Forschung im Queerformat: Aktuelle Beiträge der LSBTI*-, Queer- und Geschlechterforschung [1. Aufl.] 9783839427026

Many people who do not fit into the hetero-normative grid of society are still disadvantaged in various areas of life. C

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German Pages 312 [310] Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Die interdisziplinäre Zusammenführung der LSBTI*-Forschung als Experiment — eine Einführung in dieses Buch
Zum historischen Umgang mit sexueller und geschlechtlicher Vielfalt
Überlegungen zur LGBTI-Forschung und Menschenrechtspolitik im 21. Jahrhundert im Rekurs auf das 19. und 20. Jahrhundert
Zum Doppelleben gezwungen: Vermeidungsund Überlebensstrategien lesbischer Frauen im ›Dritten Reich‹
Verfolgung und Selbstbehauptung — homosexuelle Männer während der Zeit des Nationalsozialismus
»Ich habe wohl Freude an Frauenkleidern […], bin aber deswegen nicht homosexuell.«
Wo blieb die Bewegung lesbischer Trümmerfrauen?
Zwischen den Stühlen — die deutsche Homophilenbewegung der 1950er Jahre
Residuum der Queer History: Inter* als Restsymptom der Trennung von Geschlechter- und Sexualitätsgeschichte
Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt heute — aktuelle Diskurse und Entwicklungen in Forschung, Gesellschaft und Politik
Intergeschlechtlichkeit: Aktivismus und Forschung, ihre Verzahnung und intersektionale Fortentwicklung
Verqueres Recht — von den Schwierigkeiten, Inter* gerecht zu werden
Grundzüge struktureller und konzeptueller Entwicklungen der Trans*bewegung in der Bundesrepublik Deutschland seit Ende der 1990er Jahre
Jenseits einer diagnostischen Logik?
Lesben und Schwule mit Behinderung — Wo können vielfältige Identitäten eine Heimat finden?
»Dieses Gefühl irgendwie so ’n Zuhause gefunden zu haben.«
Re-thinking family norms: Herausforderungen queer-familiärer Lebensweisen
Forschung und Soziale Arbeit zu Queer mit Rassismuserfahrungen
Cruzando Fronteras — zur Heteronormativität von Grenz- und Migrationsregimen am Beispiel von Asyl- und aufenthaltrechtlichen Verfahren
»Heterosexuelle sind die neuen Schwulen« — Tendenzen des Normativen im aktuellen queeren Film und Fernsehen
Schulische Bildungsarbeit und LSBTI*- Aufklärungsprojekte: gemeinsam und nachhaltiger gegen Homo- und Transphobie
Über die Autor_innen
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Forschung im Queerformat: Aktuelle Beiträge der LSBTI*-, Queer- und Geschlechterforschung [1. Aufl.]
 9783839427026

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Bundesstiftung Magnus Hirschfeld (Hg.) Forschung im Queerformat

Queer Studies | Band 6

2014-08-01 09-08-05 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03a4373292975788|(S.

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4) TIT2702.p 373292975796

Die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld versteht sich als Impulsgeberin für die Erforschung und Darstellung geschichtlicher Zusammenhänge und aktueller Entwicklungen hinsichtlich der Diskriminierung und des Alltags von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans* und Inter* (LSBTI*). Aktuelle Schwerpunkte sind die wissenschaftliche Aufarbeitung der Verfolgung und Repression von LSBTI* in der NS-Zeit sowie die Suche nach Zeitzeug_innen, die in den 1950er und 1960er Jahren unter den Folgen des § 175 in beiden deutschen Staaten gelitten haben. Die Bundesstiftung initiiert Bildungsmaßnahmen und -veranstaltungen zu unterschiedlichen Themen der sexuellen und geschlechtlichen Vielfalt, die zu mehr Akzeptanz von LSBTI*-Lebensweisen in unserer Gesellschaft beitragen helfen. Diese Veröffentlichung entstand als Dokumentationsband des 1. LSBTI*-Wissenschaftskongresses »Gleich-Geschlechtliche Erfahrungswelten« der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld, welcher vom 28. bis zum 30. November 2013 in Berlin stattfand.

2014-08-01 09-08-05 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03a4373292975788|(S.

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4) TIT2702.p 373292975796

Bundesstiftung Magnus Hirschfeld (Hg.)

Forschung im Queerformat Aktuelle Beiträge der LSBTI*-, Queer- und Geschlechterforschung

2014-08-01 09-08-05 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03a4373292975788|(S.

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4) TIT2702.p 373292975796

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Dr. Janine Dieckmann & Susanne Haldrich (www.textei.com) Satz: Justine Haida, Bielefeld Druck: CPI – Clausen & Bosse, Leck Print-ISBN 978-3-8376-2702-2 PDF-ISBN 978-3-8394-2702-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Das diesem Dokumentationsband zugrunde liegende Vorhaben »Gleich-Geschlechtliche Erfahrungswelten – 1. LSBTI*-Wissenschaftskongress« wurde mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) unter dem Förderkennzeichen 01FP1301 gefördert. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei den Autor_innen.

2014-08-01 09-08-05 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03a4373292975788|(S.

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4) TIT2702.p 373292975796

Inhalt

Die interdisziplinäre Zusammenführung der LSBTI*-Forschung als Experiment — eine Einführung in dieses Buch Janine Dieckmann und Jörg Litwinschuh | 9

Z um historischen U mgang mit sexueller und geschlechtlicher V ielfalt Überlegungen zur LGBTI-Forschung und Menschenrechtspolitik im 21 . Jahrhundert im Rekurs auf das 19 . und 20. Jahrhundert Klaus Mueller | 19

Zum Doppelleben gezwungen — Vermeidungs- und Überlebensstrategien lesbischer Frauen im ›Dritten Reich‹ Claudia Schoppmann | 35

Verfolgung und Selbstbehauptung — homosexuelle Männer während der Zeit des Nationalsozialismus Andreas Pretzel | 47

»Ich habe wohl Freude an Frauenkleidern […], bin aber deswegen nicht homosexuell.« Der Forschungsstand zum Transvestitismus in der Zeit des Nationalsozialismus Rainer Herrn | 59

Wo blieb die Bewegung lesbischer Trümmerfrauen? Kirsten Plötz | 71

Zwischen den Stühlen – die deutsche Homophilenbewegung der 1950 er Jahre Raimund Wolfert | 87

Residuum der Queer History: Inter* als Restsymptom der Trennung von Geschlechter- und Sexualitätsgeschichte Ulrike Klöppel | 105

S exuelle und geschlechtliche V ielfalt heute — ak tuelle D iskurse und E nt wicklungen in F orschung , G esellschaft und P olitik Intergeschlechtlichkeit: Aktivismus und Forschung, ihre Verzahnung und intersektionale Fortentwicklung Heinz-Jürgen Voß | 117

Verqueres Recht — von den Schwierigkeiten, Inter* gerecht zu werden Konstanze Plett | 133

Grundzüge struktureller und konzeptueller Entwicklungen der Trans*bewegung in der Bundesrepublik Deutschland seit Ende der 1990er Jahre Adrian de Silva | 151

Jenseits einer diagnostischen Logik? Überlegungen zu (trans*-)geschlechtlicher Selbstbestimmung und kollektiven Praxen Uta Schirmer | 171

Lesben und Schwule mit Behinderung — Wo können vielfältige Identitäten eine Heimat finden? Eine umfassende Idee von Barrierefreiheit aus der Perspektive der Intersektionalität Gesa C. Teichert | 185

»Dieses Gefühl irgendwie so ’n Zuhause gefunden zu haben.« Biografische Konstruktionen von Bisexualität im Kontext monosexueller Ordnung Kim Ritter | 199

Re-thinking family norms: Herausforderungen queer-familiärer Lebensweisen Jutta Hartmann | 215

Forschung und Soziale Arbeit zu Queer mit Rassismuserfahrungen Saideh Saadat-Lendle und Zülfukar Çetin | 233

Cruzando Fronteras — zur Heteronormativität von Grenz- und Migrationsregimen am Beispiel von Asyl- und aufenthaltrechtlichen Verfahren Elisabeth Tuider und Ilka Quirling | 251

»Heterosexuelle sind die neuen Schwulen« — Tendenzen des Normativen im aktuellen queeren Film und Fernsehen Ralph J. Poole | 273

Schulische Bildungsarbeit und LSBTI*-Aufklärungsprojekte: gemeinsam und nachhaltiger gegen Homo- und Transphobie Stefan Timmermanns | 291

Über die Autor_innen  | 305

Die interdisziplinäre Zusammenführung der LSBTI*-Forschung als Experiment — eine Einführung in dieses Buch

»Forschung im Queerformat« – das heißt Forschung jenseits des traditionellen Hochformats, jenseits heteronormativer Sexualitäts- und Geschlechterkonstruktionen, aber auch jenseits universitärer »Mainstream-Forschung«. Ein Buch mit der Ambition, die aktuelle interdisziplinäre Bandbreite der deutschsprachigen Forschung zu Themen der sexuellen und geschlechtlichen Vielfalt herauszugeben, stellt aus mehreren Gründen ein anspruchsvolles, jedoch vielversprechendes Experiment dar: Zum einen gilt es, die inhaltliche Fülle, welche das Thema »sexuelle und geschlechtliche Vielfalt« umfasst, in all ihren Facetten und Unterfacetten mit einzubeziehen. Hierbei ist nicht nur die Abbildung von Themen aus der Erfahrungs- und Lebenswelt von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans*- und Inter*-Personen (LSBTI*) gemeint, sondern auch die Repräsentation der Vielfalt innerhalb dieser Minderheiten bzw. Communitys. Unter dem Stichwort »Mehrfachdiskriminierung« gilt es hierbei, den Blick u.a. auch auf die Bereiche »LSBTI* mit Behinderung« oder »LSBTI* mit Migrationshintergrund« zu wenden. Zum anderen heißt es, der disziplinären Vielfalt der LSBTI*-Forschung gerecht zu werden und die Wissenschaftsdisziplinen gegenseitig zugänglich zu machen. Diese Ansprüche wurden in diesem Buch mit dem Ziel ergänzt, ebenfalls den Austausch zwischen Wissenschaft und Community zu fördern, zwischen Forschenden und politisch sowie sozial Engagierten. Das vorliegende Buch trägt wichtige Beiträge des 1. LSBTI*-Wissenschaftskongresses der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld zusammen, welcher vom 28. bis 30. November 2013 in Berlin stattfand. Es spiegelt dabei viele der aktuellen Themen und Fragen der LSBTI*-Forschung wider. Seit mehr als 100 Jahren beschäftigen sich Wissenschaftler_innen1 mit Fragen der sexuellen 1  |  Um alle Menschen, also auch jene, die sich nicht als männlich oder weiblich identifizieren, einzuschließen, wird in diesem einleitenden Beitrag der Unterstrich zwischen

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Janine Dieckmann und Jörg Litwinschuh

und geschlechtlichen Vielfalt. Immer eng verknüpft mit der Weiterentwicklung der Sexualwissenschaft wies die Forschung zu diesen Themen in vielen Facetten einen stark medizinischen Charakter auf bzw. beinhaltet diesen vor allem im Bereich der geschlechtlichen Vielfalt weiterhin. Unter dem Titel »Gleich-Geschlechtliche Erfahrungswelten« fokussierte der 1. LSBTI*-Wissenschaftskongress vor allem auf sozialwissenschaftliche Perspektiven. In zahlreichen Vorträgen, Diskussionen und Posterpräsentationen wurden historische, soziologische, sexualpädagogische, kulturwissenschaftliche, juristische und psychologische Forschungsprojekte, Analysen und Standpunkte diskutiert. In diesem Buch werden nun eine Reihe dieser interdisziplinären Beiträge miteinander in Verbindung gesetzt. Durch die Lektüre des Buches erhalten die Leser_innen einen Einblick in zahlreiche Disziplinen und Themengebiete der LSBTI*-Forschung und können bestenfalls Grenzen zwischen den Wissenschaften überschreiten. Sie reflektieren interdisziplinäre Fragen wie bspw. »Was hat der Umgang mit lesbischem Leben in der Vergangenheit mit der Sichtbarkeit und der Bewertung von Lesben in der Gesellschaft heute zu tun?« oder »Wie wirkt sich die wissenschaftliche Erforschung von Intergeschlechtlichkeit in der Vergangenheit aktuell auf gesetzliche Festlegungen zum Personenstand aus?«

LSBTI*_ – »I ch k aufe ein Q und möchte (auf -) lösen « LSBTI* – mit dieser Abkürzung sollen ›alle‹ sexuellen und geschlechtlichen Minderheiten explizit genannt und gleichwertig nebeneinander aufgereiht werden: Lesbisch-Schwul-Bisexuell-Trans*-Inter*. Sternchen – ›wahlweise‹ nach dem T bzw. nach T und I (in diesem Buch größtenteils zusammenfassend nach dem I) – symbolisieren alle weiteren geschlechtlichen Identitäten bzw. die Vielfalt innerhalb von Trans* (z.B. transsexuell, transgender) und Inter*. Grundlegend spiegelt das Akronym die wichtige Idee eines gleichberechtigten Zusammenschlusses wider, weshalb die Abkürzung LSBTI* auch im Kontext des Wissenschaftskongresses und in diesem Buch verwendet wird. Allerdings werden immer mehr Stimmen laut, ob die Verwendung dieser Abkürzung (oder dieses »Buchstabensalats«, O-Ton vom Kongress) gerade im Hinblick auf die Auseinandersetzung mit der Mehrheitsgesellschaft zielführend ist. Die Kritik geht hierbei in verschiedene Richtungen. Die Zusammenfassung der Anfangsbuchstaben wurde ursprünglich im Englischen verwendet: LGB (lesbian, gay, bisexual). Bald kam die Frage nach der Thematisierung der geschlechtlichen Vielfalt hinzu und die Abkürzung wurde im Englischen der männlichen und weiblichen Form verwendet. Die von den Autor_innen im Buch bevorzugte Schreibweise ist jeweils für die meisten Beiträge kenntlich gemacht.

Die interdisziplinäre Zusammenführung der LSBTI*-Forschung als Experiment

auf LGBT erweitert. So wird sie im Englischen auch heute noch größtenteils in der Wissenschaft und in der Community verwendet. Im Deutschen liest man meist LSBTI oder LSBTTIQ (TT für transsexuell und transgender, zusätzlich I für inter sowie Q für queer). So werden nun u.a. auch die Bedürfnisse und Forderungen von intergeschlechtlichen Personen sichtbar. Doch unweigerlich stellt sich die Frage: Auf welche Identitätskriterien wird erweitert und auf welche nicht? Sollte auch Asexualität als sexuelle Orientierung verstanden und erwähnt werden? Sollte auch Heterosexualität als eine Ausprägung sexueller Vielfalt gesehen und erwähnt werden? Müsste die vollständige Abkürzung nicht LSBTTIQAH (Lesbisch-Schwul-Transsexuell-TransgenderIntergeschlechtlich-Queer-Asexuell-Heterosexuell) lauten? Ab wann ist jedoch Vollständigkeit erreicht? Ein Kürzel mit dem Anspruch der gleichberechtigten Darstellung aller scheint schnell an seine Grenzen zu stoßen. Doch Grenzen, nicht nur nach außen, sondern auch innerhalb der Community, gilt es doch gerade aufzulösen. Eine Eigenschaft, welche die Abkürzung LSBTI* beinhaltet, ist die Kategorisierung in verschiedene Personengruppen: Schwule, Lesben, Bisexuelle, Transsexuelle, Transgender, Intergeschlechtliche etc. Um die existierende Vielfalt von sexuellen und geschlechtlichen Minderheiten mit ihren unterschiedlichen Vergangenheiten, Bedürfnissen und Zielen nebeneinander zu repräsentieren und um sie politisch handlungsfähig zu machen, ist diese (soziale) Kategorisierung notwendig und sinnvoll. Sie verleitet jedoch auch zur Grenzziehung und Hierarchisierung: Denn innerhalb einer Kategorie (oder sozialen Gruppe) entstehen wiederum Normen sowie Idealvorstellungen der Mitglieder einer Kategorie. Was macht den ›typischen‹ Schwulen aus? Ist eine Frau, die sich erst mit 47 outet, eine ›richtige‹ Lesbe? Muss sich eine ›echte‹ Trans*-Frau in der Öffentlichkeit immer ›weiblich‹ kleiden? Entspricht eine Person diesen Idealvorstellungen nicht oder nur in geringem Maße, droht auch hier abwertendes Verhalten. Aber auch zwischen den Kategorien kann es zu Hierarchisierungen, Abgrenzungen, Vorurteilen sowie diskriminierendem Verhalten kommen. Genau an diesen kategorialen Abgrenzungen und Idealvorstellungen üben Queers (Personen, die sich als queer bezeichnen) und die queer studies als interdisziplinäre Forschungsrichtung Kritik. In den queer studies werden soziale Prozesse, Mechanismen und bestehende Machtverhältnisse, die sexuelle und geschlechtliche Identitäten konstruieren, analysiert und kritisch hinterfragt. Ziel ist deren Dekonstruktion. Im Sinne der Überschrift dieses Textabschnitts sollten mit der Bezeichnung queer also ursprünglich die durch die Bezeichnung LSBTI* entstandenen Kategorien aufgelöst werden. Personen, die sich nicht mit dem heterosexuellen Mainstream und der historisch und kulturell etablierten Zweigeschlechtlichkeit identifizieren, aber auch jenseits dieser Normen keine Kategorien – und damit wiederum Normen – nutzen wollen, bezeichnen sich als queer. Im akademischen Bereich etablieren sich queere Perspektiven zunehmend, jedoch bleiben

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Janine Dieckmann und Jörg Litwinschuh

sie institutionell meist verknüpft mit den gender studies bzw. der Geschlechterforschung. Die spannende Frage der inhaltlichen Dissonanz von LSBTI* und queer sollte an anderer Stelle vertiefend diskutiert werden. Ein letzter kritischer – wenn auch eher wahrnehmungspsychologischer – Nebeneffekt ist die zunehmende Unlesbarkeit der Abkürzung LSBTI*. Für Otto- bzw. Ottilie-Normalhetero_a und die politische Debatte ist schon die einfachste Zusammenstellung LSBTI keineswegs selbsterklärend und hochgradig unverständlich. Wozu dient die Abkürzung, wenn sie in den Medien und in der Politik nicht zur gleichberechtigten Darstellung sexueller und geschlechtlicher Minderheiten verwendet werden kann, weil sie niemand kennt und versteht? Sollte sie wie bisher nur in wissenschaftlichen Sphären und im Kontext der Community verwendet werden? Inspiriert durch die Lektüre dieses Buches müssen und sollten auch diese Diskussionen – nach der Zusammensetzung und der Verwendung der Abkürzung LSBTI* – an anderen Stellen weitergeführt werden.

Z um A ufbau und I nhalt dieses B uches Wir freuen uns, 18 Beiträge von Referent_innen des 1. LSBTI*-Wissenschaftskongresses in diesem Buch zu vereinen. Zusammen bieten die einzelnen Beiträge einen umfassenden Einblick in die aktuelle LSBTI*-Forschung Deutschlands. In bisher einzigartiger Vielfalt werden in diesem Buch interdisziplinäre Perspektiven nebeneinander vorgestellt, diskutiert und dadurch miteinander vernetzt. Doch auch die Darstellung wissenschaftlicher Vielfalt in einem Buch stellt eine Herausforderung für sich dar – angefangen mit unterschiedlichen Zitierregelungen, für die eine einheitliche Lösung über Wissenschaftsgrenzen hinweg gefunden werden muss, über die Verwendung der Geschlechterschreibweisen und die Abkürzung LSBTI*2 bis hin zu unterschiedlichen Forschungsansätzen und methodischen Paradigmen. Wir haben bei der Zusammenstellung der Beiträge nicht auf Widersprüche und starke Positionen verzichtet, um den wissenschaftlichen Diskurs in Gang zu halten bzw. ihn interdisziplinär voranzutreiben3. Im Folgenden werden alle Beiträge dieses Buches kurz vorgestellt.

2  |  Teilweise musste auf etablierte Zitierregelungen und Schreibweisen aus einzelnen Wissenschaften zugunsten der Einheitlichkeit im Buch verzichtet werden. In den meisten Beiträgen wird durch die Autor_innen auf die Wahl der Geschlechterschreibweise und die Verwendung der Abkürzung LSBTI* (o.ä.) bzw. queer Bezug genommen. 3  |  Hierbei ist anzumerken, dass die inhaltliche Verantwortung der Beiträge allein bei den Autor_innen liegt.

Die interdisziplinäre Zusammenführung der LSBTI*-Forschung als Experiment

Z um historischen U mgang mit se xueller und geschlechtlicher V ielfalt Zu Beginn spannt Klaus Mueller in seinem Beitrag »Überlegungen zur LGBTIForschung und Menschenrechtspolitik im 21. Jahrhundert im Rekurs auf das 19. und 20. Jahrhundert« den Bogen zwischen den Anfängen des wissenschaftlichen Diskurses über Homosexualität mit Karl Heinrich Ulrichs im 19. Jahrhundert über das Wirken Magnus Hirschfelds, mit dem Anfang des 20. Jahrhunderts der Diskurs über Homosexualität und Geschlechter einen naturwissenschaftlichen und emanzipatorischen Charakter annahm, bis hin zu aktuellen Menschenrechtsdiskussionen im 21. Jahrhundert. Die Aufarbeitung der Verfolgung sowie der politisch-administrativen und gesellschaftlichen Repression von LSBTI* in der NS-Zeit stellt einen Schwerpunkt der Arbeit der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld dar. In ihrem Beitrag »Zum Doppelleben gezwungen – Vermeidungs- und Überlebensstrategien lesbischer Frauen im ›Dritten Reich‹« illustriert Claudia Schoppmann an zahlreichen Beispielen, wie Lesben in der NS-Zeit »abgekapselt«, in ständiger Angst vor Denunziation und oft unter dem Deckmantel einer Scheinehe lebten. Obwohl offiziell durch den Paragrafen 175 RStGB nur gleichgeschlechtlicher Sex zwischen Männern unter Strafe stand, da weibliche Homosexualität »als sozial ungefährlicher« eingestuft wurde, fand auch lesbisches Leben nur versteckt statt. Im Beitrag von Andreas Pretzel »Verfolgung und Selbstbehauptung – homosexuelle Männer während der Zeit des Nationalsozialismus« wird der aktuelle Forschungsstand zur Schwulenverfolgung in der NS-Zeit ausführlich zusammengefasst. Pretzel diskutiert den Status quo der homosexuellen Geschichtsschreibung, welche bisher größtenteils fernab der akademischen Forschung stattfindet. Er beschreibt bisherige Forschungsinhalte und fokussiert wichtige Perspektiven für die zukünftige Forschung. Rainer Herrn beleuchtet in seinem Beitrag »›Ich habe wohl Freude an Frauenkleidern […], bin aber deswegen nicht homosexuell.‹ Der Forschungsstand zum Transvestitismus in der Zeit des Nationalsozialismus« die bisher selten im geschichtswissenschaftlichen und erinnerungspolitischen Diskurs erwähnte Verfolgung von Transvestit_innen in der NS-Zeit und verdeutlicht die Notwendigkeit weiterer Forschung in diesem Themenbereich. Der Paragraf 175 StGB blieb auch nach der Zerschlagung des NS-Regimes bis zu seiner ersatzlosen Streichung 1994 bestehen. Homosexuelle Handlungen wurden somit weiterhin strafrechtlich verfolgt, homosexuelle Lebensweisen blieben marginalisiert. Auch die historische Aufarbeitung und die Erinnerung an die Verfolgung und Repression von LSBTI* nach dem Zweiten Weltkrieg gilt als Arbeitsschwerpunkt der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld. Kirsten Plötz (»Wo blieb die Bewegung lesbischer Trümmerfrauen?«) und Raimund Wolfert (»Zwischen den Stühlen – die deutsche Homophilenbewegung der 1950er

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Jahre«) geben in ihren Beiträgen einen Einblick in das bewegungspolitische Leben von Lesben und Schwulen nach dem Zweiten Weltkrieg. Plötz beschreibt, in welcher Form lesbisches Leben – dank des »Frauenüberschusses« scheinbar anerkannt – nach dem Krieg gelebt werden konnte. Sie fragt und diskutiert, warum sich dennoch keine Lesbenbewegung etablierte. Wolfert beschreibt, wie die Schwulen- bzw. Homophilenbewegung der 1950er Jahre Versuche vorantrieb, den wissenschaftlichen Diskurs wieder mit einem emanzipatorischen Charakter zu beleben, den Paragrafen 175 StGB abzuschaffen und somit schwules Leben zu ermöglichen – und damit scheiterte. Mit ihrem Beitrag »Residuum der Queer History: Inter* als Restsymptom der Trennung von Geschlechter- und Sexualitätsgeschichte« gibt Ulrike Klöppel einen ausführlichen Abriss der wissenschaftlichen Betrachtung von »Hermaphroditismus« seit dem 18. Jahrhundert. Anhand ihrer Betrachtungen zum Thema Intergeschlechtlichkeit verdeutlicht sie, wie die bisherige Trennung von Geschlechter- und Sexualitätsgeschichte durch eine queere Perspektive ergänzt werden kann und sollte.

S e xuelle und geschlechtliche V ielfalt heute — ak tuelle D iskurse und E nt wicklungen in F orschung , G esellschaf t und P olitik Heinz-Jürgen Voß analysiert in seinem Beitrag »Intergeschlechtlichkeit: Aktivismus und Forschung, ihre Verzahnung und intersektionale Fortentwicklung« die bisherige Forschung zu Intergeschlechtlichkeit kritisch und diskutiert notwendige Schwerpunkte und strukturelle Veränderungen in der zukünftigen Forschung sowie in der politischen Arbeit im Bereich der Intergeschlechtlichkeit. Dank des steten aktivistischen Engagements werden mittlerweile die Forderungen der Inter*-Selbstorganisationen auf politischer Ebene wahrgenommen. Erste Auswirkungen sind zu spüren. Konstanze Plett gibt mit ihrem Beitrag »Verqueres Recht – von den Schwierigkeiten, Inter* gerecht zu werden« einen umfassenden Einblick in die bisherigen und aktuellen Rechtsvorschriften – u.a. in Bezug auf das Personenstandsgesetz, welches seit dem 01. November 2013 auch das Nichteintragen eines Geschlechts für Neugeborene zulässt, wenn das Baby nicht eindeutig einem biologischen Geschlecht zugeordnet werden kann. Allerdings bleibt Plett skeptisch, wie viel dieser rechtliche Schritt letztendlich für die Abschaffung der körperlichen Eingriffe an intergeschlechtlichen Minderjährigen bedeutet. Im Anschluss beschreibt Adrian de Silva in seinem Beitrag »Grundzüge struktureller und konzeptueller Entwicklungen der Trans*bewegung in der Bundesrepublik Deutschland seit Ende der 1990er Jahre« die strukturelle Entwicklung und inhaltliche Ausdifferenzierung der sozialen Trans*-Bewegung in Deutschland. Anhand institutioneller Beispiele diskutiert er die der Bewegung

Die interdisziplinäre Zusammenführung der LSBTI*-Forschung als Experiment

zugrunde liegenden inhaltlichen Divergenzen, aber auch ihre gemeinsamen Zielstellungen, bspw. die Entpathologisierung von Trans*. Anhand der DragKing-Szene in Deutschland verdeutlicht Uta Schirmer in ihrem Beitrag »Jenseits einer diagnostischen Logik? Überlegungen zu (trans*-)geschlechtlicher Selbstbestimmung und kollektiven Praxen«, wie trans*-queere Subkulturen Raum für geschlechtliche Selbstbestimmung schaffen können und damit einen Gegenpol zu den rechtlichen und medizinischen Regulierungen für Trans*-Personen bieten. Gesa C. Teichert erweitert in ihrem Beitrag »Lesben und Schwule mit Behinderung – Wo können vielfältige Identitäten eine Heimat finden? Eine umfassende Idee von Barrierefreiheit aus der Perspektive der Intersektionalität« das Konzept der Barrierefreiheit um eine kulturelle Komponente. Sie beschreibt, an welche – oft normativen – »Barrieren« Lesben und Schwule mit Behinderung in der Mehrheitsgesellschaft, in der Schwulen- und Lesbenszene, aber auch innerhalb der Behindertenszene stoßen. Auch Bisexuelle sind nicht nur in der Mehrheitsgesellschaft, sondern auch innerhalb der LSBTI*-Community immer wieder mit Vorurteilen und Abwertung konfrontiert. Kim Ritter diskutiert diese in ihrem Beitrag »›Dieses Gefühl irgendwie so ’n Zuhause gefunden zu haben.‹ Biografische Konstruktionen von Bisexualität im Kontext monosexueller Ordnung« und illustriert anhand biografischer Konstruktionen, wie Bisexualität als sexuelle Orientierung und Identität entworfen und in einer Welt der Monosexualität gelebt wird. Jutta Hartmann stellt in ihrem Beitrag »Re-thinking family norms: Herausforderungen queer-familiärer Lebensweisen« die Vielfalt queer-familiärer Lebensentwürfe vor. Sie beleuchtet Charakteristika, alltägliche Herausforderungen und die Bedeutung queerer Familienentwürfe für die gesellschaftliche Definition von »Familie«. Dabei diskutiert sie, wie sich im Kontext von Regenbogenfamilien die Enttraditionalisierung der Mutter-Vater-Kind-Familie und die Reproduktion heteronormativer Annahmen gegenüberstehen. Kritisch diskutieren Saideh Saadat-Lendle und Zülfukar Çetin in ihrem Beitrag »Forschung und Soziale Arbeit zu Queer mit Rassismuserfahrungen« die bisherigen Forschungsansätze, welche sich mit dem Thema »LSBTI* mit Migrationshintergrund« beschäftigten und zeigen auf, wie sich bestehende Machtverhältnisse auch in Forschung und Wissenschaft widerspiegeln. Darauf, wie die Konstruktionen von Geschlecht und Sexualität im europäischen Migrationsregime repräsentiert sind und Einfluss auf aufenthaltsrechtliche Verfahren und Asylverfahren haben, gehen Elisabeth Tuider und Ilka Quirling in ihrem Beitrag »Cruzando Fronteras – zur Heteronormativität von Grenz- und Migrationsregimen am Beispiel von Asyl- und aufenthaltsrechtlichen Verfahren« ein. Sie analysieren aus einer queeren postkolonialen Perspektive, wie Migrations- und Grenzregime sich ihr »Anders-Sein« konstruieren, um sich selbst zu definieren und zu funktionieren.

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Janine Dieckmann und Jörg Litwinschuh

In seinem kulturwissenschaftlichen Beitrag »›Heterosexuelle sind die neuen Schwulen‹ – Tendenzen des Normativen im aktuellen queeren Film und Fernsehen« beschreibt Ralph J. Poole den Wandel der Darstellung von LSBTI* in Film und Fernsehen und die aktuelle Strömung des New Wave Queer Cinema. Er diskutiert, wie sich ein Wandel hin zu einer »ubiquitären Sichtbarkeit« vollzogen hat und wie sich durch die aktuelle mediale Darstellung stereotypisierte Rollenzuweisungen auflösen. Poole fragt aber auch nach den Kosten, welche eine oft an den Hetero-Mainstream angepasste Darstellung in den Medien für LSBTI* mit sich bringt. Um Diskriminierung und Intoleranz gegenüber sexueller und geschlechtlicher Vielfalt entgegenzuwirken, ist es essenziell, Aufklärungs- und Bildungsarbeit in unserer Gesellschaft zu leisten. Diese Arbeit stellt einen weiteren Arbeitsschwerpunkt der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld dar. Hierbei spielen die (Weiter-)Bildung von Erwachsenen (z.B. in Wirtschaft, in Bildungsinstituten, in Verwaltung) als auch die Bildungsarbeit bei Kindern und Jugendlichen eine wichtige Rolle. Im abschließenden Beitrag »Schulische Bildungsarbeit und LSBTI*-Auf klärungsprojekte: gemeinsam und nachhaltiger gegen Homo- und Transphobie« gibt Stefan Timmermanns einen umfassenden Überblick über die Entwicklung der schulischen Bildungsarbeit zu LSBTI* in Deutschland und diskutiert notwendige Weiterentwicklungen, um die Nachhaltigkeit dieser Arbeit zu gewährleisten. Dr. Janine Dieckmann Wissenschaftliche Koordinatorin und Projektmanagerin des 1. LSBTI*- Wissenschaftskongresses der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld

Jörg Litwinschuh Geschäftsführender Vorstand der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld

Zum historischen Umgang mit sexueller und geschlechtlicher Vielfalt

Überlegungen zur LGBTI-Forschung und Menschenrechtspolitik im 21 . Jahrhundert im Rekurs auf das 19. und 20 . Jahrhundert Klaus Mueller »Unerhört, sage ich, denn wer hat wohl von schriftlichen Tagebüchern gehört, von täglichen Aufzeichnungen eines Päderasten über seine Abentheuer, Liebschaften, Empfindungen, wie sie bei Cajus bei seiner Verhaftung in Beschlag genommen wurden?« (C asper 1858: 183)

1850 sah die Welt noch anders aus.1 Das Tagebuch des Grafen ›Cajus‹2, das dem Gerichtsmediziner Johann Ludwig Casper durch eine polizeiliche Razzia in die Hände fiel, machte ihn mit einer völlig unvertrauten Welt bekannt (vgl. Mueller 1993a). Caspers Erstaunen galt der emotionalen Betroffenheit des Päderasten. Der Begriff der Päderastie bezeichnete im 19. Jahrhundert – im Unterschied zur griechischen Antike – die Beziehungen mannmännlicher Liebhaber allgemein. 1  |  In den folgenden Ausführungen zum 19. Jahrhundert beziehe ich mich vor allem auf meine Dissertation zur Konstruktion moderner homosexueller Identität im Wechselspiel zwischen autobiografischen Selbstzeugnissen und frühen sexualpathologischen Klassifikationen, vgl. Mueller 1991. 2  |  Bei dem ›Graf‹ handelte es sich Karl Heinrich Ulrichs zufolge um den Reichsfreiherrn von Malzan, der 1849/1850 in einem aufsehenerregenden Skandalprozess angeklagt und verurteilt wurde. Ganz Berlin – so Ulrichs – nahm regen Anteil an den Enthüllungen über den Päderastenzirkel, zu dem zahlreiche Soldaten der Berliner Garderegimenter gehört hatten (vgl. Ulrichs 1879: Kritische Pfeile 64f.). Jüngerer Forschung zufolge handelt es sich um Alfred Reichsgraf von Malzan-Wedell, der nach mehrjähriger Haftstrafe 1858 im Gefängnis starb (vgl. Dobler 2009: 76-90).

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Klaus Mueller

Grundlage der ausgedehnten polizeilichen Nachforschungen waren die Tagebucheinträge selbst, in denen ›Graf Cajus‹ unvorsichtigerweise seine Liebhaber bei ihren richtigen Namen genannt hatte. Auch die Gerichtsmedizin profitierte von dem ungewohnt deutlichen Beweismaterial. Detailliert habe der Graf, so Casper, den »jedesmaligen Akt« und seine Gefühle festgehalten. »Erstarrend der Eindruck, wenn man in seinen Tagebüchern die schwärmerischen Epitheta liest, mit denen er seine Liebhaber überschüttet, die Ergüsse seiner Eifersucht gegen Genossen, die ihm in’s Gehege gekommen! Obgleich ich es für meine Pflicht halte, der gesammten Wissenschaft wiederzugeben, was mich der Zufall meiner amtlichen Stellung durch ein seltenes Glück in einer so ganz dunkeln, und dennoch der Wissenschaft angehörigen Provinz hat wahrnehmen lassen, so kann ich doch selbst nur Andeutungen geben, denn die Feder versagt, wenn ich es unternehmen wollte, die Schilderung der Orgien aus diesen Tagebüchern hier wiederzugeben.« (Casper 1852: 68)

Das Interesse an den Aufzeichnungen über Empfindungen zwischen erwachsenen Männern war enorm: Kaiser Nikolaus von Russland wurde während seines Berliner Besuches über die Vorfälle unterrichtet, Friedrich Wilhelm IV. ließ sich die Tagebücher zur Lektüre vorlegen (vgl. Mueller 1991: 182-188). Aber sie wurden nicht veröffentlicht. Doch es sollte nicht das letzte Selbstzeugnis sein, das nun mit einem medizinischen Interesse rechnen konnte. Jene Anhänger der namenlosen Liebe, die angeblich ihren Namen nicht zu sagen wagten, begannen ab 1850 ihre Erfahrungen auf Papier zu setzen und sie jenen willigen Ärzten anzuvertrauen, die sich aufmach­ten, den Menschen als ›sexuelles Wesen‹ zu erforschen. »Ich übergebe ihnen diese Zeilen im Interesse künftiger Leidensgefährten.« (Krafft-Ebing 1890: 164) Diese künftigen Leidensgefährten sind wir. Mit ihren Bekenntnissen erschrieben sich gleichgeschlechtlich Liebende Ende des 19. Jahrhunderts ihr und unser modernes Selbstver­ständnis. Ihre Freiheiten sind die unsrigen, ihre Beschränkungen auch. Begleitet von ihren Selbstzeugnissen entwickelte sich ein medizinischer Diskurs über Homosexualität, den Magnus Hirschfeld maßgeblich wissenschaftlich wie politisch popularisieren sollte. Meinen Überlegungen, welche Rolle dieser Diskurs für Forschung, Menschenrechtspolitik und Homosexualität im 21. Jahrhundert noch immer spielt, möchte ich einen Kurzausflug ins 19. Jahrhundert voranstellen.

Überlegungen zur LGBTI-Forschung und Menschenrechtspolitik

A ufbruch im 19. J ahrhundert : z wischen S elbstI dentifik ation und F remd -I dentifizierung »Gebt uns nur Gerechtigkeit: der Krokodilthränen eures Mitleids bedarf es dann nicht mehr.« (U lrichs 1864: Formatrix 58)

Hirschfeld griff auf das Werk von Karl Heinrich Ulrichs (1825-1895) zurück. Ulrichs »Zwölf Schriften über das Rätsel der mannmännlichen Liebe« erschienen zwischen 1864 und 1897 und entwarfen mit der Figur des Urnings erstmals eine komplexe ›sexuelle Identität‹.3 Seine berühmte Formel von der ›weibli­chen Seele eingeschlossen in einen männlichen Körper‹ nahm ein dominantes Erklärungsmuster der mannmännlichen Anziehung vorweg: Die gleichgeschlechtliche Liebe, für die Ulrichs den Begriff Uranismus prägte, wurde mit einer Verkehrung der Geschlechterrollen erklärt (vgl. Mueller 1991: 55-89). Dem Angeborensein der mannmännlichen Liebe folgte eine dadurch geprägte Identität. »Seinem ganzen geistigen Organismus nach, nicht blos was geschlechtliche Liebesempfindung betrifft, seiner ganzen geistigen Naturanlage nach, seiner ganzen Gemütsart nach: ist der Urning nicht Mann, sondern ein Wesen weiblicher Art.« (Ulrichs 1864: Vindex 25; Herv. i.O.) Später sich entwickelnde Legitimationsdiskurse der Transsexualität sollten sich ebenso auf diese Formel beziehen, gewannen aber erst nach der Jahrhun-

3  |  Die Texte, deren Herausgabe durch Ulrichs Privatvermögen finanziert wurde, wurden im Zeitraum von 1864 bis 1879 publiziert. Der sukzessive Charakter der Traktate folgerte aus der zum Teil überraschend kurzen Produktionszeit: »Vindex«, »Inclusa«, »Vindicta« und »Formatrix« erschienen 1864 innerhalb weniger Monate, »Ara spei« 1865, »Gladius furens« und Ulrichs 218 Seiten zählendes Hauptwerk »Memnon« 1868. Die Schriften anlässlich des Kriminalfalles Zastrow, »Incubus« und »Argonauticus«, folgten 1869; ebenso das erste und einzige Heft der geplanten Zeitschrift »Uranus« unter dem Titel »Prometheus«. 1870 wurde »Araxes«, eine juristische Eingabe an die Reichsversammlungen Norddeutschlands und Österreichs, publiziert. Die letzte Schrift »Kritische Pfeile«, den Gesetzgebern gewidmet, erschien 1879, bevor Ulrichs nach Neapel emigrierte. Die Schriften, die 1898 erstmals vereint als »Forschungen über das Rätsel der mannmännlichen Liebe« beim Max Spohr Verlag Leipzig herausgegeben wurden, umfassten mehr als 1200 Seiten. Die hier verwendeten Zitate folgen dem Reprint dieser Ausgabe von 1975 (Ulrichs 1975a) und verwenden die ursprünglichen Seitenangaben der Traktate, unter Voranstellung des jeweiligen Titels; vgl. auch Kennedy 1988.

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dertwende ihre Eigenständigkeit (vgl. dazu Herrn 2005; Weiß 2008; Herrn 2012: 41-48).4 Ulrichs Formel vom ›dritten Geschlecht‹, das er – in Anlehnung an historische Theorien des Hermaphroditismus – als »zwitterähnliche besondere geschlechtliche Menschenklasse« (Ulrichs 1864: Vindex 25) bezeichnete, inspirierte eine neue Kultur urnischer Identitätsentwürfe. Gleichzeitig wurden seine Schriften in der sich fast gleichzeitig formierenden Sexualpathologie zur Beglaubigung ihres neuen Klassifikationssystems der ›Perversionen‹ herangezogen. Selbst-Identifikation und Fremd-Identifizierung sollten von nun an Lebenspraxis und gesellschaftliche Ausgrenzung ›abweichender‹ sexueller Orientierung und geschlechtlicher Identität bestimmen (vgl. Mueller 1991: 254-268; 292-325). Die juristische Diskussion im ausgehenden 19. Jahrhundert, wie die neuere historische Forschung zur Intergeschlechtlichkeit zeigt, bestand dagegen zunehmend auf Zweigeschlechtlichkeit als natürlichem Fundament sexueller Ordnung sowie auf eindeutige Geschlechtszuweisungen. So verschwand das Geschlechtswahlrecht für Hermaphroditen, das im preußischen Landrecht seit 1794 mit dem ›Zwitterparagraphen‹ bestanden hatte, mit der Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuches (vgl. Voß 2009; Adamietz 2012; Klöppel 2010; Klöppel 2012). Ulrichs Theorie entstand im privaten Raum. 1862 hatte er einen Briefwechsel mit seiner Familie begonnen, in dem er seine Neigungen erklärte. Als die familiäre Aufklärung scheiterte, entwickelte er seine Überlegungen in seinen ab 1864 veröffent­lichten Schriften weiter. Sein »System des Uranismus« linderte auch alte Wunden. »Ich mache die merkwürdige Erfahrung an mir: je mehr Beweisgründe ich entdecke für mein System, je sicherer und je klarer ich in demselben werde, um so mehr schmilzt alle meine frühere Bitterkeit dahin über die erfahrenen Unbilden.« (Ulrichs 1975b, orig. 1899)5 4 | Ein frühes Beispiel dieser Verflechtung zeigt sich bei Westphal: Hier standen zwei Fallgeschichten Pate seiner Konstruktion der »conträren Sexualempfindung«: Der Fall eines Fräuleins, das »an einer Wuth, Frauen zu lieben […]« (Westphal 1869: 73) litt und ein – nach späterem sexualwissenschaftlichen Jargon – Transvestit. Westphal zufolge folgte der »conträrsexuellen Orientierung« automatisch eine »conträrgeschlechtliche Identität« (und umgekehrt), im Text wurden sie durchgehend als Symptome verstanden: »[…] Aufzeichnungen von Männern, die sich als Weiber fühlten, deren sexuelle Neigung sich auf das eigene Geschlecht richtete […]« (ebd.: 92). Westphal bezog sich dabei auch auf Ulrichs frühe Schriften. 5  |  Der Briefwechsel wurde erstmals 1899 im ersten »Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen« veröffentlicht. In einem Vorstadium zu seinen Schriften über die mannmännliche Liebe stellte Karl Heinrich Ulrichs einem ausgewählten Kreis seiner Verwandten in einem Briefwechsel erstmals die großen Linien »seines Systems« vor: »Ich bitte dies zirkulieren

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Sein zentrales Anliegen war strukturelle Selbstvergewisserung: Identität. Mit Ulrichs begann der moderne westliche Diskurs über Homosexualität. Das autobiografische Bedürfnis nach Identität traf auf ein wissenschaftliches Bedürfnis der Identifizierung abweichender Sexualität. Durch das 1886 erschienene Standardwerk »Psychopathia sexualis« von Richard von KrafftEbing etablierte sich die Sexualpathologie als Disziplin; ›sexuelle Perversion‹ wurde zum Zeichen von ›Degeneration‹. Methodisch waren die Sexualpathologen einem positivistischen Wissenschafts­verständnis verpflichtet und entlehnten ihre Arbeitsweisen der zeitgenössischen Medizin. Das Sammeln von Fallgeschichten, verstanden als Empirie, und sich ständig ausdifferenzierende Begriffsapparaturen, vorgestellt als Klassifikationen, wiesen das Interesse an Sexualität als wissenschaftli­ches aus. Selbstbekenntnisse Homosexueller wurden in ihren Werken als weitgehend unzensierte Fallgeschichten veröffentlicht. Bald entstand eine erstaunliche Produktion und Distribution mannmännlicher, und in geringerem Umfang lesbischer, bisexueller und transsexueller Selbstzeugnisse, in medizinischen Fachpublikationen. Die anfängliche Scham der Mediziner über die Geringfügigkeit des Gegenstands bzw. dessen zweifelhaften moralischen Status machte einer Aufwertung von Sexualität zum gefährdeten und gefährlichen Element individuellen und sozialen Lebens Platz. Als Signatur einer negativen individuellen und sozialen Differenz etablierte sich zunächst besonders die Figur des Homosexuellen, der bald andere sexuelle oder geschlechtliche ›Identitäten‹ folgten. Das moderne westliche Verständnis von Sexualität als identitätsstiftend wie -gefährdend entwickelte sich als Denkmuster, als Identitätsparadigma, in immer neuen Ausfächerungen. »Uranismus« (1864); »Homosexualität« (1869); »Exhibitionismus« (1877); »Fetischismus« (1887); »Sadomasochismus« (1890), »Transvestitismus« (1910): Die neuen wissenschaftlichen Begriffe bestimmten innerhalb kürzester Zeit die alltagssprachliche Rede. Im 20. Jahrhundert entwickelte sich »Sexualität« zur Identifikations- und Ordnungskategorie der westlichen Welt.

zu lassen an: 1) Onkel Wilhelm, 2) Wilhelm Ü., 3) Karl Ü., 4) Gr. und Louise, 5) an mich gefälligst zurück.« (Ulrichs 1975b: 48, orig. 1899)

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D as dunkle Z eitalter : S e xualwissenschaf t als R echtfertigung von R epression und E manzipation A nfang des 20 . J ahrhunderts Was lernen wir im Rückblick aus diesem Auf bau ›sexuellen Wissens‹? Heute wissen wir, dass das 19. Jahrhundert eine Übergangszeit bezeichnet: Das Terrain menschlicher Leidenschaften war noch zu unerschlossen, um ein strukturiertes Eingreifen zu ermöglichen. Die Umsetzung der Sexualitätsraster in Techniken der Kontrolle, Prophylaxe und Therapie wurde zwar als Ziel proklamiert. Doch den sexualpathologischen Thera­pien des 19. Jahrhunderts (Hypnose, Bordellbesuch, Moral) haftete das Amateurhafte an (vgl. Mueller 1991: 326-338). Das Verlangen nach Identität und das medizinische Interesse an Identifizierung waren immer gänzlich anders motiviert, aber für eine ›Experimentierphase‹ aufeinander an­gewiesen. Nach der Jahrhundertwende zerbrach der Schein der Gemeinsamkeit. Nicht die Homosexuellen gaben den Ärzten nunmehr Aufschluss über ihr Leben, sondern die Pathologen erklärten den Homosexuellen, wer sie waren und warum. Dieses Machtverhältnis konstituierte sich in allen Nahverhältnissen zu abweichenden sexuellen und geschlechtlichen ›Identitäten‹. Mit der Verkehrung der Rollen wurde deutlicher, dass es nicht um bloßes Wissen ging, sondern dessen Anwendung. In diesem Sinn ist das 19. Jahrhundert keinesfalls das ›dunkle Zeitalter‹, sondern bereitet dieses vor. Die Hardcore-Therapien des 20. Jahrhunderts (Elektroschockbehandlung, Kastration, neurochirurgische Operationen, massenhafte Verfolgung, Konzentrationslager) gingen weit über das soziale Unrecht des 19. Jahrhunderts hinaus. Die staatliche und soziale Gewalt des 20. Jahrhunderts, die der wissenschaftlichen Er­forschung des sexuellen Menschen insbesondere im nationalsozialistischen Deutschland folgen sollte, war im 19. Jahrhundert nicht voraussehbar. Die Betroffenen gaben sich in ihrer Selbstdarstellung preis, deren gefährliche Folgen erst mit der Interpretation der Intimdaten sichtbar wurden. Als Fallgeschichten wurden sie für eine zunehmende medizinische und staatliche Kontrolle von Sexualität funktionalisiert, initiierten jedoch zugleich, als Coming-out, ein sich Anfang des 20. Jahrhunderts erstmals in Deutschland formierendes homosexuelles Kollektiv. Mit Magnus Hirschfeld etablierte sich der wissenschaftliche Diskurs als emanzipatorischer, ohne als homosexueller denunziert zu werden. Indem Hirschfeld die Sexualpathologie nicht von außen kritisierte, sondern gleichsam von innen radikalisierte, sicherte er der Theorie des ›dritten Geschlechts‹ ihre wissenschaftliche, politische und juristische Bedeutung, die sie in den 1920er Jahren haben sollte. Nur so konnte er sich jene Gestaltungsmöglichkeiten sichern, die er dann erfolgreich nutzte. Sein heute fragwürdig erscheinen-

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der Wissenschaftsoptimismus versprach sich von einer sexualwissenschaftlichen Erklärung des Uranismus, die dessen Natürlichkeit bewies, auch die juristische Revision der Homosexuellenverfolgung. Er war damit Kind seiner Zeit (die der Biologie und Medizin die Lösung sozialer Fragen überantwortete, in Ablösung der Theologie) wie auch politischer Stratege (der sich des herrschenden Wissenschaftsdiskurses für seine politische Arbeit bediente). Hirschfelds ›Zwischenstufentheorie‹ löste Homosexualität, anschließend an Ulrichs, aus den Kategorien von Krankheit, Perversion, Degeneration und potenziell von der Annahme einer eindeutigen Geschlechterpolarität, indem sie jeden Menschen als eine einzigartige Mischung von männlichen und weiblichen Anteilen begriff. Entscheidend war jedoch die naturwissenschaftliche Radikalisierung des ulrichschen Ansatzes. Zentrale Thesen (Homosexualität als konstitutionelle Veranlagung, anatomische und psychische Merkmale des dritten Geschlechts) sollten empirisch und statistisch verifiziert werden (vgl. Mueller 1991: 292-325). Als Sexualwissenschaftler berief er sich auf eine ›naturwissenschaftliche‹ Methodik und berichtete bereits 1903 von Untersuchungen an »[…] ca. 1500 Homosexuellen, die ich im Laufe der letzten 7 Jahre sorgfältig beobachtete« (Hirschfeld 1903: 7). Sein ›Fragebogen‹ von 1899 systematisierte – mit 85 Intimfragen – zum ersten Mal jene Informationen, welche die autobiografischen Bekenntnisse zuvor unstrukturiert gegeben hatten. Die Individualisierung der homosexuellen Männer und Frauen durch den autobiografischen Schreibprozess machte einer Quantifizierung von Intimdaten Platz; eine Tendenz, die die Pathologen von Beginn an anvisiert hatten, aber die erst bei Hirschfeld vollzogen wurde. Die schreibenden Subjekte wurden zum Objekt medizinischer Deutung. Hirschfeld hatte gelernt von der politischen Ohnmacht Ulrichs, dessen Werk zwar enorm einflussreich war, aber dem als ›Homosexueller‹ jegliche Autorität versagt blieb. Als Ulrichs 1867 auf dem deutschen Juristentag in München seine Thesen erstmals öffentlich vorstellte, kam es zu Tumulten. Resigniert ging er 1880 ins italienische Exil. Auch Hirschfeld wurde wegen seiner jüdischen Herkunft und aufgrund seines Einsatzes für die Abschaffung des Paragrafen 175 schon früh angegriffen. Doch er trat als Mediziner und Sexualwissenschaftler auf und vermied ein Coming-out. 1897 gründete er das Wissenschaftlich-humanitäre Komitee, die weltweit erste Organisation, die sich für eine Entkriminalisierung homosexueller Handlungen einsetzte. Schon vor dem Ersten Weltkrieg war sein Name Synonym für den Umbruch von der wilhelminischen Leibfeindlichkeit zu einem aufgeklärten, sexuell reformierten Körper. Die Weimarer Republik wirkte auch durch seine prominente Arbeit radikal fortschrittlich in sexuellen Fragen. Marcel Proust und Christopher Isherwood ließen sich vom Doktor durch die berühmte Institutsausstellung führen. Den

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»Einstein des Sex« nannte ihn die US-Presse. Nur wenige Jahre später jedoch befand sich Hirschfeld im französischen Exil, wo er von der Vernichtung seines Instituts erfuhr. Seine Porträtbüste wurde bei der Bücherverbrennung auf dem Berliner Opernplatz durch die Menschenmenge paradiert. Er starb 1935 im französischen Exil. Ich beschränke meinen Kurzausflug ins 19. bzw. frühe 20. Jahrhundert und möchte einige Überlegungen anschließen, welche Rolle dieser frühe Diskurs im 21. Jahrhundert spielt und dabei gleichermaßen die spezifisch deutsche Entwicklung wie deren Globalisierung thematisieren.

G lobalisierung eines deutschen D iskurses : Ü berlegungen zum 21 . J ahrhundert Die weltweit erste Menschenrechtsbewegung für homosexuelle Männer und Frauen entstand in Deutschland, theoretisch vorbereitet durch Ulrichs, politisch entwickelt durch Hirschfeld, der den Blick schärfte für Transvestitismus, Transsexualität, Bisexualität sowie für sexuelle Selbstbestimmung im Allgemeinen. Die weltweit umfangreichste staatlich organisierte Verfolgung und Ermordung männlicher Homosexueller, mit über 10.000 Toten und zehntausenden Verurteilungen, und die Entrechtung lesbischer und transsexueller Leben fand ebenfalls in Deutschland statt. Dies hat sich tief in die Erinnerung eingeschrieben – nicht nur in Deutschland. Für Homosexuelle weltweit ist der rosa Winkel zum Symbol der Entrechtung geworden (vgl. Mueller 2011). Im Rückblick auf die erste Menschenrechtsbewegung und deren Scheitern im Nationalsozialismus: Was bedeutet die enge zeitliche Folge von Aufbruch und Zerstörung? Wie übersetzt sich diese deutsche Erfahrung in einem globalen 21. Jahrhundert? Welche Fragen generiert sie in Forschung und Menschenrechtsarbeit? Bis heute ist die Frage unbeantwortet, ob die brutale Ermordung tausender männlicher Homosexueller und die Unterdrückung schwuler, lesbischer und transsexueller Kultur durch das NS-Regime nur eine Radikalisierung jener Homophobie war, die der sexualpathologischen Konstruktion von Homosexualität gegen Ende des 19. Jahrhunderts als Motiv eingeschrieben war, oder ob es der singuläre Ausdruck eines totalitären Regimes war. Wie konnte die damals historisch singuläre Toleranz gegenüber Homosexuellen in Akzeptanz von Verfolgung und selbst Mord umschlagen, die die Mehrheitsgesellschaft innerhalb weniger Jahre vollzog? Die historische Forschung zur ersten deutschen homosexuellen Menschenrechtsbewegung, zur nationalsozialistischen Homosexuellenverfolgung, Entrechtung lesbischer, schwuler, bisexueller, trans- und intersexueller Identi-

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täten wie zur Verschiedenheit ihrer Geschichten ist lange privatisiert worden. Kaum ein Lehrstuhl widmete sich diesen Themen. Spezifische staatliche Förderprogramme fehlten. Staatliche Museen, Stiftungen und öffentliche Sender nahmen sich dieses Themas kaum an. Die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld ist der Aufarbeitung dieser spezifisch deutschen Geschichte verpflichtet. Doch können ihre nur sehr bescheidenen finanziellen Mittel nicht ersetzen, was anderswo fehlt: breit angelegte Forschungsprogramme an Universitäten und staatlichen Stiftungen. Es wäre verhängnisvoll, die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld als Alibi zu benutzen, um anderswo weiterhin wenig zu tun.

Globalisierung von Identität und Differenz Antworten sind nicht nur für ein besseres Verständnis der Geschichte, sondern unserer Gegenwart nötig. Nicht nur nationalsozialistische, faschistische oder stalinistische Regime teilten die Auffassung vom Homosexuellen als Bedrohung totalitärer Ordnung. Bis heute werden sogenannte sexuelle oder geschlechtliche Abweichungen in 78 Ländern staatlicher Verfolgung ausgesetzt. Auch Demokratien kämpfen mit fundamentalistischen religiösen oder nationalistischen Ideologien. Besonders Transsexuelle sind weltweit häufig unmittelbarer Gefahr ausgesetzt, wie die 1374 dokumentierten Morde an Transsexuellen zwischen Januar 2008 und November 2013 zeigen (vgl. Transrespect versus Transphobia Worldwide 2013).6 Globalisierung verändert Sprache und nationale Selbstwahrnehmung. Anfang des 21. Jahrhunderts hat sich eine neue Terminologie weltweit durchgesetzt, mit der das westliche Identitätsparadigma globalisiert wird. Wir benutzen das Akronym LGBT: Lesbian, Gay, Bisexual und Transgender – also einen aus dem anglosächsischen Sprachraum entlehnten Shortcut, auch wenn unsere Communities selbst diesen Sammelbegriff oft weder kennen noch benutzen und unsere Geschichten durch andere Begriffe geprägt wurden. Seit Kurzem erweitert mit dem I für Intersexuelle, unterstellt das Kürzel potenziell eine idealistische wie ahistorische Einheit zwischen dem L und dem G und dem B und dem T und dem I, welche einer sorgfältigen Analyse bedürfte, und läuft mitunter Gefahr, als sprachliches Heilskonzept missverstanden zu werden, wenn es sich etwa mit LGBTQQIAAP 7 auf immer mehr Identitäten ausweitet.

6 | Das Trans Murder Monitoring Project dokumentiert seit April 2009 Morde an Transsexuellen weltweit. 7  |  LGBTQQIAAP, hier nur als ein Beispiel unter vielen anderen Variationen zitiert, steht für: lesbian, gay, bisexual, trans* [transgender, transsexual, transvestite], queer, questioning, intersexual, asexual, allies, pansexual.

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Der kulturellen und historischen Vielfalt sexuellen und geschlechtlichen Ausdrucks lässt sich auch mit vielen Anhängseln nicht gerecht werden. LGBTI, oder im deutschen Sprachraum mitunter auch übersetzt als LSBTI (schwul statt gay), sind Fachtermini und als solche hilfreich in spezifischen Kontexten wie begrenzt in ihrer allgemeinen Verständlichkeit. Als Fachbegriff und Zungenbrecher ist das Kürzel dem Alltag entrückt, potenziell exklusiv und elitär. Dennoch drückt sich in dem Akronym die politische Hoffnung wie der Anspruch aus, dass es Allianzen gibt oder geben könnte in der Frage eines selbststimmten Lebens und des freien Ausdrucks sexueller Orientierung und geschlechtlicher Identität. Die weltweite Vernetzung von LGBTI-Gruppen hat den Blick geschärft für die Unterschiedlichkeit von Lebensformen und gemeinsame Ziele.8 Aber die Globalisierung scheint auch eine Polarisierung zu fördern, in der LGBTI-Menschenrechte verstärkt als trennende kulturelle Signifikanten eingesetzt werden. Eine zunehmend globalisierende Homo-und Transphobie beruft sich auf westliche Identitätsparadigmen, um sich dann von diesen abzugrenzen: Homo- und Transsexualität werden, unter Ausblendung eigener kultureller Traditionen, als das ›Andere‹ entrechtet und als ›westlicher Export‹ denunziert. Oft dient dabei, paradoxerweise, die einst aufgezwungene homound transphobe koloniale Gesetzgebung als juristischer Bezugspunkt. Damit wiederholt sich eine zentrale Geste, die die deutsche Sexualpathologie und ihre kulturelle Wirkungsgeschichte bestimmte: Der imaginierte Homosexuelle des 19. Jahrhunderts bezeichnete wirkungsvoll das ›Andere‹, mit dessen Projektion sich ein Feld der Normalität überhaupt erst definieren ließ. Als bestimmbares Kennzeichen eines Individuums, einer sozialen Gruppe avancierte ›Homosexualität‹ zur bedeutungsvoll aufgeladenen Identität, über die sich die bürgerliche Gesellschaft Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts zu definieren suchte. Der Homosexuelle signalisierte eine polemische Grenze: wo für die einen das ›Andere‹ lauerte und für die anderen das ›Selbst‹ aufhörte. In dem sich globalisierenden Diskurs des 21. Jahrhunderts über LGBTIMenschenrechte hat sich dieser Gestus, diese polemische Grenze erhalten. Identität und Identifizierung, Emanzipation und Repression bestimmen seine Geschichte wie Gegenwart. Funktional erweist sich zudem die Negation von LGBTI-Menschenrechten auch als probates Mittel, die Universalität von Menschenrechten überhaupt infrage zu stellen. 8  |  Vgl. etwa das Gründungsstatement des Salzburg Global LGBT Forums zu den globalen Herausforderungen: http://lgbt.salzburgglobal.org/. Die Berliner Tagung des Global LGBT Forums im Mai 2014 thematisierte, auf Einladung und in Zusammenarbeit mit dem Auswärtigen Amt, die Notwendigkeit langfristiger globaler Netzwerke, um LGBTI-Menschenrechte zu sichern.

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In der fiktiven, aber rhetorisch wirksamen Polarisierung von westlichen versus nicht westlichen Werten werden der globale Einfluss westlicher Identitätsparadigmen wie komplexe post-koloniale Bezüglichkeiten negiert. Es zeigt sich eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen: Was besagt es, dass die Golfstaaten (die Vereinigten Arabischen Emirate, Saudi-Arabien, Kuwait, Oman, Bahrain und Katar) Männer wie Frauen, die sich um eine Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigung bewerben, in Zukunft auf Homosexualität testen und dabei bei Männern potenziell auf Analuntersuchungen zurückgreifen wollen, die mit Johann Ludwig Casper im deutschen Sprachraum im 19. Jahrhundert als Test verabschiedet wurden (vgl. Putz 2013)? Wie verarbeitet post-koloniale Menschenrechtsarbeit und Forschung, dass die Hälfte noch heute geltender Sodomiegesetze aus dem Erbe britischer Kolonialpolitik stammt (vgl. Human Rights Watch 2008)? Auf welche Konzepte berufen sich evangelikale amerikanische Kirchen, wenn sie neo-kolonial in Uganda und anderen afrikanischen Ländern eben jene homophoben Gesetze einführen wollen, die sie in den Vereinigten Staaten zurzeit nicht mehr umsetzen können (vgl. Sanchez 2013)? Die frühe Theorieformung zu Homosexualität und Transsexualität im deutschen Sprachraum hat maßgeblich jene Identitätsparadigmen hervorgebracht, innerhalb derer wir heute global sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität thematisieren. Für die hiesige Forschung stellt sich verstärkt die Frage der globalen Rezeption dieser Identitätsparadigmen. Auch die massenhafte Verfolgung während des Nationalsozialismus hat sich, wie gesagt, tief in ein globales Kollektivbewusstsein eingeschrieben, das es gilt, besser zu erforschen und zu verstehen. LGBTI-Forschung und -Menschenrechtsarbeit im 21. Jahrhundert sind global. Schon Hirschfelds Arbeit hatte eine starke internationale Dimension. Diesem Erbe müssen wir uns stellen.

Big Data: mögliche Auswirkungen der neuen technologischen Verfügbarkeit unserer Intimdaten Neben der Globalisierung zeichnet sich im 21. Jahrhundert eine zweite radikale Veränderung ab: Big Data, die Verfügbarkeit und Analysemöglichkeit großer Datenmengen aus unterschiedlichsten Quellen. Die Verflechtung von Identität und Identifizierung, von Emanzipation und Repression erfährt durch Big Data einen noch kaum verstandenen Paradigmenwechsel. Heute sind unsere Intimdaten immer schon vor uns da, unser LGBTI-Daten-Ich ist vernetzt und verfügbar in sozialen Netzwerken, gespeichert und nicht löschbar. Die aufwendige Datenerhebung des 19. und 20. Jahrhunderts durch Verhöre, Denunziationen, Beweisstücke oder Bekenntnisse ist überflüssig geworden: Unser Datenschatten macht unsere Freundeskreise, Ansichten, Vorlieben und Vorhaben jederzeit abruf bar.

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Einer möglichen nationalstaatlichen Anwendung dieser Intimdaten haben wir ebenso wenig entgegenzusetzen wie ihrer wirtschaftlichen Nutzung. Gezielter staatlicher Verfolgung mithilfe unserer technologisch verfügbaren Intimdaten stehen wir potenziell im 21. Jahrhundert hilfloser gegenüber als je zuvor, auch wenn die gleiche Vernetzung eine globale LGBTI-Menschenrechtsarbeit erst ermöglicht. Spiegelt die scheinbare Sorglosigkeit, mit der wir unser Leben im 21. Jahrhundert in soziale Medienprofile und Chatrooms einspeisen, jene Unbekümmertheit, mit der Homo-und Transsexuelle ihre Lebensgeschichten freiwillig Sexualpathologen und Ärzten zur Verfügung stellten? Die Lesbarkeit unserer Intimdaten ermöglicht bereits heute gezieltes, strukturiertes Eingreifen: Gerade hat etwa die türkische Regierung schwule Kontaktmedien wie gayromeo in Gänze abgeschaltet. Die Überwachung interner Kommunikation von LGBTI-Menschenrechtsgruppen, etwa dokumentiert in Russland vor den Olympischen Spielen (vgl. Feder 2013)9, ist technologisch kein Problem. Das ugandische Boulevardblatt Red Pepper veröffentlichte am 25. Februar 2014 Namen und Fotos von 200 LGBT-Aktivisten, inklusive privater Fotos – einen Tag, nachdem Präsident Museveni das ›Anti-Homosexuality bill‹ unterzeichnete. Betrachtet man die staatliche und soziale Gewalt des 20. Jahrhunderts, die sich mit der wissenschaftlichen Er­forschung des sexuellen Menschen und der daraus resultierenden ›sexuellen Ordnung‹ verband, was bedeutet diese historisch völlig neue technologische Verfügbarkeit unserer Intimdaten, in der es keine Privatheit mehr gibt, keinen Datenschutz und das Individuum wie das Kollektiv transparent lesbar werden?

P rinzipielle R echtsgleichheit : 150 J ahre später Nichts hat das Leben von homosexuellen, lesbischen, bisexuellen und transund intergeschlechtlichen Menschen im 20. Jahrhundert so geprägt wie die Erfahrung der Rechtlosigkeit. Hirschfelds Hoffnung auf den Aufklärungseffekt einer wissenschaftlichen Erklärung der Natürlichkeit von Homosexualität und Transsexualität wurde nicht eingelöst. Menschenrechte deklinieren sich nicht aus der Natur, sondern der Überzeugung, dass sie jedem Menschen zustehen und universell, unveräußerlich und unteilbar sind. Dem Staat kommt dabei eine Schutzpflicht zu, diese Gleichheit zu verteidigen. Die zentrale Forderung aus der deutschen Geschichte ist: Rechtsgleichheit. Bis heute ist diese nicht umgesetzt. 1865 forderte Karl Heinrich Ulrichs erst-

9  |  Für den Hinweis bedanke ich mich bei Ise Bosch.

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mals die Anerkennung gleichgeschlechtlicher Liebesbündnisse (vgl. Ulrichs 1869, Prometheus: 40-49). Solange die Gesetzgebung sich nicht um prinzipielle Rechtsgleichheit bemüht, wird soziale Diskriminierung nur schwer zu bekämpfen sein. Hillary Clinton fasste dies prägnant in ihrer Rede zu LGBTI-Menschenrechten am 8. Februar 2012 vor dem UNO-Menschenrechtsrat in Genf zusammen: »Gesetze haben einen lehrenden Einfluss. Gesetze, die diskriminieren, erlauben andere Formen der Diskriminierung. Gesetze, die allen gleichen Schutz gewähren, verstärken den moralischen Druck für Gleichstellung. Und ganz praktisch gesehen, ist es oftmals der Fall, dass Gesetze sich ändern müssen bevor sich die Ängste vor der Veränderung auflösen.«10

Wer Vorurteilen keine juristisch eindeutigen Grenzen steckt und fundamentale Rechtsgrundsätze als Leitkultur verteidigt, lässt Freiräume für Hass und Gewalt auch im 21. Jahrhundert entstehen. Historisch erscheint dennoch erstmals eine systematische Zusammenarbeit demokratischer, westlicher wie nicht westlicher Staaten möglich, in der LGBTI-Menschenrechte als Grundrechte begriffen werden – auch wenn sie in diesen Staaten selbst keineswegs bereits voll realisiert sind. Die Forderungen an andere Staaten, LGBTI-Menschenrechte zu garantieren, wäre natürlich wirkungsvoller und überzeugender, wenn nach wie vor bestehende Diskriminierungen im eigenen Land systematisch angegangen würden. 2011 führte Südafrika eine Koalition von 39 Staaten an bei der ersten Resolution der Vereinigten Nationen zu LGBTI-Menschenrechtsverletzungen. Argentinien verabschiedete 2012 die bisher fortschrittlichste Transgendergesetzgebung. Einige lateinamerikanische Staaten haben ein LGBTI-Diskriminierungsverbot in ihre Verfassung aufgenommen. Wie andere Länder gibt Deutschland ein widersprüchliches Bild: Außenpolitisch hat sich eine wertvolle Arbeit, auch innerhalb der Europäischen Union entwickelt, innenpolitisch muss das Bundesverfassungsgericht die Bundesregierung immer wieder zur Umsetzung verfassungsrechtlich garantierter Rechtsgleichheit ›verurteilen‹. Ich würde mir wünschen, dass wir Rechtsgleichheit in Deutschland für LGBTI-Menschen – 150 Jahren nach dem Erscheinen von Karl Heinrich Ulrichs ersten Schriften 1864 – nicht länger durch Gerichte erkämpfen müssten, gegen die politische Führung dieses Landes, sondern diese mit ihr gemeinsam schützen und sichern.

10  |  Zitiert nach der deutschen Übersetzung auf der Webseite des Lesben- und Schwulenverbandes Deutschland: www.lsvd-blog.de/?p=1764.

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Überlegungen zur LGBTI-Forschung und Menschenrechtspolitik

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Zum Doppelleben gezwungen: Vermeidungsund Überlebensstrategien lesbischer Frauen im ›Dritten Reich‹ Claudia Schoppmann

Monika Wissel, Bezirksbürgermeisterin von Berlin-Charlottenburg (1989-2000), zum 70. Geburtstag am 31. Juli 2014 zugeeignet

Im Buch »Wir erlebten das Ende der Weimarer Republik«, herausgegeben von Rolf Italiaander, beschreibt eine lesbische Modezeichnerin, wie sich ihr Leben in der NS-Zeit änderte. Bereits in den 1920er Jahren arbeitete sie in einem großen Berliner Verlag. Die Modelle, die sie und ihre Kolleginnen zu zeichnen hatten, trugen, »weil das damals als mondän galt, lange Zigarettenspitzen, die sie mit gespreizten Fingern, elegisch blickend, von sich hielten. Kurz geschnittene Haare waren Mode, der ›Bubi-Kopf‹.« Nach der Ernennung Adolf Hitlers am 30.01.1933 zum Reichskanzler und der Machtübertragung an die NSDAP und ihren nationalkonservativen Verbündeten DNVP wehte plötzlich ein anderer Wind. Als Vorlage dienten nun Fotos von »typisch deutschen« Frauen, »meistens blonde bäuerliche Typen, mit einer phantasielosen Kleidung, die an Volkstrachten erinnerte. Auch war jetzt nicht mehr der ›knabenhafte‹ Typ gefragt, sondern – wie wir lästerten – die Modelle mussten ›gebärfreudige Becken‹ haben, ›um dem geliebten Führer recht viele Kinderchen schenken zu können.‹« (Italiaander 1982: 98) Während diese Vorgaben aus dem Propagandaministerium alle Kolleginnen betrafen, schildert die Modezeichnerin nun die Auswirkungen auf sie persönlich: »Natürlich begann die Maskierung auch im privaten Leben. Ich lebte schon seit Jahren mit meiner Freundin zusammen. Manchmal munkelten die Leute: ›Haben die was zusammen?‹ Als das Dritte Reich ›ausbrach‹, hieß es dann bösartig: ›Die haben doch was zusammen!‹ Da waren die Hauswarte und Blockwarte, die in unser Privatleben ›hinein-

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Claudia Schoppmann leuchteten‹ und Meldungen erstatten sollten. Unsere Zimmervermieterin wurde ausgefragt, ob sie etwas über unser ›Intimleben‹ wüsste. Eines Tages kam unser Chefredakteur zu mir ins Atelier und sagte ungeduldig, ich müsse endlich heiraten oder er könne mich nicht weiter beschäftigen.« (Ebd.)

Die Modezeichnerin und ihre Freundin beschließen, mit einem befreundeten schwulen Paar – Kollegen von der Berliner Textil- und Modeschule – zusammenzuziehen. »Aber damit hatten wir den ›Geboten der neuen Zeit‹ noch nicht Genüge getan. Wieder war es der Hauswart mit dem Parteiabzeichen, der uns sagte: ›Sie können doch nicht in wilder Ehe leben, das ist nicht im Sinne des Führers.‹ Dabei war der Mann nicht böswillig, sondern ein netter Berliner. Immerhin, wenn der schon so redete […]. Also beschlossen wir zwei Frauen, unsere zwei Freunde zu heiraten.« (Ebd.) Mit der – einvernehmlichen – Eheschließung reagierten die Modezeichnerin und ihre Partnerin auf den Druck seitens ihres Vorgesetzten. Und den des Hauswarts, der »Verdächtiges« der Partei zu melden hatte. So gelang es dem Frauenpaar offenbar, wenigstens nach außen den Schein zu wahren. Im folgenden möchte ich der Frage nachgehen, wie lesbische Frauen nach 1933 auf die gesellschaftliche Ausgrenzung reagierten, wie sie sich vor drohenden Repressionen zu schützen versuchten, und mit welchen Strategien sie auf Verfolgungsmaßnahmen reagierten. »Instinktiv hat man sich geschützt. Man hat sich abgekapselt und hat sich entsprechend benommen: vorsichtig« (Schoppmann 1998: 126), beschreibt die Zeitzeugin Elisabeth Zimmermann (1913-1995) ihr damaliges Verhalten. Es gab eine Vielzahl von Verhaltensweisen; sie reichten vom Rückzug ins Private, Veränderung des Aussehens, Wechsel des Wohnorts bis zur Flucht in den Untergrund. Zu den sexualpolitisch vordringlichsten Maßnahmen gehörte nach der Machtübernahme die Zerstörung der öffentlichen und organisierten HomosexuellenBewegung, bildete sie doch mit ihren emanzipatorischen Forderungen und ihrer Infrastruktur einen sichtbaren Widerspruch zur NS-Sexualmoral. Die großen, weit über Berlin hinaus bekannten Organisationen, z.B. das Institut für Sexualwissenschaft und der Bund für Menschenrecht, aber auch kleinere Vereinigungen wurden aufgelöst, Lokale geschlossen oder überwacht und Periodika verboten. Basierend auf rassenhygienischen Vorstellungen, wollte das NS-Regime Homosexualität ›ausmerzen‹; gleichgeschlechtliche Betätigung sollte verhindert werden. In einem »Männerstaat« (Heinrich Himmler) wie dem Nationalsozialismus hatte dies jedoch, wie noch gezeigt wird, unterschiedliche Auswirkungen auf homosexuelle Männer einerseits und Frauen andererseits. Dabei darf nicht außer Acht gelassen werden, dass das Leben lesbischer Frauen, wie das aller Menschen im ›Dritten Reich‹, von unterschiedlichen Faktoren geprägt war: der Schichtzugehörigkeit, weltanschaulichen und politischen Einstellungen und ganz besonders der rassistischen Zuordnung.

Vermeidungs- und Überlebensstrategien lesbischer Frauen im ›Dritten Reich‹

Wie viele Scheinehen im ›Dritten Reich‹ eingegangen wurden, ist aus naheliegenden Gründen nicht feststellbar. Eine der prominentesten war sicher die 1936 geschlossene Ehe zwischen Gustaf Gründgens, dem Intendanten des Staatlichen Schauspielhauses in Berlin, und der Schauspielerin Marianne Hoppe. Heinrich Himmler, Reichsführer-SS und Chef der Deutschen Polizei ab 1936, schätzte die Zahl der Scheinehen gar auf eine Million. In einer Rede im Juni 1937 vor einem wichtigen bevölkerungspolitischen Gremium im Reichsinnenministerium sah er eine große Gefahr darin, dass homosexuelle Männer zur Tarnung heirateten und das »Fortpflanzungspotential« der Ehefrauen auf diese Weise »blockierten« (Schoppmann 1998: 21). Nach 1933 setzte eine intensive Mutterschafts- und Ehepropaganda gegen Ledige und Kinderlose ein, mit dem Ziel, die Zahl erwünschter Geburten in die Höhe zu treiben. Dies war eine wichtige Voraussetzung für die angestrebte kriegerische Eroberungspolitik des Regimes, besonders angesichts eines Geburtendefizits, das für die Weimarer Republik auf etwa 14 Millionen geschätzt wurde. Doch trotz ehefördernder Maßnahmen, etwa finanzieller Art (Ehestandsdarlehen), und gleichzeitiger Verschärfung des Abtreibungsverbotes konnte das Regime nur einen geringen Anstieg bei den Eheschließungen und Geburten verbuchen (vgl. Schoppmann 1997: 17-22). Im günstigsten Fall – wie dem eingangs geschilderten – konnte eine lesbische Frau einen schwulen Mann heiraten. Dies war auch bei Edith Schober (*1913) der Fall. Mitte der 1930er Jahre heiratete sie einen Bekannten, Kurt Zabel (*1909), der wie sie der Sozialistischen Arbeiterjugend angehörte. Die beiden führten in Berlin-Charlottenburg eine Drogerie. Kurt Zabel wurde 1940 als Soldat eingezogen. Edith Schober führte das Geschäft allein weiter, bis sie es im Mai 1943 schließen musste. Der Dienstverpflichtung zur Arbeit in der Rüstungsindustrie entzog sie sich, indem sie sich krank meldete und aufs Land zog. 1943 verbarg sie einen früheren jüdischen Kunden, der untertauchen musste. Ihm gelang schließlich die Flucht ins Ausland. Nach dem Krieg trennte sich Edith Schober von Kurt Zabel und nahm ihren Geburtsnamen wieder an.1 War der Ehemann jedoch nicht über die lesbische Orientierung seiner Gattin informiert oder war er nicht bereit, darauf Rücksicht zu nehmen, musste diese ihre »ehelichen Pflichten« erfüllen, wozu nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch (§1353 und §1568) auch die eheliche »Beischlafpflicht« gehörte. Dadurch waren sie nicht nur zu einem psychisch belastenden Doppelleben gezwungen, indem sie ihre wahren Gefühle verbergen mussten. Sie war auch

1  |  Interview der Verf. mit Edith Schober am 09.04.1986. Weitere Scheinehen erwähnt etwa Margarete Knittel in Schoppmann 1998: 102.

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mit dem Problem einer ungewollten Schwangerschaft konfrontiert. Bei einer Trennung musste sie damit rechnen, schuldhaft geschieden zu werden. Waren beide Partner dagegen homosexuell und setzten ihre gleichgeschlechtlichen Beziehungen fort, bedeutete dies eine erneute Gefahr, wie ein Beispiel aus Hamburg zeigt. Dort waren 1935 Adolf Großkopf (1906-1975) und Irma Fischer (1908-2001) eine sogenannte »Kameradschaftsehe« eingegangen, die wenige Monate später aufgrund polizeilicher Ermittlungen gegen Adolf Großkopf aufflog. Nach der Heirat hatte das Paar gar ein Ehestandsdarlehen beantragt, um sich Möbel anzuschaffen, und in Höhe von 700 RM erhalten. Zuvor hatten sie, wie im Urteil vermerkt wurde, »dem Distriktsarzt ihre anormale Veranlagung […] verschwiegen und ihn dadurch [veranlasst], ihre Ehefähigkeit zu bescheinigen. Daß sich die Angeklagten durch ihr Verhalten einen – wenn auch nur vorübergehenden – rechtswidrigen Vermögensvorteil verschafft haben, bedarf keiner weiteren Begründung; denn Sinn und Zweck des Ehestandsdarlehens ist die wirtschaftliche Unterstützung nur solcher Eheleute, die eine normale Ehe und die Begründung einer Familie beabsichtigen, nicht aber solcher Menschen, die das Institut der Ehe nur benutzen, um ihre anormale Veranlagung dahinter zu verbergen.« 2

Beide Angeklagten wurden vom Landgericht Hamburg zu drei Monaten wegen Betrugs verurteilt. Adolf Großkopf, dem auch homosexuelle Handlungen mit Männern (§175 RStGB) nachgewiesen wurden, erhielt eine Gesamtstrafe von zweieinhalb Jahren. Irma Großkopf wurde zugutegehalten, dass sie »offenbar stark unter dem Einflusse ihres geistig weit überlegenen Mannes gestanden und die Abzahlung des Ehestandsdarlehens übernommen«3 habe. Bei guter Führung und umgehender Wiedergutmachung des Schadens wurde ihr eine Strafaussetzung gewährt. Das Beispiel zeigt nicht nur, dass Scheinehen keinen absoluten Schutz darstellten. Es verdeutlicht auch die unterschiedlichen Konsequenzen für homosexuelle Männer einerseits und Frauen andererseits aufgrund der strafrechtlichen Situation. Sexuelle Handlungen zwischen erwachsenen Frauen standen an sich nicht unter Strafe, im Gegensatz zu solchen zwischen Männern, die durch Paragraf 175 RStGB kriminalisiert wurden. Schätzungsweise rund 50.000 von ihnen wurden im ›Dritten Reich‹ nach diesem Paragrafen verurteilt (vgl. Grau 2011: 303, 324). Anders war die Rechtslage in Österreich. Dort sanktionierte der Paragraf 129Ib des österreichischen Strafgesetzbuches die »Unzucht mit einer Person desselben Geschlechts« mit Zuchthaus von einem bis fünf Jahren. Dieses Gesetz betraf beide Geschlechter. Es wurde nach der Annexion Österreichs im 2  |  Staatsarchiv Hamburg, Rep. 9180/36. 3 | Ebd.

