen spielen. Dabei will sie anhand von zwei Beispielen aus der analogen Fotografie konzeptionelle Vorstellungen entwickeln, die auch für die Analyse des digitalen medialen Wandels dienlich sein könnten. Zunächst sucht sie in der Fototheorie nach Anknüpfungspunkten, wie »Leben« und »Bild« verbunden sind. Zentral sind dabei Roland Barthes’ Konzept des punctum, aber auch Marianne Hirschs Untersuchungen zur Herstellung familialer Beziehungen über und mit Fotografien. Danach wendet sie sich biografischen Bildordnungen in privaten Fotoalben zu. Am Beispiel eines Porträtfotos eines etwas zehnjährigen Jungen in einem Album zeigt die Autorin, dass sich der (inzwischen ältere) Betroffene darauf erkennt, das Foto also als Dokument seiner selbst anerkennt; zugleich bleibt indes die Evidenz des Sichtbaren fragil. Das eigene Gesicht in der Porträtfotografie ist ein Akt der Konstruktion
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eines Selbstbildes, und indem der Blickende sich im Angeblickten selbst erkennt, entsteht ein unmittelbarer Blickbezug zu sich selbst. Breckner untersucht darauf die narrative (Un-)Ordnung eines Fotoalbums. Obwohl Fotoalben oft lebenschronologisch sowie thematisch geordnet sind, kann das Konzept der Narration nicht ohne weiteres auf sie übertragen werden; denn Fotoalben sind fragmentarischer, ihre Ordnung kontingenter. Sie sind auch nicht unbedingt Narrationsgeneratoren, vielmehr beziehen sich die Kommentare der Betrachter jeweils auf Einzelbilder. Im Vergleich zu erzählten Lebensgeschichten erzeugen Fotoalben auch eine andere Art Evidenz, die mehr in der Sichtbarkeit als in narrativen Prinzipien verankert ist. Schließlich wendet sich die Autorin der Frage zu, ob sich diese (Un-)Ordnungsstruktur im biografischen Bildgebrauch in sozialen Netzwerken verändert hat, zum Beispiel aufgrund der neuen Möglichkeiten dieses Mediums. Mit solch neuen medialen Möglichkeiten befasst sich Bernt Schnettler in seinem Beitrag Digitale Alltagsfotografie und visuelles Wissen. Er geht der Frage nach, welche Rolle fotografische Erzeugnisse, die vornehmlich mit Smartphone-Kameras hergestellt und verbreitet werden, in der Alltagsverwendung für die heutige Wissenskommunikation spielen. Mit Alltagsfotografie meint der Autor nicht ein besonderes Genre fotografischer Aufnahmen über das Alltagsleben, es geht ihm auch nicht um die zahlreichen Fotos, die als Erinnerungsfotos (Partyfotos, Ferienbilder) oder in ästhetischer Absicht gemacht werden. Vielmehr wird der Fokus auf jene Aufnahmen gerichtet, die in alltäglichen Zusammenhängen von jedermann angefertigt werden können und primär pragmatischen Handlungszwecken dienen. Exemplarisch steht dafür die Informationsbroschüre eines Zahnarztes mit der Mitteilung »Neuer Service bei defekter Spange«: Statt persönlich vorbeizugehen soll man ein Foto der Spange per Email schicken, danach kriegt man (ebenfalls per Email) die Diagnose, ob sie defekt ist oder nicht und was allenfalls zu tun sei. Digitale Alltagsfotografie verändert also die Wissenskommunikation und eignet sich für alle Fälle, wo man etwas einfacher in Form eines Bildes zeigen als mit Worten beschreiben kann. Smartphones und Tablets eignen sich für solche Arten von Kommunikation besonders gut, weil sie Aufnahme- und Zeigegerät in einem sind. Mit »visuellem Wissen« meint Schnettler denn auch – in Abgrenzung etwa zum »Bildwissen« oder zu den spezialisierten Sehkulturen gewisser Experten – nur dasjenige Wissen, das mit Aufnahmen auf solchen Geräten erzeugt und in sozialen Situationen gezeigt werden kann. Im Folgenden bietet der Autor einen fundierten Überblick über die zahlreichen Nutzungsweisen von Smartphone-Fotografien, die sich in den letzten Jahren in rasantem Tempo erweitert haben, und versucht sie auch etwas zu systematisieren. Dabei arbeitet er viele interessante Aspekte heraus, von der verstärkten Subjektivierung der Kamera bei Smartphones, deren Funktion als Zeigegerät und Beweismittel, dem stärker präsentistischen Charakter der Mobilfotografie, der Transformation von alltäglichen, religiösen und künstlerischen Praktiken bis zu neuen Mediengenres. Schnettler verweist abschließend auf das zunehmende Phänomen der
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Mediatisierung sozialer Situationen und eventuell der Virtualisierung der Präsenz, betont aber den hypothetischen Charakter vieler solcher Thesen und den weiteren Forschungsbedarf. Eine besondere Form des Betrachtens von Fotos erörtert schließlich Jörg Metelmann in seinem kulturwissenschaftlichen Beitrag Slowest Motion. Das Foto im Film. Phänomenologisch spannend ist sein Hinweis in der Einleitung, dass ein Film materiell aus aneinandergereihten Einzelbildern besteht, die das Bewusstsein zu einem Bewegungsablauf synthetisiere. Doch nicht darum geht es hier, sondern vielmehr um die Präsentation von Fotografien im Film und die dadurch angestoßene Reflexion. Ausgehend von Volker Pantenburgs filmtheoretischer Unterscheidung zwischen fiktionalen Fotofilmen und Dokumentarfilmen analysiert er Michael Hanekes Spielfilm ›Code inconnu‹ aus dem Jahr 2000. Der »unbekannte Code« zeigt sich gleich auf mehreren Ebenen in der medialen Reflexionsfigur eines Fotografen, der seine Bilder einer Ausstellungsöffentlichkeit – und damit auch dem Filmbetrachter – zeigt: Kriegsbilder zum einen, Porträtfotos von Menschen in der Metro zum anderen. Spannende Dialoge mit einer Freundin fordern ihn heraus: Können Bilder vom Leiden der Kriegsopfer überhaupt deren Erfahrung vermitteln? Und können sie bei den Betrachtern eine Verhaltensänderung bewirken? Metelmann erläutert, dass diese Fotoserien tatsächlich von einem real existierenden Fotografen gemacht wurden, hier im Film aber in einem anderen Kontext verwendet werden – was unterstreicht, wie sehr Bildinterpretationen vom Wissen um ihren Entstehungskontext abhängig sind. Haneke gehe es allerdings, so Metelmann, nicht eigentlich um den Referenzcharakter der Fotos, sondern um die vermeintliche Evidenz des So-gewesen-Seins in ethischer Hinsicht. Zwei theoretische Rahmungen – Fotografie und »die Bilderflut« sowie Fotografie als »illegitime Kunst« – führen zur Frage nach den Bildgebrauchsweisen hin: Einem Vorschlag von Cornelia Klinger folgend, schlägt der Autor eine Dreiteilung der Bildpraktiken entlang der Trias »Flucht, Trost, Revolte« vor und illustriert diese anhand des Films. Er schließt mit der These, dass diese drei möglichen, allerdings nicht-exklusiven Umgangsweisen mit Fotos auch für die von W. J. T. Mitchell ausgerufene »post-fotografische Ära« gelten.
Dritter Teil: Auseinandersetzungen mit Fotos Es folgen nun verschiedene Auseinandersetzungen mit Fotografien. Auf der Grundlage einer soziologischen Theorie der Ästhetik wird zunächst das Potenzial gewisser Kunstwerke und ihrer sequenziellen Gruppierung erörtert, die eingespielten kulturellen Sehweisen zu irritieren bzw. zu dekonstruieren und damit die visuelle Wahrnehmung hin zu »sehendem Sehen« zu erweitern. Sodann wird am Beispiel eines Pressefotos argumentiert, dass dessen Analyse sich nicht an der Tradition kunstwissenschaftlicher Deutung orientieren, sondern vielmehr auf die Kommunikationshandlungen fokussieren sollte: auf die Kamerahandlung einerseits und die Handlung vor der Kamera andererseits. Pressebilder – so die The-
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se – werden nicht von Künstlern, sondern von einem korporierten Akteur produziert, und sie bilden auch einen (visuellen) Diskursbeitrag. Ob dies indessen überhaupt möglich ist, wird im nachfolgenden Beitrag diskutiert: Kann es sowas wie »visuelle Diskurse« geben, wie derzeit immer öfter proklamiert wird, oder sind Diskurse nicht doch genuin an Sprachlichkeit gebunden? Dass Fotografien Diskurse eigenständig bereichern können, wird jedoch von vielen konzediert. Wie Fotografien auch als Medium des Gedächtnisses und zur Verarbeitung von Traumata wirken können, ist Thema eines weiteren Beitrags. Anschließend wird am Beispiel der Techno-Imagination diskutiert, welchen Beitrag Vilém Flussers an die hermeneutische Wissenssoziologie leisten kann: Sind Verschriftlichung und Vertextung wirklich adäquate Verfahren für Bildanalysen, oder müsste nicht direkter an der Symbolebene angesetzt und eine eigene Interpretationssprache entwickelt werden? Für »Selfies« ist dies nicht ein besonderes Problem, denn im Gegensatz zum klassischen Porträt zeichnet sie gerade ihre mediale Distribution und die Anschlusskommunikation auf Social media in Form von Likes und Kommentaren aus. Da die große Mehrheit der Fotografien, denen man im Alltag begegnet, Werbebilder sind, werden diese ebenfalls in einem eigenen Beitrag untersucht. Hans-Georg Soeffner eröffnet diesen Teil mit seinem anspruchsvollen Beitrag Bilder des Unsichtbaren. Hermeneutik und Wahrnehmung. Den theoretischen Hintergrund dazu bilden seine Überlegungen zu einer soziologischen Theorie der Ästhetik. Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass unsere Wahrnehmung geprägt ist von Sehgewohnheiten, deren Entstehung wir im Akt der Wahrnehmung nicht mehr im Blick haben. Während unserer primären visuellen Wahrnehmungsschulung haben wir gelernt, etwas im Licht der Gestirne »gegenständlich« wahrzunehmen, und wir kennen auch die Abhängigkeit der Wahrnehmung von Licht, Belichtung und Dunkelheit. Die Wahrnehmungsweisen wurden immer wieder an neue Techniken und Medien angepasst, sei es ans künstliche Licht, oder sei es an die Fotografie, die uns lange Zeit die üblicherweise farbige Welt in Form von Schwarz-Weiß-Kontrasten präsentierte. So haben sich auch bezüglich der Wahrnehmung von Fotografien bald Routinen herausgebildet. Diese Sehgewohnheiten versperren nun aber gerade eine reflektierte Rekonstruktion des strukturell gegebenen Appräsentationspotenzials von Einzelbildern, das durch Serialität, konstitutive Leerstellen und Leerstellenpositionierung zwischen den einzelnen Bildern noch gesteigert werden kann. Soeffner interessiert sich daher vor allem für das Irritationspotenzial der Werke von Künstlern, die die eingespielten Sehgewohnheiten derart dekonstruieren, dass der (reflexive) Betrachter sein »wiedererkennendes Sehen« systematisch um das »sehende Sehen« ergänzt. Seine These lautet, dass sich das strukturell gegebene Appräsentationspotenzial prinzipiell in jeder Fotografie und bei jeder Bildserie rekonstruieren lässt. Als Demonstrationsbeispiel wählt er zum einen Ausschnitte aus dem Werk Hiroshi Sugimotos, der – geleitet von »inneren Frage-Antwort-Sitzungen« – eine Reihe fotografischer Experimente durchführte, die das »Sehen wie immer« durch gezielte Irritation auf brechen sollten. Zur Veranschau-
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lichung seiner These benutzt Soeffner auch das (in diesem Text bereits besprochene) Verfahren der sequenziellen Gruppierung von Bildern, die sich, so Soeffner, »einander teilweise zitierend, sprachfrei – appräsentativ – selbst fortzuspinnen und zu kommentieren scheinen«. Durch sein Arrangement von Bildkompositionen Hiroshi Sugimotos, Caspar David Friedrichs, Gustave le Grays und Gerhard Richters setzt er einen visuellen Selbstkommentierungsprozess in Gang und entwirft einen beweglichen Horizont für Appräsentationsmetamorphosen. Dadurch wird eine Fülle von Einsichten generiert, die sich auf fotografische Zeit und fotografierte Zeiten, auf fotografische Räume und die Relation von Bewegung und Raum-Zeit-Kontinua beziehen. Soeffner weist abschließend Hans Ulrich Gumbrechts These von der Unmittelbarkeit des sinnlich präsentisch Gegebenen und damit vom »Scheitern der Hermeneutik« dezidiert zurück – gerade Sugimotos Kunstlehre der fotografischen Wahrnehmung und Imagination sowie seine Irritationsexperimente zeigen eindrücklich, dass menschliche Wahrnehmung immer auf »primordialen« Wahrnehmungsmodi beruht und auch immer mit Erinnerung verknüpft ist; damit verweisen sie auf das »anthropologische Gesetz der vermittelten Unmittelbarkeit« und damit den Ursprung der Hermeneutik. Einen anderen Akzent setzen Jo Reichertz und Sylvia Marlene Wilz mit ihrem Beitrag Ein amerikanischer Held in Zeiten moderner Technik: das Wunder vom Hudson. Sie kritisieren, dass sozialwissenschaftliche Bildanalysen sich zu stark an den Traditionen der kunstwissenschaftlichen Deutung orientieren – selbst dort, wo es sich nicht um Produkte eines künstlerischen Schaffensprozesses handelt; dadurch werde der Handlungscharakter des bildlichen Ausdrucks viel zu wenig beachtet. Professionelle Fotos können heutzutage nicht aus den Intentionen eines einzelnen Fotografen heraus interpretiert werden, denn an ihrer Produktion sind in der Regel viele verschiedene, arbeitsteilig kooperierende Personen beteiligt, so dass man besser von einem »korporierten Akteur« sprechen sollte. Bei Bildern tauchen Kommunikationshandlungen auf zwei Ebenen auf: als auf dem Foto gezeigte Handlung und als mit dem Foto gezeigte Handlung des Zeigens. Beide müssen gesondert erhoben und analysiert werden, ehe man eine integrierende Gesamtinterpretation versucht. Die Autoren illustrieren diese Art Analyse am Beispiel eines Fotos des Flugkapitäns Chesley B. Sullenberger, der eine erfolgreiche Notlandung auf dem Hudson River durchführte und in den Medien darauf als »Held vom Hudson« gefeiert wurde. Gemäß den Prinzipien der hermeneutischen wissenssoziologischen Bildanalyse verfertigten Reichertz und Wilz eine Partitur jedes dieser Handlungstypen und entwickelten dadurch eine Gesamtpartitur, ein formalisiertes Protokoll der Beobachtung des Bildes, das im Laufe weiterführender »Befragungen« des Bildes immer weiter verfeinert wurde. Sukzessive führen sie durch die einzelnen Interpretationsschritte, die sie erst zu zweit und später in Gruppen vornahmen, und erörtern dabei auch unterschiedliche Lesarten. Schließlich stellen sie einen Bezug her zu übergreifenden Diskursen und kommen zum Schluss, dass das Foto
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selbst einen (visuellen) Diskursbeitrag bildet – nämlich zur Konstruktion amerikanischer Helden in Zeiten moderner Technik. Indes: Kann eine Fotografie einen Diskursbeitrag bilden? Mit dieser Frage beschäftigen sich Angelika Poferl und Reiner Keller in ihrem Beitrag Die Wahrheit der Bilder. In einer kontradiktorisch anmutenden Darstellung vertreten sie zunächst die These, dass es einen visuellen Diskurs nicht gibt, auch wenn dies in der diskursorientierten Literatur zunehmend behauptet werde. Daraufhin präsentieren sie die Gegenthese, dass Bilder zwar nicht »für sich« sprechen, aber dennoch »Wahrheit« in Form eines bildgestifteten Sinnzusammenhangs produzieren. Bei näherer Betrachtung erweisen sich die beiden Thesen allerdings als miteinander verbunden. Die Proklamation, sich mehr mit visuellen Diskursen bzw. Bilddiskursen zu beschäftigen, geht in der Regel mit der Kritik an der Sprach- und Textlastigkeit der sozialwissenschaftlichen Diskursforschung einher. Poferl und Keller unterscheiden drei unterschiedliche Redeweisen, anhand derer sie ihre erste These erörtern: Diskursanalysen, die auch Bilder miteinbeziehen (wie schon Michel Foucault); visuelle Diskursanalysen, die sich nur auf ein Bilderkorpus beziehen, z. B. Luftaufnahmen von Städten; und schließlich Karin Knorr Cetinas Begriff des »Viskurses«, der die dominante Bedeutung und Eigendynamik visueller Materialien in der naturwissenschaftlichen Forschung hervorhebt. Die beiden Autoren anerkennen, dass eine Bildrezeption vor- und nichtsprachliches Erleben impliziert und eine Bildanalyse bildspezifische Interpretationstechniken erfordert. Dennoch: Reine Bilddiskurse gibt es nicht, die Aussagen eines Bildes müssen versprachlicht werden und bedürfen einer diskursiven Strukturierung. Mit ihrer zweiten These postulieren Poferl und Keller indes, dass eine »Wahrheit« der Bilder existiert, obwohl jede fotografische Aufnahme zum einen interpretationsbedürftig ist und zum anderen die Realität überformt. Wie die dokumentarische Fotografie belegt, kann mit Fotos etwas gezeigt und gleichzeitig auch bezeugt werden: So haben sich die Dinge ereignet und der Fotograf war anwesend. Anhand eines konkreten Fotos illustrieren sie, dass die »Wahrheit« eines Bildes in seiner Materialität und in der Wider ständigkeit des abgebildeten Gegenstandes äußert; es lassen sich objektivierende Elemente aufzeigen, die der subjektiven Perspektivität Grenzen auferlegen. Nur dank dieses Bedeutungskerns gelingt es, vom Bild zu Aussagen zu gelangen. In ihrem Beitrag Ist ein Foto »nur ein Foto«? betrachtet Anna Lisa Tota die Fotografie als Medium des Gedächtnisses, und zwar sowohl in Bezug auf das Familiengedächtnis als auch das öffentliche Gedächtnis. Dabei interessiert sie sich insbesondere für die Funktion von Fotos für die Verarbeitung von Traumata. Auch sie betont, dass die Bedeutung einer Fotografie sowohl von der subjektiven Perspektive des Fotografen als auch von der subjektiven Rezeption der Beobachter abhängt, dass das Dargestellte aber nicht einfach »nur subjektiv« sei. Die Fotografie, wie auch die Erinnerung, funktionieren semiotisch wie eine Synekdoche; d. h. sie sind immer partiell, werden von Rezipienten aber oft mit der Ganzheit verwechselt. Bilder haben eine höhere Kapazität, als »real« zu gelten, als Worte. Und
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je weiter des Fotografierte in der Vergangenheit zurückliegt, desto eher wird ein Foto mit der (»objektiven«) Realität verwechselt. Fotografien haben daher – so die These der Autorin – eine besondere Kraft, ideologische Inhalte zu vermitteln, weil sie die Perzeption der Realität stark manipulieren können. Besonders fotografische Darstellungen von traumatischen Ereignissen haben viele ethische und politische Implikationen. Anhand dreier Studien illustriert sie die Rolle der Fotografie als Medium der Objektivation einer bestimmten Wirklichkeitsdarstellung in der Tradition der Memory Studies – Fotos des Holocausts und die »about-to-die photos« von den Twin Towers am »September 11« – und zeigt, welche Veränderungen die fotografische Darstellung von Traumata in der öffentlichen Wahrnehmung ermöglichten. Fotos haben eine transformative Kapazität: Sie wirken nicht nur als Vehikel des kollektiven Leidens, sondern bieten auch Gelegenheit für die kollektive Verarbeitung eines Traumas. Dies gilt sowohl fürs individuelle als auch fürs Familiengedächtnis, wo Fotoalben bei späterer Betrachtung eine neue Sichtweise und eine Neu-Bewertung familiärer Traumata ermöglichen. Und es gilt gleichermaßen fürs öffentliche Gedächtnis, bei dem Fotografien – von Brandts Kniefall, vom Vietnam Veterans Memorial, vom September 11 Memorial – uns allen noch heutzutage Gelegenheit bieten, in der Gegenwart die Vergangenheit zu transformieren. Mit Vilém Flussers Anregungen zur kreativen Interpretation von Technobildern befasst sich der Beitrag Techno-Imagination von Oliver Bidlo und Norbert Schröer. Flusser kritisiert den naiven Umgang mit Technobildern, deren Urform die Fotografie ist, und diese Kritik trifft auch die qualitative Sozialforschung. Daher gehen die beiden Autoren der Frage nach, welchen Beitrag Flusser an die hermeneutische Wissenssoziologie leisten kann. Zunächst geben sie einen Abriss der Flusserschen Kulturhistorie zur Phasierung des kommunikativen Codes: Zuerst entstand das (gezeichnete) Bild, dann kam die Schrift, und schließlich folgten die Technobilder (mit Hilfe von Apparaten). Allen liegt die menschliche Vorstellungskraft zugrunde, die Fähigkeit zu imaginieren. Nach Flusser bedarf es nun besonderer Kompetenzen, bei der Interpretation von Technobildern den Zusammenhang von Begriff und dessen objektiver Bebilderung zu erfassen. Die Analyse kann zum einen in einer ideologischen Dekonstruktion bestehen, um Begriffsbilder zu entlarven und Manipulationen zu erkennen; oder zum anderen in einer kreativ innovativen Dekonstruktion, um neue Seh- und Lebensgewohnheiten zu entdecken und damit das Möglichkeitspotenzial an Sinnsetzungen für die Gesellschaft zu erweitern. Die beiden Autoren kontrastieren diese Überlegungen mit einem etablierten Verfahren der hermeneutischen Wissenssoziologie, das Jo Reichertz am Beispiel des Benetton-Werbeplakats ›Der sterbende David Kirby‹ entwickelt hat. Reichertz grenzt sich dort vom Verfahren der Objektiven Hermeneutik ab, weil diese von der Annahme einer Strukturgleichheit von Text und Bild ausgeht. Für die Bildanalyse wählt aber auch Reichertz das Verfahren der Schriftlichkeit, indem ein Beobachtungsprotokoll der Bildbetrachtung erstellt wird. Das Bild wird also in einen neuen Code, in einen Text
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überführt, der sequenziell-linear organisiert ist und damit einer anderen Logik folgt. Wie bereits dargelegt, unterscheidet Reichertz dabei die Handlung vor der Kamera von der Kamerahandlung, die im vorliegenden Fall des sterbenden Aids-Kranken stilisiert ist und an zwei bekannte ikonografische Topoi der abendländischen Symbolwelt anschließt. Bidlo und Schröer nehmen nun Flussers Überlegungen zur Fotointerpretation und Techno-Imagination auf und stellen einige kritische Fragen zum diesem methodischen Vorgehen: Sind Verschriftlichung und Vertextung wirklich adäquate Verfahren für Bildanalysen? Müsste nicht viel direkter bei ihrer eigensinnigen Symbolebene angesetzt und eine eigene Interpretationssprache entwickelt werden, wie Flusser vorschlägt? Eine Auseinandersetzung anderer Art folgt im Beitrag von Klaus Neumann-Braun zum Thema ›Selfies‹ oder: kein fotografisches Selbstporträt ohne den anderen. Selbstporträts gab es schon immer, auch schon vor der Erfindung der Fotografie. Was die heutigen Selfies auszeichnet, ist ihre Distribution und Folgekommunikation – also der soziale Bildgebrauch. Der Autor geht zunächst den Inszenierungsarten nach: Die Posen der Selfies sind längst standardisiert und konventionalisiert, »strike a pose« bildet die Handlungsanleitung, die Fotos werden geschönt, die Identität maskiert, und um sich auf dem Markt der Aufmerksamkeit zu behaupten werden auch Grenzen zum Privaten und Intimen immer mehr verschoben. Entscheidend bei Selfies ist vor allem die Anschlusskommunikation in Form von Likes und Kommentaren; Selfies implizieren daher einen Appell zur Kommunikation. Fotograf und Rückmeldende bilden ein glokales Peer Review System, Freundschaften werden ins Netz hinein verlängert. Während Freunde meist um die Entstehungskontexte der Fotos wissen, werden die Bilder im globalen Netz dekontextualisiert und beziehungslos rezipiert, was nicht selten zu sog. Shit Storms führt. Abschließend schlägt Neumann-Braun den Bogen von Selfies zum neoliberalen Selbst: Das Internet und die Social Network Sites propagieren eine neoliberale Identitätstechnologie: kontinuierliche Identitätsbastelei als Produkt-, Marken- oder Imagepflege; Flexibilitätserfordernis angesichts rasch wechselnder Rahmen (von Seiten der Plattformen); erfolgreiche Platzierung auf dem Markt der globalen Aufmerksamkeit (Rankingplätze). Die permanente Selbstobjektivierung normalisiert sich, und die Akteure bemühen sich mit ihren Selfies um Akzeptanz, weshalb sie marktkonformen Inszenierungsstrategien folgen. Ausgiebig mit der Werbefotografie befasst sich Manfred Prisching in seinem Beitrag Die Sichtbarmachung des Soziologischen. Bei Interpretationen von Fotos liegt das Schwergewicht meist auf dokumentarischen und künstlerischen Materialien: Reportage-Bilder, die selektive und ästhetisch auf bereitete Darstellungen von »Wirklichkeitspartikeln« darbieten, und künstlerische Bilder, die man dank ihrer Zweckfreiheit als in sich ruhendes Objekt bewundern kann und deren Interpretation eine besondere ästhetische Kompetenz voraussetzt. Praktisch-empirisch gesehen, sind indes – so Prisching – mehr als 90 Prozent der Bilder, denen wir in unserem Alltag begegnen, Werbebilder. Unter Verweis auf viele Beispiele aus
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der Werbung und mit speziellem Fokus auf zwei Bildwerbungen arbeitet er vier soziologische Zugangsweisen heraus. Erstens steckt in jeder Werbung bereits eine (Proto-)Soziologie der Werbe-Designer: Sie müssen Zielgruppen- und Milieuanalysen vornehmen, beim anvisierten Publikum Resonanz auslösen, also die Wünsche, Träume, Normen und Visionen der Bildbetrachter kennen und diese zur Anschlusshandlung »Kaufen« animieren. Sie arbeiten mit viel größeren Samples als Soziologen und erhalten über die Verkaufszahlen rasches Feedback, ob ihre Diagnosen richtig waren. Eine zweite Zugangsweise ist die professionelle soziologische Analyse, die ganz unterschiedliche Fragestellungen verfolgen kann. So vermitteln Werbebilder beispielsweise normative Standards, wie Schönheitsideale und ansprechende Posen, die – wie im vorangegangenen Beitrag herausgestellt – in Selfies, die in sozialen Netzwerken zirkulieren, imitiert werden. Aufschlussreich ist aber auch die Vielfalt unterschiedlicher Werbearten. So gibt es sehr banale Werbungen, wie etwa Informationsbroschüren, Werbungen mittlerer Komplexität, wie etwa die Modefotografie, und auch echt komplizierte Werbebilder, wo sehr viel Interpretationsarbeit vorausgesetzt wird, um sie zu entschlüsseln (etwa die Image-Werbung von Benetton in den 1990er Jahren). Als dritte Zugangsweise fokussiert der Autor schließlich das künstlerische Werbebild, exemplifiziert an einem Beispiel der Diesel-Werbung ›live fast‹, das viele Lesarten erlaubt und für deren Interpretation daher ganz unterschiedliche Wissensbestände aktiviert werden können: soziologische Ideengeschichte, Literatur und Mythos, Zeitdiagnose oder Tiefenpsychologie. Selbstreflexiv verweist Prisching abschließend auf eine vierte Zugangsweise – die Problematik, Werbebilder zur Illustration soziologischer Botschaften zu verwenden.
Vierter Teil: Beiträge zur Theorie der Fotografie In diesem Teil geht es vorwiegend um Themen im Schnittpunkt von Phänomenologie und visueller Wissenssoziologie. Der erste Beitrag nimmt eine soziologische Perspektive ein und geht nicht von einer Phänomenologie des Sehens aus, sondern vom Sehen als Form kommunikativen Handelns, das auch empirisch beobachtet werden kann: Wir sehen das Sehen der Anderen. Während diese Überlegungen bezüglich Fotografie sehr im Grundsätzlichen bleiben, erläutert der nächste Beitrag eine wissenssoziologisch-hermeneutische Konstellationsanalyse von Fotografien, die die Bildinterpretation nicht sogleich bei den sozialen Kontexten ansetzt, sondern zunächst die materiale Ausdrucks- und Darstellungsgestalt des Bildes mittels einer »pikturalen Epoché« analysiert. Ebenfalls mit einer Parallelaktion von Phänomenologie und Soziologie entwirft der folgende Beitrag eine Rezeptionsästhetik der Fotografie auf der Basis der Handlungstheorie von Alfred Schütz. Darauf wird mit Rekurs auf Husserl der Unterschied zwischen Semiosis und Typenbildung erklärt und betont, dass Fotografien nicht aus Zeichen bestehen, sondern dass ihre Sinnbezüge asemiotischen Charakter haben und auf der Ebene der präreflexiven Typenbildung zu suchen sind; sequenzanalytische Verfahren der Vertextung
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implizieren daher komplizierte Übersetzungsverhältnisse, die sorgfältig beachtet werden müssen. Im letzten Beitrag schließlich wird Fotografie wieder als Kommunikation verstanden; von einem systemtheoretischen Standpunkt aus wird aufgezeigt, wie Fotografie als Phänomenologie des Blicks und des Blickens kommuniziert. Hubert Knoblauch eröffnet diesen Teil mit seinem Beitrag Sehen als kommunikatives Handeln und die Fotografie. Es geht dabei nicht um den subjektiven Akt des Sehens aus der Perspektive des Sehenden, wie bei einer Phänomenologie des Sehens, sondern vielmehr um die Frage, wie wir das Sehen der Anderen sehen. Sehen ist – so die These – eine Form sozialen Handelns und impliziert stets eine Form der Kommunikation. Die Sozialität des Sehens wurde schon von vielen Autoren hervorgehoben – etwa von Simmel, Plessner, Cooley, Sartre, Goffman, Soeffner – und in unterschiedlichen Facetten beleuchtet. Nach diesem Exkurs in die Literatur zeigt Knoblauch an selbst erhobenem empirischem Material, dass das Sehen auch dann ein kommunikatives Handeln ist, wenn die Akteure sich unbeobachtet fühlen: Sie machen ihr Sehen für Andere erkennbar. Anhand von Standbildern aus einer Videosequenz wird das Sehen eines gehenden Mannes im Detail dargestellt. Daran wird erkennbar, dass wir als Beobachter das Sehen der Anderen erkennen können, und zwar nicht nur an der Blickrichtung, sondern auch an andern körperlichen Merkmalen, wie Kopfwendung, Gang oder Gesichtsformation. Das sichtbare Sehen funktioniert – so Knoblauch – wie eine soziale Deixis, die die Dreigliedrigkeit des Sehens deutlich macht: Das gesehene Sehen der Anderen verweist auf das Wahrnehmen eines Subjekts, auf das Wahrnehmen durch ein anderes Subjekt sowie auf etwas, das wahrgenommen wird. Während Karl Bühler diese Dimensionen als Aspekte des Zeichens betrachtete, werden sie hier als Aspekte des körperlichen Vollzugs kommunikativer Handlungen angesehen, die sich im Handlungsprozess einstellen. Der Körper als Medium der Vermittlung zu anderen Handelnden ist deswegen die zentrale »Stabilisierung« von Gesellschaft, die durch Institutionen und technische Gerätschaften erweitert wird. Die Fotografie gehört zu dieser zweiten, technischen Art der Stabilisierung. Die deiktische Funktion der Fotoapparate muss erst noch untersucht werden – zentral sind aber die Umgangsweisen der Fotografen mit ihren Kameras und ihre imaginären, »sehtechnisch« geschulten Vorentwürfe der Bilder (ihr apparativ erweitertes Sehen und ihre Motivauswahl). Die Hauptsache des Fotografierens besteht nach Knoblauch nicht in der materialisierten Objektivierung, sondern Fotografieren ist vor allem eine mediatisierte Form des kommunikativen Handelns. Den Zusammenhang von Fotografie und Phänomenologie ergründet Jürgen Raab in seinem Beitrag Zur Methodologie einer wissenssoziologischen Konstellationsanalyse. Er stellt fest, dass die Wissenssoziologie sich gegenüber methodischen Vorschlägen zur Auslegung fotografischer Einzelbilder und Bildfolgen nach wie vor zurückhaltend verhält und Fotografien noch mehrheitlich als Epiphänomene des Sozialen betrachtet. Sie zieht es noch immer vor, den sozialen Sinn und die Kulturbedeutung von Fotos
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nicht aus diesen selbst, sondern aus den Kontexten ihrer Produktion und Vermittlung, ihrer Rezeption und Verwendung zu erschließen. Das Ziel von Raabs Beitrag ist es daher, erste Überlegungen zu einer wissenssoziologisch-hermeneutischen Konstellationsanalyse der Fotografie vorzustellen, welche Fotografien als eigenlogische, Sinn und Bedeutung konstituierende symbolische Formen visuellen Handelns begreift, sie aber auch im Licht verschiedener Kontextbezüge analysiert. Warum ragen aus der Masse der Bilder einige wenige heraus, deren bestechende Bildwirkung uns betroffen macht und die aufgrund ihrer magischen oder charismatischen Eigenschaften oft zu Ikonen überhöht werden? In ihnen zeigt sich nach Roland Barthes das Wesen der Fotografie, das punctum, das Noema des »Es-ist-so-gewesen«. Raabs These lautet, dass dies nicht allein auf die Kontexte zurückführbar ist, sondern untrennbar an die materiale Existenz und die Bedeutung generierende Ausdrucks- und Darstellungsgestalt einer Fotografie gebunden ist. Daher verfolgt die wissenssoziologische Konstellationsanalyse eine Parallelaktion von Phänomenologie und Soziologie. Der Autor verweist auf Husserls drei Appräsentationsbeziehungen, die Schütz um eine vierte, die symbolische Appräsentation, ergänzte, rekurriert auf die bildphänomenologischen und bildhermeneutischen Zugänge von Konrad Fiedler über Max Imdahl bis zu Gottfried Boehm und empfiehlt wie Bernard Waldenfels eine »pikturale Epoché«, die ein »sehendes Sehen« ermöglicht. Danach skizziert Raab die Grundzüge seiner wissenssoziologischen Konstellationsanalyse fotografischer Bilder: Zunächst werden, vom Rahmen ausgehend, die formalen Sichtbarkeitsordnungen im Einzelbild rekonstruiert (Feldliniensystem), dann die unmittelbaren und mittelbaren Bildkontexte, und schließlich werden auch Sozialmilieu und Handlungshorizont in die Analyse miteinbezogen. Fotografie im Grenzbereich von Phänomenologie und Soziologie bildet auch das Thema des Beitrags von Jochen Dreher. In seinem Versuch über eine Rezeptionsästhetik der Fotografie befasst er sich mit der Konstruktion und Konstitution des fotografischen Bildes. Während der Konstruktionsbegriff gemäß Luckmann die konkrete, sozio-historisch festgelegte ästhetische Produktion und Rezeption des fotografischen Bildes ins Auge fasst, versucht die phänomenologische Analyse der Konstitution der Fotografie die Grundlagen von Sinnsetzung und Sinndeutung zu beschreiben. Nach Dreher entsteht die Sinnhaftigkeit des fotografischen Bildes in der triadischen Beziehung zwischen den Intentionen des Fotografen als Autor, der Fotografie als ästhetischem Produkt dieser Intention sowie dem Rezipienten, dem Bildbetrachter. Er wendet sich also gegen eine Rezeptionsästhetik, die die gestalterische Leistung des Fotografen in ihrer Deutung unberücksichtigt lässt. Vielmehr gilt es die Rezeptionsästhetik mit der Produktionsästhetik, also die Sinndeutung mit der Sinnsetzung zu verbinden, wofür sich die phänomenologisch begründete Handlungstheorie von Alfred Schutz als äußerst fruchtbar erweist. Fotografien sind soziale Produkte, die – so Dreher – als ästhetische betrachtet werden müssen: Das fotografische Handeln findet zwar in der pragmatischen Wirkwelt des Alltags statt, es nimmt aber auch eine ästhetische Modifikation des
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Alltagslebens vor. Dies zeigt sich besonders deutlich bei einem fotografischen Kunstwerk, das eine symbolische Wirklichkeit etabliert und beim Rezipienten eine ästhetische Einstellung erzeugen will. Gilt dies auch für das »Knipserbild«? Der Autor verfeinert seine Argumentation, indem er vier Typen des fotografischen Bildes unterscheidet: Das »Knipserbild« bzw. den Schnappschuss, Kunstfotografien, Abstrakte Fotografie (als spezifische Form der Kunstfotografie) und die ikonische Fotografie. Entlang dieser Typologie zeigt Dreher, dass an der Wirkungsweise einer Fotografie immer ein Zusammenspiel von Sinngebung und Sinndeutung beteiligt ist – dass der Fotograf aber unterschiedliche Abstufungen der Intentionalität in die Fotografie einbringt. In seinem Beitrag Typus, Zeichen und Bildpräsenz prüft Ilja Srubar, welcher der phänomenologischen Wege uns beim Thema »Phänomenologie und Fotografie« zu der »Sache selbst« führen kann. Auch er geht von der kommunikativen Trias von Produzent, Bild und Rezipient aus und will den Prozess der Sinnkonstitution weiter aufschlüsseln. Unter Rekurs auf Edmund Husserl erläutert er den Unterschied von Semiosis und Typenbildung und erklärt, warum die Phänomenologen im Bild etwas anderes als Zeichen sehen. Zum einen müssen Zeichen von Anzeichen unterschieden werden. Zum anderen weisen sie beide auf ihnen zugrundeliegende sinnstiftende Konstitutionsprozesse hin. Diese bestehen in Akten des Typisierens, die die materiale Sinnstruktur der Lebenswelt ausmachen, in der die Selbstgegebenheit von etwas als etwas verankert ist. Noch vor jeglicher Symbolisierung oder begrifflicher Explikation des Wahrgenommenen setzt diese Typenbildung als »passive Vorkonstruktion« des Realen präreflexiv ein und konstituiert einen Horizont der Vorbekanntheit. Die Identität des Typisierten wird durch seine materiale Struktur bestimmt und von einem wahrnehmenden und handelnden Leib monothetisch als Einheit erlebt. Anhand eines konkreten Beispiels wendet sich Srubar nun dem Problem der Bildpräsenz zu und betont ihre synchrone Simultaneität, ihre Gegebenheit durch leibliches Sehen sowie die Verankerung ihrer Regelhaftigkeit in der Struktur der Typik. Dies gilt ebenso für die Fotografie. Da das in Fotos Vergegenwärtigte nicht Resultat eines Zeichengebrauchs, sondern eines physikalisch-chemischen Prozesses ist, wird ihr asemiotischer Charakter sogar noch deutlicher. Vor dem Hintergrund dieser Erörterungen wird die Adäquanz sequenzieller Verfahren der Analyse stehender Bilder grundsätzlich in Frage gestellt, sowohl was die Blickabfolge der Bildbetrachtung als auch was deren Vertextung in Form von Protokollen betrifft. Allerdings gebe es Verfahren, die mit der phänomenologischen Sicht der Bildpräsenz in Vielem kompatibel sei, wie z. B. der dokumentarische Ansatz. Für Srubar ist zentral, dass der asemiotische Charakter der im Bild sichtbaren Sinnbezüge und deren Autonomie beachtet werden. Vertextet man die Analyse, müssen die komplexen Übersetzungsverhältnisse sorgfältig beachtet werden. Anschlussmöglichkeiten an die Soziologie sieht er darin, der Regelhaftigkeit der Bildpräsenz in ihrer Typik nachzuspüren, indem das Sichtbare des Bildes auf Darstellungswei-
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sen und Diskurse verweist, die jenseits des Bildes liegen und bei Bildproduzenten und Bildrezipienten im Habitus (Bourdieu) inkorporiert sind. In seinem Beitrag Das Lichtspiel der Fotografie als Phänomenologie des Blicks geht Achim Brosziewski der Frage nach, wie Fotografie als Kommunikation funktioniert. Seine These lautet, Fotografie kommuniziere als Phänomenologie des Blicks und des Blickens. Der Autor kritisiert die bisherige erkenntnistheoretische Tradition, weil sie Erkenntnis durchwegs nach dem Modell des Sehens konstruierte. Als alternativen Ausgangspunkt wählt er die Systemtheorie und unterscheidet zwischen Wahrnehmung und Kommunikation. Sehen erhält damit einen eingeschränkten, definierbaren Sinn und bedeutet ausschließlich Formbildung im Wahrnehmungsmedium des Lichts. Licht ist ein Medium, weil es Kopplungen des Unterschieds von Hell und Dunkel zulässt. Der Blick und das Blicken sind die operativen Seiten des Sehens und können, da sie Gehirnaktivitäten voraussetzen, nur von einem Betrachter vollzogen werden – Fotokameras können weder blicken noch sehen. Blicken und Sehen im Medium des Lichts funktionieren nur als Reduktion auf das Sichtbare; andere Wahrnehmungsmedien, die über Hören, Riechen, Schmecken oder Spüren Informationen geben könnten, müssen indifferent gehalten – und dürfen erst in einem zweiten Schritt zum Sichtbaren in Bezug gesetzt werden. Kommunikation ist auf Wahrnehmungen angewiesen, kann aber selbst nicht wahrnehmen, also auch nicht sehen – es kann das Blicken nur bezeichnen. Brosziewski verweist nun auf Husserls Methode der epoché und fordert einen asketischen Umgang mit Blickbezeichnungen der Kommunikation, damit das Blicken selbst exploriert werden kann: »Nur soweit es der Fotografie gelingt, soziale Blickregeln zu stornieren, arbeitet sie als Phänomenologie des Blickens.« Die Phänomenologie der Fotografie startet mit ihrer epoché, indem sie diese Regeln ausklammert und die Objekte dem Blick allein ausstellt. Mit Bezugnahme auf die Theorie der Fotografie werden nun drei verschiedene Blickpunkte näher analysiert: Erstens die Blickposition des Fotografen, zweitens die Blickposition des Betrachters, und drittens die Blickposition der fotografierten Person, welche die Differenz von blickenden und nicht-blickenden Objekten in die Fotografie und ihr Objektarrangement einführt und diese Differenz sichtbar macht. Diese drei Blickpositionen konstituieren sich durch die Spiele des Lichts selbst; sie sind unterschiedlich, indes unentscheidbar – weshalb es sich hier um Kommunikation handeln muss.
Fünfter Teil: Abschlussmeditation Überblickt man das vorliegende Buch, so fällt auf, dass zwar oft der asemiotische Charakter von Fotografien, ihre simultane Gegebenheitsweise und der monothetische Blickstrahl des sinnkonstituierenden Betrachters hervorgehoben wurden. Sequenzielle Verfahren der Bildhermeneutik wurden zwar verschiedentlich appliziert, häufig aber auch kritisiert. Trotzdem besteht auch dieses Buch primär aus Texten, die in sequenzieller Linearität über Bilder, ihre Herstellung, ihre Interpretation und verschiedene
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Weisen der Auseinandersetzung mit Fotos berichten sowie fototheoretische Reflexionen beinhalten. Die eingestreuten Fotografien dienen primär der Illustration der sprachlichen Argumentation und sprechen nicht für sich selbst. Nicht ohne Grund sind die Sozialwissenschaften nach wie vor primär Textwissenschaften, auch wenn sich in diesem Buch zahlreiche Anregungen finden lassen, alternative Wege zu beschreiten. In ihren »Momentaufnahmen der Reflexion« gehen Bernard Lange rock und Hermann Schmitz einen anderen Weg. Der Fotograf Langerock verwendet Schlüsselaussagen der vom Philosophen Schmitz begründeten »Neuen Phänomenologie« und arrangiert »Gegenüberstellungen« mit seinen Fotografien. Es sind also diesmal nicht Fotografien, die in Texten kommentiert werden, sondern umgekehrt Texte, die mit Fotografien kommentiert werden. Diese Gegenüberstellungen bilden eine Abschlussmeditation, weil einem bei der Betrachtung der Fotos vieles wieder einfällt, was man im vorliegenden Buch an verbal formulierten Argumenten gelesen hat, und weil die Bilder dem Betrachter auch mit dem Anspruch auf Eigenwert, Selbständigkeit und eine autonome Bildbotschaft mit pikturaler Logik entgegentreten. Diese Fotografien sind daher nicht einfach nur Illustrationen von Schmitz’ Kurztexten, sondern treten mit ihnen in wechselseitige Interaktion, erzeugen Spannung sowie ein mannigfaltiges kommunikatives Wechselspiel, in dem beide einerseits selbständig sind, andererseits einander auch referenzieren. Es wäre verfehlt, dieses Wechselspiel einseitig verbal zu reflektieren – Fotografien muss man betrachten und sie auf sich wirken lassen.
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Erster Teil: Fotografieren
Fotografisches Handeln Subjektive Überformung von fotografischen Repräsentationen der Wirklichkeit Nina Baur und Patrik Budenz
D ie D ifferenz z wischen B ild und W irklichkeit und die R olle der S ubjek tivität des F otogr afen Nicht nur in der Lebenswelt, sondern auch in der sozialwissenschaftlichen Praxis hat die Nutzung von Fotografien eine lange Tradition, wobei verschiedene Nutzungstraditionen zu beobachten sind: Ähnlich wie gesprochene Sprache aufgenommen und transkribiert wird, können Forschende – wie etwa das Beispiel Pierre Bourdieus (Schult heis et al. 2009) illustriert – erstens selbst fotografieren und die Bilder als Erinnerungsstütze und Datenmaterial für die spätere Datenanalyse verwenden. Insbesondere in der Ethnografie gehört dies zur selbstverständlichen Wissenschaftspraxis (Ayaß 2012: 114–115). Zweitens können auch Bilder, die von anderen Menschen aufgenommen werden, in Form natürlicher prozessproduzierter Daten als Datenmaterial verwendet werden, wobei zu unterscheiden ist zwischen Fotografien, die von Laien aufgenommen wurden (Bohnsack 2011: 73–116; Eberle 2014), und professionellen Fotografien (Reichertz 1994; Bohnsack 2011: 58–72), wie etwa Werbeaufnahmen, Mode- oder sozialdokumentarischen Fotografien. Drittens können Fotografien – egal von wem sie gemacht werden – ähnlich wie Textstellen in Veröffentlichungen als Belege für Aussagen verwendet werden. Hierbei existieren wieder zwei Varianten: Entweder das Bild ist wirklich ein Textbeleg vor allem in wissenschaftlichen Publikationen. So wurden in den ersten zwanzig Erscheinungsjahren (1896–1916) des »American Journal of Sociology« in 31 Aufsätzen insgesamt 244 Fotografien als Beleg oder zur Illustration für die Interpretation der Autoren eingesetzt (Ayaß 2012: 111). Alternativ gibt es auch eine lange Tradition, in der Text und Bild parallel verwendet werden – gerade die Übergänge zwischen Sozialwissenschaften und sozialdokumentarischer Fotografie sind sehr fließend (Stumberger 2007; 2010). So arbeiteten Ende der 1930er-Jahre der Journalist James Agee und der Fotograf Walker Evans in ›Let us now
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praise famous men‹ (1941) die Lebensbedingungen weißer Farmpächter im amerikanischen Süden der USA heraus. Auch in W. Eugene Smith’s (1975) ›Minamata‹, in dem die gesundheitlichen und ökologischen Folgen der Verklappung von Quecksilber in die Yatsushiro-See aufgedeckt wurde, wechseln sich Text und Bild ab. Das Analysieren und Verwenden von Bildern hat demnach eine lange Tradition. Zusätzlich werden wir in modernen Gesellschaften von einer Bilderflut (insbesondere von einer Flut an Fotografien) überschwemmt – und im Alltag werden mit Digitalkameras oder Handys immer mehr Bilder auch von fotografischen Laien gemacht (Eberle 2014). Folglich kann man gesellschaftliche Wissensbestände heute nicht mehr verstehen, ohne ein Grundverständnis des Bildlichen zu haben. Dies erfordert aber einen sachgemäßen Umgang mit Fotografien – dies verweist auf die von Eberle (z. B. 1992; 1999; 2010a; 2010b) immer wieder eingeforderte stärkere Befassung mit methodologischen Fragen (auch) in der Phänomenologie. Hierzu ist zunächst festzuhalten, dass sich dem späteren Betrachter einer Fotografie deren Dokumentsinn (Raab 2007: 289–290) nur erschließen kann, wenn er ihren objektiven Sinn mit berücksichtigt. Hierbei handelt es um »jene Wahrnehmungsmuster und Deutungsschemata, die sich für verschiedene Interpreten eines bestimmten Kulturkreises oder sozialen Milieus regelmäßig und vor allem gleichmäßig aktualisieren, die also durch Sozialisation erworben, mithin historisch tradiert und gesellschaftlich verfestigt sind. Je umfassender dieses soziohistorische Vorwissen eingeschult und verfestigt ist, je tiefer die kulturellen Wahrnehmungsmuster und -routinen gesellschaftlich eingeschliffen und verankert sind, desto fragloser und ›objektiver‹ erscheint die Identifikation und desto vermeintlich unmittelbarer und eindeutiger stellt sich das Sinnverstehen ein (Raab 2007: 288). Der objektive Sinn adressiert daher die Erfahrungen der Lebenswelt. Diese »wird als weitgehend fraglos gegeben erlebt. […] Sie bildet […] den unbefragten Boden der natürlichen Weltanschauung, den fraglosen offenen Horizont unserer alltäglichen Sinnorientierung« (Eberle 1999: 69). Gerade bei Fotografien ist diese Scheinobjektivität besonders hoch, weil sie stärker als gesprochene Sprache die Sinne ansprechen und quasi natürlich das tatsächlich Geschehene abzubilden scheinen. Beim »naiven Betrachter« erwecken sie daher den Eindruck einer größeren Evidenz (Bosch/ Mautz 2013), da sie ihn leicht vergessen lassen, dass auch Fotografien »nicht schlicht die Abbildung des empirisch Beobachtbaren« (Bohnsack 2011: 47) sind, da Fotografen allein schon wegen der technischen Grenzen des Mediums niemals die Welt völlig »objektiv« oder »neutral« abbilden können. Vielmehr ist das Fotografieren ein Akt des Handelns – Eberle (2014) nennt dies »doing photography« –, in dem der Fotograf die »objektive« Welt interpretiert und damit subjektiv überformt. Es muss also bei der Interpretation des Bildes berücksichtigt werden, dass der Fotograf mit seinem Bild auch etwas vermitteln will – den sogenannten Ausdruckssinn (Raab 2007: 289).
Fotografisches Handeln
Bei Laienfotografen, die etwa im Rahmen ihrer Alltagspraxis Familienbilder machen oder andere bildliche Formen der (Selbst-)Präsentation wählen, dominiert der objektive Sinn über den Ausdruckssinn (z. B. Bohnsack 2011: 73–116; Breckner 2012): Fast nie werden die Kameratechnik oder der Akt des Fotografierens selbst reflektiert. Vielmehr beziehen sich diese Laien-Darstellungen unbewusst auf gesellschaftliche und ikonografische Wissensbestände (Eberle 2014). Da dem objektiven Sinn und der Lebenswelt so große Bedeutung zukommt, ist es – zumindest im Sinne der phänomenologischen Lebensweltanalyse (Eberle 1999: 69) – nur konsequent, dass sich die bisherige visuelle Soziologie vor allem mit der Fotografie selbst und ihrem Rezeptionskontext sowie mit fotografischen Praktiken von Laien befasst hat (z. B. Rose 2007; Breckner 2003; 2010; 2012; Bohnsack 2011; 2015; Eberle 2014), da diese – gerade wegen ihrer Präreflexivität – in besonderem Maße erlauben, die formalen Strukturen dieser Lebenswelt (Eberle 1999) herauszuarbeiten. Allerdings wurde darüber der Produktionskontext vernachlässigt – also sowohl die professionelle Fotografie, als auch das fotografische Handeln selbst. Dies erscheint uns aber problematisch, da zwar auch professionelle Fotografen – ebenso wie Laienfotografen und naive Betrachter – auf gesellschaftliche Wissensbestände zurückgreifen. Gleichzeitig ist aber ihr Wissen um das Bildliche größer. Im Gegensatz zu Laien sind professionelle Fotografen i. d. R. sowohl mit den technischen Möglichkeiten der Fotografie, als auch mit den Wahrnehmungsschemata ihres jeweiligen soziokulturellen Kontexts wohl vertraut. Dies ermöglicht es ihnen, dieses Wissen auch sehr bewusst und reflektiert einzusetzen (Eberle 2014), was ihnen sowohl erlaubt, ihren subjektiven Blick auf die Welt zu transportieren, als auch das Bild des Betrachters von der Welt bewusst zu beeinflussen. Mit anderen Worten: Der professionelle Fotograf kontrolliert einen spezifischen Ausdruckssinn eines Bildes wesentlich stärker als ein Laienfotograf. Bei inszenierten Werbebildern (Reichertz 1994; Bohnsack 2011: 58–72) und Modefotografien (Breckner 2003) ist dies offensichtlich: Da es sich um gestellte Bilder handelt, ist es für den Betrachter unmittelbar erkennbar, dass das Bild konstruiert ist, und es wird entsprechend auch als in gewissen Maße künstlich wahrgenommen. Die sozialdokumentarische Fotografie erweckt dagegen den Eindruck der Quasi-Natürlichkeit und damit einer »objektiven« Darstellung der »echten« Welt; ein Eindruck, der – wie wir im Folgenden zeigen werden – trügt, denn auch die sozialdokumentarische Fotografie will und kann auch gar nicht objektiv dokumentieren, sondern nur den subjektiven Blick des Fotografen auf die Geschehnisse zeigen. Um zu zeigen, wie professionelles fotografisches Handeln in der Praxis funktioniert, wann und wie die Subjektivität beim Fotografieren wirkt und welche Gestaltungsmöglichkeiten Fotografen auch bei scheinbar nicht inszenierten Fotografien haben, greifen wir im Folgenden exemplarisch einige Punkte heraus und diskutieren diese am Beispiel der sozialdokumentarischen Fotografie.
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B eschr änkungen der G estaltungsmöglichkeiten durch die Technik Festzuhalten ist zunächst, dass der Fotograf nicht völlig frei in seinen Gestaltungsmöglichkeiten ist, sondern wie bei jedem Medium (Rose 2007: 258, 263–265) durch die technischen Möglichkeiten beschränkt ist. Im Vergleich zu anderen darstellenden Medien, wie z. B. Filmen (Reichertz/ Englert 2010; Akremi 2015) und Videos (Raab 2008; Schnettler/Raab 2008; Corsten et al. 2012; Tuma et al. 2013; Tuma/Schnettler 2015), sind Fotos statisch. Gleichzeitig sind Fotografien anders als etwa die Malerei zu einem Mindestmaß an das tatsächlich Geschehene gebunden: Der Fotograf kann – zumindest scheinbar – nur darstellen, was tatsächlich geschehen ist, was wiederum Fotografien ihre vermeintlich hohe Glaubwürdigkeit verleiht. Weiterhin ist zu beachten, dass es auch innerhalb der Fotografie verschiedene Techniken gibt und dass sich diese Techniken und damit die Gestaltungsmöglichkeiten des Fotografen im Laufe der Zeit auch verändern. So erscheinen – wie das Familienporträt der Familie Königswinter in Abb. 1 illustriert – Personen auf Fotografien aus dem 19. Jahrhundert aufgrund unserer heutigen Sehgewohnheiten sehr steif.
Abb. 1: Wolfgang Müller von Königswinter im Kreis seiner Familie (1863)
Nun wissen wir zwar aus anderen Quellen, dass etwa die deutsche Gesellschaft zu jener Zeit tatsächlich recht steif und hierarchisch war – aber aus den Fotografien aus jener Zeit kann man dies nicht zwingend schließen. Der Grund hierfür sind die technischen Beschränkungen der damaligen Zeit: Damals waren die Aufnahmezeiten noch extrem lang. Da niemand so lange stillsitzen konnte, wurden – wie Abb. 2 zeigt – die Menschen in
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Fotostudios in Halterungen eingespannt, die sie fixieren sollten. Dadurch erschien auch der entspannteste Mensch steif, oder anders ausgedrückt: Ob sie wollten oder nicht – die Fotografen jener Zeit konnten infolge der Grenzen der Technik Menschen nicht locker und gelöst darstellen. Daher macht Rose (2007) es zum Credo jeder soliden visuellen Analyse, dass sich Forschende vorher mit den technischen Möglichkeiten und Grenzen des Mediums und deren Geschichte vertraut machen – und kritisiert es als fundamentale Schwäche der meisten Bildanalysen, dass dies in der Praxis oft nicht geschieht.
Abb. 2: Erstellen von Porträts in einem Fotostudio mit Hilfe eines Gestells (1893)
G estaltung des einzelnen B ildes Inszenierung und Retusche Allein schon wegen der technischen Grenzen des Mediums bilden Fotografen die Welt niemals völlig »objektiv« oder »neutral« ab, sondern manipulieren Bilder aktiv – und müssen dies auch tun, weil schon der Akt der Fotografie gewissermaßen eine Manipulation ist. Die gebräuchlichsten Varianten der Bildmanipulation sind Inszenierung (z. B. Reichertz 1994) und Retusche (Gründl 2001–2013), die in der Mode- und Werbefotografie so gängig sind, dass sie nicht nur akzeptiert, sondern geradezu vorausgesetzt werden. Allerdings ist den meisten Betrachtern vermutlich nicht klar, in welchem Ausmaß Bilder auch in der sozialdokumentarischen Fotografie manipuliert werden – und zwar nicht erst seit Eintritt des digitalen Zeitalters, sondern schon vor mehr als 70 Jahren, oder wie Eberle (2014: 319) schreibt: »composing a picture can swiftly extend to arranging a picture«.
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Ein frühes Beispiel ist das Hissen der Flagge durch russische Soldaten auf dem Berliner Reichstagsgebäude am 2. Mai 1945, mit dem Jewgeni Chaldej den Sieg der Russen über die Deutschen inszenierte und das als eines der prominentesten Bilder des Zweiten Weltkriegs gilt. Gleichzeitig ist das Bild ein frühes Beispiel für die Retusche: Betrachtet man das Originalbild (Volland 2008a), so sieht man, dass zunächst die üblichen optischen Nachbearbeitungen vollzogen wurden, die das Bild dramatischer erscheinen lassen. Betrachtet man aber das Detail eines der auf dem Bild abgebildeten Soldaten, so fällt im Original auf, dass einer der Soldaten an jedem Arm eine Armbanduhr trägt – ein Zeichen dafür, dass der Soldat vermutlich ein Plünderer war. Dies fiel dem Redakteur des Magazins »Ogonjok« auf, als er das Bild veröffentlichen wollte. Also retuschierte er eine der beiden Armbanduhren weg (Wikipedia 2014; Volland 2008a; 2008b). Dass Inszenierung und Fotoretusche auch heute erst recht zur ganz normalen fotografischen Praxis gehören, zeigen die fotografischen Darstellungen der Nahostgespräche im Weißen Haus am 1. September 2010. Im Originalbild gehen Barack Obama, Benjamin Netanjahu, Mahmud Abbas, König Abdullah und Husni Mubarak nebeneinander, wobei der ägyptische Staatspräsident ganz rechts außen geht. Um die Bedeutung Mubaraks hervorzuheben, veröffentlichte die ägyptischen Zeitung ›Al-Ahram‹ dieses Bild in einer Version, auf welcher Mubarak an die Spitze der Gruppe retuschiert wurde (Huff Post 2010; The Guardian 2010). Inszenierung und Fotoretusche sind folglich gängige Bestandteile der heutigen fotografischen Praxis, die im Übrigen auch dann verwendet werden, wenn der Fotograf gar nicht den Bildinhalt manipulieren will. Vielmehr bearbeiten professionelle Fotografen praktisch jedes Bild zwischen Aufnahme und Veröffentlichung nach, sei es zur Beseitigung technischer Mängel, zur Betonung einer gewünschten Bildaussage oder einfach nur aus stilistischen Gründen. So zeigt etwa Abb. 3a ein Bild, das im Rahmen eines Fotoprojektes über die Feuerwehrwache Neukölln (2010–2013) mit Hilfe einer Digitalkamera aufgenommen wurde. Wie man sieht, ist das Originalbild (Abb. 3a) relativ kontrastarm, verrauscht und unscharf. Im Rahmen der Nachbearbeitung des Bildes wurden diese Mängel korrigiert, also die Bildkontraste erhöht, die Farben intensiviert, das Rauschen entfernt sowie das Bild nachgeschärft. Zusätzlich wählte der Fotograf einen engeren Bildausschnitt und verdichtete so das Bild auf das für ihn Wesentliche. Das Endergebnis ist das rechte Bild (Abb. 3b). Abb. 4a und b zeigen ein zweites Beispiel für eine Bildretusche, das einen Teilnehmer der Kumbh Mela in Haridwar (2010) porträtiert. Das Original (links) ist vom technischen Standpunkt aus einwandfrei. Aus stilistischen Gründen bearbeitete der Fotograf das Bild aber nach, um es dramatischer erscheinen zu lassen: Bei der Endfassung (rechts) wurden ein sehr enger Bildausschnitt gewählt und die Kontraste erhöht. Zudem wurde das Bild von einer Farb- in eine Schwarz-Weiß-Version umgewandelt.
Fotografisches Handeln
Abb. 3a und b: Fotoretusche und Wahl des Bildausschnitts am Beispiel eines Feuerwehreinsatzes
Abb. 4a und b: Farbwahl am Beispiel eines Teilnehmers der Kumbh Mela
Solche Beispiele der Bildnachbearbeitung sind ein akzeptiertes Vorgehen in der sozialdokumentarischen Praxis und gelten nicht als Veränderung des Bildinhaltes. Festhalten lässt sich folglich, dass – anders, als in sozialwissenschaftlichen Texten zur Fotografie oft unterstellt – fotografisches Handeln nicht nur die Aufnahme selbst beinhaltet, sondern dass es sich beim Erstellen von Einzelfotos vielmehr um einen zweistufigen Prozess handelt: 1. Die Rohaufnahme (»raw format«) entspricht den Kamerahandlungen bei Videos und Filmen (Raab 2008: 156), dem Interviewtranskript (Dittmar 2004) bzw. der Rohfassung eines Textes. Bei analogen Aufnahmen spricht man von »analogen Negativen«, bei Digitalfotografien
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von »digitalen Negativen«. Sie sind die subjektive Abstraktion des Fotografen der realen Welt, bei der er gleichzeitig selektiert und reduziert. 2. Die Endfassung des Bildes entspricht dagegen der Endfassung des Textes (Meyer/Meier zu Verl 2015). Sie ist subjektive Interpretation der Aufnahme, d. h. wie auch bei Videos und Filmen (Raab 2008: 156) wird das Rohmaterial nachbearbeitet. Während der Nachbearbeitung der Aufnahme selektiert und reduziert der Fotograf weiter. Diesen Zusammenhang zwischen Aufnahme und Endfassung umschrieb der Fotograf Ansel Adams so: »the negative is similar to a musician’s score, and the print to the performance of that score« (Adams 2001: 2). Der Fotograf hat immer die Möglichkeit, das Bild entweder bei der Rohaufnahme oder der Nachbearbeitung zu gestalten, weshalb die Übergänge sehr fließend sind. Die Möglichkeiten der Bearbeitung und damit der subjektiven Einflussnahme des Fotografen sind dabei so vielfältig, dass man sie gar nicht alle aufzählen kann. Wir illustrieren dies im Folgenden daher nur an einigen Beispielen, die v. a. nicht so offensichtlich sind, sondern bei denen der Fotograf die Bildwahrnehmung auf sehr subtile Weise beeinflussen kann.
Wahl des Ausschnitts Jedes Mal, wenn ein Fotograf seine Kamera auf ein Motiv richtet, fokussiert er nur auf einen bestimmten, subjektiv gewählten Ausschnitt der Wirklichkeit. Das bedeutet umgekehrt, dass Vieles weggelassen wird – ein Aspekt, der deshalb sehr subtil wirkt, weil die meisten Betrachter gar nicht darüber nachdenken, dass jedes Bild immer nur einen Ausschnitt der Realität (Eberle 2014: 315–317) zeigt. Wie auch bei anderen sozialwissenschaftlichen Datensorten sind dabei insbesondere die räumliche Fokussierung (Baur 2005: 80–82; Baur 2014: 274–293; Baur et al. 2014: 11–12) – im Fall von Fotografien also das Ausblenden der näheren Bildumgebung – und die zeitliche Fokussierung (Baur 2005: 121–133, 173–176) – also das Ausblenden des Vorher und Nachher – von besonderer Bedeutung. Bereits Abb. 3 und 4 haben illustriert, wie sehr sich der Bildeindruck selbst durch Verengungen des Ausschnitts verändern kann. Ein drastischeres Beispiel dafür, wie sich die Bildwirkung durch die Wahl eines anderen räumlichen Ausschnitts (Eberle 2014: 316) verändert, findet sich in Abb. 5. Beide Aufnahmen (5a und 5b) zeigen das Kloster Bellapais (Zypern, 2013) und wurden im Abstand von nur wenigen Sekunden vom exakt gleichen Standort aus aufgenommen. Und dennoch ist der Bildeindruck durch die unterschiedliche Wahl des Bildausschnitts ein völlig anderer: Das eine Mal wirkt der Ort wie ein verlassenes Bergkloster, das andere Mal wie ein Ausflugsziel für Touristen. Wie Abb. 3 bis 5 im Vergleich illustrieren, ist es im Übrigen (auch für den Betrachter) egal, ob der Ausschnitt bereits beim Fotografieren gewählt wurde, oder bei der Nachbearbeitung erneut präzisiert wird.
Fotografisches Handeln
Abb. 5a und b: Räumliche Wahl des Bildausschnitts
Ebenso wichtig wie die Wahl des räumlichen Ausschnitts ist auch die Wahl des zeitlichen Ausschnitts – also des Moments, in dem man auf den Auslöser drückt (Eberle 2014: 316–317). Letztlich hält die Kamera nur den Bruchteil einer Sekunde fest. Hierbei spielen insbesondere zwei Aspekte eine Rolle: Im Gegensatz zu Videos und Filmen sind Fotografien statisch, was gerade bei schnellen, dynamischen Handlungsabläufen den Fotografen vor die Herausforderung stellt, den gewünschten Moment einzufrieren. Der »entscheidende Augenblick« (»moment décisif« bzw. »decisive moment«) (Cartier-Bresson 1952) soll die Gesamtsituation perfekt auf den Punkt bringen sowie idealerweise gleichzeitig die zeitliche Dynamik darstellen und den Handlungsablauf verständlich in einem Bild darstellen. Da es extrem schwer ist, diesen Augenblick genau zu erwischen, nutzen professionelle Fotografien sehr oft die Serienaufnahme-Funktion der Kamera und machen während des Aufnahmeprozesses sehr viele Bilder, aus denen sie dann im Zuge der Nachbereitung eines auswählen. So zeigt etwa Abb. 6 die Startsequenz eines Rennens für das Oldtimer-Rennen »Race 61« (2010), die sich innerhalb weniger Sekunden abspielte. In diesem Fall wählte der Fotograf Bild Nr. 3 (Abb. 6c) aus der Sequenz aus.
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Abb. 6a–f: Zeitliche Wahl des Bildausschnitts 1 am Beispiel des Race 61
Da sich Menschen in Interaktionen andauernd bewegen und sich dabei fortwährend ihre Gestik und Mimik verändern, kann es sein, dass sich – wenn man einen Aufnahmemoment wählt – die Bildaussage vollständig verändert. So zeigen etwa Abb. 7a und 7b einen thailändischen Kick-Boxer unmittelbar nach dem Kampf – auch hier wurden beide Aufnahmen innerhalb weniger Sekunden nacheinander gemacht, aber der Bildeindruck ist ein völlig anderer: Auf dem linken Bild wirkt der Sportler erschöpft und in sich gekehrt, auf dem rechten gelöst und entspannt. Welches der beiden Bilder der »tatsächlichen«, »objektiven« Situation am besten entspricht, muss der Fotograf aus seinem Beobachtungsgeschehen heraus entscheiden – ebenso, ob es das ist, was er abbilden will.
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Abb. 7a und b: Zeitliche Wahl des Bildausschnitts 2 am Beispiel von Muay Thai in Thailand
Brennweite des Objektivs Als Laie verbindet man mit der Wahl der Brennweite des Objektivs (Normal-, Weitwinkel- oder Teleobjektiv) i. d. R., wie nah oder fern man vom Motiv entfernt sein muss, um es noch bildfüllend abbilden zu können. Doch neben dem Abstand zum Motiv beeinflusst die verwendete Brennweite erheblich das dargestellte Verhältnis vom Hauptmotiv zu seiner Umgebung, wie Abb. 8a–c verdeutlichen. Es ist dreimal dasselbe Hotel in einem Gewerbegebiet abgebildet – auf allen drei Bildern hat das Gebäude etwa die gleiche Größe. Das erste Bild wurde mit einem sogenannten Normalobjektiv aufgenommen und zeigt die Raumverhältnisse etwa so, wie wir sie auch mit den Augen natürlich wahrnehmen. Das zweite Bild wurde mit einem Teleobjektiv fotografiert. Damit das Gebäude auf dem Bild genauso groß abgebildet wird, wie auf dem ersten Bild, musste ein weiter entfernt liegender Aufnahmeort gewählt werden. Hierdurch wird nun viel mehr von der Umgebung des Hotels auf dem Foto sichtbar, wie z. B. eine zuführende Straße, während hingegen der Fußweg von der Straße zum Eingang deutlich verkürzt wirkt. Genau das Gegenteil bewirkt die Verwendung eines Weitwinkelobjektivs. Aufgrund des Großen Aufnahmewinkels musste der Fotograf sehr nah an das Gebäude
Abb. 8a–c: Wirkung von verschiedenen Brennweiten am Beispiel eines Hotels
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herangehen, wodurch er bereits auf dem Zugangsweg steht, der nun durch den starken Weitwinkel gewissermaßen optisch in die Länge gezogen und damit stark betont wird. Die weitere Umgebung des Hotels, wie z. B. die Straße, ist in diesem Bild hingegen vollständig ausgeblendet.
Tiefenschärfe Ein weiterer sehr wichtiger Aspekt der Bildgestaltung, dem insbesondere Laienfotografen kaum Beachtung schenken, ist die Tiefenschärfe. Dadurch entgeht ihnen, dass der Fotograf durch die Wahl des Schärfebereichs und des Bildfokus Objekte innerhalb des Bildes gewichten kann. So hat Patrik Budenz (2011) eine Reportage über die Berliner Rechtsmedizin erstellt – ein Thema, bei dem eine Herausforderung darin bestand, die Arbeit der Rechtsmedizin bei der Sektion von Leichen so darzustellen, dass die Bilder für den Betrachter erträglich blieben. Abb. 9a–c zeigen dreimal dieselbe Situation während einer Sektion. Beim ersten Bild liegt der Fokus auf dem sezierten Organ, im zweiten auf der Person und im dritten auf den Händen. In die endgültige Bildauswahl gelangte das letzte Bild, weil es die Tätigkeit des Sezierens unterstreicht – auf die der Fotograf im Falle dieser Serie besonderen Wert legte (und dadurch implizit von dem heiklen Thema des sezierten Körpers ablenkt).
Farbliche Gestaltung
Abb. 9a–c: Tiefenschärfe am Beispiel einer Sektion
Auch die Farbwahl ist ein wesentliches Moment der Bildgestaltung. So entschied sich der Fotograf in der gerade genannten Arbeit über die Rechtsmedizin (Budenz 2011) bewusst für Schwarz-Weiß, um die Bilder für den Betrachter erträglicher zu machen, weil die Arbeit möglichst nicht schockieren sollte. Schwarz-Weiß abstrahiert i. d. R. stärker. So ist etwa durch die Schwarz-Weiß-Darstellung das Rot des Blutes, das bei einer Sektion zwangsläufig anfällt, nicht zu sehen, und die Arbeit wirkt insgesamt nüchterner. Das Folgeprojekt ›Post Mortem‹ (Budenz 2013) beschäftigt sich dagegen mit dem Tod selbst. Um größere Nähe und Intimität zu
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schaffen, fokussierten die Bilder auf die Toten, und es wurden engere Ausschnitte gewählt. Und um weniger vom Thema zu abstrahieren, wurde die Arbeit bewusst in Farbe fotografiert, wobei relativ leichte, blasse Farben gewählt wurden, die einerseits die Leblosigkeit der Toten unterstreichen, andererseits aber auch der Schwere des Themas entgegenwirken sollen.
F otogr afie und E thnogr afie Betrachtet man neben der Aufnahme und Gestaltung des einzelnen Bildes den weiteren Kontext, in dem Bilder bzw. Serien entstehen, so fällt auf, dass sozialdokumentarische Fotografie sehr viel mit Ethnografie (Breidenstein et al. 2013) gemein hat, inklusive teils kurzer, teils langer Feldaufenthalte. Dass sich Feldeinstieg sowie Aufenthalt und Verhalten im Feld sehr ähnlich gestalten und die Übergänge zwischen Fotografie und Ethnografie sehr fließend sind, drückt sich auch darin aus, dass viele ethnografisch arbeitende Soziologen auch selbst im Feld fotografieren (Ayaß 2012: 114–115), so wie etwa Pierre Bourdieu (Schultheis et al. 2009; Schultheis in diesem Band). Sowohl der Feldeinstieg, als auch der Aufenthalt und das Verhalten im Feld gestalten sich bei Fotografie und Ethnografie ähnlich, mit einem Unterschied – dadurch, dass der Fotograf ständig eine Kamera in der Hand hat, ist es sehr viel schwerer für die Fotografierten, ihn komplett zu vergessen oder zumindest zu ignorieren. Um mit diesem Problem angemessen umzugehen, muss jeder Fotograf seinen eigenen Weg finden. Manche Fotografen fotografieren recht offen, ja fast schon aggressiv. Die Gegenstrategie ist es, nicht nur das Vertrauen der Fotografierten zu erlangen, sondern quasi unsichtbar für die Fotografierten zu werden und die Abläufe im Alltag möglichst wenig zu beeinflussen. Um dies zu erreichen, sind teilweise sehr lange Feldaufenthalte erforderlich, insbesondere, damit der Fotograf im Feld nicht mehr als störend empfunden wird. So hat Patrik Budenz für eine Arbeit über die Feuerwehrwache Neukölln drei Jahre fotografiert. Abb. 10a und b zeigen Bilder, die erst nach einem langen Feldaufenthalt gemacht werden konnten, als Fotograf und Feld schon sehr stark miteinander vertraut waren, so dass die Personen im Bild Fotografen und Kamera nicht mehr als Störfaktor wahrnahmen, obwohl es sich um sehr private, ja fast intime Momente handelt.
Abb. 10a und b: Feuerwehrwache Neukölln
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Ein zweiter Grund für lange Feldzeiten kann sein, dass sich seltene Ereignisse und Prozesse erst im Lauf der Zeit manifestieren. So kommt es selbst in Großstädten wie Berlin nicht jeden Tag zu Großbränden. In einem Fotoprojekt über die Arbeit einer Gitarrenbauerin (Abb. 11a–d) sollte der komplette Prozess des Bauens einer Gitarre verfolgt werden – der nun einmal mehrere Monate dauert. Schließlich kann es gerade bei Routinen wünschenswert sein, ein für das Feld typisches Ereignis auf den Punkt zu bringen. Der Fotograf wartet teils stunden-, teils monatelang auf den richtigen Moment, d. h. darauf, dass er eine Situation perfekt abbilden kann, die er als typisch für das Feld oder maßgeblich für die Aussage der Gesamtarbeit wahrnimmt, wie etwa hier das erste Erklingen der Gitarre.
Abb. 11a–d: Gitarrenbau
Wie bei der Ethnografie verändert sich auch bei der Fotografie im Lauf der Zeit nicht nur die Haltung des Feldes zum Fotografen, sondern auch der Blick des Fotografen auf das Feld. Typischerweise durchlebt der Fotograf mehrere Phasen, von denen die erste mehr der konventionellen Ethnografie (Knoblauch 2001) ähnelt und ein eher allgemeineres Bild vom Feld vermittelt. Je tiefer der Fotograf ins Feld eintaucht, desto mehr gleicht sein Vorgehen dem des fokussiert arbeitenden Ethnografen (Knoblauch 2001), und das schlägt sich auch in den Bildern nieder. So arbeitete Patrik Budenz von 2005 bis 2014 in Thailand an einer Arbeit zum Thema »Thai-Boxen« (Muay Thai). Die Bilder der ersten Jahre
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(Abb. 12a–d) vermitteln vor allem einen Eindruck vom Kampfgeschehen und dem darum herum stattfindenden Spektakel. Im weiteren Verlauf der Arbeit fokussierte er auf den Backstage-Bereich, in dem sich die Kämpfer vorbereiten und nach dem Kampf erholen. Schließlich entschied er sich recht spät, dass der eigentliche Aspekt des Boxens, auf den er sich in seiner Arbeit konzentrieren wollte, die Boxer und ihr Gemütszustand direkt nach dem 15-minütigen Kampf waren: totale Erschöpfung, Schmerzen, kaum erkennbare Unterschiede zwischen Sieger und Verlierer. Erst jetzt entstanden die in Abb. 13a–c dargestellten Bilder.
Abb. 12a–d: Muay Thai in Thailand
Abb. 13a–c: Muay Thai in Thailand
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D ie Z usammenstellung von B ildserien Bislang haben wir über die Aufnahme und Gestaltung einzelner Bilder gesprochen, und auch die meisten sozialwissenschaftlichen Bildanalysen fokussieren auf das Einzelbild bzw. einzelne Bildelemente (z. B. Breckner 2003; 2010; 2012; Bohnsack 2011; 2014). Übersehen wird dabei, dass heute sozialdokumentarische Fotografen – abgesehen von ikonografischen Pressedarstellungen – Bilder oft nicht als Einzelbilder, sondern als Serien konzipieren, die erst in ihrer Gesamtheit wirken. Serien haben den Vorteil, dass sie die Komplexität der Welt umfassender darstellen können – insbesondere kann Serialität die Statik und Kontextlosigkeit des Einzelbildes ein Stück weit kompensieren. Die Größe der Serie variiert dabei. Gängig sind je nach Kontext 5 bis 12 Bilder (in einer Zeitschrift) bzw. 50 bis 100 Bilder (in einem Buch). Dies bedeutet aber, dass fotografisches Handeln – neben den oben genannten Schritten des Erstellens der Rohaufnahme und der Nachbearbeitung des Einzelbildes – ein drittes Element beinhaltet, in dem die Subjektivität des Fotografen wirken kann: das Zusammenstellen der Serie. So, wie die Übergänge zwischen Rohaufnahme und Nachbearbeitung fließend sind, sind auch jene zwischen Erstellung der Serie und der Auswahl des Einzelbildes sehr fließend: Auch wenn die oben genannten Varianten der Bildgestaltung im professionellen Handeln der meisten Fotografen sehr stark habitualisiert sind und quasi-automatisch wirken, besteht immer die Gefahr, dass wichtige Aspekte im Moment des Aufnehmens entgehen. Daher nehmen viele professionelle Fotografen im Feld sehr viele Bilder auf. So nahm Budenz für ›Post Mortem‹ (2013) ca. 3.000 Bilder, für die Serie zum Gitarrenbau ca. 4.000 Bilder und bei der Feuerwehr über 15.000 Bilder auf. Ein Blick in die Geschichte der Soziologie verweist sogar auf noch größere Zahlen von Rohaufnahmen: So nahmen Bateson und Mead während ihres Feldaufenthalts für den ›Balinese Character‹ (1942) insgesamt 25.000 Fotografien auf, aus denen sie dann für die Publikation 759 auswählten (Ayaß 2012: 114). Wegen dieser Materialfülle muss der Fotograf diese Bilder im Rahmen des Editing zu Serien verdichten (ähnlich wie Interviewtranskripte im Rahmen der Datenanalyse zu Texten verdichtet werden). Früher verwendete man hierzu Kontaktbögen. Die Digitalfotografie ermöglicht es dem Fotografen, bereits im Feld Bilder sofort zu löschen, deren Qualität offensichtlich so gering ist, dass sie nie in die Endauswahl gelangen werden. Alle anderen Bilder werden auf einen Rechner überspielt, so dass die Bildauswahl und -bearbeitung mit professionellen Programmen stattfinden kann. Ähnlich wie QDA-Programme (z. B. MAXqda oder ATLAS.ti) erlauben professionelle Bildbearbeitungsprogramme – wie etwa Abb. 14 am Beispiel des Programms Adobe Photoshop Lightroom illustriert – dem Fotografen, im Rahmen des Editing unterschiedliche Varianten von gleichen Motiven zu vergleichen und diejenigen, die er für eine nähere Auswahl in Betracht zieht u. a. farblich, numerisch, mit Sternen oder Flaggen zu markieren. In mehreren Durchläufen durch das Bildmaterial kann er Stück für Stück die Bildmenge reduzieren und die Endauswahl zusammenstellen. Gerade in
Fotografisches Handeln
dieser Phase der Bildauswahl und der Zusammenstellung der Serie hat der Fotograf (zusätzlich zu den bereits genannten Gestaltungsmöglichkeiten bei der Aufnahme und Bildbearbeitung) einen weiteren erheblichen Spielraum zur bewussten Gestaltung. Und da er hier deutlich mehr Ruhe hat als im Feld, stellt er seine subjektive Perspektive auf die Welt am stärksten in den Vordergrund.
Abb. 14: Beispiel für Editing mit Adobe Photoshop Lightroom
Was sind nun typische Kriterien dafür, dass bestimmte Bilder ausgewählt und andere weggelassen werden? Fotografisch und technisch schlechte Bilder werden i. d. R. zuallererst aussortiert. Zweitens werden Redundanzen gestrichen. Ein drittes Kriterium ist der Zweck, dem die Bilder dienen sollen – sind sie etwa als Illustration in einer Zeitschrift, als eigenständige Fotoreportage, für ein Buch oder für eine Ausstellung in einer Galerie gedacht? Eng damit verbunden ist, viertens, die Frage des Darstellungskontextes: Wo soll die Serie gezeigt werden und auf welchem Medium? Wer ist das Zielpublikum, und welche Sehgewohnheiten hat dieses? Schließlich ist entscheidend, welche Aussage der Fotograf treffen möchte. Ein Beispiel ist das bereits erwähnte Projekt zur Neuköllner Feuerwehr. Abb. 15, Abb. 16 und Abb. 17 zeigen drei Varianten, wie die ursprünglichen 15.000 Bilder zu Serien verdichtet werden könnten, und jedes Mal vermittelt die Serie einen völlig anderen Eindruck vom Arbeitsalltag der Berliner Feuerwehrleute: Würde man nur die Bilder aus Serienvariante 1 (Abb. 15a–f) sehen, gewänne man vermutlich den Eindruck, dass Feuerwehrleute einen recht ruhigen und entspannten Arbeitsalltag haben. Die Serienvariante 2 (Abb. 16a–f) erzeugt den umgekehrten Eindruck eines actiongeladenen Arbeitsalltags von Helden auf permanenter Rettungsaktion. Die Serienvariante 3 (Abb. 17a–f) vermittelt dagegen den Eindruck eines Arbeitsalltags, in dem sich Ruhephasen mit Stressphasen abwechseln – das ist in diesem Fall das, was der Fotograf darstellen möchte.
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Abb. 15a–f: Feuerwehrwache Neukölln (Serienvariante 1)
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Abb. 16a–f: Feuerwehrwache Neukölln (Serienvariante 2)
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Abb. 17a–h: Feuerwehrwache Neukölln (Serienvariante 3)
Fotografisches Handeln
A usblick Wir haben versucht zu zeigen, dass Fotografien nie »objektive Wirklichkeit« repräsentieren und es auch gar nicht können, sondern dass das tatsächlich Geschehene in der Darstellung durch den Fotografen subjektiv überformt ist. Das fotografische Handeln und die technischen Möglichkeiten der Fotografie beeinflussen den Bildeindruck des einzelnen Bildes sowohl während des Aufnahmeprozesses, als auch in der Nachbearbeitung. Fotografische Arbeiten sind heute oft nicht mehr nur Einzelbilder, sondern Bildserien. Daher hat der Fotograf bei der Zusammenstellung von Bildserien weitere Gestaltungsmöglichkeiten, um seiner subjektiven Perspektive auf die Wirklichkeit Ausdruck zu geben. Unseres Erachtens bedeutet dies für den sozialwissenschaftlichen Umgang mit Bildern, dass die Interpretation von Fotos nicht beim Einzelbild und auch nicht auf dem im Bild Dargestellten stehenbleiben darf. So verweist Rose (2007) in ›Visual Methodologies‹ darauf, dass Interpreten neben den Fragen zum Bild selbst immer auch Fragen zum Rezeptions- und zum Produktionskontext stellen müssen, und dass diese Kontexte miteinander verwoben sind. Gefragt werden sollte also unter anderem: Wer hat das Bild wann, wo, für wen und was gemacht? Welche Absicht steckt hinter dem Bild? Auf welche ikonografischen und sozialen Wissensbestände greift das Bild zurück? Mit welcher Technik wurde das Bild aufgenommen und wie wurde es nachbearbeitet? In welchen sozialen Beziehungen standen Fotograf, abgebildete Personen und Zielpublikum? Was wissen wir über das Nichtabgebildete? Insgesamt bedeutet dies aber unseres Erachtens, dass sich die Sozialwissenschaften stärker als bisher nicht nur mit dem Visuellen an sich, sondern auch mit den spezifischen Traditionen der einzelnen Bildmedien auseinandersetzen müssen.
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A bbildungen Abb. 1: Wolfgang Müller von Königswinter im Kreis seiner Familie, 1863. Quelle: Wikimedia Commons abgerufen am 02.05.2014. Abb. 2: Erstellen von Porträts in einem Fotostudio mit Hilfe eines Gestells, 1893. Quelle: A. H. Wheeler [Public domain], via Wikimedia Commons
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abgerufen am 02.05.2014. Abb. 3a und b: Fotoretusche und Wahl des Bildausschnitts am Beispiel eines Feuerwehreinsatzes, 2010–2013. © Fotos: Patrik Budenz. Abb. 4a und b: Farbwahl am Beispiel eines Teilnehmers der Kumbh Mela, 2010. © Fotos: Patrik Budenz. Abb. 5a und b: Räumliche Wahl des Bildausschnitts, 2013. © Fotos: Patrik Budenz. Abb. 6a–f: Zeitliche Wahl des Bildausschnitts 1 am Beispiel des Race 61, 2010. © Fotos: Patrik Budenz. Abb. 7a und b: Zeitliche Wahl des Bildausschnitts 2 am Beispiel von Muay Thai in Thailand, 2012–2014. © Fotos: Patrik Budenz. Abb. 8a–c: Wirkung von verschiedenen Brennweiten am Beispiel eines Hotels. Quelle: smial [FAL or GFDL 1.2 (www.gnu.org/licenses/old-licenses/ fdl-1.2.html)], via Wikimedia Commons, Dateien, http://commons.wiki media.org/wiki/File%3AKamen_Park_Inn_24_IMGP3760_wp.jpg, http://commons.wikimedia.org/wiki/File%3AKamen_Park_Inn_95_ IMGP3778_wp.jpg, und http://commons.wikimedia.org/wiki/File%3A Kamen_Park_Inn_15_IMGP3752_wp.jpg abgerufen am 02.05.2014. Abb. 9a–c: Tiefenschärfe am Beispiel einer Sektion, 2012–2014. © Fotos: Patrik Budenz. Abb. 10a und b: Feuerwehrwache Neukölln, 2010–2013. © Fotos: Patrik Budenz. Abb. 11a–d: Gitarrenbau, 2007–2008. © Fotos: Patrik Budenz. Abb. 12a–d: Muay Thai in Thailand, 2005–2014. © Fotos: Patrik Budenz. Abb. 13a–c: Muay Thai in Thailand, 2012–2014. © Fotos: Patrik Budenz. Abb. 14: Beispiel für Editing mit Adobe Photoshop Lightroom. © Foto: Pat rik Budenz. Abb. 15a–f: Feuerwehrwache Neukölln (Serienvariante 1), 2010–2013. © Fotos: Patrik Budenz. Abb. 16a–f: Feuerwehrwache Neukölln (Serienvariante 2), 2010–2013. © Fotos: Patrik Budenz. Abb. 17a–h: Feuerwehrwache Neukölln (Serienvariante 3), 2010–2013. © Fotos: Patrik Budenz.
Der Akt des Fotografierens Eine phänomenologische und autoethnografische Analyse Thomas S. Eberle Im folgenden Beitrag untersuche ich den Akt des Fotografierens aus meiner subjektiven Perspektive als Amateurfotograf. In der Triade von Produktion, der Fotografie als Objektivation und deren Rezeption beschränke ich mich also ausschließlich auf den Akt der Produktion. Dabei nehme ich meine persönliche Erfahrung des Fotografierens zum Ausgangspunkt meiner Überlegungen. Autoethnografisch ist die Analyse insofern, als sich in meiner Art zu fotografieren einerseits kulturelle Praktiken manifestieren, die auch andere Fotografen teilen; andererseits kommen darin auch persönliche Idiosynkrasien zum Ausdruck, die eher individueller, autobiografischer Art sind. Phänomenologisch ist die Analyse insofern, als ich prüfen möchte, inwieweit die phänomenologische Lebensweltanalyse hilft, meine Aktivitäten als Amateurfotograf zu erhellen und wo sich dabei allenfalls Inkonsistenzen oder Residuen manifestieren.
A utobiogr afische E inbe t tung Dank digitalen Compact-Kameras und Smartphones sind Fotografieren und das Aufnehmen von Videos ubiquitär geworden. Die »digital natives« erlernen diese Praktiken schon früh: Bereits meine sechsjährige Enkelin machte mit ihrem ipod touch und dem ipad ihrer Mutter fleißig Fotos und auch Kurzvideos. Während in der Presse immer mehr Bedenken geäußert werden, ob es heutzutage überhaupt noch menschliche Handlungen gibt, die nicht von irgendwem fotografisch oder filmisch festgehalten werden, war Fotografieren in meiner Jugendzeit eine eher seltene Handlung. In der Familie meiner Mutter (1918–2011), die in ländlichen Verhältnissen als Tochter eines Handwerkers aufwuchs, gab es keine Kamera; aus ihrer Kindheit sind denn auch nur wenige Bilder vorhanden, die jeweils von professionellen Fotografen aufgenommen wurden. Mein Vater (1913–1998) indessen, der in einer Mittelschichtfamilie in der Stadt heranwuchs, besaß schon als Kind einen Fotoapparat; damit hielt er Familienausflüge und Ferienreisen fotografisch fest und dokumentierte sie in Fotoalben mit Bild und Text. Als Erwachsener kaufte er sich bessere Kameras, erst eine ›Po-
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cket Kodak‹ und später eine ›Rolleicord‹. Er machte zum Teil ausgezeichnete Aufnahmen von uns Kindern, die das Fotogeschäft, welches die Abzüge herstellte, großformatig im Schaufenster ausstellte. Meinem Vater und meinem älteren Bruder – und zusätzlich bestärkt durch einen Freund der Familie, einem versierten Fotografen – verdanke ich mein Interesse an Fotografie. Im Alter von ungefähr neun Jahren begann ich selbst zu fotografieren und erlernte mit einer einfachen Kamera schrittweise das fotografische Handwerk. Es gab noch keine automatischen Kameras, man musste das Objekt manuell fokussieren und ein Gefühl für die Lichtverhältnisse entwickeln, um die richtigen Einstellungen für Verschlusszeit und Blende abschätzen zu können; dabei galt es auch die Filmempfindlichkeit und die gewünschte Tiefenschärfe in Rechnung zu stellen. Zu meiner Konfirmation im Alter von sechzehn Jahren wünschte ich mir statt der traditionellen Uhr eine semiprofessionelle Spiegelreflexkamera, und zwar – auf den Tipp meines Bruders hin – die japanische ›Pentax Spotmatic‹, die erste SLR-Kamera mit Lichtmessung durchs Objektiv. Die Kamera war so teuer, dass ich die Beiträge aller Schenkenden für dieses eine Geschenk vereinen musste (was damals sehr ungewöhnlich war und viel Überzeugungsarbeit brauchte). Dies habe ich nie bereut: Die technischen Möglichkeiten und die Qualität der resultierenden Bilder beförderten meine Begeisterung fürs Fotografieren ungemein – und alsbald auch meine soziale Stellung im Kollegen- und Freundeskreis: Bald war ich in unserer Schulklasse (und darüber hinaus) »der Fotograf«. Um Geld zu sparen füllte ich die Filme selbst in Cassetten ab und entwickelte die Negative und die Abzüge in der Dunkelkammer, was mir weitere Gestaltungsmöglichkeiten eröffnete (Wahl des Ausschnitts, Unter- oder Überbelichtung gewisser Stellen, Wahl von weichem oder hartem, mattem oder glänzendem, fein- oder grobkörnigen Fotopapier usw.). Später wechselte ich zur Farbfotografie, erst zu Dias, dann zu Farbnegativfilmen, und Anfang dieses Jahrhunderts schließlich zur Digitalfotografie. Noch heutzutage bevorzuge ich semiprofessionelle Spiegelreflexkameras mit qualitativ hochwertigen Objektiven, trage aber auch dauernd eine digitale Compact-Kamera auf mir (heute zunehmend substituiert durch das iPhone), um jederzeit spontan ein Motiv fotografisch festhalten zu können. Nach wie vor fotografiere ich praktisch alles, was sich mir in meinem Alltagsleben, bei Ferienreisen und an außeralltäglichen Anlässen darbietet: Menschen, Tiere, Pflanzen, Landschaften, Häuser, Industrieanlagen, besondere Lichtverhältnisse, alltägliche wie spezielle Ereignisse, in Weitwinkel- oder Tele-Einstellungen. Noch immer bereitet mir das Fotografieren einfach FreuAbb. 1: »Der Fotograf«. Erstes Selbstporträt de: Ich muss mich bei außeralltäglichen Anläsim Spiegel (im Alter von ca. 15 Jahren)
Der Akt des Fotografierens
sen – bei Reisen, an Festen, auf Tagungen, in meinem Garten – nie dazu entscheiden, ich tue es einfach. Eher muss ich mich bewusst entschließen, nicht zu fotografieren und eine Szene einfach so zu genießen, zumal ich oftmals einen inneren Drang verspüre, besondere Anblicke und AugenBlicke festzuhalten – sie zu konservieren und damit der Flüchtigkeit des momentanen Erlebens entgegenzuwirken. Wie so oft sind es die kritischen Fragen von guten Freunden, die viele meiner lebensweltlichen Selbstverständlichkeiten problematisierten. Der eine fragte mich, warum zum Teufel ich in der ganzen Welt herumreise? – ihm wäre dies nämlich viel zu beschwerlich. Seither ist der Wurm drin und ich frage mich bei vielen meiner Tätigkeiten, die ich in selbstverständlicher Gewissheit ausübe: Warum und wozu mach ich das eigentlich? Ein anderer fragte mich wiederholt: »Was machst du eigentlich mit all deinen vielen Bildern?« Gute Fragen! Gute Fragen sind solche, die schwierig zu beantworten sind. Meine reflexive Selbstbeobachtung ergab, dass ich lieber neue Fotos schieße als die bisherigen zu selektionieren und in Alben zu gruppieren. Jeden Frühling fotografiere ich in unserem Garten wieder denselben blühenden Kirschbaum, dieselben Blumen und Blüten, Eidechsen und Schmetterlinge. Wäre es nicht klüger, die Zeit dafür zu verwenden, das vorhandene Bildmaterial zu systematisieren und kritisch zu sichten, das Beste auf Photoshop zu bearbeiten und es in geeigneter Form auszustellen und/oder zu publizieren? Denn mittlerweile ist mir längst klar, dass die Vorstellung, nach der Emeritierung die nötige Zeit dazu zu finden, ziemlich illusorisch ist – meine emeritierten Kollegen scheinen nicht mehr Zeit zu haben als vor ihrer Pensionierung. Überdies zeichnet sich ab, dass auch meine Nachkommen kaum Interesse an meinem Fotoarchiv haben werden. Wozu fotografiere ich also? Für die Schublade? Im Zuge meines Reflexionsprozesses erkannte ich die tiefere lebensweltliche Weisheit des ethnomethodologischen Diktums: »Consider photographing as an activity in its own right.« In der Tat fotografiere ich nämlich, weil mir das Fotografieren als Tätigkeit Spaß macht – the doing of photographing. Nicht das resultierende Bild ist das Wesentliche, sondern der Akt des Fotografierens. Fotografieren ist für mich eine Lebensweise, eine Art zu sehen, mich von visuell wahrnehmbaren Phänomenen beeindrucken, faszinieren und betören zu lassen. Wenn ich fotografiere, bin ich voll konzentriert, mein Bewusstsein – und oft auch mein Körper – sind meist angespannt, ich bin hellwach und fokussiert. In diesem Modus erkunde ich meine unmittelbare Umwelt im Großen wie im Kleinen, erlebe das Spiel von Farben und Formen, von Licht und Schatten, experimentiere mit räumlichen Perspektiven, unterschiedlichen Rahmungen und Kompositionen und der Wahl des »richtigen« Augenblicks – kurz, ich erlebe Ausschnitte meiner Umwelt in einer besonderen Intensität und bin voller kreativer Energie. Dabei spüre ich meine emotionale Erregung und Begeisterung, meine Vitalität – und oft auch echte Leidenschaft. Die Antwort auf das Warum meines Fotografierens hängt also eng zusammen mit dem Wie meines Fotografierens. Dieses Wie versuche ich im Folgenden mit Hilfe der phänomenologischen Lebensweltanalyse zu erhellen.
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D er fotogr afische B lick
als besonderer kognitiver
S til
Wenn ich eine Kamera in der Hand halte, verändert sich meine Art der Wahrnehmung sofort: Meine alltagsweltlichen Arten des Sehens weichen einem fotografischen Blick. Dabei gibt es nicht nur einen fotografischen Blick, sondern derer viele: Sie sind auf unterschiedliche Motive und Objekte gerichtet, deren spezifische Arrangements und Kontexte; und sie vollziehen sich in mannigfaltigen Perspektiven und Rahmungen und zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Ich erlebe diese fotografischen Blicke als einen besonderen Erlebnis- und Erkenntnisstil. Es fühlt sich oft so an als ob ich auf der Jagd wäre: nicht nach wilden Tieren aber nach guten Fotos. Meine »attention à la vie«, um mit Henri Bergson und Alfred Schütz zu sprechen, ist in diesen Momenten viel intensiver als im normalen täglichen Leben, meine sinnliche Wahrnehmung ist auf das Visuelle fokussiert, mein Blick schweift über die Umgebung auf der Suche nach möglichen Bildern. Ich fühle mich sehr präsent, total im Hier und Jetzt. Meine Gedanken sind also nicht irgendwo anders, sondern ich bin mit voller Aufmerksamkeit hier an diesem Ort, zu diesem Zeitpunkt. Doch stellt der fotografische Blick tatsächlich einen besonderen Erlebnis- und Erkenntnisstil dar? Und gäbe es allenfalls in Bezug auf verschiedene fotografische Blickweisen unterschiedliche Erlebnis- und Erkenntnisstile? Oder wären es eher Varianten desselben Stils? Dies möchte ich im Folgenden mit Hilfe der Theorie mannigfaltiger Wirklichkeiten von Alfred Schütz (2003b [1945]) näher erörtern. Die Grundidee stammt bekanntlich von William James (1983 [1890]), der sich in seinen ›Principles of Psychology‹ mit unserem Wirklichkeitssinn beschäftigte. Ein Ding ist wirklich, indem es in einer bestimmten Beziehung zu uns selbst steht. James unterscheidet verschiedene Wirklichkeitsordnungen, »Subuniversa«, von denen jede ihren eigenen Seinsstil hat: die Welt der Sinne und physischen Dinge; die Welt der Wissenschaft; die Welt idealer Beziehungen; die Welt der »Stammesidole«; die verschiedenen übernatürlichen Welten der Mythologie und Religion; die verschiedenen Welten individueller Meinung sowie die Welten des reinen Wahnsinns und verrückter Einfälle. Schütz erblickt in James’ Idee verschiedener Wirklichkeitsordnungen eine der wichtigsten Fragen der Philosophie, schlägt aber vor, die Realitätsbereiche anders zu betrachten: Nicht als durch die ontologische Struktur ihrer Objekte, sondern als durch den Sinn unserer Erfahrung konstituiert. »All diese Welten – die Welt der Träume, der imaginierten Vorstellungen und Phantasien, insbesondere die Welt der Kunst, die Welt der religiösen Erfahrung, die Welt der wissenschaftlichen Kontemplation, die Spielwelt des Kindes und die Welt des Geisteskranken – sind geschlossene Sinnprovinzen« (Schütz 2003b [1945]: 208). Jede dieser Wirklichkeiten hat einen eigenen kognitiven Stil und einen spezifischen Wirklichkeitsakzent; man kann zwischen ihnen nur durch einen Kierkegaardschen »Sprung« wechseln, es gibt keine gleitenden Übergänge und insbesondere auch keine Transformationsformel, mit der sie aufeinander bezogen werden könnten.
Der Akt des Fotografierens
Wie James betrachtet Schütz die intersubjektiv geteilte Alltagswelt – insbesondere deren Kern, die Welt des Wirkens – als »paramount reality«, als »vorrangige Wirklichkeit«. Anhand seiner Analyse der Alltagswelt gewinnt Schütz auch die Kriterien, mittels derer er den spezifischen Erlebnis- und Erkenntnisstil sowie »Wirklichkeitsakzent« verschiedener Sinnbereiche beschreibt: die spezifische Bewusstseinsspannung; die vorherrschende Form der Spontaneität; die spezifische Form der Sozialität; und die spezifische Zeitperspektive. Konkret: Alltägliches Handeln wird mit der höchsten Bewusstseinsspannung vollzogen, das Träumen im Schlaf mit der niedrigsten; die vorherrschende Form der Spontaneität im Alltagsleben ist das Wirken, also das leibliche Einwirken auf die Umwelt, während wir im Traum passiv der Unausweichlichkeit des Traumgeschehens ausgeliefert sind; die Sozialität des Alltags besteht darin, dass wir sie mit anderen intersubjektiv teilen, während wir beim Träumen wesentlich einsam sind; und während sich das Alltagsleben im Schnittpunkt der innerlich erlebten Dauer und der sozialen Standardzeit vollzieht, können Träume eine komplizierte Zeitstruktur aufweisen und Zeitsprünge aller Art beinhalten. Aufgrund seines Interesses an einer philosophischen Begründung der sozialwissenschaftlichen Methodologie untersuchte Schütz (2004; 2010) in seiner Lebensweltanalyse vor allem die »Alltagswelt« einerseits und die »Welt der Wissenschaft« andererseits. Die Analyse der Traumwelt bleibt demgegenüber rudimentär1 und jene der Fantasiewelten pauschal, weil darunter höchst heterogene Sinnprovinzen subsumiert werden, wie Tagträume, Spiel, Erzählung, Märchen, Mythen und Witze. Das entscheidende gemeinsame Merkmal von Fantasiewelten liegt darin, dass sie existieren (im Sinne von Husserls Existentialprädikationen), aber fiktiv sind (im Sinne von Husserls Wirklichkeitsprädikationen also unwirklich) (Schütz 2003b [1945]: 211). Im Rahmen ihrer Herausgabe von Schütz’ (2013) ›Schriften zur Literatur‹ setzen sich Jochen Dreher und Michael Barber (2013) eingehend mit den »ästhetischen Sinnwelten« am Beispiel der Kunst und Literatur auseinander und beziehen sich dabei sowohl auf Schütz’ Charakterisierung der Fantasiewelten als auch auf seine Symboltheorie (Schütz 2003c). Literarische Kunstformen bringen eine ästhetische Wirklichkeit sui generis hervor, deren Außeralltäglichkeit symbolisch appräsentiert wird und vom Leser entsprechend eine ästhetische Einstellung abfordern, also eine außeralltägliche Einstellung, welche den alltagsweltlichen Erfahrungsund Erkenntnisstil transzendiert (Dreher und Barber 2013: 20). In der Tat beschreibt Schütz die Erfahrung des Lesers von Literatur, des Zuschauers eines Theaterstücks, des Zuhörers eines Sinfonieorchesters sowie des Betrachters eines Films oder einer Foto-Serie trefflich: Sie alle können sich in die ästhetischen Sinnwelten vertiefen und in ihnen schwelgen – und 1 | Im Unterschied zu Schütz fühle ich mich in der Traumwelt selbst oft nicht einsam, sondern ich kommuniziere mit Anderen, und bei Alpträumen erlebe ich zuweilen sowohl die Bewusstseinsspannung als auch die leibliche Anspannung als ausgesprochen hoch.
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schrecken durch plötzliche alltägliche Ereignisse, wie das Klingeln eines Handys, das laute Husten eines Anderen im Publikum oder ein überraschendes Missgeschick unter den Artisten hoch und kehren mit einem »Sprung« in die Alltagswelt zurück. Dies betrifft allerdings vorab den Erfahrungsstil von Rezipienten, und folgerichtig beziehen Dreher und Barber denn auch die Rezeptionsästhetik von Wolfgang Iser (1994) mit ein. Auch wenn sie im Anschluss an Schütz betonen, dass die Sinnhaftigkeit eines Kunstwerks auf der Grundlage der Triade von Autor, Werk und Rezipient rekonstruiert werden muss, liegt der Schwerpunkt ihrer Argumentation auf der Rezeptionsästhetik (auch in Bezug auf Fotografie – vgl. Dreher in diesem Band). Und diese setzt voraus, dass die Produktion schon stattgefunden hat und das Werk bereits existiert.2 Handelt ein Fotograf, wenn er fotografiert, nun in der Alltagswelt der pragmatischen Motive oder mit einer ästhetischen Einstellung, die den alltäglichen Erlebnis- und Erkenntnisstil transzendiert? Oder springt er laufend zwischen verschiedenen Sinnwelten hin und her? Wenn ich dies wiederum aus der subjektiven Perspektive betrachte, so scheint es mir, dass ich beim Fotografieren tatsächlich meist – nicht immer – eine ästhetische Einstellung einnehme; das heißt, kulturell erlernte ästhetische Kriterien sind für meine Bildgestaltung zweifellos leitend. Und in der Tat erlebe ich meine fotografischen Blicke als besonderen kognitiven Stil, der von meinem üblichen alltäglichen Erlebnis- und Erfahrungsstil abweicht: So nehme ich nicht aktiv am Geschehen teil, sondern beobachte dieses; und ich versuche mich als Fotograf möglichst unauffällig und unaufdringlich im Hintergrund zu halten, als distanzierter Beobachter. Auch wenn meine fotografischen Blicke sich an ästhetischen Gesichtspunkten orientieren, habe ich nie den Eindruck, sie gehörten einer anderen Sinnwelt an – vielmehr bilden sie Bestandteil meines fotografischen Wirkhandelns. Da sich mein Fotografieren nicht auf Fantasiertes, sondern vornehmlich auf Motive der Natur- und Sozialwelt bezieht, unterscheiden sich auch die Sozialität und die Zeitlichkeit meines fotografischen Handelns nicht von der relativnatürlichen Einstellung der Alltagswelt. Wenn ich fotografiere, muss ich mich nämlich ein-»tunen« in die natürlichen und sozialen Rhythmen meiner Umwelt. Ich muss die polythetischen Akte meiner inneren Dauer möglichst stimmig synchronisieren mit der Sequenzialität des Beobachteten. Das heißt, ich versuche bei sich bewegenden Tieren oder bei handelnden Menschen zu antizipieren, was als Nächstes geschehen wird – um den richtigen oder einen geeigneten Augenblick für die Momentaufnahme wählen zu können. Dabei gilt es auch die Bewegungen außerhalb des Rahmens der Kameraoptik im Auge zu behalten, damit ich jederzeit weiß, ob mir demnächst irgendwer oder irgendwas ins Bild läuft, fährt oder fliegt. Diese volle attentionale Konzentration auf das Hier und Jetzt ist zweifellos einer der Gründe für die hohe Erlebnisintensität, die ich beim Fotografieren empfinde. 2 | Es sei denn, Produktion und Rezeption vollziehen sich uno actu, wie etwa Theater-, Zirkus- oder Tanzvorführungen, Orchesteraufführungen oder Pop- und Jazzkonzerte, oder auch »action art« – was auf die Fotografie indes nicht zutrifft.
Der Akt des Fotografierens
Mein fotografisches Handeln ist also eng mit einer ästhetischen Einstellung verknüpft. Und diese transzendiert die relativ-natürliche Einstellung der Alltagswelt keineswegs, sondern ist eng mit ihr verbunden. Wenn die ästhetische Einstellung anhand von Kunstwerken erläutert wird, liegt es nahe, sie als alltagstranszendierend zu charakterisieren. Sie darf jedoch nicht als Prototyp verstanden werden, der auch für die Alltagsästhetik maßgeblich ist. Wir sind im Alltag dauernd umgeben von Gebäuden, Möbeln und alltäglichen Gebrauchsgegenständen, die alle ein konkretes Design haben. Sie bilden in ihrem Sosein Teil der leiblich wahrgenommenen, räumlichen Atmosphäre (vgl. Schmitz 2014). Die einzelnen Menschen nehmen dies wohl unterschiedlich stark wahr – viele eher unbewusst, andere bewusst, und einige kennen sich sogar wirklich gut in den verschiedenen Stilen aus. Die meisten können aber in einem ganzheitlichen Sinne spüren, ob es ihnen in einer gegebenen Atmosphäre wohl oder unwohl ist. In Bezug auf Schütz’ Theorie der mannigfaltigen Wirklichkeiten manifestieren sich also im Wesentlichen zwei Kernprobleme: Erstens die Frage, ob man diese Mannigfaltigkeit entlang der Unterscheidung »paramount reality« und fiktiver Wirklichkeiten (Traum, Fantasiewelten) auf wenige Typen reduzieren will – was etwa der Auffassung von Luckmann entspricht (Schütz/Luckmann 1975: 42–52) – oder ob man auch innerhalb der Alltagswelt verschiedene Sinnwelten unterscheidet (wie Schütz oben vorgeschlagen hat). Letzteres dürfte angesichts der soziologischen Tradition, »Subkulturen« zu unterscheiden, einige Plausibilität beanspruchen. Dann stellt sich aber zweitens das Problem, dass Schütz die verschiedenen Wirklichkeiten als »geschlossene Sinnprovinzen« konzipiert und davon ausgeht, dass der jeweilige kognitive Stil eines Sinnbereichs die Konsistenz und Kompatibilität der Erfahrungen gewährleiste. Gemäß Schütz gibt es zwischen diesen Sinnbereichen keine Übergänge, sondern nur Sprünge. Hubert Knoblauch (2011; 2014) hat detailliert aufgezeigt, dass sich Schütz damit eine Theorie kreativen Handelns verbaut: Indem er die Fantasie als eigenständigen geschlossenen Sinnbereich ausweist, klammert er sie aus der Alltagswelt aus; sie bildet dort allenfalls »Enklaven« – Schütz führt dies aber nicht weiter aus (2003b [1945]: 209, Fn. 20). Für die Produktionsästhetik stellt sich genau dasselbe Problem. Meine Akte des Fotografierens sind alltagsweltliche, pragmatische Wirkhandlungen, die eng mit einer ästhetischen Einstellung verwoben sind; und wenn ich experimentiere, dann ist auch eine gehörige Portion Fantasie und Imagination involviert. Es scheint mir daher für eine soziologische Theorie der Produktionsästhetik zielführender zu sein, nicht nach formalen Merkmalen des spezifischen Erkenntnis- und Erfahrungsstils geschlossener Sinnwelten zu suchen, sondern die Wirkhandlungen zu erkunden, die von bestimmten Relevanzsystemen (und den entsprechenden attentionalen Zuwendungen) sowie von Wissensbeständen und deren Typik geleitet sind. Diese Konzeption eröffnet zugleich den Blick darauf, dass es mannigfaltige kulturelle Praktiken des Fotografierens gibt, die an unterschiedlichen Fachwissensbeständen wie Ästhetiken sowie an verschiedenen Relevanzsystemen orientiert sind und von der Soziologie empirisch erforscht werden können.