Vermeidungs- und Überlebensstrategien lesbischer Frauen im ›Dritten Reich‹

März 1938 weiterhin gegen Frauen angewandt. Dies führte zu der paradoxen Situation, dass weibliche Homosexualität in Österreich – im Gegensatz zum sogenannten Altreich – strafrechtlich verfolgt wurde. Die Zahl der Verurteilten stieg auch in der ›Ostmark‹ stark an: Allein in Wien wurden zwischen 1938 und 1943 über 1100 Männer sowie 66 Frauen nach Paragraf 129Ib verurteilt, was einem Frauenanteil von etwa 5 Prozent entspricht. Auch deutsche Frauen konnten strafverfolgt werden, da das ›Tatortprinzip‹ entscheidend war. So wurden etwa zwei Frauen aus Berlin 1943 in Wien festgenommen, nachdem sie wegen eines Diebstahls angezeigt worden waren. Bei den Ermittlungen stellte sich heraus, dass sie ein Liebespaar waren. Schließlich gestanden sie, in Wien miteinander geschlechtlich verkehrt zu haben. Zunächst wurden sie zwar bezüglich des Paragrafen 129Ib freigesprochen; die Staatsanwaltschaft legte jedoch Berufung ein und setzte sich schließlich mit ihren Forderungen durch. Beide Frauen wurden verurteilt und mussten ihre Haftstrafen verbüßen (vgl. Schoppmann 1999a: 103-114). Die unterschiedliche Intensität der strafrechtlichen Verfolgung in Österreich ist symptomatisch für das geschlechtsspezifische Vorgehen bezüglich der Homosexualität im ›Dritten Reich‹. Es ist vor allem auf die unterschiedliche Beurteilung von weiblicher und männlicher Sexualität und auf die Geschlechterhierarchie im NS-Regime zurückzuführen, in dem die einflussreichen Positionen in Partei und Staat mit Männern besetzt waren. Aufgrund der vielfältigen Kontrollmechanismen gegenüber Frauen im familiären, rechtlichen, politischen und ökonomischen Bereich konnte auf eine systematische Anwendung des Strafrechts als Mittel zur Abschreckung und Einschüchterung offenbar verzichtet werden. Die Tatsache, dass Frauen von einflussreichen Positionen und Berufen weitgehend ausgeschlossen waren und ihnen keine eigenständige, vom Mann unabhängige Sexualität zugestanden wurde, führte dazu, dass weibliche Homosexualität als sozial ungefährlicher und im Sinne der Bevölkerungspolitik weniger bedrohlich galt als männliche Homosexualität. Die Auflösung der (nicht nationalsozialistischen) Frauenbe­ wegung der Weimarer Republik, die als lesbisch diffamiert worden war, und die Kontrolle über Millionen ›arischer‹ Frauen in NS-Organisatio­nen trugen hierzu bei. Aufgrund dessen glaubten die Machthaber offenbar, auf eine systematische Strafverfolgung lesbischer Frauen verzichten zu können. Allerdings gab es Nationalsozialisten, z.B. Reichsminister Hans Frank, ranghöchster Jurist des NS-Regimes, oder der Rechtsreferendar und SS-Mann Rudolf Klare, welche die Ausdehnung des Paragrafen 175 auf Frauen forderten. »Gleichgeschlechtliche Betätigung«, so Klare in seinem 1937 erschienenen Buch »Homosexualität und Strafrecht«, sei »kein der deutschen Frau eigener Wesenszug […]. Sie wird von jedem vielmehr als unsittlich verachtet.« (Schoppmann 1998: 18) Verfechter einer Kriminalisierung konnten sich jedoch – glücklicherweise – im Reichsjustizministerium

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nicht durchsetzen. Doch die Verfolgung von homosexuellen Männern strahlte auf Frauen aus. Nicht wenige, etwa die Zeitzeugin Anneliese Wulf (1916-1995), befürchteten, dass der Paragraf eines Tages auch gegen sie angewandt werden würde (ebd.: 48). Als die junge Berlinerin im September 1941 aufgrund einer Denunziation von Hausbewohnerinnen polizeilich vernommen wurde, gelang es ihr durch beherztes Auftreten und geschicktes Leugnen, weiteren Schaden von sich abzuwenden (vgl. Schoppmann 2012a: 35f.). Anders war die Rechtslage in Fällen, in denen ›lesbische Handlungen‹ z.B. mit Untergebenen oder Minderjährigen, gewaltsam oder öffentlich begangen wurden. Sie konnten nach den Paragrafen 174, 176 und 183 RStGB, die zu den »Verbrechen und Vergehen wider die Sittlichkeit« zählten, strafrechtlich verfolgt werden. Der gleichgeschlechtliche Kontext blieb in der Statistik jedoch unsichtbar, sodass nicht festzustellen ist, wie viele solcher Fälle es gegeben hat. So wurde bspw. in Hamburg die Krankenschwester Frieda Kähler 1936 von einem Arzt denunziert. Sie gab schließlich zu, mit zwei Patientinnen in den Jahren 1935/1936 »unzüchtige Handlungen lesbischer Natur vorgenommen«4 zu haben. Als in einer öffentlichen Krankenanstalt angestellte »Medizinalperson« hatte Frieda Kähler damit »Unzucht mit Abhängigen« (§174 RStGB) begangen. Im Mai 1937 wurde sie vom Landgericht Hamburg zu neun Monaten Haft verurteilt. Nach Verbüßung der Haftstrafe im Frauengefängnis Fuhlsbüttel durfte die Krankenschwester fünf Jahre lang ihren Beruf nicht ausüben. Ihre wirtschaftliche Existenz war damit ruiniert. Wie dieses Beispiel und andere zeigen, darf die Bedrohung durch Denunziationen nicht unterschätzt werden – schließlich wurde auch weibliche Homosexualität gesellschaftlich geächtet und entsprach nicht dem »gesunden Volksempfinden«. Dies war eine seit der NS-Zeit verwendete Umschreibung für die angeblich unverbildete Meinung des Volkes, die 1935 gar in die Gesetzgebung eingegangen war. Allein der Verdacht gegen Frauen oder ihre Benennung in anderen Verfahren reichte für polizeiliche Ermittlungen, Hausdurchsuchungen, Verhöre und andere Maßnahmen. Wenn einzelne Frauen ins Visier des Regimes gerieten, mussten auch sie mit Repressionen rechnen; zwei Fälle mit unterschiedlichen Folgen – vom Verhör bis zur KZ-Haft: In Berlin-Friedrichshain wurden die beiden Fabrikarbeiterinnen Hildegard Wiederhöft und Helene Treike im März 1940 von einer Nachbarin denunziert. Sie gab der Gestapo gegenüber an, verdächtige Geräusche aus der Nebenwohnung gehört zu haben. »Beide schlafen in einem Bett«, hieß es in der Anzeige, »und werden hier die schlimmsten Sachen erzählt, welche sich dort in der Wohnung zutragen«.5 Das Zusammenleben der Frauen entspreche nicht dem »gesunden Volksempfinden«. Hildegard Wiederhöft und Helene 4  |  Staatsarchiv Hamburg, Rep. 465/38. 5  |  Landesarchiv Berlin, A Pr.Br.Rep. 030-02-05, Nr. 922.

Vermeidungs- und Überlebensstrategien lesbischer Frauen im ›Dritten Reich‹

Treike wurden von der Gestapo gezwungen, auseinanderzuziehen und den Kontakt abzubrechen. Helene Treike, die sich zu ihren lesbischen Beziehungen bekannt hatte, wurde von der Gestapo unter Beobachtung gestellt. Ob dies weitere Folgen für sie hatte, wissen wir nicht. Einschüchterung und Repressionen, so zeigt diese Geschichte, waren auch ohne ausdrückliche Sanktionierung durch das Strafrecht möglich. Sie haben allerdings selten (archivalische) Spuren hinterlassen. Im zweiten Beispiel geht es um zwei Frauen, die bei der Straßenbahn in Berlin-Treptow dienstverpflichtet wurden (vgl. Schoppmann 2012b). Ihr Arbeitgeber, die Berliner Verkehrsbetriebe, zeigte die 26-jährige Elli Smula und ihre vier Jahre ältere Kollegin Margarete Rosenberg an. Sie wurden im September 1940 verhaftet und von der Gestapo verhört. Man warf ihnen vor, mit ihren Kolleginnen auf nächtlichen Parties Sex gehabt und am nächsten Tag nicht ihren Dienst versehen zu haben. Am 30. November 1940 wurden Elli Smula und Margarete Rosenberg ins Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück deportiert. Als Haftgrund war in den Lagerdokumenten »politisch« mit dem Zusatz »lesbisch« vermerkt. Während Margarete Rosenberg überlebt hat und 1985 verstarb, kam Elli Smula am 8. Juli 1943 in Ravensbrück ums Leben – am 8. Juli 1943, »ganz plötzlich«, wie ihre Mutter Martha Smula nach Kriegsende angibt.6 Sie soll durch die Lagerärztin Herta Oberheuser (1911-1978), die u.a. für medizinische Experimente an Häftlingen mit Sulfonamiden verantwortlich war, getötet worden sein, allerdings bereits 1942.7 Für Frauen, die wegen sexuell abweichenden Verhaltens (oder aus zusätzlichen weiteren Gründen) in Konzentrationslagern inhaftiert wurden, gab es keine spezielle Häftlingskategorie. Sie wurden bekanntlich nicht wie die ho­ mosexuellen Männer mit einem rosa Winkel gekennzeichnet, sondern anderen Häftlingsgruppen zu­geordnet. Dies erschwert die Suche nach ihren Spuren erheblich und macht quantitative Angaben zu ihrer Anzahl unmöglich. Eine häufige Vorsichtsmaßnahme auf die bedrohliche Situation nach Etablierung der NS-Diktatur war offenbar der Rückzug ins Privatleben. Margarete Knittel (1906-1991), eine kaufmännische Angestellte, die in Berlin lebte, traf sich mit ihrem Freundeskreis fast nur noch in Privatwohnungen. Sie berichtet aber auch davon, dass lesbische Frauen auf die Schließung einschlägiger Lokale subversiv reagierten, indem sie neue Treffpunkte als harmlose Sportvereine tarnten. Margarete Knittel veränderte ihr Äußeres, ließ sich die Haare wachsen und trug nun Kleider, statt der einst bevorzugten strengen Kostüme. »Ich war dann aber auch sehr vorsichtig mit meinen Reden« (Schoppmann 1998: 104), 6  |  Landesarchiv Berlin, C Rep. 118-01, Nr. 8616. Das Todesdatum 08.07.1943 basiert auf der Angabe des Standesamts Ravensbrück II, d.h. der Lagerleitung (Auskunft des Standesamts Berlin-Charlottenburg-Wilmersdorf vom 08.04.2014). 7  |  Auskunft Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, Monika Schnell, vom 07.03.2014.

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beschreibt sie ihr Verhalten im Rückblick. Dass sie seit 1938 mit ihrem Vater zusammenwohnte, mag ebenfalls zu ihrem Schutz beigetragen haben. Während Margarete Knittel Frisur und Kleidung dem neuen Frauenbild anpasste, ging Frieda Belinfante (1904-1995) in den Niederlanden gewissermaßen den umgekehrten Weg, indem sie sich zeitweise als Mann ausgab. Die begabte Musikerin – sie war die erste Dirigentin in Europa mit eigenem Orchester – hatte sich nach der Besatzung durch die Deutschen am Widerstand in Amsterdam beteiligt, obwohl sie aufgrund ihres jüdischen Vaters selbst gefährdet war. Zunächst fälschte sie Ausweispapiere, um Untergetauchten zu helfen. Im März 1943 beteiligte sie sich am Anschlag einer Widerstandsgruppe um den homosexuellen Schriftsteller Willem Arondeus (1894-1943) auf das Amsterdamer Einwohnermeldeamt. Tausende von Unterlagen wurden dabei zerstört, was den Abgleich von gefälschten Papieren mit legalen erschwerte. Einige Tage danach wurden die meisten Mitglieder der Gruppe verhaftet und wenig später erschossen. Belinfante tauchte unter und lebte drei Monate als Mann verkleidet. Da die Gefahr für sie immer größer wurde, entschloss sie sich zur Flucht über Frankreich in die Schweiz. Im Februar 1944 gelang es ihr, illegal die Grenze zu überschreiten. 1947 wanderte sie in die USA aus, wo sie als Dirigentin Karriere machte (vgl. Hermanns 2007). Auch eine kommunistisch eingestellte Hamburgerin, deren Geschichte Ilse Kokula unter dem Pseudonym Gerda Madsen (1904-1984) veröffentlichte, zog sich nach Beginn der NS-Herrschaft ins Privatleben zurück: »Da trafen wir uns nur noch privat und gingen nicht mehr in die Öffentlichkeit. Man zog sich instinktiv zurück. Ich war ja nicht Nazi und zog mich zurück. Man blieb unter sich, und auch das hörte auf.« (Kokula 1990: 82f.) Gerda Madsen verließ schließlich die Großstadt, weil sie eine Arbeit auf dem Land in Schleswig-Holstein fand. Dort wagte sie es nicht mehr, sich offen zu zeigen, und verlor jahrelang jeden Kontakt zu lesbischen Frauen. Einige Frauen suchten aus Angst vor Spitzeln und Razzien keine einschlägigen Treffpunkte mehr auf oder gingen aus Furcht vor möglichem Verrat keine neuen Beziehungen ein. Isolation und Vereinzelung waren die Folgen. »Lesbisches Leben spielte sich praktisch nur in der Partnerschaft ab« (Schoppmann 1998: 38), so Hilde Radusch (1903-1994), die in der Weimarer Republik als Betriebsrätin bei der Post und von 1929 bis 1932 als Stadtverordnete der Berliner KPD aktiv war. 1933 war die streitbare Kommunistin ein halbes Jahr im Berliner Frauengefängnis Barnimstraße in Haft. In dieser Zeit trennte sich ihre Freundin Maria von ihr. Nach ihrer Entlassung wechselte Hilde Radusch mehrmals ihre Wohnung, um der Überwachung zu entgehen. Erst 1939 traute sie sich, wieder eine Liebesbeziehung einzugehen. Im August 1944 tauchte sie mit ihrer Lebensgefährtin Else Klopsch in Prieros bei Berlin unter, wo sie sich in einer primitiven Gartenlaube eine »zweite geheime Existenz« aufgebaut hatte. Gewarnt durch eine mit Else Klopsch befreundete Kriminalbeam-

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tin, entging Radusch so der drohenden Verhaftung im Rahmen der »Aktion Gitter«, die sich gegen Regime-Gegner_innen richtete. Hilde Radusch erlebte die Befreiung durch die Rote Armee halb verhungert. Seit 2012 erinnert der Berliner Bezirk Tempelhof-Schöneberg an der Eisenacher Straße, Ecke Winterfeldtstraße, Raduschs letztem Wohnort, mit drei Denktafeln an das Leben und Wirken dieser außergewöhnlichen Politikerin, Frauenrechtlerin und lesbischen Aktivistin. Andere Frauen, die wie Radusch das NS-Regime ablehnten, sahen sich zur Emigration gezwungen, etwa Erika Mann, die zusammen mit ihrer Freundin Therese Giehse mit ihrem antifaschistischen Kabarett »Die Pfeffermühle« im Ausland gegen Hitler agierte. Die Bildhauerin und Schriftstellerin Christa Winsloe (1888-1944) dagegen, die durch den Film Mädchen in Uniform (1931) weltbekannt wurde, war als Nichtjüdin und ungarische Staatsbürgerin (durch Heirat) nicht unmittelbar gefährdet. Doch sie wollte nicht mehr in Deutschland publizieren und nutzte schließlich, nachdem sie in den USA nicht hatte Fuß fassen können, die Einladung zu einem Filmprojekt in Paris, um ihre Heimat zu verlassen. Vom Krieg überrascht, zog sie nach Südfrankreich, wo sie im Juni 1944 von Kriminellen erschossen wurde. Vor allem lesbische Jüdinnen waren zur Emigration gezwungen, darunter Annette Eick (vgl. Schoppmann 1998: 108-125) oder die Lyrikerin Vera Lachmann (1904-1985), die Ende 1939 über Dänemark und Schweden in die USA gelangte (vgl. Schoppmann 1999b). Denjenigen, die nicht mehr ausreisen konnten – im Oktober 1941 verhängte das Reichssicherheitshauptamt ein Auswanderungsverbot für die jüdische Bevölkerung – blieb nur eine Flucht in den ›Untergrund‹: ein äußerst riskantes Unterfangen mit ungewissem Ausgang (vgl. Schoppmann 2012c: 142-160). Was es bedeutete, sich monate- und jahrelang verbergen bzw. mit einer falschen Identität leben zu müssen, immer auf der Suche nach Unterkünften, Lebensmitteln oder falschen Papieren und bedroht von Denunziationen, Razzien und Bombenangriffen, sei stellvertretend am Beispiel der lesbischen Berliner Künstlerin Gertrude Sandmann (1893-1981) gezeigt. 1933 emigrierte die Schülerin von Käthe Kollwitz in die Schweiz, musste jedoch bald nach Deutschland zurückkehren, da ihre Aufenthaltsgenehmigung nicht verlängert wurde. Als ›Nichtarierin‹ erhielt sie 1935 Berufsverbot. Am 21. November 1942 drohte Sandmann die Deportation. Sie täuschte einen Suizid vor – d.h., sie hinterließ einen Abschiedsbrief in ihrer Wohnung im Bezirk Tiergarten und tauchte unter. Entrechtet und ihrer Ressourcen beraubt, war sie auf Hilfe nicht jüdischer Deutscher angewiesen, die bereit waren, ihr trotz des Risikos für sich und ihre Angehörigen beizustehen. Nicht zuletzt dank ihres unbeirrten Überlebenswillens erlebte Gertrude Sandmann die Befreiung. Trotz schwerer gesundheitlicher Schäden konnte sie endlich wieder als Künstlerin arbeiten. Erst viele Jahre nach

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ihrem Tod wurde Gertrude Sandmann und ihr faszinierendes Werk durch zwei Ausstellungen (2009 und 2011) auch einer größeren Öffentlichkeit bekannt. Wie ihr Beispiel und das anderer ›Untergetauchter‹ zeigt, wurden sie in erster Linie aufgrund ihrer jüdischen Herkunft und nicht wegen ihrer Homosexualität verfolgt. Allerdings waren es gerade die persönlichen Beziehungen – Unterstützung durch die Partnerin, Freundinnen und Bekannte –, die für das Leben in der ›Illegalität‹ von großer Bedeutung waren. Auf die eingangs gestellte Frage, wie lesbische Frauen nach 1933 auf die gesellschaftliche Ausgrenzung reagierten, gibt es sehr unterschiedliche Antworten: Die Verhaltensweisen reichten vom Rückzug ins Private, Veränderung des Aussehens, Tarnung durch Scheinehen bis hin zum Abtauchen in die Anonymität oder die Flucht in den Untergrund. Dabei waren die jeweiligen Handlungsspielräume von unterschiedlichen Faktoren geprägt und sie bestimmten auch, mit welchen Strategien Frauen auf Verfolgungsmaßnahmen reagierten. Unbekannt ist bis heute, wie vielen Frauen im ›Dritten Reich‹ Unrecht angetan wurde – weil ihre Liebe oder ihr Begehren dem eigenen Geschlecht galt. Oder weil ihnen dies nachgesagt wurde. Womöglich handelt es sich um eine relativ geringe Anzahl. Doch auch wenn sie nicht im selben Ausmaß und auf ähnliche Weise verfolgt wurden wie homosexuelle Männer: Es hat diese Frauen gegeben und sie haben gelitten – in Fürsorgeheimen und psychiatrische Anstalten, in Haftanstalten und Konzentrationslagern. Der Begriff ›Verfolgung‹ darf nicht länger nur auf polizeiliche und justizielle Repression beschränkt werden. Welche psychischen Belastungen, welche Beeinträchtigungen resultierten aus dem Zwang, das eigene Lieben und Begehren über Jahre zu verheimlichen? Dies ist nur schwer zu ermessen. Die Ansätze ei­ner kollektiven lesbischen Lebensform und Identi­tät, die sich vor allem während der Weimarer Re­publik gebildet hatten, waren nach 1933 gründlich zerstört worden. Die Auswir­kungen sollten weit über das Ende des ›Dritten Reichs‹ hinaus­reichen (vgl. Plötz 2007: 27-30). »Was die Geschichtsschreiber noch nie berücksichtigt haben, ist, dass ungezählte Deutsche sich nach 1933 aus irgendeinem Grunde maskieren mussten – gegen ihre Willen! – weshalb viele von ihnen seelisch krank wurden« (Italiaander 1982: 99), so die eingangs genannte Modezeichnerin. Angesichts fortgesetzter Diskriminierung nach dem Krieg ist es wohl kein Zufall, dass sie ihren Text nur mit abgekürztem Namen, K. von Sch., zeichnete.

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Verfolgung und Selbstbehauptung — homosexuelle Männer während der Zeit des Nationalsozialismus Andreas Pretzel

Dieser Beitrag wird zunächst auf die Forschungsgeschichte zur NS-Verfolgung homosexueller Männer eingehen, dann den Forschungsstand verdeutlichen, Desiderate benennen und schließlich für neue Forschungsperspektiven im Hinblick auf zeitliche Periodisierungen sowie auf Formen der Selbstbehauptung homosexueller Männer plädieren.

1. F orschungsgeschichte Eine verstärkte Erforschung der Verfolgung homosexueller Männer während der NS-Zeit begann erst vor rund 30 Jahren. Mit den bis heute veröffentlichten Arbeiten könnte man in einer Forschungsbibliothek etwa drei bis vier Regalmeter füllen. In den meisten Bibliotheken beansprucht die gesammelte Forschungs­literatur zu diesem Thema allerdings höchstens einen halben Regalmeter. Ein überschaubares Wissens-und Forschungsfeld also, das dazu einlädt, sich daran zu beteiligen – eben weil so vieles noch gar nicht erforscht wurde. Im Vergleich zu anderen NS-Verfolgtengruppen fällt das besonders ins Auge, denn deren Literatur füllt mittlerweile ganze Bibliotheksräume. Ein Blick auf das schmale Forschungsregal zur Homosexuellenverfolgung könnte vergleichsweise den Eindruck einer Marginalie erwecken, und dieser Eindruck ist nicht ganz falsch, weil er die jahrzehntelange Marginalisierung dieser Forschungen widerspiegelt. Seit den 1980er und in den 1990er Jahren waren es vor allem Forscher_innen, die aus der Schwulenbewegung kamen oder sich ihr verbunden fühlten, die damit begannen, sich dem umgangenen, peinlich verschwiegenen und verdrängten Verfolgungskapitel zu widmen. Dessen Aufarbeitung ist vor allem durch außerakademische Forschungen in Gang gebracht und in außerakademischen Milieus rezipiert worden.

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Um die Jahrtausendwende kamen Forschungsergebnisse hinzu, die als Dissertationen erstmals im akademischen Umfeld entstanden (vgl. Jellonnek 1990; Micheler 2002; Müller 2003). Seitdem scheint die Zeit vorbei, in welcher der politische und gesellschaftliche Stellenwert, den die Verfolgung homosexueller Männer während der NS-Zeit einnahm, in der NS-Forschung ignoriert, kleingeredet oder bestritten werden kann. Gleichwohl widmen sich bislang immer noch fast ausnahmslos homosexuelle Männer diesem Thema. Während bspw. Forschungen zur Judenverfolgung und zum Antisemitismus in Deutschland mittlerweile mehrheitlich von Nicht-Juden und Nicht-Jüdinnen betrieben werden (und das gilt analog für Forschungen zur sogenannten Zigeunerverfolgung und dem Antiziganismus), stellt ein solcher Normalitätsgewinn in der Forschungsgeschichte zur Homosexuellenverfolgung und zur Homophobie eine Ausnahmeerscheinung dar (vgl. z.B. Bleibtreu-Ehrenberg 1978; Jellonnek 1990; zur Nieden 2005; Domeier 2010). Damit die staatliche Verfolgung Homosexueller in der Forschungslandschaft zur NS-Verfolgung eine angemessene Beachtung und Unterstützung erfährt, bedarf es eines Bewusstseinswandels in den Institutionen der Geschichtsforschung und -vermittlung. Das gilt ebenso für die Aufarbeitung staatlichen Unrechts nach 1945. Auch hierzu herrscht erheblicher Nachholbedarf, um Geringschätzung und vorhandene Berührungsängste beim Thema Homosexualität zu überwinden. Während mittlerweile Impulse der Genderforschung zum Bestandteil vieler historischer Erkundungen und fachinterner Diskussionen geworden sind, bleiben die Ergebnisse der Forschung zur Geschichte der Sexualitäten immer noch weitgehend unbeachtet – ganz zu schweigen von den historischen Erkundungen zu Homosexualitäten, deren verdienstvolle Schriftenreihe Invertito1 in der akademischen Forschung in Deutschland bislang kaum wahrgenommen wurde. Umso mehr ist es zu begrüßen, dass sich ehrwürdige Institutionen nunmehr dazu durchringen konnten, sich der Geschichte der Homosexualitäten zuzuwenden. Erstmals in seiner Geschichte wird bspw. der 50. Deutsche Historikertag in Göttingen (2014) ein Panel zur Geschichte der Homosexualitäten veranstalten. Das Deutsche Historische Museum plant zusammen mit dem Schwulen Museum in Berlin für das Jahr 2015 eine kulturhistorische DoppelAusstellung zur »Geschichte der Homosexualität(en)«. Dazu kommt ein vom Institut für Zeitgeschichte und der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld geplantes Forschungsprojekt zu »Lebenssituationen und Repressionen von LSBTI im Nationalsozialismus« (Schwartz 2014).

1  |  Vgl. die Homepage von Invertito – Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten: www.invertito.de/jahrbuch/.

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2. F orschungsstand und D esider ate Wir kennen mittlerweile die Gründe, Strategien und Methoden der NS-Verfolgung, ihre Intensität und das Ausmaß sowie die zunehmende Radikalität. Wir wissen um die Feindbilder, die gegenüber homosexuellen Männern vertreten wurden, auch, wie es bei der Polizei und der Justiz, in den Haftanstalten und Konzentrationslagern zuging. Wir können uns ein Bild machen von der Bedrängnis und der Angst, vom Schrecken der Verhaftung, der Bloßstellung und Erniedrigung bis hin zur Strafverfolgung und zum Leiden und Sterben in den Haftlagern. Eine Quellensammlung zur Homosexuellenverfolgung (vgl. Grau 2004), Sammelbände, die den Forschungsstand Mitte der 1990er Jahre resümierten (vgl. Jellonnek/Lautmann 2002) sowie Forschungsstand und -kontroversen thematisierten (Eschebach 2012) und sogar ein Lexikon (vgl. Grau 2011) sind dazu erschienen. Dazu kamen Untersuchungen zu größeren zeitlichen Zusammenhängen mit Blick auf die Zeitspanne 1900-1933 (vgl. zur Nieden 2005), mit Regionalblick auf Hamburg von 1919-1969 (vgl. Rosenkranz/Bollmann/Lorenz 2009), im Hinblick auf die Post-NS-Zeit (vgl. Pretzel 2002; Whisnant 2012) sowie zur Strafrechtsentwicklung von 1871 bis zur NS-Zeit (vgl. Sommer 1998) und für die Zeit nach 1945 (vgl. Schäfer 2006), ferner drei Sammelbände zum Schicksal Homosexueller in Konzentrationslagern (vgl. KZ-Gedenkstätte Neuengamme 1999; Mußmann 2000; Müller/Sternweiler 2000) sowie erste Erkundungen zu homosexuellen Männern in den Haftanstalten der Justiz (vgl. Bülow 2000; Wäldner 2008). Zeitgleich entstand eine wachsende Anzahl von Regionalstudien zur Verfolgung homosexueller Männer: vor allem zu Berlin (vgl. Pretzel/Roßbach 2000; Dobler 2003: 175-225; Pretzel 2005a, Sonntags-Club 2009: 91-134; Pretzel 2009, 2010), Hamburg (vgl. Micheler/Terfloth 2002; Rosenkranz/Bollmann/Lorenz 2009: 23-100; Lorenz 2013) und Köln (vgl. Limpricht/Müller/ Oxenius 1991; Centrum Schwule Geschichte 1998; Müller 2003), des Weiteren zu Düsseldorf (vgl. Jellonnek 1990: 273-326; Sparing 1997), Würzburg und der Pfalz (vgl. Jellonnek 1990: 176-220 u. 221-272) sowie zu Norddeutschland (vgl. Hoffschildt 1999a) und Mecklenburg (vgl. Peters 2004), ferner erste Untersuchungen zu Hannover (vgl. Hoffschildt 1992: 81-133), Flensburg (vgl. Poppe/ Marnau 1998) und Itzehoe (vgl. Marnau 1996), Bielefeld (vgl. Ewers 2000), Magdeburg (vgl. Hoffschildt 2008), Süd-Baden (vgl. Schaefer 2009) und zum Altenburger Land in Thüringen (vgl. Zinn 2011: 45-152). Aber Studien zu zahlreichen Gebieten und Großstädten des ehemaligen ›Deutschen Reiches‹, insbesondere auch dort, wo sich in den 1920er Jahren homosexuelle Emanzipationsbewegungen gegründet hatten (z.B. Breslau, Chemnitz, Danzig, Dresden, Leipzig, München, Stuttgart, …), fehlen noch.

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Eine umfassende Aufarbeitung der zur Verfolgung überlieferten Quellen ist längst noch nicht geleistet, geschweige denn in naher Zukunft geplant oder in Aussicht. Die wichtigste Aufgabe besteht zunächst darin, die Quellenüberlieferungen zu den genannten Städten und Regionen aufzufinden und zu erschließen. Jens Dobler, Archivar am Schwulen Museum, hat bspw. zu Berlin einen Generalplan (Dobler 2012) entworfen, der seinen Fokus darauf richtet, neue Quellen aufzuspüren und vorhandene umfassend zu sichten und auszuwerten, d.h. Grundlagenforschung zu betreiben. Derzeit ist jedoch völlig unklar, wer diese Anregungen aufgreifen, umsetzen oder finanzieren könnte. In Wien dagegen startet gerade ein solch umfassendes Forschungsprojekt zur Erfassung und Auswertung verfügbarer Quellen (vgl. QWIEN 2013). Selbst die Landesregierung von Rheinland-Pfalz plant ein Projekt zur Aufarbeitung der Homosexuellenverfolgung. Dazu kommt das vom Institut für Zeitgeschichte angestrebte Forschungsprojekt zu »Lebenssituationen und Repressionen von LSBTI im Nationalsozialismus«. Und nicht zu vergessen, das vor mehr als 15 Jahren begonnene Privat-Projekt von Rainer Hoffschildt (1999b), welches eine namentliche Erfassung der KZ-inhaftierten homosexuellen Männer umfasst. 2013 haben Recherchen zur NS-Verfolgung in Leipzig begonnen. Es ist zu hoffen, dass sie fortgeführt werden können, doch es mangelt – wie immer – an der Finanzierbarkeit. Das ist das größte Problem. Wenn z.B. aus Hamburg und Berlin, wo seit 15 Jahren beharrlich geforscht wird, weiterhin Impulse kommen, verdankt sich das in Hamburg der Privatinitiative pensionierter Forscher oder in Berlin zeitlich befristeter Projekte auf dem zweiten BilliglohnArbeitsmarkt durch den Kulturring – in beiden Städten vor allem auch dank der Unterstützung des Staats- bzw. Landesarchivs. Während die akademische Geschichtsforschung kaum Notiz von den mittlerweile zahlreichen Studien zur Homosexuellenverfolgung nimmt oder gar eigene Forschungsinitiativen ergreift, wurde und wird ein Großteil der Forschungen ermöglicht durch staatliche Gelder, die Unterstützung von Vereinen und Gedenkstätten oder in Form kommunaler Projekte zur Aufarbeitung der Homosexuellenverfolgung und zur Erinnerung daran. Künftig kommt es darauf an, die strukturellen Forschungsbedingungen und die Forschungsförderung im Zusammenwirken mit akademischen Forschungseinrichtungen nachhaltig zu verbessern. Mit den erwähnten, gegenwärtig geplanten Forschungsprojekten könnte die Forschung neuen Aufschwung erfahren und zugleich zeitgemäße Forschungsstandards und neue Forschungsperspektiven vermitteln. Das gilt ebenso für die Untersuchungen zu den Verfolgungsorten und -institutionen. Die Forschung zu homosexuellen Männern in den Konzentrationslagern und in den Haftanstalten der Justiz, wie auch zur Verfolgung durch Gestapo und Kripo, ist aus den o.g. Gründen

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weitgehend zum Stillstand gekommen. Auch hierzu herrscht erheblicher Aufholbedarf. Eine langfristige Aufgabe besteht im Weiteren darin, die Forschungsergebnisse zur Homosexuellenverfolgung in Deutschland – vor, während und nach der NS-Zeit (vgl. Pretzel 2004) – in die Darstellungen zur Geschichte der Sexualpolitik, Sexualitäten und Geschlechterbeziehungen einzuordnen. Eine umfassende Darstellung von Dagmar Herzog (2005) sowie eine Studie zu Berlin (vgl. Evans 2011) haben dazu den Weg gewiesen. Eine noch zu leistende Pionier-Aufgabe sind außerdem komparative Studien zum zeitgenössischen Umgang mit (Homo-)Sexualitäten in den europäischen Nachbarstaaten und den USA (vgl. ebenso wegweisend Herzog 2011). Bislang liegt lediglich eine Untersuchung zu Homosexualitäten in den Metropolen Paris, London und Berlin für das erste Drittel des 20. Jahrhunderts vor (vgl. Tamagne 2000). In globalgeschichtlicher Perspektive vermögen sowohl Robert Aldrich (2007) mit internationalen Einzeluntersuchungen von Historiker_innen Forschungsimpulse für Vergleichsstudien zu vermitteln als auch die herausragenden Regionalstudien zu New York (vgl. Chauncey 1994), London (vgl. Houlbrook 2005) und Frankreich (vgl. Jackson 2009).

3. N eue F orschungsperspek tiven Bei den Forschungen zur nationalsozialistischen Verfolgung Homosexueller in Deutschland (wie auch in Österreich) wird es künftig darauf ankommen, eine genauere Periodisierung für den Verlauf der sich intensivierenden und radikalisierenden Verfolgung in den 1930er und 1940er Jahren vorzunehmen. Ein schärferer Blick auf die unterschiedlichen Akteure und ihre Motive, welche die Verfolgung vorantrieben, ist dabei vonnöten: Wer konnte sich mit welchen Verfolgungskonzepten gegenüber seinen Mitkonkurrenten in den Verfolgungsinstitutionen zu welcher Zeit durchsetzen? Und welche Auswirkungen hatten diese Machtkämpfe der Verfolger auf die Verfolgten? Es machte einen Unterschied, ob man in der Zeit willkürlicher Razzien, Verhaftungen und zeitweiliger KZ-Internierungen in den Jahren 1934/1935 in die Fänge der Verfolger geriet – oder 1936 bis 1939, als Kriminalpolizei und Justiz zeitweilig die Oberhand über die Verfolgung gewannen und sie zusammen mit der Gestapo systematisch ausdehnten. Es machte einen Unterschied, ob jemand in den 1930er Jahren verurteilt und inhaftiert war oder in den 1940er Jahren, als es um die Sicherung der sogenannten Heimatfront ging, und sich bei der Justiz die Strafen verschärften und sich die Haftbedingungen dramatisch verschlechterten. Konnte die Mehrheit der inhaftierten Männer in den 1930er Jahren nach der Strafverbüßung noch davon ausgehen, wieder frei zu kommen, so war das in den 1940er Jahren keineswegs mehr der Fall. Einem

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nicht geringen Teil drohte mit der massenhaft angeordneten, sogenannten Vorbeugungshaft die Einlieferung in Konzentrationslager auf unbestimmte Zeit. Für viele bedeutete dies den Tod. Diese Zeitfenster, die sich aus einer noch näher zu bestimmenden Periodisierung ergeben, liefern nicht nur Aufschluss über Gewalt und Handlungsmacht, über zeitweilige Verfolgungskonzepte, die Veränderung der Feindbilder und die Durchsetzung von Verfolgungsmaßnamen, sondern auch Einblick in unterschiedliche Verfolgungssituationen und deren Veränderung. Sie bieten einen Rahmen, um die Handlungsräume von Verfolgern und insbesondere auch die der Verfolgten näher zu bestimmen. Dazu wäre allerdings eine Perspektive einzunehmen, welche die verfolgten Homosexuellen weniger als amorphe Opfergruppe in den Händen von Verfolgern sieht, sondern sie als handlungsfähige Subjekte wahrnimmt und ihren Möglichkeiten von Selbstbehauptung und Eigensinn unter den Verfolgungsumständen bis hin zum Widerstand (dazu zähle ich auch die Emigration) nachspürt. Die überwiegende Mehrheit der vor allem in den Regionalstudien veröffentlichten biografischen Schilderungen umfasste bislang individuelle Verfolgungsschicksale in viktimisierender Perspektive. Diese herkömmlichen Darstellungsweisen bedürfen künftig einer perspektivischen Ergänzung und Neuausrichtung, um den individuellen Handlungsräumen der Verfolgten mehr Aufmerksamkeit und Beachtung zukommen zu lassen sowie die Formen der Solidarität und Unterstützung, gemeinschaftliche Netzwerke und Freundeskreise, Formen des Widerstands und der Selbstbehauptung der Verfolgten zu erkunden und sichtbar zu machen. Die Wahrnehmung der Verfolgten als Akteure eröffnet neue Forschungsperspektiven auf die Verfolgten und ihre Lebenswirklichkeiten, ihre Fähigkeiten, z.B. in bedrohlichen Situationen Handlungsstrategien zu entwickeln, um der Repression, Bedrohung und Verfolgung aus dem Weg zu gehen bzw. ihnen zu trotzen. Diese Formen von Selbstbehauptung zeigen sich in dem Bemühen, sich der Möglichkeiten und Grenzen des eigenen Handelns unter bestimmten Umständen bewusst zu werden: Welche Orte konnten bspw. noch aufgesucht werden, um Geselligkeit unter Gleichen zu finden, Freunde und Liebhaber? Wo und von wem konnte man das in Erfahrung bringen? Welche Vorsichtsmaßnahmen wurden getroffen, um unentdeckt zu bleiben? Welche Unachtsamkeiten waren verhängnisvoll? Wie haben sich die Männer zurechtgefunden in einer ständigen Restrukturierung urbaner Räume? Es waren umkämpfte Räume, nicht nur bedrohte, sondern auch eroberte, temporär erkundete und genutzte Räume, die homosexuelle Männer an öffentlichen Orten, in Cruising Areas und in Lokalen für sich in Anspruch nahmen. Diese Aktivitäten verweisen auf individuelle Handlungsoptionen ebenso wie kollektive Handlungsräume, die – anhand der von Überwachungs- und Verfolgungsinstitutionen überlieferten Quellen – herauszufinden wären.

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Welche Selbstschutz- und Reaktionsmuster gab es in heiklen Situationen, um den Verfolgern davon zu kommen oder drohende Sanktionen zu mildern? Welche Strategien zur Selbstverteidigung entwickelten die straf bedrohten Männer? Wo, womit und bei wem fanden die Männer Hilfe, Rückhalt oder Unterstützung? Wem vertrauten sie? Wie haben das Wissen um die Bedrohung und die Verfolgungserfahrungen das eigene Selbst und das Miteinander geprägt und verändert? Wie haben die Männer ihre Lebensentwürfe, ihre Freundschaftsnetzwerke und Liebschaften behaupten können? Wie haben sie ihr Verhalten den sich verändernden Verfolgungssituationen im Verlauf der Radikalisierung angepasst? Wer stand ihnen noch zur Seite und bemühte sich um Hilfe und Beistand, wenn sie in Haft kamen? Wer kümmerte sich währenddessen um die Wohnung, das Vermögen oder die Habseligkeiten und wer um den Nachlass? Und nicht zuletzt wäre im Hinblick auf die Verfolgten danach zu fragen: Wer verfügte über welche Handlungsmöglichkeiten? Homosexuelle bildeten keine homogene Opfergruppe mit vergleichbaren Lebensbedingungen, sexuellen Identitäten, Mentalitäten und Erfahrungen. Die Verfolgten unterschieden sich aufgrund sozialer Ungleichheiten bedingt durch Herkunft, Milieu- und Klassenzugehörigkeit, finanzielle und intellektuelle Ressourcen, politische Gesinnungen und durch unterschiedliche sexuelle Präferenzen. Die möglichen Auswirkungen der Verfolgung wurden ebenso beeinflusst durch die Überschneidung von Diskriminierungsformen, etwa bei Homosexuellen jüdischer Herkunft, politischen Widerstandskämpfern oder bündisch Jugendbewegten. Erforderlich sind also um intersektionale Sichtweisen erweiterte Untersuchungsperspektiven, um unterschiedlich erlebte Verfolgungswirklichkeiten und differierende Verfolgungserfahrungen sichtbar zu machen. Auch die Verfolgung homosexueller NS-Funktionäre und homosexueller Priester, gegen die mit zeitweilig besonderer Härte durch Gestapo und Justiz vorgegangen wurde, bedarf künftig näherer Beleuchtung, um ihre Handlungsräume vor und nach der Verfolgung zu erkunden. Statt die Verfolgten wie bislang häufig üblich homoerotischen Milieus zuzuschreiben, wären ihre Handlungsräume m.E. strukturell homophoben Männerbünden zuzuordnen und demzufolge danach zu fragen, wie es homosexuellen Männern möglich war, in homophoben männerbündischen Milieus ihre Neigungen zu leben und vereinzelt trotzdem Karriere zu machen (vgl. Pretzel 2005b). Welche Rolle Homosexualität tatsächlich in der NS-Bewegung wie auch in der Priesterschaft spielte und wie sich das Verhältnis von Ausschluss- und Duldungspolitik in Anbetracht des Tabus Homosexualität gestaltete, ist bis heute eine weitgehend unbeantwortete Frage. All diese Fragen zu stellen heißt, die herkömmlichen Blickwinkel auf Verfolgung, Denunziation und Fremdbestimmung zu erweitern und auf bislang unbeleuchtete Aspekte auszudehnen. Die Verfolgten stünden nicht mehr nur

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als Opfer im Fokus der Darstellung oder des Gedenkens, sondern als Akteure. Der bisherige Viktimisierungsdiskurs hat die Verfolgten entmächtigt. Er produzierte zwangsläufig Unsichtbarkeiten, deren Ursache weniger in einer Blindheit der Forschenden gegenüber den Verfolgten lag, als vielmehr dem Blick auf eine erinnerungspolitische Agenda und dem im gesellschaftlichen Erinnerungsdiskurs Mitteilbaren geschuldet war. Weil den Verfolgten hierzulande nahezu ein halbes Jahrhundert der Status als NS-Opfer verweigert und abgesprochen wurde – von Staatswegen, durch andere Opferverbände und durch die etablierte akademische Historikerzunft –, wurden sie jahrzehntelang in einen Opferdiskurs eingeschrieben, um ihnen historische Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Die Forschung und Erinnerung war zudem mit einer folgenschweren Erblast konfrontiert, denn der Hinweis auf homosexuelle Nationalsozialisten ist lange Zeit dazu benutzt worden, um Ausmaß und Intensität der Homosexuellenverfolgung zu verleugnen oder zu marginalisieren sowie die Erinnerung an die verfolgten homosexuellen Männer zu diskreditieren und zu verhindern. Erst als der Verfolgtengruppe der Homosexuellen durch Bekundungen seitens des Parlaments und der Regierung der Status einer gesellschaftlich anerkannten NS-Opfergruppe zugesprochen und ihnen ebenso wie den anderen Verfolgtengruppen ein nationales Mahnmal gewidmet wurde, sind damit neue erinnerungs- und geschichtspolitische Voraussetzungen für die weitere Aufarbeitung und Erforschung geschaffen und eine Perspektivverschiebung möglich geworden. Es ist nunmehr an der Zeit, die während der NS-Zeit von Repression und Verfolgung bedrohten Homosexuellen als Akteure zu begreifen, und vor dem Hintergrund der sich radikalisierenden NS-Verfolgung ihre Handlungsräume zu erkunden, ihre individuellen Gestaltungsräume und Handlungsoptionen wie auch ihre Strategien der Ermöglichung und Selbstbehauptung näher zu untersuchen.

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»Ich habe wohl Freude an Frauenkleidern […], bin aber deswegen nicht homosexuell.« Der Forschungsstand zum Transvestitismus in der Zeit des Nationalsozialismus 1 Rainer Herrn

Im Unterschied zu homosexuellen Frauen und Männern liegen zum Schicksal von Transvestitinnen und Transvestiten,2 aber auch zu Intersexuellen in der NS-Zeit bisher keine systematischen Untersuchungen vor. Mein Beitrag beschränkt sich auf die Lage von Transvestit_innen. Deren Untersuchung erweist sich als schwierig, weil die sie kennzeichnende Eigenschaft, das Tragen der Kleidung des anderen Geschlechts, in der NS-Zeit nicht per se straf bar war, wie auch das Leben in der Rolle des anderen Geschlechts juristisch nicht sanktioniert wurde. Solche Personen konnte man, wie bereits in der Weimarer Republik, nur dann juristisch belangen, wenn sie im andersgeschlechtlichen Habit auffielen, also in der Öffentlichkeit »Aufsehen erregten« und damit die vermeintliche öffentliche Ordnung »störten«. Strafrechtlich relevant waren dafür Paragraf 360 (»grober Unfug«) und Paragraf 183 (»Erregung öffentlichen Ärgernisses«) RStGB. Deshalb wurde bereits in der Kaiserzeit eine zwischen 1  |  Eine ausführliche Darstellung der diesem Beitrag zugrunde liegenden Archivquellen findet sich bei Herrn 2013: 330-371. 2 | Wenn hier die sexualwissenschaftliche Unterscheidung zwischen homo- und heterosexuellen Transvestiten und Transvestitinnen übernommen wird, sind damit keine Aussagen über das subjektive Zugehörigkeitsempfinden oder die sexuelle Identität getroffen. Bei diesen Bezeichnungen handelt es sich manchmal um Selbst-, meist um Fremdzuschreibungen. Personen, die einen »Transvestitenschein« beantragten, nannten ihr Verlangen nach der Kleidung des anderen Geschlechts – in der hirschfeldschen Tradition – als unwiderstehlichen, in die Kindheit zurückreichenden Drang. Wenn im Text die männliche und weibliche Form angesprochen wird, hat sich der Autor für die Schreibweise Transvestit_innen entschieden.

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Sexualwissenschaftlern und dem Berliner Polizeipräsidenten ausgehandelte Praxis etabliert, wonach Transvestitinnen und Transvestiten aufgrund eines ärztlichen Gutachtens eine polizeiliche Bescheinigung (der sogenannte Transvestitenschein) ausgestellt werden durfte, die sie bei Kontrollen vor Festnahmen schützen sollte.3 Dabei handelt es sich jedoch nicht um eine polizeiliche Erlaubnis zum Tragen der Kleidung des anderen Geschlechts, wie oft fälschlich angenommen wurde. Vielmehr war es lediglich eine amtlich beglaubigte Bestätigung, dass jene Person der Polizei als Männer- respektive Frauenkleider tragend bekannt sei, weshalb von Maßnahmen abgesehen werden sollte. Das polizeiliche Beglaubigungsschreiben wurde in der Weimarer Zeit recht häufig erteilt, denn es wird in zahlreichen Berichten von und über Transvestit_innen aus verschiedenen Städten belegt – neben Berlin und Potsdam auch für Hamburg, München, Köln und Essen. Statistische Angaben liegen allerdings nicht vor. In einer weiteren Regelung (1921) mit dem preußischen Justizminister, die ebenfalls ein medizinisches Gutachten voraussetzte, genehmigte man Vornamensänderungen, wobei sich der Minister das Entscheidungsrecht im Einzelfall vorbehielt. Diese in der Weimarer Zeit verbreitete Praxis bedeutete ein doppeltes Abhängigkeitsverhältnis der Transvestit_innen von ihrer Beglaubigung durch Mediziner und von staatlichen Ordnungsinstanzen wie Polizei und Justiz. Doch trotz dieser Liberalisierungstendenzen blieben Transvestit_innen suspekt, das belegen von lokalen Polizeidienststellen angelegte Statistiken, die man in der NS-Zeit weiterführte, und die für deren Überwachung respektive Verfolgung genutzt wurden. Sie betrafen vor allem Transvestiten und enthielten Angaben zum biologischen Geschlecht, der sexuellen Orientierung und dem Anlass der polizeilichen Erfassung, insbesondere zu straf baren Handlungen. Dies wurde aber erst öffentlich, als ein Hamburger Arzt, Hermann Ferdinand Voss, am gerichtsmedizinischen Institut der hansischen Universität 1938 seine Dissertation zum Transvestitismus publizierte (vgl. Voss 1938). Personen mit dem Wunsch nach operativer Geschlechtsumwandlung stellten in der damaligen Begrifflichkeit die höchste Steigerungsform der »extremen« oder »totalen« Transvestit_innen dar und bildeten noch keine eigenständige 3  |  In einer Broschüre des Hamburger Polizei-Oberinspektors Rudolf Förster (1932: 36) heißt es dazu: »Auf Antrag kann den Transvestiten […] ohne Bedenken eine Bescheinigung ausgestellt werden, die besagt, daß es der Behörde bekannt ist, daß die betreffende Person die Kleidung des anderen Geschlechts trägt. Die Erteilung dieser Bescheinigung wird durchweg von einem amtsärztlichen Gutachten abhängig gemacht, aus dem die transvestitische Veranlagung des Antragstellers hervorgeht. Transvestiten, die homosexuell veranlagt sind und sich nachweislich als Damenimitator, als Tänzer oder sonst wie artistisch betätigen, können auf Antrag solche Bescheinigungen ohne weiteres erhalten, wenn die Persönlichkeit der betreffenden Person Gewähr für nichtmißbräuchliche Benutzung bietet.«

Der Forschungsstand zum Transvestitismus in der Zeit des Nationalsozialismus

Kategorie. Erste von Ärzten ausgeführte genitalchirurgische Eingriffe sind ab 1912 belegt, bis Anfang der 1930er Jahre können etwa ein Dutzend publizierte operative Geschlechtsumwandlungen von Frau zu Mann wie auch von Mann zu Frau nachgewiesen werden (vgl. Herrn 2008: 47-70).

E rste A uswertungsergebnisse zum U mgang mit Tr ansvestit _ innen im N ationalsozialismus Obwohl bislang keine reichsweiten Erlasse, Gesetze oder interne Richtlinien bekannt sind, die den Umgang mit Transvestit_innen in der NS-Zeit neu geregelt oder modifiziert hätten,4 hat es nachweislich eine Verfolgung dieses Personenkreises gegeben. Anhand von Strafverfolgungsakten aus den Landesarchiven Berlin und Hamburg sowie von medizinischen und kriminalistischen Veröffentlichungen aus der NS-Zeit konnte eine Reihe entsprechender Fälle (insgesamt etwa 80; davon 75 Männer, von denen drei eine operative Geschlechtsumwandlung anstrebten, und fünf Frauen) exemplarisch untersucht werden (vgl. Herrn 2013). Dabei ging es zunächst darum, die Spannbreite medizinischer, polizeilicher und juristischer Umgangsweisen – die von stillschweigender Duldung bis zu KZ-Haft reichen – für homo- und heterosexuelle, männliche und weibliche Transvestiten – getrennt aufzuzeigen, um daraus Fragen für die weitere Forschung zu entwickeln. In medizinischen Veröffentlichungen der NS-Zeit und danach wird ein sogenannter »reiner«, sich auf heterosexuelle Männer beziehender Transvestitismus beschrieben, womit eine Grenzziehung zu einer »unreinen« Form erfolgte, der auf homosexuelle Männer und männliche Prostituierte abzielte (vgl. Bürger-Prinz/Weigel 1940; Bürger-Prinz/Heinrich/Giese 1953). Diese Unterscheidung nahmen Transvestiten und Sexualwissenschaftler5 bereits vor 1933 vor, die ausgewerteten Strafverfolgungsakten belegen einen dementsprechenden differenten Umgang.

4  |  Es liegen jedoch Hinweise vor, dass mit den Transvestitenscheinen auf lokaler Ebene verschieden umgegangen wurde, so »widerrief die Hamburger Polizei die bereits ausgestellten Genehmigungen zum Tragen von Frauenkleidung« (Rosenkranz/Bernhard/Lorenz 2009: 62) 1933 – eine Anweisung, die jedoch nicht einheitlich umgesetzt worden sei; zum Umgang mit Transvestiten zwischen 1933 und 1936 in Hamburg vgl. Micheler 2005: 285-286. 5  |  In seiner namensgebenden Monografie »Die Transvestiten. Eine Untersuchung über den erotischen Verkleidungstrieb« (1910) konzipierte Hirschfeld Transvestitismus als Neigung ausschließlich Heterosexueller. Erst ab 1918 differenzierte er ohne Angabe einer konkreten empirischen, sondern vielmehr einer erfahrungsgesättigten Basis, dass Homo- und Heterosexuelle jeweils etwa ein Drittel ausmachten und sich der Rest ent-

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Homosexuelle Transvestiten In sexualpathologischer Tradition des 19. Jahrhunderts (konträre Sexualempfindung)6 standen männliche und weibliche Transvestiten unter generellem Homosexualitätsverdacht. So waren Polizei und Justiz primär bestrebt, zunächst strafbare homosexuelle Handlungen nach 1933 nachzuweisen. Einschlägige Vorstrafen, aktenkundige Kontakte, belastendes Material (bspw. Kleidungsstücke, Transvestiten- oder Homosexuellenliteratur) und früher ausgestellte Transvestitenscheine dienten als Indizien. Einige männerbegehrende Transvestiten besuchten auch nach 1933 in Frauenkleidung private Zusammenkünfte oder öffentliche Treffpunkte bzw. semiöffentliche Veranstaltungen, z.B. Bälle Homosexueller. Wohl wissend um die Gefahr, aufgrund des Tragens von Frauenkleidern in der Öffentlichkeit auffällig und deshalb belangt zu werden, unterließen dies andere nach 1933 ganz. Denn sogar der Besitz eines Transvestitenscheins, der in Ausnahmefällen selbst in der NS-Zeit unter rigiden Bedingungen und strenger Kontrolle der Einhaltung für männliche und weibliche Transvestiten bewilligt wurde, schützte nun nicht mehr vor Anklagen und Verurteilungen wegen groben Unfugs, wie Strafverfolgungsakten belegen. Als Transvestiten bekannte Personen, die aufgrund von Denunziationen oder im Rahmen von Razzien bzw. Ermittlungen ins Visier der Polizei gerieten, leugneten daher bei Vernehmungen meist – wie das als Überschrift dieses Beitrags verwendete Zitat aus einer Strafakte belegen soll –, ihre sexuelle Neigung seit 1933 noch auszuleben. Dies war für jene, denen in Frauenkleidern vollzogene bzw. intendierte Sexualkontakte bzw. Prostitution mit Männern nachgewiesen werden konnte, nicht mehr möglich. Ihre Täterklassifikation versah man mit dem Zusatz »Transvestit«. Sie hatten mit mehrjährigen Haftstrafen nach den Strafbestimmungen für Homosexualität und Prostitution zu rechnen. Ihr Transvestitismus konnte als sichtbarer Beleg der Effemination strafverschärfend wirken. Bei mehreren rechtskräftig verurteilten homosexuellen Transvestiten empfahlen medizinische Gutachter und/oder Gerichte die »freiwillige Kastration«, auf die einzugehen darauf hoffen ließ, nicht nachträglich in Sicherheitsverwahrung genommen zu werden.

weder asexuell oder »automonosexuell« [d.h. sich ausschließlich selbst befriedigende Personen] verhalte, vgl. Hirschfeld 1918: 144. 6 | Vgl. zur sozial- und wissenschaftshistorischen Einführung des Transvestitismuskonzeptes Herrn 2005.

Der Forschungsstand zum Transvestitismus in der Zeit des Nationalsozialismus

Heterosexuelle Transvestiten Während die Vorliebe für Frauenkleider bei homosexuellen Transvestiten dazu diente, Männer zu attrahieren, also sozial adressiert war, scheint er für heterosexuelle – meist verheiratete Männer – eine andere Funktion gehabt zu haben. Sie verschafften sich auf diese Weise innere Ruhe oder Befriedigung, was auch in sozialer Abgeschiedenheit ausgelebt werden konnte. Bei heterosexuellen Transvestiten war in der NS-Zeit die Strategie verbreitet, ihre Kleidervorliebe unsichtbar zu machen; in der Öffentlichkeit seines Wohnorts trat kaum einer mehr auf. Die meisten berichten von heimlichen Umkleideszenen hinter verschlossenen Türen oder, bei Duldung der Ehefrauen, ausschließlich im häuslichen Umfeld. Und selbst wenn auswärtige Transvestiten Großstädte besuchten, beschränkten sie sich auf den Auftritt im geschützten Privatkreis, eine Teilnahme an den bis etwa 1940 stattfindenden Bällen, auf denen homosexuelle Transvestiten verkehrten, ist für sie nicht nachzuweisen. Des Weiteren gibt es zahlreiche Belege für eine Verlagerung der Kleidervorliebe bei heterosexuellen Transvestiten: Der Transvestitismus wurde aufgrund der bedrohlich empfundenen Situation nun unter der sichtbaren Oberfläche ausgelebt, nämlich in Form weiblicher Unterwäsche, von Korsagen oder Jupons. Er wanderte in den Bereich zwischen Haut und Oberbekleidung und wandelte sich von einer auch äußerlich sichtbaren Transgression, aus der vormals Bestätigung gezogen worden war, in ein Geheimnis, das nun im körperlichen Nahkontakt Befriedigung verschaffte. Bereits im Zuge ihrer Etablierung als soziale Minderheit vor 1933 gab es starke Friktionen zwischen homo- und heterosexuellen Transvestiten. Letztere legten größten Wert darauf, nicht als homosexuell zu gelten, und distanzierten sich von diesem Personenkreis. Transvestitenpublikationen und -organisationen der Weimarer Zeit repräsentierten vornehmlich die heterosexuelle Fraktion.7 Diese Abgrenzungsstrategie spiegelt sich in den medizinischen Beschreibungen der NS-Zeit, was die heterosexuellen Transvestiten sogar in gewisser Weise schützte. In den in Archiven aufgefundenen und medizinischen bzw. kriminologischen Veröffentlichungen dokumentierten Fällen konnten, trotz intensiver Ermittlungstätigkeit der Verfolger, ihnen keine homosexuellen Kontakte nachgewiesen werden. Und obwohl verschiedene Äußerungen von Kriminalbeamten und Ärzten belegen, dass auch der »reine«, also heterosexuelle Transvestitismus in der NS-Zeit als sittlich verwerflich galt, wurden jene, 7 | Bereits ab 1924 enthielt »Die Freundin« einen Sonderteil »Der Transvestit«. Ab 1930 erschien die erste ausschließlich an Transvestiten gerichtete Illustrierte »Das 3. Geschlecht« im Verlag von Friedrich Radszuweit. Als erste Transvestitenorganisation ist der Club D’Eon zu nennen, eine von Felix Abraham am von Magnus Hirschfeld gegründeten Institut für Sexualwissenschaft (1919-1933) in Berlin angesiedelte Vereinigung.

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da sie unauffällig blieben, nicht mit strafrechtlichen Sanktionen belegt, selbst wenn ihre Kleidervorliebe im Rahmen polizeilicher Ermittlungen bekannt wurde. Bisher konnte in keinem der knapp 70 diesbezüglichen Fälle8 ein Hinweis auf eine direkte Strafverfolgung wegen des Tragens von Frauenkleidern gefunden werden. Der sich abzeichnende differente Umgang mit homo- und heterosexuellen Transvestiten erklärt sich vielleicht aus der widersprüchlichen NS-Geschlechter- und Sexualpolitik, die einerseits streng homosexuellenfeindlich war, andererseits aber gegenüber heterosexuellen, auch nicht auf Reproduktion gerichteten Sexualpraktiken und -kontakten weit toleranter war, als bislang angenommen. Die »Legitimation des Terrors und die Aufforderung zur Lust gingen Hand in Hand« (Herzog 2005: 25).

Transvestitinnen Obgleich die meisten Transvestitinnen in den aufgefundenen Akten sexuell Frauen begehrten, scheinen sie – im Vergleich zu den homosexuellen Transvestiten – weniger darauf bedacht gewesen zu sein, in Männerkleidung Sexualpartnerinnen zu attrahieren. Im Unterschied zu den heterosexuellen Transvestiten pflegten sie ihre Neigung auch nicht in sozialer Isolation oder unsichtbar in Form männlicher Unterbekleidung. Transvestitinnen versuchten vielmehr in ihrer männlichen Aufmachung als Männer durchzugehen, sie sozial zu verkörpern, sei es in partnerschaftlichen Beziehungen mit ihren Freundinnen, sei es im Alltag. Für dieses Verhalten wird heute der Ausdruck »Passing« verwendet. Der anhand der ausgewerteten Strafprozesse skizzierte differenzierte Umgang mit Transvestiten entsprechend der sexuellen Orientierung lässt sich also bei Transvestitinnen nicht in gleicher Weise belegen. Ausschlaggebend dafür war die Nichtstraf barkeit sexueller Kontakte zwischen Frauen, auf die »die Nazis aufgrund des Ausschlusses von Frauen aus den Machtzentren des ›Dritten Reiches‹« glaubten, verzichten zu können (Schoppmann 1991: 251). Das Schicksal einzelner Berliner Transvestitinnen,9 die offenbar allein deshalb ins KZ kamen, weil sie trotz Einzugs ihres Transvestitenscheins in Männer8  |  Im Rahmen einer reichsweiten Ermittlungstätigkeit wegen der Verbreitung unzüchtigen Materials geriet 1937 ein seit der Weimarer Zeit etabliertes Netzwerk heterosexueller Transvestiten ins Visier der Berliner »Reichszentrale zur Bekämpfung unzüchtiger Bilder, Schriften und Inserate«; viele von ihnen wurden verhört, ihre Wohnungen durchsucht und inkriminierte Gegenstände (wie Kleidungsstücke und einschlägige Literatur) beschlagnahmt. Obwohl einige dieser Personen offen über das Ausleben ihrer Kleidervorliebe berichteten, hatte dies keine strafrechtlichen Konsequenzen (vgl. Herrn 2013: 342ff.). 9  |  Inwieweit dieser willkürliche Umgang nur für Berlin nachzuweisen ist oder doch der reichsweiten Praxis entspricht, wäre gesondert zu untersuchen.

Der Forschungsstand zum Transvestitismus in der Zeit des Nationalsozialismus

kleidung auftraten, dokumentiert zudem einen willkürlichen Umgang. Den anderen, die wiederholt durch Männerkleidung – ebenfalls ohne Transvestitenschein – auffielen und ihre gleichgeschlechtlichen Neigungen gegenüber der Polizei sogar offen gestanden, wurde lediglich die Auflage erteilt, nicht mehr in dieser Aufmachung aufzutreten, was aktenkundig vermerkt wurde und polizeiliche Kontrollen nach sich zog.

Geschlechtsumwandlungen Die wenigen (drei) aufgefundenen Fälle gewünschter oder realisierter operativer Geschlechtsumwandlungen, alle betreffen Mann zu Frau-Transvestiten, belegen zunächst Kontinuitäten dieser Praxis aus der Weimarer- in die NS-Zeit, auch wenn die Eingriffe nunmehr von staatlichen Instanzen bewilligt werden mussten und nur aus therapeutischer Sicht gewährt wurden. Dieser angesichts der rigiden NS-Geschlechterpolitik vielleicht überraschende Befund erklärt sich möglicherweise aus ihrem Verhältnis zur als ›natürlich‹ apostrophierten NS-Geschlechterordnung. Danach galten ›gewöhnliche‹ männliche Homosexuelle (in Männerkleidung) vor allem deshalb als ›gemeingefährliche Sittlichkeitsverbrecher‹, weil ihr gleichgeschlechtliches Begehren eine Bedrohung des rigiden Männerbildes darstellte. Männliche Transvestiten mit Wunsch nach operativer Geschlechtsumwandlung hingegen passten sich durch ihre – wie es heißt – ganz »weibliche Einstellung« unauffällig in die bestehenden Vorstellungen polarer Geschlechterbilder ein. Damit lassen sich auch die gelegentliche Verlängerung und Ausstellung neuer Transvestitenscheine erklären. Denn schließlich argumentierten auch einige Transvestiten und Transvestitinnen, die um solche Bewilligungen ersuchten, vor den Behörden erfolgreich, dass sie sich schon aufgrund ihrer Physiognomie in der Kleidung des anderen Geschlechts unauffälliger in die öffentliche Kleiderordnung einpassen würden als in die ihres biologischen Geschlechts. Ungeachtet der hier aufgezeigten, zum Teil an die liberale Weimarer Zeit erinnernden Praktiken hatte sich die Bewertung der Transvestitinnen und Transvestiten in der NS-Zeit gravierend geändert. Das belegt die erwähnte, 1938 im NS-Jargon geschriebene Dissertation über Transvestiten von Voss. Dort heißt es:

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Die hier aufgezeigten radikalen Optionen für den Umgang mit diesem Personenkreis scheinen nicht nur Empfehlungen eines übereifrigen jungen Mediziners gewesen zu sein. Zwar gibt es dafür, dass sich, wie er schreibt »rechtlich […] die Lage der Tr. in den Jahren nach der Machtergreifung durch den Nationalsozialismus bei uns geklärt« habe, kaum konkrete Belege. Dass dennoch auf lokaler Ebene – wie in Hamburg – auch ohne rechtliche Grundlage schon früh massive Verfolgungsmaßnahmen eingeleitet wurden, zeigt die Niederschrift einer Besprechung des dortigen Regierungspräsidenten mit der Inneren Verwaltung vom 13. November 1933. Darin heißt es: »Die Polizeibehörde wird aufgefordert, die Transvestiten besonders zu beachten und erforderlichenfalls in das Konzentrationslager zu überführen.«12

10  |  Das ist die von Voss gewählte Abkürzung in seiner Dissertation, die allerdings nur Transvestiten betrifft. 11  |  Am 14.12.1937 wurde ein »Grunderlaß« zur Verfolgung als asozial klassifizierter Menschen durch die Kriminalpolizei eingeführt (vgl. Wagner 1996: 254ff.), woran sich die Aktion »Arbeitsscheu Reich« durch die Gestapo im März 1938 und die Kripo im Juni 1938 anschloss (ebd.: 279ff.). Auf diese Verfolgungsstrategie dürfte sich Voss bei seinen Ausführungen bezogen haben. Eine Quellenedition dazu findet sich bei Ayaß 1998. Auch bei homosexuellen Frauen und Männern konnte eine Kriminalisierung über »asoziales« Verhalten erfolgen (vgl. Schoppmann 1991: 208-214; Rosenkranz/Bernhard/Lorenz 2009: 69-74). 12  |  StaHH, 113-2, Innere Verwaltung A II 11.

Der Forschungsstand zum Transvestitismus in der Zeit des Nationalsozialismus

Insgesamt bestätigen die Schicksale der ihm Rahmen dieses Beitrags recherchierten Personen den repressiven Charakter im Umgang mit Transvestitinnen und Transvestiten, worin der wesentliche Grund zu sehen ist, warum sie, wie Voss schreibt, »im Reiche weniger auffällig« geworden sind.

F orschungsausblick Die hier skizzierten Ergebnisse bedürfen weiterer Forschungen, einige Themenfelder sollen benannt werden: Die damals vorgenommene Unterscheidung der Transvestit_innen nach sexueller Orientierung und Geschlecht erweist sich als nützlich für die Darstellung des spezifischen Umgangs in der NS-Zeit. Sie deutet aber auch auf verschiedene, dem Transvestitismus unterliegende Motive und Sozialisierungsformen. Daher ist zu fragen, inwiefern die Verwendung des Plurals Transvestitismen dieser Diversität gerechter werden kann als der egalisierende Singular. Der differenzielle Umgang mit diesen Personengruppen ist in die NS-Sexual-, Geschlechter- und Reproduktionspolitik einzuordnen. Wie gezeigt wurde, lässt sich die Erforschung des Umgangs mit transvestitischen Frauen und Männern in der NS-Zeit schwer von jener des Umgangs mit Homosexuellen trennen. Auf einer analytischen Ebene wären die Gemeinsamkeiten und Differenzen im Sinne der Intersektionalität, also der Überkreuzung, Verschränkung und Verstärkung stigmatisierender Umgangsweisen durch die gleichzeitige Zugehörigkeit zu verschiedenen sozialen Minderheiten, herauszuarbeiten. Alle bisher verfügbaren Mitteilungen über die Lage der Transvestit_innen machen deutlich, dass die NS-Zeit auch für sie eine Zäsur darstellte. Somit ist zunächst auf einer allgemeinen Ebene nach Beschränkungen und Anpassungszwängen in ihrem Alltag in diesem Zeitabschnitt zu fragen. Da Transvestit_innen beiderlei Geschlechts in Einzelfällen allein wegen »Erregung öffentlichen Ärgernisses« oder »groben Unfugs« mit KZ-Haft respektive Gefängnis bestraft wurden, stellt sich die Frage nach der Häufigkeit solcher Prozesse sowie die nach der veränderten Strafzumessung im Vergleich zur Weimarer Zeit. Im Umgang mit Transvestit_innen spielten ärztliche Gutachten, insbesondere solche von forensischen Psychiatern, eine zentrale Rolle, so im Zuge der Begutachtung Angeklagter bzw. Straffälliger oder der Beantragung oder Verlängerung von Transvestitenscheinen. Auch bei der Genehmigung von Kastrationen und Ovarimplantationen im Kontext der Geschlechtsumwandlung musste die Genehmigung des Gesundheitsamts eingeholt werden. Daher empfiehlt sich eine grundlegende Untersuchung zur Rolle der Medizin im Umgang mit Transvestit_innen in der NS-Zeit, besonders hinsichtlich ihrer vorgenommenen Differenzierung in homo- und heterosexuelle.

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Aufgrund der schwierigen Quellenlage gibt es außerhalb von Gerichtsakten und Fachpublikationen kaum Informationen über die Lebenswirklichkeit von Transvestit_innen. Autobiografische Zeugnisse liegen derzeit nicht vor. Hier müssten biografische Forschungen einsetzen, welche die Breite individuellen Erlebens während dieses Zeitabschnittes in den Blick nehmen.

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Der Forschungsstand zum Transvestitismus in der Zeit des Nationalsozialismus

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Wo blieb die Bewegung lesbischer Trümmerfrauen? Kirsten Plötz

Als der Krieg 1945 endlich zu Ende war, bot sich – vor allem in Großstädten – das Bild einer Trümmerwüste. Die Mehrheit der Deutschen war unterwegs und suchte nach Wohnraum oder Angehörigen. »Nissenhütten«, bewohnte Ruinen und drängende Wohnungsnot waren alltäglich und galten als ein wesentliches soziales Problem. Damit neue Wohnungen gebaut werden konnten, mussten die zerstörten Häuser und Schuttberge abgetragen werden (vgl. Plato/ Leh 1997: 11, 43ff.; Hohn 1991). Aus dem Schutt holten Frauen Steine, ›klopften‹ sie und brachten sie zu Sammelplätzen. Für diese mühsame und körperlich harte Arbeit meldeten sich einige freiwillig, weil Schwerarbeiterinnen bessere Lebensmittelzuteilungen bekamen. Die Besatzungsbehörden zogen für die Aufräumarbeiten zunächst ehemalige Mitglieder von NS-Organisationen und deren Angehörige heran. Da das nicht ausreichte, führten die Behörden Pflichtarbeit für die Gesamtbevölkerung ein. Für das Überleben ihrer Familien sorgten in hohem Maße die Frauen. Als Trümmerfrau zu arbeiten oder eine andere Erwerbsarbeit auszuüben, reichte dafür häufig nicht aus. Wohnraum, Lebensmittel, Geschirr, Kleidung, Brennstoff, Medikamente und vieles mehr musste organisiert werden. Es mangelte an allem – bis hin zur Nähnadel. Oft war das Lebensnotwendige nur mit erheblichem Aufwand oder illegal zu beschaffen. Zu verhungern oder an Mangelkrankheiten zu sterben, drohte nicht nur im sehr kalten Winter 1946/47 (vgl. Heineman 2001: 161; Wildt 1994: 29f.). Die Trümmerfrau wurde zu einem zentralen Symbol der Nachkriegszeit. In ihr verbanden sich Not und Mangel sowie zerstörte Städte einerseits mit der Zähigkeit der Deutschen und dem Versprechen des Wiederauf baus auf der anderen Seite. Diese Trümmerfrau hatte keine Vergangenheit und war der Gegenpol zum Besatzer-›Liebchen‹ (Heineman 2001: 161). Sie bewegte sich ständig unter Frauen, doch sehnte sie sich nicht im Grunde nach einem Mann?

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Nicht in Bezug auf das Symbolische, sondern auf das Konkrete soll im folgenden Beitrag nach gesellschaftspolitischen Aktivitäten lesbisch lebender Frauen in der Nachkriegszeit gefragt werden. Dabei konzentriere ich mich auf die westlichen Besatzungszonen und die junge Bundesrepublik.

F ür F rieden und G leichberechtigung Auch politisch waren ›Trümmer‹ wegzuräumen. Nach der Katastrophe des nationalsozialistischen Männerstaats und Krieges, so hieß es oft, brauche die Politik dringend die Frauen. Es gelte, endlich eine friedliche Gesellschaft aufzubauen (vgl. Stoehr 2002). In etlichen Orten bildeten sich Frauenausschüsse, in denen Wohnungsnot und der Inhalt der Kochtöpfe genauso behandelt wurden wie die Frage, was der Jugend angeboten werden sollte, um sich vom Gedankengut des Nationalsozialismus abzuwenden. In diesen Ausschüssen fanden sich häufig Frauen, die ihre Erfahrungen mit der Politik noch aus der früheren Frauenbewegung bis 1933 hatten (vgl. Polm 1990: 86ff.; Icken 2002: 52; Zepp 2007: 119-123). Ausdrücklich sollte eine neue Gesellschaft aufgebaut werden, die, wie es für Hessen formuliert wurde, »auf Frieden, Demokratie und Gleichberechtigung abzielte« (Schüller 2005: 185). Bewusst waren die Frauenausschüsse zunächst unabhängig, überparteilich und konfessionell ungebunden. Im Westen verweigerten sie sich jahrelang einem zentralen Zusammenschluss, im Osten vereinigten sie sich im Demokratischen Frauenbund Deutschland und arbeiteten mit den sowjetischen Besatzungsbehörden zusammen. Spätestens 1947 gerieten die Frauenausschüsse zwischen die Fronten des Kalten Krieges (ebd.: 292-301). In der bundesdeutschen Parteipolitik standen Frauen eher am Rand. Trotz ihrer Bevölkerungsmehrheit war weniger als ein Viertel der Mitglieder einer politischen Partei weiblich, und deren Einfluss war eng begrenzt (vgl. Icken 2002). Politisch aktive Frauen waren überwiegend ›alleinstehend‹ (vgl. Heineman 1999: 141). Einige engagierte Frauen gingen in die Politik oder Verwaltung, z.B. Anna Mosolf und Grete Sehlmeyer. Als Hannover 1945 in Trümmern lag, setzten sich die beiden Lehrerinnen für einen demokratischen Auf bau ein. Zu dieser Zeit waren sie seit rund 30 Jahren ein Paar, und beide hatten ihren 50. Geburtstag hinter sich. Grete Sehlmeyer machte sich im Rat der Stadt Hannover und später im niedersächsischen Landtag in zahlreichen Ausschüssen vor allem für das Gesundheits- und Sozialwesen stark. Außerdem gründete sie die niedersächsische FDP mit. Beide Frauen waren, wie viele andere Frauen aus der alten Frauenbewegung, überzeugte Liberale (vgl. Hoffmann 1996; Zepp 2007: 121f.). Anna Mosolf engagierte sich in der Bezirksregierung und im Kultusministerium sowie in der UNESCO. Beide wurden für ihren Einsatz aus-

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gezeichnet (vgl. Hoffmann 1996). Das Paar bezeichnete sich, soweit bekannt, nie als ›lesbisch‹ und scheint sich selbst auch nicht so eingeordnet zu haben. Bekannt waren Anna Mosolf und Grete Sehlmeyer als Lebensgefährtinnen. Der Mann ihrer Nichte – die konsequent von »ihren Tanten« spricht und keinen Unterschied in der Bindung zu ihnen macht – beschrieb es im Interview mit mir so: »Liebe Freundin und Lebensgefährtin – das war gewissermaßen die Überschrift.« Er erinnert sich, sie nannten sich gegenseitig »mein Liebes«; belegt ist auch »liebes Herz« (Postkarte 1959). In der Todesanzeige für Grete Sehlmeyer betrauert Anna Mosolf ihre »liebe Freundin und Lebensgefährtin« (Hannoversche Allgemeine Zeitung vom 05.08.1967). Selbstverständlich steht sie dort an erster Stelle, vor anderen Angehörigen. Vielleicht bestand ein großer Teil – wenn nicht sogar die Mehrheit – der Frauenpaare in der Nachkriegszeit aus Frauen, die sich weder als ›lesbisch‹ noch als ›homosexuell‹ ansahen, sondern als ›normale‹ Frauen bzw. als ›alte Jungfern‹. Das ist bisher kaum erforscht.

Ü berschuss ? In der Nachkriegszeit war Deutschland ein »Land der Frauen« (Heinemann 2001). Ein erheblicher Teil der Männer war tot, vermisst oder gefangen. Bei der Volkszählung 1946 in den westlichen und östlichen Besatzungszonen, Berlin und dem Saarland bildeten Frauen eine Bevölkerungsmehrheit von mehr als 7,7 Millionen (vgl. Statistisches Jahrbuch 1952: 12). Bis in die 1960er Jahre hinein war ein erheblicher Teil der Frauen – im Westen rund ein Drittel – unverheiratet, also ledig, geschieden oder verwitwet (vgl. Plötz 2005: 3055). Dabei kann nicht davon ausgegangen werden, dass die geschlechtliche Identität im Sinne der dichotomen Zweigeschlechtlichkeit eindeutig war. Ungezählte Menschen könnten das Chaos der Nachkriegszeit genutzt haben, um eine neue geschlechtliche Identität anzunehmen. Immerhin hatte ein Teil der Bevölkerung durch Flucht oder Bombardierungen keine Identitätsnachweise mehr, sodass es verhältnismäßig leicht war, neue Papiere zu beantragen. Die Frauenmehrheit wurde als »Frauenüberschuß« angesehen: Millionen Frauen waren ›überschüssig‹, weil sie keinen Ehemann haben konnten. Dieser »Frauenüberschuß« galt als ein sehr ernstes Problem (Plötz 2005). Für Frauen liebende Frauen bedeutete der ›Überschuss‹, dass es unverdächtig war, wenn sie zusammen lebten, wohnten, tanzten oder ihr Leben in anderer Hinsicht teilten. Etliche Frauen bildeten mit ihren Kindern und ihren Lebensgefährtinnen eine Familie – und vielleicht noch mit einer Tante, dem Neffen oder den Eltern. Familien rückten häufig näher zusammen, denn die Wohnungsnot zwang zu sehr beengten Verhältnissen.

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Frauenfamilien – also Familien aus zwei Frauen und ihren Kindern – waren so verbreitet, dass sie in die Debatten um das Grundgesetz eingingen. Sollten auch sie zu den Familien gezählt werden, die unter dem Schutz des Grundgesetzes stehen sollten? In der verbreiteten Frauenzeitschrift ›Constanze‹ erschien der Vorschlag, Frauenfamilien in jeder Beziehung mit anderen Familien gleichzustellen und genauso deren Schutz im Grundgesetz festzuschreiben (vgl. Prollius 1948). Frieda Nadig von der SPD erinnerte an den »Überschuß von 7 Millionen« und betonte: »Wir müssen damit rechnen, daß wir in Zukunft eine Mutter-Familie bekommen« (Moeller 1997: 113). Die Gymnasiallehrerin Dr. Dorothea Klaje schließlich beantragte beim Parlamentarischen Rat, in dem das Grundgesetz ausgehandelt wurde, er möge Mutter-Familien rechtlich anerkennen: Familien aus Mutter und Kind. Vermutlich seien die Belastungen von Erwerbstätigkeit, Kindererziehung und häuslicher Arbeit besser zu bewältigen, wenn zwei Frauen im Haushalt zusammen lebten. Solche Arrangements seien derzeit Tatsache (ebd.: 126).

S chweigen Frauenpaare waren ein unauffälliger, durchaus angesehener Teil der Gesellschaft. Ungezählte Frauenpaare und -familien lebten weitgehend unbehelligt zusammen. Dabei interessierte die Öffentlichkeit kaum, wie intim Lebensgefährtinnen miteinander waren (vgl. Plötz 2008: 81-84). Generell war die Toleranz gegenüber unterschiedlichen Familienformen wie auch gegenüber Ehescheidungen, lediger Mutterschaft oder Abtreibungen in den ersten Nachkriegsjahren vergleichsweise hoch (vgl. v. Friedeburg 1953). Eine Voraussetzung für die Akzeptanz der Frauenliebe war allerdings, dass die Intimität der Beziehungen unausgesprochen blieb. So erinnert sich die 1918 geborene Ingrid Lenz, ihre Freundinnen »nahm ich auch mit nach Hause, zu meiner Mutter. Wenn meiner Mutter jemand erzählt hätte, dass ich lesbisch sei – erst mal hätte sie das Wort gar nicht aussprechen können, zweitens hätte sie es gar nicht geglaubt, da hätte sie gesagt: ›Ach, sei ruhig. Da will ich nichts von wissen.‹ Wenn ich ihr das erzählt hätte, dann hätte sie sich das angehört, und dann hätte sie gesagt: ›Ja, und Köhlers Mariechen hat jetzt geheiratet.‹ Dann hätte sie mir irgendwas aus dem Dorf erzählt. Aber bestimmt nicht darauf geantwortet. Bestimmt nicht. Sie hätte es nicht verstanden, und sie hätte es auch nicht verstehen wollen. Also, das konnte ich mir gleich schenken. Und meine Schwester […] Die hat es auch gewusst. Aber die hat es nie ausgesprochen. Und wenn ich es gesagt hätte: ›Na, Elsbeth, du weißt ja, dass ich lesb‹/das hätte sie so gemein gefunden von mir. Sie hat nie was verlangt von mir, aber sie hat erwartet, dass ich es nicht benenne.« (Plötz 2005: 202f.)

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Weder der Mutter noch der Schwester hat sie »es« also ausdrücklich gesagt. Noch in der Erinnerung spricht sie das Wort ›lesbisch‹ nicht ganz aus. Später im Interview meint sie: »Ja, das wurde nicht benannt, das war ja das Schlimme. Du hast auch nicht gesagt: ›Ich liebe Frauen.‹ […] Also, ich hätte niemals gewagt, mich zu fragen: ›Bin ich les­bisch?‹« (Ebd.: 203) Über die Trümmer erzählt sie: »Ich habe meine erste Wohnung selber ausgebaut. Aber mit Hilfe mei­ner lesbischen Freundin und ihrer Familie. Ihre Familie hat uns so unter­ stützt – obwohl sie das auch wussten und merkten –, dass ich in dem Haus, wo sie wohnten, in den Trümmern eine Wohnung ausbauen konnte und da dann gewohnt habe.« (Ebd.: 201) Die homosexuelle Subkultur kannte Ingrid Lenz nicht. 1933, als diese weitgehend zerschlagen wurde, war sie erst 14 Jahre alt gewesen. Wie etliche andere junge Frauen hatte sie ihre erste Liebe im ›Bund deutscher Mädel‹ erlebt, wo lesbische Verhältnisse vielfach hingenommen wurden, so lange sie nach außen unsichtbar blieben (vgl. Schoppmann 1991: 44-47). Auch später blieb ihr die Subkultur fremd.

F reundschaf tskultur Andere Frauen waren froh, als es 1945 wieder möglich wurde, Lokale für ›Freunde‹ und ›Freundinnen‹ zu besuchen. Bereits im Sommer 1945 entstanden einige neue Lokale, die sich jedoch selten länger hielten (Kokula 1990a: 105f). Neben der andauernden Bedrohung der Männer durch Paragraf 175 StGB dürfte dafür eine Rolle gespielt haben, dass junge Frauen wenig Verbindung zu solchen Lokalen hatten (ebd.: 116) und dass so manche der älteren Frauen, die die Subkultur noch aus der Weimarer Zeit kannten, sich auch nach dem Ende des NS bedeckt hielt. So blieben z.B. Claire Waldoff und Maximiliane Ackers mit ihren Lebensgefährtinnen in der bayerischen Provinz (vgl. Schoppmann 1998: 76; Budke/Schulze 1994: 23). Es scheiterte auch der Versuch, in der Bundesrepublik an die hohen Auflagen und die große Bedeutung der Zeitschriften für ›Freundinnen‹ der Weimarer Republik anzuknüpfen. Mehr als zwei Jahrgänge mit wenigen Ausgaben von »Wir Freundinnen« sind nicht überliefert. In homophilen Zeitschriften recherchierte ich stichprobenhaft und gewann den Eindruck, dass lesbische Liebe in Blättern wie z.B. »Die Runde«, »Die Freundschaft«, »freond«, »Amicus« oder »Die Insel« vor allem in Kleinanzeigen erschien, weniger in redaktionellen Beiträgen oder in der Werbung für Lokale. »der neue ring« hatte immerhin eine Beilage »Aphrodite«, in der Essays, Gedichte und Anzeigen versammelt waren. Dort wurden 1958 unter der Überschrift »Unsere Freundinnen begegnen einander« nur je zwei Lokale in Berlin und Hamburg aufgeführt (Aphrodite Nr.2/1958: 10). Insgesamt ist bisher nicht bekannt, dass lesbisch lebende

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Frauen in der Bewegung der Homophilen bedeutende Positionen einnahmen oder dort auch nur in größerer Anzahl teilhatten (vgl. Kokula 1990a: 110-115; Leidinger 2012: 11-14). Anders als Männer waren Frauen vom Paragrafen 175 StGB nicht bedroht. Dessen Ausweitung auf Frauen scheint kaum ernsthaft erwogen worden zu sein, nicht einmal im Prozess vor dem Bundesverfassungsgericht. Die Behandlung dieser Fragen machten die Herren übrigens weitgehend unter sich aus; als einzige Frau war die Leiterin des Landesjugendamtes und der Fürsorgeerziehungsbehörde für Westfalen und Lippe beteiligt. Deutlich wurden im Prozess wie auch im Urteil von 1957 betont, dass »angesichts des auch bei der Lesbierin vorhandenen Überwiegens zärtlicher Empfindungen über das rein Geschlechtliche zwischen einer lesbischen Beziehung und einer zärtlichen Frauenfreundschaft kaum eine Grenze zu ziehen ist« (Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts 1957: 429). Auch waren sich mehrere Sachverständige einig, dass die verhältnismäßig geringe soziale Gefahr lesbischer Beziehungen u.a. darin begründet sei, dass diese Frauen selten ihr Leben lang ausschließlich homosexuell seien. Damit seien sie für die Ehe und als Mütter nicht vollständig verloren, sondern, wie es ein Sachverständiger ausdrückte, »weiterhin in der Lage […], normalgeschlechtlich zu verkehren« (ebd.: 407). Auf ihre Zustimmung kam es dabei kaum an. Weitgehend unbekannt ist für West- wie Ostdeutschland die Bedeutung der ›Sittlichkeitsgesetze‹. In welchem Ausmaß mag z.B. die ›Erregung öffentlichen Ärgernisses‹ bei Frauen festgestellt worden sein, die sich aus Sicht von Polizei und Justiz unangemessen kleideten oder auf der Straße eine Frau küssten? Welche Handlungen wurden als Ordnungswidrigkeiten angesehen, welche als Straftaten? Der Forschungsbedarf ist groß.

E in Par adies der F r auenliebe ? Ein solches Paradies boten die Nachkriegsjahre keineswegs. Immerhin wurde die Ehe im Osten wie im Westen hoch privilegiert, wobei dies in Westdeutschland erheblich stärker und offener geschah. Für diese Privilegierung zahlten unverheiratete Frauen im konkreten wie im übertragenen Sinne. Als 1949 die Westzonen zur Bundesrepublik wurden, war der Platz der Frauen im Wiederauf bau klar definiert: als nicht erwerbstätige Ehefrauen und Mütter. Hier galt die Ehe und die darauf gründende Familie als Fundament der Gesellschaft. Als sehr bedeutend wurden denn auch Auseinandersetzungen um die Position der Frauen empfunden – nicht zuletzt durch den Kalten Krieg. Die DDR sah Antifaschismus als ihre gesellschaftliche Grundlage an und propagierte Erwerbstätigkeit von Frauen als Ausdruck von Freiheit (vgl. Moeller 1997; Heineman 1999).

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Im Westen blieb im Bereich der Erwerbsarbeit der männliche Ernährer die Leitfigur; nur er sollte Zugang zu qualifizierter und gut bezahlter Arbeit haben. Mit der Begründung, sie heirate ja doch, erhielten viele Frauen keine Ausbildung, wurden nur angelernt oder in ›Frauenberufe‹ vermittelt, deren Löhne bzw. Gehälter kaum das Existenzminimum erreichten. Für die heimkehrenden Soldaten hatten Frauen ›unweibliche‹ Arbeitsplätze zu räumen. Bis 1955 erhielten Frauen für die gleiche Arbeit geringere Entlohnung; danach folgten die ›Leichtlohngruppen‹. Ernährerinnen wurden allein aufgrund ihres Geschlechts offen benachteiligt. Dabei spielte es keine Rolle, dass so manche Frau nicht nur sich selbst, sondern auch Kinder und kriegsversehrte oder alte Angehörige versorgte. Die Altersrente schließlich spiegelte, auch nach der Reform 1957, die geschlechtsspezifische Ungleichheit auf dem Erwerbsarbeitsmarkt (vgl. Ruhl 1994; Neumann 1999). Nicht einmal das ›Trümmern‹ – immerhin eine Grundlage für das ›Wirtschaftswunder‹ – zahlte sich für die Renten aus; nicht zuletzt deshalb formierten sich in den 1980er Jahren die Grauen Panther (vgl. Unruh 1987). Es ist anzunehmen, dass das lesbische Leben erheblich erschwert – teilweise sogar unmöglich – wurde, wenn nur die geringen Löhne bzw. Gehälter von ›Zuverdienerinnen‹ erarbeitet werden konnten. Wie viele Frauen mögen aus Gründen der sozialen Sicherung einen Mann geheiratet haben, obwohl sie Frauen liebten und begehrten? Von solchen Frauen wissen wir bisher fast nichts. Sie geraten kaum in den Fokus, weil über das lesbische Leben im Wesentlichen entlang der Parameter schwulen Lebens geforscht wird: in der Subkultur, der Bewegung und den Biografien von Aktiven. Doch Männer waren bei der Erwerbsarbeit, im Bürgerlichen Gesetzbuch und in diversen anderen Bereichen hoch privilegiert, und Frauen zahlten dafür. So liegt es auf der Hand, dass die materiellen Lebensgrundlagen in der schwulen Historiografie verhältnismäßig bedeutungslos sind. Für die Gestaltung lesbischen Lebens jedoch war der Umgang mit der geschlechtsspezifischen Ungleichheit von hoher oder sogar existenzieller Bedeutung. In der Forschung spiegelt sich das bisher kaum wider. Auf dem Wohnungsmarkt blieb der neu geschaffene Wohnraum vor allem für Gattenfamilien reserviert, sodass die Wohnungsnot ›alleinstehende‹ Frauen in besonderem Maße traf, die überdurch­schnittlich häufig und lange in Untermietverhältnissen lebten (vgl. Euler 1962: 391). In der auflagenstarken Zeitschrift »HörZu!« beklagte eine unverheiratete, zur Untermiete lebende Leserin 1954: »Von unserem Werk werden viele Wohnungen gebaut. Aber natürlich nur für Verheiratete.« (Seegers 2001: 372) Generell erreichte das Wirtschaftswunder unverheiratete Frauen verhältnismäßig spät (vgl. Meyer/Schulze 1984). In der Bundesrepublik wurden Frauen so ungeniert benachteiligt, dass das Bundesverfassungsgericht mehrfach eingriff, weil die Bundesregierung allzu

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deutlich gegen den Gleichheitsgrundsatz verstieß. Als ›echte‹ und glückliche Frau galt nun ausschließlich die verheiratete Hausfrau und Mutter. Anerkannte Alternativen zur Ehe schwanden. Lehrerinnen und Krankenschwestern hatten Nachwuchssorgen; diese Berufe galten als altmodisch. Die ›alte Jungfer‹ wurde zunehmend ein negativer Begriff, die Liebe unter Lebensgefährtinnen weitgehend ignoriert. Das ›Fräulein‹ hatte fast nur noch bei jungen Frauen einen positiven Klang – bei ihnen konnte es bedeuten, dass sie ›noch zu haben‹ und damit potenzielle Gattinnen waren. ›Unvollständige Familien‹ und unverheiratete Frauen wurden immer mehr zum Symbol des düsteren Vergangenen. Sie waren nur noch für die Älteren geduldet, nicht aber für junge Frauen. In den Geburtsjahrgängen ab ca. 1930 endete der ›Frauenüberschuß‹. Junge Frauen konnten und sollten heiraten (vgl. Plötz 2005: 29-57, 149f., 170f.). Schließlich fasste die Zeitschrift »Stern« die Lage anerkennend so zusammen: »Die Leute in Deutschland heiraten, weil fast alle anderen Leute auch heiraten, weil sie sich etwas anderes gar nicht vorstellen können« (Alles über die Deutschen 1963: 24). Seit den späten 1940er Jahren war unverheirateten Frauen grundsätzlich ein erheblicher Mangel unterstellt worden. Es war neben dem ›Problem‹ des ›Frauenüberschusses‹ von einem Leben in Leid und Neugestaltung (vgl. Wirtz 1951) oder von tapferem Leben (vgl. Franke 1957) die Rede. Bei einer Umfrage 1949 meinten 62 Prozent der Männer und weniger als die Hälfte der Frauen, eine Frau müsse verheiratet sein, um wirklich glücklich zu sein (vgl. Friedeburg 1953: 42). Eher Männer als Frauen verbanden die Ehe mit Glück, nicht nur normativ, und nicht nur in dieser Umfrage. Angesichts des ›Frauenüberschusses‹ definierten sich Männer zu hoch begehrten Objekten, und mit ihren Privilegien konnten sie zufrieden sein (vgl. Plötz 2005: 260). Da die Positionen mit Definitionsmacht ganz überwiegend männlich besetzt waren, wurde diese Sicht der Dinge ausgesprochen erfolgreich. Gefragt wurde bei der Umfrage 1949 auch, ob sich das Problem des Frauenüberschusses lösen ließe. 68 Prozent verneinten dies, 9 Prozent forderten eine Gleichstellung der Frau im Beruf und 3 Prozent schließlich meinten, das Problem existiere nicht (ebd.: 83). Die »Sondergruppe« der unverheirateten Frauen beschrieb die Journalistin Regina Bohne als eine »eigenartige Insel […], die die überlebenden Opfer des zweiten Weltkrieges und seiner Folgen sind. Wir meinen vor allem die allein in der Gruppe der 31-46jährigen Frauen anzutreffenden rund 600 000 Kriegerwitwen. […] Unmittelbare Opfer des Krieges sind also die einen, die Witwen; mittelbare die anderen, – eine große Zahl lediger Frauen und gewiß auch manche geschiedene Frau. […] Sie sind es, die den Krieg mit ihrer Ehelosigkeit zu bezahlen haben; denn für sie wachsen keine Männer mehr nach!« (Bohne 1960: 11f., Herv. i.O.)

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In den öffentlichen Debatten waren Männermangel und Unglück der Frauen fest verbunden. Nur wenige Frauen meldeten sich zu Wort und erklärten, freiwillig nicht verheiratet und damit glücklich zu sein (vgl. Plötz 2005: 30, 177f.). Vom Glück der Frauenliebe war ausgesprochen selten die Rede (vgl. Plötz 1999). Eine Frau, 1935 geboren, erinnert sich: »Von Frauenpaaren wusste ich nichts. […] Das war halt in dem Plan, in einem Entwicklungsplan, wie ich ihn ja nun erlebte um mich herum, überhaupt nicht vorgesehen: Mädchen wächst auf, Mäd­chen heiratet, Mädchen kriegt Kinder, Mädchen ist Mutter, Mädchen ist Hausfrau, Mädchen wird alte Frau und stirbt.« (Plötz 2006: 131) So entdeckten etliche der heute lesbisch lebenden älteren Frauen die lesbische Liebe erst in den 1970er Jahren. Sie wurden, wie eine von ihnen es zuspitzt, »Lesbe[n] auf dem zweiten Bildungsweg« (ebd.). Auch im Entwicklungsplan der DDR war Frauenliebe nicht vorgesehen (vgl. Sillge 1991).

A useinanderse t zungen Kurz: Gründe, in Bewegung zu geraten und sich für Verbesserungen lesbischer Lebensbedingungen einzusetzen, gab es in den ersten Nachkriegsjahrzehnten durchaus. Sich für solche Verbesserungen stark zu machen, war in etlichen Bereichen mit einem Engagement dafür verbunden, dass Frauen unabhängig von Ehemännern gut leben konnten. Das war an sich kein exklusiv lesbisches Thema. Doch gleichgeschlechtlich liebende Frauen waren, anders als gleichgeschlechtlich liebende Männer, nicht nur benachteiligt, weil sie das gleiche Geschlecht liebten und begehrten. Sie waren auch als Frauen erheblich benachteiligt, und sie verstießen gegen die fast übermächtige Norm, treu ergeben dienend an der Seite ihres Ehemannes zu leben und dies für ihr Lebensziel zu halten. Bisher ist unbekannt, in welchem Maße Frauen liebende Frauen versuchten, die Bedingungen für ein von Gatten unabhängiges Leben zu verbessern. Wie viele von ihnen mögen dafür gesorgt haben, dass der Deutsche Gewerkschaftsbund das weibliche Recht auf Erwerbsarbeit sowie gleichen Lohn für gleiche Arbeit forderte? Wer hielt dagegen, wenn innerhalb der bundesdeutschen Gewerkschaften als natürliche Lebensgrundlage die Funktionen als Mutter und Hausfrau beschrieben wurden und weibliche Erwerbsarbeit lediglich als negative Kriegsfolge galt (vgl. Kopel 1993: 40)? Welche Frauen versuchten, die Verschärfung der Ehescheidungsgesetze durch das Schuldprinzip zu verhindern? Während der Bundesfamilienminister die Ehescheidung im Grunde abschaffen wollte und sich 1961 mit einer Verschärfung des Scheidungsrechts zufriedengeben musste (vgl. Joosten 1990: 69), war lesbisch lebenden Frauen vermutlich daran gelegen, dass Frauen ihre Ehen beenden und sich Frauen zuwenden konnten.

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Engagierten sich Frauen der Freundinnenkultur 1948 für den Grundgesetzartikel »Männer und Frauen sind gleichberechtigt«? Die neue Formulierung ging weit über die der Weimarer Republik hinaus, da die Gleichberechtigung jetzt auch im Erwerbsarbeitsleben und innerhalb von Ehen gelten sollte. Zwar war die Initiatorin Elisabeth Selbert verheiratet, doch Mitstreiterinnen wie Frieda Nadig und ungezählte andere nicht (vgl. Moeller 1997: 69-104; Notz 2003). Die Blockade des umfassenden Gleichberechtigungsgrundsatzes im Parlamentarischen Rat führte zu einem Proteststurm, während die Beratungen um das Grundgesetz außerhalb der Parteien generell auf wenig Interesse stießen. Körbeweise gingen Protestbriefe ein. Diverse Gruppierungen und Verbände sowie unzählige Einzelpersonen setzten sich für die umfassende Formulierung Elisabeth Selberts ein. Schließlich lenkten alle Fraktionen im Parlamentarischen Rat ein (vgl. Moeller 1997: 73-105; Kiefert 2011: 42). Für die Durchsetzung des Grundgesetzparagrafen war ein Netz aktiver Frauen unverzichtbar. Unter ihnen dürfte sich die eine oder andere finden lassen, die mit ihrer Lebensgefährtin zusammenlebte. Überall im Nachkriegsdeutschland gab es Auseinandersetzungen um die Position der Frauen. Eine entscheidende Frage war, wie unabhängig Frauen leben durften. Formal bot die DDR ihren Frauen eine weitgehende Unabhängigkeit von einem Ehemann oder dessen Ersatz, doch um das Konkrete wurde durchaus gestritten, und real waren viele Frauen nicht so unabhängig wie die Propaganda verkündete (vgl. Heineman 1999). Im Westen war das siegreiche weibliche Ideal abhängig: die nicht erwerbstätige Ehefrau und Mutter. War die Kriegerwitwe im Grunde noch als Ehefrau des verstorbenen Soldaten zu sehen und hatte ihm dementsprechend die Treue zu halten? Das wurde verbreitet gefordert (vgl. Heineman 1999: 168-171), und die Kriegerwitwen schafften keine ›Gegenöffentlichkeit‹, über die sie die Geschlechterverhältnisse grundlegend kritisierten (vgl. Schnädelbach 2007: 324). Musste ledige Mutterschaft geradewegs zu Verwahrlosung führen, sodass diese Mütter einen Vormund brauchten (vgl. Buske 2004)? War eine nie verheiratete Frau zum »Unmenschlichen« verurteilt? Das wurde 1951 auf der Tagung der Stuttgarter Gemeinschaft »Arzt und Seelsorger« ernsthaft erörtert. Eine Frau, so hieß es, werde »wirklich nur Frau in der Beziehung zum Mann« (Laessing 1977: 141). 1966 stellte der »Bericht der Bundesregierung über die Situation der Frauen in Beruf, Familie und Gesellschaft« fest, für »die Stellung der Frau sei in der Gesellschaft vor allem ihr Familienstand von Bedeutung. Das größte Ansehen genießt hiernach die Ehefrau. Von den alleinstehenden Frauen wird die verwitwete und die geschiedene Frau anders bewertet, in der Regel höher als die ledige, die niemals einen Ehepartner hatte.« (Bundestagsdrucksache V/909: 263) In diversen gesellschaftlichen Bereichen wurde gefragt, welcher Platz für diejenigen Frauen angemessen sei, die keinen Ehemann an ihrer Seite hatten. Meistens wurde dieser Platz unten in der Hierarchie ausgemacht, doch wo ge-

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nau? In welchem Maße lesbisch lebende Frauen in solchen Aushandlungsprozessen aktiv waren, wissen wir bisher nicht.

E rbinnen ? Als die Lesbenbewegung in den frühen 1970er Jahren entstand, scheint es kaum Verbindungen zu lesbisch lebenden Trümmerfrauen gegeben zu haben. Wie andere soziale Bewegungen auch hat die frühe Lesbenbewegung vermutlich überwiegend aus jungen Leuten bestanden, die das Engagement aus der Altersgruppe ihrer Eltern in der Regel übersahen oder gering schätzten. So ging manches verloren. Bspw. wurde in der Lesbenbewegung die Figur der ›alten Jungfer‹, anders als der Begriff der ›Lesbe‹, nicht angeeignet und positiv besetzt. Frauen, die stolz darauf beharrten, nie geheiratet zu haben, und sich aus diesem Grund bewusst als ›Fräuleins‹ bezeichneten: Hätten sie nicht interessante Ahninnen sein können? Etliche von ihnen teilten ihr Leben mit Gefährtinnen. Doch als ich vor einigen Jahren Interviews mit Frauen führte, die teilweise in der Lesbenbewegung aktiv gewesen waren, sprach keine der Frauen positiv über ›alte Jungfern‹. Ganz im Gegenteil – noch im Rückblick aus der Gegenwart war es für eine der Frauen eine bedrohliche Vorstellung, als alte Jungfer zu enden, denn sie fühlte sich früh zu Frauen hingezogen und wollte nicht heiraten. Eine andere sprach im Interview davon, dass manche alleine wohnenden Lesben »schrullig« und »altjüngferlich« werden – was sie negativ wertete. In die Reihe der Vorbilder lesbischen Lebens sind ›alte Jungfern‹ nicht aufgenommen (vgl. Plötz 2006: 27, 66f.). Wie sie im Nachkriegsdeutschland liebten, sich engagierten, arbeiteten oder wohnten, ist noch kaum erforscht. Allerdings bestand die Lesbenbewegung nicht durchgehend aus jungen Frauen. In West-Berlin entstand 1974 auf Initiative der 70-jährigen Käthe Kuse die Gruppe L74. Hier trafen sich ältere Lesben – älter als die Studentinnen des Lesbischen Aktionszentrums. L74 gab ab 1975 »Unsere kleine Zeitung« heraus, mit der sie an die Zeitschrift »Die Freundin« der Weimarer Republik anknüpfte (vgl. Bornemann/Trachsel 2007). Aus dem Kreis der L74 erzählten mehrere Frauen der 1944 geborenen Ilse Kokula ihre Lebensgeschichten. In diesem Meilenstein der lesbischen Geschichtsschreibung geht es der Autorin um die Subkultur der Weimarer Zeit, den Nazi-Terror und den Mief der 1950er (vgl. Kokula 1990b: 8). Die Zeit nach 1945 beschreibt Kokula aus lesbischer Sicht als »genauso trist wie die NS-Zeit« (ebd.: 9). Es sei seit 1933 eine Art Krieg gegen lesbische Frauen geführt worden, der »bis etwa 1970 dauerte und erst endete, als Frauen und Homosexuelle begannen, für ihre Rechte einzutreten« (ebd.: 14). Mit ihrer Einschätzung der Tristesse und des Beginns der Emanzipationsbewegungen stand Kokula keineswegs alleine. Sie scheint vielmehr weit ver-

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breitet gewesen zu sein. Für die Frauenbewegung in der BRD lässt sich eine vergleichbare Sicht feststellen (vgl. Zellmer 2011). Ganz ähnlich blickte die junge bundesdeutsche Schwulenbewegung auf emanzipatorische Aktivitäten zwischen 1945 und 1970 (vgl. Pretzel/Weiß 2010). Um 1970 sah sich diese Bewegung als junge, studentische Avantgarde, die die Gesellschaft umgestalten wollte. Frühere Kämpfe gegen Verfolgung und Diskriminierung aus den 1950er Jahren »nahmen wir nicht wahr oder wollten es nicht wahrhaben« (Marbach 2010: 35). Es passte auch nicht so recht ins Bild, dass sich in der neuen Bewegung der Homosexuellen neben Männern auch Frauen engagierten – nicht nur am Rand, sondern zentral (vgl. Leidinger 2012). Vermutlich gestalteten lesbisch lebende Frauen die gesellschaftlichen Verhältnisse in den Westzonen und der frühen Bundesrepublik wesentlich aktiver, als üblicherweise angenommen. Es wird Zeit, ihr Wirken umfassend und entlang neuer Pfade zu erforschen.

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Zwischen den Stühlen — die deutsche Homophilenbewegung der 1950er Jahre Raimund Wolfert

Die Forschung zur Geschichte der Homosexualität ist eine junge Disziplin, die sich in Deutschland aus naheliegenden Gründen bisher darauf konzentriert hat, den Auf bau der ersten Homosexuellenbewegung vor 1933 und die Lebenswirklichkeit homosexueller Männer und Frauen zur Zeit des Nationalsozialismus zu beschreiben.1 Die Beschäftigung mit der Homophilenbewegung der Nachkriegszeit ist darüber ins Hintertreffen geraten. Bis in die 1990er Jahre ist sogar verneint worden, es habe vor 1969 so etwas wie eine zweite deutsche Homosexuellenbewegung gegeben.2 Die Strategie der Homophilen – um deren bevorzugte Selbstbezeichnung zu verwenden – lief auf ein hohes Maß an Anpassung an die herrschenden Verhältnisse hinaus, und sie bewirkte, dass die nachfolgende Generation der ›Schwulen‹ in ihnen nicht ihresgleichen erkannte.3 Das Wirken der Homophilen fiel so einem doppelten Verschweigen anheim. Zwischen 1949 und 1969 ließ der westdeutsche Staat kaum etwas unversucht, um homosexuelle Emanzipationsbestrebungen zu vereiteln, und die

1  |  Siehe hierzu auch die Beiträge von Andreas Pretzel und Claudia Schoppmann im vorliegenden Band. 2 | Ein nachhaltiges Umdenken setzte mit einem Artikel Martin Danneckers ein, vgl. Dannecker, Martin (1997): »Der unstillbare Wunsch nach Anerkennung. Homosexuellenpolitik in den fünfziger und sechziger Jahren«, in: Detlef Grumbach (Hg.), Was heißt hier schwul? Politik und Identitäten im Wandel, Hamburg: MännerschwarmSkript Verlag, S. 27-44. 3  |  Da es im vorliegenden Artikel um die Homophilenbewegung der Nachkriegszeit geht und diese weitgehend männlich geprägt war, wird aus Platzgründen nicht näher auf die weibliche Perspektive eingegangen; zur Frage der Lesbenbewegung in der frühen Bundesrepublik siehe den Beitrag von Kirsten Plötz in diesem Band.

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Vertreter der dritten deutschen Homosexuellenbewegung nahmen die Bemühungen und Leistungen ihrer Vorgänger nicht zur Kenntnis.4 Was die Erfassung, Beschreibung und kritische Würdigung von Einzelpersonen und Gruppen angeht, die sich in den 1950er Jahren für die homosexuelle Emanzipation stark gemacht haben, steht die Geschichtsforschung nach wie vor am Anfang. Zu etlichen Aktivisten – z.B. Erwin Haarmann, Heinz Meininger, Konstantin Ortloff und Anna Stübbe, um nur einige zu nennen – ist wenig mehr als das Geburts- und Sterbedatum bekannt, wenn überhaupt. Auch zu zentralen Gruppierungen wie dem Frankfurter Verein für humanitäre Lebensgestaltung e.V. (VhL), der Hamburger Gesellschaft für Menschenrechte (GfM) oder dem Bremer Club Elysium liegen nur bruchstückhafte Angaben vor. Was andere Gruppen der Zeit betrifft, können zwar Aussagen über ihre personelle Zusammensetzung und ihre Zielvorstellungen gemacht werden, aber schon über die innere Verfasstheit der Vereinigungen, ihr Aktivitätsniveau und ihre finanzielle Ausstattung herrscht Unkenntnis. Das heutige Wissen über die deutsche Homophilenbewegung beruht auf lokalen Studien, die ab Ende der 1990er Jahre erschienen. Hervorzuheben sind Publikationen zur Reutlinger Kameradschaft die runde, zur Berliner Gesellschaft für Reform des Sexualrechts (GfRdS) sowie zur Internationalen Freundschaftsloge (IFLO) aus Bremen (vgl. Steinle 1998; Pretzel 2001; Wolfert 2011 und 2012). Über das Beziehungsgeflecht der Gruppen untereinander ist aber kaum etwas bekannt. Ein Grund hierfür ist, dass kein Vereinsnachlass vorliegt. Auch ist das Gros der homophilen Aktivisten bereits verstorben. Entgegen gängigen Vorstellungen gehörten bei Weitem nicht alle der Generation der um 1920 Geborenen an, sondern waren zum Teil wesentlich älter. Etliche von ihnen haben zudem noch zu Lebzeiten ihre Korrespondenz vernichtet oder verfügt, dass dies nach ihrem Tode geschehe. Die Suche nach verstreut erhaltenen Materialien ist infolgedessen aufwendig. Grundsätzlich ist etwa die Frage der Mitgliederzahlen ungelöst. Die GfM, die um 1954 als Dachverband aller Organisationen für Homophile in Deutschland fungierte, soll 3000 Mitglieder gezählt haben (vgl. Werres 1990: 43). Glaubwürdig ist diese Zahl nicht, das führen schon die folgenden Angaben vor Augen: Die IFLO zählte um 1951 etwa 80 Mitglieder (vgl. Rickel 1998), die GfRdS hatte in den 1950er Jahren ungefähr 50 (vgl. Pretzel 2001: 49), und die Kameradschaft die runde dürfte noch kleiner gewesen sein. Sie pflegte eine familiäre Atmosphäre, und bis 1956 hielt sie ihre Treffen in einer Privatwohnung ab. Zu hinterfragen ist aber überhaupt der Terminus ›Mitglied‹. Ein anonymer Verfasser behauptete 1971 über die IFLO: 4  |  Wenn hier und im Folgenden das generische Maskulinum verwendet wird, sind damit Männer und Frauen gemeint. In den meisten Fällen dürfte es sich aber um rein männliche Gruppierungen gehandelt haben.

Die deutsche Homophilenbewegung der 1950er Jahre »Mitglieder waren die wenigen Homophilen aus Bremen und Umgebung nicht etwa, weil sie einen Zusammenschluß für notwendig und lebenswichtig hielten, sondern allein, weil man in dem Clublokal ›Schleifmühle‹ tanzen konnte, ohne gegen Gebühr sich eine Tanzschleife erstehen zu müssen, und hoffte, etwas ›aufgabeln‹ zu können.« (T.U. 1971)

Es kann davon ausgegangen werden, dass etliche engagierte Homophile der Nachkriegszeit gleichzeitig in mehreren Organisationen registriert waren. Offenbar fühlten sich diese wenigen Aktivisten bisweilen allein auf weiter Flur. Zu denken gibt eine Äußerung Heinz Meiningers vom Frankfurter VhL, der Kurt Hiller 1952 mangelnde Unterstützung vorwarf und bei dieser Gelegenheit frustriert fragte: »Wo sind denn die Führer und die Köpfe, die berufen waren und sind, einer Gruppe ernsthafter Menschen […] doch wenigstens durch Rat und Tat und produktive Kritik zur Seite zu stehen?«5 Manch ein deutscher Homophiler dürfte dabei Erwartungen in das europäische Ausland gesetzt haben. So waren zumindest die Aktivisten der IFLO davon überzeugt, für die Homosexuellen in der Bundesrepublik Deutschland sei nur etwas zu erreichen, wenn aus dem Ausland Solidarität bekundet würde. Sie nahmen Kontakt mit dem Schweizer Kreis und dem Zentrum für Kultur und Entspannung (Cultuur- en Ontspannings Centrum, COC) in Amsterdam sowie entsprechenden Organisationen in Dänemark, Schweden und Norwegen auf. Über weite Teile der 1950er Jahre war insbesondere das International Committee for Sexual Equality (ICSE) Hoffnungsträger. Diese Organisation war aus einer Konferenz hervorgegangen, die im Mai 1951 in Amsterdam stattfand. Ab etwa 1953 war die IFLO wie auch der VhL mit je einem Mitglied im Vorstand des ICSE vertreten. Doch entwickelte sich die Zusammenarbeit nicht so erfolgreich wie geplant. 1958 klagte die IFLO, die Kooperation mit Amsterdam und Frankfurt habe viel Mehrarbeit und vor allem erhebliche Mehrkosten verursacht. Im Übrigen habe man insbesondere aus Amsterdam keinerlei Anerkennung und materielle Unterstützung für die geleistete Arbeit erfahren (vgl. Wolfert 2011: 45). Inwiefern die Äußerung zutreffend ist, lässt sich an dieser Stelle nicht beurteilen, da auch zur Geschichte des ICSE noch keine Studie vorliegt.

V or ausse t zungen und B egrenzungen der deutschen H omophilenbe wegung Die Rahmenbedingungen für das Wiedererstarken der deutschen Homosexuellenbewegung nach 1949 bildeten einerseits das Fortbestehen des von den 5  |  Heinz Meininger in einem Brief an Kurt Hiller vom 15.09.1952, Archiv der Kurt Hiller Gesellschaft e.V.

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Nationalsozialisten verschärften Paragrafen 175 StGB und andererseits die Artikel 2 und 3 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland. Während im Artikel 2 das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit verankert ist, sichert der Artikel 3 die Gleichberechtigung der Geschlechter zu. Der Paragraf 175 StGB richtete sich aber ausschließlich gegen homosexuelle Männer. In ihrer Argumentation gegen die Ungleichbehandlung bemühten die homophilen Aktivisten ferner die Resolution der Vereinten Nationen vom 11. Dezember 1946 und die Europäische Menschenrechtskonvention vom 4. November 1950 – ohne Erfolg. Eingereichten Beschwerden gegen den Paragrafen 175 StGB wurden beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte erst gar keine Verhandlungstermine eingeräumt (vgl. Pretzel 2010: 11). Nach der fortgeltenden Straf bestimmung gegen homosexuelle Männer wurden in den ersten 20 Jahren der Bundesrepublik etwa 50.000 Männer wegen sogenannter gleichgeschlechtlicher Vergehen verurteilt. 1952 setzte dabei ein Umschwung ein, jedoch nicht zum Besseren, denn ab dem Jahr stiegen die Verfolgungs- und Verurteilungszahlen homosexueller Männer sowie die Strafmaße. Eine weitere Rechtsgrundlage bot 1951 das Gesetz zum Schutz der Jugend in der Öffentlichkeit (JÖSchG), durch welches das Vorgehen gegen einschlägige Treffpunkte als ›jugendgefährdende Orte‹ legitimiert wurde. In der Folge kam es wiederholt zu Razzien und Observationen in der Homosexuellenszene. Männern, die hier verkehrten, drohte neben Freiheitsentzug und Berufsverbot, Vermögensverlust und sozialem Abstieg auch die Diffamierung als Sittlichkeitsverbrecher. Das Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften (GjS) von 1953 führte innerhalb weniger Jahre zu zahlreichen Indizierungen und der Einstellung fast aller Zeitschriften für Homophile. So gut wie alle Zeitschriftentitel, die ab 1950 in Hamburg erschienen, wurden mit Anzeigen und Strafverfahren attackiert, um sie am Erscheinen zu hindern (vgl. Lorenz/Bollmann 2013: 19-21). Zu nennen sind etwa die Zeitschriften »PAN«, »Die Freunde« und »Der Ring«. Verleger, Herausgeber und Redakteure waren ständiger Bedrohung in Form von Denunziation und Strafverfolgung ausgesetzt. Allein »Der Weg« konnte sich für knapp zwei Jahrzehnte auf dem Markt behaupten. Begleitet wurde die Homosexuellenverfolgung der Nachkriegszeit durch eine Propagandaoffensive des katholischen Volkswartbundes. Einer der eifrigsten Vertreter dieser Organisation war der Bonner Amtsgerichtsrat Richard Gatzweiler, der bereits 1951 in seiner Broschüre »Das dritte Geschlecht« forderte: »Alle Homosexuellen-Klubs, -Veranstaltungen und -Zeitschriften sind sofort zu verbieten. Jegliche Propaganda zur Aufhebung der gesetzlichen Bestimmungen ist zu untersagen.« (Gatzweiler 1951: 31) Vor diesem Hintergrund ist zu sehen, dass die in der Bundesrepublik Deutschland neu entstandenen Gruppen für Homophile an die Reformbestrebungen entsprechender Organisationen aus der Weimarer Republik anknüpf-

Die deutsche Homophilenbewegung der 1950er Jahre

ten. Sie zielten auf die Beseitigung des Paragrafen 175 StGB und die Befriedigung des Kontaktbedürfnisses ihrer Mitglieder ab. Der Homophilenbewegung ging es darum, NS-Unrecht zu überwinden und Freiräume in Form von Klubs und Vereinen zu schaffen, in denen sich Homosexuelle entfalten und aus denen heraus sie agieren konnten. Doch so hoffnungsvoll die Bewegung Anfang der 1950er Jahre gestartet war, mussten sich die Homophilen bereits Ende des Jahrzehnts das Scheitern ihrer Bemühungen eingestehen. Ihre Erwartungen an die junge Demokratie waren ebenso enttäuscht worden wie die Hoffnung, eine Änderung des Strafrechts zu erreichen. Insbesondere das skandalöse Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Fortbestand der 1935 verschärften gesetzlichen Bestimmungen war eine Niederlage: Die Karlsruher Richter konstatierten am 10. Mai 1957, der Paragraf 175 StGB sei kein nationalsozialistisch geprägtes Recht. Die Straf barkeit der männlichen Homosexualität verstoße weder gegen das Grundgesetz der BRD noch die Europäische Menschenrechtskonvention von 1950.6 Das alles musste die bundesdeutschen Homophilen in ihren Emanzipationsbestrebungen stark verunsichern und schließlich mit Resignation erfüllen. Um 1960 lösten sich – mit Ausnahme der Kameradschaft die runde – auch die letzten Gruppierungen der Bewegung auf.

B erlin , F r ankfurt, H amburg – die ersten G ruppen Einer der ältesten Aktivisten der deutschen Homophilenbewegung war der Berliner Journalist Erich Ritter (1880–?). Er bemühte sich schon 1948, ein ›humanitäres Komitee‹ ins Leben zu rufen (vgl. Pretzel 2001: 6f.). Im August 1949 gründete sich in Frankfurt a.M. der Verein für humanitäre Lebensgestaltung, zeitgleich versuchte der ehemalige Berliner Psychologe und Sprechbildner Willy Nillius (1892-1976) in Hamburg einen Deutschen Freundschaftsbund – offenbar in Anlehnung an den Deutschen Freundschaftsverband (DFV) der frühen 1920er Jahre – ins Leben zu rufen. Doch die Gründung wurde von der Polizei mit der Begründung vereitelt, der geplante Verein verstoße gegen geltendes Recht. Die Interessenten, die im September 1949 dem Aufruf zur Gründungsversammlung Folge leisteten, wurden mit einem Polizeiaufgebot konfrontiert. In Reaktion hierauf bildete der Hamburger Geschäftsmann Oskar Kertscher (1893-1956) zusammen mit dem Rechtsanwalt Paul Hugo Biederich 6 | Zur Begründung dieses Urteils durch das Bundesverfassungsgericht siehe Bruns, Manfred (2012): »Die strafrechtliche Verfolgung homosexueller Männer in der BRD nach 1945«, in: Senatsverwaltung für Arbeit, Integration und Frauen Berlin (Hg.), § 175 StGB. Rehabilitierung der nach 1945 verurteilten homosexuellen Männer (= Dokumente lesbisch-schwuler Emanzipation 28), Berlin, S. 29-31.

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(1907-1968) eine nicht eingetragene Arbeitsgemeinschaft zur Abschaffung des Paragrafen 175 StGB. Von der Gründung eines größeren Vereins nahm Kertscher Abstand, da in seinen Augen ein kleiner Arbeitskreis effektiver arbeiten könne als ein weit gefasster Freundschaftsbund.7 Im Oktober 1949 veröffentlichte der Psychiater Hans Giese (1920-1970) in der Schweizer Zeitschrift »Der Kreis« einen Aufruf zur Wiedererrichtung eines Wissenschaftlich-humanitären Komitees (WhK) im Frankfurter Raum. Nach dem Vorbild Magnus Hirschfelds hatte Giese zuvor ein Institut für Sexualforschung gegründet, das seine Autorität und seinen Führungsanspruch stärken sollte. Paul Hugo Biederich, der inzwischen aus Hamburg nach Frankfurt gezogen war, diente dem Institut als Rechtsbeistand. Die Berliner Aktivisten um Erich Ritter verbündeten sich darauf hin mit dem Frankfurter WhK und bildeten eine WhK-Gruppe Groß-Berlin, auch der VhL schloss sich dem WhK kooperativ an. Selbst von Hamburger Seite wurde die Zusammenarbeit mit Giese zunächst forciert. Allerdings kam es noch 1949 zum Bruch zwischen Oskar Kertscher und Hans Giese. Auslöser hierfür war die Entscheidung des WhK, die Behandlung des Paragrafen 175a StGB aufzuschieben. Kertscher fühlte sich und seine Gesinnungsgenossen hintergangen. Er hatte erwartet, dass Gieses WhK genauso wie die Vorgängerorganisation Magnus Hirschfelds »bei einer Eingabe an die Bundesregierung alle HS restlos vertreten« werde.8 Erich Ritter reichte Ende 1949 beim Berliner Magistrat einen Antrag ein, um die Gruppe ins Vereinsregister eintragen zu lassen, und Werner Becker (1927-1980) verkündete Anfang 1950 im »Kreis« die Gründung des Berliner WhK. Rückhalt erhielt er dabei von Kurt Hiller (1885-1972), der in einem öffentlichen »Brief an Humanitäre in Deutschland« für die Einheit der Bewegung plädierte. Die Hauptschwäche der Bewegung von 1897 bis 1933 sei ihre »UnEinheit« und »innere Verfehdetheit« gewesen (Hiller 1950: 30). Doch waren die Berliner Bestrebungen nicht von Erfolg gekrönt. Die Anerkennung als Verein scheiterte u.a. am Einspruch von Oberbürgermeister Ernst Reuter (1889-1953). Erst der zweite Versuch der Vereinsgründung – nunmehr unter dem Namen Gesellschaft für Reform des Sexualrechts e.V. und mit einer Satzung, in der das Wort ›Homosexualität‹ nicht genannt wurde – war erfolgreich. Die Bestäti-

7  |  Rundschreiben Nr. 1 vom 13.09.1949, gez. i.A. Kertscher, S. 1, Archiv der Kurt Hiller Gesellschaft e.V. 8 | Oskar Kertscher in einem Brief an den »Leiter des WhK« (d.i. Hans Giese) vom 12.12.1949, Archiv der Kurt Hiller Gesellschaft e.V. Das Kürzel ›HS‹ wurde in den 1950er Jahren von den sogenannten Homophilen häufig für Homosexuelle bzw. Homosexualität benutzt. Interessant und auffallend ist, dass ein (mögliches) Kürzel ›HP‹ für ›Homophile‹ in Abgrenzung von Heterosexuellen nicht gebräuchlich war.

Die deutsche Homophilenbewegung der 1950er Jahre

gung zum Eintrag in das Vereinsregister erfolgte am 9. Juni 1951.9 Zum ersten Vorsitzenden wurde der Kaufmann Hans Borgward (1885–?) gewählt, der das Amt bis zur Vereinsauflösung 1960 innehatte. Hans Giese wurde trotz Widerstands und zunehmender Anfeindungen zur einflussreichen Leitfigur der westdeutschen Sexualforschung (vgl. Pretzel 2001: 10f.). Er organisierte im April 1950 die erste »Sexualwissenschaftliche Arbeitstagung« in Frankfurt. Dabei spaltete sich das WhK vom Institut für Sexualforschung ab. Das Institut erhielt mit der Gründung der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung (DGfS) die angestrebte Anerkennung in Fachkreisen, diese gingen jedoch auf Distanz zur Homosexuellenbewegung. Das WhK, dessen Führung Paul Hugo Biederich übernahm, wurde in der Folge bedeutungslos, der VhL verselbstständigte sich wieder, und auch die Berliner Aktivisten schlugen erneut eigene Wege ein. Die Beziehungen zwischen Oskar Kertscher und Paul Hugo Biederich waren im Zuge von Biederichs Umzug nach Frankfurt eh bereits merklich abgekühlt.

D ie I nternationale F reundschaf tsloge 1950 und 1951 erschienen zwei weitere Gruppierungen für Homophile auf der Bildfläche. In Reutlingen gründete sich bereits Ende der 1940er Jahre ein privater Freundeskreis um den Färbermeister Harry Hermann (1919-1995) und den Bäcker Willy Stiefel (1924-1984). Der Anstoß, aus dem Freundeskreis eine Organisation zu bilden, erfolgte von Karl Meier (›Rolf‹, 1897-1974) aus der Schweiz. ›Rolf‹ verfügte über Namen und Adressen von Homosexuellen in Deutschland. Er intensivierte seine Bemühungen, im Nachbarland feste Gruppen nach Schweizer Vorbild zu initiieren. Offenbar blieb aber die Gründung der Reutlinger Gruppe ein Einzelfall. 1950 einigte sich der Freundeskreis auf den unverfänglichen Namen Kameradschaft die runde. Die Zusammenkünfte waren von einem zwanglosen familiären Charakter geprägt, und wegen steigender Teilnehmerzahlen verlegte man erst 1956 die Treffen in ein öffentliches Lokal nach Stuttgart. Etwas formeller ging es in Bremen zu. Hier wurde am 22. September 1951 die Internationale Freundschaftsloge (IFLO) gegründet, die ebenfalls auf einen privaten Freundeskreis zurückging, der sich stetig formalisierte. Im Folgenden soll es schwerpunktmäßig um die Geschicke eben dieser Organisation gehen. Auftrieb gab den Bremer Aktivisten die Gründung von einschlägigen Zeitschriften in Hamburg, darunter »Die Freunde« und »Die Insel« (später »Der Weg«). An der Gründungsversammlung nahmen nur geladene Gäste teil. 9  |  Landesarchiv Berlin (LAB) B Rep. 042 Acc. 2371, Nr. 28568, Amtsgericht Charlottenburg, Bl. 10. Für den Hinweis auf diese Quelle danke ich Andreas Pretzel, Berlin.

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Einige von ihnen hatten sich bereits vor 1933 in der Homosexuellenbewegung engagiert. So hatte Hans Hurrelmann (1910-1995) noch Veranstaltungen des Bundes für Menschenrecht (BfM) besucht, und zumindest zur Weihnachtsfeier der IFLO 1951 waren auch der einstige Bremer Vorsitzende des BfM und zwei weitere frühere Mitglieder der Vereinigung anwesend. Auch in anderer Hinsicht gab sich die IFLO geschichtsbewusst: Mit ihrem Namen spielte sie auf eine Freundschaftsloge an, die sich bereits in den 1860er Jahren gebildet haben soll. Sie bestand aus einem Kreis von Bremer »Urningen« (so eine zeitgenössische Bezeichnung für homosexuelle Männer) und wandte sich aus Anlass aktueller Ereignisse gegen die Diskriminierung gleichgeschlechtlich Empfindender. Dabei soll sie selbst mit dem Hannoveraner Amtsassessor Karl Heinrich Ulrichs (1825-1895), der heute als »der erste Schwule der Weltgeschichte« gilt, in Kontakt gestanden haben.10 Gegründet wurde die IFLO als Organisation in einer Organisation: Der Weltbund für Menschenrechte, dem sie sich angeschlossen hatte, sah seine zentrale Aufgabe in der Realisation von Informationsveranstaltungen zur Ächtung der Todesstrafe; die IFLO selbst wollte sich hingegen der Freizeitgestaltung und des Gedankenaustausches der Mitglieder des Weltbundes annehmen. Die Mitgliederzahl der IFLO soll innerhalb weniger Jahre allein in Bremen auf etwa 150 gestiegen sein (vgl. Steinbacher 1984: 30).11 Die wichtigsten politischen Ziele der Vereinigung waren nach eigenen Angaben die Beseitigung des Paragrafen 175 StGB und der Kampf gegen die »Diffamierung« Homosexueller. Daneben sollte ein eigenes Begegnungszentrum den Mitgliedern die Möglichkeit geben, sich frei zu bewegen, sprich: Es wurde dafür gesorgt, dass gleichgeschlechtliche Paare miteinander tanzen konnten. Des Weiteren wurden Vorträge organisiert, zu denen unter anderem Hans Giese, der Erlanger Theologe Hans-Joachim Schoeps (1909-1980) und der Hamburger Schriftsteller Rolf Italiaander (1913-1991) eingeladen waren. Als Treffpunkt der IFLO diente das Hotel Zur Schleifmühle unweit des Bremer Hauptbahnhofs. Im ersten Obergeschoss gab es hier ein Lesezimmer mit Handbibliothek und eine Bar. Zudem stand ein großer Raum für Tagungen und Feste zur Verfügung. Von diesem Klubzentrum aus erfolgte die Ausweitung der Gruppe auf das gesamte Bundesgebiet. Ab dem Frühjahr 1952 wurden Gründungen von Tochterlogen in Städten wie Hamburg, Stuttgart, 10 | Zu Karl Heinrich Ulrichs siehe Sigusch, Volkmar (2000): Karl Heinrich Ulrichs. Der erste Schwule der Weltgeschichte (= Bibliothek rosa Winkel 21), Berlin: Verlag rosa Winkel. 11 | Das Geschlechterverhältnis soll dabei zeitweise halbe-halbe gewesen sein, über die Frauen in der IFLO ist aber so gut wie nichts überliefert. Dienstags gab es einen sogenannten Damenabend, unbekannt ist jedoch, ob es sich dabei um einen politischen oder kulturellen Kreis handelte.

Die deutsche Homophilenbewegung der 1950er Jahre

Hannover, Berlin, Köln, Duisburg, Wiesbaden, Schweinfurt, Frankfurt, Kassel und Freiburg/Lörrach initiiert. Publizistisches Organ der IFLO war um diese Zeit »Der Weg«, ab Juli 1953 veröffentlichte die Gesellschaft für Menschenrechte und damit auch die IFLO allerdings mit »Humanitas« ihre eigene Mitgliederzeitschrift. Ein Eintrag ins Bremer Vereinsregister wurde nie erzielt. Das Amt des ersten Vorsitzenden der IFLO hatte der gelernte Maschinenschlosser Friedrich Rickel (1914-2008) inne, der in der Nachkriegszeit zunächst als Jugendpfleger, später als Vertreter, Lagerverwalter und Portier tätig war. Zweiter Vorsitzender war der Fischhändler Hans Hurrelmann, der unter Bezeichnungen wie ›Aalonkel‹, ›Fischjule‹ und ›Aletta‹ in ganz Bremen bekannt war. Schriftführer der Vereinigung war der kaufmännische Angestellte Karl Baller (1899-1964), und ihr Schatzmeister der Buchhalter Engelbert Dettmer (1906-1968). Ende der 1950er Jahre gehörte auch der Angestellte Herbert Schmidt (*1927) zum Kreis der Aktiven. Nach seinen Angaben bestand die IFLO um 1957 aus den vorweg Genannten, andere Aktive habe es nicht gegeben (vgl. Wolfert 2012). Folgt man Schmidts Darstellung im Einzelnen, drängt sich aber der Eindruck auf, dass er nicht wirklich in den engeren Kreis der IFLO-Aktivisten integriert war. Für ihre Mitglieder hielt die IFLO Vereinsausweise mit Lichtbildern bereit, die bei Entrichtung des Mitgliedsbeitrags abgestempelt und dadurch gültig wurden. Bis heute hat sich aber kein solcher Ausweis ermitteln lassen. Der Mitgliedsbeitrag betrug für Erwerbstätige 2,50 DM, für Arbeitslose 1,50 DM monatlich.12 Bei 150 Mitgliedern dürfte die IFLO mithin zwischen 225 DM und 375 DM im Monat eingenommen haben; zusätzlich soll der Klubbetrieb im Hotel Zur Schleifmühle Überschüsse erzielt haben. Doch ist nicht bekannt, welche Ausgaben von diesen Einnahmen bestritten wurden. Jegliche Vereinsarbeit erfolgte ehrenamtlich, sämtliche Vordrucke und das Briefpapier der IFLO wurden von Oskar Kertscher, Inhaber eines florierenden Vervielfältigungsbetriebes in Hamburg, unentgeltlich gestellt (vgl. Rickel 1998). Ihre Mitglieder und Interessenten bat die IFLO bei Anfragen zudem, Rückporto beizulegen. Aus einer erhaltenen Übersicht über Beiträge an das ICSE geht immerhin hervor, dass die IFLO 1952 und 1953 der Amsterdamer Vereinigung 192 bzw. 297 Gulden überwies – mehr als sechs Mal so viel wie der Frankfurter VhL.13 12  |  Zum Vergleich: 1953 kostete ein Roggenbrot (1 kg) 62 Pfennig, ein Liter Milch 39 Pfennig und ein halbes Pfund Butter etwa 1,50 DM. 13 | Übersicht über Beiträge von dem ICSE angeschlossenen Ländern (1952-1954), Deutsches Exilarchiv 1933-1945 (DEA), Nachlass Hans Weil, HW 9.16 Texte »Sexuelle Gleichstellung«. Die Beträge von 192 bzw. 297 niederländischen Gulden entsprachen damals rund 212 bzw. 328 DM. Zum Vergleich kann der wöchentliche Bruttoarbeitsver-

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I ntermezzo : H amburg als ›H aup tstadt‹ der B e wegung Die Bremer GfM – die Mutterorganisation der IFLO – löste sich am 27. November 1953 auf, wurde aber bereits zwei Tage später in Hamburg neu gegründet. Ihr erster Vorsitzender wurde der Theologe Erwin Haarmann (1915–?). Nach anderen Quellen war der Vorsitzende der Hamburger GfM jedoch der Rechtsanwalt Franz Reinhard (1915-1985), der neben Haarmann nach wie vor einer der großen Unbekannten der deutschen Homophilenbewegung ist. 1951 verteidigte Reinhard die beiden Angeklagten im Hamburger Landgerichtsprozess, der zu dem berühmten ›Drei-Mark-Urteil‹ führte,14 auch in den Folgejahren vertrat er zahlreiche homosexuelle Männer vor Gericht, unter ihnen Erwin Haarmann und Kurt Hiller. Reinhard war nicht nur juristischer Berater der IFLO und der Homophilenzeitschrift »Die Freunde«, sondern nach 1969 auch Rechtsbeistand der Internationalen Homophilen Welt-Organisation (IHWO). Er wirkte 1962 maßgeblich an der Isermeyer-Petition zur Abschaffung des Paragrafen 175 StGB mit, und 1966 wurde er erster Vorsitzender des von Kurt Hiller gegründeten WhK. Er hielt Vorträge in homosexuellen Emanzipationsgruppen und veröffentlichte in Zeitschriften wie »Humanitas« und »Der Ring«. Noch nach 1980 erschien sein Name mit Anschrift als Kontaktadresse auf einem Flugblatt des Hamburger Lesben- und Schwulengruppenverbundes (HLSV). Gleichwohl wird erst in der neueren Forschungsliteratur angesprochen, Reinhard sei möglicherweise nicht heterosexuell gewesen (vgl. Wolfert 2012: 45; Lorenz/Bollmann 2013: 25, 29). Laut Johannes Werres gelang es Erwin Haarmann mit der GfM kurzfristig, sämtliche Gruppen und Vereine für Homophile in der damaligen Bundesrepublik hinter sich zu bringen. Alle hätten ihren Namen aufgeben und eine Einheitsbezeichnung annehmen müssen. Aus der IFLO sei der Bremer Kreis, aus dem VhL der Frankfurter Kreis und aus der GfRdS der Berliner Kreis geworden. Daneben habe Haarmann den Hamburger Kreis neu gegründet und sei ins Ruhrgebiet gefahren, um den Ruhrkreis ins Leben zu rufen. Ein Kölner Kreis sollte folgen (vgl. Werres 1990: 43). Doch ist diese Darstellung zu hinterfragen: Nicht nur dürfte die Zahl von 3000 GfM-Mitgliedern viel zu hoch sein, auch kann sich die IFLO allenfalls vorübergehend der Hamburger Dachorganisation angeschlossen haben. Sie hat offenbar neben dem Bremer Kreis existiert und diesen eindeutig überdauert. Schließlich traten noch Ende 1953 dienst eines Facharbeiters in der Industrie herangezogen werden, er betrug 1953 knapp 94 DM. 14  |  Im Hamburger ›Drei-Mark-Urteil‹ vom 22. Juni 1951 wurde ein angeklagtes Freundespaar in der Berufungsverhandlung zur niedrigsten Strafe verurteilt, die vom Gesetz vorgesehen war: zu einem Tag Gefängnis bzw. umgerechnet einem Tagessatz von 3 DM. Die Vorinstanz hatte die beiden Männer noch zu je acht Monaten Gefängnis verurteilt.

Die deutsche Homophilenbewegung der 1950er Jahre

Vertreter der IFLO und des VhL zu einer Arbeitssitzung zusammen. Dabei wurde bestimmt, die IFLO solle in den VhL aufgehen, als Sektion innerhalb des größeren Vereins aber weiter bestehen bleiben. Man teilte sich das Bundesgebiet untereinander auf: Während die IFLO für den nord- und mitteldeutschen Raum zuständig war, sollte sich der VhL vorrangig um den west- und süddeutschen Raum kümmern. Nennenswerte Aktivitäten scheint die IFLOSektionsleitung Nord aber nicht entwickelt zu haben, denn schon im Juni 1954 warb sie im »Weg« um neue Mitarbeiter. Bei der Gelegenheit wies Hans Hurrelmann darauf hin, Erwin Haarmann sei aus der IFLO ausgeschieden (vgl. Wolfert 2011: 41). Eine Darstellung zur GfM ist nach wie vor ein Desiderat. Dies ist umso bedauerlicher, als die Organisation seinerzeit für etliche Vereinigungen in Deutschland Vorbildcharakter gehabt haben dürfte. Die forcierte Verfolgung und Verurteilung Homosexueller ab Anfang der 1950er Jahre führte zu einem gesteigerten Bedarf an Rechtsbeistand, und noch 1953 etablierte die GfM eine eigene Rechtsschutzabteilung. Im Herbst 1954 veranstaltete sie mit den Vertretern ihrer Regionalkreise und unter der Präsidentschaft des ehemaligen Staatsanwalts Dr. Botho Laserstein (1901-1955) die »erste Delegiertentagung aller homophilen Organisationen der Bundesrepublik und Westberlins« in Hannover. Um diese Zeit interessierte sich sogar das Hamburger Landesamt für Verfassungsschutz für die Organisation. Es befand zwar, bei der GfM handele es sich nicht um eine kommunistische Tarnorganisation, die der Gruppierung angegliederte Arbeitsgemeinschaft zur Pflege der Humanität sei aber als Interessenvertretung ›homosexueller Elemente‹ in der Hansestadt eindeutig bekannt (vgl. Hoven 1990: 79). Um Argumentationshilfe gegen den Paragrafen 175 StGB zu erhalten, gründete die GfM 1954 das Institut für Soziologische Forschung. Dieses Institut knüpfte mit einer Fragebogenaktion an die Vorgehensweise von Magnus Hirschfeld und dessen WhK an. Die im Rahmen dieser Aktion geführten und veröffentlichten Interviews vermitteln ein positives Bild von Homosexuellen, »die Ja zu ihrer Veranlagung gesagt haben und mitten im Alltag stehen, lebenstüchtig sind und in geordneten Verhältnissen stehen« (Steinle 1998: 20). Sie gingen später in die Studien des Arztes Willhart S. Schlegel (1912-2001) ein und wurden Mitte der 1960er Jahre erneut publiziert, als Erwin Haarmann zum Reutlinger Freundespaar Harry Hermann und Willy Stiefel zog, um von dort aus einen neuen Versuch zu unternehmen, eine nationale Vereinigung für Homophile zu bilden. Die GfM löste sich am 31. Dezember 1955 auf, doch schon im Jahr zuvor war sie in eine tiefe Krise geraten. Dies war nicht zuletzt die Folge einer Haftstrafe Erwin Haarmanns aufgrund sogenannter Sittlichkeitsverbrechen nach Paragraf 175 StGB, die er zwischen Mai und Juli 1954 verbüßte. Später kam ein Verfahren wegen Konkursvergehen hinzu, infolgedessen Haarmann 1956 und

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1958 in Untersuchungshaft saß. Nach dem Zusammenbruch der GfM machten sich alle Lokalgruppen wieder selbstständig, die Kreise lösten sich auf. Erwin Haarmann, der im Zuge seiner Haftstrafe als diskreditiert galt, verschwand für ein Jahrzehnt von der Bildfläche. Vermutlich zog er vorübergehend in die Niederlande. Erst 1964 versuchte er, von Reutlingen aus erneut eine übergeordnete Vereinigung zu gründen, die sich für eine Liberalisierung des Strafgesetzes einsetzte. Dabei wurde er von dem Hamburger Rechtsanwalt Albrecht Dieckhoff (1896-1965) unterstützt. Am 25. April 1964 fand in der Stuttgarter Liederhalle unter Leitung Haarmanns die offizielle Gründungsversammlung des Instituts für freie Persönlichkeitsgestaltung statt. Dieses Institut wandte sich laut Satzung u.a. gegen »Vorurteile und Diffamierung« sowie »die Bevormundung erwachsener und reifer Menschen«, die Zielgruppe der Homosexuellen wurde jedoch mit keinem Wort erwähnt (vgl. Steinle 1998: 22). Der Bruch zwischen Haarmann und dem Freundespaar Hermann und Stiefel erfolgte zwei Jahre später, worauf Haarmann Reutlingen und die Kameradschaft die runde verließ. Bis heute ist unbekannt, was aus ihm wurde. Nach dem vielversprechenden Auftakt in der Stuttgarter Liederhalle war allerdings auch von seinem Institut für freie Persönlichkeitsgestaltung nichts mehr zu hören.

N iedergang der B e wegung Ähnlich wie die GfM erlebte die IFLO Mitte der 1950er Jahre eine Krise, an der sie zu zerbrechen drohte. Die ›Politischen‹ zogen sich in eine gewisse Isolation zurück, während ›die Anderen‹ das Feld übernahmen und aus der IFLO einen Geselligkeits- und Festverein machten. Der ›politische Kreis‹ trennte sich gar vom Betrieb im Hotel Zur Schleifmühle – und verzichtete damit auf den finanziellen Zuschuss, der durch den Klubbetrieb erzielt wurde. Als sich Mitglieder der IFLO 1956 an den im Jahr zuvor nach Deutschland zurückgekehrten Kurt Hiller wandten, um Unterstützung bei der Suche nach einem geeigneten Verlag für ein von Rudolf Klimmer (1905-1977) verfasstes Buchmanuskript über »das Problem der Homosexualität in medizinischer, juristischer und soziologischer Hinsicht« zu finden, stellte Hiller klar, er habe für »Amüsiervereine unter dem Vorwand der Kulturpolitik« nichts übrig. Von den in der Bundesrepublik entstandenen Organisationen für Homosexuelle forderte er einen Fakten- und Zahlenbericht über die einschlägigen Vorgänge in den deutschen Konzentrationslagern und polterte: »die Bewegung nach 1945 hat ein volles Jahrzehnt verstreichen lassen, ohne in dieser unsagbar wichtigen Hinsicht auch nur das allergeringste zu tun. Dafür gründete sie Tanzklubs und ließ sich mit einem halbseidenen, halbnazistischen Stümper wie diesem Giese ein, sowie mit platten Amüsiersnobs in Holland und Dänemark. […] (Nichtmal

Die deutsche Homophilenbewegung der 1950er Jahre einen anständigen Verlag hat sie auf die Beine stellen können in zehn Jahren, wo zB ein so gediegenes Werk wie das von Dr. Klimmer würde erscheinen können.)«15

Hiller betrachtete die IFLO zwar als »ernsthafte Angelegenheit«, seine Zusammenarbeit mit ihr beschränkte sich aber auf Ratschläge. Als Karl Baller Hiller im Vorfeld des zu erwartenden Urteils des Bundesverfassungsgerichts über die Rechtsgültigkeit der Paragrafen 175 und 175a StGB einige Briefe des Justizministeriums und ein Schreiben eines Bundestagsabgeordneten zusandte, da er hoffte, Hiller möge den richtigen Weg finden, »um nach Möglichkeit noch Einfluss auf den Gang der Dinge zu nehmen«, blockte Hiller ab. Für ihn kam der Versuch, einzugreifen, nicht in Betracht, er erachtete ihn als »100 % aussichtslos, vielleicht sogar schädlich«.16 Allem Anschein nach standen sich die Homophilen der 1950er Jahre selbst im Weg. Sie wollten oder konnten sich nicht identifizieren lassen. So wie der Kunsthistoriker Christian Adolf Isermeyer (1908-2001) später darauf achtete, dass kein Homosexueller seine Petition gegen den Paragrafen 175 StGB unterzeichnete, dürfte Hiller um 1957 deren aktives Eintreten in eigener Sache als nachteilig erachtet haben. Schon Magnus Hirschfeld hatte sich nie explizit zur Homosexualität bekannt – das wäre seiner Rolle und seinem Selbstverständnis als unabhängigem Wissenschaftler zuwidergelaufen. Der IFLO widerstrebte es jedoch, die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts passiv abzuwarten. Herbert Schmidt und Karl Baller schickten Ende 1956 Briefe an sämtliche Mitglieder der Großen Strafrechtskommission sowie des Bundestages. Erhalten ist das Schreiben an den damaligen Bundesminister der Justiz, Hans-Joachim von Merkatz (1905-1982) vom 1. Dezember 1956. Dieser Brief ist ein Beispiel für die zurückhaltende Art, welche die IFLO in ihrer politischen Arbeit an den Tag legte. Er verstand sich als ein bloßes Informationsangebot und war von jeglicher Forderung oder Bitte frei. In der Annahme, dass von Merkatz zu den bevorstehenden »Beratungen der Großen Strafrechtskommission über das Problem der Bestrafung homosexueller Handlungen (§§ 175ff. StGB)« bereits reichhaltiges Gutachtenmaterial aus der Bundesrepublik vorliege, erlaubte sich die IFLO lediglich, ihm »auch einige Gutachten von außerhalb (aus der Ostzone, Österreich und USA) zu überreichen, in welchem das Problem von medizinischen und juristisch-soziologischen Experten behandelt worden ist.«17 Diese Experten waren Rudolf Klimmer, Alfred Kinsey sowie die beiden Österreicher Erich Körner (1922-1985) und 15  |  Kurt Hiller in einem Brief an Friedrich Rickel vom 08.10.1956, Archiv der Kurt Hiller Gesellschaft e.V. 16  |  Kurt Hiller in einem Brief an Karl Baller vom 02.10.1956, ebd. 17  |  Brief der IFLO an Bundesminister Dr. von Merkatz vom 01.12.1956 (unterzeichnet von Dr. Karl Baller), Bundesarchiv Koblenz (BArch) B 141/82158, S. 6.

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Wolfgang Benndorf (1901-1959). Zumindest mit Klimmer und Körner standen die Bremer in direktem Kontakt. Weil die IFLO in ihrem Brief an von Merkatz aber nicht einmal ihr Akronym auflöste oder Aussagen über ihre Zielsetzung machte, sah sich der zuständige Referent im Bundesjustizministerium veranlasst, beim Bremer Polizeipräsidium Auskünfte über die Organisation einzuholen. Laut Ausführungen der Polizeibehörde hatte sich die IFLO nach Zwistigkeiten im Vorstand 1955 vorübergehend aufgelöst, stand im Herbst 1956 aber im Begriff, sich neu zu gründen. Vor der Auflösung habe sie ein reges Klubleben in einer Gaststätte geführt, danach habe sie sich in private Räume zurückgezogen. Hans Hurrelmann, vor der Auflösung zweiter Vorsitzender der Vereinigung, sei nunmehr ihr erster Vorsitzender geworden. Im Übrigen seien die Mitglieder der IFLO »amtsbekannte und vorbestrafte Homosexuelle«.18 In der Folge hielt es der Referent des Bundesjustizministers nicht für angebracht, dass der IFLO ein von Merkatz unterzeichnetes Antwortschreiben zugehe. Er empfahl, den Vorgang »ohne jede Äußerung« zu den Akten zu nehmen. Es sei allenfalls zu vertreten, der IFLO im Namen des Ministeriums eine kurze Bestätigung über den Eingang der Gutachten zukommen zu lassen. Dabei gab er jedoch zu bedenken, »daß auch solchen halbamtlichen Schreiben eine gewisse Anerkennung der Vereinigung als mit den Bundesbehörden verhandlungsfähig hergeleitet wird«.19 Dieser Einschätzung schloss sich von Merkatz an, sodass die IFLO nie eine Antwort auf ihr Schreiben erhielt. Sie war und blieb isoliert. Angesichts der übermächtigen Wirksamkeit des Paragrafen 175 StGB und zunichtegemachter Hoffnungen, die Gesetzesbestimmungen zu Fall zu bringen, stagnierte auch die Arbeit der ›Politischen‹ innerhalb der IFLO spätestens ab Mai 1957. Noch einige Monate zuvor hatten die Bremer Aktivisten von Kurt Hiller eine Liste mit den Namen all derer erhalten, die vor 1933 die Petition Magnus Hirschfelds zur Abschaffung des Paragrafen 175 RStGB an den deutschen Reichstag unterstützt hatten. Die IFLO erwog, an diese Personen heranzutreten und sie zu bitten, öffentlich zu dem »Problem« Stellung zu beziehen. Doch bereits die Beschaffung der Adressen noch lebender Petitionsunterzeichner und -unterzeichnerinnen bereitete Schwierigkeiten. Die IFLO beabsichtigte auch, wegen des erfolgten Karlsruher Urteils eine Demarche an den Europarat in Straßburg zu schicken und Strafanzeige wegen Rechtsbeugung zu stellen. Hans Hurrelmann bot sich an, die Rolle des Anzeigenden zu übernehmen. Doch ist fraglich, ob in Sachen Demarche und Strafanzeige überhaupt etwas unternommen wurde, zumal sich Friedrich Rickel um diese Zeit für etwa ein18 | Vermerk aus dem Referat II, 3 im BMJ vom 20.12.1956, Bundesarchiv Koblenz (BArch) B 141/82158, S. 29-30. 19  |  Ebd., S. 30.

Die deutsche Homophilenbewegung der 1950er Jahre

einhalb Jahre aus der IFLO zurückzog. Auch Herbert Schmidt fiel aufgrund gegen ihn eingeleiteter Ermittlungen wegen eines Verstoßes gegen Paragraf 175 StGB aus. Im Sommer 1957 verfielen auch die übrigen noch vorhandenen bundesdeutschen Homophilengruppen in Agonie oder lösten sich auf. Auf dem Brüsseler ICSE-Kongress von 1958 waren die IFLO und die Berliner GfRdS die einzigen verbliebenen deutschen Verbände. Nach der Hamburger GfM war auch der Frankfurter VhL von der Bildfläche verschwunden. Als sich der ICSE-Vorstand im Spätsommer 1959 zu einer Arbeitstagung in Bremen traf, war die GfRdS ebenfalls nicht mehr dabei (vgl. Pretzel 2001: 62). Der Berliner Vorstand beschloss im Oktober 1959 die Auflösung des Vereins, und in der folgenden Jahreshauptversammlung am 13. Januar 1960 wurde die Entscheidung von den 15 anwesenden Mitgliedern mehrheitlich gebilligt. Als Liquidator beantragte Hans Borgward im Sommer 1960 beim zuständigen Amtsgericht die Registerlöschung. Der Nachlass der GfRdS wurde der IFLO übereignet, die ihn in einem Keller lagerte. Er wurde bei einem Hochwasser Anfang der 1960er Jahre zerstört (ebd.). Vermutlich erlitt der größte Teil der IFLO-Vereinsunterlagen das gleiche Schicksal. Die fünf Aktivisten der Bremer IFLO gehörten Ende der 1950er Jahre zu den wenigen in Deutschland, die ihrer Forderung nach Änderung des Sexualstrafrechts öffentlich Ausdruck verliehen. Zu diesem Zweck verfassten sie hektografierte Rundschreiben, die sie an Politiker, Polizeistellen und Behörden wie das Bundeskriminalamt und das Bundesjustizministerium versandten. Die Auflage des »IFLO-Bundesbriefes« war allerdings niedrig, sie soll bei 25 Exemplaren gelegen haben (vgl. Wolfert 2012: 48). 1959 startete die IFLO einen Spendenaufruf zur Sammlung von 15.000 DM, um Exemplare von Rudolf Klimmers »Die Homosexualität als biologisch-soziologische Zeitfrage« aufzukaufen und allen 497 Bundestagsabgeordneten zukommen zu lassen. Bei dem Buch handelte es sich um eine überarbeitete Fassung des Manuskripts, um dessen Veröffentlichung sich die IFLO bereits drei Jahre zuvor bemüht hatte. Es erübrigt sich zu betonen, dass der anvisierte Betrag viel zu hoch war, als dass er hätte erzielt werden können. Eine der letzten Aktionen der deutschen Homophilenbewegung, zu der noch in den 1950er Jahren die Vorbereitungen getroffen worden sein dürften, war die »Bremer Pfingsteingabe« zur Abschaffung des Paragrafen 175 StGB an den FDP-Politiker und ehemaligen Bundespräsidenten Theodor Heuss (18841963). Mit der Eingabe bat der Club Elysium 1961 Heuss, sich gesetzgeberisch für die künftige Straffreiheit des »gleichgeschlechtlichen Grundtatbestands« einzusetzen – wie bekannt ohne Erfolg (vgl. Wolfert 2011: 50). Dem Schreiben war u.a. die Unterschriftenliste der Hirschfeldschen WhK-Petition aus der Weimarer Republik beigelegt. Möglicherweise bestanden Kontinuitäten zwischen dem Club Elysium und der IFLO über deren Auflösung hinaus. Jedoch

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ist heute nicht bekannt, wer sich hinter der Vereinigung verbarg. Belegt ist lediglich, dass sämtliche Vorstandsmitglieder sowie die Mehrheit der Mitglieder Frauen waren. Die erste Vorsitzende Anna Stübbe war mit einem Bremer Schneider verheiratet und dürfte um 1912 geboren worden sein. Sie arbeitete mit dem Rechtsanwalt Albrecht Dieckhoff zusammen. Es ist nach wie vor schwierig, die Protagonisten der deutschen Homophilenbewegung zu identifizieren und ihre Bemühungen und Leistungen herauszustellen. Das liegt nicht nur an ihrer Erfolglosigkeit. Heute sind noch immer viele Fragen zum Beziehungsgeflecht der homophilen Aktivisten sowie ihrer Gruppierungen offen, weil schlichtweg grundlegende Informationen über Kontakte und Unternehmungen fehlen. Dies gilt sogar für die Beteiligten eben des Prozesses, welcher der Bewegung letztlich den Garaus machte. So ist zwar bekannt, dass Paul Hugo Biederich in dem Grundsatzprozess vor dem Bundesverfassungsgericht zur Straf barkeit der Homosexualität 1957 einen der beiden Beschwerdeführer vertrat – unbekannt ist aber welchen. Bei den zwei Beschwerdeführern handelte es sich um den erwähnten Kaufmann und Aktivisten Oskar Kertscher und den Koch Günther Roebe (1918-1959).20 Möglich ist, dass Biederich Kertscher vertrat. Wie angeführt, hatten die beiden noch um 1949 eng zusammengearbeitet. Später kühlte ihre Beziehung zueinander allerdings stark ab. In Frage kommt deshalb auch, dass Biederich für Roebe tätig war. Auffällig ist in jedem Fall, dass gleich beide Beschwerdeführer gegen den Paragrafen 175 StGB in den 1950er Jahren aus Hamburg kamen. Handelte es sich möglicherweise um eine Art koordinierte Aktion, und die ›Strippenzieher‹ im Hintergrund sind in der deutschen Homophilenbewegung zu suchen? Hier klafft noch immer eine Forschungslücke.

A bschliessende B emerkungen Auch wenn die Materiallage zum Teil bruchstückhaft ist, wird ersichtlich, dass es den bundesdeutschen Homophilen der 1950er Jahre nicht nur vom Staat und ihren heterosexuellen Zeitgenossen schwer gemacht wurde, eine Emanzipationsbewegung aufzubauen und sich in ihr zu betätigen. Zur Zeit des Paragrafen 175 StGB war es mit einem immens hohen Risiko verbunden, sich zur Homosexualität zu bekennen. Auch in den eigenen Reihen wurde ein offensives Eintreten in eigener Sache nicht notwendigerweise geschätzt. So wie sich die Organisationen Anfang des Jahrzehnts gerne unverfängliche Namen gaben und Satzungen verabschiedeten, in denen das Wort ›Homose20  |  Staatsarchiv Hamburg, 332-5 Standesämter, 7362, hier Nr. 2783 Sterbebeurkundung Günther Roebe. Ich danke Ulf Bollmann vom Hamburger Staatsarchiv für die Auskünfte zum Lebensweg Roebes.

Die deutsche Homophilenbewegung der 1950er Jahre

xualität‹ nicht auftauchte, lehnte später Kurt Hiller das Agieren der Homophilen vor staatlichen Stellen wie dem Bundesjustizministerium, dem Bundestag oder dem Bundesverfassungsgericht ab. In ähnlicher Weise vermied Christian Adolf Isermeyer in den 1960er Jahren, die Petition gegen den Paragrafen 175 StGB von Homosexuellen unterzeichnen zu lassen. Auf der Suche nach Repräsentationen und Bündnispartnern gingen die Homophilen so weit, sich selbst unsichtbar zu machen. Bereits das Sprechen über den ›gleichgeschlechtlichen Grundtatbestand‹ bzw. das ›Problem‹ fiel schwer. Ein weiterer zentraler Unterschied zur nachfolgenden Generation der ›Schwulen‹ war: Die Homophilen konzentrierten sich in ihrem Kampf um Gleichberechtigung auf den noch existierenden und nicht reformierten Paragrafen 175 StGB, die Schwulenbewegung kämpfte auf weit breiterer Front gegen gesellschaftliche Diskriminierung, auch nachdem der ›Homosexuellenparagraf‹ in seiner verschärften Form nicht mehr bestand. Als der Paragraf 175 StGB 1969 liberalisiert wurde, löste sich die Reutlinger Kameradschaft die runde – die letzte der noch verbliebenen Homophilenorganisationen von Anfang der 1950er Jahre – bezeichnenderweise selbst auf, weil sie ihr Ziel als erreicht ansah (vgl. Steinle 1998: 31). Der Kampf der Schwulenbewegung begann da erst.

L iter atur Gatzweiler, Richard (1951): Das dritte Geschlecht. Um die Straf barkeit der Homosexualität, Köln: Volkswartbund. Hiller, Kurt (1950): »Brief an Humanitäre in Deutschland«, in: Der Kreis 18 (1), S. 29-31. Hoven, Herbert (Hg.) (1990): Der unaufhaltsame Selbstmord des Botho Laserstein. Ein deutscher Lebenslauf (= Sammlung Luchterhand 914), Frankfurt a.M.: Luchterhand. Lorenz, Gottfried/Bollmann, Ulf (2013): Liberales Hamburg? Homosexuellenverfolgung durch Polizei und Justiz nach 1945, Hamburg: Lambda Edition. Pretzel, Andreas (2001): Berlin – »Vorposten im Kampf für die Gleichberechtigung der Homoeroten«. Die Geschichte der Gesellschaft für Reform des Sexualrechts e.V. 1948-1960 (= Hefte des Schwulen Museums 3), Berlin: rosa Winkel. Pretzel, Andreas (2010): Homosexuellenpolitik in der frühen Bundesrepublik (= Queer Lectures 8), Hamburg: Männerschwarm. Rickel, Friedrich (1998): Wir waren nicht die Ersten. Die ersten Organisationsformen Homosexueller in Bremen nach dem Zweiten Weltkrieg, Kassettenmitschnitt der Diskussionsveranstaltung im Bremer Rat & Tat-Zentrum vom 25.10.1998.

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Steinbacher, Ulli (1984): »Schwule Spuren in Bremen«, in: Bremer Blatt 9, S. 28-30. Steinle, Karl-Heinz (1998): Die Geschichte der Kameradschaft die runde 1950 bis 1969 (= Hefte des Schwulen Museums 1), Berlin: rosa Winkel. T.U. (nicht auflösbares Namenskürzel; 1971): »Prodomo«, in: him 2 (11), S. 49. Werres, Johannes (1990): »Als Aktivist der ersten Stunde. Meine Begegnungen mit homosexuellen Gruppen und Zeitschriften nach 1945«, in: Capri – Zeitschrift für schwule Geschichte 1, S. 33-45. Wolfert, Raimund (2011): »Mehr als tanzen, tunten, schwuchteln, sich bewundern lassen. Die Internationale Freundschaftsloge (IFLO) im Kampf gegen ein ›törichtes‹ Gesetz«, in: Mitteilungen der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft 48, S. 29-52. Wolfert, Raimund (2012): »Zur Geschichte der Internationalen Freundschaftsloge (IFLO). Ein Nachtrag«, in: Mitteilungen der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft 49, S. 38-51.

Residuum der Queer History: Inter* als Restsymptom der Trennung von Geschlechter- und Sexualitätsgeschichte Ulrike Klöppel

Geschlechterforschung, Homosexualitätsforschung, Queer Studies – welche dieser Forschungsrichtungen sollte sich einer kritischen Geschichtsschreibung zum gesellschaftlichen Umgang mit Inter*1 annehmen? »Intersexualität« ist nach medizinischer Auffassung eine angeborene geschlechtliche »Uneindeutigkeit« verschiedenen Ausprägungsgrads und wird als Krankheit behandelt.2 Heute wehren sich Betroffenengruppen gegen diese Medikalisierung, gegen pathologisierende, einen Mangel unterstellende Begrifflichkeiten, paternalistische Behandlung und Genitalverstümmelungen. Historisch und bis in die Gegenwart hinein knüpfte sich an diese Pathologisierung immer auch eine homophobe Angst, die geschlechtliche und sexuelle »Abweichungen« gleichsetzte. Diese Verflechtung von geschlechts- und sexualitätsnormierenden Praxen prädestiniert meiner Auffassung nach die Geschichte der Medikalisierung von Inter* (wie auch der rechtlichen und politischen Verwerfungspraktiken, die jedoch in diesem Beitrag nicht weiter thematisiert werden können) für queere historische Analysen. Doch was ist queere Geschichte? Was als solche bezeichnet wird, wird häufig genug mit »LSBTI-Geschichte« gleichgesetzt und reduziert sich bei näherem Hinsehen auf Schwulen- und ein bisschen Lesbengeschichte. Genderqueere Lebensweisen, Trans* und insbesondere Inter* werden nicht mitgedacht oder bilden allenfalls eine Randerscheinung der historischen Erzählung. 1  |  Mit Bezug auf die gegenwärtige Situation verwende ich den Begriff Inter*, wobei das Sternchen die Vielfalt der Selbstbezeichnungen signalisieren soll. In der historischen Analyse halte ich mich an die in den Quellen zu findende Terminologie, da diese nicht reibungslos in die heutigen Begrifflichkeiten übersetzt werden kann. 2  |  Den Begriff Intersex bzw. Intersexualität führte 1915 der deutsche Biologe Richard Goldschmidt ein; vgl. Goldschmidt 1915.

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Aber auch radikalere, queer-theoretisch inspirierte historiografische Ansätze, die das Zusammenwirken des Regimes der Heteronormativität mit Herrschaftsverhältnissen entlang von Geschlecht, Rasse oder Klasse in den Blick nehmen, schauen selten über den schwul-lesbischen Tellerrand hinaus (z.B. Bravmann 1997). Umgekehrt wird Trans*-Geschichte von einigen Forschenden als Spartengeschichte verhandelt (z.B. Meyerowitz 2002). Inzwischen gibt es jedoch Studien, welche die Verwebungen von Trans*- und Homosexualitätsgeschichte offenlegen (z.B. Halberstam 1998; Genschel 2001; Weiß 2009; Stryker 2009; Herrn 2013). Hingegen wird die historische Forschung zu Inter* zumeist als Geschlechtergeschichte verstanden (z.B. Hausman 1995; Reis 2005; Eder 2010). Diese Aufteilung trägt jedoch zentralen queer-theoretischen Einsichten nicht Rechnung: der Verwobenheit der Kategorien Geschlecht und Sexualität, der Relationalität von Norm und Abweichung, der Historizität der Klassifikationssysteme sowie der gelebten Vielfalt quer zu den scheinbar klar getrennten LSBTI-Identitäten (z.B. Butler 1997; Hark 2010). Insbesondere bleiben Inter* bei der Aufteilung in Homosexualitäts-, Geschlechter- und Transgender-Geschichte als Symptom einer unreflektierten Vorannahme zurück, wonach geschlechtlich als »uneindeutig« markierte Menschen befremdliche Naturerscheinungen sind, die mit LSBT-Existenzweisen erst einmal nichts gemein haben. Im Folgenden möchte ich zeigen, welche Einsichten eine queere Geschichte der medizinischen Literatur des deutschsprachigen Raums zu »Hermaphroditismus« (dies ist die historische Bezeichnung für Inter*) des 18. und 19. Jahrhunderts eröffnen kann.

1. G eschlechterpol arität und G eschlechtskontinuum Eine gängige historiografische These zum Wandel des Geschlechterverständnisses seit der Frühen Neuzeit lautet, dass sich mit dem 18. Jahrhundert ein dichotomes Verständnis von Geschlecht durchgesetzt habe, das um 1800 durch die wissenschaftliche Ausformulierung einer »psycho-physiologischen Geschlechterdualität« des Menschen verschärft worden sei. Dieses Geschlechterwissen habe dazu gedient, vor allem den politischen Ausschluss der Frauen von bürgerlichen Rechten und die Zuweisung häuslicher Tätigkeiten in der Rolle »Gattin, Mutter und Hausfrau« zu rechtfertigen und zu naturalisieren (Hausen 1976; Honegger 1996). Passend zu dieser ersten These besagt eine zweite, die Existenz von sogenannten »echten Hermaphroditen« im 19. Jahrhundert sei medizinisch unsichtbar gemacht worden, um die Geschlechterund sexuelle Ordnung nicht zu gefährden (vgl. Reis 2005: 422ff.; Vázquez García/Cleminson 2010: 20ff.).

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Doch die Situation war komplexer, wie sich an medizinischen Diskussionen über »Hermaphroditismus« im deutschsprachigen Raum zeigen lässt.3 Um 1800 erklärten zwar Mediziner und Naturforscher4 die Hoden und Eierstöcke – die Gonaden – zum entscheidenden Geschlechtsorgan, anhand dessen das »wahre« Geschlecht auch in Fällen von »scheinbarem Hermaphroditismus« eindeutig bestimmt werden könne. Sie schlossen jedoch keineswegs aus, dass es, wenn auch äußerst selten, sogenannte »echte Hermaphroditen« geben könne, die sowohl Hoden als auch Eierstöcke besitzen, getrennt oder in einer Gonade vereinigt. Einzelne Fallberichte, die im Laufe des 19. Jahrhunderts veröffentlicht wurden, bestätigten dies.5 Die neue Bedeutung der Gonaden hing von zweierlei ab: Zum einen begriffen Naturforscher und Mediziner Hoden und Eierstöcke nunmehr als die wichtigsten Organe der Fortpflanzung. Zum anderen erklärten sie, indem sie neben anderem ihre Beobachtungen von Fällen geschlechtlicher »Abweichungen« resümierten, die Gonaden zum physiologischen Ausgangs- und Kristallisa­tionspunkt der Geschlechtsdifferenzierung. Das geschlechtliche Erscheinungsbild galt nicht länger als göttlich präformiert, sondern als Resultat der Vermischung der Zeugungsstoffe, der Neubildung und allmählichen Differenzierung eines Organismus. Embryologische Studien legten dar, dass sich die Genitalien aus einer ursprünglich indifferenten Anlage entwickelten, wobei sich die Gonaden als erste differenzieren und die weitere männliche oder weibliche Entwicklung steuern würden.6 Der »Hermaphroditismus« war für diese neue Auffassung der polaren Geschlechtsdifferenzierung für die Mehrzahl der Mediziner kein Widerspruch, der hätte unsichtbar gemacht werden müssen. Vielmehr repräsentierte er den »indifferenten« Ursprung und die ersten Stufen der Entwicklung, die zu den »vollkommen« ausdifferenzierten Ge3  |  Zum Folgenden vgl. Klöppel 2010; dort finden sich auch ausführliche Quellenbelege und eine Diskussion der Forschungsliteratur. 4 | Ich verwende hier und im Folgenden die männliche Form, um zu verdeutlichen, dass es sich historisch ausschließlich oder in der überwältigenden Mehrheit um Männer handelte. 5 | Die nachfolgende Generation von Medizinern zog um 1900 die angeführten Fälle wieder in Zweifel, da nunmehr strengere mikroskopische Nachweise möglich waren und verlangt wurden. Auf der anderen Seite entdeckte auch diese Generation auf der Grundlage der verschärften Kriterien nach und nach erneut Fälle von »echtem Hermaphroditismus«. Für die Analyse des medizinischen Geschlechterverständnisses, wie es bis dahin vorherrschte, ist dies jedoch unerheblich, da es hier nicht um retrospektive naturwissenschaftliche Wahrheitsfindung gehen kann, sondern nur um die Rekonstruktion des medizinischen Denkens in seiner Zeit. 6  |  Die entwicklungsphysiologische Bedeutung der Gonaden wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wieder infrage gestellt.