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D er A k t des F otogr afierens im L icht der phänomenologischen H andlungstheorie Die Konstitution des Handlungssinns Gemäß Schütz bezieht Handeln seinen Sinn durch die als abgeschlossen vorgestellte Handlung modo futuri exacti. Schütz und Luckmann (1984: 73–83) argumentieren, dass es viel leichter zu bestimmen sei, wann eine Handlung beginne als wann sie ende. Nach Schütz (2004) beginnt eine Handlung dann, wenn die Entscheidung, sie auszuführen, gefällt wird. Vorher nimmt man »petites perceptions« (Leibniz) wahr, also undeutlich wahrgenommene Phänomene an den Rändern des Bewusstseins, aus denen sich durch attentionale Zuwendung eine Sinnfigur, z. B. ein mögliches Motiv vor einem Hintergrund formiert. Dann imaginiert man vielleicht mögliche Handlungsalternativen, aus denen eine Wahl zu treffen ist. Aber erst das »voluntative fiat« (William James) transformiert den Handlungsentwurf in eine Absicht. Wird diese in der Folge durch konkretes Handeln umgesetzt, muss der Akteur dann auch mit situativen Kontingenzen und Imponderabilien zurechtkommen, die in seinem Handlungsentwurf nicht eingeplant waren. Im Laufe des Vollzugs einer Handlung kann sich deren Sinn daher ändern, sodass sich der eigentliche Handlungssinn erst im Nachhinein bestimmen lässt. Während sich Handlungen sequenziell und inkrementell in polythetischen Akten der Sinnkonstitution entfalten, können sie antizipativ oder retrospektiv als monothetische Einheiten interpretiert werden. Welche Spannweite eines Handlungsablaufs dabei ins Auge gefasst wird, hängt vom jeweiligen Relevanzsystems des Interpreten ab: So kann eine einzelne kurze Handlung oder auch ein gesamter, längerer Handlungszusammenhang als zusammengehörige Handlungseinheit in den Blick genommen werden. Dabei lassen sich auch typische Um-zuMotive und typische Weil-Motive unterscheiden. Handlungsroutinen können allerdings derart internalisiert, inkorporiert und selbstverständlich werden, dass die Um-zu-Motive sich in tieferen Bewusstseinsschichten sedimentieren und dem Akteur nicht mehr leicht zugänglich sind. Die geschilderte Handlungstheorie ist feinsinnig konzipiert und eignet sich zur Analyse der meisten Handlungen. Sie lässt sich auch gut auf die Schnappschuss-Fotografie anwenden – auf jene Art des Knipsens, das seit dem Aufkommen der Digitalkameras und der Smartphones ubiquitär geworden ist. Ich erblicke etwas und fühle den Impuls, es in einem Foto festzuhalten, oder jemand fordert mich auf ein Foto zu machen. Ich zögere vielleicht kurz, dann entscheide ich es zu tun, ergreife meine Kamera, halte sie vor meine Augen und drücke auf den Auslöser. Dies ist in der Regel eine sehr kurze Handlung, die nur wenige Sekunden dauert. Man kann die Wahrnehmung bzw. die verbale Aufforderung als Weil-Motiv, die Idee zu fotografieren als Handlungsentwurf, die Entscheidung es zu tun als Willensakt und schließlich das Ergreifen der Kamera und das Schießen des Bildes als Akt des Fotografierens begreifen. Aber oft ist die Sachlage wesentlich komplizierter. In meinem Falle beispielsweise scheint mir viel-
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mehr bereits mein fotografischer Blick, mein fotografisches Sehen einen konstitutiven, integralen Bestandteil des Akts des Fotografierens zu bilden. Noch pointierter ausgedrückt: Für meine Art des Fotografierens ist das »Sehen von Bildern« der primäre Teil des Fotografierens, das Festhalten des Gesehenen mit der Kamera der sekundäre. Dies nicht nur im Sinne der konsekutiven Abfolge, sondern auch hinsichtlich ihrer Relevanz. Meine fotografischen Blicke erstellen vor meinem inneren Auge auch dann Bilder – im üblichen, rechteckigen Format – wenn ich gar keine Kamera dabei habe. Im Unterschied zu Schütz und Luckmann scheint mir daher der Anfang meiner fotografischen Akte gar nicht so leicht bestimmbar zu sein. Umgekehrt war ihr Ende bislang ziemlich offenkundig. Denn früher, bei meinem Fotografieren mit einer analogen Spiegelreflexkamera, war ihr Ende eindeutig durch das Betätigen des Auslösers bestimmt: Ein fotografischer Akt – ein Foto. Daran konnten sich weitere Akte des Fotografierens anschließen, aber es war eigentlich klar, dass das Foto mit dem Drücken des rechten Zeigefingers auf den Auslöseknopf »im Kasten« war. Wie das Bild dann tatsächlich aussah, erfuhr ich erst Tage oder Wochen später, wenn der Film fertig belichtet, eingeschickt, entwickelt und in Form von Diapositiven oder Papierabzügen zurückgekommen war. Selbst wenn ich die Schwarz-Weiß-Filme selbst entwickelte und in der Dunkelkammer Abzüge herstellte, war dies für mich nicht mehr »Fotografieren«, sondern eben »Fotos entwickeln«. Welche Bezeichnungen man auch immer in der Kommunikation verwendet – ein Profifotograf erklärte mir, für ihn sei der gesamte Prozess »Fotografieren« – die einzelnen Teilhandlungen ließen sich damals klar voneinander abgrenzen. Die Digitalfotografie veränderte dies jedoch grundlegend: Nun konnten die Bilder sofort betrachtet werden, was den Akt des Fotografierens um neue Teilhandlungen erweiterte. Interessant ist in diesem Zusammenhang meine Selbstbeobachtung, dass ich die sequenzielle Abfolge aus der Zeit der analogen Fotografie derart in meinen fotografischen Handlungsroutinen verinnerlicht und inkorporiert hatte, dass ich bei meiner digitalen Spiegelreflexkamera lange Zeit weiterhin dazu neigte, die Kamera nach dem Blick in den Sucher und dem Betätigen des Auslösers sofort abzusetzen – und das gemachte Bild gar nicht zu betrachten. Erst mit andersartigen Aufnahmegeräten – der digitalen Kompaktkamera und dem iPhone – entwickelte ich auch andere Fotografier-Routinen: Da diese Kameras keinen Sucher haben, muss die Bildkomposition auf dem integrierten Bildschirm vorgenommen werden. Dies impliziert, dass man nicht nur das potentielle Foto vor, sondern auch das resultierende Foto nach dem Druck auf den Auslöser im Blick hat. Da die digitalen Apparate sowohl fürs Aufnehmen als auch fürs Betrachten von Fotos konzipiert sind, haben sich auch neuartige Praktiken des Fotografierens herausgebildet: Die Fotos werden sofort nach der Aufnahme betrachtet und beurteilt, manchmal gelöscht und nochmals neu gemacht, manchmal auch sogleich an andere verschickt. Bei der Digitalfotografie endet die Handlung des Fotografierens daher nicht mehr mit dem Betätigen des Auslösers, sondern es gibt eine ganze Reihe typischer Anschlusshandlungen, die sich inzwischen global verbreitet haben.
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Phänomenologie der Wahrnehmung Da die Aufmerksamkeit des Fotografen während des Fotografierens intentional auf das gerichtet ist, was vor seinem Auge erscheint, kommt eine Analyse des fotografischen Aktes nicht ohne Wahrnehmungstheorie aus. Die Phänomenologie eignet sich dafür trefflich, da sie als Erkenntnistheorie unmittelbar bei der Wahrnehmung ansetzt. Sie beschränkt ihre Analysen nicht auf die semiotische Ebene, begeht also nicht wie die Semiotik den Fehler, alles als Zeichen zu interpretieren; vielmehr geht es ihr um die Schichten darunter, nämlich um die Typisierungsprozesse, also die vorsprachlichen, präprädikativen und präreflexiven Prozesse der Sinnkonstitution (vgl. a. Srubar in diesem Band). Entscheidend in unserem Zusammenhang ist nun aber Husserls Unterscheidung zwischen Empfindung und Wahrnehmung. Beide vollziehen sich im »inneren Zeitbewusstsein« und sind untrennbar mit dem Leib verbunden, der den »Nullpunkt aller Orientierungen« bildet (Husserl 1952a: 158). Empfindungen stellen die fundierende, hyletische Schicht jeder Gegenstandskonstitution, quasi das »Rohmaterial« dazu dar. Allerdings konstituieren Empfindungen alleine noch kein »Ding«, bilden aber verschiedene »Sinnesfelder« (1952b: 5). Hussel unterscheidet dabei Farb-, Ton-, Tast- sowie kinästhetische Empfindungen. Diese bilden ein eigenes Forschungsfeld, die »reine Hyletik«. Dieser Bereich blieb in der Phänomenologie allerdings marginal, da sich Husserl in seinen Untersuchungen vor allem mit Intentionalitäten beschäftigte: Ein »Ding«, eine konkrete Gegenständlichkeit, entsteht erst durch die sinnkonstituierenden egologischen Bewusstseinsleistungen der »Apperzeption«, also durch einen intentionalen Wahrnehmungsakt. In den Apperzeptionen sind sinnlich wahrnehmbare Phänomene also bereits als sinnhafte konstituiert, und ihre Sinnhaftigkeit wird durch »Appräsentationen« – also der Mitvergegenwärtigung von sinnlich nicht unmittelbar Wahrnehmbarem – sowie durch weitere Interpretationsschemata (Schütz) erweitert. Bemerkenswert ist nun, dass ich beim Fotografieren selbst diese grundlegende Ebene oft noch unterschreite. Zwar ist auch meine sinnliche Wahrnehmung immer eng mit Sinnkonstitution verwoben – als kulturell sozialisierter Mensch kann ich nicht auf eine Naturlandschaft blicken, ohne »Wiesen« und »Wälder«, »Hügel« und »Berge«, »Kühe« und »Schafe«, »Bäume« und »Sträucher«, »Häuser« und »Dörfer«, »Kirchtürme« und »Funkmasten«, »Täler« und »Seen«, »Autos« und »Menschen« usw. zu sehen. Ich erlebe indessen auch jene Empfindungsschicht darunter, wo es eben nicht um die Sinnhaftigkeit des Gesehenen, sondern vielmehr um die Lichtverhältnisse und Kontraste, um Formen und Farben geht. Diese leiblichen Empfindungen können für mich eine überwältigende Intensität haben und mich völlig faszinieren – sodass die Sinnhaftigkeit des Wahrgenommenen demgegenüber in den Hintergrund tritt. Meine visuelle Wahrnehmung nimmt also oft sowas wie eine »eidetische Reduktion« vor, welche die Sinnhaftigkeit unterläuft und sich auf die Ebene der Empfindungen reduziert – wobei sie allerdings fast unvermeidlich mit der Ebene
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der Sinnhaftigkeit oszilliert und sich als solche auch gar nicht verbal beschreiben lässt. Oft stürme ich mit der Kamera aus dem Haus, weil ich durchs Fenster ganz besondere Lichtverhältnisse gesehen habe – zum Beispiel dank besonderer Wolkenformationen in der Abendsonne. Diesen »fotografischen Blick« habe ich immer, er bildet keine »Enklaven« in den pragmatischen Handlungszusammenhängen meines Alltagslebens, er transzendiert meinen Alltag auch nicht, vielmehr charakterisiert er einen inkorporierten Erkenntnis- und Erfahrungsstil und gewissermaßen meine Lebensweise. Es ist ein – zweifellos »ästhetischer« – Blick auf meine Umwelt im Hier und Jetzt, und aufgrund meiner langjährigen fotografischen Praxis erblicke ich oft Bilder, sehe also rechteckig gerahmte Ausschnitte, die eine schöne Fotografie darstellen würden. Immer wieder sehe ich auch Bilder, bei denen ich aufgrund meines fototechnischen Wissens sogleich erkenne, dass daraus niemals ein gutes Foto entstehen könnte und ich sie demnach ausschließlich als »innere Bilder« genießen muss. Bei meinem Fotografieren ist nicht das übliche Handlungsziel – nämlich das Erstellen von Bildern – das Wesentliche, sondern vielmehr der Prozess des Fotografierens selbst: Dieses »Going-with-the-flow«, dieses Gewahrsein dessen was sich meinem Blick gerade darbietet, diese volle Aufmerksamkeit fürs Visuelle im Hier und Jetzt, diese totale Erlebnisintensität und leidenschaftliche Faszination.
Residuen phänomenologischer Analysen Phänomenologische Analysen nehmen konkrete Phänomene als Ausgangspunkt und versuchen durch eidetische Reduktionen zu deren eigenwesentlicher Struktur vorzudringen. Schütz ist auch für die Entwicklung seiner Handlungstheorie so vorgegangen: Er ging von konkreten materialen Handlungstypen aus, um die Prozesse der Sinnkonstitution in phänomenologischer Deskription herauszuarbeiten – also jene formalen Strukturen, die für alle Handlungen universale Gültigkeit haben. Es gibt nun zwei unterschiedliche Optionen, diese Handlungstheorie zu handhaben: Man kann sie entweder als universal erklären und beliebige konkrete Handlungen in ihrem Licht behandeln. Oder man kann konkrete Handlungen analysieren, um die Theorie zu prüfen und gegebenenfalls einige Residuen zu entdecken. Ich wähle nun diese zweite Option. Bei der Erörterung meiner (idiosynkratischen) Art zu fotografieren, bin ich auf folgende Punkte gestoßen, die man als solche Residuen phänomenologischer Analysen bezeichnen kann. Diese Punkte sollten noch weiter vertieft werden: Erstens: Welche Sinnwelten in der Theorie der mannigfaltigen Wirklichkeiten unterschieden werden sollen – wenige, fiktive jenseits der Alltagswelt oder auch, analog zum Begriff der »Subkulturen«, unterschiedliche Sinnwelten innerhalb der Alltagswelt – habe ich oben bereits diskutiert. Innerhalb der Alltagswelt scheint es mir adäquater, pragmatische Handlungen (wie Fotografieren) als von Relevanzsystemen sowie Wissensvorräten und deren Typik geleitet zu verstehen und empirisch zu untersuchen,
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als nach den formalen Merkmalen eines Erkenntnis- und Erfahrungsstils zu suchen, der »geschlossene« Sinnprovinzen konstituiert. Zweitens: Für die meisten alltäglichen Handlungsweisen scheint Schütz’ Handlungstheorie zuzutreffen. Es gibt allerdings auch Handlungstypen, deren Sinn sich nicht durch ein pragmatisches Um-zu-Motiv kon stituiert, sondern bei denen das Handeln als Prozess einen Eigensinn hat. Beim Meditieren oder beim Ausführen von Tai-Chi-Bewegungen geht es nicht darum, ein Ziel zu erreichen. Vielmehr besteht der Sinn in der Tätigkeit selbst: Es geht um das Erleben-im-Hier-und-Jetzt, das völlige Aufgehen im Moment – sei es sitzend oder sich bewegend. Das sind vielleicht marginale Sonderformen gegenüber der Masse von Alltagshandlungen, aber sie stehen meinem Erlebnis von Fotografieren wesentlich näher. Mit der Zuschreibung von Um-zu-Motiven auf sämtliche Handlungsformen wird man einigen von ihnen wohl kaum gerecht. Drittens: Fotografieren ist leibliches Handeln, nicht nur bezüglich eingespielter Handlungsroutinen, sondern weil der Leib im Hier und Jetzt den »Nullpunkt« aller Orientierung bildet. Für die Wahl der »richtigen« Perspektive bewege ich mich als Fotograf dauernd im Raum und erprobe unterschiedliche Positionen; ich bücke mich, knie mich hin oder lege mich auf den Boden, oder ich strecke mich nach oben oder klettere zu höher gelegenen Standorten. Alle diese leiblichen Handlungen sind immer geleitet von meinem fotografischen Blick, dabei gehe ich oft völlig in der visuellen Wahrnehmung auf, der sich dann alles unterordnet – schon öfters habe ich »selbstvergessen« körperliche Verrenkungen vorgenommen, die mit einem Hexenschuss geendet haben. Phänomenologische Analysen der Leiblichkeit sind noch heute wegweisend. Wahrnehmung und Handeln sind immer an den Leib gebunden. Bereits bei Husserl war Leiblichkeit ein sinngenerierendes Moment, und auch Schütz hat sich im Anschluss an Bergson mit der Rolle des Leibs beschäftigt (vgl. dazu ausführlich: Eberle 2017; vgl. a. Keller und Meuser 2011). Wie sich Husserl weniger den Empfindungen als den Intentionalitäten widmete, führte auch Schütz seine Überlegungen zum Leib nicht weiter – für sein Vorhaben, die Methodologie der Sozialwissenschaften philosophisch zu begründen, spielten sie eine nebensächliche Rolle. Dies ist wohl ein Grund, warum die heutigen Sozialwissenschaften bezüglich Leiblichkeit eher MerleauPonty (1974 [1945]) oder Schmitz (1965) rezipieren (vgl. Gugutzer 2006). Dabei war Schütz auf gutem Weg, mit seiner »Lehre von den wesentlich aktuellen Erlebnissen« (Schütz 2003a: 33 ff.) – die nicht artikuliert, nicht erinnerbar und damit der Reflexion entzogen sind – einen wesentlichen Beitrag beizusteuern, der das Erlebnis meiner Art des Fotografierens trefflich auf den Punkt bringt. Viertens: Fotografieren ist oft leidenschaftliches Handeln. Schütz hat Leidenschaft zwar da und dort erwähnt, doch eher als Residuum behandelt, und oft eher im abschätzigen Sinne.3 Wie man die Ebene des Sinnhaften 3 | So schreibt er zum Beispiel, der »Mann auf der Straße« begnüge sich »mit der grundsätzlichen Vagheit eines bloßen Rezeptwissens oder mit der Irrationalität
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beim Fotografieren in gewissem Maße auch unterschreiten muss, gilt es auch der Leidenschaft mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Mein Fotografieren ist passioniertes Handeln, das in mir nach wie vor Erregung auslöst. Will man Akte des Fotografierens näher aufschlüsseln, kommt man in vielen Fällen nicht umhin, auch die Leidenschaft, die Begeisterung, die Faszination der fotografischen Akteure zu thematisieren – sofern diese im konkreten Fall festzustellen sind.
D ie V ielfalt fotogr afischer H andlungst ypen Nach diesen grundlagentheoretischen Erörterungen zur phänomenologischen Handlungstheorie soll im Folgenden der Blick geöffnet werden auf die empirische Vielfalt fotografischer Handlungstypen. Zum einen kenne ich verschiedene Arten zu fotografieren aus eigener Erfahrung; zum anderen kann das gesellschaftliche Feld fotografischer Praktiken auch soziologisch erforscht werden.
Projektfotografie und Gebrauchsweisen neuer Apparate Bereits meine subjektive Innensicht legt den Blick frei für verschiedene fotografische Handlungstypen. »Going-with-the-flow« ist zwar meine bevorzugte Art zu fotografieren, doch habe ich natürlich auch andere Arten kennengelernt und selbst praktiziert: So wurde ich wiederholt von Freunden gebeten, ein Hochzeitsfest oder eine Geburtstagsparty zu fotografieren. Lässt man sich da als Fotograf einfach treiben, kann es passieren, dass Schlüsselmomente verpasst werden und dass es vielleicht Bilder von allem Möglichen, aber kaum von den Geehrten und Gefeierten gibt. Anlässe zu fotografieren, sind eigentliche Projekte: Man muss den geplanten Ablauf und die vorgesehenen Ereignisse im Voraus kennen und sich genau überlegen, was und wen man von wo aus welcher Perspektive fotografieren will. Dazu ist es von Vorteil, wenn man sich bereits vor dem Anlass mit den Örtlichkeiten vertraut gemacht hat. Wichtig ist aber auch, dass man kreativ ist und Fantasie walten lässt: Das Geschehen zu antizipieren, reicht nicht – man sollte sich die Bilder bereits im Voraus »ausmalen« können, sie fantasievoll entwerfen und überdies überlegen, welche Szenen man selbst arrangiert, damit die Fotos auch wirklich optimal und vielleicht sogar einzigartig werden. Als Amateurfotograf bin ich bezüglich Projektfotografie einem Profifotografen immer unterlegen – ich habe nicht nur zu wenig Erfahrung mit dieser Art zu fotografieren, ich habe mich auch zu wenig tiefgründig damit auseinandergesetzt. – Je nach Art des Projekts stellen sich jeweils andersartige Herausforderungen. Als ich das ethnografische Forschungsprojekt an der Kunstmesse ›Art Basel‹ fotoseiner ungeklärten Leidenschaften und Gefühle«, während der »gut informierte Bürger« sich um vernünftig begründete Meinungen bemühe selbst auf Gebieten, die ihn nur mittelbar betreffen (Schütz 2011: 117 – Hervorhebung im Original).
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grafisch begleitete, konnte ich relativ unbefangen das Feld betreten und mich analog zum Forschungsstil der »Grounded Theory« einfach mal im Feld tummeln, mich umschauen und erleben, was meine Blicke auf sich zog. Das war »Going-with-the-flow«. Doch bald mussten wir uns systematischer mit der Frage befassen, was wir eigentlich visuell dokumentieren wollen und warum? Im Unterschied zu den Pressefotografen, die immer auf das Besondere, Aktuelle, Neuartige fokussieren, ging es in unserer Ethnografie eher darum, das Typische, Kennzeichnende herauszuarbeiten. Da sich diese Kunstmesse – im Unterschied zur »Einmaligkeit« eines Hochzeits- oder Geburtstagsfests – jedes Jahr wiederholt, konnte man alles »Typische«, das man bislang festzuhalten verpasst hatte, auch noch im Folgejahr fotografieren. Aber die Frage wurde immer bohrender: Welchen Typ Bilder brauchen wir für unser Projekt? Bilder, die direkt mit den soziologischen Forschungsfragen zusammenhängen, oder (auch) Bilder, die eher deren Kontext betreffen, zum Beispiel die Atmosphäre(n) an der ›Art Basel‹? (Vgl. das Endergebnis in Schultheis et al. 2015.)
Abb. 2: Im ethnografischen Einsatz an der Kunstmesse ›Art Basel‹
Meine Art und Weisen zu fotografieren, veränderte sich auch mit neuen Apparaten. Die alte Gewohnheit, eine schwere Spiegelreflexkamera mit Zoom-Objekt mit mir herumzutragen, führte zur Unterscheidung von Lebenssituationen, in denen ich fotografierte, und solchen, in denen ich nicht fotografierte. Denn die Möglichkeit zu fotografieren, setzte voraus die Kamera dabei zu haben. Dies änderte sich mit der Compact-Kamera, die ich fast immer auf mir trug. Am radikalsten veränderte sich die Situation dann aber durch das iPhone. Durch den Sucher zu blicken, ein Bild zu komponieren und dann abzudrücken – das erinnerte doch sehr an die Jagd. Daher auch die metaphorische Applikation der Jägersprache: Ich machte mich auf die Pirsch, zielte mit meiner Kamera mit langem Objektiv (wie mit einem Gewehr) auf Objekte und schoss Fotos. Wie beim Jäger der Schuss sitzen muss, musste das Bild bezüglich Motiv, Ausschnitt,
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»richtigem« Zeitpunkt und Belichtung perfekt sein. Dass ich dann Übergangsprobleme hatte und meine verkörperten Routinen bei der digitalen Spiegelreflexkamera nicht veränderte – also die Fotos nach dem »Schuss« nicht anschaute – habe ich bereits beschrieben. Mit der Digitalkamera drücke ich nun zwar viel öfters ab und mache meist mehrere Aufnahmen desselben Objekts – das kostet ja auch nichts mehr. Auf eigentliches »Seriefeuer« verzichte ich jedoch nach wie vor, denn das Klappern des Spiegels in der Kamera – das auch bei meiner digitalen SLR-Kamera zu hören ist – klingt dann wie ein Maschinengewehr. Mit dem iPhone veränderte sich Vieles: Erstens ist das Smartphone dank der stetigen Qualitätsverbesserungen von Kamera und Bildverarbeitung eine echte Alternative geworden. Zweitens werden die Bilder, die ich mit dem iPhone mache, automatisch auf meine Fotodatenbank auf dem Server übertragen. Drittens habe ich das iPhone immer griff bereit und überall dabei. Viertens ist es viel weniger intrusiv: Da es ein Multifunktionsgerät ist, hat man sich allgemein daran gewöhnt, dass viele Menschen es fast überall in ihren Händen halten und auf den Bildschirm starren – jedoch weiß man selten, was sie gerade tun. So kann man mit dem Smartphone rasch und oft auch unbemerkt Bilder von Personen machen, wie es mit der Kamera nicht möglich ist: Die Menschen spüren förmlich, wenn man eine große Kamera auf sie richtet – und verhalten sich entsprechend (sie wenden sich ab, erstarren oder bewegen sich unnatürlich, formen ihr Gesicht zu einer Maske oder setzen ein förmliches Lächeln auf usw.); mit dem Smartphone dagegen »erwischt« man sie in der Regel »natürlicher«. Angesichts dieser Vorteile fotografiere ich immer mehr auch mit dem iPhone und habe mich stärker auf Schnappschüsse verlegt: die rasche Aufnahme eines besonderen Moments, eine kurze Dokumentation für die Erinnerung, das Festhalten eines ästhetischen Anblicks. Ich komponiere das Bild viel weniger, sondern rechne mit breiterem Rand, damit ich den Bildausschnitt und die Linienverläufe am Computer noch korrigieren kann, ohne das intendierte Bild beschneiden zu müssen. Auch mache ich öfters rasche Bildfolgen, manchmal Serien von 30 Bildern, ähnlich einer Filmsequenz, um den »richtigen Augenblick« im Nachhinein bei der Betrachtung und Selektion zu bestimmen. Damit verschiebt sich – fünftens – aber auch der Fokus vom Aufnehmen zur Bildbetrachtung: Die Tätigkeiten des nachträglichen Auswählens und Bearbeitens werden immer wichtiger.4
Das gesellschaftliche Feld fotografischer Praktiken Soziologische Forschung muss die subjektiven Erfahrungen konkreter Akteure ernstnehmen, sie aber im Rahmen gesellschaftlicher Kontexte auch objektivieren. Die subjektiven Erlebnisse unter Einbezug phänomenologi4 | Smartphones haben noch weitere Vorteile, die ich hier übersprungen habe, weil ich sie selbst nicht verwende: Beispielsweise der Einsatz spezieller Apps für die Aufnahme (Einsatz von Filtern und »Special Effects«) und die nachträgliche Bildbearbeitung (vgl. dazu Eisewicht und Grenz in diesem Band).
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scher Erkenntnisse zu analysieren, hat gegenüber Fremdbeobachtungen den erheblichen Vorteil, dass die Prozesse der Sinnkonstitution aus der Innensicht des Akteurs im Detail erschlossen werden können, während Fremdverstehen stets nur approximativ möglich ist (Schütz 2004). Meine autobiografischen Selbstbeobachtungen spiegeln aber auch gesellschaftliche Verhältnisse, indem sie sich auf jenes soziokulturelle Milieu zu einer bestimmten historischen Zeit beziehen, in dem ich aufgewachsen bin und später gelebt habe. Ich habe meine fotografischen Praktiken nicht erfunden, sondern ich habe sie von Anderen erlernt; ich weiß auch aus Gesprächen, dass ich sie mit vielen anderen Fotografen teile. Da es sich also um kollektive Praktiken handelt, haben meine Selbstreflexionen nicht nur autobiografischen, sondern eben auch autoethnografischen Charakter. In welchem Ausmaß diese Praktiken gesellschaftlich verbreitet sind und welche weitere Arten des Fotografierens es heutzutage gibt, kann nur in einem größer angelegten soziologischen Forschungsprojekt ergründet werden. Das gesellschaftliche Feld fotografischer Praktiken zu erforschen, ist jedenfalls eine spannende Aufgabe. Erst dadurch dürfte es möglich werden, eine eigentliche Typologie zu erarbeiten und meine eigenen Praktiken im Feld zu verorten. In einem bescheidenen Rahmen bin ich bereits ein wenig in diese Richtung vorgestoßen, indem ich längere qualitative Interviews mit unterschiedlichen Personen über ihre Art des Fotografierens führte. Damit wollte ich meine begrenzten biografischen Erfahrungen überschreiten mit dem Ziel, durch den Vergleich mit andersartigen empirisch vorfindlichen Praktiken meine subjektive Perspektive relativieren und kontextualisieren zu können. Gleichzeitig erhoffte ich mir durch den empirischen Vergleich, dass auch meine persönlichen Idiosynkrasien schärfere Konturen gewinnen. Diesem Ziel bin ich dank der bisher gesammelten Interviewdaten – die auch stets Anlass zur Vertiefung meiner Selbstreflexion gegeben haben – deutlich näher gekommen. Zum einen schälten sich meine »Sehweisen« und »Sehtechniken« (Soeffner und Raab 1998) deutlicher heraus, die einerseits stark von der Romantik geprägt sind, andererseits aber auch von den weit verbreiteten fotografischen Vorbildern meiner Jugendzeit: der dokumentarischen Fotografie und der Bildgestaltung der ›Life‹- und ›Magnum‹-Fotografen. Zum anderen wurde mir klar, dass es zahlreiche fotografische Praktiken gibt, die ich selbst noch nie angewandt habe, wie etwa die »Lomografie«. Viele »digital natives« verwenden auch zahlreiche Apps sowohl für den Aufnahmemodus als auch für die Bildbearbeitung in einer Selbstverständlichkeit, die mir fremd ist. Ein treffliches Beispiel schildern Eisewicht und Grenz (in diesem Band), bei dem Paul Eisewicht versucht, ein Bild dank Filtereinsatz möglichst so einzufangen, wie er es momentan subjektiv erlebt bzw. »sieht« – und diesen Eindruck für später zu konservieren. Demgegenüber habe ich eine angestammte Präferenz für das »Originalfoto«, welches das Gesehene möglichst unverfälscht festhält – nachträglich kann man es immer noch bearbeiten. Bei meinen Interviews hat sich allerdings auch gezeigt, dass es den Befragten schwerfiel, über ihre Art des Fotografierens Auskunft zu geben.
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Damit manifestierte sich einmal mehr die grundlegende Relevanz der phänomenologischen Erkenntnis, subjektive Erfahrung und verbalisierte Erfahrung zu unterscheiden. Häufig setzte das Interview jedoch beim Befragten einen Reflexionsprozess in Gang, oft verbunden mit bewusster Selbstbeobachtung; dessen Ergebnisse versuchte ich anschließend durch Folgeinterviews festzuhalten. Im Fortgang meines kleinen »pet projects« werde ich in einem nächsten Schritt auch die ethnografische Methode des »go-along« (Kusenbach 2003) verwenden, also andere Fotografen persönlich begleiten, sie beobachten und ihnen während ihres Fotografierens Fragen stellen. Von dieser zusätzlichen Datensorte verspreche ich mir wertvolle Ergänzungen.
S chlussbe tr achtung Im vorliegenden Beitrag habe ich den Akt des Fotografierens aus meiner subjektiven Perspektive als Amateurfotograf untersucht. Die Selbstbeobachtung meiner Art(en) zu fotografieren habe ich zum Ausgangspunkt genommen, um einige grundlagentheoretische Erörterungen zur Theorie der mannigfaltigen Wirklichkeiten und der phänomenologischen Handlungstheorie anzustellen. Die Erkenntnisse der Phänomenologie erwiesen sich als sehr hilfreich, die Handlung des Fotografierens zu analysieren, es haben sich aber auch einige Residuen manifestiert, die eine vertiefte Analyse erfordern. Schließlich habe ich die Perspektive hinsichtlich des gesellschaftlichen Feldes fotografischer Praktiken geöffnet, das einer soziologischen Erforschung harrt und die autobiografische und autoethnografische Sicht überschreitet und relativiert. Gleichzeitig verleiht es persönlichen Idiosynkrasien schärfere Konturen. Ich nehme an, dass es sich bei meiner Begeisterung fürs Fotografieren als Tätigkeit und meinem relativen Desinteresse an den resultierenden Bildern um eine derartige Idiosynkrasie handelt. Trotzdem wäre es für mich keine akzeptable Option, ohne Film bzw. ohne Speicherkarte zu fotografieren. Für mein Fotografieren bildet die implizite Leitidee des Festhaltens eines visuellen Augenblicks doch einen konstitutiven und integralen Bestandteil. Dies mag zwar tiefenpsychologische Erklärungsversuche auf den Plan rufen, es geht hier aber um etwas Anderes: Meine Faszination liegt in der hohen Erlebnisintensität, die ich beim Fotografieren empfinde, und dies vermag nur die echte Handlung zu erbringen – eine Simulation könnte diese Erlebnisintensität niemals erzeugen. Beim Verfassen dieses Aufsatzes dachte ich mir, dies wäre doch nun eine gute Gelegenheit, der Leserschaft eine ansprechende Auswahl meiner Fotografien zu präsentieren. Es hätte mir sogar Freude bereitet, für das vorliegende Buchprojekt einige Highlights aus meinem fotografischen Schaffen zusammenzustellen. Der Clou ist jedoch, dass die Bilder ihren Entstehungsprozess nicht appräsentieren. Mit der Publikation von Bildern würde ich mich daher in eine ganz andere Logik verwickeln: Nicht mehr die Logik der fotografischen Akte, sondern die Logik des Präsentierens von
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Bildern (Auswahl, Anordnung) stünde im Vordergrund. Damit gingen die Fotos aber gerade an der Kernbotschaft dieses Textes vorbei: dass es mir primär um die Erlebnisintensität des Fotografierens als Akt und nur sekundär um die eingefangenen Bilder geht. Da die Erlebnisintensität nicht fotografiert werden kann, habe ich mich für zwei Fotografien entschieden, die mich »in action« mit der Kamera zeigen – die also eine Außenper spektive auf Akte meines Fotografierens zeigen. Sie dokumentieren meine soziale Identität als Amateurfotograf zu zwei biografisch weit auseinanderliegenden Zeitpunkten: als Jugendlicher, der mit seiner Kamera mit einem Blindschuss in den Spiegel experimentiert, und als Projektfotograf, der von soziologischen Fragestellungen geleitet an der ›Art Basel‹ einen Beitrag zur visuellen Ethnografie leisten will. Damit spiele ich nicht nur aufs »looking glass self« von Charles Horton Cooley (2009 [1902]) an, sondern auch auf die Tatsache, dass der Fotograf – jedenfalls vor der Ära der Selfies – in der Regel selbst nicht auf dem Bild ist, also gleichsam hinter den Fotografien verschwindet, obwohl diese ohne ihn gar nicht existieren würden.
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Der Akt des Fotografierens
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Thomas S. Eberle
A bbildungen Abb. 1: »Der Fotograf«. Erstes Selbstporträt im Spiegel (im Alter von ca. 15 Jahren), 1965. © Foto: Thomas S. Eberle. Abb. 2: Im ethnografischen Einsatz an der Kunstmesse ›Art Basel‹, 2012. © Foto: Erwin Single.
App-Fotografie Zur Veralltäglichung interpretativer Konservierung Paul Eisewicht und Tilo Grenz
H inführung Im sozialwissenschaftlich generell »unterbelichteten« Forschungsfeld des Alltagsfotografierens (vgl. van House 2009: 1074; Abel 2012: 34) widmen sich bislang wenige Arbeiten dem Phänomen der App-Fotografie (vgl. allerdings Roth 2013). Erstaunlich ist dies, weil das (Alltags-)Fotografieren anhand von Smartphones, und auch mittels Smartphone-Applications (sog. Apps), im Gleichschritt mit ihrer massenhaften Verbreitung omnipräsent geworden zu sein scheint. Zum professionellen als auch amateurhaften Fotografieren gibt es eine Reihe einschlägiger Arbeiten (vgl. Bourdieu 1990 [1965]; Sarvas/Frohlich 2011). Ist also mit dem Aufziehen der »Kodak-Culture« (Chalfen 1987) vor über 100 Jahren bereits alles gesagt, wenn man von einer Veralltäglichung des Fotografierens jenseits professioneller Fotografie spricht? Keineswegs, meinen wir. Wie wir zu zeigen versuchen, hat dies zunächst in erheblichem Maße mit den über das Smartphone verfügbaren technisch-gestützten Handlungsmöglichkeiten zu tun. Grundlage ist der verschränkte Prozess der kommerziellen Technik(-gestaltung), der gesellschaftlichen Konstruktion (Aneigung und Veralltäglichung) und wiederum der kommerziell motivierten Erweiterung von Produkten, der dieses multifunktionale Instrument zur alltagsrelevanten Handlungsressource, bzw. stärker noch, nach Andreas Reckwitz (2008: 167, in Anlehnung an Michel Foucault), zu einer »Technologie des Selbst« macht. Da Smartphones und dabei die App-Fotografie im Besonderen ein noch weitestgehend unerschlossenes Feld der sozialwissenschaftlichen Beschäftigung darstellen, erachten wir es als notwendig, dass wir uns zunächst mit den ökonomischen und technischen Grundlagen beschäftigen. Nachdem wir den Aufschwung der Smartphone Fotografie skizziert und in Beziehung zur fortlaufenden technischen Erweiterung am Beispiel des Apple iPhones gesetzt haben, versuchen wir anhand einer eigenen Klassifikation das weite Feld der dezidiert fotografie-orientierten Apps zu ordnen. Anschließend wollen wir anhand eines aus der subjektiven Perspektive beschriebenen Beispiels der App-gestützten Filter-Fotografie versuchen, der
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Verstehensleistung des Fotografierenden1 auf die Spur zu kommen und den dabei subjektiv in Anschlag gebrachten Weltzugang als interpretative Konservierung bezeichnen.
V on der digitalen F otogr afie zur S martphone -F otogr afie Mit Blick auf die diversen Fotoplattformen im Internet drängt sich einem der Eindruck auf, dass heute überall und alles fotografiert wird, was vor die Linse kommt. Nicht einfach nur Schnappschüsse aus dem Urlaub, sondern ganze Serien um spezifische Themen lassen sich hier besichtigen: z. B. beim sog. »Food Porn«, bei dem Fotos von kulinarischen Raffinessen abgelichtet und geteilt werden, oder bei »Wardrobe« Fotos, bei denen sich Menschen in ihren Tagesoutfits zeigen, um sich bezüglich ihrer Stilkompetenzen Meinungen, Einschätzungen und Bewunderungsäußerungen einzuholen. Menschen finden also offensichtlich nicht nur vielfältige Motive für ihre Fotos, sondern teilen diese auch häufig in irgendeiner Weise, sei es auf Plattformen im Internet oder – nach wie vor – face-to-face. Während wir wenig belastbare Daten zu Letzterem finden, lassen sich zu Ersteren aufschlussreiche Informationen finden. Auf Facebook etwa wurden im Jahr 2013 durchschnittlich 350 Millionen Fotos pro Tag hochgeladen (vgl. Facebook et al. 2014: 6).2 Und ein Blick auf die Foto-Plattform Flickr. com zeigt, dass hier 2013 von 87 Millionen Nutzern im Durchschnitt 1,6 Millionen Fotos pro Tag veröffentlicht wurden (dies sind ca. 19 Bilder in der Sekunde, vgl. Michel 2014).3 Dementgegen ist der weltweite Absatz von digitalen Kompaktkameras nach Angaben der japanischen Fotoindustrie und deren Interessenvertretung, der »Camera & Imaging Products Association« (kurz CIPA), seit dem Jahr 2010 stetig zurückgegangen (vgl. CIPA 2014a).4 Im Jahr 2013 ist auch erstmals der Absatz der hochwertigen und hochpreisigen Digitalen Spiegelreflexkameras (DSLR) erheblich eingebrochen. Der ebenso massive Einbruch des Absatzes von Kompaktkameras im selben Jahr lässt sich nach Angaben der Unternehmen und Analysten vor al1 | Mit Fotografierenden meinen wir explizit nicht nur Amateur-Fotografen (bzw. Menschen, die sich als Fotografen verstehen), sondern Menschen, die in verschiedensten Situationen und Rollen Fotoaufnahmen machen. Im Weiteren sind mit männlichen oder weiblichen Rollenbezeichnungen stets beide Geschlechter gemeint. 2 | Dabei muss es sich nicht um selbst gemachte Fotos handeln. Unklar bleibt auch, ob es sich dabei nur um Fotos oder auch um anderweitige Bilder handelt. 3 | Teilweise ist auch die Rede von 40 Millionen Fotos pro Tag (hochgeladene aber nicht öffentlich gemachte eingerechnet). Im Gegensatz zu Facebook handelt es sich vorrangig um selbst gemachte Fotos. 4 | Kamerahersteller, die mit CIPA kooperieren, sind: Olympus, Casio, Canon, Xactl, Sigma, Seiko, Sony, Nikon, Panasonic, Fujifilm und Ricoh.
App-Fotografie
lem auf die zunehmende Verbreitung von Smartphones zurückführen (vgl. Canon 2014: 3 f.; CIPA 2014b). Von entscheidender Bedeutung für den (zumindest quantitativen) Aufschwung der publikums- und darstellungsorientierten Privatfotografie ist überdies die flächendeckende Einführung der mobilen Breitbandabdeckung und – ähnlich der Entwicklung der häuslichen Internetanschlüsse – das Angebot erschwinglicher Flatrates durch Mobilfunkanbieter. Als Objekt, das seinen Erfolg also mehreren technisch-ökonomischen Zusammenspielen verdankt, ermöglichen Smartphones, dass Bilder schnell gemacht, bearbeitet und verbreitet werden können. Zur Begründung dieser Kultur/Ökonomie-Verschränkung können zwei Vorannahmen in Anschlag gebracht werden: Zunächst folgen wir der These Lev Manovich’s (2008), der von »cultural software« ausgeht, da heute nahezu kein Bereich des Lebens nicht in irgendeiner Weise von Software begleitet wird und strukturiert ist, die Ausdruck ihrer Konstrukteure und deren Weltsichten ist. Technische Produkte und alltägliche Technikaneignungen sind, das ist die zweite Vorannahme, insbesondere im Zuge der Digitalisierung von Artefakten zunehmend verschränkt. In ihrer softwaretechnologischen Anlage sind heutige Produkte, ihre Betriebssysteme und Sub-Programme, gewissermaßen offen (vgl. Finnemann 2011) für deren andauernde, wettbewerbsstrategische Modifikationen, die darauf zielen, etwaigen Bedürfnissen bzw. Anforderungen der Nutzer immer »auf der Spur« zu bleiben (vgl. Grenz 2017). Als prototypisch für dieses Vorgehen erweisen sich die kontinuierlich veränderten Modelleigenschaften des Apple iPhones: Die software- und hardwaretechnischen Grundlagen dazu, Fotos mit dem Smartphone zu machen, zu bearbeiten und zu teilen wurden und werden stetig verbessert und erweitert (siehe Abb. 1).5 Die hier mit Blick auf das Fotografieren zusammengetragenen Funktionen waren meist über bestimmte Apps sog. Drittanbieter möglich, noch bevor sie zur Standardausstattung des iPhone gehörten, wurden aber sukzessive von Apple mittels Updates in das Standardpaket der Systemsoftware übernommen bzw. absorbiert (vgl. Flowers 2008: 181).
5 | Ausgelassen haben wir in der Aufzählung u. a. Speicherplatz, Arbeitsspeicher und mobile Übertragungsrate, die ebenso gesteigert wurden.
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Modell
Kamera (Auflösung in Megapixel)
iPhone (2007)
Fotokamera, 2 MP, Blende f/2,8
3G (2008)
Softwareseitige Standardfunktionen (inkl. Modellkompatibilität der Software)
iOS2: Geotagging
3GS (2009)
Videoaufnahmen möglich, 3,2 MP
iOS3: MMS Funktion
4 (2010)
zusätzliche Kamera auf Vorderseite mit 0,3 MP, Kamera 5 MP, LED Blitz
iOS4 (ab 3G): 5x digitaler Zoom, Tapto-Focus (halbautomatischer Fokus), integrierte Funktion zum Versenden von Fotos per MMS/Mail
4S (2011)
Blende f/2,4; Gesichtserkennung
iOS5 (ab 3GS): Schnellzugriff auf die Kamera auch bei Tastensperre, 3 x 3 Raster bei Aufnahme, Auslösung der Kamera über Lautstärkeregler möglich, Belichtungssperre
5 (2012)
Vorderseite 1,2 MP, Kamera 8 MP
iOS6 (ab 3GS): Modus für Panorma-Aufnahmen und das Teilen von Fotos z. B. auf Flickr
5S (2013)
Dual-LED Blitz (True Tone), Blende f/2,2
iOS 7 (ab 4): 9 integrierte Filter, Square Format und Burst Mode (Serienbildfunktion)
6 (2014)
bei Model 6 Plus mit opti- iOS8 (ab 4S): Smart Adjustments (Bildscher Bildstabilisierung bearbeitungsoptionen wie Kontrast, Sättigung etc.), Bildbeschneidung und -rotation, Zeitauslöser
6S (2015)
Vorderseite 5 MP, Kamera iOS9 (ab 4S): externe Kameras an 12 MP, Vorderseite mit iPhone anschließbar Retina Blitz, Live Photos
7 (2016)
Vorderseite 7 MP, Blende f/1,8; Quad-LED Blitz, bei Model 7 Plus mit Dualkamera (Weitwinkel) und 2x optischem Zoom
iOS10 (ab 5): automatisierte Bildsortierung, Lupenfunktion, Fotos in RAWFormat möglich
Abb. 1: Entwicklung von iPhone-Kamera und iOS, eigene Darstellung
iPhones sind mittlerweile die am häufigsten genutzten Kameras (Foto handys, Kompakt- und DSLR-Kameras eingeschlossen) beim Internetdienst Flickr (vgl. Flickr 2014). Es liegt nahe, dass Smartphone-Fotografie einen großen Anteil der Praxis des Fotografierens und des Teilens von Fotos ausmacht (vgl. Roth 2013). Dies hängt mit einer gewandelten Gelegenheitsstruktur zusammen, da Menschen ihr Smartphone »als persönliche Begleiter« nahezu immer und überall mit sich führen und dann auch jederzeit »bei der Hand haben«, wenn sich spontan die Gelegenheit für ein Foto ergibt oder gezielt ein Motiv gesucht und festgehalten werden soll. Smartphones werden also nicht wegen des etwaigen Primärzwecks
App-Fotografie
des Fotografierens, sondern wegen ihrer vielfältigen, an Alltagsroutinen geknüpften Verwendungsmöglichkeiten mitgeführt. Da Smartphones zudem eine zunehmend selbstverständliche Requisite im öffentlichen Austausch sind, lassen sich Fotos denn auch vergleichsweise unauffällig als auch »fix« machen. Damit impliziert ist auch, dass die Hemmschwelle bei Laien, Fotos im öffentlichen Raum und auch von Anderen zu machen, heruntergesetzt ist.
V om S martphone zur A pp -F otogr afie Mittlerweile existiert eine nahezu unüberschaubare Zahl an FotografieApplikationen, die das Verwalten von Fotos, deren Editieren und Teilen, sowie grundsätzlich die Möglichkeiten Fotos zu machen in erheblichem Maße erweitern und differenzieren (vgl. Sarvas/Frohlich 2011: 95 ff.). Für einen Überblick über die verschiedenen Apps schlagen wir vor, diese in drei Kategorien einzuteilen: (I) Programme, die während der Aufnahme von Fotos helfen bzw. den Akt des Fotografierens prägen, (II) Programme, die zum Bearbeiten von Fotos nach deren Erstellung gedacht sind und (III) Programme, die zum Archivieren, (Mit-)Teilen und Sichern von Fotos etc. gedacht sind.
(I) Kamera-Software zur Aufnahme • (I.1) Tools zur Verbesserung der Aufnahmequalität: Dies betrifft Apps, die z. B. ermöglichen, einen manuellen Fokus einzustellen (z. B. »PowerCam«), Aufnahmen bei schlechten Lichtverhältnissen zu verbessern (z. B. »Darkroom«) oder manuelle Belichtungseinstellungen bis hin zu Langzeitbelichtungen vorzunehmen (z. B. »LongExpo«). Darunter fallen auch visuelle Hilfen, wie Raster im Display zur Ausrichtung von Bildern (z. B. »Lvl Cam«). • (I.2) Tools, die bestimmte Aufnahmemodi bereitstellen: Dies umfasst Panoramaaufnahmen als Zylinderpanoramen (z. B. »DerManDar«) oder Kugelpanoramen (z. B. »Photosynth«), Aufnahmen mit Echtzeit Filterfunktion, also bei denen auf dem Display vor dem Auslösen bereits der verwendete Filter zu sehen ist (z. B. »Rookie«), Serienaufnahmen in schneller Reihenfolge oder aber Programme, die kleine Foto-Videos (z. B. »Cinemagram«) oder dreidimensionale Fotos (z. B. »Seene«) aufnehmen sowie Programme, die gleichzeitig mit der Frontund Rückseitenkamera aufnehmen (z. B. »FrontBack«) etc. • (I.3) Tools mit speziellen Auslösemechanismen: gemeint sind Apps mit zeitverzögerter Auslösung (z. B. »PhotoTimer«) oder jene, die auslösen, wenn die Menschen vor der Kamera lächeln (sog. »Smile-Cam«).
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(II) Kamera-Software zur Bearbeitung von bereits gemachten Bildern • (II.1) Bildbearbeitung am vorhandenen Material: Darunter fallen »klassische« Bearbeitungen von Kontrast, Farbsättigung und Helligkeit, aber auch umfangreichere Veränderungen durch Farbfilter (automatisch z. B. mit »CameraBag«, halbautomatisch oder selbst erstellt z. B. mit »Shift«). Hinzu kommen Apps mit der Möglichkeit, bestimmte Teile des Bildes farbig bzw. schwarz-weiß zu gestalten (z. B. »ColorSplash«) oder das Bild unscharf zu zeichnen (z. B. »Blurify«). • (II.2) Bearbeitung durch Hinzufügen: Darunter fallen Funktionen, Rahmen um (z. B. »Nostalgio«), Texturen (z. B. »Mextures«) oder geometrische Figuren (z. B. »Fragment«) über das Bild zu legen, Schrift und Symbole hinzuzufügen (z. B. »Phoster«) oder Bilder aus farbigen Wörtern zu bilden (z. B. »WordFoto«) etc. • (II.3) Bearbeitung durch Arrangieren: Damit sind Apps gemeint, die zur Bildbeschneidung oder zum Arrangieren mehrerer Bilder (z. B. »SplitLens«) zu einer Collage, auch in Form von Bilderrahmen (z. B. »Pixplit«) oder aber zur Überlagerung von Bildern dienen (als Doppelbelichtung, z. B. »Mexpose«).
(III) Kamera-Software zum Ver walten von Bildern • (III.1) Teilen von Fotos: Die prominentesten Foto-Apps sind solche, die ein Teilen in sozialen Netzwerken ermöglichen (z. B. »Instagram«, das einerseits Filter umfasst, andererseits ein eigenes soziales Netzwerk darstellt). • (III.2) Vergessen: Im Gegensatz zu Apps, die an soziale Netzwerke angeschlossen sind, um dort Bilder mit expliziter Urheberschaft zu teilen, gibt es auch solche, die darauf angelegt sind, dass die Fotos, die gemacht wurden, zwar geteilt aber nicht gespeichert werden (z. B. »Snapchat«), d. h. Apps, bei denen es nicht um das Archivieren, sondern das Vergessen von Fotos geht, die zumeist anonym ausgetauscht werden. • (III.3) Ordnen und Sichern: Schließlich gibt es Apps, die es ermöglichen Bilder zu ordnen und auf dem Smartphone zu verwalten, aber auch bestimmte Fotos so zu sichern, dass sie im Fotoalbum auf dem Smartphone nicht zu finden, d. h. »versteckt« sind (z. B. »Photo Safe«). All diese Anwendungen sind im Vergleich zu professionellen Bearbeitungsprogrammen für digitale Fotos benutzerfreundlich, preiswert oder sogar kostenlos und geben Laien Werkzeuge an die Hand, wie sie bis dato vor allem professionellen Fotografen vorbehalten waren.6 Allerdings wird 6 | Allerdings verwenden auch professionelle Fotografen Smartphones, und Magazine verwenden Fotos bzw. Bearbeitungen, die mit Smartphone-Apps erstellt wurden. Prominente Beispiele hierfür sind das Cover des »New Yorker« von Jorge Colombo vom 1. Juni 2009, das mit der App »Brushes« erstellt wurde, Benjamin Lowy’s Foto von Hurricane Sandy auf dem Cover des »Time Magazine« vom 12. No-
App-Fotografie
die Verwendung und Popularität von Smartphone-Fotografien und insbesondere von Filtern oft kritisch hinsichtlich deren »Qualität« diskutiert (vgl. Caoduro 2013). Die Abgrenzung erfolgt weniger entlang der Differenzierung von analoger und digitaler Fotografie (da es hochwertige digitale Spiegelreflexkameras gibt), als vielmehr entlang von drei Gegenpositionen: 1. Smartphones gelten als technisches Aufnahmegerät in ihren optisch-mechanischen Aufnahmemöglichkeiten limitiert und im Vergleich zu anderen Fotoapparaten defizitär, eignen sich also weniger für eine wirklichkeitsgetreue – d. h. den technischen Möglichkeiten entsprechend qualitativ hochwertig bewertete – Abbildung. 2. Da viele Apps (halb-)automatisch arbeiten und Laien v. a. von Professionellen entsprechende Kompetenzen abgesprochen werden, werden App-Fotografien von Laien oft als nicht gute, d. h. vom Fotografierenden gekonnt und kreativ gemachte Fotos angesehen. 3. Als »realist tale[s]« (vgl. Harper 2000: Abs. 11) folgen Fotos, die zu diesen dokumentarischen Zwecken angefertigt werden, einem entsprechenden Stil und damit bestimmten Darstellungskonventionen (z. B. bei Familienfotos dem »Recording of Family Life«, Bourdieu 1990: 30). Gerade Filterfotografien gelten dagegen als weniger wahrheitsgetreu – d. h. beobachterunabhängig nicht nur hinsichtlich des abgebildeten Was, sondern auch des Wie der Darstellung (vgl. die Diskussion um Damon Winters App-Fotos aus dem Afghanistankrieg, Alper 2013). Angesichts der Vielzahl an App-Fotografien scheinen diese Kritikpunkte für die Fotografierenden wenig Relevanz zu besitzen. Sie weisen aber darauf hin, dass sich durch Smartphones das Fotografieren verändert, und es stellt sich die Frage, inwieweit sie das tun. Dabei geht es nicht nur darum, wie sich der Austausch über Fotos mit Anderen, sondern ob und wie sich auch das eigene Verhältnis zum Fotografieren wandelt. In Rückgriff auf den aufschlussreichen Aufsatz ›The Art of Making Photos‹ von Thomas Eberle (2014) lassen sich hier bereits einige Vermutungen anstellen. Eberle, der auf die Tätigkeit des Fotografierens fokussiert, differenziert hierbei zwischen der Komposition des Fotos und seine etwaige Bearbeitung (vgl. Eberle 2014: 311). Diese Unterscheidung muss mit Blick auf die AppFotografie weiter differenziert werden, und zwar um einen vor- und einen nachgelagerten Schritt. Denn die Möglichkeiten, die mit dem Smartphone als Foto-Instrument einhergehen, implizieren weitergehende Auswahlschritte beim Fotografieren als Handlung. Zunächst muss sich der Nutzer zwischen verschiedenen Apps zum Fotografieren entscheiden, mit denen bestimmte Möglichkeiten, Restriktionen und Verwendungsfolgen einhergehen. Darauf folgt die Komposition, wie sie für das Fotografieren generell vember 2012 oder die Fotos des Pulitzerpreisträgers Damon Winters aus Afghanistan für die »New York Times«. Getty Images, wie auch Associated Press als Bild- und Nachrichtenagenturen bieten mittlerweile exklusive, mit Apps gemachte und bearbeitete Fotos an.
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charakteristisch ist: Ein Ausschnitt wird gewählt, Menschen arrangiert, Einstellungen am Apparat werden vorgenommen etc. Nach der Aufnahme folgt die Bearbeitung und schließlich die nachgelagerte Verwendung des Fotos, d. h. das Sichern (oder Verwerfen), das Teilen mit einem bestimmten Adressatenkreis oder das Archivieren. In der von uns in den Blick genommenen Handlungseinheit des (Smartphone-)Fotografierens zieht sich allerdings bemerkenswerterweise das Komponieren und Bearbeiten raumzeitlich zusammen (siehe unten). Eberle folgend können wir zusammenfassend davon ausgehen, dass auch Smartphone-Fotografieren, mit Blick auf diese vielschichtigen Auswahlschritte und die Verdichtung des Geschehens, einen höchst komplexen, interpretativen Weltzugang darstellen.
E in B eispiel : Tr avessa F iéis de D eus 73 und 75 in L issabon Um die Spezifika des interpretativen Weltzugangs beim App-Fotografieren geht es uns im Folgenden, wenn wir zunächst in einem eigenen Fallbeispiel auf die Perspektive des Fotografierenden wechseln und dessen Tun fokussieren. Anhand dieser Beschreibung sollen daraufhin einige Eigenheiten des App-Fotografierens identifiziert werden: Im Frühjahr 2013 war ich, Paul Eisewicht, mit meiner Freundin für zehn Tage in Lissabon. Am vorletzten Abend spazierten wir durch den Bairro Alto, das Kneipenviertel der Stadt. Wir folgten den vielen engen Gassen, vorbei an Läden, Bars und den Fassaden der Häuser mit den für die Stadt typischen Azulejos. Ich schoss dabei eine Reihe mal mehr, mal wenig »guter« Schnappschüsse, im Versuch, die Atmosphäre des Abends und das Flair des Viertels, das uns gewissermaßen ans Herz gewachsen war, einzufangen.7 Nachdem wir in einem der Lokale zu Abend gegessen hatten, kamen wir auf dem Rückweg zu unserem Appartement auf die Travessa Fiés de Deus, wo ich schließlich das Foto in der Art, wie es mich heute noch an die Situation so eindrücklich erinnert, schoss (siehe Abb. 5). Für mich stach zunächst eines der Häuser aus dem stilistisch-bunten Kachelbrei der alten Häuserfassaden und aus den gleichsam gesichtslosen Neubauten deshalb 7 | Interessant ist hierbei auch die Überhöhung dessen, was als »pride of authorship« bezeichnet werden kann: Ein Antrieb für die spezifische Gestaltung von (App-) Fotografien scheint heute darin zu bestehen, in der Selbstverständlichkeit einer Bilderflut etwas zu schaffen, das sich von der Masse anderer Ablichtungen in Motivwahl, Perspektive, Komposition etc. abhebt. Oder anders formuliert: Im Internet findet sich eine Vielzahl ausgesprochen gelungener Bilder aller Sehenswürdigkeiten diverser Städte. Für einige Fotografierende scheint es daher nicht notwendig, diese »klassischen« Urlaubsfotos auch noch anzufertigen, so dass man sich mit ganz eigenen Sichtweisen auf die Stadt beschäftigen kann. Bezeichnend ist hierfür vielleicht, dass wir bei der Recherche zu dem Text – außer über die weitgehend unselektierten Fotos von Google Street View – kein Bild von der hier gezeigten Stelle der Straße ausfindig machen konnten.
App-Fotografie
hervor, weil an seiner Fassade eine auffällige Stahllaterne angebracht war. Die Laterne in ihrem gelborangen Licht warf einen eigentümlichen Farbton auf die ansonsten grünblau (und gar nicht so sehr verziert) gekachelte Fassade. Neben der Laterne befand sich ein kleiner stahlgefasster Austritt und vor dem Haus verlief ein schmaler Gehweg, der aus kleinen Pflastersteinen gemacht war. Dieses Arrangement an sich war schon bezeichnend für das Viertel. Zur zumindest für mich typisch nostalgischen Patina der Szenerie (alter und teils verblühter Gebäude) gesellten sich dann zusätzlich die kontrastierenden, modernen Graffitis im Erdgeschoss (mit denen ich mich seinerzeit im Rahmen eines Forschungsprojektes befasste). Meine Freundin, die mein Innehalten vor der Szenerie bemerkte, forderte mich schließlich auf, vor der Fassade zu »posieren« (siehe Abb. 2a und b). Erst als ich auf dem Eingang saß, bemerkte ich die gegenüberliegende Fassade, die sich, in meiner in dieser auf Kontrast und gleichzeitig Typik getrimmten Aufmerksamkeit nochmals drastisch vom Rest der Umgebung unterschied: Ein leerstehendes Haus, das mit zwei Stahltüren versiegelt schien, die für sich jeweils mit Graffitis aber auch auffälliger Street-Art verziert worden waren. Keine bunt bemalten Keramikfliesen, sondern das ganze Gegenteil prägten hier die Fassade: abgeplatzter, grau-brauner Putz, provisorisch verputzte Löcher, offen liegende Kabel usw. Da vorher ich die Person vor der Kamera war, forderte ich diesmal meine Freundin auf, vor dem Gebäude Stellung zu beziehen. Die Wand stellte eine Übertreibung des Viertels in doppeltem Sinne dar: Zum einen, da es im Viertel zwar Graffiti gab, aber nicht in der Eindrucksvielfalt, wie sie uns hier auf wenigen Quadratmetern entgegentrat. Zum anderen, weil es ein von der Bausubstanz her altes Viertel war, aber nur wenige Häuser derart verwahrlost erschienen, wie dieses.
Abb. 2a und b: Das gegenüberliegende Gebäude
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Abb. 3a und b: Die Travessa Fiéis de Deus bei Tag wie sie auf Google Street View erscheint (die Aufnahmen stammen aus dem Jahr 2009)
Ich entschied mich dazu, auch diesen Eindruck im Bilde einzufangen: Auf meinem iPhone öffnete ich die Foto-App »Pop Camera« von Hiroshi Tazawa, ein Tool, das mehrere sog. »Lo-Fi« Plastikkameras simuliert (siehe Abb. 4a und b). Dies war seinerzeit meine Lieblings-App, weil ich ein kleines Faible für die analoge Lo-Fi Fotografie mit einer »Diana« von Lomography entwickelt hatte. Diese App fing für mich das Lomo-Fotografieren am ehesten ein. Noch dazu umging ich mit dieser die ansonsten zermürbende Wartezeit und den Aufwand der Filmentwicklung. Mit einem Fingertipp wählte ich die App von meinem Startbildschirm und dort die Kamera »Pop 1«, die sich, nachdem man sie ausgewählt hat, in einer Animation von ihrer Rückseite dem Fotografierenden zudreht. Ich entschied mich für den »Film« »Bondi« (einer von drei Filtern, die ich vorzüglich verwendete). Für ein erstes Bild fiel meine Wahl auf eine Frontalaufnahme, bei der sich in der rechten Hälfte des Bildes meine Freundin befand (an der Hauswand lehnend), die Hausnummern (»73« und »75«) den oberen Rand und der Granit-Bordstein den unteren Bildausschnitt abschlossen. Im Bild dominierten damit drei Teile: Links eine wuchtige Stahltüre mit einem Gewusel an Graffiti-Tags und einem aufmerksamkeitserregenden Streetart (ein gelbes Frauengesicht);8 in der Mitte der notdürftig verputzte Bereich zwischen den Türen, den zwei Stencils mit Spruchblasen ausmachten; und rechts meine Freundin vor der zweiten mit Tags übersäten Stahltüre. Neben dieser Komposition tauchte der von mir gewählte »Film« einerseits den Fassadenton in einen warm-gelben Ton, verstärkte andererseits die ansonsten dezenteren Schattierungen durch einen stärkeren Kontrast (siehe zum Vgl. Abb. 3a/b und 5). Texturverläufe im Putz und dem Stein der Wand wurden damit bedeutend prägnanter, als sich dies auf den ersten Augen-Blick darstellte.
8 | Es handelt sich um ein Werk des französischen Street Artist C215, was mir damals jedoch nicht bekannt war.
App-Fotografie
Abb. 4a und b: Links das Interface von »Pop Camera«, rechts der Filter
Es war typisch für die damalige Version dieser App, dass das Foto nicht sofort auf der Kamera gespeichert wurde und ich das Ergebnis erst nach einigen Augenblicken auf dem Display sehen und mich entscheiden konnte, das Bild zu behalten oder zu verwerfen. Ich sichtete das Ergebnis kurz, das ich über den Bildschirm des Smartphones bereits durch den Filter eher so sah, wie ich es mir vorstellte (und schon bei weitem nicht mehr so, wie es dem natürlichen Blick auf die Fassade entsprach). Dabei entschied ich, dieses zwar zu behalten, allerdings war ich unsicher, ob damit die von mir aktuell erlebte Atmosphäre auch so »eingefangen« war, wie mir dies vorschwebte. Beim Betrachten des Bildes bemerkte ich zweierlei: Erstens erkannte ich, dass sich – nach der filtertechnischen Übersteigerung – der rechte Teil des Bildes als eher uninteressant und hintergründig erwies. Zweitens stellte ich fest, dass die Filtereffekte (die warme Farbe wie auch die Kontrastierung) im vorderen Teil des Bildes besonders deutlich zum Tragen kamen. Das lag allerdings keineswegs nur an der Technik, sondern auch am Licht der eingangs bereits erwähnten Laterne, die sich direkt gegenüber der nun stärker in die Aufmerksamkeit gerückten vorderen Türe befand. In der gewissermaßen synästhetisch geprägten Situation, bei der sich also mein eigenes vorläufiges Situationserleben und die nun auch bildvermittelte Wahrnehmung ineinanderschoben, entschloss ich mich für eine kompositorische Korrektur: Ich stellte bei einer weiteren Aufnahme die drei vorher gleichwertig nebeneinander arrangierten Elemente (Tür – Zwischenbereich – Tür mit Freundin) durch einen Perspektivwechsel in einen hierarchischen Zusammenhang (siehe Abb. 5). Die Stahlwand mit dem Streetart-Bild in der linken Hälfte des Bildes befand sich nun dominant im Vordergrund. Den Mittelgrund bildete jetzt der Bereich zwischen den Türen, und zwar vor dem nun nochmals bedeutend dunkleren Hintergrund. Und im rechten Bereich stand meine Freundin.9 9 | Bei der Recherche zu diesem Artikel fällt mir auf, dass ich den Ort deutlich anders erinnere, als er gewesen ist (vgl. Abb. 3a und b). Einerseits deuten andere Bilder aus diesem Zeitraum darauf hin, dass es viel früher am Abend gewesen sein muss. Andererseits habe ich die vielen Neubauten in der Straße ausgeblendet. Das legt den Schluss nahe, dass die Verdichtung im Bild (qua Motiv- und Filterwahl), die ich seinerzeit so und nicht anders vorgenommen habe, als Erinnerungsmarker bis ins Hier und Jetzt überdauert hat – unabhängig von der vermeintlich raumzeitlich »tat-
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Abb. 5: Travessa Fiéis de Deus 73 und 75, Lissabon
Im Anschluss an dieses Beispiel und bezüglich der situativen Relevanzsetzung des Fotografierenden erscheinen uns die folgenden fünf Aspekte bemerkenswert: 1. Selbstverständlicher Zugriff: Das Fotografieren mit dem Smartphone (und hier konkreter: mit bestimmten Apps) erfolgt erstaunlich schnell im Unterschied zum Fotografieren mit anderen (digitalen) Kameras. Das bedeutet, dass man in Situationen, in denen man sich nicht auf fotografischer »Pirsch« sieht, dennoch sofort einen Eindruck festhalten kann. 2. Visuell-kognitive Konstruktionsleistung: Es geht dem Fotografierenden hier darum, den Augenblick mitsamt seiner Erlebnisdichte eben nicht so festzuhalten (oder zu fixieren), wie es der perfekten, naturgetreuen »Ablichtung« entspräche, sondern möglichst genau so, wie er sich ihm in seiner aktuellen Betrachtung darstellt. Dafür sind dem Fotografierenden verschiedene automatische, halb-automatische oder manuell zu bedienende Programme zuhanden, die dem Versuch dienen (sollen), Auslöser subjektiven Erlebens situativ zu konservieren. 3. Situative Bewertungsaufforderung: Direkt nachdem das Foto geschossen ist, wird es dem Ersteller gewissermaßen zur kritischen Entscheidung vorgelegt und ihm noch in situ anheimgestellt, sich für oder gegen es zu entscheiden. Grundlage dieser Entscheidung ist die Abwägung, ob das situative Erleben zumindest annähernd festgehalten wurde. sächlichen« Gegebenheit (wie ich sie auch ohne Filter technisch-realistisch hätte abbilden können).
App-Fotografie
4. Verdichtung der Situation: Der Zugriff, die Filteranwendung und die Bewertung ereignen sich über eine äußerst kurze Zeitspanne – im Beispiel etwa eine halbe Minute. Im Unterschied zu editorischen Zugriffen auf Fotografien, die mit digitalen Kameras gemacht wurden (nicht unbedingt zu deren technischen Möglichkeiten, wohl aber zur Gebrauchsweise) geschieht die Bearbeitung an ein und demselben Gerät, am selben Ort und nahezu zur selben Zeit. Für die unter 2. beschriebene Bewertung hat dies eine nicht zu unterschätzende Bedeutung, denn sie fällt in situ anders aus als im Nachhinein. 5. Mnemotechnische Stütze und subjektive Zukunftsorientierung: Im Zentrum der interpretativen Zuwendung zum Foto steht sowohl die kritische Auseinandersetzung mit dem eigenen Erleben im Hier und Jetzt als auch der Versuch, durch die gestalterisch-kompositorische Bearbeitung ein visuelles Artefakt als mnemotechnische Stütze zu schaffen. Der Fotografierende setzt sich hierbei mit seiner antizipierten zukünftigen Wahrnehmung auseinander. Und er versucht mit dem Ausdruck des Bildes an sich in der Zukunft einen bestimmten Eindruck zu erzeugen, d. h. also kurz: den eingefangenen Moment möglichst so und nicht anders als im aktuellen Hier und Jetzt zu »sehen«.10 11
I nterpre tative K onservierung Jegliches soziale Handeln bedarf einer Objektivierung subjektiv gemeinten Sinns. Damit wird etwa die Stimme zum Ausdrucksträger des subjektiven Sinns, der anhand intersubjektiv geteilten Deutungswissens näherungsweise verstanden wird. Dies gilt nicht nur für die soziale Situation der Kommunikation, die damit konstitutiv als »wechselseitiges Wirkhandeln« zu verstehen ist (Knoblauch 1995: 58 in Anlehnung an Schütz/Luckmann 2003 [1975]). Dies gilt auch in Situationen, bei denen das Subjekt intentional mit der Selbstauslegung beschäftigt ist, ein Anlass, in den wir den oben beschriebenen Fall einreihen möchten. Das Foto ist dann eine situativ-visuelle Repräsentation, ein Träger der eigenen Weltauslegung. Nun ist die Auslegung von Welt dem Menschen grundsätzlich bereits in seiner natürlichen Einstellung gewissermaßen auferlegt – sie muss zu einem solchen Grad »verstanden« werden, dass ein Handeln und Einwirken grundsätzlich möglich werden (vgl. Schütz/Luckmann 2003 [1975]: 33). Im Verstande einer phänomenologisch orientierten Wissenssoziologie ist diese 10 | Ob zukünftiges Verstehen im Sinne der vorweggenommenen Erinnerungsleistung überhaupt an das aktuelle Erleben heranreicht, das ist ein Aspekt, der durchaus zu diskutieren wäre. Unabhängig davon ist allein der Versuch ein prägendes Motiv in der situativen Relevanzsetzung des Fotografen. 11 | Auch das herkömmliche Foto dient bekanntermaßen als Erinnerungsstütze, die allerdings als kommunikativ-illustrative Ressource erst in der späteren Einbettung qua Nacherzählung, Bericht etc. den erzielten impressionistischen Eindruck vermitteln kann/soll.
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Verstehensleistung nun nicht der individuellen, spontanen, beliebigen – und damit prinzipiell unsicheren – Setzung überlassen, sondern durch einen internalisierten Wissensvorrat zu wesentlichen Teilen präformiert, sodass ich Welt und ihre Entitäten bereits typenhaft erfahre (ebd.). Dies hat Folgen, sowohl für das »Denken« und die Situationsdeutung, als auch für das »Wirken« und die gezielte Einflussnahme auf die Umwelt (»Arbeiten«, vgl. zu dieser Unterscheidung ebd.: 456 ff.). Die von uns beschriebene Objektivierungsleistung beim Erstellen von Fotos ist also auch in diesem Sinne zunächst durch verinnerlichte Erfahrungsschemata getragen: »Wer ist der anwesende Andere?« »Wo befinde ich mich?« »Welche Werkzeuge stehen mir zu Verfügung und was ›tun‹ diese mit dem, was sich mir darstellt?« usw. Das materialisierte »Produkt« der Verstehensleistung (das angezeigte Filter-Foto auf dem Display vor meinem Auge) »fordert« mich allerdings in situ zu einer erneuten Auseinandersetzung mit meiner Weltauslegung »auf«, womit ich vermittelt über dieses Produkt ein Wirkhandeln an mir selbst vollziehe und in eine erneute Selbstauslegung meiner eigenen Verstehensleistung gerate. Wie also auch das Sprechen, der Klang meiner Stimme, Gedanken, die ich im alltäglichen (Selbst-)Gespräch wirkend äußere, eine wirklichkeitssetzende Qualität für mich entfalten (vgl. Berger/Luckmann 1991 [1969]: 40), so können dies auch Fotos bewirken. Konstitutiv für diesen Vorgang ist die Möglichkeit, Handlungsprodukte situativ wahrzunehmen und zu beurteilen, wie dies bei der hier adressierten Alltagsfotografie der Fall ist. Als bemerkenswert erscheint es uns dabei, dass diese Selbstauslegung die Situation nicht nur deshalb übergreifen kann, weil sie in entsprechend manifesten Handlungsspuren gespeichert wird, sondern auch, weil sie dezidiert auf das eigene Selbst und dessen Wahrnehmung in der Zukunft gerichtet ist (Mnemotechnik des Selbst). Zusammenfassend wollen wir abschließend also zweierlei markieren: (1) Was mit einer Kamera dokumentiert werden kann, das ist das Geschehen vor der Kamera. Was unter Rückgriff auf diverse (Filter-)Apps – verstanden als Interpretationsinstrumente – erleichtert wird, das ist die Objektivierung (näherungsweise Sichtbarmachung) dessen, wie ich eine Situation erlebe, und zwar in situ. (2) Diese Objektivierung ist am zukünftigen und damit antizipierten eigenen Verstehen des in Augenschein genommenen Handlungsproduktes orientiert, und diese Antizipation prägt die selbstgerichtete »Vor-Bereitung«. Eben dieses Charakteristikum des interpretativen Weltzugangs bei der app-basierten Alltagsfotografie wollen wir als interpretative Konservierung bezeichnen.
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A bbildungen Abb. 1: Entwicklung von iPhone-Kamera und iOS. Eigene Darstellung. Abb. 2a und b: Das gegenüberliegende Gebäude. © Foto: Paul Eisewicht. Abb. 3a und b: Die Travessa Fiéis de Deus bei Tag. Google Street View. Abb. 4a und b: Das Interface von »Pop Camera« und die Filteransicht. Eigenes Bildmaterial. Abb. 5: Travessa Fiéis de Deus 73 und 75, Lissabon. © Foto: Paul Eiswicht.
Fotografieren (lassen) in der lebensweltanalytischen Ethnografie Das Foto als Wissensform Michaela Pfadenhauer
E inleitung Publikationen wie ›Photographing Culture‹ (Overdick 2010) und ›FotoEthnografie‹ (Hägele 2007) sind zwei Belege für den Aufschwung der Fotografie in der volkskundlichen Ethnografie seit Mitte der 1990er Jahre, der 2001 in der Gründung der Kommission Fotografie innerhalb der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde kulminierte. In seiner Einleitung zu »Photographing Culture« kritisiert Thomas Overdick (2010: 14) seine Disziplin allerdings dahingehend, dass gegenüber der Beschäftigung mit fotohistorischen Aspekten (siehe etwa Ziehe/Hägele 2004) dem Fotografieren des Alltags zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet werde. In Anbetracht der Krise der Repräsentation sei dem, wie er es nennt: »volkskundlichen Fotografieren« (Overdick 2010: 15) für ein »anschauliches Verstehen« als ethnografischem Erkenntnisziel ein besonderer Stellenwert beizumessen. Denn das Bild entfalte eine evokative Kraft und emotionale Wirkung, die konstruktiv in der Wissenschaft genutzt werden solle, um die »visuelle Expressivität kultureller Phänomene wirklichkeitsnah zu beschreiben« (Overdick 2004: 24). Während Ethnografen lernen, Kultur in unterschiedlichen Text-Genres sprachlich plastisch und dicht zu beschreiben, sei ihre »Fähigkeit, Kultur wissenschaftlich zu fotografieren, […] jedoch weithin unterentwickelt« (Overdick 2004: 19). Im Unterschied zu den nicht nur in der Volkskunde unternommenen Versuchen, wissenschaftliche Ergebnisse nicht mehr textlich, sondern bildlich (z. B. im Rahmen von Ausstellungen) zu präsentieren, solle das Foto den Text aber nicht ersetzen, sondern es soll, ebenso wie Ton und Film, den Text gleichberechtigt ergänzen. Overdick plädiert also für eine Erweiterung der dichten Beschreibung als klassischer Form der Ethnografie zu einer »multidimensionalen Beschreibung, die eine ›vielsinnige‹ Repräsentation von Wirklichkeit ermöglicht« (Overdick 2010: 18), um dergestalt der Krise der Repräsentation zu begegnen.
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Auch wenn Fotografien für das hiermit intendierte »anschauliche Verstehen« eher als Bildmaterial zur vor-sprachlichen Veranschaulichung denn als interpretationsbedürftiges Datenmaterial zu dienen scheinen, hat mich dieser Hinweis auf die mangelnde fotografische Kompetenz des Ethno grafen herausgefordert, mein fotografierendes Handeln, die Beteiligung von Feldakteuren an der Bildproduktion und die Fotografie als Ressource des Erkenntnisgewinns im Rahmen der lebensweltanalytischen Ethnografie zu reflektieren.
M ein fotogr afierendes H andeln Eine Reflexion meiner ethnografischen Praxis zeigt mir, dass ich dem Fotografieren einen nachgeordneten Stellenwert einräume – sowohl gegenüber der anfänglichen Beobachtung innerhalb dessen, was sich als Feld erst herauskristallisiert, als auch gegenüber der zunehmenden Teilnahme am Feldgeschehen. Im Unterschied zum Notizbuch und dem Aufnahmegerät ist die Fotokamera kein selbstverständlicher Bestandteil meiner ethnografischen Basisausstattung; erst die Kamerafunktion des Handys trägt dazu bei, dass die Feldforschung auch fotografische Früchte trägt. Ich bringe sie aber nur gelegentlich, d. h. dann, wenn mir die Gelegenheit dafür günstig erscheint, zum Einsatz: Dies ist entweder dann der Fall, wenn ich in Begleitung im Feld bin und ich mich weitgehend unbeobachtet, d. h. so am Rande des Geschehens fühle, dass ich dieses durch mein protokollierendes Handeln nicht beeinflusse, oder wenn eine Situation z. B. in einer Phase der Vor- oder Nachbereitung der Feldbeobachtung im Feld explizit als Forschung gerahmt ist. Nur im letzteren Fall definiere ich mein Fotografieren also als in einen sozialen Kontext eingebettet, in dem der fotografische Akt keine Störung, sondern integraler Bestandteil ist (vgl. Lueger 2010: 131). Generell manifestiert sich in den ersten visuellen Früchten meiner Feldforschung sozusagen die Umkehrung des Diktums »fine observation is fine photography« von John Colliers (1996 [1967]: 210): Es manifestiert sich erstens meine zunächst unsichere Beobachterrolle, zweitens meine Unbeholfenheit in der Suche nach einem Fokus und drittens die Willkürlichkeit des Ausschnitts. In diesen Fotos zeigt sich einerseits die Selektivität (nicht der Kamera, sondern der Forscherin), andererseits aber auch die anfänglich mangelnde Fokussierung des Blicks (wie das Auge hält die Kamera nachgerade beliebig fest, was gerade vor der Linse ist) (vgl. nochmals Collier 1996 [1967]: 9). Im Laufe des Mich-Einlassens auf die Feldakteure und ihre Aktivitäten unterscheidet sich mein Fotografieren im Rahmen der lebensweltlichen Ethnografie, bei der es mir um das Eintauchen in das Geschehen und um Mitmachen geht, kaum von der Praxis der Gelegenheitsaufnahmen bei Freizeitaktivitäten, in der, wenn es einem gerade einfällt, geknipst wird, was im Moment des Erlebnisses erhaltenswert erscheint. Eher zufällig können auch ohne systematische Zuwendung zum Akt des Fotografierens
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kulturrelevante Begebenheiten so getroffen werden, dass sich diese Bilder z. B. in Vorträgen illustrativ einsetzen lassen. Im Zuge einer eingehenderen Betrachtung, die ich als Vorstufe der BildInterpretation begreife, haben diese Fotos einen methodischen Wert: es kann, analog bzw. zusätzlich zu einem Eintrag in ein Forschungstagebuch, zur Klärung meiner Beobachterrolle und -perspektive, also zur Klärung von Fragen beitragen, wie: Von wo habe ich eine Kulisse, ein Geschehen, eine Person(engruppe) in Augenschein genommen? Was erschien mir wert, festgehalten zu werden? Wie nah bin ich dem Feld und seinen »Bewohnern« gekommen? Zur Demonstration, tatsächlich leibhaftig im Feld gewesen zu sein, eignen sich – zusätzlich zu meinen eigenen Momentaufnahmen – vor allem auch solche Fotos, die andere – Freunde im Feld, Freunde, die mich ins Feld begleitet haben, Forscherkollegen und Personen, die professionell als Fotografen im Feld unterwegs waren usw. – nicht nur, aber insbesondere auch von mir geschossen haben. Diese fungieren gewissermaßen als Authentizitätsmarkierer, die einem Publikum wie »Schrumpfköpfe« präsentiert werden können, um dieses hinsichtlich der Nähe des Ethnografen zum Feldgeschehen zu beeindrucken (vgl. Kirschner/Pfadenhauer 2016).
D ie B e teiligung von F eldak teuren an der B ildproduk tion Fotografien können also von anderen als dem Forscher beigesteuert und das Fotografieren kann von diesem an andere delegiert werden. Zu wenig diskutiert erscheint mir hier vor allem jene auch unter Ethnologen beliebte Praxis, die »sozialdokumentarische Fotografie« (Lueger 2010: 126) bei den untersuchten Personen selber sozusagen in Auftrag zu geben. Das Logbuch, das wir für eine Studie zur raum-zeitlichen Nutzung des Campus durch Studierende konzipiert hatten, war so angelegt, dass die Studierenden unterschiedliche Äußerungsformate verwenden sollten. So wurden sie nicht nur zur textförmigen Beschreibung, sondern auch zum Zeichnen und Fotografieren aufgefordert; in die elektronische Version des Logbuchs ließen sich sogar Videos integrieren. Deren Auswertung erfordert eine Bildinterpretation, bei der die bewegten und unbewegten Bilder zunächst jeweils für sich in ihren einzelnen Segmenten, dann im Kontext zu ihrem jeweiligen Begleittext, in ihrer Bild-textlichen Sequenzialität und schließlich im Kontext des gesamten Datums gedeutet werden müssen (vgl. Breckner 2010), wobei hierbei die Selektion des Materials und der Grad seiner Bearbeitung seitens ihrer Produzenten systematisch zu berücksichtigen ist. Damit weist das Logbuch eine hochkomplexe Struktur auf, aufgrund derer sich die Analyse schon eines einzelnen Datensatzes als ausgesprochen aufwändig erweist.
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Legitimiert wird der mit Log- oder Tagebüchern einhergehende Aufwand mit der zeitlichen Nähe des Erfassungszeitpunkts zum immer flüchtigen Ereignis, die dadurch erreicht werden soll, dass die untersuchten Personen dazu angehalten werden, ihre Aktivitäten möglichst unmittelbar nach deren Statthaben selber zu protokollieren. Deren Säumigkeit und die Nichtkontrollierbarkeit der Erfassungszeitpunkte versucht man mit dem Einsatz mobiler Geräte wie PDAs oder Multifunktionshandys zu begegnen, mit denen sich in deren derzeit avanciertesten Form Zeiten, Orte und Bewegungsmuster mittels GPS ohne Zutun der Beforschten aufzeichnen lassen. In diese Aufzeichnungen sind die von den untersuchten Personen mit diesen Geräten aufgenommenen Fotos und Videos zum exakten Zeitpunkt ihrer Aufnahme integriert. Über die entsprechende Nutzung der technischen Funktionen von mobilen Endgeräten wird also ein Übergang zur »registrierenden Konservierung« angestrebt, um, mit Jörg Bergmann (1985: 312) gesprochen, »ein soziales Geschehen in seiner authentischen Ereignishaftigkeit zu bewahren«, ohne dieses mit Effekten der Reaktualisierung und Rekapitulation zu »verunreinigen«. Auch in seiner elektronischen Version haben wir das Logbuch demgegenüber als ein Verfahren »rekonstruierender Konservierung« genutzt (vgl. Loer 2010). Das Instrument »erspart« den untersuchten Akteuren in der Situation zwar die Begleitung durch einen permanent anwesenden Forscher, der die Raumnutzungsgewohnheiten kontinuierlich aufzeichnet, wie dies beim von Maggie Kusenbach (2008) vorgeschlagenen Verfahren des »Go Alongs« der Fall ist. Durch die expliziten Anweisungen und durch den der Logbuchgestaltung inhärenten Aufforderungscharakter ist die Forscherin beim Diary-Verfahren jedoch dennoch präsent, ohne dass es sie »in die mobilen Lebensräume ihrer Informanten versetzt« (Kusenbach 2008: 357). Gerade dem mitgehenden (walk along) oder mitfahrenden Forscher (ride along) erschließt sich, wie sein »Informant« seine materielle und soziale Umwelt durch seine jeweilige – z. B. beruflichen oder sonst wie motivierten – Relevanzen gefiltert wahrnimmt, weil und indem sein Blick auf Dinge gelenkt wird, die er sonst gar nicht oder nur auf eine bestimmte Weise gesehen hätte. Demgegenüber wird unser Logbuch-Führer bei seiner textlichen, visuellen und audiovisuellen Protokollierung durch die professionellen Relevanzen des das Logbuch konzipierenden Forschers geleitet. Es ist kein Verfahren zum »capturing life as it is lived« (Bolger et al. 2003), sondern erzeugt als veranlasste Selbstauskunft – auch visuelle – Daten der Selbstrepräsentation. Es liefert aber keine »auto-ethnographischen« (Knoblauch/Schnettler 2007: 591) Fotos, deren Nutzung sich in Feldern anbietet, die sich einer unmittelbar teilnehmenden Beobachtung verschließen. Nur letztere gewähren als selbst produzierte Aufnahmen durch die Handelnden selbst selegierte Einblicke in ihre eigene Praxis, in die als eine »Form der Kondensierung ihrer eigenen Lebenswelt« (Knoblauch/Schnettler 2007: 591) deren Selbstdeutungen eingehen. Das von Caroline Scarles (2012: 69) so bezeichnete »producing data« seitens der untersuchten Personen selber erfreut sich m. E. deshalb gro-
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ßer Beliebtheit, weil sich diese über von ihnen selbst erstellte visuelle Repräsentationen in den Forschungsprozess involvieren lassen. Die Stärke solcher Methoden liegt Scarles (2012: 87) zufolge in einer »deeper intersubjectivity between respondent and researcher«, weil die Kontrolle über die Bildproduktion nicht allein dem Forscher obliegt (vgl. hierzu auch Isep 2012). Sie betont aber auch selbst das »artificially raising […] the voice of the respondent« (Scarles 2012: 84). Exakt diese Voice-Funktion, d. h. die Möglichkeit, ihren Anliegen visualisierend eine Stimme zu verleihen, haben die Studierenden im Rahmen unserer Studie genutzt. Sie haben die professionelle Relevanz der Stadtforschung einer »Beleuchtung« guter und schlechter Orte am Campus als Reklamationsmöglichkeit erkannt, um mit den von ihnen produzierten Bildern den Blick der Unileitung auf die von ihnen wahrgenommenen räumlichen Missstände zu lenken.
V isuelles P rotokollieren und D okumentieren Eine Beteiligung der untersuchten Personen nicht nur an der Bildproduktion, sondern am Betrachten z. B. im Rahmen eines »Fotointerviews« (Lueger 2010: 133; vgl. Isep 2012: 213) wird zur Elizitierung weiterer »Informationen« empfohlen. Sozusagen in umgedrehter Logik hat uns in unserer aktuellen Forschung zum Einsatz »sozialer« Robotik in der Alten- und Demenzpflege ein Feldakteur überraschend mit von ihr produzierten Bildern in ihre professionelle Relevanzsetzung bei der tiergestützten Aktivierung eingeführt (vgl. Pfadenhauer/Dukat 2016). Bei dem uns hierbei vorgelegten 16-teiligen Bildersatz, bei dem die Zuwendung eines Bewohners zum Hund das durchgängige Motiv ist, fällt lediglich ein Bild aus dem harmonischen Ensemble heraus: Es weist zwar den gleichen Bildauf bau auf, vermittelt aber einen anderen Ausdruck und damit auch einen anderen Eindruck, worin neben vielen anderen Selektivitäten (Betrachtungswinkel, Bildausschnitt, Wahl des Augenblicks) die für die Präsentation uns gegenüber vorgenommene Selektionsleistung augenfällig wird. Die Rekonstruktion dieser Auswahlprinzipien erweist sich als sinnvoll, wenn es zu ermitteln gilt, welches Bild dem Forscher vermittelt werden soll. Sie eignen sich allerdings nicht als Ressource für eine ganz bestimmte Erkenntnisgewinnung, nämlich dem »Versuch der Beschreibung und Manifestation von Felderfahrungen in fotografischen Erfahrungsbildern (vgl. Schändlinger 1988)« (Abel 2013: 36). Hierfür dienen mir insbesondere Fotografien, die ich selber im Feld angefertigt habe – aber nicht nur, wie ich abschließend diskutieren will. Thomas Abel (2013: 36 f.) betont im Hinblick auf die »dokumentarische Fotopraxis«, dass »der Bildproduzent in der fotografischen Bildherstellungs- und Bildauswertungsphase auf seine jeweilige Forschungsfrage fokussiert ist und auch die eigene Stellung im Feld reflektiert, um sich Bilderkenntnisse zu erarbeiten.« Hierfür sind Übersichten, Totalen, Frontalansichten und weite Bildausschnitte ebenso wie das Prinzip der Serie
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kennzeichnend. Demgegenüber sind es in meinem Fall Detailansichten, die sich entweder als »Bildreaktionen auf Felderfahrungen« (Abel 2013: 36) oder als Anlässe erweisen, Aha-Erlebnisse der Beobachtung sowohl zu verfolgen als auch wieder irritieren zu lassen. Eine solche Reaktion auf eine Felderfahrung war dieses Foto:
Abb. 1: Haltetechnik Co-Forscherin
Es ist entstanden, weil mir bei der Übergabe der Roboterrobbe von der qualifizierten Betreuungskraft an meine Co-Forscherin eine Differenz in der Haltetechnik gleichsam ins Auge gesprungen ist. In dieser als »Forschung« gerahmten Situation der Vorbereitung eines Einsatzes der Roboterrobbe auf der Demenzstation habe ich das Gespräch für den Akt der fotografischen Dokumentation dieser Auffälligkeit unterbrochen, was zur Folge hatte, dass dieser Unterschied für das nächste – nunmehr gestellte – Foto demonstrativ wiederholt und kommentiert wird.
Abb. 2: Haltetechnik Betreuungskraft
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In ihrem Kommentar begründet die Betreuungskraft ihre Haltetechnik zum einen damit, dass sie bereits ihre Kinder damals schon so getragen habe, während sie bei der Forscherin eine Erfahrung mit der »Haltung« eines Haustiers vermutet, was bei mir bei der Betrachtung des Bildes die Information aus der Literatur aufruft, dass sich der Entwickler beim Gewicht nicht an der Baby Robbe, sondern am menschlichen Säugling orientiert hat. Bei der Betrachtung fällt mir zudem auf, dass der Betreuungskraft mit ihrer speziellen Haltetechnik das knapp 6000 Euro schwere Gerät sicher auf dem einen Arm liegt, ohne den Bewegungsradius des anderen einzuschränken, was es ihr, wie ich bereits mehrfach beobachtet habe, ermöglicht, den Schalter zwischen den Hinterflossen relativ unauffällig zu betätigen. Jenseits des dokumentarischen Werts dieser Bilder, die nicht die Situation dokumentieren, die ich ethnografisch erfasse, sondern die ethnografische Erfassung der Situation dokumentieren, dienen sie mir – vor jeder Interpretation – der Selbstvergewisserung, im Feld gewesen zu sein. Wie bzw. in Ergänzung zu Beobachtungsprotokollen verwende ich sie als Erinnerungsstütze dafür, wann ich mit wem in welchem Setting (hier z. B. auf der Hinterbühne der Betreuungskräfte im Aktivierungsraum) im Feld gewesen bin. Allerdings sind sie auch in dieser protokollarischen Funktion keineswegs eindeutig, was sich daran zeigt, dass für ihr Verstehen der im Beobachtungsprotokoll festgehaltene Kontext ihrer Entstehung und der Situation mitgeliefert werden muss. Sie sind eine Anmutung von etwas auf der Basis meiner Sehgewohnheiten. Eine Anmutung von Unbequemlichkeit habe ich beim Betrachten dieses Bildes:
Abb. 3: Darreichung
Darauf manifestiert sich die Körperhaltung der Aktivierungskraft im Moment des Anreichens des Geräts. Auch bei dessen Darreichung in Konstellationen, in denen die Bewohner in der Gruppe zusammensitzen, setzt sie sich nicht etwa in deren Kreis oder auf einen bereitstehenden Stuhl,
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sondern bringt ihr Gesicht durch die hockende Haltung eher auf Kopfhöhe der Robbe als auf die der Bewohnerin. Nicht nur die Pflege, sondern auch die aktivierende Betreuung ist eine körpernahe und berührungsintensive Form der Dienstleistung. Zum einen werden Berührungen – bis hin zur basalen Stimulation – als nonverbale Form der Aktivierung eingesetzt, zum anderen suchen gerade Menschen mit demenzieller Erkrankung häufig verstärkt den Körperkontakt zu anderen Menschen. Wenn die Bewohnerin, um deren Aktivierung sie bemüht ist, nicht in der Lage oder nicht willens ist, den Robbenroboter zu berühren, beginnt die Betreuungskraft diesen, nachdem sie sich dazu das Einverständnis eingeholt hat, als Streichelinstrument einzusetzen:
Abb. 4: Technik als Streichelinstrument
Weil er dauerhaft stillhält, eignet sich der Roboter hierfür vielleicht besser als das Tier, das von der Betreuungskraft zum Stillsitzen angehalten werden muss:
Abb. 5: Tier als Streichelgegenstand
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Damit wird die unmittelbare Berührung zwischen Betreuungskraft und Bewohner mediatisiert, was sich auf dem Bild nicht appräsentiert, sondern als These von mir an das Bild herangetragen wird. Manfred Lueger (2010: 127) zufolge sind Fotografien nicht nur als »Instrumente der visuellen Protokollierung«, sondern als »fixierte Blickwinkel« aufzufassen: »Sie verengen unseren Blick auf einen ganz bestimmten Ausschnitt der Welt« – in meinem Fall auf den Aspekt der Haptik bzw. Taktilität. »Solcherart bewahren sie zweidimensional und perspektivisch verkürzt den Augenblick für die künftige Gegenwart. Wir sehen im Foto, was wir sehen können, ergänzt um Geschichten, die sich in dieses Foto einfügen lassen.« Nicht nur ich, auch andere fügen Geschichten in Bilder ein. Dies gilt z. B. für dieses Foto:
Abb. 6: Technik als Kontaktbrücke
Die mir durch das Personal des Altenheims kolportierte Story zu diesem Bild, das ein Fotograf der Stuttgarter Zeitung (Klohr 2013) angefertigt hat, ist die des Roboters als Kontaktbrücke zwischen zwei Heimbewohnern: »Rosa Rupp ist wieder da, und sie geht gleich aufs Ganze. Beherzt setzt sich die 70-Jährige auf die Couch – und beinahe auf die süße Robbe Emma. Werner Hansen ist zur Stelle und zieht Emma zur Seite. Nun sitzen die beiden Dauerläufer gemeinsam auf der Couch, der stattliche Herr streichelt die Robbe mit seiner kräftigen, linken Hand. Hin und wieder wandert auch Rosa Rupps rechter Zeigefinger in den Nacken des Plüschknäuels. ›Du bist so ein Viechle‹, sagt sie und strahlt dabei in Richtung ihres Mitbewohners, ›aber ein schönes.‹«
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Dieser narrativen Anreicherung des Bildes steht ein Foto gegenüber, bei dem ich erst nach eingehender Betrachtung entdeckt habe (was durch eine Detailvergrößerung zu überprüfen wäre), dass die Bewohnerin hier den Hund als Kontaktbrücke zur Betreuungskraft nutzt:
Abb. 7: Tier als Kontaktbrücke
Mein in meinen ersten Feldbeobachtungen gewonnener Eindruck, dass die Bewohner das technische Gerät auf eine zurückhaltende – zittrige oder reservierte Weise – berühren, bestätigt sich in dem mir vom Fotografen aus der gleichen Serie zur Verfügung gestellten Bildern nun gerade nicht:
Abb. 8: Handfeste Berührung
Fotografieren (lassen) in der lebensweltanalytischen Ethnografie
Aber auch diese professionell hergestellten Bilder sind keine Abbilder der Wirklichkeit, sondern »subjective representations« (Pink 2001: 58), die aufgrund der »›Produktionswirklichkeit des fotografischen Prozesses‹ […] Sichtweisen der Wirklichkeit und niemals diese selbst [liefern]« (Matz 1981: 9). Da diese Vermutung aber auch meinen Blick durch die Kamera auf die besondere Art der Berührungen lenkt, die sich weniger als von mir zunächst vermutet von der z. B. eines Hundes unterscheiden, nutze ich dessen Fotos zur Irritation meiner Wahrnehmungen, ohne diese deshalb sogleich als Täuschung zu verwerfen. Trotz der an der Qualität seiner Fotos erkennbaren professionellen Kompetenz erscheint mir »Fotografieren lassen« im Rahmen der lebensweltanalytischen Ethnografie nicht als bessere, sondern vielmehr als ergänzende Alternative zum ethnografischen Fotografieren.
K urzes R esümee Die Fotografie ist weit mehr als ein Dokument, das objektiv einen Informationsgehalt transportiert. In ihr manifestiert sich vielmehr die Sichtweise dessen, der durch das Objektiv blickt. Dies gilt sowohl für die Bilder, die der Forscherin aus dem Feld als quasi-natürliches Material zur Verfügung gestellt werden, als auch für die von der Forscherin selbst angefertigten Bilder. Sie geben ihr Auskunft über ihre Rolle und Position im Feld – im räumlichen, aber auch im sozialen Verstande der Positionierung. Fotografieren im Feld ist ein Sich-in-Beziehung-Setzen zu den Gegenständen, die das Feld ausmachen, und ein Interagieren mit den »Bewohnern« dieses Feldes. Es ist also nicht das nachmalige Bild, sondern der Prozess des Fotografierens als wesentlich zu erkennen (vgl. Eberle in diesem Band). Dies hat zur Konsequenz, dass auch das Foto als Bestandteil von Interaktion zu begreifen und dementsprechend zu analysieren ist, wie das für Äußerungen im Rahmen einer hermeneutischen Interpretation gängige Praxis ist. Dinge geschehen deshalb und auf eine bestimmte Art und Weise, wenn und insofern eine Kamera zum Einsatz gebracht wird. Vor oder diesseits einer derart systematischen Analyse ist die von ihr selbst angefertigte Fotografie für die Ethnografin eine Form des Wissens, das sie über das Feldgeschehen gewinnt und in ihrem ohnehin überwiegend »ikonischen Gedächtnis« (Johansen 1992, S. 6) sedimentiert.
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Die Kamera im Dienste soziologischer Objektivierung Pierre Bourdieus fotografisches Archiv Franz Schultheis
Z ur E ntdeckung einer verborgenen D imension soziologischer F orschung und Theoriebildung im W erk P ierre B ourdieus Auch dem wenig an Soziologie interessierten Kenner der Fotografie dürfte Pierre Bourdieu dank seiner bereits zum Klassiker avancierten Untersuchung zu dieser »illegitimen Kunst« ein Begriff sein. Dass er aber auch selbst zur Kamera griff, um seine ethnologischen Feldstudien aus dem Algerien der frühen sechziger Jahre mit fotografischen Zeugnissen zu unterlegen, ist immer noch weitgehend unbekannt. Nur wenige dieser hunderten Fotografien gelangten bei der Gestaltung von Einbänden dieses oder jenes Werks Bourdieus an die Öffentlichkeit, allerdings vom Publikum völlig unbeachtet. Als im Rahmen eines Gesprächs des Autors mit Pierre Bourdieu über die Algerien-Studien zwischen 1958 und 1961 die Rede auf diese Fotografien kam, entstand aus der spontanen Neugierde bald das Projekt, diese bisher unbekannte Facette Bourdieu’scher Ethnologie zu veröffentlichen. Der hier begonnene Austausch, an dem sich neben Bourdieu und dem Autor auch »Camera Austria«, eine international bekannte und anerkannte Revue für Fotografie in der Person von Christine Frisinghelli beteiligte, mündete in ein weitreichendes Projekt: Pierre Bourdieu übergab uns sein gesamtes Archiv an Fotografien, die während seiner Feldforschungsarbeiten zwischen 1958 und 1961 in Algerien entstanden sind, mit dem Ziel diese in einer Ausstellung und Publikation erstmals der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Diese Fotografien, sagt Pierre Bourdieu, stellen sein frühestes und zugleich aktuellstes Werk dar. In Zusammenarbeit mit ihm (leider verstarb Pierre Bourdieu anfangs 2002) wurden die fotografischen Dokumente gesichtet, strukturiert und in Beziehung zu zeitgleich in Algerien entstandenen ethnografischen und soziologischen Studien gesetzt. Die Ausstellung »Pierre Bourdieu: In Algerien. Zeugnisse der Entwurzelung«, die mittlerweile an den verschiedensten Orten – von Paris bis
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Seoul, London, Mexico, Hamburg oder Tokyo – gezeigt wurde, will die historischen, politischen, wissenschaftlichen, aber auch biografischen Kontexte zeigen, innerhalb derer diese Arbeiten entstanden sind. Gleichzeitig will sie aber auch einen Beitrag zur Aktualität visueller Methoden in der soziologischen Forschung und Theoriebildung bieten. Weiterhin wurden die in der Ausstellung präsentierten fotografischen Zeugnisse unter gleichem Titel in einem Buch veröffentlicht; dies in Form eines Dialogs mit einschlägigen Textauszügen aus Bourdieus ethnografischen Feldstudien und eines ausführlichen Interviews über den Entstehungskontext seiner Soziologie und die wissenschaftliche Bedeutung der Fotografie. Eine Publikation, die mittlerweile neben dem französischen Original auch in deutscher, englischer, spanischer, italienischer und arabischer Sprache vorliegt. Die nun erstmals um ihre fotografische Komponente ergänzten wegweisenden Feldforschungen Bourdieus in Algerien (1958–1961), bei denen Ethnologie, Anthropologie und Soziologie untrennbar miteinander einhergehen, bieten Einblick in den status nascendi der Bourdieu’schen Soziologie in all ihren elementaren Formen und Gehalten. Neben dieser werkgeschichtlichen Dimension – und weit über sie hinaus – bleibt dem fotografischen Werk Bourdieus aber auch die Qualität und der Status eines beeindruckenden soziohistorischen Bildmaterials. Liest man Bourdieus Fotos im Wechsel mit seinen Texten aus dieser Zeit so findet man in den vorliegenden Fotografien ein reiches Anschauungsmaterial des Habitus und Ethos des vormodernen Menschen und der ihm eigenen Würde.
Bourdieus soziologische und fotografische Arbeit in Algerien zeugt von einer gesellschaftlichen Welt voller Ungleichzeitigkeiten, deren Menschen auch heute noch nicht ihre Heimatlosigkeit und Entwurzelung – eine Entfremdung gegenüber Tradition und Moderne zugleich – überwunden haben. Vielleicht liegt die in Bourdieus Fotografien zum Ausdruck kommende Tragik Algeriens ja gerade darin, dass sie auch nach vier Jahrzehnten nichts an Aktualität und Realismus eingebüßt zu haben scheint. Darüber hinaus stellt sich die Bedeutung dieser visuellen Form der Objektivierung sozialer Wirklichkeit in Bourdieus biografischer Rekonstruktion aber auch als Schlüsselelement einer Konversion dar. Eine »Konversion des Blicks«, wie er es in unserem Gespräch ausdrückte, bei der der aus Paris nach Algerien »verschickte« Philosoph mit einer begonnenen phänomenologischen Dissertation zu den Zeitstrukturen des Gefühlslebens sich nicht nur zum Sozialwissenschaftler wandelte, sondern auch eine Art Selbsttechnik fand, mit der er einen neuen Blick auf seine eigene biografische Flugbahn und soziale Identität zu entwickeln vermochte: »Den verstehenden Blick des Ethnologen, mit dem ich Algerien betrachtet habe, konnte ich auch auf mich selbst anwenden, auf die Menschen aus meiner Heimat, auf meine Eltern, die Aussprache meines Vaters und meiner Mutter, und mir das alles so auf eine völlig undramatische Weise wiederaneignen, denn hier liegt eines der großen Probleme entwurzelter Intellektueller, welchen oft nur die Wahl
Die Kamera im Dienste soziologischer Objektivierung zwischen Populismus und verschämter Selbstverleugnung (als Reaktion auf die symbolische Gewalt der Klassengesellschaft) zu bleiben scheint. Ich bin diesen Menschen, die den Kabylen sehr ähnlich sind und mit denen ich meine Kindheit verbracht habe, mit dem Blick des Verstehens begegnet, der für die Ethnologie zwingend ist und sie als wissenschaftliche Disziplin definiert. Die Fotografie, die ich zunächst in Algerien und dann im Béarn betrieb, hat als Begleiterin auf diesem Weg zweifellos viel zu dieser Konversion des Blickes beigetragen, die eine wahre – und ich glaube, das Wort ist nicht zu stark – Sinnesänderung voraussetzte. Denn die Fotografie ist Ausdruck der Distanz des Beobachters, der Daten speichert und sich dabei immer bewusst bleibt, dass er Daten speichert (was in so familiären Situationen wie der eines Dorfballes nicht immer einfach ist). Zugleich aber setzt die Fotografie auch Vertrautheit, Aufmerksamkeit und Sensibilität selbst für kaum wahrnehmbare Details voraus. Details, die der Beobachter nur durch eben diese Vertrautheit unmittelbar zu verstehen und zu interpretieren vermag; eine Sensibilität für das unendlich kleine Detail einer Situation, das selbst dem aufmerksamsten Ethnologen zumeist entgeht. Die Fotografie ist aber auch eng verwoben mit dem Verhältnis, das ich zu jedem Zeitpunkt zu meinem Gegenstand unterhalten habe. Und ich habe keinen einzigen Augenblick lang vergessen, dass es sich dabei um Menschen handelte, Menschen, denen ich mit einem Blick begegnet bin, den ich – auch wenn ich befürchte, mich dadurch lächerlich zu machen – als liebevoll, ja als oft gerührt bezeichnen möchte.« (Bourdieu, in Schult heis/Frisinghelli 2003: 11)
V om soziologischen G ebr auch der F otogr afie : A nknüpfungen , blinde F lecken und F orschungslücken Obwohl Pierre Bourdieus Werk seit den 1980er-Jahren international eine starke Rezeption erfahren hat und er heute als der meistzitierte Sozialwissenschaftler der Nachkriegszeit gilt, sind seine fotografischen Arbeiten weitgehend unbekannt geblieben. Und dies, obwohl Bourdieu gezielt fotografische Dokumente aus eigener Hand auf Buchdeckeln seiner Publikationen wie ›Sozialer Sinn‹ (Bourdieu 1987 [1980]) oder ›Algérie 60‹ (Bourdieu 2006 [1977]) platzierte. Die Soziologie als wissenschaftliche Disziplin hat diese jedoch bisher in seiner Bedeutung für das Verständnis des Bourdieu’schen Werkes kaum wahrgenommen und sich nur vereinzelt und wenig systematisch mit der Visualität als zentralem Aspekt seines Zugangs zur sozialen Welt beschäftigt. Fotografie als Träger visueller sozialwissenschaftlicher Daten und Quellen zählt heute kaum zum etablierten Methodenkanon, Forschungsinstrumentarium und Selbstverständnis der Soziologie, obwohl im Laufe des letzten Vierteljahrhunderts eine deutliche Zunahme des Interesses an der frühen Sozial- und Dokumentarfotografie festzustellen ist – das auch von einer gewissen, wenn auch verhaltenen Renaissance einer visuellen Soziologie begleitet wird. Betrachtet man die Entwicklungen von der Sozialfotografie zur visuellen Sozialwissenschaft, so ist zum einen im angelsächsischen Sprach-
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raum weitgehend zu erinnern an die frühen sozialkritischen Arbeiten von Agee und Evans (1960), Evans (1997), Berger und Mohr (1975), kürzlich Salgado (2000); und im deutschsprachigen Raum an das klassische Werk von Sander (2002 [1929]), eine Tradition, die gegenwärtig auf zunehmendes Interesse stößt (vgl. z. B. Stange 1989; Stumberger 2007). Im englischsprachigen Raum ist im letzten Vierteljahrhundert darüber hinaus eine Weiterentwicklung der nun als »Visual Sociology« bezeichneten Gattung zu bemerken (Harper 2000; Grady 1996; Becker 1981; 1986; 1994). Auch sozialwissenschaftliche Disziplinen wie Anthropologie (Collier/Collier 1986) und Ethnologie (Pink 2001), Geschichte und post-colonial studies (Landau 1999) bedienen sich visueller Daten und Quellen, um u. a. ihre Kritik am »kolonialen Blick« in der Forschung zu thematisieren. Obwohl es hier an konkreten Informationen fehlt, kann man davon ausgehen, dass Bourdieu diese Tradition bekannt war und er auch in Paris die Wanderausstellung »The Family of Man« besuchen konnte, welche in den 50er-Jahren der sozialkritischen Fotografie einen enormen Publikumserfolg brachte. Aber wie steht es um die spezifische Qualität der Bourdieu’schen Fotografie? Welchen Gebrauch machte er von ihr in und für die Forschung? Die bisher vorliegende rudimentäre Rezeption von Bourdieus soziologischer Fotografie repräsentiert diese maßgeblich als Verschränkung von fotografischer Visualisierung und diskursiver dichter Beschreibung, wie sie vor allem in den frühen ethnosoziologischen Arbeiten Bourdieus auf exemplarische Weise deutlich wird und als Entstehungskontext seiner gesamten Theorie der gesellschaftlichen Welt betrachtet werden kann (Schultheis 2007a). Diese manifestiert sich bereits zu dieser Zeit in bevorzugten Themenstellungen, Methoden und Haltungen seiner reflexiven Sozialforschung. Zudem wird die »historische und thematische Rahmung« von Bourdieus Fotografien betont und für eine Kontextualisierung (Frisinghelli 2008) seiner Arbeiten plädiert. In jüngster Zeit hat sich auch die deutschsprachige Bildwissenschaft mit Bourdieus Fotografien auseinandergesetzt (Bismarck/Kaufmann/Wuggenig 2008). In der Rezeption von Bourdieus visueller Soziologie wurde dabei vor allem deren zentrale Bedeutung für ein vertieftes Verständnis von Bourdieus wissenschaftlichem und gesellschaftspolitisch engagierten Gesamtwerk betont, vor allem da es sich bei den jahrelangen Feldforschungen in Algerien um eine entscheidende Erfahrung von »Initiation und Initiative« (Schultheis 2000) handelt, die für die intellektuelle Biografie Bourdieus von zentraler Bedeutung werden sollte. In diesem Sinne sind die fotografischen Arbeiten Bourdieus in Zusammenhang mit seinen frühen ethnologischen und soziologischen Studien (Bourdieu 1972; 1977; 1980) zu lesen, die als diskursiver Verweisungszusammenhang oder selbst als diskursive – weil durch Fotografien in ihrem Entstehen maßgeblich unterstützte – Visualisierungen zu interpretieren sind. Zudem betont Schultheis die bereits in diesen frühen Schriften Bourdieus zum Ausdruck kommende gesellschaftspolitische Auffassung sozialwis-
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senschaftlicher Arbeit, die auch seine späteren Arbeiten (Bourdieu 1993; 1998) begleitet. Ein weiterer Aspekt, der für die Rezeption seiner visuellen Soziologie bedeutsam ist, ist das Verdeutlichen der hohen Selbstreflexivität von Bourdieus Umgang mit der Fotografie und der Sozialwissenschaft insgesamt, die nicht zuletzt sowohl in seinen kunsttheoretischen Schriften (Bourdieu 1965; 1992) als auch in seinen wissenschaftssoziologischen Arbeiten (Bourdieu 1968; 1986; 1997) und in seinem »soziologischen Selbstversuch« (Bourdieu 2002) deutlich wird. Hinzu kommt, dass Pierre Bourdieu kurze Zeit nach seiner Rückkehr von diesen für uns einschlägigen Feldforschungen und Pionierarbeiten Fotografie und ihre sozialen Gebrauchsweisen selbst zum Gegenstand systematischer soziologischer Forschung machte (vgl. Bourdieu 1965), während er selbst die Fotografie als Mittel sozialwissenschaftlicher Forschung in ethnografischen Feldforschungen in seiner eigenen Heimat, dem Béarn, einsetzte. Bourdieus Studien zum sozialen Gebrauch der Fotografie bieten u. E. selbst ein bemerkenswertes Potenzial an kritischer Reflexivität, wenn man sie auf seine eigenen Gebrauchsweisen mit diesem Medium anwendet und der Frage nachgeht, wodurch sich diese von anderen Umgangsweisen unterscheiden. Schließlich ist auch darauf hinzuweisen, dass Bourdieu nach seiner Rückkehr nach Paris nicht mehr aktiv mit Fotografie als Element soziologischer Forschung umging, ihr jedoch in seiner Zeitschrift »Actes de la recherche en sciences sociales« (ARSS) einen privilegierten Ort und ein hohes Maß an Präsenz verschaffte. Bourdieu gab ARSS nicht zuletzt durch den systematischen Gebrauch der Fotografie und anderer Visualisierungstechniken ein unverwechselbares Profil mit dem ständigen Experimentieren mit unterschiedlichen Darstellungsformen und Gattungen, Stilelementen und Techniken und einer Montagetechnik, bei der Text, Fotografie, Grafik, Einschübe von Originalquellen, Kopien von Dokumenten, Interviewauszüge sowie eine für sein Gesamtwerk kennzeichnende Technik der Visualisierung statistischer Zusammenhänge, genannt Korrespondenzanalyse, im engen Zusammenspiel und unter permanentem wechselseitigem Verweisen zum Zuge kamen. Wenn es demnach keinen Zweifel daran geben sollte, dass die Bourdieu’sche Soziologie in ganz besonderer Weise für einen systematischen Gebrauch der Fotografie als Methode und Instrument der Forschung und Dispositiv der reflexiven Objektivierung prädisponiert war und sich der für Bourdieu kennzeichnende Blick auf die soziale Welt nicht zuletzt durch den Blick durch das Objektiv schärfte, so wäre der Frage nachzugehen, welcher systematische Stellenwert der Fotografie als Instrument der Forschung im Bourdieu’schen Werk zukommt. Und auch welche »Strategien der Visualisierung des Gesellschaftlichen« (Schultheis 2007a: 83) und welche zentralen Funktionen der Fotografie sich im Rahmen der ethnologischen und soziologischen Feldforschungen Bourdieus identifizieren lassen (vgl. Schultheis 2008: 38).