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schlechtscharakteren hinführte. Entsprechend erklärten Mediziner den »Hermaphroditismus« als eine »Hemmung« des Entwicklungsprozesses bzw. der dafür verantwortlichen »Bildungskraft«.7 Auf diese Weise ordneten sie die verschiedenen Erscheinungsformen geschlechtlicher »Uneindeutigkeit« – auch ›geringer‹ Ausprägung – als Übergangsstufen in einem Kontinuum-Modell des Geschlechts ein: »Beide Geschlechter bieten Reihen dar, durch welche sie sich, indem sie sich von der regelmässigen Bildung ihres Geschlechtes entfernen, einander nähern« (Meckel 1816: 198). Das frühere »Panoptikum der Kuriositäten« wurde auf diese Weise überführt in ein naturwissenschaftliches Entwicklungsdenken, demzufolge der männliche und weibliche Idealtypus den »vollkommensten« und »Hermaphroditen« den »unvollkommensten«, »primitivsten« Differenzierungsgrad verkörperten. Dieses Verständnis des »Hermaphroditismus« war eingebettet in das Theorem der »Höherentwicklung«, das eine hierarchische Anordnung der Lebewesen unterstellte. Zum Theorem gehörte die Behauptung, dass die Geschlechterdifferenz umso ausgeprägter sei, je höher eine Spezies in der Entwicklungsfolge der Lebewesen angesiedelt und je kulturell höherstehend eine »Menschenrasse« sei (Schiebinger 1993: 294-297). Bei den höheren Tieren, beim Menschen und insbesondere beim »europäischen« Menschen könne daher der »Hermaphroditismus« nur als pathologische Erscheinung bzw. als »Missbildung« vorkommen. Die durch Naturforschung, Medizin und Anthropologie betriebene anthropozentrische und rassistische Hierarchisierung der Lebewesen war also mit der Konstruktion der Geschlechterdifferenz als komplementärer Polarität verknüpft, jedoch bedurfte es zu ihrer naturwissenschaftlichen Begründung im Rahmen des neuen Entwicklungsdenkens der Vorstellung eines »ursprünglichen« Geschlechterkontinuums. Das Geschlechterverständnis Ende des 18./Anfang des 19. Jahrhunderts war, wie Claudia Honegger gezeigt hat, »psycho-physisch« in dem Sinne, dass Mediziner und Naturforscher psychische und habituelle Geschlechterdifferenzen herausarbeiteten und behaupteten, sie seien durch körperliche Unterschiede verursacht (Honegger 1996). In diesem Sinne verstanden sie unter dem männlichen respektive weiblichen »Geschlechtscharakter« die Verkörperung solcher Eigenschaften und Neigungen, die der bürgerlichen geschlechtlichen Arbeitsteilung und dem »gesunden« Bevölkerungserhalt dienlich sein sollten. Menschen, die nicht den Geschlechternormen entsprachen, wurden demgegenüber als biologisch »unvollkommene« und »nutzlose« Existenzen degradiert.

7  |  Für eine Differenzierung der Auffassungen vgl. Klöppel 2010: 246f.

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2. S e xuelle Triebe unter V erdacht Im Zusammenhang mit der wissenschaftlichen Diskussion des »Geschlechtscharakters« erhielten die bereits früher gebräuchlichen Begriffe »Viragines« respektive »Mares effeminati« einen neuen Gehalt. Häufig tauchten die »Mannweiber« und »Weibmänner«, wie die analogen deutschen Begrifflichkeiten zumeist lauteten, in Abhandlungen über »Hermaphroditen« als erste Stufe bzw. geringste Ausprägung geschlechtlicher »Uneindeutigkeit« auf. Sie bildeten eine eigenständige Klasse neben den verschiedenen Formen von »Hermaphroditismus«, wurden aber wie diese erklärt durch eine »Hemmungsbildung«. Auf diese Weise problematisierten Mediziner selbst die »leisesten Andeutungen« (Meckel 1812: 267) als »Abweichungen« von den Idealen körperlicher und habitueller Geschlechtscharakteristika. Verschiedene Ärzte zählten zu den »Mannweibern« und »Weibmännern« explizit auch solche Personen, bei denen sie einen »Contrast zwischen der Richtung des Geschlechtstriebes und der Totalform, so wie der Form der Genitalien« vermuteten (ebd.). Anders als im 18. Jahrhundert assoziierten nun aber nicht mehr alle Autoren »Viragines« und »Mares effeminati« grundsätzlich mit gleichgeschlechtlichen »Neigungen«. Erstmals wurde es im medizinischen Diskurs denkbar, dass es von der als naturgesetzlich angenommenen »Übereinstimmung« von Geschlechtskörper und Geschlechtstrieb »Abweichungen« geben konnte, die veranlagt und nicht schlicht durch »lasterhaftes« Verhalten zu erklären waren. Diese Denkmöglichkeit beruhte auf einer Verschiebung des Verständnisses der »Neigungen« (bzw. der weitgehend synonym verwendeten Begriffe »Begierden, »Geschlechtstrieb«, »Charakter« oder »Betragen«), die sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts vollzog: Bis dahin war die Vorstellung einer natürlichen Homologie des körperlichen Geschlechts und des Geschlechtscharakters inklusive der sexuellen Neigungen noch ungebrochen. Gleichgeschlechtliche sexuelle Praktiken galten als »widernatürliches«, »sündhaftes« und damit vermeidbares Verhalten. Jedoch entwickelte sich ab dem 16. Jahrhundert ein medizinischer Diskurs zur »Tribadie«, der sich auf sexuelle penetrative Handlungen unter Frauen bezog und dabei die Homologie-Annahme umwendete: Mediziner unterstellten den »Tribaden«, dass sie eine »monströse« Klitoris besäßen, die sie zur »Sodomie« oder »Unzucht« verleitete.8 Eine analoge Diskussion über die mann-männliche »Sodomie« führten sie offenbar nicht. Dieser Befund entspricht dem Stand der 8 | Einige Autoren flochten in die Ausführungen über »Tribaden« Berichte über ihr angeblich gehäuftes Vorkommen in Afrika ein. Der Topos der »Tribadie« als »afrikanischer Monstrosität« hielt sich bis ins 18. und 19. Jahrhundert hinein, indem er der rassistischen Darstellung der europäischen Bevölkerung als physisch und sittlich überlegen diente (Park 1997: 171-176). Im 18. Jahrhundert machten jedoch mehr und mehr Autoren dar-

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historischen Forschung, wonach sich die Medizin bis ins 19. Jahrhundert hinein nicht vertieft mit den männlichen »Sodomiten« beschäftigte. Zwar kam es in Fällen von »Sodomie« zu gerichtsmedizinischen Begutachtungen, doch diese beschränkten sich auf die ›Taten‹ und die ›Tatwerkzeuge‹ und nicht auf eine möglicherweise spezifische Disposition der »Täter« (Foucault 1991: 58). Der Hermaphroditismus-Verdacht, der die »Tribaden« traf, zielte hingegen bereits seit dem 16. Jahrhundert auf eine besondere körperliche Disposition. Im 18. Jahrhundert kam allerdings im Kontext der medizinischen Pathologisierung der Onanie auch die Idee auf, dass bei »Tribaden« die Klitoris durch »Ausschweifungen« artifiziell vergrößert worden sein könnte. Auf bauend darauf entstanden im gelehrten Diskurs des 18. Jahrhunderts Spekulationen, dass »sogenannte Hermaphroditen« in Wahrheit »Tribaden« mit einer vergrößerten Klitoris sein könnten. Solche Ausführungen finden sich vorzugsweise in Lexika wie der »Deutschen Encyclopädie«. Doch in medizinischen Abhandlungen zum »Hermaphroditismus« argumentierten die Ärzte zumeist auf der Grundlage der Homologie-Annahme: Bei Personen »zweifelhaften« Geschlechts galten ihnen die Neigungen als eines der wenigen zuverlässigen Merkmale, anhand derer sich das »wahre« Geschlecht offenbare, wobei sie unterstellten, dass sich das Begehren natürlicherweise immer auf das »andere« Geschlecht richte. Waren sie doch mit einem ambivalenten Begehren konfrontiert, so führten sie dies darauf zurück, dass es sich um einen besonders ausgeprägten Grad von »Hermaphroditismus« handelte. Dies änderte sich um die Wende zum 19. Jahrhundert: Mediziner äußerten sich zunehmend misstrauisch über »Hermaphroditen«, indem sie die Möglichkeit »verkehrter« Neigungen thematisierten. Zwei Erklärungsmuster bildeten sich im Laufe des 19. Jahrhunderts heraus: Die erste, moralisierende Variante unterstellte, dass »Hermaphroditen« unsittliche Verhaltensweisen an den Tag legen würden, weil sie entweder ihr »wahres« Geschlecht verkannten oder sich im Gegenteil im Bewusstsein ihrer besonderen genitalen Ausstattung zu »Unzucht« respektive »Päderastie«, Ehebruch oder Prostitution hinreißen ließen. Nach der zweiten, biologisierenden Variante war die »uneindeutige« biologische Anlage die direkte Ursache »unsittlichen« Verhaltens: Eine solche Veranlagung zeigte sich demzufolge nicht nur in »abweichenden« körperlichen Geschlechtsmerkmalen, sondern auch in einer »anormalen« psychischen Disposition. Es könnten aber auch im Extremfall geschlechtliche »Neigungen«, sexuelles Verhalten und Geschlechtskörper nicht übereinstimmen – und dies qua Veranlagung. Sowohl das moralisierende als auch das biologisierende Erklärungsmuster unterstellten, dass die geschlechtlich »uneindeutige« Biologie »Hermaphroditen« für sexuelle Übertretungen des ihnen bei Geburt zuauf aufmerksam, dass die Tribadie nicht nur in Afrika und Nahost, sondern auch in Europa verbreitet sei.

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gewiesenen Geschlechtsstatus prädestiniere.9 Dieses Erklärungsmuster fand in ähnlicher Form, wenn auch weniger ausbuchstabiert, auf die »verkehrten« Neigungen sogenannter »Mannweiber« und »Weibmänner« Anwendung (vgl. auch Schmersahl 1998: 157-169). Um 1900 waren schließlich die beiden Erklärungsvarianten der Biologisierung und der Moralisierung des geschlechtlich-sexuellen Verhaltens von »Hermaphroditen« eng mit der Diskussion über »angeborene oder erworbene Konträrsexualität« bzw. »Homosexualität«, wie der spätere Terminus lautete, verflochten.

3. I nter* im B rennpunk t der G renzkontrollen Obwohl der »Hermaphroditismus« bzw. die »Intersexualität« als Rarität und extreme Besonderheit in der medizinischen Literatur dargestellt wurde und wird, offenbart eine kritische Auseinandersetzung, dass hier keineswegs ein Spezialproblem weniger betroffener Menschen vorliegt. Die medizinische Problematisierung »uneindeutigen« Geschlechts erweist sich vielmehr als ein Brennpunkt von Praktiken, die darauf ausgerichtet sind, Grenzen zwischen männlichem/weib­lichem und eindeutigem/uneindeutigem Geschlecht sowie normaler/ab­weichender Sexualität zu definieren und zu kontrollieren. Gängige Annahmen über die Durchsetzung der Geschlechterdichotomie in der Moderne und über die ›Erfindung‹ der Homosexualität im psychiatrischen Diskurs Ende des 19. Jahrhunderts müssen differenziert werden. Am medizinischen »Hermaphroditismus«-Diskurs des 18./19. Jahrhunderts zeigt sich erstens, dass zwar die Behauptung einer Polarität der Geschlechter ein Leitmotiv der wissenschaftlichen Erörterungen war, jedoch keineswegs unvereinbar mit dem Modell eines Geschlechterkontinuums. Vielmehr baute die Vorstellung der Geschlechterpolarität auf dem Kontinuum-Modell auf, denn der männliche und weibliche Idealtypus repräsentierte die höchste Stufe der Differenzierung aus einem gemeinsamen geschlechtlich »indifferenten« Ursprung. Das Kontinuum-Modell sorgte daher auch keineswegs für eine ›liberalere‹ Geschlechterpolitik, sondern führte vielmehr zu einer Verwerfung von »Hermaphroditen« und »Mannweibern« respektive »Weibmännern« als biologisch »nutzlose« Wesen. Zweitens erweist sich die medizinische Problematisierung der Neigungen der »Hermaphroditen« zu Beginn des 19. Jahrhunderts als eine Wurzel der psychiatrischen Erklärung gleichgeschlechtlicher Praktiken und Beziehungen durch eine »konträrsexuelle« Disposition. Damit wurde einerseits die Annahme einer natürlichen 9 | Hier baue ich auf einer These Michel Foucaults auf, derzufolge im 18. Jahrhundert der Hermaphroditismus vermehrt mit einer Monstrosität des Verhaltens in Verbindung gebracht wurde (vgl. Foucault 2003: 103-106).

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Homologie von Geschlechtskörper und Geschlechtstrieb hinterfragt, andererseits gab dies einer moralisierenden und biologisierenden Diskussion über die Ursachen »verkehrter« Neigungen Raum. Für die Geschlechter- und Sexualitätsgeschichte sind aus solchen Einsichten bislang noch kaum Konsequenzen gezogen worden. Die übliche Aufteilung in Geschlechtergeschichte und (Homo-)Sexualitätsgeschichte trägt der Verwobenheit und Uneindeutigkeit der Kategorien nicht Rechnung. Aus einer queeren historiografischen Perspektive muss deshalb konsequent der sexuellen und geschlechtlichen Vielfalt quer zu Identitätskategorien Rechnung getragen werden. Und es ist erforderlich, konsequent die Möglichkeit der nicht binären Klassifikation und der Verwobenheit von Geschlecht und Sexualität mitzudenken.

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Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt heute — aktuelle Diskurse und Entwicklungen in Forschung, Gesellschaft und Politik

Intergeschlechtlichkeit: Aktivismus und Forschung, ihre Verzahnung und intersektionale Fortentwicklung Heinz-Jürgen Voß

Angestoßen durch die politischen Kämpfe von Inters*1-Selbstorganisationen, sind mittlerweile in der Bundesrepublik Deutschland auch auf parlamentarischer Ebene einige Diskussionen auf den Weg gekommen. Das Ziel der Inters*-Vereinigungen scheint in greif barer Nähe: Die geschlechtszuweisenden Eingriffe bei intergeschlechtlichen Minderjährigen könnten endlich verboten werden. Abhängig ist dies vom Handeln der Regierungsparteien. Obwohl die SPD im Jahr 2013, noch in der letzten Legislaturperiode, im Bundestag einen weitreichenden Antrag bzgl. Intergeschlechtlichkeit eingebracht hatte, der mit denen der Parteien DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nahezu gleichlautend war, hat sie nach den Wahlen nicht dafür gesorgt, diese Initiative auch im Koalitionsvertrag mit der CDU/CSU zu verankern.2 Dabei ist eine Reform schon deshalb zwingend, weil die Bundesrepublik von Gremien der Vereinten Nationen dazu aufgefordert wurde. Einen Überblick über die poli1  |  Der Begriff ›Intersexualität‹ ist heute eng mit dem medizinischen Behandlungsprogramm verflochten, das von den Selbstorganisationen kritisiert wird. Sie schlagen deshalb – und um Verwechslungen mit sexuellen Orientierungen zu vermeiden – vor, die Begriffe ›Intergeschlechtlichkeit‹, ›intergeschlechtlich‹ und ›Inters*‹ zu verwenden. Dieser Anregung wird hier gefolgt. (An den Stellen, an denen in diesem Aufsatz der Begriff Intersexualität verwendet wird, weil das medizinische Behandlungsprogramm problematisiert werden soll, steht er stets in distanzierenden Anführungszeichen.) 2  |  Vgl. SPD-Antrag: Deutscher Bundestag, Drucksache 17/13253; DIE LINKE: Drucksache 17/12859; BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Drucksache 17/12859. Im Koalitionsvertrag findet sich lediglich die folgende Passage: »Die durch die Änderung des Personenstandrechts für intersexuelle Menschen erzielten Verbesserungen werden wir evaluieren und gegebenenfalls ausbauen und die besondere Situation von trans- und intersexuellen Menschen in den Fokus nehmen« (CDU Deutschland/CSU-Landesleitung/SPD 2014: 74).

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tischen Kämpfe, das dadurch angestoßene Interesse einer breiten Öffentlichkeit und internationaler Gremien sowie erste zaghafte Veränderungen habe ich an anderer Stelle gegeben (vgl. Voß 2012; Voß 2013).3 Über die aktuellen politischen Kämpfe und die Möglichkeiten der Unterstützung sollten Sie sich kontinuierlich bei den Selbstorganisationen – insbesondere auf www.intersexuelle-menschen.net, www.intersexualite.de, www.zwischengeschlecht.org und www.zwischengeschlecht.info – informieren und deren Streiten gegen die geschlechtszuweisenden medizinischen Eingriffe bei intergeschlechtlichen Minderjährigen unterstützen! In diesem Beitrag sollen drei Aspekte diskutiert werden, die bzgl. des gesellschaftlichen Umgangs mit Intergeschlechtlichkeit essenziell und für aktivistische und akademische Arbeiten bedeutsam sind: 1. Historische Genese des Behandlungsprogramms: Derzeit steht eine gründliche historische Analyse des Aufkommens des gegenwärtig praktizierten Behandlungsprogramms aus. Die Frage sollte nicht einfach sein, seit wann das Programm ›routinemäßig‹ angewendet wird. Vielmehr ist genau zu erarbeiten, wie das theoretische Fundament entstand, und auf welchen Experimenten – auch grausamen Menschenexperimenten – es basiert. Ein erster Überblick, erarbeitet von Inters*-Selbstorganisationen, ergibt, dass zentrale theoretische Ausarbeitungen und die praktische Erprobung von Techniken von deutschen Wissenschaftlern4 in der Nazi-Zeit durchgeführt wurden. Erst auf dieser Basis war die Durchsetzung des Behandlungsprogramms als Routine in den 1950er Jahren möglich. 2. Internationalität: Für die aktuellen politischen Veränderungen, die zu einem Ende der geschlechtszuweisenden Eingriffe bei intergeschlechtlichen Minderjährigen führen könnten, waren der internationale Austausch von Inters*-Organisationen und die Intervention internationaler Gremien bedeutsam. Diese produktive Internationalität muss allerdings damit kontrastiert werden, dass aktuell wissenschaftliche Studien initiiert werden, 3  |  Ich selbst habe von Aktivist_innen von Inters*-Selbstorganisationen sehr viel gelernt und bedanke mich herzlich für die Anregungen sowie die gute und intensive Kritik! Bei den Inters*-Selbstorganisationen liegt die inhaltliche Expertise bzgl. Intergeschlechtlichkeit – und entsprechend müssen sie bei Konferenzen, in Gremien, bei politischen Entscheidungen zentral sein. 4 | Grundlegend für meine Arbeiten sind die feministische und queere Sprachkritik, wobei ich die Verwendung des Unterstrichs präferiere, um geschlechtliche Freiräume zur Selbstidentifikation zu lassen. Aber: Europäische Wissenschaft ist stark von Androzentrismus geprägt. Frauen wurden lange Zeit vom Studium und aus den Institutionen vollständig ausgeschlossen. Um diese Ausschlüsse sichtbar zu lassen, verwende ich die männliche Bezeichnung immer dann, wenn ausschließlich Männer bezeichnet werden.

Intergeschlechtlichkeit

›Intersexualität weltweit‹ zu untersuchen. Solche Untersuchungen sind problematisch, da ein westliches medizinisches Konzept ›Intersexualität‹ als Maßstab gesetzt und nicht westliche gesellschaftliche Geschlechterkonzepte zum Verschwinden gebracht werden. Letztlich kann dieses Vorgehen sogar dazu führen, dass das westliche Verständnis, in dem geschlechtliche Variabilität als medizinischer Problemfall, als ›Abweichung‹ und ›Störung‹, gilt, international weiter verbreitet wird, anstatt damit zu brechen. 3. Zentrale Einbeziehung der Expertise von Selbstorganisationen: Eigentliche Expertise – diejenige von Selbstorganisationen und ›betroffenen‹ Menschen – wird in akademischen Untersuchungen oft ausgeblendet, für parteiisch erklärt, unsichtbar gemacht. Hingegen sei eine vermeintlich ›nicht betroffene‹ universitäre Perspektive objektiver. Ausgeblendet wird dabei, dass auch letztere in Herrschaftsmechanismen eingebunden ist – als eine privilegierte Position. Unsichtbar wird, dass die intensive und verbreitete Befassung u.a. mit ›Intersexualität‹/Intergeschlechtlichkeit erst durch die Kämpfe der Inters*-Selbstorganisationen möglich wurde. Ihre theoretischen Arbeiten und ihr politisches Agieren regten die Debatten und die tief gehende Auseinandersetzung auch an Hochschulen an. Bei ›Betroffenen‹ kommen (problematische) staatliche bzw. gesellschaftliche Maßnahmen eher an, werden reflektiert und diskutiert, lange bevor an Hochschulen Karrieren mit den Themen gestaltet werden. Diese Expertise der ›Betroffenen‹ gilt es, in wissenschaftlichen Kontexten zentral – und entlohnt – einzubeziehen.

H istorische G enese des B ehandlungsprogr amms Sowohl in den wissenschaftlichen Ausarbeitungen quer durch alle Disziplinen als auch im politischen Aktivismus ist die Erzählung kanonisch geworden, nach der das Behandlungsprogramm, mit dem geschlechtszuweisende Eingriffe im frühen Kindesalter vorgenommen werden und das nach wie vor für den gesellschaftlichen – insbesondere medizinischen – Umgang mit ›Intersexualität‹ bedeutsam ist, ab den 1950er Jahren aufgekommen sei. John Money sowie John und Joan Hampson hätten diese Eingriffe mit einer Aufsatzfolge initiiert. Ausgehend von ihrem Dienstort Baltimore (USA) habe das sogenannte ›Baltimorer Behandlungsprogramm‹, das seit den 1990er Jahren massiv in die Kritik geraten ist, weltweit Verbreitung gefunden. Ulrike Klöppel erweckt in ihrer umfassenden Untersuchung zu ›Intersexualität‹ gar den Eindruck, das Baltimorer Behandlungsprogramm sei erst zögerlich im deutschsprachigen Raum aufgenommen worden (vgl. Klöppel 2010: 475ff.) und betreibt auf diese Weise eine Reinwaschung deutscher Wissenschaft von Verantwortung. Sie sieht das Behandlungsprogramm damit

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nicht (zentral) in historischer Tradition zu den Normalisierungsbestrebungen seit der europäischen Moderne,5 sondern insbesondere als Ergebnis des ›Gender-Konzeptes‹, mit dem die zurückgesetzte Position von Frauen als Produkt gesellschaftlicher Ungleichbehandlung von Frauen und Männern angenommen wurde – und nicht mehr als ›natürlich‹ vorgegeben und unabänderlich. Weithin bekannt für die ›Gender-Perspektive‹ ist die Aussage Simone de Beauvoirs: »Keine biologische […] Bestimmung legt die Gestalt fest, die der weibliche Mensch in der Gesellschaft annimmt« (Beauvoir 2008: 334). In ihrer historischen Studie lässt Klöppel Beauvoirs für die zweite Frauenbewegung (und insgesamt das 20. Jahrhundert) richtungsweisendes Buch »Das andere Geschlecht«, das immerhin bereits 1949 erschien, ebenso außer Acht wie die zahlreichen Schriften der ersten Frauenbewegung. Klöppel schreibt, sie selbst gehe »der Entstehung des gender-Konzepts im Kontext der medizinischen Normierung intersexueller Menschen nach. Mit der Abgrenzung von gender gegen sex, das biologische Geschlecht, wurde bereits Mitte des 20. Jahrhunderts darauf hingewiesen, dass Männlichkeit und Weiblichkeit nicht biologisch determiniert, sondern sozial bedingt seien. Die Einführung des Konzepts erfolgte 1955 im Rahmen psychologischer Studien über die psychosexuelle Entwicklung von Intersexuellen …« (Klöppel 2010: 13; Herv. i.O.)

Statt also den Kategorisierungen und Normierungen im Zuge der europäischen Moderne nachzugehen und darauf zu schauen, wie bürgerliche ›Frauen‹ und ›Männer‹ auf bestimmte gesellschaftliche Bereiche festgelegt und auch Unterscheidungen nach Klasse und ›Rasse‹ eingeführt und insbesondere mit biologisch-medizinischen Argumentationen befestigt wurden, setzt Klöppel 1) den zentralen normierenden Bruch im Hinblick auf aktuelle ›Intersexualität‹Behandlungen für die 1950er Jahre an und beschreibt 2) das ›Gender-Konzept‹ als Ergebnis »psychologischer Studien« und für die Gewalt gegen Inters* zentral. Schließlich vernebelt die Autorin den Blick auf die Forschung und die (Menschen-)Versuche in Nazi-Deutschland.6 5  |  Vgl. für einen einführenden Überblick: Voß 2012. 6 | Klöppel skizziert nur knapp einige der im 20. Jahrhundert vor dem Baltimorer Behandlungsprogramm entwickelten Techniken und Theorie-Stränge. Sie ordnet diese allerdings nicht als zentral für das Behandlungsprogramm ein, sondern sieht die gesellschaftlichen Bedingungen in den USA und die institutionellen Möglichkeiten in Baltimore als entscheidend an (vgl. Klöppel 2010: 326-336). Kurz betrachtet Klöppel auch die Forschungen der Nazi-Zeit, sieht dort aber nicht darauf, inwieweit Behandlungsprogramme vorgeschlagen und theoretisch fundiert wurden – wie sie es ausführlich für die Zeit nach 1950 in den USA macht –, sondern stellt die Forschungen eher als einzelne Positionierungen von Personen dar. Grundsätzlich habe man sich in Deutschland bzgl. Intersexua-

Intergeschlechtlichkeit

Dass und wie in der Nazi-Zeit von deutschen Forschern Experimente zu ›Intersexualität‹ betrieben wurden, dafür gibt es mit den Recherchen von Inters*-Selbstorganisationen mittlerweile deutliche Anhaltspunkte (vgl. Zwischengeschlecht 2011; Zwischengeschlecht 2013a, b). Darin wird deutlich, dass es sich bei den ›medizinischen Eingriffen‹ keineswegs um ›Einzelfälle‹ handelte, sondern sie vielmehr in fortlaufende theoretische Debatten und praktische ›Behandlungen‹, die auf Konferenzen vorgestellt wurden, eingebunden waren. Bereits ein Blick auf die entsprechenden Studien des Gynäkologen Hans Christian Naujoks macht den auf ein Behandlungsprogramm zielenden Charakter der Forschungen – mit praktischen Anwendungen – deutlich. Naujoks war 1933 in die NSDAP eingetreten und begrüßte bereits 1934 vehement das NS-Sterilisationsgesetz. Nach 1945 machte er in der Bundesrepublik Karriere – in Marburg und Frankfurt. 1951 wurde er Präsident der Gesellschaft für Gynäkologie (vgl. Klee 2011: 428f.). In seinem 1934 publizierten Aufsatz »Über echte Zwitterbildung beim Menschen und ihre Beeinflussung« stellt er ausführlich Möglichkeiten korrigierender operativer und hormoneller Eingriffe vor (vgl. Naujoks 1934). Er führt u.a. aus: »Die therapeutischen Maßnahmen beim menschlichen Zwittertum, soweit sie der Annäherung an ein bestimmtes Geschlecht dienen, können in 3 Gruppen eingeteilt werden: 1. Anatomische Korrektur des Genitalbaues, 2. Entfernung oder Einpflanzung von Keimdrüsengewebe, 3. Applikation moderner Hormonpräparate« (ebd.: 148); im Folgenden beschreibt er die einzelnen Schritte ausführlich. Auch zur Frage der Berechtigung dieser ›therapeutischen Maßnahmen‹ kommt Naujoks und verbindet sie mit den Vorstellungen der NS-Rassenhygiene: »Gerade in Verfolg unserer neuen großzügigen Bestrebungen weitgehender Erb- und Rassenpflege erhält diese Frage erhöhte Bedeutung. Der operierende Gynäkologe wird sich hier also eine gewisse Beschränkung auferlegen müssen. Wenn wir neuerdings Erbkranke zielbewußt und sogar zwangsweise sterilisieren, so dürfen wir andererseits nicht unsere Hand dazu reichen, durch kunstvolle Eingriffe die Erzeugung fragwürdiger Nachkommenschaft zu ermöglichen und zu fördern. Damit ist natürlich nicht gesagt, daß wir diesen unglücklichen Wesen unsere Hilfe verweigern sollen. Die meisten sind ja infolge

lität vor und zunächst nach 1945 am subjektiven Geschlechtsempfinden des jeweiligen Menschen orientiert und nicht geschlechtszuweisende Eingriffe durchgeführt (vgl. ebd.: 374-381). Klöppel folgert diesbezüglich, dass die Empfehlungen der Nachkriegszeit, nach denen nicht im frühen Kindesalter geschlechtszuweisende Eingriffe vorgenommen werden sollten, »in Kontinuität zu den Verlautbarungen von Medizinern vor 1945 [standen]. Menschenfreundlichkeit und Ganzheitlichkeit in Abgrenzung zum Nationalsozialismus reichen also als Erklärungsmomente nicht aus, um zu verstehen, wieso ÄrztInnen in der Nachkriegszeit die Richtlinie des ›subjektiven Geschlechts‹ vertraten.« (Ebd.: 381)

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Heinz-Jürgen Voß der verschiedensten Mißbildungen von vornherein von jedem Fortpflanzungsgeschäft absolut sicher und endgültig ausgeschlossen.« (Ebd.: 151)

In Naujoks’ Aufsatz geht es um die ›Behandlung‹ einer 18-jährigen Person, die zu einem »Mädchen gemacht« (ebd.: 161) wurde. Lehnt Naujoks im Aufsatz zwar vorpubertäre geschlechtszuweisende Eingriffe ab, so wird doch ersichtlich, wie ausgefeilt die Behandlung erscheint, dass sie klare Anzeichen einer sich etablierenden Routine trägt und die vorgeschlagene Schrittfolge der ›therapeutischen Maßnahmen‹ deutliche Ähnlichkeit zu dem späteren Baltimorer Behandlungsprogramm zeigt. Dass auch die ›Behandlung‹ und sogar die Ermordung von und Menschenversuche an Kindern von deutschen Forschern in der Nazi-Zeit stattfanden, ist im Hinblick auf das NS-Euthanasieprogramm und die Menschenexperimente in Konzentrationslagern – u.a. zur Wirkung von Hormonen – hinlänglich bewiesen (vgl. etwa Schmuhl 1992; Weindling 2012). Inwieweit diese bzgl. des medizinischen Konzepts ›Intersexualität‹ durchgeführt wurden oder damit in Verbindung stehen (bspw. durch Verwendung von aus den Menschenversuchen erhaltenen Ergebnissen), muss hingegen noch untersucht werden. Gleichzeitig geht auf die NS-Forschung das strikt-binäre Geschlechtermodell der Biologie und Medizin zurück, mit wesentlicher Bedeutung auch über 1945 hinaus. Waren in den Geschlechter- und Sexualitätsbetrachtungen der 1920er und frühen 1930er Jahre – u.a. von Richard Goldschmidt, Bernhard Zondek, Magnus Hirschfeld, Eugen Steinach – ›geschlechtliche Zwischenstufen‹ und die Vorstellung, dass vermutlich jeder Mensch sowohl ›weibliche‹ als auch ›männliche Anteile‹ in sich trägt, zentral, so favorisierten die Protagonisten der NS-Forschung bzgl. Geschlecht und Sexualität – u.a. Fritz Lenz, Adolf Butenandt – Konzepte von zwei klar zu trennenden Geschlechtern. Die Historikerin Helga Satzinger kommt zu dem Schluss: »In den Jahren zuvor [in den 1920er und beginnenden 1930er Jahren] war das Konzept der genetischen und hormonellen Geschlechterwandlung und -mischung sehr breit diskutiert worden, die Dominanz des bipolaren Modells war erst in den 1930er Jahren durch das Fehlen [der] Vertreter [des Konzepts der Geschlechtermischung, Anm. HV], die emigrieren mussten, zustande gekommen.« (Satzinger 2009: 399)

Auch nach 1945 prägten NS-Forscher die Wissenschaft – ihre Karrieren gingen weiter 7, an ihre Theorien wurde angeschlossen. (Die umfassende wissenschaftliche Aufarbeitung hat erst begonnen.) 7  |  Bspw. wurde Fritz Lenz Professor in Göttingen, Adolf Butenandt zunächst Professor in Tübingen, dann in München und schließlich Präsident der Max-Planck-Gesellschaft (vgl. Klee 2011: 88, 366f.).

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Mit den Theorien klarer Geschlechtertrennung hinsichtlich chromosomaler und hormoneller Merkmale wurde von der NS-Forschung eine wichtige Basis dafür geschaffen, dass jeder Mensch klar als ›weiblich‹ oder ›männlich‹ einzuordnen und dieses Geschlecht ›natürlich‹ zeitlebens vorhanden sei. Die Beschreibung geschlechtlich eindeutig zu unterscheidender erblicher Anlagen und Hormone beflügelte Vorstellungen praktischer Machbarkeit: In technischen Untersuchungen könnte das chromosomale (und genetische) Geschlecht bestimmt, durch Hormongaben eine technisch kalkulierbare geschlechtliche Entwicklung auf den Weg gebracht werden. Erst auf Grundlage dieser Ausarbeitungen ist die routinemäßige Baltimorer Behandlung der 1950er Jahre möglich geworden; Money und die Hampsons fügten Vorstellungen der technisch kalkulierbaren Formbarkeit einer eindeutigen ›weiblichen‹ oder ›männlichen‹ Geschlechtsidentität (Identität wurde dabei schlicht als das Annehmen einer der Geschlechterrollen ›Frau‹ oder ›Mann‹ verstanden) den biologisch-medizinischen Machbarkeitsvorstellungen hinzu. In diesem Sinne steht die Untersuchung der Genese des – noch immer nicht überwundenen – Behandlungsprogrammes zu ›Intersexualität‹ aus und möchte ich Studien zur Entwicklung der Theorien und Techniken und zu den Biografien der Forschenden und den von ihnen untersuchten und behandelten Menschen mit Schwerpunkt Nazi-Zeit anregen.

I nternationalität Internationaler Austausch bietet für das politische Streiten von Menschen den Vorteil, auch im jeweils eigenen Land stärkeren Druck auf bauen zu können. Internationale Öffentlichkeit kann dazu führen, dass im Land selbst konkrete Maßnahmen ergriffen werden, um problematische Entwicklungen zu beenden. Durch internationalen Druck sah sich letztlich auch die deutsche Bundesregierung dazu genötigt, sich mit Intergeschlechtlichkeit/›Intersexualität‹ zu befassen und auf die Proteste von Inters*-Selbstorganisationen einzugehen, wenn auch die zentralen Forderungen der Inters* bis heute nicht erfüllt werden. Internationalität ist auch wichtig, weil aktuelle Herrschaftsverhältnisse in direktem Zusammenhang mit der Aufrechterhaltung nationaler Grenzen stehen – mit ihnen werden Ein- und Ausschlüsse in ›Nation‹ geregelt und verbinden sich rassistische Politiken im Inneren. Internationalität bietet somit eine Grundlage dafür, Herrschaftsverhältnissen – neben der rassistischen Unterscheidung von Menschen und ihrer Einteilung nach Klassen gehört auch die (Zwei-)Geschlechterordnung dazu – grundlegend zu begegnen. Gleichzeitig macht es Internationalität im Streiten möglich, auf eigenen Rassismus hingewiesen zu werden oder ihn zu erkennen und daran zu arbeiten, ihn zu

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überwinden. Und es kann auf diese Weise möglich werden, dass westliches Einfordern von Menschenrechten, wie es gern insbesondere in Richtung des globalen Südens betrieben wird, als – vielfach rassistisch motiviertes – Manöver zur eigenen Selbsterhöhung erkennbar wird. Schon der Kolonialismus der deutschen Kaiserzeit wurde als ›Zivilisierungsmission‹ in Richtung des globalen Südens betrieben – Schwarze8 Frauen sollten vor den Schwarzen Männern ›gerettet‹ werden, von weißen Frauen und Männern (vgl. Mamozai 1989; Ayim/Opitz 1997). Hingegen stellten die weißen Frauen und Männer das Wilhelminische Deutschland als emanzipatorisches, ›zivilisiertes‹ Projekt dar. Heute sind Frauen- und Minderheitenrechte (insbesondere Homosexuellenrechte) zum zentralen Bestandteil westlicher, auch deutscher Kriegsstrategie geworden (vgl. Puar 2008; Haritaworn/Tauqir/Erdem 2011; Hunt 2006). In diesem Spannungsfeld sind auch Projekte zu Intergeschlechtlichkeit/ ›Intersexualität‹ zu verorten. Forschende und Aktivist_innen aus dem Westen (synonym: aus dem globalen Norden) – aus der Bundesrepublik, aus der Europäischen Union – müssen stets die koloniale Vergangenheit des ›eigenen‹ Landes im Blick haben. Sogar wenn sie selbst ökonomisch prekarisiert sein sollten, sind sie (wie ich) Nutznießer_innen einer kolonialen und rassistischen Ordnung, die mit der bürgerlichen, der kapitalistischen gesellschaftlichen Entwicklung seit dem 16. Jahrhundert ausgehend von Europa durchgesetzt wurde. Für das Handeln bedeutet das konkret, dass Personen aus dem Westen sich in erster Linie zurückhalten müssen. Es geht nicht an, die eigene Position zentral zu setzen und Menschen aus dem globalen Süden die Welt erklären zu wollen. Vielmehr ist es wichtig, zuzuhören und Perspektiven aufzunehmen – und diese zu unterstützen. In emanzipatorischen Kämpfen gilt es ebenso, dass nicht etwa Personen aus dem Westen ihre Sicht der Dinge andernorts implantieren, sondern, dass die im jeweiligen Land streitenden Personen die zentralen und entscheidenden Akteur_innen sind. In konkreten politischen Kämpfen sind schließlich sie Gefahren ausgesetzt – aus diesem Grund sollten sie angeben, was sie konkret an Beistand haben möchten. Personen aus dem Westen müssen wiederum stets im Blick haben, ob nicht ihre Unterstützung nur der eigenen Selbsterhöhung dient und etwa durch mediale Berichterstat8  |  ›Schwarz‹ wird konventionsgemäß groß geschrieben, um deutlich zu machen, dass es um die marginalisierte Position in Gesellschaft geht und nicht um ein essenzialistisches ›Wesensmerkmal‹. Noah Sow begründet das in ihrem Buch »Deutschland Schwarz Weiß« – das sehr zu empfehlen ist – knapp: »Schwarz zu sein ist nichts, was man wirklich ist, sondern steht eher für gemeinsame Erfahrungen, die man in der Gesellschaft gemacht hat. Weiße können daher nicht bestimmen, wer Schwarz ist und wer nicht. […] Schwarz heißt nicht gleich Migrant oder andersherum. Dass es auch nicht um ›Fremdsein‹ geht, wird dadurch deutlich, dass Schwarze Deutsche von diesen Diskriminierungen ebenso betroffen sind.« (Sow 2009: 26, 29)

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tung Rassismus schürt. Es gilt also, an die Schriften von Gayatri Chakravorty Spivak anzuschließen.9 Bzgl. Intergeschlechtlichkeit/›Intersexualität‹ (ebenso gilt das für ›Homosexualität‹, das Streiten von Lesben und Schwulen) kommt ein bedeutsamer Punkt hinzu. Auch wenn heute im Westen emanzipatorischere Begriffe wie ›Inters*‹ und ›Intergeschlechtlichkeit‹ entwickelt werden, so liegt auch diesen Wörtern und dem emanzipatorischen Streiten die medizinische Klassifikation zugrunde, die erst in der europäischen Moderne stattgefunden hat. Menschen wurden als ›Hermaphroditen‹, später als ›Intersexuelle‹ bezeichnet und als ›Abweichung‹ von einem Normalfall, als ›Störung‹ angesehen. Gesellschaftlich – und insbesondere durch Biologie und Medizin – wurde aber nicht nur ihre Abscheidung von der ›Norm‹ betrieben, sondern wurden technische und therapeutische Maßnahmen ersonnen, um diese Menschen der Norm anzupassen und zu verhindern, dass es solche Menschen gibt. Auf der Verfolgung, der medizinischen Klassifizierung und Gewalt gründen aber auch die Proteste gegen die gesellschaftliche Behandlung und schließlich auch wesentliche Bestandteile eigener Identitätsbildung von ›Inters*‹. Diese historische Einordnung mit Blick auf die europäische Moderne verdeutlicht, dass die Problematisierung einiger der vielfältigen geschlechtlichen Merkmalsausprägungen, dass Verfolgung und medizinische Gewalt keineswegs universell, sondern einem konkreten zeitlichen und geografischen Kontext zuzuordnen sind. In anderen Regionen nutzt man die medizinische Diagnose ›Intersexualität‹ oft nicht und legt sie nicht der geschlechtlichen Einordnung der Menschen zugrunde. Für das konkrete Handeln aus dem Westen bedeutet das: Es kann sehr problematisch sein, auf Biegen und Brechen ›Inters*‹ in aller Welt finden und befragen zu wollen, weil man notwendig die westliche medizinische Diagnosepraxis zentral setzt, sie überträgt und ihr damit mehr Menschen aussetzt und sie sogar befestigt. Auf diese Weise betreibt man Kolonialismus (man setzt die westliche Definition und Praxis zentral) und bestärkt das medizinische Klassifikations- und Behandlungssystem zu ›Intersexualität‹, indem es in seiner weltweiten Verbreitung unterstützt wird. Um aus einer westlichen, aus einer weißen mehrheitsdeutschen Position diese Fehler nicht zu machen, ist es sowohl für Akademiker_innen als auch für Aktivist_innen unumgänglich, intersektionale Perspektiven zu verstehen und nachzuvollziehen, dass und wo gerade in eigenen Selbstverständlichkeiten koloniale, rassistische, antisemitische und zweigeschlechtlich-sexistische Vorannahmen stecken, und daran zu arbeiten, diese zu verlieren. Für dieses Arbeiten – insbesondere an sich selbst – liegen mittlerweile zahlreiche hilfreiche politische und wissenschaftliche Publikationen vor u.a. aus der Schwarzen Frauenbewegung und von Queers of Color – Ausgangspunkte für die Lektüre 9  |  Vgl. sehr gut einführend: Castro Varela/Dhawan 2005: insb. 55-81.

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können sein: Mamozai 1989; Oguntoye/Ayim/Opitz/Schultz 1997; Haritaworn 2005; Yılmaz-Günay 2014.10 Ohne diese Grundlage wird aus westlicher weißer Position in Zukunft keine ernst zunehmende wissenschaftliche Forschung und kein emanzipatorisch-aktivistisches Handeln mehr möglich sein – auch auf Konferenzen, in Studien und Publikationen muss sich das spiegeln. Sie dürfen nicht weiterhin der weißen Selbstunterhaltung dienen, sondern es müssen Perspektiven of Color zentral sein. Eine erste, in Deutschland initiierte, emanzipatorisch gemeinte internationale (Vor-)Studie zu Intergeschlechtlichkeit – »Menschen zwischen den Geschlechtern« (Ghattas 2013) – ist genau aufgrund der oben genannten Aspekte scharf zu kritisieren, weil sie gerade die eigene weiße und westliche Position, das medizinische Behandlungssystem und den westlichen ›Identitätszwang‹/ ›Bekenntniszwang‹ zentral setzt,11 weltweit exportiert (dabei sogar das aktuelle westliche Zweigeschlechtersystem als universell weltweit gültig ausstellt und lediglich legalistische Lösungsansätze als möglich aufführt)12 und die Situation in ›anderen Ländern‹ als besonders schlimm darstellt (und somit auch der Selbsterhöhung einer deutschen Position als ›emanzipatorisch‹ zuarbeitet)13.

10  |  Weitere Literaturempfehlungen auch in: Wolter/Voß 2013. 11 | »Inter*Menschen sind weltweit gesellschaftlich kaum sichtbar, denn Intergeschlechtlichkeit ist nach wie vor stark tabuisiert. Aus Angst vor Stigmatisierung und sozialer Ausgrenzung bekennen sich viele Inter* nicht öffentlich zu ihrer Geschlechtlichkeit.« (Ghattas 2013: 7) 12 | Vgl. bereits den Titel der Vorstudie, der nahelegt, zwei Geschlechter zentral anzunehmen; zudem etwa die folgende Passage: »Weitere Problemfelder bestehen in der rechtlichen Situation intergeschlechtlicher Menschen, deren Geschlecht aufgrund der weltweit dominanten Zweigeschlechtlichkeit juristisch wie verwaltungstechnisch nicht vorkommt.« (Ghattas 2013: 10) 13  |  Vgl. bspw. die folgenden Ausführungen: »Ist sie [die Intergeschlechtlichkeit] in seltenen Fällen bekannt, sind sie nicht nur verbaler und struktureller Diskriminierung ausgesetzt. Sie erfahren auch physische Gewalt und lebensbedrohliche Situationen. In Uganda z.B. sind intergeschlechtliche Säuglinge stark gefährdet, da der Mutter bei Entdeckung der Intergeschlechtlichkeit der Ausschluss aus der Gemeinschaft droht. Es gibt starke Hinweise darauf, dass Mütter ihre intergeschlechtlichen Babys töten, damit sie nicht verstoßen werden.« (Ghattas 2013: 7) »Es gibt in Deutschland Proteste gegen medizinische Eingriffe an intergeschlechtlichen Menschen […] und mittlerweile auch eine vergleichsweise große Resonanz in den Medien. Insbesondere seit der 2012 veröffentlichten Stellungnahme des Deutschen Ethikrats […] wächst das Interesse an und das Wissen um die Existenz von Intergeschlechtlichkeit auch in der Öffentlichkeit […]. Diese Situation der vergleichsweise großen Sichtbarkeit von Inter* ist im Augenblick in Europa (und sehr wahrscheinlich auch weltweit) einzigartig.« (Ebd.: 35f.)

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Z entr ale E inbe ziehung der E xpertise von S elbstorganisationen In den vorangegangenen Abschnitten ist bereits deutlich geworden, was Selbstorganisationen an wissenschaftlichen Fragen aufgeworfen haben – Untersuchungen jenseits der medizinischen Klassifikation gehen auf Inters*Selbstorganisationen zurück, ebenso die Anregung, die Nazi-Zeit auch bzgl. Intergeschlechtlichkeit gründlich in den Blick zu nehmen. Die aktuellen queeren und intersektionalen Forschungen wurden von People of Color initiiert. In der Verbindung von Aktivismus sowie theoretischen und politischen Schriften entstehen in den Selbstorganisationen innovative und theoretisch tief greifende Ansätze, die erst später an deutschen Hochschulen zur Kenntnis genommen werden. Von den wissenschaftlichen Einrichtungen wird dann allerdings der aktivistische und politische Ursprung oft nicht zitiert – selbst wenn die Personen, auf die sie zurückgehen, die anerkannten akademischen Grade haben –, sondern die Erkenntnisse werden nun von den (weißen, mehrheitsdeutschen) Akademiker_innen als ›neu‹ und ›selbst gemacht‹ ausgegeben. Auch in den Literaturverzeichnissen finden sich oft ausschließlich Einträge zu Publikationen universitären Ursprungs, verfasst von Menschen der Mehrheitsgesellschaft. Menschen, die selbst etwa von Rassismus und/oder medizinischer Gewalt betroffen sind, gelten den mehrheitsdeutschen Akademiker_innen als ›subjektiv‹, ›voreingenommen‹ und für die Wissenschaft nicht respektabel. Damit bleiben Letztere an den Hochschulen und auf wissenschaftlichen Konferenzen unter sich – einträgliche Positionen und Konferenz-Honorare werden unter den Privilegierten verteilt, während die konkret ›Betroffenen‹ einmal mehr ausgeschlossen werden.14 Diejenigen, die schließlich an den Hochschulen Wissenschaft betreiben dürfen, sind im Umkehrschluss als (eher) ›objektiv‹ gelabelt – dass sie ebenso in die Herrschaftsmechanismen eingebunden sind, nur eben auf der Seite der Privilegierten, wird in ihren Schriften in aller Regel nicht reflektiert. Die deutsche Frauenbewegung und die ›deutsche Schwulenbewegung‹ wurden intensiv seit den 1980er Jahren von Frauen of Color für ihren weißen Grundkonsens sowie rassistische und antisemitische Politiken kritisiert (vgl. u.a. Oguntoye/Ayim/Opitz/Schultz 1997; Hügel et al. 1993; Arbeitsgruppe Frauenkongreß 1985; Sozialwissenschaftliche Forschung und Praxis für Frauen e.V. 1990). Inters*-Selbstorganisationen haben indes die ehrliche Unterstützung ihrer Forderungen auch aus LGBT- und feministischen Kontexten eingefordert (vgl. u.a. Zwischengeschlecht 2007; Zwischengeschlecht 2010). 14  |  Kilomba (2009) gibt einen Überblick, wie an Hochschulen bestimmtes Wissen hergestellt, für ›objektiv‹ erklärt und anderes Wissen ausgeschlossen wird; vgl. auch Reiter 2000.

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Wenn auch bislang an den deutschen Hochschulen nur randständig, haben die weißen Bewegungen von Frauen/Lesben und Schwulen dort eine gewisse Verankerung und Disziplinierung erfahren – etwa bzgl. der Gender-Studies mit Lehrstühlen, Instituten, Fachgesellschaften und Journalen.15 Mit der Institutionalisierung ging einher, dass einerseits eine Abgrenzung der wissenschaftlichen Arbeiten (und teilweise Institute) zu den Bewegungen erfolgte, um als wissenschaftliche Disziplin an den Hochschulen anerkannt zu werden und andererseits zusehends ein Grundkonsens festgeschrieben wurde. Wissenschaft funktioniert (bislang) wesentlich über einen solchen Konsens, der sich z.B. an den in der Disziplin geteilten Überzeugungen und dem Fachvokabular zeigt, da auf diese Weise ›effizientes Arbeiten‹ auf Konferenzen, in Fachpublikationen etc. möglich wird. Damit einhergeht eine Abgrenzung gegenüber zentralen Orten der Wissensproduktion: den Bewegungen und den Selbstorganisationen.16 Ebenso werden die gesellschaftlichen Herrschaftsmechanismen – Rassismus, Klassenunterdrückung, Zweigeschlechternorm – in der Wissenserzeugung, bei der Stellenvergabe etc. vielfach reproduziert. Kritik kann so nicht durchdringen, weil sie von außerhalb des Hochschulbetriebs kommt. Bislang sind in der Bundesrepublik Deutschland keine ausreichenden Initiativen aus dem Wissenschaftsbetrieb heraus im Gang, diesen Wissensverlust und diesen Mangel, Herrschaftsverhältnisse ausreichend problematisieren zu können, auszugleichen. Stattdessen redet man sich das selbst generierte Wissen als ›objektiv‹ schön – und betreibt Ausschlüsse weiter (vgl. kritisch u.a. Kilomba 2009; Wolter 2013). Der 1. LSBTI*-Wissenschaftskongress der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld war von solchen Ausschlüssen gekennzeichnet. Es handelte sich um eine fast ausschließlich von Mehrheitsdeutschen gestaltete und besuchte Konferenz. In mehreren der Seminare/Workshops wurde dies von Konferenzteilnehmenden als Mangel angesprochen (oft taten dies Personen of Color), da auf diese Weise Perspektiven of Color nicht ausreichend einbezogen werden können. Es ist dafür zu streiten, dass bei einer möglicherweise stattfindenden Fortsetzung dieser Veranstaltung das Wissen von People of Color und von Selbstorganisationen zentral ist – sie also bei der inhaltlichen Konzeption der Veranstaltung die entscheidende – und vergütete – Position einnehmen.

15 | Einschränkend ist anzumerken, dass es bis heute im deutschsprachigen Raum keine Gay and Lesbian Studies gibt. 16 | Vgl. für wichtige Anregungen in Bezug auf Institutionalisierung den von Barbara Rendtorff und Birgit Riegraf bei der 4. Jahrestagung der Fachgesellschaft Gender (14./15.02.2014) gehaltenen Vortrag, der publiziert erscheinen wird. Diese Konferenz war ein Zusammentreffen nahezu ausschließlich weißer Personen.

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Verqueres Recht — von den Schwierigkeiten, Inter* gerecht zu werden Konstanze Plett

Von den rechtspolitischen Forderungen in Bezug auf die Realisierung der Menschenrechte intersexuell Geborener hat der Bundesgesetzgeber Anfang 2013 eine einzige herausgegriffen: Ab 1. November 2013 werden Geburten ohne Geschlechtseintrag registriert, sofern »das Kind weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zugeordnet« werden kann. Diese punktuelle Regelung wirft mehr Fragen auf, als sie Probleme im Umgang mit Inter*1 löst. Die von den Inter*-Verbänden als wichtiger angesehene Forderung, eine Regelung zu schaffen, die irreversible kosmetische medizinische Eingriffe an Inter*-Kindern ohne deren Einwilligung untersagt, wurde rechtspolitisch noch nicht bearbeitet. Allerdings gibt es – in anderem Kontext – gesetzliche Regelungen zu Eingriffen an den Genitalien Minderjähriger. In diesem Beitrag werden einige Wechselwirkungen zwischen alten und neuen personenstands‑, familien- und strafrechtlichen Rechtsvorschriften aufgezeigt und in ihrer Wirkung auf Inter* dargestellt.

1. A usgangspunk t Selten ist über die Einführung einer so kleinen neuen Vorschrift im deutschen Recht so weltweit berichtet worden2 wie über die Ergänzung des Personen1 | »Inter*« steht für Intersex, Intersexualität, Intersexuelle, Zwischengeschlecht, zwischengeschlechtlich u.ä.; es handelt sich hier bei um eine Schreibweise, die in den letzten Jahren immer häufiger verwendet wird, um möglichst wenig zu diskriminieren. Es handelt sich hierbei um eine Analogie zu Trans*, der Abkürzung, die als Sammelbezeichnung für Transsexualität, Transgender u.ä. sich eingebürgert hat. 2  |  So z.B. The Guardian (www.theguardian.com/commentisfree/2013/nov/10/germany-third-gender-birth-certificate), TIME (http://world.time.com/2013/11/12/boy-girlor-intersex/), BBC (www.bbc.co.uk/news/world-europe-24767225), ABC News (http://

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standsgesetzes, die am 1. November 2013 in Kraft getreten ist. Es handelt sich um Paragraf 22 Absatz 3 Personenstandsgesetz (PStG)3 – im Wortlaut: »Kann das Kind weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zugeordnet werden, so ist der Personenstandsfall ohne eine solche Angabe in das Geburtenregister einzutragen.« Diese Vorschrift hatte der Deutsche Bundestag bereits am 31. Januar 2013 – einstimmig – beschlossen (vgl. Deutscher Bundestag 2013b: 27233). So hätte man annehmen können, zehn Monate seien hinreichend gewesen, die entsprechenden Verwaltungsvorschriften anzupassen und zeitgleich in Kraft treten zu lassen. Die auf dem neuen Webportal »www.personenstandsrecht.de« des Bundesministers des Innern lange Zeit angekündigte »Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur Änderung der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Personenstandsgesetz – PStG-VwV (PStG-VwV-ÄndVwV)« hat die Bundesregierung aber erst am 30. Januar 2014 dem Bundesrat zugeleitet. Der Bundesrat hat am 14. März 2014 zugestimmt, aber mit mehreren Änderungen und unter Hinzufügung einer Entschließung, mit der die Bundesregierung aufgefordert wird, die Regelungen des PStG unter Berücksichtigung der Stellungnahme des Deutschen Ethikrats (2012) zu überprüfen.4 In Kraft ist die geänderte PStG-VwV aber immer noch nicht (Stand: 21. Mai 2014).5 Aktuell heißt es in 21.4.3 PStG-VwV (gültig seit dem 1. August 2010): »Das Geschlecht des Kindes ist mit ›weiblich‹ oder ›männlich‹ einzutragen.« Dem soll nun folgender Satz hinzugefügt werden: »Eine Eintragung unterbleibt, wenn das Kind weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zugeordnet werden kann. Umschreibungen wie ›ungeklärt‹ oder ›intersexuell‹ sind nicht zulässig.« Im Folgenden geht es zunächst darum, wie die neue Gesetzesvorschrift auszulegen ist.

abcnews.go.com/Health/german-law-parents-intersex-kids-pick-gender-undetermined/story?id=20752191) – um nur einige zu nennen; alle Seiten zuletzt aufgerufen am 21.05.2014. 3 | Rechtsvorschriften werden im folgenden Text mit der amtlichen oder üblichen Abkürzung zitiert; vollständige Bezeichnung mit Weblink im Anhang. 4 | Sämtliche Dokumente (Entwurf der Bundesregierung, Änderungsanträge und beschlossene Änderungen im Verfahren des Bundesrats, Entschließungsanträge, Beschluss des Bundesrats) sind abrufbar von der Seite www.bundesrat.de/SharedDocs/beratungsvorgaenge/2014/0001-0100/0029-14.html, zuletzt aufgerufen am 21.05.2014. 5 | Von der Seite www.personenstandsrecht.de/PERS/DE/Themen/Rechtsbereiche/ Personenstandsrecht/personenstandsrecht_node.html (zuletzt aufgerufen am 21.5. 2014) ist nur die PStG-VwV von 2010 abrufbar; die Ankündigung der Änderungen ist nicht mehr verfügbar.

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2. Z ur U mse t zung von Par agr af   22 A bsat z   3 P ersonenstandsgese t z Rechtsnormen enthalten einen sogenannten Tatbestand, der die Voraussetzungen normiert, unter denen eine sogenannte Rechtsfolge eintritt. Die Rechtsfolge ist im Fall des Paragrafen  22 Absatz  3 PStG so gefasst, dass den Standesbeamt_innen kein Ermessen (Wertungsspielraum) gegeben ist; es heißt klar und deutlich: »… ist … einzutragen«. Weit weniger eindeutig jedoch ist, wie das Vorliegen der Voraussetzungen für diese eindeutige Anweisung an die Standesämter festgestellt wird.

2.1 Eintragung nach der Geburt Der Tatbestand »Kann das Kind weder … noch … zugeordnet werden« ist passivisch formuliert; damit ist nicht auf den ersten Blick erkennbar, wer hier das handelnde Subjekt sein soll, also wer die Zuordnung des Kindes zu einem der beiden – nach wie vor rechtlich allein akzeptierten – Geschlechter vorzunehmen hat oder vornehmen kann oder die Unmöglichkeit der Nichtzuordnung feststellt. Infrage kommen die Personen, die dem Standesamt die Geburt anzeigen müssen. Das ist zunächst jeder Elternteil, soweit er sorgeberechtigt ist (§ 19 S. 1 Nr. 1 PStG6); diese Anzeige hat mündlich zu erfolgen (§ 18 S. 1 Nr. 1 PStG) und es wird darüber eine Niederschrift aufgenommen (§ 6 Abs. 1 PStV). Hat die Geburt in einer Einrichtung (Klinik, Geburtshaus etc.) stattgefunden, ist diese Einrichtung zu einer schriftlichen Geburtsanzeige verpflichtet (§  20 i.V.m. § 18 S. 1 Nr. 2 PStG). Da seit Jahren über 98 Prozent aller Kinder in Kliniken geboren werden (QUAG undatiert)7, werden fast alle Geburten schriftlich angezeigt. Die Kernangaben dessen, was angezeigt werden muss (vgl. Deutscher Bundestag 2006: 46), sind seit Jahrzehnten dieselben (früher in etwas anderer Reihenfolge): »1.  die Vornamen und der Geburtsname des Kindes, 2.  Ort sowie Tag, Stunde und Minute der Geburt, 3. das Geschlecht des Kindes, 4. die Vornamen und die Familiennamen der Eltern […]«. Zu Angaben, die Geburtseinrichtungen aus eigenem Wissen nicht machen können, z.B. zu den Vornamen des Kindes, sind die Sorgeberechtigten verpflichet; zur Anzeige neben der Ein6 | Die Anzeigepflicht anderer Personen, die bei der Geburt dabei waren oder davon wissen (§ 19 S. 1 Nr. 2 PStG), besteht nur, wenn die Sorgeberechtigten an der Anzeige gehindert sind (§ 19 S. 2 PStG). 7  |  Wenn die Versicherungsprämien für Hebammen weiterhin so steigen wie in den letzten Jahren, wird sich diese Zahl demnächst vermutlich auf 100 % erhöhen; vgl. www. tagesschau.de/inland/hebammen126.html bzw. www.hebammenfuerdeutschland.de/ hintergrundwissen, zuletzt aufgerufen am 06.04.2014.

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richtung sind sie nicht verpflichtet, aber berechtigt (§ 20 Satz 3 PStG). Über das Geschlecht des Kindes können beide Auskunft geben. Was nun, wenn die Angaben sich widersprechen? Zwar gilt hier das Prioritätsprinzip (Nr. 20.1 PStGVwV), aber es gibt eine Vorschrift darüber, welche schriftlichen Unterlagen bei der Geburtsanzeige beizubringen sind (§ 33 PStV). Darin heißt es, dass bei mündlichen Anzeigen – also wenn Eltern die Geburt angezeigt haben – dem Standesamt »eine von einer Ärztin oder einem Arzt oder einer Hebamme oder einem Entbindungspfleger ausgestellte Bescheinigung über die Geburt [vorzulegen ist], soweit sie bei der Geburt zugegen waren« (§ 33 S. 1 Nr. 4 PStV). Im Zusammenwirken mit einer früher geltenden Verwaltungsvorschrift, dass bei Zweifeln über das Geschlecht eine genau so beschriebene Bescheinigung maßgeblich sein sollte (§ 266 Abs. 5 i.V.m. § 259 Abs. 1 DA), liegt die Annahme nicht ganz fern, dass die Geburtsbescheinigung gemäß Paragraf 33 PStV mangels anderer Regelung als verbindlich angesehen wird. Und so soll denn künftig die PStG-VwV eine Nummer 22.2 mit folgendem Wortlaut enthalten: »Aus der Geburtsanzeige muss sich ergeben, dass das Kind zum Zeitpunkt der Anzeige weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zugeordnet werden kann.«8 Die Anzeige einer Geburt mit den Kernangaben – also einschließlich der Angabe oder Nichtangabe zu Geschlecht – hat nach wie vor binnen einer Woche zu erfolgen (§ 18 Satz 1 PStG).

2.2 Nachträgliche Eintragung von Geschlecht Wenn nun eine Geburt ohne Geschlechtseintrag beurkundet worden ist, können dann »mit ohne Geschlecht« registrierte Kinder sich später für eines der beiden »klassischen« Geschlechter entscheiden und dies im Geburtenregister eintragen lassen? Von der Politik ist das so gewollt (vgl. Deutscher Bundestag 2013b: 27222). Deshalb ist jetzt im Gesetz vorgesehen, dass außer der »Änderung des Geschlechts des Kindes« (womit nur Änderungen aufgrund eines Gerichtsbeschlusses gemäß § 10 TSG gemeint waren; vgl. Rhein 2012: Rn. 23 zu § 27) nunmehr auch »die nachträgliche Angabe« als sogenannte Folgebeurkundung eingetragen wird (§ 27 Abs. 3 Nr. 4 PStG). Trotzdem bleibt zu fragen: Reicht eine einfache Erklärung oder bedarf es eines ärztlichen Gutachtens, dass »das Kind«9 nunmehr einem Geschlecht zugeordnet werden kann? Wer kann die Erklärung dafür abgeben: die Sorgeberechtigten oder das Kind 8 | Wortlaut gemäß dem Beschluss des Bundesrates (2014b: 5); im Entwurf der Bundesregierung hieß es (Bundesrat 2014a: 12): »Aus der Geburtsanzeige muss sich zweifelsohne ergeben, dass das Kind weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zugeordnet werden kann.« 9  |  In Anführungszeichen, weil im Hinblick auf Beurkundungen im Geburtenregister auch Erwachsene noch Kinder sind.

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selbst? Im letzteren Fall, wenn es noch minderjährig ist: nur mit oder auch ohne Zustimmung der Sorgeberechtigten? Klar scheint allein zu sein, dass keine Pflicht besteht, sich im späteren Leben für eines der Geschlechter zu entscheiden (vgl. Sieberichs 2013: 1184; Theilen 2014: 5). Die Erläuterung zu Paragraf 27 Absatz 3 Nummer 4 PStG, wie sie dem Bundesrat zur Beschlussfassung vorliegt, schließt aber eine einfache Erklärung gegenüber dem Standesamt aus; die PStG-VwV-ÄndV sieht eine neue Nummer  27.8.1 mit folgendem Wortlaut vor: »Wird im Falle einer Beurkundung der Geburt ohne Angabe des Geschlechts des Kindes durch eine ärztliche Bescheinigung nachgewiesen, dass das Kind nunmehr einem Geschlecht zugeordnet werden kann, so ist eine Folgebeurkundung einzutragen.« Eine Selbstzuordnung soll also ausgeschlossen bleiben. Ob – wie bei fehlenden Vornamen – auch Kliniken die nachträgliche Anzeige machen können (vgl. Nr. 22 PStG-VwV derzeitige Fassung, künftig Nr.  22.1), bleibt unklar. Solange das Kind minderjährig ist, können die Eltern im Rahmen ihrer elterlichen Sorge den Antrag stellen. Auch wenn es sich bei der Folgebeurkundung nicht um eine Berichtigung im rechtstechnischen Sinne handelt – weil der ursprüngliche Eintrag nicht falsch war (vgl. Theilen 2014: 5) –, müsste das Kind meines Erachtens trotzdem in analoger Anwendung von Paragraf 47 Absatz 3 PStG als Verfahrensbeteiligte_r gehört werden – sofern es denn schon äußerungsfähig ist.

2.3 Aufhebung des Geschlechtseintrags Das Geschlecht ist zu berichtigen, wenn es ursprünglich schriftlich angezeigt wurde und dem Standesamt »berichtigende Mitteilungen oder Anzeigen« zugehen (§ 47 Abs. 2 Nr. 1 PStG). In diesem Fall sind nicht nur die Eltern und das Kind berechtigt, Mitteilung zu machen bzw. einen entsprechenden Antrag zu stellen, sondern auch die Klinik, von der die ursprüngliche Geburtsanzeige stammt. Lehnt das Standesamt ein Tätigwerden ab oder hält es das selbst für erforderlich, ist eine gerichtliche Entscheidung herbeizuführen (§  49 PStG); bei dem Verfahren handelt es sich um ein solches der sogenannten freiwilligen Gerichtsbarkeit nach dem FamFG (§ 51 Abs. 1 PStG), das vor dem Familiengericht stattfindet. Im Gerichtsverfahren sind alle Antragsberechtigten zugleich Beteiligte, die vor der Änderung der Eintragung zu hören sind und dem Verfahren auch beitreten können (§ 51 Abs. 2 PStG). Kinder ab einem Alter von 14 Jahren haben sogar ein eigenständiges Beschwerderecht (§ 60 FamFG), d.h. sie können unabhängig vom Willen ihrer Eltern die nächsthöhere Instanz anrufen. Eine Änderung von »männlich« in »weiblich« oder umgekehrt war schon immer möglich, aber nur dann, wenn das eingetragene Geschlecht sich als »falsch« und das »andere« Geschlecht als das »wirkliche« oder »wahre« Ge-

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schlecht herausgestellt hatte (vgl. Bundesverfassungsgericht 1978: 301f.). Im Zusammenhang mit der neuen Regelung stellt sich nunmehr die Frage, ob der Eintrag »weiblich« oder »männlich« im Wege der Berichtigung gestrichen werden kann. Für ab dem 1. November 2013 Geborene leitet Sieberichs (2013: 1184) direkt aus dem Gesetz ab, dass es möglich sein muss, »den Status ›unbestimmtes Geschlechts‹ [zu] erreichen«, wenn sich im Nachhinein herausstellt, dass diese Eintragung falsch war. Allerdings äußert er sich nicht dazu, ob das auch für vor dem 1. November 2013 Geborene gilt. Da nach der früheren Rechtspraxis nur »männlich« oder »weiblich« eingetragen wurde,10 sind mindestens alle intersexuell geborenen Erwachsenen und größeren Kinder11 mit einem Registergeschlecht versehen, das ihrer körperlichen Konstitution zum Zeitpunkt der Geburt widerspricht – und auf diesen Zeitpunkt soll ja abgestellt werden (Nr. 21 PStG-VwV). Die Voraussetzung für Berichtigungen, dass der aktuelle Eintrag falsch ist, trifft für ältere intersexuell Geborene also faktisch zu, aber unter Zugrundelegung der seinerzeitigen Rechtslage war der Eintrag rechtens. Deshalb nochmals die Frage: Können jetzt erwachsene intersexuell Geborene den Geschlechtseintrag im Geburtenregister streichen lassen? Dafür spricht, dass eine andere mit demselben Gesetz eingeführte Vorschrift, zu der es ebenfalls keine Übergangsregelung gibt, auch rückwirkend gelten soll. Hierbei handelt es sich um die sogenannte Sternenkinderregelung (§ 31 Abs. 3 Anlage 13 PStV), der zufolge über Fehlgeburten eine geburtsurkundenähnliche Bescheinigung ausgestellt werden kann. Dies soll ohne zeitliche Beschränkung auch für vor dem 1. November 2013 erlittene Fehlgeburten möglich sein (vgl. Deutscher Bundestag 2013b: 27218; bestätigt durch die in der PStG-VwV-ÄndVwV formulierte neue Nr. 18.2.2). Da »Altfälle« nicht explizit ausgeschlossen sind, muss meines Erachtens auch Paragraf 22 Absatz 3 PStG rückwirkend anwendbar sein. Dagegen könnte höchstens sprechen, dass zum Zeitpunkt der Geburt, auf den gemäß Nr. 21.1 PStG-VwV abzustellen ist, der Eintrag für intersexuell Geborene zwar, wie bereits ausgeführt, nicht richtig, aber rechtens war. Im Übrigen könnte bei ganz sorgfältiger Lektüre des Paragrafen  22 Absatz  3 PStG sogar angenommen werden, dass mit dieser Vorschrift der Weg für die Abschaffung der Geschlechtsregistrierung gleich nach der Geburt frei geworden ist – denn wer kann schon sagen, welches individuelle Geschlecht 10  |  Verbindlich aufgrund Nr. 21.4.3 PStG-VwW war dies eigentlich erst ab 01.08.2010. Davor hätte durchaus auch etwas anderes eingetragen werden können (vgl. Plett 2007: 168f.), ist aber nicht geschehen (vgl. Landgericht München I 2003). 11 | Es mag sein, dass bei einigen nach dem Gesetzesbeschluss zur Einführung von § 22 Absatz 3 PStG, aber vor dem Inkrafttreten am 01.11.2013 geborenen Kindern die Beurkundung im Geburtenregister gemäß § 7 PStV aufgeschoben wurde.

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sich selbst bei scheinbar »eindeutigen« Körpermerkmalen entwickeln wird? Allerdings kann ich mir nicht vorstellen, dass die Standesämter diese Rechtsauffassung teilen würden, falls Eltern eines nach allen bei Geburt verfügbaren Kriterien geschlechtlich eindeutigen Kindes auf dem Unterlassen des Geschlechtseintrags insistieren – und damit dem Kind, falls es tatsächlich eine Trans*-Identität entwickelt, ermöglichen würden, später ein Geschlecht nach Paragraf 27 PStG eintragen zu lassen, ohne den Weg über das TSG gehen zu müssen.

2.4 Ver waltungshandhabung des Geschlechtseintrags Weitere Fragen im Zusammenhang mit der neuen Vorschrift betreffen andere staatliche Verwaltungen und wie diese mit der Nichteintragung von Geschlecht im Geburtenregister umgehen. Denn die Standesämter sind verpflichtet, verschiedene Behörden zu informieren, in erster Linie die Meldebehörden (§ 57 PStV), die ihrerseits weitere Behörden regelmäßig oder auf Nachfrage informieren müssen (§§ 17ff. MRRG). Nicht alle Behörden werden auch über das Geschlecht der Personen informiert, doch zu denen, die Datensätze einschließlich Geschlechtsangabe erhalten, gehören nach z.B. Bremer Landesrecht die Passbehörde, die Schulverwaltung, das Jugendamt, das Statistische Landesamt (§§ 8, 10, 12, 15 BrMeldDÜV; die anderen Bundesländer haben vergleichbare Regelungen). Von den zu informierenden Behörden auf Bundesebene interessant ist die Datenstelle der Träger der Rentenversicherung, die die Rentenversicherungsnummer vergibt. Diese Nummer (vgl. § 147 SGB VI i.V.m. § 2 VKVV) lässt nämlich das Geschlecht erkennen, ohne Spielraum für etwas anderes als männlich oder weiblich. Sieberichs (2013: 1184) plädiert deshalb für die Abschaffung der Geschlechtsbezogenheit in dieser Nummer; dem ist nur zuzustimmen. Dass es auch anders geht, zeigt z.B. die Steueridentifikationsnummer (§ 139b AO). Auch hier stellt sich die Frage, warum die tangierten Bundesgesetze und ‑verordnungen nicht bereits angepasst wurden. Ich vermute, es hängt mit den nicht ganz trivialen, sich im Hintergrund abspielenden Datenverwaltungsprogrammen zusammen.

3. D igitalisierte V erwaltung von G eschlecht Wie funktioniert nun der Datenaustausch zwischen den unterschiedlichen Behörden? Früher erfolgte alles auf Papier, inzwischen das meiste elektronisch. Für die Umstellung der Standesamtsregister gab es eine Frist von fünf Jahren, innerhalb derer Papier und elektronische Speicherung nebeneinander zulässig waren; seit dem 1. Januar 2014 sind nur noch die elektronischen Register amt-

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lich (§§ 3, 4, 75 S. 1 PStG). Spätestens seit 2003 arbeiteten mehrere Stellen an der Programmierung, die Ende 2012 abgeschlossen war (Deutschland-Online 2013) und deshalb die Änderung des Personenstandsgesetzes von 2013 noch nicht berücksichtigen konnte. Die Umstellung auf mehr Möglichkeiten bei »Geschlecht« ist dabei im Grunde genommen gar nicht so schwer – es muss nur klar sein, welche Eingaben in dieser Rubrik erlaubt sind. Und hier wird es interessant, wenn auch etwas technisch. Was bei den einzelnen Registermerkmalen eingetragen werden darf und kann, wird in den Spezifikationen zu sogenannten Standards festgelegt (vgl. Bundesverwaltungsamt undatiert). Für das Registermerkmal »Geschlecht« war schon während der Vorarbeiten außer »m« und »w« mal ein »x« (XPersonenstand Version 1.00), mal ein »u« (XPersonenstand Version 1.10) vorgesehen; die Bezeichnung war in beiden Fällen gleich, nämlich »ungeklärt«. Dies waren aber offenbar nur Testversionen. Bei den dann in der Praxis angewandten Versionen 1.20 vom 28. September 2009 bis 1.4.3 vom 13. März 2012 war jeweils nur »m« und »w« vorgesehen. Erst ab Version 1.50 vom 11. März 2013, die ab 1. November 2013 anzuwenden ist, findet sich wieder das »x«, aber nun mit dem Wert »keine Angabe«. Außer dem Standard »XPersonenstand« gibt es aber auch noch einen Standard »XPersonenstandsregister«, und dieser sieht sogar vier Möglichkeiten vor: »m« für »männlich« und »w« für »weiblich«, ferner »u« für »ungeklärt« und »[leer]« für »offen« (XPSR 1.5, Punkt 6.1.3). Im bereits seit den 1990er Jahren für die Melderegister geltenden Standard »Datensatz für das Meldewesen – Einheitlicher Bundes-/Länderteil (DSMeld)« (§ 2 Abs. 4 1. BMeldDÜV, § 1 Abs. 3 2. BMeldDÜV) waren bis zum 31. Oktober 2013 nur die Eintragungen »weiblich« oder »männlich« zulässig. Ab dem 1. November 2013 ist nun dieser Standard ergänzt worden (Bundesministerium des Innern 2013). Danach wird die Variante »kein Geschlechtseintrag« gemäß Paragraf 22 Absatz 3 PStG mit dem Code »1« dargestellt – zugleich heißt es: »Im Bereich der Datenübermittlung wird ein ›x‹ übermittelt«. Wie mögliche Rückübersetzungen von »x« in Text aussehen, muss derzeit offenbleiben.

4. B edeutung der neuen V orschrif t für medizinische E ingriffe an interse xuell geborenen K indern Mit der neuen personenstandsrechtlichen Regelung hat der Bundesgesetzgeber eine der Empfehlungen aus der Stellungnahme des Deutschen Ethikrats vom Februar 2012 (vgl. Deutscher Ethikrat 2012: 172ff.) aufgegriffen, wenn auch anders als vorgeschlagen. Zudem war eine Öffnung des Geschlechtseintrags zwar gelegentlich auch eine Forderung von Intersexuellenverbänden, aber keinesfalls vordringlich und keineswegs von allen erhoben. Als vordring-

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lich wurde und wird vielmehr ein Verbot von irreversiblen kosmetischen Genitaloperationen an Minderjährigen angesehen. Deshalb will ich nun noch der Frage nachgehen, ob die neue Regelung irgendeine Wirkung auch in diese Richtung entfalten kann. Von Medizinern und Medizinerinnen, die sich für geschlechts»zuweisende«, ‑»vereindeutigende« oder ‑»angleichende« Operationen aussprechen und/ oder sie durchführen, wird behauptet, nur damit werde dem Kind eine ungestörte psychosexuelle Entwicklung in der geschlechtlich binär strukturierten Gesellschaft ermöglicht, nur so werde es vor Stigmatisierung und Verächtlichmachung bereits in Kindergarten und Schule bewahrt (vgl. etwa in Dombrowe 2010, ab Minute 28:33). Unabhängig davon, dass mittlerweile Zeugnisse dafür vorliegen, dass Kindergartenkinder die geschlechtliche Mehrdeutigkeit von Mit-Kindern gut verarbeiten – besser als Erwachsene –, wenn sie hinreichend aufgeklärt sind (vgl. etwa Dombrowe 2010, Minute 27:00-28:33; Kriegler 2012), dürfte dieses Argument in Deutschland künftig nicht mehr tragen; bei Kindern, die kein eingetragenes Geschlecht haben, kann keine Differenz zwischen eingetragenem Geschlecht und nicht-operiertem äußerem Genitale bestehen. Allerdings ist in Anbetracht der Eile, die nach wie vor für die Anzeige beim Standesamt geboten ist (vgl. oben 2.1), die Sorge, dass der Druck auf die Eltern erhöht wird, dem Kind eine eindeutige Zuordnung zu ermöglichen (vgl. Ghattas 2013: 37; OII-Deutschland 2013; zwischengeschlecht.info 2013), nicht von der Hand zu weisen. Es muss für die Geburtsbescheinigung seitens Hebammen und Kliniken nicht positiv begutachtet werden, dass das Geschlecht des neugeborenen Kindes eindeutig männlich oder eindeutig weiblich ist. Umgekehrt soll nach der PStG-VwV-ÄndVwV in der Fassung, wie jetzt von der Bundesregierung konzipiert – und bereits mit den Innenressorts der Länder abgestimmt (vgl. Bundesrat 2014a: 1) –, die Nichtzuordnung zweifelsfrei sein; das lässt sich meines Erachtens nur so lesen: im Zweifel für weiblich oder männlich. Die Einschätzung von Grziwotz (2013), dass mit dem Inkrafttreten von Paragraf 22 Absatz 3 PStG operative Geschlechtsherstellungen unterbleiben, teile ich deshalb nicht. Letztlich ist es eine empirische Frage, wie in den ersten Tagen nach einer Geburt mit der neuen Möglichkeit umgegangen wird. Wichtig wäre, dass Eltern schon in den ersten Tagen nach der Geburt ihres Kindes Gelegenheit zu einer Peer-Beratung erhalten. In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen, dass seit spätestens Ende 2008 geschlechtsneutrale Vornamen zulässig sind (vgl. Bundesverfassungsgericht 2008) – was nach jahrzehntelanger gegenteiliger Praxis12 immer noch nicht überall bekannt zu sein scheint. Zu 12  |  Die formell bis zum 31.07.2010 geltende Dienstanweisung für die Standesbeamten und ihre Aufsichtsbehörden (DA) sah in § 262 Abs. 4 Satz 1 geschlechtsspezifische Vornamen verbindlich vor (mit der Ausnahme von Maria als Zweitvornamen für Jungen).

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einer umfassenden Beratung der Mütter bzw. Eltern würde auch diese Information gehören.

5. B eziehung zu anderen neuen R echtsnormen Schließlich sind zwei ebenfalls relativ junge Rechtsnormen zu erwähnen, bei deren Beratung Inter* keine Rolle gespielt hat, obgleich sie explizit chirurgische Eingriffe im Genitalbereich regeln. Ich meine zunächst den neuen Paragrafen  226a StGB, der seit dem 28.  September 2013 in Kraft ist. Er hat die Überschrift »Weibliche Genitalverstümmelung« und sein Tatbestand lautet: »Wer die äußeren Genitalien einer weiblichen Person verstümmelt«. Wie die Opfer-Beschreibung – »weibliche Person« – erkennen lässt, ist er nur auf Genitaleingriffe bei Mädchen/Frauen anwendbar. Vom bloßen Wortlaut her müsste Paragraf 226a StGB auch bei Klitorisresektionen an Minderjährigen mit AGS13 – sofern sie weiblich eingetragen sind – Anwendung finden. Ich habe jedoch Zweifel, ob Genitaleingriffe bei Inter*-Mädchen nach dieser Strafrechtsnorm zur Anzeige gebracht, angeklagt und zu Verurteilungen führen würden. Vermutlich würde, selbst wenn ein Gericht den objektiven Tatbestand als erfüllt ansieht, keine Verurteilung erfolgen, da ein Verbotsirrtum angenommen werden könnte; denn die Norm zielt auf ein Verbot der »Verstümmelung der Genitalien von Frauen und Mädchen insbesondere durch die traditionelle oder rituelle Beschneidung« anderer Kulturen (vgl. Deutscher Bundestag 2013a) und mindestens der_die erste Angeklagte könnte sich insoweit auf die Entstehungsgeschichte dieses Paragrafen berufen. Ein Verbotsirrtum mit der Folge eines Freispruchs für den angeklagten Arzt war auch vom Landgericht Köln (2012) im sogenannten Beschneidungsurteil angenommen worden. Das Gericht hatte aber die Tatbestandsverwirklichung der Körperverletzung festgestellt. Dies führte im Sommer 2012 zu massiven Protesten seitens derer, für die die männliche Beschneidung im Säuglings- oder Knabenalter zur festen religiösen Überzeugung gehört. Bundesregierung und Gesetzgeber reagierten mit der Einführung eines neuen Paragrafen im Bürgerlichen Gesetzbuch (§  1631d BGB). Danach ist die »Beschneidung des männlichen Kindes« mit Einwilligung der Eltern erlaubt, auch wenn sie »medizinisch nicht erforderlich« ist. Diese Vorschrift ist ebenfalls geschlechtsspezifisch formuliert, sodass sie keine stellvertretende Einwilligung Rechtlich galt diese Bestimmung schon seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (2008) nicht mehr; in der aktuellen PStG-VwV ist eine solche Regelung deshalb nicht mehr enthalten (vgl. hierzu auch Grünberger 2007). 13  |  AGS = adrenogenitales Syndrom, bei dem häufig die Klitoris vergrößert ist und deshalb schon bei Säuglingen chirurgisch verkleinert wird.

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in die Beschneidung von Kindern erlaubt, die keine Jungen sind – also Mädchen oder Kinder ohne Geschlecht. Insofern passt sie zu dem gerade erwähnten Paragrafen 226a StGB. Eigentlich müsste sie auch Klitorisbeschneidungen intersexuell Geborener entgegenstehen. Ob sie das wirklich vermag, kann aber nur die Zukunft zeigen; derzeit bin ich da eher skeptisch. Ferner sieht eine weitere, etwas ältere Vorschrift im BGB, der 1994 in Kraft getretenen Paragraf 1631c mit der Überschrift »Verbot der Sterilisation«, vordergründig so aus, als könne er gegen Gonadektomien (Keimdrüsenentfernungen) bei Minderjährigen argumentativ verwendet werden (vgl. z.B. Plett 2001). Doch ist mir kein Fall bekannt, in dem ein Gericht bereits so entschieden hätte. Die Gegenargumentation lautet, dass darunter nur Fälle zu subsumieren sind, in denen die Sterilisation Zweck des Eingriffs ist, nicht solche, in denen die Sterilisation eine Nebenfolge ist (vgl. Nachweise bei Tönsmeyer 2012: 136ff.).

6. S elbstbestimmung über das eigene G eschlecht – oder : Q uerlinien im R echt Wie die genannten Rechtsvorschriften schon ahnen lassen, gibt es nicht die eine Rechtsvorschrift, die umfassend sagt, worin das Recht auf Selbstbestimmung generell oder auch nur auf geschlechtliche Selbstbestimmung besteht. Aus den Beispielen im vorigen Abschnitt dürfte ersichtlich geworden sein, dass im Recht häufig Vorschriften verschiedener Rechtsgebiete zusammenwirken. So handelt es sich bei Beschneidung und Sterilisation um zivilrechtliche Vorschriften, die sich auf eine nach dem Strafrecht zu beurteilende Handlung auswirken. Solche Querlinien im Recht, wie ich sie schon früher genannt habe (Plett 1999), sind nicht immer leicht aufzufinden. Die Verfassung, das Grundgesetz, konstituiert nicht nur die staatliche Ordnung insgesamt, sondern auch das selbstbestimmte Rechtssubjekt (vgl. etwa Rühl 2002). Aber wie weit die dort garantierten Rechte reichen, ergibt sich nur aus einer Zusammenschau mit dem sonstigen Recht. Und gerade im vorliegenden Zusammenhang ist die Frage besonders schwer zu beantworten, weil Neugeborene mangels eigener rechtswirksamer Handlungsfähigkeit gar nicht und Kinder nur bedingt ihre Rechte selbst wahrnehmen können. Deshalb werden sie durch Sorgeberechtigte vertreten. Der Umfang der Vertretungsberechtigung ist im Familienrecht geregelt. Aber das Selbstbestimmungsrecht ist auch durch andere Vorschriften eingeschränkt, wie grundsätzlich jedes individuelle Recht in den individuellen Rechten anderer seine Grenze findet. Die Schwierigkeit besteht dann in der Grenzziehung zwischen grundsätzlich anerkannten Rechten zweier (oder mehrerer) Individuen. Das Strafrecht dient dem Schutz als schutzwürdig er-

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kannter Rechtsgüter (u.a. körperliche Unversehrtheit, Eigentum) und schränkt durch seine Verbote Freiheiten ein. Weitere Begrenzungen individueller Selbstbestimmungsrechte gibt es in Hülle und Fülle, auch im Verwaltungsrecht, zu dem u.a. das Personenstandsrecht und das Melderecht gehören. Soweit im Verwaltungsrecht keine Rechtspositionen zugeteilt, sondern ›nur‹ Verwaltungsabläufe geregelt werden, handelt es sich um sogenanntes Formalrecht. Dass sich in solchem Formalrecht dennoch Bestimmungen verstecken können, die bei Einzelnen essenzielle Wirkung entfalten, wurde an der Ausdeutung des Begriffs »Geschlecht« in der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Personenstandsgesetz deutlich (Nr. 21.4.3 PStG-VwV). Schließlich und endlich ist es auch immer eine Frage, ob Rechte durchgesetzt werden können. Gerichtsverfahrensgesetze regeln den Ablauf und sollen Entscheidungen nachvollziehbar machen. Doch Gerichte werden erstens nur auf Antrag tätig, zweitens können auch Verfahrenshindernisse (z.B. Verjährung) der Rechtsdurchsetzung entgegenstehen und drittens ist gerade dann, wenn Rechtsanschauungen im Wandel begriffen sind, schwer vorhersagbar, wie Gerichte im Einzelfall entscheiden werden.

7. K urzes F a zit Die neue Regelung des Paragrafen 22 Absatz 3 PStG ist insofern zu begrüßen, als damit erstmals rechtlich zugelassen wird, dass Menschen ohne amtliches Geschlecht gleichwohl ihre amtliche Existenz zuerkannt bekommen. Bemerkenswert an der Vorschrift ist darüber hinaus: Zum ersten Mal in einem Rechtstext ist die Rede von der Zuordnung zum weiblichen oder männlichen Geschlecht, d.h. es ist erstmals vom Gesetzgeber akzeptiert, dass es bei der Geschlechtsregistrierung nicht um nur die Bestätigung von etwas Selbstverständlichem oder Natürlichem geht.14 Allerdings wird Paragraf 22 Absatz 3 PStG kaum dazu beitragen können, die schweren körperlichen Eingriffe an minderjährigen Inter*s zu verhindern. Dies hat der Bundesrat erkannt und deshalb seinen Beschlüssen zur Änderung der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Personenstandsgesetz eine Entschließung beigefügt, in der er die Bundesregierung um weitere Prüfung bestehender Rechtsnormen und gegebenenfalls Änderungsvorschläge bittet; als Maßstab hält er fest (Bundesrat 2014b: 12): »Ziel muss es sein, inter- und transsexuelle Menschen als Teil gesellschaftlicher Vielfalt zu respektieren, zu unterstützen und sie vor medizinischen Fehlentwicklungen und Diskriminierungen der Gesellschaft zu schützen.« Es wird auch Sache der Wissenschaft

14  |  Für diesen Hinweis danke ich Juana Remus, Berlin.

Verqueres Recht — von den Schwierigkeiten, Inter* gerecht zu werden

und der Zivilgesellschaft sein, die politischen Akteur_innen an ihre Ziele von Zeit zu Zeit zu erinnern.

L iter atur Bundesministerium des Innern (2013): Bekanntmachtung über Änderungen des Datensatzes für das Meldewesen – Einheitlicher Bundes‑/Länderteil – (DSMeld) vom 10.6.2013, BAnz AT 20.06.2013 B1, https://www.bundes anzeiger.de/ebanzwww/wexsservlet?page.navid=to_bookmark_officialsite &genericsearch_param.edition=BAnz+AT+20.06.2013, zuletzt aufgerufen am 10.02.2014. Bundesrat (2014a): Allgemeine Verwaltungsvorschrift der Bundesregierung: Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur Änderung der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Personenstandsgesetz (PStG-VwV-ÄndVwV), Drucksache 29/14, http://dip21.bundestag.de/dip21/brd/2014/0029-14.pdf, zuletzt aufgerufen am 10.02.2014. Bundesrat (2014b): Beschluss des Bundesrates: Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur Änderung der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Personenstandsgesetz (PStG-VwV-ÄndVwV), Drucksache 29/14 (Beschluss), http://dip21.bundestag.de/dip21/brd/2014/0029-14B.pdf, zuletzt aufgerufen am 21.05.2014. Bundesverfassungsgericht (1978): Beschluss vom 11.10.1978 (1 BvR 16/72), www. servat.unibe.ch/dfr/bv049286.html, zuletzt aufgerufen am 12.02.2014. Bundesverfassungsgericht (2008): Beschluss vom 05.12.2008 (1 BvR 576/07), www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/rk20081205_1bvr057 607.html, zuletzt aufgerufen am 12.02.2014. Bundesverwaltungsamt (undatiert): IT-Standards und Methoden, www.bva. bund.de/DE/Organisation/Abteilungen/Abteilung_BIT/Leistungen/IT_ Standards/it_standards_node.html, zuletzt aufgerufen am 15.02.2014. Deutscher Bundestag (2006): Gesetzentwurf der Bundesregierung: Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Personenstandsrechts (Personenstandsrechtsreformgesetz – PStRG), Drucksache 16/1831, http://dip21.bundestag. de/dip21/btd/16/018/1601831.pdf, zuletzt aufgerufen am 15.02.2014. Deutscher Bundestag (2013a): Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und FDP – Entwurf eines … Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuchs – Straf barkeit der Verstümmelung weiblicher Genitalien, Drucksache 17/13707, http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/17/137/1713707.pdf, zuletzt aufgerufen am 15.02.2014. Deutscher Bundestag (2013b): Plenarprotokoll 17/219 vom 31.01.2013, http:// dip21.bundestag.de/dip21/btp/17/17219.pdf, zuletzt aufgerufen am 15.02. 12014.

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Verqueres Recht — von den Schwierigkeiten, Inter* gerecht zu werden

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Grundzüge struktureller und konzeptueller Entwicklungen der Trans*bewegung in der Bundesrepublik Deutschland seit Ende der 1990er Jahre 1 Adrian de Silva

E inleitung Bald nachdem die Medizin Transsexualität im Laufe der 1960er Jahre als isoliertes Phänomen definiert hatte, begannen sich Trans*individuen 2 in (West-) Deutschland in Selbsthilfe- und Lobbygruppen zu organisieren. Bis zur Gründung von Transidentitas e.V. Mitte der 1980er Jahre, einer ersten überregional wirkenden Struktur, waren frühe Organisationsformen zunächst noch informell, lokal und verstreut.3 Konzeptuell orientierten sich Transsexuellen-Selbsthilfegruppen bis weit in die 2000er Jahre hinein in der Regel an medizinisch1  |  Ich danke Sabine Meyer, Janine Dieckmann und Susanne Haldrich für die sorgfältige Lektüre des Manuskripts und die hilfreichen Kommentare. 2  |  Der Asterisk nach dem Präfix ›Trans‹ dient als Platzhalter für eine nicht abschließend bestimmbare Vielzahl von Individuen, die mit der Geschlechtszuweisung als ›Junge‹ oder ›Mädchen‹ zum Zeitpunkt der Geburt nicht einverstanden sind und die sich selbst z.B. als transgender, transgeschlechtlich und/oder transsexuell bezeichnen. Es gibt zurzeit keine konsensfähige Terminologie in der sozialen Bewegung. Den Wunsch, gleichzeitig die Selbstbestimmung zu respektieren und eine allgemein akzeptierte Begrifflichkeit zu finden, stellt ein Dilemma dar, das ich hier nicht zufriedenstellend lösen kann. ›Trans*‹ wird hier als ein Oberbegriff verwendet. Befasse ich mich mit einzelnen Organisationen, gebe ich die jeweiligen Selbstbezeichnungen wider. 3  |  Augstein (1992) verweist zum Beispiel auf eine Gruppe transsexueller Individuen in Hamburg, die sich – zusammen mit Hamburger Bundestagsabgeordneten – seit 1972 um ein Gesetz zur rechtlichen Anerkennung der Vornamen und des Geschlechts von transsexuellen Individuen bemühten. Systematische Forschung zur Trans*bewegung in dieser Zeit steht noch aus.

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psychiatrischen Erwartungen (Regh 2002: 188)4, zumal letztere den Zugang zu einst schwer erkämpften medizinischen Leistungen und rechtlicher Anerkennung kontrollierten und dies auch weiterhin tun. Befördert durch breitere gesellschaftliche Entwicklungen zu bzw. theoretische Debatten über Geschlecht und Sexualität sowie Entwicklungen in der Kommunikationstechnologie setzte im Verlauf der 1990er Jahre in der Bundesrepublik Deutschland eine bis heute andauernde Phase der Konsolidierung, des Wachstums und der Differenzierung der Trans*bewegung ein. In diesem Beitrag werden am Beispiel von lokalen, regionalen und supranationalen Vereinen und Netzwerken mit dezidiert politischer Agenda Grundzüge struktureller und konzeptueller Entwicklungen dieser sozialen Bewegung skizziert. Obwohl beide Entwicklungsstränge eng miteinander verwoben sind, wird aus Gründen der Übersichtlichkeit zunächst die strukturelle Entwicklung der Trans*bewegung im genannten Zeitraum anhand von wesentlichen Merkmalen exemplarisch dargelegt. Anschließend werden am Beispiel des Wandels und der Differenzierung von Trans(-sexualitäts-)konzepten konzeptuelle Entwicklungen vor dem Hintergrund theoretisch und gesellschaftlich begünstigender Faktoren betrachtet. Abschließend werden die Effekte oben genannter Entwicklungen auf die Ausrichtung der Politik der bundesdeutschen Trans*bewegung skizziert. Hierbei ist festzustellen, dass sich – neben einer Proliferation von Organisationen auf verschiedenen Ebenen der Politik – zwei große konzeptuelle Strömungen herausgebildet haben. Während der größere Teil der Organisationen im Wesentlichen queer-theoretische Perspektiven aufgreift, beruht der andere auf Prämissen des neurobiologischen Geschlechterdiskurses. Wenngleich diese disparaten Verständnisse von Trans(-sexualität) z.T. unterschiedliche Implikationen für ihre jeweilige Politik haben, ringen Vertreter_innen beider Ausrichtungen um Selbstbestimmung und ein Ende von Diskriminierung.

4  |  Zu den medizinisch-psychiatrischen Erwartungen gehörten u.a. die Darstellung einer linearen und progressiven Entwicklung der ›gegengeschlechtlichen‹ Identität seit frühester Kindheit; die Demonstration von Geschlechtsrollenverhalten, das per Konvention mit dem ›anderen‹ Geschlecht assoziiert wurde; eine heterosexuelle Orientierung und der unbedingte Wunsch nach medizinischen Maßnahmen zur Angleichung an das sogenannte andere Geschlecht. Ausführlicher hierzu de Silva 2013: S. 82-87.

Entwicklungen der Trans*bewegung in der Bundesrepublik Deutschland

S truk turelle E nt wicklungen der Tr ans*be wegung seit E nde der 1990 er J ahre Während sich die Trans*bewegung – mit Ausnahme von Transidentitas e.V. – zuvor in vergleichsweise kleinen und überregional wenig vernetzten Gruppen organisiert hatte, setzte in den späten 1990er Jahren ein tief greifender struktureller Wandel ein. Diese Veränderung zeichnete sich u.a. durch folgende Merkmale aus: Entstehung, Wachstum und Differenzierung bundesweit tätiger und mit lokalen Beratungs- und Kontaktstellen versehene Lobby- und Aufklärungsorganisationen; zunehmende Konsolidierung des lokalen Aktivismus und der lokalen Organisation von Individuen und Gruppen mit marginalisierten Geschlechtern und Sexualitäten in breiten Netzwerken; Schaffung einer supranationalen Organisations- und Vernetzungsstruktur sowie eine erhöhte Sichtbarkeit eines Teils vormals nicht oder kaum in den Organisationen transsexueller Individuen repräsentierter (Trans*-)Subjekte. Diese institutionelle Proliferation und Differenzierung wird nachfolgend an einigen Beispielen aufgezeigt. Ohne traditionelle Selbsthilfegruppen transsexueller Menschen zu verdrängen, gründeten sich mit der Deutschen Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität e.V. (dgti e.V.) und TransMann e.V. in Köln zwei überregional operierende Organisationen mit regionalen Anlaufstellen, nachdem sich die erste überregional wirkende Trans*organisation Transidentitas e.V. zwischen 1995 und 1997 allmählich aufgelöst hatte. Sowohl die 1998 entstandene dgti e.V. (vgl. dgti e.V. 2011) als auch der ein Jahr später gegründete TransMann e.V. (vgl. TransMann e.V. undatiert) betätigen sich in den Bereichen Selbsthilfe und Beratung, Aufklärung und Bildung sowie Lobbying und Vernetzung. Ihre Ziele sind einerseits die Selbstakzeptanz zu erhöhen, andererseits gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe zu erlangen und Diskriminierung und Vorurteilen in der Gesellschaft entgegenzuwirken (vgl. dgti e.V. undatiert; TransMann e.V. 2001). Trans*aktivismus verdichtete sich auch auf lokaler Ebene. 2001 konstituierte sich das Transgender Netzwerk Berlin (TGNB) auf der seit 1996 bisher jährlich stattfindenden Trans*tagung in Berlin (vgl. TGNB 2006a). Zu den Gründungsmitgliedern gehörten die Berliner Beratungs- und Kontaktstelle der dgti e.V., das Drag Kingdom, IdentX, eine Gruppe von Transmännern, die sich zwischenzeitlich aufgelöst hat, die ehemalige IGTF und später in IVTF umbenannte Interessenvertretung transsexueller Frauen, der Sonntags-Club, TransSisters, eine Gruppe von Transvestiten und transsexuellen Individuen, sowie v.e.b. transgender united, das heute unter dem Namen Wigstöckel transgender united bekannt ist. Wie die Aufzählung der Gründungsmitglieder bereits andeutet, bestand das TGNB von Anfang an aus einer Vielzahl unterschiedlich vergeschlechtlichter Subjekte und in ihren Tätigkeiten unterschiedlich ausge-

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richteter Gruppen, die sich noch weiter ausdifferenzieren sollten. Nur wenige Jahre später umfasste das TGNB bereits 19 Trans*- und Inter*gruppen, die in verschiedenen Bereichen – z.B. Bildung, Beratung, Selbsthilfe, Wissenschaft und Kunst – aktiv waren (vgl. TGNB 2006b). Somit ist das TGNB seither zum größten und bekanntesten lokalen Netzwerk in der Bundesrepublik Deutschland herangewachsen. Die Organisation und Vernetzung von Trans*personen entwickelte sich auch auf supranationaler Ebene. 2005 gründete sich Transgender Europe (TGEU) in Wien (vgl. TGEU 2009b) unter Beteiligung deutscher Organisationen, z.B. von der dgti e.V., TGNB und TransInterQueer e.V. (TrIQ e.V.). TGEU strebt mittels Lobbying und Auf klärung an, Diskriminierung – insbesondere auf Basis von Geschlechtsidentität und -ausdruck – zu entgegnen sowie Bedingungen in Europa zu schaffen, die es Individuen erlauben, ungestört ihrem Geschlecht entsprechend zu leben (vgl. TGEU 2009a). Neben ihrer Funktion als Interessenvertretung für Trans*individuen unterstützt die bis Januar 2014 bereits auf 70 Mitgliedsgruppen aus 35 Ländern angewachsene Organisation Trans*aktivismus ihrer Mitgliedsorganisationen, z.B. durch Seminare und Trainings; kooperiert mit anderen Nichtregierungsorganisationen, die sich mit Menschenrechten befassen, etwa der International Lesbian and Gay Association Europe (ILGA Europe), und unterstützt Forschung (vgl. TGEU 2014). Struktureller Wandel geht jedoch über institutionelle Veränderungen hinaus. Etliche seit Ende der 1990er Jahre entstandene Organisationen schließen personell und in ihrer Politik vormals marginalisierte Trans*subjekte ein oder werden sogar von ihnen getragen. TransMann e.V. gründete sich z.B. zunächst mit dem Ziel, eine unterstützende Infrastruktur für Transmänner zu schaffen, da die transsexuelle Selbsthilfe bis dahin vornehmlich auf die Bedürfnisse von Transfrauen zugeschnitten war (vgl. Regh 2002: 196). Noch breiter aufgestellt ist der 2006 in Berlin gegründete und dort auch ansässige Verein TrIQ e.V., der sich aus Trans*- und Inter*individuen und queer lebenden Personen zusammensetzt, die im Bereich Beratung, Aufklärung und Vernetzung aktiv sind (vgl. TrIQ e.V. 2006-2014a).

B egünstigende F ak toren des konzep tuellen W andels der Tr ans*be wegung gegen E nde der 1990 er J ahre Der strukturelle Wandel ging mit konzeptuellen Entwicklungen einher. Zu den formativen Faktoren für die konzeptuelle Entwicklung oben genannter Organisationen zählen gesellschaftliche Verschiebungen in den Bereichen Geschlecht und Sexualität, Entwicklungen in der Kommunikationstechnologie sowie insbesondere queer-theoretische Debatten über Geschlecht und Sexualität.

Entwicklungen der Trans*bewegung in der Bundesrepublik Deutschland

Zu den konzeptuell relevanten gesellschaftlichen Verschiebungen gehörten u.a. »eine anhaltende Tendenz zur Flexibilisierung der vordem relativ starren Merkmale der Geschlechtszugehörigkeit« (Becker et al. 2001: 3). Während die Sexualwissenschaftler_innen Becker, Berner, Dannecker und Richter-Appelt diese Flexibilisierung auf die reduzierte Bedeutung körperlicher Zeichen der Männlichkeit und Weiblichkeit im Alltagsleben und Erleben von Menschen beziehen (vgl. ebd.), gilt dies insbesondere für die Aufweichung von Geschlechtsrollen. So konstatiert der Aktivist und Mitbegründer von TransMann e.V., Regh, dass schwul-lesbische und feministische Geschlechterdiskurse seit Mitte der 1990er Jahre bei Trans*personen dazu beitrugen, sich klischierten und antiquierten Vorstellungen von Maskulinität und Femininität, wie sie die Medizin noch in weiten Teilen als Voraussetzungen für den Zugang zu medizinischen Eingriffen und Unterstützung zur rechtlichen Anerkennung im erlebten Geschlecht erhoben, zu widersetzen (vgl. Regh 2002: 192f.). Das Internet stellte einen weiteren Faktor dar, der zur konzeptuellen Entwicklung der Trans*bewegung beitrug. Neben einer Infrastruktur, die eine gemeinsame Politikgestaltung über weite geografische Distanzen hinweg ermöglichte (vgl. Whittle 1998: 405), bot dieses Medium Trans*individuen die Möglichkeit, sich abseits medizinisch-psychiatrischer Überwachung und des Konformitätsdrucks traditioneller Transsexuellen-Selbsthilfegruppen auszutauschen (vgl. Regh 2002: 187f.). Im Schutz der relativen Anonymität konnten Trans*personen sich (selbst-)kritisch mit Konzepten von Geschlecht, Maskulinität, Femininität und Sexualität auseinandersetzen, die über die engen Parameter der Sexualmedizin und Selbsthilfegruppen hinausgingen (ebd.: 197). Insgesamt trug dieser Austausch zur Bildung von Trans*subjektivität, d.h. von Vorstellungen, wie Trans*individuen sich selbst verstehen, bei (vgl. de Silva 2005: 264). Queer-theoretische Perspektiven auf Zweigeschlechtlichkeit, Geschlecht, Körper und Sexualität erwiesen sich als besonders bedeutsam für die konzeptuelle Entwicklung der Trans*bewegung. Hierzu gehörten v.a. Theoreme – wie etwa die nachfolgenden von Butler – der Nichtableitbarkeit des kulturellen Geschlechts vom körperlichen Geschlecht (vgl. Butler 1990: 7); der Dekonstruktion der Vorstellung eines vordiskursiven Geschlechts des Körpers (ebd.); des Geschlechts als performativer Effekt eines regulatorischen Systems von Geschlechtsunterschieden, in dem Geschlechter unter Zwang hierarchisiert und polarisiert werden (vgl. Butler 1997: 17), bis sie natürlich erscheinen (vgl. Butler 1990: 7); der Durchkreuzung der Kategorie ›Geschlecht‹ von multiplen sozialen Verflechtungen (ebd.: 23); der Produktion von »intelligiblen« (ebd.: 17), d.h. sinnhaften Geschlechtern, die eine Kohärenz darstellen zwischen sex, gender, sexueller Praxis und Begehren und – im Umkehrschluss – diejenigen Individuen, deren Geschlechtsidentitäten nicht dieser vermeintlichen Kausali-

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tät folgen, als gestört oder logische Unmöglichkeiten erscheinen lassen (Butler 2004: 218).5 Zusammenfassend bot Queer Theory ein Instrumentarium zur Analyse der Herstellung bestimmter, sich selbst reproduzierender hegemonialer sexueller und geschlechtlicher Konfigurationen sowie ihrer Ausschlüsse (vgl. de Silva 2008: 268).

K onzep tueller W andel der Tr ans*B e wegung seit E nde der 1990 er J ahre Feinere Differenzierungen unbenommen, trugen die zuvor genannten Einflüsse zur Entwicklung eines gegenhegemonialen Trans*diskurses innerhalb der eingangs vorgestellten Vereine und Netzwerke bei. Wie nachfolgend an den Definitionen von ›Trans*‹ und ›Transmann‹ deutlich wird, liefen diese Konzepte medizinisch-psychiatrischen Vorstellungen von homogenen und klar voneinander abgrenzbaren Trans*phänomenen zuwider und stellten heteronormative Zweigeschlechtlichkeit infrage. Trans* beschreibt ein fluides Spektrum von Subjekten, die – wie TrIQ e.V. es formuliert – »nicht in dem Geschlecht leben können oder wollen, welchem sie bei der Geburt zugeordnet wurden« (TrIQ e.V. 2006-2014b). Trans* umfasst bspw. selbstdefinierte Cross-dresser, Drag Kings, Drag Queens, Transen, Transfrauen, Transmänner, einige transsexuelle Individuen, Agender, Bigender und Tunten (vgl. TGNB 2006a; TrIQ e.V. 2006-2014b), ist aber als offene Kategorie nicht auf diese beschränkt. Analog definiert TransMann e.V. Transmänner als Individuen, »die sich mit ihrem Geschlechtseintrag ›weiblich‹ nicht oder nicht ganz beschrieben fühlen« (TransMann e.V. 2012). Diese Definitionen implizieren, dass die Anatomie nicht zwangsläufig bestimmend ist für die geschlechtliche Selbst- und Fremdwahrnehmung eines Individuums. Vielmehr sind die Geschlechtsidentität oder das Verhalten ausschlaggebend (vgl. TransMann e.V. 2004). Damit eng verbunden steht Trans* für Individuen mit heterogenen Entscheidungen in Bezug auf medizinische und rechtliche Maßnahmen, ohne jedoch diejenigen zu kompromittieren, die einige oder alle Maßnahmen benötigen, um mit sich und innerhalb der sie umgebenden sozialen Umwelt leben zu können. So antwortet TransMann e.V. folgendermaßen auf die Frage, was nach der Selbsterkenntnis kommt, dass man trans* ist: »Einige machen gar nichts, außer so zu leben, wie sie es für richtig halten. Medizinische und juristische Maßnahmen sind nicht unbedingt notwendig, sie machen aber manches einfacher (und manches für manchen erst möglich). Notwendig oder gar definierend sind sie aber nicht.« 5 | Zu einer differenzierten Betrachtung des Verhältnisses von Transgender und Queer Theory vgl. Genschel 2003.

Entwicklungen der Trans*bewegung in der Bundesrepublik Deutschland

(Ebd.) Die Diversität von Trans* bezieht sich auch auf die sexuelle Orientierung, die eine Vielfalt aufweist, die über heteronormative Erwartungen, wenn nicht gar über die übliche Einteilung in A-, Bi-, Hetero- und Homosexualität hinausgeht. Letztgenanntes Ordnungsschema ist größtenteils ohne weitere Spezifikation sowieso nur vor dem Hintergrund der Zweigeschlechtlichkeit nachvollziehbar. TrIQ e.V. und das TGNB unterscheiden sich aktuell von der dgti e.V. und TransMann e.V., indem erstere Trans* zunehmend als eine intersektionale Kategorie begreifen.6 Demnach verstehen sie Trans* als eine Kategorie, die von zahlreichen Machtvektoren durchkreuzt ist und die Trans*individuen unterschiedlich konstituieren und gesellschaftlich in unterschiedlicher Weise in einem Geflecht von Privilegien und Teilhabe positionieren. Zu diesen gehören etwa ›Geschlecht‹, ›Rasse‹, ›sexuelle Orientierung‹, ›Alter‹, ›Aussehen‹ und ›Behinderung/unterschiedliche Befähigung‹. Dieser konzeptuelle Ausgangspunkt spiegelt sich sowohl in der Satzung von TrIQ e.V. (TrIQ 2007)7 als auch in der Beratung (TrIQ e.V. 2013) wider.

B egünstigende F ak toren der konzep tuellen D ifferenzierung der Tr ans*be wegung seit E nde der ersten D ek ade des 21 . J ahrhunderts Gegen Ende der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts trat erneut ein Wandel auf trans*politischer Ebene ein. Dieser zeichnete sich durch eine deutliche konzeptuelle Differenzierung aus. Zu den formativen Einflüssen gehörten u.a. Entwicklungen in der neurobiologischen Forschung, zunehmende Neoliberalisierungstendenzen in der Gesundheitsversorgung, unverminderte medizinisch-psychiatrische Kontrolle der Transition sowie die anhaltende Weigerung des Gesetzgebers, das 1981 in Kraft getretene Gesetz über die Änderung der Vornamen und die Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit in besonderen Fällen (Transsexuellengesetz – TSG) grundlegend zu reformieren.

6 | Kimberle Crenshaw prägte 1989 den Begriff Intersectionality (vgl. Crenshaw 1989). Für eine queeres intersektionales analytisches Konzept vgl. Engel/Schulz/Wedl 2005. 7  |  Zum Vereinszweck von TrIQ e.V. gehört es u.a., »für die Belange trans- und intergeschlechtlicher sowie queer lebender Menschen mit transkulturellem oder migratorischem Hintergrund« einzutreten (§2[16]) und gemäß §2(17) ältere trans- und intergeschlechtliche sowie queer lebende Menschen zu unterstützen (TrIQ e.V. 2007).

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Seit der Jahrtausendwende ist ein verstärktes Auf kommen neurobiologischer Studien zur Erforschung möglicher humangenetischer, neuroendokrinologischer, neurostruktureller und neurofunktioneller Zusammenhänge transsexueller Entwicklungen zu verzeichnen. Dabei gehen die Studien davon aus, dass hormonelle8 oder genetische Prozesse Transsexualität bedingen. Demnach soll sich Transsexualität anhand von körperlichen Merkmalen, etwa 2D:4D-Fingerlängenrelationen,9 der Größe von bestimmten Gehirnarealen, bei denen eine Relevanz für sexuelle Differenzierung vermutet wird,10 oder der Anzahl sich darin befindlicher Neuronen11 oder der Verteilung von Allelen12 manifestieren. Bisherige Studien gehen in der Regel von den Prämissen zweier polarisierter Geschlechter sowie des pathologischen Charakters ihrer Abweichungen aus.13 Verstärkter Kostendruck und eine deutlich wahrnehmbare Privatisierung der Gesundheitsversorgung wirken sich seit den späten 1990er Jahren auch auf die Behandlung von Trans*individuen aus, die medizinische Maßnahmen benötigen. Während Sozialgerichte grundsätzlich an einer Unterscheidung zwischen geschlechtsangleichenden Maßnahmen und kosmetischer Chirurgie festhalten (vgl. BSG, Beschluss v. 19.10.2004 – B 1 KR 9/04 R), begannen Gerichte seit Ende der 1990er Jahre, immer mehr Maßnahmen, die zuvor unter geschlechtsangleichende Interventionen gefasst wurden, als kosmetische Ein-

8 | Siehe hierzu z.B. Zhou et al. 2005 und Kruijver et al. 2000. Beide Studien wurden aufgrund methodologischer Schwächen, etwa mangelnder Repräsentativität, Inhomogenität (vgl. Sigusch 2007: 352) und Fehlannahmen (Chung et al. 2002: 1027; 1031) von Vertreter_innen verschiedener medizinischer Teildisziplinen kritisiert. Zudem erscheint es zweifelhaft, ein komplexes, historisch-kontingentes soziales Phänomen wie Transsexualität monokausal begründen zu wollen (vgl. Sigusch 2007: 352). 9 | Vgl. Schneider/Pickel/Stalla 2006. In anderen Studien wird dieses Fingerlängenverhältnis als Indikator für Homosexualität untersucht (vgl. Rahman/Wilson 2003 sowie Lippa 2003). Dabei gelangen die Studien zu widersprüchlichen Ergebnissen. Mit ihnen lässt sich nicht erklären, wann ein bestimmtes Fingerlängenverhältnis auf Trans*- und wann auf Homosexualität hinweist; wie sich Homosexualität bei transsexuellen Individuen im genannten Fingerlängenverhältnis darstellt und wie eine Veränderung der sexuellen Orientierung mit einem stabilen 2D:4D-Fingerlängenverhältnis nach Abschluss der Wachstumsphase einhergehen kann. 10  |  Siehe hierzu die Studien von Zhou et al. 2005 und Luders et al. 2009. 11  |  Vgl. Kruijver et al. 2000. 12  |  Vgl. Bentz et al. 2008. 13  |  Dies wird u.a. deutlich in den humangenetischen Studien von Bentz et al. 2007 und Bentz et al. 2008, der neurostrukturellen Studie von Kruijver et al. 2000 und den neurofunktionalen Studien von Hulshoff Pol et al. 2005 und Bauer 2010.

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griffe zu bewerten.14 Des Weiteren unterliegt die Leistungsberechtigung von gesetzlich versicherten Trans*personen zunehmender Regulierung.15 Die anhaltende medizinisch-psychiatrische Kontrolle der Transition stellt einen weiteren beeinflussenden Faktor der konzeptuellen Differenzierung dar. Eine rechtliche und medizinische Transition findet statt in einem komplexen Geflecht von Regularien, in dem stets Dritte in hierarchisch angelegten Settings über die Lebensentscheidung eines Trans*individuums befinden. Dies manifestiert sich im »längerfristigen diagnostischen Prozess« (Becker et al. 1997: 148), der aus einer Psychotherapie und einem Alltagstest16 besteht (ebd.: 149), einer nach starren Entscheidungslogarithmen des Medizinischen Dienstes des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen e.V. (MDS) vorgeschriebenen Bewilligungsstrategie für somatische Interventionen (vgl. u.a. MDS 2009: 19) sowie der Einholung von Stellungnahmen von zwei Sachverständigen, »die auf Grund ihrer Ausbildung und beruflichen Erfahrung mit den besonderen Problemen des Transsexualismus ausreichend vertraut sind« (§ 4[3] TSG). Des Weiteren ist eine anhaltende Weigerung vergangener Bundesregierungen, das TSG angesichts zahlreicher grundgesetzverletzender Normen grundlegend zu reformieren, zu beobachten.17 Deutlich wird diese Politikverweigerung u.a. in den Antworten der jeweiligen Bundesregierungen auf Kleine Anfragen einzelner Bundestagsfraktionen, bei der die Bundesregierung entweder überhaupt kein Problembewusstsein aufweist, die Einführung eines

14 | Vgl. hierzu die Urteile des LSG Sachsen v. 03.02.1999 (L 1 KR 31/98), des SG Aachen v. 22.09.2009 (S 13 KR 100/09) sowie des LSG Baden-Württemberg v. 25. 01.2012 (L 5 KR 375/10), die entschieden, dass gesetzliche Krankenkassen bei Transfrauen mit Mikromastie nicht die Kosten für Brustvergrößerungen übernehmen müssen. 15  |  Dies betrifft insbesondere die Behandlung in privaten Spezialkliniken (siehe Bayer. LSG, Urteil v. 30.10.2003 – L 4 KR 203/01), die Praxis der Kostenerstattung (siehe LSG Berlin-Brandenburg, Urteil v. 16.09.2009 – L 9 KR 1022/05) sowie die Priorität psychiatrischer oder psychologischer Behandlung vor somatischen Maßnahmen (siehe BSG, Beschluss v. 20.06.2005 – B 1 KR 28/04 B). 16 | Mit dem Alltagstest handelt es sich um ein »Sozialexperiment« (Kaltenmark/Kasimir/Rauner 1998: 269), bei dem sich ein Trans*individuum mindestens ein Jahr lang vor jeglicher somatischer Behandlung in allen Lebenssituationen im empfundenen Geschlecht zu präsentieren hat. 17  |  Hierzu gehörten in diesem Zeitraum u.a. der Zwang zur dauernden Fortpflanzungsunfähigkeit (§8[1]3 TSG), zur geschlechtsangleichenden Operation (§8[1]4 TSG) und zur Auflösung einer bestehenden Ehe (§8[1]2 TSG) als Voraussetzungen für die Personenstandsänderung. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Normen mittlerweile für verfassungswidrig befunden (BVerfG: Beschluss v. 11.01.2011 – 1 BvR 3295/07 und BVerfG: Beschluss v. 27.05.2008 – 1 BvL 10/05).

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Gesetzesentwurfs vertagt oder schlicht leere Versprechungen macht18 sowie an der Ablehnung der Anträge zur Aufhebung des TSG und des Gesetzentwurfs der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.19 Die drei letztgenannten Faktoren machen Trans*personen, die medizinische und rechtliche Maßnahmen benötigen, besonders vulnerabel.

K onzep tuelle D ifferenzierung der Tr ansbe wegung seit E nde der ersten D ek ade des 21 . J ahrhunderts Die 2008 in Ludwigsburg gegründete Organisation Aktion Transsexualität und Menschenrecht e.V. (ATME e.V.) (vgl. ATME e.V. 2014a) ist das zur Zeit prominenteste Beispiel für eine politische Organisation, die vom neurobiologischen Geschlechterdiskurs beeinflusst ist und sich damit konzeptuell von den zuvor genannten Organisationen fundamental unterscheidet. ATME e.V. entwickelt ein essenzialistisches und homogenes Konzept von Transsexualität, das der medizinisch-psychiatrischen Trennung von verschiedenen Trans*phä-

18 | Siehe hierzu die Antworten der Bundesregierung vom 12.12.2001 (Drucksache [Drs.] 14/7835) und vom 22.07.2002 (Drs. 14/9776) auf die Kleinen Anfragen der Abgeordneten Christina Schenk und der Fraktion der PDS vom 27.11.2001 zur Reform des TSG (Drs. 14/7635); vom 10.07.2002 zur Situation von Transidenten in Recht und Gesellschaft (Drs. 14/9789); vom 06.07.2004 (Drs. 15/3569) auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. Max Stadler, Jörg van Essen, Gisela Piltz und weiterer Mitglieder der Fraktion der FDP zur personenstandsrechtlichen Situation von Transsexuellen vom 16.06.2004 (Drs. 15/3401) sowie die Antwort der Bundesregierung vom 09.03.2012 (Drs. 17/8964) auf Frage Nr. 15 (S. 5) in der Kleinen Anfrage »Rechte und Hilfe für transsexuelle, transgender und intersexuelle minderjährige Menschen« der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Diana Golze, Matthias W. Birkwald und weiterer Mitgliedern der Fraktion DIE LINKE vom 21.02.2012 (Drs. 17/8713). 19  |  Siehe den Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Dr. Kirsten Tachmann, Werner Dreibus und weiterer Abgeordneter der Fraktion DIE LINKE »Transsexuellengesetz aufheben – Rechtliche Gestaltungsmöglichkeiten für Transsexuelle, Transgender und Intersexuelle schaffen« vom 06.05.2009 (Drs. 16/12893); den Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Cornelia Möhring, Matthias W. Birkwald und weiterer Abgeordneter der Fraktion DIE LINKE »Sexuelle Menschenrechte für Transsexuelle, Transgender und Intersexuelle gewährleisten – Transsexuellengesetz aufheben« vom 25.05.2011 (Drs. 17/5916) und den Gesetzentwurf »Entwurf eines Gesetzes über die Änderung der Vornamen und die Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit (ÄVFGG)« der Abgeordneten Volker Beck, Kai Gehring, Ingrid Hönlinger und weiterer Abgeordneter der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vom 16.06.2010 (Drs. 17/2211).

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nomenen folgt, sich jedoch mithilfe von Prämissen einiger neurobiologischen Studien von der Psychopathologisierung abgrenzt. Obwohl die bisherigen Ergebnisse neurobiologischer Studien keine eindeutigen Schlussfolgerungen zulassen (vgl. Nieder/Jordan/Richter-Appelt 2011: 205) oder nur »hypothesen-generierenden Charakter« (ebd.: 216) haben, interpretiert ATME e.V. die Studien derart, dass eine biologische Grundlage für Transsexualität als erwiesen gilt (vgl. ATME e.V. 2013: 50) oder die Befunde dies mit hoher Wahrscheinlichkeit nahelegen (vgl. ATME e.V. und MUT 2008: 7). Der Verein greift die Prämissen auf, dass pränatale hormonelle Vorgänge das menschliche Gehirn geschlechtlich vorstrukturieren und dass Gehirne von Männern und Frauen unterschiedlich konfiguriert sind. Transsexualität ist demnach angeboren; transsexuelle Frauen sind Menschen mit weiblichen Gehirnen und männlichen Genitalien, transsexuelle Männer sind Individuen mit männlichen Gehirnen und als weiblich bezeichneten Genitalien (vgl. ATME e.V. 2014a).20 Basierend auf diesen Grundannahmen über Geschlecht und Transsexualität begründet ATME e.V. sowohl die Somatopathologisierung von Transsexualität als auch die Selbstdiagnose. Die Auffassung von Transsexualität als pathologischer Zustand wird ersichtlich durch die Verwendung des Konzepts vom »falschen Körper« (ATME e.V. 2009: 95). Da ATME e.V. aber die »Fehlentwicklung« auf biologische Faktoren zurückführt, die nicht – oder zumindest nicht unmittelbar – sichtbar sind, geht die Organisation davon aus, dass nur das betreffende Individuum selbst verlässliche Auskunft über seinen Geschlechtszustand geben kann (vgl. ATME e.V. 2014b). Da nach ATME e.V. Transsexualität somatisch bedingt ist, lehnt die Organisation die Psychopathologisierung von Transsexualität ab und fordert die Streichung von Transsexualität als psychiatrische Störung (F64.0) im ICD und als »Geschlechtsidentitätsstörung« im DSM (vgl. ATME e.V. 2014c). Im Gegensatz zu den zuvor aufgeführten Organisationen, die zwischen Vergeschlechtlichungs- und Rassifizierungsprozessen unterscheiden und sie teilweise als einander durchdringende Kategorien gesellschaftlicher Ungleichheit betrachten, subsumiert ATME e.V. Transphobie unter Rassismus (vgl. 20 | Diese Vorstellung von Transsexualität ist unter transsexuellen Individuen keineswegs konsensfähig. Für viele medizinisch als ›transsexuell‹ bezeichnete Personen ist ›Geschlecht‹ und somit auch Trans* oder Transsexualität keine essenzialistische Kategorie. Ebenso ist ihr Selbstverständnis nicht mit pathologisierenden Zuschreibungen jedweder Art vereinbar. Die Interpretation neurobiologischer Studien von ATME e.V. erinnert an die Deutungen von Simon LeVays methodisch umstrittener Hirnstudie zur sexuellen Orientierung (LeVay 1991), die manche schwule Aktivisten im Kontext der AIDS-Krise und des Erstarkens der christlichen Rechten in den USA als Legitimation von (männlicher) Homosexualität aufgriffen.

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ATME e.V. 2009: 95). Während sowohl Rassismus als auch Transphobie auf der Schaffung von Differenzen und abwertenden Zuschreibungen zum Zwecke der Legitimierung ungleicher Ressourcenverteilung und Gewalt basieren, handelt es sich um unterschiedliche historisch-spezifische Machtvektoren mit je unterschiedlichen Manifestationen. Mit der Einordnung von Transphobie unter Rassismus werden diskriminierende Effekte auf jene transsexuellen Individuen, die neben Transphobie biologistisch oder kulturalistisch begründeten Zuschreibungen und Ausgrenzung ausgesetzt sind, unkonzeptualisierbar.

Tr ans*politische I mplik ationen konzep tueller D iversifik ation Wie am Beispiel der Konzepte von Trans* bzw. Transsexualität deutlich wird, hat sich die Trans*bewegung in den vergangenen Jahren diversifiziert. Während alle hier vorgestellten Trans*organisationen mit dezidiert politischer Agenda Selbstbestimmung und Respekt vor der Expertise in eigener Sache fordern sowie sich dafür einsetzen, gesellschaftliche Diskriminierung, medizinisch-psychiatrische Begutachtung und verfassungsinkompatible Rechtsnormen abzuschaffen, geschieht dies vor dem Hintergrund unterschiedlicher Gesellschaftsanalysen, mit unterschiedlichen Strategien und Selbstverständnissen sowie in teilweise unterschiedlichen politischen Konstellationen. Während die Vertreter_innen von TrIQ und TGNB auf eine Veränderung des Geschlechterregimes hinarbeiten und dabei z.B. gängige medizinische und rechtliche Konzepte und Praktiken als Stabilisatoren heteronormativer Zweigeschlechtlichkeit betrachten (vgl. TrIQ 2008; TGNB 2006c), richtet sich der Aktivismus von ATME e.V. gegen Konzepte und Praktiken einzelner gesellschaftlicher Akteure, etwa der Sexualwissenschaft, des Rechts, christlicher Institutionen und der Medien (vgl. ATME e.V. 2009: 98ff.), ohne dass diese in einen größeren theoretischen Zusammenhang gesetzt werden. Gleichwohl kämpfen die konzeptionell unterschiedlich agierenden Trans*organisationen beide um die Anerkennung der Menschenrechte von Trans*personen – allerdings mit unterschiedlichen Strategien und ausgehend von disparaten Selbstverständnissen. ATME e.V. setzt sich mit der Forderung nach einer Anerkennung von Transsexualität als angeboren für eine Entpsychopathologisierung von Transsexualität ein, wohingegen eher sozialkonstruktivistisch oder queer-theoretisch orientierte Organisationen eine allgemeine Entpathologisierung als Voraussetzung für die Achtung der Menschenrechte von Trans*personen betrachten. Betonen die einen das Gemeinsame von Trans*, akzentuieren die anderen das Trennende. Im Gegensatz zu ATME e.V., die sich primär auf die Belange transsexueller Individuen konzentrieren, setzen sich die anderen hier vorge-

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stellten trans*politischen Organisationen ein für die Anerkennung einer Vielzahl gleichberechtigter Geschlechter und gleichermaßen legitimer Ausdrucksmöglichkeiten von Geschlecht und Sexualität. Auf Basis konzeptueller Prämissen allein kann jedoch keine allgemeingültige Aussage über das Zustandekommen übergreifender Bündnisse getroffen werden. In Baden-Württemberg kooperierten z.B. die dgti e.V., ATME e.V. und TransidentX trotz erheblicher Divergenzen, um eine Inklusion von Trans*personen und transsexuellen Individuen im Sinne von ATME e.V. im Aktionsplan für Toleranz und Gleichstellung zu erlangen (vgl. dgti e.V. 2012).21 Trotz ähnlicher (Teil-)Ziele kam es nicht zu einer Kooperation zwischen dem Bundesarbeitskreis TSG-Reform und ATME e.V. während der Erstellung des von einem breiten Bündnis aus dem trans*-, queeren, frauen- und schwulenpolitischen Spektrum getragenen (Bundesweiter Arbeitskreis TSG-Reform 2012b) Forderungspapier zur Reform des Transsexuellenrechts.22

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Jenseits einer diagnostischen Logik? Überlegungen zu (trans*-)geschlechtlicher Selbstbestimmung und kollektiven Praxen Uta Schirmer Im Kampf gegen die anhaltende Pathologisierung transgeschlechtlicher Existenzweisen, gegen restriktive und bevormundende staatliche, rechtliche und medizinische Regulierungsweisen und gegen institutionelle und alltagspraktische Diskriminierungen gehört die Forderung nach geschlechtlicher Selbstbestimmung zu den zentralen Anliegen gegenwärtiger Trans*-Bewegungen. In einem von zahlreichen trans*-aktivistischen Organisationen und Einzelpersonen im bundesdeutschen Kontext gemeinsam verfassten »Forderungspapier zur Reform des Transsexuellenrechts« vom 1. Juni 2012 wird etwa die »Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechtes von Trans*-Personen durch Abschaffung der Begutachtung und des gerichtlichen Verfahrens« als erste Forderung formuliert (AK TSG-Reform 2012: 1). Ähnliches wird in zahlreichen weiteren trans*-aktivistischen Verlautbarungen artikuliert.1 Angesichts des in vielerlei Hinsicht unbestreitbaren repressiven Zwangscharakters der hier kritisierten Verfahrensweisen und Verhältnisse scheint der emanzipatorische Charakter der Forderung nach geschlechtlicher Selbstbestimmung gegenwärtig zunächst unmittelbar plausibel zu sein. Vor dem Hintergrund der Erkenntnisse konstruktivistischer und poststrukturalistischer Geschlechterforschung, die die gesellschaftliche und soziale Bedingt1 | So benennt Adrian de Silva das Ringen »um Selbstbestimmung und ein Ende von Diskriminierung« als eine – unterschiedliche und teils widerstreitende Strömungen übergreifende – Gemeinsamkeit gegenwärtiger trans*-aktivistischer Positionen (siehe den Beitrag von de Silva in diesem Band); vgl. zur Bedeutung des Rechts auf Selbstbestimmung im Zusammenhang mit Vorschlägen für eine menschenrechtsbasierte Trans*Gesundheitsversorgung Hamm/Sauer 2014; zur Relevanz des Konzepts im Kontext von Trans*- sowie Inter*-Bewegungen de Silva/Klöppel/Plett (2014). Ich beschränke mich im Folgenden auf die Frage nach der Bedeutung geschlechtlicher Selbstbestimmung im Kontext von Trans*-Politiken (in einem weiten Sinne).

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heit jeder Form von Geschlechtlichkeit betonen, erweist sich die Frage, wer wir überhaupt geschlechtlich sein können, allerdings als eine, die über die Zurückweisung von Repression und Zwang hinausgeht: als eine Frage nach den Bedingungen, die ein geschlechtliches Selbst, dessen Autonomie gefordert und gegen heteronome Zumutungen verteidigt wird, überhaupt erst konstituieren. Politisch bedeutsam wird diese Frage gegenwärtig nicht zuletzt angesichts der Umdeutung und Vereinnahmung emanzipatorischer Forderungen (wie der nach Freiheit und Selbstbestimmung) im Kontext von oft als neoliberal gekennzeichneten Herrschaftsstrategien: Als Versprechen und machtvolle Anrufung wird ›Selbstbestimmung‹ hier zunehmend auch zur individualisierenden, gesellschaftliche Bedingungen entnennenden Anforderung an die Subjekte, ihr Schicksal im Sinne einer »Ideologie der freien Gestaltbarkeit des eigenen Lebens« (Engel 2009: 26) selbst und alleine zu verantworten.2 Vor dem Hintergrund solcher Überlegungen möchte ich im Folgenden zeigen, dass und wie die Zurückweisung repressiver Zumutungen im Namen des Selbstbestimmungsrechts im Kontext gegenwärtiger trans*-queerer Kämpfe meiner Einschätzung nach untrennbar verbunden ist mit kollektiven Praxen, in denen alternative Möglichkeiten geschlechtlichen Seins entwickelt und verstetigt werden. Nach einem kurzen Schlaglicht auf gegenwärtige trans*-aktivistische Anfechtungen der diagnostischen Logik medizinisch-rechtlicher Regulierungsweisen (1) möchte ich dies am Beispiel einer trans*-queeren Subkultur, der Drag King-Szene in Deutschland, skizzieren (2): Die in dieser Szene entwickelten kollektiven Praxen und Zusammenhänge ermöglichen, so möchte ich zeigen, andere Weisen, sich zu sich selbst, zu anderen und zur (zwei-)geschlechtlich strukturierten Welt ins Verhältnis zu setzen; sie generieren damit alternative Subjektivierungsweisen, die sich einer diagnostischen Logik potenziell entziehen. Welche Anregungen derartige Praxen aufwerfen könnten für ein Nachdenken über (trans*-)geschlechtliche Selbstbestimmung, das individualistischen Verkürzungen kritisch zu begegnen versucht, wird im letzten Abschnitt kurz diskutiert (3).

2  |  Vgl. für eine differenzierte und kritische Auseinandersetzung mit der Ambivalenz des Konzepts der Selbstbestimmung in gegenwärtigen sozialen Bewegungen angesichts der Anschlussfähigkeit des Konzepts im Kontext herrschaftsförmiger neoliberaler Diskurse das Heft Nr. 222 des Gen-ethischen Informationsdienstes (2014).

Überlegungen zu (trans*-)geschlechtlicher Selbstbestimmung und kollektiven Praxen

1. G egen Pathologisierung und B esonderung : A nfechtung medizinisch - rechtlicher R egulierungsweisen Der Zugang von Trans*-Menschen zu bestimmten medizinischen Leistungen und zur rechtlichen Anerkennung in einem anderen als dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht ist in Deutschland nach wie vor an diagnostische Kriterien und Verfahrensweisen gebunden, die einer pathologisierenden Logik folgen (vgl. exemplarisch de Silva 2005 sowie de Silva in diesem Band; Franzen/Sauer 2010). Bezogen auf die rechtlichen Regelungen, die im sogenannten »Transsexuellengesetz« (TSG) verfasst sind, hat sich daran bislang trotz massiver Kritik an diesem Gesetz3 sowie mehrerer Urteile des Bundesverfassungsgerichts nichts Grundlegendes geändert. Zwar werden im bis dato jüngsten dieser Urteile vom 11. Januar 2011 zwei der bis dahin geltenden Voraussetzungen für eine rechtliche Änderung des Personenstandes – geschlechtsangleichende Operationen und der Nachweis dauernder Fortpflanzungsunfähigkeit (vgl. § 8 Abs. 1, Satz 3 und 4 TSG) – als verfassungswidrig erklärt, da sie mit fundamentalen Grundrechten wie (u.a.) dem Recht auf körperliche Unversehrtheit und dem Recht auf sexuelle Selbstbestimmung unvereinbar seien.4 Damit wird nun eine größere Bandbreite an möglichen Körperlichkeiten zugestanden, die zur Anerkennung in einer der beiden herkömmlichen Geschlechtskategorien berechtigen. Zugleich wird in dem Urteil jedoch ausdrücklich an der notwendigen Voraussetzung zweier Sachverständiger-Gutachten festgehalten, welche die Eindeutigkeit, Stabilität und Dauerhaftigkeit des ›gegengeschlechtlichen‹ Empfindens bestätigen müssen.5 Die Möglichkeit geschlechtlicher Selbstbestimmung wird hier also explizit ausgeschlossen zugunsten der Spezifizierung von vermeintlich objektivierbaren Kriterien, die weiterhin einer zweigeschlechtlichen Matrix verhaftet und an medizinisch-psychologische Expertise gebunden bleiben. Damit geht es in dem Urteil auch nicht um eine Erweiterung oder Veränderung geschlechtlicher Möglichkeiten für alle, son3 | Vgl. zur parlamentarischen Kritik am TSG und zum Scheitern bisheriger Reformbemühungen den Beitrag von de Silva in diesem Band. 4 | Vgl. BVerfG, 1 BvR 3295/07 vom 11.01.2011 (siehe www.bverfg.de/entscheidungen/rs20110111_1bvr329507.html); vgl. für eine Analyse der juristischen Neuverhandlung der Bedeutung von Geschlecht in diesem Urteil ausführlich Adamietz 2011: 170ff. 5 | Die begutachtenden »Sachverständigen« müssen »auf Grund ihrer Ausbildung und ihrer beruflichen Erfahrung mit den besonderen Problemen des Transsexualismus ausreichend vertraut« sein (§ 4 Satz 3 TSG). Auch wenn dies hier nicht explizit vorgeschrieben ist, werden in der Praxis überwiegend Ärzt_innen, Psycholog_innen und Psychiater_innen als diese Voraussetzungen erfüllende Sachverständige anerkannt (vgl. Hoenes 2009: 54, Fußnote 4).

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dern weiterhin um die diagnostische Scheidung zwischen einer unhinterfragt vorausgesetzten Normalität somatisch fundierter Zweigeschlechtlichkeit und deren pathologisierter ›Abweichungen‹. In dem bereits zitierten Papier zur Reform des Transsexuellenrechts (vgl. AK TSG-Reform 2012) wird diese besondernde diagnostische Logik nun grundsätzlich angefochten, indem nicht nur die Abschaffung der Begutachtungspflicht und der aufwendigen gerichtlichen Verfahren (die durch einen einfachen Verwaltungsakt ersetzt werden sollten) gefordert wird, sondern auch die »Aufhebung des TSG als Sondergesetz und die Integration notwendiger Regelungen in bestehendes Recht« (ebd.: 1). Diese Zurückweisung besondernder, bevormundender und restriktiver, das Selbstbestimmungsrecht einschränkender Regelungen wird flankiert durch die Forderung nach einer rechtlichen Absicherung der Leistungspflicht der Krankenkassen bei geschlechtsangleichenden Maßnahmen (vgl. ebd.). Das den erwähnten rechtlichen Regelungen zugrunde liegende pathologisierende Verständnis transgeschlechtlicher Existenzweisen wird im Kontext trans*-aktivistischer Bewegungen auch grundsätzlich auf dem Terrain seiner medizinisch-psychiatrischen Verfasstheit angefochten. Die seit 2009 von zahlreichen Initiativen weltweit geführte Kampagne »Stop trans pathologization« 6 setzt sich für die Streichung der auf solche Existenzweisen bezogenen pathologisierenden Diagnosen aus den internationalen Krankheitskatalogen DSM7 und ICD 8 ein. Die mit der Veröffentlichung des DSM-V im Mai 2013 erfolgte Ersetzung der bis dahin als »Gender Identity Disorders« aufgeführten Kategorie durch die (den Störungsbegriff vermeidenden) Bezeichnung »Gender Dysphoria« zeigt zwar, dass die Diskussion auch im medizinisch-psychiatrischen Feld in Bewegung gerät, ändert aber zunächst nichts an der Beibehaltung der – von der erwähnten Kampagne grundsätzlich kritisierten – Klassifikation der fraglichen Existenzweisen im Kontext »psychischer Störungen«. Intakt bleibt so trotz des schöneren Namens die individualisierende, klassifizierende und normalisierende diagnostische Logik, die eine naturalisierte, psychisch und somatisch fundierte Zweigeschlechtlichkeit weiterhin als Norm voraussetzt; die ›Abweichungen‹ von dieser Norm als relativ dauerhafte Dispositionen im Individuum lokalisiert; und die das Erkennen dieser Dispositionen und die

6  |  Siehe dazu die Website der Kampagne unter www.stp2012.info sowie Allex 2012. 7  |  »Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders« (dt.: »Diagnostisches und statistisches Handbuch psychischer Störungen«), herausgegeben von der »American Psychiatric Association«. 8 | »International Classification of Diseases«, herausgegeben von der Weltgesundheitsorganisation (WHO).

Überlegungen zu (trans*-)geschlechtlicher Selbstbestimmung und kollektiven Praxen

Entscheidung darüber, was daraus folgt, nicht dem Individuum selbst überlässt, sondern in die Zuständigkeit von Expert_innen gibt.9 Mit Foucault lassen sich die mit dieser diagnostischen Logik verbundenen Machtwirkungen als Formen der individualisierenden Subjektivierung begreifen: als eine Form der Macht, die »das Individuum in Kategorien einteilt, ihm seine Individualität aufprägt, es an seine Identität fesselt, ihm ein Gesetz der Wahrheit auferlegt, das es anerkennen muss und das andere in ihm anerkennen müssen« (Foucault 1994: 246). In Kämpfen um Subjektivierungsweisen stehen die Formen auf dem Spiel, in denen wir im Kontext von Wissenssystemen und Machtpraktiken als spezifische (auch verkörperte und vergeschlechtlichte) Subjekte konstituiert werden und uns in den Beziehungen zu uns selbst als spezifische Subjekte anerkennen und führen. Die »Ent-Unterwerfung« in Bezug auf herrschende Logiken, die Anfechtung und Zurückweisung von damit einhergehenden Einschränkungen und Zumutungen (wie in den hier kursorisch aufgerufenen Beispielen) ist notwendiger Bestandteil solcher emanzipatorischer Kämpfe. Zugleich lassen sie sich Foucault zufolge nicht darauf beschränken (und hier komme ich auf die eingangs aufgeworfene Frage nach der Konstituierung des ›Selbst‹, dessen Selbstbestimmung erkämpft werden soll, zurück): In der kollektiven Entwicklung oder ›Erfindung‹ anderer Subjektivierungsweisen sieht Foucault das Potenzial einer »Praxis der Freiheit« (Foucault 2005), in der Freiheit (und Selbstbestimmung) positiv Gestalt annehmen kann, anstatt lediglich negativ als ›Freiheit von‹ bestimmt zu sein. Wie auch dies – die kollektive Entwicklung alternativer geschlechtlicher Subjektivierungsweisen, die sich einer diagnostischen Logik widersetzen – in gegenwärtigen trans*-queeren Kontexten geschieht, möchte ich im Folgenden an einem Beispiel, der Drag King-Szene in Deutschland, skizzieren.10

9  |  Bezüglich der noch ausstehenden Revision des ICD verfolgt die Kampagne das Ziel der Streichung der bisherigen trans*-bezogenen Diagnosen aus dem Kapitel »Mental and Behavioral Disorders« und die Entwicklung einer nicht pathologisierenden, auf die Gesundheitsversorgung von Trans* bezogenen Nennung in einem anderen Kapitel, um eine weitestmögliche Sicherstellung der Kostenübernahme durch die Krankenkassen zu ermöglichen; vgl. zu diesen Vorschlägen und zum Stand der Diskussion in der u.a. mit der Neufassung trans*-bezogener Klassifikationen befassten Working Group der WHO ein entsprechendes Papier der Kampagne unter www.stp2012.info/STP_Communique_August2013.pdf. 10  |  Im Rahmen meiner Dissertation (vgl. Schirmer 2010) war ich zwischen 2003 und 2006 teilnehmend beobachtend in Szenekontexten in Köln und Berlin unterwegs und habe 15 narrative Interviews geführt mit Menschen, die sich damals dort engagiert haben. Die folgenden Ausführungen beruhen auf dieser empirischen Basis.

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2. K ollek tive P r a xen , alternative S ubjek tivierungs - weisen : zum B eispiel D r ag K inging 11 Drag Kinging entwickelte sich zunächst in den 1990er Jahren im Kontext lesbischer Klubkultur in den USA – als eine bühnenbezogene Praxis von oft parodistischen Darstellungen männlich konnotierter Charaktere, zumeist durch Menschen, die bei ihrer Geburt als weiblich klassifiziert wurden (vgl. Volcano/ Halberstam 1999; Troka/LeBesco/Noble 2002). Um die Jahrtausendwende herum wurde diese Praxis in vielen weiteren westlichen Großstädten aufgegriffen und über den Rahmen von Bühnenshows hinaus erweitert, so auch in Deutschland und hier v.a. in Berlin und in Köln.12 Zusätzlich zur Gründung von Drag-King-Performance-Gruppen wurden etwa Party-Reihen und Stammtische, Drag Workshops, ein Magazin (Die Krone & ich) und vieles mehr rund um Drag Kinging ins Leben gerufen. Es entstanden also vielfältige, miteinander vernetzte Aktivitäten und Räume, die eine Szene konstituierten, in der Drag Kinging als eine kollektiv geteilte Alltagspraxis erfahrbar wurde (und teils noch wird): als ein Experimentieren mit unterschiedlichen geschlechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten – mit Kleidungsstilen, mit Formen der Gesichtsbehaarung (dem Kleben oder Malen von Bärten), mit Bewegungsweisen, Körperhaltungen, Gestik und Mimik oder auch mit unterschiedlichen Vornamen und Pronomina, mit denen man sich wechselseitig aufeinander bezieht. Als eine wesentlich experimentierende Praxis setzt Drag Kinging keine bestimmte geschlechtliche Identität voraus und zwingt auch nicht dazu, das eigene geschlechtliche Sein auf eine zugrunde liegende innere Wahrheit hin zu erforschen. Die Praxis ermöglicht vielmehr ein Ausloten unterschiedlicher geschlechtlicher Darstellungs- und Erfahrungsmöglichkeiten, ohne sich der Frage, wer man ›wirklich‹ geschlechtlich ist, beständig stellen zu müssen. Diese Frage, die sich gerade denjenigen, die Mannsein oder Frausein nicht eindeutig bzw. nicht in der herkömmlichen Weise verkörpern und leben, im Kontext der gegenwärtigen Geschlechterordnung oftmals gewaltsam stellt oder gestellt wird, und die auch der im vorangegangenen Abschnitt skizzierten diagnostischen Logik zugrunde liegt, kann dadurch teils erfolgreich zurückgewiesen oder zumindest temporär ausgesetzt werden.13

11  |  Dieser Text enthält – v.a. im nun folgenden Abschnitt – leicht veränderte Passagen früherer Publikationen von mir (vgl. Schirmer 2010, 2012 und 2013). 12 | Vgl. zu Praxen und Kontexten dieser Szene außerdem ausführlich Schuster 2010 sowie Thilmann/Witte/Rewald 2007. 13  |  Vgl. Franzen 2007 zum Potenzial von Praxen des Drag Kinging, die auch in medizinisch-psychologischen Klassifikationen wirksame Unterscheidung zwischen »Spaß« und »Ernst« erfolgreich zu unterlaufen.

Überlegungen zu (trans*-)geschlechtlicher Selbstbestimmung und kollektiven Praxen

Dennoch werden – so zeigen meine Interviews in der Szene – verschiedene geschlechtliche Darstellungsweisen nicht unterschiedslos als Inszenierung, sondern durchaus als mehr oder weniger eng in Verbindung mit einem ›Ich‹ stehend erfahren. So beschreibt etwa Flin14 das Erlebnis, sich erstmals selbst mit angeklebtem Bart im Spiegel zu sehen, als Evidenzerfahrung einer deutlicheren Sichtbarkeit seiner selbst: »Es war super, das war richtig in den Spiegel gucken und denken: Ja, genau, das ist es, so: das bin ich.« Wie der Fortgang des Interviews zeigt, sieht Flin sich hier weder als Mann noch als Frau, sondern in einer Geschlechtlichkeit, die er selbst als »trans« bezeichnet. Dass hier andere als strikt zweigeschlechtlich strukturierte Geschlechtlichkeiten in einer als unmittelbar erlebten Weise sichtbar werden, beschränkt sich nicht auf den individuellen Blick in den Spiegel. Vielmehr bildet sich durch das kollektive Engagement in Praxen des Drag Kinging eine geteilte alternative Wahrnehmungsweise heraus, die anders und anderes zu sehen erlaubt, anstatt jede Erscheinung als ›männlich‹ oder ›weiblich‹ zu vereindeutigen. Dies macht die Szene für viele zu einem »Raum, in dem ich mich gesehen fühle, anstatt immer zu verschwinden« (so Niko im Interview). Einige erleben zudem, wie sich die Erfahrung ihrer eigenen Geschlechtlichkeit im Zuge ihres Engagements in der Szene verändert. Was etwa zunächst als eine ›Rolle‹ im Kontext einer Bühnenperformance entworfen wird, kann sukzessive als »Ich« oder als »Teil von mir« erfahrbar werden (so zwei Formulierungen aus den Interviews) – etwa durch die Routinisierung und Veralltäglichung von damit verbundenen Darstellungspraxen, durch die Verleiblichung von zunächst intentional angeeigneten körperlichen Stilen, durch das veränderte Adressiertwerden im Kontext von Anerkennungsbeziehungen in der Szene. Manche entwickeln im Zuge dessen ein Selbstverständnis als Mann und tragen Sorge dafür, auch außerhalb von Szenekontexten so wahrgenommen und adressiert zu werden – teils mit, teils ohne Inanspruchnahme körperverändernder medizinischer Maßnahmen. Wieder andere nutzen Hormontherapien und/oder Operationen, um ihren Körperwünschen zu entsprechen, ohne sich deshalb (zwei-)geschlechtlich vereindeutigen zu wollen. So erlebt etwa Tam die Auswirkungen von Hormontherapie und Mastektomie (operative Entfernung der Brüste), die er als befreiend und stimmig empfundene Veränderungen begrüßt, nicht als Ausdruck von Männlichkeit. Sie begreift sich auch mit ihrem derart modifizierten Körper weder als Mann noch als Frau, sondern in einer nur schwer auf den Begriff zu bringenden, aber sowohl von ihm selbst als auch von anderen im Kontext der Szene als sinnhaft wahrnehmbaren Geschlechtlichkeit.

14  |  Die Namen aller Interviewten wurden zwecks Anonymisierung geändert.

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Die Bedeutung kollektiver Praxen und Zusammenhänge als Bedingung der Möglichkeit des je eigenen geschlechtlichen Seins, die in den hier angerissenen Beispielen implizit deutlich wird, wird von einigen Interviewten auch expliziter formuliert. Till etwa berichtet zunächst von seinem Unbehagen beim Besuch eines Transmann-Stammtisches, weil er sich dort mit von ihm als rigide und normativ erlebten Vorgaben bezüglich einer ›richtigen‹ Transmännlichkeit konfrontiert sah, die er weder erfüllen konnte noch wollte.15 Seine mit seinem ersten Kontakt zur Drag King-Szene verbundene Hoffnung, dass die Leute dort »vielleicht […] eher so drauf [sind], dass die mich einfach machen lassen, dass ich nichts machen muss«, wird seiner eigenen Einschätzung nach erfüllt und eröffnet für ihn neue Möglichkeiten: »Dadurch, dass ich mir halt die Freiheit dann genommen hab’ oder mir die Freiheit auch in der King-Szene so gegeben wurde, hab’ ich natürlich schon überlegt: Wie will ich denn mein Leben jetzt eigentlich gestalten. Und hab’ dann schon auch angefangen, Hormone zu nehmen. Und das war okay.« Die Freiheit, sein Leben nach eigenem Ermessen gestalten zu können, begründet sich für Till offenbar nicht allein durch die Abwesenheit normativer Vorgaben. Indem er formuliert, dass die Freiheit ihm im Kontext der Szene »gegeben« wurde, benennt er positiv eine Form der unterstützenden Kollektivität als Voraussetzung der Möglichkeit selbstbestimmter Gestaltung. Dies vermag die Einschränkungen der Gestaltbarkeit im Kontext der weiter oben skizzierten rechtlichen und medizinischen Regulierungen zwar selbstverständlich nicht außer Kraft zu setzen. So schildert Till im Interview etwa eindrücklich, welche massive Belastung das aufwendige und von ihm als invasiv erlebte psychiatrische Begutachtungsverfahren im Vorfeld der gewünschten Mastektomie für ihn darstellt. Seine »Freiheit«, für die der Zusammenhang der Drag King-Szene konstitutiv ist, bleibt damit eine relative; sie besteht vorwiegend in der Ermächtigung, für ihn stimmige und als selbstbestimmt erlebte Entscheidungen zu treffen und diese auch gegen Zumutungen zu verteidigen. Derartige Formen der Unterstützung und Ermächtigung werden in vielen weiteren Interviews ebenfalls deutlich sowie im Austausch auf der Mailingliste, wo das Ausloten und Ermutigen unterschiedlicher geschlechtlicher Selbstentwürfe oft Hand in Hand geht mit praktischen Tipps dazu, wie die mit den rechtlichen und medizinischen Verfahrensweisen einhergehenden Zumutungen (zumindest partiell) unterlaufen oder auch zurückgewiesen werden können. Im Zuge des kollektiven Engagements in Praxen des Drag Kinging, so lässt sich zusammenfassen, bilden sich also Existenzweisen heraus, die sich von 15 | Damit soll nicht nahegelegt werden, dass solche normativen Vorgaben bzw. Vorstellungen in Transmann-Kontexten (noch) vorherrschend sind; vgl. zu Entwicklungen von Transmann-Zusammenhängen in Selbsthilfe-Kontexten Regh 2002 sowie den Beitrag von Adrian de Silva in diesem Band.

Überlegungen zu (trans*-)geschlechtlicher Selbstbestimmung und kollektiven Praxen

der hegemonialen Weise, geschlechtlich zu existieren, deutlich unterscheiden, und die sich zugleich einer diagnostischen Fixierung als spezifische ›Abweichungen‹ widersetzen: Geschlecht wird hier nicht notwendig als dauerhaftes, stabiles und zweigeschlechtlich vereindeutigtes inneres Empfinden erfahren, sondern (zum Teil) als veränderbar und abhängig von Anerkennungsbeziehungen. Körper werden auf unterschiedliche Weisen geschlechtlich erfahren oder auch verändernd gestaltet – mit Mitteln des Drag oder auch mittels medizinischer Technologien. Zugleich erscheinen die im Kontext der Szene konstituierten geschlechtlichen Verortungen nicht als beliebig oder vollständig flexibel. Nicht als Resultat einer individuellen, willkürlichen ›Neuerfindung‹ seiner selbst, sondern als Effekt einer sich verstetigenden, kollektiven Alltagspraxis werden hier andere als strikt zweigeschlechtlich strukturierte Möglichkeiten des Geschlechtseins wirklich erfahrbar: als leiblich spürbare, sichtbare, intelligible Weisen, für sich und andere geschlechtlich in der Welt zu sein. Dies setzt die Zumutungen rechtlicher und medizinischer Regulierungsweisen und alltagspraktischer Missachtung und Diskriminierung nicht außer Kraft, kann aber dazu ermutigen und ermächtigen, sich dagegen zu verwahren und zur Wehr zu setzen.

3. G eschlechtliche S elbstbestimmung , kollek tive P r a xen , struk turelle B edingungen : V ersuch eines F a zits Ich habe versucht, zu zeigen, dass die Frage nach Möglichkeiten (trans*-) geschlechtlicher Selbstbestimmung sich nicht reduzieren lässt auf die Zurückweisung repressiver und bevormundender Zumutungen, sondern unweigerlich gebunden ist an soziale Kontexte und kollektive Praxen, die mit konstituieren, welche geschlechtlichen Existenzweisen vorstellbar, anerkennbar und lebbar werden und gegen Zumutungen zu verteidigen sind. Die in den hier skizzierten Praxen enthaltene Erfahrung einer anderen, kollektiv geteilten geschlechtlichen Wirklichkeit – und das heißt auch anderer Wahrnehmungsweisen, anderer Anerkennungsbeziehungen und Selbstverhältnisse – vermag den Blick darauf zu lenken, dass die Frage, wer man geschlechtlich sein kann, unweigerlich auf soziale Ordnungen verweist, die bestimmte Existenzweisen ermöglichen oder verhindern. Diese Einsicht zum Ausgangspunkt einer Kritik der pathologisierenden Besonderung zu machen, verschiebt die Perspektive weg von dem Fokus auf den Nachweis, dass ›auch‹ Trans*-Menschen ›gesund‹ und ›normal‹ seien (ein Fokus, der Gefahr läuft, in problematische, weil immer normierende und ausschließende Konzeptionen von Normalität und Gesundheit zu investieren). Anstatt ›das Problem‹ im Individuum zu lokalisieren und von diesem den Nachweis entweder der Gesundheit oder bestimmter, als

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krankheitswertig geltender Symptome zu fordern, ist es in dieser Perspektive die ausschließende und besondernde Gewalt einer heteronormativen, binären Geschlechterordnung, die als Problem identifizierbar wird.16 Ähnliches hat Jannik Franzen bereits vor mehr als zehn Jahren in einem Gespräch mit Nico J. Beger formuliert und vorgeschlagen, »das ›Leiden‹ an der zweigeschlechtlichen Gesellschaft zur Grundlage der ›Diagnose‹ [zu] machen«, so lange es »keine Alternative zur Beteiligung von Ärzten und Krankenkassen gibt« und Diagnosen daher zunächst unverzichtbar scheinen (Franzen/Beger 2002: 60). Wenn ich hier die Drag King-Szene als Beispiel für einen trans*-queeren sozialen Kontext angeführt habe, in dem alternative, nicht strikt zweigeschlechtlich bestimmte und sich einer diagnostischen Logik entziehende Subjektivierungsweisen entwickelt werden, ist allerdings einschränkend zu bemerken, dass dieser Kontext nicht als paradigmatisch betrachtet werden kann für das heterogene, teils auch transnational konstituierte Feld gegenwärtiger trans*-queerer Szenen und Zusammenhänge. Es handelt sich hier um eine relativ kleine Szene, die vorwiegend in zwei deutschen Großstädten und vor allem um die Mitte der Nuller Jahre herum sehr lebendig war; viele der dort entwickelten Praxen finden sich mittlerweile in anderen trans*-queeren Kontexten wieder, für die »Drag Kinging« im engeren Sinne und unter dieser Bezeichnung nur noch eine untergeordnete Rolle spielt. Die hier skizzierten kollektiven Praxen sind also als sehr spezifische zu verstehen – und ganz gewiss nicht als eine »Praxis der Freiheit« (Foucault 2005) für ›alle‹: Aus lesbisch-queeren und Transmann-Zusammenhängen hervorgegangen, ist die Szene etwa für Trans*-Weiblichkeiten im weitesten Sinne nicht unbedingt der bevorzugte Ort. Deutlich geprägt ist die Szene außerdem von einer impliziten, oft als selbstverständlich geteilt vorausgesetzten mehrheitsdeutschen Verortung. Die konstitutive Bedeutung rassistischer Strukturierungen für die Frage nach möglichen Weisen, verkörpert in der Welt zu sein, wird zwar (in den Interviews) von einzelnen aufgeworfen (wenig überraschend eher von denjenigen, die von rassistischer Diskriminierung und Gewalt unmittelbar betroffen sind). Sie wird aber kaum zum Gegenstand kollektiver Reflexion und Bearbeitung in der Szene.17 Auch Unterschiede hinsichtlich der ökonomischen Situation und des Zugangs zu Bildung und existenzsichernder Erwerbsarbeit werden eher selten explizit im Zusammenhang mit Möglichkeiten geschlechtlichen Seins thematisiert. Diese spezifizierenden Einschränkungen der Bedeutung der hier skizzierten Praxen dienen nicht nur der Kontextualisierung des empirischen Beispiels. Sie verweisen grundsätzlicher darauf, dass auch die 16  |  In diesem Sinne hat Corinna Genschel bereits 2001 formuliert, dass Trans*-Menschen »einen (gesellschaftlichen) Widerspruch lösen müssen, der (individuell) nicht zu lösen ist, aber subjektiv gelöst werden muss« (Genschel 2001: 831). 17  |  Vgl. hierzu ausführlicher Schirmer 2010: 319ff. und 329ff.

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hier vorgenommene Erweiterung der Frage nach Möglichkeiten geschlechtlicher Selbstbestimmung um die konstitutive Bedeutung kollektiver Praxen, in denen alternative Geschlechtlichkeiten erst lebbar und anerkennbar werden, zu kurz greift, um der neoliberalen Ideologie von Selbstbestimmung als individualisierte Eigenverantwortung wirksam zu begegnen. Denn geschlechtliche Selbstbestimmung lässt sich nicht isoliert betrachten von anderen Differenzund Herrschaftsverhältnissen, die (Un-)Möglichkeiten der Selbstbestimmung strukturieren – also von gesellschaftlichen Verhältnissen und Bedingungen, die in der neoliberalen Aufforderung zu selbstbestimmter Gestaltung regelmäßig dethematisiert werden.18 Weder die hier angeführten Praxen des Drag Kinging noch andere, je kontextuell spezifische kollektive trans*-queere Praxen vermögen daher ausreichende Antworten zu liefern auf die Frage, was geschlechtliche Selbstbestimmung bedeutet oder wie sie erkämpft werden sollte. Derartige Praxen (und ihre Analyse) könnten aber als Anregung begriffen werden, diese Frage wachzuhalten, und gegen individualistisch verkürzte, als neoliberale Zumutung gewendete Antworten zu verteidigen: als Frage nach den sozialen, institutionellen und strukturellen Bedingungen dessen, was geschlechtliche Selbstbestimmung – für wen – überhaupt sein kann.

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Lesben und Schwule mit Behinderung — Wo können vielfältige Identitäten eine Heimat finden? Eine umfassende Idee von Barrierefreiheit aus der Perspektive der Intersektionalität Gesa C. Teichert

Die Belange von Lesben und Schwulen mit Behinderung kommen meist weder in den Diskursen der Queer Studies noch in denen der Disability Studies vor, ganz zu schweigen von einer Auseinandersetzung in den jeweiligen Peergroups. Die folgenden Überlegungen sollen daher einen Beitrag leisten, die ›blinden Flecke‹ der jeweiligen Diskurse eine wenig zu erhellen. Wer über Menschen spricht, die in zwei Identitätskategorien mehr oder weniger deutlich außerhalb der ›Norm‹ liegen, läuft ständig Gefahr, Stereotype zu produzieren bzw. zu reproduzieren. Wenn ich also von Lesben und/oder Schwulen mit Behinderung spreche, so verbergen sich hinter dieser Chiffre unzählige Varianten von Verflechtungszusammenhängen, die, um deren Zusammenwirken untersuchen zu können, in ihrer Komplexität reduziert werden müssen (vgl. Becker-Schmidt 2007). Behinderung manifestiert sich als Problem vor allem immer dann, wenn Menschen mit Einschränkungen auf Barrieren in ihrer Umwelt treffen (vgl. Hohmann/Bruhn 2011) – sei es in der Schule, im Supermarkt, bei Behörden, in der Lesbenberatung, im schwulen Buchladen oder auf der queeren Party (vgl. Becker 2009).

B arrierefreiheit Daher ist eine zentrale Forderung von Menschen mit Behinderung die nach Barrierefreiheit, also nach Zugang zu allen Bereichen, die ein Mensch mit Behinderung aufsuchen möchte. Häufig wird unter der Forderung nach Barrierefreiheit, insbesondere von Menschen ohne Behinderung, lediglich die Gestal-

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tung der baulichen Umwelt verstanden, also das Vorhandensein von Rampen oder Aufzügen. Tatsächlich umfasst Barrierefreiheit nach dem Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen auch Verkehrsmittel, technische Gebrauchsgegenstände, akustische und visuelle Informationsquellen und Kommunikationseinrichtungen sowie alle anderen gestalteten Lebensbereiche.1 Es geht hier also bspw. um barrierefreies Internet, Bücher in Braille, politische Informationen in leichter Sprache, tastbare Stadtpläne oder PC-Dokumente, die mittels Sprachprogrammen wiedergegeben werden können. Ich möchte für die folgende Diskussion allerdings eine noch wesentlich weiter reichende Definition von Barrierefreiheit vorschlagen: Diese darüber hinausgehende Sichtweise unterscheidet nicht mehr zwischen einzelnen Personengruppen. Vielmehr sollen die Bedürfnisse aller Menschen berücksichtigt werden. Der Blick auf Potenziale und Möglichkeiten, die in den Verschiedenheiten von Menschen liegen, ist ein zentrales Anliegen der Idee von Diversity und bietet eine positive Umdeutung von ›Anderssein‹ beziehungsweise die Ablösung der Idee von ›normal und anders‹. Auch die Intersektionalität begreift Menschen als vielschichtiger als es mit Schubladenbegriffen wie ›normal‹, ›abweichend‹ oder ›anormal‹ erfasst werden kann, nimmt dabei aber zentral die diskriminierenden Erfahrungen in den Blick, die aufgrund gesellschaftlicher Übereinkommen zu dem, was normal sei, entstehen. Die UN-Behindertenrechtskonvention von 20062 beschreibt dies im Artikel 9 und stellt so eine rechtsverbindliche Grundlage für einen weiten Barrierefrei-Begriff dar. Das hier zugrunde gelegte Verständnis von Barrierefreiheit geht auf die Idee des universal design3 (Design für Alle4) zurück, »ein Design von Produkten, Umfeldern, Programmen und Dienstleistungen in der Weise, dass sie von allen Menschen möglichst weitgehend ohne eine Anpassung oder ein spe1 | Vgl. hier Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen (Behindertengleichstellungsgesetz – BGG), §4 Barrierefreiheit: »Barrierefrei sind bauliche und sonstige Anlagen, Verkehrsmittel, technische Gebrauchsgegenstände, Systeme der Informationsverarbeitung, akustische und visuelle Informationsquellen und Kommunikationseinrichtungen sowie andere gestaltete Lebensbereiche, wenn sie für behinderte Menschen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe zugänglich und nutzbar sind.« 2  |  In Deutschland in Kraft seit 2008. 3  |  Vgl. zur Idee des universal design die Überlegungen des College of Design der North Carolina State University: http://design.ncsu.edu/about/a-history-of-success. 4 | Vgl. hierzu die gemeinsame Homepage des Forschungsinstituts Technologie-Behindertenhilfe (FTB) und des Fraunhofer-Instituts für Angewandte Informations- und Kommunikationstechnik (FIT), auf der die grundsätzlichen Überlegungen zum »Design für Alle« dargestellt werden: http://edean.universelles-design.de/dfa_de/index.html.

Lesben und Schwule mit Behinderung zielles Design genutzt werden können. ›Universelles Design‹ schließt Hilfsmittel für bestimmte Gruppen von Menschen mit Behinderungen, soweit sie benötigt werden, nicht aus.« (UN-Behindertenrechtskonvention 2012)

Die Formulierung, dass spezielle Hilfsmittel für Menschen mit Behinderung im Kontext des universal design nicht ausgeschlossen sind, weist auf die grundsätzlich neue Haltung gegenüber ›Abweichung‹ hin: Vielfältigsein soll immer mitgedacht werden und so nur im besonderen Fall auch besondere Maßnahmen nötig machen. Die Weitung der Idee von Barrierefreiheit um den kulturellen Aspekt beschreiben die Maßnahmen des Konzepts der Interkultur bzw. Interkulturalität 5 (vgl. Hall 1999), mit denen kulturelle Barrierefreiheit geschaffen werden soll und somit Institutionen befähigt werden, mit Individuen einer Gesellschaft der Vielheit6 umzugehen. – Ich werde am Ende meiner Überlegungen auf diesen Punkt zurückkommen. – Mit dem weiten Barrierefrei-Begriff lassen sich Orte und Räume, Atmosphären und Kulturen beschreiben, in denen alle diejenigen sein können, die sie – im Sinne der Selbstdefinition – sind.

H eimat Hiermit komme ich zum zentralen Begriff meines Beitrags: Heimat 7. Heimat verweist zumeist auf eine Beziehung zwischen Mensch und Raum (vgl. Bausinger 1980). Im allgemeinen Sprachgebrauch wird der Begriff auf den Ort angewendet, in den ein Mensch hineingeboren wird, und in dem die frühesten Sozialisationserlebnisse stattfinden (vgl. Reinhold 1997). Diese Art des Heimatbegriffs könnte man treffender mit Herkunftsheimat bezeichnen. Da es bei Heimat aber vor allem um Fragen der Identifikation, der Gefühle geht, kann die ›eigentliche Heimat‹ auch unabhängig von einer bestimmten Geografie verstanden und erlebt werden. Häufig verwenden wir hierfür den Begriff geistige Heimat und meinen damit den Ort, an dem ein Mensch so sein kann, wie er ist. Auch wenn geistige Heimat und Herkunftsheimat (wenn sie denn Heimat und nicht nur Herkommen ist) sehr unterschiedlich aussehen können, so fin5  |  Interkultur bzw. Interkulturalität wird häufig vor allem im Zusammenhang von Ethnizität bzw. Migration verwendet; die grundlegenden, kulturtheoretischen Überlegungen zur Interkultur umfassen jedoch viel mehr Diversitykategorien und gehen von einem sehr weiten Kulturbegriff aus. 6  |  Vgl. hierzu die Initiative Charta der Vielfalt: www.charta-der-vielfalt.de. 7  |  Die Wahl des Heimatbegriffs liegt in meiner wissenschaftlichen Herkunft als Volkskundlerin und an einer damit einhergehenden Lust, alte Bezeichnungen neu zu denken und einer reflektierten Verwendung zuzuführen.