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M e thodologische und theore tische F unk tionen und forschungsstr ategische G ebr auchsweisen der F otogr afie bei P ierre B ourdieu im synop tischen Ü berblick Im Austausch mit Bourdieu zum Umgang mit Fotografie in seinen Forschungen kamen folgende Aspekte zur Sprache:
Fotografische »Zeugnisse« als Mittel der Spurensicherung Nach Aussagen Bourdieus diente ihm die Fotografie zunächst als dokumentarisches Medium für eine »Spurensicherung« (Schultheis 2008) einer Gesellschaft im Umbruch und einer untergehenden Kultur, sozusagen als eine Sozial- oder Dokumentarfotografie der gesellschaftlichen Transformation. Hierbei standen immer die Situation des Umbruchs und ihre Widersprüche im Vordergrund, das Aufeinandertreffen unvereinbarer gesellschaftlicher Strukturen und Praktiken und nicht etwa eine museal-folk loristische Strategie der Inszenierung einer exotischen Kultur. Vielmehr verband sich mit dieser Spurensicherung aufs Innigste die Visualisierung und Kritik der Gewalt des Kolonialismus.
Fotos als Gaben und Türöffner Bourdieu berichtet in unseren Gesprächen mehrfach davon, dass das Fotografieren unter den schwierigen Bedingungen eines kriegsgeschüttelten Landes die Kontaktaufnahme und das Auf bauen eines vertraulichen Verhältnisses mit den Bewohnern des fremden Landes erleichterte und er dieses Mittel sehr strategisch einzusetzen wusste: »Dort machte ich dann natürlich sehr viele Fotos, und die Leute freuten sich darüber. Unter diesen Fotos ist auch eine Serie mit ziemlich dramatischen Bildern von einer Beschneidung – ich habe sie auf die Bitte des Vaters hin gemacht, der mich aufforderte: ›Komm zum Fotografieren‹. Das Fotografieren war ein Weg, zu den Menschen Zugang zu finden und gerne gesehen zu sein. Später habe ich den Leuten die Fotos geschickt.«1 Abb. 1: Beschneidung eines Mädchens
1 | Dieses und die nachfolgenden Zitate stammen aus einem mit Pierre Bourdieu zu seiner fotografischen Praxis geführten Gespräch aus: Bourdieu/Schultheis 2003: 21–52.
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Oder aber: »Es gibt da eine Reihe von Fotos, die ich in der Region von Collo gemacht habe, und zwar in einer ziemlich dramatischen Situation. Ich befand mich in der Hand von Leuten, die die Macht über Leben und Tod hatten – was mich selbst betraf, aber auch die, die bei mir waren. Es ist eine Reihe von Bildern, auf denen die Menschen unter einem großen Olivenbaum sitzen, diskutieren und Kaffee trinken. Fotos zu machen, war in diesem Fall eine Art und Weise, ihnen zu sagen: ›Ich interessiere mich für euch, ich stehe auf eurer Seite, ich höre euch zu, ich werde bezeugen, was ihr hier erlebt‹.« Abb. 2: Einheimische unter Olivenbaum
Das Fotoarchiv als ethnografisches Notebook Das von Bourdieu tausendfach praktizierte Fotografieren von unterschiedlichsten Situationen und Motiven erfüllte des Weiteren die Funktion einer Entlastung gegenüber der Reizüberflutung bei der teilnehmenden Beobachtung, ein Mittel zur Entschleunigung und zur Reduktion von Komplexität: »Was macht man angesichts einer so drückenden, erdrückenden Wirklichkeit? Natürlich bestand die Gefahr, mich von dem allem überschwemmen zu lassen und daraus eine völlig irre Chronik zu machen, in der ich alles zu erzählen versuchte. Einer der großen Fehler, die ich gemacht habe, war, kein Tagebuch zu führen. Ich hatte lauter einzelne Fetzen, alles total chaotisch – es war einfach alles sehr schwierig, wir hatten wenig Zeit, und es war sehr anstrengend.«
Und weiter: »Die Fotos, die man in aller Ruhe immer wieder anschauen kann, erlauben ebenso wie Tonaufnahmen, die man immer wieder anhören kann, Feinheiten wahrzunehmen, die einem auf den ersten Blick entgangen sind oder die man aus Gründen der Diskretion während des Interviews nicht in aller Ausführlichkeit betrachten kann.«
Fotografie als Mittel einer »materialen Ethnologie« Weiterhin erwähnt Bourdieu in unserem Austausch, dass er sich der Fotografie auch zwecks Aufzeichnens und Bewahrens von Beobachtungen für einen späteren Gebrauch bediente (vgl. Abb. 1–3):
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Oder auch:
Abb. 3 und 4: Getreidemühle
Abb. 5: Abgedecktes Haus
»[…] und bin dort auf Häuser gestoßen, von denen man das Dach abgenommen hatte, um die Leute zum Gehen zu zwingen. Sie waren nicht verbrannt worden, aber sie waren nicht mehr bewohnbar. Und in den Häusern fand ich Tonkrüge (das ist etwas, das ich schon in einem anderen Dorf, in Ain Aghbel, zu erforschen begonnen hatte: Es gibt Orte, wo all das, was wir Einrichtung nennen würden, aus gebrannter Erde gefertigt ist und von den Frauen hergestellt und geformt wird), in der Kabylei nennt man sie aqoufis, diese großen, mit Zeichnungen verzierten Tonkrüge für das Getreide. Die Zeichnungen zeigen oft Schlangen, denn Schlangen sind ein Symbol der Auferstehung. Und obwohl die Situation so traurig war, war ich glücklich, fotografieren zu können – es war alles sehr widersprüchlich. Ich konnte von diesen Häusern und unbeweglichen Einrichtungsgegenständen nur dank der Tatsache Fotos machen, dass sie kein Dach mehr hatten …«
Abb. 6: Lehmofen
Abb. 7: Tonkrug
Die Kamera im Dienste soziologischer Objektivierung
Fotografieren als »Objektivierung« und Schärfung des Blicks Bourdieu wählte bei seiner Charakterisierung der Bedeutung des Fotografierens für seinen Werdegang bezeichnenderweise den Begriff »Konversion des Blicks«. Hiermit spielte er darauf an, dass ihn der Blick durch das Objektiv der Kamera dazu verhalf, wenn nicht gar zwang, den beobachteten Phänomenen oder Personen eine spezifische Aufmerksamkeit zuteil werden zu lassen, sich selbst hierbei zurückzunehmen und die soziale Wirklichkeit, die sich ihm darbot, zu fokussieren. Diese dabei mit anderen Augen sehen zu lernen und einen Prozess der thick description im Feld und später bei der Auswertung der fotografischen Zeugnisse einzuleiten, bei dem sich sukzessive Kristallisationen theoretischer Perspektiven auf die jeweiligen Gegenstände in Wechselwirkung mit den beim Fotografieren eingenommenen Blickwinkeln auf die soziale Wirklichkeit entwickeln ließen: »Das Fotografieren war auch, wie soll ich sagen, eine Art und Weise zu schauen. Es gibt ja diese kleinbürgerliche Spontansoziologie (in Frankreich zum Beispiel von jenem kleinbürgerlichen Schriftsteller Daninos), die sich über jene Leute lustig macht, welche sich mit dem Fotoapparat über die Schulter gehängt auf den Weg zu ihren touristischen Ausflügen machen und schließlich vor lauter Fotografieren die Landschaft gar nicht mehr wirklich betrachten. Ich habe das schon immer für Klassenrassismus gehalten. In meinem Fall zumindest war das eine Art und Weise, meinen Blick zu schärfen, genauer hinzusehen, einen Zugang zum Thema zu erlangen …«
Gleichzeitig betont Bourdieu, dass die Fotografie für ihn ein Hilfsmittel zur Bewältigung »überwältigender« Eindrücke in diesen Krisenzeiten darstellte und der Blick durch das Objektiv der Kamera ihm die Möglichkeit bot, bei noch so dramatischen und bewegenden Situationen die Haltung eines distanzierten Beobachters zu wahren und trotz aller subjektiven Betroffenheit die Möglichkeit zum kühlen wissenschaftlichen Objektivieren zu sichern: »Ich war sehr bewegt und sensibel für das Leiden der Menschen dort, aber zugleich war da auch die Distanz des Beobachters, die sich in der Tatsache manifestierte, dass ich Fotos machte. An das alles musste ich denken, als ich Germaine Tillion (1998 [1973]) las, eine Ethnologin, die über eine andere algerische Region, den Aurès, gearbeitet hat, und die in ihrem Buch ›Ravensbrück‹ erzählt, dass sie in einem Konzentrationslager mit ansehen musste, wie die Menschen starben, und dass sie jedes Mal, wenn jemand starb, eine Kerbe machte. Sie machte einfach ihre Arbeit als professionelle Ethnologin, und sie erzählt in ihrem Buch, dass ihr das half, durchzuhalten. Daran dachte ich also und ich sagte mir: Du bist schon ein komischer Typ.«
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Fotografie als Theoriegenerator Weiterhin kam Bourdieu bei der Rekonstruktion seines Umgangs mit der Fotografie darauf zu sprechen, dass sie ihm beim »Generieren von Fragen« und »Konstruieren von Gegenständen« wichtige Impulse bot und er beim Betrachten seiner visuellen Zeugnisse über Jahrzehnte hinweg immer neue Themen der Forschung aus ihr gewinnen konnte: »Es gibt ein Foto, das dafür sehr typisch ist und das ich für den Einband von ›Travail et travailleurs en Algérie‹ (Bourdieu et al. 1963) genommen habe. Darauf sind Landarbeiter auf der Ebene von Mitidja in der Nähe von Algier zu sehen. Sie arbeiten in einer Reihe und versprühen Sulfat, das durch einen Schlauch geleitet wird, über den sie mit einer Maschine verbunden sind, in der das Sulfat transportiert wird. Sie bewegen sich zu fünft oder zu sechst vorwärts, vielleicht sind es auch mehr. Das Bild zeigt sehr gut die Lebensumstände dieser Menschen und zugleich sieht man die Industrialisierung der landwirtschaftlichen Arbeit in diesen großen Kolonialfarmen.« Abb. 8: Traditioneller Ackerbau
Oder an anderer Stelle: »Das erinnert mich an ein Foto, das ich auf einem Friedhof gemacht habe […] Ich selbst hatte immer Hypothesen bezüglich der Organisation des Raumes im Sinn: Es gibt einen Lageplan des Dorfes mit einer bestimmten Struktur, eine Struktur des Hauses; und außerdem habe ich entdeckt, dass die Verteilung der Gräber auf dem Friedhof grob die Organisation des Dorfes nach Clans reproduzierte. Und ich habe mich gefragt: Werde ich auf den Märkten dieselbe Struktur wiederfinden?«
Abb. 9: Landarbeiter mit Sulfatschläuchen
Hierbei waren für ihn, wie er überraschender Weise betonte, die scheinbar »naivsten« Bilder viel ergiebiger und innovativer als jene, die bereits theoriegeleitetet geschossen waren und deshalb erwartbare Déjà-vu- bzw. Déjà-su-Effekte erzielten.
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Praxis des Fotografierens als Objekt wissenschaftlicher Reflexion Weiterhin schwang bei Bourdieus Einsatz der Fotografie im Forschungsprozess immer auch die Frage nach den sozialen Gebrauchsweisen des Fotografierens als selbstreflexives Forschungsinteresse mit. Diese an die Fotografie herangetragene soziologische Frage hatte schon bei seinen ersten Gehversuchen im Umgang mit der Kamera in seiner Heimat eingesetzt, wo Bourdieu sich dafür interessierte, wie unterschiedlich Bauern und städtische Besucher im Béarn mit der Praxis des Fotografierens umgingen: »Die Fotografie ist ein Gegenstand, der mich interessierte. Was ich dabei natürlich im Kopf hatte, war die Tatsache, dass die Fotografie die einzige Praxis mit künstlerischer Dimension ist, die für alle zugänglich ist, und zugleich auch das einzige kulturelle Gut, das allgemein konsumiert wird. Über diesen Umweg wollte ich zu einer allgemeinen ästhetischen Theorie gelangen. Das war zugleich ein sehr bescheidenes und sehr ehrgeiziges Vorhaben.«
Ver wendung von Fotos in Publikationen Wie bereits erwähnt verwendete Bourdieu, wenn auch weitgehend unbemerkt, seine fotografischen Dokumente zur Illustration seiner Bücher, nutzte sie im Rahmen von Artikeln in seiner Hauszeitschrift ARSS, oder auch bei der Präsentation seiner Forschungsergebnisse in so auflagenstarken Zeitschriften wie Telerama. Es scheint ganz so, als ob dies die Funktion erfüllte, komplexe und teilweise schwer zugängliche theoretische Gegenstände durch visuelle Träger greif barer und nachvollziehbarer zu machen bzw. sie für ein Nicht-Fachpublikum zu »vulgarisieren«. Dies gilt im Besonderen für die Vermittlung seiner Habitus-Theorie, für deren Plausibilisierung Bourdieu systematisch fotografische Visualisierungen einsetzte.
Befriedigen und Dokumentieren ästhetischer Bedürfnisse Bei aller theoriegeleiteten wissenschaftlichen In strumentalisierung der Fotografie für Zwecke soziologischer Objektivierung kamen bei Bourdieu durchaus subjektive Motive nach ästhetischem Ausdruck von Erfahrungen und Befindlichkeiten zur Geltung, die im Übrigen auch von vielen Experten der künstlerischen Fotografie durchaus anerkannt werden. Stellvertretend für viele andere Hinweise sei hier zitiert: »Zum anderen habe ich Dinge fotografiert, die ich schön fand. Ich erinnere mich an ein Foto, auf dem ein kleines Mädchen mit Zöpfen zu sehen ist, mit ihrer kleinen Schwester an ihrer Seite. Man hätte meinen können, eine deutsche Jungfrau aus dem 15. Jahrhundert …«
Abb. 10: Mädchen
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Dokumentierung von Wandel und Beharrung Schließlich sei auch noch auf eine vom Autor dieses Beitrags unternommene Nutzung der Bourdieu’schen Fotografie als Mittel historischer Spurensicherung mit Bourdieu über Bourdieu hinaus verwiesen. Fast 50 Jahre nach Bourdieus Aufenthalt in Algerien begab ich mich mit einer kleinen Forschergruppe an Orte, die von Bourdieu damals visuell dokumentiert wurden. Hatte z. B. Bourdieu in den späten 1950er-Jahren die These aufgestellt, dass die vom Kolonialismus systematisch eingesetzten Formen der Entwurzelung auch nach der Befreiung Algeriens fortbestehen würden und die in Umgruppierungszentren zwangsweise ausgesiedelten Menschen nicht in ihre früheren Häuser und Orte zurückkehren würden, so konnten wir – wiederum mittels fotografischer Feldforschung – am Beispiel der Siedlung Djebabra, etwa 200 km südlich von Algier belegen, dass diese Hypothese zutraf. Hier konnten wir das Fortbestehen des von den Kolonialherren militärstrategisch durchgesetzten panoptischen Siedelns ein halbes Jahrhundert nach Bourdieu erneut in Bildern festhalten. Wir trafen sogar zwei Bewohner an, die Bourdieu im Kindesalter fotografiert hatte und die immer noch am gleichen Ort unter kaum veränderten prekären LebensbedingunAbb. 11: Panoptischer Siedlungsbau gen ausharrten.
Abb. 12: Siedlungsplan: Umgruppierung von Djebabra mit Wegbeschreibungen zu den umgruppierten Bauern
Die Kamera im Dienste soziologischer Objektivierung
A usblick : F ür eine systematische A nalyse des fotogr afischen A rchivs P ierre B ourdieus Vor dem Hintergrund der oben skizzierten, noch sehr provisorischen und hypothetischen, Überlegungen zum Stellenwert der Fotografie im Kontext der Bourdieu’schen Soziologie, schiene es uns naheliegend, eine systematische Sichtung und Erschließung des Gesamtfundus an rund 700 Fotografien Bourdieus aus der Zeit der algerischen Feldforschungen zu unternehmen und gezielt den Fragen nachzugehen, welcher spezifische heuristische Stellenwert der Fotografie im Bourdieu’schen Werk zukommt und welche Strategien der Visualisierung des Gesellschaftlichen hier identifizierbar und nachvollziehbar sind mittels jener konzeptuellen und methodischen Mittel, die uns Bourdieu selbst in seinen Ausführungen über Fotografie und in seiner Wissenschaftssoziologie in die Hand gegeben hat. Hierdurch ließe sich u. E. ein Beitrag zu der längst überfälligen Rehabilitation des Gebrauchs der Fotografie in der sozialwissenschaftlichen Forschung erbringen, welcher sich umso effizienter erweisen könnte, als Bourdieus klassische Studie zur Soziologie der Fotografie hier selbst als Ressource sozialtheoretischer und methodologischer Reflexion zur Geltung kommen würde.
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A bbildungen Abb. 1: Beschneidung eines Mädchens. © Foto: Pierre Bourdieu. Camera Austria/Fondation Bourdieu.
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Abb. 2: Einheimische unter Olivenbaum. © Foto: Pierre Bourdieu. Camera Austria/Fondation Bourdieu. Abb. 3 und 4: Getreidemühle. © Foto: Pierre Bourdieu. Camera Austria/ Fondation Bourdieu. Abb. 5: Abgedecktes Haus. © Foto: Pierre Bourdieu. Camera Austria/Fondation Bourdieu. Abb. 6: Lehmofen. © Foto: Pierre Bourdieu. Camera Austria/Fondation Bourdieu. Abb. 7: Tonkrug. © Foto: Pierre Bourdieu. Camera Austria/Fondation Bourdieu. Abb. 8: Traditioneller Ackerbau. © Foto: Pierre Bourdieu. Camera Austria/ Fondation Bourdieu. Abb. 9: Landarbeiter mit Sulfatschläuchen. © Foto: Pierre Bourdieu. Camera Austria/Fondation Bourdieu. Abb. 10: Mädchen. © Foto: Pierre Bourdieu. Camera Austria/Fondation Bourdieu. Abb. 11: Panoptischer Siedlungsbau. © Foto: Pierre Bourdieu. Camera Austria/Fondation Bourdieu. Abb. 12: Siedlungsplan: Umgruppierung von Djebabra mit Wegbeschreibungen zu den umgruppierten Bauern. © Foto: Pierre Bourdieu. Camera Austria/Fondation Bourdieu.
Subversionen des Lichts Helmar Lerskis fotografische Kritik soziologischer Fotografie Felix Keller »In jedem Menschen ist alles«, »es kommt darauf an, worauf man Licht wirft und was man in den Schatten setzt«, so lautete das Credo eines der irritierendsten Fotografen des 20. Jahrhunderts, Helmar Lerski (1958: 118, 175). Indem er das Licht und seine Verwendung beim fotografischen Akt in den Vordergrund stellt, also das genuin Unsichtbare vor das konkret Sichtbare, zielt Lerski ins Zentrum der Frage nach dem Phänomenalen der Fotografie. Mittels eigenwilliger technischer Installationen verfertigte Lerski Lichtbilder, die die damals führenden fotografischen Repräsentationsweisen des Sozialen hinterfragten. Kompromisslos nutzte er die lichttechnischen Möglichkeiten des fotografischen Labors, um auch heute noch verstörende Bilder von Menschen zu erzeugen, unabhängig dessen, wen er vor die Linse brachte. In der Radikalität, in der er die erzeugten Lichteffekte zur Disposition stellte, thematisiert seine Arbeit nicht nur die Frage der fotografischen Sichtbarkeit des Menschen, sondern auch der fotografischen Wahrnehmung der Gesellschaft schlechthin, worin seine Arbeit eine zeitlose Gültigkeit bewahrt, auch hinsichtlich einer aktuellen »Phänomenologie der Fotografie«.
Z um fotogr afischen K onte x t der Z eit Lerskis Werk ist ohne die visuelle Kultur der Weimarer Gesellschaft nicht zu verstehen. Die Zeit war gleichzeitig von einem neuen ökonomischen wie werbetechnischen Gebrauch der Fotografie gekennzeichnet. Es entstand, so Walter Benjamin, ein »merkantiler Blick« auf die Welt nach dem Modell der Reklame (Benjamin 1997 [1928]: 95). Fotografisch illustrierte Magazine überfluteten den Druckmarkt. Alleine die »Arbeiter Illustrierte Zeitung« erreichte eine Auflage von 350.000 Exemplaren (Foster/Krauss/ Bois/Buchloh 2004: 241). »Und wirklich scheint der Tag vor der Tür zu stehen, da es mehr illustrierte Blätter als Wild- und Geflügelhandlungen geben wird«, so Benjamin (2003 [1931]: 60). Die frisch entstandenen fotografischen Magazine lieferten auch neue Repräsentationen des Sozialen, etwa jene des öffentlichen Gesichts (Belting 2013: 214 ff.) und des Stars:
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Imaginations- und Sehnsuchtsfiguren, die gleichsam andere, selbstverständliche Darstellungsweisen bouleversierten (Foster et al. 2004: 243). Wie als dialektischer Kontrapunkt des Stargesichts geriet auch das Gesicht unbekannter Menschen auf neue Weise in den Sog fotografischer Technik: Die Menschen auf der Straße wurden zum fotografischen Thema (Sontag 2003: 104). Die neuen technischen Möglichkeiten ebenso wie die Flut neuer Bilder riefen auch danach, die fotografische Erfassung des Sozialen zu versachlichen, zu verwissenschaftlichen (siehe Maresca 1996: 54 ff.), um so der aufgereizten Visualisierung des Sozialen eine rationale Sichtweise entgegenzustellen. Mit August Sanders Werk erlebt diese Verwissenschaftlichung der Fotografie ihren beispiellosen Höhepunkt (Sontag 2003: 61 ff.). Es bildet letztlich einen schwer zu übersehenden und entscheidenden Bezugspunkt von Lerskis fotografischen Experimenten. ›Menschen des 20. Jahrhunderts‹ nannte Sander sein Projekt der Systematisierung fotografischer Darstellung sozialer Ordnung, das ihn beinahe Zeit seines Lebens beschäftigte und ein umfassendes Archiv der deutschen Bevölkerung liefern sollte. Sander intendierte mit seinem Projekt, »wirklich einen Querschnitt durch die heutige Zeit und unser deutsches Volk zu bringen« (zit. n. Conrath-Scholl 2009: 14). Er brachte die Weimarer Gesellschaft in eine klassifikatorische Ordnung, die er mit Fotografien versah: Der Bauer, der Handwerker, die Frau, die Stände, die Künstler, die Großstadt. Sämtliche Kollektive der Gesellschaft sollten ihren fotografischen Ausdruck erhalten, und zwar auf nachvollziehbare, wissenschaftliche Weise: »Dadurch, dass ich sowohl die einzelnen Schichten wie auch deren Umgebung durch absolute Photographie festlege, hoffe ich eine wahre Psychologie unserer Zeit und unseres Volkes zu geben«, formulierte Sander seine Idee (zit. n. Lange/Conrath-Scholl 2002: 11). Und es wurde ihm recht gegeben: »Wie man Soziologie schreibt, ohne zu schreiben, sondern indem man Bilder gibt, Bilder von Gesichtern«, das schaffe dieser Fotograf, so Döblin (2003: 13). Getragen war dieses Projekt umfassender fotografischer Repräsentation der Gesellschaft von der Auffassung, dass die soziale Situation und der Körper des Menschen eine Einheit formen. Die Fotografie vermöge, sorgfältig ausgeführt, das gesellschaftlich Wirkliche nicht zu umgehen, das sich eigentlich körperlich in die Menschen einschreibt: »Wir fotografieren einen Menschen unserer Zeit in seinem Milieu in einem antiken, mittelalterlichen oder einem Biedermeierkostüm, es wird uns nicht gelingen, auch nur annähernd Echtheit zu vermitteln, immer wieder wird der Mensch des 20. Jahrhunderts dem Foto seinen entsprechenden Ausdruck geben« (Sander 2009: 29). Gelingt es, dieser Repräsentationsweise eine hinreichend universale Gültigkeit zu geben, so Sanders Utopie, lässt sich die Fotografie zur neuen Weltsprache erheben (Sander 2009). Es fragt sich, ob Helmar Lerski diese Hoffnung zerstörte, oder, indem er das Fotografische als solches jenseits der unmittelbaren Ähnlichkeit mit dem Fotografierten befragte, ihr sogar folgte.
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Abb. 1: Sanders Soziologie ohne zu schreiben: ›Grobschmiede‹, ›Bankier‹
F otogr afien des M enschen jenseits der Ä hnlichkeit : H elmar L erski 1871 wurde Lerski als Israel Schmuklerski in Straßburg geboren. Wie viele seiner jüdischen Zeitgenossen, etwa Siegfried Kracauer, deutschte er seinen jüdischen Namen ein. Lerski ging 1893 in die USA, nach Chicago, wo er sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser hielt; er arbeitete als Anstreicher, Glaser, Fuhrmann.1 In Chicago begann er eine Theaterkarriere, gab einen Arzt, Prokuristen, Pastor. All dies erscheint mir nicht unerheblich, auf welche Weise Lerski Menschen und ihre soziale Position »sah« und fotografierte. Er veröffentlichte in der Lokalpresse Porträts seiner Schauspielkollegen und erregte sehr schnell Aufsehen bei der Fotografiekritik, wo bereits früh die »Erfindungskraft« seiner Porträts gelobt wurde (Eskildsen 1982: 7). Man sprach von Lerski-Pictures (Lerski 1958: 17). Sein Ruf als Avantgarde-Künstler gründet sonderbarerweise in der Tatsache, dass er das Handwerk der Fotografie nie richtig gelernt hatte und durch jede Meisterprüfung gefallen wäre; das Rezept für das Entwickeln seiner Negative musste er jeweils nachschlagen, so schrieb damals die Zeitschrift »DU« (A. L.: 1948). Gerade weil er nichts von den Regeln der Fotografie wusste, habe er die Beleuchtung auf völlig unkonventionelle Weise eingesetzt, geleitet von Zufall; mehr noch, dass er auf das 1 | Diese Informationen entnehme ich Eskildsen (1982: 6 ff.).
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Phänomen der gestaltenden Macht des Lichts kam, erklärte er selbst über einen Regelverstoß, der ihm die Augen öffnete (Ebner 2002: 56; Lerski 1958). Er ignorierte die Anordnung des Fotostudios, riss die Fenster auf, ließ Licht herein, wo es nach traditioneller Lehre nicht sein durfte und sah, dass Licht ein »neuformendes, neuschaffendes Element sein kann«. Und dieses Element lernte er in eine technische Installation zu bringen, mittels derer er das Licht »unbarmherzig« auf das Modell lenkte (A. L. 1948: 40). In der Zeitschrift ›Scherl’s Magazin‹ war zu lesen, dass Lerskis »anhaltenden Versuche, von der konventionellen Bildwiedergabe abzukommen«, schließlich zu »epochemachenden Umwälzungen« führten (o. A.: 1930). In Berlin eingetroffen, wechselte er zunächst als Kameramann zur Filmarbeit. Er arbeitete immer wieder mit Béla Balázs2 zusammen, dessen theoretische Schrift ›Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films‹ (Balázs 2001) auch Lerskis ästhetische Fragestellung und sein Erkenntnisinteresse umschrieb. In dieser Arbeit postulierte Baláz, dass nach dem Zeitalter des Logos, des Wortes, der Mensch durch die neuen Techniken der Visualisierung wieder und auf neue Weise sichtbar werde. Seit Ende der 1920er Jahre, zeitgleich also mit Sander, arbeitete er an seinem Projekt ›Köpfe des Alltags‹, das er erstmals 1930 präsentierte (Lerski 1931). Lerski arbeitete mit einem komplexen System von Spiegeln, Sonnenlicht und Schattenwurf und hob so die Plastizität des menschlichen Gesichts hervor; damit stellte er die von Sander postulierte Einheit von Fotografie und sozialer Situation zur Disposition: »The most fascinating feature of portrait photography is that the unlimited possibilities in the application of light effects enable you – without any talent for acting in your model – to give almost any desired character to your picture, you can make of your model a god or a Devil (there being at least a trace of each in every human being).« 3
›Köpfe des Alltags‹ erschien in Berlin 1931 und enthält 80 Fotografien. Vordergründig ordnete er die Fotografien wie Sander nach den Berufsständen der Weimarer Gesellschaft. Lerskis Anordnung beinhaltet aber weder eine Genealogie der modernen Gesellschaft noch eine ständische Hierarchie. Die Berufe sind schlicht nebeneinander gestellt. Freilich, schon beim Inhaltsverzeichnis fällt Weiteres auf: Es sind 30 Berufstitel, aber 80 Seiten. Mit anderen Worten, gewisse Menschen erscheinen mit mehr als einem Bild. Und es gibt das ›Hildchen‹, die Fotografie einer jungen Dame, die mit Vornamen bezeichnet ist und so die klassifikatorische berufsständische Ordnung augenscheinlich ironisiert.
2 | www.cine-holocaust.de/mat/fbw000299dmat.html abgerufen am 26.05.2013. 3 | Lerski: Aphorisms on Photography and Art, The American Annual of Photography, 1914, S. 268 f. (zitiert nach Ebner 2002, S. 49).
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Abb. 2: Helmar Lerski: ›Junger Bettler aus Bayern‹/›Stenotypistin‹
Wie dargestellt ist ein Mensch, beispielsweise der Schmied, in Sanders Fotografie durch die Ganzkörperaufnahmen und über die Gegenstände, mit denen er sich umgibt, in seiner Situation eigentlich festgeschrieben. Die Fotografie geht mit der Vorstellung des Schmiedes in den 1920er Jahren ein fugenloses Ganzes ein, sodass mitunter gefragt werden kann, welche Information das Bild über den bereits bekannten sozialen Typen hinaus liefert. Dagegen verstören Lerskis Bilder die Sichtbarkeit der gesellschaftlichen Ordnung nachhaltig, indem sie zwar die ikonischen und habituellen Elemente der sozialen Ordnung der Weimarer Gesellschaft aufnehmen, ihnen aber gerade die interpretierbare Evidenz entziehen. Vielleicht lässt sich bei Lerski sogar von einem ikonoklastischen Duktus sprechen, so beispielsweise bei seinem Bild des ›Wäschefahrers‹: Was kennzeichnet ihn als Wäschefahrer? Erinnert sein Bild nicht seltsam an ein Porträt Benjamins? Oder dieser beinahe heroische Blick, gehört er tatsächlich einem ›Jungen Bettler aus Bayern‹? Lerski, so heißt es im Vorwort von Curt Glaser zu den Köpfen des Alltags, folge der These, dass alle Möglichkeiten in jedem menschlichen Antlitz enthalten seien, es komme nur darauf an, sie selbst zu sehen und sie anderen sichtbar werden zu lassen (Glaser 1931: vii). Menschen die niemand kennen, die sich selbst nicht kennen, seien die besten Träger dieser neuen und besonderen Art der Lichtkunst, denn es ist ein exquisites Belichtungssystem, das die besonderen Charakterzüge hervorbringt. Während Sander einen Querschnitt der Gesellschaft mit seinen Fotografien zeichnen wollte, vom Bankier zum Revolutionär zum Arbeitslosen, vom Dirigenten zum
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Abb. 3: Ikonisches Porträt Walter Benjamins/Helmar Lerski: ›Wäschefahrer‹
politisch Verfolgten zum Jungbauern, so fokussierte Lerski ganz klar auf die unteren Schichten und löste sie aus ihrer materialen Situation (Glaser 1931: viii). Lerski ließ seine Modelle von dem »Arbeitsnachweis« kommen, »weil er der Meinung ist, jeder Mensch habe ein Gesicht, man müsse sich nur bemühen, es zu sehen […] Da ist ein Straßenkehrer, der in seinem ganzen Leben den Kopf nicht aufzuheben wagte. Die Kamera richtet ihn auf, und ein Diktator könnte ihn um sein herrisches Profil beneiden« (Glaser 1931: viii). Lerskis Bettler erscheint nun als heroische Figur, als Bohemien, der sich der gesellschaftlichen Situation nicht zu unterwerfen gedenkt. Entsprechend politisch gestaltete sich auch die Rezeption seines Werks (Ebner 2002: 51; Eskildsen 1982: 13). Die Zeitschrift ›Der Arbeiterfotograf‹ sah die »kämpfende, trotzende, duldende, leidende Seele des Proletariers«. Ein deutscher Journalist ereiferte sich, was das solle, dass eine Wäscherin aussähe wie eine Aristokratin (beides zitiert nach Eskildsen 1982: 13). Freilich, diese Konzentration auf die Unterschicht entspringt nicht unbedingt einem sozialen Engagement Lerskis. Diese Menschen erlaubten ihm vielmehr einen unmittelbareren Zugang zur fotografischen Gestaltung ihrer Sichtbarkeit als Angehörige höherer Schichten, die selbstbewusst ihre Rolle spielten. Letztere trügen eine Maske, wenn sie vor die Kamera träten, sie erwarteten gleichsam ein Bild von sich selbst, was bei den einfachen Leuten weniger zu beobachten sei: »Auch ich wurde es müde, Menschen vor meiner Kamera zu haben, die mich zu zwingen versuchten, sie so zu sehen, wie sie sich selbst sehen wollten. Ich wandte mich den einfachen Menschen zu, den Menschen der Straße, den Menschen des
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Abb. 4: Arbeit mit Licht. Lerski erteilt Unterricht
Alltags« (Lerski 1958: 18). Dazu kam, dass Lerski von den Menschen viel forderte: Die Porträt-Sitzungen dauerten lange, so dass die Menschen ermüdeten und gar keine Energie hatten, »Theater zu spielen« (Lerski 1958: 120), was wohl mit den Ansprüchen höherer Schichten an eine fotografische Inszenierung nicht vereinbar war. Somit hatte die Konzentration auf einfache Leute letztlich ästhetische Gründe: Lerski wollte auf jede Form von »Ähnlichkeit« der Fotografie mit der unmittelbaren Erscheinung der Person verzichten (Lerski 1958:16). Ähnlichkeit mit der äußeren Wirklichkeit war für ihn gerade kein Kriterium. Weshalb scheinen dann aber Gesichter in geradezu radikaler Weise in seinen Fotografien dennoch so präsent zu sein, wie der ›The New Yorker‹ noch vor nicht allzu langer Zeit schrieb (Aletti 2010)?
M e tamorphosen durch L icht Lerski radikalisierte in der Folge die in den ›Köpfen des Alltags‹ angelegte Exploration der lichttechnischen Effekte auf die Porträtfotografie in seinem Projekt ›Metamorphosen des Gesichts‹, das aufgrund der Schwierigkeiten der Zeit nie zur Veröffentlichung gelangte. Nurmehr eine Person sollte es sein, die über die Gestaltung durch Licht eigentlich geformt wird. Es ist, wie Lerski es bezeichnete, sein Hauptwerk (Folkwang 1982). Als Modell hatte sich Lerski Leo Uschatz ausgesucht, der, als Hochbauzeichner vor der Arbeitslosigkeit in der Schweiz fliehend, nach Palästina emigriert war. Lerski selbst sagte über dieses Projekt:
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Mittels seiner Licht-Architektur und einer schon fast qualvollen, langwierigen Belichtungstechnik (Ebner 2002: 11) gestaltete er den Ausdruck seines Modells: »Wie ich mein Licht führe«, sagte Lerski, »das natürliche, starke Sonnenlicht, aufgefangen, gekreuzt, gemischt, dosiert mit Hilfe von Spiegeln und Reflektoren, so wird aus meinem Modell ein Lebensbejaher oder ein Melancholiker, ein Held oder ein Schwächling« (Lerski 1958: 75). Es entstanden unter gleißender palästinensischer Sonne, in Szene gesetzt mit bis zu 16 Spiegeln, 160 Variationen desselben Gesichts. Siegfried Kracauer schrieb, die Zerstörung der Ähnlichkeit in Lerskis Fotografie aufnehmend:
Abb. 5: Helmar Lerski Porträts des Hochbauzeichners Leo Uschatz (Auswahl)
Subversionen des Lichts »Keine der Aufnahmen hatte Ähnlichkeit mit dem Modell, und alle unterscheiden sich voneinander. Durch stetig verändertes Licht erweckt, entstiegen dem Originalgesicht hundert verschiedene Gesichter, darunter das eines Helden, eines Propheten, eines Bauern, eines sterbenden Soldaten, einer alten Frau, eines Mönchs.« (Kracauer 1985: 200)
D ie K ontroverse um L erskis W erk Als schlage sich das Konstrukt der Metamorphosen auch auf die Deutung durch, wird Lerskis Werk höchst kontrovers beurteilt, es scheint sich nicht in die gängigen Kategorien der Fotografiekritik einordnen zu lassen. Die Aussage: »In jedem Menschen ist alles; die Frage ist nur, worauf das Licht fällt« (Lerski 1958: 75), wurde vielfach als ein humanistisches Statement betrachtet. Lerski sprach selbst davon, dass »der Mensch das Wichtigste« sei, »das Verhältnis des Menschen zum Mitmenschen«. Er wolle den Menschen nicht »banalisiert und standardisiert« zeigen, sondern mit »Güte und Achtung« betrachten, »in das rechte Licht gesetzt und wiederhergestellt in seiner natürlichen Schönheit und Würde« (Lerski 1958: 19). Tatsächlich findet sich keine Fotografie, die den fotografierten Menschen in irgendeiner Weise desavouiert oder ironisiert wie etwa Sanders Fotografie des ›Demokraten‹ dies tat (vgl. Panter 1930). Deshalb wurde Lerski eine schon fast naive humanistische Intention nachgesagt: Er sei ein Sozialromantiker gewesen, »der in dem Glauben an das Schöne, an das Gute im Menschen« sich darauf konzentrierte, seine idealistischen Ideen zum Ausdruck zu bringen (Eskildsen 1982: 22). Handkehrum lässt sich sein Umgang mit Menschen selbst auch stark kritisieren. Im Gegensatz zu August Sander, der seine Menschen das Bildnis, das sie von sich gaben, mitgestalten ließ, indem er sie in ihrer Lebensumwelt, mit ihren persönlichen Dingen ablichtete (Lange/Conrath-Scholl 2002: 22 ff.), wurden Lerskis Modelle, allen voran Uschatz, dem Lichtdispositiv brutal unterworfen, sie wurden gleichsam ihrer Persönlichkeit beraubt und gerieten zu modellierbaren Figuren. Uschatz sei zu einer bloßen Leinwand degradiert (Gerster 2005). Diese Praxis ließe sich gar eigentlich als »Deformation des Menschen« bezeichnen und bringe eine Haltung zum Ausdruck, die alles andere als humanistisch sei (Matz 1983: 68). Lerskis Fotografien lassen sich aber auch als direkte Kritik von Sanders Werks lesen: In einem Text zu einer Ausstellung hieß es: »So sind denn seine [Lerskis] Bilder auch als eine wichtige Gegenposition zur Fotografie von August Sander zu verstehen, der zur gleichen Zeit an seinem Projekt ›Menschen des 20. Jahrhunderts‹ arbeitete« (Pfrunder 2005). Sander veräußerliche die fotografische Erfassung der Weimarer Republik zu einer »starren Ständetypologie«; anderswo ist zu lesen, er kolportiere einen heute »obsolete[n] Begriff von Individuum und Gesellschaft« (Matz 1983: 67), die dem Betrachter unter Umständen gar den Eindruck einer sozialen Ordnung in »Stasis« (Baker 1996) hinterlasse. Lerskis Werk erscheine dagegen ungleich viel moderner (Matz 1983: 67).
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In der Tat, während Sanders Werk ein soziologisches Archiv der Weimarer Gesellschaft darstellt, bei dem sich Klassifikationen und Sichtbarkeiten zu einem Ganzen vereinen, so arbeitet Lerski zwar mit denselben Mitteln, die er aber völlig neu zusammenstellt und mit spezifischer Belichtung eine Präsenz verleiht, die wiederum die visuelle Ordnung, die Sander zelebriert, unterläuft. Doch als Konsequenz lassen sich seine Bilder, wie ein zeitgenössischer Kommentar zeigt, beinahe beliebig interpretieren: So wurde einem Bild Lerskis, der wie kein anderer sich mit seinen Fotografien jüdischer und palästinensischer Menschen dafür einsetzte, die nationalsozialistische Bildmacht über die jüdische Bevölkerung zu destabilisieren, unterstellt, dass er den »blonde[n] germanische[n] Typus […] mit statuenhafter Klarheit herausgeholt« habe (Gläser 1929: 529). Zwar zeigen die Lerski-Pictures die Konstruiertheit der fotografischen Erfassung eindrücklich – hier wird Fotografie selbstthematisch – doch gleichzeitig schreibt die Zeitung ›The New Yorker‹ anlässlich einer Ausstellung der Köpfe des Alltags, dass die von Lerski präsentierten Menschen nach all den Jahren sich heute geradezu »shockingly present« zeigen (Aletti 2010). Wie kann sich eine schockierende Präsenz ergeben, wenn doch gerade das Lichtdispositiv so artifiziell mit den Menschen umgeht? Wem oder was wird dann Präsenz verliehen? Sind auch Sanders Figuren »shockingly present«? Sanders Porträts gehören zum Figurenkabinett ihrer Zeit und wirken heute schlicht »veraltet«, schrieb Golo Mann (1976); das Weimar, das sich hier präsentiere, zeige sich aus heutiger Perspektive reichlich gehübscht, ist weiter zu lesen (Maresca 1996: 70). Sanders Bilder besitzen, so könnte man auch sagen, vornehmlich noch einen dokumentarischen Sinn. Hingegen haben Lerskis Bilder etwas zeitlos Verstörendes an sich – bis heute –, obwohl die Ästhetik der Fotografien historisch lokalisierbar ist. Doch auch stilistisch scheint es enorm schwierig, Lerskis Bilder zu begreifen und zu klassifizieren. Vielleicht kommt gerade daher ihr Irritierendes: Handelt es sich nun um einen strengen Expressionismus und Ästhetizismus? Hat er nicht zuletzt auch für Leni Riefenstahl die Kamera geführt? Oder ist er nicht vielmehr doch der Neuen Sachlichkeit zuzuordnen? In neuerer Theoriesprache ausgedrückt: Betreibt er einen Konstruktivismus, weil er zeigt, auf welch vielfältige Weise das menschliche Gesicht formbar ist? Oder ist sein Werk nicht vielmehr klar essentialistisch, weil er doch die menschliche Präsenz hervorhebt, gleichsam indem er die soziale Situation dekonstruiert, innerhalb derer sie erscheint? Reifiziert er Fotografie-Kategorien, indem er »Juden« und »Palästinenser« zeigt, oder setzt er die Fotografie als politische Waffe ein, um der Visualisierung des Jüdischen durch den Faschismus etwas entgegenzusetzen? Handelt es sich um eine Dekonstruktion von Sanders fotografischer Repräsentation der Weimarer Gesellschaft oder bringt er sie nicht vielmehr auf den Punkt; weil er gleichsam in einem Experimentalsystem sämtliche Variablen kontrollierend zeigt, welche Subjektpositionen in der Weimarer Gesellschaft überhaupt hervorzubringen waren? Es scheint stets beides zugleich wahr zu sein. Lerskis Fotografien unterlaufen stets solche Kategorien und verwirren sie.
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Deshalb scheint die Konstruktion einer Opposition zwischen Sander und Lerski, wie sie oft postuliert wird, zu kurz gegriffen. Es handelt sich eher um zwei korrespondierende visuelle Archive, die den Raum der möglichen visuellen Aussagen über die soziale Ordnung der Weimarer Gesellschaft explorieren. Doch Lerskis Werk weist auch über den zeitgeschichtlichen Horizont hinaus in die Gegenwart. Nach wie vor und radikal stellt es die Frage nach dem möglichen soziologischen Gehalt von Fotografien. Die Fotografie, die vor uns vorliegt, besagt selbst nichts über die Situation der Menschen, die sie darstellt; sie hat für sich genommen keinen soziologischen Interpretationswert. Eine Phänomenologie, die sich lediglich auf das fotografische Bild konzentriert, bleibt bei einem »ersten Irrtum« im Sinne Bachelards stehen. Indem sie die Konstitution des Phänomens selbst nicht zur Kenntnis nehmen kann, interpretiert sie das »Wesentliche« des Bildes nicht, das selbst notgedrungen unsichtbar bleibt: das ganze technisch-soziale Dispositiv, das letztlich die Aussage des Bildes (Lerski 1958: 118) bestimmt. Dabei handelt es sich bei Lerskis Arbeit keineswegs um eine Negation fotografischer Aussagen, sondern um eine fotografische Erkenntniskritik, die mit dem Material der visuellen Repräsentation der damaligen Zeit arbeitete und die Bedingungen der Möglichkeit fotografischer Sichtbarkeit selbst aufzeigte. Damit etablierte er nicht nur eine neue ästhetische Gestaltungsweise, sondern schuf auch eine noch nie gesehene fotografische Kritik soziologischer Fotografie.
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Felix Keller
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Der Schweizer Fotograf Herbert Maeder Ein Meister des Lichts und das »immutable mobile«Phänomen in der dokumentarischen Fotografie Christoph Maeder
E inleitung In meinem Beitrag stelle ich einen bekannten Schweizer Fotografen aus der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts vor. Ich bearbeite dazu die Frage der fotografischen Verortung und verweise auf die Vorbilder und die fotografischen Konzepte im Werk. Abschließend werde ich das skizzieren, was ich als das »immutable mobile«-Phänomen in der dokumentarischen Fotografie bezeichne. Die hier in der Einleitung bewusst im Rätselhaften gehaltene Einlassung für die Produktion und die Rezeption in der Fotografie stellt für die mit der Fotografie befasste »Visual Sociology« (Harper 2012) und die dokumentarische Fotografie eine kleine, aber bedeutsame Unterscheidung dar. Der Sinn dieser methodologischen Differenzierung liegt darin, dass damit der dokumentarische Wert anhand der Beschaffenheit fotografischer Bilder genauer verortet werden kann.
H erbert M aeder , F otogr af Der Fotograf über dessen Werk hier berichtet wird und der Autor dieses Textes stehen – wie die Leserschaft anhand der übereinstimmenden Nachnamen vermuten kann – in einem Verwandtschaftsverhältnis. Es handelt sich dabei um Vater (Fotograf) und Sohn (Autor). Es ist für mich immer wieder reizvoll gewesen, mit meinem Vater über seine Fotografie und die Fotografie allgemein zu reden und nachzudenken. Dies zumal er auf ein reiches fotografisches Lebenswerk als professioneller Fotojournalist zurückblicken kann und er sich selber durchaus immer wieder gefragt hat, was denn Fotografie überhaupt sein könne, welches ihre Geschichte und ihr sozialer Zweck sei. Das Archiv des Fotografen Maeder, bestehend aus vermutlich mehr als 300.000 Fotografien (ganz genau konnte das nie gezählt werden) und aufgenommen über einen Zeitraum von nahezu 60 Jahren, hat uns beiden mit zunehmendem Alter auch erhebliche Sorgen bereitet. Wie geht man
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Christoph Maeder
mit so etwas um, wenn der Fotograf einmal nicht mehr ist? Diese Frage hat den Fotografen selbst, einige seiner Freunde und die an Fotografie Interessierten in der Familie in den letzten Jahren arg beschäftigt. Nur dank großzügiger Hilfe der Kantonsbibliothek von Appenzell Ausserrhoden konnte der Bestand in den letzten zwei Jahren umfassend systematisiert, katalogisiert und für die posthume Einlagerung (so brutal das im Moment uns allen noch scheint) vorbereitet werden. Ein großer Dank gebührt in dieser Sache der Kantonsbibliothekarin Heidi Eisenhut und meiner Schwester Sabina. Sie haben die gewaltige Arbeit direkt am Material zusammen mit meinem Vater geleistet. Ich selbst wurde nur dann engagiert, wenn es galt Auswahlen zu treffen oder heikle Zuordnungsfälle zu lösen. Dabei konnte ich feststellen, dass der größte Teil der Bilder mitsamt ihren Geschichten mir von meiner Kindheit an bis heute bekannt sind. Etwas mehr als 3.000 Fotografien – sozusagen ein vom Fotografen bestimmter »Directors Cut« – wurden in diesem Prozess zusätzlich digitalisiert und in den Katalog der Kantonsbibliothek aufgenommen. Diese Digitalisate sind heute öffentlich über das Web abruf- und einsehbar.1 Auch die physischen Korrelate dieser Bilder in der Form von Schwarz-Weiß-Negativen und Diapositiven sowie teilweise auch die dazugehörigen Papierabzüge sind in den Bestand der Kantonsbibliothek aufgenommen worden. Wie diese kursorische Geschichte zur Archivierung unschwer erraten lässt, war ich als Kind und Erwachsener immer mit Fotografie, wenn auch nicht der eigenen, beschäftigt. Alle Arbeiten meines Vaters wurden nämlich immer auch im familiären Rahmen angeschaut und kommentiert. Und die Diskussion, was nun das Wesen der vorliegenden Fotografie im
Abb. 1: Nationalrat Maeder 1 | Die Webadresse lautet: www.ar.ch/?5216. Dieser Link führt auf die Hauptseite der Kantonsbibliothek Appenzell Ausserrhoden, wo dann der online-Katalog aufgerufen werden kann. Allerdings ist dies eine sehr technische Form der Repräsentation des Werkes von Herbert Maeder mit dokumentarischem Zweck. Die Fotografien sind weder inhaltlich noch ästhetisch für ein Publikum aufbereitet.
Der Schweizer Fotograf Herber t Maeder
Vergleich mit der Fotografie allgemein sei, wurde anhand von Fragen wie »Kunst« oder »Reportage«, »Kunst« oder »Kommerz«, »Dokumentation« oder »ästhetische Inszenierung« und vielen anderen Unterscheidungen immer wieder intensiv und lange geführt. Dieses Schattendasein als Sohn hat sich dann noch verstärkt, als mein Vater 1983 als Nationalrat in das eidgenössische Parlament gewählt wurde, wo er bis 1995 den Kanton Appenzell Ausserrhoden vertrat. Sein politisches Vermächtnis liegt im Bereich der Erhaltung einzigartiger alpiner Landschaften. Er hat in einem jahrzehntelangen Kampf zusammen mit der von ihm viele Jahre präsidierten »Stiftung zur Rettung der alpinen Fließgewässer« mitgeholfen, die einzige noch von Bauten völlig unberührte Hochebene der gesamten Alpen, die Greina, vor dem Untergang in einem Stausee zu retten.
Abb. 2: Greina Hochmoor
Ebenso von Erfolg gekrönt war auch sein mit derselben Stiftung geführter Kampf für die Erhaltung des Val Curcusia, eines Seitentals des Hinterrheins. Zudem kommen ihm auch große Verdienste bei der Rettung des Hochmoors von Rothenturm zu, weil er es als einer der wenigen in den Achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts gewagt hatte, sich mitten im Kalten Krieg mit dem Eidgenössischen Militärdepartement EMD frontal anzulegen. Das war damals nur wirklich unabhängigen, nicht beim Staat beschäftigten Geistern möglich. Denn der »Fichenstaat«, d. h. die Registrierung und berufliche Diskriminierung von vermeintlichen Staatsfeinden durch den Nachrichtendienst des Bundes war damals gängige schweizerische Praxis. Im Vorfeld der Volksabstimmung zur Rettung der Hochmoore, welche das EMD mit einem Waffenplatz zubetonieren wollte, hielt Herbert Maeder mehr als 30 Vorträge mit Diapositiven in der ganzen Schweiz, um die Schönheit und die Bedeutung dieser Landschaften unter den Leuten bekannt zu machen. Ebenfalls trat er, seinem Aussehen nach klar als »Mann aus den Bergen« erkennbar, in einer national ausgestrahlten Politshow des Fernsehens auf.
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Abb. 3: Bergfotograf Maeder
Darin gelang es ihm seine Kontrahenten aus dem militärisch-politischindustriellen Komplex mit der Sinnfigur eines Retters der Schönheit der Schweiz an Heimatliebe zu übertreffen und an die Wand zu spielen. Das Abstimmungsergebnis, das natürlich nicht nur durch seine Interventionen, sondern auch von engagierten Naturschutzorganisationen und anderen bewirkt wurde, übertraf dann aber doch alle Erwartungen: Der Souverän stimmte am 6. Dezember 1987 der Volksinitiative »Zum Schutz der Moore – Rothenturm Initiative« bei einer Stimmbeteiligung von 47,7 Prozent mit 57,8 Prozent bei einem Ständemehr von 23 zu drei zu. Und dies entgegen der geschlossenen Abstimmungsempfehlungen von Bundesrat und Parlament sowie aller bürgerlichen Parteien, die dem Militär das Hochmoor von Rothenturm zu opfern bereit gewesen wären. So einen bekannten Vater zu haben ist manchmal ganz interessant. Aber insbesondere als junger Mensch musste ich deshalb auch vielfach die Erfahrung machen, dass ich meistens einfach als der unbekannte Sohn vom prominenten Vater wahrgenommen wurde: »Aha, der Föteli-Maeder ist ihr Vater!« oder »Ja was, Sie sind der Sohn!« hieß es nur allzu oft. Deshalb bestand zwischen mir und meinem Vater eine Art »Gentleman’s Agreement«, wonach er sich um die Fotografie und die Politik und ich mich um die Soziologie kümmern solle. In der Folge haben wir denn auch unsere beruflichen Spielfelder in aller Freundschaft lange Zeit strikt getrennt gehalten. Erst seit den gemeinsamen Publikationen über ›Ein geplagtes Leben? Das Besondere im Alltäglichen. Dokumentarische Fotografien des Appenzellerlandes zwischen 1950 und 1980‹ (Maeder/Eisenhut 2007) und mit einem Beitrag zur Assimilation von Arbeitsmigranten (Maeder 2013) liegen gemeinsame Veröffentlichungen des Typs Fotografie Vater Herbert Maeder, Text Sohn Christoph Maeder vor.
Der Schweizer Fotograf Herber t Maeder
L ebensl auf und fotogr afische B iogr afie Herbert Maeder wurde am 3. Februar 1930 als zweites von fünf Kindern und als erster Sohn in einer typischen Schweizerischen Gewerbefamilie in Wil im Kanton St. Gallen geboren. Nach behüteter Kindheit und der Gymnasialschulzeit in katholischen Internaten in der Innerschweiz absolvierte er – nur um möglichst oft bergsteigen zu können – eine Lehre in der elterlichen Drogerie. Ein anschließender Aufenthalt an der Fotoschule in Vevey, die er als »verkalkt«, »uninformiert« und »manieristisch« bezeichnete und deshalb ohne Abschluss verließ, bestärkte ihn aber in der Überzeugung, dass die Fotografie sein Metier für das Leben sein solle. Ab 1953 begann er in Anlehnung an eines seiner damaligen Vorbilder, den amerikanischen Fotografen William Eugene Smith (1918–1978), ein materiell eher karges Leben als »Fotojournalist« zu führen. Dies ist, abgesehen von der Zeit im Nationalrat und trotz aller späteren Bekanntheit, auch so geblieben. Seit 1964 wohnt er in einem über 400 Jahre alten Bauernhaus in Rehetobel AR, in dem auch seine Dunkelkammer, sein Archiv, seine Bibliothek und sein Büro eingerichtet wurden. Maeder hat vier Kinder aus zwei Ehen und erlitt 2011 einen schweren Hirnschlag, von dem er sich nur noch teilweise erholt hat. Die Begriffe des Fotojournalisten und der Fotoreportage sind eng an die Idee des Fotografen als eines Reporters, als eines Berichterstatters über die Gesellschaft und die Welt gekoppelt und mit dem Konzept der dokumentarischen Fotografie verbunden. So ist William Eugene Smith zuerst mit seinen Bildern aus den Schlachten im Pazifik im Zweiten Weltkrieg bekannt geworden. Seine darauf folgenden Reportagen für das Life Magazine mit den Titeln ›Country Doctor‹ (Smith 1948) und ›Spanish Village‹ (Smith 1951) gelten heute als Klassiker und Vorlagen des Genres der Fotoreportage schlechthin. Smith war auch kurz eines der frühen Mitglieder der in Paris gegründeten Fotoagentur Magnum, die später eine der wichtigsten Institutionen für diese Art von Fotografie überhaupt geworden ist. Die Bildserie von Smith über die Opfer einer Wasservergiftung mit Quecksilber in Minimata durch den Chemiekonzern Chisso machte Smith schließlich weltberühmt. Bilder aus seiner Reportage über die missgestalteten Neugeborenen, die in dem Buch ›Minimata‹ (Smith 1975) zusammengefasst wurden, fanden Eingang in alle damals wichtigen Zeitschriften der Welt. Sie stehen bis heute als Ikonen für die Warnung vor den Gefahren im allzu sorglosen Umgang mit den industriellen Technologien. Das Bild von Smith aber, das meinen Vater am meisten beeindruckt hatte, war die Fotografie mit der Legende ›A walk to paradise garden‹ aus der Ausstellung ›My Daughter Juanita‹. Es zeigt zwei Kleinkinder die sich in eine Waldlichtung hineinbewegen. Diese Fotografie eines auf den ersten Blick unbedeutenden und alltäglichen Ereignisses, war Teil eines zweiten Projekts, das einen erheblichen Einfluss auf die fotografische Biografie von Herbert Maeder hatte. Es hat seinen Blick für das Kleine, Unspektakuläre aber dennoch im menschlichen Leben grundsätzlich Bedeutsame geschärft: Die Ausstellung ›The
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Family of Man‹. In ihr hatte Edward Streichen für das Museum of Modern Art in New York mit 503 Fotografien aus 68 Ländern versucht, das in Fotografien zusammenzutragen, was wir als die positive Seite der Conditio Humana bezeichnen können. Eine der Absichten der Ausstellung war es nach dem Schrecken des Zweiten Weltkrieges das zu zeigen, was alle Menschen betrifft und verbindet. In diesem Sinn steckt rückblickend durchaus auch etwas Kitsch in der Sammlung der ›Family of Man‹. Die Ausstellung wurde in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts in der ganzen Welt gezeigt. Unter anderem auch in einem Museum in St. Gallen, wo sie der junge Maeder als lokaler Kurator betreut und zum ersten Mal gesehen hat. Die ›Family of Man‹-Ausstellung gilt im Rückblick betrachtet als einer der Höhepunkte fotografischer Gesellschaftsdarstellung schlechthin. Kaum eine andere Ausstellung hat innerhalb der Fotografie und auch in der medialen Öffentlichkeit jemals wieder eine derartige Verbreitung und einen solchen Nimbus erreicht. Die Ausstellung ist nur in einem einzigen Exemplar erhalten geblieben und heute in Luxemburg in einem extra dafür geschaffenen Museum ausgestellt.2 Auf jeden Fall beeinflusste die Ausstellung auch den fotografischen Blick meines Vaters insofern, als dass er das Bedeutsame, das Wichtige, das Berichtenswerte weniger im Großen einer hektischen Ereignisgeschichte, sondern im Alltäglichen und Kleinen zu sehen und zu fotografieren begann. Insbesondere seine vielen Fotografien von Kindern, aber auch seine Porträtfotografie folgen dieser Idee.
Abb. 4: Porträt von Johanna
Im Jahr 2013 war es ihm vergönnt, mit der Unterstützung der Kulturkommission seiner Wohngemeinde seine letzte Ausstellung in dieser Linie machen zu können. Die Ausstellung ›Sabina, ein Mädchenleben‹ zeigte
2 | Vgl. www.visitluxembourg.com/en/place/museum/the-family-of-man
Der Schweizer Fotograf Herber t Maeder
ausschließlich 30 Fotografien aus der Kinder-, Jugend- und frühen Erwachsenenzeit meiner 1958 geborenen Schwester. Eine dritte und bereits im Titel angetönte Einflusslinie auf die Fotografie Maeders war die Idee der dokumentarischen Fotografie. Der Begriff geht, obwohl es eine solche Praxis natürlich schon früher gegeben hat, auf Roy Striker, den Chef der nordamerikanischen »Farm Security Administration« zurück. Er ließ in den 1930er Jahren die wirtschaftliche Depression im Mittleren Westen nicht nur statistisch, sondern auch fotografisch dokumentieren (Stott 1986). Die Bilder von Dorothea Lange, Walker Evans und anderen sind in die Geschichte der Fotografie eingegangen und zu exemplarischen Ikonen der Armuts- und Sozialberichterstattung geworden. Diese dokumentarischen Fotografien zeigen unmittelbar nachvollziehbar und auf eine andere Art als die Zahlen, was es bedeutet, wenn Menschen vom wirtschaftlichen Niedergang getroffen werden. Das Leiden und die Geplagtheit der Leute steht in ihren Gesichtern und Körperhaltungen geschrieben, die materielle Armut wird in der kärglichen Ausstattung von Küchen und Wohnzimmern und der Schäbigkeit der Kleider erkennbar. Doch diese Fotografien leisten noch mehr: Sie machen einen Teil der Geschichte, von der sie berichten, verständlich für den interessierten Betrachter, sie dokumentieren eine Epoche und das Leben in einer Gesellschaft, indem sie ein zentrales Großereignis der Vergangenheit mit seinen Folgen im Alltag wiedergeben. Diese Bilder sind denn auch heute Teil einer globalen Erinnerungskultur geworden, wenn es um die Visualisierung von Niedergang und Armut geht und verweisen damit auch auf die Macht fotografischer Bilder. Die dokumentarische Fotografie ist in den Geschichts- und Sozialwissenschaften trotzdem nicht unbestritten. Auch wenn wir in einer alltäglichen Sicht davon ausgehen, dass Fotografien wahr sind, so sind sie das eben doch nur im physikalischen Sinn einer objektiven Erfassung von Licht. Das Auge des Fotografen, gelenkt durch seine Imagination, sucht den zu erfassenden Bildausschnitt, wählt die Perspektive und das Format des Abzubildenden, fügt mittels der Tiefenschärfe des Objektives Vorderund Hintergrund, bestimmt mit der Zeiteinstellung die Schärfe des Erfassten, nimmt sich die Erlaubnis, etwas festzuhalten und bringt dies – in Abweichung zum natürlichen Sehen des Auges – in ein rechteckiges Bildformat (Harper 2000). In diesem Sinn sind Fotografien soziologisch gesehen Artefakte subjektiver Objektivationen über die soziale Wirklichkeit. Und damit sind sie keineswegs neutrale oder gar wahre Abbilder von etwas, sondern sie sind untrennbar mit ihrer technischen Erzeugung und der sozialen Verwendung verbunden. Dennoch machen dokumentarische Fotografien sehr viel Sinn, weil sie es uns ermöglichen, Soziales bildhaft zu fixieren und in den Strom von Erleben, Geschichte und Gesellschaft einzuordnen. Mit Fotografien können Erinnerungen erhalten und Erfahrungen geteilt, kommuniziert und eben auch dokumentiert werden. Diesen sozialen Prozesscharakter der Fotografie hebt auch die ›Collectors Edition‹ anlässlich des 125. Jahrestages des ›National Geographic‹ (2013), eine der zeitlich gesehen längsten und größten Quellen dokumentarischer
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Fotografie überhaupt, deutlich hervor: Die Rubrizierung der Beiträge nach dem Einleitungstext ›Photo Power. Cameras have changed the world in which we live in‹ (Draper 2013) folgt dem Muster von »bezeugen« (»witness«), »beweisen« (»prove«), »verbinden« (»relate«), »enthüllen« (»reveal«), »feiern« (»celebrate«) und »schützen« (»protect«). Die Bilder von Herbert Maeder stehen in der Tradition der dokumentarischen Fotografie. Sie ermöglichen einen besonderen Einblick in die schweizerische und insbesondere die appenzellische Gesellschaft3 – Bereiche, in denen sein Archiv besonders dicht ist: Das Leben, wie es nicht mehr ist, aber wie es erinnert, kommentiert und analysiert werden kann, wird bildhaft greif bar und verewigt.4 Es sind dies nicht die typischen Appenzellerbilder, wie wir sie aus Hochglanzprospekten und der Werbung kennen. Auch Maeder hat selbstverständlich solche Hochglanzfotografie gemacht, denn von etwas müssen auch dokumentarische Fotografen leben. Auf dieses Spannungsfeld zwischen Kommerz und Kunst, das den Künstler zu einem professionellen Außenseiter macht, hat Howard Becker (1973) in seinen Studien zu den Jazzmusikern hingewiesen. Es hat auch den hier besprochenen Fotografen im Lauf seiner Karriere immer wieder betroffen, obwohl er für sich den Begriff des Künstlers nie wirklich in Anspruch genommen hat. Vielmehr sind seine Fotografien Bilder des Alltäglichen und weniger für den raschen Medienverzehr geeignet. Die Fotografien zeigen auch nicht nur die Gesellschaft von oben oder die Gesellschaft der Oberen, wie wir das in der Tagespresse so oft mit Politikern, Wirtschaftsführern und anderen Größen vorgeführt bekommen. Das Auge des Fotografen hat jene Ausschnitte des Lebens erfasst, die durch Kleinheit, Alltäglichkeit, Kargheit und normaler Bedrängnis mit den darin durchaus auch vorkommenden kleinen Freuden von Fotograf und Fotografierten gekennzeichnet sind – ganz ähnlich wie die berühmten Vorbilder der von Roy Striker angeregten fotografischen Dokumentation der großen Depression in den USA. Ein letztes für die dokumentarische Fotografie bedeutsames Element ist der geflügelte Begriff des »moment décisif« (des entscheidenden Moments), der auf den französischen Fotografen Henri Cartier-Bresson zurückgeht (Chéroux 2008). Das fotografische Einholen genau jenes Moments, der ein alltägliches Ereignis zu etwas Besonderem macht, zeichnet die gelungenen Bilder aus und macht sie zu »beseelten« (Barthes 1989) 3 | Die Gesellschaft der beiden Halbkantone Appenzell Ausserrhoden und Appenzell Innerrhoden in der Ostschweiz. 4 | Analoge umfangreiche Bestände finden sich über Sizilien anfangs, und über Afghanistan Mitte der 60er Jahre, über die Tuareg in Algerien in den 70er und über die Malediven Ende der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts. Ein besonderer und noch nie systematisch-synoptisch zusammengestellter Bestand betrifft die Schweizerische Armee. Insbesondere die Armee 61, d. h. das Heer des kalten Krieges mit seinen gewaltigen Beständen an Menschen und Material im Gebirge, hat Maeder als Bergsteiger, der persönlich eher pazifistisch orientiert war, immer wieder fasziniert. Siehe dazu exemplarisch sein Buch über Soldaten im Hochgebirge (Maeder 1973).
Der Schweizer Fotograf Herber t Maeder
Exemplaren ihrer Art. Auch wenn der Begriff mittlerweile völlig abgegriffen und übernutzt ist, so verweist er dennoch im Rahmen der hier zur Betrachtung stehenden dokumentarischen Fotografie auf einen wichtigen Sachverhalt. Eine Fotografie – insbesondere von Menschen – kann nur in einem bestimmbaren kulturellen Kontext als ein situiertes Abbild von etwas Beseeltem verstanden werden. Der entscheidende Moment, auf den der Fotograf mit seiner Kamera abzielt, ist mithin ein Verweis auf und ein Auszug aus einem geteilten Wissensbestand von Fotograf und Betrachter. Fehlt diese Voraussetzung, dann verstehen wir schlicht und einfach nicht was wir sehen. Auch dann nicht, wenn wir den Fotografien einen hohen ästhetischen Wert zugestehen. Dies zeigt sich anschaulich in der ethnografischen Fotografie von Lévy Strauss (1995) in Brasilien, wo wir viele Bilder von Indianern sehen. Doch diese Bilder bleiben uns völlig fremd und sind trotz ihrer hoch ästhetischen Konstruktion inhaltlich nur in der Erklärung des Ethnografen verständlich. Die emischen entscheidenden Momente sind uns infolge des Nichtwissens über das dortige Leben verborgen, und was wir sehen, das bleibt merkwürdig dünn. Die entscheidenden Momente in der dokumentarischen Fotografie sind aus diesem Grund denn auch meistens elementare Dinge des Sozialen die weit verständlich sind. Beispiele dafür wären Freude, Jubel, Zorn, die ersten Schritte eines Menschen, perfekte Bewegungen, besonders spektakuläre Sonnenaufgänge usw. Nur so kann die Welt zu einem »Visual Village« (Estrin 2013) werden, wenn überhaupt. Damit bin ich beim Werküberblick angelangt, den ich hier in aller Kürze geben möchte. Maeder war in der Schweiz in erster Linie als »Landschafts- und Leutefotograf« bekannt, wie es einmal jemand treffend in der Lesegesellschaft Lobenschwendi anlässlich einer seiner vielen Dia-Vorträge formuliert hat. Er publizierte seine Reportagen in Zeitschriften wie der ›Woche‹, dem ›DU‹, dem ›GEO‹, dem ›Stern‹ u. a.; eine Zeit lang auch im fotografischen Teil der ›NZZ‹ und in andern Tagespressen. Doch da ihm die Reportage in den Zeitschriften und Zeitungen oft zu wenig Raum für seine Bilder und Geschichten gab und viele Zeitschriften das Genre der Fotoreportage in den Siebziger Jahren verließen – oder gar eingegangen sind wegen der Television, die dieses Format in den dokumentarischen Film überführte – lag sein Schwergewicht auf der Produktion von mehr als 40 monografischen Fotobüchern im Zeitraum zwischen 1956 und 2007 (vgl. die Publikationsliste von Herbert Maeders monografischen Fotobüchern im Anhang). Daneben illustrierte er auch verschiedentlich Jahresberichte von großen Firmen; auch der Jubiläumsband zum 50-jährigen Bestehen des Instituts für Versicherungswirtschaft an der Hochschule St. Gallen wurde von ihm bebildert. Die monografischen Bücher enthielten immer auch umfangreiche Texte, sei es von ihm oder/und von anderen. Wie bereits erwähnt, entwickelte er neben dem gedruckten Bild in Publikationen eine eigene, weitere Art des Berichtens über Fotografie: den Dia-Vortrag. Diese Vorträge erfreuten sich großer Beliebtheit in der ganzen Schweiz. Und meinem Vater war kein Anlass zu gering, um nicht
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hinzureisen und seine Bilder zu zeigen: Von der Landfrauenversammlung in Hundwil über die Altersnachmittage in Walzenhausen, Oberreute und Urnäsch bis hin zu den ETH-Professoren im Collegium Helveticum und den Eidgenössischen Parlamentariern in Bern zog er damit seine Kreise – immer mit 100 Diapositiven für eine Stunde Vortrag bewaffnet. Denn: »Mehr kann man niemandem zumuten«, so der erfahrene Bildreferent Maeder. Mit seinen Vorträgen wurde er zu einem, wie er selber zu sagen pflegte, »Fotografischen Wanderprediger«. Ein nicht unwesentlicher Teil seiner politischen Popularität in den Jahren seines Parlamentsmandats geht auf diese Vortragstätigkeit zurück. Sie erlaubte es ihm mit vielen Menschen aus allen gesellschaftlichen Bereichen in einen Kontakt auf Augenhöhe zu treten. Einer seiner politischen Gegner hat angesichts seiner politischen Niederlage gegen Maeder einmal konzediert: »Er ist zwar ein linker und grüner Spinner. Aber er kann es mit den Leuten. Da kommt man nicht gegen ihn an.« Wir wissen heute nicht mehr, wie viele Dia-Vorträge von Maeder gehalten wurden. Grobe Schätzungen gehen davon aus, dass es im Zeitraum von 50 Jahren mehr als 1500 gewesen sein müssen. Welches sind nun die prozeduralen Prinzipien der dokumentarischen Fotografie, so wie sie seit den 1930er Jahren mit dem Aufkommen der Kleinbildkamera Leica bis zum Ende der Ära der Fotografie mittels Film in den hochentwickelten Nikon Kameras gegolten haben? Diese Art von Fotografie trägt verschiedene Konzepte in sich, die in Abhängigkeit von Auftrag und Kontext auch variieren. Mit anderen Worten folgen wir hier einer kaum je zusammenfassend formulierten und erst noch brüchigen Logik. Im Kern geht es um Aspekte der Dokumentation, des verfügbaren Lichts und um den Inszenierungsgrad des Abgebildeten. Maeder fasste dies in der Sprache seiner Vorbilder für sich selbst als »documentary, available light, action photography«. Was ist damit gemeint? Im Anschluss an andere dokumentarische Fotografen lässt sich das folgendermaßen ausbuchstabieren: a) available light heißt: nie eine Lampe, einen Blitz, ein Restlichtverstärker oder eine andere Technik zur Veränderung des vorhandenen Lichts verwenden. Nur das fotografieren, was das unbewaffnete Auge auch sehen würde und das sich situativ auf einen lichtempfindlichen Film bannen lässt; b) action bedeutet möglichst keine Inszenierung des Sozialen oder der Landschaft: nur sich ohnehin ereignende soziale und natürliche landschaftliche Situationen fotografieren, und zwar im »entscheidenden Moment« und im »richtigen Licht« (siehe a);5 5 | Für Landschafts- und Tierfotografien nahm sich Maeder jeweils sehr viel Zeit für seine Sujets. Ich erinnere mich gerne an viele Biwaks mit meinem Vater auf Aussichtstürmen, Berggipfeln und anderswo, in denen der entscheidende Moment abgewartet werden musste. Die eindrücklichste Erinnerung bleibt mir eine Nacht auf dem Gipfel des Moor (Berg im Alpstein, einem ostschweizerischen VoralpenGebirge), in der wir mit einem starken Teleobjektiv den Mond beobachteten, weil in
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c) documentary impliziert: das ganze Negativ muss gezeigt, d. h. reproduziert werden. Die Weigerung dies zu tun war ein Grund weshalb William Eugene Smith und später auch Cartier-Bresson beim Life Magazine gekündigt und die Agentur Magnum in Paris gegründet haben. Das ganze Negativ/Diapositiv (= der Film) ist das Original, der materiale Beweis für die Authentizität und Richtigkeit des Bildes. Dieses muss idealiter auch gezeigt werden. Ausschnitte aus Negativen zu wählen war dem Fotografen selber zwar in der Dunkelkammer noch erlaubt. Aber die Beschneidung von Originalen aus Layout-Gründen einer Zeitschrift galt diesen Fotografen als verpönt. Diese Prinzipien liegen der Erzeugung der dokumentarischen Fiktion zugrunde, deren Gehalt lautet: Wenn jemand anders mit derselben Kamera am selben Ort zur gleichen Zeit fotografiert hätte, dann hätte er oder sie mehr oder weniger dasselbe Bild erhalten. Diese datentechnische Fiktion kennen wir in den Sozialwissenschaften unter dem Begriff der interpersonellen oder inter-rater Reliabilität. Doch ganz so einfach liegen die Dinge natürlich nicht, wie alle wissen, die schon einmal selbst versucht haben »gute Fotografie« zu machen. Denn bevor der Fotograf auf den Auslöser drückt, muss er mehrere Dinge gleichzeitig und gekonnt aufeinander abgestimmt tun: • er muss den entscheidenden Moment um einen Sekundenbruchteil oder länger (bei Landschaftsfotografien) voraussehen; • er muss sich des Lichts und seiner Wirkung in technischer Hinsicht vergewissern, d. h. Zeit und Blende richtig einstellen; • er muss den Ausschnitt wählen und • er muss die formale Struktur des Lichtspiels im Hinblick auf die Eigenschaften der anvisierten Ästhetik erkennen. Dies alles können wir grob an folgendem Bild nachvollziehen, das erstmals im deutschen Magazin ›Stern‹ (Heft 27, vom 28. Juni 1978) erschien. In der Bildlegende dazu hieß es: »Die Schweiz hat keine Armee, sie ist eine Armee. Die Rekrutenausbildung ist schonungslos, die Manöver finden oftmals im Hochgebirge bei Schnee und Eis statt und erinnern an die Heldentaten der Ahnen: Noch jeden Krieg gegen die Deutschen im Norden haben die Eidgenossen bislang gewonnen – zuletzt den Schwabenkrieg anno 1499.« dieser Nacht die erste Mondlandung stattfand. Wir haben davon nichts gesehen, das Objektiv war viel zu schwach. Und es ging ja eigentlich auch bei diesem Ausflug nicht um die Mondlandung, sondern um das Fotografieren von Steinböcken. Diese haben uns dann am nächsten Morgen den Rückweg über einen schmalen Grat verstellt, was für den Fotografen hervorragende und halsbrecherisch gefährliche Gelegenheiten hergab, diese Tiere in ihrer natürlichen Umgebung auf den Film zu bannen.
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Abb. 5: Das unbesiegte Volk der Berge
Abb. 6: Appenzeller Sennen
Abb. 7: Abfahrt der Schwarznasenschafe oberhalb Belalp VS
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Wir sehen wie die Soldaten, deren Haufenanordnung zufällig fast die geografische Kontur der Schweiz zeigt, im Gebirge im Sturm wie in einem Märchen aus dem Fels herauswachsen. Die Konturen der Tarnanzüge verschmelzen die Menschen mit ihrer Umgebung. Jedes derartige Bild bewegt sich metaphorisch gesprochen in mehreren Räumen gleichzeitig. Eine physikalisch-euklidische Repräsentation des dreidimensionalen Raumes im Licht verschränkt sich mit einem Geflecht von sozialen Beziehungen und Praktiken zwischen dem biografischen Rahmen des Fotografen und der Fotografierten. Das Bild wird so zu einer mehrdimensionalen und vielschichtigen Matrix von ineinandergreifenden sozialen Ordnungen. Dasselbe Volk zur gleichen Zeit wurde vom Fotografen in dieser dokumentarischen Perspektive auch ganz anders festgehalten, wie das Bild der Sennen auf ihren Tansen und das Bild vom Schafabtrieb von der Alp Hohsass im Wallis zeigen.
D ie dokumentarische F otogr afie als ein » immutable mobile « Damit komme ich zu meiner These, wonach die klassische dokumentarische Fotografie mit dem lichtempfindlichen Film wesentlich andere »immutable mobiles« erzeugt als die vergleichbare Fotografie mit digitalen Speicherchipkameras. In der Kurzversion lautet die These: Die dokumentarische Fotografie mit dem lichtempfindlichen Film produziert datentechnisch gesprochen »echte« und hochwertige »immutable mobiles« in der Form authentischer Fotografien. Die digitale Fotografie produziert das viel weniger. Diese Überlegung in anderer Formulierung hat auch der Fotograf Maeder gemacht, wenn er der digitalen Fotografie das Fehlen des Negativs, des Films immer wieder als den entscheidenden Mangel vorhielt. Und deshalb auch auf diese Technik verzichtete. Damit man diese These nachvollziehen kann, muss man nun wissen, was denn überhaupt unter einem »immutable mobile« in der Diktion von Bruno Latour verstanden werden soll. Latour hat sich gefragt, was denn die Wissenschaftler tun und tun müssen, damit ihre Daten als solide und brauchbare Repräsentationen von Wirklichkeit gelten können. Prinzipiell »stelle sich die Frage, wie gemachte Beobachtungen, gefundene Objekte oder festgestellte Phänomene aus dem Labor oder aus dem Feld herausgetragen werden können, ohne dass die durch sie erhobenen Daten ihre Glaubwürdigkeit gegenüber der Forschungsgemeinde einbüssen« (Willkomm 2013). Dies geschieht ihm zufolge: »Indem man Mittel ersinnt, die a) diese transportabel machen, damit sie zurückgebracht werden können; die b) diese stabil machen, damit sie hin- und her bewegt werden können, ohne dass es zu zusätzlicher Verzerrung, Zersetzung oder zum Verfall kommt, und die c) sie kombinierbar machen, damit sie, egal aus welchem Stoff sie bestehen, aufgehäuft, angesammelt oder wie ein Kartenspiel gemischt werden können.« (Latour 2009)
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Es ist nach dieser Definition der grundsätzlichen Eigenschaften von Daten unmittelbar einsichtig, dass genau die Bedingung b) der Stabilität in der dokumentarischen Fotografie mit Film wesentlich umfassender, kontrollierter und nachhaltiger gegeben ist als in der heutigen digitalen Fotografie. In letzterer gibt es kein physikalisch stabiles und von Auge erkennbares Korrelat der eingeholten Bilder mehr wie das Negativ eines Filmes oder ein Diapositiv. Die Belichtung erfolgt nach einem dem Fotografen unbekannten Computer-Algorithmus, der selber vor dem Hintergrund tausender gespeicherter Bilder das zu Repräsentierende einschätzt und das zugehörige Licht pixelgenau einfüllt. Damit kann man zwar nun kaum mehr völlig über- oder unterbelichtete Fotografien machen, was in der dokumentarischen Fotografie mit lichtempfindlichem Film auch bei Profis häufig vorgekommen ist. Doch damit kann eigentlich auch keine echte dokumentarische Fotografie im traditionellen Sinn mehr angefertigt werden: Die Stabilität eines physisch vorhandenen und von barem Auge nachvollziehbaren Originalnegatives entfällt. Oder anders gesprochen: Das immutable mobile in der digitalen Fotografie ist selber nur noch in einer Spiegelung von sich selbst erkenn- und sichtbar und seine Stabilität beim Hin- und Her-Bewegen ist unsicher, seine Verzerrbarkeit mittels Computertechnologie schon fast legendär. Dies kann abschließend am Beispiel des World Press Photo Award 2012 nachvollzogen werden. Das Siegerbild von Paul Hansen (kha 2013) hat nie jemand so gesehen – auch der Fotograf nicht – und es hätte auch bei gleicher Kamera usw. niemand ein korrektes Duplikat anfertigen können. Auch nicht der Fotograf Hansen selber. Denn es ist ein sogenanntes »High Dynamic Range Image« (HDR) in dem die Helligkeitsunterschiede durch eine Software ausgeglichen werden, deren Selektion und Funktion dem Fotografen unbekannt ist. Von diesem Bild gibt es kein authentisches Negativ oder Diapositiv auf Film: Es fehlt das physikalische Original. Die Verleihung des Preises ist denn auch auf Widerspruch gestoßen, weil diesem digital hergestellten und nachbearbeiteten Bild die Qualität des Filmes eines »immutable mobile« für das fotografische Vorhaben fehlt. Sein dokumentarischer Wert ist damit gering, auch wenn das Bild in ästhetischer oder politischer Hinsicht durchaus wirkt. Aber niemand hat das realiter je so sehen können und niemand weiß, was denn jetzt noch als Original gelten soll: der Speicherchip, die erste Datei auf dem Computer oder der erste Print? So gesehen werden die dokumentarischen Fiktionen digitaler Bilder um Größenordnungen schwächer als das, was eine traditionelle Fotografie mit lichtempfindlichem Film erzeugt hat. Diese datentechnische Differenz mag auf den ersten Blick an den Haaren herbeigezogen erscheinen, haben doch auch die Fotografen der Filmgeneration durchaus ihre Bilder im Labor bearbeitet und ausschnittweise veröffentlicht. Doch sie haben mit ihren Negativen und Diapositiven wesentlich robustere Daten als »immutable mobiles« hinterlassen. Ironisch an der Sache ist aber, dass heute die Filme der großen dokumentarischen Fotografen selbstverständlich auch digitalisiert werden müssen für die Verwendung der Bilder in Druck und Ausstellungen. Auch was die Auf bewahrbarkeit in Archiven
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angeht, sind vermutlich digitale Kopien länger haltbar als die Originale. Allerdings, sicher ist auch das nicht. Vielleicht bleibt das Zeitalter von Kodachrome, das von 1935 bis 2010 gedauert und in dem Herbert Maeder als Fotograf gewirkt hat, auch als das goldene Zeitalter der Fotografie mit dem »richtigen« Film in Erinnerung.6
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6 | Herbert Maeder ist während der Drucklegung dieses Buchs am 23. Januar 2017 kurz vor seinem 87. Geburtstag gestorben.
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A bbildungen Abb. 1: Nationalrat Maeder. Quelle: Archiv Herbert Maeder. Abb. 2: Greina Hochmoor. Quelle: Archiv Herbert Maeder (Signatur KB012915/220 in aleph.sg.ch Library Catalog/Appenzell Ausserrhoden Kantonsbibliothek). Abb. 3: Bergfotograf Maeder. Quelle: Archiv Herbert Maeder. Abb. 4: Porträt von Johanna. Quelle: Archiv Herbert Maeder (Signatur KB017508/125 in aleph.sg.ch Library Catalog/Appenzell Ausserrhoden Kantonsbibliothek). Abb. 5: Das unbesiegte Volk der Berge. Quelle: Archiv Herbert Maeder (Signatur KB-018039a/130 in aleph.sg.ch Library Catalog/Appenzell Ausserrhoden Kantonsbibliothek). Abb. 6: Appenzeller Sennen. Quelle: Archiv Herbert Maeder. Abb. 7: Schafabtrieb von der Alp Hohsass. Quelle: Archiv Herbert Maeder (Signatur KB-015359/000 Appenzell Ausserrhoden Kantonsbibliothek).
Zweiter Teil: Betrachten von Fotos
Als schautest Du mich an Das Foto als Präsenzvehikel Ronald Hitzler para mi compañera fallecida »Es sind immer Fotos von Lebenden, mit welchen eine Todesnachricht gesendet wird« (B elting 2013: 195).
R efle xionsbedürf tiges E rleben Vor mir, direkt über dem Bildschirm meines häuslichen Computers, hängt ein einem gemeinsamen situativen Entwurf von uns beiden entsprechend »gestelltes« Foto von Anne Honer (siehe Abbildung 1).
Abb. 1: Augenkontakt!
In diesem Beitrag geht es mir nun nicht etwa um eine systematische Analyse dieses mithin von einem doppelten Gestaltungswillen beförderten Bildes aus der Zeit unseres »ersten«, alltagsweltlich normalen Miteinanderseins (vgl. Heidegger 1979: 238). Überhaupt nicht geht es mir um
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foto(grafier)technische Fragen. Es geht mir aber auch nicht, bzw. allenfalls andeutungsweise, um bildhermeneutische Interpretationen. Im Wesentlichen geht es mir vielmehr darum, anhand der hier in Frage stehenden Fotos und ihrer bedachten Platzierung in meiner Wohnung meinen privat-sozialen Umgang mit diesen Artefakten zu rekonstruieren. Will heißen: Ich versuche mein alltäglich mitlaufendes Sehen dieser Bilder selber reflexiv anzuschauen. Wie Roland Barthes (1989: 30) sich, so sehe auch ich mich hier also als »spectator«, der sich in die Fotografie vertiefen will – »nicht wie in ein Problem (ein Thema), sondern wie in eine Wunde: ich sehe, ich fühle, also bemerke ich, ich betrachte und ich denke.«1 Sozusagen vorphänomenologisch betrachtet, »transportiert« das in Frage stehende Bild2 für mich die Anne Honer, der wir im Wesentlichen das Konzept der lebensweltanalytischen Ethnografie verdanken (vgl. Honer 1989; 1993 und 2011), und der ich noch wesentlich mehr verdanke: die Erfahrung einer nachgerade unverbrüchlichen Gefährtenschaft. Dieses Foto hängt, wo es hängt, weil ich so sozusagen schon aus den Augenwinkeln heraus diese Augen sehe, die mich gesehen haben (vgl. Barthes 1989: 11), und weil dieser mechanischchemisch verewigte Augen-Blick mir nach wie vor jederzeit schlagartig zu vergegenwärtigen vermag, was Anne Honer mit diesem Blick mir in unserem »ersten« Miteinandersein alles und immer wieder hat sagen wollen und sagen können (siehe Abbildung 2). Dergestalt funktioniert dieses Foto tatsächlich als »eine Beglaubigung von Präsenz« (Barthes 1989: 97). Denn in Augenblicken, in denen ich in meine Welt der Phantasie zu entkommen vermag, ist es – anhaltend – so für mich, als schaute das in diesem Blick appräsentierte Subjekt mich aus unserer Vergangenheit heraus an. Oder theoriesprachlicher formuliert: In (immer wiederkehrenden) Momenten kognitiver Unaufmerksamkeit erlebe ich das analytisch von mir als unwiederbringlich Deklarierte, gleichsam epiphanisch, als Als-ob-Gegenwärtiges (vgl. Gumbrecht 2004 Abb. 2: Arrangement und 2012: 232 ff.).
1 | Dies ist bereits ein deutlicher Hinweis auf die von Barthes (1989: v. a. S. 35–62) vorgeschlagene Differenzierung zwischen der von ihm als »Studium« bezeichneten bildanalytischen Befassung mit Fotos und dem von ihm »Punctum« genannten existenziellen »Ergriffensein« durch ein Foto bzw. etwas auf einem Foto Sichtbaren. 2 | Dieses Bild sehe ich inzwischen naheliegender Weise auch wie eine Art Menetekel (»5 vor 12«) an. Fotografiertechnisch betrachtet ist es (wie alle anderen Bilder zu diesem Beitrag) aber nicht weiter relevant.
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Schaue ich von meinem Computerbildschirm aus nach rechts, fällt mein Blick zumeist schnell auf ein anderes Foto von Anne Honer (siehe Abbildung 3).
Abb. 3: Augenkontakt?
Auch auf diesem Bild scheint sie mich anzuschauen. Aber diese offenen Augen appräsentieren ihre Leibhaftigkeit in der unser »zweites« sozusagen »anderweltliches«, Miteinandersein prägenden Lebensform3; in der Lebensform jener Zeit also, die uns als Folge einer schweren Hirnschädigung auferlegt worden war, welche Anne Honer aus dem gewohnt Alltäglichen herausgerissen und in einen anderen Bewusstseinszustand4 und uns damit in Situationen des Zusammenseins gebracht hatte, in denen Interaktion und Kommunikation im Sinne intendierter Maßen wechselseitig aufeinander bezogenen Handelns (vgl. Schütz 2004 [1932]: 245 ff.; in »weiterführender Absicht« Knoblauch 2013) hochgradig ungewiss war. Inzwischen ist bekanntlich auch diese »fragile Sozialität« (Honer et al. 2010) zerstört, denn Anne Honer ist am 23. Februar 2012 unerwartet ge3 | Aufgenommen hat dieses Foto Helma Bleses im Kontext der dem 60. Geburtstag von Anne Honer gewidmeten 3. Fuldaer Feldarbeitstage 2011 (vgl. zu dieser Tagung Schröer et al. 2012). 4 | Infolge einer durch eine Subarachnoidalblutung ausgelösten Hypoxie am 24. Februar 2009 war Anne Honer anhaltend gelähmt und fast all ihrer Sinne beraubt (vgl. Grewe/Hitzler 2013). Sie war – augenscheinlich und messtechnisch geprüft – nicht mehr bei dem Bewusstsein, das hellwache, erwachsene Normalmenschen gemeinhin meinen, wenn sie von Bewusstsein sprechen. Dieser ganze Symptomkomplex, den ich damit andeute, wird medizinisch als »apallisches Syndrom«, als »vegetativer Zustand«, als »reaktionslose Wachheit« und im allgemeinen Sprachgebrauch eben als »Wachkoma« bezeichnet (vgl. Hitzler 2012a).
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storben. Und dadurch, dass sie aus dem Leben gegangen ist, hat sich alles grundlegend verändert, denn was bis anhin ein verlässliches Wir war, ist damit schlagartig zu etwas Gewesenem geworden. Die mir von ihr zuhandenen Bilder werden zu Dokumenten der – um einen Gedanken von Hans-Georg Soeffner (2012: 441) aufzunehmen – nunmehr endgültig geschlossenen »Fenster« zur Leibhaftigkeit dieses für mich zentralen Gegenübers: formiert zu einer Art Denkmal-Ersatz im Sinne von Roland Barthes (1989: 102 ff.), bzw. zu etwas, was dem nahe kommt, was Oliver Susami (2012) als »Religiöse Ecken« in Privatwohnungen ausfindig gemacht und fotografiert hat. Augenscheinlich »baue« ich dergestalt darauf, dass mir das hier thematische Ensemble von – m. E. genuin (lebensweltanalytisch-)ethnografischen – Fotos nunmehr zumindest nachhaltig hilft, Anne Honer und mein Mitgewesensein mit ihr nicht nur erinnernd zu vergegenwärtigen5, sondern auch sinndeutend zu bedenken; kurz: qua Imaginationen (vgl. Sartre 1982) mit dem zu leben, woran ich nichts mehr ändern kann.6 Diese Imaginationen und mithin auch diese Bilder – als deren materialen Korrelaten – verbinde ich mit so stark wertschätzenden Gefühlen, dass es mir nicht unangemessen zu sein scheint, zu konstatieren, sie seien mir gewissermaßen »heilig«.7 Jedenfalls berühren mich, wie unschwer zu bemerken sein dürfte, diese Bilder, um die mir in diesem Beitrag zu tun ist, intensiv. Folglich will ich im Weiteren aufzeigen oder zumindest andeuten, a) dass ich in einem Modus existenzieller Betroffenheit lebe8, b) wie ich mich als in diesem Modus lebend erlebe, c) dass ich mich diesem Erleben deutend zuwende und d) wie ich wiederum die aus dieser deutenden Zuwendung heraus generierten Daten theoretisch reflektiere. 5 | In meiner Wohnung gibt es auch viele andere Erinnerungsstücke an Anne Honer: Bücher, Pflanzen, Gebrauchsgegenstände, kunsthandwerkliche Artefakte, Gemälde und vor allem einen elektrisch verstellbaren roten Ledersessel, der ihr während ihres Lebens im Wachkoma als Sitzalternative zu ihrem maßgefertigten Rollstuhl gedient hat. Gleichwohl: Während die Lektüre ihrer Texte mir immer wieder ihr intellektuelles Erbe vergegenwärtigen, sind die Fotos, auf denen Anne Honer zu sehen ist, emotional die stärksten und nachhaltigsten Vehikel ihrer Präsenz für mich (vgl. dazu Lueger 2010: 123 f.), denn indem ich sie sehe, machen sie mir, präreflexiv, ihr Sujet leiblich-sinnlich gegenwärtig (vgl. Wiesing 2005: 34; ähnlich auch Gumbrecht 2004: 33). 6 | »Die gegenwärtige Erinnerung […] hat mit der entsprechenden Wahrnehmung gemein die Erscheinung des Gegenstandes, nur hat die Erscheinung einen modifizierten Charakter, vermöge dessen der Gegenstand nicht als gegenwärtig dasteht, sondern als gegenwärtig gewesen« (Husserl 1928: 416). Der Name des Noemas der Photographie sei also: »Es-ist-so-gewesen« (Barthes 1989: 87) 7 | Allerdings ist bei dieser Heil(igkeit)sbekundung zu berücksichtigen, dass auch ich, wie Roland Barthes (1989: 42), »zu sehr Phänomenologe (bin) als dass ich etwas anderes als eine Erscheinung nach meinen Maßstäben schätzen könnte.« 8 | Das trauernde Mitsein mit dem Verstorbenen geschieht »in einem Modus der ehrenden Fürsorge« (Heidegger 1979: 238).
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P hänomenologische K orrek tur der A b -B ild -Theorie (Auch) manche von uns Ethnografen meinen ja, dass unsere Bilder dokumentarische Ab-Bilder seien: (ungeschönte) Bilder dessen, was man prinzipiell auch mit »bloßem Auge« sehen kann (siehe Abbildung 4).
Abb. 4: Alltage
Diese Abbild-Theorie ist aber naiv, vor allem weil sie die Frage der intentionalen Gegebenheitsweise von Bildern vernachlässigt, die Edmund Husserl bereits in seinen Reflexionen »Über intentionale Erlebnisse und ihre Inhalte« (1901: 322–472) angerissen und in ›Phantasie, Bildbewusstsein, Erinnerung‹ (1980) dann strukturell ausgearbeitet hat: Er unterscheidet zwischen a) dem (räumlich begrenzten) »Bildträger«, also dem Material, mit dem ein Bild transportiert wird, b) dem »Bildsujet«, also dem abgebildeten realen Gegenstand, und c) dem »Bildobjekt«, also der Abbildung des Bildsujets. Der Betrachter eines Bildes perzipiert das Bildobjekt.9 Der Betrachter des Bildträgers nimmt einen ein Bild transportierenden materialen Gegenstand wahr. Das Bildsujet hingegen kann so, wie es abgebildet ist, nicht mehr wahrgenommen werden, denn der Fotograf fixiert, darauf weist auch Roland Barthes (1989) hin, auf der Fotografie einen einzigen, unwiederbringlichen Augenblick (ähnlich auch Flusser 1994). Das Sujet, obwohl auf einem materialen Träger als abgebildetes Objekt sichtbar und mithin ein Element der »physischen Bildlichkeit« (Husserl 1980: 29), ist (das wird bei Sartre deutlicher als bei Husserl) reine Vorstellung – und 9 | Das Bildobjekt ist aber, so Lambert Wiesing (2005: 70), nur sichtbar, nur artifiziell präsent. Es hat kein über die reine Sichtbarkeit hinausweisendes »reales Dasein«.
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stellt mich damit vor die reflexive Frage, was mit mir geschieht, wenn ich es ansehe (vgl. Wiesing 2009: 210). Gemäß dieser phänomenologischen Vor-Klärung bilden auch die »dokumentarischen« Fotografien, die wir Ethnografen – technisch mehr oder weniger versiert oder dilettantisch – erzeugen oder die wir herstellen lassen, selbstverständlich nicht einfach etwas ab, sondern stellen quasi-rhetorische (Stil-)Mittel dar, die, wenn sie verstanden werden sollen, im Rahmen eines argumentativ plausibilisierbaren Sinn-Zusammenhanges bzw. eines wie auch immer gearteten Blickregimes (vgl. Kröncke 2012: 68 ff.) verstanden werden müssen. Wie (die) Fotos tatsächlich gesehen werden, hängt letztlich aber von den (situativen) Seh-Interessen und Seh-Kompetenzen dessen ab, der sie betrachtet, denn zwar fixiert das fotografierende Subjekt mittels der Fotografie das fotografierte Subjekt als Objekt für ein es betrachtendes Subjekt. Wie der Betrachtende das Foto betrachtet, ist damit jedoch durchaus nicht vorfestgelegt, sondern korreliert mit – wodurch auch immer beeinflussten– situativen Relevanzsetzungen. Anders ausgedrückt: »Fotos entstehen im Kopf« (Lueger 2009: 127). Und der Bild-Geber kann stets nur versuchen, die Interessen des Betrachters auf das hin zu lenken, was ihm, dem Bild-Geber, wichtig bzw. interessant zu sein scheint: auf bestimmte, ein-sehbare Elemente des Bildes, aber auch auf vermeinte und behauptete, was auch immer (mehr oder minder) bezeichnende Sinngehalte. Gleichwohl: Bestenfalls besteht hinlänglich die Chance, dass das, was der Bild-Geber zeigen will, und das, was der Betrachter sieht, so stark korreliert, dass der Eindruck entsteht, etwas Bestimmtes sei – intersubjektiv – sichtbar gemacht worden.
J enseits der G renzen der E ntblössung Weil ich mir durchaus nicht darüber im Klaren war (und nach wie vor auch nicht bin), was andere Menschen an und in Aufnahmen sehen würden, die ich von der im »Wachkoma« lebenden Anne Honer gemacht hatte, habe ich solche Aufnahmen lange Zeit nicht vorgezeigt. Geraume Zeit vor dieser jetzigen Publikation habe ich die dergestalt von mir selber gesetzten »Grenzen der Entblößung« (Hitzler 2012b) Anne Honers qua Bildern aus der Zeit unseres »zweiten« Miteinanderseins dann aber doch überschritten: Einen Beitrag von mir in der Wachkoma-Lobbyzeitschrift ›Not‹ (vgl. Hitzler 2012c) hatte ich ursprünglich zwar nicht mit Fotos des in Frage stehenden, im Text aber anonymisierten Menschen bebildern wollen. In der ›Not‹ sind Fotos von Menschen im Wachkoma aber völlig üblich, denn die ›Not‹ ist eben ein Magazin vor allem für Angehörige und Betreuungskräfte von Menschen mit schweren Hirnschädigungen. Weil die Redakteurin den Beitrag folglich auf jeden Fall illustrieren wollte, allerdings mit m. E. völlig ungeeigneten Bildern, habe ich dann doch dem Inhalt des Artikels besser entsprechende Aufnahmen der »Patientin« aus meinem Archiv zum Abdruck zur Verfügung gestellt (siehe Abbildung 5).
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Abb. 5: Veröffentlichung
Bilder von Anne Honer im Zustand »Wachkoma« sind deshalb und seither sozusagen »in der Welt«, und dementsprechend sehe ich nun keinen Grund mehr dafür, sie nicht auch in Kontexten wie diesem Band zu publizieren. Das »Aufmacher«-Foto zu meinem damaligen Artikel ist hinsichtlich des Ausdrucks in Anne Honers Gesicht einem anderen ziemlich ähnlich, das ich in meinem Arbeitszimmer ebenfalls vor Augen habe (siehe Abbildung 6).
Abb. 6: Leid
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Der gravierende Unterschied zwischen den beiden Bildern besteht darin, dass auf dem zweiten auch ich zu sehen bin. Gleichwohl sind diese Fotos keine gestellten, und es sind auch keine von einem anderen Fotografen gemachten Aufnahmen, sondern Standbilder, die ich aus einer Video-Aufnahme ausgeschnitten habe: aus einer Video-Aufnahme, die auch in dieser Konstellation ein Wechselspiel zwischen Angesehenwerden und Sehen »dokumentiert«. Notiert habe ich zu dieser am 27. April 2011 entstandenen Aufnahme: »Daran, dass Anne weint, habe ich seit heute keinen Zweifel mehr. Sie weint im Sinne des Ausdrucks ihrer (akuten) Befindlichkeit, denn ohne dass Atembeschwerden oder andere Arten physischer Schmerzen erkennbar gewesen wären, zeigt sie unvermittelt einen überaus ›bekümmert‹ wirkend en Gesichtsausdruck. Ich versuche sie zu trösten. Daraufhin produz iert sie zunächst einen krächzenden Laut und zeigt sehr intensiv ein für normale Mimik typisches Weingesicht (vgl. Ekman 2007). Ich versuche weiterhin, sie zu trösten. Etwas später macht sie drei weitere Krächzlaute, wend et sich mir zu, schaut mich intensiv an und zeigt dabei beziehungsweise danach jedes Mal wieder unzweifelhaft jenes – mimisch sehr ausgepr ägte – Weingesicht. Der ganze Vorgang wirkt auf mich wie ein überaus angestrengter und anstrengender Versuch, sich verbal zu äußern.«
Dieses Phänomen des »Weingesichts« ist mir deshalb so wichtig, weil Helmuth Plessner (1982) zufolge Weinen auf eine Befindlichkeit hinweist, in der ein Mensch zwar die Kontrolle über seinen Körper, nicht aber die Kontrolle über sich selber verliert. Und eben dieses selbstbezügliche Äußerungsformat grenzt Plessner von Appräsentationen solcher Zustände ab, in denen der Mensch nicht mehr »er selber« ist. Weinen war mithin ein relativ deutlicher Hinweis darauf, dass Anne Honer im sogenannten »Wachkoma« über rudimentäre Bewusstseinsfähigkeiten und eine Art selbstbezüglicher Empfindsamkeit verfügte. Fotos, die ihr Weingesicht fixieren, haben deshalb eine nachgerade ikonische Qualität für mich, denn dieser Ausdruck von Leiden und Leid mutet, anders als andere bei einem Menschen im Zustand »Wachkoma« als symptomatisch beobachtbare Anzeichen von Apathie oder Schmerzen, sinnhaft an. Vor dem Hintergrund der Porträts der weinenden Anne Honer erlebe ich auch ein anderes Foto, das ebenfalls in der ›Not‹ abgebildet war und das nun besonders großformatig in meinem Arbeitszimmer hängt (siehe Abbildung 7), als sinnhafter als ich es ohne diese Vergleichsfolie vermutlich getan hätte. Im Kontext meines Artikels in dem Magazin wurde das Foto in der Redaktion mit »Die Patientin ist augenscheinlich ganz in sich zurückgezogen« untertitelt. Mir selber kommt, wenn ich mir das Bild anschaue, stets jenes japanische Sprichwort in den Sinn, dem zufolge man jemanden, der schweigt, nicht unterbrechen soll. Das heißt, ich erlebe es als nachgerade idealtypisches Präsenzvehikel einer Anne Honer charakterisierenden unaufgeregten Nachdenklichkeit und uneitlen Introvertiertheit.
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Abb. 7: Rückzug?
Neben diesem großformatigen »Meditationsbild« hängen – in sechs Rahmen – jeweils zwei Fotos, mittels derer ich versuche, Ausdrucksweisen von Anne Honer jeweils aus der Zeit vor und aus der Zeit nach ihrer Hirnschädigung zueinander ins Verhältnis zu setzen (siehe Abbildung 8).
Abb. 8: Lebensformen
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Denn »auf dem Weg« von ihrer ersten zu ihrer zweiten Lebensform hatten sich Anne Honers Gesichtszüge zwar verändert, gleichwohl war von ihrem mimischen Ausdrucksrepertoire Vieles erhalten geblieben.10 Diese Idee der Suche nach von einer Lebensform zur anderen verlaufenden »Spuren« transportiert, obwohl es einzelgerahmt ist, auch jenes (eingangs kommentierte) Foto mit, auf dem sie mich so »vielsagend« anzuschauen scheint. Denn direkt daneben habe ich ein Bild platziert, das Anne Honers Schwester von ihr aufgenommen hat, und das ich (ebenfalls) als eine Art von Entsprechung des anderen wahrnehme (siehe Abbildung 9) – weil es auf mich wirkt, als »vergrabe« sie sich im Kissen und wende den Blick ebenso dezidiert ab, wie sie mich auf dem anderen Foto eben anschaut.
Abb. 9: Abwendung
An der gleichen Wand, in einem gewissen Abstand, habe ich in einem Rahmen acht Fotos zusammengestellt, die – »eingeleitet« von einer kleinen, öffentlich ausgestellten Dankesbekundung zweier Studentinnen an sie – das Gesicht und die Hände bzw. Finger von Anne Honer ausschließlich im Zustand »Wachkoma« zeigen (siehe Abbildung 10).
10 | Verloren gegangen waren allerdings die Appräsentationen jener menschenzugewandten Grundfröhlichkeit und -freundlichkeit, die ihr in ihrer »ersten« (augenscheinlich alltagsnäheren) Lebensform eigen war.
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Abb. 10: Beobachtungen
Diese Montage habe ich schon zu ihren Lebzeiten gefertigt – sozusagen als Präsenzvehikel ihrer unaufhebbaren Hilfs- und Schutzbedürftigkeit und damit der fraglos umfassenden Fürsorge im Mitsein mit ihr (vgl. Heidegger 1979: 126). Für diese Zusammenstellung habe ich seinerzeit einen roten Rahmen verwendet, weil Rot Anne Honers Lieblingsfarbe war, und weil diese ihre Lieblingsfarbe eine zumindest für mich wichtige Kontinuität ihres Wesens auch über den entscheidenden biografischen Bruch hinweg symbolisiert (hat).
P hänomenologie des A rr angements Was war bzw. ist nun die Idee, die ich damit verbunden habe, mich in meiner Wohnung mit diesen Bildern zu umgeben und sie somit auch Gästen einsehbar bzw. anschaubar zu machen? – Nun, wie eingangs schon angedeutet sehe ich das Gesamtensemble als eine Art innerhäuslicher Gedenkstätte, in der Anne Honer jetzt auf eine metaphorische Art bei mir »wohnt«. Dieses »Bei-mir-Wohnen« impliziert für mich aber nicht nur keine physische, sondern (leider) auch keine – im populärreligiösen Sinne (vgl. Knoblauch 2009) verstandene – spirituelle Kopräsenz. Denn »selbstverständlich« weiß ich als religiös »unmusikalischer« Mensch, dass dieses »Bei-mir-Wohnen« eine Metapher ist für meinen (eher hilflosen) Versuch, das, was mir von Anne Honer geblieben ist, durch derlei Externalisierungen zu konservieren (vgl. dazu Susami 2012: 257 ff.). Analytisch gesehen jedenfalls fungieren die Fotos und ihr Arrangement weder als Vergangen-
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heitsspeicher, noch als Zeitmaschinen, sondern eben als Vehikel zur präsentischen Konstruktion wertschätzender Erinnerungen. In sozialer Hinsicht geht es mir mit der ganzen Installation vor allem um die Repräsentation unseres einst von Anne Honer initiierten und dann gemeinsam fortgeführten Projekts, das Hans-Georg Soeffner (2012: 439) »Ethnographie als Lebensform« genannt und dergestalt »geadelt« hat: Anne Honer und auch ich sind miterlebend-forschend in so vielen kleinen Lebenswelten anderer Menschen unterwegs gewesen, dass ich es fast als unschicklich empfände, unsere eigenen Vollzüge gegenüber unserem epistemologisch-methodologischen Ansinnen des Beschreibens multiplen menschlichen Welterlebens, an dem wir nicht selten nicht nur teilnehmen, sondern auch teilhaben durften, zu verschließen. Dementsprechend versuche ich also, meine Empfindungen und Erfahrungen im Mit-Erleben von Anne Honers Leben im Wachkoma und in jüngerer Zeit eben auch in der Zuwendung zur Frage nach der Art bzw. den Arten ihrer Präsenz für mich nach ihrem Tod zu explizieren. Aus mehreren Gründen bin ich mir sicher, dass sie auch mit dieser sie fokussierenden und ihr Schicksal in Daten und Deutungen transformierenden ethnografischen Weiterarbeit ganz einverstanden wäre11, denn es geht mir auch hierbei keinesfalls um eine Zur-Schau-Stellung, sondern – einmal mehr – um die Suche nach dem Verallgemeinerbaren auch in diesem Einzelfall (vgl. Soeffner 2004). Befasst bin ich dabei prinzipiell mit dem Problem der Konstitution eines Alter Ego und in dessen Rahmen hier konkret eben mit dem alltäglichen Leben mit und Erleben von Fotos als Präsenzvehikeln dieses nunmehr (nur noch) imaginierten alter ego (vgl. Hitzler 2015). Mein genuines Erkenntnisinteresse ist dementsprechend anhaltend ein phänomenologisches: es richtet sich darauf, ob und ggf. wie sich ein alter ego konstituiert (als wie rudimentär es auch immer erscheinen mag). Im konkreten Fall geht es mir um die Frage, ob dieser Körper eines im »Wachkoma« lebenden Menschen, »jemanden« appräsentiert hat – jemanden im Sinne eines anderen Subjekts. Es geht um jene Frage, die Edmund Husserl (1973: 121 ff.) in der V. Cartesianischen Meditation beschäftigt: Wie kommt das transzendentale Bewusstsein als letztes Fundament aller Sinngebung dazu, den Sinn »anderer Mensch« zu konstituieren (vgl. auch Luckmann 1980)? Die Klärung dieser Frage erfordert eine zumindest eidetische Analyse, d. h. eine Strukturbeschreibung der Korrelate meines bei meinem Involviertsein stattgehabten subjektiven Erlebens (vgl. Hitzler 2005). Der eidetischen Analyse liegen bekanntlich Daten zugrunde, die ich nicht (richtig) fixieren – und somit intersubjektiv in ihrer mir gegebenen »rohen« Form zugänglich machen – kann. Das heißt selbstverständlich nicht, dass ich nicht ein Gedächtnisprotokoll meines Erlebens erstellen könnte. Ein solches Protokoll bewahrt aber nicht die Daten meines Erlebens auf, 11 | U. a. hat Anne Honer selber ihre sehr persönliche Involviertheit in ein für sie existenziell bedeutsames ethnografisches Setting ja sozusagen exemplarisch in ihren »Verordneten Augenblicken« (2011: 251–264) offengelegt.