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den sich in beiden drei Aspekte, die für die Frage relevant sind, wo Lesben und Schwule mit Behinderung Heimat finden können: 1) Sicherheit – Da, wo ich Heimat empfinde, fühle ich mich mit meinem Selbst sicher aufgehoben; 2) Entwicklungsmöglichkeiten – So wie wir uns als Kinder in unserer Geburtsheimat zu Erwachsenen entwickelt haben, so können wir uns in unserer geistigen Heimat weiter zu den Menschen entwickeln, die wir werden können/wollen; 3) Brüche und Kritik – Es geht nicht um eine schöne heile Welt, denn Heimat bedeutet nur im (schlechten) Heimatfilm, dass alles immer gut ausgeht und eitel Sonnenschein herrscht. Wenn Heimat ein sicherer Entwicklungsraum ist, dann auch deswegen, weil wir in ihm streiten können, Grenzen austesten und Kritik üben können – ohne aus der Heimat vertrieben zu werden. Lesben und Schwule mit Behinderung gehören zwei sehr verschiedenen Szenen, Peergroups und damit auch Heimaten an: der Behinderten- bzw. Krüppelszene8 sowie der LSBTTIQ*-Szene.9 Diese beiden Heimaten sind nicht nur sehr verschieden, sie haben in der Regel auch sehr klare Vorstellungen, wie ihre »Bewohner« und »Bewohnerinnen« zu sein haben und sie fordern ein klares exklusives Bekenntnis. Eine »doppelte Staatsbürgerschaft« ist gleichsam nicht vorgesehen. Erschwerend kommt hinzu, dass sich sowohl die Behindertenszene als auch die LSBTTIQ*-Szene in viele, sehr differente Kulturen untergliedert.

8 | Durch die »Behinderten-Bewegung« kam es in den 1970er/1980er Jahren zu einer provokanten Umdeutung des Begriffs »Krüppel«: Mitglieder der »Krüppelbewegung« eigneten sich das Wort »Krüppel« selbst an, um gegen Mitleid und übertriebene Fürsorge zu protestieren und für die Gleichberechtigung behinderter Menschen einzutreten. Der provokative Begriff »Krüppel« wurde der abschätzigen Alltagssprache entlehnt und stand für eine autonome Position der Behindertenbewegung, in der nicht mehr Eltern, Betreuende und Fürsorgeeinrichtungen für Menschen mit Behinderung eintreten sollten, sondern diese sich selbst vertreten wollten. 9 | Lesbisch-Schwul-Bisexuell-Transsexuell-Transgender-Intersexuell und Queer. Das Sternchen steht hier als Platzhalter für alle weiteren Selbstdefinitionen. Ich verwende in diesem Abschnitt die mir bekannte »weiteste« Bezeichnungsabkürzung, um auf die unendliche Vielfalt sexueller und identitätsbeschreibender Selbstbestimmungen hinzuweisen – allerdings ohne den Anspruch oder gar Impetus, die Verlängerung der »Buchstabensuppe« zu fordern. Im restlichen Text beziehe ich mich spezifisch auf Schwule und Lesben, da nur hier die Quellenlage zu Lesben und Schwulen mit Behinderung ausreichend breit ist. Die Situation von transsexuellen oder intersexuellen Menschen mit Behinderung ist kaum erforscht und bedürfte, aufgrund des häufig medikalisierten Umgangs mit den Phänomenen Trans- bzw. Intersexualität, auch einer sehr speziellen Auseinandersetzung über die Zusammenhänge von Trans- und Intersexualität in Bezug auf Behinderung.

Lesben und Schwule mit Behinderung

B ehinderten - bz w. K rüppelszene Zusammenschlüsse von Menschen mit Behinderung bilden sich vor allem entlang der verschiedenen Behinderungsformen, da die Gemeinsamkeit, welche die Verbundenheit begründet, nicht die Behinderung an sich ist, sondern die spezifischen Charakteristika der jeweiligen Abweichung, Einschränkung oder Besonderheit. Die geteilte Gebärdensprache schafft bspw. die Heimat für gehörlose Menschen, ähnliche Erfahrungen mit dem Gesundheitssystem verbinden z.B. Menschen mit psychischen Erkrankungen und in der DMSG10 vernetzen sich Menschen, die an multipler Sklerose erkrankt sind. Egal, ob Menschen mit Behinderung ihre Heimat innerhalb der Behinderungspeergroup nun eher in politischen oder emanzipatorischen Gruppen11 finden, in Freizeitzusammenschlüssen12 oder in Werkstätten, Wohnheimen oder speziellen Schulen – die Mehrheit dieser Heimaten pflegt deutliche Normalitätsvorstellungen: »[…] auch Menschen mit Behinderungen verinnerlichen dieses Idealbild der ›Normalität‹ und haben oft den Anspruch, diesem Bild entsprechen zu können. Menschen mit Behin­derungen orientieren sich an den gleichen Wertmaßstäben und sind nicht frei von Vorurteilen.« (Ulbricht 2003) Je weniger die Körper in das Normalitätsschema der Mehrheitsgesellschaft passen, umso stärker wird der Druck, in allen anderen Bereichen die Mehrheitsnormen zu erfüllen, ja zu übererfüllen. ›Mangelnde‹ kognitive Leistungen müssen durch perfektionierte Höflichkeitsformen kompensiert werden, ›mangelnde‹ Optik durch überdurchschnittliche schulische oder berufliche Leistungen. So entsteht innerhalb der Peergroups eine hierarchische Ordnung, in der diejenigen sehr hohes Ansehen genießen, die jenseits der Behinderung ›am besten‹ in die Welt der ›Normalen‹ passen. »In dieser Gruppe wird nach Normen und Wertvorstellungen der Gesellschaft gelebt. Viele Frauen mit Behinderung streben ebenso nach Normalität wie Frauen ohne Behinderung, obgleich sie keine Chance haben werden, diese zu erreichen. Diese Normen zu erfüllen, bedeutet für Frauen mit Behinderung viel mehr Anstrengung. Wenn ihr Streben nach der Norm Anerkennung findet, so bedeutet dies eine Aufwertung ihres Selbstbewusstseins.« (Kwella 2010)

10  |  Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft. 11  |  Bspw. Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe von Menschen mit Behinderung und chronischer Erkrankung und ihren Angehörigen e.V. (BAG SELBSTHILFE), Bundesverband »Das frühgeborene Kind« e.V., Deutsche Schmerzliga e.V., Deutscher Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf e.V. (DVBS) oder Weibernetz e.V. 12 | Bspw. Deutscher Rollstuhl-Sportverband (DRS), Behinderten Golf Club Deutschland, Deutscher Schwerhörigen Sportverband oder Deutscher Gehörlosen-Sportverband.

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Sexualität und sexuelle Identität dienen insbesondere dieser kompensatorischen Normerfüllung. Wenn Lebensverlauf und -gestaltung aufgrund von Behinderung schon deutlich von der Norm abweichen, dann sollen sexuelle Identität und sexuelles Begehren doch wenigstens nicht auch noch ›anders‹ sein. Diese Suche nach einer ›normalen‹ Partnerschaft zeigt sich meist auf zwei Ebenen. Auf der körperlichen Ebene herrscht das Ideal, eine Partnerin bzw. einen Partner ohne Behinderung, also ohne ›körperlichen Makel‹ zu finden. »Markant ist auch, dass viele Men­schen mit Behinderungen keine Partnerin oder keinen Partner wollten, die/der ebenfalls behindert ist, weil sie sich an den Normen der nichtbehinderten Welt orientieren und die Norm besagt, dass eine Partnerin/ein Partner ohne Behin­derung erstrebenswerter sei.« (Picker 1997) Auf der Ebene der sexuellen Orientierung geht es darum, der heterosexuellen Matrix13 zu entsprechen. Dabei ist für viele Menschen mit Behinderung – insbesondere für diejenigen, die mit ihrer Behinderung geboren wurden bzw. diese in der frühen Kindheit erworben haben – die Auseinandersetzung mit der eigenen Sexualität sehr schwierig und häufig mit Tabus belegt. Die Vorstellung einer erfüllten Sexualität in Kombination mit einer Behinderung ist sowohl für den Betroffenen als auch für die Angehörigen sowie die Gesellschaft nur schwer denkbar.14 Viele Kinder mit Behinderung werden daher sehr oft von allem, was mit Sexualität zu hat, ferngehalten (vgl. Wienholz et al. 2013). Je schwerer die Behinderung ist, umso mehr wird jede Auseinandersetzung vermieden oder auch unterbunden. Eltern, Erziehende und Gesellschaft argumentieren hier häufig mit dem Wohl der Kinder, da sie davon ausgehen, dass diese nie eine Beziehung leben werden (vgl. Diehl 2001). Sie sollen etwas, von dem ausgegangen wird, dass es für sie unerreichbar ist, gar nicht erst kennenlernen. So machen sich sehr viele Menschen mit Behinderung erst relativ spät auf die Entdeckungsreise der eigenen Sexualität und damit auch der sexuellen Identität (vgl. Ewinkel/Hermes 1985). Der Weg ist umso weiter, wenn er zu einer Identität bzw. zu einem Begehren führt, das von gesellschaftlich postulierten Normalitäten abweicht. Für eine solche Entwicklung fehlt im Umfeld von Menschen mit Behinderung häufig eine ausreichende Sensibilität und Unterstützungs13  |  Vgl. Butler (1990): »I use the term heterosexual matrix throughout the text to designate that grid of cultural intelligibility through which bodies, genders, and desires are naturalized.« 14  |  Auch wenn in der Behindertenpädagogik zunehmend eine Auseinandersetzung mit Fragen der Sexualität zu verzeichnen ist, finden sich immer noch viele ablehnende Haltungen gegenüber einer selbstbestimmten Sexualität von Menschen mit Behinderung bei Eltern, Betreuenden und öffentlichen Positionierungen. Das gilt insbesondere für Menschen mit sogenannten »geistigen« Behinderungen.

Lesben und Schwule mit Behinderung

bereitschaft. Aus Sicht vieler Eltern kommt eine weitere Enttäuschung hinzu, dass das Kind nun nicht nur im Sinne einer Behinderung abweicht (vgl. Schulte 1999). Die Behindertenszene reagiert in der Regel ebenso mit Unverständnis und Ablehnung, wird doch das geheime Postulat unterwandert, in allen anderen Bereichen so normal, wie es irgendwie geht, zu leben (vgl. Ulbricht 2003). Schwule und Lesben mit Behinderung verneinen mit ihrem Comingout das Anpassungsdiktat, das in ihrer Heimat herrscht. Hans-Hellmut Schulte, der lange Zeit bei der Schwulenberatung Berlin gearbeitet hat, formuliert die Frage der weiteren Abweichung folgendermaßen: »Kann ich mir die zweite Extravaganz jetzt auch noch leisten, dass ich nicht nur behindert, sondern auch schwul bin?« (Schulte 2010) Selbst die ansonsten sehr normativitätskritische, politische Krüppelszene weigert sich häufig, auch für Lesben und Schwule mit Behinderung einzustehen, da dieser ›Sonderschauplatz‹ als Energieabzug vom eigentlichen ›Kampfgebiet‹ empfunden wird. Persönlich bleibt mir anzumerken, dass ich in kaum einem anderen Kontext so häufig mit homophoben Äußerungen und persönlichen Abwertungen konfrontiert wurde wie in der Krüppelszene. So ging auch mir ein Stück Heimat verloren.

L esben - und S chwulenszene Daher setzen viele Schwule und Lesben mit Behinderung ihre Hoffnungen auf Anerkennung, auf Heimat in der schwul-lesbischen Szene. In ihrem Interview im Rahmen der Tagung »Inklusive Leidenschaft. Lesben, Schwule, transgeschlechtliche Menschen mit Behinderung« berichtet Ursula Eggli von ihren Hoffnungen nach dem Coming-out: »Aber am Anfang, wenn man zum ersten Mal Frauenbeziehungen hat, da ist man doch so glücklich und überschwänglich und möchte nur noch Lesbenliteratur lesen und Lesbenfilme sehen. […] Ich musste dann aber erfahren, dass genau in diesen Kreisen die Dis­ kriminierung beinahe stärker war. Natürlich verletzt sie auch stärker, weil man sie viel weniger erwartet. Aber in diesen Kreisen sind dann die Schönheitsideale viel krasser vornan gestellt und da gelte ich dann nicht als gute Partie. Zum Glück muss ich sagen, weil ich das ja auch nicht möchte.« (Eggli 2010)

Ebenso, wie sich die Heimat aus dem Behinderungskontext an den herrschenden gesellschaftlichen Normen orientiert und nur in ihrem spezifischen Bereich normativitätskritisch ist, so pflegen auch Lesben- und Schwulenszene in Fragen, die jenseits der sexuellen Orientierung bzw. Identität liegen, allzu oft die gesellschaftlich verhandelten Normvorstellungen. Auch wenn sich in den queeren Szenen bei Weitem nicht alles um Sex, Partnerwahl und Erotik dreht, so spielen Körper- und Beziehungsvorstellungen doch eine zentrale Rolle. So

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verschieden die Schönheitsvorstellungen in den jeweiligen Szenen auch sind, eine Vielfaltskultur herrscht nicht. Auch da, wo es keine starken Codes gibt, findet sich zumindest das Ideal des ›Coolseins‹. Sigrid Kwella (2010) attestierte auf der bereits erwähnten Tagung »Inklusive Leidenschaft«: »Mit einer Körperbehinderung cool auszusehen ist demnach wohl für viele nichtbehinderte Lesben ein Widerspruch in sich.« Ich ergänze: Auch für viele Lesben mit Behinderung gilt dieser Widerspruch. Vergleicht man Berichte von Lesben und Schwulen mit Behinderung, lassen sich besonders zwei Themenkomplexe ausmachen, die immer wieder in Zusammenhang mit Ausschlusserlebnissen gebracht werden: erstens der Umgang der Szenen mit Sexualität und Beziehungsvorstellungen und zweitens die Haltung der Szenen im Spannungsfeld zwischen Spaßkultur und Politik. Vergleicht man die Diskriminierungshintergründe zwischen Lesben- und Schwulenszene, so wird deutlich, dass Schwule mit Behinderung anderen ausgrenzenden Vorstellungen begegnen als Lesben mit Behinderung. Die in beiden Szenen herrschenden Vorstellungen zu Sexualität und Beziehung werden von Schwulen und Lesben mit Behinderung jeweils problematisch gesehen. Schwule erleben die starke Bedeutung von Sex als schwierig, Lesben hingegen die ausgeprägte Fokussierung auf das Führen von Lebensbeziehungen. Lesben mit Behinderung beklagen die starke Ausrichtung auf Beziehungen und stellen fest, dass die häufig herrschenden hohen Beziehungsansprüche, insbesondere was die Autonomie der jeweiligen Partnerin betrifft, für sie kaum erfüllbar sind; zum einen, weil sie nicht als potenzielle Lebenspartnerinnen gesehen werden und zum anderen, weil sie z.B. aufgrund eines deutlichen Unterstützungsbedarfs die geforderte Autonomie nicht bieten können. »Aber ich hab es dann erlebt, dass die Lesben sagten: Ach, wie kann diese Frau nur mit der – meine Freundin sah sehr gut aus – wie kann sie nur mit so einer. Sie muss ja einen Defekt haben, dass sie mit der kann. Oder schriftlich nieder gelegt in Lesbenbüchern: Ja, die hat eine Beziehung mit einer behinderten Frau. Ja, da wird sie ja nichts mehr zum Kotzen bringen.« (Eggli 2010)

Schwule mit Behinderung erleben die hohe Bedeutung von Sex in der Schwulenszene als Ausschlussmechanismus. Die starke Betonung von Idealkörpern setzt bereits ›ganz normale‹ Körper unter Druck und macht Schwulen mit Behinderung den Zugang (fast) unmöglich – von den konkreten Barrieren ganz zu schweigen. »[…] ganz zu schweigen von den sicherlich nicht barrierefrei zugänglichen Darkrooms (hier ist es sicherlich auch ohne Rollator nicht möglich, niemanden anzurempeln. Jetzt stelle man sich das Ganze mit einem Vorbau auf vier Rädern vor …). Aber ist denn Barrierefreiheit in der Szene überhaupt ein Ziel? Holt man sich damit nicht nur ›die Be-

Lesben und Schwule mit Behinderung hinderten‹ herein, die man aufgrund von Äußerlichkeiten, Berührungsängsten oder der eigenen Angst, irgendwann selbst eine Behinderung zu bekommen, sowieso ablehnt auch wenn man(n) das natürlich nie zugeben würde!?« (Pollack 2010)

Der zweite Aspekt, den Schwule und Lesben mit Behinderung als problematisch anführen, hängt mit der jeweiligen Haltung in der Szene zusammen. Die »Spaßkultur«, die in der schwulen Szene wahrgenommen wird (vgl. Schwules Netzwerk NRW 2007), verhindert eine Auseinandersetzung mit Fragen von Barrieren und Zugänglichkeiten. Wer auf diskriminierende Faktoren aufmerksam macht und eigene Bedürfnisse, die außerhalb des konkreten Spaßhabens liegen, zur Sprache bringt, wirkt als ›Spaßbremse‹ und erlebt Ausschluss. Einen Mangel an politischem Bewusstsein macht z.B. der niedersächsische Referent für Schwulenfragen und HIV/Aids am Ministerium für Soziales für die vielen Barrieren in seiner schwulen Heimat verantwortlich (vgl. Hengelein 2010). Lesben mit Behinderung sehen in der starken Politisierung der lesbischen Kultur jedoch ein Problem. Die stark ausgeprägte Betroffenheitskultur führt zu Diskriminierungen, da Betroffenheit im diskriminierenden Sinne vom Defizitblick lebt (vgl. Teichert 2006; Ruhm 1999). Wie kann eine Heimat finden, wenn sie Gegenstand von Mitleid wird? Aus diesen beiden vorgestellten und vielen weiteren Gründen versuchen Lesben und Schwule mit Behinderung immer wieder, sich eine eigene Heimat zu schaffen. So gründete sich in den 1990er Jahren bspw. das Krüppel-LesbenNetzwerk15, im queeren Jugendnetzwerk Lambda gründete sich in den 2000er Jahren im Landesverband Berlin-Brandenburg e.V. das Projekt Lambda2 (gesprochen: Lambda hoch zwei)16, das zwar auch Jugendlichen ohne Behinderung offensteht, sich aber dezidiert mit Fragen von Behinderung auseinandersetzt. Die aktuellste Bewegung ist queerhandicap17, die den eigenen Anspruch folgendermaßen beschreibt: »queerhandicap will Brücken schlagen … … zwischen uns und der ›normalen‹ Welt der Behinderten … zwischen uns und der nichtbehinderten LSBT-Szene … zwischen ›Krüppellesben‹ und Schwulen mit Behinderungen … zwischen den Aktiven und den Ratsuchenden«.18 Neben einigen wenigen lokalen Vernetzungen in NRW sind die Angebote von queerhandicap vor allem virtueller Natur, womit sich bereits ein Problem dieser ›separatistischen‹ Vernetzungen zeigt: Lesben und Schwule mit Behinderung gibt es nicht so viele, als dass sich neben den virtuellen auch reale, über längere Zeit bestehende Angebote etablieren könnten – Berlin bildet da eine 15  |  Vgl. hierzu das Kapitel 4.3.1.1 Krüppel-Lesben-Bewegung von Ulbricht (2003). 16 | Vgl. hierzu die Homepage des Projekts: https://www.lambda-bb.de/projekte/ lambda%c2%b2-projekt. 17  |  Vgl. hierzu die Homepage: www.queerhandicap.de. 18  |  Vgl. www.queerhandicap.de/wir.htm, zuletzt aufgerufen am 04.01.2014.

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Ausnahme. Eine virtuelle Heimat ist sicher besser, als heimatlos zu bleiben, aber reale Kontakte können so meines Erachtens niemals ersetzt werden. Gerade während des Coming-outs – sei es als Lesbe bzw. Schwuler oder als Mensch mit Behinderung19 – sind wir auch auf personale Begegnungen angewiesen.

S chlussüberlegungen Wie anfangs angekündigt, komme ich nun zur Frage der Barrierefreiheit zurück: Was muss – auch aus wissenschaftlicher Sicht – passieren? Die Perspektive der Intersektionalität 20 sollte in den wissenschaftlichen Diskursen weiter und intensiver geführt werden und in die konkreten Felder, die in diesem Beitrag teilweise bereits angerissen wurden, implementiert werden. Menschen mit Behinderung erleben aufgrund ihrer anderen Körper Diskriminierung, Schwule und Lesben aufgrund ihrer sexuellen Identität. Die Diskriminierungen, die Lesben und Schwule mit Behinderung erleben, sind aber keine bloßen Additionen. Wie die Aussagen von Ursula Eggli verdeutlicht haben, empfindet sie abwertende Erlebnisse umso schärfer, weil sie Hoffnung auf eine neue Heimat hatte, die tief enttäuscht wurde. Die Qualität der Ausgrenzung hat sich verändert, sie umfasst nun viel mehr Identitätsaspekte und stellt damit das Selbst stärker infrage. Erhofft sich bspw. ein Schwuler nach einem Unfall Unterstützung in einem Behindertenverband und erfährt dann Ablehnung aufgrund seiner sexuellen Identität, so verliert er wesentlich mehr als eine Informationsquelle: Seine neue Identität findet keine Heimat – zumal seine bisherigen Szenetreffpunkte vermutlich nicht barrierefrei sind. Beide Kulturen, die der schwul-lesbischen Community wie auch die der Menschen mit Behinderung, die der Queer Studies ebenso wie die der Disability Studies, verraten sich letztendlich selbst, wenn sie nicht in der Lage sind, ihre normativitätskritischen Forderungen intersektional zu weiten. Hierbei sehe ich vor allem die Chance, dass wir zu einer Abkehr der Defizitorientierung kommen. Wir können dazu beitragen, dass Gesellschaft begreifen lernt, dass es ›normal‹ ist, in vielerlei Hinsicht anders zu sein und dass uns nicht nur unsere Schnittstellen stärker und präsenter machen, sondern auch unsere Differenzen, Nuancen und Variationen: So kann eine Heimat der Vielfalt entstehen. Denn, nur in schlechten Heimatfilmen ist der Himmel immer blau, blüht stets die Heide und alle haben sich lieb. 19  |  Neben des herkömmlichen Verständnisses des Begriffs Coming-out lässt sich auch die Auseinandersetzung mit einer eingetretenen Behinderung im Sinne von Bewusstseinswerdung als Coming-out beschreiben. 20  |  Vgl. hierzu http://portal-intersektionalitaet.de.

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»Dieses Gefühl irgendwie so ’n Zuhause gefunden zu haben.« Biografische Konstruktionen von Bisexualität im Kontext monosexueller Ordnung Kim Ritter

1. E inleitung Ein prominentes Beispiel für den Versuch, die real existierende sexuelle Vielfalt in die bipolare Anordnung der Monosexualität zu bringen, ist der im Jahr 2005 in der New York Times erschienene Artikel »Straight, Gay or Lying? Bisexuality Revisited« (Carey 2005). »Some people are attracted to women; some are attracted to men. And some, if Sigmund Freud, Dr. Alfred Kinsey and millions of self-described bisexuals are to be believed, are drawn to both sexes. But a new study casts doubt on whether true bisexuality exists, at least in men. The study, by a team of psychologists in Chicago and Toronto, lends support to those who have long been skeptical that bisexuality is a distinct and stable sexual orientation. People who claim bisexuality, according to these critics, are usually homosexual, but are ambivalent about their homosexuality or simply closeted. ›You’re either gay, straight or lying‹, as some gay men have put it.« (Ebd.)

Es handelt sich bei diesem Artikel um die massenmediale Verarbeitung einer psychologischen Studie von Rieger, Chivers und Bailey (2005)1. In der Versuchsanordnung wurden 104 Männer nach ihrer sexuellen Orientierung gefragt und

1 | Die Studie selbst ist hinsichtlich ihrer Ergebnisse wesentlich vorsichtiger als der Autor des Zeitungsartikels. Eine kurze kritische Diskussion der Studie und Autor_innen erfolgte vonseiten der National Lesbian and Gay Task Force (2005), online unter: www. thetaskforce.org/downloads/reports/NY TBisexualityFactSheet.pdf.

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anschließend an einen sogenannten Penis-Plethysmografen2 angeschlossen. Dieser sollte die Schwellung ihres Penis messen. Den Probanden der Studie wurde anschließend Filmmaterial mit ausschließlich homosexuellen und ausschließlich heterosexuellen sexuellen Handlungen vorgespielt. Das Ergebnis der Studie war, dass sich bei den Männern, die sich als bisexuell bezeichneten, der Druck innerhalb ihrer Schwellkörper nicht bei beiderlei Filmmaterial erhöhte, sondern vorwiegend bei den explizit homosexuellen Szenen. Für den Autor des New York-Times-Artikels reichen diese Ergebnisse aus, um die Frage aufzuwerfen, ob Bisexualität als eine sexuelle Orientierung bei Männern überhaupt existiert. Würde ich diese Logik auf meine Forschung beziehen, müsste ich meine Interviewpartnerin3 erst bitten, sich einem Test mit einem VaginalFotoplethysmografen4 zu unterziehen, um zu erfahren, ob sie mich angelogen hat, wenn sie folgende Behauptung aufstellt: »Solange ich mir meiner Sexualität bewusst bin, weiß ich dass ich bisexuell bin, also, Bravozeit, da hingen Michael Jackson genauso wie Janet Jackson und ich weiß nich, auf wen ich mir öfters einen runtergeholt hab ((lacht)) ((zieht laut Luft ein)) äh: (1) war schon immer so.« (Interview HP, 2011) 5

In dieser Sequenz wird Bisexualität als ein unverrückbarer Teil des Selbst entworfen. Sie erscheint über jeden Zweifel erhaben. Dieses Narrativ bildet eine Antithese zur Erzählung der New York Times, die Zweifel an der Möglichkeit einer bisexuellen Orientierung schürt. Der Sexualwissenschaftler Gunter Schmidt behauptet, die diesem Zweifel zugrunde liegende monosexuelle Vorstellung sei keineswegs eine gesellschaftliche Randerscheinung. Monosexualität sei eine »Megaregel unserer sexuellen Ordnung« (Schmidt 1998: 132; vgl. zu dieser Diskussion auch Lewandowski 2004: 86ff.). Im vorliegenden Text gehe ich der Frage nach, wie es unter diesen Bedingungen möglich ist, Bi2 | Eine Technik, die nicht nur im wissenschaftlichen Bereich genutzt wird. In Tschechien wurde sie zeitweise im Rahmen von Asylgesuchen genutzt, wenn Personen eine Verfolgung aufgrund von Homosexualität geltend machen wollten; es wird davon ausgegangen, dass diese Praxis seit 2009 in der EU nicht mehr eingesetzt wird (vgl. Jansen/ Spijkerboer 2011: 59). 3  |  Sie wurde im Rahmen des Projektes »Die soziale Ordnung des Sexuellen – Rekonstruktion der erzählten Lebensgeschichte von Bisexuellen« befragt. Die Studie wird im Abschnitt 3.1 ausführlicher beschrieben. 4  |  Bei diesem Gerät handelt es sich um das Äquivalent für die Messung an vaginalen Schwellkörpern (vgl. Sintchak/Geer 1975). 5  |  Bei den Satzzeichen handelt es sich um Transkriptionszeichen. Zu den hier verwendeten Regeln der Transkription vgl. Rosenthal 2008: 95. Die Namen aller Interviewpartner_innen wurden verändert.

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sexualität als einen stabilen Teil des Selbst zu entwerfen. Um diese Frage zu beantworten, zeige ich auf, wie sich Bisexualität als ein Regulativ der modernen Geschlechter- und Sexualitätsordnung westlicher Gesellschaften herausbildete, in der Bisexualität als Teil des Selbst keinen Platz haben sollte. Ich lege dar, wie sich Ende des 20. Jahrhunderts gegenüber dieser regulativen Anordnung eine eigenständige bisexuelle Identität formierte, die beanspruchte, Teil gesellschaftlicher Wirklichkeit zu sein und die Hegemonie der Monosexualität herausforderte. Auf Basis biografischer Narrative arbeite ich zwei typische Formen der Selbstkonstruktionen Bisexueller heraus: Bisexualität als Form der Zugehörigkeit und Bisexualität als Form des Begehrens. In der Darstellung der Typen wird deutlich, dass eine breitere bisexuelle Selbstorganisation seit den 1990er Jahren und die Liberalisierung der sexuellen Ordnung wichtige Voraussetzungen für eine stabile Konstruktion eines bisexuellen Selbst geschaffen haben. Es wird jedoch ebenso offensichtlich, dass ein bisexueller Lebensentwurf in nicht monogamer Form, die gegenseitige Fürsorge einschließt, unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen ein prekäres Unterfangen ist.

2. (S pät-)M oderne K onstruk tionen von B ise xualität Die gesellschaftliche Konstruktion von Bisexualität ist auf das Engste mit der Polarisierung und Hierarchisierung von Geschlecht und Begehren in der westlichen, kapitalistischen Moderne verknüpft: ein Prozess, den Foucault in Hinblick auf Sexualität die »Einkörperung der Perversionen« (Foucault 1983: 47) genannt hat. In diesem Prozess konstituiere sich – so Foucault – Heterosexualität als hegemoniale Sozialform, das homosexuelle Subjekt entstehe als ihr Anderes.

2.1 Bisexualität als Regulativ Auf die Argumentation Foucaults auf bauend behaupten jene Autor_innen6, die sich mit der modernen Geschichte der Bisexualität beschäftigt haben, dass Bisexualität in dieser sozialen Ordnung kein Subjektstatus zugestanden wird.

6  |  Die Schreibweise mit Unterstrich verwende ich, um Geschlechterpositionen jenseits der binären Kategorien Mann und Frau zu benennen. Diese in der Geschlechterforschung gängige Schreibweise halte ich für die wissenschaftlich präzisere, da sie z.B. die gesellschaftliche Realität von intergeschlechtlichen und transgender Lebensweisen einbezieht.

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Kim Ritter »Bisexuals were never a ›species‹ according to medical discourse. Bisexuality could be a stage, or a primordial sexuality, but it was never used to describe a person. In fact, the medicalization of ›homosexual acts‹ forbids the creation of a bisexual person, because all individuals who were sexually active with others of the same sex were labeled as homosexual.« (Callis 2009: 224f.)

Stattdessen wurde Bisexualität – Anfang des 20. Jahrhunderts noch im Sinne einer sexuellen und geschlechtlichen Vielfalt – an sehr unterschiedlichen Orten vermutet, wie der Historiker Steven Angelides ausführt: »That is to say that bisexuality always had to be somewhere else – in the embryo, the sphere of human prehistory – or something else – either really heterosexual or homosexual.« (Angelides 2006: 132) Bisexualität ist in diesen Entwürfen keine Position zwischen den Polen der Heterosexualität und der Homosexualität, wo sie heutzutage häufig vermutet wird. Stattdessen ist sie Bestandteil einer Evolutionstheorie. In dieser stellt sie den Ausgangszustand der Gattung und des Individuums dar. Das idealtypische Beispiel für eine solche Argumentation findet sich in Sigmund Freuds psychoanalytischem Modell. Der Psychoanalyse erscheint vielmehr die Unabhängigkeit der Objektwahl vom Geschlecht des Objektes, die gleich freie Verfügung über männliche und weibliche Objekte, wie sie im Kindesalter, in primitiven Zuständen und frühhistorischen Zeiten zu beobachten ist, als das Ursprüngliche, aus dem sich durch Einschränkung nach der einen oder der anderen Seite »der normale« wie der »Inversionstypus« entwickeln (Freud 1977: 22, orig.: 1909). Freud entwirft den Gedanken einer ursprünglichen Bisexualität aller Menschen, der bis in die Gegenwart immer wieder aufgegriffen wird. Allerdings ist es wichtig, sich die Argumentation Freuds genau anzusehen. Im Gegensatz zur Heterosexualität (»der normale Typus«) und der Homosexualität (»der Inversionstypus«) ist Bisexualität für Freud ein frühkindliches, unzivilisiertes und präkulturelles Phänomen. Sie bildet den Hintergrund, von dem sich die Kontur des modernen, sexuell eindeutigen und westlichen Subjekts abhebt (vgl. auch Angelides 2006: 133). In Anlehnung an Steven Angelides möchte ich daher von Bisexualität als einem Regulativ der modernen Geschlechter- und Sexualitätsordnung sprechen (ebd.). Bisexualität markiert in diesem Modell keine Subjektivität, sondern einen Ort, an dem die überschüssigen Praktiken dieser Ordnung einen Platz finden, und gleichzeitig in ihrer Bedrohlichkeit für diese Ordnung entkräftet werden können. Dieses regulative Modell bildete den theoretischen Rahmen dafür, welche Lebensformen in der Moderne überhaupt einen legitimen Subjektstatus beanspruchen konnten. Es begründet ein Machtverhältnis, in dem Bisexualität keinen Anspruch darauf hat, sich zu institutionalisieren und eine gesellschaftliche Wirklichkeit auszubilden (vgl. Berger/Luckmann 2004: 62, orig.: 1966). Der bis heute immer wieder vorgebrachte Zweifel an der Existenz von Bisexualität verweist auf diesen Hintergrund.

Biografische Konstruktionen von Bisexualität im Kontext monosexueller Ordnung

Dennoch wurden immer wieder Versuche unternommen, Bisexualität als eigenständige Identität und Teil gesellschaftlicher Wirklichkeit zu etablieren.

2.2 Bisexualität als Teil des Selbst Bisexualität als eine eigenständige Subjektposition formierte sich in den USA und Westeuropa infolge der homosexuellen Befreiungsbewegung und ihrer Institutionalisierung. April Callis arbeitet heraus, dass Bisexualität als legitime Selbstbezeichnung sich vor allem in der Kritik der Marginalisierung von nicht monosexuellen Lebensformen in der homosexuellen Befreiungsbewegung herausbildet. »Thus, the ›reverse discourse‹ utilized by bisexual politics would have been based in the rhetoric of gay and lesbian politics, rather than in science« (Callis 2009: 225). Exemplarisch für diesen Prozess ist die zunehmende Herstellung explizit bisexueller Räume innerhalb schwul-lesbischer Organisationsformen seit den 1990er Jahren, wie Claire Hemmings (2002) in den USA der 1990er Jahre feststellt. Etwa in der Schaffung eines »bisexual home« (ebd.: 169) im Rahmen der ersten US-amerikanischen Konferenz Bisexueller in San Francisco. Ein relationaler Raumbegriff ermöglicht es, zu verdeutlichen, dass solche Räume handelnd hervorgebracht werden und dabei eine Ordnung entsteht, die wiederum auf das Handeln zurückwirkt (vgl. Löw 2001: 172f.). Ich betrachte die Schaffung solcher Räume in diesem Sinne als einen wichtigen Ausgangspunkt spätmoderner bisexueller Subjektivität in ihren vielfältigen und umkämpften Bedeutungen. Ähnliche Entwicklungen lassen sich auch in Deutschland nachweisen. Seit dem Jahr 1992 organisieren sich Bisexuelle im Verein »Bisexuelles Netzwerk« – kurz BiNe 7 genannt. Bis heute handelt es sich dabei um die einzige bundesweite Organisation Bisexueller. Die meisten unserer Interviewpartner_innen kamen aus deren Umfeld. Der Zeitpunkt der Gründung der Organisation lässt zwei weitere Hypothesen über wichtige Quellen der Herausbildung einer bisexuellen Subjektivität zu: zum einen die AIDSKrise, zum anderen die zunehmende Liberalisierung der Sexualordnung. Nach dem Ausbruch der AIDS-Krise Anfang der 1980er Jahre wurden Personen mit einer bisexuellen Praxis als vermeintliche Brücke der Übertragung des HI-Virus auf die heterosexuelle Bevölkerung ausgemacht. Sie wurden immer wieder als eine Bedrohung der angeblich heilen heterosexuellen Welt betrachtet (vgl. Kaestle/Holz 2012; Sigusch 2005: 107). In Bezug auf die Homosexuellen konnte die heterosexuelle Panik mit der Fantasie beruhigt werden, diese im Notfall internieren zu können (vgl. z.B. Stroh 2012). Aber wie sollte Ähnliches mit den Bisexuellen gelingen? Die Herstellung einer bisexuellen Subjektivität erfolgte daher nicht nur in einem Prozess der Selbstorganisation, sondern auch in der Suchbewegung immunologischer Studien nach den Sub7  |  Online abrufbar unter www.bine.net.

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jekten, die hinter den als bedrohlich wahrgenommenen bisexuellen Praktiken vermutet wurden. Eine dritte Voraussetzung für die spätmoderne Subjektivierung von Bisexualität ist die Liberalisierung der sexuellen Ordnung in vielen westlichen Ländern seit den 1970er Jahren (vgl. u.a. Sigusch 2005; Schmidt 2000). Was vorher noch als pervers pathologisiert wurde, konnte zunehmend gleichberechtigt als einer der vielfältigen spätmodernen Lebensstile gelebt werden. Die sexuellen Perversionen oder das, was man vordem so nannte, verschwanden von der Bühne, nur um sie als eben solche Lebensstile wieder zu betreten, medial schonungslos präsentiert und bekannt gemacht, allseits stolz geoutet (Schmidt 2000: 269). Während zuvor medizinische Kataloge dazu führten, dass bestimmte sexuelle Praktiken eindeutig als heterosexuell oder homosexuell definiert wurden, hat diese Institution in der späten Moderne ihre Definitionsmacht zum Teil eingebüßt. Volkmar Sigusch erklärt Bisexualität daher zu einer der »Neosexualitäten« (Sigusch 2011). Sie sei Folge der Flexibilisierung sexueller Praktiken und ihrer Lösung aus der Heteronormativität. Die überkommene Zwangsheterosexualität werde durch marktwirtschaftliche Normen der sexuellen Optimierung, sexuelle Rationalisierung und die beständige sexuelle Diversifizierung der Individuen ersetzt (vgl. u.a. Sigusch 2004: 11; dazu auch Woltersdorff 2010). In dieser Darlegung wäre Bisexualität in der späten Moderne zunehmend eine gleichberechtigte Spielart in der Vielfalt flexibilisierter Sexualitäten. Es gibt jedoch Argumente, die eine solche Annahme infrage stellen. Auffallend ist die fortwährende Marginalisierung von Bisexualität in der queeren Gesellschaftskritik (vgl. Fritzsche 2007: 125f.). Das begegnet mir auch als Forscherin, die in queeren Kontexten nach der Nennung ihres Forschungsthemas meistens als Erstes folgende Fragen hört: »Bisexuelle, gibt es die überhaupt noch? Handelt es sich dabei nicht um eine äußerst problematische zweigeschlechtliche Konstruktion?« In der queeren Bewegung haftet der bisexuellen Position offensichtlich etwas Altbackenes, fast schon Reaktionäres an. Auf den Fortbestand von Biphobie (vgl. dazu auch Udis-Kessler 1990) in der späten Moderne verweist Christian Klesse (2007). Sie drücke sich in der generellen Unterstellung von Promiskuität, der Abwertung von tatsächlich gelebter Nichtmonogamie, einer Sexualisierung bisexueller Lebensweisen und dem Verdacht von Unreife, Verantwortungslosigkeit und Beziehungsunfähigkeit gegenüber Bisexuellen aus. Diese Erfahrungen decken sich mit zahlreichen Erzählungen im Rahmen der Gespräche, die meine Kolleginnen und ich während des Projektes »Die soziale Ordnung des Sexuellen – Rekonstruktion der erzählten Lebensgeschichte von Bisexuellen« geführt haben. Die fortdauernde Marginalisierung von Bisexualität könnte auch die eher defensive Ausrichtung bisexueller Politikformen erklären, die mir begegneten. Diese drückten sich z.B. darin aus, dass zwar die

Biografische Konstruktionen von Bisexualität im Kontext monosexueller Ordnung

meisten meiner Interviewpartner_innen nicht monogame Beziehungsmodelle lebten, aber fast alle betonten: »Es gibt aber auch die monogamen Bisexuellen«. Es erschien mir, als seien viele Interviewte besorgt, dass ihre eigene nicht monogame Praxis ein schlechtes Licht auf Bisexuelle werfe. Diese Hinweise lassen darauf schließen, dass die in der modernen Sexualordnung angelegten Mechanismen eines »bisexual erasure« 8 (Yoshino 2000) weiterhin aktiv sind: »I describe the investments that both self-identified straights and self-identified gays have in bisexual erasure. These are: (1) an interest in stabilizing sexual orientation; (2) an interest in retaining sex as a dominant metric of differentiation; and (3) an interest in defending norms of monogamy.« (Ebd.: 3)

Kenji Yoshino kann durch dieses Modell den handfesten Interessenkonflikt verdeutlichen, in dem sich Bisexuelle mit Heterosexuellen und Homosexuellen befinden. Die biografischen Konstruktionen von Bisexualität bilden sich im skizzierten spätmodernen Spannungsfeld von bisexueller Selbstorganisation, Folgen der AIDS-Krise, sexueller Liberalisierung und konkreter Machtkämpfe zwischen Interessengruppen.

3. B iogr afische K onstruk tionen von B ise xualität Die biografischen Selbstkonstruktionen, auf die ich eingehe, verstehe ich nicht als individuelle Fälle. Sie sind Ausdruck eines sequenziellen und damit temporalen Prozesses, in dem sich gesellschaftliches Handeln und gesellschaftliche Institutionen zu einer Biografie verdichten. Daher ist es möglich, anhand der erhobenen biografischen Narrative gesellschaftliche Verhältnisse zu rekonstruieren (vgl. dazu auch Rosenthal 1995). Für eine kritische Analyse von Sexualität ist diese Vorgehensweise besonders geeignet, da sie es ermöglicht, Abläufe der Selbstwerdung in ihrer Zeitlichkeit und Widersprüchlichkeit zu analysieren (vgl. dazu auch Kemler/Löw/Ritter 2012). In diesen methodologischen Grundannahmen schließe ich mich dem Modell eines sexuellen Selbst an, welches Stevie Jackson und Sue Scott entwerfen. »It [the sexual self, K.R.] is a product of socially located biographies and of ongoing interaction between self and others and is temporally located through the interpretive interplay between past and present.« (Jackson/Scott 2010: 94)

8 | Dieser Mechanismus zeigt sich auch im Untertitel des LSBTI*-Wissenschaftskongresses, in dessen Folge dieser Band entsteht: In »Gleich-Geschlechtlichen Erfahrungswelten« sind die Erfahrungen Bisexueller nicht vorgesehen.

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3.1 Stichprobe Die Typologie, die ich in diesem Text vorstelle, basiert auf einer Stichprobe von 31 biografisch-narrativen Interviews (vgl. u.a. Schütze 1977; Rosenthal 1995: 186ff.) mit Bisexuellen. Die Interviews wurden zwischen Dezember 2010 und April 2011 geführt und entstanden im Rahmen des DFG geförderten Projektes »Die soziale Ordnung des Sexuellen – Rekonstruktion der erzählten Lebensgeschichte von Bisexuellen«. Die Studie wurde von 2010 bis 2013 unter Leitung der Soziologin Prof. Dr. Löw am Institut für Soziologie der Technischen Universität Darmstadt verwirklicht. Bei der Realisierung wurde deutlich, dass der Feldzugang über bisexuelle Organisationen und die Arbeit mit der Kategorie »bisexuell« den Kreis auf eine Gruppe einengte, welche sich selbst als bisexuell bezeichnet. Personen, die bisexuelle Praktiken ausüben, sich jedoch nicht als bisexuell betrachten, wurden von unserer Anfrage kaum erreicht. Ein Großteil der Interviewpartner_innen lebte zum Zeitpunkt des Interviews in den Großstädten Hamburg, Berlin, Köln und München. Etwas mehr als die Hälfte (16) hatten einen akademischen Abschluss. Zwölf Personen gehörten den Geburtsjahrgängen 1979 bis 1969 an, zwölf Personen waren zwischen 1968 und 1958 geboren und sieben Personen hatten ihren Geburtstag zwischen 1957 und 1949. Als bisexuell bezeichneten sich 26 Teilnehmende, zwei Personen betrachteten sich eher als schwul bzw. lesbisch und drei Personen standen einer Einordnung ihrer Sexualität in Kategorien generell kritisch gegenüber. Ein Blick auf die Beziehungsmodelle, welche die Teilnehmer_innen der Studie zum Interviewzeitpunkt lebten, kann einen Eindruck der vielfältigen Beziehungsformen geben. Viele lebten in heterosexuellen Ehen (10), festen heterosexuellen (7) oder homosexuellen Partnerschaften (5) oder hatten keine feste Beziehung (9). Als monogam bezeichneten sich die wenigsten (3), einige der Studienteilnehmenden hatten feste Mehrfachbeziehungen (8). Innerhalb unserer Stichprobe überwiegt damit die Selbstbeschreibung als bisexuell mit einer nicht monogamen Beziehungspraxis. Mit Blick auf die zugrunde liegende Stichprobe lassen sich zwei Typen biografischer Narrative von Bisexualität kontrastieren: die Präsentation von Bisexualität als einer Form der Zugehörigkeit und die Präsentation von Bisexualität als eine Form des Begehrens.

3.2 Bisexualität als Form der Zugehörigkeit In den Narrativen dieses Typus spielt sexuelles Begehren eine untergeordnete Rolle. Stattdessen wird die hohe biografische Bedeutsamkeit der Zugehörigkeit zu einer bisexuellen Gemeinschaft hervorgehoben. Dieser Typus steht damit in einem engen Verhältnis zur Herstellung einer spezifischen Form bisexueller Vergemeinschaftung seit den 1990er Jahren, wie sie oben skizziert wurde.

Biografische Konstruktionen von Bisexualität im Kontext monosexueller Ordnung

Ähnlich wie im zitierten Beispiel der Kreation eines »bisexual home« (Hemmings 2002: 169) greift ein Interviewpartner – ich nenne ihn Lothar Markus – auf die räumliche Metapher des »Zuhause[s]« zurück. »Äh, also es war immer besonders stark wenn mir andere Bisexuelle so was, also gerade so am Anfang aus ihrem eigenen Lebens- äh –konzept was erzählt haben oder was sie selber auch erlebt haben schon , also dann hatte ich so dieses Gefühl ((atmet auf)) ach!, iss ja doch ganz gut dass das nich nur dir so gegangen iss sondern dass da auchdass es anderen ähnlich gegangen iss, und dann zu erleben ja die sind da auch mit klar gekommen und die gehen so und so mit diesen Dingen um, und äh, ja das äh äh war für mich so dieses dieses Gefühl irgendwie so ›n Zuhause gefunden zu haben im übertragenen Sinn, ne.« (Interview LM, 2011)

»Zuhause« wird in dieser Sequenz in Bezug auf die Verknüpfung der eigenen Lebensgeschichten mit anderen Lebenswegen hergestellt. Der biografische Verlauf ist als eine Art einsame Wanderung konzipiert, die auf das Erleben von existenziellen Gefühlen der Fremdheit verweist. Die Erleichterung, Bekannte gefunden zu haben, drückt sich auch leiblich aus, indem der Biograf laut aufatmet. Das Gefühl der Zugehörigkeit steht auch im Mittelpunkt von Erzählungen anderer Interviewter.

»Das war irgendwie so ne sexuelle Revolution für mich (Mhm) weil das endlich mal Leute im größeren Stil waren mit denen ich in ner Gruppe über Sexualität reden konnte auch über Ich fühl mich nicht ganz normal und nicht so ganz dazugehörig und da waren Frauen die ich total toll fand und da waren Männer die ich total toll fand und, die eben auch so (1) ja also ein bisschen dieses Schillernde habe (Ja) ein bisschen dieses Diffuse dieses nicht festgelegte dieses Komm mir nicht zu nah auch dieses Ich muss dir auch nicht zu nah kommen es ist völlig ok wenn wir hier einen super romantischen Abend haben und dann gehen wir aber beide auch mal wieder auf Distanz Also irgendwie Leute die diese, die dieses Nähe Distanz, Flirtspiel sag ichs mal in ner ähnlichen Art und Weise toll fanden wie ich auch so Wo einfach vieles auch nicht direkt klar ist dass eben nicht klar ist dass wenn man sich körperlich weiß nicht über Kuscheln oder Petting näher kommt dass man dann miteinander schläft das schien mir davor immer so ne gesellschaftlich vermittelt so ne klare Abfolge von, ne von so ein Schritt folgt dem nächsten und beim einen Treffen küsst man sich beim nächsten Treffen hält man dann verliebt Händchen und beim dritten kuschelt man sich aufs Bett und beim vierten wird’s intim und beimspätestens beim fünften dann landet man in der Kiste spätestens und da war das mit denen eben nicht so Da konnte man jederzeit jeden Schritt wieder zurück nehmen und das fand ich total Klasse.« (Interview SuA, 2011) Beide Narrative betonen die Bedeutung eines Gefühls der Zugehörigkeit, das auf Erlebnisse verweist, die untrennbar mit der Phase der erhöhten Selbstorga-

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nisation Bisexueller Ende des 20. Jahrhunderts verbunden sind. Sie waren beide Teil dieser Entwicklung. Die Darstellung der Folgen der Vergemeinschaftung unterscheidet sich jedoch grundlegend. In der ersten Sequenz kommt vor allem die Erleichterung darüber zum Ausdruck, angekommen zu sein. Die zweite Sequenz beschreibt die Erfahrung von Zugehörigkeit als den Ausgangspunkt eines biografischen Umbruches, in der bisherige Konzeptionen von Sexualität und die Selbstverständlichkeiten der sexuellen Lebenswelt infrage gestellt werden. Dabei geht es weniger um die Möglichkeit von Intimität und Sexualität mit Personen unterschiedlichen Geschlechts. Der Grund für den revolutionären Charakter des Eintritts in diese Zusammenhänge ist die Möglichkeit, andere Konzeptionen intimer und sexueller Handlungsabläufe kennenzulernen. Diese Form der sexuellen Interaktion kann als eine Erweiterung der von Gunter Schmidt (2000) für die späte Moderne konstatierten Verhandlungsmoral des Sexuellen charakterisiert werden. Intimität wird zu einem Prozess der permanenten Aushandlung. Diese Form der Aushandlung ermöglicht es, die in diesem Fall als unangenehm erfahrene Zwangsläufigkeit intimer und sexueller Handlungen im Kontext heterosexueller Kultur zu unterlaufen. Darüber hinaus deutet sich an, dass diese Kultur Alternativen zu einer monogamen Beziehungsordnung anbietet. Es entwickelt sich damit durch den biografischen Umbruch eine Vielfalt an neuen Handlungsmöglichkeiten. Wird der weitere Verlauf der Biografien einbezogen, zeigen sich weitere Unterschiede. Lothar Markus erzählt seine Geschichte mit einem »Happy End«. In der Entwicklung eines Modells einer Mehrfachbeziehung mit einem Mann und einer Frau gelingt es ihm, Sicherheit und Zugehörigkeit in einer Lebensform zu finden, die in der Regel als unsicher, illegitim und untreu betrachtet wird. Die in einer heterosexuellen Ehe mit Kindern lebende Susanne Albrecht empfindet sich dagegen im Laufe ihrer Lebensgeschichte zunehmend als handlungsunfähig. Sie konstruiert eine Unvereinbarkeit zwischen ihrem gegenwärtigen Lebensentwurf und einem Leben als Bisexuelle. Ihre Hoffnungen auf ein späteres Leben in einer bisexuellen Gemeinschaft erscheinen ihr kaum erfüllbar, da sie in dieser keinen Platz für ihren Mann sieht. Ein Gleichgewicht zwischen der Sicherheit innerhalb der bisexuellen Gemeinschaft und der Freiheit, die sie ermöglicht, stellt sich nicht ein. Dieser Umstand wirft ein Schlaglicht auf die Widersprüche der flexibilisierten sexuellen Ordnung im neoliberalen Kapitalismus. Das individuelle Freiheitsversprechen in der späten Moderne ist nicht einlösbar, wenn alternative Formen der Sicherheit fehlen. Es ist möglich, Bisexualität als Sexualität zu leben und sie auch als Teil des Selbst zu verstehen, aber als nicht monogame Lebensform behält sie einen unsicheren Status, der sich auch in den Verläufen der Biografien dieses Typus widerspiegelt. Lothar Markus gelingt es, sein bisexuelles Selbst als Teil einer Lebensform zu stabilisieren. Dieser Lebensform bleibt jedoch gesellschaftliche

Biografische Konstruktionen von Bisexualität im Kontext monosexueller Ordnung

Anerkennung und Absicherung versagt. Dies ist nur für Paare vorgesehen. Dagegen entscheidet sich Susanne Albrecht für die Sicherheit der Institution der Ehe, empfindet jedoch dadurch ihr bisexuelles Selbst als prekär.

3.3 Bisexualität als Form des Begehrens Typisch für die Konstruktion von Bisexualität als Begehren ist der eingangs zitierte Fall von Helene Peters, die berichtet, dass sie sich immer schon als bisexuell empfindet. In einer anderen Sequenz führt sie aus: »[F]ür mich ist klar, dass ich keine Beziehung haben will, in der der Partner von mir verlangen würde, dass ich das kategorisch nicht ausleben darf, das is nen Teil von mir selbst das gehört zu mir, wie meine Augenfarbe und auch die kann ich nich verändern, wenn ich mal das Bedürfnis habe, möchte ich mir das nicht verkneifen müssen.« (Interview HP, 2011)

Bisexualität wird von ihr als ein körperlicher Zustand entworfen, der sich harmonisch in eine natürliche Ordnung einfügt. Sie erscheint dem biografischen Verlauf und damit auch dem handelnden Zugriff entzogen. Im Zeitalter der »modellierbaren Sexualität« (Giddens 1993: 10) – um einen Begriff des Soziologen Anthony Giddens aufzugreifen –, in der Homosexualität keinen pathologischen Status mehr hat, lässt sich Bisexualität offensichtlich auf einer subjektiven Ebene einkörpern, zumindest so lange sie sich auf das Feld des Sexuellen beschränkt und nicht als eigenständige Lebensform etabliert werden soll.9 Das Narrativ von Bisexualität als Begehren ist jedoch nicht nur eines der harmonischen und kontinuierlichen Einbettung in die Biografie. Es gibt auch die Narrative, die ein biografischer Bruch prägt:

»Ja: also eigentlich, wie soll ich sagen, mei, mein jetziges Leben beginnt erst seit, seit dem Anfang Zweitausendvier dass ich so offen damit lebe hmhm«.« (Interview YWS, 2011) »[A]lso ich hätt mir dis vor fünfzehn Jahren, eigentlich nicht vorstellen können dass, mein Leben mal diese Wendung nimmt ich bin ((lacht)) (3) mh also es is wirklich und das war ah ganz, große Zäsur also wirklich mit vorher und nachher.« (Interview IH, 2011)

Es handelt sich bei diesen Narrativen um Coming-out-Geschichten, in denen ein leiblich empfundenes Begehren bestimmend ist. Dieses entwickelt eine transformative Kraft. Der Bruch mit der bestehenden biografischen Ordnung 9  |  Eine ausführliche Darstellung des Falles findet sich in Kemler/Löw/Ritter (2012).

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bedeutet eine tief gehende Verunsicherung des Selbst und führt zu schweren lebensgeschichtlichen Krisen (vgl. auch den Fall Thomas Schmidt in Kemler/Löw/Ritter 2012). Die Interviewte der ersten Sequenz verursacht während ihres Coming-outs fast einen schweren Autounfall mit ihrer Familie. Die zuletzt zitierte Interviewpartnerin erleidet während des Interviews einen Schwächeanfall. Ihr Körper ist überfordert von der anspruchsvollen biografischen Arbeit, die sie im Interview leistet.10 In diesen biografischen Verläufen zeigt sich die monosexuelle Ordnung der Gesellschaft als eine Form der symbolischen Herrschaft. Der Bruch mit dieser Ordnung führt zu einer existenziellen Bedrohung. Nur durch mühsame biografische Arbeit und die Artikulation von Coming-out-Narrativen gelingt eine biografische Transformation. In den beiden konkreten Fällen des Typus leben beide Frauen weiterhin innerhalb ihrer heterosexuellen Ehen mit Kindern. Parallel haben sie mit dem Wissen ihrer Männer eine weitere Partnerin bzw. mehrere Partnerinnen. In diesen Fällen fungiert die heterosexuelle Ehe, obwohl sie fester Bestandteil monosexueller Ordnung ist, eher als Schutz denn als Beschränkung. Ganz deutlich wird dies anhand des letzten zitierten Falles: Die Möglichkeit, bisexuell zu leben und ihre Ehe aufrechtzuerhalten, hat für die Biografin eine absichernde Funktion, da sie – u.a. aufgrund der gesellschaftlichen Geschlechterhierarchie – lediglich einen Mini-Job hat. Eine Scheidung könnte sie und ihre Kinder in eine wirtschaftlich prekäre gesellschaftliche Position bringen. Indem sie ein bisexuelles Beziehungsmodell entwickelt, verbindet sie ihr Begehren für Frauen und eine ökonomische Absicherung miteinander.

4. F a zit : B iogr afische K onstruk tionen von B ise xualität im K onte x t monose xueller O rdnung Die Frage nach den Bedingungen für eine Konstruktion von Bisexualität als stabiler Bestandteil des Selbst lässt sich auf verschiedenen Ebenen beantworten. Die Möglichkeit, Bisexualität als eine Form der Zugehörigkeit zu entwerfen, zeigt die hohe Bedeutsamkeit der Formen bisexueller Selbstorganisation seit den 1990er Jahren. Offensichtlich bieten diese Gruppen die Möglichkeit, lebensgeschichtlichen Erlebnissen von Fremdheit im Kontext monosexueller Ordnung einen Rahmen der Vertrautheit gegenüberzustellen. Ein weiteres Potenzial zeigt sich darin, alltägliche monosexuelle Handlungsroutinen infrage zu stellen und ein gemeinschaftliches Experimentierfeld für demokra10  |  Nachdem ich noch mehrmals mit der Interviewten Kontakt hatte, konnte ich mich versichern, dass sie das Interview und die damit einhergehende Auseinandersetzung rückblickend als positiv einschätzt.

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tischere Formen der sexuellen Interaktion und Beziehung zu eröffnen. Allerdings wird auch deutlich, dass dieser Rahmen der Vertrautheit eine begrenzte Reichweite hat. Sie fordert die Hegemonie monosexueller Sozialformen, wie das monogame Paar, nicht heraus und kann nur begrenzt Sicherheit bieten. Eine bisexuelle soziale Bewegung, die den »epistemic contract of bisexual erasure« (Yoshino 2000) grundlegend infrage stellen könnte, ist gegenwärtig nicht in Sicht. In der Konstruktion von Bisexualität als Begehren zeigt sich die Liberalisierung der spätmodernen Sexualordnung. War Bisexualität in der Moderne ein Regulativ, scheint es nun möglich zu sein, sie als leiblichen Teil des Selbst zu erleben, ohne das dies Konflikte verursachen muss. Diese unproblematische spätmoderne Einkörperung vollzieht sich jedoch in der Beschränkung der Bisexualität auf das Feld des Sexuellen. Es geht nicht, wie in den anderen zitierten Fällen, um die Etablierung einer eigenständigen Lebensform. In Hinblick auf das Erleben eines biografischen Bruches zeigt sich – zumindest in den konkreten Fällen –, dass Bisexualität in der spätmodernen Ordnung die Funktion eines biografischen Regulativs übernehmen kann. Sie eröffnet lebensgeschichtliche Denk- und Handlungsräume für alternative Formen der Sorge- und Sexualitätsgemeinschaften. Dabei hat sie das Potenzial, die Logik der Monosexualität zu unterlaufen, gerade weil sie »Bestandteil und Überschuss« (Fritzsche 2007: 127) institutionalisierter Heterosexualität ist, wie Bettina Fritzsche treffend formuliert. Die vorgestellten biografischen Konstruktionen von Bisexualität weisen auf eine Stabilisierung des bisexuellen Selbst als Sexualform hin, die sich im Rahmen bisexueller Selbstorganisation und sexueller Liberalisierung vollzogen hat. Dagegen bleibt der Status von Bisexualität als eine nicht monogame Lebensform unter den Bedingungen monosexueller Ordnung prekär. Dieser Status wird durch die zunehmende rechtliche Gleichstellung von homosexuellen Paaren nicht berührt. Eine Voraussetzung für eine Stabilisierung des bisexuellen Selbst als Lebensform wäre die Verminderung von Unsicherheit durch eine gleichberechtigte gesellschaftliche Absicherung und Anerkennung vielfältiger Lebensformen und der mit ihr einhergehenden Fürsorge (vgl. Bauman 2009). In einer Phase, in der immer mehr Formen der Heterosexualität prekär werden, da sie stützende kollektive Sicherungssysteme privatisiert werden (vgl. Woltersdorff 2010), lassen sich für das Anliegen, Unsicherheiten abzuschaffen, womöglich auch Bündnispartner_innen jenseits der Achsen sexueller Differenz finden.

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Re-thinking family norms: Herausforderungen queer-familiärer Lebensweisen Jutta Hartmann

Wissenschaftliche Studien über Regenbogenfamilien haben in Deutschland in den letzten Jahren ebenso zugenommen wie Filme und Reportagen zu deren Lebensrealitäten. Sie belegen Verschiedenes: Hinter Begriffen wie Regenbogenfamilie oder queere Familie verbergen sich vielfältig ausdifferenzierte familiale Lebensweisen, in denen Eltern und Kinder die Aufs und Abs eines alltäglichen Familienlebens meistern. Zwar erfahren queere Familien zunehmend eine soziale und rechtliche Anerkennung, gleichwohl kann von einer wirklich gleichberechtigten Achtung nicht die Rede sein. Verwunderte Blicke, feindselige Bemerkungen, ein Nichtvorgesehensein in Formularen öffentlicher Einrichtungen oder Beeinträchtigungen schon bei der Familiengründung durch ungleiche Behandlung im Adoptionsrecht wie beim Zugang zu Samenbanken machen nach wie vor einen nicht zu unterschätzenden Teil ihrer Erfahrungswelten aus.1 Im Unterschied zum angloamerikanischen Raum liegen hierzulande vergleichsweise wenige und bis auf einige Ausnahmen eher kleinere Studien zu Regenbogenfamilien vor. Eine wichtige Rolle kommt der repräsentativen Erhebung zur Lebenssituation von Kindern in gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften zu, die im Auftrag des Bundesministeriums der Justiz 2007/2008 vom Staatsinstitut für Familienforschung der Universität Bamberg realisiert wurde (vgl. Rupp 2009). Einen guten Einblick in zentrale Erkenntnisse der internationalen Debatte vermitteln die Bände »Die gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaft mit Kindern – Interdisziplinäre Beiträge zu einer neuen Lebensform« (Funcke/Thorn 2010) und »Partnerschaft und Elternschaft bei 1  |  Auch wenn sich die rechtliche Situation für gleichgeschlechtliche Paare mit Kindern in den letzten Jahren deutlich verbessert hat, sind nach wie vor diskriminierende Ungleichheiten festzustellen, die in anderen europäischen Ländern z.T. schon ausgeräumt sind. Der vorliegende Beitrag setzt jedoch einen anderen Fokus und wird auf die rechtliche Situation queerer Familien nicht weiter eingehen.

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gleichgeschlechtlichen Paaren. Verbreitung, Institutionalisierung und Alltagsgestaltung« (Rupp 2011). Werden auch die kleineren Studien berücksichtigt, ist das gesammelte Datenmaterial dennoch so breit, die gewonnenen Erkenntnisse so vielschichtig, dass für deren Diskussion eine begründete Auswahl zu treffen ist. Der folgende Beitrag greift die Frage nach zentralen Erfahrungswelten von Menschen in queer-familiären Lebensweisen auf. Sie folgt einer Perspektive, die diese Erfahrungen in einem umfassenden kulturell-gesellschaftlichen Zusammenhang verortet und aus der Perspektive der Queer Studies entwickelt, d.h. von der Erkenntnis einer machtvollen Norm heterosexueller Zweigeschlechtlichkeit ausgeht. Der Beitrag beginnt mit allgemeinen Überlegungen zum gesellschaftlichen Mythos Familie und deren impliziter Naturalisierung heterosexueller Elternschaft, wobei erste Erkenntnisse über damit verbundene Herausforderungen in den Erfahrungswelten queerer Familien herausgestellt werden (1.). Der Definition und Charakterisierung queerer Familien in Deutschland widmet sich der zweite Teil (2.), um anschließend alltägliche Heraus­forderungen queer-familiärer Lebensweisen zu fokussieren. Diese gehen über die Erfahrung struktureller Diskriminierung und alltäglicher Stigmatisierung hinaus (3.). Einige Studien machen sichtbar, wie auch Regenbogenfamilien durch tief verankerte heteronormative Annahmen strukturiert sind (4.). Abschließend wird die Frage aufgeworfen, welche alternativen Familiennormen für die Zukunft denk- und wünschbar sind (5.).

1. M y thos F amilie Enttraditionalisierungsprozesse kennzeichnen die Welt der Familie. Im historischen Prozess der Freisetzung der Individuen aus hergebrachten Bindungen und Normierungen findet eine Verabschiedung von überkommenen Lebensvorstellungen statt. Demografischer Wandel, Pluralisierung und Individualisierung der Lebensformen und Veränderungsprozesse in den (binnenfamilialen) Geschlechter- und Generationenverhältnissen haben in den letzten 30 Jahren dazu geführt, dass eine Vielfalt von Erwachsenen-Kind-Konstellationen die familiale Lebenswelt auszeichnet und frühere Selbstverständlichkeiten der Lebensgestaltung infrage stellt. Gleichzeitig lässt sich dem Familienreport des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend entnehmen, dass auf die Frage »Was verstehen Sie unter einer Familie?« 95 Prozent aller Befragten antworten: »Ein verheiratetes Ehepaar mit Kindern« (BMFSFJ 2010: 35). Weiter kreuzten aus der sieben mögliche Antworten umfassenden Liste 15 Prozent das Item an: »Zwei Männer oder zwei Frauen, die in einer festen Lebensgemeinschaft leben« (ebd.). In der Fachdiskussion besteht weitgehender Konsens darin, mit dem Term Familie den Generationenbezug in Form von

Re-thinking family norms

mindestens einem Eltern-Kind-Verhältnis zu umschreiben. Somit unterläuft die angebotene Antwortmöglichkeit ein anerkanntes Merkmal von Familie, die Generationendifferenz. Einem modernisierten Diskurs folgend greift der Familienreport gleichgeschlechtliche Beziehungen zwar auf, er versäumt es jedoch, dabei Kinder zu berücksichtigen und Regenbogenfamilien als eine mögliche Familienform neben anderen zu explizieren. Eine zentrale Herausforderung der Erfahrungswelt queerer Familien muss somit zunächst in deren Unsichtbarkeit festgemacht werden, oder treffender, in der immer wieder angetroffenen Ignoranz, weder als Familie vorgesehen zu sein noch als solche wahrgenommen zu werden. Die Realität zeigt sich widersprüchlich. Die empirisch festzustellende Vielfalt familialer Lebenswelten findet sich im Alltags- wie Fachdiskurs durchaus diskursiviert, Ignoranz und Unsichtbarkeit sind keine durchgängigen Erscheinungsformen. Doch neben zunehmender Akzeptanz kennzeichnen mehr oder weniger subtile Formen der Hierarchisierung die Debatte. Viele der anzutreffenden Begriffe transportieren normative Impli­kationen. Begrifflichkeiten wie ›nicht eheliche Lebensgemein­schaft‹ oder ›unvoll­ständige Familie‹ aber auch Begriffs­schöpfungen wie »unbemannte Mütter« (Schneider/Rosenkranz/Limmer 1998: 127) referieren auf Ehe und eine biologisch fundierte Vater-MutterKind-Familie als familiale Grundbausteine. Implizit schreiben sie den vielfältigen Mög­lichkeiten jenseits der auf einer Ehe basierenden Gemeinschaft von Eltern mit ihren leiblichen Kindern damit keinen eigen­ständigen Wert zu. Eine weitere zentrale Herausforderung in der Erfahrungswelt queerer Familien liegt folglich darin, dass Elternschaft mehr oder weniger explizit immer wieder als heterosexuelles Geschlechterarrangement verstanden und eingeklagt wird. Dies hat historische Wurzeln. Die im dominanten Diskurs so selbstverständlich als Familie begriffene Vater-Mutter-Kind-Konstellation löste nicht nur das Leben in Großfamilien und Wirtschaftszusammenhängen des ›Ganzen Hauses‹ ab. Sie ist eng mit der Konstruktion von asymmetrischen Geschlechtscharakteren verbunden, die von den im 18./19. Jahrhundert neu entstehenden Humanwissenschaften entworfen worden sind. Dem modernen Verständnis von Frau-Sein und Mann-Sein liegt seitdem ein dichotomes Schema zugrunde. Körper, Verhaltensweisen, Kompetenzen, Kleidung, Mimik, Gestik, aber auch Gefühle und Begehren von Personen werden auf dem beschränkten und hierarchisierten Koordinatenkreuz Weiblichkeit – Männlichkeit abgebildet und interpretiert. Über das Betonen von Differenz und Komplementarität ist Zweige­ schlechtlichkeit asymmetrisch konstruiert. Dies führt wie selbstverständlich zur Norm des heterosexuellen Paares. Die Asymmetrie der Geschlechter verbindet sich auf der Ebene der Paarbeziehung mit romantisierten Beziehungsidealen und einer geschlechts­bezogenen Arbeitsteilung, auf Ebene der Elternschaft mit geschlechtsexklusiven Funktions­ zuschreibungen. Zunächst nur ein Ideal des Bürgertums, breitete sich dieses Familienmodell aus, erlebte in

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den 1950er und 1960er Jahren seine ›Hochzeit‹ und entfaltet nach wie vor eine normative Wirkkraft (vgl. Nuber 1993: 22ff.; Funcke/Thorn 2010: 16f.). Heutige Konzepte von Vater- und Mutterschaft basieren auf den sich wechselseitig ergänzenden Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit. In ihrer bürgerlichen Form ist die Grundstruktur der Familie damit nicht nur durch Generationendifferenz strukturiert, sondern vielmehr ganz wesentlich durch die asym­metrisch angelegte Geschlechterdifferenz in Form heterosexueller Zweigeschlechtlichkeit. Roland Barthes hat sich in seinem Buch »Mythen des Alltags« damit beschäftigt, wie kollektive Vorstellungen und kulturelle Konstrukte den Status unhinterfragbarer Gewissheiten erhalten können. Er erkennt solche Prozesse als Mechanismen der Naturalisierung. Darin liegt für ihn das »Prinzip des Mythos: er verwandelt Geschichte in Natur« (Barthes 1964: 113). Der Mythos basiert auf einem Mechanismus, der »seit jeher darin besteht, auf den Grund der Geschichte die Natur zu setzen« (ebd.: 17). Mit Blick auf die Fotoausstellung von Edward Steichens ›The Family of Man‹ weigerte Barthes sich in den 1950er Jahren, der gängigen Rezeption der Ausstellung folgend, von einer menschlichen Natur zu sprechen. Er hebt hervor, dass ein fortschrittlicher Humanismus »stets daran denken [muss, …], die Natur, ihre ›Gesetzmäßigkeiten‹ und ihre ›Grenzen‹ unaufhörlich aufzureißen, um darin die Geschichte zu erkennen und endlich die Natur selbst als historisch zu setzen« (ebd.: 18). Der Mythos ist für Barthes eine entpolitisierende Einsparung, er reduziert »auf magische Weise« (ebd.: 16) Pluralität zu einer Einheit, reduziert Komplexität zu Essenz. Es ist die in der Debatte um queere Familien häufig mitschwingende Behauptung von Natürlichkeit, die Familie als heterosexuelles Geschlechterarrangement festzuschreiben sucht. Roland Barthes Gedanken folgend könnte die Funktion des Mythos Familie darin liegen, über Naturalisierung und Essentialisierung Ungleichheiten in Macht und Status zu legitimieren, Ungerechtigkeiten zu verschleiern und den Eindruck einer Unveränderbarkeit der vorherr­schenden Ordnung zu zementieren.

2. V ielfalt queerer F amilien und char ak teristische M erkmale Queere Familienformen stellen den Mythos Familie zunächst radikal in Frage. Sie bestehen bspw. aus zwei Müttern oder aus zwei Vätern; aus zwei Müttern und einem Vater; einem Frauen- und einem Männerpaar (zunehmend als Queer Family bezeichnet); aus Eltern, bei denen sich der Vater entschieden hat, als Frau zu leben, oder die Mutter als Mann; aus Eltern, die eine Freundschaft verbindet ohne ein Paar zu sein; aus Eltern, die … Als queere Familien werden im Folgenden Familien bezeichnet, in denen mindestens ein Elternteil im ge-

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schlechtlichen und/oder sexuellen Selbstverständnis nicht den heteronormativen Erwartungen folgt. Es sind Familien, in denen sich mindestens eine_r der Eltern als lesbisch, schwul, bisexuell, transgender oder intersexuell identifiziert.2 Queere Familien erweisen sich bereits mit Blick auf das geschlechtliche und sexuelle Selbstverständnis der Eltern als variantenreich. Im Folgenden soll ein kurzer Einblick gegeben werden, durch welche weiteren Strukturmerkmale und Zahlenverhältnisse ihre Vielfalt in Deutschland gekennzeichnet ist.

2.1 Äußere Strukturdaten queerer Familien Queere Familien unterscheiden sich entlang des Entstehungskontextes der Familie und entlang von sozioökonomischen Parametern. So können die Kinder aus einer vorherigen heterosexuellen Beziehung stammen oder von den queeren Eltern gemeinsam gewünscht und in die aktuelle Beziehung hinein geboren oder in sie aufgenommen worden sein (vgl. Rupp 2009: 284). Zeitgeschichtlich lässt sich eine Verschiebung hin zum zunehmenden Elternwerden im Kontext einer queeren Beziehung feststellen, weshalb in der Fachdebatte bereits von ver­schiedenen Generationen queerer Elternschaft bzw. einem Wandel der Kindschafts­beziehun­gen hin zu mehr »gemeinsamen« Kindern gesprochen wird (Egger/Rupp 2011: 33). Dabei können die Kinder über Insemination mithilfe von bekannten oder unbekannten Samen­spendern oder mittels moderner Reproduktionstechniken gezeugt werden, als Pflegekinder oder als Adoptivkinder eine_r der Partner_innen in die Familie kommen und/oder, wenn ihre gleichgeschlechtlichen Eltern eine eingetragene Lebenspartnerschaft eingehen, von dem Partner oder der Partnerin des leiblichen Elternteils durch eine Stiefkind­adoption als Stiefkind angenommen werden (vgl. Rupp 2009: 284). Teilweise bestehen komplexe Konstellationen von Stieffamilien mit einem außerhalb lebenden leiblichen Elternteil, wobei eine Vielfalt an Beziehungen zu diesem auftreten, »die von ›nicht vorhanden‹ bis zu regelmäßigen Kontakten und Beteiligung an der Erziehungsverantwortung reichen« (Rupp/Dürnberger 2010: 63). An der einzigen für Deutschland vorliegenden repräsentativen Untersuchung, die zur Lebens­ situation von Kindern in gleichgeschlechtlichen Lebenspart­nerschaften durchgeführt wurde, nahmen 1059 gleichgeschlecht2  |  Ich verwende die Bezeichnung queere Familie synonym zum geläufigeren Begriff der Regenbogenfamilie, gebe dem Begriff queer in diesem Text jedoch meistens den Vorzug, da viele Studien und Publikationen, die zu Regenbogenfamilien vorliegen, sich lediglich auf lesbische und schwule Paare bzw. Familien mit einem gleichgeschlechtlichen Elternpaar als Kern beziehen. Sprachlich sichere ich so den Verweis auf eine größere Vielfalt und kann zugleich die theoretische Perspektive markieren, über welche die vorliegende Betrachtung erfolgt.

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lich lebende Eltern teil, worüber 625 Elternpaare mit 693 Kindern untersucht werden konnten (vgl. Rupp 2009: 282). Diese Familien bestehen zum Großteil aus zwei Müttern (93%). Väterfamilien stellen die deutlich kleinste Gruppe dar. Auch in einer von der Stadt Köln realisierten Studie, an der im Jahr 2011 insgesamt 114 queere Familien mit 169 Kindern teilnahmen, bilden Familien mit lesbischen Müttern quantitativ die Mehrzahl, gefolgt von Familien mit lesbischen Müttern und schwulen Vätern (Queer Families) sowie von Familien mit Kind/ern aus heterosexueller Vergangenheit (vgl. Frohn/Herbertz-Floßdorf/ Wirth 2011: 9). Die Tatsache, dass Väterfamilien am seltensten anzutreffen sind, kann zum einen als Niederschlag geschlechtsnormativer Zuschreibungen interpretiert werden, welche die Erziehung in der Familie als Frauendomäne tradiert. Einen sicherlich nicht zu unterschätzenden Einfluss wird zum anderen der Fakt haben, dass sich für schwule Männer biologisch wie juristisch größere Schwierigkeiten ergeben, ihren Kinderwunsch umzusetzen, als dies etwa für lesbische Frauen der Fall ist. Entsprechend kommen Familien mit schwuler Elternschaft zumeist nicht über leibliche Elternschaft zustande, sondern durch Übernahme der Pflegschaft oder Adoption der Kinder. Gleichzeitig zeigt die Kölner Studie, dass in den untersuchten queeren Familien mehr Männer als Väter eine Rolle spielen, als dies üblicherweise erfasst wird: »29 der 114 Familien sind Queer-Familys, darüber hinaus ist in 47% der Familien mindestens ein Vater in das Familiensystem eingebunden und 48 der 150 leiblichen Kinder stammen von einem bekannten Spender in aktiver Vaterfunktion (14 Kinder von einem bekannten Spender ohne Vaterfunktion)« (ebd.: 2011: 47f.). Sichtbar wird nicht nur die relativ höhere Zahl an Vätern in queeren Familienkonstellationen – in denen gleichwohl meist die beiden Mütter die Kernfamilie markieren –, deutlich belegen die Zahlen, wie queere Familien durch das Phänomen einer aktiven Mehrelternschaft nicht nur die Norm des heterosexuellen Elternpaares überschreiten, sondern vielmehr auch das normative Konstrukt der Zwei-Eltern-Familie. Maja S. Maier (2011: 181) interpretiert dieses Phänomen als eine bewusst eingesetzte »Strategie der Vergemeinschaftung jenseits der Paarbeziehung«, die sich z.T. auch mit guten Freund_innen oder Verwandten realisiert findet. Soziodemografisch betrachtet kommt die bundesweite Studie zu dem Ergebnis, dass gleichgeschlechtliche Elternpaare mit Kind/ern in Deutschland eher klein sind, bei zwei Dritteln lebt nur ein Kind. Die Befragten verfügen über ein hohes Bildungsniveau (49% besitzen einen (Fach-)Hochschulabschluss, der Anteil von Arbeiter_innen beträgt 6%) (vgl. Rupp­/Dürnberger 2010: 69; Egger/Rupp 2011: 31). Die Befragten und deren Part­ner_innen sind insgesamt mit einer höheren Quote als heterosexuelle Familien ins Erwerbs­ leben integriert und dies »zwar deutlich häufiger als Mütter, aber seltener als Väter in heterosexuellen Ehen« (Rupp/Dürnberger 2010: 69). Die materielle

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Lage der Familien kann im mittleren Einkommens­bereich liegend als gut bezeichnet werden, auch wenn nicht so oft die höchsten Einkommens­k lassen erreicht werden wie bei heterosexuellen Ehepaaren. Die insgesamt auf hohem Niveau liegenden sozioökonomischen Ressourcen haben Auswirkungen auf die Bildungsaspiration. Kinder, die in queeren Familien aufwachsen, gehen überproportional häufiger auf höhere Schulen als andere Kinder. Sie besuchen zu 38 Prozent ein Gymnasium, nur zu knapp 13 Prozent eine Hauptschule (vgl. Rupp 2009: 283). Sozioökonomisch betrachtet treffen Kinder aus queeren Familien somit auf gute Ausgangs­bedingungen. Welche Strukturaussagen lassen sich nun jedoch beim Blick ins Innere queerer Familien treffen? Im nächsten Schritt wird gefragt, was queere Familien mit Blick auf die traditionell über Geschlecht strukturierten Funktionsbereiche in der Familie auszeichnet. Wer übernimmt welche Aufgabe in der Familie?

2.2 Wenn nicht das Geschlecht die Familie strukturiert: innere Funktionsverteilungen Tendenziell zeigt die bundesweite Studie, dass auch dann, wenn queere Elternschaft im Einzelnen variantenreich ausgestaltet wird, die Bereiche Erwerbstätigkeit, Hausarbeit und Kindererziehung weitgehend egalitär verteilt sind. Die Kölner Studie bescheinigt ebenfalls eine egalitäre Verantwortungsaufteilung mit demokratischem Familienklima (vgl. Frohn/Herbertz-Floßdorf/Wirth 2011: 45). Blickt man in vergleichende Studien der internationalen Debatte bestätigen diese übereinstimmend, dass lesbische und schwule Paare im Vergleich zu heterosexuellen Paaren Berufs- und Familientätigkeit gleichmäßiger aufteilen (vgl. z.B. Eggen/Rupp 2011). Am häufigsten sind Familien anzutreffen, in denen beide Elternteile erwerbstätig sind. Haushaltstätigkeiten werden z.T. an Haushaltskräfte delegiert, die restlichen Tätigkeiten gemeinsam oder abwechselnd realisiert (vgl. Rupp 2009: 295). Auch in der Kinderbetreuung sind in der Regel beide Partner_in­nen als aktiv Verantwortung übernehmende Eltern engagiert und bauen eine Beziehung zum Kind auf, die sie insbesondere bei gemeinsam gewünschten Kindern als unterschiedslos zum leiblichen Elternteil wahrnehmen (vgl. Bergold/Rupp 2011: 120). »Von allen Regenbogen­f amilien gibt ein sehr hoher Anteil von 84 Prozent an, der soziale Elternteil beteilige sich in gleichem Maße wie der leibliche an der Erziehung des Kindes. Damit unterscheidet sich diese Familienform deutlich von heterosexuellen Paaren, bei welchen die Väter wesentlich weniger Verantwortung übernehmen als ihre Partnerinnen.« (Rupp/Dürnberger 2010: 83)

Nun könnte geschlussfolgert werden, dass hier insofern normative Geschlechtszu­schrei­bungen bestätigt werden, als die meisten der untersuchten Familien

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Mütterfamilien darstellen und das Engagement für Erziehung und Verantwortungsübernahme, etwa in den Bereichen Hausaufgabenbetreuung oder Begleitung zu ärztlichen Untersuchungen, sich mit den überkommenen geschlechtsbezogenen Zuschreibungen decken. Doch treffen die gewonnenen Ergebnisse auch auf die wenigen Väterfamilien zu. Weiterhin wird schwulen Vätern ein auf Kommunikation und deutliche Grenzsetzung zielender Erziehungsstil bescheinigt, der den Kindern eine stabile Umwelterfahrung ermöglicht und sich etwa vom Erziehungsstil alleiner­ziehender Väter unterscheidet (vgl. Fthenakis zit. in Maier 2009: 202). Darüber hinaus zeichnen sich auch viele der außerhalb des Haushalts lebenden Väter von Inseminationskindern (mit bekanntem Spender) durch eine hohe Bereitschaft aus, sich verantwortlich am Leben der Kinder zu beteiligen. Die Daten über Regenbogenfamilien widerlegen damit nicht nur die heteronormative Annahme, dass es Geschlecht und Sexualität sind – konkret heterosexuelle Zweigeschlechtlichkeit –, die Familie konstituieren. Die Studien zeigen, wie eine nicht an Geschlecht orientierte Funktionsverteilung in den Familie Beziehungen hervorzubringen vermag, die auf der Paarebene weitgehend egalitär und auf der Elternebene kommuni­kativ und fürsorglich ausgerichtet sind. Doch welche Wirkungen entfaltet es auf Kinder, wenn sich heterosexuelle Zweigeschlecht­lichkeit im Familienleben nicht reproduziert? Welche Effekte gehen mit dem Fehlen des einen und der Verdoppelung des anderen Geschlechts auf der Elternebene einher? Studien aus dem US-amerikanischen Raum, in denen Kinder homo- und hetero­sexueller Eltern vergleichend untersucht wurden, weisen zunächst nach, dass Unterschiede auf der Ebene emotionaler, sozialer oder intellektueller Entwicklung nicht festgestellt werden können (vgl. Peukert 2007: 42). »Weder hinsichtlich der mentalen Gesundheit und der sozialen Anpassung der Kinder noch im Bezug auf die Tauglichkeit der Eltern und ihre elterlichen Fähigkeiten. Die Qualität der Eltern-Kind-Beziehung – nicht aber die sexuelle Orientierung des Elternteils – spielt die Schlüsselrolle in der kindlichen Entwicklung.« (Herek 2011: 19)

Gleichzeitig heben diese Untersuchungen positive Wirkungen des Aufwachsens in Regenbogenfamilien hervor: »Kinder gleichgeschlecht­licher Elternpaare erfahren in einem höheren Maß Solidarität und Netzwerkbildung« (Maier 2009: 201). Empirisch zeigen sich Hinweise auf eine vergleichs­weise hohe Kompetenz dieser Kinder im Umgang mit Belas­t ungen wie eine hohe Bereitschaft zu Toleranz und demokratische Fähigkeiten (vgl. ebd.). In Bezug auf die eigene geschlechtliche und sexuelle Entwicklung heben die Studien zum einen hervor, dass die Mehrheit der Kinder sich heterosexuell entwickelt (vgl. Herek 2011: 20). Zum anderen würden bspw. Mädchen, die in einer lesbischen Familie aufwachsen, »nicht mehr androgyne oder maskuline Verhaltenswei-

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sen« zeigen und Jungen »etwas weniger aggressiv« wirken als bei heterosexuellen Eltern aufwachsende Kinder (Scheib/Hastings 2010: 292). Längerfristig betrachtet verhalten sich Kinder aus gleichgeschlechtlichen Familien weniger geschlechts­konform (vgl. Peukert 2007: 42). Die empirischen Ergebnisse könnten nun zu dem Schluss verleiten, queere Familien lebten gleichsam vorbildlich und transzendierten normative Geschlechter- und Sexualitätsdiskurse mit Leichtigkeit. So hebt die Kölner Studie zu Recht hervor, dass Kinder in Regenbo­genfamilien hinsichtlich ihrer zukünftigen Bildungsbiografie besonders günstige Startvoraus­setzungen vorfinden und spricht von einem »Best-Practice-Beispiel für eine gleich­berechtigte Teilhabe an einer optimalen Vereinbarkeit von Familie und Beruf« (Frohn/ Herbertz-Floßdorf/Wirth 2011: 45). Warum dennoch Vorsicht davor geboten ist, Regenbogenfamilien als ein Zukunftsmodell par excellence zu stilisieren, soll im Fokus des nächsten Abschnitts stehen.

2.3 Heteronormative Kurzschlüsse und Facetten der Entmythologisierung Die Herausforderung besteht darin, nicht kurzschlüssigen Kausalitäten zu folgen. Es ist nicht die queere Lebensweise an sich, welche die genannten positiven Effekte begründet. Vielmehr stehen diese in Zusammenhang damit, dass queere Familien nicht einfach passieren, sondern bewusst – und daher häufig sehr gewünscht – gegründet und aufgrund mangelnder Selbstverständlichkeiten wie angesichts vielgestaltiger Diskriminierungserfahrungen reflektierter und kreativer gestaltet werden müssen. Dies hat nur indirekt mit dem queeren Charakter der Familie zu tun. Vergleiche zwischen gleich- und gemischt­geschlechtlichen Familien sind zwar verständlich, wenn mit ihnen die überkommenen Annahmen einer ungünstigen kindlichen Entwicklung in Regenbogenfamilie widerlegt und gängigen Vorurteilen begegnet werden kann. Dennoch sind sie auch dann zu hinterfragen. Denn über den Vergleich von homo- und heterosexuellen Familienmodellen haben heteronormative Annahmen bereits Eingang in das Forschungsdesign gefunden. Unter der Hand bestätigt es – meist entgegen besserer Absicht – die Erklärungsbedürftigkeit mächtige »Differenz-als-Defizit-Annahme« (Hequeerer Familien. Die wirk­ rek 2011: 19) orchestriert zumeist die Diskussion. Unterstellt bleibt, dass die Vater-Mutter-Kind-Familie den »Idealstan­dard konstituiert, an welchem sich andere Familienformen messen lassen müssen« (ebd.: 20). Mit dem möglichen Nachweis von Unterschieden ist die Gefahr verbunden, diese als Mangel oder Problem zu interpretieren. Aber auch der Nachweis gleicher oder besserer Entwicklungs­potenziale der Kinder bleibt in Bezug zu gemischtgeschlechtlichen Familien gesetzt, bestätigt sie darüber in einer primären Position, reproduziert ein Denken in Norm und Abweichung. Aufseiten der Forschenden

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ist Fingerspitzengefühl gefragt. Denn was bedeutet etwa die wiederholt in Studien anzutreffende Feststellung, dass die Mehrheit der Kinder aus queeren Familien heterosexuell lebt? Im einfachen Feststellen dieser Erkenntnis mag »eine stillschweigende Bestätigung der wertenden Vermutung [mitschwingen], dass es ein negatives Ergebnis wäre, wenn Kinder homosexuell würden« (ebd.). Queere Familien werden folglich womöglich nur dann geschützt, wenn sie den vorherrschenden Erwartungen in besonderer Weise entsprechen (vgl. Maier 2009: 208). Maja S. Maier warnt vor der Gefahr, dass, sollte ihnen dies nicht gelingen, die Kategorie Homosexualität schnell wieder als Bezugspunkt für stigmatisierende und diskriminierende Praxen aktualisiert werden könnte. Es erweist sich als fragwürdig, den Charakter queerer Familien in einem ›Besser-Schneller-Weiter‹ festzumachen. Ihre Besonderheit liegt darin, dass sie heteronor­mativen Vorgaben nicht folgen. Die Eltern setzen sich ihren Kinderwunsch erfüllend und ihr Leben über queere Elternschaft gestaltend über gesellschaftliche Normalitätserwartungen hinweg. Neue Strategien entwickelnd stellen sie den auf heterosexueller Zweige­schlechtlichkeit fußenden Mythos Familie auf unterschiedliche Art infrage. Sie untergraben mit ihrer Struktur der Elternschaft das Vater- und Mutter-Modell wie die geschlechtsbezogene Aufladung der familialen Paar- und Elternfunktionen. Die Konzepte von Vater- und Mutterschaft werden neu definiert, indem – bei gemeinsam gewünschten Kindern von Anfang an – die soziale und biologische Elternschaft, und damit auch Elternschaft und Paarbeziehung, (stellenweise) getrennt entworfen und nicht im gleichen Haushalt umgesetzt sowie zumindest eine der Positionen (Mutter und/ oder Vater) doppelt besetzt werden. Zunehmend erfährt das binäre Elternkonzept eine Weiterentwicklung zu multipler Elternschaft. Indem sie familiale Aufgaben und elterliche Beziehungen geschlechtsunabhängig in verantwortlicher Weise und zum Wohl der Kinder gestalten, stellen queere Eltern kulturelle Entwürfe von Vater- und Mutterschaft wie die Bedeutung der Verschiedengeschlechtlichkeit der Eltern grundlegend infrage. Sie trennen Heterosexualität und Fortpflanzung und entkräften die Kategorie Geschlecht als konstitutiv für Familie. Indem sie belegen, dass Elternschaft entkoppelt von heteronormativen Geschlechtszu­schreibungen gut gelebt werden kann, legen die empirischen Daten über queere Familien die Frage nahe, inwiefern es nicht geradezu eine Funktion der traditionellen Familienform war/ist, auf sozialer Ebene heterosexuelle Zweige­schlechtlichkeit in Form von Weiblichkeit und Männlichkeit, Mutterschaft und Vaterschaft überhaupt erst mit hervorzubringen sowie kontinuierlich zu sichern. Die im Folgenden fokussierten Diskriminierungserfahrungen queerer Familien lassen sich auch als Reaktionen auf die mit ihnen verbundene Entmy­t hologisierung interpretieren. Sie geben einen Eindruck davon, wie hartnäckig sich die dominante Gesellschaft weigert, Elternschaft und Familie sowie Geschlecht und Sexualität als historisch-kulturelle Konstrukte zu begreifen.

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3. A lltägliche H er ausforderungen queer - familiärer L ebensweisen Indem sie tradierte Selbstverständlichkeiten der Lebensgestaltung infrage stellen, stören queere Familien deren reibungsloses Reproduzieren. Es liegt auf der Hand, dass die Diskriminierungserfahrungen queerer Familien wesentlich damit zusammenhängen. Es ist aber auch zu vermuten, dass die in queeren Familien lebenden Personen nicht frei von an den Mythos Familie gebundenen normativen Erwartungen sind. Die Norm heterosexueller Zweige­schlechtlichkeit wirkt auch in ihnen. Auf beide Aspekte soll im Folgenden eingegangen werden.

3.1 Erfahrungen struktureller Diskriminierung und andauernder Infragestellung Gleichwohl die Lebensrealitäten queerer Familien in Deutschland eher selten durch physische Gewalt gekennzeichnet sind und viele, die offen leben, Interesse und Unterstützung erfahren, geben in der repräsentativen Untersuchung zur Lebenssituation von Kindern in gleichge­schlechtlichen Lebenspartnerschaften doch immerhin knapp die Hälfte der befragten Eltern bzw. Co-Eltern an, aufgrund ihrer Lebensform mindestens ein Mal auf Ablehnung getroffen zu sein. Ein Viertel von ihnen berichtet, sich dadurch stark bis sehr stark belastet zu fühlen (vgl. Rupp 2009: 296). Im öffentlichen Raum können diskriminierende Erfahrungen von verbalen Äußerungen bis zu physischen Gewaltanwendungen reichen. Sie manifestieren sich in Konflikten mit städtischen Einrichtungen und Behörden, mit konfessionellen Einrichtungen oder privatwirtschaftlichen Anbietern und zeigen sich auf juristischer Ebene (vgl. Frohn/Herbertz-Floßdorf/Wirth 2011: 33). Hier kann es etwa schwierig sein, die Beziehung zum Kind rechtlich zu etablieren, wenn keine biologische Verbindung besteht (vgl. Herek 2011: 19). Häufig wird queeren Familien jedoch schon im familialen Bereich und nahen Umfeld die Anerkennung versagt, die Heterosexuelle selbstverständlich erhalten. Eine der von Maja S. Maier (2011: 180) interviewten lesbischen Familien berichtet bspw., wie ihr anfänglich harmo­nisches Zusammenleben, in das die beiden Frauen ihre Kinder aus vorausgegangenen hetero­ sexuellen Beziehungen mitgebracht haben, durch negative Reaktionen der Herkunftsfamilien beeinträchtigt wird. Im Mittelpunkt der daraus folgenden Auseinandersetzungen des Paares steht die Frage, inwieweit es den Kindern zugemutet werden kann, in einer von den Großeltern nicht akzeptierten Familie zu leben. Subtiler zeigt sich diese Erfahrungsdimension in der großen Bereitschaft, sich schon mit minimalen Höflichkeitsgesten aus der eigenen Herkunftsfamilie zufriedenzugeben (vgl. ebd.).

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In der für Deutschland repräsentativen Studie berichten 46 Prozent der befragten Kinder von diskriminierenden Erlebnissen (vgl. Rupp 2009: 296). Es sind Hänseleien, Mobbing durch Peers oder ein Diskreditieren und Ausgrenzen ihrer Lebensweise durch Pädagog_innen auf verbaler wie nonverbaler Ebene, die belasten (vgl. Streib-Brzič/Quadflieg 2011: 21). Im Rahmen einer EU-Studie wurde mit Kindern aus Regenbogenfamilien über ihre Erfahrungen in der Schule gesprochen. Von den Kindern als unangenehm bis diskriminierend erlebt und beschrieben wurde hier z.B. »über die eigene Familie ausgefragt zu werden – fortgesetzt und ohne spürbares Interesse, das Infragestellen bzw. Diskreditieren biologischer Entstehung und sozialer familiärer Bedingungen […], die Auslassung von LGBTQ-Familien und -Lebensformen in Unterrichtsmaterialien und als Thema im Unterricht […]« (ebd.: 22). Mit Blick auf eine weitere Studie beschreiben die Forscher_innen, dass Jugendliche, die mit lesbischen Müttern aufwachsen, quantitativ genauso oft wie andere Jugendliche der Klasse »geärgert« werden, sich dies qualitativ betrachtet jedoch häufig sexualisierend auf die Lebensweise der Mütter bezieht (ebd.: 11). Es ist diese Sexualisierung, die peinlich trifft. Als ›unnormale‹ Familie wahrgenommen zu werden, erleben die Kinder stigmatisierend, was dazu führt, dass sie ihre Familienform lieber unerwähnt lassen. Der Mangel an queeren Lebensrealitäten in deutschen Schulbüchern ist nicht zu unterschätzen. Kinder und Jugendliche, deren Lebensweise nicht den heteronormativen Erwartungen entspricht, finden sich und ihre Erfahrungen nicht wieder – es fehlt ein selbstverständlicher Umgang mit der real gelebten Vielfalt an Lebensweisen. Viele Diskriminierungserfahrungen vermitteln sich über die Wirkmächtigkeit normativer Geschlechterdiskurse. Doreen Kruppa arbeitet heraus, wie den von ihr interviewten gleich­geschlechtlichen Paaren von ihrem Umfeld unterstellt wird, als gleichgeschlechtliches Paar wesentlichen Bedürfnissen der Kinder nicht nachkommen zu können. Dafür fehle der notwendige andere Part. Kruppa zitiert eine interviewte Mutter: »Dann sagen sehr viele, ja, der wird doch total verwöhnt, wenn er zwei Mütter hat … Sonst ist das eher so, dass alle denken, er wird ein Weichei.« (Kruppa 2009: 154) Ein interviewter Vater berichtet über ein als Distanzlosigkeit wahrgenommenes Verhalten von Frauen, die ihm gegenüber zum Ausdruck bringen, seinem Kind fehle eine Mutter bzw. Mütterlichkeit. Die Beispiele stehen für die in der psychologischen wie pädagogischen Debatte dominante und entsprechend auch tief im Alltagsdiskurs verwurzelte Annahme, jedes Kind benötige zur Entwicklung seiner Geschlechtsidentität sowohl eine gleich- als auch eine gegenge­schlechtliche Bezugsperson. Stellenweise ist dieses Gebot als Notwenigkeit eines weiblichen und eines männlichen Elternteils formuliert. Demgegenüber stellt der Familien­ soziologe Rüdiger Peukert nach Sichtung zahlreicher Studien fest: »Vater- oder Mutterab­wesenheit [sagt] per se nichts über die zu erwartende Richtung des

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Sozialisationsprozesses der Kinder« aus (Peukert 2007: 43). Erkenntnisse aus der Entwicklungspsychologie stellen die Qualität der Beziehungen innerhalb fami­lia­ler Lebensformen als den bedeutenden Faktor für eine psychisch gesunde Entwicklung der Kinder heraus, die nicht an eine spezielle Lebensform gebunden ist (vgl. Herek 2011: 19). Es kann nicht übersehen werden, dass mit der nach wie vor bestehenden Wirkmächtigkeit normativer Geschlechter- und Sexualitätsdiskurse eine ›Mehr-Arbeit‹ im Sinne von Bewältigungsherausforderung für queere Familien einhergeht. Darüber hinaus entfalten die normativen Diskurse ihre Wirkkraft nicht nur als Erwartungen von außen kommend, sondern durchaus auch als innerhalb der queeren Familien herrschend. Im Folgenden soll daher gefragt werden, wie normative Zuschreibungen sich entgegen dem ersten Anschein auch im Leben gleichgeschlechtlicher Familienmodelle wiederfinden und hier beschränkende Wirkung entfalten.

3.2 Reproduktion heteronormativer Annahmen in Regenbogenfamilien Die sich in weiten Teilen der Debatte hartnäckig haltende Überzeugung, ein Kind benötige eine weibliche wie eine männliche Bezugsperson, löst bei queeren Eltern die Sorge aus, die Abwesenheit eines Geschlechts sei für das Kind mit Problemen verbunden. So berichtet etwa ein von Doreen Kruppa interviewter Vater selbstkritisch, wie er mit seinem erst kurz bei dem Paar lebenden Pflegesohn zur Ärztin ging und dieser gegenüber vermutete: »Manchmal glaube ich ihm fehlt so die Mama« (Kruppa 2009: 155). Weiter überlegt eine der lesbischen Mütter, eine heterosexuelle Beziehung zu beginnen, um dem Sohn ein männliches Vorbild zu bieten. Kruppa gelingt es, mit ihrer Studie dafür zu sensibilisieren, wie die heteronor­mative Setzung eine Ambivalenz erzeugende Wirkkraft in den Individuen entfaltet. Weitere heteronormative Muster finden sich auch im doing family von Regenbogenfamilien. Bei aller Tendenz zu egalitärer Arbeitsteilung stellt sich bei genauerer Betrachtung heraus, »dass verschiedene Aufgaben im Haushalt, die Betreuung kleiner Kinder oder von Kindern aus früheren Beziehungen eher von den leiblichen Eltern übernommen werden« (Rupp 2009: 295). Aber auch die Erwerbstätigkeit bzw. ihr Umfang stehen in Abhängigkeit zum Elternstatus, wobei leibliche Eltern weniger häufig erwerbstätig sind als ihre Partner_ innen. Üben sie eine Erwerbstätigkeit aus, dann entscheidet sich die Hälfte der leiblichen Eltern für eine Teilzeitbeschäftigung, während die sozialen Eltern mehrheitlich einer Ganztagsbe­schäftigung nachgehen (ebd.). Doreen Kruppa spricht von einer »zunehmenden Traditiona­lisierung in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften im Übergang zur Elternschaft« (Kruppa 2009: 144), die sich entlang des gesellschaftlichen Stellenwerts der biologischen Verbindung

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zwischen Kind und Eltern ergibt. Während bei heterosexuellen Paaren die mit der Familiengründung feststellbaren Traditionalisierungseffekte entlang der Kategorie Geschlecht ausgerichtet sind, übernimmt in einigen queeren Familien die biologische Abstammung die Funktion einer entsprechenden, stellenweise durchaus komple­mentäre Züge annehmenden und Unzufriedenheiten hervorbringenden Differenzierung. Der Rückgriff auf einen biologischen Diskurs als Strategie, Familie als solche herzustellen, zeigt sich auch im Bestreben, Ähnlichkeiten mit der sozialen Mutter zu konstruieren: »Frauenpaare, die mithilfe einer Fremdsamenspende planen, eine Familie zu gründen, bevorzugen bei der Spendersamenwahl […] in der Regel einen Spender, der vom Aussehen her zu dem Äußeren der Frau passt, die das Kind nicht zur Welt bringen wird […]« (Funcke/Thorn 2010: 25). Mittels Markierung einer nicht vorhandenen biologischen Nähe ist die Intention verbunden, die soziale Mutter in ihrer Elternposition zu stärken. Aufgerufen wird die heteronormative Logik eines mit ihren Kindern verwandten Elternpaares. Die vorliegenden Daten bestätigen darüber hinaus, dass, selbst wenn Mehrelternschaften zunehmen, die Norm binärer Elternschaft in queeren Familien dominiert. Weiter institu­tionalisieren die meisten Eltern in Regenbogenfamilien ihre durch Dauerhaftigkeit ausgezeichnete Beziehung über eine eingetragene Lebenspartnerschaft (vgl. Rupp 2009; Frohn/Herbertz-Floßdorf/ Wirth 2011). Diese Familie konstituierenden Strategien korrespondieren mit dem bürgerlichen Familienmodell und seinem romantischen Ideal der Liebe, gepaart mit einer ebenso dauerhaften wie monogamen Zweierbeziehung. Die erhobenen queeren Familienmodelle stehen in einem durchaus spannungsreichen Verhältnis zu heteronormativitätskritischen Einwänden gegen diesen Entwurf und seiner symbolischen Manifestation in Heirat und Ehe. Fraglich ist weiterhin, auf welchen Platz im Anerken­nungsdiskurs die Existenz »kurzfristiger, sexuell nicht-exklusiver oder diskontinuierlich verlaufender Paarbeziehungen« (Maier 2011: 181) dabei verwiesen wird. Christian Klesse gibt zu bedenken, dass sich die zunehmende Akzeptanz solcher bürgerliche Werte verkörpernder Familienformen nicht nur »im Einklang mit einer Politik der Regulierung [befindet], die nichtkonventionelle Bindungen und Sexualitäten marginalisiert« (Klesse 2011: 83). Diese läuft vielmehr Gefahr, die Hierarchisierung zwischen unterschiedlichen Lebensweisen zu verstärken. So gesehen erweisen sich heteronormative Prämissen einer hierarchisierenden Regulierung von Lebensweisen weniger aufgehoben denn vielmehr moderat verschoben. Den Mythos Familie infrage stellend unterscheiden sich queere Familien auf den ersten Blick deutlich von dem heteronormativen bürgerlichen Modell. Jedoch erweisen sich wesentliche ihrer Strategien auf den zweiten Blick genau an diesem orientiert. Für das doing family entfalten an die heterosexuelle Kleinfamilie gebundene heteronormative Setzungen auch in gleichgeschlechtlichen Familien ihre Wirkkraft. Queere Familien lassen sich nicht einfach als generel-

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le Infragestellung der heteronormativen Verfasstheit des modernen Familienideals begreifen, vielmehr angemessener – wie Judith Butler es für Geschlecht ausformuliert hat – als eine Form der »Improvisation im Rahmen des Zwangs« (Butler 2009: 9). Unzweifelhaft machen queere Familien aber deutlich, dass die familiale Ordnung nicht eine von Natur aus gegebene ist, sondern eine sozial hergestellte – und kulturelle Ordnungen sind veränderbar.

4. A lternative F amiliennormen Judith Butler wählt eine Figur der griechischen Antike, Antigone, als Symbol für eine kritische Perspektive auf Familie und Verwandtschaft. Sie wundert sich, dass die Gestalt Antigones gemeinhin als Repräsentantin für Familie und Verwandtschaft interpretiert wird. Denn die allein und ohne Kinder lebende sowie ihren Bruder begehrende Antigone der griechischen Mythologie überschreitet »die Normen der Geschlechtszugehörigkeit wie der Verwandtschaft« (Butler 2001a: 20). In der Regel so interpretiert, dass Antigones Tod die notwendige Folge ihrer Normübertretung darstellt, steht Antigone für Butler demgegenüber für die Frage nach den Bedingungen der Anerkennung, den Bedingungen für lebenswertes Leben. Antigone steht für die Frage danach, wie Gesetze und Regeln für soziales Leben aussehen müssen, damit Menschen, die anders als andere leben, nicht ausgeschlossen werden. Butler verwirft Normen damit nicht generell. Einer ethischen Perspektive folgend, unterscheidet sie »zwischen den Normen und Konventionen […], die es den Menschen erlauben, zu atmen, zu begehren, zu lieben und zu leben, und solchen Normen und Konventionen, welche die Lebensbedingungen selbst einengen oder aushöhlen« (Butler 2009: 20). Menschen benötigen zum Leben Anerkennung. Aber statt einer Anpassung an die Kriterien der Anerkennung plädiert Butler für deren Aushandeln. Sie plädiert für ein Infragestellen der zur Anerkennung zugrunde liegenden Normen. Explizit dem Ziel einer »radikal inklusiven Gemeinschaft« (Butler 2001b: 6) folgend, macht sie eine ganz andere Norm stark: die Norm des Eingreifens in die Norm, welche die Anerkennbarkeit regelt. Welche Normen böten sich an für eine neue Ordnung? Ulrike Schmauch favorisiert eine soziale Ordnung, die »durch Verantwortung und Engagement, Transparenz und Respekt geprägt« (Schmauch 2008: 304) ist. Als beachtenswerte Momente der Konstitution von Familie kommen damit Praxen statt Identitäten oder Lebensformen in den Blick. Dies könnten Praxen der Fürsorge, der Zugehörigkeit und der »Zeitlichkeit« sein, die »Faktizität langfristig gelebter reziproker Fürsorge und Intimität« (Knecht 2003: 62). Das alles sind Faktoren, die nicht selbstverständlich auf naturalisierten Unterschieden von Geschlecht oder Sexualität gründen. Eine auf diese Weise normativ getragene Familie

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würde einem Verständnis der Gestaltbarkeit folgen, welches heterosexuelle Zweigeschlechtlichkeit mit der in sie eingelagerten machtvollen Hierarchisierung zwischen vielfältigen Lebensweisen kontinuierlich dezentriert.

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Re-thinking family norms

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Forschung und Soziale Arbeit zu Queer mit Rassismuserfahrungen Saideh Saadat-Lendle und Zülfukar Çetin

Wir1 sind eine queere Gruppe, die sich sowohl akademisch als auch politisch selbstbestimmt gegen Mehrfachdiskriminierungen in der Dominanzgesellschaft 2 einsetzt. Es ist uns wichtig, auf dem ersten LSBTI*-Wissenschaftskongress der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld (BMH) deutlich zu machen, dass wir 1  |  Wir sind Lesben, Schwule, Trans* und Intergeschlechtliche, Bisexuelle, Frauen und Männer, Tunten und Kampflesben, wir sind dick und hässlich, wir haben Behinderungen, wir sind HIV-positiv und Obdachlose, wir sind Ausländer_innen, wir haben Migrationshintergrund, wir definieren uns als Queer of Color. In unserer langjährigen wissenschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Arbeit für Menschen mit Rassismuserfahrungen stoßen wir auf verschiedene Erwartungen von unterschiedlichen Menschen, Gruppen und Institutionen. Manchmal werden wir zu Expert_innen für das Thema Rassismus gemacht, manchmal gelten wir als Repräsentant_innen für Menschen mit sogenanntem Migrationshintergrund, manchmal werden uns unsere Erfahrungen mit Rassismus aberkannt. Manchmal werden wir als Opfer der von Migrant_innen ausgehenden Homophobie und Transphobie betrachtet. Mit unseren Namen, die korrekt auszusprechen so vielen schwerfällt, mit unserem schwer einzuordnenden Äußeren, mit unseren migrantisierten Weiblichkeiten und Männlichkeiten sind wir manchmal Unsicherheitsfaktoren für Kolleg_innen, die mit uns vorsichtig umgehen wollen, weil sie uns nicht diskriminieren wollen. Wir bedanken uns bei Jacek Marjański und Maria Virginia Gonzalez Romero, die gemeinsam mit uns auf dem 1. LSBTI*-Wissenschaftskongress der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld ihre Erfahrungen mit Rassismen und Homophobie in ihrer alltäglichen sozialen Arbeit schildern durften. 2  |  Das Konzept der Dominanzgesellschaft lehnt sich an das von Birgit Rommelspacher entwickelte Konzept der Dominanzkultur an. Das Konzept der Dominanzkultur geht davon aus, dass sich die Gesellschaft nicht aus einer oder einer begrenzten Anzahl von Perspektiven heraus analysieren lässt, sondern dass unterschiedliche Machtdimensionen die gesellschaftlichen Strukturen und das konkrete Zusammenleben bestimmen, und im Sinne eines Dominanzgeflechts miteinander verwoben sind (vgl. Rommelspacher 2006: 3).

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uns zu der Abkürzung LSBTI* kritisch positionieren. Wir sind der Meinung, dass LSBTI* der sprachlichen Vereinfachung bei der Nennung von Gruppen dient, die mit LSBTI*-Feindlichkeiten konfrontiert sind. Mit der Bezeichnung LSBTI* werden Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans* und Intergeschlechtliche als einzelne Identitäten nebeneinander gestellt und unterschiedliche Diskriminierungserfahrungen auf das Sexuelle bzw. Geschlechtliche reduziert. Dabei werden oft die Menschen vergessen, die gleichzeitig Klassismen und Rassismen ausgesetzt sind. Ausgehend von dem Motto Identität kennt kein Entweder-Oder (LesMigraS undatiert) befürworten wir den Begriff Queer statt LSBTI*. Mit dem Begriff Queer wollen wir unsere wissenschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Positionen und unser selbstbestimmtes Engagement gegen Mehrfachdiskriminierungen in der weiß-deutschen Dominanzgesellschaft zum Ausdruck bringen. In diesem Beitrag wollen wir als Wissenschaftler_innen, Aktivist_innen, Sozialarbeiter_innen bzw. als Menschen, deren Qualifikationen oft infrage gestellt werden, ein Zeichen gegen institutionelle und alltägliche mehrdimensionale Herrschaftsverhältnisse setzen. Anhand der Analyse ausgewählter Studien zeigen wir auf, wie der von einer Allianz aus Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Staat (re-)produzierte Homophobiediskurs Rassismen erzeugt und praktiziert. Dabei gilt es auch, die Repräsentations-, Legitimations- und Gerechtigkeitsansprüche dieser Allianz zu hinterfragen.

D er R epr äsentationsanspruch der Z ivilgesellschaf t Sowohl im akademischen als auch zivilgesellschaftlichen Kontext dienen wir oft als Forschungsobjekte: Unsere besondere Lebensweise als Queers mit Migrationshintergrund interessiert die eurozentrische Wissenschaft, Zivilgesellschaft und den Staat. Es werden Studien und Projekte über Themen wie Integration, Migrant_innen, Toleranz und Demokratie, Homophobie, Antisemitismus etc. durchgeführt. Während unsere Weiblichkeiten und Männlichkeiten migrantisiert werden, werden wir mit unseren Homosexualitäten als Teil einer aufgeklärten und demokratischen europäischen Gesellschaft anerkannt. Unsere Familien, Freund_innen, Kolleg_innen mit ihren migrantisierten Heterosexualitäten erklärt man jedoch als einen Gegensatz zu uns. In der bekannten LSVD-Kampagne »Gül ist lesbisch – Hassan ist schwul – Er/Sie gehören zu uns, Jederzeit«, welche im Jahr 2012 in Berlin ins Leben gerufen wurde, sehen wir z.B. den polarisierenden und inakzeptablen Repräsentationsanspruch des Verbandes: Gül und Hassan werden in der LSVDKampagne als Lesbe und Schwuler mit Homophobieerfahrungen markiert. Doch wie ist das »wir« definiert, zu dem die beiden angeblich gehören? Als größte lesbisch-schwule Organisation der BRD behauptet der Verband, sich

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für die sozialen Rechte der in Deutschland lebenden Lesben, Schwulen und Trans* einzusetzen3. Während der von weißen Deutschen geführte LSVD sich u.a. für die Homo-Ehe engagiert, bleiben viele andere Fragen offen – z.B. die nach den Rassismuserfahrungen von Gül und Hassan und den daraus resultierenden Zugangsbarrieren zu Bildung, gut bezahlter Arbeit, zum Wohnungsmarkt oder dem Gesundheitssystem. Die auf dem Plakat Porträtierten werden als Repräsentant_innen der Schwulen und Lesben of Color dargestellt: Sie erscheinen als homosexuelle Opfer eines als homophob imaginierten Islam. Der Kampf des LSVD gegen Homo- und Transphobie wird auf diese Weise zu einem Kampf gegen Muslim_innen.

L egitimationsanspruch der W issenschaf t Während die eurozentrische Wissenschaft kontinuierlich versucht, zu beweisen, dass ein Hassan, der schwul sein soll wie ein Kai4, Opfer seiner Familie, seiner Freund_innen oder seiner Verwandten sei, wird nicht gefragt, ob der Kai, der schwul sein soll wie Hassan, ebenfalls Erfahrungen mit Rassismen macht und Konsequenzen daraus ziehen muss. Die Konstruktion eines schwulen Opfers des Islams wird mit dem Motto »Gül ist lesbisch, sie gehört zu uns, jederzeit!« ausgeweitet. Gül als lesbische Frau wird nicht nur als Opfer der muslimischen Migrant_innen, sondern auch als eine unemanzipierte und unterdrückte Frau konzeptualisiert, die sich weder als Frau noch als Lesbe behaupten könne. Diese und ähnliche Kampagnen erzeugen einen Gegensatz zwischen weiß-europäischer emanzipierter Lesbe vs. muslimisch-unemanzipierter Lesbe, welcher durch eurozentrische Forschungsprojekte stets aktualisiert und bekräftigt wird (z.B. im vom LSVD herausgegebenen Sammelband »Muslime unter dem Regenbogen. Homosexualität, Migration, Islam« 2004 oder im Sammelband »Zwangsverheiratung in Deutschland« in der Forschungsreihe des Deutschen Instituts für Menschenrechte 2008). Die eurozentrische Wissenschaft interessiert sich kaum dafür, wie Mehrfachausschlussmechanismen Mehrfachdiskriminierungen (re-)produzieren und wie die auf dem Plakat porträtierten Gül und Hassan täglich von ihnen betroffen sind. Wie wir in diesem Text ausführen, werden sie und ihresgleichen von der Wissenschaft als Opfer von Muslim_innen konstruiert. Mit einer Reihe von intransparenten und interessengeleiteten Studien zielt die eurozentrische Wissenschaft gemeinsam mit mehrheitsdeutschen zivilgesellschaftlichen Organisationen auf die Erstellung eines Opfer- und eines Täterprofils von 3  |  Vgl. Internetpräsenz des Verbandes: https://www.lsvd.de/ziele/buergerrechte.html. 4 | In einer früheren Kampagne von 2004 hieß es: »Kai ist schwul. Murat auch!«, vgl. www.sachsen-anhalt.lsvd.de/?action=archiv&cat=3&dok=47.

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Homophobie und Sexismus bzw. der Konstruktion: Schwule vs. Muslime bzw. emanzipierte europäische Lesbe vs. unemanzipierte muslimische Lesbe.

G erechtigkeitsanspruch des S ta ates Im August 2001 verabschiedete Deutschland das Lebenspartnerschaftsgesetz, auf dessen Basis Lesben und Schwule ihre Partnerschaften nach einem heteronormativen Ehemodell standesamtlich eingehen können. Dieses Gesetz gilt seitdem als Zeichen dafür, dass die BRD einen großen (Fort-)Schritt gegen Homophobie gemacht hat. Der Kampf gegen weitere Formen der Diskriminierung war damit noch nicht gewonnen. Auf Grundlage der EU-Richtlinien und des Amsterdamer Vertrages 1997 wurde Deutschland verpflichtet, ein Gesetz zu verabschieden, das u.a. rassistische, homophobe und sexistische Diskriminierungen verbieten soll (vgl. Çetin 2012). 2006 trat das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz in Kraft, das diese Diskriminierungen in zivilund arbeitsrechtlichen Bereichen beseitigen soll. In diesem Kontext wurden staatliche Gelder für Forschungsprojekte in den Themenbereichen Migration, Integration, Demokratie sowie für den Kampf gegen Extremismus und Terror zur Verfügung gestellt. Mit der Bereitstellung dieser Fördergelder für zivilgesellschaftliche und akademische Projekte begründete der deutsche Staat einen Gerechtigkeitsanspruch, staatliche Universitäten und zivilgesellschaftliche Organisationen begannen, sich mit Themen wie Homophobie, Sexismus, Frauenunterdrückung, Gewalt, Integration sowie Antisemitismus unter muslimischen Migrant_innen zu beschäftigen. Diese staatlich finanzierten Studien wurden zum größten Teil von Organisationen und Wissenschaftler_innen realisiert, die weder von Rassismus noch von Klassendiskriminierung betroffen sind und gehen von einem Widerspruch zwischen homophoben Muslim_innen und homofreundlichen weißen Deutschen aus (vgl. Simon 2008). Die Rolle des Staates in der Verstärkung dieser Konstruktion von Gegensätzen besteht in der ungleichen Verteilung der Ressourcen, die für die antihomophoben »Auf klärungsprojekte« zur Verfügung gestellt werden.

H omophobiediskurse in der W issenschaf t, der Z ivilgesellschaf t und die R olle des S ta ates Im Folgenden wollen wir das Zusammenwirken von Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Staat anhand der Analyse ausgewählter Studien exemplarisch aufzeigen und die damit verbundene (Re-)Produktion des antimuslimischen Rassismus aufdecken (vgl. Çetin 2012). Dafür analysieren wir zwei Studien (MANEO-Umfrage, 2009, und Studie von Simon, 2006) und stellen als

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Gegenmodell die LesMigraS-Studie (2013) vor. Mit ihrer methodischen Vorgehensweise und ihrem intersektionalen Forschungsansatz erachten wir die LesMigraS-Studie als ein Modell für nicht diskriminierende Queer-Studien.

Die MANEO-Umfrage: Gewalterfahrungen von Schwulen und bisexuellen Männern Zwischen 2006 und 2008 führte das schwule Anti-Gewalt-Projekt in Berlin MANEO zwei bundesweite Umfragen zum Thema Gewalterfahrungen von Schwulen und bisexuellen Männern in der BRD durch. Auf die erste MANEOUmfrage 2006/2007, bei der ca. 24.000 Personen online einen Fragebogen ausfüllten, folgte 2007/2008 eine zweite Umfrage mit 17.477 Fragebögen (vgl. MANEO 2009: 4). Letztere wurde durch die Stiftung Deutsche Klassenlotterie Berlin finanziert und von Wissenschaftler_innen der Humboldt-Universität, der Evangelischen Hochschule Berlin und dem Wissenschaftszentrum Berlin begleitet (vgl. ebd.: 5). Die zweite Umfrage »steht unter der […] Fragestellung der Bagatellisierung und möchte aufzeigen, in welchen Bereichen schwulenfeindliche Gewalttaten heruntergespielt bzw. als solche nicht registriert und ernst genommen werden« (ebd.: 10). Der standardisierte Fragebogen umfasste u.a. • Fragen zu Gewalterfahrungen […] und Risikoeinschätzungen sowie • Fragen zu dem Vorfall, der die Befragten in den letzten 12 Monaten am stärksten betroffen hat, und wandte sich an in Deutschland lebende bisexuelle Männer und Schwule. Weitere statistische Merkmale wie Alter, Einkommen, sozialer Status oder Wohnort wurden bei der Auswahl der Stichprobe nicht berücksichtigt. Die Umfrage beansprucht keine Repräsentativität (vgl. ebd.: 9). Wir kritisieren, dass durch die Auswertung der Erhebungen jedoch Opfer- und Täterprofile schwulenfeindlicher Gewalt konstruiert wurden, die in den Medien und öffentlichen Veranstaltungen rassistisch präsentiert wurden (siehe dazu MANEO 2007 und Buntrock 2009).

Konstruktion von Gewaltopfern und -tätern Die Teilnehmer der Befragung wurden nach ihren Erfahrungen mit einer oder mehreren von elf juristischen Vorfallformen von Gewalt gefragt. 40,6 Prozent der Befragten (also 7100 Personen) gaben an, in den letzten zwölf Monaten von schwulenfeindlichen Vorfällen betroffen gewesen zu sein (vgl. ebd.: 16). Ohne weitere gesellschaftstheoretische Verankerung des Konzepts Gewalt wurden in der Folge alle der elf juristischen Vorfallformen ohne weitere Differenzie-

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rung als Gewalt zusammengefasst. Im Gegensatz zu dieser fehlenden Differenzierung bei den Gewaltformen macht der Ergebnisbericht genaue Angaben über die Opfer schwulenfeindlicher Gewalt bzw. Hassgewalt: • 81 Prozent der Befragten seien schwul bzw. homosexuell, die die größte Opfergruppe bilden würden; • 61 Prozent seien jung (bzw. Schüler an allgemeinbildenden Schulen); • 92 Prozent seien (weiße) Deutsche. Die Opfer der Gewalt werden als Gegensatz zu den – angenommenen – Tätern dargestellt. Hierbei ist anzumerken, dass die Einschätzungen zu allen Merkmalen der Täter nach den vorformulierten Antwortoptionen von den Opfern selbst gegeben wurden (vgl. Abou-Chadi/Lippl 2009: 86). Über die Täter_innen der schwulenfeindlichen Gewalt wird festgestellt (vgl. ebd.: 27): • 86 Prozent der Täter_innen seien männlich; • 78 Prozent seien jung (18 bis 35 Jahre); • 40 Prozent hätten einen Migrationshintergrund5. Diese Werte wurden aus den Angaben der Befragten errechnet und sind nicht das Ergebnis rechtskräftiger Verurteilungen. Gewalt im europäischen Kontext wird als ein Phänomen verstanden, an welchem man den Fortschritt oder die Rückständigkeit einer Gesellschaft messen könne. Im Zusammenhang mit dem 11. September, dem Afghanistankrieg oder dem Nahostkonflikt wird Gewalt orientalisiert und als Kontrast zum Europäischen stilisiert (vgl. dazu Said 1978; Attia 2009). Betrachten wir das Zivilisierungskonzept Europas, so sehen wir, dass einige Menschenrechte, z.B. Frauen- und Homosexuellenrechte, als Maßstäbe europäischer Zivilisation festgeschrieben werden und deren Existenz in den als »Orient« imaginierten Ländern in Geschichte und Gegenwart abgesprochen wird. Die Ergebnisse der MANEO-Umfrage basieren auf einer anonymen Onlinebefragung, die methodisch und sozialwissenschaftlich kritisiert und der 5 | Dem öffentlichen Diskurs folgend sind nicht Migrant_innen aus osteuropäischen oder afrikanischen, asiatischen oder amerikanischen Ländern gemeint; »Migrant_innen« sind hier Menschen mit Wurzeln in mehrheitlich muslimischen Ländern oder Gebieten – für den deutschen Kontext also v.a. Türk_innen und Kurd_innen als die größten Migrant_innen-Gruppen, oder Araber_innen und Bosnier_innen. Darüber hinaus werden aber auch Menschen in die Schublade »Migration« gesteckt, die etwa als Sinti, Roma oder schwarze Deutsche aufgrund ihrer äußeren Erscheinung als »Migrant_innen« identifiziert werden. Offensichtlich ist es der Blick der weißen deutschen Mehrheitsgesellschaft, der hier entscheidet, über wen gesprochen wird (Wolter/Yılmaz-Günay 2009: 38).

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Manipulation bezichtigt wurde (vgl. Buchterkirchen 2007; Blech 2009). Für die Erhebung des Täterprofils stellte MANEO die per se problematische Zuschreibung »Migrationshintergrund« als eine der möglichen Antwortkategorien zur Auswahl. So zielten die Studie und deren öffentliche Präsentationen darauf ab, junge weiß-deutsche Schwule als Opfer junger, migrantischer und als heterosexuell markierter Männer darzustellen (vgl. MANEO 2009: 19) und die Täter homophober Gewalt zu migrantisieren.

Legitimationsanspruch der Zivilgesellschaft In der vorliegenden Studie werden bisexuelle Männer und Schwule als ›sexuell anders orientiert‹ bezeichnet. MANEO erhebt den Anspruch, die ›sexuell anders Orientierten‹ gleichberechtigt zu vertreten. Im Fazit der Umfrage wird jedoch deutlich, dass nur sexuell ›anders orientierte‹ Männer und Opfer schwulenfeindlicher Gewalt weiß-deutscher Herkunft vertreten werden. Für die Selbstbezeichnung werden den Teilnehmern die Optionen »Schwul, Homosexuell, Bisexuell, Heterosexuell, Transsexuell/-gender, Lehne Selbstdefinition ab, Anderes« (ebd.: 12) angeboten. Diese Vorgehensweise ist bedenklich, weil eine wirkliche Selbstbezeichnung nicht mit vorgegebenen Antwortoptionen erfolgen kann. In mehreren Studien wird oft übersehen, dass die befragten Personen sich mit mehreren der vorgegebenen Bezeichnungen identifizieren können. In der MANEO-Umfrage selbst wird nicht Bezug genommen auf die vorgegebenen Identifizierungsmöglichkeiten – vielmehr werden alle Befragten als ›sexuell anders orientiert‹ definiert. Die Möglichkeit, sich wirklich selbst zu definieren, wird den Befragten abgesprochen. Die Auftraggeber_innen und Leiter_innen dieser Studie betrachten sexuell anders Orientierte als eine kleine Minderheit in der BRD, die sie in der medialen Öffentlichkeit und in den Jahresberichten durch Diskriminierung und Gewalt seitens junger muslimischer Männer als bedroht darstellen (vgl. MANEO 2009: 17f. und 22ff.). Die mediale und öffentliche Darstellungspolitik der Studienergebnisse verweist, wie bisher ausgeführt, auf die rassistisch geprägten Interessen der Initiator_innen der Umfrage, die sowohl regierungspolitisch als auch durch die akademische Begleitung unterstützt werden. Als Interessenvertreter_innen einer zur Minderheit gemachten Lesben und Schwulencommunity beanspruchen die Träger_innen der Studien mehr Fördergelder für die Etablierung der Infrastruktur ihrer Lobby- und Beratungsarbeit (vgl. ebd.: 28). Durch die angeblich konstant gebliebenen und/oder zunehmenden Opferzahlen antischwuler Gewalt, die zusätzlich mit wissenschaftlichen Umfragen belegt werden, werden diese Ansprüche gerechtfertigt.

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Simon-Studie zu Einstellungen zur Homosexualität Parallel zu den MANEO-Umfragen realisierte Bernd Simon am Institut für Psychologie der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel 2006 im Auftrag des LSVD eine Studie über Einstellungen von Jugendlichen mit und ohne ›Migrationshintergrund‹ zu Homosexualität. Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sowie die Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport finanzierten die Studie. Ihr Ziel war, homofeindliche Einstellungen von ›türkischen, russischen und deutschen‹ Jugendlichen im Alter zwischen 14 und 20 Jahren zu erforschen und ihre Einstellungen zu Homosexualität miteinander zu vergleichen. 922 standardisierte Fragebögen, beantwortet von Berliner Gymnasiast_innen und Gesamtschüler_innen, wurden in Hinblick auf die Verbreitung von homofeindlichen Einstellungen unter Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund und auf Ursachen der homofeindlichen Einstellungen ausgewertet. Sowohl die Verwirklichung einer quantitativen Studie mit vorformulierten geschlossenen Fragen, die die rassistischen Zuschreibungen gegenüber der untersuchten Gruppe mit Migrationshintergrund verstärken, als auch die Auswertung der Fragebögen weisen wissenschaftliche Mängel auf. Studienleiter Bernd Simon geht von der These aus, ›dass in den Gruppen mit Migrationshintergrund die Wahrnehmung gruppenbezogener Diskriminierung positiv mit homosexuellenfeindlicher Einstellung zusammenhängt im Sinne einer Konkurrenz der Minderheiten und/oder einer Sündenbockfunktion der homosexuellen Minderheit‹ (vgl. Simon 2008: 8). Ausgehend von dieser These wird auf die folgenden Forschungsergebnisse abgezielt, die von unterschiedlichen Sozialwissenschaftler_innen und politischen Akteur_innen aus Migrations- und Queerforschung kritisiert wurden (vgl. z.B. Rommelspacher 2007; Yılmaz-Günay 2008): »1) Jugendliche mit Migrationshintergrund […] lassen eine homosexuellenfeindlichere Einstellung erkennen als Jugendliche ohne Migrationshintergrund […]. 2) Religiosität und Akzeptanz traditioneller Männlichkeitsnormen sind generell positive Korrelate homosexuellenfeindlicher Einstellung. 3) Persönliche Kontakte zu Homosexuellen sind generell ein negatives Korrelat homosexuellenfeindlicher Einstellung. 4) Der Zusammenhang von Religiosität und homosexuellenfeindlicher Einstellung ist bei Jugendlichen mit türkischem Migrationshintergrund […] besonders stark ausgeprägt. 5) Diskriminierungswahrnehmungen von Jugendlichen mit Migrationshintergrund […] sind ein positives Korrelat homosexuellenfeindlicher Einstellung, das Ausmaß der Integration dieser Jugendlichen in die deutsche Gesellschaft ein negatives Korrelat.« (Simon 2006: 9)

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Simon stellt bedenkliche und nicht weiter hinterfragte Behauptungen auf: So sei mit der Einführung des Lebenspartnerschaftsgesetzes ein verbessertes Klima für Lesben und Schwule in Deutschland entstanden, es herrsche eine stillschweigende gesellschaftliche Akzeptanz, die jedoch durch bestimmte Angehörige der Migrantengesellschaft bedroht wäre (ebd.: 4f.). Durch die geografischen, kulturalistischen oder biologistischen Annahmen über die Herkunft der (Groß-)Eltern der Befragten, werden die Jugendlichen nach bestimmten imaginierten Abstammungen konstruiert bzw. kategorisiert und mit einem Migrationshintergrund markiert. Diesen Gruppen werden Jugendlichen ohne Migrationshintergrund gegenübergestellt, die angeblich ein als europäisch konstruiertes Wertesystem vertreten und deutlich weniger homofeindlich seien. Als türkisch konstruierte Jugendliche werden im nächsten Schritt – ungeachtet ihrer religiösen Zugehörigkeit – als Muslime definiert und der Islam als Ursache für Homosexuellenfeindlichkeit erklärt (ebd.: 24). Eine theoretische Auseinandersetzung mit dem Islam findet nicht statt, andere Religionen werden nicht berücksichtigt. Mit der letzten Hypothese wird Homosexuellenfeindlichkeit dem Rassismus gegenübergestellt. Dabei werden den als russisch und türkisch konstruierten Jugendlichen Gefühle und Wahrnehmungen rassistischer Diskriminierung zugeschrieben, als wäre diese Art der Diskriminierung kein soziales Phänomen, sondern Resultat individueller Befindlichkeiten. So konstatiert Simon: Je mehr die Befragten sich wegen ihrer Herkunft diskriminiert fühlten, desto homosexuellenfeindlicher seien sie. Er behauptet, dass sich die türkischen und russischen Jugendlichen als Angehörige von Minderheiten in einer Konkurrenz mit homosexuellen Minderheiten sähen und deshalb Homosexuelle negativer bewerteten (vgl. ebd.: 7f.). Die Studie überprüft die Ausgangsthesen also nicht mit einem Pre-Test, wie dies den Anforderungen einer wissenschaftlichen Arbeit entspräche, sondern zielt darauf ab, das vom Autor vertretene rassistische Ressentiment zu bestätigen. Neben diesen kulturalistischen hypothetischen Forschungsergebnissen weist die Simon-Studie methodische und forschungsethische Probleme auf: Unabhängig ihrer Repräsentativität sind die Ergebnisse weder theoretisch noch empirisch begründbar. Das Forschungsteam geht davon aus, dass bestimmte Jugendliche einen Migrationshintergrund haben und kulturell oder religiös eine andere Zugehörigkeit (eine russische und eine muslimische) besitzen. Angesichts dieser Zuschreibungen bzw. Vorannahmen werden den Befragten Selbstbezeichnungen und -definitionen abgesprochen – z.B. sind 88 Prozent der Befragten mit türkischem Migrationshintergrund, die in dieser Studie als am homofeindlichsten klassifiziert werden, seit ihrer Geburt oder frühen Kindheit Teil einer Gesellschaft, die sich als liberal bezeichnet und von sich behauptet, patriarchale Strukturen abgebaut zu haben.

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Die LesMigraS-Studie »Gewalt- und (Mehrfach-)Diskriminierungserfahrungen von lesbischen, bisexuellen Frauen und Trans*« In diesem Abschnitt wollen wir anhand der qualitativen und quantitativen LesMigraS-Studie die methodischen und politischen Probleme der oben geschilderten Studien zugespitzt aufzeigen und uns gegen identitäre Queerpolitik in der BRD positionieren. Der Antidiskriminierungs- und Antigewaltbereich der Lesbenberatung Berlin LesMigraS kritisiert in seinen Veröffentlichungen wiederholt die Individualisierung und Kulturalisierung von Homophobie in schwulen und lesbischen Zusammenhängen, in der Öffentlichkeit und in der Politik. Zum Problembereich der Individualisierung beanstandet die Organisation, dass der Fokus der Auseinandersetzung von vielen NGOs sowie von Politik und Öffentlichkeit hauptsächlich auf zwischenmenschliche, körperliche Gewalt im öffentlichen Raum gelegt wird und Aspekte wie strukturelle und institutionelle Diskriminierungen und psychische Gewalt außer Acht gelassen werden. In Bezug auf Kulturalisierung kritisierte LesMigraS, dass in LSBTI*Zusammenhängen das Bild von »weißen, westlichen, emanzipierten LSBTI*« versus »homophoben Migrant_innen« permanent konstruiert und rekonstruiert wird und spricht die Arroganz und Ignoranz der lesbischen, schwulen und Trans*-Zusammenhänge an, mit der diese die Existenz und Präsenz von Schwarzen, von Migrant_innen und People of Color in queeren Kontexten systematisch unsichtbar machen (Saadat-Lendle 2009/2013 und LesMigras 2012a). In den letzten zehn Jahren hat LesMigraS zahlreiche Studien zu Gewalt und Diskriminierungserfahrungen von queeren Lebensweisen unter die Lupe genommen und aufgezeigt, wie Individualisierung und Kulturalisierung von Homophobie sowie die Ignoranz bezüglich Mehrfachdiskriminierungen in diesen Studien reproduziert werden. LesMigraS betont, dass gerade diese von staatlichen Einrichtungen und von lesbisch-schwulen Organisationen finanzierten Studien dazu benutzt werden, kulturalisierende und individualisierende Haltungen zu rechtfertigen und zu bestärken. Zwischen 2010 und 2012 realisierte LesMigraS selbst eine ›andere‹ Studie, die der Komplexität und Vielfältigkeit der Lebensweisen mit nicht normativen Genderidentitäten und sexuellen Orientierungen gerecht werden sollte. Ziel war es, eine Studie zu verfassen, die • nicht nur die Normalisierung von Gewaltpraxen gegenüber diesen Menschen verdeutlicht, sondern in der es auch darum ging, zu zeigen, wie unterschiedliche Diskriminierungsformen, z.B. Rassismus, Homophobie, Transphobie, Klassismen, Behinderungs- sowie Altersdiskriminierung zusammenspielen und miteinander verwoben sind;

Forschung und Soziale Arbeit zu Queer mit Rassismuser fahrungen

• den Interessen, Bedürfnissen und Problemen mehrfachzugehöriger Menschen gleichgeschlechtlicher und transgeschlechtlicher Lebensweise Aufmerksamkeit schenkt; • die Ressourcen, die Widerständigkeit und das Engagement von (mehrfachzugehörigen) lesbischen, bisexuellen und transgeschlechtlichen Menschen gegen Gewalt und Diskriminierung beachtet und wertschätzt; • die Thematisierung von Gewalt gegen und Diskriminierung von Trans*Menschen sowie die Entwicklung von Strategien zu deren Bekämpfung explizit erforscht; • nicht nur Gewalt- sondern auch Diskriminierungserfahrungen in den Vordergrund stellt und diese nicht hauptsächlich auf individualisierte körperliche Gewalt, die im öffentlichen Raum ausgeübt wird, reduziert, sondern psychische und verbale Gewalt ebenso wie Mobbing sowie staatliche Gewalt und Diskriminierung thematisiert; • sich nicht auf Einstellungsabfragen und auf die Bildung eines Profils über Täter_innengruppen konzentriert und die insbesondere die Konstruktion von polarisierenden und stereotypisierenden Bilder von aufgeklärten Deutschen vs. homophoben Migrant_innen vermeidet (vgl. LesMigraS 2012b). Um die Komplexität der Lebensrealitäten der geschlechtlichen und sexuellen Vielfalt von lesbischen, bisexuellen und transgeschlechtlichen Menschen zu erfassen, ermöglichte LesMigraS eine enge Zusammenarbeit zwischen Wissenschaftler_innen, Beratungsstellen und Aktivist_innen und konstruierte einen Fragebogen mit zahlreichen Optionen für Selbstdefinitionen. LesMigraS strebte damit an, dem klassischen Anliegen der engagierten sozialen Praxis gerecht zu werden, auch die »leisen Stimmen« innerhalb der untersuchten Gruppen zu erfassen. Die enge Zusammenarbeit zwischen Wissenschaftler_innen, Beratungsstellen und Aktivist_innen sollte allen Seiten ermöglichen, ihre spezifischen Kenntnisse, Erfahrungen, Perspektiven und Kompetenzen zusammenzubringen. Hierbei standen wenig schon in Deutschland bestehende Erfahrungen und Arbeitstraditionen zur Verfügung. Die Studien, die LesMigraS kannte, waren entweder durch NGO’s oder durch Wissenschaftler_innen durchgeführt worden, in denen häufig eine Seite die Möglichkeiten und Kompetenzen der anderen genutzt hatte, um ›eigene‹ Ziele zu erreichen. Gerade bei den Studien im Bereich marginalisierte Menschen ist es aber wichtig, eine enge Zusammenarbeit bei Zielformulierungen, Fragestellungen und Analysen der erworbenen Daten zu ermöglichen, um einer Stigmatisierung, Pauschalisierung und Problematisierung der beforschten Gruppen zu entgehen bzw. problematische sozialwissenschaftliche Forschungen zu sogenannten ›Minderheiten‹ zu verhindern.

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Diese Zusammenarbeit ist, auch wenn sie aus der Sicht von LesMigraS nicht vollständig zufriedenstellend und reibungslos verlief, die Stärke dieser Studie. LesMigraS führte die Forschung zu Gewalt und Mehrfachdiskriminierungserfahrungen von lesbischen, bisexuellen Frauen und Trans* gemeinsam mit Wissenschaftler_innen durch, alle Forscher_innen verfügten über jeweils unterschiedliche Verantwortungsbereiche, Zuständigkeiten und Perspektiven. Für die Konstruktion eines offeneren Fragebogens stellte LesMigraS zu Beginn der Studie fest, dass »die im akademischen Feld so differenziert und intensiv geführten Debatten zu ›Queer‹, ›Intersektionalität‹ oder auch zur ›Dekonstruktion von Identitäten‹ nur schwer mit einer quantitativen Erhebung vereinbar sind« (Castro Varela 2012: 10). LesMigraS war sich im Vorfeld bewusst, dass quantitative Erhebungen schließlich nur funktionieren, wenn »Kategorien festgelegt werden können und Erfahrungen berechenbar sind. Solche Kategorien benennt LesMigraS allerdings selbst als Grund und Effekt von Diskriminierungspraxen.« (Ebd.: 11) Eine Infragestellung der Kategorien schien, zumindest vor dem Hintergrund der LesMigraS damals verfügbaren Erfahrungen, mit quantitativen Erhebungen kaum möglich zu sein. Um diesem Problem zu entgehen, sollte die Studie den Teilnehmenden im Fragebogen viele Wahlmöglichkeiten geben, um sich selbst zu bestimmen. So wurde beim Auf bau der Studie darauf geachtet, dass die potenziellen Studienteilnehmer_innen möglichst wenig Vorannahmen, Zuschreibungen und Ausgrenzungen ausgesetzt waren. Maria do Mar Castro Varela, wissenschaftliche Leiterin der Studie, stellte diesbezüglich fest: »Das Dilemma, mit welchem ein Umgang gefunden werden musste, wäre zu umschreiben als ›Komplexität‹ versus ›Präzision‹. Genauer betrachtet zeigt sich letztendlich natürlich, dass die Unschärfe, mit der LesMigraS bei der Auswertung zu kämpfen hatte, ein kleiner Preis ist gegenüber der ständigen Wiederholung von Stereotypen, die aus den oft kruden Simplifizierungen anderer Erhebungen resultieren. […] In der Darstellung der Ergebnisse wurde deshalb Wert darauf gelegt, die Unschärfe und Widersprüche nicht zu glätten, sondern sie herauszuarbeiten, weil sie mehr über die Realität von Diskriminierung aussagen als die scheinbaren ›klaren‹ Ergebnisse, die immer wieder die Differenzen zwischen der ›Mehrheit‹ und den ›Anderen‹ festzurren.« (Ebd.: 12)

Die in diesem Sinne offen gehaltenen Fragen hatten ebenso den »sehr positiven Effekt, dass gezeigt werden konnte, dass starre Kategorisierungen von einer Vielzahl der Befragten abgelehnt werden. Ein Großteil der angebotenen Kategorien ist kritisch hinterfragt worden. Die Teilnehmenden nutzten so bei der Beschreibung ihrer ›Identität‹ sehr kreativ jede Frage, die die Möglichkeit zur Selbstbeschreibung bzw. Selbstdefinition bot, um Kategorien zu hinterfragen und zu irritieren.« (LesMigraS 2012b: 205)

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Im Gegensatz zu anderen Studien, die von einer klaren Selbstrepräsentation ausgehen, deutet so die LesMigraS-Studie auf die Brüchigkeit von Identitätskategorien hin und eröffnet zudem Räume, um diese sichtbar werden zu lassen. So wurden auf die Frage nach den Selbstbezeichnungen bezüglich ›nationaler/ethnischer/kultureller‹ Zugehörigkeit vielfältige und differenzierte Antworten gegeben, während etwa die Bezeichnung »Mensch mit Migrationshintergrund« Kritik erfuhr. In Bezug auf die Kategorie Migration gab eine Teilnehmende an: »Ich habe zwar einen Migrationshintergrund, aber es klingt wie ne Krankheit. Ich bin deutsch.« Eine andere beschrieb sich als »deutsch, migrantisiert«. In Bezug auf die Kategorien Gender, Geschlecht und sexuelle Lebensweise gaben die Befragten u.a. an: »Ich definiere mich je nachdem, welcher Sex-Gender-Anteil grad im Vordergrund ist«; »Ich entdecke mich gerne jeden Tag neu, definiere mich aber politisch als Frau«; »lesbisch + trans liebend«; »alles, aber nicht heterosexuell«; »meistens männlich; manchmal einfach planlos«; »multidimensional weiblich«, »lesbischlesbisch-poly-queer im Fluss«. Weit über ein Drittel (ca. 40%) der Teilnehmenden an der Studie von LesMigraS gab an, erlebt zu haben, dass z.B. im Bildungsbereich diskriminierende Sprüche gegenüber von Lesben, Bisexuellen und Trans* Schüler_innen vom Lehrpersonal ignoriert oder selbst geäußert wurden. Über zwei Drittel (ca. 73%) erlebten, dass ihre Leistungen im Bildungsbereich aufgrund ihrer nonkonformen sexuellen und geschlechtlichen Lebensweise vergleichsweise schlechter bewertet wurden. Auch im Bereich Arbeit erlebte mehr als ein Viertel der Teilnehmenden (27,9%) – bei Trans*Personen jeder zweite (50%) – »sehr oft« und »eher oft« Diskriminierungen, weit über ein Viertel (30,7%) machte Mobbingerfahrungen, mindestens ein Fünftel (20,6%) erlebte, dass sie ihre_n Partner_in besser nicht mit zu einer betrieblichen Veranstaltung mitbringen sollten. Im Bereich Polizei und Justiz meinte ebenso über ein Viertel der Teilnehmenden (26,8%), dass eine lesbische/bisexuelle Lebensweise negative Auswirkungen auf die Chancen hat, von der Polizei geschützt zu werden. Lesbische, bisexuelle Frauen und Trans* (LBT) mit Migrationsbiografie wurden am Arbeitsplatz mindestens 10 Prozent mehr diskriminiert (37,5%) als nicht mehrfachdiskriminierte weiße deutsche LBT. Sie gaben zu 10 Prozent häufiger an (30,4%), dass ihnen mindestens einmal nahegelegt wurde, ihre_n Partner_in nicht zu einer betrieblichen Veranstaltung mitzubringen. Im öffentlichen Raum erlebten sie 28 Prozent mehr Diskriminierungen und Gewalt, im Gesundheitsbereich, bei Ämtern und Behörden 22 Prozent häufiger Diskriminierung, und sie äußerten doppelt so oft wie nicht mehrfachdiskriminierte weiße deutsche LBT (7%) das Gefühl, dass ihre Mehrfachzugehörigkeit negative Auswirkungen auf die Chancen habe, von der Polizei geschützt zu werden.

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V ergleich der S tudien Es ist an die Zeit, dass Wissenschaftler_innen Methoden weiterentwickeln und anwenden, die die Untersuchung von Mehrfachdiskriminierungen und die Infragestellung von Kategorien ermöglichen. Nur so kann es gelingen, die Komplexität der Lebensrealitäten und der geschlechtlichen und sexuellen Vielfalt zu erfassen. Wie oben ausgeführt, werden die Gewalterfahrungen von lesbisch-schwulen Menschen in den meisten Studien individualisiert. Sie beziehen sich häufig auf individuelle Diskriminierungserfahrungen von weißen Schwulen, selten auch Lesben, durch eine andere Person, angeblich oft Migrant_innen. So wird ein Bild von einer aufgeklärten deutschen Gesellschaft konstruiert, die durch Migrant_innen bedroht wird. Formen struktureller Gewalt und Diskriminierung, damit meinen wir Diskriminierung und Gewalt durch Gesetze, Schule, Medizin, Justiz, Polizei, …, werden in den Studien (z.B. MANEO, 2009; Simon, 2006) nicht erwähnt. Ebenso wenig wird beachtet, inwiefern Menschen, die von Mehrfachdiskriminierungen betroffen sind, weit über diese Diskriminierungspotenziale hinaus Diskriminierung und Gewalt erleben. Würden diese strukturellen Formen berücksichtigt, dann ergebe sich durchaus ein anderes Bild von Deutschland, welches nicht zum polarisierenden Bild der fortschrittlichen Deutschen im Kontrast zu den rückschrittlichen Migrant_innen passt. Wenn Studien, wie die vom LSVD oder MANEO, Diskriminierungserfahrungen von Lesben und Schwulen mit einer Migrationsbiografie thematisieren, so stellen sie diese meist als Opfer patriarchaler familiärer, religiöser und/ oder kultureller Strukturen, nicht aber struktureller Diskriminierung dar. Die Studie von LesMigraS zeigt allerdings, dass Diskriminierungserfahrungen in der Familie von LBT mit Migrationsbiografien nur um 6 Prozent häufiger angegeben werden als von nicht mehrfachdiskriminierten weißen deutschen LBT (48% vs. 42%). Da die Thematisierung von Homophobie und Trans*Diskriminierung im Bereich Bildung, Arbeit, Behörden, Ämter, Dienstleistungen – d.h. der große Bereich struktureller und institutioneller Diskriminierung und Gewalt – nicht zu dem Bild einer grundsätzlich aufgeklärten deutschen Gesellschaft passt, das der LSVD, MANEO und andere ähnliche Studien vermitteln, werden solche Fragen weder gestellt noch beforscht. Dies scheint uns jedoch fatal, trägt doch eine solchermaßen strukturelle Gewalt mit dazu bei, dass individuelle Gewaltformen entstehen können, ausgeführt von Menschen mit oder ohne Migrationsbiografie, die in dieser Gesellschaft aufwachsen und von ihr geprägt werden.

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F a zit Anhand der ausgewählten Studien, die sich dem Thema Homophobie in der BRD widmen, zeigten wir, dass die medialen, wissenschaftlichen und politischen Diskussionen über Homophobie in den 2000er Jahren in einer Kooperation zwischen Staat, Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Medien kontinuierlich durchgeführt werden. Der Staat als Geldgeber, die Wissenschaft als Legitimationsinstrument, die Zivilgesellschaft als Auftraggeberin und die Medien wirken bei der Verbreitung und Verfestigung eines antimuslimischen Homophobiediskurses erfolgreich zusammen. Sowohl durch die Analyse der quantitativen Studien als auch mittels unserer eigenen wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit mehrdimensionalen Diskriminierungen stellen wir fest, dass in zivilgesellschaftlichem wie auch in wissenschaftlichem Kontext eine Bedeutungsverschiebung der Homophobie stattgefunden hat. Eine Mehrzahl der Studien fokussiert ausschließlich auf eine Homophobie, der schwule oder bisexuelle Männer ausgesetzt sind und die nicht von weiß deutscher Mehrheitsgesellschaft ausgeht. Die Diskriminierungserfahrungen von Lesben und bisexuellen Frauen werden in vielen Studien entweder nur am Rande behandelt oder gar nicht beachtet. Die Diskriminierungserfahrungen von allen potenziellen Betroffenen der Homophobie werden leider oft homogenisiert. Dabei werden klassen- und schichtspezifische Aspekte, gender- und geschlechterspezifische Besonderheiten und durch Rassismus bedingte Diskriminierungen, die sich (in-)direkt mit Homophobie überschneiden, häufig außer Acht gelassen. Die Studien präsentieren und (re-) produzieren stetig das Profil eines Opfer von Homophobie, das weiß, mittelschichtig und schwul ist, während diejenigen als homophob bzw. schwulenfeindlich dargestellt werden, die weder als schwul noch als weiß gelten und als Angehörige eines bildungsfernen Unterschichtmilieus klassifiziert werden. Sowohl die analysierten Studien als auch zahlreiche Anti-Homophobiekampagnen in der BRD konstruieren Homophobie als eine Eigenschaft von jungen, muslimischen und/oder russischen bildungsfernen Männern, denen gleichzeitig Merkmale wie Gewaltbereitschaft oder Kriminalität zugeschrieben werden. Homophobie wird in diesen pseudowissenschaftlichen und politischen Projekten rassifiziert, kulturalisiert und klassifiziert. Die bundesrepublikanische Gesellschaft wird in diesem Homophobiediskurs nicht nur als »homophobe Muslim_innen vs. homophile Deutsche« polarisiert, auch die in der BRD lebenden Muslim_innen werden gegeneinander gestellt. Queere Muslim_innen werden in diesen antihomophoben Projekten als Opfer des Islam bzw. der muslimischen Familien oder Gesellschaft repräsentiert. Auf dem ersten Wissenschaftskongress der BMH haben wir uns als Queer of Color positioniert und die Öffentlichkeit auf die ausgrenzenden Ungleich-

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heitsverhältnisse in der deutschen Queerpolitik und -studien aufmerksam gemacht. Am Beispiel des Kongresses haben wir auch angemerkt, dass die Auswahl der queeren Referent_innen nicht frei von diesen Ungleichheitsverhältnissen war. Die Mitarbeiter_innen von LesMigraS waren bspw. nicht nur NGO-Mitarbeiter_innen, sondern gleichzeitig wissenschaftliche Mitarbeiter_ innen ihrer eigenen Studie. Diese wertvolle Erfahrung wurde auf diesem Kongress nicht anerkannt, die Studie durfte nicht vorgestellt werden. Grund war, dass das Kongressvorbereitungsteam der BMH die Qualifikationen von Saideh Saadat-Lendle, Leiterin von LesMigraS und Begleiterin der LesMigraS-Studie »Gewalt und (Mehrfach-)Diskriminierungen von lesbischen, bisexuellen Frauen und Trans*«, als nicht wissenschaftlich eingestuft hat. Da sie nicht promoviert ist bzw. zurzeit keine wissenschaftliche Tätigkeit in einem Forschungsinstitut oder an einer Hochschule ausübt, sei sie zur Vorstellung der Studie nicht geeignet. So wurde eine wertvolle Erfahrung im Bereich partizipativer Forschung zu Lebensrealitäten marginalisierter Gruppen abgewertet, anstatt diese aufzugreifen, wertzuschätzen und zu vertiefen. Auch die anderen Referent_innen of Color, z.B. Maria Virginia Gonzalez Romero von Via Bayern e.V. Verband für interkulturelle Arbeit und Jacek Marjański von Rubicon Köln erhielten auf dem Kongress nicht ausreichend Zeit, ihre eigenen wissenschaftlichen und sozialarbeiterischen Erfahrungen bezüglich Mehrfachdiskriminierungen ihrer Klient_innen zu referieren. Ihre Qualifikationen wurden auf dem Kongress der BMH aus denselben Gründen wie bei Saideh Saadat-Lendle nicht anerkannt. Da sich ein ganzer Block dieses Kongresses mit der »Partizipativen Forschung« auseinandergesetzt hat, bleibt uns nichts anders übrig als zu hoffen, dass die Reflexion über unsere Kritik in Bezug auf Auswahl der Referent_innen des Kongresses die zukünftige Praxis der wissenschaftlichen Kongresse, darunter auch von der BMH, zugunsten eines partizipativen Ansatzes beeinflussen kann. In diesem Beitrag haben wir dargelegt, dass Queerstudies und eine adäquate Queerpolitik ohne eine Auseinandersetzung mit Rassismen und klassenspezifischen sozialen Diskriminierungen nicht möglich sind. Unsere bundesweiten und lokalen Studien und Projekte, welche die Lebensperspektiven von Queer of Color in Deutschland sichtbar machen und ein Zeichen gegen diskriminierende eurozentrische Dominanzverhältnisse setzen, haben wir als Alternative für die Wissensproduktion hervorgehoben. Die weißen queeren Wissenschaftler_innen und Aktivist_innen fordern wir auf, sich mit mehrdimensionalen Diskriminierungen auseinanderzusetzen, indem sie mit Queer of Color und nicht für oder über Queer of Color sprechen.

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Cruzando Fronteras — zur Heteronormativität von Grenz- und Migrationsregimen am Beispiel von Asyl- und aufenthaltrechtlichen Verfahren Elisabeth Tuider und Ilka Quirling1

1. P ostkolonialität & Q ueer In den deutschsprachigen postcolonial-studies wird u.a. auf die vielfältigen ›Praktiken‹ aufmerksam gemacht, in denen kulturelle Ordnungen und Bedeutungen hergestellt, repräsentiert und in machtvolle Beziehungen gesetzt werden (vgl. u.a. Castro Varela/Dhawan 2005a; Steyerl/Gutiérrez Rodríguez 2003; Mecheril/Teo 1994; Eggers et al. 2005; Kilomba 2003; Ha/Lauré al-Samarai/Mysorekar 2007). Gemäß des Anspruches »hinter die Normalität des So-Seienden zu schauen« (Reuter 2012: 309), werden »soziale Maßstäbe und Strukturen der als westlich definierten Gesellschaften als universelle Parameter für die Definition dessen, was eine moderne Gesellschaft ist« (Costa 2005: 225) kritisiert, offengelegt und kontextualisiert. Um auf die (neo-)koloniale 1 | »Niemand hat jemals eine Methode erfunden, um den Wissenschaftler [den/die Wissenschaftler_in] von seinen Lebensbedingungen zu trennen, von seiner (bewussten wie unbewussten) Zugehörigkeit zu einer Klasse, einer Glaubensrichtung, einer sozialen Position oder der reinen Tatsache, Mitglied einer Gesellschaft zu sein. Dies alles fährt fort auf ihn Einfluss zu nehmen, auf das, was er [sie, mensch] beruflich tut.« (Said 1978: 18) Ganz im Sinne des postkolonialen, aus Palästina stammenden und an der Columbia Universität in New York lehrenden Literaturwissenschaftlers Edward Said verstehen auch wir unser Arbeiten, Schreiben und Wissen-Schaffen als mit den erfahrenen Anrufungen und dem mehrfachen Ver- und Entortetwerden entlang von Geschlecht, Sexualität und Nationalität verwoben. So schreiben wir hier an dieser Stelle auch als Deutsche und als EU-Ausländerin, als langjährig empirisch in Lateinamerika unterwegsseiende Soziologin und als Rechtsanwältin von Menschen, die die deutschen Länder- und Heteronormativitätsgrenzen überschreitend für die rechtliche Anerkennung ihrer Identität kämpfen.

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Verfasstheit auch heutiger Weltverhältnisse aufmerksam zu machen und diese zu kritisieren, geht es in theoretischer und politischer Absicht darum, Europa zu provinzialisieren (vgl. Chakrabarty 2000) und (Gegen-)Geschichten von »other modernities« (Randeria 1999) zu schreiben. Gerade wenn Erkenntnisse oder Wissen über die vermeintlich ›anderen Kulturen‹ produziert werden, werden Grenzen zwischen dem Westen und dem Rest, dem Zentrum und der Peripherie, dem Orient und dem Okzident, der Tradition und der Moderne gezogen. Doch Grenzen, so haben Autor_innen wie Shalini Randeria, Encarnación Gutiérrez Rodriguez oder Stuart Hall gezeigt, sind nicht so sehr ›tatsächlich‹ zivilisatorisch oder territorial gegeben, vielmehr werden sie ›diskursiv‹ als solche erst hergestellt, also gemacht. Diese diskursiven Mechanismen und Regularien halten ein (post-)koloniales Grenzregime aufrecht und blenden dabei Mehrfachzugehörigkeiten, Hybriditäts- und Verflechtungszusammenhänge zwischen Nationen, Gruppen oder Gesellschaften aus.2 Wie mittels scheinbar ›authentischer‹ Reise- und Landschaftsbeschreibungen, Erzählungen, Bilder und einem spezifischen Vokabular von sogenannten ›Orientexperten‹ der Orient erst hervorgebracht wurde, zeigt initiierend für die postkolonialen Debatten die Analyse Edward Saids (1978). Mit Rüstzeug aus der foucaultschen Diskursanalyse verwies Said darauf, wie durch die Imaginationen und Projektionen eines ›völlig Anderen‹ Europa erst geschaffen wurde. Denn – so eine zentrale Denkfigur der postcolonial-studies – das hergestellte ›fremde Andere‹ dient dazu, das ›Wir‹ zu definieren. Somit ist der/ die/das Fremde nicht einfach gegeben, sondern es wird ›gemacht‹, wobei die Praktiken der ›VerAnderung‹ (›Othering‹) die Voraussetzung sind, um von ›dem Fremden‹ bzw. ›dem Anderen‹ zu sprechen. Zugleich verorten sie das ›Fremde‹ im ›Woanders‹. Die Kolonien wurden dabei zu jenen Orten stilisiert, die Ann McClintock als »porno-tropics for the european imagination« (1995: 22) beschreibt, auf die Europa seine verbotenen sexuellen Wünsche projizierte und mehr noch als dies dieselben als »Brutstätten sexueller Devianz bestimmte« (Castro Varela/Dhawan 2005b: 48). Dass jegliche Form der Repräsentation das ›Andere‹ hervorbringe, haben auch die Kritiken der (aus Indien stammenden) Literaturwissenschaftlerin Gayatri Ch. Spivak verdeutlicht. Speziell geht es Spivak um die durch Rassen-, Klassen- und Geschlechterverhältnis konstituierte Subalterne, diese ist in mehrfacher Weise das verstummte Andere, sowohl der (indischen) Nation als auch der ›westlichen‹ Wissensproduktion (vgl. Spivak 2003).

2  |  Postkolonialität im Sinne Halls verweist auf Macht-Wissens-Komplexe, die nicht in »Kolonisierung als einem Herrschafts-, Macht- und Ausbeutungssystem und Kolonisierung als einem Erkenntnis- und Repräsentationssystem« unterschieden werden können. Ganz im Gegenteil sei so eine Unterscheidung hinderlich (Hall 2002: 237).

Cruzando Fronteras – zur Heteronormativität von Grenz- und Migrationsregimen

Geschlecht, ›race‹, Nationalität, Ethnizität, Klasse/Schicht, Sexualität, Alter und Religion konstituieren als Dimensionen der Differenz Migrations- und Grenzregime. Mit dem Begriff der Migrations- und Grenzregime werden aktuell in der Migrationsforschung die politischen, staatlichen und ökonomischen Praxen, Prozeduren und Technologien sowie ein Ensemble von Macht-WissenKomplexen zur Reglementierung von Mobilitäten erfasst (vgl. Transit Migration 2007). Wie in Grenz- und Migrationsregime eingelagerte Differenzen Zugehörigkeitsordnungen3 strukturieren, und welche Ethnisierungs- und Kulturalisierungsprozesse dabei von statten gehen, wurde vonseiten der kritischen Migrationsforschung seit den endenden 1990er Jahren fokussiert.4 Doch, so wollen wir mit Maria do Mar Castro Varela und Nikita Dhawan (2009: 103) – nicht nur an der Mainstreammigrationsforschung – kritisieren, »bleibt auffallend, dass diese Studien der Kategorie Sexualität keine Beachtung schenken, womit sie unweigerlich heteronormative Grammatiken stabilisieren und gender auf ein Zweigeschlechtermodell verkürzen« (Herv. i.O.). Migrationen, Migrationsgründe und Migrationserfahrungen werden zwar in Forschung und Theorie nicht mehr nur als männliche (re-)präsentiert, dennoch bleiben in der Migrationsforschung, auch in der kritischen, mehrfache Marginalisierungen aufgrund von Geschlecht und Sexualität weitgehend unbeachtet und eine heteronormative Rahmung bleibt zumeist ihr Bezugspunkt (Ausnahmen hiervon sind neben den genannten auch: FeMigra 1994; El-Tayeb 2003; Luibhéid/ Cantú 2005; de Silva/Quirling 2005; Manalansan 2006; Naples/Vidal Ortiz/ Cantú 2009; Kosnick 2010). Einer gouvernementalitätstheoretischen Perspektive5 (vgl. Foucault 2004, 2005) auf die Konstituierung von Grenzen, Migrationsregimen und Subjekti3 | Beim Zugehörigkeitsbegriff wird gefragt, »unter welchen sozialen, politischen und gesellschaftlichen und von diesen vermittelten individuellen Bedingungen Individuen sich selbst als einem Kontext zugehörig verstehen, erkennen und achten können« (Mecheril/Hoffarth 2006: 229). Natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeitsordnungen operieren mit Vorstellungen und Regeln, die Mitgliedschaft und Verbundenheit betreffen und regulieren. Zugehörigkeitsordnungen, so Mecheril und Hoffarth, sind machtvoll, weil sie Mittel der Disziplinierung, der Habitualisierung und der Bindung zur Wirkung bringen, Dominanzzusammenhänge darstellen, in denen bestimmte natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeiten gegenüber anderen privilegiert werden und weil sie mit einer exklusiven Logik operieren. 4  |  KritNet (Netzwerk Kritische Migrations- und Grenzregimeforschung) ist eine Vernetzung kritischer Migrations- und Grenzregimeforscher_innen und politischer Aktivist_innen, NGO-Vertretungen und Künstler_innen, vgl. dazu http://kritnet.org/. 5 | Unter dem Terminus ›Gouvernementalität‹ wird »regieren« (gouverner) und »Denkweise« (mentalité) semantisch miteinander verbunden (vgl. Foucault 2005). Regieren ist eine Form der Machtausübung, die dort wirksam wird, wo ein Möglichkeitsfeld verschie-

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vierungsweisen folgend, werden wir in unserem Beitrag den stereotypisierenden und kulturalisierenden Bildern des Anderen – im Sinne Stuart Halls wäre hier vom »Spektakel des Anderen« zu sprechen – in Asyl- und aufenthaltsrechtlichen Verfahren nachgehen. Die Methode der Diskursanalyse zum Einsatz bringend geht es uns darum, herauszuarbeiten, wie hartnäckig sich Stereotype und Zuschreibungen entlang von Heteronormativität, Zweigeschlechtlichkeit und Familie in diesen Verfahren nicht nur repräsentieren, sondern heteronormative Muster über deren Verhandlung in Asyl- und aufenthaltsrechtlichen Verfahren gestärkt und weiterhin verfestigt werden – obwohl es vonseiten der Gesetzgebung mehr Handlungsspielräume gäbe. Ziel unseres Beitrages ist es also, empirisch auszuloten, wie Heteronormativität Bestandteil des europäischen Migrationsregimes ist. Dazu widmet sich der Beitrag folgenden Fragen: Welche vergeschlechtlichten, heteronormativen Normierungen kommen zum Zuge, sobald Migrant_innen und Zuwandernde Recht beanspruchen? Wie werden die Intersektionen von Geschlecht, Sexualität und ›race‹ in Asylverfahren und aufenthaltsrechtlichen Verfahren repräsentiert und verhandelt? Wir wollen damit nicht nur zeigen, dass Migrations- und Grenzregime Heteronormativität und eine Zweigeschlechterordnung stabilisieren, sondern auch, wie sie dies über die Auslegung von Recht und die Anwendung von Rechtsprechungen tun.

2. »E in S pek takel des A nderen « — G eschlecht und S e xualität im europäischen M igr ationsregime Ein Migrationsregime erfasst alle Steuerungen, Infrastrukturen und politische Programme, Wirtschaftsabkommen und Einrichtungen zur Kontrolle der globalen bzw. internationalen Mobilität von Gütern, Waren und Menschen. Dabei werden In- und Exklusionen vollzogen, Zugehörigkeiten ausgesprochen und verteilt sowie legitime und illegitime Wege, Motive und Zusammenhänge von Grenzüberschreitungen produziert. Zu den Akteuren6 eines Migrationsregimes gehören so unterschiedliche Institutionen und Einrichtungen wie UNHCR (United Nations High Commissioner for Refugees), FRONTEX oder IOM (International Organisation of Migration), aber auch die nationale dener Handlungsalternativen strukturiert wird. Diskurse, so Foucault, sind wirklichkeitserzeugende Modi, d.h. machtvolle, soziale Raster des Verstehens, Ordnens und Hierarchisierens. Diskurse generieren Möglichkeiten von Wahrnehmungs- und Denkweisen und kreieren Wissensgegenstände. 6 | Wir verwenden hier und im Folgenden wie in der soziologischen Forschung gängig einen sächlichen Akteursbegriff, der Systeme, Organisationen, Institutionen und Personengruppen erfasst.