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sondern die Daten einer nachträglichen Interpretation eines komplexen Erlebenszeitraumes. Solcher Art Daten erzeugen wir lebensweltanalytisch orientierten Ethnografen selbstverständlich auch. Derlei ist jedoch immer die intersubjektiv verstehbare Vermittlung von Erinnerungsspuren, von denen ich weiß, dass sie dem nicht entsprechen, ja: dem nicht entsprechen können, was ich erlebt habe. Fotografieren nun hinterlässt solche Spuren in der Welt12, denn wie bereits angedeutet: Mittels der Fotografie fixiert das fotografierende Subjekt das Fotografierte, und das unverdeckt fotografierte Subjekt weiß sich mittels der Fotografie fixiert als Objekt für ein es betrachtendes Subjekt. Dergestalt wird das Foto »zu einer materialisierten Ausdrucksgestalt von Vorstellungen, die es gleichzeitig – nun selbst zum materiellen Gegenstand geworden – mitgestaltet« (Breckner 2010: 143). Wie das betrachtende Subjekt die Fotografie betrachtet, ist damit jedoch nicht vorfestgelegt. Das »Wie« korreliert vielmehr mit den – wodurch auch immer beeinflussten – situativen Relevanzsetzungen des Betrachtenden. Bilder können mithin »Vorstellungen zu einer bestimmten Anschauung fixieren ebenso wie sie einen potentiell unbegrenzten Imaginationsraum öffnen« (Breckner 2010: 143). Auch Edmund Husserl (1980: 18) zufolge findet beim Betrachten eines Bildes eine Synthese zwischen Wahrnehmung und Imagination statt, denn »das Bild macht die Sache vorstellig, ist aber nicht sie selbst.« Entschieden radikaler noch formuliert aber Jean-Paul Sartre (1971: 65) die »Freiheit« des betrachtenden Subjekts zu situativen Relevanzsetzungen auch im Umgang mit Fotografiertem: »Wenn ich etwas auf einem Foto sehe, dann bringe ich es dorthin«. D. h. das, was ich auf (und »in«) einem Foto sehe, ist das, was ich mir (darunter) vorstelle. Meine Vorstellung bezieht sich zwar auf ein wahrnehmbares Objekt. Entgegen naiven Ab-Bildtheorien, wie sie (wie oben konstatiert) mitunter auch Ethnografen vertreten, bildet die Vorstellung dieses Objekt aber nicht ab, sondern benutzt das Wahrnehmbare als »Vehikel« zur Konstitution eines eben vorgestellten Objekts. Die Vorstellung des Objekts konstituiert sich auch nicht polythetisch, sondern monothetisch (vgl. Schütz 2004 [1932], passim), denn anders als jede Wahrnehmung schließt die Vorstellung keine Appräsentationen ein, sondern »erschöpft« sich im je Präsenten. Sie enthält nichts Nicht-Präsentes. Die Vorstellung »gibt alles, was sie besitzt« auf einmal, in dem Augenblick, in dem ich sie mir mache. Auch das Objekt der Vorstellung ist in jedem Augenblick der Vorstellung vollständig gegeben. Und diese stets vollständig gegebene Vorstellung eines von mir auf dem Foto wahrgenommenen Objekts »bringe« ich sozusagen auf das Foto. Das Foto wird so zum Symbol, das eben – um hier Hans-Georg Soeffners Reflexionen über ›Das Präsentische‹ (2010) aufzunehmen – nichts Wahrnehmbares bedeutet, sondern Vorstellungen affiziert. Pointiert ausgedrückt: Was ich »auf 12 | Und Vilém Flusser (1994) begreift Fotografieren ja gar als so etwas wie ein (quasi-)phänomenologisches Beschreiben anhand eines Apparats, mit dem sich punktuelle visuelle Eindrücke »von etwas« (vor dem Kameraobjektiv Befindlichem) konservieren lassen.
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dem Foto«, nicht etwa als Foto oder gar als einen materialen Gegenstand, den ich als »Fotografie« typisiere, zu sehen vermeine (also das Sujet), ist exakt die Vorstellung, die ich mir von dem mache, was ich zu sehen vermeine. Und das ist situativ eben, dass ich hier« (doch) – irgendwie – angeschaut werde (vgl. Sartre 1991: 457 ff.).
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A bbildungen Abb. 1: Augenkontakt! © Foto: Ronald Hitzler. Abb. 2: Arrangement. © Foto: Ronald Hitzler. Abb. 3: Augenkontakt? © Foto: Helma Bleses. Abb. 4: Alltage. © Foto: Ronald Hitzler. Abb. 5: Veröffentlichung. © Foto: Ronald Hitzler. Abb. 6: Leid. © Foto: Ronald Hitzler. Abb. 7: Rückzug? © Foto: Ronald Hitzler. Abb. 8: Lebensformen. © Foto: Ronald Hitzler. Abb. 9: Abwendung. © Foto: Inge Honer-Pelka. Abb. 10: Beobachtungen. © Foto: Ronald Hitzler.
Präsenz des Bildes – Präsenz im Bild Betrachtungen zur Präsenzerfahrung Aida Bosch
I ntro Beginnen wir unsere Überlegungen mit einer Geschichte: Vor einigen Jahren, beim Gang durch die Stadt, fiel ein großes Bild der Sängerin Anna Netrebko ins Auge; es kündigte ein Konzert an. Das Bild war von Weitem sichtbar und überwältigend schön: eine Aufnahme des Gesichts und des Rumpfes, großformatig, sehr farbig und grafisch-reduziert zugleich. Das Bild zeigte eine Frau, von der sich der Blick kaum lösen konnte, mit schwarzen Haaren, weißer Haut mit einem Schimmer wie Marmor und einem dunkelroten Kleid von flirrend-samtiger Farbe. Die Frau sieht den Betrachter an, mit einem intensiven schwarzen Blick. Sie strahlt aus dem Bild heraus, ihr Blick glänzt offen und rätselhaft zugleich. Das Bild hat ein starkes punctum (vgl. Barthes 1985), es bleibt im Gedächtnis: eine schöne Frau, großformatig, nah und nahbar der Blick und der Körper, gleichzeitig aber unerreichbar, da doch nur ein Bild. Das Bild ist, wie wir sehen, in der Lage, große Nähe und große Distanz zugleich zu generieren. Angesichts dieses Bildes stellt sich die Frage, ob es die Wirklichkeit denn mit den Bildern aufnehmen kann. Unwillkürlich fragt man sich: Was macht es mit dem Betrachter, wenn die Bilder größer und schöner sind als die Realität? Was macht es mit Anna selbst? Bilder, die intensiver, schöner, schrecklicher sind als die Wirklichkeit, sind heute überall: »Bigger than life«. Eine Überwältigung der Sinne – kann dies den Eindruck von Präsenz erzeugen? Was ist denn überhaupt »Präsenz«? Laut Hans Ulrich Gumbrecht spielt sich Präsenz jenseits von Sinnzuschreibungen und hermeneutischer Zeichendeutung ab; es ist ein Phänomen der Unmittelbarkeit, das in seiner Materialität und Besonderheit ernst genommen werden will. Es geht um eine räumlich-materielle Anwesenheit einer Person oder eines Dinges. Gumbrecht benennt mit dem Begriff der Präsenz eine Unmittelbarkeit der Erfahrung, jenseits aller Zeichendeutung (vgl. Gumbrecht 2004; 2012). Es geht um eine »authentische Präsenz«, die nicht durch die Vorherrschaft der Zeichen gewissermaßen kognitivistisch »erstickt« und übersehen werden sollte – dieser Vorwurf geht insbesondere an die postmodernen und poststrukturalistischen An-
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sätze. Diese Überlegungen folgen den Spuren von Martin Heidegger, für den das Dasein als ein »In-der-Welt-Sein« zu denken ist, das auf einem Zusammenhang der Dinge, auf der Vertrautheit mit der materiellen Welt beruht (Heidegger 2010 [1960]). Mit Heidegger strebt Gumbrecht eine Überwindung der Trennung von Erkenntnissubjekt und -objekt an. Im Dasein gebe es eine Nähe zu den Dingen, ihr Vorhandensein ist uns alltäglich und schon vor jeder Reflexion gegeben. Mit dem morgendlichen Erwachen, mit dem Verrichten alltäglicher Handlungen sind die Dinge immer schon da und schaffen durch ihr Dasein die besondere individuelle und soziale Atmosphäre (und ebenso steht es mit den nahen und vertrauten Personen, kann man hier anfügen). Die Anwesenheit der Dinge im Alltag ist zunächst unspektakulär und selbstverständlich. Doch drängt sich ihre Präsenz dann besonders auf, wenn der Umgang mit den Dingen (oder Personen) gestört wird, die Praxis in der Folge an Geschmeidigkeit verliert und Krisenmomente aufweist. Präsenz meint dann etwas auffällig Widerfahrenes, etwas sich der Wahrnehmung Aufdrängendes. Das Phänomen Präsenz gibt es also in zwei Formen: a) als etwas alltäglich Gegebenes, Vertrautes – die unscheinbare, selbstverständliche Präsenz der Alltagsdinge, die letztendlich die Lebenswelt (mit-)konstituiert, und b) als eine Art besondere, herausgehobene Wahrnehmung, die sich in Krisen des Alltags oder in der ästhetischen Erfahrung einstellt – die Art von Wahrnehmung, die die alltägliche Lebenswelt transzendieren und in Frage stellen kann.
D as S piel z wischen A nwesenheit und A bwesenheit : B ildliche E rkundungen von »P r äsenz«
Abb. 1: Fotografie von Bruce Gilden
Anhand einiger Beispiele wollen wir das Phänomen Präsenz näher bestimmen. Die Präsenz von Personen ist zunächst ein leibliches Phänomen. Es liegt am Schnittpunkt von Körper und Geist und wird durch das Spiel zwischen Idee und Materie leiblich ausgeformt – ähnlich wie ein Kunstwerk. Die Erfahrung von Präsenz verlangt eine leibliche Anwesenheit. Leibesfülle kann eine massive Präsenz, eine gesteigerte sinnliche Wahrnehmung durchaus unterstützen: Die visuelle ebenso wie die akustisch-stimmliche Wahrnehmung und u. U. auch andere Sinneswahrnehmungen werden durch eine gewichtige, beleibte Person stärker stimuliert (vgl. Abbildung 1). Doch gibt es auf einem Bild keine leibliche Anwesenheit – sondern nur die Spur einer leiblichen Anwesenheit. Ein Trägerstoff (Papier etwa oder Licht) leiht einer Person seinen Kör-
Präsenz des Bildes – Präsenz im Bild
per. Und doch bekommen wir im Betrachten eine Ahnung von der leiblichen Präsenz einer Person, indem wir eine dreifache Appräsentation vornehmen: a) Die Rückprojektion (und Ergänzung) des zweidimensionalen Bildes in den dreidimensionalen Raum; b) die Vorstellung der anderen Welt, die uns das Bild zeigt und die unsere momentane Lebenswelt transzendiert; c) die Deutung des Bildsinnes, z. B. des Körper- und Gesichtsausdrucks von dargestellten Personen oder der Anordnung der Dinge und Menschen zueinander, die im Bild zu sehen sind. In der Fotografie von Bruce Gilden vermittelt sich auf eindrückliche Weise eine visuelle Spur der leiblichen Präsenz der Person, die schon durch Ausschnitt und Proportionen das Bild dominiert. Eine beleibte Person beansprucht ihren Platz in der Welt allein schon durch ihre materielle Anwesenheit. Das Hier und Jetzt dieser Person ist sichtbar und spürbar gefüllt, ihre Anwesenheit lässt sich nicht umgehen (siehe Abbildung 1). Doch die Wahrnehmung von Präsenz kann nicht nur durch Leibesfülle evoziert werden, sondern auch durch das Gegenteil von Fülle, durch Askese. Ein fastender Yogi, dünn und schmal, kann aufgrund des Mangels und der gesteigerten Selbstbeherrschung über eine geschärfte Aufmerksamkeit verfügen und dem Beobachter eine gesteigerte Präsenz vermitteln. Dagegen hat jemand, der körperlich anwesend, aber geistig abwesend ist, weil er z. B. im Halbschlaf ist oder Tagträumen
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Abb. 2 a-f: Fotografien von Christophe Agou: ›Life below‹ in der New Yorker Subway
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nachhängt, keine Präsenz in vollem Sinne. Im Fahrstuhl oder in der vollbesetzten Metro zum Beispiel nehmen Menschen ihre Geistesgegenwart, ihre Präsenz häufig zurück, um sich in der erzwungenen räumlichen Nähe nicht zu nahe zu treten. Sie blicken einander meist nicht in die Augen und kehren die Aufmerksamkeit nach innen (vgl. Abbildung 2). Ein merkwürdiges, faszinierendes Doppelspiel von Anwesenheit und Abwesenheit, von intimer Nähe und Unerreichbarkeit, ein Wechselspiel von Alltag und Imagination, von Grenzen und Grenzüberschreitungen, zeichnet die hier abgebildeten Fotografien von Christophe Agou aus. Das fotografische Bild selbst beinhaltet ganz grundsätzlich ein Spiel zwischen Anwesenheit und Abwesenheit, denn das Bild schafft einen sinnlichen Eindruck von einer Person (oder eines Dinges), die oder das nicht da ist. Für die oben abgebildeten Fotografien von Christophe Agou (Abbildung 2) gilt dieses Paradox aber gleich in doppelter Weise, da die Menschen, die auf dem Bild zu sehen sind, nah und fern zugleich scheinen, ihre Bewusstseinsspannung und ihre Präsenz sind vermindert. Es werden sehr alltägliche urbane Szenerien in der Subway gezeigt, und doch wird der Alltag gleichzeitig überschritten. Manche dieser Personen scheinen im Tagtraum noch von ihren nächtlichen Qualen verfolgt zu sein und einige erhoffen sich scheinbar Beistand von oben, von einer höheren Präsenz. Alle diese Personen sind in sich gekehrt, und doch schaffen es diese Fotos auf faszinierende Weise, nicht nur den Alltag, sondern auch das, was darüber und darunter liegt, sichtbar zu machen. Das Thema der Bilder ist der Alltag, und gleichzeitig auch Außeralltägliches. Die Bilder enthalten somit ein Paradox und ein Rätsel – jedes Bild auf seine Weise. Über die leibliche Anwesenheit hinaus verlangt Präsenz als Phänomen eine geistige Anwesenheit, die spürbar, aber nicht verfügbar, die gesammelt und fokussiert ist, sich in einem offenen Weltverhältnis zeigt, aber eigene Wege geht. Ein Mensch hat Präsenz, wenn er nicht nur Leib ist, sondern eine geistig-seelische Intensität vermittelt, die umso stärker wirken kann, wenn sie verhalten oder gezähmt ist: Wille, Wunsch oder Begehren; Schmerz, Not, Wut; Erfahrung, oder Weisheit – oder eine ganz spezifische Mischung solcher Anteile in der Individualität. Solch eine Präsenz soll manch gute SchauspielerIn auf der Bühne auszeichAbb. 3: Fotografie von Zanele Muholi, Serie nen. Selbst auf dem »technischen Bild« (vgl. ›Faces and Phases‹: »Ihre Geschichten Flusser 1983) vermittelt sich noch verhaltene bereiteten mir schlaflose Nächte, weil ich nicht wusste, wie ich mit den Nöten, von denen sie mir Intensität, verhaltene Freude oder verhaltener Schmerz, wie in Abbildung 3 deutlich wird. berichteten, umgehen sollte.«
Präsenz des Bildes – Präsenz im Bild
D ie besondere P r äsenz des K unst werks Da das Phänomen »Präsenz« ein sinnliches und in diesem Sinne auch ästhetisches Phänomen ist, eignet sich das Feld der Kunst ganz besonders zu seiner Untersuchung. Im Hinblick auf Wahrnehmung, Appräsentation und »Lesbarkeit« ist das Kunstwerk zu Recht mit menschlichen Personen verglichen worden, da doch beide in ihren Motiven und Ideen durch den Beobachter ergänzt werden müssen, um erschlossen zu werden. Dabei wird ein Schluss von der äußeren Hülle auf die innere Idee vorgenommen (vgl. Raab/Soeffner 2005). Beide Phänomene weisen trotz ihrer sozialen Strukturierung sehr individuelle Züge auf; sie sind beide im Allgemeinen durch Kenntnis konventioneller Zeichen lesbar und verständlich, und sperren sich doch gleichzeitig, entziehen sich der Lesbarkeit und Verständlichkeit.
Abb. 4: Installation von Doris Salcedo zur Biennale in Istanbul 2003
Das in Abbildung 4 abgebildete Kunstwerk von Doris Salcedo verfügt schon durch seine schiere Größe über eine massive Präsenz. Das Kunstwerk entzieht sich zunächst einer allzu leichten Deutbarkeit. Es spielt mit
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einem klassisch modernen Thema: mit der Ästhetik der Serie, der Masse. Doch bei genauerer Kenntnis ihres Werks erschließt sich ein wiederkehrendes Thema von Doris Salcedo: Individualität sowie die Negation von Individualität durch Fremdenhass und Gewalt. Die Stühle in ihrer Masse sind im Gesamten unterschiedslos, obwohl sie im Einzelnen charakteristische Besonderheiten aufweisen. Doch wurden sie scheinbar ohne Beachtung des Besonderen gleichgültig zu einem Haufen, einer Masse, aufeinander geworfen. Dieses Verhältnis nimmt der Betrachter schon beim ersten Blick sinnlich wahr, jedoch ohne es unmittelbar deuten zu können; es fügt dem Betrachter einen Stich, eine Verletzung zu, die sich dem Verständnis zunächst entzieht und die erst bei genauerer Kenntnis des Kontextes verständlich wird. Die Rahmung des Kunstwerks in der oben abgebildeten Fotografie (Abbildung 4) durch eine urbane Alltagsszenerie verhilft ihm durch diesen Kontrast zu einer zusätzlichen Dichte und Präsenz in der Bildwahrnehmung. Mit Heidegger können wir von einer besonderen Präsenz eines Kunstwerks sprechen (obwohl er den Begriff Präsenz selbst nicht verwendet). Während das Zeug vor allem zuhanden ist und deshalb die Verlässlichkeit und Verständlichkeit der Lebenswelt garantiert, gilt für das Kunstwerk gerade das Gegenteil: »Das Zeugsein des Zeugs besteht in seiner Dienlichkeit. […] Die Ruhe des in sich ruhenden Zeugs besteht in der Verlässlichkeit.« (Heidegger 2010 [1960]: 26 f.). Das Kunstwerk hingegen vermittelt eine Einsicht in eine Unverborgenheit des Seins, und wenn es gelungen ist, handelt es sich um ein Geschehen zur Wahrheit. Heidegger zeigt, wozu das Kunstwerk in der Lage ist, am Beispiel eines Gemäldes von van Gogh, das ein Paar Bauernschuhe darstellt; dieses hat den Vorteil, dass es gleich beides zeigen kann: den Charakter des Zeugs und den des Werkes. Die Bauernschuhe sind Zeug, sie sind Teil der Welt der Bäuerin (»In dem Schuhzeug schwingt der verschwiegene Zuruf der Erde …«, Heidegger 2010 [1960]: 27). Das Werk selbst aber, das Gemälde, gibt uns eine Einsicht in diese Welt der Bäuerin, in eine vorübergehende Unverborgenheit des Seins, denn die Wahrheit ist prinzipiell zunächst einmal verborgen. Es gibt nur wenige Wege, wie Wahrheit sich ereignen kann, und eine davon ist das Kunstwerk. Heidegger denkt hier zur Gänze phänomenologisch, wenn er das Kunstwerk als der Wissenschaft darin überlegen betrachtet, die Wahrheit des Seienden ans Licht, d. h. in die sinnliche Erfahrung zu bringen. Im Kunstwerk lastet der Stein und bekundet seine Schwere, die er dem Werk zur Verfügung stellt. Doch diese Schwere des Steins versagt sich jedem Eindringen. »Versuchen wir solches, indem wir den Fels zerschlagen, dann zeigt er in seinen Stücken doch nie ein Inneres und Geöffnetes« (ebd.: 43). Legen wir den Stein auf die Waage, so gewinnen wir vielleicht eine genaue Zahl, doch das Lasten selbst hat sich entzogen. Auch die Farbe leuchtet, doch wenn wir sie »verständig messend in Schwingungszahlen zerlegen, ist sie fort.« Die Erde lässt, wie alles Seiende, jedes Eindringen in sie an ihr selbst zerschellen: »Sie lässt jede nur rechnerische Zudringlichkeit in eine Zerstörung umschlagen« (ebd.). Das Kunstwerk hingegen stellt eine Welt (Idee, Kosmos) auf, indem Erde (Material) be-
Präsenz des Bildes – Präsenz im Bild
arbeitet wird. Darin wird Seiendes sichtbar: »Schönheit ist eine Weise, wie Wahrheit als Unverborgenheit« sich zeigt (ebd.: 55). Durch die Erfahrung, die das Kunstwerk vermittelt, wird der Standpunkt des Betrachters verschoben, seine Welt wird erschüttert: »In der Nähe des Werks sind wir jäh anderswo gewesen, als wir gewöhnlich zu sein pflegen.« (Ebd.: 29 f.) Eine ästhetische Erfahrung ist nach Heidegger nichts rein Subjektives; es sind hier nicht etwa primär Zuschreibungen am Werk; subjektiv ist vor allem die Fähigkeit, sich darauf einlassen zu können: »Es wäre die schlimmste Selbsttäuschung, wollten wir meinen, unser Beschreiben habe als ein subjektives Tun alles so ausgemalt und dann hineingelegt. Wenn hier etwas fragwürdig ist, dann nur dieses, dass wir in der Nähe des Werkes zu wenig erfahren und das Erfahren zu grob und zu unmittelbar gesagt haben.« (Ebd.) Das Kunstwerk erhält seine Präsenz durch seine besondere Stofflichkeit. Die Stofflichkeit des Zeugs verschwindet in seiner Dienlichkeit, es schmiegt sich der Vertrautheit und der Verlässlichkeit des Alltags an. Anders jedoch das Kunstwerk. Dieses lässt die Materie nicht verschwinden, sondern »im Widerstreit zwischen Welt und Erde«, zwischen Idee, gestaltender Hand und Stoff, das Material erst hervorkommen: »der Fels kommt zum Tragen und Ruhen und wird so erst Fels; die Metalle kommen zum Blitzen und Schimmern, die Farben zum Leuchten, der Ton zum Klingen, das Wort zum Sagen. All dies kommt hervor, indem das Werk sich zurückstellt in das Massige und Schwere des Steins, in das Feste und Biegsame des Holzes, in die Härte und den Glanz des Erzes, in das Leuchten und Dunkeln der Farbe, in den Klang des Tones und in die Nennkraft des Wortes.« (Ebd. 42)
Was bedeutet Präsenz in diesem Sinne? Die ästhetische Erfahrung des Kunstwerks vermittelt eine Unverborgenheit des Seins; das Werk ist ein Geschehen zur Wahrheit. Dies ist möglich, weil die Idee und Erfahrung, die dem Werk zugrunde liegt, in die Materie zurückgestellt wird und die Stofflichkeit durchdringt. Das Besondere an der ästhetischen Erfahrung ist, dass sie einen Moment der Versöhnung zwischen Stofflichkeit und Idee vermittelt und damit die ruhelose exzentrische Positionalität des Menschen (vgl. Plessner 1982) vorübergehend zur Ruhe bringen kann.
P r äsenz : E rschüt terung und G renzüberschreitung ? Das Phänomen Präsenz hat materielle, sinnlich-leibliche und geistige Aspekte. Vor allem aber ist es ein Phänomen, das im Zwischen, an verschiedenen Schnittpunkten liegt. Präsenz liegt am Schnittpunkt von zwei oder mehreren Beteiligten, am Schnittpunkt von Intensität des Ausdrucks und Intensität der Wahrnehmung. Präsenz spielt sich ab im Moment der Verknüpfung von Ausdruck und Wahrnehmung, in der Verknüpfung von Erkenntnissubjekt und -objekt, in der Verknüpfung von Erfahrung und Imagination auf der Darsteller- wie auch auf der Beobachterseite (vgl. auch
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Raab/Soeffner 2005). Es handelt sich um ein Phänomen, das präreflexiv und sinnlich-emotional ist, und doch spielt es sich nicht jenseits von Sinn ab. Gumbrecht hat zwar recht mit seiner Kritik, dass in dem üblichen latenten Konstruktivismus der Sozial- und Kulturwissenschaften der spezifische Eigenwert des Beobachtungsgegenstands und die leiblich-sinnliche Dimension der Wahrnehmung verlorengehen – hier muss man ihm ganz und gar zustimmen. Dennoch ist Präsenz nichts, was sich jenseits von Sinn und Bedeutung abspielt. Nur was Bedeutung hat, mag diese auch nicht festgelegt, sondern mehrdeutig sein und Unbestimmtheitszonen haben, kann in der Wahrnehmung Präsenz erlangen. Was sich in der Wahrnehmung aufdrängt, kann dies nur tun, weil es von Bedeutung ist. Eine Präsenzerfahrung setzt somit die Appräsentation nicht außer Kraft, den intuitiven Schluss vom Äußeren auf das Innere. Doch ist das Äußere wirklich vom Inneren getrennt oder sind es nicht zwei Phänomene gleichen Ursprungs? »Der Mitmensch verkörpert sich in meiner Gegenwart«, sein Körper ist nicht nur ein bloßes Außen, sondern ich erlebe ihn »als ein nach außen gekehrtes, im Augenblick sogar mir zugekehrtes Innen« (Schütz/Luckmann 2003 [1975]: 608). Die Appräsentation ist eben nicht als ein bewusst-kognitiver Vorgang zu denken, sondern analog zum erfolgreichen Werfen oder Fangen eines Balles, das auf implizitem Erfahrungswissen beruht: Wir berechnen nicht erst die komplexe Flugbahn des Balles im Kopf, um den Ball richtig zu werfen. Würden wir rechnen, so würden wir unser Ziel verfehlen. Es handelt sich um einen leiblichen Vorgang, der auf leiblichen Erfahrungen und einem Leib-Gedächtnis beruht. Gelingt das Werfen und Fangen, so kommt es zu einer gemeinsamen Wahrnehmung und zu einer gemeinsamen Handlung. Ebenso beim Phänomen der Präsenz. Im Moment der Wahrnehmung einer starken Präsenz kommt es zu einer Grenzüberschreitung, indem sich die Intensität des Wahrgenommenen und die Intensität der Wahrnehmung im sinnlichen, unmittelbaren (aber nicht voraussetzungslosen) Erleben treffen, und eine Einsicht in die »Unverborgenheit des Seins« freigeben. Die Grenzüberschreitung zwischen Ego und Alter, zwischen beobachtendem Subjekt und beobachtetem Objekt, ist als »mittlere Transzendenz« bezeichnet worden. »Seine Welt transzendiert notwendig die meine, wie nah wir uns auch sein mögen.« (Schütz/Luckmann 2003 [1975]: 603) Durch die Idealisierungen des Alltags (Reziprozität der Standorte und Perspektiven) sehen wir normalerweise von dieser Grenze, von der Differenz und Fremdheit zwischen Ego und Alter ab. Und in der Regel machen wir im Alltag Erfahrungen, die uns darin bestätigen. Man kann über diese Grenze nicht nur »hinüberblicken, sondern auch die dahinterliegende Landschaft in deutlichen Umrissen erkennen. Sie gleicht in ihren Hauptzügen der ihm vertrauten, heimatlichen.« (Ebd.) Diese Reziprozität der Perspektiven bildet die Grundlage unserer Verständigung in der alltäglichen Lebenswelt und sorgt für gelingende Kommunikation und vertrauensvolle Beziehungen. Doch wissen wir gleichzeitig auch von der prinzipiellen Fremdheit des Anderen, wir wissen, »dass sein Äußeres nicht alles Innere anzeigt und dass
Präsenz des Bildes – Präsenz im Bild
es unter bestimmten Umständen etwas anzeigen könnte, das gar nicht innen ist« (ebd.: 609). Bei Jean Paul Sartre und Emmanuel Lévinas finden sich systematische Überlegungen und phänomenologische Analysen zur transzendentalen Fremdheit zwischen Ego und Alter (Sartre 1993; Lévinas 1988; 1995). Im Erblicken des Anderen gibt es einen Moment der Fremdheit und der Selbsttranszendenz, mit dem sich diese beiden Autoren besonders beschäftigt haben: Durch den Blick des Anderen, der uns von außen trifft, wird der Mensch in seinem eigenen Bewusstseinsstrom erschüttert. Auf einmal nehmen wir wahr, dass es in der gegebenen Situation nicht mehr nur unseren eigenen Bewusstseinsstrom, nicht nur unseren eigenen Leib als Ort der Wahrnehmung gibt, sondern noch einen Anderen, mit einem anderen Leib, mit einem anderen Bewusstseinsstrom, der den unseren plötzlich fraglich erscheinen lässt. Dieser Andere macht uns zum Objekt seiner Wahrnehmung und stellt durch sein Subjekt-Sein unsere Selbstgegebenheit in Frage. Daraus folgt eine Irritation des Handlungsstroms, eine Unterbrechung des schieren Seins, ein existenzielles Zögern. Auf dieses Zögern können nun verschiedene Reaktionen folgen: Es gibt die schon erwähnte Möglichkeit, die spürbare Differenz zwischen Ego und Alter zu überbrücken durch die Annahme der Reziprozität der Standorte sowie durch Handlungen der Sakralisierung des anderen Selbst in Form von Ritualen der Ehrung und der Höflichkeit (vgl. Goffman 1986 sowie Yilmaz 2013). Mit den häufig gebrauchten Interaktionsritualen wird dieses Moment der radikalen Fremdheit zwischen Ego und Alter überbrückt und ein reibungsloses Funktionieren sozialer Situationen gewährleistet. Es gibt aber latent immer auch die Möglichkeit der Negation, der Ablehnung des Anderen mitsamt seiner Fremdheit, die sich bis zur Abwertung, Dehumanisierung und Gewaltausübung steigern kann – diese mögliche Reaktion auf das Moment der Fremdheit zwischen Ego und Alter manifestiert sich z. B. in den Handlungen und in der Ideologie des Fremdenhasses oder auch in Formen sexueller Gewalt von Männern gegen Frauen (vgl. dazu Yilmaz 2013). Insbesondere da, wo die Reziprozität der Perspektiven der alltäglichen Lebenswelt nicht mehr umfassend und selbstverständlich gegeben ist, wo die Erfahrung von Fremdheit schwerer zu überbrücken ist, steigt das Risiko einer dehumanisierenden Reaktionsweise. Der beschriebene Moment der Erschütterung des Seins enthält eine ethische Herausforderung – diese hat Emmanuel Lévinas in seinem Werk auf besondere Weise beschäftigt. Doch enthält dieser Moment auch eine ästhetische Herausforderung: Die Präsenzerfahrung zeichnet sich durch eine Erschütterung aus, durch einen Riss in der Selbstverständlichkeit der alltäglichen Lebenswelt. Erst dieser Riss in den Routinen der Lebenswelt ermöglicht es, den Anderen als Anderen wahrzunehmen. Dieser Moment wird in der Regel durch gesellschaftliche Regeln eingehegt und eingeklammert, zugunsten der Effizienz und Geschmeidigkeit des sozialen Austausches, doch behält er seinen Reiz des Außeralltäglichen, und die Selbsttranszendenz im Moment der Kopräsenz kann eine machtvolle ästhetische und sinnliche Erfahrung sein.
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Abb. 5 und 6: Performance ›The Artist is Present‹ von Marina Abramovich im MoMa 2010
Die Macht dieser ästhetischen Erfahrung der reinen Präsenz zeigt zum Beispiel die Performance ›The Artist is Present‹ von Marina Abramovich im Frühjahr 2010 im New Yorker Museum of Modern Art (Abbildungen 5 und 6, vgl. auch den gleichnamigen Film zur Performance). Dabei saß die Künstlerin zehn Wochen lang im Atrium des Museums und schwieg, ihr gegenüber ein Stuhl, auf dem Besucher Platz nehmen konnten. Abramovich erkundet in dieser Performance die Intensität des Moments und die Besonderheit des Anderen in einer puristischen Weise – lediglich, indem sie in einem karg gehaltenen Ambiente die gesammelte Wahrnehmung auf die Präsenz eines anderen Menschen richtet. Gesprochen wurde dabei nicht. Die erkennende und anerkennende Wahrnehmung evoziert bei den so Betrachteten eine Öffnung; sie riskieren, sich zu zeigen. Die Erschütterung des Seins im Moment der radikalen Wahrnehmung des Anderen wird sichtbar. Die Grenzüberschreitung zwischen Ego und Alter, zwischen erkennender und anerkennender Wahrnehmung und dem Sich-Zeigen kann in dieser Performance beobachtet werden. Eine derart intensive Erkundung der Präsenz scheint nur im geschützten Rahmen der Kunst möglich. In der alltäglichen Lebenswelt wird ein so intensives Aufeinandertreffen von Ego und Alter in der Regel aufgrund der darin enthaltenen Erschütterung vermieden – der Riss in der Lebenswelt wird normalerweise umgangen bzw. überbrückt, bevor er sichtbar wird.
Präsenz des Bildes – Präsenz im Bild
P r äsenz des B ildes Wir haben nun verschiedene Elemente von Präsenz näher bestimmt und folgern hier: Präsenz erfordert in der Regel eine leibliche Anwesenheit. Darüber hinaus ist eine geistig-emotionale Durchdringung des Leibes Voraussetzung für Präsenz. Das Phänomen Präsenz enthält das Risiko, sich zu zeigen, und doch unter Umständen eine Verhaltenheit, ein Rätsel, das nicht ganz aufgelöst wird, zurückzuhalten. Ebenso enthält das Phänomen der Präsenzerfahrung das Risiko einer Erschütterung der Wahrnehmung auf der Seite des Betrachters. Im Vorgang der Präsenzerfahrung findet eine Perspektivüberschneidung, ein Moment der Entgrenzung zwischen Ego und Alter statt. Doch wie verhält es sich mit dem Bild? Kann denn ein Bild, eine Fotografie, Präsenz vermitteln? Besitzt ein Bild eine eigene Präsenz? Interagiert es mit dem Betrachter? Das erste Kriterium für Präsenz, das wir oben bestimmt haben, ist im Bild nicht gegeben: Die Person, die auf einem Bild dargestellt ist, besitzt keinen Leib, sie ist leiblich nicht anwesend. Die Person im Bild konstituiert sich gerade im Paradox zwischen Anwesenheit und Abwesenheit. Das Trägermedium leiht dem dargestellten Körper sein »Fleisch« (MerleauPonty 1994), die dargestellte Person kann nur visuell betrachtet, nicht gehört, nicht gerochen, ihr Leib nicht tastend befühlt, ihre Körperwärme nicht gespürt, die Wärme der Stimme oder der Herzschlag nicht gehört werden. Die Wahrnehmung ist ganz auf den visuellen Sinn, auf das Auge und den Blick beschränkt. Dieses Faktum schmälert die Präsenzerfahrung natürlich außerordentlich. Hinzu kommt, dass eine Fotografie immer nur eine Momentaufnahme ist; die Person blickt uns an und der Blick kann vieles auslösen, doch eine weitere Dynamik des Blickwechsels, eine Geschichte, die offen ist und sich von zwei Seiten her entwickeln kann, bleibt versperrt. Trotz aller möglichen visuellen Raffinessen, die in der Geschichte des Bildes entwickelt wurden, bleibt es dennoch gefangen im immer gleichen Ausdruck, über den der Blick schweifen kann. Trotz dieses besonderen Könnens mancher Maler oder Fotografen, die versuchen, dem Bild als leiblicher Akteur möglichst nahe zu kommen, muss man festhalten: Das Bild hat eine Anwesenheit, die keine leibliche ist. Damit kann es zunächst einmal wenig von der Lebendigkeit, der Vitalität des Leiblichen vermitteln: Keine Wärme, keinen Herzschlag, auch nicht die »vielfach gebrochenen, gewendeten, gesteigerten Vibrationen des ›Lebens‹ (Triebe, Imaginationen, Sinnlichkeit, Bewegungen, Affekte, Aktionen etc.) in der exzentrisch-expressiven, raumgestaltenden ›Lebenswelt‹ der Menschen« (Fischer 2013: 29). Das Bild selbst ist ein kühles Medium. Es hat keine Wärme, es vermittelt keine Vitalität. Doch ist es der Vitalität des Lebendigen immer auf der Spur. Es gibt symbolische Verweise auf Vitalität im Bild: Das Rot der Lippen oder des Kleides. Die Farbe des Teints. Der Ausdruck von Gesicht oder von Körpergesten. Die in der visuellen Spur eingefangene Geschwindigkeit der Bewegung, z. B. in der Sportfotografie. Und immer wieder: Die Lebendigkeit des Blickes im Porträt. Das
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Porträt blickt uns an, und in diesem Blick ist die Spur der Lebendigkeit, der Vitalität, des spezifischen Seins der Person enthalten; insbesondere, wenn der Fotograf es vermag, den richtigen Moment zu finden und zu erzeugen. Das Risiko, sich zu zeigen. Das Rätsel der Person, das bestehen bleibt. Das sind zwei Kriterien, die auch in den Diskursen, was nun eine gute Fotografie bzw. ein gutes Porträt ausmache, eine Rolle spielen. Diese beiden Elemente sind nicht nur in einer »kopräsenten Präsenzerfahrung« von Bedeutung, sondern zeichnen eben auch eine gute Fotografie aus. Es liegt an der Fähigkeit des Fotografen, beides hervorzulocken und sichtbar zu machen, um damit eine visuelle Spur der Präsenz einer Person in der Fotografie zu generieren. Zusätzlich kann dieser Moment durch Ausleuchtung, Perspektive, grafischen Auf bau, durch den Einsatz technischer und ästhetischer Mittel intensiviert werden. Gerade durch das »Stillstellen« eines besonderen Moments und durch die Ausgestaltung dieses Seinsmoments – die ästhetische Idee, der Blick und das Können des Fotografen – können Verdichtung und Intensität gewonnen werden. Das Bild kann deshalb in manchen Fällen die leibliche Kopräsenz gar übertrumpfen – eben weil es stillhält und Abstand einhält und nicht im nächsten Moment den intensiven Eindruck wieder in sich zusammenfallen lässt, wie leibliche Körper es zu tun vermögen, absichtlich oder unabsichtlich. Eine kühle, objektivierte und stillgestellte Intensität zeichnet die Präsenz des Bildes aus.
Abb. 7: Dora Maar, Fotografin und Malerin, Freundin und Muse von Picasso, Fotografie von Man Ray
Präsenz des Bildes – Präsenz im Bild
Abb. 8: Pablo Picasso, Porträt von Dora Maar
Die Abbildungen 7 und 8 zeigen Porträts von Dora Maar, einmal fotografiert von Man Ray, einmal gemalt von Pablo Picasso. Beide enthalten visuelle Verdichtungen einer besonderen Wahrnehmung, eines besonderen Seinsmoments der dargestellten Person. Weder die Fotografie noch das Gemälde braucht hier den Vergleich mit dem jeweils anderen Bild zu scheuen. Die Malerei ist freier in ihren Mitteln, doch die Fotografie kann in diesem Fall die intensivere Präsenzerfahrung vermitteln. Roland Barthes schrieb: »Gewiß: Das Foto ist gefährlich.« (1985: 37) Warum ist die Fotografie gefährlich? Weil sie dem Zeitstrom einen Moment entreißt und diesen zu bewahren verspricht; sie versucht, das Verstreichen der Zeit selbst stillzustellen und damit die Vergänglichkeit, den Tod, außer Kraft zu setzen. Damit ist der Tod aber immer mit im Bild, in jeder noch so banalen Fotografie, so Barthes, denn einmal aufgenommen, ist jede Fotografie sofort Vergangenheit, da der lebendige Moment schon verstrichen ist. Die realistische Fotografie ist deshalb besonders paradox, da sie das Noema, das »Esist-so-gewesen« bezeugt und gleichzeitig zeigt, dass es nicht mehr so sein kann. Barthes spricht deshalb von der »Verrücktheit« der Fotografie. »In der Fotografie ist die Anwesenheit des Gegenstands (in einem bestimmten Augenblick, der vergangen ist) niemals metaphorisch; und was lebende Wesen angeht, auch nicht ihr Leben« (ebd.: 88). Deshalb vermag es ein
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Bild, uns zu erschüttern. Indem aber das dargestellte Reale in die Vergangenheit verlagert und gewissermaßen »eingefroren« wird, und zwar schon kurz nach der Aufnahme, erweckt die Fotografie den Eindruck, dieses sei bereits tot. Dies verwickelt die Fotografie in ein merkwürdiges Paradox: Die Abbildung einer Person bezeugt ihre Lebendigkeit und enthält zugleich den Verweis auf ihren Tod, befördert sie in einen der Geschichte und der Zeit entrissenen, eingefrorenen, luftleeren Raum. Wir schließen: Aus der Oszillation zwischen Lebendigkeit und Tod, zwischen Wärme und Kühle, zwischen Anwesenheit und Abwesenheit entstehen die besonderen Möglichkeiten der Fotografie. Es zeigen sich darin die Stärken, das Risiko und die Intensität der Fotografie. Das fotografische Bild enthält potentiell alle drei von Schütz und Luckmann beschriebenen Transzendenzen, die kleine, die mittlere und die große: Es überschreitet die räumlichen und zeitlichen Grenzen der Lebenswelt, es enthält die Vertrautheit und die Fremdheit angesichts der Erfahrung des Anderen und es überschreitet die Grenzen unserer Lebensspanne. Es enthält die drei Transzendenzen und stellt sie doch ganz in das Hier und Jetzt der sinnlichen visuellen Erfahrung zurück. Deshalb kann man mit Recht von der Präsenz einer guten Fotografie sprechen.
L iter atur Barthes, Roland (1985): Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Fischer, Joachim (2013): »Primat des Lebens vor der Konstruktion – Primat der Architektur vor dem Raum«, in: Erwägen – Wissen – Ethik, Forum für Erwägungskultur Jg. 24, Heft 1, S. 28–31. Flusser, Vilém (1983): Für eine Philosophie der Photographie, Göttingen: European Photography. Goffman, Erving (1986): Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Gumbrecht, Hans Ulrich (2004): Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Gumbrecht, Hans Ulrich (2012): Präsenz, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Heidegger, Martin (2010 [1960]): Der Ursprung des Kunstwerkes, Stuttgart: Reclam. Lévinas, Emmanuel (1988): Wenn Gott ins Denken einfällt, Freiburg: Alber Verlag. Lévinas, Emmanuel (1995): Die Zeit und der Andere, Hamburg: Meiner Verlag. Merleau-Ponty, Maurice (1994): Das Sichtbare und das Unsichtbare, München: Wilhelm Fink Verlag. Plessner, Helmuth (1982): Mit anderen Augen. Aspekte einer philosophischen Anthropologie, Stuttgart: Reclam.
Präsenz des Bildes – Präsenz im Bild
Raab, Jürgen/Soeffner Hans-Georg (2005): »Körperlichkeit in Interaktionsbeziehungen«, in: Markus Schroer (Hg.), Soziologie des Körpers, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Sartre, Jean Paul (1993): Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, Reinbek: Rowohlt. Schütz, Alfred/Luckmann, Thomas (2003 [1975]): Strukturen der Lebenswelt, Konstanz: UVK. Yilmaz, Yasemin Isabel (2013): Die Sakralisierung des Individuums in der Interaktion. Die Bedeutung der Empathie, des impliziten Wissens und der Kopräsenz im Sakralisierungsprozess. Unveröffentlichte Masterarbeit, Erlangen.
A bbildungen Abb. 1: Fotografie von Bruce Gilden. Quelle: Howarth, Sophie/McLaren, Stephen (2010): Street Photography Now, London: Thames & Hudson, S. 56. Abb. 2: Fotografien von Christophe Agou, »Life below« in der New Yorker Subway. Quelle: Howarth, Sophie/McLaren, Stephen (2010): Street Photography Now, London: Thames & Hudson, S. 16 f.; Internetseiten des Fotografen. Abb. 3: Fotografie von Zanele Muholi, Serie »Faces and Phases«. Quelle: Camera Austria 100/2007, S. 58. Abb. 4: Installation von Doris Salcedo zur Biennale in Istanbul, 2003. Quelle: Fotograf unbekannt http://todayinart.com/2008/06/untitledby-doris-salcedo abgerufen am 02.12.2015. Abb. 5: Performance »The Artist is Present« von Marina Abramovich im MoMa, 2010. Quelle: Fotograf unbekannt www.workloveplay.de/marinaabramovic-the-artist-is-present abgerufen am 02.12.2014. Abb. 6: Performance »The Artist is Present« von Marina Abramovich im MoMa, 2010. Quelle: Fotograf unbekannt www.affektblog.de/marinaabramovic abgerufen am 02.12.2014. Abb. 7: Dora Maar, Fotografie von Man Ray. Quelle: www.croatia.org/ crown/articles/10128/1 abgerufen am 02.12.2014. Abb. 8: Porträt von Dora Maar, von Pablo Picasso. Quelle: www.croatia.org/ crown/articles/10128/1 abgerufen am 02.12.2014.
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Zwischen Leben und Bild Zum biografischen Umgang mit Fotografien Roswitha Breckner Fotografien werden im Wohnbereich platziert, in Geldbörsen mitgetragen, CVs vorangestellt, in Fotoalben geordnet, per email ausgetauscht, auf Websites drapiert, in Begräbnisrituale eingebunden, in sozialen Netzwerken explosionsartig auch in eine Halböffentlichkeit oder Öffentlichkeit verbreitet. Es gibt viele Orte, an denen sogenannte Privatfotos gemacht, gezeigt, ausgetauscht und auf bewahrt werden. Vor diesem Hintergrund ist anzunehmen, dass der Gebrauch von Fotografien auch ein wesentlicher Bestandteil biografischer Prozesse ist. Über die spezifisch bildlichen Konstruktionsprozesse von Biografien wissen wir aber noch nicht sehr viel. Erste Anhaltspunkte sind in Untersuchungen von Richard Chalfen (1987) zu Praktiken privaten Fotografierens zu finden, die er in den 1980er Jahren anhand einer großen Zahl von Foto- und Filmbeständen sowie zahlreichen Interviews mit privaten Amateurfilmern und -knipsern vorwiegend aus amerikanischen Mittelschichtfamilien durchführte. Er fand heraus, dass Fotos und Filme meistens die Funktion hatten, eine lebensgeschichtliche Entwicklungsphase oder aber spezifische Situationen zu dokumentieren und damit ein »Reservoir von Erinnerungen« zu schaffen. Dafür müssen bei der Aufnahme und Betrachtung, im Sinne von Goffman (1980), bestimmte Bilder-Rahmen wirksam werden, damit in den Fotos und Filmen überhaupt etwas Sinnhaftes gesehen werden kann. Ein solches Rahmenelement – um nur eines der von Chalfen herausgearbeiteten zu erwähnen – ist etwa der Glaube daran, dass die fotografierte Szene »natürlicherweise« so stattgefunden hat, die Personen keine Schauspieler sind und der Ort keine reine Kulisse ist. Obwohl Chalfen in seiner Untersuchung einer lebensgeschichtlichen Perspektive etwa mit der Frage »how a person ›gets to appear in‹ snapshots from birth to death, and how this lifetime is transformed into photographic symbolic form« (Chalfen 1987: 75) sehr nahegekommen ist, blieb sein Blick eher auf normative Standards und Regelmäßigkeiten des Fotografierens gerichtet und nicht auf die konstitutiven Prozesse von Bildbiografien, die vornehmlich auch aus Fallrekonstruktionen zu erschließen wären. In diesem Beitrag möchte ich mich auf die Frage konzentrieren, welche Rolle Fotografien in biografischen Konstruktionsprozessen spielen.
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Ausgehend von zwei Beispielen aus der »traditionellen« und technologisch veralteten analogen Fotografie werden konzeptionelle Vorstellungen entwickelt, mit denen sich der digitale mediale Wandel als sozialer Wandel überhaupt erst erfassen ließe. Zunächst suche ich nach theoretischen Anhaltspunkten, in welcher Weise »Leben« und »Bild« in der Fototheorie verbunden sind. Anschließend thematisiere ich auf Basis narratologisch fundierter Biografietheorie die Spezifik der Selbstpräsentation in herkömmlichen privaten Fotoalben. Mit einem Ausblick auf unterschiedliche Modi des Bildgebrauchs in sozialen Netzwerken werden erste Überlegungen zu einem Vergleich zwischen herkömmlichen und netzbasierten bildbiografischen Präsentationsformen formuliert.
F ototheore tische A usgangspunk te Fotografien sind Philippe Dubois (1998) zufolge Ergebnis eines komplexen fotografischen Aktes, der die Erzeugung und Betrachtung einschließt und verschiedene Zeit- und Raumbezüge öffnet. Sie sind eingebettet in die Zeitund Räumlichkeit der Aufnahmesituation, in die Zeit- und Raumsituation, welche im Bild selbst sichtbar wird, sowie in den Zeit- und Raumkontext der Betrachtungssituation. Selbst wenn die Fotografie eine materielle Spur der Aufnahmesituation ist (im Sinne von Georges Didi-Huberman 2006 und Peter Geimer 2010), klafft – so Dubois und andere – ein gähnender Abgrund zwischen Aufnahme und Betrachtung, ebenso wie das Erinnern niemals das aktuale Erleben in einer vergangenen Situation gänzlich rekonstruieren kann, weil der Kontext des Erinnerns immer ein anderer ist als der des unmittelbaren Erlebens und Handelns. Und dennoch verbinden uns Fotografien mit einer uneinholbaren Vergangenheit in besonderer Weise, auch wenn sie Personen, Situationen und Kontexte zeigen, die wir selbst so nicht erlebt haben. Diese Verbindung ist, folgen wir Roland Barthes’ (1989) Konzept des punctums, eine gegenüber der Narration spezifische, die er im viel zitierten Satz wie folgt zusammenfasst: »Worauf ich mich in einer Fotografie intentional richte […], ist weder die Kunst noch die Kommunikation, sondern die Referenz, die das Grundprinzip der Fotografie darstellt. Der Name des Noemas der Fotografie sei also: ›Es ist so gewesen‹ oder auch: das Unveränderliche.« (Barthes 1989: 87)
Da das punctum ein radikal subjektives Geschehen ist, löst es nicht jede Fotografie aus, und da, wo sie es tut, tut sie es nicht für jedermann. Und dennoch ist für Barthes die Potenzialität des punctums mit seiner spezifischen Indexikalität für das Wesen der Fotografie bestimmend. Selbst wenn die Fotografie, wie Chalfen und andere herausgearbeitet haben, mit ihren vielfältigen Informationen über eine vergangene, mehr oder weniger fotografisch gestaltete Situation vor allem die Funktion erfüllen soll, Erinnerungen zu erzeugen und zu bewahren, ist ihr punctum, so es denn stattfindet, nicht Erinnerung im Sinne des vorstellig Werdens von etwas
Zwischen Leben und Bild
Erlebtem, sondern blitzartige, potentiell überraschende, beglückende, irritierende oder aber verstörende Erkenntnis – ja gar eine fetischverdächtige Re-Animation des Referenten. Marianne Hirsch (2002 [1997]) hat die Herstellung familialer Beziehungen über und mit Fotografien, insbesondere zwischen verschiedenen Generationen, als spezifisches visuelles Feld erkundet. Sich selbst in einem mit und in Fotos visuell hergestellten familialen Feld zu platzieren ist ihr zufolge der Kern der Aktivitäten beim Aufnehmen, Betrachten und der spezifischen Verwendung von Fotografien. Im Anschluss an Lacan und Barthes argumentiert sie, dass in Fotografien der Blick der Anderen auf mich sichtbar wird. Mein eigener irritierter Blick auf mein fotografisches Selbst wird so relativiert und wieder in eine soziale Beziehung rückgebunden. Schließlich sind, so Hirsch, einzelne Fotos ebenso wie Fotoalben in einen Narrationszusammenhang in Form mündlich oder schriftlich erzeugter (Familien-)Geschichten eingebettet, die die fotografischen Bildfragmente in einem über sie hinausweisenden Sinnzusammenhang verknüpfen. Zusammen mit den Kommentaren und erzählten Geschichten, die in der Regel die Fotos zeitlich und räumlich verorten und damit ihre Polysemie reduzieren, entstehen imagetexte im Sinne von W. J. T. Mitchell (1994). Von ihnen erwarten wir, so Hirsch und Spitzer in einem Aufsatz zum »Erinnerungspunktum«, uns ein Bild der Vergangenheit – insbesondere einer, die wir selbst nicht erlebt haben, die aber Teil unserer Biografien ist – nicht nur zu vermitteln, sondern auch zu bestätigen, und wir sind irritiert und enttäuscht, wenn sie das nicht tun (Hirsch/Spitzer 2005). Fotografien erzeugen mithin, aber nicht umstandslos, ein Bild einer Vergangenheit, von der sie eine Spur sind, und damit auch eines von uns selbst. Sie sind allerdings nicht gleichzusetzen mit einer im Erzählen vorstellig werdenden und geformten Erinnerung. Vielmehr tritt eine BetrachterIn einer Fotografie als bereits fixierte Gestalt gegenüber, in der sich verschiedene Handlungen und Perspektiven manifestiert haben und überkreuzen. Auch die unterschiedlichen Zeitbezüge der Fotografie können nicht umstandslos sinnhaft entschlüsselt werden. Fotos lösen demnach nicht unbedingt Erinnerungsprozesse aus, sondern konfrontieren mit einer uneinholbaren vergangenen Situation, einem uneinholbaren Selbst, aus der sie bzw. von dem sie eine Spur sind. Es werden indexikalische Verweise auf Ort, Zeit und Situation der Aufnahme, auf Interaktionszusammenhänge und unter Umständen auch auf ganze Handlungsabläufe sichtbar. Die indexikalischen Verweise erzeugen aber nicht bruchlos ein imaginatives Erinnerungs- oder Selbstbild, respektive fügen sich in ein solches ein. Dies muss bei der Betrachtung vielmehr immer wieder hergestellt werden und bleibt letztlich fragmentarisch und fragil. Dennoch öffnen Fotografien durch die Art ihrer Fixierung, durch die Aufnahmetechniken, die Posen und ihre symbolischen oder emblematischen Verweise, einen ganz spezifischen, nämlich bildlichen Zugang zu ebendiesen Vergangenheiten. Als »Spur« sind sie unmittelbar mit dem gelebten Leben verbunden, als Papierabzug sind sie reines Bild.
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So weit der Stand fototheoretischen Wissens, das sich mit biografietheoretischen Überlegungen (exemplarisch Schütze 1981) verknüpfen lässt. Dies möchte ich im Folgenden anhand eines herkömmlichen Fotoalbums verdeutlichen.
B iogr afische B ildordnungen in privaten F otoalben Für die Analyse biografischer Bezüge in Fotografien und Fotoalben scheinen mir zwei Aspekte besonders relevant. Zum einen gestalten sich in den Blickbeziehungen mit »sich selbst« biografische Bezüge. Zum anderen geht es darum zu rekonstruieren, inwiefern die Zusammenstellung von Fotografien im Rahmen eines herkömmlichen Fotoalbums narrativen, thematischen sowie bildlichen Prinzipien folgt, und wie diese miteinander verwoben sind.
Der Blick in das eigene Gesicht Dieses Porträtfoto eines etwa zehnjährigen Jungen forderte ihn zu einem späteren Zeitpunkt seines Lebens, als er es in ein Fotoalbum aufnahm, zu einem Kommentar heraus: »Man zwang mich damals schon zum Lächeln«. In Anbetracht seines Gesichtes erscheint ihm das Lächeln nicht als ein der fotografischen Situation entsprungener Gesichtsausdruck. Vielmehr wird es – wenn auch etwas ironisch – als etwas sich Wiederholendes und womöglich für sein ganzes Leben Charakteristisches wahrgenommen (vgl. Breckner 2013; 2014). Auf jeden Fall verweist der Kommentar darauf, dass das Foto für den Betrachter ein Dokument seiner selbst ist, das ihn nicht nur zu einem früheren Zeitpunkt zeigt, sondern möglicherweise auch als punctum im Sinne von Barthes fungiert, das ihn »trifft«, weil er »etwas« – das Lächeln – darin sieht, womit er »sich« erkennt. Das Foto wird so zu einem Spiegel, mit dem ein Selbstbild erzeugt, korrigiert und verändert wird. Im Unterschied zu einem Spiegel ist dieses Bild aber nicht beweglich und auch nicht flüchtig, sondern fixiert, und kann sich einer Integration in ein schon etabliertes Selbstbild auch widersetzen. Das Foto als sichtbare Spur seiner selbst verspricht zwar Gewissheit darüber, »dass man da gewesen ist«. Die Ironie im Kommentar zu diesem Foto zeigt aber gleichzeitig, dass die Evidenz des Sichtbaren fragil bleibt und die hohe Erwartung an die Fotografie, zu zeigen »wer man ist«, nicht ganz erfüllt wird. Dennoch ist anzunehmen, dass der Blick auf sich selbst und insbesondere in das eigene Gesicht in einer PortAbb. 1: Porträt mit Kommentar
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rätfotografie ein wesentlicher Akt der Konstruktion eines Selbstbildes darstellt. Dies legen auch Überlegungen zur Bedeutung des Blicks (exemplarisch Belting 2006) und insbesondere auch zur Ästhetik des Gesichts bei Simmel nahe. Simmel zufolge ist das Gesicht »das Symbol all dessen, was das Individuum als die Voraussetzung seines Lebens mitgebracht hat, in ihm ist abgelagert, was von seiner Vergangenheit in den Grund seines Lebens hinabgestiegen und zu beharrenden Zügen in ihm geworden ist. […] Das Gesicht bewirkt, dass der Mensch schon aus seinem Anblick, nicht erst aus seinem Handeln verstanden wird« (Simmel 1992; zuerst 1908: 725).
Wir versuchen am Gesicht jemand anderen zu »erkennen«, und zwar über das schlichte »Wiedererkennen« einer Person hinaus, auch deren charakteristische Züge, das, was sie nicht nur situativ »ausmacht«, obwohl wir wissen, dass das nie ganz gelingen kann. Angeblickte und Blickende sind in einer direkten Wechselbeziehung unmittelbar aufeinander bezogen. Prinzipiell stellen sich Blickbeziehungen auch in und mit Bildern her (Belting 2006), so dass man davon ausgehen kann, dass beim Blick in das eigene Porträtfoto ein unmittelbarer Blickbezug zu sich selbst entsteht. Zugleich sehen wir uns, auf der Suche nach uns selbst, immer mit den Augen der »Anderen«.
Die narrative (Un-)Ordnung eines Fotoalbums In der Regel sind »traditionelle« Fotoalben lebenschronologisch sowie thematisch geordnet und suggerieren dadurch, eine Geschichte zu erzählen. Dass das Konzept der Narration nicht ohne weiteres auf Fotoalben zu übertragen ist, zeigt folgendes Beispiel (Abb. 2). Dennoch werden hier, trotz einer rein zufällig erscheinenden Anordnung von Fotografien aus verschiedenen Lebensphasen und -bereichen, biografische Bezüge sichtbar. Aus dem Kontext dieser Albumseite geht hervor, dass es sich hier um Fotografien ein und derselben Person handelt. Es sind Fotos aus dem Babyalter, der Jugendzeit und aus dem Erwachsenenalter bildlich miteinander in Beziehung gesetzt. Die Anordnung wirkt zunächst zufällig, eher durch die Formate als durch thematische Bezüge bestimmt. Die grafische Gestaltung ist zwar nicht sehr akkurat ausgeführt, aber deutlich erkennbar. Schiefe Kanten einiger Fotos lassen auf eine gewisse Hast oder gar Unruhe beim Fixieren in den stark sichtbaren Fotoecken schließen. Dies weist nicht auf eine überlegte und durchkonstruierte Gestaltungsabsicht. Dennoch entstehen in der Anordnung thematische Bezüge. Das Foto des Kleinkindes auf dem Arm einer Frau besetzt die Mitte und wirkt durch den nahezu gleichen Abstand der angrenzenden Fotos von diesen eingerahmt. Rechts und links davon ist ein junger Mann als »Halbstarker« in ausgeprägt männlichen Posen zu sehen. In der unteren Fotoreihe befinden sich Fotos aus unterschiedlichen Lebensphasen und Lebenskontexten: links drei Männer in freundschaftlicher Umarmung vor einem Hauseingang posierend, rechts eine Gruppe von vier Männern beim Kartenspie-
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Abb. 2: Albumseite mit Fotografien aus verschiedenen Lebensphasen und -bereichen
len. Das mittlere Foto sieht nach einem Urlaubsfoto aus und zeigt einen erwachsenen Mann in einer ebenfalls männlichen Pose. Die auf dieser Albumseite gestaltete bildbiografische Ordnung zeigt zweierlei, was sich meines Erachtens verallgemeinern lässt. Sie stellt sowohl chronologisch-zeitliche Bezüge her und zeigt zugleich die simultane Präsenz von verschiedenen Bildern eines Selbst. Durch Letzteres unterscheidet sie sich von der sequenziellen und vorwiegend aus einer Gegenwartsperspektive heraus strukturierten narrativen lebensgeschichtlichen Ordnung. Die Seite wirkt durch diese Zusammenstellung wie eine Bilanzierung eines Lebens zu einem bestimmten Zeitpunkt anhand fotografischer Momente, deren Verfügbarkeit kontingent ist und die erst in einem Narrativ miteinander zu verbinden wären. Vermutlich haben wir es mit einer Zusammenstellung verschiedener (männlicher) Selbstbilder im Übergang von der Adoleszenz ins Erwachsenenalter zu tun. In diesem Zusammenhang würde auffallen, dass hier eine weibliche und keine männliche oder gar väterliche Figur auftaucht, die als Bezugspunkt für eine adoleszente Thematisierung der eigenen Männlichkeit dienen könnte. Auf jeden Fall ist die Selbstdarstellung als Mann in der Überlappung verschiedener Bilder (»Halbstarker«, »Kumpel«, »Urlauber«, »Freund«) durch die Bildanordnung auf das »Babyfoto« bezogen. Damit wird eine zeitliche Perspektive eingeführt und die Sehweise nahe gelegt, dass aus dem klei-
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nen Kind im Arm einer Frau ein »richtiger Mann« geworden ist. Die Seite kann sowohl als simultanisierte Überlagerung verschiedener Selbstbilder, als auch als deren zeitliche Sukzession gesehen werden. Die Albumseite selbst hat dadurch die spezifischen Eigenschaften eines Bildes, nämlich ihre Sinn- und Bedeutungsbezüge sowohl in der Simultanität der Sichtbarkeit der verschiedenen Elemente als auch sukzessive im Prozess der Wahrnehmung in einem narrativen Vorstellungsraum zu entfalten (vgl. exemplarisch Boehm 2007). Inwiefern ein Albumbild – in diesem Fall eine als Bild gestaltete Albumseite – und eine lebensgeschichtlich angelegte Narration nicht kongruent sein müssen, also die Verbindung zwischen einer Fotosammlung und einer (Lebens-)Geschichte »haken« kann, zeigt ein Kommentar des Albumgestalters zu der gezeigten Albumseite im Rahmen eines lebensgeschichtlichen Interviews. Das Interview fand statt, als er bereits das 50. Lebensjahr überschritten hatte. Der Kommentar zu dieser Seite lautet: »IP: des is’n bisschen durcheinander gekommen, das ist die ›Mi‹. da bin ich hier am [X-Platz] übrigens, […] typischer Halbstarker, ja (1) da war kein Weib vor mir sicher furchtbar. war schön = war schön = schön ((leise)) ((lachen)) I: waren Sie berühmt berüchtigt. IP: ja. des war in X-Ort, direkt an der Isar, ja, ein eiskaltes Wasser, ganz schlimm (1) da hat mich mein Kumpel aufgenommen. da war ich beim Bund ja. des is 56 und zwar da fing das an und für sich an, ist n bisschen durcheinander gekommen des hätt’ ich n bisschen nach da ordnen müssen die paar Bilder da, aber is nich so schlimm«
Die Ordnung der Albumseite kann im Rahmen der biografischen Erzählung nicht als in sich sinnhafte rekonstruiert werden. Vielmehr werden einzelne Fotos indexikalisch kontextualisiert (»das ist die ›Mi‹. da bin ich hier …« etc.), in einen außerbildlichen lebensgeschichtlichen Kontext versetzt (»da war kein Weib vor mir sicher«) und evaluiert (»war schön = war schön = schön«). Es taucht auch eine leibliche Erinnerung (»ein eiskaltes Wasser«) und eine an die Aufnahmesituation (»da hat mich mein Kumpel aufgenommen«) auf. Sogar ein Erzählansatz ist vorhanden (»da war ich beim Bund ja. Des is 56 und zwar da fing das an und für sich an«). Dieser wird aber mit dem Kommentar zur gesamten Seite (»ist n bisschen durcheinander gekommen …«) sofort wieder abgebrochen. Trotzdem die Gesamtordnung aus der Situation ihrer Betrachtung im Rahmen eines narrativen Interviews nicht mehr stimmig erscheint, wird sie in der End evaluation dennoch nicht ganz verworfen (»aber is nich so schlimm«). Als bildliche Ordnung mag sie bestehen bleiben, auch wenn sie sich einer aktual erzählenden nicht nahtlos einfügt. Dies mag erklären, wieso Fotoalben nicht unbedingt Narrationsgeneratoren sind, selbst wenn darin Fotos lebenschronologisch geordnet werden. Die Erfahrungen in einem Ausstellungsprojekt haben gezeigt, dass Fotos vor allem benennend und evaluierend kommentiert werden: »Das ist der und der, das war dort und dort, dann und dann«. Generell kann
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daraus geschlussfolgert werden, dass auch Serien von Fotos in der Regel eher Beschreibungen und deiktische Ausrufe (»Schau« Tante Maria! Wie süß sie damals war …) evozieren als komplexe Narrationen. Sie sind zwar in solche – wie Marianne Hirsch mit Bezug auf Mitchell argumentiert – im weitesten Sinne eingebettet. Auf die Fotos selbst wird aber nicht unbedingt erzählend Bezug genommen. Die Erinnerungen, die mit ihnen auftauchen, bleiben vielmehr momenthaft, Erzählansätze werden von anderen Fotografien, die auf einer Albumseite gleichzeitig zu sehen sind und mit anderen Geschichten und Assoziationsketten verbunden sind, abgelenkt, unterbrochen, überlagert.
B ildgebr auch in S ozialen N e t z werken – eine F ortse t zung des herkömmlichen F otoalbums ? Anzunehmen ist, dass diese (Un-)Ordnungsstruktur im biografischen Bildgebrauch etwa in sozialen Netzwerken noch deutlicher zum Vorschein kommt. Erste umfassende Untersuchungen von Profilbildern sowie von Fotoalben in Facebook zeigen, dass biografische Bezüge vor allem zur Adoleszenz als Lebensphase auch hier sehr deutlich ausgeprägt sind (Neumann-Braun/Autenrieth 2011). Untersuchungen, die auf Familienalben im Netz fokussieren, weisen darauf hin, dass sich der Gestaltungspielraum und vor allem die Verbreitung von Alben und Kommunikationsformen im Zuge der Entwicklung medialer Möglichkeiten vervielfältigt haben, die soziale Funktion sich aber ähnlich gestaltet wie sie bereits Chalfen beschrieben hat (vgl. exemplarisch Pauwels 2008; Keightley/Pickering 2014). Wie Prozesse der Konstruktion von Biografien mit und durch den Gebrauch von Fotografien im Einzelnen in diesem medialen Rahmen beschaffen sind, gilt es aber noch herauszufinden. Eine erste biografisch-fallrekonstruktiv angelegte Sichtung von etwa fünfzehn facebook accounts zeigt, dass auch aus biografischer Perspektive auf den ersten Blick keine tiefgreifenden Strukturveränderungen in der Selbstpräsentation zu beobachten sind. Die (auswechselbaren) Profilbilder sind als Form der Kommunikation des (veränderlichen) Selbst zu verstehen, die sowohl einen Blickbezug mit anderen als auch mit sich selbst aus der Perspektive der Anderen herstellt (vgl. Uimonen 2013). Die funktionalen Ähnlichkeiten zum herkömmlichen Porträtfoto scheinen schwerer zu wiegen als die Annahme eines tiefgreifenden Wandels. Auch die auf Facebook gestalteten Fotoalben folgen thematischen wie chronologischen Ordnungen, die sich von den herkömmlichen Alben nicht prinzipiell unterscheiden. Die Alben werden nach bestimmten Ereignissen und Themen zusammengestellt und zeigen zugleich die Chronologie, in der die Fotos gepostet wurden. Wesentliche Unterschiede, die mit den Möglichkeiten des Mediums verbunden sind, bestehen a) in der größeren Gestaltungsvielfalt durch die digitale Fotografie und ihre computergestützten Bearbeitungsmöglichkeiten; b) in der Menge der gemachten und verbreiteten Fotos; und schließlich c) in ihrer Verbreitung in eine Halböffentlichkeit und Öffent-
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lichkeit, die auch andere durch Bilder kommunizierte Themen – wie z. B. politische Statements – relevanter werden lässt. Bildbiografische Prozesse sind an der Schnittstelle von privat und öffentlich mit anderen Themen enger verwoben und gewinnen eine vorher nicht gekannte alltägliche Dichte. Welche Auswirkungen das auf die Konstruktion von Biografien haben wird, gilt es erst herauszufinden. Zu vermuten ist, dass eine spezifische und möglicherweise auch neue Dynamik zwischen Zeigen und Verbergen, Präsenz und Absenz, Vergangenheits- und Gegenwartsbezügen entsteht, die es fallweise zu erkunden gilt. Die im herkömmlichen Fotoalbum stattfindende biografische Gestaltbildung durch selektive Relevanzsetzungen aus einer bestimmten Gegenwartsperspektive mit Fotos als Spuren aus der Vergangenheit wird vermutlich nicht gänzlich ersetzt. Eine erste Sondierung zeigte, dass das Bedürfnis oder gar die Sehnsucht nach einem herkömmlichen Album bleibt, wenn nicht sogar größer geworden ist.
R esümee Aus biografischer Perspektive zeigen Fotografien situative, hyperritualisierte Darstellungen im Goffman’schen Sinne von uns selbst und unseren sozialen Bezügen (vgl. auch weiterführend Raab 2012). Sie sind Spuren einer fotografischen Situation die bezeugen, dass etwas »so« gewesen ist. Als Betrachter verstricken sie uns in Ereignis- und Handlungsbezüge, die in eine andere Zeit hineinragen. Indexikalische Verweise auf räumliche, lokale, zeitliche Kontexte, symbolisch-stilistische Formen ritualisierter Situationen und Bilderrahmen (Goffman) zeigen einerseits mehr als in narrativen Darstellungen vergegenwärtigt wird und werden kann. Andererseits bleiben sie Fragment eines Augenblickes, das sich nicht umstandslos »lesen«, verstehen und in eine Geschichte einordnen lässt. Der Sinn und die Bedeutung, die mit diesen Spuren verbunden werden, sind unhintergehbar an subjektive Akte der Betrachtung gebunden, in denen ein Foto zwar auch in bereits bestehende narrative Zusammenhänge eingebettet wird, potentiell aber auch eine blitzartige Erkenntnis, ein punctum nicht zuletzt auch in Bezug auf sich selbst, auslösen kann. Die Spur einer früheren Aufnahmesituation verbindet uns, selbst wenn ihre damalige Bedeutung uneinholbar ist, imaginär wie emotional mit einer Vergangenheit, die nicht mehr oder noch nicht Bestandteil einer sprachlich geformten Erinnerung ist, sei es, dass wir sie »vergessen« haben oder uns so nicht daran erinnern, oder sei es, dass wir sie nicht selbst erlebt haben. Sie führen uns nicht zuletzt körperleibliche Bezüge eines vergangenen Selbst sowie Näheund Distanzverhältnisse zwischen Personen und Objekten vor Augen (vgl. exemplarisch Breckner 2010: 125–178). Inwiefern durch den Gebrauch von Fotos in sozialen Netzwerken diesbezüglich Verschiebungen von einem Vergangenheits- zu einem stärkeren Gegenwartsbezug stattfinden, bleibt zunächst hypothetisch. In den herkömmlichen biografischen Bildordnungen haben wir es in der Regel mit selektiven Aufnahmen und Zusammenstellungen zu tun, die
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nur teilweise oder auch gar keine sequenzielle Ordnung zu erkennen geben. Fotosammlungen haben mithin einen fragmentarischeren Charakter als biografische Erzählungen, ihre Ordnungsprinzipien sind kontingenter und stellen sich – so wie Blicke generell (vgl. Engelbrecht/Betz/Klein/Rosenberg 2010) – nicht nur sequenziell oder gar linear, sondern »sprunghaft« her. Dieser Aspekt wird durch die Praktiken der Verwendung von Fotografien mit den neuen medialen Möglichkeiten vermutlich noch verstärkt. Generell zeigen Porträtfotos wie Fotoalben einerseits weniger und andererseits mehr als eine erzählte Lebensgeschichte. Sie erzeugen eine andere Art von Evidenz, die mehr in der Sichtbarkeit als in narrativen Prinzipien verankert ist. Sie zeigen und beweisen, dass dieses Leben stattgefunden hat, dass bestimmte soziale Beziehungen in bestimmten Situationen existiert haben. Gleichzeitig widersetzen sie sich etwas zu zeigen, was wir in ihnen suchen, nämlich eine Verbindung zwischen den verschiedenen, nur fragmentiert sichtbaren Ereignissen, Bildern, Lebensphasen und -kontexten als sinnhafte und kohärente Lebensgeschichte. Fotoalben oder andere Formen der Zusammenstellung lebensgeschichtlich relevanter Fotobestände sind in paradoxer Weise einerseits eine Spur gelebten Lebens und ein »Reservoir von Erinnerungen« (Chalfen), mit dem wir uns unserer selbst und unserer Lebensgeschichten versichern. Zugleich führen sie uns mit ihrer Kontingenz die Fragilität unserer biografischen Konstruktionen vor Augen – auch das ein Aspekt, der sich durch Facebook möglicherweise verstärkt.
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A bbildungen Abb. 1: Privates Fotoalbum, Ausschnitt aus S. 5. Abb. 2: Privates Fotoalbum, S. 12.
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Digitale Alltagsfotografie und visuelles Wissen1 Bernt Schnettler
»N euer S ervice bei defek ter S pange « Unter der Post, die den Weg in unseren Briefkasten findet, zählen Briefe vom Kieferorthopäden unserer jüngsten Tochter zu den weniger ersehnten Schreiben. Meistens sind es nur Rechnungen. Anders der letzte. Ihm ist ein buntes Informationsblatt beigefügt, das von der herausgebenden Gemeinschaftspraxis etwas prätentiös zum »praxis-letter« geadelt wird. Es enthält eine bemerkenswerte Botschaft und ist mit dem Titel »Neuer Service bei defekter Spange« versehen. Darunter ist ein kaum als geschmackvoll zu bezeichnendes, aber umso wirksamer platziertes Beispielfoto zu sehen. Es zeigt das Oberteil einer im Volksmund versimpelt »Klammer« genannten Spezialapparatur mit abgebrochenem Metallbogen. Neben der Abbildung lese ich folgende Erläuterung: »Ab sofort finden Sie auf unserer Homepage unter dem Menüpunkt ›Hilfe‹ eine Anleitung wie Sie vorgehen können, um zu erfahren, wie Sie sich bei einer defekten Spange verhalten sollen.« Diese Erläuterungen finden sich auf einer werbeblattähnlich gestalteten Beifügung zur unvermeidlichen Rechnung. Normalerweise hätte mich nichts davon abgehalten, das überflüssige Blatt rasch zu entsorgen, wäre mein Blick nicht auf den links neben besagtem Foto formulierten Anweisungen haften geblieben. Rhetorisch geschickt ist dort in Anlehnung an eine Mischung aus Gebrauchsanweisung und Werbebotschaft folgende Dreierliste abgedruckt: »Die Vorgehensweise ist einfach: 1. Foto der defekten Spange anfertigen. 2. Bild an [email protected]. 3. Wir antworten kurzfristig per Mail, ob der Patient einen Termin zur Reparatur braucht oder nicht.« Die Instruktion wird abgerundet mit dem nützlichen Verweis, auf einer Hilfeseite der Homepage des Kieferorthopäden fänden sich neben Tipps zum Anfertigen der Fotos auch Beispielfotos defekter Spangen. Nun sind bei uns kaputte Spangen eigentlich nie ein Problem. Jedenfalls viel weniger, als die nachlassende Bereitschaft der Patientin, den fach1 | Für wertvolle Hinweise danke ich Thorsten Szydlik, Niklaus Reichle und Thomas Eberle.
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lichen Verordnungen zum Tragen Folge zu leisten. Auch liegt die Praxis nur wenige Schritte entfernt um die Ecke, was eine derart aufwändige digitale Datenübertragung kaum rechtfertigen würde. Es war eher die mit dem dargestellten Verfahren verbundene neue Kommunikationsform, die meine Aufmerksamkeit anzog. Der Grad an technischer Sophistiziertheit des hier vorgeschlagenen Verfahrens ist wohl fraglos bemerkenswert. Denn es würde ohne die Allverfügbarkeit fotografischer Apparate, eine ausgebaute elektronische Kommunikationsinfrastruktur und eine in der Bevölkerung offenbar breit vorhandene alltagsfotografische Kompetenz gar nicht funktionieren können. Mithin bietet dieses Fundstück ein geradezu paradigmatisches Beispiel dafür, was ich im Folgenden unter dem Begriff digitale »Alltagsfotografie« in den wissenssoziologischen Blick rücken will. Damit frage ich, welche Rolle fotografische Erzeugnisse, die vornehmlich mit digitalen Kameras hergestellt und verbreitetet werden, in der Alltagsverwendung für die heutige Wissenskommunikation spielen. Wissenskommunikation soll dabei in einem breiten Sinne verstanden werden. Sie beschränkt sich nicht auf die Gehalte und Formen fachspezifischer Spezialwissensbestände. Vielmehr schließe ich hier all diejenigen Formen der »Wissenskommunikation« ein, die eine sehr viel allgemeinere, alltägliche Art und Weise der Kommunikation mit Bildern bezeichnen. In den Blick genommen werden dabei jene durch heute verfügbare mobile Geräte miterzeugten alltäglichen Handlungsweisen, bei denen die Aufnahme digitaler Fotos und deren Verschicken oder Vorzeigen andere, vormals bildfreie Handlungen begleitet oder ersetzt. Das geschieht etwa beim Einkaufen, beim Anlegen »visueller Notizen«, bei der Dokumentation von Fehlern im Zuge von Reklamationen oder ähnlichen Aktivitäten. Wissenssoziologisch stellt sich die Frage, inwiefern diese neuen fotografischen Handlungen etablierte Kommunikationsformen und Interaktionsordnungen verändern. Technologisch ist dies an eine Innovation geknüpft. Zwar reicht die Geschichte digitaler Fotografie, deren Popularisierung bereits zuvor eingesetzt hatte, schon einige Jahrzehnte zurück. Mit dem Verkaufserfolg von Smartphones hat die Ubiquität digitaler Fotografie jedoch eine neue Stufe erklommen. Die erst wenige Jahre alte Entwicklung ist von so großer Rasanz gekennzeichnet, dass alle nachfolgenden Überlegungen unter dem wohl unvermeidlichen Vorbehalt stehen, womöglich in kürzester Zeit bereits von der Wirklichkeit überholt zu werden. Erstens ist zu klären, was wir über Bilder wissen, die Menschen mit Smartphones anfertigen, weil es fraglich ist, ob »Fotografieren« dafür überhaupt noch eine treffende Bezeichnung sein kann. Denn digitale Geräte erlauben völlig neue Verwendungsweisen, die mit analogen Geräten unmöglich waren, wie zum Beispiel die unmittelbare Betrachtung sofort nach der Aufnahme. Zweitens ist das Phänomen der Alltagsfotografie näher zu erläutern. Drittens muss der Begriff »visuelles Wissen« präzisiert werden. Schließlich sollen einige bereits bekannte Formen visueller Wissenskommunikation mit Smartphonefotos betrachtet werden, um sie hinsichtlich der aufgeworfenen Frage nach einer möglichen Veränderung von Kommunikationsweisen und Interaktionsordnungen zu reflektieren.
Digitale Alltagsfotografie und visuelles Wissen
A lltagsfotogr afie Seit einiger Zeit beschäftigt sich die Soziologie mit der Frage, wie sich die Erzeugung, Verbreitung und Aneignung von Wissen durch den verstärkten Einsatz von Visualisierungen verändert (Tuma/Schmidt 2013). Diese Frage stellt sich, weil wir in unserer heutigen Alltagskommunikation immer stärker auf vielfältige visuelle Ausdrucksmittel zurückgreifen können. Technische Errungenschaften haben unser Kommunikationsspektrum maßgeblich erweitert, wobei digital erzeugten Fotos eine entscheidende Rolle zufällt. Die ersten Smartphones tauchten in den 1990er-Jahren auf, gewannen jedoch erst seit 2007 eine nennenswerte Verbreitung. Heute sind die meisten verkauften Mobiltelefone Smartphones. Ihre Ausbreitungsraten sind gewaltig. In kürzester Zeit sind sie zum ständigen Begleiter vieler Zeitgenossen geworden, sodass heute bereits fast ein Drittel der Bevölkerung über ein derartiges Gerät verfügt.2 Nun werden sie nicht allein zum Telefonieren, sondern als Multifunktionsgerät ebenso zum Internetsurfen, zum Versenden von Sprachnachrichten und Emails oder zum Einkaufen verwendet. Ich konzentriere mich hier auf nur eine Funktion, nämlich ihre Verwendung als mobile digitale Kamera, die Aufnahme- und Zeigegerät ineinander vereint. Die damit eingehende Ubiquität hat bemerkenswerte neue Interaktionsformen befördert, die nähere Betrachtung verdienen. Man könnte fragen, inwieweit Smartphones als mobile Kameras eine kulturelle Veränderung der Alltagskultur begünstigen, weil zahlreiche Zeitgenossen nahezu rund um die Uhr von einem Gerät begleitet sind, mit dem sie Fotos und Videos anfertigen und betrachten können. Dies soll unter dem Begriff »Alltagsfotografie« diskutiert werden. Mit Alltagsfotografie beziehe ich mich nicht auf ein besonderes Genre fotografischer Aufnahmen über das Alltagsleben (Kraus 2006). Vielmehr betrachte ich damit diejenigen Aufnahmen, die in alltäglichen Zusammenhängen von jedermann angefertigt werden können. Sie folgen weniger einer ästhetischen Absicht, sondern dienen meistens pragmatischen Handlungszwecken. Mit dem Ausdruck Alltagsfotografie ist der unüberschaubar wachsende, gigantische Berg digitaler Fotos und Clips gemeint, die sehr schnell hergestellt und eingesetzt werden können. Auf deren Auf bewahrung wird demgegenüber meistens sehr viel weniger geachtet. Ihre relativ einfache Speicherung und unaufwändige elektronische Verbreitung führt allerdings eine tendenzielle Entwertung mit sich. Es handelt sich in diesem Sinne um flüchtige, häufig eher kurzlebige Produkte, die Jarrigeon (2012) in Anlehnung an Bourdieu et al. (1981) als neue »middle-brow art« bezeichnet und sogar, einen Ausdruck von Jean-Marie Schaeffer aufgreifend, zum »fotografischen Prekariat« herabsetzt.
2 | Eine im Januar 2013 durchführte GfK-Studie beziffert die aktuelle Zahl der Smartphone-Besitzern in Deutschland auf hochgerechnet 21 Millionen. Unter Jüngeren hat schon nahezu jeder zweite ein Smartphone und die Steigerungsraten sind atemberaubend.
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Damit konzentriere ich mich auf ein dezidiert gewöhnliches Phänomen und verknüpfe dies mit der Frage, was sich an der Wissensvermittlung ändert, wenn derartige digitale Fotografien zur Kommunikation eingesetzt werden. Verglichen mit Powerpoint-Präsentationen (Knoblauch 2013; Schnettler/Knoblauch 2007), erfordern die Situationen, in denen Smartphones zur Darbietung von Fotos dienen, wesentlich geringere Voraussetzungen. Der relativ starken Fixierung von Teilnehmenden und Technologien dort steht eine weitaus mobilere und ungebundenere Konstellation gegenüber. Zudem kann bei Smartphones für Aufnahme und Präsentation dasselbe Gerät verwendet werden, was Nutzern erlaubt, Fotos schon unmittelbar in der Situation, in der sie angefertigt wurden, gemeinsam zu betrachten. Die Rezeption bleibt jedoch nicht an die Entstehungssituation gebunden. Ebenso wie Aufnahmen aus anderen Kontexten über das Display in die Situation eingebracht werden können, kann das Smartphone umgekehrt als Auf bewahrungs- und Verbreitungsinstrument eingesetzt werden, mit dem Fotos später wiederbetrachtet oder anderen zugänglich gemacht werden. Das schließt vom Nutzer selbst hergestellte Bilder und Clips aus früheren eigenen Situationen ebenso ein wie von anderen erstellte Inhalte.
V isuelles W issen Bevor wir typische Herstellungs- und Nutzungsweisen von SmartphoneFotografien mit Blick auf deren wissensvermittelnde Funktion betrachten können, bedarf das Konzept des visuellen Wissens einer Erläuterung. Der hier gemeinte Begriff ist dabei von drei angrenzenden Phänomenen zu unterscheiden, namentlich von Sehweisen, Bildwissen und sichtbar verkörpertem Verhalten: (1) Ausgehend von der Annahme, dass Sehen ein sozial geprägter Vorgang ist, sind die verschiedenen, in der Regel professionell geschulten Formen visueller Wahrnehmung intensiv untersucht worden. So hat beispielsweise Charles Goodwin (1994) in diesem Sinne die Sehweisen von Archäologen und Gerichtsgutachtern analysiert, was er als »Professional Vision« bezeichnet. Dabei handelt es sich um spezialisierte Sehkulturen von Experten, die auf einen sehr beschränkten Personenkreis eingegrenzt bleiben. Diese Sehpraktiken werden von Spezialisten interaktiv hervorgebracht und können sich dabei auf semiotische Systeme stützen, die zum kollektiven Spezialwissen der jeweiligen Profession zählen. Deren Aneignung ist streng reguliert. Ich lenke den Blick demgegenüber auf die »unprofessional vision«, die bei der Herstellung, Aneignung und Verwendung von Alltagsfotografie auf allgemeinverfügbaren Alltagskompetenzen gründet. (2) Gegenüber solch inkorporierten Fähigkeiten, die den Handelnden nicht notwendigerweise auch reflexiv verfügbar sein müssen, bezeichnet Bildwissen auf Visualisierungen bezogene ausdrückliche Wissensbestände. Experten für Visuelles der verschiedensten Ausprägung besitzen
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ein derartiges Wissen über Bilder. Das reicht von Kunsthistorikern über Grafikdesigner bis hin zu Plakatmalern und Werbegrafikern. Während Sehkulturen wesentlich in performative Handlungszusammenhänge eingebettet sind und nicht notwendig verbal explizierbar sein müssen, stellt Bildwissen eine elaboriertere Form expliziten Wissens dar. In der Regel handelt es sich ebenso um stark kodifiziertes Sonderwissen. Zugespitzt könnte man sagen, dass Bildwissen sich zwar auf visuelle Gegenstände bezieht, aber hauptsächlich verbal auftritt. Darin anderen Fachsprachen wie etwa der Weinsprache ähnlich, hat es einen großen Reichtum eigenständiger Semantiken hervorgebracht, steht jedoch immer in charakteristischer Spannung zu einer nie vollständig verbalisierbaren Welt sinnlicher Empfindungen. (3) Unterschieden werden müssen schließlich all jene Formen sichtbar verkörperten Wissens, also diejenigen Zeichensysteme, die sich neben den Formen und Modalitäten sprachlichen Austausches gebildet haben und die mitunter als »visual conduct« bezeichnet worden sind. Empirisch reicht dies von der eng kodifizierten Deixis von Flugeinweisern bis zu dem eher gewohnheitsmäßigen, aber ebenso systematischen System von Zeigegesten, die Stadtführer typischerweise bei ihrer Tätigkeit einsetzen (Stukenbrock/Birkner 2010). Das Spektrum des derart körperlich durch andere als die verbale Modalität (nämlich gestisch, mimisch, postural, kinetisch etc.) vermittelten Wissensaustauschs ist dabei enorm breit und bislang empirisch nicht einmal ansatzweise erschöpfend untersucht. Wenn im Folgenden von »Visuellem Wissen« gesprochen wird, so sind damit jene Vermittlungsweisen gemeint, in denen jemand mit Hilfe von visuellen Trägern wie Abbildungen, Illustrationen, Fotos, Karten usw. anderen etwas Bestimmtes mitzuteilen versucht, unabhängig vom Grad der Kodifiziertheit des vermittelten Wissens. Es schließt alle Zwischen- und Unterformen ein, die sich auf einer gedachten Achse zwischen den Extremen starker sozialer Festschreibung bis hin zu völliger Offenheit aufreihen lassen. So gibt es, um ein Beispiel für das eine Extrem anzuführen, heute zahlreiche Formen, in denen Sachwissen visuell vermittelt und angeeignet wird. Über Lernsoftware und MOOCs wird dies beispielsweise immer stärker zum integralen Bestandteil schulischer und akademischer Lehre und ist in einigen Studiengängen bereits fest etabliert, etwa in der Architekturgrundausbildung. Ebenso stark verbreitet sind, quer durch viele Disziplinen, verschiedene Formen von eLearning, die mal stärker, mal weniger stark institutionell verankert sind. Nicht zu vergessen, dass mit dem Telekolleg ein historischer Vorläufer existiert, bei dem Wissen visuell vermittelt wird und sogar maßgeblich zum Erwerb eines zertifizierten Bildungsabschlusses beiträgt.3 Eine weitaus weniger regulierte und disziplinär legitimierte Variante visueller Wissensvermittlung stel3 | Selbst beim Telekolleg erwerben die Fernschüler die Mittlere Reife oder das Abitur allerdings nicht allein durch Fernsehen. Es müssen immer noch schriftliche und mündliche Prüfungen absolviert werden, sodass auch hier die Wissenskommunikation keineswegs auf den Austausch von Bildern reduziert wird.
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len demgegenüber zum Beispiel die überaus populären Videotutorials im Internet dar, die einer Guerillalogik der Verbreitung und Aneignung von Wissensbeständen zu folgen scheinen. Selbst wenn auch hier Visualität keinesfalls zu einer vollständigen Ablösung von der Textlichkeit geführt hat, so tritt Letzteres jedoch zugunsten der Möglichkeit, etwas zu zeigen statt 1000 Worte zu benutzen, stark in den Hintergrund. Diese Clips eignen sich freilich vor allem für die Vermittlung solcher Fertigkeiten und Kniffe, bei denen Sequenzialität und Sichtbarkeit eine tragende Rolle spielen.4 Wenn also von visuellem Wissen gesprochen wird, meine ich hier nur dasjenige Wissen, das mit Aufnahmen, also technisch fixierten Bildern, auf mobilen Geräten wie Smartphones oder Tablets erzeugt und in einer sozialen Situation gezeigt werden kann. Dabei sind die meisten der mit solchen Geräten angefertigten Fotos für das weitere Argument irrelevant, insofern es sich um Aufnahmen handelt, die anderen Zwecken als der kommunikativen Problemlösung dienen (Porträts, Partyfotos usw.). Von Interesse ist hier derjenige wohl eher kleinere Teil, der in einen unmittelbaren pragmatischen Handlungszusammenhang eingelassen ist.
V isuelle W issenskommunik ation mit S martphones Was wissen wir über die Nutzungsweisen von Smartphone-Fotografien? Festzuhalten ist zunächst, dass Smartphones Geräte mit starkem Personalitätsbezug sind. Darin dem PC und vor allem dem Laptop recht ähnlich, bekräftigen sie die enge Bindung zwischen Gerät und Nutzer, der es als sein Eigen betrachtet und nur ungern aus der Hand gibt. Ganz anders als Briefe, die Sender und Empfänger kennen, oder Bücher, die verschenkt oder zumindest verliehen werden können, tritt das Smartphone in der Regel nicht als Austauschobjekt in der Interaktion auf, es sei denn, sehr vorübergehend. Auch Kameras werden eher verliehen als Smartphones. Es liegt also nahe, zunächst die individuellen Nutzungsweisen in den Blick zu nehmen. Weil Smartphones technische Geräte mit einem hohen Grad an persönlicher Verbundenheit sind, gehen manche Forscher sogar soweit zu behaupten, dass es zu einer verstärkten Subjektivierung der Kamera komme: »By embodying the characteristics of the mobile phone as a ›personal, portable, pedestrian‹ device (Ito/Okabe/Matsuda 2005), the function of the camera has shifted. One consequence of this more personal and pervasive viewpoint is that the camera is more strongly associated with an individual viewpoint« (Okabe/Ito 2006: 99).
4 | Ein simples, aber überaus wirksames Beispiel mag diese Vorzüge veranschaulichen: www.modezirkel.de/die-krawatte~krawattenknoten,krawattenknoten-bin den-lernen.html abgerufen am 18.02.2015.
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Abb. 1: Dominante individuelle Zuwendungsweise
Dieses stark subjektivierende Moment des Smartphones schlägt sich in der Art und Weise nieder, wie es gehandhabt wird. Neben seiner hohen Bedeutung als Statussymbol äußert sich das vor allem in der dominanten Zuwendungsweise (vgl. Abb. 1). Beobachtet man die neben dem Telefonieren häufigste Körperposition, so stellt sich das Smartphone erstens und vor allem als Objekt dar, das der oder dem einzelnen als Gegenüber dient. Dabei wird es zumeist nahe, etwa auf halber Armlänge, vor das eigene Gesicht gehalten und ist damit häufig einigermaßen störend in dem Bereich präsent, der in der zwischenmenschlichen Interaktion fokussiert wird.5 Für Smartphones gilt hier, was Ling (2008: 166) schon allgemeiner für Mobiltelefone festgestellt hatte: »… it takes the individual’s attention away from the co-present situation and directs it to other corners of the universe that can be physically or temporally separate«. Zweitens wird das Gerät mitunter jedoch dazu benutzt, um gemeinsame Blicke darauf zu ermöglichen, etwa wenn Interaktionspartner sich zusammen über das Display beugen. Es kann drittens anderen als Demonstrationsobjekt vor das Gesicht gehalten oder übergeben werden, sofern der Zeigende den Schauenden auf etwas aufmerksam machen will, was auf dem Bildschirm zu sehen ist, damit dieser es in einer der ersten Zuwendungsweise ähnlichen Körperhaltung selbst betrachten kann. Wenden wir uns nun den Gebrauchsweisen des Smartphones als Kamera zu. Sie umfassen sowohl die Nutzung des Smartphones als Kamera (a) für sich selbst als auch (b) zusammen mit – anwesenden wie abwesenden – anderen. (a) Zuerst zum individuellen Einsatz: Betrachtet man, was auf den mit Smartphones aufgenommenen Bildern zu sehen ist, so sticht ins Auge, dass sie meistens einen mimetischen, ja sogar dokumentarischen Anspruch 5 | Analog zum Mousearm hat sich übrigens in diesem Zuge ein neues medizinisches Syndrom entwickelt, das auf die anhaltende Fixierung des Bildschirms zurückgeführt und als Smartphonenacken bezeichnet wird.
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aufweisen. Das bedeutet, die Aufnahmen werden von denjenigen, die sie verwenden, geläufigerweise als Abbilder dessen betrachtet, was auf ihnen zu sehen ist. Okabe (2004) hat in einer frühen ethnografisch basierten Studie die Nutzungsweisen von Mobiltelefonkameras in Japan untersucht und »personal archiving« als bedeutsamste Funktion identifiziert. Beispielsweise, wenn ein Kunde im Buchladen das Cover eines Buches aufnimmt, um es sich für einen späteren Kauf vorzumerken oder wenn ein Fahrgast an der Haltestelle die ausgehängten Pläne fotografiert, um sich an die Rückfahrzeiten zu erinnern. Strukturell gleicht dieses Handeln dem, was Schütz (2003 [1955]: 143–147) unter den Begriffen Anzeichen und Merkzeichen diskutiert, die helfen, die kleinen Transzendenzen von Raum und Zeit zu bewältigen.
Abb. 2: Visuelles Notieren: Defekter Schlüsselanhänger, März 2013
Abb. 2 stammt aus einem entsprechenden Zusammenhang. Nachdem sich der Hotelgast in seinem Zimmer am abspreizenden Metalldraht eines unachtsam montierten Schlüsselanhängers der Balkontür verletzt hatte, fertigte er eine Großaufnahme des corpus delicti an, um sich damit erfolgreich an der Rezeption zu beschweren. Das Beispiel veranschaulicht den oben erwähnten dokumentarischen Charakter ebenso wie den implizierten Naturalismus. Denn wie die Abbildung zeigen dürfte, ergibt sich dieser aus dem Foto kaum selbst. Vielmehr ist die reklamierte Objektivität des hier gezeigten Gegenstandes in einen kommunikativen Austausch eingebettet und muss erst interaktiv erzeugt werden. (b) Zweitens stellen Smartphones eine Art materiales Bewältigungswerkzeug für mittlere Transzendenzen dar. Als Kommunikationsinstrument dienen sie hauptsächlich und vor allem dazu, mit anderen in Verbindung zu treten, etwa im Fall eines selbst komponierenden Musikers, der handgeschriebene Notenpartituren fotografiert und per Bluetooth an seine gesamte Gruppe verteilt (Jarrigeon 2012: 25). Diese Bobachtung steht in Einklang mit der Feststellung, Mobilfotografie verschiebe die dominante Zeitstruktur von Fotos als Dokumente
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dessen, was war, zugunsten eines stärker präsentistischen Charakters (von Pape/Martin 2012: 9). Einerlei, ob sie unmittelbar auf dem Display betrachtet oder kabellos mit anderen geteilt werden, evozierten sie einen »instantaneous sense of ›being together‹« (ebd.). Die Autoren greifen damit eine These auf, die maßgebend von Koskinen (2005) vertreten wurde, der schon sehr früh die Auswirkungen mobiler Telefonie und visueller Nachrichten für soziale (Fern-)Beziehungen untersucht hat. Zu diskutieren sind deshalb zwei Formen, in denen Smartphones und deren Erzeugnisse in sozialen Situationen relevant werden: unmittelbare und mittelbare. Diese Unterscheidung ist in der Auflistung der Verwendung von Smartphones als Kameras bei Jarrigeon (2012: 23) ebenfalls implizit enthalten, die sie folgendermaßen typologisiert: family photos, citizen journalism, everyday life ethnography, spectacular performance und reflexive use. Betrachten wir für Ersteres folgende Fälle: Ein Mann geht in den Baumarkt und zeigt dem Verkäufer auf dem Display seines Smartphones den abgebrochenen Verschluss einer Steckdose, für den er ein Ersatzteil sucht. In einer frühen Studie zur Nutzung von Kameraphones berichten Kindberg et al. (2004: 8) folgende ähnliche Episode: Jemand sendet seinem Bekannten das Foto seines leckenden Abflusses, um sich Rat für dessen Lösung einzuholen. Oder ein Paar geht auf der Suche nach einem passenden Schuhschrank in ein Möbelgeschäft, fotografiert zuvor zuhause im Flur die Ecke, in der er später stehen soll und zeigt diese Aufnahme dem Verkäufer. Hier verkörpert das Foto ein Mittel des kommunikativen Austauschs zwischen zwei Beteiligten. Das kann transsituativ sein, wie im vorgenannten Beispiel. Es kann aber ebenso zur Herstellung simultaner virtueller Kopräsenz dienen, wie im folgenden Fall, in dem Fotos wie verlängerte Augen eingesetzt werden: Wenn etwa eine Gruppe auf Geschäftsreise befindlicher japanischer Manager ihren Frauen Gucci-Handtaschen kaufen wollen, diese im Geschäft fotografieren und zuhause rückfragen, bevor sie den Kauf tätigen.6 Auch die anderen von Jarrigeon genannten Aufzeichnungspraktiken (»ordinary testimony«, »amateur journalism« und »ethnologist of everydaylife«) setzen bei selbstdokumentarischen Beiträgen an, mit denen Smartphonenutzer ihren Alltag aufzeichnen. Die potenzielle Überschreitung alltäglichen Gebrauchs ist in diesen Formen aber bereits angelegt. Dabei wird der Alltag in drei Richtungen transzendiert: Eine erste Richtung lässt sich beispielweise an einer bemerkenswerten Transformation religiöser Rituale feststellen, die Schwarz (2010a) beobachtet hat. Ultraorthodoxe Juden filmen heilige Momente, um sie später erneut betrachten zu können. Der Autor nimmt an, die Materialität von Kameraphones befördere das Entstehen neuer Techniken des Selbst, welche die jüdische religiöse Praxis wesentlich überformen. Das lasse sich beispielsweise an der »Sakralität« beobachten, mit der der Aufzeichnung 6 | Für das Beispiel danke ich Barbara Mayer. Vgl. Jarrigeon 2012: 26 für ein analoges Exempel.
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ähnliche Ehrfurcht entgegenbracht wird, wie dem ursprünglichen rituellen Moment, das sie festhält: »A young Ultra-Orthodox from a small court told me of some acquaintance who habitually put on their hat, suit and girdle (worn otherwise only during prayer on Shabbat, to separate the heart from the genitalia) before watching the video, preparing themselves as if they were to meet the rebbe in the flesh« (Schwarz 2010a: 184).
Es liegt vermutlich in der technischen Möglichkeit einfacher Aufzeichnung, Weiterverarbeitung und -verbreitung, dass Smartphonefotos typische Gelegenheiten zu solchen Übergängen und »Zweitnutzungen« ermöglichen. In ähnlicher Weise verbinden sich sexuelles Vergnügen und Wissenserwerb, wie Schwarz (2010b) in einer weiteren Analyse der Verwendung von Smartphones im Zusammenhang mit der Gestaltung sexueller Praktiken bemerkt. Neben watching for pleasure und self-documentation im Sinne radikaler Projekte der eigenen Alltagsdokumentation werden solche Aufnahmen jedoch auch dazu eingesetzt, Wissen zu erwerben (knowledge, assessment and self-improvement). Smartphonekameras befördern aber nicht nur eine Transformation von Alltagspraktiken, eine Verwandlung von primären in sekundäre Rituale und sexuelle Gewohnheiten. Sie werden ebenso am Übergang vom Alltag zur künstlerischen Praxis wirksam. Das ist bemerkenswert, weil die allermeisten Aufnahmen im amateurtypischen Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit eher dem Pol des »prekären Bildes« zuneigen: »One of the great paradoxes of amateur images is the simultaneous desire for technical perfection (connected to the promises in advertising) and the denial of inferior quality in reality« (Jarrigeon 2012: 28, Hervorhebung ebd.). Weil Smartphones eng am Körper getragen und als nahezu ständige Begleiter (fast) immer verfügbar sind, schaffen sie jedoch eine Vielzahl »fotografischer Gelegenheiten«, die unter das »kairos regime« fallen: dem Regime von Chance und Gelegenheit. Außerdem induzieren oder erleichtern Smartphones eine fotografisch-ästhetische Praxis, die Jarrigeon »optical haiku« nennt, im Sinne von »art of very little«. Als Beispiel wird die Landkrankenschwester Martine angeführt, die ihren Wagen anhält, um einen zauberhaft gefrorenen Baum zu fotografieren (was sie früher nie gemacht hat) – und damit alltägliche Augenblicke in etwas Außerordentliches verwandelt. Diese Überschreitungen in der alltagsästhetischen Praxis lassen sich an Eberles Diskussion des Fotografierens als kreativem Handeln (Eberle 2014a; 2014b) anschließen. Seine präzise phänomenologische Analyse arbeitet die subjektiven Erlebnisfokussierungen deutlich hervor. Gebündelt im »fotografischen Blick« engt sich das Erleben insofern deutlich ein, als beim Fotografieren in der Wahrnehmung der Umwelt vor allem der visuelle Sinn geschärft ist, dem gegenüber alle anderen Sinnesmodalitäten in den Hintergrund treten. Außerdem wird das Handeln an dem alleinigen Ziel ausgerichtet, ein möglichst taugliches Foto zu schießen. In der
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Gegenwart hat sich im Zuge der Digitalisierung nicht allein das Anfertigen von, sondern auch das Kommunizieren mit Fotos enorm gewandelt: »Photos have become a pervasive constituent of modern communication culture« (Eberle 2014a: 148). Den vermeintlichen Kreativitätszuwachs durch die Umstellung von analoger auf digitale Fotografie beurteilt Eberle allerdings als sowohl subjektiv wie objektiv kritisch. Ein dritter Übergangspfad ist noch anzuführen, der die Bindeglieder zwischen Alltagswelt und Medienrealitäten in einer mediatisierten Gesellschaft betrifft. Wie Studien über Kameraphones zeigen, kommt es in wachsendem Maße zu Verwischungen von privaten Aufnahmen und medialen Erzeugnissen. Das betrifft nicht allein die medialen Überformungen der Alltagspraxis, in der sich Menschen heute immer stärker an medialen Gattungen und Schnittvorlagen orientieren. Vice versa haben sich eine ganze Reihe neuer Mediengenres gebildet, wie zum Beispiel die im Internet überaus populären Sammlungen von epic fail videos. Smartphonekameras sind ebenfalls zum wichtigen Instrument von citizen journalism avanciert. Kaum ein weltgeschichtliches Ereignis, das heute nicht von jemandem aufgenommen worden wäre und später über massenmediale Kanäle verbreitet würde. Mitunter werden Smartphonebesitzer sogar explizit dazu aufgefordert, ihre Aufzeichnungen an TV-Stationen einzusenden. Durch die so angefertigten Fotos oder Filme dokumentieren Augenzeugen dramatische Ereignisse von historischer Bedeutung, wie beispielsweise zuletzt beim Mordanschlag auf einen britischen Soldaten im Mai 2013. Solche Aufnahmen von Handykameras finden den Weg in die Medien und werden über das Internet verbreitet. Der weit überwiegende Teil der immensen Menge digitaler Smartphone-Bilder findet den Weg in die Massenmedien allerdings nie.
Abb. 3: Besucher vor dem Bild der ›Mona Lisa‹ im Louvre, Paris.
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D ie Tr ansformation der S ituation Schließlich stellt sich die Frage, welche Rückwirkungen die Smartphonefotografie auf soziale Situationen hat. Betrachten wir dazu einige letzte Beispiele: In der Besucherschlange vor der ›Mona Lisa‹ (Abb. 3) im Louvre blicken die meisten nicht mehr auf das Originalgemälde, sondern auf ihr Display – und betrachten unmittelbar danach eher die Aufnahmen, als die Situation selbst. Knoblauch (2014) berichtet im Zusammenhang mit dem Papstbesuch in Berlin von einem ähnlichen Phänomen der Mediatisierung sozialer Situationen, bei denen die Zentrierung auf die Anfertigung und den Konsum medialer Dokumente die Handelnden von der Teilnahme an der Situation, zumindest teilweise, dezentriert. Die mediale Durchwirkung unserer Lebenswelten ist ebenso unstrittig wie die rasante Zunahme mediatisierter Kommunikationsweisen. Allerdings ist die Frage danach, inwiefern die wachsende mediatische Durchdringung von Alltagssituationen tatsächlich Veränderungen hervorruft, oder die Frage danach, ob es bei der Smartphonefotografie zu einer Virtualisierung der Präsenz kommt oder gar zu einer Zerstörung der Aura, mit Vorsicht zu beantworten, solange nicht weitere Forschung dazu vorliegt.
Z wischenfa zit und F orschungsprospek t Von der weitverbreiteten Verfügbarkeit digitaler Aufzeichnungsmedien, die Fotos und Videos auf technisch sehr vereinfachte Weise auch für den fotografisch weitgehend Unkundigen zu einem handhabbaren Datengenerierungsinstrument werden lassen, profitiert nicht zuletzt die empirische Sozialforschung in enormen Maße. Mit Blick auf die Frage nach der Veränderung der Wissensstrukturen durch visuelle Kommunikationsmittel besteht offenkundig jedoch sowohl empirisch wie theoretisch weiterer Forschungsbedarf. Empirisch näher zu klären sind die Verwendungsweisen, pragmatischen Zusammenhänge und Folgen. Diese sind mit Thesen einer Popularisierung und »Entgrenzung« sowie einem vermeintlichen »visuellen Dauerkontakt« im Zuge wachsender sozialer Verbreitung digitaler Fotografie, insbesondere der Smartphonefotografie, verbunden worden. Aber es ist noch gar nicht abzusehen, ob und inwieweit es zu einer Popularisierung und Entgrenzung des Wissens durch visuelle Wissenskommunikation kommt und welche Rolle »perpetual visual contact« (Koskinen 2005) für die zukünftige Gestaltung unserer Sozialbeziehungen spielen wird. Hier habe ich diskutiert, wie die Kamerafunktion des Smartphones dazu eingesetzt wird, verschiedene Transzendenzen zu bewältigen: Nicht verschwiegen werden sollte indes, dass wir, alles zusammengenommen, bislang noch recht wenig darüber wissen, wie Nutzer ihre Fotohandys einsetzen und welche neuen Praktiken der Wissensvermittlung existieren. Auf diesem Gebiet ist noch mehr empirische Forschung erforderlich.
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Auch in theoretischer Hinsicht besteht weiterer Bedarf. Klar geworden dürfe allerdings sein, warum eine semiotische Betrachtung zu kurz greift. Am Beispiel der Kommunikation mit alltagsfotografischen Smartphonebildern lässt sich zeigen, dass im kommunikativen Handeln bei der Benutzung von Digitalbildern auf Smartphonedisplays die Zeichenhaftigkeit zugleich unter- wie überschritten wird: Sie werden als einigermaßen mimetische Dokumente verwendet, die als transformierte Abbilder realer Zusammenhänge benutzt werden, und doch dazu dienen zu zeigen, was man nur unzulänglich oder aber mit Hilfe zu vieler Worte zu sagen vermöchte: Welche genaue Form das defekte Scharnier hat, wo der zu kaufende Ofen in der Wohnung platziert werden soll usw.
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A bbildungen Abb. 1: Dominante individuelle Zuwendungsweise. © Foto: Bernt Schnettler. Abb. 2: Visuelles Notieren: Defekter Schlüsselanhänger, März 2013. © Foto: Bernt Schnettler. Abb. 3: Besucher vor dem Bild der Mona Lisa im Louvre, Paris. © Foto: Alba Fernández.
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Slowest Motion Das Foto im Film Jörg Metelmann »Wann immer ein Film Fotografien abbildet, spricht er über seine eigenen Voraussetzungen. Ein Foto im Film bildet eine Zeitschleife, in der das Medium auf seine Geschichte zurückprojiziert wird und die eigene Vorgeschichte in den Blick nimmt.«1
In seinem Buch ›Film als Theorie‹ eröffnet Volker Pantenburg mit der als Motto zitierten These seine Überlegungen zum Verhältnis von Foto und Film, die er im Folgenden systematisch und historisch weiter präzisiert. Systematisch lege das Foto im Film offen, dass der Film als Bewegung zwischen den Bildern stattfinde, indem das Gehirn etwas synthetisiere und sichtbar mache, was es im Material der aneinandergereihten Einzelbilder nicht gebe. Historisch verweise das Foto im Film auf den Realismusgehalt des Mediums, das – zumindest bis zum Drama der Ontologie im digitalen Zeitalter – mit dem Kamera-Auge etwas aufzeichnet, was tatsächlich so da gewesen ist.2 Aus dieser Analyse leitet Pantenburg dann eine duale Klassifikation von Filmen ab, die auf den Prinzipien Zeit und Raum beruhen: Werde in den »fiktionalen ›Fotofilmen‹ das abstrakte Prinzip der Zeit und die mit ihm verbundenen Komplexe (Erinnerung, Melancholie)« zum Gegenstand der Reflexion, so zögen im Gegensatz dazu »die Dokumentarfilme ihre Kraft meist aus der ungebrochenen Referenzialität des Fotos«, das behaupte, dass das Gesehene tatsächlich so stattgefunden habe (Pantenburg 2006: 194). Ich möchte im Folgenden mit dieser Heuristik auf einen Spielfilm schauen, der beide Aspekte aufnimmt und fortführt – den Film ›Code inconnu‹ von Michael Haneke aus dem Jahr 2000 –, und davon ausgehend eine Trias des Umgangs mit dem Standbild in der digitalen Medienwelt entwickeln.
1 | Pantenburg 2006: 189. 2 | Ein spätestens seit Roland Barthes (1989: 86) zentraler Gedanke des gesamten Fotografie-Diskurses.
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C ode I nconnu ›Code inconnu‹ war nach zahlreichen Fernsehproduktionen und den vier Kinofilmen ›Der siebente Kontinent‹, ›Benny’s Video‹, ›71 Fragmente einer Chronologie des Zufalls‹ und ›Funny Games‹ die erste internationale Produktion, die Haneke von Frankreich aus realisierte. Der Film ist, wie es der Untertitel sagt, eine »Récit incomplet de divers voyages«, eine unvollständige Erzählung verschiedener Reisen, die den Zuschauer am Schauplatz Paris mit sehr unterschiedlichen menschlichen Schicksalen konfrontieren. Dramaturgisch wendet sich Haneke mit diesem Film von den programmatisch modellhaften Arrangements seiner österreichischen Kino-Produktionen ab und einem offeneren Erzählstil zu, der mit den Folgefilmen auch immer stärker in einen konstruktiven Dialog mit dem Genre-Kino eintritt (vgl. Metelmann 2003). Interessanterweise führt Haneke in ›Code inconnu‹ eine mediale Reflexionsfigur ein, den Fotografen Georges, gespielt von Thierry Neuvic. Im Film ist er mit der Schauspielerin Anne Laurent liiert, gespielt von Juliette Binoche, und die Storyline dieser Episode wird beide auseinanderführen bis zu dem Punkt, an dem sich auf einer sehr konkreten Ebene der Filmtitel erklärt: Anne lässt den Zugangscode ihrer gemeinsamen Wohnung ändern und Thierry steht buchstäblich im Regen – »Code unbekannt«.3 Natürlich aber, und Haneke wäre nicht Haneke, wenn es nicht so wäre, funktioniert der Titel noch auf anderen Story-Ebenen, unter anderem der hier für uns einschlägigen der Produktion und Rezeption von Bildern, genauer: Fotografien. Georges, die meta-filmische Reflexionsfigur, wird eingeführt mit seiner Stimme und Fotos, die er selbst – so die Vermutung – im Kriegsgebiet des ehemaligen Jugoslawien aufgenommen hat.4 Man sieht Verwundete, ein brennendes Haus, das Entsetzen (Abb.1). Dazu hört man Persönliches: Dass er nicht wisse, was er Anne schreiben könne, dass er ihr zur Premiere alles Gute wünsche, dass er sich für sein Benehmen am Tag vor der Abreise entschuldige. Gezeigt werden diese Fotografien für jeweils drei Sekunden, eine gute Minute lang, en suite ohne Schwarzblenden, die ansonsten im Film die einzelnen Episoden voneinander trennen. Sie zeigen Georges als einen überzeugten Bild-Akteur, für den die Dokumentation des Grauens in weltweiten Kriegsgebieten ein notwendiger Akt ist, sowohl für ihn selbst als auch als elementarer Schritt für die Bildung eines kritischen Bewusstseins und einer politischen Diskussion. In der Diskussion mit seiner Freundin Francine, gespielt von Arsinée Khanjian, der Ehefrau von Atom Egoyan, macht er dies deutlich. Francine 3 | Vgl. zur Frage, inwiefern der Code von ›Code inconnu‹ zu knacken sei: Conley 2010. 4 | Die Bilder, die Haneke vom französischen Kriegsfotografen Luc Delahaye übernommen hat, entstanden während des Bosnienkrieges 1992. Haneke schneidet sie hier in Geschehnisse, die den Kosovo-Konflikt 1998/1999 bebildern sollen: Die Bilder dienen ihm daher eher als prototypische Kriegsbilder denn als Verweise auf eine sehr konkrete Situation (vgl. Natlacen 2014: 105).
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Abb.1: ›Code Inconnu‹: Kriegsbilder
kritisiert ihn für die »dumme Anmaßung«, diese Bilder des Leidens vor sie hinzustellen mit dem Anspruch, dass sie dadurch zu irgendeiner Haltungsänderung oder gar einer Aktion kommen müsse.5 Er antwortet, für sie sei das nur eine theoretische Überlegung, für ihn aber eine Erfahrung. Nun, kontert sie, diese Erfahrung könne man aber mit den Fotos gar nicht vermitteln. Ende der Kontroverse, weil Anne zurückkehrt und sie mit dem leicht vorwurfsvollen Einwurf unterbricht: »Nun, seid Ihr wieder bei Eurem Lieblingsthema!« Diese Konstellation lässt sich leicht mit einigen in diesem Sammelband prominent diskutierten Facetten des Verhältnisses von Foto und Phänomenologie in Verbindung bringen. Zum einen – das Objektiv-Einmalige des jeweils Fotografierten sagt noch nichts über die jeweiligen subjektiven Rezeptionsweisen aus, das ist ganz eigentlich der Streit zwischen Georges und Francine. Zum anderen – das vermeintlich Objektive, der Barthes’sche »Code ohne Botschaft« (Barthes 1990), ist gerade im Falle der Kriegsfotografie hoch kontextbedürftig, lässt sich doch die mögliche Bildwirkung ohne das Wissen um Entstehungskontexte kaum redlich entfalten bzw. bewerten: So gebraucht eben Haneke hier auch die Bilder von Delahaye aus dem Bosnien-Krieg für die Bebilderung des Kosovo-Kriegs. Kriegsfotografie ist geradezu eine der historisch prominenten Konstellationen im »fotofiktionalen Film«: Autorenfilmer wie Jean-Luc Godard in ›Les Carabiniers‹ über den Kolonialismus oder Harun Farocki in ›Bilder der Welt und Inschrift des Krieges‹ über das Dritte Reich und den Holocaust bearbeiten genau die scheinbare Evidenz, mit der ein Bild behaupten kann, alles sei so 5 | Aus ›Code Inconnu‹, 48.30–48.55 min. Natlacen (2014: 107) hat auf den Bezug zum früheren Haneke-Film ›Drei Wege zum See‹ und auf das fast wörtliche Zitat von Ingeborg Bachmann hingewiesen. Dort heißt es in der Auseinandersetzung von Trotta mit Elisabeth: »Glaubst du, daß du mir die zerstörten Dörfer und Leichen abfotografieren mußt, damit ich mir den Krieg vorstelle, oder diese indischen Kinder, damit ich weiß, was Hunger ist? Was ist denn das für eine dumme Anmaßung?« (Bachmann 2000: 142).
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gewesen. Die mit diesem ersten Foto-Block in ›Code inconnu‹ umkreisten Probleme betreffen also das, was der Medienwissenschaftler Peter Geimer (2009) in seiner Einführung in die »Theorien der Fotografie« erstens die »Fotografie als Abdruck, Index, Spur« und zweitens die »Fotografie als Botschaft und Konstrukt« nennt. Haneke scheint es aber um mehr bzw. anderes zu gehen. Er problematisiert über die Figur Georges nicht eigentlich den Referenzcharakter als solchen, sondern vielmehr die vermeintliche Evidenz des So-gewesen-Seins in ethischer Hinsicht. Es ist, so kann man Francine paraphrasieren, einfach nicht möglich und schon gar nicht selbstverständlich, dass man als Betrachter betroffen ist. »Es geht mich nichts an, auch wenn ich es sehe, und das muss es auch nicht. Also lass es einfach, Georges!« Georges ist davon nachhaltig beeindruckt. Auf seiner nächsten Reise nach Afghanistan gerät er in Gefangenschaft bei den Taliban und sitzt einige Tage unter Todesangst in Dunkelhaft. In dieser langen Zeit denkt er oft an Francine, wie er Anne in einem Brief schreibt, den er wieder aus dem Off vorliest: »Es ist einfach, sich rauszuhalten und von Bilderökologie und dem Wert der nichtgemachten Mitteilung zu reden. Die Frage ist nur: Was ist die Konsequenz? Ich fürchte, in Wahrheit will Francine einfach nicht belästigt werden. Möglicherweise hat sie damit auch Recht. Was sollte sie auch mit all dem Wissen anfangen? Ich glaube, ich bin für das Leben im Frieden nicht mehr zu gebrauchen, das, was ihr Frieden nennt.« 6
Zu diesen Worten sehen wir den zweiten Foto-Block des Films, dieses Mal fast zwei Minuten lang, wiederum getrennt durch Schwarzblenden, aber in continuity geschnitten. Es sind, gänzlich unerwartet, 40 Porträtaufnahmen aus der Metro, die Georges heimlich angefertigt hat, mit umgehängter Kamera, Fernauslöser und ohne um Erlaubnis zu fragen. Auch diese Porträtfotos gibt es »wirklich«: Die Bilder sind Originalfotografien von Luc Delahaye, die dieser 1999 unter dem Titel ›L’autre‹ veröffentlicht hat. Haneke hatte Delahaye über den französischen Fotojournalisten und Filmemacher Raymond Depardon kennengelernt, der mit Delahaye zusammen ein Drehbuch über einen Kriegsfotografen verfasst hatte, von dem sich Haneke inspirieren ließ. Wie kann man diesen Registerwechsel deuten – denn als ein solcher erscheinen die Schwarz-Weiß-Aufnahmen, obwohl sie parallel zu den Kriegsfotos montiert und diegetisch über Georges legitimiert sind? Ich möchte zwei Rahmungen vornehmen, die beide auf meinen argumentativen Fluchtpunkt der Bildgebrauchsweisen vorverweisen: Die Fotografie und »die Bilderflut« und die Fotografie als »illegitime Kunst«. 6 | ›Code Inconnu‹, 83.12–83.41 min. Diese Passage weist eine große Nähe zu Formulierungen von Susan Sontag auf, die in ›Über Fotografie‹ (1996: 172) explizit von einer »Ökologie der Bilder« gesprochen hatte. In dem später erschienen Werk ›Das Leiden anderer betrachten‹ hat sie die Möglichkeit einer solchen Ökologie dann aber wieder verworfen (Sontag 2010: 125).
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F otogr afie und » die B ilderflut« Susan Sontag hat in verschiedenen Aufsätzen des Sammelbandes ›Über Fotografie‹ (1996) auf den Zusammenhang von Produktion, Konsumption und Abnutzung von Bildern hingewiesen. Ihre interessante Wendung ist dabei die Verschaltung von Bezeichnung und Veränderung der Wirklichkeit. Sontag nimmt die Spurentheorie des Fotos auf und erklärt genau darüber ihre große Kraft der Transformation: »Niemand hat angesichts eines Bildes von der Staffelei das Gefühl, dieses Bild sei von der gleichen Substanz wie sein Gegenstand. Es stellt etwas dar oder verweist auf etwas. Eine Fotografie aber ist nicht nur ›wie‹ ihr Gegenstand, eine Huldigung an den Gegenstand. Sie ist Teil, ist Erweiterung dieses Gegenstandes; und sie ist ein wirksames Mittel, ihn in Besitz zu nehmen, ihn unter Kontrolle zu bringen.« (Sontag 1996: 148)
Das Foto errettet nicht die Wirklichkeit, es macht sie gerade aufgrund der materialen Spur konsumierbar im Ersatz-Bild, so könnte man diese These kracauerisch paraphrasieren. Blickt man aus dieser Perspektive auf ›Code inconnu‹, ergeben sich Spannungen: Die Porträt-Aufnahmen, die sehr intim, sehr nahe wirken, sind – so wissen wir – nicht nur der radikalen Flüchtigkeit der punktuellen Metro-Kopräsenz entrissen, sondern werden auch noch im Off-Ton überlagert von der Ansicht, dass es redlicher sei, Bilder verantwortlich zu produzieren und zu konsumieren als es nicht zu tun. Was also mache ich mit diesen Bildern? Lasse ich mich von ihrem Punctum berühren und sehe darin den ethischen Anspruch des Antlitzes? Oder sehe ich es als Teil eines Jobprofils von einem Bildschaffenden, der die Welt im wahrsten Sinne des Wortes verbraucht, ohne um Erlaubnis zu fragen, ausgestattet mit der gefühlten Lizenz, dass die Spur des Bildes schon richtig wirken werde? Was heißt dann, so lässt sich diese Problematik fokussieren, eigentlich »Bilderökologie«? Übersieht man in der normativen Auslegung des Konzepts nicht vorschnell den basalen deskriptiven Gehalt, der zunächst auf Wechselwirkungen und die mit ihnen verbundene Praktiken zielt? Ist die Medienethik nicht zunächst eine Haltungsrecherche, bevor sie zum Handlungsleitfaden wird?
F otogr afie als » illegitime K unst« Ich borge mir den Begriff von Pierre Bourdieu und Luc Boltanski (1981) und setze ihn als Stichwort über eine bemerkenswerte Geschichte, die sich im Kontext ›Code inconnu‹ zugetragen hat. Haneke hat, wie schon erwähnt, die Bilder von Luc Delahaye aus dessen Zyklus ›L’autre‹ (1999) übernommen. Der im 13. Foto porträtierte Mann, er heißt Neji Bensalah (Abb. 2), verklagte, als er das veröffentlichte Bild sah, sowohl Delahaye als auch dessen Agentur Magnum, den Verlag Phaidon sowie Hanekes Produktionsfirma MK2 Productions.
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Abb. 2: ›Code Inconnu‹: Neji Bensalah
Seine Argumente: Zum einen berief er sich auf sein Recht auf die Kontrolle des eigenen Bildes und damit auf eine Beteiligung am damit erzielten Profit; zum anderen machte er die Wirkung auf andere Wahrnehmungssubjekte geltend, denn er vertrat die Auffassung, das Porträt zeitige »negative Auswirkungen« auf seine Familie. Delahaye räumte dazu in den französischen Medien ein, er habe die Bilder der Pendler »gestohlen«,7 doch sei dies die einzige Möglichkeit gewesen, ihre »Einsamkeit« und »Stille« zu zeigen. 2004 entschied das Pariser Tribunal de grande instance, das Zivilgericht der ersten Instanz (einem Landgericht vergleichbar) spektakulär gegen Bensalah und für Delahaye. Die Argumentation des Gerichts ist dabei für unsere Diskussion besonders interessant: Üblicherweise werden im französischen Recht die Güter Recht auf das eigene Bild und Recht auf Privatheit gegen das Gut der freien Meinungsäußerung abgewogen. Das tat das Gericht jedoch nicht: Es verwies vielmehr auf Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention, insbesondere auf das Recht, Informationen und Ideen zu empfangen und weiterzugeben. Es tat dies, indem es den im Artikel genannten »Ideen« zusprach, sich »insbesondere im Werk eines Künstlers« auszudrücken. Kurz gefasst: Delahaye wurde als Künstler zu einem Rechtssubjekt, das Bensalahs Recht am eigenen Bild und Recht auf Privatheit ausstach (vgl. Frieze-Magazin 2013). Eine bemerkenswerte Konstellation und schöne Pointe: Sieht Bourdieu die Fotografie als »illegitime Kunst«, weil er sie elementar über die sozialen Gebrauchsweisen definieren will, erklärt das Gericht die fotojournalistische Gebrauchsweise zur Kunst, weil sie Ideen weitergebe – unter Abwertung der Rechtsgüter Bildkontrolle und Privatheit. Wie sieht man jetzt die Schwarz-Weiß-Fotografien? Das heißt: Jetzt, da man weiß, dass sie unter bisher normalen juristischen Umständen vielleicht gar nicht zur 7 | Delahaye (1999: o. S.): »I stole these photographs between ’95 and ’97 in the Paris metro. ›Stole‹ because it is against the law to take them, it’s forbidden. The law states that everyone owns their own image.«
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allgemeinen Sichtbarkeit bestimmt waren? Wie verhalten sich – etwas abstrahiert – Verfügbarkeit und reale Nutzung? Wann muss ich weggucken, und zwar nicht nur moralisch motiviert, sondern juristisch sanktioniert?
B ildpr ak tiken Was kann man aus dieser Mikro-Konstellation des Fotos im Film ›Code inconnu‹ nun methodisch für die Wahrnehmungsmöglichkeiten des Einzelbildes im Bilderstrom der digitalen Jetztzeit ableiten? Mein Vorschlag ist eine Dreiteilung der Bildpraktiken entlang der Trias »Flucht, Trost, Revolte«, mit der die Kulturwissenschaftlerin Cornelia Klinger »Die Moderne und ihre ästhetischen Gegenwelten« beschrieben hat. Sie unterscheidet diese drei Wege, mit der Kontingenz des modernen Subjekts – als Resultat von Temporalisierung, Pluralisierung und Relativierung – umzugehen: die Optionen »der Auflösung der Subjektivität« (Flucht), »der Ausbildung einer spezifisch ästhetischen Subjektivität« (Revolte) und »der Erlösung von der Subjektivität in höherer Substanzialität« (Trost) (Klinger 1995: 133). Flucht – Das wäre die Position von Francine: Sie spricht Bildern, die sich nicht in ihren Erfahrungshaushalt rückbinden lassen, schlechthin jede Wirkung ab. Mag es die abgebildeten Umstände in der Welt auch geben, so behandelt sie sie doch wie Virtualitäten, die nicht zu ihrem Präsenzerleben sprechen. Trost – Das wäre die Position von Georges, der Passanten in der UBahn aufnimmt: Es gibt das Bild, das ihn berühren kann, den singulären Moment, der eine Beziehung zwischen ihm und dem Anderen stiftet. Ein Moment in Zeit und Raum, der sich mit ihm als existierendem Glied einer großen Gemeinschaft im Moment der Betrachtung verbindet. Revolte – Das wäre die Position von Georges, dem Kriegsfotografen: Er produziert und rezipiert immer weiter Bilder von der Welt, die ihn umgibt, Bilder des Schreckens, denn in einer Mediengesellschaft sind Bilder der einzige Weg, das Leid zu mildern. Wenn auch das historische Apriori der Rezeption das der Instabilität ontologischer und sozialethischer Verbindlichkeiten ist, so kann und muss er sich immer weiter im Strom bewegen und darf nicht stehenbleiben. Meine These wäre, dass diese drei möglichen, nicht-exklusiven Umgangsweisen mit Fotos auch für die »post-fotografische Ära« gelten, die der Medientheoretiker W. J. T. Mitchell schon 1992 ausgerufen hat: »Diese Lage erfordert mit zunehmender Dringlichkeit eine fundamentale und kritische Neueinschätzung der Verwendungsweisen grafischer Artefakte, der Werte, die wir ihnen zuschreiben, und der ethischen Prinzipien, die unseren Umgang mit ihnen bestimmen.« (Mitchell 1992: 223)
Für welche der Praktiken ich mich entscheide, ist – egal, wie ich mich entscheide – ein ethischer Akt, eine Selbst-Positionierung. ›Code incon-
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nu‹, »Code unbekannt«, heißt dann – mit Haneke, auf Barthes bezogen – nicht, dass es die Realität auf und hinter den Bildern nicht mehr gibt. Es heißt lediglich, und damit endet der Film an der Eingangstür zu Annes Appartement ja auch, dass die Code-Bestimmung unhintergehbarer Teil eines transformativen Deutungsgeschehens ist, den wir Kultur nennen können und zu dem wir als Betrachter notwendigerweise gehören. Wenn Kunst dabei die Rolle übernimmt, diese Arten des Umgangs zu reflektieren, dann stellt sich für unseren Zusammenhang die Frage, welche Rolle der Film den Zuschauern zuweist und wie sie sich dazu verhalten können. Christina Natlacen hat dazu jüngst ebenfalls mit Bezug auf Roland Barthes argumentiert, dass sich bei Haneke neutral-fotografisches »Zu-SehenGeben« und komplex-fiktionales Kontextualisieren bzw. »Dechiffrieren« miteinander verweben: »Dieses Ineinandergreifen von Denotat und Konnotat bestimmt nicht nur die beiden Sequenzen mit Fotografien in Code inconnu, sondern ist allgemein den FilmBildern von Michael Haneke inhärent. Der Filmemacher verlangt es den Rezipienten ab, seine Film-Bilder genau zu lesen. Seine Bildsprache, bei der Rahmungen und Anschnitte eine bestimmte Art des Sehens vorgeben, ist artifiziell und konstruiert. Seine Ästhetik setzt beim Betrachter die Kenntnis bestimmter Blicknormen voraus, die er permanent zu brechen sucht. Dabei – und das wäre jetzt die Ebene einer Botschaft ohne Code – versucht er aber gleichzeitig, so neutral und objektiv als möglich zu sein, um ›das Wirkliche peinlich genau zu kopieren‹.« (Natlacen 2014: 112; Zitat im Zitat Barthes 1990, S. 15)
›Code inconnu‹ zeigt insofern in spezifisch foto-medialer Hinsicht, was Hanekes Filme im Hinblick auf Genre, Narration und Bild-Ästhetik generell anstreben: eine Irritation der Rezipienten, die stets eine gewisse Vertrautheit voraussetzt, um den Effekt einer kritischen Befragung des Gewohnten zu erreichen (Loren/Metelmann 2013: 59–90). Haneke verbindet die Ausstellung einer spezifischen Zeitlichkeit (in Erzählzeit und erzählter Zeit) des Fotos mit der Frage nach seinem dokumentarischen Gehalt zur Frage, wie wir mit den Bildern leben wollen. Diese Positionierung der individuellen und kollektiven Bildpraktiken im Rahmen einer Ethik der Ästhetik ist in den letzten Jahren wieder verstärkt diskutiert worden (vgl. Rancière 2008) und es ist das Markenzeichen des österreichischen Autorenfilmers, sich der damit verbundenen Herausforderung von Anbeginn seines Schaffens an gestellt zu haben (vgl. Seeßlen 1996). Die Verdichtung der Problematik in ›Code inconnu‹ macht den Film zu einem wichtigen Scharnier nicht nur für das Werk Hanekes, sondern auch im Hinblick auf das Verhältnis von Standbild und Bewegtbild in der digitalen Welt des 21. Jahrhunderts.
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L iter atur Bachmann, Ingeborg (2000 [1972]): »Drei Wege zum See«, in dies., Simultan, München/Zürich: Piper, S. 119–211. Barthes, Roland (1989 [1980]): Die helle Kammer. Bemerkung zur Fotografie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Barthes, Roland (1990 [1961]): »Die Fotografie als Botschaft«, in ders., Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn (Kritische Essays, Bd. III), Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 11–27. Bourdieu, Pierre/Boltanski, Luc/Castel, Pierre/Chamboredon, Jean-Claude/ Lagneau, Gérard/Dominique Schnapper (1981 [1965]): Eine illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der Fotografie, Frankfurt a. M.: Europäische Verlagsanstalt. Conley, Tom (2010): »Tracking Code Unknown«, in Roy Grundmann (Hg.), A Companion to Michael Haneke, Chichester: Blackwell, S. 113–123. Delahaye, Luc (1999): L’autre, London: Phaidon Press. Frieze-Magazin (2013): Bild und Recht, http://frieze-magazin.de/archiv/ features/bild-und-recht/abgerufen am 24.05.2013. Geimer, Peter (2009): Theorien der Fotografie zur Einführung, Hamburg: Junius. Klinger, Cornelia (1995): Flucht, Trost, Revolte. Die Moderne und ihre ästhetischen Gegenwelten, München: Carl Hanser. Loren, Scott/Metelmann, Jörg (2013): Irritation of Life. The Subversive Melodrama of Michael Haneke, David Lynch and Lars von Trier, Marburg: Schüren. Metelmann, Jörg (2003): Zur Kritik der Kino-Gewalt. Die Filme von Michael Haneke, München: Fink. Mitchell, William J. T. (1992): The Reconfigured Eye. Visual Truth in the Post-Photographic Era, Cambridge, MA: The MIT Press. Natlacen, Christina (2014): Im Angesicht der Wirklichkeit. Fotografische Verweis in Michael Hanekes Code inconnu, in: Navigationen 14 (1): S. 103–114. Pantenburg, Volker (2006): Film als Theorie. Bildforschung bei Harun Farocki und Jean-Luc Godard, Bielefeld: transcript. Rancière, Jacques (2008 [2000]): Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, Berlin: b_books. Seeßlen, Georg (1996): »Strukturen der Vereisung. Blick, Perspektive und Gestus in den Filmen Michael Hanekes«, in Franz Grabner/Gerhard Larcher/Christian Wessely (Hg.), Michael Haneke und seine Filme. Eine Pathologie der Konsumgesellschaft, Thaur: Kulturverlag, S. 37–53. Sontag, Susan (1996 [1977]): Über Fotografie. Essays, Frankfurt a. M.: Fischer. Sontag, Susan (2010 [2003]): Das Leiden anderer betrachten, Frankfurt a. M.: Fischer.
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F ilme Benny’s Video (1992) (A/CH, R: Michael Haneke) Code inconnu (2000) (F/D/RO, R: Michael Haneke) Der siebente Kontinent (1989) (A, R: Michael Haneke) Drei Wege zum See (1976) (A, R: Michael Haneke) Funny Games (1997) (A, R: Michael Haneke) 71 Fragmente einer Chronologie des Zufalls (1994) (A/D, R: Michael Haneke)
A bbildungen Screenshots des Autors von der DVD »Code: Unbekannt«, 2000, MK2 Productions, Les Films Alain Sarde, Bavaria Film GmbH, Filmex Romania, France 2 Cinéma, Arte France Cinéma. Die DVD ist erschienen in der »Michael Haneke Box« der Arte Edition im Vertrieb von absolut MEDIEN.
Dritter Teil: Auseinandersetzungen mit Fotos
Bilder des Unsichtbaren Hermeneutik und Wahrnehmung 1 Hans-Georg Soeffner
I rritierte W ahrnehmung Wenn wir beim Fotografieren von »Belichtung«, »Belichtungszeiten« und »Belichtungs-variationen« sprechen, benennen wir – ganz selbstverständlich – die Künstlichkeit nicht nur der fotografischen Apparaturen, sondern auch der technikbasierten Manipulationen beim »Ablichten«. Zugleich zitieren wir, ohne weiter darüber nachzudenken, die ursprünglichen, natürlichen Beleuchter unserer Welt: die Gestirne. Ihnen und ihrer Belichtung der Welt verdankt die menschliche Spezies bis heute, vor aller künstlichen Beleuchtung der Welt, die Erfahrung des Zusammenhangs von Licht und Farben, Konturierung, Schattierung und Abschattierungen: die primäre visuelle Wahrnehmungsschulung. In ihr lernen wir nicht nur, etwas »gegenständlich« wahrzunehmen, sondern auch die Abhängigkeit der Wahrnehmung von Licht, Belichtung und Dunkelheit: das Zum-Vorschein-Kommen, die vielfältigen Erscheinungsweisen der Welt und das Verschwinden der Bildwelten mit dem Erlöschen des Lichts. Wie jede kontinuierliche Einschulung so führt auch die beständige Wahrnehmungsschulung zu Routinen: Das Gelernte wird selbstverständlich und der Lernprozess als solcher nicht mehr wahrgenommen. Wie die alltägliche Wahrnehmung so wurde auch der Umgang mit dem zunächst sensationell neuen Medium Fotografie zunehmend routinisiert, bis er durch die Anpassung der Technik an die Benutzer und durch technische Perfektionierung in die alltäglichen Wahrnehmungsmodi eingepasst war: Die Eingewöhnung des Sehens an das Medium verschmolz mit den medial geformten Sehgewohnheiten. Allerdings können situativ überraschend auftretende oder gezielt arrangierte Verfremdungen jede Routine wiederum so irritieren, dass die Chance entsteht, die Entstehung, Arbeitsweisen und Besonderheiten der jeweiligen Lernprozesse erneut in Erinnerung zu rufen. Die fotografische Wahrnehmung und die Wahrnehmung der Fotografie bieten strukturell mehrere Möglichkeiten, solche Irritationen zu erzeu1 | Zum theoretischen Hintergrund dieses Aufsatzes, dem Versuch einer soziologischen Theorie der Ästhetik, vgl. Soeffner 2013: 55–75 und 2010: 209–225.
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gen und zu nutzen. In der nun folgenden Argumentation nutze ich aus diesem Spektrum das Irritationspotenzial, das sich aus dem Verhältnis von Einzelbild einerseits und der – im Medium Fotografie seit der Arbeit mit Filmrollen und Bildspeichern angelegten – Serialität andererseits ergibt. Für dieses Verhältnis sind, wie in der Zeichen- und Sprachtheorie Jacques Derridas, die Leerstellen zwischen den Einzelbildern konstitutiv. Sie sind das Einfallstor sowohl für primordiale »Auffüllungsprozesse« und Appräsentationen2 als auch für gezielte Wahrnehmungsmanipulationen. Schon das Einzelbild »zwingt« uns (1) zu primordialen Akten formaler Appräsentation: Wir unterstellen »Rückseiten« des Gezeigten, seine räumliche Einbettung und Relationierung sowie seine Zugehörigkeit zu einer vortypisierten Welt etc.; (2) zu materialen Appräsentationen, in denen wir das Nicht-Gezeigte material auffüllen und zusammen mit dem Gezeigten zu einer konkreten Gestalt formen. Dieses Appräsentationspotenzial wird durch Serialität, konstitutive Leerstellen und Leerstellenpositionierung zwischen den Einzelbildern sowie durch die material präsentierte Bildfolge – sei sie auf der Filmrolle bzw. im Speicher dokumentiert oder im Nachhinein manipuliert – noch einmal gesteigert. Das strukturell gegebene Appräsentationspotenzial lässt sich, so meine These, prinzipiell in jeder Fotografie und bei jeder Bildserie rekonstruieren. Aber unsere durch den alltäglichen Umgang mit der Fotografie geprägten Sehgewohnheiten versperren – in der Regel – eine solche reflektierte Rekonstruktion. Zur Begründung meiner These wähle ich daher als Demonstrationsbeispiel einen Ausschnitt aus dem Werk Hiroshi Sugimotos. Denn dieser Fotograf arbeitet gezielt daran, in seinen Bildkompositionen das spezifisch fotografische Handeln als solches so zu dekonstruieren, dass es für den Betrachter durch die künstlerische Komposition des fotografischen Bildes »mit vergegenwärtigt« werden kann (vgl. Schütz 2003: 128–197). Anders – mit Max Imdahl (1996) gesagt: In der Betrachtung der Fotografie soll das »wiedererkennende Sehen« systematisch um das »sehende Sehen«, die Bildwahrnehmung um die Wahrnehmung der Bedingungen der spezifisch fotografischen Wahrnehmung ergänzt werden. Zur Veranschaulichung meiner These bediene ich mich im Folgenden einer weiteren – von mir suggestiv arrangierten – Konstruktion: der sequenziellen Gruppierung von Bildern, die sich, einander teilweise zitierend, sprachfrei – appräsentativ – selbst fortzuspinnen und zu kommentieren scheinen. Mit diesem Arrangement ziele ich auf das Zusammenspiel von »wissenssoziologisch unterfütterter«, materialgestützter Phänomenologie einerseits und Dekonstruktion suggestiv manipulierter Appräsentationen andererseits. – Letztere basiert auf einer Verführung, der wir »im Alltag« immer schon erliegen und die sich daher entsprechend leicht manipulieren lässt. Das durch mein Arrangement inszenierte Wechselspiel zwischen Bildkompositionen Hiroshi Sugimotos, Caspar David Friedrichs, Gustave le Grays und Gerhard Richters ist entworfen als beweglicher Horizont für 2 | Zum Begriff der »Appräsentation« vgl. Schütz 2003: 128–197.
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Appräsentationsmetamorphosen. Meine zwischen die Bilder eingestreuten, meist auf wenige zusätzliche Informationen beschränkten Kommentare verweisen auf bestimmte Appräsentations-»Mechanismen« – und öffnen oder steuern zwangsläufig wiederum einen neuen beweglichen Appräsentationshorizont. Diese Interferenzen sollen jedoch die durch die Bildfolge angeregten visuellen Selbstkommentierungsprozesse so wenig wie möglich beeinflussen.
F otogr afische Z eit – fotogr afierte Z eiten »Das Verhältnis zwischen Gehirn und Außenwelt ist dem Verhältnis zwischen Kamera und Bild recht ähnlich. Das projizierte Bild ist unweigerlich eine invertierte Fiktion.« (Sugimoto 2012: 11)
So sehr sich die hier von Sugimoto genannten Verhältnisweisen auch ähneln mögen, bezogen auf den Akt des Fotografierens repräsentierten sie dennoch, selbst wenn der Fotograf die Außenwelt ausschließlich durch den Sucher seiner Kamera wahrnähme, zugleich eine zeitliche Abfolge: Der fotografische Akt der Auslösung folgt dem vorausgehenden Bildentwurf – der invertierten Fiktion – des Auges. Mit dem fotografischen Akt des »Auslösens« löst sich das Bild von der bewegten Welt. Auslösung bedeutet beides: Ablösung und Transformation von Bewegung in ein statisches Bild. Mit der Herauslösung des Bildes aus Bewegung und bewegter Zeit transformiert der fotografische Akt die »Außenwelt« in den einzelnen Bildern in eine tendenziell unendliche Serie erstarrter Modelle: in statische Enklaven innerhalb einer sich weiter bewegenden, verzeitlichten Welt. Zugleich appräsentieren das Einzelbild und die in ihm angehaltene Zeit (1) die dem Bild vorausgehende und (2) die ihm folgende Zeit. Beide Appräsentationen sind eingebettet in die Zeit der Bildbetrachtung. Eben dieses beweglichen – Zeiten und Imaginationen verflechtenden – Spiels der Appräsentationen bedienen sich die von Sugimoto arrangierten Irritationen. Die Fotografie ist Teil einer Serie, in der Sugimoto architektonisch unterschiedlich gestaltete, überwiegend ebenso opulent wie traditionell ausgestattete, große Lichtspielhäuser ab- und belichtet. Der Serie vorausgegangen ist eine »innere Frage-Antwort-Sitzung«, die in einer »nahezu halluzinatorische[n] Vision« mündet. Auslöser ist die Frage: »Was geschieht, wenn du einen ganzen Abb. 1: ›Radio City Music Hall‹, New York, 1978
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Film auf einem einzigen Bild aufnimmst?« Die Antwort: »Du wirst eine glänzende Leinwand bekommen.« Sugimoto setzt seine Idee um und geht mit seiner »Großbildkamera in ein billiges Kino im East Village.« Zu Beginn des Films stellt er »den Verschluss auf eine weit offene Blende ein.« Zwei Stunden später, am Ende des Films, schließt er die Blende: »Am gleichen Abend entwickelte ich den Film, und meine Vision explodierte vor meinen Augen.« (Alle Zitate: Sugimoto 2007: 77)3 Innere, subjektive Bildwelten wie die hier geschilderten lassen sich nicht angemessen versprachlichen. Auch bietet Sugimotos Schwarz-WeißFotografie als solche – eine unbelebte weiße Leinwand in einem leeren Lichtspielhaus – zunächst wenig Stoff für die Rekonstruktion explodierender Visionen. Dies ändert sich, wenn unsere inneren Bildwelten durch die Zusatzinformation affiziert werden, dass die auf der Fotografie abgebildete, weiße Leinwand für zwei Stunden Schauplatz bewegter Bilder (der Film als Kind der Fotografie!) war: eines Filmes, der auch jeder andere mögliche Film hätte sein können und der von allen möglichen, jetzt unsichtbaren Zuschauern gesehen wurde oder hätte gesehen werden können. Mit einem Mal setzt sich das Spiel appräsentationsgestützter Imagination in Bewegung. Das Standbild bewegt sich. Die stehende Zeit dehnt sich in variierenden Bewegungen aus; die Schwarz- Weiß-Kontraste und Abtönungen können sich färben; angehaltene Zeit und suggestiv imaginierte, bewegte Dauer werden zum dynamischen Augenblick kontrahiert – zu einer explodierenden Vision: In der Bewusstseinsspannung (vgl. Schütz 2003: 179 ff.) freien Appräsentierens, in »ästhetischer« Einstellung – dem Sinnbezirk handlungsentarteter Wahrnehmung – kann durch die gezielte Irritation des »Sehens wie immer« das fotografische Bild für den Betrachter explosiv werden und alltägliche Wahrnehmungsroutinen in außeralltägliche Phantasmen transformieren. Stützen sich Appräsentationen und Visionen im ersten Bildbeispiel auf soziohistorisch fundierte Typsierungen und Erfahrungspotenziale, die ihrerseits eingebettet sind in geschichtliche Horizonte einer sozialen Zeit, so führt Sugimoto am Beispiel nächtlicher Fotografien von DriveIns gezielt zwei dominante technische Produktionen der Moderne – Film und AutomoAbb. 2: ›Stadium Drive-In‹, Orange, 1993 3 | Dass eine Großbildkamera, die in ein Lichtspielhaus versetzt wird, bewusst auf die Anfänge der Fotografie – auf die Camera obscura – verweist und deren Technik zitiert, ist ebenso Teil des von Sugimoto eingesetzten Irritationsarrangements.
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bil – mit dem vom Menschen unabhängigen Kosmos zusammen: realgeschichtliche, soziale und kosmische Zeit. Wieder sind der Spielfilm/die Spielfilme unsichtbar – ebenso die nicht »ins Bild gesetzten« Automobile und deren Insassen: Stimuli für die Freisetzung eines ähnlichen Appräsentations- und Imaginationspotenzials wie in der Serie der Lichtspielhäuser. Hinzu kommt nun jedoch die am dunklen Himmel zu einer hellen Linie erstarrte Bewegung eines Sterns (links oberhalb der »Leinwand«). Die anthropozentrische trifft auf die kosmische Zeit, endliche auf unendliche Ausdehnung, und all diese Zeiten kommen in der Statik des Bildes zur Ruhe. Aber diese Statik verdankt sich Sugimotos Spiel mit dem fotografischen, dem »Kamera-Auge« und mit der fotografischen Zeit: mit Blende und Belichtungszeit. Fotografische Zeit und fotografierte Zeiten irritieren einander und eröffnen unseren Imaginationen nahezu grenzenlose Bildwelten. Indem Sugimotos Fotografien gezielt auf den – strukturell immer schon gegebenen – Kontrast zwischen fotografischer, fotografierter und angehaltener Zeit verweisen, stehen sie sowohl für die ästhetische Anleitung zu »sehendem« Sehen als auch für eine fotografisch inspirierte, angewandte Phänomenologie.
F otogr afischer R aum – fotogr afische R äume »Im späten Frühjahr 1982 sah ich von einer Klippe in Neufundland aus einen wunderschönen Sonnenuntergang, gleichzeitig ging im Osten der Vollmond auf. Und so, wie ich dort in der frischen Luft stand, kam ich mir vor wie eine Gestalt auf einem Gemälde Caspar David Friedrichs. Zum ersten Mail seit vielen Jahren hatte ich das Gefühl, ich würde meinen Körper verlassen. Ich schwebte hoch über der Erde und betrachtete den Mond über dem Meer, während ein anderes Ich – ein Pünktchen – gebannt auf dem Erdboden stand.« 4 (Sugimoto 2012: 38)
Immer wieder zeigt Caspar David Friedrich auf seinen Gemälden »Gestalten« – meist als Silhouetten – die der Natur, vor allem dem Meer, als »Betrachter« gegenüberstehen. Wir sehen, welchen Standpunkt sie für ihre Betrachtung gewählt haben und wie sie der Maler positioniert. Vor allem aber zeigt er uns, ohne uns das »Gesicht« seiner Gestalten sehen zu lassen, was und wie sie sehen. Der Maler verdoppelt den Standpunkt dessen, der das Gemälde betrachtet: Dieser tritt aus sich heraus, sieht die (im Bild) die Natur/das Meer betrachtenden Gestalten und zugleich mit ihnen. In diesem irritierten Raumarrangement verliert er den eigenen »festen« Standpunkt. Die Wahrnehmungen sowohl des bildinternen als auch des bildexternen Betrachters werden perspektivisch erweitert durch einen Mitwahrnehmenden. So entsteht für den Bildbetrachter die Empfindung, er habe den eigenen Körper verlassen und könne in dieser Ortlosigkeit 4 | Der Versuchung, dieses Selbstzeugnis Sugimotos zu interpretieren, statt den durch Bildsequenzen angeregten Appräsentationsmetamorphosen weiter zu folgen (s. o.) habe ich nur mit Mühe widerstanden.
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Abb. 3: ›Der Wanderer über dem Nebelmeer‹, 1818
Abb. 4: ›Kreidefelsen auf Rügen‹, 1818/1819
Abb. 5: ›Mondaufgang am Meer‹ (Sonnenuntergang über dem Meer), um 1835
mithilfe seines Doppelgängers sich und seine Wahrnehmungsräume vervielfältigen. Damit geraten auch die Horizontlinien in Bewegung. Offensichtlich ist Sugimoto mit dem Werk Caspar David Friedrichs so eng vertraut, dass sich in seinen Bilderinnerungen mehrere Gemälde miteinander verbinden und einander überlagern. Die Interferenzen zwischen (1) dem Raum des Bildbetrachters, (2) dem Bildraum und (3) dem abgebildeten Raum, die damit verbundene Perspektivenbrechung und Perspek-
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tivenerweiterung, vor allem aber die sich hieraus eröffnende Möglichkeit, in ästhetischer Einstellung und Bewusstseinsspannung in die Räume und Bildwelten von »multiple realities« (William James) einzutreten, haben ihn und seine Bildwahrnehmung, wie das Zitat zeigt, nachhaltig beeinflusst. Aber sowohl für Sugimotos als auch für unsere eigenen Verweisungsund Appräsentationshorizonte ist durch den Verbund der miteinander konkurrierenden und der zugleich einander zitierenden Medien – anders als in der Zeit Caspar David Friedrichs – eine Situation eingetreten, in der die schiere Menge neuer Wahrnehmungsgegenstände und Eindrücke das »Was« der Wahrnehmungen, die Reflexion über das »Wie« in den Hintergrund zu drängen scheint. Wieder entsteht jedoch zugleich auch der Widerstand gegen die Faszination an der Produktion immer neuer Bilder durch die Struktur und Möglichkeiten einer freigesetzten Ästhetik: im Vorerinnern, Miterinnern und Mitvergegenwärtigen von Wahrnehmungsoptionen und Gestaltungsvariationen, die wir in einer langen Kette vorangegangener Bildbetrachtungen entwickelt haben. Schon bei Caspar David Friedrich ist die Faszination erkennbar, die von der Wahrnehmung und Gestaltung des Horizontes ausgeht. Er ist das als unbeweglich erscheinende Bewegliche. Er verschiebt sich mit unserer Bewegung. Wir verschieben ihn, wenn wir uns bewegen. Er ist die Grenze, die wir uns selbst durch unser Sehen und unsere Wahrnehmung setzen. Er umschließt uns, weil wir uns in ihm einschließen. Für unsere Weltwahrnehmung ist er eine ständige Herausforderung: Wir wissen, dass er uns täuscht, weil wir uns in ihm täuschen. Er verbirgt nicht nur, was hinter ihm liegt, sondern auch – im »modernen Weltbild« – dass er sich doppelt krümmt. Die sichtbare, gerade Linie des Meereshorizontes ist Teil eines Kreises und der Weg von unserem Standpunkt zum Horizont ist ebenso gekrümmt wie der Weg über die Horizontlinie hinaus. So schickt uns der Horizont auf reale und imaginäre Entdeckungsreisen, weil wir wissen, dass er uns etwas verbirgt und weil wir wissen wollen, was er verbirgt. Seine Verhüllungsstruktur macht ihn zum ebenso beständigen wie verführerischen Appräsentationsprovokateur. Auf eben dieser unwiderstehlichen Widerständigkeit beruht sein ästhetischer Reiz. Abb. 6: Gustave le Gray 5, ›Brigg im Mondschein‹, ›Brigg in the moonlight‹, 1856 5 | Gustave le Gray war nicht nur professioneller Fotograf, sondern verbesserte auch das von William Fox Talbot erfundene Negativ-Positiv-Verfahren durch den Einsatz von Collodium: ein zusätzlicher Anreiz für den Fotografie-Historiker Sugimoto.
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Unverkennbar nimmt Le Gray, ein Zeitgenosse Caspar David Friedrichs, mit dem neuen Medium Fotografie die Sehgewohnheiten (romantischer) Malerei auf: Wolken-, Licht-, See-Himmel-Kontraste, überwältigende räumliche Dehnung der »Natur« und Miniaturisierung menschlicher Technik. Zugleich ersetzt er den bildinternen Betrachter Caspar David Friedrichs durch das »Objektiv«, durch die Perspektive des »einäugigen« Sehens der Kamera, das seinerseits vom räumlichen Sehen des menschlichen Betrachters korrigiert werden muss. Dieser wiederum ist »bildintern«, jenseits seines realen, bildexternen Standortes, standortlos – es sei denn, er imaginiere sich als jemand, der über das Meer geht oder fliegt. Kurz, es ist nicht rekonstruierbar, wo der Fotograf positioniert war.
Abb. 7: Gerhard Richter, ›Seestück‹, 1970
Abb. 8: Gerhard Richter, ›Seestücke‹ (FotoCollagen), 1970
Diese »bildinterne Standortlosigkeit« des Betrachters nimmt Gerhard Richter in seinen Seestücken wieder auf, ergänzt sie aber nicht nur um ein Spiel mit den unterschiedlichen, einander zitierenden Medien Malerei und Fotografie, sondern auch dadurch, dass er das Täuschungspotenzial des Horizontes gezielt nutzt. Der von der See getrennte Himmel besteht »vordergründig« aus nichts anderem als aus der an den Himmel projizierten See. Als Betrachter befinden wir uns zwischen zwei Meeren – einem über uns und einem unter uns. Damit verweisen die Seestücke – hintergründig – auf ein mythisches Appräsentationspotenzial: auf den Mythos von der Flucht des Volkes Israel durch das Rote Meer. Zugleich variieren sie den Mythos, indem sie die horizontale Teilung des sich nach zwei Seiten öffnenden Meeres in eine vertikale Spiegelung transformieren und den Betrachter in eine Luftschicht zwischen zwei Meeren versetzen. Das sich unter einem unantastbaren, kosmischen Himmel teilende Meer des Mythos verheißt Befreiung. Das Verschwinden des
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kosmischen Himmels und das Eingesperrt-Sein in einen Luftkorridor zwischen zwei Meeren, von denen eines die Projektion des »irdischen« Meeres an den Himmel repräsentiert, verweist dagegen sowohl auf den Verlust einer »außerweltlichen« Transzendenz als auch auf das Eingeschlossen-Sein in eine ausweglose, sich lediglich selbst widerspiegelnde Immanenz. Der bisher in meinem Bild-Arrangement beschrittene Weg führte von einer oft reichhaltigen, vor allem aber immer gut erkennbaren Gegenständlichkeit zunehmend zu einer Konzentration auf wenige zentrale Elemente und Kompositionsmerkmale, bis schließlich nur noch die durch einen Horizont strukturierte Relation von »oben« und »unten«, See und Himmel, See und See als Himmel, übrig blieb. Zugleich wuchs mit der zunehmenden materialen Entleerung des Bildraumes das Appräsentationspotenzial, das sich aus vorangegangenen und zuvor gezeigten, nun aber unsichtbar gewordenen Bildwelten speist. Damit komme ich zu den vorerst letzten Variationen des Bildarrangements. In einer seiner weiteren »inneren Frage-Antwort-Sitzungen« fragt sich Sugimoto: »Kann jemand heute einen Schauplatz genau so sehen, wie ein urzeitlicher Mensch ihn gesehen haben mag?« Die Bilder, die ihm dabei in den Sinn kommen, sind die des Fujiyama und des Nachi-Wasserfalls »in vergangenen Zeiten«. Hatte der Fujiyama – so die weiteren Fragen – einmal völlig anders ausgesehen? – Sugimoto stellt sich zwei große Berge vor: den Fujiyama und den inzwischen eingestürzten Hakone. Was also – von dem damals noch zu Sehenden – hat sich verändert oder Abb. 9: ›Caribbean Sea‹, Jamaika, 1980 ist sogar verschwunden? Wo, wenn überhaupt, ließe sich eine unveränderbare Topografie finden? Die Antwort: »Obwohl das Land ständig seine Form ändert, ist das Meer unveränderlich, dachte ich. So begannen meine Reisen zurück durch die Zeit zu den antiken Meeren der Welt.« (alle Zitate: Sugimoto 2007: 109) Das Ergebnis dieser Reisen dokumentiert Sugimoto in der Bildserie ›Seascapes‹ (1980–2003) (vgl. Sugimoto 2007: 108–143). Aus dieser umfangreichen Serie wähle ich zwei Bilder aus, an denen sich die Spannweite der fotografisch imitierten Wahrnehmungsexperimente zeigen lässt. Abb. 10: ›Tyrrhenian Sea‹, Scilla, 1993
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Der Kontrast zwischen dem Land, das – nicht zuletzt auch in unserer Imagination – seit dem urzeitlichen Menschen seine Form ständig geändert hat, und den ›Seascapes‹ ist einerseits unverkennbar. Andererseits zeigen uns die Bilder vom »unveränderlichen Meer« dieses Unveränderliche in tendenziell unendlich variierbaren grau-schwarz-getönten Bildern. Aber die Form des Landes und die Formen auf dem Land sind ebenso nicht nur in ihren Farben und Kontrasten ständiger Veränderung ausgesetzt, sondern auch – und dies haben sie mit dem »unveränderlichen Meer« gemeinsam – einem unentwegten Wechsel ihres Erscheinungsbildes: Jahres- und Tageszeiten, Wetter und Atmosphäre erzeugen eine unerschöpfliche Variation dieser Erscheinungsweisen. Das Variationspotenzial wird zusätzlich gesteigert durch seine Abhängigkeit von der jeweiligen »Gestimmtheit«, in der die Betrachter etwas wahrnehmen. Was also ist die besondere Qualität, durch die das Meer unveränderlich wird? Zunächst einmal sorgt Sugimoto selbst für Konstanz durch ein gleichbleibendes technisches Arrangement,6 das – neben Schwarz-Weiß-Fotografie, Kamera, Entwicklungstechnik, Bildformaten – vor allem die Positionierung der Kamera betrifft (vgl. Zweite 2012: 13 f.): »Der Blick auf das Wasser erfolgt grundsätzlich von einer erhöhten Position, etwa 20–30 Meter über dem Meeresspiegel.« Damit Dünung oder Brandung nicht ins Bild kommen, wird der Vordergrund ausgeblendet: Das Bildfeld öffnet sich erst 200–300 Meter vom Ufer entfernt. Der Himmel ist grundsätzlich wolkenlos, die Meeresfläche leer. Felsen, entfernte Ufer, Schiffe werden systematisch ausgespart. Eine sichtbare Horizontlinie oder eine erkennbare hell-dunkel-Abtönung trennen die obere und die untere Bildhälfte exakt »in der Mitte des rechteckigen Bildes, das um ein Viertel breiter ist als hoch.« (Zweite 2012: 14) In ihrer zweigeteilten, manchmal fließend gestalteten Mono- oder Diachromie zitieren die Fotografien bewusst die traditionelle monochrome Landschaftsmalerei Japans, die ihrerseits in der Meditationstradition des Zen-Buddhismus steht.7 Damit zielen sie in einer durch strukturelle Invarianz gebändigten Appräsentationsbewegung auf die Eröffnung einer in sich geschlossenen meditativ-ästhetischen Bewusstseinsspannung beim Betrachter. Den immer neu abgeschatteten Grautönen in den ›Seascapes‹ kommt hier jene besondere Bedeutung zu, die Gerhard Richter (1993) der »Farbe« Grau zuschreibt: »Grau. Es hat schlechthin keine Aussage, es löst weder Gefühle noch Assoziationen aus; es ist eigentlich weder sichtbar noch unsichtbar. Die Unscheinbarkeit macht es so geeignet zu vermitteln, und zwar in illusionistischer Weise gleich einem Foto. Und es ist keine andere Farbe geeignet, »nichts« zu veranschaulichen. Grau ist für mich die willkommene und einzig mögliche Entsprechung zu Indifferenz, Aussage6 | Hiroshi Sugimoto hat viele hervorragende Interpreten gefunden, auf deren Kenntnisse ich mich dankenswerter Weise stützen kann. 7 | Zur Aufnahme dieser Traditionen vgl. Soeffner 2013.
Bilder des Unsichtbaren verweigerung, Meinungslosigkeit, Gestaltlosigkeit […].« (Richter 1993: 76 f.) (vgl. auch Zweite 2012: 37 f.)
Der scheinbare Widerspruch zwischen einerseits dem von Richter betonten »nichts« veranschaulichenden, Assoziationen und Aussage verweigernden und andererseits dem von mir herausgestellten – gerade durch diese Entleerung einen unendlichen Imaginations- und Appräsentationshorizont eröffnenden – Grau muss allerdings aufgelöst werden: Er ergibt sich nur dann, wenn nicht zwischen der – von scheinbar leeren, alle Grenzen auflösenden Grautönungen bevorzugt ausgelösten – meditativen Bewusstseinsspannung einerseits und der gerade durch die Leere möglichen, nahezu grenzenlosen(!) materialen Auffüllbarkeit des Imaginationshorizontes andererseits unterschieden wird. Beides, den Kontrast und die Wechselwirkungen, die zwischen diesen beiden Dimensionen bestehen, erlebt jeder von uns, sobald er sich im Nebel, in einer durch Nebel unsichtbar gewordenen Welt, bewegen muss: Material könnte aus der im Nebel unsichtbar gewordenen jede andere Welt werden – sei sie unheimlich, geheimnisvoll oder trotz allem vertraut. Zugleich aber kann uns das buchstäbliche »Nichts«-Sehen-Können in eine Bewusstseinsspannung versetzen, in der alles »gleich-möglich« und damit »gleich-gültig« wird: in die Bewusstseinsspannung der – auch ästhetisch – meditativ entgrenzten Wahrnehmung. Darüber hinaus lenkt Richter unsere Aufmerksamkeit auf eine weitere, unsere Wahrnehmungen und Imaginationen modulierende Wirkung des Grau. Indem er von Grau als »Farbe« spricht, reiht er es nicht nur ein in das gesamte Farbspektrum, sondern stellt auch gezielt die Frage nach spezifischen Farbwahrnehmungen, die durch diese Farbe ausgelöst werden. In seinen Seestücken (s. o.) kontrastiert er ein Ölgemälde mit einer Foto-Collage. Dadurch macht er nicht nur auf die Differenz zwischen Ölmalerei und Fotografie aufmerksam, sondern auch auf die – gemessen an der uns anthropologisch mitgegebenen, alltäglichen Farbwahrnehmung – technische und ästhetische Künstlichkeit der Schwarz-Weiß-Fotografie. Zum anderen stellt er die Frage nach den implizit wirksamen Wahrnehmungsmodulationen, die sich aus dem Verhältnis der Schwarz-Weiß-Fotografie zu unserer »alltäglichen« Farbwahrnehmung ergibt. Dem Ölgemälde treten wir im Rahmen der – mit der Ölmalerei verbundenen, durch sie implizit eingeschulten – Sehgewohnheiten gegenüber. Unwillkürlich ordnen wir das Grau des Ölgemäldes in das Farbspektrum der Ölmalerei ein. Wie aber steht es mit den Sehgewohnheiten, in die uns die Schwarz-Weiß-Fotografie und der Schwarz-Weiß-Film eingeübt haben? Zur Beantwortung dieser Frage greift Sugimoto – anders als Richter – auf das von ihm immer wieder eingesetzte Verfahren der Irritation unseres »Sehens und Wahrnehmens wie immer« (s. o.) zurück.8 8 | Im Folgenden greife ich auf einen kleinen Ausschnitt aus dem bereits erwähnten Aufsatz zurück (vgl. Soeffner 2013: 71 ff.).
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Wieder soll das »natürliche« pragmatische Sehen so irritiert werden, dass Sehgewohnheiten reflexiv aufgeschlüsselt und ihre Typisierungsroutinen erkennbar werden können. Zur Umsetzung einer solchen konstruktiv analytischen Irritation wählt Sugimoto eine verblüffend einfache »Versuchsanordnung«. Er fotografiert und zeigt – wiederum seriell – helle, scheinbar weiß getönte, aber durch Schatten an Decken und Wandlinien abgetönte Strukturen von Innenräumen: kubistische Konstruktionen in subtil abgetönten Weiß- und Grauschattierungen.
Abb. 11: ›C 1005‹, 2004
Bei der Betrachtung solcher Fotografien orientiert sich unsere Wahrnehmung an einer Sehgewohnheit, die wir im Umgang mit der SchwarzWeiß-Fotografie gewonnen haben: Wir wissen, dass wir »im Normalfall« farbig sehen – selbst bei der Beobachtung des Nachthimmels oder von Lichtquellen im Dunkeln. Die Schwarz-Weiß-Fotografie ist demgegenüber eine künstliche Reduzierung des Sehens auf ein »farbloses« Hell-DunkelSpektrum. Nicht zuletzt deswegen setzt ein Teil der fotografischen Ästhetik, insbesondere nach der Erfindung des Farbfilms darauf, die erkennbare Künstlichkeit der reinen Schwarz-(Grau)-Weiß-Schattierungen in den Dienst ästhetischer Produktion und Wahrnehmung zu stellen: Bewegen sich meine Sehgewohnheiten also – affiziert durch entsprechende Vorlagen – im Rahmen dieser Typisierung, so sind sie tendenziell außerstande, das farbliche Sehen zu reaktivieren.
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Abb. 12: ›C 1015‹, 2004
Dementsprechend lassen wir uns durch eine Versuchsanordnung täuschen, in der wir implizit angeregt werden, mit »Schwarz-Weiß-Routinen« auch solche Bilder zu betrachten, die mit einem Farbfilm aufgenommen wurden, also Farbtönungen enthalten (Abb. 11). Unseren Irrtum bemerken wir erst, wenn der farbige Fußboden der Räume sichtbar wird (Abb. 12). Nicht nur erkennen wir jetzt, dass wir eine Farbfotografie vor uns haben, sondern auch, dass (1) der Kontrast: Farbe vs. Weiß und Grau zum kunstvollen Design der Räume gehört, (2) sehen wir auch die Weiß/Grautöne mit anderen, auf farbiges Sehen eingestellten Augen. An dieser erneuten Irritation des »wiedererkennenden Sehens« durch das »sehende Sehen« lässt sich die gleiche Differenz erkennen, durch die auch das Verhältnis zwischen materialer Auffüllbarkeit des Appräsentationshorizontes einerseits und einer sich von materialer Gegenständlichkeit lösenden Wahrnehmung in ästhetisch meditativer Bewusstseinsspannung andererseits gekennzeichnet ist.
B e wegung und R aum -Z eit-K ontinua Die Auseinandersetzung mit der Geschichtlichkeit – des Kosmos/Weltalls, der Menschheit und auch des Sehens – durchzieht leitmotivisch Sugimotos Welt. In den ›Seascapes‹ konzentriert er die entleerten Meere und den entleerten Himmel auf das »Unveränderliche«, während er in einigen
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Bildern aus der ›Drive-In‹-Serie technische Artefakte der »kosmischen Bewegung« der Gestirne entgegengesetzt, wobei die zeitlich gedehnte Öffnung der Blende die Bewegung der Gestirne in der Fotografie als helle Linien fixiert: Nicht nur der im Bild modellhaft präsentierte Stillstand ist unveränderlich; unveränderlich sind vor allem die Regeln und Gesetze der Bewegung, die im Bild angehalten wird. Von je her lebt die Fotografie von der Faszination eines von ihr ausgestalteten Paradoxes: vom Zeigen und sogar Analysieren der Bewegung durch deren Stillstellung im fixierten »Augen-Blick«. Die auf einen Moment hin konzentrierte, stillgestellte Zeit stellt sich in einen scharfen, unaufhebbaren Kontrast zu fortschreitender Zeit und Bewegung. Dieser Kontrast wird umso schärfer bewusst, je mehr das zeitliche Atom des Augenblicks kontrastiert wird mit der unendlichen kosmischen Zeit, repräsentiert durch die Bewegung der Gestirne nach »ewigen« kosmischen Gesetzen. Gemessen an Unendlichkeit und Ewigkeit sei der einzelne Mensch nichts, gemessen am Nichts dagegen, alles, stellt Blaise Pascal fest. Für das Verhältnis von Augenblick und Ewigkeit gilt dasselbe: Gemessen an der Ewigkeit ist der Augenblick nichts, gemessen an der Endlichkeit kann er alles sein. Fausts Wunsch, die Vollendung im Augenblick festhalten und erleben zu können, ist vermutlich so alt wie die Menschheit selbst: Die Lust zu und an der Ekstase – das Verlangen, aus sich und der Zeit herauszutreten – ist Teil der artspezifischen »Grundausstattung« eines endlichen, sich seiner Endlichkeit und Sterblichkeit bewussten Lebewesens. Und dieses Lebewesen wird sich seiner Endlichkeit seit je bewusst, indem es sich als endliches Atom einerseits eingebettet sieht in den ewigen »Lauf« der Natur, der Zeiten und Gestirne und andererseits gerade in diesem Kontrast beständig mit der eigenen, bedrückenden Endlichkeit konfrontiert wird. Von dem – uns wegen seiner Nähe zur Erde – am größten erscheinenden »Gestirn«, dem Mond, geht dabei eine besondere Faszination aus: Die auf der (Voll-)Mondoberfläche sichtbaren »Markierungen« (»Mann im Mond«), die beobachteten oder geahnten Wirkungen der Mondphasen (vgl. die Mondkalender) auf Gezeiten und »Biorhythmen«, die Metamorphosen des Mondes vom Vollmond über die Mondsicheln bis zum Neumond, von vollständiger Sichtbarkeit über Teilansichten bis zur Unsichtbarkeit, bieten schon von sich aus jene Appräsentationsspielräume, von denen Mythen, Märchen und symbolische Formen leben (vgl. Güttler/Petri 1962 und Blühm 2009). In seinem Werk knüpft Sugimoto sowohl an diesen allgemeinen Hintergrund an, als auch an spezifisch japanische Traditionen und fotografische Vorbilder. Er kennt sowohl die ›Hundert Ansichten des Mondes‹ (Farbholzschnitte des Mondes von Tsukioka Yoshitoshi, 1839−1892) als auch die für die damalige Zeit (1870) sensationelle Fotografie eines unbekannten Fotografen:
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Abb. 13: ›Passage of the Moon over Two Hours‹, Arcachon, Frankreich, um 1870
Wie im alten Weltbild und in der ›Passage of the Moon over Two Hours‹ wird auch in Sugimotos ›Drive-In‹-Serie das sich bewegende Gestirn noch irdisch perspektiviert: Erde und Mensch bilden das Zentrum, um das sich die Gestirne bewegen. Für den Trabanten der Erde, dies ist ebenfalls Teil seiner – aus irdischer Sicht – Sonderstellung, gilt dies solange, bis er in der kopernikanischen Wende, gemeinsam mit der Erde, in das umwälzende, »revolutionäre« Weltbild der Moderne eingepasst wird. Mit dieser neuen Zuordnung wird auch die irdische Perspektive revolutioniert: Zeit, Raum und Bewegung verlieren ihr irdisches Zentrum, und der Betrachter wird – abgesehen von seinem bildexternen Standort – in Bewegungs- und Raumdimensionen versetzt, in denen es für ihn keinen »archimedischen Punkt« mehr geben kann. Diese Problematik greift Sugimoto mit der 15 Bilder umfassenden Serie ›Revolution‹ auf: (Sugimoto 2012: 43–77) »Als Kind schwebte ich im Traum oft mitten in der Luft. Manchmal verließ ich meinen Körper und schaute aus der Höhe, unter der Zimmerdecke treibend, meinem schlafenden Selbst zu. Wie eine astrale Projektion. […] Sogar als Erwachsener stelle ich mich oft als in der Luft schwebend vor. […] Das Weltbild, das sich seit Kopernikus und Galilei durchgesetzt hat, bestimmt die Luftansicht unseres Selbst.« (Sugimoto 2012: 10)
Der Titel ›Revolution‹ verweist also nicht auf einen anthropozentrisch gedachten, politischen oder sozialen Umsturz, sondern auf die Dezentrierung der alten Kosmologien: auf einen buchstäblich »utopischen Standort« – auf das Stehen im Nirgendwo (vgl. Soeffner 1974). Pate des Titels ist Nikolaus Kopernikus mit seiner Schrift ›De revolutionibus orbium coelestium‹ (1543), in der das geozentrische durch das heliozentrische Weltbild abgelöst wird, das sich später seinerseits durch die Einsteinsche
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Relativitätstheorie und die moderne Astrophysik in die Kosmologie eines in »randloser« (Hawking) Raum-Zeit-Mannigfaltigkeit expandierenden Universums transformiert. Sugimotos Bildfolge entsteht zwischen 1986 und 1997 in unregelmäßiger Reihenfolge. Später – 2011/2012 – werden die Bilder bearbeitet und auf ein einheitliches Format hin vergrößert: 239 × 118,5 cm, also auf ein Rechteck, das aus einem doppelten Quadrat besteht (Zweite 2012: 32). Die ›Revolution‹, die Drehung der Bilder im Uhrzeigersinn um 90° setzt ein, nachdem uns zunächst am Anfang der Sequenz zwei »Landscapes« gezeigt werden, die unseren – bisher durch Sugimoto gesteuerten – Sehgewohnheiten weitgehend entsprechen: In einem horizontal gestalteten, langen Rechteck sehen wir »Landschaft«, Horizontlinie und Himmel in der gewohnten Bildaufteilung (50/50). Ungewohnt ist lediglich die Verbreiterung des Formates zu einem doppelten Quadrat. Eben diese Verbreiterung verstärkt die Irritation, wenn die folgenden Bilder in die Vertikale gedreht und zugleich »material« entleert werden. Die Landschaft verschwindet. Es bleiben – revolutioniert – der Himmel und ein Meer, das als solches in einigen Fällen nicht mehr erkennbar ist. Ein »Haltepunkt« könnte bei einigen Bildern der Mond sein, wenn wir wüssten, wo er und seine Umgebung sich und damit wir uns befinden: Das Bild parodiert die Raum- und Zeitangaben, die Sugimoto seiner ›Revolution 007‹ beifügt. Wenn zusätzlich der »Mond« durch die lange Belichtungszeit in eine Bewegung gesetzt wird, von der man nicht weiß, wo sie beginnt, ob sie von unten nach oben oder in umgekehrter Richtung erfolgt, und wenn schließlich das runde Gestirn in eine kräftige, helle, erstarrte Linie transformiert wird, führt uns unsere Irritation durch die ins Bild gesetzte und in ihm erstarrte Revolution in das von Sugimoto angestrebte Experiment zum Umgang mit einer experimentell erzeugten, dezentrierten Wahrnehmung. Indem uns Sugimoto auf dem utopischen Standort seiner »astralen Projektion« (s. o.) positioniert, der sich seinerseits in einer unendlichen, jenseits der Erdzeit stattfindenden kosmischen Rotation befindet, erzeugt er systematisch die Unterbrechung und Dispensierung alltäglicher Wahrnehmungs- und Typisierungsautomatismen. Diese utopische Positionierung eröffnet eine der großartigsten menschlichen Möglichkeiten: die Fähigkeit, in ästhetischer Einstellung der Welt und uns selbst im Modus des »kategorischen Konjunktivs« (Helmuth Plessner) zu begegnen (vgl. Soeffner 2010, 2013).
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Abb. 14: ›Revolution 007‹, Adriatisches Meer, Galgano, 1990
Abb. 15: ›Revolution 002‹, Nordatlantisches Meer, Neufundland, 1990
D er utopische S tandort der H ermeneutik Sugimotos Kunstlehre der fotografischen Wahrnehmung und Imagination verdankt sich dem Wahrnehmungshorizont des Kultur-, Narrationen-, Wissens- und Technikaustausches der pluralistisch verfassten Welt des zwanzigsten und beginnenden einundzwanzigsten Jahrhunderts: einer Welt der »multiple modernities and globalizations« (vgl. Soeffner 2014: 207–224). In dieser Welt »verschränken« sich Weltanschauungen, Religionen, Wertvorstellungen, Traditionen, nationale oder »ethnische« Herkunft nicht nur innerhalb einer Gesellschaft oder eines Gemeinwesens, sondern auch innerhalb eines Individuums (vgl. u. a. Berger/Huntington 2002). Sugimoto, 1948 in Tokyo geboren, seit langem in den USA (New York, Los Angeles) lebend, Weltreisender und weltweit rezipierter Kosmopolit, steht exemplarisch für eine solche Kulturverschränkung. Er habe, so sagt er, eine »synkretistische Sozialisation« durchlaufen, geprägt durch protestantischen Kindergarten, episkopale Grundschule, eine christliche Universität (Rikkyo Universität), an der er als Intellektueller »mit dem Marxismus und Existenzialismus getauft« worden sei (Sugimoto
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2007: 19). Immer aber fühlte er sich auch eingebettet in die buddhistische Tradition Japans (Theater, Literatur, Papierschneidekunst, Raguko-Klassiker) – mit der Folge, dass sein »junges Bewusstsein West und Ost [immer wieder] durcheinander« gebracht habe (Sugimoto 2007: 13). Christentum, europäische Aufklärung, japanische Naturreligion (Shintō) und zen-buddhistische Meditation (s. o.; vgl. dazu auch Soeffner 2013) korrespondieren bei ihm mit dem Einsatz eines modernen Mediums, der Fotografie, und mit der neuen Erscheinungs- und Funktionsweise des ›Kunstwerkes im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit‹ (Benjamin 2007). Diese Korrespondenzen revolutionieren nicht nur die Raum- und Zeitimaginationen Sugimotos (s. o.), sondern sie fügen diese auch ein in einen dynamischen Prozess symbolischer Formung. Während sich zeitliche Zuordnung und räumliche Perspektivierung zugunsten eines utopischen Standortes, des Schwebens im »kategorischen Konjunktiv« auflösen, setzt als Gegenbewegung das Bemühen ein, den internen Regeln der scheinbar ungesteuerten und zufälligen Metamorphosenbildung in ästhetischer Einstellung so auf die Spur zu kommen, wie die Naturwissenschaften dies mit Hilfe von Quantenphysik, Relativitätstheorie und mehrwertigen Logiken gegenüber der »randlosen Raum-Zeit-Mannigfaltigkeit« eines expandierenden Universums versuchen (s. o.).
Abb. 16: ›Time Exposed‹, Adriatisches Meer, 1990 bis heute
Die Abbildung demonstriert für den, der sie in seinem jeweiligen Hier und Jetzt wahrnimmt, ein Standbild des fortschreitenden Selbstzersetzungsprozesses einer Fotografie. Durch den Untertitel der Abbildung schlägt Sugimoto dem Betrachter vor, sie als Teil der ›Seascape‹-Serie, also als ursprüngliches Schwarz-Weiß-Foto zu verstehen. Weil es musealen (oder anderen) Schutzräumen entzogen und statt dessen – seit 1990 – Licht- und
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Temperaturschwankungen, Trockenheit, Feuchtigkeit und Luftverschmutzung ausgesetzt wurde, inszeniert es die Selbstauflösung in variablen Umgestaltungsmetamorphosen, die es – nun autopoietisch – »ins Bild setzt«. Dabei transformiert der fotochemisch unterstützte Zerfallsprozess das Schwarz-Weiß-Foto in ein Farbbild und die ursprünglich glatte Bildoberfläche in ein Relief, das Fotografie und Passepartout zu einem neuen Gesamtbild komponiert. Während einerseits das ungeschützte, »exponierte« Original weiterhin einem verhältnismäßig progressiven Verfall ausgeliefert wird, »rettet« Sugimoto andererseits ein Standbild des Verfalls, indem er es zum Frontispiz seines bisher umfangreichsten Katalogs befördert. Sicherlich, auch dieser Katalog wird »mit der Zeit« vergehen, aber zunächst entsteht ein Dorian-Gray-Effekt: die doppelte Spiegelung des Verfalls – ›Seascape‹Struktur, Standbild auf der einen – fortschreitender, sichtbarer Verfall auf der anderen Seite. Anders als Pia Stamm vermutet, muss deshalb einen »Liebhaber von Su gimotos Fotokunst« diese Abbildung nur dann »irritieren« (Tamm 2007: 33–43; hier 34), wenn dieser Liebhaber in distanzlos treuherziger Bewunderung das zentrale Gestaltungsprinzip Sugimotos vollständig übersieht: die Erzeugung eines reflexiven Rezeptionsprozesses, innerhalb dessen Geschichte, Techniken, Materialität und Perspektivik des Mediums Fotografie nicht nur bezogen werden auf die »Geschichte des Sehens« und der menschlichen Welt, sondern auch – über das »Anthropozän« (Paul J. Crutzen) menschlicher Weltgestaltung und Weltveränderung hinaus – auf die dezentrierte, umfassende Kosmologie der modernen Astronomie. Die in einem solchen reflexiven Rezeptionsprozess erzeugte, wechselseitige Irritation der unterschiedlichen Wahrnehmungs-, Interpretationsund Dekonstruktionsdimensionen prägt jedoch Sugimotos künstlerisches Gestaltungsprinzip nicht nur, sondern sie fordert dieses auch heraus. Denn eine lediglich sich selbst richtungslos fortspinnende Dauerirritation ließe jeden Gestaltungswillen ins Leere laufen. Damit stünde die »fotochemische Ruine« (Tamm 2007: 34) der Frontispiz-Abbildung tatsächlich sowohl für den Prozess der allmählichen, in völliger Auflösung endenden »Zersetzung« des Bildes, als auch für das Scheitern aller »hermeneutischen Interpretationsversuche« und kulturellen Codes gegenüber dieser sinnbildlichen – und damit paradoxal vorgeführten – totalen Selbstdekonstruktion. Nicht zuletzt wegen Hans Ulrich Gumbrechts ebenso gescheiter wie suggestiver Argumentation (Gumbrecht 2004) wird gegenwärtig immer dann gerne vom »Scheitern der Hermeneutik« gesprochen, wenn man auf scheinbar unmittelbar – »präsentisch« – Gegebenes stößt, das sich angeblich jeder Zeichenhaftigkeit oder Verweisstruktur entzieht. Eine solche Argumentation ist weder neu noch so schlüssig, wie es auf den ersten Blick scheint. Auch hier gilt die Einsicht, dass die Kenntnis – auch »älterer« – Grundlagentheorien vor der unentwegten Entdeckung völlig neuer Einsichten schützt. So verweist bereits Henri Bergson darauf, dass jede sinnlich präsentische Wahrnehmung nicht in reiner Unmittelbarkeit auf-
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geht, sondern immer auch »produktiv« unterschiedliche, »primordiale« Wahrnehmungsmodi miteinander verknüpft: Innerhalb einer scheinbar unmittelbaren Wahrnehmung ist »der Bestand an wirklicher, sozusagen momentaner Anschauung […] sehr klein im Vergleich zu dem, was unser Gedächtnis [sogleich] hinzufügt […]. Wahrnehmung und Erinnerung durchdringen sich fortwährend.« Wer diese primordialen Prozesse nicht berücksichtige – so Bergson – »verzichtet darauf, die Phänomene des Wiedererkennens und den Mechanismus des Unbewussten überhaupt zu verstehen.« (Bergson 1982: 54) Kurz, eine rein präsentische Wahrnehmung ist nicht so rein präsentisch, wie sie uns erscheint. Genau dies zeigen Sugimotos Irritationsexperimente. Sie verweisen daher nicht auf ein Scheitern der Hermeneutik, sondern auf deren Ursprung: auf das »anthropologische Grundgesetz« der »vermittelten Unmittelbarkeit« (Plessner 1929/1975: 321 ff.). Unsere von Erinnerungen durchsetzten Wahrnehmungen fügen jedoch den Augenblick, die scheinbar unmittelbar gegebene, momentane Anschauung, nicht nur ein in den Bewusstseinsstrom und das Erleben unterschiedlicher Zeitdimensionen, sondern auch in jene Prozesse, durch die unsere Erinnerungen sinnliche Gestalt gewinnen: in die symbolische Formung der Bilder und Eindrücke unserer Erscheinungswelten. In ihr finden sowohl die scheinbar ungesteuerten, richtungslosen und zufälligen Metamorphosenbildungen als auch unsere Existenz in den Raum-Zeit-Mannigfaltigkeiten menschlichen Lebens einen Halt: durch die symbolische Formung sinnhafter Inseln innerhalb der »sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens« (Weber 1973: 180; Zweite 2012: 25) und der zweifelhaften Logiken konkurrierender Kosmologien. Im Jahr 2008 publiziert Sugimoto (in zweiter, erweiterter Auflage) eine Bildsammlung mit dem Titel ›History of History‹. Armin Zweite weist in einem beeindruckenden Essay darauf hin, dass bereits der Schutzumschlag der Publikation – eine Collage – Elemente einer Geschichte der Fotografie, verbunden mit japanischer Malerei des 13. Jahrhunderts und kleinen Medaillons von historischen Gestalten des 19. und 20. Jahrhunderts zeigt. Neben Politikern sieht man auf diesen Medaillons als einzigen Künstler Marcel Duchamp – jenen außergewöhnlichen Wahrnehmungsund Gestaltungsirritator, dem sich Sugimoto besonders eng verbunden fühlt (Zweite 2012: 25). Die »Geschichte der Geschichte« wird bewusst als Collage komponiert und in Bildgeschichten erzählt – als History of many histories und als Arbeit an Mythen und Symbolen.9 Oberhalb all der bisher genannten Bildelemente – und sie überhöhend – findet sich das kleinste, zugleich aber äußerst verdichtete Bauelement der Collage. Tatsächlich hat das oberste der kranzförmig, leicht elliptisch angeordneten Ornamente des Reliquiars die Form einer geschwungenen Pfeilspitze: Der Richtungspfeil des sich von einem schwarzen Hintergrund abhe9 | Unter diesem Blickwinkel lassen sich Sugimotos Bild- und Geschichtsnarration lesen in Analogie zu Blumenberg (1979).
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benden Reliquiars weist in einem leeren Raum nach oben. Das ›Seascape‹, 1980, ist so in das Reliquiar eingepasst, dass der Eindruck entsteht, das Reliquiar aus dem 13. Jahrhundert (KamakuraEpoche) und Sugimotos Fotografie aus dem 20. Jahrhundert bildeten gemeinsam die Miniatur eines Altars, wobei der nach oben weisende Strahlenkranz des Reliquiars aus einem horizontal angeordneten Kranz von Lotosblütenblättern und aus dem angedeuteten Fruchtstand der Blume herauswächst. Wie schon in der altägyptischen Religion und Kunst so gilt auch bis heute im Buddhismus und Hinduismus die Lotusblume als Keimzelle der aus Urwassern hervorgegangenen Schöpfung. Dabei steht die weiße Blüte der sich aus schlammigen Gewässern speisenden Pflanze für den Triumph des reinen, »erhabenen« Geistes über die Täuschungen und Verführungen der Sinnenwelt. Dementsprechend dient der Blüten- Abb. 17: ›Time’s Arrow‹, 1987; ›Seascape‹, 1980; kranz der Blume bei unzähligen Skulp- ›reliquiary fragment‹, 13. Jahrhundert turen und Bildern als Podest für Götter und Bodhisattvas. Bei Sugimoto wird der Lotus-Blütenkranz beides – Podest und Mandala/Aura – der auf den Schwarz-Weiß-Kontrast reduzierten, fotografischen Abbildung eines dunklen Meeres und eines leeren Himmels: Raum für Bilder des im Bild Unsichtbaren, überhöht durch die Aura eines Strahlenkranzes. Dessen Strahlen speisen sich aus alten Mythen und Mythologien, die ihrerseits wiederum auf wenige, aber zentrale symbolische Grundelemente reduziert sind. Gerade aus dieser Reduktion des Symbolischen auf seine »reine« Verweisungs- und Appellstruktur entsteht dessen Wirkung: Es geht auch darum, neu sehen zu lernen, statt immer neue Bilder zu suchen. Time’s Arrow ist eine streng und sparsam komponierte, symbolische Form, deren Verweise, Appelle und Richtungsangabe innerhalb eines leeren Raumes formuliert werden. Sie ist der Versuch, dem utopischen Standort, dem Stehen im Nirgendwo, einen Halt zu geben – in den sich durch Raum und Zeit bewegenden Imaginationen und Konstruktionen sinnhafter Inseln. Dieser kulturstiftende Versuch basiert auf der Urform des hermeneutischen Zirkels: Der Sinn der Imagination besteht in der Imagination von Sinn.
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A bbildungen Abb. 1: Radio City Music Hall, New York, 1978, Silbergelatineabzug 42,3 × 54,2 cm. Aus: Sugimoto, Hiroshi (2007): Katalog. Ostfildern: Hatje Cantz Verlag, S. 83. Abb. 2: Stadium Drive-In. Orange. 1993, Silbergelatineabzug, 42,3 × 54,2 cm. Aus: Sugimoto, Hiroshi (2007): Katalog. Ostfildern: Hatje Cantz Verlag, S. 106. Abb. 3: Der Wanderer über dem Nebelmeer, 1818, Öl auf Leinwand, 90 × 70 cm. Kunsthalle Hamburg. Abb. 4: Kreidefelsen auf Rügen, 1818/1819, Öl auf Leinwand, 90,5 × 71 cm. Stiftung Oskar Reinhart, Winterthur. Abb. 5: Mondaufgang am Meer (Sonnenuntergang über dem Meer), um 1835, Pinsel in Braun, Bleistift, schwarz umrandet auf Velin, 25,6 × 38,5 cm. Kunsthalle Hamburg, Kupferstichkabinett. Abb. 6: Gustave le Gray, Brigg im Mondschein, Brigg in the moonlight, 1856, Albumen print from collodium – on glass negative, 32 × 42 cm. Musée d’ Orsay, Paris. Aus: Sugimoto, Hiroshi (2012): Revolution. Katalog, Museum Brandhorst (Hg.), München. Ostfildern: Hatje Cantz Verlag, S. 38. Abb. 7: Gerhard Richter, Seestück, 1970 Oil on Canvas. 200 × 200 cm. Staatliches Museum zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Nationalgalerie Berlin. Aus: Sugimoto, Hiroshi (2012): Revolution. Katalog, Museum Brandhorst (Hg.), München. Ostfildern: Hatje Cantz Verlag, S. 37. Abb. 8: Gerhard Richter, Seestücke (Foto-Collagen), 1970. Aus: Gerhard Richter, Atlas. Städtische Galerie im Lenbachhaus, München. Abb. 9: Caribbean Sea, Jamaica, 1980, Silbergelatineabzug. 119,4 × 149,2 cm. Aus: Sugimoto, Hiroshi (2007): Katalog, Ostfildern: Hatje Cantz Verlag, S. 115. Abb. 10: Tyrrhenian Sea, Scilla. 1993, Silbergelatineabzug, 119,4 × 149,2 cm. Aus: Sugimoto, Hiroshi (2007): Katalog, Ostfildern: Hatje Cantz Verlag, S. 131. Abb. 11: C 1005, 2004, Pigmentdruck, 135 × 106 cm. Aus: Sugimoto, Hiroshi (2007): Katalog, Ostfildern: Hatje Cantz Verlag, S. 315. Abb. 12: C 1015, 2004, Pigmentdruck, 135 × 106 cm. Aus: Sugimoto, Hiroshi (2007): Katalog, Ostfildern: Hatje Cantz Verlag, S. 328.
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Abb. 13: Passage of the Moon over Two Hours, Arcachon, France, unbekannter Fotograf, um 1870, 12,1 × 17,2 cm. Aus: Sugimoto, Hiroshi (2012): Revolution. Katalog, Museum Brandhorst (Hg.), München. Ostfildern: Hatje Cantz Verlag, S. 33. Abb. 14: Revolution 007, Adriatic Sea, Galgano 1990, Gelatin silver print 239 × 119,5 cm. Aus: Sugimoto, Hiroshi (2012): Revolution. Katalog, Museum Brandhorst (Hg.), München. Ostfildern: Hatje Cantz Verlag, S. 59. Abb. 15: Revolution 002, North Atlantic Ocean, New Foundland 1990, Gelatin silver print 239 × 119,5 cm. Aus: Sugimoto, Hiroshi (2012): Revolution. Katalog, Museum Brandhorst (Hg.), München. Ostfildern: Hatje Cantz Verlag, S. 53. Abb. 16: Time Exposed. Adriatic Sea, 1990 bis heute, Silbergelatineabzug 67 × 85 cm. Aus: Sugimoto, Hiroshi (2007): Katalog, Ostfildern: Hatje Cantz Verlag, Frontispiz. Abb. 17: Time’s Arrow, 1987, Seascape, 1980/reliquiary fragment, 13th century, Gelatin silver print, gilt bronze, height 8,4 cm. Aus: Sugimoto, Hiroshi (2012): Revolution. Katalog, Museum Brandhorst (Hg.), München. Ostfildern: Hatje Cantz Verlag, S. 27.
Ein amerikanischer Held in Zeiten moderner Technik Oder: das Wunder vom Hudson Jo Reichertz und Sylvia Marlene Wilz
D ie F otogr afie als kommunik ative H andlung Wer fotografiert, der handelt – nicht nur, weil er ein Foto macht, sondern auch weil er sich bildlich ausdrückt, also auch kommuniziert. Das ist (so scheint es) eine triviale, weil selbstverständliche Aussage. Dennoch glauben wir, dass bei vielen aktuellen sozialwissenschaftlichen Bildanalysen der Handlungscharakter des bildlichen Ausdrucks bislang zu wenig beachtet worden ist (Breckner 2010; Bohnsack 2009). Denn viele Kunstlehren der Bildinterpretation greifen bei der Analyse von Bildern die Traditionen der kunstwissenschaftlichen Deutung auf (Panofsky 1978; Imdahl 1980) – selbst dann, wenn das zu analysierende Bild explizit nicht das Ergebnis eines künstlerischen Schaffensprozesses ist. So wertvoll solche Ansätze (je nach Fragestellung) sein können, konzentrieren sie sich doch zu stark auf das mit dem Bild Dargestellte, die formale Komposition oder gar die künstlerische Absicht des Bildproduzenten. Das Bild als kommunikative Handlung innerhalb eines gesellschaftlichen Diskurses gerät dabei eher selten in den Blick. Sozialwissenschaftliche Ansätze der Bildinterpretation sollten dagegen den Handlungs- und Kommunikationscharakter von bildlichen Ausdruckshandlungen in den Blick nehmen. Wer sich bildlich ausdrückt, der kommuniziert, und weil er kommuniziert, handelt er (Reichertz 2010). Bei bildlichen Ausdruckshandlungen taucht die »(Kommunikations-)Handlung« auf zwei Ebenen auf: Auf der Ebene der Darstellung und der Ebene des Darstellens. Eine bildliche Ausdruckshandlung besteht nämlich in der Regel (also nicht immer) aus einer auf dem Bild dargestellten sozial typisierten und damit erkenn- und beschreibbaren Handlung (z. B. Maria hält ihren toten Sohn im Arm) und einer durch das Bild sichtbar gewordenen Form einer sozial typisierten und damit erkenn- und beschreibbaren Handlung der Bildgestaltung (bestimmte Interpretation des Pietà-Motivs).
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Bei Bildanalysen nach der Kunstlehre der hermeneutischen Wissenssoziologie gilt es also, die auf dem Foto gezeigte Handlung von der mit dem Foto gezeigten Handlung des Zeigens zu unterscheiden. Es gilt, jede dieser beiden Handlungen erst einmal gesondert zu erheben und zu analysieren. Dann erst kann man eine integrierende Gesamtinterpretation versuchen. Der Handlung des Mit-dem-Bild-Zeigens wird wegen seiner rahmensetzenden und deutenden Funktion jedoch ein besonderes Gewicht zukommen. Diese These wollen wir mit Hilfe der Interpretation eines Fotos belegen, das im Jahr 2009 um die Welt ging und sowohl den Abgebildeten ehrte als auch den Fotografen. Es handelt sich um ein Foto des amerikanischen Fotografen Andrew Theodorakis, langjähriger Bildreporter bei der Daily News, das man ohne Zweifel als ein professionelles Foto bezeichnen muss – was für eine Ausdeutung des Fotos von großer Bedeutung ist.
E xkurs zum korporierten A k teur Professionelle Fotos – und um eines davon geht es hier – sind erst einmal Produkte. Die meisten dieser Produkte sind Handelswaren, von einem »Akteur« hergestellt, um auf einem spezifischen Medienmarkt gehandelt zu werden. Professionelle Fotos sind in der Regel Produkte, an deren Fertigung mehrere AkteurInnen teils bestimmend, teils ausführend beteiligt sind. Manche von ihnen stimmen ihre Absichten und ihre Ziele miteinander ab, teilen also ihre Intentionen miteinander, andere sind an diesem Abstimmungsprozess nur indirekt oder gar nicht beteiligt. Dennoch ist das fertige Produkt Ergebnis des Handelns aller am Fertigungsprozess beteiligten Akteure, weshalb sich das Produkt nicht auf einen einzelnen Akteur und dessen Absichten zurückführen lässt, der es geschaffen und somit auch zu verantworten hat. Bei einigen dieser Akteure kann es zu shared intentions kommen (Tomasello 2010; ausführlich dazu Schmid/Schweikard 2009). Eine solche geteilte oder kollektive Intentionalität ist jedoch nicht grundsätzlich notwendig für eine sinnhafte Handlungskoordinierung, denn gerade bei komplexen korporierten Akteuren erfolgt die Abstimmung des Handelns in der Regel über den gemeinsam erfahrenen Druck, eine erfolgreiche Praxis herstellen zu wollen und zu müssen (vgl. Caldwell 2008). Gewiss finden sich bei einigen Akteuren auch explizit shared intentions, die in gemeinsamen Treffen formuliert und aufeinander abgestimmt werden. Aber meist kommt man ohne geteilte Intentionen aus, einfach weil die gemeinsame Sinnfigur des Handelns sich durch die gesellschaftlichen, rechtlichen, kulturellen, religiösen und ökonomischen Rahmenbedingungen ergibt, die ein bestimmtes Handeln von Personen, die über eine Handlung aneinander gebunden sind, wahrscheinlich und erfolgreich machen (vgl. auch Caldwell 2008).
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Zu bestimmten Zwecken wissenschaftlicher Analyse macht es Sinn, die an dem Fertigungsprozess beteiligten Akteure einzeln zu betrachten und deren Zusammenspiel zu untersuchen. Zu anderen wissenschaftlichen Zwecken – will man zum Beispiel vor allem das Produkt und dessen Bedeutung rekonstruieren – macht es Sinn, alle am Fertigungsprozess beteiligten Akteure kontrafaktisch zu einem abstrakten Akteur zusammenzufassen und ihn mit einem Begriff, zum Beispiel dem Begriff des »korporierten Akteurs« zu belegen. Eine solche Vorgehensweise ist deshalb gerechtfertigt, weil man gerade bei wissenssoziologischen Analysen von Fotos zwingend auch die Kamerahandlung interpretieren und damit so etwas wie eine einheitliche Agency unterstellen muss. Diesen Akteur kann man »korporierten Akteur« nennen, um anzudeuten, dass es sich bei diesem Akteur nicht mehr um ein einziges Individuum handelt, sondern um eine (kleine oder größere) Gruppe von Individuen, die entweder mit oder ohne formale Verfassung (Organisation), in Kopräsenz oder ohne, mit oder ohne bewusste Verschränkung ihrer Absichten ein Produkt handelnd erstellt. Das Foto macht die Handlung und damit die Geste (Flusser 1994) eines korporierten Akteurs sichtbar und führt sie wieder auf.
K urze B eschreibung des eingese t z ten V erfahrens Die Fotointerpretation fand in zwei Schritten statt: Im ersten Schritt haben wir zu zweit und miteinander das Foto betrachtet, es genau beschrieben und uns gefragt, was es in uns an Reaktionen und Emotionen auslöst, wie wir z. B. den Blick des Mannes auffassen. Im zweiten Schritt hat eine Gruppe von DoktorandInnen und ForscherInnen das Foto interpretiert. Sowohl wir als auch die DoktorandInnen folgten dabei den Prinzipien der hermeneutischen wissenssoziologischen Bildanalyse. Dies bedeutete: Von dem Bild wurden auf einer Partitur1 alle wesentlichen, also alle handlungsrelevanten Teile und Elemente der Kamerahandlung in beschreibender oder codierter Form abgetragen. Dann wurden auf dieser Partitur parallel dazu alle wesentlichen, also alle handlungsrelevanten Teile und Elemente der Handlung vor der Kamera in beschreibender oder codierter Form abgetragen. Die so entwickelte Gesamtpartitur enthält also (neben dem Bild in der obersten Linie) eine nach den bestimmten Relevanzkriterien sprachlich oder zeichenhaft codierte und somit auch fixierte Version des zu analysierenden Bildes. Sie ist ein formalisiertes Protokoll der Beobachtung des Bildes. Die Relevanzkriterien variieren dabei mit der Forschungsfrage, und sie können und sollten während der Forschungsarbeiten überprüft und gegebenenfalls weiterentwickelt werden. Neben dieser Partitur gehört 1 | Die gezeigten Handlungen und die Handlungen des Zeigens werden detailliert auf parallel untereinander verlaufenden Zeilen (auch mit Hilfe konventionalisierter Zeichen) notiert (vgl. Reichertz/Englert 2011: 34 ff.).
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auch das Bild zum auszuwertenden Datenmaterial. Es ist immer der letzte Bezugspunkt der Deutung, der zu Rate gezogen wird, wenn eine Notation unklar ist. Grundlage der Deutung ist also nicht die erstellte Partitur, sondern es gibt immer zwei Daten: die Partitur und das Bild. Die hier vertretene hermeneutische Wissenssoziologie betrachtet die von den BeobachterInnen erstellte Partitur als eine Art Feldprotokoll. Dieses kann entlang verschiedener Relevanzpunkte interpretiert werden. Dazu gehört auch, dass während der Interpretation, wenn etwas unklar ist, das Bild wiederholt unter einer bestimmten Aufgabenstellung »befragt« und weiter verschriftlicht, also die Partitur verfeinert wird. Die Erstellung einer Bildpartitur ist also nicht nur ein Akt der Ummünzung des Bildlichen ins Sprachliche und Symbolische, sondern immer zugleich ein Akt der Ausdeutung. Fixierung und Interpretation sind untrennbar miteinander verwoben. Deshalb ist die Erstellung einer Partitur erst am Ende, wenn die Deutung am Ende ist.
D ie D ateninterpre tation
Abb. 1: Flugkapitän Chesley B. Sullenberger, der »Held vom Hudson«
Beginnen wir mit der auf dem Foto gezeigten Handlung. Auf dem Foto sehen wir (als westlich sozialisierte Menschen) einen etwas älteren Mann, der in einem weißen Uniformhemd auf dem Sitz des Piloten im Cockpit eines großen Flugzeuges sitzt, sich umgewendet hat und in Richtung Kamera schaut. Auf seinem Schoß hält er so etwas wie ein Buch oder einen Notizblock. Das Flugzeug selbst befindet sich nicht in der Luft, sondern steht in der Nähe eines Hangars. Es scheint so zu sein (so eine Lesart),
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dass die Maschine erst gleich auf die Rollbahn gebracht wird, der Pilot vor dem Flug noch einmal für sich seine Orders durchgeht oder Notizen anfertigt oder in dem Handbuch für die Standard Operating Procedures noch einmal etwas prüft. Oder aber (so eine weitere Lesart), das Flugzeug hat seine Flüge für diesen Tag schon hinter sich und der Pilot resümiert für sich den Tag, indem er Notizen anfertigt. Er ist alleine im Cockpit, arbeitet für sich oder hängt schon privaten Gedanken nach. Sein Körper ist nicht angespannt, sondern leicht gebeugt. Um ihn herum sehen wir das Cockpit eines Flugzeuges, die Instrumententafeln scheinen noch nicht oder nicht mehr alle aktiviert zu sein. Die Person, die auf dem Pilotensitz Platz genommen hat, scheint auch dorthin zu gehören, ist also der Pilot, der sich auf den Flug vorbereitet oder den Flug nachbereitet. In diesem Moment nimmt er wahr, dass sich außerhalb des Cockpits etwas bewegt. Der Pilot hebt den Kopf und schaut nach, was die Ursache der Bewegung ist, erkennt, dass es sich um einen Menschen (und nicht um einen Papagei oder eine Katze) handelt, der keine Gefahr darstellt, aber auch nicht zur Crew gehört, dennoch ihm bekannt ist. Er schaut diese Person mit einem neugierigen und freundlich abschätzenden Blick an, indem er Augenkontakt aufnimmt. Soweit die gezeigte Handlung. Bei der Handlung des Zeigens fällt erst einmal die Kadrierung auf. Sie macht wortwörtlich einen Rahmen um das Geschehen vor der Kamera: Eine bestimmte Person wird aus einer bestimmten Perspektive zu ihrer Umgebung in eine bestimmte Beziehung gebracht. Diese Kadrierung trennt das Sichtbare vom Nicht-Sichtbaren. Die Kadrierung ordnet vor der Kamera alles so an, wie es für den Urheber der Kadrierung Sinn macht, weil er damit auch Sinn für den Betrachter machen will. Ganz offensichtlich zählen in unserem Fall für den Fotografen nur die abgebildete Person und das mit vielen Geräten ausgestattete Cockpit. Auch der vom Fotografen gewählte Typus einer Situation, der ikonografische Topos, ist interessant: Die Darstellung eines Flugkapitäns erfolgt nämlich gerade nicht im Moment der Flugzeugbeherrschung, also während eines Fluges. Sie zeigt den Piloten ebenso wenig bei seiner Tätigkeit des Steuerns oder des Kommunizierens mit dem Copiloten. Der Pilot ist kein Vorgesetzter und auch kein Maschinenbeherrscher bei der Arbeit. Der gewählte Topos ist vielmehr der des Abschlusses eines Fluges, also der Moment, in dem der Flug vorbei ist, alle Passagiere und die übrige Crew das Flugzeug bereits verlassen haben und der Kapitän seine Uniformjacke schon ausgezogen hat, noch seine Notizen macht und dann als letzter das Flugzeug verlässt. Gegen diese Lesart des Flug-Endes spricht, dass der Pilot keinerlei Anzeichen von Müdigkeit oder Abgespanntheit aufweist und dass das Hemd frisch gebügelt ist. Eine andere mögliche Lesart ist, dass es sich bei der gezeigten Szene um die Vorbereitung eines Fluges und der damit verbundenen individuellen Sammlung und Vorbereitung auf den Flug handelt. Gegen die Lesart des Aufbruchs spricht allerdings, dass sich im Ausdruck des Piloten keiner-
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lei Anspannung, kein Auf-dem-Sprung-Sein findet. Deshalb scheint aus unserer Sicht die »Abschlusslesart« plausibler2 . Ohne an dieser Stelle entscheiden zu müssen, welche Lesart zutrifft, kann man doch festhalten, dass der Fotograf der »Daily News« den Flugkapitän in einer sozialen Grenzzone oder besser – in einer sozialen Übergangszone fotografiert hat: Er ist nicht mehr privat, aber er ist auch noch nicht in Uniform, er ist nicht mehr in Uniform, aber noch nicht privat – sondern er befindet sich in einem Dazwischen. Das ist der auch soziologisch interessante Moment, wenn der Darsteller von der Vorderbühne abtritt und die Hinterbühne betritt, somit sein »Face« entspannen kann. Es ist der erste Moment nach der Show: Hier zeigt der Darsteller sein Verhältnis zur Darstellung. Es ist noch nicht der andere, ebenfalls soziologisch interessante Moment des Abschminkens, bei dem sichtbar wird, wer man hinter der Maske ist. In dem Foto ist mithin nicht die Wirklichkeit hinter der Darstellung thematisiert, sondern die Darstellung, die man gibt, wenn niemand hinschaut. Der dahinterstehende und naheliegende Kurzschluss: Wie sich jemand unbeobachtet gibt, so ist er auch – weshalb dieser Moment gerade für strategische Darstellungen von politischen Personen gerne benutzt wird. Hier wird der Eindruck nahegelegt, der Fotografierte präsentiere nicht sein öffentliches Gesicht, sondern sein privates. Diese Interpretation wird dadurch gestützt, dass die Handlung der Kamera bewusst nahelegt, dass es sich nicht um eine offizielle, vorbereitete und gestellte Aufnahme handelt, sondern um den Schnappschuss einer unspektakulären Situation, die sich so auch tatsächlich ereignet hat. Das Mittel hierfür: der am linken Bildrand unscharf mitaufgenommene Türrahmen, welcher den Eindruck entstehen lässt, der Fotograf habe die Aufnahme nicht sorgfältig vorbereiten können, sondern spontan auf den Auslöseknopf gedrückt. Die genaue Betrachtung zeigt jedoch schnell, dass es sich um eine arrangierte Aufnahme handelt. Diese also nur scheinbar spontane Aufnahme eines Mannes im Cockpit eines Flugzeuges zeigt im nächsten Schritt der Betrachtung einen leicht gebeugt sitzenden Mann, etwa Ende fünfzig, der von seiner Arbeit auf blickt, ansonsten in dem großen Sitz und in dem dunklen Cockpit ein wenig verloren wirkt. Das Cockpit engt seinen Raum ein und begrenzt den Piloten. Er muss sich in ihm orientieren und mit ihm arrangieren. Der Mann selbst trägt ein strahlend weißes, gebügeltes Oberhemd mit den Rangschlaufen eines Flugzeugkapitäns auf der Schulter. Die Krawatte sitzt fest am Hals, das Haar ist schütter und gekämmt, der Schnäuzer 2 | Für diese Lesart spricht noch ein anderes Argument, das sich aus dem Wissen speist, wie professionelle Fotos zustande kommen: Es ist ganz offensichtlich, dass der Fotograf den Piloten nicht nach oder vor dessen Arbeit abgelichtet hat, sondern dass man sich zu einem gesonderten Termin traf und die Ausgestaltung des Settings miteinander besprach. Deshalb war der Pilot nicht müde und sein Hemd konnte keine Falten aufweisen – was ja normalerweise gegen die Abschlusslesart sprechen würde.
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grau und gepflegt. Hinter seinem Kopf fällt Licht über die Cockpitfenster ein, die sich quer über das obere Drittel des Bildes erstrecken. Ansonsten füllen das Cockpit und die dunklen bis schwarzen Instrumente das Bild aus. Einzelne Anzeigen leuchten auf. Der Blick auf den Körper des Piloten wird von der hohen Rückenlehne des Pilotensessels verwehrt. Am rechten Rand sieht man verschwommen die Rückwand des Cockpits. Der Blick des Fotografen fällt durch die geöffnete Cockpittür. In dieser Dunkelheit des Raumes bildet der etwas ältere Mann mit seinem einwandfrei gebügelten weißen Hemd, seinem hellen Gesicht und seinem warmen Blick das optische Zentrum des Bildes. Die Kamera ist auf sein Gesicht scharf gestellt, während Vordergrund und Hintergrund unscharf wirken. Das Bild hat also nur eine sehr kleine Schärfentiefe, welche dem Betrachter zeigt, was dem Fotografen als wesentlich bzw. als unwesentlich erschien, oder genauer: was er als wesentlich und unwesentlich konstruiert. In diesem statischen Bild, in dem alles zur Ruhe gekommen zu sein scheint, ist der Blick des Piloten das einzig Lebendige und Aktive. Der Blick in Richtung Fotograf und damit auch in Richtung Betrachter ist ein freundlicher Blick: der wache Blick eines älteren kompetenten Menschen, der angesichts einer vermeintlichen Störung aufblickt. Er schaut das Außen, die Besuchenden an und analysiert – jedoch nicht starrend und verletzend – sondern zurückhaltend. Es ist der Blick eines Mannes, der in sich ruht und weiß, was er kann – und der weiß, dass er einiges kann … Es ist der Blick eines Mannes, dem man vertrauen kann, ein Blick, der eine Tiefe hinter den Augen erahnen lässt, ohne aber diese Tiefe zu zeigen. Man kann diesem Mann nicht bis in seine Seele sehen, obwohl sie erkennbar ist. Das Leben hat Spuren in seinem Gesicht hinterlassen, aber man sieht vor allem Erfahrung und Kompetenz, gepaart mit Menschlichkeit und Weisheit. Man kann diese Interpretation nun in verschiedene Richtungen weiterführen, so z. B. im Hinblick auf Traditionen der Reportagefotografie oder im Hinblick auf die Stilisierung älterer Männer oder in viele andere Richtungen mehr. Wir möchten diese Spuren allerdings nicht weiterverfolgen, sondern unsere Analyse vor dem Hintergrund von zwei Diskursen weiterführen, die im Übrigen immer dann ins Spiel kommen, wenn von dem abgebildeten Mann die Rede ist. Bei dem Abgebildeten handelt es sich nämlich um den Flugkapitän Chesley B. Sullenberger, der am 15. Januar 2009 in New York zu einem Inlandsflug startete und dessen Airbus US 1549 (besetzt mit 150 Passagieren und fünf Besatzungsmitgliedern) wenige Minuten nach dem Start mit einem Schwarm Wildgänsen kollidierte (ausführlich dazu Wilz 2015; Reichertz/Wilz 2012). Die Kollision führte dazu, dass Vögel in die Triebwerke der Maschine gerieten und beide Triebwerke ausfielen. In dieser Situation befolgte der Pilot zunächst alle üblichen Routinen: Er prüfte seine Umgebung, arbeitete Checklisten ab, reagierte auf Vorschläge von Fluglotsen und auf technische Warnsignale – und tat dann das Gegenteil von allem, was ihm von seinen Vorschriften, seiner Technik und der Flugkontrolle angesagt und vorgeschlagen wurde: Dreieinhalb Minuten nach dem Vo-
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gelschlag führte er eine hochriskante Notlandung auf dem Hudson River durch, statt eine nah gelegene Landebahn anzufliegen. Mit dieser Entscheidung rettet er sich, seiner Crew und allen Passagieren das Leben. Die Bilder seiner spektakulären Notlandung auf dem Hudson River gingen um die ganze Welt. Diese Tat brachte Sullenberger (und der Crew) nicht nur viele Ehrungen und ein sehr starkes Medieninteresse ein, sondern auch den medial verliehenen Titel »Held vom Hudson«. Das Besondere am Handeln des Helden vom Hudson war, dass er (so zumindest die mediale Darstellung) nur wenige Sekunden Zeit hatte, seine Entscheidung für die riskante Notlandung auf dem Hudson River zu treffen. Die Bodenstation, mit der er ständig in Kontakt war, riet ihm dringend und wiederholt, auf dem nahe liegenden Flughafen Teterboro zu landen, während das automatische Warnsystem seines Flugzeuges ihm ständig die standardisierte Aufforderung zurief, die Maschine hochzuziehen (»Pull up, pull up!«), da ansonsten eine Kollision mit dem Boden zu erwarten sei. In diesen dramatischen Sekunden, in denen der Pilot nicht nur mit den Fluglotsen der Bodenstation kommunizierte, sondern auch mit seinem Copiloten, und in denen er genau auf die Geräusche seiner Maschine hörte und die Umgebung und den Boden unter sich musterte, kam er schlussendlich zur Entscheidung, eine Notlandung auf dem Hudson zu versuchen. Dies war ein ausgesprochen riskantes und sehr ungewöhnliches Unterfangen, denn die Wahrscheinlichkeit, dass dieses Manöver gelingt, gilt als sehr gering. Der Pilot entschied sich also, weder der Technik noch den Fluglotsen von der Bodenstation, sondern nur sich selbst und seinen Fähigkeiten zu vertrauen.
E in amerik anischer H eld in Z eiten moderner Technik Der »Held vom Hudson« ist in die Geschichte der Flugfahrt nun nicht als unbelehrbarer Querulant eingegangen, der dickköpfig die Hilfen der Fluglotsen und diejenigen der Technik ignoriert und deshalb scheitert. Es ist vielmehr die Geschichte von dem Mann, der in der Stunde der Not den Mut hat, sich von den Vorgaben der Organisation und den Anweisungen der Technik zu lösen und aufgrund dieser Loslösung Halt in sich selbst findet und deshalb in der Stunde der Gefahr nicht nur sich, sondern auch die ihm anvertrauten Passagiere rettet. Ohne Zweifel ist diese Geschichte eine mediale Konstruktion. Was sich tatsächlich ereignet hat, das ist auch mit Hilfe der aufwändigen Dokumentation aller Daten nicht wirklich rekonstruierbar (siehe auch Reichertz/Wilz 2012; Wilz 2015). Was sich aber findet, das sind verschiedene Diskurse, die diese Ereignisse um den Helden vom Hudson und seine mediale Bedeutung zum Gegenstand der Auseinandersetzung machen. Einer dieser Diskurse, der sich anschließt (und zwar ein sehr prominenter), ist der Diskurs über die Handlungsträgerschaft von Dingen. Vor allem die äußerst »sensible« Handhabung des Flugzeuges durch den Piloten (das Finden des richtigen Auftreffwinkels) wird zum Anlass
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genommen zu vermuten, dass die Notlandung auf dem Hudson nur gelungen sei, weil es zwischen Pilot und Flugzeug zu einer Art Symbiose gekommen sei: Flugzeug und Mensch seien somit zu einem »Hybrid« zusammengewachsen (vgl. Latour 2010). Ein anderer, ebenfalls prominenter Diskurs betont dagegen den Menschen, der in professionell organisierten Unternehmen mit der Technik professionell Probleme löst (vgl. Reichertz 2013; Wilz 2015). Ob eine dieser Deutungen zutrifft, lässt sich anhand dieses Fotos gewiss nicht entscheiden, schon allein deshalb, da dieses Foto eine mehr oder weniger bewusste Konstruktion darstellt – somit natürlich auch eine bestimmte Version der Ereignisse versucht in ein Bild zu fassen und über das Bild in den Diskurs einzuspeisen. Das Foto ist selbst ein Diskursbeitrag und nicht die uninteressierte Wiedergabe von Ereignissen. Die Position des Fotografen ist recht gut erkennbar: Die Technik umgibt den Menschen, bildet die dunkle und fast schon bedrohliche Umgebung, zwingt ihn auf eine bestimmte Sitzposition. Dennoch bleibt die Technik sekundär, ohne Leben und ohne Handlungsträgerschaft. Es ist der Mensch, der hier im Vordergrund steht. Es ist jedoch nicht der Uniform tragende Mensch, der einer Organisationseinheit angehört und somit in diese eingebunden ist, eine Ausbildung genossen hat und an Richtlinien der Organisation gebunden ist. Es ist also nicht das Organisationsmitglied (und damit letztlich die Organisation), die hier gelobt wird, sondern es ist der Mensch jenseits der Uniform. Der Held vom Hudson ist in dieser Inszenierung weder Teil der Flugmaschine, noch ist er Organisationsangehöriger, der Organisationsrichtlinien exekutiert, sondern der Held vom Hudson ist ein älterer Mann mit einer Lebensgeschichte, die sich ihm ins Gesicht geschrieben hat, mit viel Berufserfahrung, die er ausstrahlt und mit einer Menschlichkeit, die an seinem Ausdruck erkennbar ist. Mit dieser vorläufigen Interpretation ist auch bereits eine Antwort auf die Frage nach der Ikonografie neuer Helden gegeben – die Frage, wie man heute (zum Beispiel in den Vereinigten Staaten von Amerika) Helden darstellt, was ihre typischen Merkmale sind und was ihre typischen Handlungen. Das Besondere dieses Helden ist, dass er ohne Uniform und ohne Demonstration seiner Heldentat und ohne eine überdurchschnittliche Statur oder Körperlichkeit auskommt. Er ist ein Mensch mit Geschichte und Geschichten – guten wie schlechten. Er ist ein Jedermann. Im Kern, wenn man alles Schmückende abzieht, wenn »der Schlachtenlärm sich gelegt und der Pulverdampf sich verzogen hat«, dann ist er am Ende des Tages nur noch ein gewöhnlicher Mensch – er ist einer von uns, er ist so wie wir alle. Mit dieser Darstellung wird, bei näherer Betrachtung, der alte amerikanische Mythos (Dörner 2000) bedient, der immer wieder (wenn auch in unterschiedlichen Kostümen und an unterschiedlichen Orten, sei es im Westen oder in Vietnam, mal angesichts eines Vulkanausbruchs oder der Invasion vom Mars) die Geschichte erzählt, dass gerade in der größten Not
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Jo Reicher t z und Sylvia Marlene Wilz
das Heil für die Menschen nicht aus der Technik erwächst und auch nicht aus der staatlichen Ordnung. Das Heil des Menschen erwächst gemäß diesem Mythos daraus, dass auch angesichts einer großen Übermacht oder scheinbar unüberwindlicher Schwierigkeiten einzelne und gewöhnliche Menschen über sich hinauswachsen, sie sich – wenn es nötig sein sollte – auch gegen staatliche Ordnungen und Techniken wenden und diese außer Kraft setzen. Dies können sie, weil sie sich auf die Tugenden besinnen, die in solchen Momenten alleine wichtig sind: nämlich Erfahrung, Können, Mut, Entschlusskraft, Augenmaß, Menschlichkeit und Zuversicht. Und durch diese Rückbesinnung wird die dem Helden anvertraute Gruppe, Amerika oder wahlweise auch schon einmal die ganze Menschheit, gerettet. Insofern ist das Foto des amerikanischen Fotografen Andrew Theodorakis, Bildreporter bei der Daily News, nur eine weitere fotografische Inszenierung des alten amerikanischen Traums und das Neu-ins-Bild-Setzen des amerikanischen Helden (der Grenzer-Zeit). Es handelt sich bei dem hier untersuchten Foto also nicht um eine Würdigung eines denkwürdigen Ereignisses (nämlich der konkreten Rettungstat), sondern um eine Neuinszenierung des amerikanischen Traums und der US-amerikanischen Identität in Zeiten moderner Technik – also letztlich um einen aktuellen Beitrag zur Selbstvergewisserung einer Nation. Letztlich kommt es (so die frohe Botschaft des Fotografen) doch auf den einzelnen Menschen an – und nicht auf die Technik.
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Ein amerikanischer Held in Zeiten moderner Technik
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A bbildung Abb. 1: Flugkapitän Chesley B. Sullenberger, der »Held vom Hudson«, 2009. © Foto: Andrew Theodorakis. Quelle: NY Daily News.
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Die Wahrheit der Bilder Angelika Poferl und Reiner Keller
Im folgenden Beitrag werden zwei auf den ersten Blick vielleicht gegensätzliche, aber doch miteinander verbundene Thesen entwickelt. Die erste These lautet, dass es einen visuellen Diskurs oder Bilddiskurs nicht gibt – wenngleich dies in der diskursorientierten Literatur zunehmend behauptet wird und nicht wenige Autoren und Autorinnen im Visuellen eine (dringend benötigte) Alternative zu rein sprachlichen Konzeptionen von Diskurs erkennen wollen. Dagegen soll argumentiert werden, dass Visuelles stets in Sprache übersetzt werden muss, um erfasst und als Erfasstes kommuniziert sowie deutungs- und handlungsrelevant werden zu können. Bilder in Diskursen stellen einen wichtigen Bestandteil der sozialen und diskursiven Konstruktion von Wirklichkeit dar, der jedoch auf Sprache – und damit auf gesellschaftlich verfügbare Begriffs- und Interpretationsrepertoires – angewiesen bleibt. Die zweite These besagt, dass Bilder – und dies gilt insbesondere auch für Fotografien – zwar nicht »für sich« sprechen, aber dennoch »Wahrheit« in Form eines bildgestifteten Sinnzusammenhangs produzieren. Diese Wahrheit liegt weder auf der Ebene der Diskurse noch ist sie dem Prozess des Sehens äußerlich. Sie entsteht aus der Relation von Bild und Bildbetrachtung. Es geht hierbei im Kern um Prozesse der (sozialen, d. h. hier: objektbezogenen) Konstitution von Gegenständen im Bewusstsein, um die Materialität und Widerständigkeit des Dargestellten sowie um die Frage nach den Möglichkeitsbedingungen des Sehens selbst. Dieser Part, der sozialkonstruktivistische Einsichten voraussetzt, dabei aber nicht stehen bleiben möchte, wird nachfolgend am Beispiel der dokumentarischen Fotografie diskutiert.
E s gibt keine visuellen D iskurse In Kontexten sozial- und sprachwissenschaftlicher Diskursforschung ist im letzten Jahrzehnt verschiedentlich von »Bildern als Diskurse – Bilddiskurse« (Maasen et al. 2006a), »Bild-Diskurs-Analyse« (Maasen et al. 2006b), »(Bild-)Diskurs im Netz« (Meier 2008), »Visueller Diskursanalyse« (Traue 2013) und »visuellen Diskursen« (Clarke 2005: 260 ff.) die Rede.
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Angelika Poferl und Reiner Keller
Karin Knorr Cetina (2001) hat vor einiger Zeit den Begriff des »Viskurses« geprägt, der die zunehmende Bedeutung von Visualisierungen in der wissenschaftlichen Wissensproduktion zum Ausdruck bringen soll.1 Nun lässt sich sicherlich grundlegend argumentieren, dass jede materielle Zeichenfixierung – auch die schriftförmige des vorliegenden Beitrages und anderer Diskursdokumente – nur visuell erfahren werden kann. Die Wahrnehmung eines Schwarz-Weiß-Kontrastes als Schrift erfolgt im Auge des Betrachters und setzt entsprechende Lernprozesse voraus (bei Lauten bzw. Geräuschen dagegen im Ohr). Demnach wäre jeder nicht ausschließlich mündliche Diskurs ein visuell formierter Diskurs. Doch das ist offensichtlich nicht gemeint. Mit diesen Wortkombinationen wird stattdessen in der Regel zunächst eine Kritik der Sprach- bzw. Textlastigkeit der sozialwissenschaftlichen Diskursforschung verbunden, welche die gegenwärtige Bedeutung der allseitigen Bilderfluten übersehe oder unterschätze. Dem soll durch eine entschiedene Hinwendung zum Bildlichen – und dabei handelt es sich vorwiegend um Fotografisches bzw. multimodale Text-Bild-Gefüge – Rechnung getragen werden. Doch in welchem Sinne wird überhaupt von »Bilddiskursen« oder »Visuellen Diskursen« gesprochen? Ein Überblick über die entsprechenden Diskussionen zeigt drei unterschiedliche Redeweisen. So wird damit erstens sehr häufig nicht mehr (und nicht weniger) als der Hinweis formuliert, Bilder seien ein zunehmend wichtiger Bestandteil von Diskursen, und es gelte, das Verhältnis von Bildern aller Art zu Texten im Rahmen diskursiver Strukturierungen stärker zu beachten. Begründet wird eine solche im Kern sicherlich berechtigte Forderung im Rekurs auf Michel Foucault, der von jeher das Verhältnis von Sichtbarem und Sagbarem adressiert habe – oder dies zumindest ankündigte und einforderte. Ob als Betonung des ärztlichen Blicks in der ›Geburt der Klinik‹ (Foucault 1976), illustrierender Einbezug von Zeichnungen oder Fotografien (bspw. in ›Überwachen und Strafen‹; Foucault 1977), oder in Gestalt der weltberühmten Interpretation eines Gemäldes (Foucault 1974) – in seinen Arbeiten finden sich vielfältige Einstreuungen des und Beschäftigungen mit dem Bildlichen, nicht zuletzt eben auch Fotografien. Allerdings handelt es sich dabei ganz überwiegend um nicht weiter kommentierte Illustrationen von Aussagen, die ansonsten im Text getroffen werden. Statt von Bilddiskursanalyse oder Bilddiskursen wäre in diesem Fall wohl sprachlich zutreffender von Diskursanalysen zu sprechen, die auch Bilder und deren Funktionen oder Stellenwert in Diskursen mit einbeziehen. Das wird in Arbeiten der Foucault-Tradition in der Regel auch sofort zugestanden: Es gehe eben um Text-Bild-Kombinationen, und keineswegs um einen Vorrang oder gar eine Ausschließlichkeit des Bildlichen (Maasen et al. 2006b: 7 ff.). In einer zweiten Gebrauchsweise wird genau diese Perspektive zugunsten einer (scheinbar) reinen Betrachtung von Visuellen Diskursen mithilfe 1 | Von visuellen Diskursen handeln auch etliche Tagungen und Workshops. Vgl. etwa »Visuelle Analyse und Diskursanalyse«, TU Berlin, Mai 2013, www.as.tu-berlin. de/v-menue/forschung/konferenzen/visuelle_analyse_und_diskursanalyse.
Die Wahrheit der Bilder
Visueller Diskursanalyse verlassen. Hier bezeichnet Visueller Diskurs ein durch die Forschenden komponiertes Bilderkorpus, etwa Luftaufnahmen von Städten (Betscher 2014). Diese Zusammenstellung orientiert sich an den Vorgehensweisen der (diskursorientierten) Korpuslinguistik; an Stelle von Texten besteht das Korpus hier jedoch aus Bildern. Auf der Grundlage eines solchen Korpus können typische Bildmotive ebenso herausgearbeitet werden wie Darstellungsformate bzw. Abbildungsweisen und deren Wandel, oder auch neue Aufnahmetechniken (die sich beispielsweise in veränderten Bildauflösungen niederschlagen). Man könnte damit von einer Untersuchung von Stil- bzw. Motivgruppen, von Grammatiken des Fotografierens oder visuellen Gattungen sprechen. So lässt sich zeigen, dass für bestimmte Zeiträume oder soziokulturelle Kontexte sich verändernde Perspektiven, Kompositionen, Motive dominieren, und wie diese als Abbildungen organisiert sind (was die gegenwärtigen Posen insbesondere von Teenagerinnen angeht, etwa das bekannte duck face, das im World Wide Web unendliche Weiten bevölkert). Der Stil des Abbildens und des Motivarrangements lässt sich sicherlich aus der Serialität des Korpus heraus gewinnen. Auch beziehen die bildproduzierenden Akteure (etwa FotografInnen, MalerInnen, DokumentarfilmerInnen) in und durch ihr artefakterzeugendes Handeln möglicherweise Position, vielleicht sogar gegen andere, bereits bestehende Bildproduktionen; oder sie stellen durch Zitat und Anspielungen Verweisungsbeziehungen her, die Bild-Kundige zu entziffern vermögen, wenn Fragen an die Urheber nicht genügen bzw. möglich sind. Aber all das konstituiert ein für spezifische Zwecke und Kontexte vorherrschendes, konventionalisiertes, klassifizierbares Darstellungsformat und Bildmotiv, eine »Schule« und hochgradig intentionale Konstruktion – doch noch keinen Diskurs. Das hängt im Wesentlichen mit der relativen Unschärfe und Uneindeutigkeit des Bildinhaltes zusammen. Der diskursive Verweisungssinn des jeweils Abgebildeten, seine Funktion in diskursiven Konstruktionen von Wirklichkeit ist nicht allein aus der entbetteten Visualität heraus verstehbar, sondern nur im Rückgriff auf die Textumfelder und Diskurskontexte, in denen die Abbildungen erscheinen, und die durch die Interpreten jeweils als Sinn- oder Interpretationshorizont konstituiert werden (sonst sind auch Buchstaben nur nebeneinander befindliche Farbkontraste). Mit dem Wechsel dieser Horizonte können sie mithin sehr unterschiedliche Funktionen übernehmen. Doch damit konstituieren solche Prozesse weder eine gemeinsame Gegenstandsreferenz oder ein Thema, noch lässt sich davon sprechen, dass sie durch ihre Bildlichkeit hindurch einen diskursiven Kampf führen. Um solches zu behaupten, bedarf es immer ihrer Übersetzung in Sprachlichkeit und diskursive Strukturierungen, die nicht durch sie selbst vorgegeben sind. Ein Kunstbild formuliert nicht die Sprache des Kunstdiskurses, eine Fotografie nicht diejenige ihrer Aussagefunktion. Wir kommen damit zur dritten Variante. Karin Knorr Cetina (2001) hat mit ihrem Begriff des Viskurses ein interessantes Konzept vorgelegt, das tatsächlich mehr benennt als die zusätzliche Analyse von Bildern oder die Zusammenstellung von Bildgruppen. Sie bezeichnet damit die hervorge-
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hobene Rolle aufeinander verweisender visueller Materialien gegenüber rein sprachlicher, mündlicher oder schriftförmiger Kommunikation im Prozess der naturwissenschaftlichen Erkenntnisbildung in der Physik. Ihre Überlegungen lassen sich wohl auch für andere Wissenschaftsbereiche nutzen, etwa für die Neuroforschung (Stichwort: bildgebende Verfahren). Nach Knorr Cetina gilt das gesprochene Wort in der Hochenergiephysik schnell als »bloßes Reden« (Knorr Cetina 2001: 308): »Viskurse verdoppeln technische Objekte, indem sie sie innerhalb einer Darstellungsrealität einfangen, anhand deren die technische Arbeit dann fortschreitet« (ebd.). Das heißt, ohne bildliche Darstellung keine Objektivität, keine Evidenz, kein Beweis, kein Wissen. Die damit aufgeworfenen Fragen lauten: Verschiebt sich in solchen epistemischen Regimen das Text-Bild-Verhältnis zu Gunsten der Bilder? Und mit welchen Konsequenzen für die diskursiven Ordnungen des Wissens? Befördert die Verschiebung zur Bildlichkeit eine Verstärkung situativer Evidenzeindrücke, einer referenzlos rezipierten Information, deren Deutung der Rezipientin und ihrer visual literacy obliegt? Den wesentlichen Unterschied zwischen einer solchen »Bild-›Logik‹« und einer sprachlich konstituierten »diskursiven Logik« sehen bspw. Heßler und Mersch (2009: 41) darin, dass logische Beziehungen, lineare Argumentationslinien und Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge in »topologische Ordnungsrelationen« überführt werden. Bilder bzw. Visualisierungen funktionieren in einer »Ordnung des Zeigens«, die mit einer »affirmativen ›Struktur der Evidenz‹« als »Wahrheitsformat« einhergehe (ebd.: 12 ff.). »Was wäre unter dieser Voraussetzung noch angemessener akademischer Umgang mit Bildern«, fragt Gustav Frank: »Sprachloses Bilderzeigen?« (Frank 2006: 78 f.) Lorraine Daston und Peter Galison (2007) unterscheiden in ihrer wissenschaftshistorischen Analyse des Bildgebrauchs sukzessive das »idealisierende Zeichnen nach der Natur« von der »mechanischen Objektivität der fotografischen Bilder« und der Interpretationskunst des »geschulten Urteils«, das eine neue Form von technisch generierten Bildern im Hinblick auf die darin vermittelten Informationen zu lesen vermag. Während Daston und Galision die Rolle der begleitenden Interpretationen betonen, akzentuiert Knorr Cetina mit ihrem Begriff des Viskurses – der im Feld der »geschulten Urteile«, die sichtbar Gemachtes entziffern, anzusiedeln ist – stärker die Eigendynamiken, die von den neuen Visualisierungen ausgehen: »Dabei gerät das Sichtbare deutlich in ein ›rhetorisches‹ Verhältnis zum Sagbaren.« (Frank 2006: 26 ff.) Die von Knorr Cetina angezeigten Verschiebungen kommen einer eigenständigen Diskursformation der Bilddiskurse am nächsten. Doch auch hier ist bislang keine isolierte Abkopplung der Bilder absehbar. Denn tatsächlich bedarf der Bildeinsatz, das Zeigen, die Evidenz, auch hier immer einer Übersetzung in Sprache, auch da, wo unbestritten konstatiert werden kann, dass Bildrezeption vor- und nichtsprachliches Erleben impliziert und implizieren muss, das keineswegs komplett in Versprachlichung aufgehen kann. Doch schon die im Körper der Betrachterin/des Betrachters erfolgende Übersetzung dieses Erlebens in Erfahrung unternimmt
Die Wahrheit der Bilder
den ersten Schritt zur Versprachlichung, noch vor aller kommunikativen Verständigung. Ein Bild, eine Fotografie ist zunächst ein Diskursfragment, eine singuläre Äußerung, die nur in Kontexten diskursiver Strukturierung auf ihren Aussagewert und ihre formativen Elemente hin gelesen, interpretiert und rekonstruiert werden kann. Dies alles geschieht durch und durch im Medium der Sprache, und im diskursiven Gefüge von Text und Bild scheint bis auf weiteres der Text die Oberhand zu behalten. Darin besteht kein prinzipieller Unterschied zu text- oder auch symbolförmigen Aussagen, die im Übrigen, wie erwähnt, ihrerseits bereits Visualisierungen (von Lauten) sind. Gleiche Fotografien können ganz verschiedene Texte illustrieren, sie übernehmen dann jeweils eine andere Aussagefunktion. Im Einzelnen erfordert deren Analyse sicherlich bildspezifische Interpretationstechniken. Doch die Aussagen des Bildes konstituieren sich ganz ebenso wie diejenigen des Textes, im Zusammenhang einer diskursiven Strukturierung. Reine Bilddiskurse gibt es also nicht. Inwiefern lässt sich aber dennoch von einer »Wahrheit der Bilder« sprechen?
F otogr afie und die M öglichkeitsbedingungen des S ehens In ihrem wegweisenden Essay über die Betrachtung des ›Leiden anderer‹ (2008) analysiert die Literatur- und Kunsttheoretikerin Susan Sontag Geschichte und Bedeutung der Kriegsfotografie. Ihr Interesse gilt der Frage, welche inneren Bewegungen Bilder des Krieges und seiner Schrecken im Betrachter auslösen und welche Einsichten sie vermitteln können. Sie beginnt ihre Ausführungen mit einem Rekurs auf die britische Schriftstellerin Virginia Woolf, die sich in ihrem 1938 erschienenen Essay ›Drei Guineen‹ (2001 [1938]) mit dem Problem der Verständigung über den Krieg sowie die künftigen Möglichkeiten seiner Vermeidung auseinandergesetzt hat und hierbei der Kriegsfotografie einen hohen Stellenwert zuweist. Zwar ließen, so Woolf im Dialog mit einem Londoner Anwalt, kulturelle Unterschiede wie die tiefe Kluft der Geschlechter ein geteiltes Verhältnis zum Krieg eher unwahrscheinlich erscheinen. Um zu prüfen, ob und inwieweit Übereinstimmung dennoch möglich sei, schlägt die Schriftstellerin vor, gemeinsam Kriegsaufnahmen anzusehen. Die Fotografien ließen die Zerstörungen und Verwüstungen des Krieges in aller Deutlichkeit vor Augen treten. Als Beweis dafür, dass Menschen angesichts dieser Darstellungen zu gleichen Empfindungen kommen können, führt Woolf deren Beschreibung in gleichen Worten an:2 2 | Woolf hat neben den Unterschieden von Männern und Frauen auch Unterschiede der sozialen Lage im Blick, die für den besagten Dialog jedoch unerheblich sind (sie, die Schriftstellerin, wie auch der Anwalt gehören der oberen, gebildeten Klasse an). Dem Buch liegt das Format eines Briefwechsels zugrunde, in dem Woolf antwortet; der Adressat bleibt ungenannt. Die angesprochenen Fotografien beziehen sich auf den spanischen Bürgerkrieg.
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Angelika Poferl und Reiner Keller »Wie unterschiedlich die Erziehung und die Traditionen hinter uns auch sein mögen, unsere Empfindungen sind dieselben. […] Sie, Sir, nennen sie [die Empfindungen] ›Entsetzen und Abscheu‹. Wir nennen sie ebenfalls Entsetzen und Abscheu […] Krieg, sagen Sie, ist eine Abscheulichkeit, eine Barbarei; Krieg muss um jeden Preis verhindert werden. Und wir sprechen Ihre Worte nach. Krieg ist eine Abscheulichkeit; eine Barbarei; Krieg muss verhindert werden.« (Zit. n. Sontag 2008: 11)
Aus der Sicht Sontags ist diese Schlussfolgerung übereilt. Sie widerspricht der Ansicht, dass Fotografien – und seien sie noch so eindringlich – eine eindeutige Botschaft vermitteln und in ein »hypothetische[s] gemeinsame[s] Erleben« (Sontag 2008: 12) münden. Sontag lenkt den Blick zum einen auf die Interpretationsbedürftigkeit und Interpretationsabhängigkeit, die Bildern zu eigen ist. Kriegsfotografien können schockieren, abstoßen und empören, sie können aber auch gleichgültig quittiert oder in ihrer Gültigkeit angezweifelt werden, Mitleid ebenso wie Rachegefühle, Zustimmung oder gar Freude (angesichts der Schädigung des Gegners) hervorrufen: »Wo es um das Betrachten des Leidens anderer geht, sollte man kein ›Wir‹ als selbstverständlich voraussetzen« (a. a. O.: 13; Hervorh. A. P.) – so einer der Schlüsselsätze der eröffneten Reflexion. Sontag wendet sich im Rahmen ihrer insgesamt vielschichtigen Abhandlung zum anderen gegen eine naive Auffassung von Authentizität. Zwar beanspruchen Fotografien wie geschichtlich kaum ein anderes Medium, Realität abzubilden, worauf auch eine »höhere« Autorität des Bildes gegenüber dem sprachlichen Text beruht. Dies wird besonders deutlich in der dokumentarischen Fotografie, die Sachverhalte nicht nur »zeigen«, sondern auch »bezeugen« kann – unterstellt wird, dass jemand (das heißt zumindest: der Fotograf) anwesend war und die Dinge sich zumindest vor dessen Augen (das heißt: tatsächlich) so ereignet haben. Man muss in der Kritik an der Abbildbarkeit der Dinge nicht so weit gehen, dem Foto prinzipiell als »gestellt« zu misstrauen. In der frühen Kriegsfotografie war es nicht unüblich, Leichen, Gebeine etc. zu drapieren (im Kampfgeschehen dabei zu sein, wäre schon technisch nicht möglich gewesen), auch der heutige Sensationsjournalismus mag sich solcher Strategien bedienen. Doch selbst für die seriöse Fotografie stehen das Glück des »richtigen Moments« (nicht etwa die Vollständigkeit der Abbildung) und die Aussagekraft der aufgenommenen Situation im Vordergrund. So ist jede fotografische Aufnahme ein Dokument der Inszenierung, der Überformung von Realität allein durch Auswahl, Hervorhebung und Einstellung. Dies macht seine spezifische Qualität als Medium auch in den »Genres des Realismus« aus, wozu die klassische dokumentarische Fotografie ebenso wie die Sozialreportage zählen. Hinter das Argument der Interpretationsabhängigkeit wie auch der Überformung führt kein Weg zurück. Beide Annahmen sind in den heutigen Bildwissenschaften und in der sich entwickelnden Soziologie des Bildes weitgehend unbestritten.3 3 | Vgl. etwa Reichertz (1992), Knoblauch et al. (2006), Bohnsack (2007), Raab (2008), Breckner (2010).
Die Wahrheit der Bilder
Menschliches Leiden zur Anschauung zu bringen ist historisch keineswegs neu, sondern reicht bis in die Antike und das Mittelalter zurück; die darstellenden und bildenden Künste haben sich dem gewidmet, auch verbinden sich damit sehr unterschiedliche religiöse, kulturelle, soziale und politische Funktionen. Das Martyrium bildet so z. B. ein zentrales Motiv der christlichen Kunst und der Anregung zur Kontemplation. Angesichts der globalen Zirkulation von Bilderströmen (vgl. Appadurai 1996) und der zunehmenden Bedeutung der Medien für die Herausbildung einer virtuellen, kosmopolitischen Öffentlichkeit, wie dies Silverstones Konzept der »mediapolis« beschreibt (vgl. Silverstone 2008), ist inzwischen eine eigene sozial- und kulturwissenschaftliche Literatur entstanden, die sich der Darstellung von Leiden, seiner medialen Formatierung und möglichen Wirkungs- bzw. Reaktionsweisen widmet.4 Im Vordergrund steht die Produktion und Verbreitung von Texten und Bildern sowie deren strategischer Einsatz. Methodisch wird dabei zum Teil recht unbekümmert argumentiert und allein von der Darstellung auf die Rezeption, z. B. die »Erzeugung von Anteilnahme« oder »Indifferenz« geschlossen, ohne die Kategorisierungen von Betrachtern selbst zu untersuchen. In einer instruktiven Studie über ›Distant Suffering‹ (1999) ist Luc Boltanski hier bereits weiter gegangen. Er arbeitet anhand literarischen Materials drei grundlegende rhetorische topoi des Sprechens über wahrgenommenes, zur Anschauung gebrachtes Leiden heraus: Die Denunziation und Anklage der Verhältnisse und Täter, das sympathisierende Mitleid mit dem Opfer sowie das ästhetische Urteilen, in dem Gefühle sublimiert und durch eine distanzierte Betrachtung situativer Arrangements ersetzt werden. Solche typischen Modi des Sprechens und Urteilens durchziehen, wie eigene Arbeiten zeigen, auch die Wahrnehmung globaler sozialer Probleme und die Entwicklung der Menschenrechtsdiskussion – ein Gegenstandsbereich, in dem Formen der Visualisierung menschlichen Leidens eine große Rolle spielen. Sie sind vor allem für Prozesse der Problematisierung, das heißt: der Explikation sozialer Sachverhalte und Zustände als nicht hinnehmbar und veränderungsbedürftig, zentral. Die darin enthaltenen Aspekte der Sensibilisierung, der Empathie, der Aufklärung und der Bewusstseinsbildung sind allerdings relativ moderne Phänomene und kulturgeschichtlich eng mit der Idee der Würde des Menschen, mit der Vorstellung einer Vermeidbarkeit von Leid sowie der Entstehung des modernen Humanitarismus seit dem 18. Jahrhundert (vgl. Laqueur 1989; Hunt 2007) verbunden. Was meint die Behauptung einer »Wahrheit« der Bilder vor dem Hintergrund all dieser historischen, kulturellen, sozialen und medienspezifischen Relativierungen? Inwiefern macht es analytisch Sinn, nach objektivierenden Gehalten in der Relation von Bild und Bildbetrachtung zu fragen? Das heißt, nach Elementen, die den Interpretations- und Deutungsspielraum einschränken, und vorzeichnen, was wie gesehen werden kann? Die Fragen lassen sich weder allein mit dem Verweis auf die Grenzen diskursiver Strukturierungen (»das Sagbare«, »das Legitimierbare«) 4 | Vgl. Boltanski (1999), Chouliaraki (2006), Cottle (2009), Robertson (2010).
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beantworten noch umgekehrt entkräften durch den potentiell zur Verfügung stehenden Interpretationsreichtum vorgängiger Wissens- und Deutungshorizonte und die Vielfalt stets möglicher Alternativen. Relevant erscheinen hier vor allem der Prozess und die Möglichkeitsbedingungen des Sehens selbst. Eine »Wahrheit« der Bilder existiert, sie ist ein Produkt des Erlebens und der Erfahrung des Gegenstandes, ohne rein subjektiv bzw. von den Intentionen des Betrachters bestimmt zu sein. Sie zu entschlüsseln erfordert, Bedeutungsschichten eher ab- als an das Bild heranzutragen, Narrationen nicht zur Entfaltung, sondern zum Schweigen zu bringen, Assoziationsketten zu unterbrechen anstatt zu knüpfen. Methodisch gewendet stellt die Erkenntnis – und Erkennbarkeit – des bildgestifteten Sinnzusammenhangs (nicht seiner äußeren Verwendungs- und Verweisungskontexte) sich als ein Konstitutions- und Handlungsproblem des Wahrnehmens dar; praktisch setzt sie eine Bewegung des »Weglassens« und einen bewussten Minimalismus der Beschreibung voraus. Mit einem solchen sowohl phänomenologisch als auch pragmatistisch grundierten Zugang5 sei abschließend kurz auf eine Fotografie von Kevin Carter eingegangen, aufgenommen in Sudan 1993; sie zeigt ein von Hunger gezeichnetes, auf der Erde kriechendes Kind und einen Geier (Titel »Aasgeier beobachtet verhungerndes Kind«).6
Abb. 1: ›Verhungerndes kleines Mädchen mit Geier‹, Sudan, 1993
5 | Anschlüsse an kunsthistorische Ansätze der Bildanalyse (wie etwa die Ikonik Imdahls) können hier nicht diskutiert werden. 6 | Die Aufnahme wurde erstmals in der New York Times veröffentlicht. Der Fotojournalist Kevin Carter hat für das Bild 1994 den Pulitzerpreis erhalten; es gehört zu seinen bekanntesten Arbeiten. Kurz nach der Auszeichnung hat Carter sich das Leben genommen.
Die Wahrheit der Bilder
Die »Wahrheit« dieses Bildes wird in zwei Aspekten deutlich: Erstens drängt sich die Materialität und daher auch Widerständigkeit des abgebildeten Gegenstandes auf, die die Optionalität des Sehens formt. Der Körper des Kindes ist von sichtbarem physischem Mangel gekennzeichnet – wie schon Laqueur (1989: 177) mit seinem Argument des »reality effect« gezeigt hat, ist die empirische Genauigkeit und die Körperlichkeit des Leidens ein wichtiges Merkmal der Situationsdefinition. Doch selbst die Kategorie des Leidens ist verzichtbar, um die »rohe« (von Konnationen weitgehend befreite) Gestalt des Dargestellten zu erkennen. Die Widerständigkeit des Gegenstandes liegt schon allein darin, dass wir einen versehrten und keinen wohl gestalteten, heilen Menschen vor uns haben. Selbst die Variation einzelner Merkmale – man kann sich das Kind z. B. mit anderer Hautfarbe, als Erwachsenen oder ohne den Geier und ohne den dürren Boden vorstellen – ändert nichts an der physischen Verfasstheit, die dem Anblick preisgegeben ist. Einen Schritt weitergehend, lässt sich dieser Körper zweitens als Zeichen betrachten. Es geht auch hierbei weder um Zusatzüberlegungen im Stil der Frage, welche Haltungen das Bild ausdrückt oder wachrufen kann noch um Ikonografie. Ein von Mangel gekennzeichneter, versehrter Körper verweist jedoch unumgänglich auf das Phänomen der Verwundbarkeit, der Endlichkeit und Fragilität menschlicher Existenz – das heißt: auf eine condition humaine, die kognitiv und affektiv verstanden werden kann, und zwar unabhängig davon, ob diese Verwundbarkeit und Fragilität im je konkreten Fall schmerzt, freut, als Schutzbedürftigkeit erscheint oder im Zustand der nüchternen, analytischen Betrachtung (wie sie hier betrieben wird) verharren lässt. Die »Wahrheit« des Bildes liegt somit in den Grenzen der Perspektivität. Man kann vieles hinein interpretieren, aber der Spielraum ist nicht beliebig weit – nicht unter Bedingungen methodischer Disziplinierung und nicht in Anbetracht der »Dinge selbst«. Die herangezogene Fotografie löst seit ihrer Veröffentlichung Auseinandersetzungen über die Ethik des Dokumentarischen einerseits, den appellativen Nutzen andererseits aus. In dem Zusammenhang wurde unter anderem der Vorschlag entwickelt, das Bild nicht entlang moralischer Debatten, sondern als Fabel zu lesen über Gerechtigkeit und das »Aufeinandertreffen zweier Hungernder« in vertauschten Rollen: Das »Menschenkind kriecht mit gesenktem Kopf über die Erde, getrieben einzig vom Instinkt des Überlebens. Das Tier steht aufrecht mit der Ruhe des Beobachters und der Unerbittlichkeit des Richters in seiner Robe. […] Kevin Carter zeigt uns ein Gericht, in dem ein bestimmtes ›Menschenleben‹ verhandelt wird. Deshalb können die kleinen Moralisten ihm nicht verzeihen; er zeigt, dass wir ihr Gewissen nicht für die Beurteilung solcher Situationen brauchen. Das Tier hat dies bereits getan.« (Jacques Ranciere, zit. n. der Pressebeilage des hkw, Berlin Documentary Forum 1, New practices across disciplines, Juni 2010)
Auch eine solch, symbolisch hoch aufgeladene Fabel wäre jedoch leer und nicht denkbar ohne die aufgezeigten objektivierenden Elemente. Sie führt nur fort, was die Fotografie zu sehen auferlegt. Verknüpft man die beiden
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hier vorgetragenen Stränge – die diskursanalytischen und die phänomenologisch-pragmatistischen Überlegungen – dann liegt deren verbindendes Element in der Annahme, dass die »Wahrheit« der Bilder in einem Bedeutungskern liegt, über den man sich einigen kann und streiten muss, dessen Vorhandensein aber unverzichtbar ist, um überhaupt vom Bild zu Aussagen zu gelangen. Das Bild selbst produziert keine Worte, und doch sind wir auf das Bild (wie auf die Erfahrbarkeit alles Gegenständlichen) angewiesen, um seine Anschauung in Worte fassen zu können.
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Die Wahrheit der Bilder
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Ist ein Foto »nur ein Foto«? Die Fotografie als Medium des Gedächtnisses in der Verarbeitung von Traumata Anna Lisa Tota
E inleitung Im folgenden Beitrag wird die Fotografie als Medium des Gedächtnisses betrachtet, sowohl in Bezug auf das Familiengedächtnis (das Fotoalbum, das anhand der Bilder der Vorfahren die Familiengeschichte erzählt) als auch in Bezug auf Ereignisse des öffentlichen Gedächtnisses. Wie wirkt ein Foto als Medium des Gedächtnisses und wie funktioniert es? Wie kann man die Repräsentation der biografischen Geschichte einer Familie oder die öffentliche Darstellung eines traumatischen Ereignisses durch ein Foto beeinflussen? Die Darstellungskraft von Fotos hat sowohl aus soziologischer als auch ethischer und politischer Sicht eine Reihe von Auswirkungen, die nicht vernachlässigt werden sollten. Das vorliegende Kapitel bezieht sich, auch wenn es die Beziehung zwischen Fotografie und Gedächtnis im Allgemeinen betrachtet, besonders auf Fotos, die mit traumatischen Ereignissen verbunden sind. Die theoretischen Fragen, die hier gestellt werden, beziehen sich auf die Natur, die Rolle und die Funktion der fotografischen Darstellung eines traumatischen Ereignisses: Ein Foto wird als »Kondensator«, als Zusammenfassung eines bestimmten Teils der Wirklichkeit betrachtet. Auch wenn ein Bild immer nur einen geringen und bestimmten Teil der Realität darstellt, wirkt es auf den Betrachter als Ganzheit. In dieser Wirkung liegen die Kraft und die Kapazität der Fotografie, ideologische Inhalte zu vermitteln. Weil ein Foto viel mit jener Realität gemeinsam hat, die es darstellt, kann der Betrachter – wie schon Stuart Hall (1993 [1980]) gezeigt hat – einfach vergessen, dass ein bestimmtes Foto »nur ein Foto« ist.
D ie Partialität der fotogr afischen D arstellung Im Allgemeinen kann man sagen, dass zwischen dem Akt des Fotografierens und der Rezeption eines Fotos ein zeitlicher Abstand liegt. Je größer dieser ist, desto wahrscheinlicher ist auch, dass das im Foto Gezeigte sich
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zwischenzeitlich verändert hat. Ein Foto wird nach dem Moment der Aufnahme sofort »alt«, besonders wenn es etwas darstellt, das sich seither bereits verändert hat. Dazu kommt, dass der Fotograf durch sein subjektives Handeln entscheidet, was er als relevant erachtet und fotografiert und was nicht. Diese Selektivität des fotografischen Aktes ist der Grund, dass ein Foto nicht als objektive Darstellung der Realität betrachtet werden kann. Ein Foto ist in Bezug auf die Zeit immer statisch (und deswegen schnell »veraltet«) und zeigt den Raum immer nur partiell, als begrenzten Raum aus einer bestimmten Perspektive. Nun stellt sich die Frage was passiert, wenn ein Foto als Erinnerungsmittel an eine fernere Vergangenheit verwendet wird? In diesem Abschnitt wird argumentiert, dass die konstruktivistische Rolle, die ein Foto in Bezug auf die dargestellte vergangene Realität innehat, erhebliche Implikationen birgt, wenn das Foto als Erinnerungsmittel in Prozessen des kollektiven Gedächtnisses verwendet wird. Wenn die Ereignisse, die mittels Fotos dargestellt werden, auf der individuellen oder kollektiven Ebene sehr traumatisch und mit Leiden verbunden sind, kann der Einfluss des Mediums Bild noch problematischer werden. Handelt es sich beispielsweise um die Darstellung eines Traumas, so kann eine eventuelle Manipulation der privaten und öffentlichen Bedeutungen, die von den verschiedenen Betrachtern des Bildes konstruiert werden können, aus ethischer Perspektive fragwürdig und mit negativen Implikationen verbunden sein: Einerseits für die Opfer und ihre Familien, andererseits aber auch für die ganze Gemeinschaft, die hinsichtlich traumatischer Ereignisse eine Rekonstruktion des Geschehens verdient, die frei von ideologischer Manipulation ist. Wenn ein Bild beispielsweise ein Opfer sexueller Gewalt (re-)präsentiert, spielt es eine große Rolle, wie das Opfer gezeigt wird (z. B. ob sein moralischer Status aufgrund seiner äußeren Erscheinung, seiner Kleidung, seiner Körperhaltung, Mimik und Gestik in Frage gestellt werden kann). Dasselbe gilt für Fotografien von Opfern terroristischer Akte: Alles was im Foto den moralischen Status der Opfer potenziell mindert, kann von den Beobachtern als »Ausrede« verwendet werden, um die Opfer als »selbst schuldig« zu betrachten (der sogenannte Prozess des »blaming the victims«).
B ilder und/oder W orte Eine interessante Frage zu diesem Thema bezieht sich auf den Unterschied zwischen Bildern und Worten, in ihrer Kapazität Botschaften und Bedeutungen zu vermitteln. Welches sind die verschiedenen Formen des Erzählens, wenn Bilder statt Worte verwendet werden? In den meisten Fällen geht es nicht um eine »entweder/oder«-Situation, sondern es werden gleichzeitig Worte und Bilder verwendet. Wenn man die Beziehung zwischen einem Foto und der dargestellten Wirklichkeit interpretiert, muss man das Wechselspiel zwischen dem Text, der jene Wirklichkeit erzählt, und dem Visuellen, das jene Wirklichkeit repräsentiert, analysieren. Zum
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Beispiel gilt es herauszufinden, ob der Text dem Foto gegenüber als »anchorage« (Barthes 1964) der verschiedenen Bedeutungen, die dem Foto gegeben werden können, funktioniert oder nicht. Auf diesen Umstand bezieht sich das Konzept des »Viskurs« von Karin Knorr-Cetina (2001). Ihrer Meinung nach spielen Bilder eine wachsende Rolle in mehreren Bereichen der Naturwissenschaften, in denen ohne visuelle Repräsentationen praktisch keine Evidenz und kein Beweis möglich wären. Diese Aussage steht in Einklang mit dem alten Argument von Stuart Hall (1993 [1980]) zur Superiorität der Bilder in Botschaften. De Saussures Theorie (De Saussures et al. 1971 [1916]) umformulierend, behauptete Stuart Hall dass ein Bild viel mehr mit der Realität gemeinsam hat, die es darstellt, als ein Text, der normalerweise nur eine konventionelle Beziehung zur Realität hat.1 Genau aufgrund dieser dichteren Gemeinsamkeit zwischen einem Bild und dem dargestellten Phänomenon hat ein Bild eine größere Wahrscheinlichkeit, ideologische Inhalte erfolgreich zu vermitteln, als ein schriftlicher Text. Ein Bild sieht eher »wie die Realität« aus, und so ist es einfacher ein Bild mit der Realität zu verwechseln (oder mit ihr gleichzusetzen). Das Argument von Hall (1993 [1980]) kann vielleicht etwas »naiv« wirken, es überzeugt aber nach vielen Jahren immer noch. Indem Knorr-Cetina (2001) den Begriff »Viskurs« vorschlägt, hebt auch sie diese höhere Kapazität des Visuellen, als Evidenz und Beweis zu wirken, heraus. Bilder haben eine innere Macht, über die Worte nicht verfügen. Wenn man ein Foto als Darstellung der Vergangenheit betrachtet, kann es als visuelle Erzählung des Geschehens wahrgenommen werden. Die Rezeption eines Fotos kann auch einen Prozess des Erinnerns implizieren und aktivieren.
D ie F otogr afie in den M emory S tudies Ein Foto ist als Foto eine objektive Wirklichkeit, repräsentiert aber nicht objektiv eine Wirklichkeit. Vielmehr stellt es zugleich eine objektive und eine subjektive Wirklichkeit dar. In anderen Worten: Trotz der subjektiven Perspektive des Fotografen ist das Dargestellte nicht einfach »nur subjektiv« (wenn man beispielsweise einen Baum fotografiert, bleibt das Fotografierte trotz aller Perspektivenwechsel immer noch ein Baum). Die Auffassung, dass ein Foto ein Geschehen repräsentiert, dessen Sinn und Bedeutung sowohl von der subjektiven Perspektive des Fotografen als auch von der subjektiven Rezeption der Beobachter abhängen, ist bei Soziologen und Kommunikationswissenschaftlern weit verbreitet (Barthes 1964; Zelizer 2004; Sontag 2008; Eberle 2014; Shevchenko 2014; Baur/Budenz in diesem Band). Diese epistemologische Perspektive auf die Rolle des Visuellen gegenüber der darzustellenden Wirklichkeit ist besonders nützlich, 1 | Die immer wieder genannte Ausnahme sind onomatopoetische (lautmalerische) Worte, die eine direkte Beziehung mit dem Phänomen, das sie darstellen, haben.
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wenn man sie in Bezug auf die Prozesse des Erinnerns und Vergessens betrachtet, wie auch Shevchenko (2015) betonte. Seit Halbwachs (1925; 1941) haben sich theoretische Analysen und empirische Forschungen über Gedächtnisse sehr entwickelt und verbreitet (Nora 1984; Connerton 1989; Müller/Rüsen 1997). Besonders mit der Publikation von Middleton und Edwards (1990), aber auch schon vorher mit den Studien von Halbwachs, hat sich die konstruktivistische Perspektive in den memory studies konsolidiert. Die verschiedenen individuellen, kollektiven und sozialen Formen des Gedächtnisses (Halbwachs 1968) werden immer mehr als work-in-progress analysiert, die von den Interessen der Gegenwart beeinflusst werden. So werden sie kaum noch als objektive Darstellungen der vergangenen Wirklichkeit gewertet. Die Vergangenheit ist nicht ein statisches Objekt, sondern eine dynamische Konstruktion; ihre Darstellung und öffentliche Erzählung wird von vielen verschiedenen Individuen, sozialen Gruppen, Gemeinschaften, Institutionen und Faktoren mitgeprägt.
Die Fotografie und die Erinnerung als » συνεκδοχή« Wenn man die Fotografie und Erinnerung in Verbindung setzt, kann man beide Gebiete aus einer theoretisch kohärenten Perspektive betrachten: Sowohl die Fotografie als auch die Erinnerung können als soziale Aktivitäten interpretiert werden, deren Sinn und Bedeutung mit der Subjektivität der Individuen tief verbunden sind. Wie der Fotograf beim Fotografieren entscheiden muss, was er fotografieren wird (und diese Entscheidung impliziert immer eine drastische Reduktion der wahrnehmbaren Wirklichkeit), so verfährt auch ein Mensch, der sich an etwas erinnert, immer sehr selektiv. Diese Selektivität ist tief verbunden mit dem epistemologischen Status des Fotografierens wie auch der Erinnerung. Interessant ist insbesondere, dass man in beiden Fällen diese Partialität schnell übersieht und das Teil mit dem Ganzen verwechselt. Die Redewendung, die dieses semiotische Phänomen besser beschreibt, ist die Synecdŏche (aus dem altgriechischen »συνεκδοχή«). Beide, das Foto und die Erinnerung, stehen in einer Beziehung zur Realität, die als eine Synekdoche2 beschrieben werden kann: Obwohl sie nur einen Teil repräsentieren, werden sie unversehens als Ganzheit verstanden. Beide funktionieren semiotisch wie eine Synekdoche, und genau darin liegt ihr Potential, ideologische Inhalte vermitteln zu können: Wenn dieser »leere« Raum3 zwischen Teil und Ganzheit versteckt werden kann, als ob er nicht existieren würde, wird es möglich eine partikularistische Perspektive als objektive und universalis2 | Eine Synekdoche (Synecdŏche = »Mitverstehen«) ist die Ersetzung eines Wortes durch einen Begriff mit engerer oder weiterer Bedeutung, z. B. einen Ober- oder Unterbegriff. Der Begriff stammt aus demselben Begriffsfeld, im Unterschied etwa zu einer Metapher, bei der ein Wort durch einen unverwandten Begriff aus einem anderen Begriffsfeld ersetzt wird. 3 | Im Sinne der »Leerstelle« zwischen Leser und Text, wie sie Roman Ingarden (1931) beschrieb.
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tische zu verkaufen. Anders gesagt, diese Leerstelle ermöglicht es, dass eine »kulturelle Hegemonie« (Gramsci 2014 [1948–1951]) entstehen kann. Die Füllung dieser Leere (durch ideologische, politische und/oder ethische Inhalte) bekommt nun eine ganz besondere Bedeutung, wenn es sich um ein individuelles oder kollektives Trauma handelt. Die Manipulation einer Erzählung von individueller oder kollektiver Gewalt hat nämlich größere ethische und politische Implikationen als jene, die eine Darstellung eines normalen Ereignisses des Alltagslebens betrifft.
Die Fotografie und die öffentliche Darstellung von Traumata Es gibt eine konsolidierte Tradition in den Memory Studies über die Rolle der Fotografie als Medium der Objektivation einer bestimmten Wirklichkeitsdarstellung. Besonders in Bezug auf traumatische Ereignisse4 hat dieses Thema das Interesse von Soziologen geweckt (Sontag 2008). Zum Beispiel kann man die folgenden drei Studien zu diesem Thema betrachten: Zelizer (2000) und Liss (1998) über die Fotos des Holocaust, und Zelizer (2004) über die Fotos vom 11. September. Barbie Zelizer (2000) analysiert die Verbindung zwischen den Aufnahmen, die bei der Befreiung der Konzentrationslager in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg gemacht wurden, und dem Prozess der kollektiven Anerkennung von dem was in jenen Jahren passiert war. Diese Bilder wurden als grausame Beweise und tragische Rekorde verwendet, um die Brutalität und die extremen Gewaltformen des Krieges darzustellen. Die einzigartige Bedeutung der Aufnahmen und ihre schrecklichen Inhalte haben die Grundlage unserer Erinnerung an den Holocaust tief beeinflusst und auch die Art der Erzählungen von Reportern geändert. Als die Lager befreit wurden, haben Journalisten und Reporter das Medium der Fotografie verwendet, um Zeugnisse von den unaussprechlichen und unbeschreiblichen Szenen der Toten und Sterbenden zu produzieren. Damit wurden diese Geschichten nicht nur in Worten erzählt, sondern auch visuell dokumentiert. Durch diesen Prozess hat die Fotografie eine neue Legitimität als Mittel der Berichterstattung erworben. Die Autorin zeigt, wie seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges »Gräuelfotos« als Welle der Erinnerung verwendet worden sind. Diese Fotos haben eine viel stärkere Rolle in der öffentlichen Vorstellung gespielt als verbale Beschreibungen (Zelizer, 2000). 4 | Da dieses Kapitel sich besonders mit dem Gedächtnis von Traumata beschäftigt, ist es wichtig zu unterstreichen, dass hier gemäß der Traumatheorie (Eyerman 2001; Alexander et al. 2004; Giesen 2004) ein Trauma als soziale und kulturelle Konstruktion verstanden wird. Ein Trauma kann nie nach einem externen Kriterium objektiv bestimmt werden. Wenn hier also gesagt wird, dass ein Trauma »noch verarbeitet werden muss«, behauptet man dies immer aufgrund der subjektiven Perspektive des Einzelnen bzw. aus der kollektiven Perspektive einer bestimmten Gemeinschaft. Das einzige relevante Kriterium liegt im Leiden des Einzelnen bzw. einer Gemeinschaft. Alexander et al. (2004) sprechen daher von einem »kulturellen« Trauma.
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Auch Andrea Liss (1998) analysiert die Rolle von Darstellungsstrategien in Bezug auf den Holocaust. Was passiert wenn Fotos als Geschichtsunterricht für die kommenden Generationen verwendet werden, damit wir »nie mehr vergessen«? Die Fotos, die den Holocaust dokumentieren, tragen die Last, Geschichtsunterricht sein zu müssen, besonders. Gleichzeitig können sie aber auch als Mittel der Trauer fungieren. Andrea Liss beschreibt die inhärenten Schwierigkeiten und produktiven Möglichkeiten der Verwendung von Fotografien, um Zeugnis zu geben. Sie kritisiert die Art und Weise, wie die Post-Auschwitz-Generation diese Dokumente eingesetzt hat, um die Erinnerung an den und die Geschichte des Holocausts darzustellen. Ihr Fokus ist die Fotografie als Soziale Praxis. Zelizer (2004) hat die Rolle des Visuellen im Gedächtnis weiter erforscht, indem sie die weltberühmten Fotos über den terroristischen Angriff am 11. September 2001 in New York analysierte, in denen die Opfer im verzweifelten Versuch, einen besseren Tod zu erleben, aus den Fenstern der Twin Towers ins Leere sprangen (die sogenannten »about-to-die photos«). Zelizer postuliert und dokumentiert, dass die Fotografie ein effektiver »mode of relay« (2004: 157) in Bezug auf traumatische Vergangenheiten werden kann. Diese drei Studien haben aus verschiedenen Perspektiven die Verwendung von traumatischen Fotos im öffentlichen Diskurs analysiert und erforscht, wie diese Verwendung ethisch oder politisch funktionierte. Sie haben die Veränderungen thematisiert, die die fotografische Darstellung von Traumata in der öffentlichen Wahrnehmung ermöglicht hat. Ein Foto eines traumatischen Ereignisses, das in der Öffentlichkeit verbreitet wird, wirkt immer gleichzeitig als ein Vehikel des kollektiven Leidens und als eine Gelegenheit für die kollektive Verarbeitung dieses Traumas. Aber inwieweit ein Trauma durch eine fotografische Darstellung verarbeitbar wird, muss hier offen gelassen werden. – Im folgenden Abschnitt wird diskutiert, wie die transformative Kapazität eines Fotos in der Familiengeschichte oder im Alltagsleben funktionieren kann; danach wird dieselbe Frage in Bezug auf den öffentlichen Diskurs gestellt.
D ie F otogr afie in B ezug auf das individuelle und das F amiliengedächtnis Wie funktioniert ein Foto als Medium des individuellen oder Familiengedächtnisses? Langford (2001) hat Familienalben untersucht, die von Familien als lebendige Darstellungen der Vergangenheit geschätzt und gesammelt werden. Ein Album stellt die Geschichte der Familie dar; wenn aber alle schon gestorben sind, können diese visuellen Darstellungen zu frustrierenden Rätseln werden, da das kommunikative Gedächtnis als Schlüssel fehlt. Durch die Verbindung von Fotografie und mündlicher Überlieferung zeigt Langford, wie Alben entwickelt wurden, wie wir uns
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anhand ihrer erinnern können, und wie wir unsere Geschichten in die Zukunft tradieren. Oben ist die Natur der fotografischen Darstellung durch eine Synekdoche geschildert worden. Hier wird nun postuliert, dass genau dank dieser spezifischen Eigenschaft ein Foto als Gelegenheit für eine tiefe Verarbeitung der Vergangenheit wirken kann. Ein Foto stellt immer nur einen Teil dar, aber da es dank seiner semiotischen Kapazität mit der Ganzheit verwechselt werden kann, wird seine Repräsentationsfunktion wesentlich stärker. Das Foto kann als klare, neutrale und direkte Darstellung betrachtet werden. Es kann umgekehrt aber auch als eine Brücke gesehen werden, wodurch Gegenwart und Vergangenheit wieder in Beziehung stehen und sich gegenseitig widerspiegeln können. Wenn Maurice Halbwachs (1968) behauptete, dass die Vergangenheit durch die Interessen der Gegenwart geprägt und verfasst werden, meinte er genau diese transformative Kapazität des Gedächtnisses. Unter Rückgriff auf Hegels Interpretation hat Hans Ruin (2015) Gräber als wichtige »sites of memory« betrachtet, die eine Brücke zwischen Toten und Lebenden entstehen lassen. Analog kann man argumentieren, dass in Familienalben die Fotos der Ahnen und Vorfahren zu einer Tür im Zeitfluss werden können, um unsere Familiengeschichte nachzuerzählen. Besonders wenn in der Familiengeschichte traumatische Erzählungen versteckt sind, die darauf warten, endlich zum Ausdruck zu kommen, eröffnet diese Natur von Fotos als Synekdoche – so man sich dessen bewusst wird – die Möglichkeit eine ganz »andere« und irgendwie »neuartige« Familiengeschichte zu erzählen. Ein Foto im Familienalbum kann zu einer positiven Ausrede werden um sich die eigene Familienvergangenheit ganz neu zu erzählen und im Gedächtnis der ganzen Familie einen tiefen Heilungsprozess auslösen. Aus dieser Perspektive können Fotos den linearen Zeitfluss unterbrechen und uns in die Zeit der Immanenz tragen, wo man sich bewusst werden kann, dass mehrere Erzählungen der Wirklichkeit möglich sind; wo man also durch einen Erinnerungsprozess die Vergangenheit wieder neu entdecken und auf andere Art formulieren kann. Die charakteristische Eigenschaft des Fotos, als »συνεκδοχή« semiotisch zu wirken, lässt es zu einem effektiven Mittel werden, um ideologische Inhalte zu vermitteln (also zu manipulieren), gleichzeitig aber auch um tiefe Prozesse der Heilung auszulösen. Die Leere, die zwischen einem Foto und der dargestellten Wirklichkeit entsteht, ist der Schlüssel, der jene Tür zwischen Gegenwart und Vergangenheit öffnen kann. Beispielsweise kann man das Foto eines Verwandten, mit dem man eine sehr negative Beziehung gehabt hat (mit physischer und psychologischer Gewalt), viele Jahre nach seinem Tod wieder anschauen und die negativen Erinnerungen aus der Entfernung neu betrachten und neu bewerten – und ihm dadurch vielleicht verzeihen. Diese Kapazität der Fotos, immer wieder die Möglichkeit anzubieten, die Vergangenheit neu zu erzählen (Tota 2014), wird im folgenden Abschnitt in Bezug auf den öffentlichen Diskurs betrachtet.
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D ie F otogr afie als »M it tel« des öffentlichen G edächtnisses : die fotogr afische D arstellung von Tr aumata Rob Kroes (2007) hat fotografische Erinnerungen untersucht. Seiner Meinung nach hat die Fotografie dazu beigetragen, dass Amerikaner und Europäer eine Sammlung von relevanten Erinnerungsbildern teilen und damit das Gefühl einer gemeinsamen Vergangenheit entwickelten. Die fotografischen Erinnerungen an den amerikanischen Bürgerkrieg und den Kalten Krieg, die ikonischen Bilder des 11. September 2001 und der terroristischen Angriffe in Europa (am 11. März 2004 in Madrid und am 7. Juli 2005 in London) bestätigen, dass wir zu einer gemeinsamen Welt gehören. Sie erlauben uns zu glauben, dass unsere begrenzten und beschränkten Sichtweisen auf die Weltgeschichte als universell gelten können, auch wenn dies nicht zutrifft. Die gemeinsame fotografische Darstellung der Vergangenheit gibt einem Teil der Welt die Illusion, dass diese Ereignisse, die für einige Nationen derart wichtig sind, auch ein universelles Gewicht im öffentlichen Weltdiskurs haben. Die Fotografie hat in dieser Perspektive einen Beitrag zur gegenwärtigen geopolitischen Anschauung der Welt geleistet: Sie verstärkte die Anerkennung und die Relevanz einiger bestimmter Ereignisse dadurch, dass einige Fotos – nur diese und keine anderen – die kollektive imaginatio jener Ereignisse prägen. In jeder Nation gibt es einige Fotos, die für die Konstruktion der nationalen Identität eine wichtige Rolle gespielt haben und immer noch spielen. Diese Fotos funktionieren als ikonische Symbole einer Nation, indem sie normalerweise eine ausgeprägte politische Konnotation mittragen. Oft sind es Fotos, die sich auf ein kollektives Trauma beziehen, das auch gegenwärtig noch bearbeitet werden muss. Es sind Fotos, die eine besondere Relevanz im jeweiligen nationalen Gebiet wie auch im Ausland haben. Anders gesagt, kann man durch diese Fotos die Identität einer ganzen Nation erkennen. Hier werden drei verschiedene Beispiele solcher Bilder betrachtet: 1) das Bild von Willy Brandts Kniefall in Warschau; 2) das Bild vom Vietnam Veterans Memorial in Washington; 3) das Bild vom September 11 Denkmal in New York. Im Jahr 1970, am 7. Dezember, machte Willy Brandt als Bundeskanzler der BRD vor dem Denkmal des ehemaligen Ghettos in Warschau seinen berühmten Kniefall. Er kniete nieder und blieb einfach für einige Minuten stumm. Die Fotos des Kniefalls wurden von mehreren Fotografen aufgenommen: Svenn Simon, Engelbert Reineke und Hans Hubmann. Diese Fotos wurden durch die Massenmedien auf der ganzen Welt verbreitet und sind zum Symbol einer neuen Phase der internationalen Beziehungen zwischen Deutschland und den anderen europäischen Ländern geworden (Giesen 2004: 132). Sie haben der ganzen Welt den berühmten Satz in Erinnerung gerufen, den Bundespräsident Theodor Heuss in Bergen-Belsen im November 1952 ausgesprochen hatte: »Diese Schande nimmt uns niemand ab.« Brandt hat mit dieser symbolischen Geste als Machtperson, als politischer Führer, gehandelt und damit eine Botschaft des offiziellen Deutschlands,
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also der Regierung, übermittelt. Er hoffte, dass die Rezipienten dies als Botschaft »der Mehrheit der Deutschen« interpretieren würden. Brandt hat damit einen »Mythos« im Sinne von Barthes (1957) geschaffen: den Mythos vom reumütigen Deutschen. Die Demutsbekundung des Bundeskanzlers kam überraschend und unerwartet für die Öffentlichkeit, für die Delegation wie für die Gastgeber. Sie wurde als Bitte um Vergebung verstanden. Brandt kniete dort für ganz Deutschland. Ob dies wirklich der Meinung einer Mehrheit der Deutschen entsprach, bleibt eine offene Frage. In 2010 schrieb Walter Scheel in einem Brief an das Solinger Tagblatt:
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Abb. 1: Kniefall Willy Brandts vor dem Denkmal für die Opfer des Warschauer Ghettoaufstandes, Warschau, 7. Dezember 1970
»In dem Moment, als wir ausstiegen und vor das Mahnmal traten, war die Stimmungslage sehr überwältigend. Plötzlich sank Willy Brandt auf die Knie und jeder Mensch, der anwesend war, hätte es ihm gleichtun wollen und jeder hat diese Geste, diese vollkommen ungeplante und spontane Geste, für einzigartig und beeindruckend gefunden.« 5
Brandts Botschaft war auch den anderen europäischen Ländern ge genüber so erfolgreich, dass dieses Foto fast 50 Jahre später immer noch im öffentlichen Diskurs wirkt: Es schuf einen Mythos mit einer breiten Palette von Bedeutungen, die jene Werte der öffentlichen Verzeihung und der Versöhnung transportieren, die sich auf die Moralvorstellungen der öffentlichen Ethik beziehen. Fotos von Gedenkstätten wirken auf ähnliche Weise und spielen oft eine wichtige Rolle in der sozialen Konstruktion der nationalen Identität. Die Gründe dafür sind si-
Abb. 2: Vietnam Veterans Memorial in Washington
5 | »Brands Kniefall: Walter Scheel erinnert sich«, 8. Dezember 2010, in: Solinger Tageblatt.
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cher mehrere: Zum Beispiel die Tatsache dass die Art und Weise, wie man kollektive Traumata benennt und verarbeitet, beim Aufbau einer nationalen Identität entscheidend mitwirkt. Die zugrundeliegende Hypothese ist, dass die kollektive Identität Deutschlands vom öffentlichen Diskurs über den Holocaust sehr tief beeinflusst wird, so wie die kollektive amerikanische Identität noch heutzutage sehr tief von der öffentlichen Darstellung des Vietnamkriegs geprägt wird. Die verschiedenen Bilder vom Abb. 3: September 11 Memorial in Manhattan »Vietnam Veterans Memorial« in Washington und vom »September 11 Memorial« in Manhattan funktionieren im öffentlichen Diskurs als semiotische Medien, die mit einer bestimmten Reihe von öffentlichen Werten und Bedeutungen in Kontakt treten. Diese Bilder bieten den Beobachtern die Gelegenheit für eine weitere Verarbeitung des nationalen Traumas an: Im ersten Fall des Traumas eines »nicht erfolgreichen und nicht gewonnenen Krieges« (Wagner-Pacifici & Schwartz 1991) in Vietnam, im zweiten Fall des Traumas eines nicht gewonnenen Krieges gegen den Terrorismus (Tota 2012). Diese Bilder lenken die Aufmerksamkeit der Nation auf die Traumata, die noch verarbeitet werden müssen. Selbstverständlich könnten sie auch bloße Objektivationen bleiben und zu Leerhüllen eines allzu schweren kollektiven Gedächtnisses werden, das für jene Gemeinschaft nach wie vor sehr traumatisch bleibt6. Auf den Fotos 2 und 3 gibt es indes ein kleines Zeichen, das eine ganz wichtige Rolle in der Bildung und Beeinflussung von Bedeutungen spielt: die rote Rose. Dieses Zeichen ist ein Mittel der Erinnerung in einem Bild, das uns an ein wichtiges Trauma erinnert. Die Blumen wirken als lebendige Zeugen, dass der Wille sich daran zu erinnern noch immer vorhanden ist. Das Denkmal könnte eine tote Objektivation der Vergangenheit repräsentieren, aber der Betrachter dieses Bildes sieht ein Zeichen, das verdeutlicht, dass dem nicht so ist. Es gibt immer noch jemanden, der sich an die Opfer erinnert – frische Blumen bezeugen das. Mit dieser kleinen Geste wird der ganzen Nation gezeigt, dass es jemanden gibt der nicht vergessen will – und dass man auch kollektiv nicht vergessen darf. Jene Toten sind die Toten der ganzen Nation. Die Erinnerung an sie wird als ein Kernelement der nationalen Identität betrachtet, und die entsprechenden Bilder wirken als Evidenz, als Zeugnis dafür. Auch in diesem Fall bleiben Bilder im öffentlichen Diskurs Angebote für die weitere kollektive Verarbeitung von Schmerzen und Lei6 | Ein Trauma kann derart traumatisch sein, dass es nicht gelingt, es erfolgreich zu transformieren.
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den, die jene Gemeinschaften noch nicht transformieren konnten7. Ob diese Gelegenheit ergriffen wird, steht hier als offene Frage; sie wird in der Freiheit und Vielfältigkeit der verschiedenen Rezeptionsaktivitäten entschieden werden. Doch die Bilder bleiben im öffentlichen Diskurs und bieten uns damit die Möglichkeit, jenen Teil der Vergangenheit, der noch Folgen in der Gegenwart hat, transformieren zu können.
Abb. 4: Bia Simonassi: ›Fotografie und Erinnerung‹ 8 7 | Eine neue, geheilte Erzählung des Geschehens kann zum Beispiel mit einem Akt der privaten und öffentlichen Verzeihung beginnen. Das Geschehen selbst wird dabei nicht verändert, aber seine Bedeutung lässt sich aus der Distanz transformieren, indem man versucht zu verstehen, warum und wieso es passiert ist. 8 | Dieses Bild ist ein Kunstwerk von Bia Simonassi, das sie speziell für dieses Kapitel kreiert hat. Es versucht die Beziehung zwischen Fotografie und Erinnerung aus der Perspektive einer Künstlerin darzustellen. Die Autorin dankt Bia Simonassi herzlich dafür.
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S chlussbemerkung In diesem Beitrag habe ich behauptet, dass die fotografische Darstellung von traumatischen Ereignissen viele ethische und politische Implikationen hat, da durch ein Foto die Perzeption der Realität stark manipuliert werden kann. Das hängt von verschieden Faktoren ab: 1) die Fotografie, wie auch die Erinnerung, funktionieren wie eine »συνεκδοχή« (Synecdŏche). Das bedeutet, dass sie immer nur aus einem Teil bestehen, der aber von den Rezipienten leicht mit der Ganzheit verwechselt werden kann. 2) Bilder haben eine höhere Kapazität als Worte, als »real« zu gelten (Hall 1993 [1980]), weil sie viel »realistischer« aussehen als Worte. Genau dank dieser Eigenschaft der fotografischen Darstellung (die als eine Synekdoche semiotisch funktioniert), kann ein Foto gleichzeitig auch als Gelegenheit für die Verarbeitung und Bewältigung der Vergangenheit wirken. Es kann zu einer Brücke werden, wodurch Gegenwart und Vergangenheit wieder in Beziehung treten können. Deswegen wird hier betont, dass jene transformative Kapazität des Gedächtnisses – worauf sich Halbwachs (1968) bezieht, wenn er die Vergangenheit als etwas deutet das durch die gesellschaftlichen Interessen in der Gegenwart verfasst wird – noch stärker wirken kann, wenn die Erinnerung aus der fotografischen Darstellung entsteht. Insbesondere wenn in der Familiengeschichte traumatische Erzählungen versteckt sind, die darauf warten endlich zum Ausdruck zu kommen, kann ein Foto zum Anlass werden, einen tiefen Heilungsprozess im Gedächtnis der ganzen Familie auszulösen. Aus dieser Perspektive habe ich argumentiert, dass das Foto eines traumatischen Ereignisses gleichzeitig als Vehikel des kollektiven Leidens, aber auch als eine Gelegenheit für die kollektive Verarbeitung jenes Traumas wirken kann. Im letzten Abschnitt sind einige spezifische Fotos mit Barthes’ Konzept (1957) des »Mythos« analysiert worden. Diese Bilder bieten den Betrachtern die Gelegenheit für eine weitere Verarbeitung der nationalen Traumata an, die sie darstellen. Das Bild von Willy Brandts Kniefall ist zu einem Mythos geworden, indem es die Bereitschaft der Deutschen zur kollektiven Verarbeitung des Traumas vom Holocaust symbolisiert. Die Fotos von den Gedenkstätten »Vietnam Veterans Memorial« und »September 11 Memorial« lenken die nationale und internationale Aufmerksamkeit auf die noch zu verarbeitenden Traumata der Nation. Diese Bilder bieten uns allen die Gelegenheit, in der Gegenwart die Vergangenheit zu transformieren. Anders gesagt: Sie bieten jedem von uns die Möglichkeit, die gegenwärtige Bedeutung jener dargestellten Vergangenheiten zu bearbeiten. Wenn ich das Bild von Willy Brandts Kniefall anschaue, stellen sich mir die Fragen, was und wie ich heutzutage noch über den Holocaust denken kann, und besonders, wie diese Bitte um Vergebung auf mich wirkt? Dank diesem Bild kann ich heute, viele Jahre später, immer noch zu einer Zeugin von Brandts Geste werden, als ob ich selbst dort anwesend gewesen wäre. Und wie reagiere ich auf diese frischen Blumen neben den zwei Denkmälern? Was bedeutet es für mich heute, im Hier und Jetzt, dass es noch jemanden gibt, der uns daran erinnert, dass wir nicht vergessen dürfen?
Ist ein Foto »nur ein Foto«?
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A bbildungen Abb. 1: Kniefall Willy Brandts vor dem Denkmal für die Opfer des Warschauer Ghettoaufstandes, Warschau 7. Dezember 1970. © Foto: Engelbert Reineke. Bundesbildstelle, Bonn. Abb. 2: Vietnam Veterans Memorial in Washington. © Foto: Unbekannt. Quelle: https://res.cloudinary.com/roadtrippers/image/upload/v13965 79478/veterans-day-road-trip.jpg abgerufen am 01.01.2015. Abb. 3: September 11 Memorial in Manhattan. © Foto: Thomas S. Eberle. Abb. 4: Fotografie und Erinnerung, fotografisches Kunstwerk. © Foto: Bia Simonassi.
Techno-Imagination Vilém Flussers Anregungen zur kreativen Interpretation von Technobildern Oliver Bidlo und Norbert Schröer
D ie F otogr afie – G efahr und C hance Fotografien gelten in der qualitativen Sozialforschung als belastbare und somit natürliche Daten. Sie sind parallel erhoben, technisch produziert und sie geben – klammert man die Selektivität der Ausschnittbestimmung vorsichtig ein – die Wirklichkeitsoberfläche, die sie erfassen, minutiös abbildhaft und damit (quasi-)authentisch wieder (vgl. Bergmann 1985). Diesem methodologischen Optimismus widerspricht Vilém Flusser allerdings heftig. Seines Erachtens sind Technobilder, deren Urform ja die Fotografie ist, die »Folgen einer Manipulation der Welt, welche die Absicht hat, Bilder herzustellen. Die Welt ist für die Technobilder nicht Ziel, sondern Rohmaterial« (Flusser 1997: 100). Von den Technobildern – so Flusser weiter – können entmündigende Verblendungen ausgehen – nämlich dann, wenn sie für die Wirklichkeit gehalten werden – sie können aber auch auf neue Sinnhorizonte und so auf alternative soziokulturelle Chancen verweisen. Sowohl das Erkennen von Gefahren als auch das von neuen Sinnhorizonten setzt aber eine eigene Interpretationskompetenz voraus, die von Flusser Techno-Imagination genannt wird. Mit unserem Beitrag möchten wir andeuten, welche Praktik, »flussersch« gesprochen, welche Techno-Imagination bislang im Rahmen der Hermeneutischen Wissenssoziologie zum Zuge kam, um dann die Frage zu stellen, ob dieser auf die Rückführung in die Schriftlichkeit angelegte Ansatz zu gegenstandsangemessenen Ergebnissen führen kann. Beginnen werden wir mit einem kurzen Abriss der Flusserschen Kulturhistorie zur Phasierung des kommunikativen Codes.
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B ild – S chrif t – Technobild Die Ausgangslage sieht Flusser für den Menschen düster: Der sitzt nämlich zunächst einsam und zum Tode verurteilt in seinem naturgegebenen Gefängnis. Allein über die Entwicklung der Kommunikation gelingt es ihm dann, diesem Schicksal zu entrinnen. In den kommunikativen Codes sieht Flusser das Kernelement aller Kommunikation. Der Gebrauch dieser Codes leitet zu kulturell kommunikativen Überformungen, über die dann die kommunikative Existenz des Menschen erhalten werden kann. Kulturhistorisch ist eine Entwicklung der Codes festzustellen. Flusser setzt seine Beschreibung bei der Etablierung des nichttechnischen Bildes an. Mit dem Zeichnen von Bildern etablierte der Mensch vor circa 40.000 Jahren einen Codetyp, der es ihm erlaubt, aus den ihn umgebenden Umständen in die Subjektivität herauszutreten und sich so einen Überblick zu verschaffen. Sein so außer Reichweite geratenes Umfeld ist ihm nun vorstellbar. Zurück in seinem Umfeld gelangt er über seine Einbildungskraft zu einer souveräneren Orientierung. Die Einbildungskraft (die Fähigkeit zu imaginieren) ist die konstruktive Kraft. Sie gestattet es dem Menschen, aus einer unübersichtlichen Lage heraus (a) geordnete Vorstellungen über diese Umstände zu entwickeln, (b) diese Vorstellungen in einen zweidimensionalen Code – das Bild – zu übertragen und (c) dieses Bild wieder so zu imaginieren, dass es ihn nun in seinem lebendigen Umfeld orientiert. Die Orientierung erfolgt über die Verinnerlichung von Ordnungen der Oberfläche, von Szenen, die nur aus ihrem Insgesamt ihre Kraft gewinnen. Es kann noch nicht darum gehen, dass das Subjekt sich Orientierungsprinzipien oder -typen einbildet. Die Etablierung des Bildcodes stärkt über den Umweg der Distanzierung die Bindung des Menschen an sein Dasein. Erst als die Bilder sich selbstversorgt aus dem Umfeld des Menschen herauszulösen begannen, entwickelte der Mensch einen weiterführenden Code zur Rettung seiner Daseinsbindung: die Schrift. Die Schrift stellt gegenüber dem Bild eine weitergehende Abstraktion dar. Das szenische Nebeneinander und die damit symbolisierte feste Ordnung werden aufgegeben zugunsten des »›Eins-folgt-dem-anderen‹ der Linearität« (Pfleger 2010: 47). Gleichzeitigkeit muss in ein Nacheinander übertragen werden. Die Oberfläche des Codes, das System aus Zeichenträgern, ist gegenüber der Wirklichkeit, die sie repräsentieren soll, arbiträr. Die Bedeutung, die hinter dem Zeichenträger steht, ist eine Konvention; rekonstruierbar ist eine im Text zum Ausdruck kommende Prozessualität, die eine Kausalität und somit eine analytische essentialistische Einbildungskraft suggeriert. Ihre Vollendung findet die im Umgang mit der Schrift sich entwickelnde analytische Haltung in der Wissenschaft, die alles Bildliche als Verblendung zurückdrängt, die die hinter den Bildern sich verbergenden Bedeutungen herauszupräparieren trachtet – in der Sozialforschung die soziale Wirklichkeit auf Strukturen reduziert. Paradoxerweise wird mit den zunehmenden Bemühungen um die Gewinnung der Weltformel − der Formel, mit der die geschichtliche Welt als Struktur wieder zum Stillstand kommt − der Daseinsbezug zur alltäglichen
Techno-Imagination
Lebenswelt unterlaufen. Die Suche nach den letzterklärenden Strukturen macht keinen Sinn mehr, weil sie das Alltagsleben nicht mehr zu orientieren vermögen. In den Worten von Flusser: »Solange wir beim Lesen etwas vorstellen […], vermittelt der Text mit dem Bild, und die Vermittlung ist die Bedeutung. Je mehr sich der lineare Code dem gemeinten Bild gegenüber verselbständigt, je schwieriger wird es, sich beim Lesen ein Bild zu machen […], desto fragwürdiger wird die Bedeutung des Textes. Und sobald es nicht nur unmöglich wird sich beim Lesen ein Bild zu machen, sondern sogar ein Irrtum ist, sich eines machen zu wollen, verlieren die Texte jede Bedeutung.« (Flusser 2003: 134)
Was ist zu tun? Wollen wir nicht traditionalistisch zurückrudern, so benötigen wir ein Verfahren zur Koppelung der Strukturen an bildhafte, wirklichkeitsrelevante Vorstellungen. Und damit hat die Stunde der Technobilder geschlagen. Technobilder sind möglich geworden, weil der Mensch Apparate entwickelt hat, die nicht nur das Malen und Zeichnen der Bilder übernehmen, sondern die Wirklichkeit mechanisch und scheinbar unbestechlich, quasi authentisch und minutiös wiedergeben können. Trotzdem ist dieses mechanische Erzeugen nicht das Entscheidende. »Was ein Bild zu einem Technobild macht, ist nicht, daß es technisch erzeugt wurde […], sondern daß es nicht Szenen, sondern Begriffe bedeutet« (Flusser 2003: 140). Florian Pfleger arbeitet diesen Gedanken aus: »Entscheidend ist nicht die Materialität der Technobilder, sondern ihre Bedeutung. Dies lässt sich auch auf den Aspekt der Abbildhaftigkeit ummünzen. Beim Technobild geht es wie beim traditionellen Bild darum, eine unbekannte Lage vorstellbar zu machen. Aber während es bei den traditionellen Bildern um eine ›Übersetzungsarbeit‹ von visuellen inneren Bildern in visuelle äußere Bilder geht, vollzieht sich die ›Übersetzung‹ bei den Technobildern von a-visuell gewordenen Begriffen in visuelle Bilder. Die Frage, ob Abbild der Wirklichkeit oder nicht, verliert damit die Bedeutung. Mit Flusser geht es bei den Technobildern nicht mehr darum, die Wirklichkeit zu erkennen, sondern dem Dasein (eine Vorstellbarkeit und damit; die Verf.) Sinn zu geben.« (Pfleger 2010: 70)
Die Begriffslage ist verwirrend. Besser wäre es u. E. von Begriffsbildern zu sprechen – wie Flusser es ja an einigen Stellen auch tut –, die dann im Normalfall über apparativ hergestellte Bilder, eben Technobilder, umgesetzt werden.
Techno -I magination Das Problem im Umgang mit den Technobildern ist nun, dass dieser Zusammenhang von Begriff und seiner objektiven Bebilderung erfasst werden muss und dass es spezifischer Kompetenzen bedarf, in der Interpreta-
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tion solcher Begriffstechnobilder den Sinn der Bilder zu (re)konstruieren. Dabei sind zunächst einmal zwei thematische Ebenen zumindest analytisch auseinanderzuhalten: 1. Die ideologiekritische Dekonstruktion, mittels der die Vortäuschung traditioneller Bilder etwa in der Zeitung als Begriffsbilder entlarvt werden sollen, um so Manipulationsbemühungen als solche zu entlarven. 2. Die Sinn suchende, kreativ innovative Dekonstruktion, mit der Technobilder auf neue Seh- und Lebensgewohnheiten (formal ästhetisch – inhaltlich thematisch methodisch interpretativ) hin interpretiert werden, und mit der das Möglichkeitspotenzial an Sinnsetzungen für eine Gesellschaft erweitert werden können. Von Interesse sind hier die Bilder, mit denen man sich bemühte, »die im Programm des Fotoapparats nicht vorgesehenen Informationen ins Bild zu setzen« (Flusser 2006: 75), also die Bilder von Fotografen. Flusser grenzt sie strikt von den Fotos ab, wie Knipser sie produzieren. Knipser liefern sich voll und ganz dem Apparat aus und glauben dann naiv, die Wirklichkeit abbildhaft eingefangen zu haben. Der Fotograf hingegen kennt die Möglichkeiten seines Apparates, er verfolgt bestimmte Absichten der Bildproduktion und muss den Umgang mit dem Apparat nun so arrangieren, dass »seine Fotos [sich] im Gedächtnis der anderen […] unsterblich […] machen« (Flusser 2006: 42). Von daher ergeben sich für die Interpretation zwei weitere, nun aber formale Analyseebenen: Es gilt, (a) die hintergründigen Vorstellungen und Ideen des Fotografen von dem (b) Möglichkeitsraum, den der Apparat technisch vorgibt, abzuheben und beide in ihrer Wechselwirkung aufeinander zu beziehen (vgl. Latour 2001). So stellt sich dann mit Flusser die für die Interpretation eines Fotos zentrale Frage: »Inwieweit ist es dem Fotografen gelungen, das Apparateprogramm seiner Absicht zu unterwerfen und dank welcher Methode?« (Flusser 1991: 43) Um einen Eindruck davon zu vermitteln, mit welchen Verfahren – mit welcher Techno-Imagination – diese Frage in der Hermeneutischen Wissenssoziologie1 beantwortet wurde (vgl. auch Raab 2008; Reichertz/ Englert 2011), möchten wir auf eine Bildinterpretation zurückgreifen, die in den 1990er-Jahren in der Gründungsphase der Hermeneutischen Wissenssoziologie stilbildend wurde: Das stilisierte Sterben des David Kirby, präsentiert als Benetton-Werbeplakat, wurde von Jo Reichertz in dem Aufsatz ›Selbstgefälliges zum Anziehen. Benetton äußert sich zu Zeichen der Zeit‹ (1994) hermeneutisch wissenssoziologisch analysiert.
1 | Zur Hermeneutischen Wissenssoziologie siehe: Soeffner (1989); Schröer (1994); Hitzler/Reichertz/Schröer (1999); Schröer/Bidlo (2011).
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»S elbstgefälliges zum A nziehen . B ene t ton äussert sich zu Z eichen der Z eit«
Abb. 1: Benetton-Werbung, der sterbende David Kirby
Jo Reichertz’ Fotoanalyse des Bildes vom sterbenden Aidskranken David Kirby aus dem Jahr 1994, das einmal als Kunstfoto und einmal als Werbefoto Verwendung fand, kann als einer der grundlegenden Texte aus dem Umfeld der bildhermeneutischen Wissenssoziologie gesehen werden. Wenngleich – und darauf weist Reichertz ebenfalls hin – es bis dahin, also dem Jahr 1994, immer wieder auch hermeneutische Interpretationen von Fotos und Bildern gab (er verweist u. a. auf Goffman, Bourdieu, Oevermann oder Soeffner). Er sieht insbesondere zu objektiv-hermeneutisch orientierten Verfahren eine Aporie, die in der Annahme einer Strukturgleichheit von Text und Bild angelegt ist. Daher muss die objektive Hermeneutik »eine innere bzw. sachangemessene Sequenzialität des Bildes postulieren, welche im Text ihren bedeutungsgleichen Ausdruck findet« (Reichertz 1994: 257). Wir wollen hier nicht die Diskussion wieder aufnehmen, die sich in dem Topos »Die Welt als Text« (vgl. z. B. Garz/Kraimer 1994) ausdrückt, wenngleich dieser Aspekt auch mitangesprochen wird. Auch möchten wir nicht über mögliche ikonische Pfade, denen man in einem Bild folgen könnte, sinnieren (wie z. B. Loer 1994). Es soll vielmehr darum gehen, ob man auf der Basis der o. g. Bildanalyse den Aspekt der Techno-Imagination verdeutlichen kann. Werfen wir kurz einen Blick auf die Vorgehensweise von Reichertz aus dem Jahr 1994. Das zu betrachtende Bild wird weiterhin übersetzt in einen neuen Code und zwar in ein Protokoll, obgleich sich daraus nicht mehr der Anspruch einer bildanalogen Textsequenz ableitet. Vielmehr wird der vom Betrachter hergestellte Bildtext als ein Feldprotokoll behandelt. Wir übersetzen also Bild in Text (ähnlich wie am synaptischen Spalt Aktionspotentiale von elektrischen in chemische und dann zurück in elektrische
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Impulse übersetzt werden). Wir interpretieren – das ist banal – dann wiederum eine Übersetzung, d. h., wir interpretieren das Bild über den Text mit seinen sequenziellen Erfordernissen. Das dann entsprechende Vorgehen des offenen Kodierens des Bildtextes, die Bildung möglichst vieler kompatibler Lesarten, die Suche nach größeren Sinneinheiten und die spätere Aggregation zu einer Sinnfigur, die durch den Bildtext erstellt wurde, ist sicherlich hinlänglich bekannt. Reichertz betont zunächst die wesentliche Unterscheidung von Kamerahandlung und Handlung vor der Kamera. Die Kamerahandlung bildet den dominanten Handlungsrahmen, darunter fallen die Inszenierung der Handlung vor der Kamera, die Auswahl, Gestaltung und Art des Bildausschnittes und die Ausrüstung der Geräte. Im Gegensatz dazu umfasst die Handlung vor der Kamera das, was sich vor der Linse abspielt. Einsichtig ist, dass die Kamerahandlung und die sie umfassenden Aspekte sich auch in die Handlung vor der Kamera einschreiben; »Akteur der Kamerahandlung ist der Fotograf«. – Dass er das für Flusser nicht alleine ist, sondern der technische Apparat (und heute vor allem auch die dort implementierte Software), sei hier nur kurz angemerkt. Wichtig in diesem Zusammenhang ist zudem, dass eine Bildanalyse sich nie nur auf die Bildinhaltsanalyse beschränken darf, sondern zugleich die Kamerahandlung mitthematisieren muss. Aufgrund dieser Tatsache, haben wir es bei Fotografien dergestalt mit zwei Zeichenkomplexen zu tun – einmal die Zeichenkonventionen der abgebildeten Handlungen und einmal jene, die auf die Handlung des Abbildens verweisen (vgl. Reichertz 1994: 259). Zusammen ergeben sie die Bildsprache. Die Konventionen und die Dekodierung spielen im Zusammenhang mit der Techno-Imagination hier eine nicht unerhebliche Rolle. Denn um Bilder und zum Teil auch ihre Affizierung verstehen und »imaginieren« zu können, darf das Verständnis der Bildsprache nicht nur im »Halbschatten des Bewusstseins« (Reichertz 1994: 260) verweilen, sondern muss mittels einer Rekonstruktion ikonischer Codes erschlossen werden. Das hier zu sehende von Jo Reichertz interpretierte Bild zeigt den sterbenden David Kirby, fotografiert von der amerikanischen Fotografin Therese Frare. Jo Reichertz erkennt in der Kamerahandlung – Bildausschnitt, Lichtführung, Arrangement der Körper zueinander – eine bewusste Stilisierung. Und damit reicht das Foto in die »Welt des Symbolischen« (Reichertz 1994: 261) und damit in die Welt der Verweisung hinein. Das Bild schließe an zwei ikonografische Topoi an, zum einen die Pieta-Darstellung (auch Vesperbild genannt; in der bildenden Kunst die Darstellung Marias als Mater Dolorosa – Schmerzensmutter – mit dem Leichnam des vom Kreuz abgenommenen Jesus Christus). Zum anderen kann man als Topos die Grablegung und Beweinung Christi erkennen – ein Bildtypus der christlichen Ikonografie. Zentral in Reichertz’ Darstellung ist nun der Verweis auf die Nutzung historisch gewachsener ikonischer Codes »zur Symbolisierung von Leid, Schmerz, Trauer, aber auch von Hoffnung, Trost und Erlösung« (Reichertz 1994: 262).
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Eine dritte, wenn auch leicht verschleierte Spur zeigt sich durch die Diskrepanz zum historischen Vorbild. Es ist der Vater, in dessen Armen der Sterbende liegt – ein Verweis auf das Gleichnis des verlorenen Sohnes, der zurückkehrt und wieder aufgenommen wird, ohne dass nach seinen Sünden gefragt wird. Als Spur der Sünde lässt sich die Berührung seiner Hände durch zwei Männerhände deuten, die auf das Thema »Homosexualität« anspielen. So zeigt die Fotografie einmal auf der Ebene der Handlung vor der Kamera das Leid und den Schmerz von Menschen, die eine geliebte Person verloren haben. Auf der Ebene der Kamerahandlung zeigt das Bild die Verhandlung bestimmter ikonografischer Codes – der der christlichen Darstellung von Leid, Trauer und Hoffnung – und die bereits angedeutete Verhandlung von Abweichung. Die Darstellung könnte gleichzeitig als Bildkritik an der katholischen Kirche gelesen werden und ihrem Umgang mit – der kirchlichen Moral nach – deviantem Verhalten; und abschließend als latenter Appell auch, dieses Foto und seine neue Kontextualisierung im Rahmen der Werbefotografie – und damit in gewisser Hinsicht deviantem Verhalten – nicht zu verurteilen. Reichertz spricht hier von einem doppelten Spiel, das durch den neuen Rahmen der Werbefotografie gesetzt wird und damit zwei (nicht immer kompatible) Sinnwelten zusammenbringt. Bilder bieten immer auch Projektionsflächen für Vorstellungen, Motivationen und Einstellungen, die die Rezipienten an sie herantragen. Die objektive Bedeutung von gezeigten Handlungen lässt sich dann durch die antizipierbare Reaktionsbereitschaft des generalisierten Anderen einer Interaktionsgemeinschaft rekonstruieren (vgl. Reichertz 1994: 270). Reichertz verweist in Anschluss an Peirce darauf, dass Begriffe »stets Handlungen und Handlungsmöglichkeiten bezeichnen« (Reichertz 1994: 271). Was nun ist daran Techno-Imagination? Techno-Imagination meint, Technobilder zu verschlüsseln und zu entziffern. Wir meinen allerdings – so Flussers Kritik –, dass Technobilder gewöhnliche Bilder sind und dass wir sie entsprechend verstehen können. Und damit gehen wir ihnen auf den Leim. Für die vorgestellte Interpretation von Jo Reichertz wäre dann das technoimaginierte Ergebnis das, was Reichertz mit der Kamerahandlung angesprochen hat. Und das wäre z. B. die Verhandlung von abweichendem Verhalten in einer Gesellschaft. Aber darin allein geht Flussers Techno-Imagination nicht auf. Denn sie nimmt auch die Apparate selbst – ohne die intentionalen Handlungen des Nutzers oder Funktionärs – in den Blick und besteht darauf, dass diese mit in den Blick genommen werden. Dieser Punkt lässt sich hier nur andeuten und an der Reichertz-Interpretation nicht tiefer verfolgen (vgl. auch Bidlo 2008: 57 ff.): In diesem Fall wäre es z. B. die grundsätzliche technische Reproduzierbarkeit von Technobildern (man denke hier bewusst an den Verlust der Aura und die weiteren Punkte, die Walter Benjamin diesbzgl. formuliert hat) oder ihre heute mit den digitalen Apparaten problemlos durchführbare Retuschierbarkeit.
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A uf dem W ege
zu einer vollgültigen Techno -I magination Das hier von uns nur angedeutete, von Jo Reichertz Mitte der 1990er Jahre ausgearbeitete Verfahren zur Interpretation von Bildern erwies sich im Diskurs als recht einflussreich und ist bis heute noch für die Hermeneutische Wissenssoziologie stilbildend. Beeindruckend bleibt die zum Schluss wirkungsanalytisch ausgerichtete Interpretation dieses zum Werbefoto mutierten Kunstfotos: Benetton bietet demnach mit seiner Kampagne ein Forum zum selbstgefälligen Räsonieren über die eigene Gesinnung und schafft so für sich den kommunikativen Raum zur Bildung eines damals noch recht eigenwilligen Typs von Corporate Identity. Und dennoch stellen sich in Anbetracht der Flusserschen Überlegungen zur Fotointerpretation und Techno-Imagination Fragen zum methodischen Vorgehen. Auffällig war für uns zuerst, dass die Interpretation von einer Vertextung des Werbefotos getragen ist. Das am Anfang der Interpretation stehende Feldprotokoll unterscheidet sich – so Reichertz – strukturell von dem unmittelbaren sinnlichen Eindruck des Betrachters und darf nicht mit dessen Eindruck verwechselt werden. »Ein Blick in die Augen der Geliebten« – so Reichertz – »bewirkt anderes als die angemessene Beschreibung dieser Augen« (Reichertz 1994: 255). Der hermeneutische Interpret bekommt demnach erst dann Boden unter seine Füße, wenn er das Bild distanziert in die Linearität übertragen hat. Und da stellten sich dann bei uns erste Zweifel ein! Müsste nicht – so unsere erste Frage – eine hermeneutisch adäquate Interpretation von der Beschreibung der Affizierung bzw. Irritationen ausgehen? Aus dieser Wirkung ergibt sich die Bedeutung. Ich stehe vor einem Foto von einer amerikanischen Industrielandschaft komponiert von Lewis Baltz (Rian 2001), bin irritiert, sofort erfreut und denke, »Wow«, das ist es – und (re)konstruiere von diesem starken Eindruck her die ideografische Konstruktion des Fotos und komme zu einer Bedeutungsfigur. Hätte nicht gerade das Benetton-Werbefoto von den Irritationen her angegangen werden sollen, die es ausgelöst hat? Von da ausgehend stellt sich zweitens die Frage, ob es für die weitergehende Interpretation des Bildes überhaupt Sinn macht, eine Vertextung − beispielsweise in Form eines Feldprotokolls − vorzunehmen. Besitzen Bilder nicht eine eigensinnige Symbolebene, eine Eigenlogik, die nicht in der Grammatikalität eines Textes aufgehen kann? Wenn wir den Diskurs richtig verfolgt haben, gehen Überlegungen z. B. von Raab (vgl. Raab 2008) und Bohnsack (vgl. Bohnsack 2003; 2009) in diese Richtung. Und dann fragt sich drittens, ob die Interpretation eines Textes, die Erarbeitung der Bedeutungsfigur angemessen im Modus des Schriftlichen zum Ausdruck gebracht werden kann. In diesem Sinne stellt sich mit Flusser die Frage, ob die Interpretation von Technobildern letztlich nicht nach einem eigenen Interpretationssinn verlangt, nach einer eigenen Interpretationssprache und einer eigenen Interpretationshaltung jenseits der Schriftlichkeit und des Aussprechens (vgl. auch Pfleger 2010: 93 ff.).
Techno-Imagination
Flusser macht hier starke Andeutungen gerade mit Bezug auf die zunehmende Entwicklung und Verbreitung von synthetischen Fotos. »Man kann und soll nicht weiter in Worten philosophieren, wenn es jetzt einen Code gibt, der bildlich darstellt, wofür die Worte nicht mehr kompetent sind. Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man nicht mehr schweigen, sondern davon kann man nunmehr synthetische Bilder machen« (Flusser 1998: 190)
In diesem Sinne regt Flusser dann ein bildliches Interpretieren an. So ließe sich – auf das Benetton-Bild bezogen – z. B. an Einzelbilder denken, die Details bildhaft ausdrücken (Trauer, Homosexualität, Familie, Angenommensein, Sünde). In filmischer Hinsicht hat Ronald Kurt einmal von »soziologischen Filmen« gesprochen. Diese sollen »mit Bildern und Klängen etwas Allgemeines über konkrete soziale Phänomene aussagen, das sich mit Worten allein nicht zum Ausdruck bringen ließe« (Kurt 2010: 196). Wir selbst sind bislang noch zu keinem umsetzbaren Ergebnis gekommen, sind eher ratlos und neigen dazu – nicht zuletzt mangels Vorstellungskraft – Fotos weiterhin im Modus des Schriftlichen zu interpretieren. Allerdings möchten wir angeregt durch Flussers Ausführungen zur Techno-Imagination und unsere kleine Auseinandersetzung mit der bislang in der Hermeneutischen Wissenssoziologie akzeptierten Praxis der Fotointerpretation hier die Frage stellen, ob und ggf. inwieweit für die Interpretation von Fotografien die Verankerung der Interpretation in der Verschriftlichung beibehalten werden sollte oder ob nicht alternative, ästhetische Formen der Interpretation zu gegenstandsangemesseneren Interpretationen führen. Und: Wären solche Interpretationsformen dann ggf. noch als wissenschaftliche Interpretationen anzusehen?
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Oliver Bidlo und Norber t Schröer
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Techno-Imagination
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A bbildung Abb. 1: Benetton-Werbung, der sterbende David Kirby. © Foto: Therese Frare.
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Selfies Oder: kein fotografisches Selbstporträt ohne den Anderen Klaus Neumann-Braun Heute fast schon ein Muss: Zum Smartphone greifen, den Arm ausstrecken, das Handy auf sich richten und den Auslöser betätigen – schon ist das fotografische Selbstporträt fertig und kann im nächsten Schritt für Freunde und »die ganze Welt« ins Internet gestellt werden. Die Zahl dieser im Web zirkulierenden Fotos ist immens. Entsprechend aufmerksam verfolgen Öffentlichkeit und Feuilleton diese Entwicklung: Kaum ein Tag, an dem nicht ein Bericht, Kommentar oder Warnruf über die Selfies veröffentlicht wird. Autoren bemühen sich, eine Struktur in der Bilderflut zu erkennen, stellen mehr oder weniger passende SelfieKlassifikationen vor, suchen nach Erklärungen für die große Lust der User, sich selbst zu fotografieren, um dann nicht selten beim Narzissmus der Menschen zu landen. Ein medienhistorischer Rückblick erhellt, dass es Selbstporträts schon immer gab – auch schon vor der Erfindung der Fotografie (man denke etwa an die »Pastel Porträts« des 18. Jahrhunderts). Auch die Tradition der analogen Fotografie kannte bereits Vorläufer der heutigen Selfies, wie z. B. Agfa Click-Fotos in typischer Selfie-Pose. Das Eigene am Selfie ist nicht, dass der Abgebildete das Foto selbst herstellt, sondern dass das Foto ins Netz gestellt und über entsprechende Social Media Plattformen (wie bspw. Facebook) distribuiert wird, um dann im Kreis der Gleichaltrigen kommentiert und diskutiert zu werden. Im Mittelpunkt des Interesses stehen bei den Selfies also nicht die gestalterischen Mittel, die Formelemente, die künstlerische Ästhetik usf. sondern vielmehr die Distribution und Folgekommunikation unter Gleichaltrigen und Gleichgesinnten, also der soziale Bildgebrauch (siehe auch: Walser/Neumann-Braun 2012).
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S elfie oder O thie /O therie ? Die Posen des Selfies sind längst standardisiert und konventionalisiert worden: Es gibt Selfies, die an ein Passbild eines Personalausweises erinnern; Selfies als Beziehungs-Porträts mit einzelnen Freunden und in ganzen Freundesgruppen (ein Gruppen-Selfie wird Usie genannt); Selfies mit spezifischen Körperposen, die sich unter Stichworten wie Flirt, Vermummung, Model Stehen (Orientierung an Stars und Celebrities) fassen lassen und wozu auch gestenlastige Posen (Victory-Zeichen) und Do-It-Yourself-Posen (nicht selten vor dem Badezimmerspiegel) gehören. »Strike a pose« stellt die Handlungsanleitung für das Gros der Selfies dar, denn die meisten UserInnen bevorzugen Stilisierungsvarianten, bei welchen die Codes des Posierens vorherrschen. Die sich selbst Inszenierenden orientieren sich an jugendspezifischen und rollenförmigen Persönlichkeitstypisierungen und führen diese durch bestimmte (Körper-)Posen aus. Es sind normierte, kanonisierte Inszenierungen und Maskierungen der Persönlichkeit (siehe ausführlich Astheimer et al. 2011). Nicht unerwähnt sollte bleiben, dass der Markt der Aufmerksamkeit keine Grenzen zu kennen scheint: Neben den erwähnten »klassischen« Selfies gibt es längst eine unüberschaubare Menge an Folgevarianten dieser Selbstporträts, die mit dem wertvollen Gut der Privatheit und Intimität spielen. Die Menschen fotografieren und präsentieren sich, wie sie im Kreise der Familie Weihnachten und Silvester feiern oder zeigen sich nach dem Sex zu zweit. Auch einzelne Körperteile werden hervorgehoben, bspw. das Hinterteil, das im Zentrum der sog. Belfies steht. Abb. 1-6: Beispiele von Selfies Lässt man die zuletzt genannten speziellen Spielarten der Selbstporträtierung außer Acht, gilt es mit Blick auf die fotografische Selbstinszenierung der klassischen Selfies zu fragen, wie es um deren Wahrheitsgehalt steht: Sieht der Betrachter tatsächlich ein »wirkliches« Gegenüber, wenn dieses für sein Foto doch eine Maskierung wählt, also sich selbst posenhaft präsentiert? Stellt sich der Fotografierte dann »authentisch« dar – trotz oder gerade in der Form der gewählten Maskierung? Die Selfies zeigen zumeist, dass die Realität nicht einfach abgebildet, gedoppelt, sondern vielmehr »geschönt« wird – und zwar in Richtung der Inszenierung eines Ideal-Bildes (Neumann-Braun/ Astheimer 2010): Man zeigt sich als lebensgewandt, lustig, kommunikativ, attraktiv flirtend oder so schön wie ein Star. So schreibt der Feuilletonist Peter Körte (2014) mit zwinkerndem Auge:
Selfies »Dass mit den Selfies nun über uns gekommen wäre, was der Philosoph Hegel, der den Fotoapparat vermutlich für eine irre Laune des Weltgeistes gehalten hätte, die ›Wahrheit der Gewissheit seiner selbst‹ genannt hätte, ist sehr fraglich, weil man sich auf den meisten Bildern gar nicht richtig erkennt oder nicht erkennen mag und deshalb eher der Annahme Rimbauds zuneigt, Ich sei dann doch ein anderer. Aber wie soll man den, der da zu sehen ist, dann nennen, wenn ›anderer‹ im Englischen ›other‹ heisst? ›Othie‹? ›Otherie‹?«
P eer R e vie w S ystem und A ppellstruk tur des B ildes/F otos Der symbolische Andere in einem selbst bedarf im Falle der Selfies aber auch noch des realen anderen im Netz: Selfies dienen in erster Linie nicht der Erinnerung und Wissensspeicherung, sondern dem aktuellen kommunikativen Gebrauch und Konsum. Sie stellen eine Momentaufnahme aktueller Befindlichkeit dar und werden kontinuierlich aktualisiert (dies wird bei Snapchat durch die Löschung der Bilder nach wenigen Sekunden ins Extrem getrieben). Ziel ist die Initiierung von Kommunikation, genauer einer Anschlusskommunikation unter Freunden und Gleichgesinnten in Form von Likes und Kommentaren. Die Dargestellten präsentieren sich ihren gleichaltrigen Freunden und Bekannten und erhoffen eine anerkennende Rückmeldung. Man sieht sich selber, zeigt sich anderen, wie man gern gesehen werden möchte, und prüft, wie die Anderen einen sehen – akzeptierend oder kritisch rückmeldend. Fotograf und Rückmeldende sind Teil eines »glokalen« Peer Review Systems. Die schriftlich dokumentierten Folgekommunikationen sind Teil des Selfies. Nicht kommentierte Fotos werden gelöscht. Nicht selten gewinnen die Anschlusskommunikationen eine so große Dynamik, dass die Bilder gleichsam in der Kommunikation »verschwinden«: Die Kommentarfolge lässt die Fotos sekundär, wenn nicht gar unwichtig werden. Das globale Netz birgt in diesem Zusammenhang spezifische Gefahren. Interaktionsanalysen der Freundschaftskommunikationen auf Social Network Sites zeigen, dass in der Regel Freunde, die sich auch in der offline-Welt kennen, ihre Kommunikation gleichsam ins Netz hinein verlängern. Gemeinsame Erlebnisse werden fotografisch festgehalten, die Fotos werden ins Netz gestellt und gemeinsam nachbesprochen, d. h. im Netz kommentiert und ge-like-t. Im tendenziell lokal-persönlich verankerten Freundeskreis wird im gemeinsamen Bildgebrauch durch solidarische In Group-Kommunikation die Beziehung der TeilnehmerInnen bestätigt und verfestigt. Die Wirkung der Selfies und anderer Fotos auf den Social Network Sites (Autenrieth 2014) erschließt sich also erst in deren kommunikativer Verwendung. Die Bilder implizieren den Appell zur Kommunikation. Sie sind der notwendige Stoff für das digitale Peer Review System. Wie umfangreiche Netzwerkanalysen demonstrieren, ist es für Außenstehende darüber hinaus sehr schwer, auf der Grundlage von solchen Bildbasierten Folgekommunikationen Zugang zu diesen jeweiligen Freund-
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schaftsgruppen zu bekommen (Pfeffer et al. 2011; Neumann-Braun/Wirz 2010; Wirz 2012). Eingeweihte wissen meist um die Entstehungskontexte der Fotos und können entsprechend den intendierten Sinn der Bilder leicht verstehen. Anders stellt sich die Situation für die Fremden, nicht Eingeweihten, Unwissenden dar: Sie nehmen die Fotos dekontextualisiert wahr und kommentieren beziehungslos, was nicht selten zu sog. Shit Storms führt: Man macht sich über die Bilder und die auf den Bildern zu sehenden Personen lustig, zieht respektlos über sie her und »disst«. Die Anonymität des globalen Netzes verleitet zu entgrenzten Reaktionen (Schmidt 2011).
N eoliber ales S elbst und B ildkritik Den Selfies und dem Peer Review System wohnen eine nicht zu übersehende Tendenz der identitären Entgrenzung inne: Das Internet und die Social Network Sites im Besonderen propagieren eine neoliberale Identitätstechnologie. Portale geben Rahmen (Goffman 1977) vor, in die Akteure ihre Identität und Biografie eintragen sollen, resp. müssen. Wechselnde Rahmen sorgen dafür, dass den Mitmachenden beigebracht wird, sich öffentlich allzeit flexibel darzustellen (vgl. Facebook’s Wechsel zur Timeline). Der Akteur lernt, wie es einem durch eine kontinuierliche Identitätsbastelei gelingt, aus dem großen Einerlei des Vielen herauszuragen. Diese Identitätsbastelei kann als eine Produkt-, Marken- oder Imagepflege verstanden werden: Der Akteur ist der Entrepreneur der eigenen Möglichkeiten, es gilt, sich auf dem Markt der globalen Aufmerksamkeit (Franck 1998) erfolgreich zu platzieren – und d. h. konkret, im Freundeskreis und erweitertem Netzwerk beliebt und akzeptiert zu werden und in anonymisierten Portalstrukturen auf hohen Rankingplätzen zu stehen. Der einst von Riesman (1964) besprochene, noch analog gedachte »außen geleitete Charakter« hat sich auf digitaler Grundlage (Internet) radikalisiert umstrukturiert: Die Fremdsteuerung durch Markt und Medien wird in Zeiten digitaler Kommunikation »innen geleitet« selbst aktiv reproduziert – die Entfremdung ist kaum mehr für den Akteur selbst wahrnehmbar. »Wer glaubt, sein Ich sei Herr im eigenen Haus, hat den Neoliberalismus nicht verstanden. Längst herrscht der Zwang, Körper und Seele entsprechend den Anforderungen des Marktes zu gestalten« (Mirowski 2013; siehe auch Neckel 2008). Um auf die Selfies zurückzukommen: Diese Fotos zeigen, dass sich Akteure in der Arena glokaler Netzaufmerksamkeit um Akzeptanz bemühen und marktkonformen Inszenierungsstrategien folgen. In der Folge findet schleichend eine Normierung des eigenen Verhaltens statt, gekoppelt an Tendenzen der Flexibilisierung von Handeln und Darstellen. Vor allem aber normalisiert sich die permanente Selbstobjektivierung: Man ist – bei aller Freundschaft(!) – stets damit beschäftigt, sich selbst mit den Augen des anderen zu sehen, zu dokumentieren, zu überarbeiten (Photoshop) und auszustellen. Da ein Bild bekanntlich mehr als 1000 Worte sagen soll, lässt sich in den Selfies eben auch gut die Sprache des Marktes erkennen.
Selfies
L iter atur Autenrieth, Ulla P. (2014): Die Bilderwelten der Social Network Sites, Baden-Baden: Nomos. Astheimer, Jörg/Neumann-Braun, Klaus/Schmidt, Axel (2011): »My Face: Porträtfotografie im Social Web«, in: Klaus Neumann-Braun/Ulla P. Autenrieth (Hg.), Freundschaft und Gemeinschaft im Social Web, Baden-Baden: Nomos, S. 79–122. Franck, Georg (1998): Ökonomie der Aufmerksamkeit, München: Hanser. Goffman, Erving (1977): Rahmen-Analyse, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Körte, Peter (2014): »Ich ist another«, in: FASonntagsZ, Kolumne Pro & Contra, 04.05.2014, S. 40. Mirowski, Philip (2013): Never Let a Serious Crisis Go to Waste, London/New York: Verso, (Vorabdruck eines Teilkapitels in FASonntagsZ 15.9.2013), S. 51. Neckel, Sighard (2008): Flucht nach vorn: Die Erfolgskultur der Marktgesellschaft, Frankfurt a. M.: Campus. Neumann-Braun, Klaus/Astheimer, Jörg (Hg.) (2010): Doku-Glamour im Web 2.0., Baden-Baden: Nomos. Neumann-Braun, Klaus/Wirz, Dominic (2010): »Fremde Freunde im Netz?«, in: Maren Hartmann/Andreas Hepp (Hg.), Die Mediatisierung der Alltagswelt, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 163–182. Pfeffer, Jürgen/Neumann-Braun, Klaus/Wirz, Dominic (2011): »Nestwärme im Social Web. Bildvermittelte interaktionszentrierte Netzwerke am Beispiel von Festzeit.ch.«, in: Jan Fuhse/Christian Stegbauer (Hg.), Kultur und mediale Kommunikation in sozialen Netzwerken, Wiesbaden: Springer VS, S. 125–148. Riesman, David (1964): Die einsame Masse, Reinbek: Rowohlt. Schmidt, Axel (2011): »How to Deal Methodologically with Entertaining Hatred and Aggressive Humor on the Web (and Television)«, in: Studies in Communication Sciences Vol. 11/2, S. 133–166. Walser, Rahel/Neumann-Braun, Klaus (2012): »Freundschaftsnetzwerke und die Welt ihrer Fotoalben – gestern und heute«, in: Christine Wijnen/Sascha Trültzsch/Christina Ortner (Hg.), Medienwelten im Wandel, Wiesbaden: Springer VS, S. 151–166. Wirz, Dominic (2012): »Markt der Bilder – Bilder des Marktes? Netzwerkanalysen zur Verbreitung von Bildinhalten und Useraktivitäten auf Social Network Sites am Beispiel von festzeit.ch«, in: Kommunikation & Gesellschaft 13.
A bbildungen Abb. 1: Selfie mit Freunden, PC210205. © Foto: Jamie. Quelle: https://flickr. com/photos/63405864@N04/6552468109/abgerufen am 01.01.2015.
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Abb. 2: Selfie In Model-Pose, © Iulia Pironea. Quelle: https://www.flickr. com/photos/iulia-pironea/14260235377/abgerufen am 01.01.2015. Abb. 3: Selfie mit Star-Orientierung, P365x52–183: The Jack (43/52). © Faruk Ateş. Quelle: https://www.flickr.com/photos/kurafire/9196025101/ aberufen am 01.01.2015. Abb. 4: Flirt-Selfie, LeggWear104. © Jim Wall. Quelle: https://www.flickr. com/photos/jimwall/4633145487/abgerufen am 01.01.2015. Abb. 5: Selfie, Rawr.: P Half-way finished cutting my hair~ Listening to Zedd radio on pandora. Anyone doing anything fun tonight? © Hikaru Kazushime. Quelle: https://www.flickr.com/photos/hikarukazushime/ 10415256443/abgerufen am 01.01.2015. Abb. 6: Usie, awww. © Karen. Quelle: https://www.flickr.com/photos/mis behave/2948115070/abgerufen am 01.01.2015.
Die Sichtbarmachung des Soziologischen Manfred Prisching Unsere Fragestellung lautet: Was erzählen mir Fotos? Wie kann ich sie verstehen? Und vor allem: Wie erfahre ich aus der Betrachtung verschiedener Arten von Fotos etwas über die Gesellschaft, über das Denken und Verhalten der Menschen? Diese Sichtbarmachung des Soziologischen braucht Interpretation, denn auch bei der visuellen Darstellung handelt es sich um eine spezifische Form von Kommunikation (Reichertz 2010); somit werden unterschiedliche Wissensbestände mit den Bildern in Verbindung gesetzt. Das gilt für alle Fotos. In der Folge soll es allerdings um Werbefotos gehen, und bei ihnen genügt der einfache Zugang »Da ist ein Bild – was sagt es mir ›soziologisch‹?« nicht. Vielmehr werde ich den besonderen Kontext von Werbebildern (im Unterschied zu anderen Fotos) thematisieren; ihre Vielschichtigkeit oder Multiperspektivität, die gebildete Menschen ansonsten bloß den »Kunstbildern« zuzubilligen bereit sind. Ich werde vier soziologische Zugangsweisen an zwei Bildern durchspielen: die Protosoziologie der Werbe-Designer1; die »eigentliche« soziologische Analyse; die spielerisch-freie Analyse eines »offenen Kunstwerks«; und die didaktische Analyse bei der Verwendung von Werbebildern. Beim Interpretieren von Fotos liegt das Schwergewicht meist auf dokumentarischen und künstlerischen Materialien öffentlicher oder privater Art. Man geht erstens davon aus, dass es Reportage-Bilder gibt, die – mehr oder minder – Wirkliches abbilden, und kann nach ihrer »Wahrheit« fragen. Dies im Wissen darum, dass es sich bestenfalls um authentische Abbildungen von »Wirklichkeitspartikeln« handeln kann und dass letzten Endes jedes dokumentierende Foto doch ein ästhetisch hergerichtetes, selektives und in diesem Sinne »unzuverlässiges« Konstrukt ist.2 Zweitens 1 | Aus sprachästhetischen Gründen – nicht aus Nachlässigkeit – verwende ich zuweilen die konventionelle Form, statt die Geschlechter gesondert anzuführen; hier sind, wie an entsprechenden anderen Stellen, die Werbe-Designerinnen und Werbe-Designer gemeint. 2 | Foto-Materialien sind höchst unterschiedliche Objekte; sie kommen in unterschiedlichen Kontexten vor und werden mit unterschiedlicher Zielsetzung hergestellt. Einige Beispiele: (1) Wissenschaftliche oder quasi-wissenschaftliche (ethnografische) Dokumentationen, einschließlich einer Ethnografie der eigenen Gesellschaft. (2) Private Dokumentationen, wie etwa persönliche Fotoalben, Fotoberichte über
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geht man davon aus, dass es künstlerische Bilder gibt, die man in ihrer Zweckfreiheit bewundern kann als Objekt, das in sich ruht, das nicht in eine funktionale Welt eingegliedert ist. Diese Fotos sind kaum aus Bedürfnissen oder Verhältnissen abzuleiten, sie erfordern eine besondere ästhetische oder interpretative Kompetenz. Jene Bilder, mit denen wir es am häufigsten zu tun haben, sind aber nicht familiäre Abbildungen von sozialen Vorgängen oder Gegebenheiten zu dokumentarischen Zwecken, denn diese sind üblicherweise eine Sache kleiner Zirkel, Bekannter und Verwandter, Material für Forschungsgruppen oder was immer.3 Wenn wir praktisch-empirisch vorgehen, sind wohl mehr als 90 Prozent der Bilder, die wir sehen, »Werbung«.4 Im engeren Urlaubsreisen oder Urlaubsaufenthalte, Fotoserien über Hochzeiten und Ferienreisen. (3) Selbstdarstellungen in den sozialen Medien, bei Facebook und anderswo. (4) Fotografien in der privaten Lebensumwelt: seinerzeit vor allem Darstellungen von Familienmitgliedern, deren Bilder an den Wänden hingen oder auf Kommoden standen. (Auch andere Fotos gehören in diesen persönlichen Dekorationsbereich, nämlich Bilder, die man sich an die Wand hängt, weil sie »gefallen«. So wäre es soziologisch interessant zu erfahren, welche Posters als Wanddekoration für studentische Zimmer und Apartments ausgesucht werden (die Beatles, Che Guevara, das Empire State Building, Pin-up-Girls, karibischer Strand?). (5) Öffentliche Bilder in Zeitungen und Zeitschriften, die als »Zeitdokumente« gemeint sind (öffentliche Auftritte von Obama oder Barroso; Inszenierungen von Parteitagen; Fotos von Katastrophen, politischen Treffen, Unglücksfällen, Festen und Festivals). Das ist einerseits Handwerk, andererseits oft auch perspektivischer Archivaufbau. Manche Fotografen haben auch bei diesem alltäglichen Job den Anspruch, »ungewöhnliche« Bilder zu schießen: den »schlafenden« Staatspräsidenten. Das ganze Paparazzi-Geschäft ist ein Zweig dieser Branche. (6) Öffentliche Bilder als Ikonen des kollektiven Gedächtnisses (das schreiende Kind auf der Straße in Vietnam, Willy Brandt in Warschau, der österreichische Staatsvertrag, das Mädchen aus Afghanistan mit der abgeschnittenen Nase; aber auch Marilyn Monroe oder Elvis Presley). (7) »Reine« künstlerische Fotos, die alles Mögliche betreffen können: Menschen, Stillleben, Natur, Tiere, Akte, Ereignisse und vieles andere. – Die Vergegenwärtigung dieser unterschiedlichen Kontexte ist deshalb geboten, weil rasche Zuschreibungen oder Beschreibungen von Fotos damit unterbunden werden: das Dokumentarische stimmt nicht immer, ebenso wenig das Zweckfreie, manches ist kommerziell und manches privat, manches anspruchslos und manches künstlerisch, manches offensichtlich und manches unzugänglich, manches ist Dilettantismus, Handwerk, Professionalität, Kunst. 3 | Natürlich drängt sich heutzutage der Einwand auf, dass solche Fotos ziemlich rasch zu »öffentlichen« werden können, angesichts der sozialen Netzwerke und anderer derartiger Kanäle. Mit der tendenziellen Auflösung der Unterscheidung von Privatheit und Öffentlichkeit wird auch die Unterscheidung privater und öffentlicher Bilder »schwächer«. 4 | Es ist hier von Fotos die Rede. Wenn wir bewegliche Bilder, also Videos und Filme, einbeziehen, dann ist natürlich das Fernsehen (mit Ergänzung durch YouTube etc.) das »beeindruckendste« Visualisierungsinstrument, und ohne Zweifel prägt es die Wirklichkeitswahrnehmung der Menschen am intensivsten.
Die Sichtbarmachung des Soziologischen
Sinne wird für Produkte und Dienstleistungen geworben, im weiteren Sinne machen aber auch die »informierenden« Homepages von Universitäten Werbung für die jeweilige Universität, angesichts der vielen glücklichen Studierenden auf den arrangierten Fotos. Entsprechendes gilt auch für Homepages, Broschüren und andere Publikationen von Unternehmen, Parteien, Interessenvertretungen, Kultureinrichtungen, Sportvereinen. Die Ministerien wollen keinen »politikwissenschaftlichen« Beitrag leisten oder die »diskursive Demokratie« befördern; sie wollen den jeweiligen Minister und seine Politik gut dastehen lassen. Das »Familienfoto« von der Versammlung der Staatsoberhäupter der EU dient letztlich auch nicht ihrer persönlichen Erinnerung, sondern der politischen Repräsentation oder dem nächsten Wahlkampf. Selbst die Titelseiten von Zeitungen werden nicht nach der Maximierung des Informationswertes gestaltet, sondern so, dass zugleich Werbung für die Zeitung vermittelt wird – schließlich sollen möglichst viele Exemplare verkauft werden. Nun ist man verleitet zu sagen: Werbung ist künstlich, wirklichkeitsfern, illusionistisch, beschönigend – »Waschmittelwerbung«. Sie wäre also nicht brauchbar für gesellschaftsanalytische Zwecke, wenn sie weder dokumentarische noch künstlerische Intentionen aufweist oder solche Aspekte beinhaltet. Sie dokumentiert nicht, hält also Distanz zur Wirklichkeit der Gesellschaft. Sie gehört nicht in die künstlerische, sondern in die handwerkliche Ecke. Aber beides stimmt nicht. Wenn sie – unter besonders schwierigen Verhältnissen – in Kommunikation tritt mit RezipientInnen aus dieser Gesellschaft, muss sie deren Wissensbestände und Gefühle ansprechen. Und das Künstlerische? Fast die gesamte mittelalterliche Kunst war Werbung. Die Fresken in den Kirchen waren religiöse Werbung, sie sollten die Botschaft der Religion in eine analphabetische Population hineinerzählen. Die Bilder in den Palästen waren Werbung für den Herrscher; sie sollten seine Taten preisen und sein Andenken verewigen. Der Unterschied der Werbung zu den dokumentarischen oder künstlerischen Fotos ist genauso wenig scharf zu fassen. Erving Goffman hat in seinem Buch über die Analyse von Werbefotos ›Geschlecht und Werbung‹ geschrieben: »Im großen und ganzen kreieren die Reklame-Designer nicht die ritualisierten Ausdrucksweisen, mit denen sie arbeiten. Sie benützen offenbar das gleiche Repertoire von Darstellungen, das gleiche rituelle Idiom, dessen wir alle uns bedienen, die wir an sozialen Situationen partizipieren – und zu dem gleichen Zweck: nämlich, die flüchtig wahrgenommene Aktion verständlich zu machen. Allenfalls konventionalisieren die Reklameleute unsere Konventionen, sie stilisieren, was bereits eine Stilisierung ist, und machen leichtfertigen Gebrauch von etwas, was bereits weitgehend von den Kontrollen durch seinen Kontext abgeschnitten ist. Ihre Hypokrisie ist die Hyper-Ritualisierung.« (Goffman 1981: 328)
Aber das heißt: In der Werbung findet Gesellschaft statt. Sonst könnte Werbung gar nicht funktionieren. Gesellschaft wird »kenntlich«. Wenn die Werbefotos in den Köpfen der Menschen wirksam sein sollen, dann können wir über diese »Wirkungsmechanismen« Erkenntnis-
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se über die Gesellschaft gewinnen. Bei der Gestaltung dieser Fotos muss man wissen (oder vermuten), was in diesen Köpfen vorgeht. Aber der Sachverhalt lässt sich noch ein wenig komplizieren.
D ie S oziologie der W erbe -D esigner Erstens: Bei einer Interpretation von Werbebildern (durch Soziologen) sind nicht nur soziologische Wissensbestände anzuwenden; es ist vielmehr zuerst eine Überlegung über jene Protosoziologie anzustellen, die bereits in einem bewussten Akt der Werbegestalter in das betrachtete Foto eingeflossen ist – denn Werbebilder mögen zwar nicht einfache Wirklichkeitsdokumentation sein, sie müssen aber auf soziologischen (oder wenigstens protosoziologischen) Reflexionen der Gestalter beruhen. Schließlich sollen Werbefotos »wirken«. Dazu müssen Annahmen darüber getroffen werden, was wirksam ist. Es sind künstliche (manchmal sogar künstlerische) Produkte, die nicht das Leben abbilden, sondern die Fantasien der Menschen, also jene Gedankenwelt, in welche die Soziologie mit ihren Methoden besonders schwer eindringen kann. Produkte verkauft man bekanntlich über Geschichten, Fantasien, Illusionen. Mit Werbefotos muss man deshalb in das »Innenleben« der Menschen vorstoßen. Die Werbemacher müssen nicht nur einfache Zielgruppen- und Milieuanalysen (von Sinus bis Sigma und anderen) berücksichtigen, sondern über sozialstrukturelle Kategorisierungen hinaus wissen, was in den Köpfen der Adressaten wirklich vorgeht. Designer, Grafiker, Marketing-Fachleute sind professionell, sie investieren viel Arbeit in die Gestaltung eines Werbefotos, teilweise arbeiten sie auch empirisch, und es ist jedenfalls viel Geld im Spiel. Da sollte man Zufälle (und Pleiten) tunlichst vermeiden. Wenn diese Fotos in ihrer pragmatisch-kommerziellen Funktion wirksam sein sollen, muss in ihnen eine Wirklichkeitsanalyse verborgen sein: Wie sehen die Menschen die Welt? Was interessiert sie? Die Bilder müssen also eine »geistige Realität« erfassen – und sie müssen es mindestens so gut machen wie SoziologInnen in ihren Publikationen, bei denen ja viel weniger Geld auf dem Spiel steht. Bevor der soziologische Betrachter seine Analyse anstellt, muss er somit die vorgängige soziologische Analyse, die in dem Bild bereits »drinnensteckt«, interpretieren oder rekonstruieren. Zweitens: Dabei sind auch die Zielsetzungen des Bildes relevant, weil der jeweilige Kontext nicht ignoriert werden kann. (1) Das Bild muss die Aufmerksamkeit des flüchtigen Betrachters gewinnen5. Dazu bedarf es einer Durchbrechung der Normalität, einer Botschaft der Unwahrscheinlichkeit. Das Bild muss eindringlich und unausweichlich sein. Der Blick muss hän5 | Aufmerksamkeitsgewinnung ist entscheidend: Wie bekommt man (mit einem Foto, das Sekunden oder gar nur Sekundenbruchteile betrachtet wird) in einer hyperkommunizierenden Gesellschaft die Aufmerksamkeit der Betrachter: »spontane Responsivität«? Wie verhindert man, dass der Blick ungehindert darüber hinweggleitet?
Die Sichtbarmachung des Soziologischen
gen bleiben. (2) Das Foto muss im Betrachter eine gewisse Resonanz auslösen (er muss seine Träume, Sehnsüchte, Begierden und Interessen in dem Bild rasch erkennen). Arnold Gehlen hat (im Kontext der Kunst) von »Gefühlsstößen« gesprochen (Gehlen 1961: 117 f.), das Foto muss also ein Erregungspotenzial (Hahn 1999) besitzen. (3) Das Bild muss einen Impuls für Anschlusshandlungen auslösen: »kaufen«.6 Ziel ist nicht eine lustvolle Befindlichkeit wie möglicherweise bei der Kunstbetrachtung, sondern Handlungsauslösung.7 Drittens: Die Medien verfügen über rasche Rückmeldungen darüber, ob ihnen dies gelingt (Verkaufszahlen), und sie arbeiten mit viel größeren »Samples« als Soziologen. (Der Verkauf einer monatlich erscheinenden Lifestyle-Zeitschrift stellt im Grunde eine riesige monatliche »Befragung« mit hunderttausenden Exemplaren dar). Wenn man fehlinterpretiert, ist das nach wenigen Monaten an den Kiosken bitter spürbar. Die visuelle Gestaltung ist gerade in solchen Zeitschriften ein besonders wichtiges Element, und auch die Inserenten wissen das. Die Bilder müssen »treffen«, und das ist in einer Aufmerksamkeitsökonomie, mit ihren Effekten von Reizabnutzung und Abstumpfung nicht einfach. Sie sind deshalb besonders ernst zu nehmen, weil sie dem dauernden »Wirksamkeitstest« unterliegen. Viertens: Die Fotowelt der Werbung ist in der allgemeinen Bilderwelt vorherrschend: Bilderwahn, Bildermanie, visuelle Gesellschaft (Raab 2008). Werbefotos sind die Bilder, die in den Köpfen bleiben, die wiedererkannt werden, die zum »Maßstab« oder zum »Standard« werden. Ihre Eindringlichkeit führt zur Übertragung in andere Lebensbereiche. Mit gewisser Übertreibung gesagt: Wir verstehen die ganze Welt nur noch durch den Vergleich mit Werbefotos, weil die Phänomene der Welt »da draußen« an ihrer Ähnlichkeit mit diesen Bildern gemessen und bewertet werden – empirisch ist das an den gängigen Schönheitsidealen gut bestätigt. (Da die Menschen aus dieser Bilderwelt durchschnittlich schöner sind als der wirkliche Durchschnitt, sind die Individuen der Postmoderne zunehmend mit einer »häßlichen Welt« konfrontiert – und verfallen selbst der Dysmor6 | Die Absicht der in Betracht stehenden Fotos ist nicht Dokumentation, es sind die passenden Anschlusshandlungen, nämlich Kaufen. Dies geschieht indirekt durch Imagebildung des betreffenden Unternehmens, direkt durch Anpreisung eines Produkts. Die Fotos müssen also an die »Köpfe« anschließen und diese verändern. Es sollen nach der Betrachtung des Bildes Autos, Parfüms, Kleidungsstücke oder wenigstens Zeitschriften erworben werden. Es soll bei der Fachhochschule inskribiert oder die Kreuzfahrt gebucht werden. 7 | In Anbetracht dieses Kennzeichens erweist es sich als Verkürzung, wenn Soziologen nur die zweckfreie Kunst im Auge haben. Der Vorwurf trifft selbst Arnold Gehlen, der darüber gesagt hat: »Es entsteht angesichts rein ästhetischer Ornamentgestalten oder ähnlicher optischer Reize auch nicht einmal im Ansatz das sonst im Hintergrund unseres Erlebens kaum je fehlende Eingriffs- und Tatbedürfnis, oder anders gesagt, der Zustand wird als verpflichtungslos und deswegen in erhöhtem Grade als geradezu befreiend lustvoll erlebt« (Gehlen 1961: 123).
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phophobie.) In einer ikonophilen Gesellschaft ist die Intensität der WerbeBilderwelt so stark, dass selbst private Inszenierungen zunehmend von diesen Vorlagen oder Mustern geprägt werden: Man posiert als Person vor der Privatkamera, wie man es von den Werbefotos kennt – TouristInnen werfen sich vor der Kölner Kathedrale in Pose, vor dem Trevi-Brunnen, vor dem Eiffelturm, so wie es die Models im letzten Shooting gemacht haben. Mit Werbefotos bekommen wir »soziologische Dokumentation« kostenlos geliefert. Die »sozialen Tatsachen«, die wir dabei in den Blick bekommen, sind die Wünsche, Träume, Ideen, Normen und Visionen der Menschen. Dabei kommt auch die Ungleichzeitigkeit ästhetischer Entwicklungen und Rhythmen zum Vorschein – für die einen ist Roy Liechtenstein längst zum Klassiker geworden, für die andern ist die »Puszta bei Sonnenuntergang« immer noch Inbegriff künstlerischen Wohlgefallens. Anders formuliert: Dadaistische Werbefotografie ist nur möglich, wenn ich einen spezifischen Fokus auf eine sehr kleine Zielgruppe habe.
B analität und K omple xität Der erste zu reflektierende Komplex ist, wie angedeutet, der Ideen- und Produktionsprozess der Werbe-Designer. Wir haben es also mit zwei soziologischen Analysen zu tun – unserer »eigenen« soziologischen Interpretation, sofern wir eine solche vornehmen; aber zuvörderst mit der (präoder proto-)soziologischen Interpretation der Werbe-Designer. Werbe-Designer müssen die Erwartungshorizonte und Verständnismöglichkeiten ihres Publikums antizipieren, sie müssen sich davon »ein Bild machen«, um ein Bild machen zu können. In vielen Fällen ist das eine einfache Sache. Es gibt den »fiktiven Realismus« der Werbefotos von Supermärkten, Reiseprospekten und dergleichen. Das ist die handfeste Ebene. Wir müssen zwar verstehen, dass es sich um Werbung handelt und nicht um eine fotoliterarische Erzählung oder einen journalistischen Bericht; aber dann ist einsichtig, dass das Obst taufrisch sein soll, der Himmel blau, die Kuh bio; und eine offensichtlich liebreizende Familie kommt auch vor, wenn es um die Fertigsauce geht, weil nur besagte Fertigsauce den prekären Familienzusammenhalt noch garantieren kann. Modefotos erfordern oft schon ein bisschen mehr Interpretationsanstrengungen. Es gibt verschiedene »Handschriften«: Models mit Luxus-Outfit werden gerne in Abbruchhäuser oder aufgelassene Fabriken verfrachtet, wegen des Kontrastes. Oder sie werden so »nachlässig« fotografiert, dass man alles Mögliche zu sehen bekommt, nicht aber die Kleidung, das eigentliche Objekt des Begehrens. Oder sie posieren in Verrenkungen und Arrangements, die »auffallend« sind. Schön, schlank und sexy sollen sie auch sein. (Da gibt es schon Unwägbarkeiten. Es ist beispielsweise eine soziologische Theorie darüber ausständig, warum Models heutzutage nicht mehr lächeln und freundlich in die Kamera blicken, sondern fast durchwegs missmutig, missgelaunt und böse blicken. Eine nicht ganz
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ernst gemeinte Vermutung am Rande: Angesichts ihrer dauernden Hungergefühle ist der Missmut nachvollziehbar.) Werbebilder stehen in der Spannung zwischen (einerseits) Ansprechbarkeit und Verständlichkeit und (andererseits) Normalitätstranszendenz und Alltagsvermeidung. Je stärker sie Routinen durchbrechen, desto höher ist der Interpretationsbedarf. Aber viele Beobachtungen wären soziologisch auszudeuten – warum etwa Luxusuhren nicht nur (verständlicherweise) sophistizierte Technik, Männlichkeit und Abenteuer suggerieren, sondern in hohem Maße auch Varianten einer Kitsch-Philosophie anbieten, mit Sprüchen wie: »Life is about moments«, »Live your passion«, »Manche Geschichten sind es wert, für ewig bewahrt zu werden«, »To break the rules, you must first master them«, »Wahre Schönheit währt ewig«, »Your time is now. Go places you never thought possible.« Die Gruppe der betuchten Geschäftsleute, auf welche diese Werbung zielt, sieht ihren intellektuellen oder spirituellen Bedarf offenbar mit diesen »Kalendersprüchen« als befriedigt an. Möbelprospekte sind demgegenüber meist sachlich, mit Ausnahme jener von Ikea, die ein bisschen mehr »Lebensphilosophie« mitverkaufen. Tourismusprospekte sind erstaunlich langweilig, mit den immergleichen Fotos. Hochschulen präsentieren neuerdings das Studium als »Abenteuerurlaub«, nach dessen Absolvierung sich die weltweiten Konzerne um AbsolventInnen reißen werden. In allen diesen Fällen sind nicht nur die Sehgewohnheiten der angesprochenen sozialen Gruppen zu antizipieren, sondern auch die Kontextverträglichkeit von Bildern und Texten. Es gibt Grenzen der Plausibilität.
D as komplizierte W erbe -B ild Wirklich interessant wird es erst dann, wenn Werbefotos »um die Ecke« zu denken beginnen, wenn sie also einen besonders großen Schritt zur Alltäglichkeitsdurchbrechung machen. Das bekannteste Beispiel dafür ist die Benetton-Serie der 90er-Jahre mit ihren provozierenden Aufnahmen über Krankheit und Krieg, Geburt und Tod, Gewalt und Katastrophen. Sie ist legendär geworden. Der Fotograf Oliviero Toscani8 replizierte und kreierte 8 | Vgl. etwa sein rückblickendes Interview in der »Welt« (www.welt.de) vom 11.09.2009. »DIE WELT ONLINE: Kann Werbung die Welt verändern? Toscani: Ich bin kein Werber, das ist mir wichtig. Ich bin Fotograf und mache Bilder über meine Zeit. Ich habe zwar für die Werbung gearbeitet, aber alles, was ich gemacht habe, war doch gerade das Gegenteil von Werbung. Ich nutze den Kanal der Werbung, um auf die Probleme der Welt aufmerksam zu machen. DIE WELT ONLINE: Die Unternehmen und deren Interessen sind Ihnen egal? Toscani: Die machen ihr Geld, reich werden die sowieso. DIE WELT ONLINE: Aber egal kann Ihnen das nicht sein. Wenn eine Kampagne nicht funktionierte, wären Sie Ihren Job los. Toscani: Aber bei Benetton hat es doch funktioniert! In den 80er-Jahren kannte jeder meine Bilder, Benetton war in aller Munde, und wer kennt das Unternehmen heute? Kaum einer! Bei der Werbung geht es eben doch darum zu informieren. Die Konsumenten sind nicht
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»realistische« Fotos: ein sterbender Aidskranker, der ölverschmutzte Wasservogel, die blutgetränkte Uniform eines bosnischen Soldaten. Schockbilder statt Wunschbilder. Negatives statt Positives. (Lehn 2011: 80 ff.; Toscani 1996) Natürlich sollte es mithilfe dieser ungewöhnlichen Bilder darum gehen, ein progressiv-liberales humanistisch-weltoffenes Firmenimage zu vermitteln, wie es der jugendlichen Zielgruppe angemessen schien. Aber es ist nicht selbstverständlich, dass diese Interpretation funktioniert, wie die Reaktionen bewiesen. Ein Beispiel ist die blutige Kleidung aus dem Balkankrieg, die kommentarlos, mit dem kleinen Wort Benetton in der Ecke, dargestellt wurde (siehe Abb. 1).
Abb. 1: Benetton-Plakat ›Bosnienkrieg‹, 1994
Das Foto stellt ein »reines Symbol« dar, ohne Bezug zu den beworbenen Produkten, weitab von den üblichen Spielregeln der Werbung. Man muss sich vergegenwärtigen, dass beträchtliche Ansprüche an das Vorwissen eines Betrachters gestellt werden. Es beginnt damit, dass er erkennen muss, dass es sich überhaupt um Werbung handelt; und darüber hinaus muss fast alles, was zum Verstehen dieser Werbebotschaft notwendig ist, vom Betrachter des Fotos aus seinem Wissensbestand »konstruiert« werden. Er muss Benetton kennen. Er muss verstehen, dass Benetton hier keine »Information« stattfinden lässt, sondern über ein Sujet eine Wertewelt proklamiert. Er muss den Kontext der Bilder verstehen. (Das T-Shirt kann nur auf den Balkankrieg verweisen. Was ist der Balkankrieg? Was geschieht dort?) Aus dem Kontext heraus, aus dem simplen Vorweis der blutigen Kleidung oder der Darstellung des sterbenden Kranken, muss er die vom Unternehmen vermittelte Ideologie rekonstruieren: Wir sind so dumm, wie die Werber glauben.« Kommentare zur neuen Kampagne küssender Staatsmänner von Benetton findet man bei ZEIT ONLINE vom 18.11.2011. Die Gerichtsentscheidungen sind bei Wikipedia.de nachzulesen.
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kritisch, mitfühlend, kosmopolitisch, antirassistisch, pazifistisch, antidiskriminierend etc. Er muss die Empathie aufweisen, dass er diese impliziten Wertungen teilt und seine Sympathie auf das Unternehmen überträgt. Er muss schließlich den Zusammenhang zu den (gar nicht dargestellten) Produkten des Unternehmens herstellen und sich sein nächstes T-Shirt aufgrund der empfundenen Weltbildkonformität bei diesem Anbieter kaufen wollen. Das ist ein langer Weg. Das Werbefoto arbeitet nur mit dem um einige Ecken konstruierten Image des Konzerns, während das Produkt gar nicht mehr vorkommt, nicht einmal peripher. Das Foto soll etwas darstellen, was es nicht darstellt. Es soll eine »Atmosphäre« erzeugen, in der die große Weltinterpretation mit dem kleinen T-Shirt verbunden wird. Es handelt sich um eine aufmerksamkeitserregende Tabu-Durchbrechung in der vermeintlich tabulosen Gesellschaft. Aber der Tabuverstoß ist nicht als Verstärkung des apostrophierten Zustandes, sondern als Anprangerung zu verstehen; Darstellung von Diskriminierung und Gewalt als Protest gegen diese. Dieser Versuch birgt, wie sich in der Folge zeigen sollte, das Risiko des Missverständnisses, nicht nur bei »einfachen« Konsumenten. Die simple Reaktion liegt auf der Hand, und sie ist auch sofort eingetreten: Solche Bilder verstießen gegen die guten Sitten; die Psyche der Kinder, die solche Bilder sehen, werde geschädigt; und das Leiden der Menschen werde für das Geldverdienen instrumentalisiert – ein Skandal. In Deutschland kam es sogar zum Verbot einiger Sujets aufgrund eines Antrags der Zentrale zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs – was zeigt, wie unterschiedliche Perspektivierungen zu ganz unterschiedlichen Schlussfolgerungen führen können. Einige intellektuell offenbar wenig wendige Richter haben eine Diskriminierung (etwa der Aidskranken) wahrgenommen, auf einem Bild, welches gerade als Anprangerung einer solchen Diskriminierung gemeint war. (Sie haben das Bild als Abbildung genommen, nicht als Symbolisierung.) Dann aber, im Jahr 2000, kam es zu einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts: Die Bestimmung, dass Wettbewerbshandlungen nicht gegen die guten Sitten verstoßen dürften, bleibe aufrecht, sie sei jedoch gegen das Recht der Meinungsfreiheit abzuwägen. Der Anblick mitleidserregender Bilder sei keine derart intensive Belästigung, dass diese eine grundrechtsbeschränkende Wirkung rechtfertigen könnte. Der Vorwurf, dass die Bilder keinen sachlichen Zusammenhang mit den Produkten aufwiesen, sei heute für einen Großteil der Imagewerbung gültig. Der Vorwurf, dass die Darstellungen generell eine Verrohung bewirkten, sei unzutreffend, denn Werbung, die inhumane Zustände anprangere, könne nicht Verrohungs- oder Abstumpfungstendenzen fördern. – Man kann also mit unterschiedlichem Vor- und Hintergrundwissen auf diese Fotos schauen und unterschiedliche Schlussfolgerungen daraus ziehen. Das hat offenbar auch die Kundschaft von Benetton getan, denn erfolgreich war diese Werbekampagne nicht, ganz im Gegenteil: Die protosoziologische Analyse, unsere erste Analysekategorie, war im Irrtum. (Vielleicht funktioniert Werbung doch
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nur als Illusion?) Immerhin ist Benetton mit diesen Bildern in die Werbegeschichte eingegangen.
D as künstlerische W erbe -B ild Der Diesel-Konzern, ebenfalls Anbieter von jugendlicher Kleidung, hat so wie Benetton eine Thematisierung zeitdiagnostischer, globaler Probleme vorgenommen, aber auf eine besser »verträgliche«, ja ironische Art. Eine Serie von Bildern widmet sich dem (jeweils fast nicht sichtbar in einer Ecke des Plakates vermerkten) Thema global warming ready, mit Sujets wie: New York ist bereits im steigenden Meeresspiegel versunken. Die chinesische Mauer ist vom Wüstensand umgeben. Papageien tummeln sich auf dem Markusplatz. Die nicht artikulierte Pointe: Klimawandel findet statt, die Katastrophe steht zu erwarten – aber Diesel hat auch dafür die passende Kleidung. Es ist eine Werbefoto-Serie, bei der es sich um sorgfältig (bis ins letzte Detail) inszenierte Fotos, also nicht um Reportage-Fotos (wie teilweise im Benetton-Fall), handelt.9 Künstlerische Werbefotos dieser Art kommen ohne Deutungsanstrengungen nicht aus, das Kunstwerk spricht nicht mit Eindeutigkeit. Das Bild mag Gefühle auslösen, aber sie bleiben ohne Interpretation »blind«. Eine zweite Diesel-Serie widmet sich dem Thema live fast. Sie zeigt eilende, hetzende Menschen in kuriosen Übertreibungen: etwa eine junge Dame, die im Laufschritt ihrem Baby das Fläschchen gibt. Die Serie hat durchaus zeitdiagnostischen und -kritischen Gehalt, schließlich gibt es mittlerweile in Fülle soziologische Bücher über Beschleunigung, die Stressgesellschaft, den Veloziferismus. Aber das Thema wird »witzig«, skurril, fantastisch präsentiert. Solche Bilder liegen an der Grenze ihrer Rückbindungsfähigkeit der außeralltäglichen Situation an das vorhandene Wissen der Betrachter, und sie sind deshalb riskant. Sie zielen nicht mehr auf Darstellung, nicht einmal in Form der Mimesis, sondern sie sind Kreation – nicht als abstrakte Enthobenheit, aber zumindest in Form eines »fantastischen Realismus«, einer Artifizialität überraschender Arrangements. Sie vermitteln nicht mehr festliegende Informationsgehalte, sondern Erlebniskomponenten, die auf unterschiedliche Weise verarbeitet werden können. 9 | Auch zum Verständnis dieser Serie ist ein beträchtliches Vorwissen notwendig. Es ist nicht erkennbar, dass es sich um eine Textilfirma handelt: Der Kontext »Diesel und Kleidung« muss vom Betrachter hergestellt werden. Da steht nur »Diesel« – aber es ist kein Treibstoff gemeint. Global warming ready muss auf den Kontext der Klimadiskussion bezogen werden. Schließlich muss auch die ironische Komponente als solche verstanden werden, sonst sieht man (etwa beim Versinken New Yorks im Meer) nur ein deprimierendes Katastrophenfoto. Man könnte durchaus darüber spekulieren (oder es empirisch erforschen), wie hoch der Prozentsatz der Betrachterinnen und Betrachter ist, die überhaupt nicht mitbekommen, was dargestellt wird.
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D as offene K unst werk Die skurrilen Szenen aus der Diesel-Werbung lassen eine gewisse Deutungsoffenheit zu, und wir können in dieser Richtung noch einen Schritt weitergehen. In besonderen Fällen können Werbefotos als »offene Kunstwerke« verstanden werden, wie sie Umberto Eco in seinem berühmten Buch definiert: »Offenes Kunstwerk als Vorschlag eines ›Feldes‹ interpretativer Möglichkeiten, als Konfiguration von mit substantieller Indeterminiertheit begabten Reizen, so dass der Perzipierende zu einer Reihe stets veränderlicher ›Lektüren‹ veranlasst wird; Struktur schließlich als ›Konstellation‹ von Elementen, die in wechselseitige Relationen eintreten können.« (Eco 1982: 154)
Man kann auf diese Weise unterschiedliche Wissensbestände und Deutungsschemata an das Foto herantragen, im Wissen darum, dass sich die »Macher« das wohl nicht gedacht haben. Man instrumentalisiert das Bild. Es wird zur Illustration verwendet, obwohl es von sich aus (allenfalls) gar nichts oder etwas anderes illustrieren will. Das Foto gibt nur Anstöße zu verschiedenen Lesarten, und diese Interpretationsoffenheit wird möglich durch seine Skurrilität, die zu divergierenden Ausdeutungen einlädt: das Foto als offenes Konstrukt10, das mit unterschiedlichen Interpretationen verträglich ist. Mit ein wenig Übertreibung: Bei dieser Verwendung wird nicht unbedingt das Soziologische »herausgeholt«, analysiert und destilliert, sondern es wird das Soziologische (oder Psychologische) »hineingesteckt«. Die Interpretation ist nicht nur nachvollziehend und rekonstruierend, sondern fantasievoll, kreativ, narrativ, assoziativ. In diesen Fällen wird keine Wirklichkeitsgeschichte erzählt, es werden vielmehr fiktive, skurrile, jedenfalls irritierende Szenen dargestellt – ganz im Sinne der beabsichtigten Irritation des lebensweltlichen Wissens und seiner Selbstverständlichkeiten. Manchmal ist es schwierig, die Bedeutung zu dechiffrieren; manchmal ist es ein skurriles Arrangement, das gar keine Bedeutung vermitteln will; manchmal kann man aber auch die Abbildung mit Bedeutung(en) spielerisch anreichern. Man geht über die Bildintentionen (und die Absichten der Bild-Designer) hinaus.11
10 | Information zu praktischen Zwecken strebt nach Eindeutigkeit; im künstlerischen Kontext ist in manchen Fällen die Unbestimmtheit der Information erwünscht, weil eben dadurch Aufmerksamkeit gebunden wird und viele mögliche Informationsinterpretationen denkbar werden. 11 | Da wir uns in einem soziologischen Kontext befinden, heißt das, dass man beispielsweise auch eine Interpretation vornehmen kann, die auf dem gesamten Wissen der Soziologie beruht, ja eigentlich eine Betrachtung vor dem Ganzen der Gesellschaft darstellt: einerseits die Gesellschaft im Bild, andererseits das Bild in der Gesellschaft (so wie schon in klassischen Interpretationslehren: die Geschichte im Kunstwerk, das Kunstwerk in der Geschichte).
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Betrachten wir das Beispiel aus der Abbildung 2. Eine junge, attraktive Dame, modisch gekleidet, vermutlich mit Textilien von Diesel, läuft in einer sonnigen, schönen Umgebung über die Straße und schaut sich dabei in einem (etwas unhandlichen) Spiegel an. Vermutete Botschaft: Es ist wichtig, gut auszusehen, alles andere bleibt im Hintergrund. Image is everything. Ambiente: Wir befinden uns offenbar irgendwo in den westlich-südlichen US-Staaten, Palmen, Ice-Cream Wagen.12 Eine ruhige Straße, im Hintergrund ist eine männliche Person eilig unterwegs, mit einem Golfschläger. Der sich nähernde Eiscreme-Wagen fährt mit Licht, möglicherweise blinkt er – denn die junge Dame ist so von ihrem Spiegel (und sich selbst) fasziniert, dass sie in den Eiswagen zu laufen droht. – Jetzt greifen wir auf unterschiedliche Wissensbestände zurück.
Abb. 2: Diesel-Werbung aus der ›live fast‹-Serie, 2008
Soziologische Ideengeschichte: Wenn Soziologen mit einem Spiegel konfrontiert sind, dann liegen natürlich bestimmte ideengeschichtliche Erinnerungen nahe. Adam Smith hat schon festgestellt, dass die Gesellschaft uns einen »Spiegel« zur Verfügung stellt, in dem wir uns selbst erblicken. Charles Cooley (1902) hat vom looking-glass self gesprochen. Für George Herbert Mead (1934) war die Metapher wichtig. Anselm Strauss (1959) hat ein Buch über Mirrors and Masks geschrieben; und so weiter. Literatur und Mythos: Wenn wir das Motiv des Spiegels in Literatur und Mythos verfolgen, verweist er uns naheliegenderweise auf die Schönheit (Spieglein, Spieglein an der Wand …), aber er gilt auch als ein Symbol für Luxuria, Vanitas, Wollust und Eitelkeit. Auf der positiven Seite steht er für Veritas (die Selbsterkenntnis; denn der Spiegel zeigt unerbittlich die 12 | Es ist ein »All American Softy Ice-Cream Truck«, der, wie eine Recherche ergibt, für Events beliebiger Art gemietet werden kann (www.allamericansofty.com) – er bietet aber wirklich Eiscreme an.
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Wahrheit – jenes Gesicht, das wir der Welt nicht zeigen, sondern durch die Maske des Schauspielers verhüllen). Heute, in der Epoche der Beautifizierung, könnten wir die neuen technischen Möglichkeiten der Spiegelung (über die elektronischen Netze und die Bildschirme) oder des Human Enhancement ins Spiel bringen. Im Märchen zeigt der Spiegel häufig verborgene Schätze, aber auch einen Blick hinter die Dinge, man sieht oft weit entfernte Gegenstände, Personen und Ereignisse – heute wird ein solcher Spiegel durch das Smartphone ersetzt, welches diese Leistungen nachvollziehbarer erbringt. Zeitdiagnose: Vom eigenen Bild im Spiegel so fasziniert zu sein, dass man vor das Auto läuft, verweist auf zeitdiagnostische Feststellungen, der zufolge die Gegenwartsgesellschaft, speziell die jüngere Generation, von einem besonders hohen Maß an Narzissmus gekennzeichnet sei, von Selbstbezogenheit; sie sieht gar nichts anderes als sich selbst – Richard Sennett, Christopher Lasch, Jean Twenge und andere sind die Referenzen (Lasch 1995; Sennett 1998; Twenge 2006). Da kann man keinen Blick mehr für die Umwelt (und ihre Gefahren) haben. Tiefenpsychologie: Wenn wir das Bild mit tiefenpsychologischem Hintergrund betrachten, können Augen und Gesicht als »Spiegel der Seele« verstanden werden. Der Eiscreme-Kontext, das mögliche Lecken von Speiseeis verweist auf Kindheit, auf Regression – und das passt ja auch zur Narzissmus-Interpretation. Auch Befunde über den fortgesetzten Infantilismus bis in die Erwachsenenperiode, über den Jugendlichkeitswahn und dergleichen gehören zu den üblichen Gegenwartsbeschreibungen. Der erotische Zusammenhang des Eislutschens kann gleichfalls ins Spiel gebracht werden, als Ausdruck der Sinneslust. Im Infantilen steckenbleiben heißt auch: in der oralen Phase steckenbleiben. Das passt erst recht zur Eiscreme.
K opplungen Wir haben es also bei der Analyse von Werbefotos mit verschiedenen Varianten von »Sichtbarmachung des Soziologischen« zu tun. Wir sind erstens mit der im Bild selbst dokumentierten (wenn auch erst zu erschließenden) Analyse der Gestalter konfrontiert, mit ihrer praktischen, künstlerischen und adhortativen Intention. Zweitens sind jene soziologischen Erkenntnisse relevant, die man aus einer Bildinterpretation gewinnen kann – denn diese Bilder müssen, gerade aufgrund ihrer praktischen Zielsetzung, mit dem verborgenen geistigen Leben der Menschen operieren. Drittens kann man die etwas anspruchsvolleren Fotos dazu verwenden, in spielerischen Interpretationsdurchläufen – im Sinne eines »offenen Kunstwerks« – Wissensbestände und -elemente zur Anwendung zu bringen, die in der eigentlichen Absicht der Fotos gar nicht erfasst sind. (Der Beobachter schafft das Werk.) Man kann sogar eine vierte Dimension ins Spiel bringen: wenn man in eigenen öffentlichen Vorträgen Werbebilder zur Illustration soziologischer Botschaften verwenden will. (Es ist anzuraten, für diese didaktische Intention keine komplexen Fotos zu verwenden, wenn man nicht
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unbedingt über die Fotos reden, sondern mit ihrer Hilfe ein paar Erkenntnisse über die Gesellschaft anbringen möchte.)13 Die Deutungen der Fotos werden bei den vier »Zugängen« im Normalfall unterschiedlich sein, allein schon durch die unterschiedlichen Intentionen. Es wird Kollisionen, aber auch Wechselwirkungen zwischen den geschilderten Ansätzen geben: Im besten Fall werden sie einander bereichern.
L iter atur Cooley, Charles Horton (1902): Human Nature and the Social Order, New York: Scribner’s. Eco, Umberto (1982): Das offene Kunstwerk, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Gehlen, Arnold (1961): Anthropologische Forschung, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Goffman, Erving (1981): Geschlecht und Werbung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Hahn, Alois (1999): »Kunst, Wahrnehmung und Sinndeutung«, in: Anne Honer, Ronald Kurt, Jo Reichertz (Hg.), Diesseitsreligion. Zur Deutung der Bedeutung moderner Kultur, Konstanz: UVK, S. 153–182. 13 | Man befindet sich dann in gewissem Sinne in einer ähnlichen Situation wie die Werbedesigner ganz am Beginn des Geschehens, denn man muss auch den Verständnishorizont seines jeweiligen Publikums reflektieren. (Mit jedem Publikum muss man anders umgehen, vom Pfarrgemeinderat über einen Medizinerkongress bis zum Manager-Meeting eines internationalen Konzerns. Eine andere »Sprache« empfiehlt sich in den jeweiligen Fällen ohnehin, aber möglicherweise ist auch eine veränderte Bilderwelt erforderlich.) Man kann allerdings dann, wenn es sich um wiederholte Durchgänge (also öfter einmal zu absolvierende öffentliche Vorträge) handelt, die Reaktionen der Publika beobachten, um daraus wiederum Schlüsse auf das Verständnis der Bilder und auf ihren Beitrag zum besseren Verständnis der diskutierten soziologischen Befunde zu ziehen. In der Phänomenologie ist es keine ganz ungewöhnliche Forderung, dass der Sozialforscher auch seine eigenen Erfahrungen stärker reflektiert und in die Empirie integriert. Die ideale Basis dafür ist, wie es Anne Honer einmal formuliert hat, »der Erwerb der praktischen Mitgliedschaft an dem Geschehen, das erforscht werden soll, und damit der Gewinn einer existentiellen Innenansicht.« (Honer 2000: 200 f.) Das mag auch für so etwas Triviales wie einen Vortrag gelten. Aber dieser Sachverhalt ist nicht so trivial, wie er auf den ersten Blick aussieht; dann nämlich, wenn man die Fotos nicht nur zur Behübschung einer Powerpoint-Darstellung verwenden will, sondern den Anspruch erhebt, dass sie einen eigenständigen Beitrag zum besseren Verständnis leisten, also komplementär zum Redetext sein sollen, oder dass sie auch in einer gewissen Spannung zum Vortragstext stehen sollen, also eine eigene Geschichte erzählen – ohne dass sie wiederum derartiges Eigengewicht gewinnen, dass das Publikum von den sprachlichen Darlegungen allzu sehr abgelenkt wird. Im Übrigen verweisen diese Überlegungen auf die generelle Frage der Bildfähigkeit soziologischer Erkenntnis – ein ziemlich unbeachtetes Gebiet.
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Honer, Anne (2000): »Lebensweltanalyse in der Ethnographie«, in: Uwe Flick, Ernst von Kardoff und Ines Steinke (Hg.), Qualitative Forschung, Reinbek: Rowohlt, S. 194–203. Lasch, Christopher (1995): Das Zeitalter des Narzißmus, Hamburg: Hoffmann und Campe. Lehn, Isabelle (2011): Rhetorik der Werbung: Grundzüge einer rhetorischen Werbetheorie, Konstanz: UVK. Mead, George Herbert (1934): Mind, Self and Society, Chicago: University of Chicago Press. Raab, Jürgen (2008): Visuelle Wissenssoziologie: Theoretische Konzeption und materiale Analysen, Konstanz: UVK. Reichertz, Jo (2010): Kommunikationsmacht: Was ist Kommunikation und was vermag sie? Und weshalb vermag sie das?, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Sennett, Richard (1998): Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin: Berlin Verlag. Smith, Adam (2005): The Theory of Moral Sentiments, Cambridge u. a.: Cambridge University Press. Strauss, Anselm L. (1959): Mirrors and Masks. The Search for Identity, Glencoe, Ill.: Free Press. Toscani, Oliviero (1996): Die Werbung ist ein lächelndes Aas, Mannheim: Bollmann. Twenge, Jean M. (2006): Generation Me: Why Today’s Young Americans are More Confident, Assertive, Entitled – and More Miserable Than Ever Before, New York: Free Press.
A bbildungen Abb. 1: Benetton-Plakat »Bosnienkrieg«, 1994, Oliviero Toscani. © Foto: Benetton. Quelle: www.fr-online.de abgerufen am 01.03.2015. Abb.2: Diesel-Werbung aus der »live fast«-Serie, 2008. © Foto: Diesel. Quelle: adsoftheworld.com abgerufen am 01.03.2015.
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Vierter Teil: Beiträge zur Theorie der Fotografie
Sehen als kommunikatives Handeln und die Fotografie1 Hubert Knoblauch
E inleitung Sehen hat bekanntlich einen großen Stellenwert in unserer Kultur. Es gilt nicht nur als die offenbar »höchste« Form der Sinneswahrnehmung, sondern auch als Vorlage für die abendländische Konzeption der »Erkenntnis«, dessen Sozialität und Körperlichkeit im Hebräischen »jada« angelegt ist (das ja bekanntlich selbst den Beischlaf einbezieht). Selbst das deutsche »Wissen« leitet sich vom lateinischen Sehen, »videre«, ab. Wenn hier das »Sehen« als kommunikatives Handeln untersucht wird, soll dies allerdings nicht abstrakt und allgemein geschehen. Ich möchte das Sehen auch nicht aus der Perspektive des Sehenden betrachten, wie dies etwa in der Philosophie, beispielhaft in der Phänomenologie des Sehens, geschieht. Ich möchte mich hier vielmehr damit beschäftigen, wie wir das Sehen der Anderen sehen. Damit verbunden ist auch schon die These des Beitrags: dass wir das Sehen der Anderen sehen. Soziologisch ausgedrückt nimmt diese These sehr grundlegende Züge an, geht sie doch davon aus, dass Sehen als vermeintlich subjektiver Akt eine Form des sozialen Handelns ist. Ja mehr noch: Der Umstand, dass wir das Sehen als soziales Handeln sehen, zeigt auch, dass es als Handeln beobachtbar ist und beobachtbar gemacht wird. Deswegen möchte ich das Sehen als kommunikatives Handeln bezeichnen. Wegen der vorgegebenen Kürze dieses Beitrags muss ich für mein an Habermas, Luckmann und Luhmann angelehntes Konzept des kommunikativen Handelns und dessen theoretischen Rahmen, den kommunikativen Konstruktivismus, auf andere Texte verweisen (Knoblauch 2012; 2013a; 2017). Aus demselben Grund kann ich hier auch nicht die Verallgemeinerbarkeit der Thesen erörtern. Ich kann also nicht zeigen, dass alles, sondern nur, dass Sehen als soziales Handeln immer eine Form der Kommunikation impliziert. Um die Eigenheit dieser These zu erklären, sollen zunächst die gängigen soziologischen Zugänge zum Sehen skizziert werden. Danach möchte 1 | Für die wertvollen Kommentare möchte ich mich bei René Tuma bedanken; bei Martin Krusche für die Zeichnungen.
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ich die Ergebnisse einiger exemplarischer empirischer Analysen vorstellen. Dabei greife ich auf Videoaufzeichnungen aus natürlichen Alltagssituationen des Sehens zurück, die mit den Mitteln der Videoanalyse (Tuma/ Schnettler/Knoblauch 2013) untersucht wurden. Schließlich möchte ich die Ergebnisse zusammenfassen und ihre Folgen für die Themenstellung des Bandes verdeutlichen. Dass Sehen einen unmittelbaren Bezug zum Thema der Fotografie hat, liegt auf der Hand. Allerdings werde ich mich bei der Analyse des Sehens nicht auf das technische vermittelte Sehen der Fotografie konzentrieren, sondern auf das Sehen ohne zusätzlichen Apparat. Auf die Frage, welche Folgen diese Betrachtung für die Fotografie hat, werde ich am Ende kurz eingehen: Fotografieren ist, so vermute ich, keineswegs nur eine besondere »Sinnprovinz des Erfahrens« (Eberle 2013), sondern vor allem und zumeist eine mediatisierte Form des kommunikativen Handelns.
D ie S ozialität des S ehens Als einer der ersten hat Simmel die soziologische Bedeutung der Sinne erkannt. Gerade das Auge vollbringe eine »einzigartige soziologische Leistung«, erzeugt doch das Sich-Anblicken »die unmittelbarste und reinste Wechselbeziehung, die je überhaupt besteht« (Simmel 1992 [1908]: 723). Im Unterschied zum Ohr zeichne sich das Sehen durch Reziprozität aus und sei damit ein ausgezeichnet sozialer Akt. Auch wenn das Sehen im sozialen Verkehr ein Übergewicht hat, so kristallisiere es sich zu keinerlei objektivem Gebilde. »Das Gesicht, als Ausdrucksorgan betrachtet, (ist) sozusagen ganz theoretisches Wesen« (ebd.: 725). Während Simmel die mangelnde Objektivierungsfähigkeit des Sehens betont, weist Plessner (1980) in seiner »Ästhesiologie des Gesichts« auf dessen besonderen Handlungscharakter hin. Sehen ist zwar nicht schon Handeln, doch beobachtet er eine »natürliche Akkordanz der Sehfunktion zur Handlung«. Diese gründet in der Gerichtetheit des Sehens, im »Ins-Auge-Fassen eines Objekts als Zielpunkt der Bewegung« (ebd.: 292). Sehen entspricht der Grundform der Handlung so sehr, dass es sogar eine Art Objektivierung leistet, die Simmel übersieht, verleiht der Sehstrahl dem optischen Ding doch eine »ursprüngliche Griffigkeit, Angreif barkeit, Umgreif barkeit«, die der Dinglichkeit »Inhaltsfülle« verleihen (Plessner 1980: 263). Damit stellt der »optische Modus« auch das Verhältnis von Geist und Leib her, »in welcher das Subjekt des Geistes den Leib als Instrument zielmäßig gerichteter Bewegungen benutzt« (ebd.: 293). Während nun Plessner die von Simmel übersehene Handlungs- und Produktionskomponente hervorhebt, bleibt die von Simmel unterstrichene soziale Seite des Sehens gänzlich unbeachtet. Fügt man diese soziale Seite zu Plessners Modell hinzu, dann erkennt man, wie Soeffner (2012: 470 ff.) bemerkt, die kommunikative Dimension der Sinne. Handeln, Objektivation und die Reziprozität des Sozialen bilden in der Tat die drei wesentlichen Momente dessen, was man als kommunikatives Handeln
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bezeichnen kann (Knoblauch 2017).2 Was damit empirisch gemeint wird, ist vielleicht am anschaulichsten von Goffman am Beispiel der »höflichen Gleichgültigkeit« dargestellt: Begegnen sich etwa zwei Passanten auf der Straße, kann die höfliche Gleichgültigkeit in der besonderen Form vonstatten gehen, dass man die andere Person ins Auge fasst, bis sie sich auf etwa drei Meter genähert hat – in dieser Zeit werden die weiteren Gehwege durch unauffällige Gebärden geregelt. Während man an den Anderen vorbeigeht, schlägt man die Augen nieder, man blendet quasi ab. Wir haben hier vielleicht das geringste interpersoneller Rituale und doch zugleich eines, das beständig den sozialen Verkehr zwischen Menschen unserer Gesellschaft regelt (Goffman 2009: 86). Kann man Goffmans Ritual des Blickens als eine Form der körperlichen Kommunikation ansehen (Knoblauch 2006), so findet sich ein entscheidender Aspekt des kommunikativen Handelns gerade von einem Autor herausgestrichen, der für seine Affirmation des Subjektiven so berüchtigt ist. In seiner phänomenologischen Analyse des Blicks sieht Sartre den entscheidenden Grenzstrich zwischen den Dingen und den Menschen in einer besonderen »Seitigkeit« der Reziprozität: Die Sozialität zeigt sich nicht schon im Anblicken des Anderen. Der Blick zeigt sich erst, wenn man selbst zum Objekt der Anderen wird. Dieses »être-objet-pour-autrui« im Blick der Anderen ist eine »condition nécessaire de mon objectivité« (Sartre 1976 [1943]: 316): Ich bin erst in der Welt, weil und indem ich von Anderen gesehen werde. In der Soziologie wurde diese Einsicht zuerst von Cooley (1910) auf den Begriff gebracht: das »Looking-Glass-Self«.3 Dieser Begriff impliziert, dass wir beim Sehen also nicht zuerst selber sehen, sondern uns zunächst in den Augen der Anderen sehen: Wir sehen das Sehen, indem wir das Sehen der Anderen sehen. Genau dieser Perspektivenwechsel ist auch im Begriff des kommunikativen Handelns enthalten: Das Handeln, also unser Sehen, setzt das Sehen der Anderen voraus: Dass wir das Sehen als Handeln betreiben, setzt voraus, dass wir die Anderen sehen.
2 | Diese Perspektive wird von Soeffner und Raab (1998) ergänzt; sie betonen, dass der Gesichtssinn kulturell und sozial ausgebildet wird und deswegen historischen Veränderungen unterliegt. Die Kultur bestimmt die Art, wie wir die Natur sehen. Diese Art wird als »Sehgewohnheit und Seherwartung« gefestigt und ist damit Teil einer »Sehordnung«. 3 | Cooley bemerkt nicht nur, dass der Blick von Kleinkindern kaum von Instinkten geleitet scheint; er betont auch, wie sehr sie die Augen der signifikanten Anderen beobachten, die als die interessantesten Aspekte der Anderen erscheinen. Diese Ansicht wird von Russell et al. (2012) bestätigt, die zeigen, dass das Gefühl von Kindern, nicht gesehen zu werden, wenn sie sich verstecken, damit zusammenhängt, dass ihre Augen verdeckt sind (und nicht, dass sie nicht sehen können): Kinder glauben nicht, dass sie nicht gesehen werden; sie glauben aber, dass es nicht zählt, wenn sie selbst nicht zurückblicken.
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S ehen als kommunik atives H andeln Dass der Blick Anderer eine besondere Sozialität und Wirksamkeit aufweist, mag nicht sehr überraschen. Deswegen will ich mich im Weiteren nicht so sehr auf das Einander-Anblicken, sondern auf das Sehen konzentrieren. Das Sehen soll in seinem körperlichen Vollzug in natürlichen Situationen betrachtet werden. Dabei können wir das Prinzip des Sehens des Sehens methodisch recht einfach übertragen, wenn wir Menschen beim Sehen per Video aufnehmen und diese Aufzeichnungen ansehen. Wir folgen hier einer sequenzanalytischen Vorgehensweise, die Videos als Aufzeichnungen von kommunikativen Handlungen betrachtet.4 Für die Analyse haben wir auf Daten aus dem Datenkorpus des Berliner Videolabors zurückgegriffen, in denen Personen (a) möglichst alleine sind und (b) außer dem Sehen keine besonderen Tätigkeiten verrichten.5 Mit der ersten Bedingung wollten wir den Fokus von den Blicken auf das Sehen lenken; mit der zweiten Bedingung wollten wir den Fokus auf Situationen richten, in denen das Sehen von vorrangiger Relevanz für die Handelnden scheint. Um die erste Bedingung zu erfüllen, nutzten wir Daten, die von einer unbemannten Kamera aufgezeichnet wurden, die im Treppenhaus eines Universitäts-Gebäudes stand; der zweiten Bedingung wird dadurch Rechenschaft getragen, dass die aufgezeichneten Personen mit der in einem spielerischen Zusammenhang gestellten Aufgabe konfrontiert worden waren, mittels Karten in dem für sie nicht bekannten Gebäude einen bestimmten Raum zu suchen. Im engen Rahmen dieses Beitrags können wir dazu lediglich eine Sequenz exemplarisch vorstellen. Darauf sehen wir einen Mann die Treppe heraufsteigen: Der Kopf wird sichtbar, wie er sich noch im Treppenlauf auf das große Fenster zu seiner Linken richtet, das die eine Treppenwand über der Wandwange bildet. Nachdem er einige Stufen an der Wand entlang gegangen ist, sehen wir ihn am rechten Rand des Bildes erscheinen.
4 | Wie Srubar (in diesem Band) deutlich macht, beruht das »vorsemiotische Verstehen« auf einer Typisierung, nicht auf der komplexen Zeichenstruktur (die allerdings auch als Wissen in das Verstehen eingehen kann). 5 | Ich danke an dieser Stelle besonders René Tuma und Christoph Nagel, die an der Datensuche wie auch an den Datenanalysesitzungen aktiv beteiligt waren. Für eine ausführliche Darstellung der Methode vgl. Tuma, Schnettler, Knoblauch (2013).
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Abb. 1: Aus der Videoaufnahme: Blickrichtung nach rechts
Abb. 2: Nachzeichnung zur deutlicheren Sichtbarkeit: Blickrichtung nach rechts
Dabei wendet er den Blick zunächst leicht nach rechts, und dann in Gehrichtung zurück, etwas leicht nach links geneigt; an dieser Stelle scheint er den Blick auf die Kamera zu richten, so dass das Angeblickt-Werden sogar in der Videoaufzeichnung erkennbar ist.
Abb. 3: Nachzeichnung: Blick auf die Kamera
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Die nächste Blickhaltung folgt ganz offenbar dem Raum, der sich ihm nun an dieser Stelle erschließt: rechts wird eine Tür sichtbar, und dieser Sichtbarkeit folgt er nun mit einer deutlichen Orientierung auf diese Tür.
Abb. 4: Nachzeichnung: Blick nach rechts auf die Tür
Abb. 5: Abbildung 3 aus der ›Vogelperspektive‹
Währenddessen geht er auch in seiner Körperausrichtung etwas nach links, so dass diese kurze Blicksequenz wie ein kurzes Umblicken erscheint, das abgeschlossen ist, nachdem er mit der obersten Stufe das Treppenpodest bestiegen hat. Er setzt seinen Gang fort, indem er von der rechten Seite des Kamerabildes auf die linke Seite wechselt. Bevor er jedoch wechselt, wirft er einen Blick scharf nach links, wo gerade eine Gruppe von drei Erwachsenen erscheint (vom Betrachter des Bildes aus am rechten Bildrand); während der erste der Erwachsenen vor der Videokamera vorbeigeht und seinen
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linken Arm streckend mit den Worten »das ist …«) einsetzt, wendet sich unser Mann scharf nach links zur herannahenden Gruppe und erreicht seinen höchsten Scheitel genau zu dem Zeitpunkt, als der Arm sich ausstreckt. Sodann wendet der Mann seinen Blick wieder auf das gesetzte Ziel, die Tür, und verschwindet in Richtung eines Ganges am linken Bildende.
Abb. 6: Nachzeichnung: Blick nach links zur herannahenden Gruppe
Abb 7: Nachzeichnung: Blick nach rechts Richtung Tür
Die Sequenz besteht aus mehreren Teilen, in denen offenbar vor allem das Gehen und das Blicken koordiniert werden. Dabei scheint der Blick nicht nur dem Gehen zu folgen, sondern ihm vorauszugehen, und zwar in einer Weise, die im Sinne Plessners an eine Handlung erinnert: Sein Ziel vor Augen, schreitet der Mann voran. Allerdings sehen wir auf dem Video noch mehr: Der Blick nach links (Abb. 8) nämlich geht auch in Richtung Kamera und der Blick nach rechts (Abb. 10) erfolgt, nachdem eines von zwei Kindern, die hinter ihm die Treppe erklimmen, laut vernehmbar sagt: »Sind wir gleich da?« Ob er sie sieht und seinen Blick so weit nach rechts wendet, dass er die beiden im Blickfeld hat, kann man aus der Sequenz deuten: Er schaut die Kinder nicht an und scheint auch ihrer Räumlichkeit in seinem Gang und dessen Richtung keine Aufmerksamkeit zu schenken. Ganz anders ist seine Reaktion auf die von links kommenden Männer, denen er seinen Kopf zuwendet, und zwar schon während er sie hört. Geradezu wundersam ist die Koordination seiner Kopfwendung mit dem ausgestreckten Arm des herannahenden Mannes: Fast gleich-
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zeitig mit der größten Ausstreckung des Armes erreicht die Kopfwende des Mannes seinen Scheitel. Ob und wie diese wundersame Koordination zustande kommt, ist hier jedoch gar nicht die Frage. Die Frage, die ich vielmehr aufgeworfen habe ist, ob und wie man das Sehen sieht. Und die Antwort darauf ist in den bisherigen Beschreibungen schon impliziert.6 Ich möchte sie in verschiedenen Thesen zusammenfassen: 1. Sehen ist etwas, das wir als Beobachter an Anderen sehen können. Offenbar machen die Handelnden nicht nur sichtbar, dass sie sehen, sondern auch was sie sehen. 2. Was sie sehen, ist sequenziell strukturiert. Der Sinn des Sehens wird im körperlich-zeitlichen Ablauf sichtbar.7 3. Das Sehen wird nicht nur durch den Blick sichtbar gemacht, sondern durch andere körperlichen Merkmale: Wir sehen nicht nur, dass sie sehen, wir sehen auch, wie sie das Sehen sichtbar machen, sei es durch die bloße Blickrichtung, die Kopfwendung oder den Gang. Die verschiedenen »Modalitäten« sollten dabei jedoch nicht grundsätzlich aufgespalten werden (Norris 2004); vielmehr zeigt schon die obige Sequenzabfolge, dass auch die Relevanz von Modalitäten bzw. ihrem Zusammenspiel jeweils sichtbar gemacht wird. 4. Im Unterschied etwa zur Ökonomieregel beim Reden, die fordert, möglichst sparsam zu sein (Grice 1975), erscheint die körperliche Performanz redundant – wenn man sie nicht als Hinweis darauf nimmt, dass die beobachtete Person nicht nur geht und sieht, sondern dies eben auch zugleich sichtbar macht. Würde für viele »Sehhandlungen« die Bewegung der Pupillen genügen, so sehen wir hier vielmehr auch sichtbarlich Bewegungen von Kopf und Körper, die unter ökonomischen Gesichtspunkten nicht nötig wären. 5. Die Bewegungen des Gesichts sind dabei keineswegs nur in einer zeitlichen Abfolge geordnet: Vielmehr kann man auch das erkennen, was Kendon (1990) als »Face-Formation«, als Gesichtsformation bezeichnet: Das 6 | Diese Implikationen sind die hermeneutischen Voraussetzungen, die zum Verstehen der Standbilder bzw. der Videos gemacht werden. Knoblauch und Schnettler (2012) haben diese hermeneutischen Voraussetzungen erläutert. Hier sollte betont werden, dass man zur Hebung dieser Voraussetzungen auch die Elizitierung einsetzen kann, bei der den aufgezeichneten Handelnden die Aufzeichungen gezeigt werden, um ihr Orientierungswissen zu »fördern«. Für eine solche Vorgehensweise im Falle des Sehens und Gehens durch einen belebten Bahnhof vgl. Bayart/ Borzeix/Lacoste (1997). 7 | Wir kennen diese sequenzielle Struktur sogar aus dem verlängerten Blick: Wenn man jemand etwas länger anschaut, dann wird offenbar die Verlängerung selbst als bedeutungsvoll gesehen. Dass die Bedeutung (»kennen wir uns?«, »flirten wir?«, »habe ich eine Nudel im Gesicht?«) vielfältig sein kann, widerspricht nicht ihrer Bedeutungshaftigkeit. Die Sequenzialität des Sehens wurde von den Goodwins (1996) sehr anschaulich aufgezeigt.
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Gesicht und dessen Ausrichtung dient anderen Handelnden als Hinweis auf ihre Aufmerksamkeit. Bei fokussierten Interaktionen geschieht dies von Angesicht zu Angesicht, etwa in der bekannten »Kreisform«.8
Abb. 8: »Face-Formation« mit gemeinsamem Fokus
Aber auch die Zuwendung des Kopfes bei davon abweichender Gehorientierung kann ebenso als »begrenzte« Aufmerksamkeit verstanden werden, wie die Nichtzuwendung zu den nachrückenden Kindern als Nicht-Beachtung erscheint. Die These, dass das Sehen sichtbar gemacht wird und dass die Art, wie es sichtbar gemacht wird, auch auf das hinweist, was und wie gesehen wird, haben wir überprüft, indem wir Beispiele suchten, bei denen sich die Beobachteten ganz alleine dünkten. So schwierig es ist, solche Beispiele zu finden – der Fall, den wir behandelt haben, zeigt einen Einbrecher, der offenbar nicht bemerkt hat, dass er von einer Überwachungskamera gefilmt wurde – zeigen sie doch deutlich, dass die Orientierung an Anderen auch dann besteht, wenn niemand anders anwesend ist. Wir »selbst«, so könnte man sagen, sind uns als Selbst-Beobachter durchaus genug. Diese Reflexivität des Sehens als kommunikatives Handeln ist auch von Goffman (2005) herausgestellt worden, der etwa in seinen »Reaktionsrufen« (»Igitt«) zeigt, wie wir auch als einsam Handelnde unsere Handlungen sichtbar machen. In der Tat orientiert der Mann, den wir beobachtet haben, seine Bewegungen ja keineswegs nur an anderen Personen; sein früher Blick in die rechte Tiefe des sich beim Treppensteigen öffnenden Raumes (und die dort erkennbare Tür) bilden dingliche Orientierungen, die das Sehen als kommunikatives Handeln in gleicher Weise anzeigt wie das Auftreten der vom rechten Bildrand nahenden drei Männer. Zusammenfassend lässt sich sagen: Auch wenn wir nicht behaupten können, ja nicht einmal wollen, dass das Sehen, das sichtbar gemacht wird, alles ist, was der Mann sieht, so hat die Analyse deutlich gemacht, 8 | Wie an anderer Stelle ausgeführt (Knoblauch 2013b), handelt es sich hier eher um eine Körperformation, in der auch andere Objekte als »Interaktionspartner« fungieren können (wie etwa beim Beamer).
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dass das sichtbare Sehen wie eine Form der Deixis fungiert: Der sehende Körper »zeigt« sich als sehend.9 Diese Form der Deixis ist mehr als die bloße Gerichtetheit, auf die Plessner aufmerksam gemacht hat; sie ist aber auch noch elementarer als jene »Urgeste« des Fingerzeigs, mit der wir die erste Form der Appräsentation erzeugen und die uns von den anderen Säugetieren und Kleinstkindern unterscheiden.10 Das Besondere dieser sozialen Deixis besteht darin, dass sie die Dreigliedrigkeit des Sehens deutlich macht: Denn wenn wir die Anderen sehen sehen, dann können wir auch sehen (oder zumindest weitersehend erschließen11), was sie sehen. Das, was sie sehen, ist das Objekt des Sehens. Das Sehen des Objekts selbst muss keineswegs ein Gegenstand sein; ja, es muss nicht einmal vom Objekt abhängig sein. Dennoch haben wir es beim gesehenen Sehen mit einer dreistelligen Relation zu tun, die jedes kommunikative Handeln auszeichnet: Als Verweis auf das Wahrnehmen eines Subjekts, als Verweis auf das Wahrnehmen durch ein anderes Subjekt, und als Verweis auf etwas, das wahrgenommen wird. Alfred Schütz hat diese dritte Dimension hervorgehoben, die sich in die Reziprozität der Perspektiven bei Interaktionen einfügt: Wenn wir gemeinsam einen Vogel sehen, sehen wir nicht nur je einen Vogel, »wir beide sehen den ›gleichen‹ Vogel im Flug« (2003: 153), der damit erst ein (wenn auch »flüchtiges«) »Objekt« wird.
F otogr afie als F orm des kommunik ativen H andelns Diese drei Dimensionen des kommunikativen Handelns wurden entschieden von Bühler (1934) herausgearbeitet, der auch von Habermas oder Luhmann in die soziologische Kommunikationstheorie aufgenommen wurde (Knoblauch 1995: 45). Im Unterschied aber zu Bühler, der diese Dimensionen als Aspekte des Zeichens betrachtet, sollen sie hier als Aspekte des körperlichen Vollzugs kommunikativer Handlungen angesehen werden. Sie stellen sich also im Prozess des Handelns ein. Wie man mit Blick auf Bredekamps Begriff des Bildaktes sagen kann, dass das Visuelle des »Objekts« eine »Wirkung auf das Empfinden, Denken und Handeln« entfaltet, so entstammt die »Kraft des Bildes« wie des Visuellen doch aus der »Wechselwirkung mit dem betrachtenden, berührenden und auch hö9 | Es ist selbstverständlich, dass dieses »Zeigen« natürlich eine Form der Subjektivität voraussetzt, die nicht nur sehen kann, dass die andere Person sieht, sondern das Sehen selbst handelnd ausführen kann. Der Handlungsaspekt ist also keineswegs nur eine Zuschreibung, sondern kommt also über diejenige Person herein, die das Sehen sieht – wie etwa Sie, wenn Sie die oben gezeigten Bilder anschauen. 10 | Diese Rolle des Fingerzeigs als besondere Form der Geste wird von Tomasello (2008) erläutert. 11 | Damit meine ich zum Beispiel die Fähigkeit, am Sehen einer Person, die am U-Bahngleis steht, ersehen zu können, ob sie gerade einen herannahenden Zug sieht, während man selbst die Treppen heruntersteigt und den Zug noch nicht sehen kann.
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renden Gegenüber« (Bredekamp 2010: 52). Mit anderen Worten: Es ist die körperliche Performanz (die reflexiv vom Körper wahrgenommen wird), in der die Beziehung zum Anderen wie auch zum (gemeinsamen) Gegenstand erst entsteht. Diese Entstehung verdankt sich dem Umstand, dass der Körper nicht nur eine »Außenseite« des Handelnden ist, sondern auch ein Medium der Vermittlung zu anderen Handelnden, das Bedeutung schafft, indem es wirkt – dessen Sinn die Instrumentalität also immer schon enthält. Der Körper ist deswegen die zentrale »Stabilisierung« von Gesellschaft, doch lässt sich diese Stabilisierung aber natürlich auch dadurch erweitern, dass die Wahrnehmung und die »Wirkzone« der Handlungen erweitert werden – etwa durch menschliche Experten oder durch Geräte. So können zum Beispiel in der Hopi-Gesellschaft, die keinen allgemeinen Zeitbegriff kennt, menschliche Spezialisten die Funktion der Zeitmessung durch die systematische Beobachtung des Himmels übernehmen (Knoblauch 1985). Wir nennen das in der Soziologie üblicherweise »Institutionen«, die Handlungen der Spezialisten »institutionalisierte Rollen«. In unserer Gesellschaft dagegen können technische Gerätschaften, wie etwa Beamer in Verbindung mit Computern, Software-Programmen (z. B. Powerpoint) und Dateien, die Aufgabe des Zeigens von Abbildungen übernehmen. Auch wenn ich hier keine besondere Expertise zur Fotografie beanspruchen möchte, scheint sie doch ganz unzweifelhaft zu dieser zweiten technischen Art der Stabilisierung zu gehören, die man durchaus mit Institutionen vergleichen kann (Rammert 2006). Da Schütz die »performance« als »Verrichtung« übersetzt, könnte man auch von einer technischen Vorrichtung reden (vgl. Knoblauch 2013a). Wenn wir den Fokus auf das kommunikative Handeln beibehalten, dann beobachten wir, dass der handelnde Umgang mit solchen Vorrichtungen typische Formen annimmt. In der Tat formulierte der berühmte amerikanische Fotograf Alfred Stieglitz (1980: 221) schon 1889 die These, es handle sich bei Objektiv, Kamera, Platte etc. um ein »biegsames« Instrument des Handelns – eine These, die, wie ich vernahm, die Fotografen dazu trieb, das Entwickeln selbst vorzunehmen. Dabei ist ganz deutlich, dass das Fotografieren Teil eines Handlungstrajektes ist, der sich mit den Techniken ändert; manche machen lediglich kleinere Unterschiede aus (Schärfe manuell oder automatisch einstellen), andere dagegen umfassen ganze Reihen von Handlungsschritten (Bilder nachträglich manuell entwickeln, zum Entwickeln schicken, als Chip in den Computer stecken). Diese Formen, die sich aus dem kommunikativen Handeln ergeben (wobei man die deiktische Form der meisten älteren Fotoapparate selbst einer semiotisch informierten Betrachtung unterziehen sollte), sind zu guten Teilen mit der Technik verbunden, genauer, mit der Weise, wie die Handelnden die Technik benutzen. Dabei sollte aber nicht übersehen werden, dass die Hauptsache des Fotografierens nicht nur eine materialisierte Objektivierung darstellt: z. B. die fotografische Abbildung auf Papier; sie enthält tatsächlich auch etwas, das die Fotografen in einer Weise beeinflussen können, die anfänglich als »Sinnprovinz« bezeichnet wird. Von einer Sinnprovinz kann vielleicht deswegen
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gesprochen werden, weil Handelnde die im Objektiv sichtbaren Bilder vermutlich schon imaginär vorentwerfen – vor dem Hintergrund ihres mehr oder weniger großen Wissens, wie Fotografien aussehen. (Manche Fotografen werden, wie Eberle (2013) betont, die »sehtechnisch« geschulten Vorentwürfe sogar ohne das Suchbild eines Apparats schon vornehmen können).12 Auch wenn es sich dabei gar nicht um eine abgetrennte Sinnprovinz handeln muss (etwa bei einem kleinen Kind, das glaubt, das abbilden zu können, was es sieht), so ist zumindest die motivische Auswahl ein Teil dieser Form des apparativ erweiterten Sehens, das es auch dann zum kommunikativen Handeln macht, wenn der Apparat weitgehend alles tut oder wenn es gar dem »systematischen« oder aleatorischen Willen des Apparats überlassen wird.
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A bbildungen Abb. 1: Aus der Videoaufnahme: Blickrichtung nach rechts. © Foto: Hubert Knoblauch. Abb. 2: Nachzeichnung zur deutlicheren Sichtbarkeit: Blickrichtung nach rechts. © Zeichnung (erstellt von Martin Krusche): Hubert Knoblauch. Abb. 3: Nachzeichnung: Blick auf die Kamera. © Zeichnung (erstellt von Martin Krusche): Hubert Knoblauch. Abb. 4: Nachzeichnung: Blick nach rechts auf die Tür. © Zeichnung (erstellt von Martin Krusche): Hubert Knoblauch. Abb. 5: Abbildung 3 aus der »Vogelperspektive«. © Zeichnung (erstellt von Martin Krusche): Hubert Knoblauch. Abb. 6: Nachzeichnung: Blick nach links zur herannnahenden Gruppe. © Zeichnung (erstellt von Martin Krusche): Hubert Knoblauch. Abb. 7: Nachzeichnung: Blick nach rechts Richtung Tür. © Zeichnung (erstellt von Martin Krusche): Hubert Knoblauch. Abb. 8: »Face-Formation« mit gemeinsamem Fokus. © Hubert Knoblauch.
Fotografie und Phänomenologie Zur Methodologie einer wissenssoziologischen Konstellationsanalyse Jürgen Raab
V orbemerkung Auch angesichts der seit geraumer Zeit in Entwicklung befindlichen empirischen Ansätze zeigt sich die Wissenssoziologie noch überwiegend zurückhaltend gegenüber methodischen Vorschlägen zur Auslegung fotografischer Einzelbilder und Bildfolgen. Während die Interpretation von Texten, Filmen, Videos mittels Konversationsanalyse, Gattungsanalyse und Sequenzanalyse die Bedeutung kommunikativer Einzelelemente für die Sinnkonstruktion sozialen Handelns durchaus anerkennt, ja die Feinauslegung von Handlungsdetails gar zum Gütekriterium der methodischen Vorgehensweise erhebt, erscheinen ihr Fotografien noch mehrheitlich als Epiphänomene des Sozialen. Ihren sozialen Sinn und ihre Kulturbedeutung gelte es weniger aus ihnen selbst als aus den Kontexten ihrer Produktion und Vermittlung, ihrer Rezeption und Verwendung zu erschließen. Ausgehend von einem phänomenologischen Verständnis, das Fotografien als eigenlogische, Sinn und Bedeutung konstituierende symbolische Formen visuellen Handelns begreift, entwickelt der Beitrag erste Überlegungen zu einer das Verhältnis von Sinngestalt und Kontexte gleichermaßen thematisierenden, wissenssoziologisch-hermeneutischen Konstellationsanalyse der Fotografie.
D as N oema der F otogr afie Für Roland Barthes bedeutet die Erfindung der Fotografie eine »anthropologische Revolution« in der Geschichte der Menschheit. Gibt es doch »Millionen von Bildern auf der Welt. Und plötzlich erscheint im 19. Jahrhundert, um 1822, ein neuer Typus von Bild, ein neues ikonisches Phänomen, das vollständig neu, anthropologisch neu ist« (Barthes 1990: 39, 2002: 85). Seine Auseinandersetzung mit dem revolutionären Medium zielt denn auch darauf ab, das anthropologisch Andere, Besondere, Eigentliche der
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Fotografie, ihr Noema, aufzuhellen. Gilt es doch »unbedingt (zu) wissen, was sie (die Fotografie, J. R.) ›an sich‹ war, durch welches Wesensmerkmal sie sich von der Gemeinschaft der Bilder unterschied« (Barthes 1985: 11). Hierfür gilt es eine phänomenologische Haltung einzunehmen, die Barthes durch seine berühmte Unterscheidung von studium und punctum charakterisiert. Das studium stützt sich auf das kulturelle und soziale Wissen um Formen, Figuren, Konventionen und Stile, um Mienen, Gesten, Haltungen und Handlungen, die in so gut wie jeder Fotografie wiedererkannt und demnach sprachlich benannt werden können: Sie sind objektivierbar, stiften soziale Bedeutung durch Kommunikation und ermöglichen intersubjektives Verstehen. Während sich die Feststellungen des studiums auf eine alltägliche, pragmatische und routinierte Haltung gründen, wie wir sie gegenüber den allermeisten Fotografien haben, ragen aus der Masse der Bilder einige wenige heraus, um die allein es Barthes getan ist, weil sie ihn beunruhigen, reizen, betroffen machen. In solchen Fotografien verweben und verdichten sich die Gegensätze von Präsenz und Entzug, von Unmittelbarkeit und Vermittlung, und das Wesen der Fotografie wird offenbar: »das Noema des ›Es-ist-so-gewesen‹« (ebd.: 87). Fotografien, die diese Erfahrung – blitzartig – auslösen, verfügen über ein punctum. Die Besonderheit dieser Wahrnehmung und Erfahrung besteht für Barthes darin, dass sie die Haltung eines »naiven, nichtkulturellen und ein bisschen zivilisationsfremden Menschen, der nicht aufhören kann, sich über die Fotografie zu wundern« voraussetzt (Barthes 2002: 86). Für ihre Erreichung klammert Barthes’ Phänomenologie alles soziale, historische und ethnografische Wissen um eine Fotografie ein: »Ich lasse alles Wissen, alle Kultur hinter mir, ich verzichte darauf, einen anderen Blick zu beerben« (Barthes 1985: 60). Dabei kann das die Erfahrung anstimmende und wachhaltende punctum ein einziges Detail des Abgebildeten sein oder aber das Bild ist »geradezu übersät […] von diesen empfindlichen Stellen« (ebd. 36), und schließlich »gibt es noch eine andere Expansion des punctum: wenn es paradoxerweise die ganze Photographie einnimmt und dabei doch ein ›Detail‹ bleibt« (ebd., 55). Wenn sich auch für Jean Baudrillard »das Wesen der Fotografie« nicht darin begründet, »ein Objekt oder ein Ereignis zu illustrieren, sondern sich selbst zum Ereignis zu machen« und dabei »alle anderen eliminiert« (1999: 43), so erhebt sich die Frage, was einer Fotografie zu jener machtvollen Qualität verhilft. Was verleiht einem Bild jene herausgehobene Bedeutung und Akzeptanz, die nicht nur einem anhaltenden Bildinteresse entspringt, sondern auf dem Umschlag einer geradezu bestechenden Bildwirkung? Wie können aus der Flut von Fotografien jene wenigen Bilder herausragen, die ein Ereignis, ein Objekt oder eine Situation offenbar wie in Idealgestalt symbolisch repräsentieren, und die aufgrund der ihnen zugeschriebenen magischen oder charismatischen Eigenschaften zu Ikonen überhöht und sozial verehrt werden? Zweifelsohne erhalten Fotografien Sinn und Bedeutung in und durch die kommunikativen Kontexte ihrer Herstellung, Vermittlung und Gebrauchsweisen. Etwa der Mythen um ihre Entstehung, des Versandes über
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Smartphones, oder ihre Verwendung als Merkzeichen, die andere Formen des Memorierens ersetzen. Entgegen der von Pierre Bourdieus Untersuchungen zur Soziologie der Amateurfotografie (2006) angeregten Vorstellung, das Verhältnis von »visueller Gestalt und kulturellem Gehalt« einseitig aufheben zu können, weil ein Foto »von sich aus keine Bedeutung« enthalte, sondern »seine Bedeutung, je nachdem, wie es kommunikativ verwendet wird« erst gewinne (Keppler 2002: 98), wird hier die Grundthese verfolgt, dass die Frage nach der sozialen Bedeutung einer Fotografie unauflöslich mit der Frage nach der im visuellen Handeln hergestellten, das Einzelbild konstituierenden Sichtbarkeitsordnung verbunden bleibt. Alle kommunikativen Kontexte der Herstellung und Vermittlung, der Rezeption und des Gebrauchs einer Fotografie bleiben untrennbar an die materiale Existenz und an die je spezifische Beschaffenheit der Sinn tragenden und Bedeutung generierenden Ausdrucks- und Darstellungsgestalt gekoppelt. Sofern also gilt: ohne Kontext kein »Text«, so gilt zugleich: ohne »Text« kein Kontext.
P ik tur ale E poché und fotogr afischer R ahmen Wissenssoziologische Untersuchungen richten sich auf gesellschaftliche Wissensbestände und rekonstruieren dieses Wissen über die Analyse von in Daten dokumentiertem kommunikativem Handeln. Für das deutende Verstehen der Sichtbarkeitsordnung fotografischer Ausdrucksgestalten, und für das ursächliche Erklären der sozialen Motive visuell-kommunikativen Handelns schlage ich eine Parallelaktion von Phänomenologie und Soziologie im Verfahren der wissenssoziologischen Konstellationsanalyse vor. Den Ansatzpunkt bildet die von Alfred Schütz und Thomas Luckmann formulierte Einsicht, dass »solange der ›normal‹ vergesellschaftete Mensch in der natürlichen Einstellung des täglichen Lebens verharrt und solange das gewohnheitsmäßige Handeln, das der Verständigung in der Wir-Beziehung dient, nicht gestört wird oder unterbrochen wird, [… der Mensch] nicht den Bedeutungsträger als solchen, als Wahrnehmungsgegenstand, sondern die in ihm appräsentierte Bedeutung thematisiert. […] Damit der Träger doch noch als bloßer Wahrnehmungsgegenstand erfahren wird« […] »muss sich der Mensch aus der natürlichen in eine ›unnatürliche‹, z. B. die wissenschaftliche Einstellung versetzen« (Schütz/Luckmann 2003 [1975]: 660 f. und 638).
Die Bedingung der Möglichkeit des Versetzens in die wissenschaftliche Bildanschauung, die das »Vehikel« der Kommunikation als Bedeutungsträger zu thematisieren vermag, beschreibt Bernhard Waldenfels als »pikturale Epoché« (Waldenfels 2010: 51 ff.). Diese bildspezifische Art der phänomenologischen Epoché hilft die »natürliche« Bildeinstellung und Bildanschauung zu durchbrechen, den pragmatisch, historisch, kulturell, emotional und ästhetisch voreingestellten Blick zu verfremden und so ein »sehendes Sehen« (Imdahl 1996) zu motivieren, das »außer Acht bleibt, solange man
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sich auf den epistemischen, praktischen oder kommunikativen Gebrauch von Bildzeichen und Bildmedien beschränkt« (Waldenfels 2010: 52). Allerdings hat sich die frühe Phänomenologie, wenn sie die Frage nach der Phänomenalität des Bildes stellte, mit dem Bildbewusstsein und den Appräsentationsvorgängen befasst, nicht aber mit dem Wahrnehmungsgegenstand selbst, den genuin bildlichen Sinnprozessen und dem ikonischen Eigensinn. Husserls Analyse von Albrecht Dürers Kupferstich ›Ritter, Tod und Teufel‹ gibt dafür ein anschauliches Beispiel. Auf der ersten Stufe seiner Unterscheidung beschreibt Husserl das Ding »Kupferstichblatt« als Korrelat der normalen Wahrnehmung. Die zweite Ebene beschreibt die im perzeptiven Bewusstsein aus schwarzen Linien sich ausformenden farblosen Figuren Ritter, Tod und Teufel. Drittens schließlich appräsentieren die Figuren, wie sie im Druck als Abbildungen der Wirklichkeit erscheinen, den »Ritter aus Fleisch und Blut«, der uns in seinem »Schattendasein« gegenwärtig ist (vgl. Husserl 1992: 252). Alfred Schütz wird das Beispiel aufgreifen und Husserls drei Ebenen der Appräsentationsbeziehung um eine vierte erweitern. Denn, so Schütz, »wir können und müssen den Appräsentationsvorgang weiter verfolgen. Diese drei Gestalten – der Ritter, der Tod und der Teufel – […] appräsentieren ihrerseits auf einer gleichsam übergeordneten Ebene einen höheren Sinnzusammenhang. Es ist vor allem dieser Sinnzusammenhang, den Dürer dem Betrachter vermitteln wollte: der Ritter zwischen Tod und Teufel hat uns etwas über die Situation des Menschen zu sagen. Das ist die symbolische Appräsentation.« (Schütz 2003 [1955]: 134)
Für die hier verfolgte Argumentation ist neben der symboltheoretischen Erweiterung vor allem Schütz’ Hinweis von Bedeutung, dass für die Beschreibung einer Appräsentationsbeziehung, also für den Zusammenhang zwischen den vier genannten Ebenen, eine jede dieser Ordnungen als der allen anderen Ordnungen zugrundeliegende »Urtyp« erachtet werden kann. Denn »während wir uns […] einem dieser Schemata als grundlegender Ordnung zuwenden, scheinen die anderen Schemata durch Beliebigkeit, Zufälligkeit, ja durch einen Mangel an Ordnung oder ein Fehlen derselben gekennzeichnet« (Schütz 2003 [1955]: 134). Schütz folgert, dass obschon in lebensweltlicher Einstellung auf der untersten Stufe immer ein unmittelbar Gegebenes, ein Wahrnehmungsgegenstand als Träger einer Verweisung stehen muss, dieser Träger insbesondere in Fällen, in denen dem Abgebildeten eine besondere Bedeutung zugeschrieben wird, auch in wissenschaftlicher Einstellung aus der Anschauung entschwindet und sich der Analyse entzieht (Schütz/Luckmann 2003 [1975]: 638; Schütz 2003 [1955]: 169 f.). Wird jedoch die »Physis der Bilder« (Schwarte 2011), die Ausdrucksgestalt selbst, zum »Urtyp« der Ordnung einer Appräsentationsbeziehung genommen, stellt sich die Frage, wie sich diese Ordnung – in der Schütz’schen Terminologie das »Appräsentationsschema« – im Falle der Fotografie ausnimmt. Kurz, was lässt sich über das Appräsentationsschema der Fotografie, über den »Urtyp« der Ordnung des fotografischen Bildes sagen?
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Für diese Bestimmung tut die Wissenssoziologie gut daran, ihren schon früh durch Karl Mannheim über Erwin Panofsky mit den Kunstwissenschaften angestoßenen Dialog wieder aufzugreifen. Dabei können wissenssoziologische Zugänge insbesondere auf jene bildphänomenologischen und bildhermeneutischen Zugänge rekurrieren, die von Konrad Fiedler über Max Imdahl bis zu Gottfried Boehm einen verstehenden Zugang zum Bild präferieren und das Problem der ikonischen Konstitution von Sinn und Bedeutung diskutieren. »Was uns als Bild begegnet«, so Gottfried Boehm, »beruht auf einem einzigen Grundkontrast, dem zwischen einer überschaubaren Gesamtfläche und allem, was sie an Binnenereignissen einschließt. Das Verhältnis zwischen dem anschaulichen Ganzen und dem, was es an Einzelbestimmungen (der Farbe, der Form, der Figur etc.) beinhaltet, wurde vom Künstler auf irgendeine Weise optimiert.« (Boehm 1994: 29 f.)
Die von Boehm genannte »Überschaubarkeit« ist für die Bestimmung der Sinn und Bedeutung tragenden Fläche eines Bildträgers fundamental. Bilder sind demnach überschaubare und damit notwendigerweise geschlossene Sinngestalten. Sie bedürfen einer Grenze, die häufig als Rahmen gesondert hervorgehoben und markiert ist. In der Fotografie ist dieser Rahmen technisch vorgegeben und setzt für die Herstellung und Betrachtung von Bildern jenen Ausschnitt, für den Elemente und Details der außermedialen Wirklichkeit ausgewählt und so aufeinander hin konzentriert und miteinander verklammert werden, dass sich Sinn und Bedeutung generierende Zusammenhänge zwischen eben diesen Elementen und Details kohärent und prägnant eröffnen (vgl. Oevermann 2009: 174 f.). Das für die Produktion und Rezeption von Fotografien technisch-medial voreingerichtete Rahmenrechteck stellt somit den »Urtyp« der Ordnung des fotografischen Bildes dar. Fotografische Rahmen sind die objektiv gesetzten und damit bereits für sich mit sozialem Sinn besetzten, statischen Kontexte, von denen aus und auf die hin sich alle weiteren Sinn- und Bedeutungszusammenhänge über die konkrete Handlungs- und Darstellungsprozesse der Fotografinnen und Fotografen dynamisch, situativ und kreativ entwickeln können. Nur durch die Auf bringung eines solchen, vermittels Rahmung gegebenen Grundkontrastes, der die »ikonische Differenz« setzt, kann sich innerhalb der Sinngrenze jenes von Boehm angeführte »Binnenereignis« als Sichtbarkeitsordnung entwickeln und erweisen. Entsprechend formuliert denn auch Niklas Luhmann: »Die anfängliche Unterscheidung setzt das, was sie unterscheidet und bezeichnet, gegen den unmarked space der Welt. […] Nur innerhalb dieser Primärform kann das Bild entstehen« (Luhmann 1995: 58 f.). Erst die Rahmung macht es also möglich, dass ein Sehereignis, wie Boehm notiert, »auf irgendeine Weise optimiert« werden kann, und Bildschaffende in die Lage kommen, die simultan in der Rahmenvorgabe zu versammelnden Elemente und sinntragenden Details gemäß ihren Handlungsmotiven und Seherwartungen zu spezifischen Sinn- und Bedeutungszusammenhängen bilden-
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den Gliederungen und Formen, Gruppierungen und Gestalten, mithin zu kohärenten und prägnanten Konstellationen zu arrangieren, also Einordnungen und Anordnungen, Überordnungen und Unterordnungen zu organisieren (vgl. Waldenfels 1998: 109). Erving Goffmans ›Rahmen-Analyse‹ mit ihrer Unterscheidung von »Rahmen« (primary framework) und »Rahmung« (framing) bildet denn auch den erkenntnistheoretischen und methodologischen Hauptbezugspunkt der wissenssoziologischen Konstellationsanalyse (vgl. Goffman 1977; Raab 2012).
D ie M e tapher der K onstell ation Am Ende des 19. Jahrhunderts steht die Metapher der Konstellation für die Umstellung geisteswissenschaftlichen Denkens von rein statischen, zentrierten und systemisch-geschlossenen auf dynamische, dezentrierte und relational-kontingente Ordnungsvorstellungen (vgl. Albrecht 2010). Im Unterschied zu Alternativbegriffen wie Komposition, Korrelation oder Konfiguration betont die Konstellation ein konstitutives Zusammenspiel von Visualität und Räumlichkeit, Gleichzeitigkeit und Dynamik. In Astrologie und Astronomie bezeichnen Konstellationen denn auch visuelle Phänomene, bei denen eine Anzahl zu einem besonderen Zeitpunkt zugleich gegebener Objekte von einem bestimmten Beobachterstandpunkt aus als Bedeutungs- und Wirkungszusammenhang aufgefasst werden. Dabei eröffnet das für eine Konstellation unbedingte Zugleich, das zunächst differente und disparate Elemente, Faktoren und Positionen raumzeitlich feststellt, die Möglichkeit, dass potentiell jeder Beitrag unmittelbar mit einem anderen in Beziehung treten kann, wodurch sich mehrstellige und damit immer auch mehrdeutige Beziehungsstrukturen ergeben. Ganz in diesem Verständnis wird Karl Mannheim seine Konstellationsanalyse für die wissenssoziologisch-zeitdiagnostische Bestimmung von komplexen, hoch dynamischen Beziehungsgeflechten zwischen gesellschaftlichen Einzelstandorten vorstellen. Allerdings will er »nicht das historisch-soziale Werden der Standorte, von denen aus wir heute die Welt sehen können« erfassen, sondern zielt darauf ab, »in einem willkürlich gewählten Querschnitte der Gegenwartslage die Standorte gleichsam in ihrem Gleichzeitigsein zu fixieren«, um die Spezifik einer gesellschaftlichen Weltanschauung freizulegen (Mannheim 1964a: 327, Hervorhebungen im Original). Auch Walter Benjamin verwendet die Metapher auf das Zusammentreffen und Wechselwirken von disparaten, aber zugleich präsenten Elementen, und betont den fixierenden, zugleich aber dynamischen und damit für die Erkenntnis höchst produktiven Charakter der Metapher. Doch Benjamin erweitert den Begriff um eine symbolische Dimension, wenn er von Konstellationen als »dialektischen Bildern« spricht, die zuvor Getrenntes, Unabhängiges oder Heterogenes zu neuen Ordnungen figurieren und verdichten, und damit ihren Konstrukteuren andere und neue Perspektiven eröffnen:
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Allerdings finden sich bei Benjamin keinerlei Ausführungen darüber, ob dialektische Bilder exklusiv an die Sprache gebunden sind. Was offenbar nicht der Fall ist, wenn er in seinen berühmten Reflexionen über die Fotografie in den Aufnahmen von Niépce, Nadar, Hill oder Sander auf eben solche Dialektiken stößt, und sich die Metapher der »durch Spannungen gesättigten Konstellation« mit der viel prominenteren Metapher der Aura berührt (ebd.: 595; Benjamin 1991b [1931]). Vilém Flusser wird Benjamins Auffassung folgen, dass solche Fotografien durch ein besonderes Verhältnis von Raum und Zeit ausgezeichnet sind: »Diese dem Bild eigene Raumzeit ist nichts anderes als die Welt der Magie, eine Welt, in der sich alles wiederholt und in der alles an einem bedeutungsvollen Kontext teilnimmt« (Flusser 1983: 9) – ein »Bildkonzept, das sich zur Verehrung eignet« (Belting 1991: 41).
G rundzüge der wissenssoziologischen K onstell ationsanalyse fotogr afischer B ilder Die wissenssoziologische Konstellationsanalyse stellt sich die Aufgabe, die Kohärenz- und Prägnanzbildungen in fotografischen Einzelbildern methodisch kontrolliert zu rekonstruieren, um über die Bauform des konkreten Handlungsproduktes zu Aussagen über den sozialen Sinn eines visuellen Handelns und das mit ihm vermittelte Bildwissen zu gelangen. Analytisch arbeitet sie hierfür auf drei Ebenen, die nicht formalistisch im Sinne einer Interpretationsmechanik missverstanden werden dürfen. Denn sie legen Interpreten keinerlei zwingend abzuarbeitende Schrittfolgen auf, sondern wollen, indem sie verschiedene, sich wechselseitig erhellende Zugänge und Perspektiven eröffnen und offen halten, zur Entwicklung von im Analyseprozess sich zusehends plausibilisierenden, absichernden und erhärtenden Aussagen über den Fall verhelfen.
Rekonstruktion der Sichtbarkeitsordnung im Einzelbild Als formale, ein jedes technische Bild fundamental bedingende und daher erste Sinngrenze bildet der Rahmen eines Bildes zugleich den ersten »natürlichen« Ort der wissenssoziologischen Konstellationsanalyse. Dabei verharrt die Interpretation selbstverständlich nicht auf dem materiellen Rahmen »an sich«, sondern konzentriert sich auf die Verhältnisse und Spannungen zwischen den für die Bestimmung einer Bildfläche elemen-
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taren »Randbedingungen« einerseits und den in Wechselwirkung mit ihnen stehenden Sinn und Bedeutung konstituierenden visuellen Ordnungen auf der Bildfläche andererseits. In einem durch einen Rahmen definierten Bildraum kann ein Zentrum geschaffen und um diesen Bedeutungskern ein Randgebiet mehr oder weniger bedeutsamer Bildelemente anlegt werden. Aus diesem Grund unterscheidet Rudolf Arnheim mit »Zentrizität« und »Exzentrizität« denn auch zwei stets gemeinsam, aber in unterschiedlichen Kombinationen auftretende und für die Dynamik innerhalb einer Bildkomposition eigentlich verantwortliche Ordnungssysteme. »Zentrizität« meint die relativ einfachen, aber bereits dynamischen Beziehungen zwischen einem Kompositionszentrum und seiner Peripherie, wobei das Zentrum »einfach ein Punkt sein, […] aber auch jede andere Form annehmen oder sogar aus einer Reihe von Formen bestehen« kann (Arnheim 1996: 27). Das mit »Exzentrizität« bezeichnete visuelle Ordnungssystem erfasst die sehr viel komplexeren Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Zentren, zusammen mit den vielfältigen anziehenden und abstoßenden Spannungen zu ihren jeweiligen Peripherien und zu anderen Zentrum-Peripherie-Konstellationen im Bild. Ein wichtiges methodisches Hilfsmittel zur Entwicklung von Lesarten über eine Sichtbarkeitsordnung und für das zu deren Kontrolle und Korrektur notwendige Hervorkehren von Widersprüchen, ist die von Max Imdahl vorgeschlagene Rekonstruktion der planimetrischen und perspektivischen Bildordnung. Ihr Ergebnis, das als Hypothese formulierte »Feldliniensystem«, beschreibt die kompositorischen Hauptlinien eines Bildauf baus, erfasst konvergierende und divergierende Blickführungen, und hebt über die Analyse dieser Sachverhalte und Prozesse die in der sinnlichen Wahrnehmung von Einzelbildern prinzipiell angelegte Doppelaspektivität von zeitlicher Simultaneität und Sukzession auf (vgl. Imdahl 1996: 447 ff.). Dergestalt werden jene »zentrischen« Bedeutungskerne und Bedeutungsränder eines bildlich verfassten Wirklichkeitsausschnitts zunächst formal, also zuallererst in gezielter Einklammerung der figürlichgegenständlichen Inhalte einer Darstellung und damit in größtmöglicher Distanz zum Alltagssehen, intersubjektiv nachvollziehbar bestimmt, um von ihnen ausgehend und auf sie hin im zirkulären Verfahren die inneren, genuin ikonischen Strukturzusammenhänge eines Einzelbildes zu analysieren. Roswitha Breckner erschließt die Bedeutungskerne, die sie »Segmente« nennt, in der von ihr vorgeschlagene Segmentanalyse, primär inhaltlich, um sie anschließend in Reflexion auf ihren subjektiven Wahrnehmungsprozess auf mögliche Sinnbezüge interpretativ zu befragen (vgl. Breckner 2010). Auch die wissenssoziologische Konstellationsanalyse bewegt sich zwischen Form und Inhalt. Im Unterschied zur Segmentanalyse setzt sie jedoch die objektive Form primär. Denn von der objektiven Form ausgehend, werden die subjektiven Bedeutungen ausgeformt und ins Bild gesetzt. Dabei fragt die wissenssoziologische Konstellationsanalyse, welche näher zu bestimmenden Inhalte wo und wie in die Primärform des Rechteckrahmens eingelassen sind, und welche – zunächst wieder formal,
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dann aber sofort inhaltlich – von ihnen ableitbaren »exzentrischen« Beziehungsverhältnisse in Gestalt von Formkorrelationen, Richtungstendenzen und Motivverdichtungen beschrieben werden können. Eine dergestalt rekonstruierte Konstellation beschreibt dann die Konstruktion eines Raumes, in dem Bedeutungen und Bedeutungskomplexe einander Bedeutung verleihen und von diesen wiederum ihre eigene Bedeutung gewinnen. Mit dem Primat der Form löst die wissenssoziologische Konstellationsanalyse die methodischen Grundprinzipien der hermeneutischen Sozial- und Medienforschung ein. Sie erzeugt größtmögliche Distanz zum Alltagssehen und Alltagsverstehen von Bildern, das sich primär auf die Inhalte einer Darstellung richtet. Damit stellt sie Offenheit her für alternative Einsichten in das vermeintlich schon Verstandene oder gar für gewiss und selbstverständlich Genommene. Und sie hält damit zugleich den Zweifel gegenüber allen – vor allem auch den eigenen – Deutungsangeboten und Erklärungen wach. Auch Max Imdahls hermeneutischer Ansatz der Ikonik verfolgt das Primat der Form, denn während sich das »wiedererkennende Sehen« auf den inhaltlichen Bildsinn bezieht und veranschaulicht, was gemeint und gezeigt ist, richtet sich das »sehende Sehen« auf den formalen Bildsinn: auf die Art und Weise wie etwas dargestellt ist und mithin auf die Ordnung des Sichtbaren. Der sofortige interpretative Aufeinanderbezug von Form und Inhalt reduziert dann plausibel die Vielzahl an möglichen, sich in den Hilfslinienkonstruktionen ausdrückenden Lesarten. Noch vor der Berücksichtigung von Kontexten jenseits der Grenzen des Einzelbildes gelangt die wissenssoziologische Konstellationsanalyse so zu einer ersten, noch vagen Strukturhypothese über das in der Komposition eines Einzelbildes dokumentierte visuelle Handeln. Da Einzelbilder jedoch keine kontextlosen Gebilde sind, müssen sie in Abhängigkeit zu ihren unmittelbaren und mittelbaren Bildkontexten sowie in Verbindung mit den Kontexten ihrer sozialen Handlungs- und Verwendungspraktiken interpretiert werden.
Unmittelbare und mittelbare Bildkontexte Bewegte sich die Analyse der Sichtbarkeitsordnung noch streng innerhalb des durch den Rahmen begrenzten Bildausschnittes, überschreitet sie diesen nun in zwei Richtungen. Auf der ersten Teilebene umfasst der Bildkontext jenes kommunikative Arrangement, das ein Einzelbild unmittelbar mit Deutungshinweisen oder Direktiven versieht: Bildtitel, Bildunterschriften und allgemein die ein Bild direkt umlagernden Texte, Tabellen, Grafiken usw., genauso wie weitere, gegebenenfalls zur Veranschaulichung von Abläufen, Wandlungen und Variationen oder schlichtweg zu Vergleichsordnungen arrangierte Bilder oder Bildfolgen. Seine Grenze erreicht der unmittelbare Bildkontext dort, wo ein Einzelbild mit anderen kommunikativen Elementen zu einer wiederum geschlossenen Sinneinheit verklammert und auf eine umgrenzte Bedeutung hin organisiert wird, beispielsweise zu Plakaten oder Flyern, Zeitungen, Illustrierten und Büchern, Katalogen und Alben, Archiven, Internetseitenportalen usw. An diesen Stellen ist es
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dann auch möglich, mit der Sequenzanalyse von Texten im engeren Sinn zu arbeiten, und diese durch komparativ-kontrastive Analysen von Bild und Text, Bild und Bildern zu ergänzen und zu erweitern. Die zweite Teilebene des Bildkontextes schließt jene individuellen und gesellschaftlichen Wissensbestände ein, die eine Interpretation jenseits der Grenzen des Bildrahmens und des unmittelbaren Kontexts an das gegebene Einzelbild herantragen kann. Zu diesem mittelbaren Kontext gehören subjektive Bilderfahrungen und Sehgewohnheiten mit den durch sie angeregten Appräsentationen und Assoziationen ebenso, wie das Bezüge, Vergleiche und Kontraste zu anderen Bilddarstellungen eröffnende, über unterschiedliche Bildungsprozesse angeeignete, kulturelle Wissen um Stile und Sujets, Symbole und Gattungen, Bildprogramme und Bildtraditionen (vgl. Müller 2012). Auf dieser Teilebene bedient sich die Interpretation mithin jenem Zusammenspiel aus »wiedererkennendem Sehen« und Kontextwissen, auf das sich Erwin Panofskys ikonografisch-ikonologische Analyse stützen. Im Falle der Fotografie gehören zu den mittelbaren Bildkontexten zudem die Selbstaussagen von Fotografen und Informationen über ihre Biografie, ihre Themen, ihr Werk und dessen Rezeption, sowie Kenntnisse über den Entstehungskontext eines Bildes und über seine Karriere an verschiedenen Publikationsorten.
Sozialmilieu und Handlungshorizont Die Frage nach der Interpretation des Wie eines Bildhandelns ist zugleich immer eingebunden in die Frage nach seinem Warum. Warum wurde genau diese Darstellungsoption als Antwort auf ein kommunikatives Problem gewählt und keine andere, auch noch mögliche? Die auf dem bisherigen Wege entwickelte, korrigierte und ergänzte Strukturhypothese erfährt durch ihre Anlegung, Überprüfung und Korrektur an jenen Kontext eine nochmalige Erweiterung um die Frage der gesellschaftlichen Bedingungen der Möglichkeit eines spezifischen visuellen Handelns. In diesem Kontext formen sich die Beziehungen des einzelnen zu seiner Umgebung und zu seiner sozialen Mitwelt. Aus der Kultur-, Gesellschafts- und Gruppenzugehörigkeit heraus – und auf diese hin – werden jene kommunikativen Darstellungsformen, Arrangements und Inszenierungen entworfen, ausgestaltet und vorgeführt, die, im Ringen um soziale Akzeptanz, die Kommunikationserwartungen eines Zielpublikums zu bedienen versuchen. Damit wirkt der Handlungskontext zugleich als Auslöser, Gegenstand, Ziel und Resultat menschlicher Erfahrungen, Äußerungen und Handlungen, und in ihm überkreuzen sich die Ästhetik und die Pragmatik visuellen Handelns. Innerhalb der Grenzen ihres Handlungskontexts bilden soziale Milieus ihre eigenen medialen Typisierungen aus und entwickeln Sehordnungen mit spezifischen Sehgewohnheiten und Seherwartungen, die sie dann wiederum medial für die eigene Sehgemeinschaft reproduzieren (vgl. Raab 2008; Müller/Raab 2014). Doch der wissenssoziologischen Konstellationsanalyse kann es nicht darum getan sein, allein die Reproduktionsmechanismen und die Schließungsprozesse eines Ha-
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bitus und damit die Trägheit und reine Faktizität einer Milieuwelt zu beschreiben (vgl. Mannheim 1964b; Bourdieu et al. 2006; Bohnsack 2009). Vielmehr müssen sich ihre Untersuchungen auch und gerade auf die Experimentierfelder visuellen Handelns und auf die in ihnen möglichen Grenzgänge und Grenzüberschreitungen richten: auf jene Handlungshorizonte von Sozialmilieus, an denen sich die Dynamiken und Potentiale für Neuorientierungen und Strukturumbildungen des Handelns ebenso auftun, wie für die Öffnungen, Anpassungen und Wandlungen von sozialen Milieus selbst sowie von soziokulturellen Ordnungen insgesamt.
S chlussbemerkung Die Rekonstruktionsarbeit der wissenssoziologischen Konstellationsanalyse erstreckt sich von der Feinanalyse der inneren Bauformen von Fotografien – als Sinn und Bedeutung konstituierenden symbolischen Form visuellen Handelns – über die Untersuchung der unmittelbaren und mittelbaren Rahmung dieser Symbole in ihren jeweiligen kommunikativen Kontexten bis hin zur Beschreibung der kulturellen Umwelt und sozialen Situation jener, die diese Symbole herstellen und verwenden, vermitteln und rezipieren. Dabei werden die Notwendigkeit und der Anspruch, mit der Konstellationsanalyse bei den Bedingungen der konkreten Sichtbarkeitsordnung einzusetzen und damit an der Ausdrucksgestalt selbst nach Antworten auf die Frage zu suchen, wie einzelne Elemente und Details eines visuellen Handelns an ihrer spezifischen Stelle innerhalb eines Kommunikationsgeschehens dazu beitragen, einem Handlungs-, Darstellungs- oder Kommunikationszusammenhang Sinn und Bedeutung zu verleihen, zum einen durch die Entwicklungen der Digitalfotografie und der interaktiven Bildkommunikation, und zum anderen durch den Wandel der Fotografie vom Medium der Dokumentation und Erinnerung zum Medium der Alltagskommunikation, zusätzlich legitimiert. Denn die Digitalfotografie bietet ja nicht nur die Chance, zu jeder Zeit und an jedem Ort nahezu beliebig viele Aufnahmen anzufertigen und diese sogleich beinahe unbegrenzt zu verbreiten. Sie erlaubt es auch, jedes ein Einzelbild mitgenerierende Detail (Pixel) ganz nach Belieben in Farbe und Helligkeit zu modulieren. Wird das Potential nur geringfügig genutzt, gehen die Eingriffe kaum über traditionelle Retuschen hinaus. Umfassend eingesetzt, vermischen sich grafische und fotografische Ästhetiken, und die Fotografie mutiert zu einer bildnerischen Technik wie dem Zeichnen oder Malen. Die Möglichkeiten zur überhöhten formalästhetischen Pointierung und Perfektionierung steigert die in Fotografien zur Vereindeutigung und Intensivierung der Bildkommunikation bereits realisierten Prägnanz- und Kohärenzbildungen zu hyperprägnanten und hyperkohärenten Konstruktionen, die erst an dem von Roland Barthes beschriebenen Noema der Fotografie an ihre Grenzen stoßen.
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Versuch über eine Rezeptionsästhetik der Fotografie Konstruktion und Konstitution des fotografischen Bildes Jochen Dreher
P roblemstellung Wohl kaum ein modernes Medium steht derart in einem Spannungsverhältnis zwischen realer Welt und konstruierter Wirklichkeit wie die Fotografie. Als besonderes Reflexionsmedium handelt es sich bei ihr um eine spezifische Form kultureller Praxis und um eine Kulturtechnik, die erlernt werden muss und eigenen Regeln gehorcht. Fotografien werden als »eigentümliche Bilder« verstanden, »deren besondere Qualität darin besteht, als Beobachtung der Beobachtung nicht die Wirklichkeit zu verfehlen, sondern gerade deren Konstruktion in den Blick zu nehmen: durch die Beobachtung der Beobachtung werden unterschiedliche Formen deutlich, wie Wirklichkeit vor- und dargestellt wird« (Stiegler 2009: 9). Aus phänomenologischer und soziologischer Perspektive betrachten wir Fotografien als alltägliche und ästhetische Artefakte, deren Funktionsweise in einem Wirkungszusammenhang von Produktion – einhergehend mit einer spezifischen Sinnsetzung – und Rezeption – einhergehend mit einer entsprechenden Sinndeutung – analysiert werden muss. Dementsprechend wird davon ausgegangen, dass für ein Verständnis des Mediums Fotografie die Triade von Fotograf 1 als Produzent des Bildes, der Fotografie als hergestelltem Artefakt und dem Rezipienten als Interpret des fotografischen Bildes ins Auge gefasst werden muss. Ich vertrete die Argumentation, dass eine Rezeptionsästhetik der Fotografie nicht unabhängig von einer Produktionsästhetik verstanden werden kann, wobei divergierende Positionen integriert werden, die eine produktionsästhetische (Vilém Flusser) oder eine rezeptionsästhetische (Roland Barthes) Sichtweise favorisieren.
1 | Wenn im Rahmen dieser Überlegungen das generative Maskulinum verwendet wird, dann aus ganz pragmatischen Gründen, die eine Vereinfachung der Argumentationsführung erlauben. Wenn also vom Fotografen oder Rezipienten die Rede ist, so sind grundsätzlich FotografInnen und RezipientInnen gemeint.
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Jochen Dreher
F otogr afie im G renzbereich von P hänomenologie und S oziologie Als Bildmedium nimmt die Fotografie eine Sonderstellung im Hinblick auf die reine Sichtbarkeit des Bildes ein: Sie ist zwar so starr und unbewegt wie die eines Tafelbildes und so betrachtet ein traditionelles Medium, mit dem Originale geschaffen werden. Andererseits sind die Schnelligkeit und Leichtigkeit, mit der das Foto herstellbar ist, und seine unbegrenzte Reproduzierbarkeit von besonderer Bedeutung: Sie ermöglichen eine isolierte Konzentration auf die reine Sichtbarkeit des fotografischen Bildes. Fotografien fixieren Wahrnehmungen, Lebensäußerungen, Handlungen und soziale Situationen in der visuell höchst erreichbaren Verdichtung von Raum und Zeit (Raab 2012: 122). Für die reine Sichtbarkeit des Bildes ist sein Objekt genauso unwichtig wie seine Sichtweise. Dadurch dass Fotografien kontinuierlich reproduzierbar sind, wird die Sichtbarkeit jedes Bildes verfügbar und verabsolutierbar. So kommt die Sonderstellung der Fotografie zustande, die die isolierte und starre reine Sichtbarkeit multipliziert (Wiesing 2008: 181). Wie schon Walter Benjamin in seiner Schrift über ›Das Kunstwerk im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit‹ argumentierte, verändert die Fotografie »rückwirkend« den ästhetischen Status der Originale, ohne dass diese sich dadurch in irgendeiner Form wandeln würden (Benjamin 1977 [1936]). Bei einem originalen Gemälde wurde die reine Sichtbarkeit in subjektiver Weise entworfen, die dann an einen einzigen Träger gebunden ist. Durch die fotografische Reproduktion kann das Bild massenhaft zur selben Zeit an den unterschiedlichsten Orten präsentiert werden. Die massenhafte Reproduktion von Fotos hat zur Folge, dass immer mehr Bilder ausschließlich für die Sichtbarkeitsgestaltung genutzt werden. Im Zeitalter der digitalen Fotografie wird dies besonders deutlich, da eine Vielzahl von Bildern auch von Laien mit unterschiedlichen Apparaten bzw. Smartphones kontinuierlich produziert werden können. Durch die Fotografie kann die Sichtbarkeit einer Sache maschinell isoliert und vervielfältigt werden – wenn die Fotografie ihr eigenes Medium darstellt, werden durch sie nicht mehr Sichtweisen, sondern reine Sichtbarkeiten sichtbar (Wiesing 2008: 182). Hier könnte man einerseits »Knipserbilder« nennen, die reine Sichtbarkeiten transportieren; auf der anderen Seite der Skala befinden sich dann Kunstfotografien, die durchaus in der Lage sind, Sichtweisen zu vermitteln. Häufig wird argumentiert, dass in den »Knipserbildern« die Intention des Fotografen verloren geht oder sich als irrelevant erweist; für die Kunstfotografien ist diese Intention dann entscheidend. Es soll argumentiert werden, dass für beide Varianten im Hinblick auf ein Verstehen des fotografischen Bildes die triadische Beziehung zwischen dem Fotografen als Produzenten des Bildes, dem Foto und dem Rezipienten zentral ist (Dreher/Barber 2013: 14 f.). In diesem Sinne kann eine Rezeptionsästhetik der Fotografie entwickelt werden, die im Grenzbereich von Phänomenologie und Soziologie erläutert werden soll. Die Fotografie als soziales Produkt muss immer mit einem Fokus betrachtet werden, der sich auf die Beziehung von Sinnset-
Versuch über eine Rezeptionsästhetik der Fotografie
zung und Sinndeutung richtet. Diese Sichtweise richtet sich partiell gegen die Auffassung von Roland Barthes, für den der operator als »Autor« des fotografischen Bildes aufgegeben wird. Wenn von einer Konstruktion und Konstitution (vgl. Luckmann 1999) des fotografischen Bildes die Rede ist, so wird ausgehend vom sozialwissenschaftlichen Konstruktionsbegriff auf die konkrete, sozio-historisch festgelegte ästhetische Produktion und Rezeption des fotografischen Bildes Bezug genommen. Es geht diesbezüglich um die jeweilige Ausprägung der Fotografie in einem spezifischen sozio-historischen Kontext. Im Hinblick auf die phänomenologischen Überlegungen zur Konstitution der Fotografie wird die Beschreibung der Grundlagen von Sinnsetzung und Sinndeutung ins Auge gefasst, die im subjektiven Bewusstsein der Individuen festgelegt sind. Welche Konstitutionsleistungen liegen im Hinblick auf die Sinnsetzung und Sinndeutung dem fotografischen Bild zugrunde? Erfolgt eine Synchronisierung der durée, der inneren Dauer von Fotograf und Rezipient? Wie kann die Abstimmung der Sinnkonstitution zwischen Fotograf und Rezipienten erklärt werden? Wie können wir die konstitutiven und konstruktiven Elemente der Fotografie voneinander abgrenzen, insbesondere wenn operator und spectator (Rezipient) berücksichtigt werden? Welche Leistung muss speziell der spectator erbringen, wenn die Fotografie ihre Wirkung erzielen soll?
R ezep tionsästhe tik der F otogr afie Die Sinnhaftigkeit des fotografischen Bildes entsteht in der triadischen Beziehung zwischen der Intention des Fotografen als Autor, der Fotografie als ästhetischem Produkt dieser Intention sowie dem Rezipienten, dem Bildbetrachter. Zumeist wird durch ein Foto eine Szene aus der »realen Welt« präsentiert, die als eigenständiges Objekt interpretiert werden kann. Für die Bildbetrachtung müssen sich die Rezipienten nicht um die Intentionen und Sinnsetzungen des Fotografen kümmern; sie können jedoch nichts erkennen, was der Fotograf nicht in das Bild mit aufgenommen hat. Durch die Wahl der Thematik, des Gegenstands, der Perspektive, des Rahmens, der Zeitlichkeit, der Farbgebung bzw. der Verwendung von Schwarz/Weiß produziert der Fotograf ein Bild auf spezifische Weise, wobei bestimmte Aspekte der »realen Szene« exkludiert wurden (Eberle 2014b: 146). Die selektive und gestalterische Leistung des Bildproduzenten fließt damit dezidiert in die konkrete Ausprägung der Fotografie mit ein, wodurch eine spezifische Sinngebung vom Autor in deren Sichtbarkeit und Sichtweise mit aufgenommen wird. Die Verbindung zwischen Sinngebung und Sinndeutung in der fotografischen Kommunikation wird ausgehend von der phänomenologisch begründeten Handlungstheorie von Alfred Schütz untersucht, die speziell dafür geeignet ist, zwischen einer »Produktionsästhetik« und einer »Rezeptionsästhetik« zu vermitteln (Dreher/Barber 2013: 29). Mit Bezug auf
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die Kunstfotografie wird deutlich, welche Rolle dem Kunstproduzierenden im Hinblick auf die Sinngebung ausgehend von einem spezifischen Stil und einer besonderen Technik zukommt. Fotos als Objektivationen können von ihrem Produzenten unabhängig und unkontrolliert vervielfältigt und interpretiert werden (Eberle 2014b: 146). In diesem Sinne erweist es sich auch als problematisch, den Rückgriff auf die Sinngebung durch den Produzenten vorzunehmen, wie im Hinblick auf Roland Barthes’ (1985) Reflexionen in der Hellen Kammer noch verdeutlicht wird. Barthes zufolge ist auch die gestalterische Leistung des Fotografen ausgehend von einer produktionsästhetischen Perspektive hinfällig und für die Wahrnehmung und Deutung der Fotografie irrelevant. Fotografien sind soziale Produkte, die in unterschiedlichen Ausprägungen zwischen Sichtbarkeit und Sichtweise – sozusagen zwischen »Knipserbild« und Kunstfotografie – als ästhetische betrachtet werden müssen. Sie funktionieren in unterschiedlichen Abstufungen nach den »universellen Sinngesetzen der Kunst« (Schütz 2013 [1981]: 53 ff.; Srubar 2007: 74). Nach diesen Gesetzen werden individuelle Erlebnisse in die unterschiedlichen intersubjektiven Realitätskonstrukte der Kunstform Fotografie transformiert. Deshalb kann argumentiert werden, dass die Fotografie immer mit Bezug auf ihre besonderen Beziehungen zum Du-Problem untersucht werden muss, in die das »Kunstwerk« sowohl seiner Absicht als auch seiner Wirkung nach eingebettet ist (Schütz 1981 [1924]: 297). In seiner Stofflichkeit ist das fotografische Bild immer einer doppelten Sinndeutung zugänglich. Eine Deutung bezieht die Objektivationen der konkreten Fotografien auf die subjektive Sinngebung eines Erzeugers. Die andere Sinndeutung geht aus vom objektiven Sinngehalt der Fotografie, auf den sich der Betrachter und Rezipient bezieht, wodurch die Sinndeutung in gewisser Hinsicht begrenzt wird. Im Hinblick auf die Kunstfotografie und die Extremform der Abstrakten Fotografie ist nicht nur die kommunikative Beziehung von Fotograf, Fotografie und Rezeption relevant, sondern auch die Konstruktion außeralltäglicher mannigfaltiger Wirklichkeiten, die sich von der Wirklichkeit der Alltagskommunikation unterscheiden (Dreher/Barber 2013: 19). Gezielt können außeralltägliche Sichtweisen ästhetisierend in das fotografische Bild eingebracht werden, indem alltägliche Motive und Relevanzen außer Kraft gesetzt werden. »Kunst ist unter anderem die bewusste Umdeutung der Relevanzstruktur der Lebenswelt. Das Imaginäre ist nicht an die Grenzen gebunden, die im täglichen Leben durch die Forderung der Durchsetzbarkeit gesteckt sind« (Schütz 2013 [1948]: 146 f.). Das fotografische Handeln findet in der pragmatischen Wirkwelt des Alltags statt. Der spezifische fotografische Blick des Kunstschaffenden, der die fotografische Einstellung einnimmt (Eberle 2014a: 314 f.), verfügt über einen Bezug auf außeralltägliche Ideen, die mit dem Foto als Kunstprodukt zum Ausdruck gebracht werden sollen. Von der Fotografie wird so eine ästhetische Modifikation des Alltagslebens vorgenommen, die die hinter dem Foto verborgenen subjektiven Erfahrungswelten des Kunstfotografen, jedoch auch des Rezipienten voraussetzt. Die Erwartungen und das Erleben des Rezi-
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pienten können so beeinflusst und gelenkt werden. Die vom fotografischen Kunstwerk etablierte symbolische Wirklichkeit muss als solche auch vom Rezipienten aufgenommen werden. Ein außeralltäglicher Erkenntnisstil, d. h. eine ästhetische Einstellung, muss erzeugt werden, die die Fotografie als ästhetisches Produkt erfahrbar macht und vom alltäglichen Erleben unterscheidet (vgl. Srubar 2007: 76). Für die Etablierung einer ästhetischen Wirklichkeit ist entscheidend, dass die kommunikative Struktur der Fotografie so geartet ist, dass der Betrachter als Rezipient in die durch das fotografische Bild hervorgebrachte Wirklichkeit mit einbezogen wird. Wenn wir uns den Überlegungen Barthes (1985) in der ›Hellen Kammer‹ widmen, so bringt er einen einzigartigen Zusammenhang zwischen Produktions- und Rezeptionsästhetik der Fotografie zum Ausdruck. Der klassische phänomenologische Blick im Anschluss an Husserl führt uns Barthes zufolge für eine Beschreibung des allgemeinen Wesens der Fotografie im Spannungsfeld von Fotograf, Bild und Rezipient nicht weiter, da wesensmäßig die Individualität des rezipierenden Subjekts für die Funktionsweise des fotografischen Bildes entscheidend sei. Barthes beschreibt in diesem Sinne eine Parallelbewegung, die die Fotografie als Objekt der Untersuchung genauso wie den Betrachter auf individuelle Vorkommnisse eingrenzt (Arndtz 2013: 30). Die spezifische phänomenologische Sichtweise Barthes’ entdeckt die affektive Intentionalität als das entscheidende Moment der Fotografie, das durch die pathetische Gefühlsausrichtung des spectators entsteht (Barthes 1985: 30). Dieser spürt das »punctum« aus seiner subjektiven Perspektive in der Fotografie auf. Das punctum einer Fotografie »ist jenes Zufällige an ihr, das mich besticht (mich aber auch verwundet, trifft)« (ebd.: 36; Hervorhebung im Original). Welches Foto der Einzelne nun als gelungen und ansprechend erachtet, bleibt offen und ist der »Kontingenz des Abgebildeten (Weltlichkeit)« geschuldet; diese greift auf die »Kontingenz der Rezeption (Individualität)« über. Diese Überlegung wird schlussendlich dazu verwendet, die »Kontingenz der Methode (Beliebigkeit)« zu rechtfertigen, die transzendentale Ansprüche nicht voraussetzen kann (Arndtz 2013: 31). So betrachtet kann das punctum als »radikal kontingent« gekennzeichnet werden, da in ihm »jene radikal subjektive Verankerung im Bild« (Stiegler 2006: 348 f.) festgelegt ist, die eine affektive Verbindung zwischen Bild und Betrachter herstellt. Das punctum ist etwas, was der Betrachter zwar dem Bild hinzufügt, was aber dennoch da und wirksam ist. Die Evidenz des punctums entspricht der subjektiven Seite der Ontologie der Fotografie, während die objektive Seite die Evidenz des »Es-ist-so-gewesen«, der »notwendig realen Sache« darstellt, die für das Entstehen des fotografischen Bildes der Ausgangspunkt war (Barthes 1985: 86; Stiegler 2006: 349). Sowohl das subjektive als auch das objektive Moment sind für die Fotografie gleichermaßen konstitutiv. Entscheidend ist nun, dass sich die Fotografie nicht über das »Studium« (als Gegenpol zum punctum), d. h. die kulturell codierte Erschließung ihres »Wesens«, mitteilt, sondern ausschließlich über ihre affektive Seite. Die Affektivität der Fotografie macht zugleich ihr subjektives wie ihr objektives Wesen aus, wobei in einer punktuellen und singulären Bewegung beide Momente von Evi-
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denz zueinanderfinden. So betrachtet ist die Fotografie als »Beglaubigung von Präsenz«, als Abbildung einer vor dem Objektiv dagewesenen Realität, radikal kontingent. Das Zufällige ist verantwortlich für die von ihr erfasste Präsenz, gleichzeitig ist das Zufällige Bestandteil der Fotografie; Singularität und Kontingenz sind in der Fotografie verhaftet und können im Sinne einer streng phänomenologischen Sichtweise keine Evidenz hervorbringen. In Barthes’ ›Heller Kammer‹ erfolgt eine »narrativ-theoretische Konzeptualisierung des sichtbaren Unsichtbaren« (Stiegler 2006: 349), die nur postulieren und darstellen, nicht jedoch Begründungen formulieren kann. Der Schöpfer der Fotografie konstruiert ausgehend von seiner ästhetisierenden fotografischen Einstellung das fotografische Bild mit einer extrem komprimierten Raum- und Zeitstruktur. Die imaginäre antizipierte Räumlichkeit und Zeitlichkeit des Bildes muss mit der Perspektive und Dauer des Bildbetrachters so koordiniert werden, dass dieser eine ästhetische Einstellung einnimmt, die sich von der alltäglichen Einstellung unterscheidet, indem das pragmatische Interesse fallen gelassen wird. Es kommt in diesem Sinne zu einem Abgleich, wobei eine Kongruenz der subjektiven Relevanzen von Fotograf und Bildbetrachter hergestellt wird, die konstitutiv für die ästhetische Wirkung des fotografischen Bildes ist.
T ypologie des fotogr afischen B ildes Die Fotografie geht aus von einer, wie angedeutet, vermeintlichen Präsenz des Realen, das vor der Kamera existiert und abgebildet wird. In ihr wird das sichtbar, was jeweils als Realität verstanden wird. So betrachtet konstruiert Fotografie die Wirklichkeit in medialer Form, wobei sie ein »SehenWollen der Wirklichkeit« darstellt, eine »Materialisierung von bestimmten Wirklichkeitsvorstellungen in Bildern« (Stiegler 2009: 24). In diesem Sinne müssen Fotografien als Performative des medial vermittelten Realen verstanden werden, die in unterschiedlichen Zeiten sehr verschiedenartige Formen angenommen haben: So trifft man auf scharfe und unscharfe Bilder, findet die klassische Differenzierung von Fotografien zwischen Kunst und Wissenschaft, Dokument und Inszenierung und unterscheidet zwischen analogen und digitalen Aufnahmen. Darüber hinaus treffen wir auf Werbefotos, Schnappschüsse mit Digitaltelefonen sowie Fotomontagen, wobei jeweils ein völlig spezifischer Wirklichkeitsbezug, eine bestimmte Wirklichkeitskonstruktion und dementsprechend auch Wirklichkeitsdeutung erkennbar werden. Immer jedoch, so Bernd Stiegler, handelt es sich bei Fotografien um visuelle Reflexionen über Realität; sie sind deshalb medial vermittelter und in Bildern konzentrierter Realismus, und dies ist auch der Fall, wenn die Realität eine ausschließlich am Computer generierte darstellt. Im Hinblick auf eine Rezeptionsästhetik des Fotografierens werden nun vier – weitere wären natürlich denkbar – unterschiedliche Typen des fotografischen Bildes thematisiert, die jeweils ausgehend von den Reflexionen zur Bildproduktion und -rezeption im Spannungsfeld von operator und spectator entwickelt werden.
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Typus 1: »Knipserbild« und Schnappschuss
Abb. 1: ›Sprung in den Pool‹, 2013
Entscheidend für das sogenannte »Knipserbild«, den Schnappschuss mit der digitalen Mobiltelefonkamera, dem Smartphone, ist die reine Sichtbarkeit, die mit dem Foto transportiert wird und die massenhaft vervielfältigt werden kann. Im Hinblick auf den Prozess des Fotografierens spielt aus produktionsästhetischer Perspektive die Intention des operators eine untergeordnete Rolle, weil dessen gestalterische Aktivitäten und Sinnsetzungen nur geringfügig in die Fotografie einfließen können. Thematik, Gegenstand und Perspektive werden vom Fotografierenden dezidiert in Sekundenbruchteilen bestimmt und in das Foto mit eingebracht, sodass abhängig vom operator das Zufällige, das Individuelle in das Produkt aufgenommen wird. Unterschieden werden muss jedoch zwischen Laien und Experten, die für die Produktion des »Knipserbildes« bzw. Schnappschusses verantwortlich sind. So ist davon auszugehen, dass der erfahrene und versierte Experte für seinen in Bruchteilen von Sekunden aufgenommenen Schnappschuss dezidiert die fotografische Einstellung einnimmt. Ausgehend von einem bereits inkorporierten fotografischen Blick ist er in der Lage, sich im Augenblick des »Auslösens« in die ästhetische Einstellung zu begeben (Eberle 2014b: 138 f.), die eine im kurzen Moment des Fotografierens entstehende Abstraktion antizipiert. Das vom Laien erstellte »Knipserbild« ist hingegen nicht das Resultat eines ausgehend vom fotografischen Blick wirkenden Reflexionsvermögens, wobei ein Ablichten der reinen Sichtbarkeit des realen Augenblicks angestrebt wird. »Knipserbild« und Schnappschuss entstehen häufig ausgehend von einer spezifischen Lauerstellung, in der – den Fotoapparat im Anschlag – darauf gewartet wird, das Motiv im entscheidenden, ansprechenden Moment (z. B. einer Bewegung des Objekts) »einzufangen«. Häufig wird für Schnappschussaufnahmen mit modernen Digitalkameras auch die Funktion der Serienaufnahme verwendet, mit der eine Vielzahl von Mo-
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mentaufnahmen erzeugt werden kann, aus denen die den Augenblick erfassende, ästhetisch gefällige dann im Nachhinein ausgewählt werden kann. Aus rezeptionsästhetischer Perspektive ist zu bemerken, dass eine bedeutsame Diskrepanz hinsichtlich der Zeit existiert, die in das Intendieren während der Bildaufnahme einfließt, und derjenigen, die von den Rezipienten für die Betrachtung und Interpretation des Bildes aufgebracht werden kann. Die vom operator investierte Zeit eröffnet bei fotografierenden Experten nur rudimentär die Möglichkeit für eine Komposition des Bildes, wobei das Moment des Zufälligen in den Vordergrund rückt. Der spectator hingegen kann »intendierend« einen hohen Zeitaufwand in den Interpretationsprozess einfließen lassen, der sich markant von jenem unterscheidet, der für die Schnappschussaufnahme benötigt wird. Diese zeitliche Diskrepanz bezüglich des Intendierens des Gegenstands zwischen Produktion und Rezeption bei »Knipserbildern« und Schnappschüssen hängt zusammen mit der Diskrepanz von Sinnsetzung und Sinndeutung, die für diesen Bildtypus am stärksten zum Ausdruck kommt. Der Sinnsetzungsprozess schließt ausgehend vom Fotografen umfangreiche Gestaltungsmöglichkeiten aus, der operator kann jedoch für die Bildproduktion als nicht völlig irrelevant gekennzeichnet werden, da der entsprechende Bildausschnitt, Belichtungszeit und Blende von ihm bestimmt wurden. In diesem Falle ist das fotografische Bild im besonderen Maße vom Zufälligen und Kontingenten geprägt, wobei der operator im Sinne Barthes’ eine zu vernachlässigende Rolle im Hinblick auf die Sinngebung einnimmt. Das spezifische punctum des »Knipserbilds« und des Schnappschusses wird der Fotografie vom spectator als individuelles Moment nahezu unabhängig von der Sinngebung der Produktion hinzugefügt.
Typus 2: Die Kunstfotografie
Abb. 2: Pedro Luis Raota: ›ohne Titel‹
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Ganz anders stellt sich die Situation im Zusammenspiel von Produktions- und Rezeptionsästhetik für Kunstfotografien dar. Technisch gesehen erfolgt die Komposition des Bildes nicht nur im Fotografierprozess ausgehend von der Verwendung eines spezifischen Objektivs und Filters, von analoger oder digitaler Fotografie, der Wahl von Blenden- und Belichtungszeit sowie des ISO-Werts, vielmehr greift der Fotograf vornehmlich durch die besondere Filmentwicklung bzw. digitale Bildbearbeitung gestalterisch in die Produktion des Bildes ein. Die gestalterische und kompositorische Leistung des »Bildautors« fließt entscheidend in die Fotografie einhergehend mit einer spezifischen Sinngebung mit ein. Die gezielte Entwirklichung des Gegenstands der Fotografie als Teil der künstlerischen Praxis der Bildherstellung ist Resultat der vom operator in die Bildgestaltung involvierten Individualität. Wenn wir uns Flussers besonderer phänomenologischer Perspektive anschließen, so nimmt der Fotograf für die Gestaltung seines Bildes nicht nur das abzulichtende Objekt ins Visier, er setzt sich vielmehr reflektierend selbst in eine Relation zum Objekt und steuert so die von ihm angestrebte ästhetische Entwirklichung (Flusser 1991: 104). Nicht nur die Sichtbarkeit, sondern auch die besondere Sichtweise im Hinblick auf das Objekt werden vom (Kunst-)Fotografen in das Produkt seines Schaffens mit aufgenommen, wodurch die von eigenen Ideen des operators geprägte Sichtweise über das fotografische Bild in objektivierter Form der Nachwelt zur Interpretation verfügbar gemacht wird. Der »fotografische Blick« mit einer spezifischen Epoché sorgt dafür, dass die alltägliche Einstellung verlassen wird und dass die nicht in die Bildaufnahme involvierten Wahrnehmungen außer Acht gelassen werden. Durch seine Distanznahme zum Alltag und die herbeigeführte Entwirklichung des fokussierten Objekts erreicht der Fotograf jene »ästhetische Modifikation des Alltagslebens«, nämlich die intendierte symbolische Sinnsetzung, die es ihm erlaubt, außeralltägliche Ideen mit dem fotografischen Bild zu transportieren: Die Fotografie erhält einen symbolischen Gehalt. Nun zeigt sich, dass insbesondere für die symbolische Funktionsweise der Kunstfotografie der Rezipient eine entscheidende Rolle spielt, der seinerseits den außeralltäglichen, ästhetischen Erkenntnisstil übernimmt und durch seine Deutungen Ideen in die Fotografie einbringt, die an die Sinnsetzung des Bildproduzenten anknüpfen, diese jedoch ergänzen, erweitern und somit bereichern. Erst der Rezipient des fotografischen Bildes erweckt das ästhetische Produkt zum Leben und sorgt dafür, dass es in seiner objektivierten Form dauerhaft auf bewahrt, durch fortwährende Interpretation mit Sinn erfüllt und mit einem ästhetischen Wertbezug erhalten wird (vgl. Simmel 1996: 394). Ohne das Hinzufügen des punctums von Seiten des Betrachters, der seine affektive Intentionalität in die Bildinterpretation mit einbringt, wird das ästhetisch Ansprechende nicht an der Fotografie hervorgehoben. Und wenn wir über Barthes hinaus und unabhängig von ihm argumentieren, so kann mit Kant das Schöne des fotografischen Bildes, das einen emotional besonders anspricht, an andere vermittelt werden, die es ästhetisch beurteilen können.
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Typus 3: Die abstrakte Fotografie
Abb. 3: Heinz Hajek-Halke: ›Untitled‹, 1965
Eine sehr besondere Stellung hinsichtlich der Produktion und Rezeption nimmt die Abstrakte Fotografie als spezifische Form der Kunstfotografie ein, für die die Präsentation und Vermittlung der reinen Sichtbarkeit entscheidend ist. Hier erweist sich die Definition dessen, was unter Abstrakter Fotografie zu verstehen ist, als problematisch, da wir nicht von der
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klassischen Konzeption von Fotografie ausgehen können, die sich darauf konzentriert, mittels Fotoapparaten sichtbare Gegenstände abzubilden. Eine solche Definition wäre auf die Abstrakte Fotografie nicht anwendbar, da diese sowohl auf Fotoapparate verzichten, als auch von den sichtbaren Gegenständen »absehen« d. h. von diesen abstrahieren kann. Ein entsprechend weit gefasster Fotografie-Begriff, der Abstraktionen zulässt, ist deshalb notwendig, weshalb wir uns Wiesings Definition anschließen, der Fotografie als Verfahren kennzeichnet, »die mittels optischer Systeme (Fotoapparate) und der Einwirkung von Licht auf diesbezüglich reagierende Substanzen dauerhafte Bilder herstellen« (Wiesing 2002: 77). In der Abstrakten Fotografie geht es darum, neue Gegenstände aus reiner Sichtbarkeit zu »bauen«. Das Medium Fotografie wird zu einem Werkzeug, mit dem ein künstlicher Gegenstand kreiert wird. So betrachtet kann die Fotografie eine generative Form annehmen, und zwar nicht in dem Sinne, dass sie einen Gegenstand abbildet, sondern in dem Sinne, dass sie einen Gegenstand schafft, mit der spezifischen Eigenschaft, sichtbar zu sein (ebd.: 91). Wie in den Bildenden Künsten geht es in der Abstrakten Fotografie um Kreation von Sichtbarkeit mit Hilfe von verschiedenartigen fotografischen Verfahren, die für die Bildproduktion verwendet werden. Die vom Bildproduzenten gewählte Abstraktion von den realen Gegenständen des Alltags, die derart »entwirklicht« dargestellt werden, dass ihre Ursprünge nur noch erahnt werden können, erreicht eine erhebliche ästhetische Modifikation des Alltagslebens oder aber auch eine vollständige Distanzierung vom Alltäglichen. Für den kunstschaffenden Fotografen besteht ausgehend von der Verwendung spezifischer fotografischer Techniken die Möglichkeit einer besonderen Sinnsetzung mit einer bestimmten Deutungsoffenheit, die das Kunstwerk mit sich bringt. Das abstrakte Fotografieren kann sich vollständig vom Gedanken lösen, etwas »Reales« abzubilden, wobei die Hervorbringung von Neuem zum einen auf die gestalterischen, kompositorischen Schaffensprozesse des Produzenten, zum anderen jedoch auch auf das Zufällige zurückzuführen ist. Der »Bildautor« ist bezüglich einer Sinngebung in der Lage, den Rezipienten in eine bestimmte Richtung der symbolischen Deutung der Fotografie zu lenken, auch beispielsweise unterstützt durch einen Bildtitel, der die Thematik der Fotografie kennzeichnet. Für die Rezipientenperspektive ist vor allem die Frage entscheidend, wovon im fotografischen Kunstwerk abstrahiert wird? Die symbolische Wirkungsweise ist wiederum vor allem auf die interpretativen Leistungen des Rezipienten zurückzuführen, der sein spezifisches punctum im abstrakten fotografischen Bild entdeckt und daran seine Deutung ausrichtet.
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Typus 4: Die ikonische Fotografie
Abb. 4 und 5: ›Flag Raising of Iwo Jima‹ (Joe Rosenthal) und ›9/11 Flag Raising‹ (Thomas E. Franklin)
Spezifische Fotografien gehen als Ikonen in das kollektive Gedächtnis einer Gesellschaft ein, sie werden zum Bestandteil des gesellschaftlichen Imaginariums, indem sie historische Augenblicke in ästhetisierter, symbolisch überhöhter Form für zukünftige Generationen festhalten. Der reale historische Moment, der ein spezifisches Ereignis festhält (Hissen der Flagge, Sieg über die japanische Armee 1945 in Iwo Jima), wird mit Hilfe der Fotografie – unabhängig davon, ob es sich um eine »gestellte«
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Aufnahme handelt – in einer besonderen Rahmung und raum-zeitlich komprimierten Form für die Nachwelt festgehalten. Eine unterstellte Augenzeugenschaft, die davon ausgeht, dass der Fotograf selbst während des historischen Ereignisses anwesend war, unterstützt die spezifische Wirkung des Bildes. In diesem Sinne kann die Fotografie zum historischen Performativ werden, das nicht nur Geschichte in Bildern darstellt, sondern auch selbst Geschichte erzeugen kann. Die Fotografie wird zu einer »Realfiktion« (Stiegler 2009: 19), die Geschichte abbildet und Geschichte erzeugt. Die ikonische Fotografie wird zum historischen Narrativ, wenn sie etablierte Deutungs- und Ästhetisierungsmuster einer bestimmten historischen Epoche aufgreift und in die Momentaufnahme einfließen lässt. Wenn derartige Fotografien ins kollektive Gedächtnis eingegangen sind (wie ›Raising the Flag of Iwo Jima‹), dann können sie weitere Fotografien in anderen sozio-historischen Kontexten oder auch andere Ästhetisierungsformen beeinflussen – sie bilden eine ikonografische Matrix (die dann etwa das Foto ›Raising the Flag at Ground Zero‹ beeinflusst). Der Fotograf, der für das ikonische Bild verantwortlich ist, bringt seine subjektive Deutung des historischen Ereignisses basierend auf seinem besonderen fotografischen Blick in die Fotografie mit ein, wobei er natürlich nicht abschätzen oder antizipieren kann, welche Wirkungsgeschichte das fotografische Bild durchlaufen wird. Der »Bildautor« bringt aus subjektiver Perspektive außeralltägliche Ideen (die beispielsweise Patriotismus zum Ausdruck bringen) in die Fotografie gezielt ein und kann die Symbolisierung seines geschaffenen fotografischen Werkes, das nun als intersubjektives Realitätskonstrukt zur Verfügung steht, beeinflussen. Die Masse der Rezipienten in unterschiedlichen historischen Epochen wird im Hinblick auf ihre Erwartungen und ihr Erleben vom Produzenten »beeinflusst«. Eine im ikonischen Bild etablierte symbolische Wirklichkeit wird dann von den Rezipienten aufgenommen, wenn diese sich in den spezifischen Erkenntnisstil, die ästhetische Einstellung begeben und in einer Verbindung zum entsprechenden historischen Ereignis die Aussage des Bildes deuten. Die Rezeptionsästhetik mit Bezug auf ikonische Fotografien setzt eine Kenntnis des jeweiligen sozio-historischen Kontexts der Realität voraus, wobei im Vorgang des Deutens der Fotografie die Rezipienten in die Wirkungsweise des fotografischen Bildes mit einbezogen werden, dieser ihr punctum hinzufügen und für eine Aufrechterhaltung der symbolischen Funktionsweise dieser einzigartigen Fotografie sorgen.
S chluss Die phänomenologische Sichtweise im Anschluss an Alfred Schütz mit dem Fokus auf den Zusammenhang von Rezeptions- und Produktionsästhetik wurde verwendet, um die Argumentation von Roland Barthes zu relativieren, der die Relevanz des Autors bzw. Fotografen hinsichtlich der Sinngebung des fotografischen Bildes ad absurdum führte. Im Hinblick auf die unterschiedlichen Typen des fotografischen Bildes – »Knipserbild«
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und Schnappschuss, Kunstfotografie, abstrakte Fotografie und ikonische Fotografie – wird deutlich, dass das Zusammenspiel von Sinngebung und Sinndeutung in die Wirkungsweise der Fotografie einfließt. Je nach Typus werden vom Fotografen unterschiedliche Abstufungen der Intentionalität in die Fotografie als objektiviertes Kunstprodukt eingebracht – eine Sinngebung durch den operator ist deshalb in verschiedenartigen Ausprägungen Bestandteil der Fotografie. Eine reine Rezeptionsästhetik, die den »Tod des Autors« postuliert, erweist sich dementsprechend als nicht sinnvoll, da die selektiv-gestalterische Leistung des operators die Sichtbarkeit und Sichtweise des fotografischen Bildes entscheidend bedingt und deshalb für die Interpretation berücksichtigt werden muss. Der völlige Verzicht auf die produktionsästhetische Perspektive würde die selektive und gestalterische Leistung des Produzenten außer Acht lassen, wobei entscheidend ist, dass die spezifische Sinngebung durch den Produzenten die Sichtbarkeit und Sichtweise der Fotografie bestimmt. Der operator, der einen außeralltäglichen Erkenntnisstil und eine ästhetische Einstellung einnimmt, ist diejenige Instanz, die im Hinblick auf die Bildwahrnehmung eine Sinnselektion vornimmt, von der die Rezeption der Fotografie abhängt. Die Triade aus dem Fotografen als Autor, der Fotografie als ästhetischem Produkt sowie dem Rezipienten muss Ausgangspunkt des interpretativen Prozesses sein, da zwischen dem Sinn etablierenden Fotografen und dem Bildbetrachter – die beide eine ästhetische Einstellung einnehmen – ein Sinnabgleich einhergehend mit einer Kongruenz der subjektiven Relevanzen hergestellt wird.
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Versuch über eine Rezeptionsästhetik der Fotografie
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A bbildungen Abb. 1: Sprung in den Pool, 2013. © Foto: Jochen Dreher. Quelle: Jochen Dreher. Abb. 2: ohne Titel. © Foto: Pedro Luis Raota. Quelle: www.raota.com/ped roluis.php abgerufen am 01.03.2015. Abb. 3: Untitled, 1965. © Foto: Heinz Hajek-Halke: Light-Graphic (Soot lucidogram), Gelatin silver print, 28.2 × 14.4 cm. Quelle: Collection Gottfried Jäger, Courtesy of Agentur Focus, Hamburg. Abb. 4: Flag Raising of Iwo Jima. © Foto: Joe Rosenthal. Quelle: www.iwo jima.com/raising/abgerufen am 01.03.2015. Abb. 5: 9/11 Flag Raising, 2001. © Foto: Thomas E. Franklin. Quelle: The Record (Bergen County, NJ).
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S emiosis und T ypenbildung Unser Thema heißt »Phänomenologie und Fotografie«. Ich möchte nun prüfen, welcher der phänomenologischen Wege uns zu der »Sache selbst« führen kann. Der Weg der Prüfung selbst wird allerdings, der korrekten phänomenologischen Verfahrensweise folgend, zunächst ein Umweg sein. Am Anfang des zweiten Teils seiner ›Logischen Untersuchungen‹ führt Husserl (1968: 22 ff.) aus, warum seine Phänomenologie eigentlich keine Theorie sein kann: Eine Theorie erklärt Phänomene, indem sie sie unter Prinzipien qua Axiome subsumiert. Der Phänomenologie jedoch gehe es nicht um die Aufstellung von Axiomen. Sie will der Geltung von etwas als etwas auf den Grund gehen. Sie will das Zustandekommen der Evidenz der Selbstgegebenheit der Welt analysieren und untersuchen, wie die Welt dem Subjekt überhaupt sinnvoll begegnen kann. Der phänomenologische Ansatz klammert also den cartesianischen Zweifel an der selbstverständlichen Präsenz der Welt ein (Husserl 1928: §§ 20 ff., 31 f.) und macht diese Präsenz – im Gegenteil – zu einer evidenten Gegebenheit, deren Konstitution allerdings zu untersuchen sei. Daher verlässt Husserl die cartesianische Methodologie »more geometrico« und entwickelt seine eigene, phänomenologische. Wenn die Frage nach dem Verhältnis von Phänomenologie und Fotografie gestellt wird, so müsste die von der Phänomenologie ausgehende Fragestellung heißen: »Wie kann uns die Fotografie als sinnhaft gelten«, was natürlich die Frage »wie können Bilder schlechthin als sinnhaft gelten« impliziert. Die Versuche zu beantworten, was eigentlich ein Bild sei, füllen inzwischen Bibliotheken (vgl. Wiesing 2005). Für uns leitend ist hier die Feststellung, dass einer der grundsätzlichen Streitpunkte in dieser Frage darin besteht, ob Bilder Zeichen oder eben etwas anderes sind. Die phänomenologischen Antworten (Husserl 1980; Ingarden 1962; Wiesing 2005; Merleau-Ponty 1966; Boehm 2007 etc.) tendieren dazu im Bild etwas anderes bzw. etwas mehr als ein Zeichen zu sehen. Im Folgenden möchte ich kurz skizzieren, warum dem so ist, und anschließend einige Konsequenzen aufzeigen, die sich aus diesem Befund für den Umgang mit Bildern und mit der Fotografie in der soziologischen Interpretation ergeben.
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Bei Husserl lassen sich zwei Wege erkennen, auf welchen er sich der sinnhaften Präsenz der Welt und der Konstitution ihrer Geltung zu nähern versucht. Den einen finden wir in den ›Logischen Untersuchungen‹ (Husserl 1968) ausgearbeitet, wo er seine Zeichentheorie entwickelt, den anderen in ›Erfahrung und Urteil‹ (Husserl 1999), wo es um den typisierenden Weltzugang geht. Die Reihenfolge, in der Husserl zuerst den semiotischen und anschließend den typisierenden Weltzugang untersucht, ist nicht ohne Bedeutung. In der Perspektive der ›Logischen Untersuchungen‹ sind es zuerst wahre Sätze, die die Geltung der darin präsentierten Welt ausmachen. Die Geltung dieser Sätze hängt für Husserl jedoch von der Geltung der Repräsentationen ab, die durch die Zeichenstruktur generiert werden. Diese Struktur ist zwar formell immer die des Verweisens eines Präsenten auf ein Appräsentiertes, aber die Konstitution dieses Sinnzusammenhangs kann grundsätzlich zwei unterschiedliche Formen annehmen, die für die Geltung des Zeichens wesentliche Konsequenzen haben. Die erste Form ist jene des Anzeigens, wo sich der Sinnzusammenhang zwischen dem Präsenten und dem Appräsentierten aus der »empirischen Einheit« der Dinge ergibt, d. h. aus dem sachlichen Zusammenhang der Merkmale, die typischerweise einen Sachverhalt charakterisieren. Im logischen Sinne können zwar Anzeichen nicht als Beweis, sondern lediglich als Hinweis dienen (Husserl 1968: I., §§ 2, 3). Die Konstitution ihrer Geltung verweist jedoch auf einen tiefer liegenden Prozess des Erlebens einer »fühlbaren Zusammengehörigkeit« von Merkmalen, die in ihrer Verknüpfung eine sachlich materiale Ordnung aufweisen. In diesem Sinne können Anzeichen nicht, wie etwa bei Susanne Langer (1965: 66 f.), alles Mögliche bedeuten, sondern sind in ihrer Bedeutung durch den typischen Sachzusammenhang, dessen Teil sie sind, eingegrenzt. Dem Anzeichen stehen »bedeutsame Zeichen« entgegen, die Husserl als Ausdrücke bezeichnet. Sie haben einen kommunikativen, vorzugsweise sprachlichen Charakter und stehen für einen Sinnzusammenhang von Laut und »Gedanken«, bzw. um mit Saussure zu sprechen, von Laut und Vorstellung. Husserl sagt dazu: »Wenn wir das Erlebnis eines sinnerfüllten Ausdrucks in die Faktoren Wort und Sinn zergliedern, da erscheint uns das Wort selbst als an sich gleichgültig, der Sinn aber als das, worauf es mit dem Wort ›abgesehen‹, was vermittelst dieses Zeichens gemeint ist; […] Das Dasein des Zeichens motiviert nicht das Dasein, oder genauer, unsere Überzeugung vom Dasein der Bedeutung. Was uns als Anzeichen (Kennzeichen) dienen soll, muß [jedoch I. S.] von uns als da seiend wahrgenommen werden« (Husserl 1968: I., § 8).
Die Geltung des Zeichens ist also auch bei Husserl arbiträr. Sie generiert sich aus der Festlegung der Zeichenbedeutung durch ihren Gebrauch (Husserl 1968: I., § 5). Hinsichtlich dieser Festlegung unterscheidet Husserl bekanntlich zwischen »objektiven« und »okkasionellen« Ausdrücken (Husserl 1968: I., § 26). Die ersteren gehören meistens den theoretischen Sprachen an und ihre Bedeutung ist definitorisch eng bestimmt. Die ok-
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kasionellen Ausdrücke, die Husserl auch als die »wesentlich subjektiven« bezeichnet, sind jene der alltäglichen Rede, deren Bedeutung je nach Perspektive schwankt und durch den jeweils aktuellen Gebrauch festgelegt wird (Husserl 1968: I., § 28). Wichtig für die Analyse der Geltung der Repräsentation von sprachlichen Zeichen ist für Husserl ihr unterschiedlicher Gebrauch in der öffentlichen und in der inneren Rede (Husserl 1968: I., § 7 ff.). Kommunikativ verwendet dienen sprachliche Ausdrücke zuerst nur als Anzeichen der Gedankentätigkeit des alter ego. Die kommunikative Sinnkonstitution stellt hier ein sequenzielles Geschehen dar: Der in der Kundgabe intendierte Sinn realisiert sich in den sinnerfüllenden Akten der Kundnahme. Eine erlebbare Sinnerfüllung erfahren Ausdrücke erst durch ihren inneren Gebrauch: Hier fungiert der Ausdruck – das Wort – nicht als ein bloßes Sinnanzeichen, weil seine sinnsetzenden und sinnerfüllenden Akte – also die sinnkonstituierende Gedankentätigkeit – von ego selbst erlebt werden. Dieses Erleben hebt zwar die arbiträre Beziehung von Wort und Sinn, d. h. von Signifikant/Signifikat, nicht auf. Es lässt uns jedoch diese Beziehung als eine typische Sinnordnung anschauen, mit der wir unsere Gedanken ordnen (Husserl 1968: I., § 10). Sowohl die Analyse von Anzeichen als auch jene von Zeichen weisen Husserl auf sinnstiftende Konstitutionsprozesse hin, die sozusagen einige Etagen unterhalb der Semiosis und möglicherweise ohne ihr direktes Zutun, genauer: ohne die Vermittlung von Zeichen, ablaufen. Im Verlauf der ›Logischen Untersuchungen‹ identifiziert Husserl diese Ebene als jene des intentionalen Erlebens und seiner Akte, in denen sich das »Bedeuten« der Welt erfüllt. Ein konstituierender Zug dieses Erlebens ist sein typisierender Charakter, den Husserl in ›Erfahrung und Urteil‹ ausarbeitet. Akte des Typisierens richten sich auf die Präsenz der Dinge in der Lebenswelt. Sie machen die materiale Sinnstruktur der Lebenswelt aus, in der die Selbstgegebenheit von etwas als etwas verankert ist. Unsere Phantasieerlebnisse, zu denen auch die Semiosis gehört, verweisen auf die Resultate der typisierenden Akte, in welchen sich die Gewissheit der Selbstgebung individueller Gegenstände als ihre evidente Präsenz realisiert (Husserl 1968: I., § 7). Diese Resultate sedimentieren zu einem Horizont der Vorbekanntheit, der unsere Welterfahrung strukturiert und die sinnerfüllenden Akte intentional auf diese Welt ausrichtet. Die Typenbildung setzt als »passive Vorkonstruktion« (Husserl 1999: 398) des Realen bereits präreflexiv ein. Akte der Typenbildung bringen die Gegebenheit des Realen hervor, noch vor jeglicher Symbolisierung oder begrifflicher Explikation des Wahrgenommenen. Ähnlich wie der sequenzielle Sinnauf bau durch die Semiosis ist auch die Konstruktion sinnhafter Realität per Typenbildung eine temporale. Die typisierende Wirklichkeitskonstitution stellt einerseits eine Vorvertrautheit mit der Welt her, andererseits zeitigt sie Antizipationen, die eine »Synthesis der Rekognition« ermöglichen, das heißt ein Wiedererkennen des Typisierten erlauben. Diese Prozesse setzen natürlich voraus, dass eine Identität des Typisierten im Prozess der typisierenden Wirklichkeitskonstitution aufrechterhalten wird. Dies geschieht durch den Innenhorizont der Typik, das heißt durch
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eine Struktur materialer Merkmale, die nicht beliebig variierbar ist. Eigenschaften, die zu Grundcharakteristika des Typisierten gehören, können nicht »gestrichen« werden, da sich sonst das Typisierte in etwas Anderes verwandeln würde – etwa die Katze in einen Hund. Auch hier laufen natürlich Prozesse der Appräsentation ab. Aber der Sinnzusammenhang des Appräsentierten besteht in dem Erleben der materialen Einheit der Merkmale. Diese materiale Identität, deren Merkmale nicht arbiträr sind, stellt die Grundlage der Differenzbildung durch Typen und somit die Grundlage der Sinnkonstitution per Typenbildung dar. Man könnte sagen, dass sich die sinngebenden und sinnerfüllenden Akte des Typus auf seinen Innenhorizont richten, während die verweisenden Sinnbezüge des Zeichens auf seinen Außenhorizont ausgerichtet sind. Das macht die Sequenzialität der semiotischen Sinnkonstitution möglich, der die individualisierende Sinnbildung durch Typisierung gegenübersteht. Wie ersichtlich, unterscheidet sich die sinnbildende Struktur der Typenbildung von jener der Semiosis wesentlich. Die semiotische Wirklichkeitskonstruktion geht auf die Zeichenstruktur zurück, also, mit Saussure (1967) gesprochen, auf Konstrukte, deren anwesender Teil (der Signifikant) auf einen abwesenden Bestandteil (das Signifikat, die Vorstellung) hinweist. Die Verbindung von Signifikant und Signifikat setzt keine gemeinsame materiale Struktur von Merkmalen voraus. Die Bestandteile eines Zeichens sind weder inhaltlich oder kausal irgendwie aneinander gebunden, ihre Verbindung ist rein arbiträr und durch soziale Konvention fixiert. Die Identität der Zeichenbedeutung wird also durch den Gebrauch des Zeichens aufrechterhalten, durch den auch die Referenz von Zeichen pragmatisch hergestellt wird. Für die Aufrechterhaltung dieser Identität bedarf es also eines umfassenderen Deutungsschemas, d. h. eines Interpretanten (Schütz 2003 [1955]; Peirce 1986), der im Regelfall aus weiteren Zeichen bzw. Zeichensystemen besteht. Die Identität des Typisierten dagegen wird in der Zeit durch seine materiale Struktur getragen, durch die seine typische Gestalt festgelegt wird. Die Funktion des Interpretanten übernimmt hier der wahrnehmende und handelnde Leib. Ein weiterer wesentlicher Unterschied zwischen der semiotischen und typisierenden Sinnkonstitution besteht in ihrer Temporalität. In beiden Fällen haben wir es selbstverständlich mit einer temporalen Sinnbildung zu tun. Der semiotische Sinn baut sich sequenziell auf. Erst durch die Verkettung und die Reihenfolge der Phoneme in der Zeit entscheidet sich, ob eine sinnerfüllende Wahrnehmung der Laute möglich ist, d. h. ob sich ein Wort bildet, oder ob es sich bloß um eine »unartikulierte« Lautfolge handelte. Ebenso hängt die Sinnerfüllung des angefangenen Satzes von seiner erfolgreichen Beendung ab. Hinzu kommt, dass die Verbindung einer bestimmten Phonemsequenz mit einer bestimmten Vorstellung keinem Sachzusammenhang folgt. Evoziert die Reihenfolge der Laute »K«, »U«, »H«, im westlichen Teil von Görlitz noch eine sinnvolle Vorstellung, bleibt sie im östlichen Teil bereits sinnlos. Die Sinnerfüllung des typisiert Wahrzunehmenden erfolgt jedoch synchron. Die materiale Einheit seiner Merkmale wird simultan präsent. In der Synthesis der Rekognition steht
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uns das Typisierte monothetisch sinnhaft quasi mit einem Schlag vor Augen. Selbst wenn im Prozess der Typenbildung und der Rekognition Appräsentationen ablaufen, werden diese durch die materielle Einheit des Gegenstandes geleitet und erfüllt. Während die Regelhaftigkeit der Semiosis erst in der Sequenz des Zeichengebrauchs sichtbar und durch arbiträre Konvention aufrechterhalten wird, entspringt die Regelhaftigkeit der typisierenden Sinnkonstitution dem Sachzusammenhang der Merkmale, die die Struktur des Typus ausmachen.
D as P roblem der B ildpr äsenz Wenn man sich vor diesem Hintergrund dem Problem der Präsenz von Bildern zuwendet, so spricht vieles dafür, diese Präsenz primär als ein Resultat der typisierenden Sinnkonstitution zu betrachten. Natürlich kann man Bilder auch »lesen«. Ihre Präsenz konstituiert sich allerdings zuerst auf einer anderen Ebene. Ein Beispiel: In einer Galerie stehen wir vor einem Bild eines unbekannten Meisters aus dem 15. Jhd. Wir sehen eine vornehm gekleidete junge Frau in einem Garten sitzen, an die sich liegend ein seltsames Pferd oder ein Hirsch anschmiegt, dessen Hals die Frau zaghaft und zugleich zärtlich umarmt. Das Pferd oder der Hirsch ist insofern seltsam, weil aus seiner Stirn ein einzelnes Horn herausragt. Da jedoch der artifizielle Charakter von Bildern zu ihrer Typik gehört, stört diese Erscheinung die Bildwahrnehmung nicht. Die Körperhaltung und der Gesichtsausdruck der jungen Frau strahlen Ruhe aus, die sich auch in der friedlichen Haltung des ruhenden Tieres wiederspiegelt. Das Ganze spielt sich auf einer von bunten Blumen bewachsenen Wiese ab. Die Gesamtheit des Bildes hinterlässt den Eindruck einer unaufgeregten Harmonie, unabhängig davon, wer der Maler des Bildes war, wer die Frau auf dem Bild ist oder welches Bewandtnis es mit dem seltsamen Hirsch-Pferd hat. Daran ändert sich nichts, wenn ein ikonografisch geschulter Betrachter anfängt das Bild zu »lesen«. Dann erfahren wir, dass das Mädchen möglicherweise die Jungfrau Maria ist und dass das Hirsch-Pferd ein Einhorn darstellt, das einerseits die Reinheit Marias, andererseits jedoch ein Fabelwesen repräsentiert. Das Ganze stehe dann für eine Allegorie der Zähmung des Heidnisch/ Abb. 1: ›Jungfrau und Einhorn‹
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Magischen durch die Kraft des Heiligen Geistes bzw. des Christentums im Allgemeinen. Ein psychoanalytisch informierter Experte würde vielleicht auf die sexuellen Kontexte der Darstellung hinweisen und die in der Mythologie bestehenden Bezüge zwischen Einhörnern und der Jungfräulichkeit hervorheben. Durch die Ausführungen der Kenner werden uns die von Panofsky (1975: 50 ff.) unterschiedenen Sinnebenen des Bildes in ihrer ganzen Komplexität wohl bewusst, aber wir spüren trotzdem deutlich, dass dieses ganze Wissen den leiblichen Eindruck der Friedlichkeit, den das Bild in seiner materialen Präsenz ausstrahlt, nichts Wesentliches hinzufügt. Ähnlich scheitert der Versuch, diese empfundene Präsenz in Worte zu kleiden. Die Evidenz dieses Scheiterns kann man erleben, wenn man beim Betrachten eines Bildes in einer Ausstellung zugleich dem Audioguide lauscht. Während der Betrachter von der Präsenz des Bildes bereits eingenommen wird, hinken seinem leiblichen Sehen (Merleau-Ponty 1966: 374) die Worte des Kommentators aus dem Audioguide hoffnungslos hinterher: Was der Blick auf einmal im ganzen sinnlichen Umfang erfasst hatte, wird in der Nacherzählung nun mühsam und – verglichen mit der Fülle der leiblich wahrgenommenen Bildpräsenz – unzureichend nachgeholt. Die typisierende Eigenart der Bildpräsenz kann so »anschaulich« erlebt werden. Sie entfaltet sich nicht in der Zeit, wie etwa die der Narration, sondern ist simultan monothetisch gegeben. Das, was das Bild zeigt, d. h. die Identität bzw. die Identifizierbarkeit des Dargestellten beruht nicht primär auf symbolischen Bezügen, sondern auf dem typischen Zusammenhang material sichtbarer Merkmale des Dargestellten. Das Bild repräsentiert sicher auch eine Vorstellung. Aber die Sinnkonstitution, die diese Vorstellung erlebbar macht, ist nicht zuallererst jene des Verweisens eines Präsenten auf ein »andersartiges« Abwesendes, sondern besteht in der typisierenden Vorvertrautheit des Betrachters mit seiner Lebenswelt, durch die das Dargestellte in seiner materialen Individualität erkennbar und erlebbar wird. Das Bild wird in diesem intentionalen Zugriff nicht »gelesen«, sondern auf der Grundlage der dem Dargestellten und dem Vorverständnis des Betrachters gemeinsamen typischen Struktur der materialen Lebenswelt leiblich erfahren. Diese Struktur verleiht der typisierenden Sinnkonstitution ihre primäre Regelhaftigkeit, auf der die weiteren ikonografischen und ikonologischen Sinnschichten des Bildes auf bauen. Die Präsenz des Bildes entfaltet sich also im typisierenden, präreflexiven Zugriff des leiblichen Sehens auf die Typik des Dargestellten. Der material-leibliche Bezug dieser Präsenz wird dabei in der emotionalen Wirkung des Bildes greif bar. Die Bildpräsenz baut sich auf dieser Ebene in sinngebenden Akten auf, die einen asemiotischen bzw. einen präsemiotischen Charakter haben. Insofern ist für sie der Horizont der Vorvertrautheit, durch den die lebensweltliche Realität ihre typische Struktur erhält, konstitutiv. Allerdings führt die Bildpräsenz auch typische Merkmale mit, die sie von der Präsenz der »realen« Welt unterscheiden und stellt so erkennbar eine »artifizielle Präsenz« (Wiesing 2005) dar. Für das »SichZeigen«, d. h. für das Präsent-Werden des Bildes sind zwar die materialen
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leiblichen Bezüge konstitutiv, doch ist es zugleich auch die Einschränkung dieser Bezüge im Umgang mit der Materialität des Bildes, die die Künstlichkeit der Bildpräsenz erlebbar macht. Diese Irrealität manifestiert sich darin, dass die Bilddarstellungen als »Situationen« zwar eine material-leiblich erlebbare Wirkung haben, dass sie jedoch nicht anhand der Mitwirkung des Betrachters innerhalb der dargestellten Situation erlebt werden. Um mit Alfred Schütz (1981 [1924]) zu sprechen: Der Betrachter kann das Bild nicht »betreten«, er kann nicht seine Realität wirkend beeinflussen oder ändern, d. h. er kann sie nicht real-pragmatisch erleben. Sie wird ihm lediglich anhand der bildimmanenten Typik, die reale Situationsbezüge evoziert, präsent. Die Zeitdimension des Dargestellten ist quasi »eingefroren« und wird in diesem fixen Zustand vom Erlebnisstrom des Betrachters fortgetragen. Mit dem Aussetzen des pragmatischen Moments des Wirkens konstituiert sich die Außeralltäglichkeit von Kognitions- und Erlebnisstilen, durch die sich die Gegebenheit des darin Präsentierten in ihren Realitätsschattierungen von der Realität der Wirkwelt unterscheidet. Die Rezeptionsästhetik, die selbst phänomenologische Wurzeln hat (Iser 1975), spricht hier von der Irrealität des Bildes, der die Irrealität der Einstellung des Betrachters entspricht. Wir stoßen hier auf eine grundlegende Paradoxie, die dem Phänomen der Bildpräsenz – und übrigens allen Kunstartefakten – eigen ist. Einerseits entfaltet sich ihre sinnhafte Wirkung auf der Basis von Typisierung, deren Vorvertrautheit in den Akten alltäglichen Wirkens verankert ist. Andererseits jedoch müssen Bilder die Außeralltäglichkeit ihrer Präsenz mitführen, um als Kunstartefakte präsent sein zu können. Diese Paradoxie manifestiert sich bestens in unserem Bildbeispiel: Die erlebbare materiale Präsenz des Bildes stellt sich auch dann ein, wenn das Bild offensichtlich keinen »realen« Referenten, sprich Einhorn, haben kann. Daher stellt sich erneut die Frage nach der »Ikonik« bzw. nach der »ikonischen Episteme« (Imdahl 1996; Boehm 2007), die die spezifischen Züge des Sich-Zeigens von Bildern, d. h. ihres Sehangebots an die Interaktion mit dem Betrachter, thematisieren würde.
Z ur R egelhaf tigkeit bildlicher und fotogr afischer P r äsentation An dieser Stelle könnte man einwenden, dass die Relevanz der phänomenologischen Analyse der Bildpräsenz für die Betrachtung von Fotografie recht fragwürdig ist. Wenn etwas bezüglich der Fotografie festzustehen scheint, dann ist es die notwendige Existenz eines realen Referenten, auf den sie verweist (Barthes 1989: 13 f.). Nicht umsonst hielt Salvador Dalí das Vorhaben, Gott zu fotografieren, für die angemessene Realisierung eines Surrealen. Was die Fotografie ablichtet, muss es irgendwann gegeben haben – und alle möglichen künstlerischen oder dokumentarischen Manipulationen der Fotografie spielen mit diesem Charakteristikum ihrer Präsenz. Man muss sich also fragen, ob die artifizielle Präsenz des Bildes,
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auf die sich letztendlich auch Ansätze der interpretativen Soziologie stützen, hier von Bedeutung ist, und wenn ja, warum? Denn der Unterschied zwischen Bild und Fotografie bezüglich des Präsenzanspruchs und seiner Bedeutung könnte scheinbar nicht größer sein: Während die Existenz von Einhörnern im Rahmen der Irrealität der Bilder problemlos akzeptierbar ist, würde die Fotografie eines Einhorns seine Existenz aus dem Irrealen ins Reale überführen und stellte so zweifelsohne eine veritable Sensation dar. Überraschenderweise ist es jedoch gerade diese Unterscheidung, die in phänomenologischer Sicht auf die gemeinsame Grundlage der bildlichen und der fotografischen Präsenz hinweist. Noch stärker als im Falle des Bildes tritt dadurch der asemiotische bzw. non-semiotische Charakter der fotografischen Präsenz zum Vorschein. Könnte man im Falle eines Bildes noch darüber diskutieren, ob ein gemalter Apfel als ein Zeichen für einen realen Apfel zu betrachten ist (etwa bei Flusser 1983) – was notwendigerweise zu Aporien führt, denn wofür wäre ein Einhorn ein Zeichen? – macht dies im Falle der Fotografie offensichtlich keinen Sinn. Eindeutiger als ein Bild schließt die Fotografie eine arbiträr zeichenhafte Verbindung zwischen dem aus, was sie präsent zeigt und dem was sie abbildet. Die Selbstgegebenheit dessen, was sie zeigt, wird noch eindeutiger durch die typisierende Sinnkonstitution hervorgebracht, die quasi durch die Oberfläche des Bildes hindurchgeht und das Gezeigte materiell erlebbar macht. Im Unterschied zum Bild vergegenwärtigt die Fotografie zwar typischerweise ein einmal so vorgefundenes Reales, aber diese Vergegenwärtigung ist kein Resultat von Semiosis, sondern dasjenige eines mit der Fotografie sachlich verbundenen physikalisch-chemischen Naturprozesses. Daher können wir alles, was über den typisierenden Charakter der Bildpräsenz gesagt wurde, auch für die Fotografie behaupten – ihre synchrone Simultaneität, ihre Gegebenheit durch leibliches Sehen sowie die Verankerung ihrer Regelhaftigkeit in der Struktur der Typik. Damit stehen wir allerdings vor der entscheidenden Frage: Wie wird diese Regelhaftigkeit im Bild sichtbar bzw. wie kann sie sichtbar gemacht werden angesichts der festgestellten Differenz zwischen der sequenziellsemiotischen Sinnkonstitution und der simultan typisierenden Konstitution der Bildpräsenz. Hier besteht das Hauptproblem darin, dass zur Beantwortung dieser Frage die Bildpräsenz als ein Resultat der Kommunikation zwischen Bild und Betrachter begriffen werden muss.1 Und weil Kommunikation in der Regel als ein semiotisches, sequenzielles Geschehen betrachtet wird, steht man vor der Aufgabe, die monothetische Simultaneität der Bildpräsenz in sequenzielle Phasen zu zerlegen, diese Transformation sprachlich auszudrücken und eventuell auch noch zu ver1 | Natürlich schließt der Kommunikationsvorgang auch den Autor des Bildes ein, was im Falle der alltäglichen Fotografie für die Soziologie von besonderer Bedeutung ist. Dazu aber später. An dieser Stelle gehe ich von der Autonomie des Bildes als eines materialen Interaktanten aus.
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texten. Dies ist ein komplexer Übersetzungsprozess, dessen Resultate – wie die aller Übersetzungsprozesse – suboptimal bleiben müssen, weil sie notwendigerweise ein Sinngebilde produzieren, das sich nicht mit dem »Ausgangstext« decken kann. Bei dem Bemühen diese Nichtdeckung zu minimieren, werden unterschiedliche Strategien angewandt. Eine besteht darin, Bilder als lesbare Texte zu betrachten. Sie ist in gewissem Sinne die effizienteste, weil sie einfach das bestehende Problem überspringt und damit von vorneherein den asemiotischen, typisierenden Charakter der Bildpräsenz ignoriert. Methodisch steht man dann allerdings vor einem Problem: Während die von einem Interpreten anvisierten Sinnvarianten einer Textsequenz durch den Fortgang des Textes selbst in einer späteren Sequenz verifizierbar sind, fehlt im Bild ein solcher immanenter, phasenweise zu verifizierender Sinnaufbau und muss daher vom Interpreten erst hergestellt werden. Der methodische Vorteil, der sich im Falle des Textes aus der ihm immanenten Struktur der semiotisch-sequenziellen Sinnkonstitution ergibt, versagt also im Falle des Bildes. Damit wird die Adäquanz sequenzieller Verfahren der Analyse stehender Bilder grundsätzlich in Frage gestellt. Dieser Gefahr sucht man zu entgehen, indem man nach bildimmanenten Schritten des Auf baus der Bildpräsenz sucht, die sich als sinnkonstitutive Sequenzen begreifen ließen. Hier wird von der Vorstellung Gebrauch gemacht, dass die Bildkomposition selbst den »scannenden« (Flusser 1983) Blick leitet. Indem der Blick über die Bildoberfläche gleitet, erschließt sich ihm das »Sehangebot« des Bildes, sodass sich die Bildpräsenz schrittweise quasi sequenziell auf baut (Imdahl 1996: 424 ff.). Durch eine »Planimetrie« des Bildauf baus ließen sich so die sinntragenden Elemente in ihren gegenseitigen Beziehungen ausmachen. Die vom Interpreten supponierte Sinnaufladung der Bildelemente ließe sich dann methodisch prüfen, und zwar durch die im Bild sichtbar gemachte Regelhaftigkeit der gegenseitigen Beziehung der fraglichen Elemente zueinander. Auch dieses Verfahren hat seine sequenzanalytischen Probleme: Die »Anfangssequenz« kann nicht ausgemacht werden, weil ja nicht sicher ist, wohin der scannende Blick notwendigerweise zuerst fallen würde und welchem der von der »Planimetrie« festgehaltenen »Sinnkorridore« er dann tatsächlich folgte. Das planimetrische Verfahren vermeidet wohl eine inadäquate Semiotisierung des Bildes und gibt dem Analytiker durchaus handfeste Anhaltspunkte dafür, wie ein Bild »eigentlich« zu sehen ist. Zerlegt man jedoch ein Erkenntnisobjekt in seine Elemente und ihre gegenseitigen Beziehungen, um es dann rational kontrolliert wieder zusammenzusetzen, so ist man zwar auf der sicheren Seite der cartesianischen Wissenschaft, aber als phänomenologisch orientierter Hermeneutiker muss man wissen, dass man es dann nicht ganz mit der gesuchten Konstitution der Selbstgegebenheit von etwas als etwas zu tun hat. Allerdings sollte man das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Wertvoll an diesen Versuchen, die Regelhaftigkeit der Bildpräsenz im Bild selbst sichtbar zu machen, ist erstens der Hinweis auf den asemiotischen Charakter der im Bild sichtbaren Sinnbezüge. Weiterhin ist die
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zum Vorschein kommende Autonomie dieser Sinnbezüge zu beachten, die als materiale Interaktanten dem leiblichen Sehen des Betrachters begegnen. Durch die Idee, dass die im Bild sichtbare Formierung der Komposition seiner Elemente für den Vollzug des leiblichen Sehens, d. h. für den Vollzug der Bildpräsenz von Bedeutung ist, werden typisierende Bedeutungshorizonte thematisiert, vor denen diese Formierung erfolgt und die für die konkrete Gestalt der Bildpräsenz und ihre typische Regelhaftigkeit mitprägend sind. Hier begegnen wir der dritten, der Soziologie sehr nahen Möglichkeit, der Regelhaftigkeit der Bildpräsenz in ihrer Typik nachzuspüren. Sie wurde bereits von Karl Mannheim (1964) und seinem Konzept des Dokumentcharakters von Artefakten ins Auge gefasst, das er selbst von der kunsthistorischen Stilforschung übernahm. Hier verweist das Sichtbare des Bildes – etwa seine Planimetrie – auf Darstellungspraxen und Diskurse (d. h. etwa auf Panofskys ikonologische Ebene), die zwar jenseits des Bildes liegen, welche aber die Präsenz bzw. das Sich-Präsentieren des Bildes sowohl im Sinne seiner Gesamtkomposition und der Komposition seiner Elemente als auch im Sinne der Formierung des betrachtenden leiblichen Sehens mitgestalten. Auf diese Horizonte zielt, von Roland Barthes inspiriert, etwa Bourdieus (1990) Auffassung der Fotografie, in der die Bildkomposition auf die im kollektiven Habitus verankerte Praxis der Bildherstellung hinweist. Die Regelhaftigkeit des Dargestellten verweist hier auf die Regelhaftigkeit, die den Darstellern per Habitus auferlegt ist und deren Konvention das Bildthema, die Formierung des Blicks, des Körpers etc. bestimmt. In dieser Regelhaftigkeit sind sowohl die Bildproduzenten, die Bilddarstellung als auch Bildrezipienten gefangen und ihre Typik greift als »Kommunikationsklammer« durch alle diese Instanzen der Herstellung der Bildpräsenz hindurch. Der dokumentarische Charakter der Bildpräsenz erlaubt im Rahmen dieses Ansatzes sowohl die Thematisierung weitreichender Zusammenhänge der sozialen Konstruktion der Wirklichkeit bis in den Makrobereich der Machtdiskurse hinein als auch Bildanalysen, die Aussagen über erwartbare Relevanzsysteme der Bildproduzenten sowie der Bildrezipienten erlauben. Mit Roland Barthes (1989: 15) könnte man nun fragen, ob durch diesen Ansatz Fotografien bzw. Bilder im Allgemeinen nicht schlicht in »soziale Protokolle« verwandelt werden, die – an der Selbstgegebenheit des Bildes vorbei – seine Präsenz als ein Zeichen für seine soziale Genese betrachten. Ich will nun zeigen, dass der dokumentarische Ansatz – vielleicht überraschend – in Vielem mit der phänomenologischen Sicht der Bildpräsenz kompatibel ist und diese in gewisser Weise »empirisch« stützt. Wir haben gesehen, dass die kommunikative Trias von Produzent, Bild und Rezipient samt ihrem regulativen Umfeld bei Bourdieu durch das Konzept des Habitus zusammengehalten wird. Das Sehen als ein Bild produzierender und rezipierender Bildzugang ist hier also leiblich verankert. Die soziale Konvention, die sich darin durchsetzt, wird durch ihre leibliche Materialisierung wirksam und wird erlebt als ein Element des typischen Sachzusammenhangs des Betrachteten. Die im
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Bild sichtbare Gestalt dieser Konvention ist nicht arbiträr. Durch ihre Variation würden sich ja auch die Gestalt des Abgebildeten, seine Präsenz und seine Bedeutung wandeln. Gestalt und Konvention sind hier material miteinander verbunden. Dies weist uns darauf hin, dass die Präsenz der sozialen Sinngenese im Bilde, d. h. auch in der Fotografie, auf Akten der typisierenden Sinngebung beruht, also einen asemiotischen Charakter hat, der in die Bildgestalt vor ihrer semiotisch-sequenziellen Transformation durch die Bildanalyse eingeht und trotzdem fassbar wird. Die Bildgestalt ist daher kein Zeichen für die in ihr realisierten Konventionen, sondern bestenfalls ein Anzeichen in Husserls Sinne, d. h. ein Teil eines sachlichen Zusammenhangs.2 Die so zum Vorschein kommende Regelhaftigkeit erfordert offensichtlich kein Auffinden einer bildimmanenten, Sinn auf bauenden Sequenzialität. Vielmehr kann davon ausgegangen werden, dass die Materialität der Bildgestalt, präsent im leiblichen Sehen, die vorvertraute Typik evoziert, die quasi durch das Bild hindurch das Dargestellte als einen Sinnzusammenhang erscheinen lässt. Um die Regelhaftigkeit dieser Synthesis der Rekognition, die sich im monothetischen Blick vollzieht, sichtbar zu machen, ist es nicht erforderlich, eine bildimmanente Sequenz auszumachen. Vielmehr kann man versuchen durch die Variation des typisierten Zusammenhangs einerseits die den Typus individualisierenden Momente auszumachen, und andererseits seine »Grenzform« zu finden, durch deren Veränderung der typisierte Zusammenhang entweder seinen Sinn verlieren oder wesentlich verändern würde. Diese »Grenzform« stellte dann die universalisierbare Struktur des Typus dar, durch die wir das Typische als das Identische in den individualisierenden Variationen des Typisierten wiedererkennen. Es läßt sich also ein Fazit ziehen, das sich aus dieser phänomenologischen Betrachtung der Bildpräsenz ergibt: Die Präsenz des Bildes ist primär asemiotisch. Sie zwingt nicht notwendigerweise zu sequenziellen analytischen Verfahren in dem Sinne, dass eine immanente Sequenzialisierung des Bildes notwendig wäre, um die Regelhaftigkeit seines Sinnaufbaus herzustellen bzw. zu entdecken. Die Vertextung der Analyse sowie des monothetischen Blicks darin wird natürlich immer ein sequenzieller Prozess bleiben. Phänomenologisch kann man aber zeigen, dass dies nichtsdestoweniger zwei unterschiedliche und auch unterscheidbare Vorgänge sind, deren komplexe Übersetzungsverhältnisse man sich immer vor Augen halten muss.
2 | Auf diese Differenz zielt wohl in der Sache auch Bourdieu (1979: 189), wenn er darauf insistiert, dass der Habitus, d. h. die Einschreibung der Struktur in den Leib – in unserem Falle das leibliche Sehen – kein diskursiver Prozeß ist, obwohl natürlich etwa die Unterscheidung von legitimem und illegitimem Geschmack durchaus als ein Resultat von Diskursen gilt.
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Ilja Srubar
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Typus, Zeichen und Bildpräsenz
A bbildung Abb. 1: Jungfrau und Einhorn. Quelle: Boskovits, Miklós/Mojzer, Miklós/ Mucsi András (1967): Das christliche Museum von Esztergom (Gran), (2. verb. Aufl.), Budapest: Verlag der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, Titelseite.
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Das Lichtspiel der Fotografie als Phänomenologie des Blicks Achim Brosziewski Mein Beitrag behandelt die Frage, wie Fotografie als Kommunikation funktioniert. Als Antwort wird die These entwickelt: Fotografie kommuniziert als Phänomenologie des Blicks und des Blickens. Dabei gelange ich zu einer triadischen Konstellation, die nicht auf die Dyade von Fotograf und Betrachter reduziert werden kann. Es ist noch eine dritte Position einzurechnen; ein Blicken, das im Foto selbst auftauchen kann. Erst diese dritte Position vollendet die Kommunikation der Fotografie. Was das genau ist und wie das funktionieren soll, das wird zu zeigen sein. Um zu der fraglichen Fotophänomenologie des Blickens und Sehens vorzudringen, muss zunächst eine hohe Erkenntnishürde weggeräumt werden. Fast unsere gesamte erkenntnistheoretische Tradition konstruiert Erkenntnis nach dem Modell des Sehens. Sie ist deshalb nahezu unauflöslich bereits in die Phänomenologie des Blickens verstrickt und kaum in der Lage, sich vom Blick zu distanzieren und dessen kommunikativ-mediale Voraussetzungen freizulegen. Diese Traditionslast drückt sich mächtig bis in unsere Sprache hinein. Erkennen wird durchgängig mit Worten aus dem Bedeutungsfeld des Sehens beschrieben. Man liest von Bildern und Abbildern; von der Beleuchtung, die es zur Aufklärung braucht; von der Perspektive, von der aus etwas gesehen wird. Selbst die Metapher des »blinden Flecks« ruft noch auf dem Wege der Negation die eigentlich erstrebenswerte Sichtbarkeit von allem und jedem auf. Sprachlich und in der Folge begrifflich kann zwischen Sehen, Beobachten und Erkennen kaum unterschieden werden. Als Sprungbrett über die Erkenntnishürde hinweg setze ich die Unterscheidung von Wahrnehmung und Kommunikation. Ich wähle mithin einen systemtheoretischen Ausgangspunkt. Allerdings geht es dabei nicht um den differenzierungstheoretischen, sondern um den weit weniger bekannten kommunikationstheoretischen Ast der soziologischen Systemtheorie.1 Die Unterscheidung von Wahrnehmung und Kommunikation ist nicht klassifikatorisch gemeint. Wahrnehmung und Kommunikation 1 | Siehe zur Unterscheidung von Wahrnehmung und Kommunikation Luhmann 1995, insbesondere Kapitel 1, sowie Fuchs 2005.
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sind nicht als »Dinge« zu denken, die getrennt voneinander existieren könnten. Das Unterschiedene soll vielmehr als wechselseitige Bedingung füreinander verstanden werden, so wie die zwei Seiten einer Medaille, die ja auch nicht getrennt voneinander existieren, aber gleichwohl und deutlich unterschieden werden können. Mit diesen wenigen Strichen ist das Feld skizziert, in dem man dem Sehen einen eingeschränkten, also einen definierbaren Sinn geben und seinen unkontrollierten Übergriff auf den Gesamtbereich des Wahrnehmens, Beobachtens, Erkennens und Wissens blockieren kann. Sehen soll hier und im Folgenden ausschließlich Formbildung im Wahrnehmungsmedium des Lichts bedeuten. Gesprochene Worte und Tonalitäten jedweder Art (Gesang, Intonation etc.) sind keine solche Formen – auch wenn es in unserer Schrift-, Notations- und Transkriptionskultur kaum möglich ist, gehörte Sprach- und Klangformen nicht wie gedruckt, also wie »sichtbar« zu denken. Licht ist nicht deshalb Medium, weil es irgendetwas übertragen würde.2 Es ist Medium, weil es Kopplungen des Unterschieds von Hell und Dunkel zulässt.3 Und weil es jede konkrete Kopplung von Hell und Dunkel sofort wieder der Entkopplung aussetzt, um für eine neue Kopplung, für eine neue Formbildung frei zu werden. Fotografien reizen das Sehen, weil sie diesem Gesetz der Formbildung zu widersprechen scheinen. Hell und Dunkel scheinen fixiert. Mehr noch: Ihre Differenzen scheinen durch scharfe Grenzen markiert.4 Ich habe das Fotografieren noch in Zeiten von Fixierbädern kennengelernt; jenen Plastikwannen mit in Wasser gelösten Sulfaten, in denen der fotochemische Prozess der Bildentwicklung zum Abschluss gebracht wurde und dabei zusehen ließ, wie Hell- und Dunkel-Differenzen langsam Gestalt annahmen und, so hoffte der Amateur, am Ende »scharf« wurden. Aber diese technische Fixierung ist ja selber kein Sehen. Das Fotopapier weiß nichts von Hell und Dunkel, geschweige denn von deren Differenz. Es ist nur in einem chemisch spezifischen Zustand. Die Formbildung muss anderswo stattfinden. Vor der eingehenden Beschäftigung mit den neurophysiologischen Grundlagen menschlicher Wahrnehmungen konnte man noch annehmen, der »Ort« der Formbildung befinde sich »im Auge des Betrachters«. Inzwischen weiß man, dass Sehen wie jede andere Wahrnehmungsform vom Gehirn durch einen Ab2 | Siehe zur Ablehnung der Übertragungsmetapher und zum hier benutzten Medienbegriff Luhmann 1997: 190–202. 3 | Die Bedeutung des Lichts für Konzeption, Rezeption und Theorie der Fotografie ist schon häufig hervorgehoben worden. Aber eine analytische Bestimmung von Licht findet man kaum. Der Verweis auf einen Wahrnehmungssinn wird als ausreichend genommen. In der Folge werden Lichtprobleme zumeist auf Gestaltungsund Stilfragen reduziert – was eine kommunikationstheoretische Behandlung verhindert. 4 | Und nur deshalb können Grautöne so spannend erscheinen. Sobald Grenzen auftauchen, wird die Frage nach den »Übergängen« und den »Überlagerungen« virulent. Die Kontrastierung »Hell/Dunkel« soll übrigens alle Farben mit einschließen, auch wenn Schwarzweiß die besagte Differenz am markantesten realisiert.
Das Lichtspiel der Fotografie als Phänomenologie des Blicks
gleich (weniger) eingehender Impulse mit den vorhandenen neuronalen Verknüpfungen errechnet wird.5 Und dass es immer weiterer Impulse bedarf, damit ein Eindruck von Stabilität zustande kommen kann. Selbst wenn der Betrachter glaubt, er blicke fokussiert und ablenkungsfrei, dann muss er sich von der Optomotorik darüber belehren lassen, dass die Augen-Linse-Netzhautapparatur permanent vibrieren muss, um ein Bild geben zu können. Das Medium Licht kommt nur durch das Zusammenspiel von Koppeln und Entkoppeln von Hell-Dunkel-Differenzen zustande. Information im Visuellen (= Sehen) ist nicht mehr und nicht weniger als jener Moment, in dem das Medium von Hell und Dunkel eine feste Kopplung, eine momentan gebundene Form annimmt. Eine Implikation dieses Sachverhalts ist: Man kann Fotografie nicht als Kommunikation verstehen, wenn man ihre Zeitlichkeit außer Acht lässt. Alle Metaphern des »Einfrierens« von Augenblicken und Momenten lassen diese Dimension anklingen. Allerdings ist dabei zu beachten, dass die Zeitlichkeit nicht mit Sequenzialität, nicht mit Abfolgen, nicht mit Prozessualität gleichzusetzen ist. Jedes Zeiterleben und damit auch jede auf Zeit setzende Kommunikation muss Veränderung und Dauer verknüpfen können. Wenn die Fotografie spezifische Hell-Dunkel-Differenzen auf Dauer stellt (»einfriert«), kommt es eben deshalb darauf an, Veränderungen des Lichts zu suggerieren. So und nur so kann der Eindruck gewonnen werden, ein Moment sei eingefangen. Der Blick und das Blicken sollen als die operativen Seiten, als die Vollzugskomponenten des Sehens verstanden werden. Mit dieser Bestimmung ist schon festgehalten, dass technische Geräte wie Kamera und Zubehör nicht sehen können. Denn sie blicken nicht. Sie zeichnen nur Differenzen auf, denen die Wahrnehmung die Form des Lichts, das Spiel von Hell und Dunkel aufprägen kann. Die Formbildung bleibt Sache eines Betrachters, der blicken kann. An dieser Stelle könnte man sich in der Anthropologie und der Philosophie des Blicks verlieren.6 Für meine Frage nach der Kommunikationsform Fotografie und ihrer Phänomenologie des Blicks ist jedoch eine all solchen Ausdeutungen des Blicks vorgängige Beobachtung viel relevanter. Blicken, Sehen und Informationsbildung im Medium des Lichts funktionieren nur als Reduktion, als Beschränkung und Begrenzung des Wahrnehmbaren auf das Sichtbare. Die Variationen aller anderen Wahrnehmungsmedien, die über Hören, Riechen, Schmecken, Spüren und körperliche Eigenbeweglichkeit Informationen geben könnten, müssen in einem ersten Schritt neutral und indifferent gehalten werden, damit sie in einem zweiten Schritt selektiv in einen Bezug zum Sichtbaren gesetzt werden können. Nur so kann man beispielsweise in einer Fotografie jemanden Laufen sehen, also eine Form der Motilität dem Medium des Lichts »entnehmen«, obwohl sich die Hell-Dunkel-Differenzen selbst gar nicht bewegen können. 5 | Siehe als Ausgangspunkt einer nachhaltigen Diskussion (und zugleich als eine zentrale Referenz des »Konstruktivismus«) Lettvin et al. 1959. 6 | Für die Soziologie einschlägig: Simmel 1998.
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Besonders deutlich wird die konstitutive Bedeutung der Wahrnehmungseinschränkung in den geometrischen Beschreibungen des Sehens. In ihnen wird Sehen in Form von gerichteten Linien dargestellt. Der menschliche Wahrnehmungsapparat erscheint vollständig reduziert auf sein Auge. Das Licht wird als Bündel von »Linien« dargestellt, die das Auge mit den zu sehenden Objekten »verbinden«. Laut, Geruch, Geschmack, Taktilität und Motilität haben in diesem Bild nichts verloren – sie könnten nur stören. An den technologischen und kulturellen Endpunkten dieser Sehbeschreibungen kann dann auch das Auge ganz weggelassen und auf einen Punkt reduziert werden, der nur noch einen Algorithmus repräsentiert, der Hell-Dunkel-Differenzen verrechnet und in irgendetwas Anderes transformiert, sei es in Bilder, sei es in die Steuerung technischer Artefakte. Wir sind im Zeitalter der Digitalisierung des Sehens und der blickenden Maschinen angelangt. Was für die Darstellung (und die technologische Reproduktion) der Leistung des Auges notwendige Reduktion ist, verdeckt allerdings, was für einen sozialen und speziell für einen kommunikativen Gebrauch des Sehens und des Blickes das grundlegende Problem konstituiert: wie die Ausgrenzung aller übrigen Wahrnehmungsmedien, die primäre Neutralisierung ihrer Informationen und ihre sekundäre Reintegration überhaupt gelingen kann. Für die Fotografie sind insbesondere die Ausgrenzung von Hören, Taktilität und Motilität 7 relevant. Lautlichkeit, Spüren und Beweglichkeit sind ausgeschlossen und müssen, sollen sie in der Fotografie dennoch vorkommen, in den Formen des Visuellen rekonstruiert werden. Die Fotografie selbst ist still und starr. Laute, Gespür und Bewegungsimpulse muss sie suggerieren, und zwar mit rein bildlichen Mitteln. Hell/Dunkel ist der Rahmen, den die Fotografie nicht sprengen kann. Die Suggestion von allem, was nicht Licht ist, nicht erblickt und nicht gesehen werden kann, ist der Spielraum, den die Fotografie aus ihrem Rahmen gewinnen kann und entfalten muss, will sie als Kommunikation gelingen und nicht nur Aufzeichnung von und Erinnerung an irgendetwas Anderes sein. Die Gattungsvielfalt, die sich innerhalb dieses Spielraums ergeben hat, ist bekannt und Gegenstand unzähliger Beschreibungen und Ausdeutungen. Dass man es mit irgendeiner unmittelbaren Wirklichkeit zu tun hätte, glaubt niemand mehr, der nicht nur Fotos sehen, sondern auch Texte über Fotografie lesen und schreiben kann. »Unmittelbarkeit« und »Authentizität« sind längst zu Problemen der Fotoproduktion selbst geworden – und können auf dieser Ebene nicht durch Theorie, sondern nur durch gelingende Formen im Hell-Dunkel-Medium des Lichts gelöst werden. So sehr Kommunikation auf Wahrnehmungen angewiesen ist, vor allem auf die lautliche und visuelle Wahrnehmung ihrer Zeichen, so kann sie selbst doch nicht wahrnehmen, also auch nicht Sehen. Kommunika7 | Anders als Mobilität (Aktivierbarkeit) bezeichnet Motilität die Selbstaktivierung des motorischen Apparates. Siehe für eine frühe und ausgiebige Begriffsverwendung Freuds Traumdeutung (1972): der Traum als Effekt der durch den Schlaf gehemmten Motilität.
Das Lichtspiel der Fotografie als Phänomenologie des Blicks
tion hat keine Ohren und keine Augen. Sie kann auch das, was zuvor als »Blicken«, also als Operation des Sehens, bezeichnet wurde, nicht selbst vollziehen. Sie kann das Blicken nur bezeichnen. Soziale Strukturen gerinnen dann, wenn Bezeichnungen des Blicks zu Regeln und zu Regelkontrollen verdichtet werden und als Regelkomplexe kommuniziert werden können. Ausgewählte Institutionalisierungen von Blickregelkomplexen sind verschiedentlich bereits untersucht worden, so prominent von Michel Foucault anlässlich des Benthamschen Panoptikums im Kontext von ›Überwachen und Strafen‹ (Foucault 1977) oder auch zur Konstitution des ärztlichen Blicks in der organisierten Behandlung menschlicher Körper (Foucault 1988). Die Regeln des verklemmt-frivolen Blicks hat Jean-Claude Kaufmann (2006) in ›Frauenkörper – Männerblicke. Soziologie des Obenohne‹ untersucht. Soziologen werden vor allem in einigen Passagen von Erving Goffman fündig, wenngleich dort nicht für eine Soziologie des Sehens, sondern für seine Theorie des Selbstmanagements in Interaktionen analysiert und ausgewertet. Eine soziale Phänomenologie des Blickens kann jedoch nur dort stattfinden, wo die Blickbezeichnungen der Kommunikation nicht zugleich zu Regelungen und entsprechenden Normkontrollen versteift werden. Nur dort, wo es asketisch beim ge- und verbotsfreien Blickbezeichnen bleibt, kann das Blicken selbst exploriert werden. In dieser Ausklammerung von strikten, sanktionsgestützten Regeln liegt auch die Rechtfertigung, den Begriff der Phänomenologie einzusetzen und nicht bloß von einer Repräsentation des Blickens oder ähnlichem zu sprechen. Husserl startete seine phänomenologische Methode mit einem analogen Manöver, dem er den Namen »epoché« gab. Das Postulat der epoché besagt, jeglicher Geltungsanspruch, jede Existenzannahme sei auszuklammern, um das jeweilige Phänomen vorurteilsfrei dem Variationsspiel und -test des Bewusstseins auszusetzen, damit nach Durchgang durch alle möglichen Variationen das Phänomen seinen Kern, seine Substanz, sein Wesen, sein »Eidos«, eben seine Phänomenalität erscheinen lassen könne. Diese Funktion, hier in der Umsetzung dieser Methode auf ein Kommunikationsphänomen, erfüllt die Fotografie durch die Suspendierung sozial anwendbarer und sanktionierbarer Regeln für den Blick und das Blicken. Oder umgekehrt gesagt: Nur soweit es der Fotografie gelingt, soziale Blickregeln zu stornieren, arbeitet sie als Phänomenologie des Blickens.8 Nun heißt Stornierung sozialer Regeln natürlich nicht, die Fotografie könne in ihrem Medium von Hell und Dunkel beliebig walten. Ohne jede Einschränkung kommt keine einzige Form zustande und wäre es auch nicht möglich, eine Koordination des Sehens und eine dies realisierende Kommunikabilität zu erreichen. Die für die Befreiung des Blickens notwen8 | Ausklammerung von Regeln ist nicht mit Regellosigkeit, Ungeregeltheit oder gar »anything goes« zu verwechseln. Eine Ausklammerung anerkennt die Gegebenheit von Regeln, macht nur im Rahmen dieser Anerkennung Sinn und gewinnt ihre eigene Ordnung gerade aus der Disziplin, die die Aufrechterhaltung der Ausklammerung erfordert.
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dige Einschränkung wird durch die Form der Dinge realisiert.9 Hell und Dunkel können ja nie »an sich« wahrgenommen werden. Sie werden immer an etwas, an Dingen, an deren Oberflächen und Grenzen und vor allem an den Distanzen der Dinge untereinander wahrgenommen (durch Schattierungen, Brechungen, Übergänge und all das). Hell und Dunkel ist immer, auch jenseits der Fotografie, eine Form im Verhältnis der Dinge, einschließlich jener Sonderdinge, die wir menschliche Körper zu nennen gewohnt sind. Die Entdeckung von Hell und Dunkel »an sich« ist bereits eine voraussetzungsreiche Angelegenheit und verdankt sich bestimmten Kommunikationsformen wie lange vor der Fotografie und später mit ihr gemeinsam der Malerei, dann auch allen anderen Technologien, die unter dem Namen »Optik« versammelt sind und heutzutage von Rechnern gesteuert werden. Nun sind auch Objekte zunächst nicht regelfrei gegeben. Objekte werden sozial konstituiert durch Gebrauchsregeln, durch Zugehörigkeitsregeln (beispielsweise Eigentumsregeln) und durch Schutzregeln (Regeln zum Schutz des Objekts, zum Schutz des Subjekts, zum Schutz einer höheren Macht, …). Die Phänomenologie der Fotografie startet mit ihrer epoché, indem sie all diese Regeln ausklammert und die Objekte dem Blick allein ausstellt. Sie enteignet oder befreit die Dinge von ihren Motiven zu Zugriff und Vereinnahmung, zu Abwehr und Flucht. Oder in der ganz starken Terminologie des psychoanalytischen Dramas gesprochen: Die Fotografie muss Eros und Thanatos bannen, um den Blick als Blick freizugeben. Die Fotografie erlaubt es genau durch und nur durch diese Ausklammerungen, einen Standpunkt einzunehmen. In der Suche nach diesem Standpunkt, gleichbedeutend mit der Reduktion auf einen fixierbaren Blick, der das zu Sehende aus einem Punkt heraus und in einem Moment sieht, vollzieht sich die Fotografie als Kommunikation. Die Betonung liegt hierbei auf der Suche nach dem Standpunkt. Denn die Einnahme eines Standpunkts kann es ja nur geben, wenn man ihn gefunden hat. Die Theorie der Fotografie schlägt mindestens drei verschiedene Blickpunkte vor: den des Fotografen (eingerechnet all seine technischen Apparaturen und Kompetenzen), den des Betrachters oder auch den Blick eines Subjekts, das als Sujet in die objektivierten Verhältnisse anderer, nicht blickfähiger Objekte einrangiert wird. Die Unterschiede dieser drei Blickpositionen sind durch ihre unterschiedlichen Objektverhältnisse, also durch die Spiele des Lichts selbst konstituiert und definiert. Die Unentscheidbarkeit für einen einzigen Blickpunkt ist das deutlichste Indiz dafür, dass es sich in diesem Geschehen um Kommunikation handeln muss. Denn Kommunikation motiviert sich durch Differenzen, nicht durch die Einheitlichkeit von Ansichten oder Standpunkten (Baecker 2005). Es folgt eine genauere Kennzeichnung der drei Blicke, deren Zusammen- und Gegeneinanderspiel die Kommunikation der Fotografie ausmachen. Dabei gilt das Memento: Jeder der drei Blicke muss die genannte Leistung der Neutralisierung und selektiven Reintegration aller anderen Wahrneh9 | Wir berühren hier die Ding-Soziologie von Bruno Latour, beschränken die Berührung jedoch auf das Verhältnis von Blick und Ding.
Das Lichtspiel der Fotografie als Phänomenologie des Blicks
mungsmedien erbringen. Er muss die Informationen des Hörens, Spürens und Bewegens ausklammern, bis auf all das, was davon durch die Fotografie selektiv aufgerufen wird. a) Die Blickposition des Fotografen definiert sich durch die Selektion des Ausschnitts, durch den Ausriss der Objekte aus ihren sozial geregelten Gebrauchs-, Vereinnahmungs- und Schutzzusammenhängen – wobei jede Kunstlehre besagt, dass gerade in dieser Selektion die Lichtverhältnisse das ausschlaggebende Kriterium zu bilden haben. b) Die Position des Betrachters definiert sich darin, an der Selektion des Ausschnitts nichts ändern zu können. Sie kann den Blick nicht weiten, um die Kontexte mitzusehen, aus denen die Objekte gerissen sind; noch kann sie enger fokussieren, um die Objekte, ihre Grenzen und ihre Entfernungen detaillierter zu sehen; noch kann sie im Objektensemble ihren Standpunkt verschieben, um Hinterseiten und andersartige Objektrelationen zu beleuchten. Die Position des Betrachters muss diese Macht des Fotografen andersartig kompensieren, um überhaupt Position im Spiel der Blicke sein zu können. Ihre Gegenmacht, vorsichtiger: ihr Einsatz heißt selektive Aufmerksamkeit, abermals bedeutungsgleich mit der Ausklammerung aller anderen, aller nicht-visuellen Medien. Wir können diese spezifische Aufmerksamkeit auch »Fokussierung« nennen10 Als fertige Produkte mit stabiler technischer Identität sind Fotografien ja selber Ausschnitte in einem Umfeld des Sichtbaren, meistens viel kleiner als alles andere, was sonst noch so gesehen werden kann. Lassen wir die trivialen Fälle weg, in denen jemand seine Fokussierung vorab entscheidet (wie beim Besuch einer Fotoausstellung) oder in denen jemandem Fokussierung sozial aufgenö10 | Die traditionelle Epistemologie lässt nur diesen Akt, die Fokussierung innerhalb des Mediums des Lichts, als Beobachtung gelten. Das war einleitend mit der These gemeint, dass diese Epistemologie dem Medium des Lichts verhaftet bleibt und sich vom Blick nicht distanzieren kann. Damit werden alle Chancen verbaut, auch fokussiertes Hören (Medium: laut/leise), Spüren (Medium: stark/schwach) und Bewegen (Medium: schwer/leicht) als unterscheidbare Formen des Beobachtens zu beschreiben, geschweige denn in wissenschaftlichen Verfahren anzuerkennen. Diese Erkenntnishürde blockiert unter anderem auch die Ethnografie, die ihren Beobachter auf einen Seher und Aufschreiber reduziert und die Informationen der ausgegrenzten Wahrnehmungsmedien, trotz zahlreicher Reverenzen an deren »Bedeutung«, erkenntnistheoretisch und methodologisch nicht mehr richtig unterbringen kann. So fehlt jede Basis, der »Überlegenheit« von bildgebenden Verfahren (Fotografie, Videografie) etwas entgegenzusetzen. Das Ausgeklammerte erscheint entweder »ganzheitlich« (zum Beispiel als Körperlichkeit »an sich«) oder in kulturwissenschaftlichen Theorieimporten, die – je nach Präferenz für einen der vielen intellektuellen »turns« – den auditiven, expressiven oder motorischen »Praktiken« ihre Stimme leihen. Wie immer man die reduktionistische Auffassung von Beobachten erklären oder begründen mag (die Medientheorie meint bislang, schuld sei die Schrift und die Praktik des Lesens): Die Wortbedeutung von Beobachten legt jedenfalls nicht auf fokussiertes Sehen fest. Obacht geben und in Acht nehmen kann auch von Hören, Spüren und Bewegen erwartet werden.
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tigt wird (»Schau Dir das Foto einmal an«) – beide Fälle typischerweise durch routiniert-gelangweiltes Blicken gestraft –, dann kann sich das Foto Aufmerksamkeit nur mit Eigenmitteln besorgen: durch besonders prägnante und deshalb überraschende Formen im Medium des Lichts. Fotografien faszinieren den Blick des Betrachters durch andere, meist kontrastreichere und schärfer ausgeformte Hell-Dunkel-Differenzen als sie das »normale« Sichtfeld anzubieten hat. Wie lange ein Foto die Fokussierung des Betrachters halten kann, hängt ganz von den Formen ab, die der Betrachter selbst dem Lichtspiel abgewinnen kann, in seinem Durchgang durch die Oberflächen, die Distanzen, die Relationen der Objekte und jenen Perspektivverschiebungen, die das Foto der Imagination des Betrachters zu suggerieren vermag. Dass es nur wenigen Fotos gelingt zu verhindern, dass der Betrachter all das in einem einzigen Augenblick erledigt, um seine Aufmerksamkeit wieder abzulenken, braucht in unserer fotoüberfluteten Welt kaum eigens erwähnt zu werden. Der Unwahrscheinlichkeit von Kommunikation kann auch die Fotografie nicht entrinnen. c) Kulturgeschichtlich gesehen kann der Mensch als das bevorzugte, zumindest als ein herausgehobenes Objekt der Fotografie gelten. Dementsprechend wird vorgeschlagen oder sogar eingefordert, auch den Blick der fotografierten Objekte als eigenständige, als definitionsmächtige Position einzuführen. Eine eigenständige Position könnte es nicht sein, wenn es lediglich um die Frage ginge, ob sich eine fotografierte Person mit den Blicken des Fotografens oder des Betrachters einverstanden erklärt oder nicht, ob er oder sie die Erlaubnis erteilt, den eigenen Körper inklusive seiner sozialen Zurichtungen mit oder ohne Kleidung ins Lichtspiel der Objekte einrücken zu lassen. All das wären analytisch gesehen keine dritten Positionen, sondern bloße Identifikationen mit einer der beiden zuvor genannten Positionen. Die eigenständige dritte Position definiert sich dadurch, dass die fotografierte Person die Differenz von blickenden und nicht-blickenden Objekten in die Fotografie und ihr Objektarrangement einführt und diese Differenz selbst sichtbar macht – soweit es der Fotografie gelingt, diese Position als Sichtbarkeit tatsächlich aufzubauen; also zu visualisieren, dass sich innerhalb des Sichtbaren ein Blick konstituiert, der weder mit dem des Fotografen noch mit dem des Betrachters zusammenfällt. Wenn man den Eindruck hat, ein Foto schaue einen an, dann sind schon mal zwei Blickpositionen etabliert: die des Ausschnitts und die der Fokussierung. Wenn man den Eindruck gewinnt, jemand schaue in einem Foto etwas an, oder sogar: jemand schaue aus einem Foto heraus einen selber an, dann hat die Fotografie tatsächlich den Blick aus dem Medium des Sehens selbst heraus modelliert.11 Der Ausschnitt, die Fokussierung und die Sichtbarkeit des Blicks selbst – dies ist die Triade von Blickpositionen, die durch die Lichtspiele der Fotografie miteinander ins Gespräch gebracht werden. Dabei muss 11 | Als Fallstudien zum fotografierten Blick können beispielsweise Roland Barthes’ ›Die helle Kammer‹ (1989) (der Blick seiner Mutter konstituiert die für ihn einzig »wahre« Aufnahme) oder auch Michael Leichts Essay zum trotzigen Blick der Katje Tingle gelesen werden (Leicht 2006).
Das Lichtspiel der Fotografie als Phänomenologie des Blicks
und kann jede der drei Positionen das leisten, was man als Einschluss des Ausgeschlossenen bezeichnen kann: die Ausklammerung und selektive Re-Integration des Hörens, Spürens und Bewegens in das Medium des Lichts. Die Triade von Blickpositionen exerziert eine kommunikative Phänomenologie des Blickens, an der jede einzelne Fotografie im Rahmen ihrer Gattung, ihrer motivationalen Kontexte und ihrer soziohistorischen Lagerung teilhat.12 Im Effekt wissen wir einen großen Teil dessen, was wir über das Sehen wissen, durch die Fotografie.
L iter atur Baecker, Dirk (2005): Form und Formen der Kommunikation, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Barthes, Roland (1989): Die helle Kammer. Bemerkung zur Fotografie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Foucault, Michel (1977): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Foucault, Michel (1988): Die Geburt der Klinik: Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, Frankfurt a. M.: Fischer. Freud, Sigmund (1972 [1900]): Die Traumdeutung, Frankfurt a. M.: Fischer. Fuchs, Peter (2005): Die Psyche. Studien zur Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt, Weilerswist: Velbrück. Kaufmann, Jean-Claude (2006): Frauenkörper – Männerblicke. Soziologie des Oben-ohne, Konstanz: UVK. Leicht, Michael (2006): Wie Katje Tingle sich weigerte, ordentlich zu posieren und Walker Evans darüber nicht grollte. Eine kritische Bildbetrachtung dokumentarischer Fotografie, Bielefeld: transcript. Lettvin, Jerry Y./Maturana, Humberto R./McCulloch, Warren S./Pitts, Walter H. (1959): »What the Frog’s Eye Tells the Frog’s Brain«, in Proceedings of the IRE (Institute of Radio Engineers) 47(11): 1940–1951. Luhmann, Niklas (1995): Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Luhmann, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Simmel, Georg (1998): »Soziologie der Sinne«, in: ders., Soziologische Ästhetik, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 135–149. 12 | »Jede einzelne Fotografie« meint natürlich nicht, dass jede Fotografie alle drei Positionen auch auszuarbeiten hätte. Vor allem die schwierigste, die dritte Position des sichtbaren Blicks wird nur in den wenigsten Fotografien realisiert. Gleichwohl gehört die dritte Position zur kommunikativen Gattung, ist eines ihrer produktiven Strukturelemente und macht sich dort, wo sie fehlt, dann eben als Fehlen bemerkbar. Umgekehrt gelingt es den anspruchsvollen Formen der Fotografie, auch dort Blicke zu zeigen, wo keine konventionellen »Träger« des Blickes wie Menschen, Tiere oder andere augenbestückte Wesen erscheinen. Die fotografische Phänomenologie des Blickens lehrt, dass auch Objekte und Objektkonstellationen blicken können.
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Fünfter Teil: Abschlussmeditation
Momentaufnahmen der Reflexion Bernard Langerock und Hermann Schmitz Anmerkungen des Herausgebers: Der Fotograf Bernard Langerock tritt im Folgenden ins Zwiegespräch mit dem Philosophen Hermann Schmitz, der mit seinem zehnbändigen Werk ›System der Philosophie‹ die »Neue Phänomenologie« begründet hat. Diese folgte Husserls Ruf »Zu den Sachen selbst!«, suchte indes einen direkteren Zugriff zum Feld alltäglicher Erfahrungen. Seine Untersuchungen und Begriffsschöpfungen fanden Resonanz bei Wissenschaftler(inne)n verschiedenster Disziplinen, in der Psychologie wie in der Medizin und der Architektur. Seine Leibphänomenologie, insbesondere seine Unterscheidung zwischen Körper und Leib ist auch in den Sozialwissenschaften rezipiert worden. Ebenso Anklang gefunden haben seine phänomenologischen Analysen leiblicher Wahrnehmung, der ästhetischen Erfahrung, der Zeit sowie von Atmosphären. Auch Bernard Langerock fühlt sich von der Neuen Phänomenologie angesprochen. Für ihn ist Fotografieren »das apparative Fixieren ›ergreifender Atmosphären‹ oder, anders ausgedrückt, situativer Identifikationen«. Und »Fotografien sind das Ergebnis reflektierender Urteilskraft, sie entstehen als Plakative und entwickeln sich weiter als versuchte Explikate im Kontext ihrer Zeit« (Langerock/Schmitz 2014: 78). So arrangiert Lange rock im Folgenden »Gegenüberstellungen«, in denen er aus Schmitz’ Werk einige Schlüsselaussagen präsentiert und sie je mit einer seiner Fotografien paart. Im Unterschied zu den bisherigen Texten in diesem Buch sind es diesmal also nicht Fotografien, die in Texten kommentiert werden, sondern umgekehrt Texte, die mit Fotografien kommentiert werden. Diese Gegenüberstellungen bilden eine Art Abschlussmeditation, weil einem bei der Betrachtung der Fotos vieles wieder einfällt, was man im vorliegenden Buch an verbal formulierten Argumenten gelesen hat, und weil die Bilder dem Betrachter dezidiert mit dem Anspruch auf Eigenwert, Selbständigkeit und eine autonome Bildbotschaft mit pikturaler Logik entgegentreten. Diese Fotografien sind daher nicht einfach nur Illustrationen von Schmitz’ Kurztexten, sondern treten mit ihnen in wechselseitige Interaktion, erzeugen Spannung sowie ein mannigfaltiges kommunikatives Wechselspiel, in dem beide einerseits selbständig agieren, andererseits einander auch referenzieren. Es wäre verfehlt, dieses Wechselspiel einseitig verbal zu reflektieren – Fotografien muss man betrachten und sie auf sich wirken lassen.1 1 | Wir danken dem Karl Alber Verlag für die freundliche Wiederabdruckgenehmigung der folgenden Bild- und Textpassagen aus Langerock/Schmitz 2014.
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»Philosophie ist Sichbesinnen des Menschen auf sein Sichfinden in seiner Umgebung. Das Motiv dafür ist eine Beirrung des Sichfindens. In solcher Weise philosophiert jeder Mensch, der sich nicht ganz sicher eingebunden weiß und sich von dieser Unsicherheit nachdenklich Rechenschaft zu geben versucht.« (Langerock/Schmitz 2014: 9)
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»Die zentrale Aufgabe der Phänomenologie ist die begriffliche und besinnliche Vertiefung in die Lebenserfahrung, die von den Menschen zwar beständig erlebt, erlitten und mehr oder weniger bewältigt wird, ihnen aber dennoch heute mehr als früher eigens erst nahe gebracht werden muss, weil sie den Zugang zu dem, was sie unwillkürlich erleben und vorbegrifflich kennen, unter dem Gewirr von Abstraktionen, Methoden, Hypothesen und Konstruktionen, das heute ihr Verstehen überhaupt besetzt, nicht mehr ohne außerordentliche philosophische Anstrengung ihrer Selbstbesinnung zu finden vermögen.« (Langerock/Schmitz 2014: 11)
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»Die Welt, in der wir leben, ist nicht die Welt, mit der wir rechnen.« (Langerock/Schmitz 2014: 13)
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»Alles affektive Betroffensein ist leiblich spürbar. Der Leib ist sozusagen der Resonanzboden des affektiven Betroffenseins. Er muss vom materiellen Körper des Menschen unterschieden werden, obwohl er mit diesem Körper weitgehend das Lokal teilt, das er aber zum Beispiel im Blick überschreitet.« (Langerock/Schmitz 2014: 21)
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»Wahrnehmung ist leiblich. Der menschliche Leib ist zwar an den menschlichen Körper gebunden, aber der Räumlichkeit und Dynamik nach so anders, dass es nicht unsinnig ist, sich vorzustellen, er könnte auch ausfahren, wie es z. B. die Schamanen und die Chinesen von ihren Seelen oder Teilseelen als missverstandenen Leibern glauben. Ebenso zeigen zwar sehr einfache und beständige Erfahrungen schon dem wissenschaftlich ganz naiven Menschen, dass das Sehen mit den Augen und das Hören mit den Ohren zu tun hat, aber im Erfahren des Hörens kommt nichts von Ohren vor, im Erfahren des Sehens nichts von Augen, dafür aber viel vom Blick, der wiederum im Körper keinen Vertreter hat.« (Langerock/Schmitz 2014: 29)
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»So ist es oft beim Problemlösen: Wenn nach längerer Suche die Spannung aussetzt, öffnet sich das Problem und die Lösung fällt heraus.« (Langerock/Schmitz 2014: S. 51)
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Bernard Langerock und Hermann Schmit z
L iter atur Langerock, Bernard/Schmitz, Hermann (2014): Momentaufnahmen der Reflexion – Fotografie und Philosophie. Freiburg/München: Karl Alber.
A bbildungen Abb. 1: Bild 3, S. 8. © Foto: Bernard Langerock. Abb. 2: Bild 4, S. 10. © Foto: Bernard Langerock. Abb. 3: Bild 5, S. 12. © Foto: Bernard Langerock. Abb. 4: Bild 9, S. 20. © Foto: Bernard Langerock. Abb. 5: Bild 13, S. 28. © Foto: Bernard Langerock. Abb. 6: Bild 24, S. 50. © Foto: Bernard Langerock.
Autorinnen und Autoren Nina Baur, Dr. rer. pol., ist Professorin für Methoden der empirischen Sozialforschung am Institut für Soziologie der Technischen Universität Berlin. Weitere Informationen unter: www.mes.tu-berlin.de/Baur Oliver Bidlo, Dr. phil., arbeitet als Lehrbeauftragter für Soziologie, Kriminologie und Kommunikationswissenschaft an der Universität DuisburgEssen, der Ruhr-Universität Bochum und der Hochschule Fulda. Aida Bosch, Dr. phil., ist außerplanmäßige Professorin am Institut für Soziologie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Weitere Informationen unter: www.soziologie.phil.uni-erlangen.de/team/bosch Roswitha Breckner, Dr. phil., ist assoziierte Professorin am Institut für Soziologie der Universität Wien. Weitere Informationen unter: www.soz.uni vie.ac.at/roswitha-breckner/ Achim Brosziewski, Dr. oec., ist Professor für Bildungsforschung an der Pädagogischen Hochschule Thurgau, Kreuzlingen. Weitere Informationen unter: http://profil.phtg.ch/achim.brosziewski Patrik Budenz ist freier Fotograf, Diplom-Wirtschaftsinformatiker und Mitglied der Deutschen Fotografischen Akademie. Weitere Informationen unter: www.grauwerk.de Jochen Dreher, Dr. rer. soc., ist leitender Geschäftsführer des Sozialwissenschaftlichen Archivs der Universität Konstanz. Weitere Informationen unter: www.uni-konstanz.de/soz-archiv Thomas S. Eberle, Dr. oec., ist Prof. em. für Soziologie an der Universität St. Gallen. Weitere Informationen unter: https://www.alexandria.unisg.ch/ Personen/Thomas_Eberle Paul Eisewicht, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie an der Technischen Universität Dortmund. Weitere Informationen unter: www.hitzler-soziologie.de/mitarbeiter.html#PEisewicht
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Fotografie und Gesellschaf t
Tilo Grenz, Universitätsassistent im Arbeitsbereich Kultur und Wissen des Instituts für Soziologie an der Universität Wien. Weitere Informationen unter: www.soz.univie.ac.at/personen/mitarbeiterinnen-am-institut-fuersoziologie/grenz-univ-ass-dr-des-tilo/tilo-grenz-forschung-uni-wien/ Ronald Hitzler, Dr. rer. pol., ist Professor für Allgemeine Soziologie an der Fakultät »Erziehungswissenschaft und Soziologie« der Technischen Universität Dortmund. Weitere Informationen unter: www.hitzler-soziologie.de Felix Keller, Dr. phil., ist Assistenzprofessor für Soziologie an der Universität St. Gallen. Weitere Informationen unter: https://www.alexandria.unisg. ch/Personen/Felix_Keller Reiner Keller, Dr. phil., ist Professor für Soziologie an der Universität Augsburg. Weitere Informationen unter: www.uni-augsburg.de/keller und http://kellersskad.blogspot.de/p/blog-page.html Hubert Knoblauch, Dr. rer. soc., ist Professor für Allgemeine Soziologie an der Technischen Hochschule Berlin. Weitere Informationen unter: www. soz.tu-berlin.de/Crew/Knoblauch Bernard Langerock, ist Fotograf. Weitere Informationen unter: www.lange rock-fotografien.de Christoph Maeder, Dr. oec., ist Professor für Bildungssoziologie an der Pädagogischen Hochschule Zürich. Weitere Informationen unter: www.ph zh.ch/personen/christoph.maeder Jörg Metelmann, PD Dr. phil., ist Titularprofessor für Kultur- und Medienwissenschaft an der Universität St. Gallen. Weitere Informationen unter: https://www.alexandria.unisg.ch/Personen/Joerg_Metelmann Klaus Neumann-Braun, Dr. phil., ist Professor für Medienwissenschaft und Alt-Forschungsdekan (2013–2016) der Phil.-Hist. Fakultät der Universität Basel. Weitere Informationen unter: www.mewi.unibas.ch Michaela Pfadenhauer, Dr. phil., ist Professorin für Soziologie (Arbeitsgebiet Kultur und Wissen) am Institut für Soziologie der Universität Wien. Weitere Informationen unter: www.soz.univie.ac.at/michaela-pfadenhauer Angelika Poferl, Dr. rer. phil., ist Professorin für Allgemeine Soziologie am Institut für Soziologie, Fakultät »Erziehungswissenschaft, Psychologie und Soziologie« der Technischen Universität Dortmund. Weitere Informationen unter: www.fk12.tu-dortmund.de/cms/ISO/de/Lehr-und-Forschungs bereiche/Allgemeine_soziologie_Poferl
Autorinnen und Autoren
Manfred Prisching, Mag. rer. soc. oec., Dr. jur., ist Professor am Institut für Soziologie der Universität Graz. Weitere Informationen unter: www.man fred-prisching.com. Jürgen Raab, Dr. rer. soc., ist Professor für Allgemeine Soziologie am Fachbereich »Kultur- und Sozialwissenschaften« der Universität Koblenz-Landau. Weitere Informationen unter: www.uni-koblenz-landau.de/de/landau/ fb6/sowi/soziologie/mitarbeiter/sozio-profs/raab Jo Reichertz, Dr. phil, war Professor für Kommunikationswissenschaft an der Universität Duisburg-Essen, jetzt Senior Fellow am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen. Weitere Informationen unter: www.kwi-nrw.de/ home/profil-jreichertz.html Hermann Schmitz, Dr. phil., ist emeritierter Professor für Philosophie der Universität Kiel. Weitere Informationen unter: www.gnp-online.de Bernt Schnettler, Dr. phil., ist Professor für Kultur- und Religionssoziologie an der Universität Bayreuth. Weitere Informationen unter: www.soz.unibayreuth.de Norbert Schröer, Dr. rer. soc., ist Professor für Qualitative Methoden der Empirischen Sozialforschung mit dem Schwerpunkt Interkulturelle Kommunikationsforschung am Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften der Hochschule Fulda. Weitere Informationen unter: www.hs-fulda.de/schroer Franz Schultheis, ist Professor und Leiter des Seminars für Soziologie an der Universität St. Gallen. Weitere Informationen unter: https://www.alexandria.unisg.ch/Personen/Franz_Schultheis Hans-Georg Soeffner, Dr. phil., Prof. em. für Soziologie (Universität Konstanz); Mitglied des Vorstands und Permanent Fellow im KWI Essen; Senior Advisor am FIW, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Weitere Informationen unter: www.kwi-nrw.de/home/profil-hsoeffner.html Ilja Srubar, ist Professor für Soziologie i. R. am Soziologischen Institut der Universität Erlangen-Nürnberg. Weitere Informationen unter: www.sozio logie.phil.uni-erlangen.de/team/srubar Anna Lisa Tota, Ph. D., ist Professorin für Soziologie der Kultur und der Kommunikation an der Abteilung »Philosophie, Kommunikation und Performing Arts« der Universität Rome III. Weitere Informationen unter: www.filcospe.it/index.php/docenti/47-docenti/altota/145-curriculum-vi tae-tota
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Fotografie und Gesellschaf t
Sylvia Marlene Wilz, Dr. rer. soz., ist Professorin für Organisationssoziologie und qualitative Methoden an der Fakultät für Kultur- und Sozialwissenschaften der FernUniversität in Hagen. Weitere Informationen unter: www.fernuni-hagen.de/soziologie/team/lg3/sylvia.wilz.shtml
Soziologie Uwe Becker Die Inklusionslüge Behinderung im flexiblen Kapitalismus 2015, 216 S., kart., 19,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3056-5 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3056-9 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3056-5
Gabriele Winker Care Revolution Schritte in eine solidarische Gesellschaft 2015, 208 S., kart., 11,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3040-4 E-Book: 10,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3040-8 EPUB: 10,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3040-4
Johannes Angermuller, Martin Nonhoff, Eva Herschinger, Felicitas Macgilchrist, Martin Reisigl, Juliette Wedl, Daniel Wrana, Alexander Ziem (Hg.) Diskursforschung Ein interdisziplinäres Handbuch (2 Bde.) 2014, 1264 S., kart., 2 Bde. im Schuber, zahlr. Abb. 44,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-2722-0 E-Book: 44,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2722-4
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Soziologie Silke Helfrich, Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.) Commons Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat 2014, 528 S., kart., 24,80 € (DE), ISBN 978-3-8376-2835-7 als Open-Access-Publikation kostenlos erhältlich E-Book: ISBN 978-3-8394-2835-1
Carlo Bordoni Interregnum Beyond Liquid Modernity März 2016, 136 p., 19,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3515-7 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3515-1 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3515-7
Kijan Espahangizi, Sabine Hess, Juliane Karakayali, Bernd Kasparek, Simona Pagano, Mathias Rodatz, Vassilis S. Tsianos (Hg.)
movements. Journal für kritische Migrationsund Grenzregimeforschung Jg. 2, Heft 1/2016: Rassismus in der postmigrantischen Gesellschaft September 2016, 272 S., kart. 24,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3570-6 als Open-Access-Publikation kostenlos erhältlich: www.movements-journal.org
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