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Grenzpolizei und Militärpatrouillen, Schlepper, Auffang- und Abschiebeknäste, Zäune und Mauern, NGOs, politische Programme, Wirtschaftsabkommen sowie Aufenthaltsgesetze und Informationssysteme. Unter der Analyseperspektive auf Migrationsregime werden die Akteure der Grenzkontrolle, die nationalen und gouvernementalen Diskursivierungen und Regulierungen von Wanderungen mit den Interpretationen und Handlungen der Migrant_innen zusammengedacht (vgl. Karakayali/Tsianos 2007: 14). Der Fokus der Regimeanalyse liegt dabei auf den neuen Ebenen der Aushandlung, die mit der Installierung eines Regimes einhergehen. Der Blick auf Zugehörigkeitsordnungen (vgl. Mecheril/Hoffarth 2006) wiederum erfasst den erfahrenen Statusverlust (im Migrationsprozess), die sozio-gesellschaftliche Marginalisierung (z.B. als Frau und Migrantin) und die soziale Platzierung (z.B. als Muslima), wie sie für gegenwärtige Grenzregime konstitutiv sind. Zu den Mechanismen des europäischen Grenzregimes zählen u.a. das Schengener Abkommen (1985), das die Aufhebung der Grenzkontrollen bei Personen ›innerhalb‹ Europas und gleichzeitige Abschirmung der europäischen Außengrenzen vorsieht7, insbesondere aber die Dublin II-Verordnung, die 2003 in Kraft trat und die »Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedsstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatenangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist«, festlegt8. In Deutschland ist bereits mit dem sogenannten Asylkompromiss 1993 die Drittstaatenregelung eingeführt worden, nach welcher die Anerkennung von politischem Asyl ausgeschlossen war, wenn die Einreise über einen sogenannten ›sicheren‹ Drittstaat erfolgte. Nach 1989 kam es zur EU-weiten Angleichung der Migrations- und Integrationspolitiken, aber unter der Perspektive von Kontrolle und gesteigerter Selektivität. Am 01.01.2005 trat in Deutschland das Zuwanderungsgesetz in Kraft, dessen Untertitel eine Fortsetzung der bisherigen Zuwanderungspolitik Deutschlands verdeutlicht, er lautet: »Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthaltes und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern«. Damit einhergeht eine Differenzierung zwischen EU-Ausländer_innen und Ausländer_innen sowie eine Differenzierung zwischen potenziell als leistungsfähig geltenden Migrierenden, für deren Zuwanderung sich Deutschland öffnet, und Zuwanderung aus humanitären Gründen, die kontrolliert und reguliert werden soll. Mit den staatlich verordneten Integrationskursen institutionalisierte sich ein – so Kien Nghi Ha – »Integrationszwang als nationalpädagogisches Machtinstrument für die kul7  |  1999 wird das Schengener Abkommen Bestandteil des EU Rechts. 8 | Mittlerweile ist diese ersetzt durch die Dublin III-Verordnung (EG Nr. 604/2013) vom Juni 2013. Wir haben zum besseren Verständnis die Bezeichnung der Verordnung gewählt, unter welcher sie ihren Bekanntheitsgrad erreicht hat.

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turelle (Re-)Sozialisierung und politische Umerziehung migrantischer Subjekte mit außereuropäischen Herkünften« (2009: 139). Denn mit dem neuen Zuwanderungsgesetz setzte sich eine Integrationsdebatte fort, die auf die »Grundwerte der deutschen Gesellschaft« fokussierte, die sich damit selbst als tolerant und liberal generierte und nicht zuletzt Sexismus, Antisemitismus und Rassismus ›den Anderen‹ zuschrieb.9 Die hegemonialen Diskurse und die Wissensproduktion zu Migration, Ethnizität, Religion und Sexualität in Deutschland operieren dabei mit der Figur des »aufgeklärten Individualismus« (Kosnick 2010: 147), der mit der westlichen Moderne gleichgesetzt wird – und in dem Homosexualität toleriert, ggf. sogar akzeptiert, aber auf jeden Fall zum Gradmesser der Modernität und Integration herangezogen wird. An den Diskussionen des Integrationsplans und vor allem des Einbürgerungstests ist abzulesen, wie dabei die ethnisch-minorisierte Position als nicht deutsch und vormodern, implizit immer heterosexuell und explizit als homophob kodiert wird. Denn neben Fragen zur Gleichstellung (u.a.: Was darf nicht der Grund für die Entlassung einer Frau in Deutschland sein?) und zur christlichen Religion (Wie heißen die letzten vier Wochen vor Weihnachten?) findet sich darin auch die Frage: »Stellen Sie sich vor, Ihr volljähriger Sohn kommt zu Ihnen und erklärt, er sei homosexuell und möchte gerne mit einem anderen Mann zusammen leben. Wie reagieren Sie?«. Kira Kosnick hat das »heteronormative Othering« (2010) der Migrationsund Integrationsdebatten in Deutschland und die darin eingelassene Erzählung einer durch die Migration nach Deutschland »befreiten schwulen Subjektivität« (ebd.: 149) rekonstruiert: »Tradition – als homophob codiert – wird […] mit einem Land und einer Ethnizität nicht-westlichen Ursprungs assoziiert, während die neue ›Heimat‹ es scheinbar oxymoronischen Subjekten ermöglicht, sichtbar zu werden.« (Ebd.: 148) Das Konstrukt ›muslimische Homophobie‹ stellt sich dabei als im Zentrum der europäischen und deutschen ›Sicherheits- und Werte-Debatte‹ liegend dar, da sich Europa darüber als emanzipiert und damit höherwertig generiert, um so wiederum die ›Befreiung‹ muslimischer Lesben und Schwuler aus ihren vermeintlich barbarischen und rückschrittlichen Gesellschaften zu legitimieren. Darüber hinaus legitimiert dieses Konstrukt »repressive Anti-Terrorismus-Maßnahmen, Attacken auf Staatsbürgerschafts-, Einwanderungs- und Aufenthaltsrechte und den erschreckenden derzeitigen Niederriss sozialer Rechte und ziviler Freiheiten« (Haritaworn/Tauquir/Erdem 2007: 192).10 9  |  Indem sich auch die Migrationsforschung auf die ›Probleme der Integration‹ konzentrierte, gerieten Themen wie Post-/Kolonialität und eine ethnisierte globale Weltordnung aus dem Blick der wissenschaftlichen Analysen. 10 | Von der Konstruktion muslimischer Homophobie profitieren Weiße Heterosexuelle und Weiße Schwule gerade, indem sie muslimische Schwule und Lesben repräsen-

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Die Konstruktion der »Festung Europa« ist heute mit der Herstellung einer europäischen Identität verwoben, die sich neben ›Demokratie‹ auch ›Geschlechtergleichheit‹, ›Emanzipation‹ und ›Toleranz‹ als Zeichen ihrer Modernität und Zivilisation auf die Fahnen geschriebenen hat. Am Beispiel der Integrationsdebatten lässt sich rekonstruieren, wie schwullesbisch mit ›Weiß‹ und ethnisierte People of Color mit Heterosexualität und Homophobie diskursiv gleichgesetzt wurden (vgl. dazu Castro Varela/Dhawan 2009: 107; Haritaworn/Tauquir/Erdem 2007: 188). Auch die Diskussionen der als Simon-Studie (2006) bekannt gewordenen Untersuchung zur »Einstellungen von Homosexualität« unter Jugendlichen sowie bereits die Formulierung des Forschungsziels und der Forschungsfrage, die explizit »Zusammenhänge zwischen Rollenbildern, religiösen Überzeugungen und den Einstellungen gegenüber Homosexuellen« nachgehen wollte, zeigen die Repräsentationen des Anderen im »Integrationsimperativ« (Karakayali/Tsianos 2007: 8), in dem Homophobie dem Anderen zugeschrieben wird, deutlich auf. So fast Renate H. Rampf, Pressesprecherin des Lesben- und Schwulenverbands in Deutschland (LSVD) die Ergebnisse der Studie zusammen: »Es gibt eine Korrelation zwischen Herkunft und Toleranz gegenüber Lesben und Schwulen, einen signifikanten Zusammenhang zwischen der Akzeptanz traditioneller Männlichkeitsnormen und Homophobie und nicht zuletzt verweisen die Daten auf einen negativen Einfluss der islamischen Religion.« (Rampf 2008) Die Bilder von Migration wurden so nicht nur mit Tradition verwoben – vielmehr wurde eine gesamte damit erst produzierte ›muslimische Kultur‹ als sexistisch, homophob und antisemitisch skizziert. Erst Ende der 1990er Jahre wurde der Mythos, Deutschland sei vor allem ein Auswanderungs- und kein Einwanderungsland, seitens der Unabhängigen Kommission für Zuwanderung infrage gestellt und damit die Formel vom Nicht-Einwanderungsland Deutschland ersetzt durch die Anerkennung von Migration und Integration, die in Deutschland immer als Assimilation interpretiert wird. »Die MigrantIn« ist als Identität in den 1990er Jahre entstanden (FeMigra 1994), um die Definitionsmacht der Dominanzgesellschaft zu durchkreuzen und darin selbst hör- und sichtbar zu werden. Doch bleiben die deutschen Integrationsdebatten in einem heteronormativen Bild auf Migrierende verhaftet.

tieren – was Jin Haritaworn, Tamsila Tauquir und Esra Erdem als »Queer-Imperialismus« (2007) interpretiert haben: »Die Erfindung des Islam als neuem Feind und die historische Zentralität von geschlechtlichen und sexuellen Diskursen in ethnisierenden Ideologien fallen mit dem unhinterfragten Weißsein der schwullesbischen Bewegung zusammen. Die Bedingungen für die Assimilierung Weißer Schwuler und Lesben sind somit zutiefst rassistisch.« (Ebd.: 201)

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Im Sprechen über die ›Feminisierung der Migration‹ oder die ›Familienzusammenführungen‹ werden Migrierende nicht nur als (Ehe-)Männer und (Ehe-)Frauen wahrgenommen, sondern auch als ›heterosexuelle‹ Frauen und Männer imaginiert. Selbst die Addition der eingetragenen Lebenspartnerschaft (2001) zur Institution der Ehe hat auf der einen Seite lesbischen und schwulen ›Paaren‹ die Einreise, einen unbefristeten Aufenthaltstitel sowie eine Arbeitserlaubnis und seit 2007 Zugang zu Integrationskursen ermöglicht.11 Doch auf der anderen Seite wurden damit Lebens-, Familien- und Begehrensformen jenseits der Paarlogik oder der geschlechtlichen Eindeutigkeit erneut – auch aufenthaltsrechtlich – an den Rand gedrängt und marginalisiert. In zweierlei Weise konnte sich Deutschland dabei als tolerant generieren: zum einen, indem es die eingetragene Lebenspartnerschaft als solche anerkennt, wenn auch nicht mit der Ehe gleichstellt, und damit schwulen und lesbischen Paaren mehr Rechte zugesteht; zum anderen, indem es Homophobie in die Tradition des Wo-Anders verlagert und sich damit selbst als aufgeklärt und emanzipiert thematisiert. Heteronormativität innerhalb der deutschen Gesellschaft wurde damit erfolgreich ausgeblendet. Die Regulierung von Sexualität, die normative Ordnung von Grenzen bestimmt auch den Verlauf von Asyl- und aufenthaltsrechtlichen Verfahren, wie wir im Folgenden zeigen werden.

3. H e teronormativität im R echt — oder auch nicht … Aufenthalts- und Asylrecht regeln, welcher Mensch als Migrant_in nach Deutschland einreisen darf, mit welchen Aufenthalts- und Arbeitsrechten sie_r ausgestattet ist bzw. welcher Mensch aufgrund von Verfolgung als Flüchtling anerkannt wird. Das Asylverfahren birgt dabei zwei Grundprobleme, die sich verschärfen, wenn Menschen, welche die Grenzen der Heteronormativität überschreiten, auf Anerkennung ihrer Fluchtgründe bestehen: Zum einen müssen die Fluchtgründe glaubhaft gemacht werden, zum anderen findet die Anerkennung immer im Kontext einer Gruppenzugehörigkeit statt. Dies begünstigt gerade im Kontext von Asyl und Aufenthalt Praktiken, die die vorherrschenden Geschlechternormen verschleiern, und die binäre, naturalisierte Zweigeschlechtlichkeit re-normieren und damit Menschen und Personen que(e)r 11  |  »Die Kampagne für die eingetragene Lebenspartnerschaft war auf Normalisierung orientiert und entsexualisierte Homosexualität durch die Betonung ›traditioneller Familienwerte‹ wie Verantwortung, Monogamie, Häuslichkeit etc. Der Versuch, sich so vom Stigma des sexuellen Außenseitertums zu befreien, bedeutete gleichzeitig die Absage an einen grundsätzlichen Angriff auf den Prozess der Stigmatisierung.« (El-Tayeb 2004: 22)

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zur Norm als das Andere homogenisieren oder in die Unsichtbarkeit drängen. Denn innerhalb der Verfahrensabläufe unterliegen die Erzählungen der Antragstellenden den heteronormativen Intelligibilitätskriterien12, und individuelles Erleben kann nicht berichtet werden, um nicht völlig unverständlich und sodann unglaubhaft zu werden, womit das beanspruchte Recht aufs Spiel gesetzt würde. Bereits mit der Genfer Flüchtlingskonvention von 1952 konnte die Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer Gruppe aufgrund von Geschlecht oder Sexualität geltend gemacht werden: »Der Ausdruck Flüchtling findet auf jede Person Anwendung, die […] aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will.« (Abkommen zur Rechtstellung der Flüchtlinge vom 28.07.1951)

Die spezifisch deutsche Beschränkung des Begriffs Verfolgung als staatliche Verfolgung hat eine Anerkennung des Schutzbedarfs wegen Verfolgung aufgrund von Geschlecht und Sexualität fast unmöglich gemacht. Der Nachweis ›staatlicher Verfolgung‹ war bis zur Umsetzung der sogenannten Qualifikationsrichtlinie als europarechtliche Richtlinie im deutschen Recht zum 01.01.2005 elementar, um die Anerkennung im Asylverfahren zu erlangen. Mit der Umsetzung der EU-Qualifikationsrichtlinie von 2005 wurden sodann auch Verfolgungsmaßnahmen nicht staatlicher Akteure als Fluchtgründe anerkannt, wenn sie eine bestimmte Qualität und Häufung aufweisen. Die Richtlinie erfuhr am 13.12.2011 eine Reform, sodass nun explizit die sexuelle Orientierung oder die geschlechtliche Identität als Merkmal einer ›Gruppe‹ anerkannt wird: »Je nach den Gegebenheiten kann als eine bestimmte soziale Gruppe auch eine Gruppe gelten, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Orientierung gründet. […] Geschlechtsbezogene Aspekte einschließlich der geschlechtlichen Identität werden zum Zweck der Bestimmung der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der Ermittlung eines Merkmals einer solchen Gruppe angemessen berücksichtigt.« (RiLi2011/95/EU)

12  |  »Die Norm regiert die Intelligibilität [=Wahrnehmbarkeit], sie ermöglicht, dass bestimmte Praktiken und Handlungen als solche anerkannt werden können. Sie erlegt dem Sozialen ein Gitter der Lesbarkeit auf und definiert die Parameter dessen, was innerhalb des Bereichs des Sozialen erscheinen wird und was nicht.« (Butler 2004: 46)

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Dementsprechend besteht in Deutschland grundsätzlich die Möglichkeit für Lesben und Schwule sowie für Trans*- und Inter-Personen, bei Verfolgung aufgrund von Sexualität und Geschlecht Asyl zu erhalten und somit den oben skizzierten toleranten Staat um »wohlwollende Inkorporierung« (Kosnick 2010: 152) zu bitten. Mit Bezug auf das EuGH-Urteil zur Religionsfreiheit vom September 2012, welches den Schutz der Religionsfreiheit auch auf die Privatsphäre bezog und eine Verletzung derselben in der Asylrechtssprechung anerkannte, wurde eine soziale Gruppe auch bezogen »auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Ausrichtung« definiert und in der Dienstanweisung für die Sachbearbeitenden des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge im Februar 2013 festgehalten: Zum maßgeblichen Faktor der Bestimmung von Verfolgung wird die »sexuelle Ausrichtung, wenn sie im Herkunftsland von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig ausgegrenzt« wird. Dabei wird in der Dienstanweisung die Differenz zwischen heterosexuell/anders nicht nur zementiert, sondern ›das Andere‹ als ›sexuell‹ Anderes definiert und – die theoretischen Debatten sowie die Forderungen aus Selbstorganisationen ignorierend – Homo- und Bisexualität mit Inter- und Transgeschlechtlichkeit in einen Topf geworfen und damit Geschlecht und Sexualität gleichgesetzt: »Menschen mit einer besonderen sexuellen Ausrichtung sind in Abgrenzung zu Heterosexuellen insbesondere: Homosexuelle (Schwule und Lesben), Bisexuelle, Transsexuelle, Intersexuelle« (DA-Asyl Homosexualität 2013). Die Differenzen zwischen L-G-B und T*-I, die unterschiedlichen Lebensweisen werden damit ignoriert und stattdessen – unter dem Verdikt der Fluchtanerkennung – eine Homogenitität kreiert. An der Argumentationsfigur, auf welche die Dienstanweisung rekurriert, ist auch zu kritisieren, dass die Zugehörigkeit zu einer Gruppe (z.B. ›der‹ Lesben oder ›der‹ Schwulen), die diese Eigenschaften ›übereinstimmend‹ innehaben, behauptet werden muss und damit Mehrfachmarginalisierungen, bspw. aufgrund von Sexualität und Ethnizität oder von Sexualität und Religion, in die Unsichtbarkeit gedrängt werden. Es wird eine existenzielle unentrinnbare Veranlagung erwartet, fluide Zugehörigkeiten des Sowohl-als-auch werden verunmöglicht. War also die Begründungsstruktur bis zum Jahr 2013 »was nicht verborgen werden konnte«, so ist es heute »was nicht verändert werden kann«. Die irreversible Schicksals- oder Naturhaftigkeit von Homosexualität wird – entgegen ihrer früheren Pathologisierung und Psychologisierung – als Argumentation der Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit in eine sexuelle Gruppe eingebracht und stellt damit unweigerlich auch eine einheitliche Identität ›der Schwulen‹ oder ›der Lesben‹ her.13 Nicht zuletzt, so kritisieren Markard und Adamietz (2013: 175), reduzieren 13 | Markard/Adamietz (2013: 179) verweisen darauf, dass es hilfreich sei, ein »lineares Narrativ der sexuellen Selbsterkenntnis« zu reproduzieren, in der heterosexuelle

Cruzando Fronteras – zur Heteronormativität von Grenz- und Migrationsregimen »[d]iese Rechtsprechungslinien – flüchtlingsrechtlich, menschenrechtlich – […] tendenziell die (normabweichende) sexuelle Orientierung auf den Sex, der auf den privaten Raum beschränkt werden kann. Vor allem männliche Homosexuelle erscheinen als triebhafte Wesen, die ihrer Homosexualität und dem Drang zu ihrer sexuellen Realisierung entweder ausgeliefert sind oder lernen müssen, sich zu bändigen.«

In derselben Dienstanweisung wurde in Referenz auf das EuGH-Urteil von 2012 zur Religionsfreiheit erklärt, dass es für die genannte Gruppe nicht zumutbar sei, im ›closet‹ zu leben, um einer Verfolgung zu entgehen, denn »eine Verfolgungshandlung kann sich auch aus dem Eingriff in die öffentliche Ausübung der Freiheit ergeben«. Ebenso argumentierte nun im November 2013 der EuGH in einer maßgebenden Entscheidung zu Homosexualität14, dass somit nicht zwischen einer unterdrückten oder nur diskret in der Privatsphäre gelebten Sexualität und dem Leben in der Öffentlichkeit zu unterscheiden sei. Maßgebend in dieser Entscheidung ist, dass die Anforderungen an die Behörden verschärft wurden, im Anerkennungsverfahren Verfolgungsmechanismen in der Herkunftsregion aufzuklären. Mitarbeitende des Bundesamtes sind nunmehr in der Pflicht, auch nicht geschriebene tatsächliche Verfolgungsmaßnahmen zu ermitteln. Dadurch kann zukünftig eine Entlastung der Antragstellenden entstehen, nämlich hier nicht mehr die Dokumentationen von Verfolgung beibringen zu müssen. Allgemeine Länderberichte von großen NGOs oder Gutachtenden, die Auskunft geben über die Situation eines Landes hinsichtlich seiner politischen Verfasstheit, sind nämlich ebenso auf diesem Auge blind. Gleichwohl kann davon ausgegangen werden, dass sich nun die Maßstäbe erhöhen, an denen die Antragstellenden sich in ihrer Glaubwürdigkeit bzw. ihre Erzählungen in ihrer Glaubhaftigkeit messen lassen müssen. Erfahrungen zwar in einer (Jugend-)Phase anfänglicher Verwirrung eine Rolle spielen könnten, sich dann aber zugunsten einer ›eigentlichen‹, ›natürlichen‹ Homosexualität stabilisierten. 14  |  Das EuGH-Urteil vom 07.11.2013 zu Homosexualität als Verfolgungsgrund besagt, dass 1. nicht erwartet werden kann, dass eine Person ihre Homosexualität geheim hält, um einer Verfolgung zu entgehen; 2. nicht jede Verletzung von Grundrechten ist eine Verfolgung im Sinne der GFK. Das bloße Bestehen von Rechtsvorschriften, nach denen homosexuelle Handlungen unter Strafe gestellt sind, reicht nicht als so schwerwiegende Beeinträchtigung aus. 3. Eine Freiheitsstrafe für homosexuelle Handlungen kann eine Verfolgungshandlung darstellen, sofern sie tatsächlich verhängt wird. 4. Daher müssen die nationalen Behörden eine Prüfung aller mit dem Herkunftsland verbundenen relevanten Tatsachen einschließlich der Rechts- und Verwaltungsvorschriften des Herkunftslandes und der Weise, in der sie angewandt werden, vornehmen. 5. Es obliegt diesen Behörden insbesondere zu ermitteln, ob im Herkunftsland der Antragstellenden die in solchen Rechtsvorschriften vorgesehene Freiheitsstrafe in der Praxis verhängt wird.

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4. H e teronormative R echtsauslegung Das Asylrecht ist gekennzeichnet von Plausibilitätseinschätzungen, denn in einem mehrstufigen Prozess15 müssen Menschen, die eine Verfolgung aufgrund von Geschlecht oder Sexualität geltend machen, die Glaubhaftigkeit und Plausibilität ihrer erlebten Verfolgung darstellen. Stereotype Bilder von Homosexualität und ›anderen‹ Geschlechtern durchziehen Behörden, Gerichte und Asyl- wie aufenthaltsrechtliche Verfahren: Männliche Homosexuelle müssten demnach tuntig, weibliche Homosexuelle unattraktiv und unweiblich sein (vgl. Millbank 2009; Rehaag 2008) – sind sie dies nicht, so wird an ihrer Homosexualität gezweifelt. Auch in der Bearbeitung des Asylantrages der Transfrau Tris kommen verschiedene Bilder des Sachbearbeiters hinsichtlich Geschlecht, Sexualität und Kultur zum Tragen. Auf die Erzählung Tris16, die in Ecuador von vier Polizisten vergewaltigt worden war, nachdem sie diese angezeigt hatte, weil die Polizisten sie unter dem Vorwand eines Diebstahlverdachts für fünf Wochen in Gewahrsam genommen hatten, reagiert der zuständige Sachbearbeiter wie folgt: »Insbesondere kann dem Antragsteller nicht geglaubt werden, dass er von vier Polizisten vergewaltigt worden sein soll. So ist es absolut unvorstellbar, dass ausgerechnet die vier Polizisten, die er angezeigt hat, homosexuell veranlagt sein könnten. Dies ist in Südamerika geradezu unmöglich. Dort wird der Männlichkeit eine besondere bzw. sogar überhöhte Bedeutung zugemessen, Homosexuelle werden verachtet. Dies gilt für die männliche Bevölkerung allgemein, ganz besonders jedoch für Polizisten.« (AZ. 5026098-336, 10.07.2004)

Deutlich wird hier die biologistische Vorstellung von Homosexualität, aber auch die scheinbar universell gültige Interpretation von Homosexualität, die der Sachbearbeiter ›kennt‹ und wiedergibt. Dabei werden die Erkenntnisse queerer Sozialforschung zur Kontextualisierung und Verortung von Sexualitätskonzepten ignoriert (vgl. Tietz 2008; Balzer 2007; Tuider 2007). Vielmehr wird Homosexualität als eine Veranlagung gesehen, die mit dem Beruf des Polizisten in einer als machistisch imaginierten Gesellschaft in »Südamerika« nicht kompatibel sei. Polizisten als Männer aber auch als Staatsbedienstete erscheinen dabei doppelt der heteronormativen Norm verpflichtet zu sein.

15 | 1. Phase: Asylantrag stellen; 2. Phase: Entscheidung eines Sachbearbeitenden über die Anerkennung; 3. Phase: gerichtliche Überprüfung der Entscheidung. 16 | Dieses Fallbeispiel und auch das folgende Zitat aus dem Asylverfahren von Tris wurden von Adrian de Silva und Ilka Quirling (2005) aus staatskritischer Perspektive bereits ausführlich interpretiert.

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Zudem wird die Vergewaltigung als homosexuelle Sexualpraktik interpretiert. Genauso wie sexuelle Identität und Praxis des Sexuellen miteinander vermischt werden, wird die Differenz zwischen Sexualität und sexualisierter Gewalt ignoriert. Ebenso zeigt sich in der Begründung des Sachbearbeiters die Definition von Männlichkeit, die in seiner Logik Sexualität mit anderen Männern ausschließt. Homosexualität kann nur als sexuelle Identität, nicht jedoch als variable sexuelle Praxis gedacht werden. Vielmehr erscheinen Homophobie und Gewalt im Wo-Anders Ecuadors als Bestandteil hegemonialer Männlichkeit sowie als Bestandteil der ›Tradition‹, wobei die Kolonialgeschichte und der Prozess der sexuellen Kolonialisierung vergessen werden. Daraus resultiert aber keine Anerkennung von (Asyl-)Rechten in Deutschland. Tris Asylverfahren wird vor dem Bundesamt17 negativ beschieden, weil der Sachbearbeiter keine Anhaltspunkte für eine Verfolgung im Herkunftsland Ecuador in ihrer Erzählung gegeben sah. Dass er Tris Trans*-Identität oder -Verortetheit dabei konsequent ignorierte, indem er sie mit »er« ansprach und den gewalttätigen sexuellen Übergriff als homosexuellen Akt ansah, kann als Bestandteil des hegemonialen Otherings interpretiert werden. Der Sachbearbeiter setzt sich selbst damit in die Position, nicht nur über den rechtlichen Status, sondern auch über die sexuelle und geschlechtliche Identität eines Menschen zu befinden. Der heteronormative Blick auf das Andere verunmöglicht es ihm, die Verfolgung einer Trans*-Person anzuerkennen. Wie Geschlechter-, Sexualitäten- und Familiennormen in aufenthaltsrechtlichen Verfahren zusammenwirken, wird im Folgenden kurz dargestellt, denn auch diese sind gekennzeichnet von Ermessensregelungen, in denen heteronormative Bilder des Anderen präsent sind. Die Fallbeispiele: Drei Frauen kolumbianischer Herkunft reisen nach Deutschland mit einem Touristinnenvisum ein. Während des erlaubten Aufenthalts von drei Monaten beantragen alle drei die Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigung wegen geplantem Daueraufenthalt mit ihren deutschen Partner_innen. Zwei wollen heiraten, eine will die Lebenspartnerschaft eingehen mit ihrer Partnerin. Eine will in Rostock leben, die anderen zwei in Hamburg. Mit der Beantragung eines neuen Aufenthaltstitels gilt der Aufenthalt bis zur Entscheidung über den neuen Aufenthaltstitel automatisch als ›fortbestehend‹, d.h. der erlaubte Aufenthalt verlängert sich, bis über den neuen Antrag entschieden worden ist. Im Falle des aufenthaltsrechlichten Verfahrens in Ros17 | Das Verwaltungsgericht hat den Asylanspruch vollumfassend anerkannt, jedoch dem neokolonialen Argumentationsmuster folgend, dass in einem Land, in dem die Zweigeschlechtlichkeit eine Säule staatlicher Politik darstellt, ein Verstoß gegen diese ungeschriebene Regel der Heteronormativität einen Angriff auf das politische System darstellt.

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tock wird nach erfolgter Eheschließung nach Ablauf des Visums eine Aufenthaltserlaubnis gem. Paragraf 25 Absatz 4 AufenthG erteilt.18 Diese Erlaubnis wird erteilt, wenn dringende persönliche Gründe die vorübergehende Anwesenheit im Bundesgebiet erfordern. Im konkreten Fall wurde gleichzeitig in Aussicht gestellt, dass mit dem Bestehen der erforderlichen Deutschprüfung (die als Bedingung dem Erwerb des Aufenthaltstitels zum Familiennachzug vorgeschaltet ist) die beantragte Aufenthaltserlaubnis erteilt wird. In den Hamburger Fällen wird zunächst die Aufenthaltserlaubnis mangels geschlossener Ehe abgelehnt. In beiden Konstellationen kommt hinzu, dass die Frauen während des visumsbefreiten Aufenthalts feststellen, dass sie schwanger sind. In dem Fall der geplanten Eheschließung wird umgehend in Hinblick auf die Schwangerschaft die aufschiebende Wirkung des gegen die Ablehnung eingelegten Widerspruchs angeordnet, d.h. dass in Aussicht gestellt wird, im Fall der heterosexuellen Beziehung eine Aufenthaltsgenehmigung zum Familiennachzug zu erteilen, ohne zuvor auf der Ausreise zu bestehen. Im aufenthaltsrechtlichen Verfahren der verpartnerten Frauen, im Rahmen dessen ausdrücklich darauf hingewiesen worden ist, dass die Adoption des Kindes durch die deutsche Partnerin angestrebt wird, wird die beantragte Anordnung der aufschiebenden Wirkung abgelehnt und trotz unmittelbar bevorstehender Verpartnerung auch der Widerspruch negativ beschieden. Die Ausreisefrist wird jedoch bis nach der Geburt verlängert. Deutlich wird an diesen komparativen Beispielen, dass die rechtliche Ungleichbehandlung von Ehen und Lebenspartnerschaften durch die zuwanderungsbegrenzende Praxis im Aufenthaltsrecht noch verstärkt wird. Gilt der Ehemann selbst bei Eheschließung einen Tag vor der Geburt als Vater des Kindes und vermittelt diesem Staatsangehörigkeit oder Aufenthalt, von welchem die Mutter ebenso einen sicheren Aufenthalt ableiten kann, so ist hingegen die Lebenspartnerin auf die Stiefkind-Adoption des Kindes angewiesen. Der automatische Staatsangehörigkeits- oder Aufenthaltsrechtserwerb findet ebenso wenig statt. Ob der Entscheider nun rein reflexhaft restriktiv gehandelt hat oder ob er seiner Entscheidung die fehlende Glaubhaftigkeit der Erzählung der beiden

18 |  »Einem nicht vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländer kann für einen vorübergehenden Aufenthalt eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, solange dringende humanitäre oder persönliche Gründe oder erhebliche öffentliche Interessen seine vorübergehende weitere Anwesenheit im Bundesgebiet erfordern. Eine Aufenthaltserlaubnis kann abweichend von § 8 Abs. 1 und 2 verlängert werden, wenn auf Grund besonderer Umstände des Einzelfalls das Verlassen des Bundesgebiets für den Ausländer eine außergewöhnliche Härte bedeuten würde.« (§ 25 Absatz 4 AufenthG).

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Frauen zugrunde gelegt hat, wie er es an anderer Stelle getan hat19, ist nicht dokumentierbar. Doch zeigt das Verfahren in Rostock, dass auch in Hamburg die Erlaubnis für die schwangere Lebenspartnerin für den vorübergehenden Aufenthalt hätte erteilt werden können. Darüber hinaus stellt es immer eine Ermessensentscheidung dar, darauf zu bestehen, dass das Visumsverfahren über die deutsche Botschaft selbst nach geschlossener Verpartnerung oder Ehe überhaupt noch durchgeführt wird. Hier hätte in Hinblick auf ein erwartetes Kind in jedem Fall die aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs angeordnet werden müssen (auf gerichtlichen Rechtsschutz ist dies nun auch geschehen). Doch die Lebenspartnerinnen mit werdendem Kind müssen die Ernsthaftigkeit ihrer Beziehung noch durch die Adoption unter Beweis stellen, obwohl bereits unter gängigen Kriterien eine Ausreise nicht erforderlich hätte werden müssen. Einem Neugeborenen die Ausreise zuzumuten, damit die verpartnerte Mutter (die nach dem »Rostocker Modell« sogar noch schwanger eine Aufenthaltsgenehmigung bekommen hätte können) die Visaregularien einhält, stellt eine Diskriminierung wegen der sexuellen Orientierung dar – versteckt hinter dem vermeintlichen Interesse, die Zuwanderung kontrollieren zu wollen. Dieser Grenzziehung zwischen heterosexuellen Ehepaaren und verpartnerten Paaren liegen (hetero-)normative Vorstellungen zugrunde u.a., dass es sich bei eingetragenen Partner_innenschaften nicht um Familien oder Verwandtschaft handelt. »Als natürlich wird die heterosexuelle Reproduktion betrachtet.« (Nay 2013: 375) So rechtfertigt auch das Bundesverfassungsgericht die Ungleichbehandlung von Ehe und Lebenspartnerschaft im Hinblick auf die gesetzlich vermutete (automatische) Elternschaft der Partnerin bei der Geburt eines Kindes im Rahmen einer bestehenden Lebenspartnerschaft (vgl. 1BvR 666/10, vom 02.07.2010).

5. F a zit : Q ueer ohne G renzen /Q ueer cruz ando fronter as Die Überwachung und Regulierung der nationalstaatlichen und europäischen Grenzen und ihre Überschreitungen sind an die Regulierungen von Sexualität und Geschlecht gebunden. Die Regulierung von Migration findet im Rahmen heteronormativer Ordnungen statt, die etabliert und ideologisch als auch institutionell normalisiert sind. Heterosexualität und Zweigeschlechtlichkeit als gesellschaftliche Normen brauchen ihr Anderes, um sich als Norm zu etablieren. Gerade in Asyl- und aufenthaltsrechtlichen Verfahren werden postko19  |  Im Rahmen des sozialrechtlichen Streits hat derselbe Beamte des Rechtsamts Sozialhilfe abgelehnt – mit dem Argument, die Erzählung der zwei Frauen sei nicht glaubhaft.

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loniale Bilder von dem Anderen mehrfach entworfen und im Bezugskontext einer heteronormativen Ordnung verhandelt: Diese Bilder machen deutlich wie ›race‹, Ethnizität, Geschlecht und Sexualität – einem Spektakel des Anderen gleich – das postkoloniale Andere und das moderne, aufgeklärte Eigene (re-)produzieren. Sachbearbeiter_innen, Gerichte und aufenthaltsrechtliche Verfahren sowie Asylverfahren entwerfen normative Vorstellungen von ›normaler‹ Sexualität, Familie, Geschlecht und Einwanderung. Und an diesen normativen Bildern messen sie die Antragstellenden. In der Verhandlung von Fluchtgründen und Aufenthaltserteilungen werden auch die Herkunftsländer homogenisiert und kulturalisiert, nicht selten als »traditionell« und damit explizit heterosexuell skizziert. Postkoloniale Kritiker_innen haben darauf hingewiesen, inwiefern sexuelle Reglementierungen und heteronormative Ordnungen Dimensionen der neokolonialen (Welt-)Ordnung darstellen (vgl. Gutierrez Rodriguez 2003). Die Kontrolle und Regulierung von Einwanderung – insbes. im Kontext von Asyl und Aufenthalt – steht somit in engem Zusammenhang mit den staatlichen Projekten der Reglementierung ›normaler‹, d.h. normativer Sexualität und des Reproduktionsverhaltens der so konstruierten Bürger_innen. Ihre Kehrseite stellt das ethnisierte und ethnisierende Othering dar (vgl. Manalansan 2006). Geschlecht, Sexualität sind neben Religion zu den zentralen diskursiven Schauplätzen der Integrations- und Einwanderungsdebatten in Deutschland avanciert. Die Geschichte und Aktualität von Sexismus, Rassismus und Homophobie wird damit auf das konstitutive Außen der westlichen Moderne ge- und verdrängt. Migrations- und Grenzregime, so wollten wir mit diesem Beitrag zeigen, schaffen ihr Anders, um zu funktionieren. In der Bearbeitung der in Grenz- und Migrationsregimen eingelassenen Bilder von Geschlecht und Sexualität hat sich gezeigt, dass gerade in juristischen Regularien und Entscheidungen Geschlechter und Sexualitäten fest(er) gelegt werden als sie dies müssten. Zugleich beinhalten diese gegebenen Regularien Raum für diverse Geschlechter und Sexualitäten. In den Präsentationen in Asyl- und aufenthaltsrechtlichen Verfahren sowie den gelebten Geschlechter- und Sexualitätenpositionierungen wird der zur Verfügung gestellte Raum nicht nur in Anspruch genommen und gestaltet, sondern auch überschritten und damit erweitert. Nicht nur als politisches Projekt verstanden, bedeutet queer cruzando fronteras, also queer über Grenzen bzw. über alle Grenzen queer, dass gerade im Ringen um Intelligibilität nationale Grenzen und Geschlechtergrenzen in der gelebten (Alltags-)Praxis stets überschritten werden. Freiheit, so wollen wir mit Sabine Harks Überlegungen zu »deviante Subjekte« (1999: 82) schließen, ist demnach weniger die Freiheit von etwas als die Freiheit zu etwas, nämlich die Freiheit, sich zu den Weisen der Unterwer-

Cruzando Fronteras – zur Heteronormativität von Grenz- und Migrationsregimen

fung verhalten zu können und die Kunst, »nicht dermaßen regiert zu werden« (Foucault 1992: 12).

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»Heterosexuelle sind die neuen Schwulen« — Tendenzen des Normativen im aktuellen queeren Film und Fernsehen Ralph J. Poole

»Frau: Ich hör Dir zu. Mann: Es ist vorbei. […] Hast du wirklich gedacht, dass ich Dir einen Antrag mache? […] Wach auf, wir leben im 21. Jahrhundert. Heutzutage heiraten doch nur noch Schwule!« »Detective Kevin Ryan: So, what’s with the husband? Detective Kate Beckett: He was cheating. Slept with our victim. Ryan: I’m telling you. True commitment is a thing of the past. I mean, name one happily married couple. Richard Castle: DeGeneres and de Rossi.«

Das erste Zitat stammt aus dem Trailer der deutsch-österreichischen Filmkomödie Im weissen Rössl – Wehe Du singst!, die im November 2013 in den Kinos angelaufen ist. Das zweite Zitat ist aus Castle, einer US-amerikanischen Krimiserie, die seit 2009 auf ABC läuft. Der Kommentar der Figur Castle spielt auf die Trauung von Ellen DeGeneres und Portia de Rossi an, die sich 2008 in Kalifornien in einer – wie Der Spiegel (cpa/jol/dpa 2008) kommentierte – »Lesbische[n] Traumhochzeit« das Ja-Wort gaben. DeGeneres hatte eines der spektakulärsten Selbst-Outings der Mediengeschichte inszeniert, als sie sich 1997 in ihrer eigenen TV-Serie, der Sitcom Ellen (ABC), als Lesbe zu erkennen gab. Der beiläufige Kommentar in Castle aus dem Jahr 2009 zu DeGeneres’ lesbischer Ehe lässt darauf schließen, dass zumindest das amerikanische Publikum nicht näher aufgeklärt werden muss, um wen es sich bei der Anspielung handelt. Mir geht es im Folgenden aber nicht um DeGeneres oder um diese konkrete Hochzeit, sondern um die Platzierung solcher Kommentare in einem ansonsten queer-freien Raum. Die Behauptung der besseren schwulen und lesbischen Beziehungsqualitäten in einem Hetero-Kontext mögen erheitern – oder

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zumindest so gemeint sein –, sie zeugen aber von einem doppelten Paradigmenwechsel: In dem Maße, wie es in einem medialen Hetero-Kontext selbstverständlich geworden zu sein scheint, Lesben und Schwule als Messlatte ›guter‹ Beziehungen anzuführen, wird diese scheinbare Beziehungs-Normalität jedoch im LSBTI*-Kontext normativ gesetzt. Diese neue ›Homonormativität‹ wiederum produziert einen backlash in vielen Mainstream-TV- und Film-Produktionen. Zentral ist hierbei die Darstellung von LSBTI*-Beziehungs- und Familienmodellen, die in den letzten Jahren einen spektakulären Wechsel von Unsichtbarkeit hin zu einer fast ubiquitären Sichtbarkeit besonders in Fernsehprogrammen vollzogen hat. Es gibt kaum eine Serie, in der nicht ein Schwuler oder eine Lesbe zumindest in einer Nebenrolle zu sehen ist, die Homo-Ehe wird in Liveshows diskutiert, die nicht selten von lesbisch-schwulen Moderator_innen geleitet werden, und selbst im hochbehüteten Sektor des Profisports mehren sich die Momente medialer queerer Sichtbarkeit.1 Damit hat sich auch die stereotypisierte Rollenzuweisung zum Teil aufgelöst. Für das Fernsehen der 1970er und 1980er galt noch, dass »lesbians and gay roles fell into two main categories: violent sociopaths and saintly victims of prejudice. The ›bad gays‹ were easy to spot: they were the ones with a sex drive. ›Good gays‹ were almost asexual […]« (Capsuto 2000: 7). Diese polarisierte Repräsentation gilt sicherlich nicht mehr, queere Charaktere sind auf Leinwand und Bildschirm zu sehen und sie dürfen dort zuweilen auch ungestraft Sex haben. Die Frage, die wir uns aber stellen sollten, ist die nach den Kosten der Anpassung, die das Einfügen in den heteronormativen Medien-Mainstream mit sich brachte. Larry Gross hat für den nordamerikanischen Kontext – und ähnliches gilt sicherlich auch für Europa – schon vor ein paar Jahren auf die sozialen Gefahren der Regeln im »Spiel der Anpassung« hingewiesen: »Gay people did not, however, ascend from the pariah status of criminal, sinner, and pervert to the respectable categories of voting bloc and market niche without playing the familiar American game of assimilation. The rules of this game require the muting of a group’s distinctive coloring in order that they might blend into the fabric of the mainstream.« (Gross 2005: 520) 1 | In Deutschland erregte 2014 das öffentliche Coming-out des ehemaligen Fußballspielers Thomas Hitzlsperger Aufsehen; zuvor war es Marcus Urban, dessen 2008 erschienene Biografie »Versteckspieler« erstmals die Zwänge dokumentierte, die ein schwuler Profifußballer zu erleiden hat. In den USA outete sich u.a. 2005 die Basketballspielerin Sheryl Swoopes, 2013 der Basketballspieler Jason Collins und die Basketballspielerin Brittney Griner sowie der Fußballspieler Robbie Rogers; 2014 wandte sich der Footballspieler Michael Sam in der populären Sportsendung O utside the L ines an die Öffentlichkeit und sprach über die anhaltenden Schwierigkeiten, als öffentlich bekennender Homosexueller im Profisport zu reüssieren.

Tendenzen des Normativen im aktuellen queeren Film und Fernsehen

Im Süddeutsche Zeitung Magazin vom 14. Juni 2013 spricht der offen schwule britische Schauspieler Rupert Everett, der sich dort selbst als »gehässige Tunte« bezeichnet, über die Veränderungen der Schwulenkultur: »Heterosexuelle sind die neuen Schwulen. Sie suchen ständig Sex und sind dabei ziemlich wahllos. Die Schwulen dagegen heiraten, adoptieren Kinder und leben monogam. […] Aus der Gay Community ist ein Klassensystem geworden. Es gibt eine große Mittelschicht, die Babys adoptiert oder für 75 000 Dollar eine Gebärmutter mietet. Und dann gibt es die Clubgänger und Partysüchtigen, denen ihr Hedonismus wichtiger ist als Söhne oder Tochter [sic!] zu haben. Das Langweilige ist, dass sich die beiden Milieus nicht mehr mischen – außer in Berlin. Im ›KitCatClub‹ oder im ›Berghain‹ stehen Grafen mit Einstecktuch neben Fahrradkurieren mit nacktem Oberkörper.« (Everett 2013: 39)

Abgesehen von den Lokalreferenzen, die einen Insider vermuten lassen, macht Everett hier ein paar, wenngleich überspitzte Beobachtungen zu einem Phänomen, das als »neue Homonormativität« bezeichnet wird und bei der sich eine queere Identität als »normal und selbstverständlich« präsentiert. So schreibt Didi Herman in einem Aufsatz über die britische TV-Serie Bad Girls, eine homonormative Konstruktion »represents gay and lesbian identity as normal, natural, good, and unremarkable in and of itself« (Hermann 2003: 144).2 Lisa Duggan hat bereits vor über zehn Jahren kritisch auf die neoliberale Komponente hingewiesen, die einer solchen Sexualpolitik inhärent ist, denn »it is a politics that does not contest dominant heteronormative assumptions and institutions but upholds and sustains them while promising the possibility of a demobilized gay constituency and a privatized, depoliticized gay culture anchored in domesticity and consumption« (Duggan 2002: 179). Die Diskussion um solcherart de-politisierte Repräsentationen in den visuellen Medien entzündete sich erneut in einer jüngst proklamierten neuen Welle des Queer Cinema. Im Herbst 2012 konstatierte Ben Walters im The Guardian einen neuen Trend, den er New Wave Queer Cinema nennt und als eine begrüßenswerte Wende hin zum Realen bezeichnet. Es ist erstaunlich, welch großes Aufsehen dieser kleine Artikel erregte und es stellt sich unweigerlich die Frage, woran das liegt. Walters nennt nicht wirklich viele Merkmale, die diese sogenannte 2 | Bad G irls, eine Serie über ein Frauengefängnis, lief in 8 Staffeln auf ITV und soll von Alan Ball, dem Autor und Produzenten von S ix F eet U nder für das amerikanische Fernsehen (HBO) adaptiert werden; siehe zum Thema Frauengefängnis auch schon die deutsche Serie H inter G it tern – D er F rauenknast (1997-2007). Derweil läuft seit 2013 im US-TV die Serie O range I s the N ew B lack (Netflix), ebenfalls eine Serie über ein Frauengefängnis, in der die Protagonistin bisexuell und eine Nebenfigur transsexuell ist (und auch von einer Transsexuellen gespielt wird).

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neue Welle auszeichnen, letztlich sind es drei: das Reale, das Universale, der Sex: »It’s a peculiarly powerful mode that represents a welcome shift in queer cinema – an embrace of the real. […] These film-makers seek to describe the experience of being queer today through stories that resonate beyond that context. […] These films share a frank approach to sex. […] There is nothing new under the sun. But in uncertain times for both cinema as an art form and queerness in mainstream culture, it is heartening to see talented ambitious film-makers embracing the real – mess and all.« (Walters 2012)

Funktioniert diese Wende zum Realen als Kennzeichen von Allgemeingültigkeit? Man kann unterschiedlicher Meinung sein. In der Tat sind diese Beziehungsfilme sehr explizit, was den Sex betrifft, besonders Travis Mathews Filme sind sogar als neues Genre »Indie-Porno« bezeichnet worden.3 Mathews zeigt Sex auf der Leinwand (»plentiful, explicit and unsimulated«, wie Walters meint), wobei er selbst die Beziehungsebene und das narrative Element hierbei repräsentiert sehen möchte: »There’s so much communication, so much information exchanged between two people when they’re having or attempting to have sex« (ebd.). Es mag sein, dass hier ein Universalismus zelebriert wird, der Schwule genauso »fucked up« präsentiert wie den Rest der Welt, wie Andrew Haigh, ein weiterer Vertreter dieser Welle, behauptet: »We’re not afraid now to tell stories about flawed gay individuals who are fully rounded characters and just as fucked up about life as everyone else« (ebd.). Was ich persönlich interessant finde, ist die Handlungsarmut dieser Filme. Der Rekurs auf das Detail, das Fehlen des Spannungsbogens zugunsten der Betonung von Situation, Gespräch und Sex, sprich der Einsatz eines solchen Neorealismus oder »real-time realism« (Bradshaw 2014) macht es schwer, zu abstrahieren. Was wird hier gezeigt? – Männer, die versuchen eine Beziehung zu finden oder zu führen, 3  |  So wirbt das Cover von Mathews Dokumentation I n Their Room: S an F rancisco – B erlin, einer Serie von Vignetten produziert für Butt Magazine, mit diesem Aufhänger und auch das Interview von Zack Rosen mit Mathews bezeichnet I Want Your L ove als »Indie Porn Sensation«, wobei er sich auf den Kurzfilm (2010) gleichen Titels von Mathews bezieht, den Mathews selbst als Werbedemo bezeichnet: »The primary purpose for the demo is to generate interest from prospective funders and from people who might want to be in the movie or be part of the crew« (zit. in Rosen 2010). Der Kurzfilm ist zu sehen auf www.iwantyourlovethemovie.com/. Während der spätere Film den letzten Tag des Protagonisten in San Francisco verfolgt, bevor er in seine Heimat in den Mittleren Westen zurückkehrt, handelt der Kurzfilm ausschließlich von der Wiederbegegnung mit einem Jugendfreund, nachdem der Protagonist zurückgekehrt ist. Das Thema des Abschieds von Freunden im Film hat dementsprechend einen stärker episodenhaften Charakter, während im Kurzfilm ausschließlich die intime Begegnung im Vordergrund steht.

Tendenzen des Normativen im aktuellen queeren Film und Fernsehen

um festzustellen, dass es nicht so leicht funktioniert, auch wenn der Sex überwiegend befriedigend zu sein scheint: »There is nothing new under the sun«, meint zwar auch Ben Walters. Dies impliziert jedoch keine Kritik. Obwohl das Label New Wave Queer Cinema ständig auftaucht und auch als Aufhänger für Vermarktung nutzbar gemacht wird, gibt es bisher wenig kritische Auseinandersetzung mit diesem neuen »inoffiziellen Kanon schwuler Filme« (Moll 2013: 21). Bezug genommen wird vor allem auf ein Trio von Filmen: Ira Sachs’ Keep the Lights On, Andrew Haighs Weekend und Travis Mathews’ I Want Your Love. Eine solche Diskussion muss aber stattfinden, meint Carsten Moll, der dieser Welle kritisch gegenüber steht. Er fordert, über diesen Kinotrend nachzudenken, der »sich zu oft in einem Rezeptionskonsens und autobiografischer Nabelschau erschöpft und das Queere immer wieder auf ein Schwulsein herunterbricht« (ebd.). Sollte es noch nicht deutlich geworden sein, diese kleine Gruppe von New Queer Wavern, die Walters ›kanonisiert‹, ist gay-only, und es sind weiße Schwule der Mittelschicht obendrein.4 Man könnte behaupten, dass speziell mit Blick auf den nordamerikanischen Kontext hier eine »queer culture of Whiteness« (Yep/Elia 2012: 894) zelebriert wird, die in krassem Gegensatz zu sozialen Realitäten steht. Allgemeiner behauptet Moll zugespitzt, die Filme zeigen eine Form der Homonormativität, die ganz seltsam in ihrem »postemanzipatorischen Gestus« eine »vage Allgemeingültigkeit« ausstellt (ebd.), und die durchaus auch in Verbindung zu jenem schon von Duggan prognostizierten konservativen Neoliberalismus gebracht werden kann. Pointiert formuliert: Die Filme und ihre Charaktere wie auch ihre Regisseure und Autoren bewegen sich in ihrem eigenen individualistischen Kosmos, jeder ist primär für sich selbst verantwortlich und wenn das nicht klappt, ist man selbst schuld. Die Filme bieten somit kein queeres utopisches Potenzial im Sinne einer politischen Radikalität, sondern gründen ganz auf einem »gesellschaftlichen Konsens über die Verwirklichung aller Emanzipationsutopien im Hier und Jetzt« (ebd.) – eine problematische Strategie, wie José Esteban Muñoz gezeigt hat. Er argumentiert gegen die vielerorts proklamierte pragmatische gay agenda eines Hier und Jetzt, nennt dies ein »prison house« (Muñoz 2009: 1). Muñoz propagiert stattdessen eine »then and there of queer futurity«, so der Titel seines zunehmend beachteten Werkes. Sein Buch ist eine Polemik gegen die stärker sichtbaren Diskurse, die in einer Politik des Präsenz situiert sind und sich einer pragmatischen schwulen Identität der Gegenwart verschreiben, sich der Lust am Moment hingeben, als ob es nur diesen gebe

4  |  Für eine Diskussion über die Inklusion lesbischer Filme in diesem neuen Kanon siehe Elahe Haschemi Yekanis Beitrag zu den Filmen The OWL s und The K ids A re A ll R ight (abrufbar auf der Homepage zum 1. LSBTI*-Wissenschaftskongress unter http://hirschfeldkongress.de/start.html).

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und nichts weiter zu erwarten sei.5 Für ihn kommt dies einem politischen Pessimismus gleich, der auf einem anti-utopischen Kulturverständnis gründet. Muñoz’ Aussage hierzu kann als Kommentar zu meinen bisherigen Beispielen dienen: »Being ordinary and being married are both antiutopian wishes, desires that automatically rein themselves in, never daring to see or imagine the not-yet-conscious« (ebd.: 21). Er setzt dem ein Verständnis von Zukunft und Hoffnung gegenüber, das im Zurückblicken durchaus Momente zukünftiger Visionen produziert. Hier wird ein Verständnis von Kritik der Gegenwart angesetzt, ausgehend vor allem in der Betrachtung künstlerischer Werke, das mit Bezug auf Ernst Bloch als »anticipatory illumination« verstanden wird: »Our criticism should […] be infused with a utopian function that is attuned to the ›anticipatory illumination‹ of art and culture. Such illumination cuts through fragmenting darkness and allow us to see the politically enabling whole. Such illumination will provide us with access to a world that should be, that could be, and that will be.« (Ebd.: 64)

Muñoz möchte, so lässt sich in seinem Manifest immer wieder lesen, dass wir über unser Leben und unsere Zeit anders denken. Die Provokation besteht gerade in der kritischen Sicht auf eine allzu behaglich empfundene Gegenwart, der ein wunschvoller Blick in eine unsichere Zukunft entgegengesetzt wird: »Some will say that all we have are the pleasures of this moment, but we must never settle for that minimal transport; we must dream and enact new and better pleasures, other ways of being in the world, and ultimately new worlds. Queerness is a longing that propels us onward, beyond romances of the negative and toiling in the present. Queerness is that thing that lets us feel that this world is not enough, that indeed something is missing.« (Ebd.: 1)

Mit Blick auf das New Wave Queer Cinema und die dort proklamierte Wirkkraft des Hier und Jetzt sprechen Muñoz’ Worte eine andere Sprache der Queerness. So fragt auch die Internet-Plattform Global Queer Cinema – »a collaborative research project engaged in investigating queer film cultures from a global perspective«, wie auf der Homepage zu lesen ist, – kritisch: »Are these films queer beyond depicting the lives of gay/bisexual men?« (Global Queer Cinema 2012). Gleichwohl gibt es auch andere Stimmen, die im New Wave Queer Cinema eben jenes utopische Potenzial verwirklicht sehen. In einer euphorischen Kritik zu Mathews’ I Want Your Love sieht Enrico Ippolito die politische Utopie realisiert: im Desinteresse des Regisseurs an Fragen der Herkunft, des 5  |  Muñoz’ Kritik entzündet sich vor allem an Thesen, wie sie Lee Edelman in »No Future: Queer Theory and the Death Drive« (2004) entwickelt.

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Körperschemas oder der sexuellen Identität. Im Gegenteil offenbart sich laut Ippolito hier ein Interesse und Gespür an Vielfältigkeit und Widersprüchen jenseits von Klischees und Moral: »Schwul, lesbisch, bisexuell, dick, dünn, schwarz, weiß – das alles spielt keine Rolle, sondern es geht um etwas Universelleres: um Liebe, um Zuneigung, um eine ungewisse Zukunft und eben nicht darum, wer oder was ich bin. […] Und genau das ist queer, das ist radikal, das ist anders. Auf eine leise Art« (Ippolito 2013: 11). An der Diskussion um diese Filme wird demnach nicht zuletzt ausgehandelt, wofür queer stehen kann und soll. Ein Seitenschauplatz dieser Diskussion, der im Folgenden noch zentraler werden wird, ist die Repräsentation expliziter Sexualität auf der Leinwand. Alle diese Filme sparen mit solchen Darstellungen nicht, vor allem aber an den Filmen von Mathews wird die Frage der Pornografie virulent – oder auch nicht, wenn wir Ippolito folgen, der meint, es sei »natürlich Schwachsinn«, hier von Porno zu sprechen, denn »Travis Mathews arbeitet genau gegen die gängigen Konventionen des klassischen pornografischen Films« (ebd.). Auch Topher Burns bestätigt zwar die hocherotische Qualität von I Want Your Love (er bezieht sich auf den Kurzfilm), meint aber: »Beside the honesty with which the video portrays gay sex, the difference for me is the subject matter. Porn plays with external fantasies (taboos, physical perfection, hot pirates), while ›I Want Your Love‹ toys with the world of internal fantasy (›What if this guy really likes me?‹)« (Burns 2010). Mathews selbst verhält sich neutral zum Thema: »I’ve tried to stay out of any argument about how it’s labeled; I don’t want to be in the position of having to defend it as not porn. The way I think of porn is that its primary purpose is to get you off, and anything else is trimming. That’s not my main objective here. The stuff that interests me is male intimacy, vulnerability and honesty. There are a lot of different ways to show that, and sex is one of them. If you watch the demo, there is still a little dialogue; it’s not all about the escalation to cum shot. There’s a porn company producing this, and there’s hardcore sex in it, so by many people’s definition it’d be porn. I’m fine with people calling it what they want to call it, but it’s lazy to call it that and leave.« (Zit. in Rosen 2010)

Diese Aussagen decken sich mit generellen Definitionsversuchen von Pornografie, so meint Richard Dyer »a pornographic film is any film that has as its aim sexual arousal in the spectator« (Dyer 2002: 138; Herv. i.O.). Alle Kritiker_innen sind sich einig, dass die Zuschauererregung nicht primäres Anliegen der Filme von Mathews & Co. ist. Wenn wir aber diese Filme, statt sie wirkungsästhetisch zu betrachten, in die politischen Debatten um Pornografie einspeisen wollen, dann treten andere Kriterien zur Beurteilung von Pornografie in den Vordergrund. In seiner Verteidigung des Pornos (z.B. gegen eine

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radikal-feministische Position wie jener von Andrea Dworkin)6 macht Dyer stark, dass gerade die Körperbezogenheit des schwulen Pornos politisch zu sehen ist, geht sie doch als Befreiungsstrategie gegen bürgerliche Normen an: »Homosexual desire has been constructed as perverse and unspeakable; gay porn does speak/show gay sex. Gay porn asserts homosexual desire, it turns the definition of homosexual desire on its head, says bad is good, sick is healthy and so on. It thus defends the universal human practice of same sex physical contact (which our society constructs as homosexual); it has made life bearable for countless millions of gay men.« (Ebd.: 140)

In diesem Sinne ist es nicht so entscheidend, ob und wie der »Money Shot«, d.h. die sichtbare Ejakulation des Darstellers als dramaturgischer Höhepunkt und ›Garant‹ der Echtheit und damit Vermarktbarkeit der Sexszene, inszeniert wird und welche körperliche Reaktion dies wiederum beim Publikum auslöst, sondern es geht vor allem um das Repräsentationsrecht. Dieses Moment verbindet das New Wave Queer Cinema mit jenen älteren Filmen des sogenannten New Queer Cinema, in deren Tradition sie nicht nur durch die Namensgebung stehen. B. Ruby Richs Buch »New Queer Cinema«, das 2013 erschienen ist, gibt Anlass, auf diese Bewegung zurückzublicken. Rich prägte diesen Begriff Anfang der 1990er Jahre, um einen bestimmten Trend zu einem bestimmten Zeitpunkt zu fassen.7 Rich benennt dabei eine Gruppe von Filmen: alle auf Festivals aufgetaucht, dort preisgekrönt und eine neue Ästhetik und Politik verkündigend, so vor allem The Hours and Times (Christopher Munch, 1991), R.S.V.P. (Laurie Lynd, 1991), Paris Is Burning (Jennie Livingston, 1991), Poison (Todd Haynes, 1991), Young Soul Rebels (Isaac Julien, 1991), Edward II (Derek Jarman, 1991), Swoon (Tom Kalin, 1992), The Living End (Gregg Araki, 1992). Es fällt heute mehr als damals auf – und das ist eine signifikante, wenngleich problematische Parallele zum New Wave Queer Cinema –, dass es sich nur um männliche Regisseure handelt und auch die handelnden Figuren fast nur männlichen Geschlechts sind: »Surprise, all the new movies being snatched up by distributors, shown in mainstream festivals, and booked into theaters are by the boys,« meint lakonisch auch Rich (2013: 18).8 Der schwule 6 | Vgl. hierzu auch meinen eigenen Verteidigungsversuch: »Queer Porno?« (Poole 1997). 7  |  Richs Originaltext »The New Queer Cinema«, der in in ihrem Buch in erweiterter Form zu lesen ist, erschien 1992 im Magazin Sight and Sound 2.5: 30-35. 8 | Jennie Livingston ist die problematische Ausnahme, da hier eine weibliche weiße Regisseurin einen Film über die schwarze Trans-Szene von Harlem dreht. Dieser Film hat mit Kritikerinnen wie Judith Butler und bell hooks eine eigene Rezeption erfahren, die sich vor allem um Fragen filmischer Autorität und Authentizität dreht. Es gab außer-

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Fokus mag inhaltlich bedingt sein: Als gemeinsamer Nenner für diese Filme figuriert als sozialpolitischer Hintergrund die AIDS-Krise. Die Verbundenheit der Filme begründete sich über den postmodernen Stil, daher auch das Alternativlabel Homo Pomo, das allerdings weniger reüssierte: visuelle Experimentalität, schockierende Plots, radikale Abkehr von moralischen Normen, exzessive Gewalt. Das zeichnete nicht nur die Filme von Gregg Araki oder Todd Haynes damals aus, beide sorgen bis heute für Filme, die sich z.T. dem Mainstream annähern, z.T. für das Fernsehen produziert sind, stets jedoch Diskussionen auslösen, so bspw. Arakis Nowhere (1997), Mysterious Skin (2004), Kaboom (2010) und Haynes’ Velvet Goldmine (1998), Far From Heaven (2002), Mildred Pierce (2011). Die Filme wiederum, die als New Wave Queer Cinema figurieren, stehen zwar in der Tradition des New Queer Cinema, sind aber durch die gesellschaftlichen Veränderungen – vor allem neue Formen der AIDS-Behandlung und die rechtliche Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften – davon getrennt und ein vormals politischer und ästhetischer Expressionismus hat sich hin zu »story and character« (Walters 2012) verschoben. Das Realitätsdefizit wird in den neuen Filmen durch Meta-Narrative ausgeglichen, indem bspw. Ira Sachs in seinem Keep the Lights On das Scheitern seiner eigenen Beziehung mit einem Drogenabhängigen verfilmt und auch in Andrew Haighs Weekend das Kennenlernen der beiden Protagonisten durch ein Filminterview begleitet und kommentiert wird. Es wird in Erzählung und Kommentar die tatsächliche Erfahrung betont, das wirkliche Leben schwuler Männer, die nicht unbedingt eine Gemeinschaft repräsentieren sollen. Komplexität ist gefordert, aber Komplexität der Charaktere, nicht der Ästhetik. Rückblickend gibt Rich vier Kriterien an, die ein New Queer Cinema möglich machten: AIDS, die politisch repressive Regierung Reagans, die neue Technik des Camcorders und New Yorks billige Mieten, die es für Künstler einfacher machten, in dieser Stadt zu arbeiten. Queer entstand als neues Identitätskonzept, zunächst als politische, dann aber auch als ästhetische Reaktion der Wut gegen das konservative, heteronormative gesellschaftliche Klima (Rich 2013: xv-xvi). Das New Queer Cinema ist demnach aus der politischen Not dem zwei wichtige lesbische Filme, G o Fish (Rose Troche, 1994) und Watermelon Woman (Cheryl Dunye, 1996), die quasi in den Kanon nachgereicht wurden – allerdings nicht von Rich selbst. Worauf Rich aber hinweist, ist, dass ein wichtiges ästhetisches Format für das New Queer Cinema das Video war und hier besonders lesbische Videos. Gerade das Versäumnis aber, diese sowohl auf den Festivals zu zeigen wie auch dann in den Distributionskreislauf aufzunehmen, verhinderte, dass sich ein »redefining the whole dyke relationship to popular culture« (Rich 2013: 18) einer breiteren Öffentlichkeit mitteilen konnte; siehe den 2004 von Michele Aaron herausgegebenen Band »New Queer Cinema« für eine Diskussion des lesbischen New Queer Cinema.

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geboren und hat die Gelegenheiten des Moments kreativ genutzt: »Outrage and opportunity merged into a historic artistic response to insufferable political repression: that simple, yes, and that complex. […] the New Queer Cinema created a space of reflection, nourishment, and renewed engagement. […] An invention. A brand. A niche market« (ebd.: xvi u. xix). Der »outrage« scheint bei den jungen New Wavern zu fehlen: So gibt es in Weekend mehrere Szenen, die im New Queer Cinema sicherlich in gay-bashing Gewalt und wütender Gegenwehr der schwulen Protagonisten gemündet wären, hier jedoch bleibt es bei der Androhung, nichts geschieht. Yep/Elia merken kritisch über die Produktion von »docile and de-politicied gay bodies and identities« an, »that the proliferation of queer images in popular culture has not eradicated the problem of heteronormativity or antiqueer violence« (Yep/Elia 2012: 894). Auch Rich beendet ihre Rückschau mit einer Bemerkung zur Gegenwart mit doppeltem Ausblick auf jüngste mediale Entwicklungen – vor allem (kritisch) in Bezug auf das Fernsehen und (lobend) im Bereich der Transgender-Thematisierung, nichts aber zu dessen cineastischen ›Ableger‹, dem New Wave Queer Cinema. Für das Fernsehen waren sicherlich Queer as Folk und The L Word Meilensteine – beide, wie ich denke, aus der New Queer Cinema-Bewegung entstanden und für das Fernsehen adaptiert. Das Fernsehen ist im Unterschied zum Independent Cinema allerdings ein Massenmedium und der Transfer zum Mainstream ist fließend. Doch würde ich diesen beiden Serien jene ästhetische und politische Agenda des Widerstands des New Queer Cinema zugestehen. Sicherlich als bahnbrechend müssen auch die unter dem Banner des HBO-Konzeptes »Quality Television« produzierten Serien Six Feet Under und True Blood gelten, gerade wegen ihrer Repräsentation von schwulen Paaren verschieden-ethnischer Herkunft. Richs Kommentar gilt allerdings für viele andere queere Serien: »The price of all that mainstreaming on television was the demise of the boundary-pushing, ideology-challenging New Queer Cinema. Who needs NQC [New Queer Cinema] once TV delivered its cuddlier version to networks and cable stations? And anyway, by then who still went to movie theaters?« (Rich 2013: 263).9 Wichtig für eine Herausbildung von queeren TV-Serien waren nicht zuletzt die Privat- und Sparten-Sender, so in den USA HBO, LOGO, Showtime, HERE!, in England Channel 4, in Deutschland der mäßig erfolgreiche Sender 9 | Eine Auswahl von TV-Serien mit LSBT-Charakteren in Hauptrollen (es handelt sich dabei um narrative Formate wie Soap Operas oder SitComs) beinhaltet: Dawson ’s C reek (1998-2003), Will & G race (1998-2006), B erlin B ohème (1999-2005), M it H erz und H and schellen (2002-2006), The W ire (2002-2008), B ewegte M änner (2003-2005), S hameless (UK seit 2004, US seit 2011), Dante ’s C ove (2005-2007), B rothers and S isters (20062011), The L air (2007-2009), L ip S ervice (2010-2012), S mash (2012-2013), I n B etween M en (seit 2010), L ooking (seit 2014).

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TIMM, die allesamt allerdings zunehmend eine – im kommunikationswissenschaftlichen Jargon sogenannte – »rebranding strategy« und ein »gaystreaming« (Ng 2013: 258f.) verfolgen, was bedeutet, es sollen auch größere und allgemeinere, d.h. nicht nur queere Publikumssegmente angesprochen werden, besonders heterosexuelle Frauen bzw. was in den USA als »slumpys« bezeichnet wird: »Socially Liberal Urban-Minded Professionals« (ebd.: 261). Jede negative Zeichnung von Queerness wird zunehmend vermieden, damit wird die Kost deutlich leichter und die Narrative meist humoriger. Statt »queer Ghetto« wird nun auf eine Post-gay-Ära jenseits traditioneller sexueller Labels gesetzt. Die Notwendigkeit für Nischen schwindet auch hier – wie auch in anderen Sektoren unseres queeren Lebensalltags – immer mehr. Dieser Impuls, Qualitätsfernsehen zu produzieren und gerade auch die Queer-Thematik als ein Label des Senders (Stichwort Branding) zu vermarkten, hat auch auf jene Sender gewirkt, die eigentlich ohnehin eine andere, nämlich stärker mainstream-familienorientierte Produktions- und Distributionspolitik haben. The New Normal bspw. wurde von NBC produziert, also einem der vier großen Networks des amerikanischen Fernsehens neben ABC, CBS und Fox.10 Der Titel der Serie ist Programm: Noch im Vorspann der Pilotepisode erklärt Bryan seinem Partner David: »abnormal is the new normal« (»Pilot« 2012). Eingepasst ist dieses Statement zunächst in Bryans Begegnung im Einkaufszentrum mit einem entzückenden Baby, das seinem Kinderwunsch Vorschub leistet, und liefert ein treffendes Beispiel für den gewollt politisch inkorrekten Humor der Serie, wenn Bryan schwärmt: »Honey, when I saw that miniature person, whose skin was flawless by the way, I got it: I want us to have baby clothes, and a baby to wear them« (ebd.). Kurz darauf sehen wir das Männerpaar ›probeweise‹ auf dem Kinderspielplatz, wo der Reihe nach andere nicht traditionelle Familienkonstellationen vorgestellt werden: eine ehemalige Prostituierte im fortgeschrittenen Alter als alleinerziehende Mutter, ein taubstummes Paar und eine kleinwüchsige Mutter. Dieser Diversitätsreigen, in den sich das schwule Paar mittels einer Surrogat-Mutter einzureihen gedenkt, setzt den komödiantischen Ton, der sich leider nicht immer geschickt zwischen politischer Unkorrektheit und sentimentalem Kitsch situiert. Die erste Staffel, die wohl auch dank des mäßigen Erfolgs die letzte sein wird, endet in einem solchen verhunzten Szenario: Der Priester, der sich zuvor nicht traute, die Trauung der beiden in einem offiziellen Rahmen vorzunehmen, tut dies nun doch in ›zivil‹-legerer Strickjacke unter einem Zeltdach am Strand. Anwesend ist die Patchwork-Familie mit einigen weiblichen Mitgliedern, darunter die Surrogatmutter und deren Großmutter, und dem männlichen Trio bestehend aus dem Paar samt dem neugeborenen Sohn. Während 10  |  Der Erfinder und Produzent Ryan Murphy zeichnet sich auch für die überaus erfolg­ reiche und in vieler Hinsicht progressivere Serie G lee (Fox, seit 2009) verantwortlich.

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der Priester in seinem Sprechakt die beiden nicht zu einem Ehepaar, sondern einer Familie erklärt, wundert er sich – offenkundig ironisch –, dass ihn nicht der Blitz trifft ob der Übertretung seiner priesterlichen Befugnisse: »Then by the power invested in me as a child of God, I now pronounce you … a family. Well, no lightning-bolts, what do you know?« (»The Big Day« 2013). Die Szene setzt einen schrillen, campy-sentimentalen Schlusspunkt der Staffel und doch markiert sie gerade – ich möchte fast sagen auf symptomatisch schamlose Weise – die homonormative Schlagkraft dieser Serie im Unterschied bspw. zur Inszenierung der Familienkonstellationen in Queer as Folk und The L-Word. Während sich Brian in Queer as Folk klar darüber werden muss, welche Vaterrolle er bei seinem leiblichen Sohn und damit in der Beziehung des aufziehenden lesbischen Paares übernehmen will sowie dem Problem, ob sein minderjähriger Liebhaber nun eher Lover oder Mündel ist,11 und während sich in The L-Word die beiden Frauen über Fragen der ethnischen Herkunft des Kindes und des Adoptionsrechts für lesbische Paare streiten, so geht es in The New Normal eher darum, wie sehr die Leihmutter dem optischen Leitbild einer Gwyneth Paltrow ähnelt und ob sie strikt die Ernährungsregeln einer Schwangeren befolgt. »Gay marriage« ist, wie viele queere Wissenschaftler_innen bestätigen, das homonormative Thema schlechthin. Und zumindest hier muss man sagen, in Abwandlung meines Titelzitates, dass die Schwulen die neuen Heteros sind. Man mag zur Homo-Ehe stehen wie man will, in The New Normal wird sie eingebunden in konformistische heteronormative Anstandsregeln (die beiden werden nie beim Sex gezeigt), ihre Familiengründung wird mit einer neoliberalen Politik der Verfügbarkeit verknüpft (sie haben das Geld und die Macht, sich eine Leihmutter auszusuchen) und statt politischem und kommunalem Engagement wird das privatisierte Reproduktionsmodell favorisiert. Steven Edward Doran schreibt über die weitaus erfolgreichere Serie Modern Familiy (ABC seit 2009), die ebenfalls ein schwules Paar mit einem Kind (in diesem Fall eine aus Vietnam stammende Adoptivtochter) zeigt: »Modern Family’s use of homodomesticity marginalizes gay men, and by extension other queer-identified individuals, by pursuing their assimilation into the dominant culture while advancing a model of ›proper‹ gay subjectivity based on the avowed rightness of heteronormativity and neoliberal consumer citizenship.« (Doran 2013: 97; Herv. i.O.)

Es lässt sich demgegenüber argumentieren, dass Homo-Ehe und LSBTI*-Familien niemals vollständig assimilierbar und domestizierbar sind in einer Gesellschaft, die nach wie vor auf einem heteronormativen Regelwerk basiert. So fordert entsprechend Michael Warner, dass ein radikaler Blickwechsel vor11  |  Für eine ausführliche Diskussion dieser Thematik siehe Poole 1997.

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genommen werden sollte – wahrscheinlich ein utopisches, sicherlich ein provokantes Ansinnen: »Against assimilation, one could insist that the dominant culture assimilate to queer culture, not the other way around. Straight culture has already learned much from queers, and it shouldn’t stop now« (Warner 1999: 74). Und so könnte man sagen, dass in Modern Family – und dieses Argument gilt auch für The New Normal – über das Problematisieren von Männlichkeitsmodellen sowohl klischierte Vorstellungen von ›homo‹ wie auch ›hetero‹ kritisch hinterfragt werden: »Modern Family thus explores some of the ways that the queer family differs from the heterosexual norm. But is also offers a subtler and subversive commentary on masculinity. The connection between gender and sexual orientation is inseparable, especially in a patriarchal society that both requires and normalizes heterosexuality as the standard expression of sexual identity. […] Modern Family demonstrates how gay masculinity is not a bastardization of or deliberate challenge to an oppressive and impractical straight masculinity, but rather one viable alternative to it.« (Kunze 2013: 111, 114; Herv. i.O.)

Es ließe sich noch einiges zu Phänomenen wie dem New Turkish (Queer) Cinema oder der gay black-Soap Opera sagen, beide wieder vor allem im Figurenarsenal von männlichen Schwulen verankert, aber intersektional erweitert durch ihre jeweilige multiethnische Dimension.12 Doch ich möchte abschließend auf B. Ruby Richs finalen Kommentar zurückkommen: »And it’s become clear that trans is the new queer, where energies are building and discoveries happening, reminiscent of the NQC’s [i.e. New Queer Cinema’s] long-ago emergence on the world stage« (Rich 2013: xxvii). Ich würde der amerikanischen Filmwissenschaftlerin hier gerne zustimmen, und vielleicht stimmt ihr Statement auch für den Film, der im Transgender-Bereich immer noch das innovativere und wagemutigere Medium zu sein scheint.13 Im Fernsehen ist Transgender nach wie vor ein unterrepräsentiertes Thema, intersexuelle Personen hingegen bleiben völlig unsichtbar.14 So meint auch Nicole Richter: »Despite the increasing 12 | Beispiele hierzu sind die Filme von Ferzan Özpetek (H amam – Das türkische Bad, N acht im H arem, D ie A hnungslosen, S aturno contro, M änner al dente), L ola + B ilidikid (Kutluğ Ataman), M ixed K ebabk (Guy Lee Thy) sowie die Serien N oah’s A rc und DL C hronicles . 13  |  Siehe nach einschlägigen Filmen der 1990er Jahre wie Neil Jordans The C rying G ame (1992) und Kimberly Peirces B oys D on ’ t C ry (1999); an neueren Beispielen die Filme von Pedro Almodóvar S chlechte E rziehung (L a mala educación), 2004; D ie H aut, in der ich wohne (L a piel que habito, 2011), S outhern C omfort (Kate Davis, 2001), N ormal (Jane Anderson, 2003), 20 centímetros (Ramón Salazar, 2005), Romeos (Sabine Bernardi, 2011) oder The Danish G irl (Lasse Hallström, 2014). 14 | Es gibt kaum Serien mit Transgender-Charakteren in Leitrollen, zu nennen sind G lee, The L Word, D egrassi, The S witch sowie die Dokuserie Trans G eneration. Elisabeth

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visibility of gay and lesbian characters in film and television in recent years, the lives of transgender people are rarely represented, and when transgender characters do appear in mainstream film, they tend to be treated as caricatures« (Richter 2013: 161). Richter markiert allerdings für den Film in Anlehnung an Richs New Queer Cinema ein New Trans Cinema mit Beispielen wie Hedwig and the Angry Inch (John Cameron Mitchell, 2001), Breakfast on Pluto (Neil Jordan, 2005) und Transamerica (Duncan Tucker, 2005). Es bleibt allerdings sicherlich noch eine ganze Weile eine Rarität, dass eine TV-Serie eine Transgender-Hauptfigur wählt. Der britische Sender Sky Atlantic hat dies mit der Miniserie Hit & Miss getan, die 2012 ausgestrahlt wurde. Der Autor ist Paul Abbott, der sich u.a. auch für die Erfolgsserie Shameless verantwortlich zeichnet. Hit & Miss knüpft m.E. einerseits an die ästhetisch-politische Radikalität des New Queer Cinema an und betritt andererseits mit der Darstellung einer transweiblichen Protagonistin Neuland. Mia, eine prä-operative Transsexuelle, ist eine professionelle Auftragskillerin – nicht zuletzt, um die anstehende operative Geschlechtsumwandlung zu finanzieren – und sie ist auch eine Mutter. Wieder geht es also um eine queere Familienkonstellation, und doch ist diese hier vielfach codiert. Aus ihrem früheren Leben als Mann hat Mia einen Sohn, von dem sie erst nach dem Tod von dessen Mutter erfährt. Widerwillig beugt sich Mia dem testamentarisch verfügten Wunsch, den Sohn wie auch die anderen drei Kinder, die offensichtlich von verschiedenen – auch was ihre ethnische Herkunft betrifft – Vätern stammen, zu adoptieren und ihnen ein Heim zu geben. Wäre das nicht schon schwierig genug, so wird hier noch zu dem Geschlechter- und Klassenthema (die Horde sich selbst überlassener Kinder, die von der ältesten Tochter notdürftig versorgt werden, können gerade so überleben und müssen daher dem unteren sozialen Milieu zugerechnet werden) ein Stadt-Land-Konflikt aufgerollt. Mia, die in der anonymen Stadt untertauchen kann, ist auf dem kleinen Dorf hyper-sichtbar. Und dort begegnet ihr alles, was sie in der Stadt zu vermeiden weiß. So muss sie sich gegen gewaltsame Transphobie wehren, was ihr als trainierte Killerin eher leicht fällt, aber zu massiven Gewaltszenen führt. Dies stempelt sie wiederum in der Dorfgemeinschaft wie auch in ihrer Patchworkfamilie als Außenseiterin ab. Weiterhin ist sie dem Thema der transgender-Heterosexualität ausgesetzt, als sich eine Liebesbeziehung zum Dorf-Beau Ben entwickelt. Die zwar zu erwartende, dramaturgisch sich aber spannend entwickelnde Affäre beginnt mit dem Begehren des Mannes, der nichts ahnt, über dessen heftige Ablehnung von Mia, nachdem sie ihm die Wahrheit sagt, bis hin zu hocherotischen Verführungsszenarien (seitens Mia, die hier in die Scharangs Dokumentation Tintenfischalarm (2006) über die intersexuelle Figur Alex bleibt eine einsame, aber aussagekräftige Ausnahme zur Repräsentation von Intersexualität in Film und Fernsehen.

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Rolle einer Trans-Fatale schlüpft) und hochemotionalen Fürsorgemomenten (seitens Bens, der sich um die verletzte Mia kümmert). Schließlich muss sich Mia mit der Vorbildrolle für ihre Kinder, allen voran für ihren leiblichen Sohn, auseinandersetzen. Dies fällt ihr sichtlich am schwersten von allen Herausforderungen, und doch, wie in allen anderen Konfliktsituationen, setzt die Serie hier ein utopisches Zeichen der Hoffnung, ohne dass am Ende alles geklärt und abgeschlossen wäre. Gerade dieses offene Ende hebt aber den Schwebezustand der »transition« hervor, denn so müssen sich die Zuschauer_innen Gedanken über die Zukunft solcher Beziehungen machen: »In this way, spectators are themselves placed in a state of transition […]. Doing intimacy is not something that is achieved or arrived at but rather something that must be constantly negotiated and actively participated in« (Richter 2013: 166). In diesem Sinne verschiebt die Serie das trans-queere Potenzial von einer simplifizierten Erfüllung im Hier und Jetzt in ein unbestimmtes Terrain einer zukünftigen Welt, »that should be, that could be, and that will be« (Muñoz 2009: 64). Problematisch erweist sich hingegen die Besetzung der Rolle durch eine zwar überzeugende, aber weibliche Darstellerin (Chloë Sevigny). Wäre eine transweibliche Schauspielerin ›korrekter‹ oder wünschenswerter gewesen? Auch eine in die Dramaturgie eingewobene Traumathematik, die auf familiären Missbrauch vor allem durch ihren Bruder gründet und sich bei Mia in einer zuweilen heftigen Abscheu ihrer körperlichen Identität gegenüber ausdrückt, trägt sicherlich zum leichteren Verständnis des heteronormativen Publikums dieser Figur gegenüber bei, nimmt der ansonsten so kompromisslosen Radikalität der Serie dafür einiges an Schärfe. Und doch trägt die Serie alle Züge eines aus dem New Queer Cinema hervorgegangenen New Trans Cinema, indem Charaktere wie Mia »confront the difficult questions all trans people must deal with in negotiating a place within society, family, and intimate relationships« (Richter 2013: 162). Der häufige Blick in den Spiegel mag Mias traumatisierte Persönlichkeit reflektieren, mit ihr aber blickt auch das Publikum auf den Trans-Körper und die Leinwand öffnet sich so einem ungewohnten und irritierenden »transgender gaze« (Halberstam 2005: 77). Alternative Formen etablierter Modelle von Intimität werden hier erprobt und dadurch neue Koalitionen über dichotome Grenzen von Geschlecht, Sexualität, Herkunft und Klasse hinweg geknüpft. Sicherlich ist »trans« nicht das neue »queer«, aber Beispiele wie dieses tragen doch deutlich zu einer erfreulichen Problematisierung und damit dringend notwendigen weiteren Diskussion des Begriffes queer und seinem längst nicht ausgeschöpften medialen Repräsentationspotenzial bei.

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Ralph J. Poole

F ilm - und S erienverzeichnis I Want Your Love (2012) (USA, R: Travis Mathews) Hit & Miss (2012) (Sky Atlantic, R: Hettie MacDonald/Sheree Folkson) Keep the Lights On (2012) (USA, R: Ira Sachs) »Pilot«. The New Normal. Staffel 1, Episode 1 (10.09.2012) (NBC, R: Ryann Murphy) »The Big Day«. The New Normal. Staffel 1, Episode 22 (02.04.2013) (NBC, R: Max Winkler) Weekend (2011) (UK, R: Andrew Haigh)

Schulische Bildungsarbeit und LSBTI*Aufklärungsprojekte: gemeinsam und nachhaltiger gegen Homo- und Transphobie Stefan Timmermanns

Im vorliegenden Beitrag soll der Frage nachgegangen werden, wie schulische Bildung und LSBTI*1-Aufklärungsarbeit nachhaltiger gegen Homo- und Transphobie sowie Diskriminierung gegenüber LSBTI* gestaltet werden kann. Dazu werden zunächst die Entstehungsgeschichte der Aufklärungsprojekte und die Effekte ihrer Arbeit näher beleuchtet. Der Hauptteil behandelt Verbesserungsmöglichkeiten zur Steigerung der Nachhaltigkeit von Aufklärungsbemühungen. Dabei werden sowohl strukturelle Voraussetzungen, methodischdidaktische Fragestellungen, Strategien als auch die Rolle der Lehrkräfte in die Überlegungen miteinbezogen.

1. V on den A nfängen der » schwul- lesbischen A ufkl ärung « 2 Vor allem Lesben und Schwule waren an der Gründung ehrenamtlicher Aufklärungsprojekte Ende der 1980er Jahre in Deutschland beteiligt, deren Kontinuität zunächst sehr wechselhaft war (vgl. Timmermanns 2003: 77). In 1  |  Die Abkürzung steht für Lesben, Schwule, Bi-, Trans* (das T steht sowohl für Transsexuelle als auch für Transgender) und Intersexuelle. Sie wird in diesem Text in unterschiedlichen Varianten verwendet. Dies kann zum einen den Grund haben, dass es sich inhaltlich eher um das Thema sexuelle Orientierung (z.B. um Lesben, Schwule, Bisexuelle) oder um die Frage der Geschlechtsidentität (z.B. bei Trans* und Inter*) handelt. In manchen Fällen liegt es aber auch daran, dass der Bezeichnung ein wörtliches oder sinngemäßes Zitat aus der Fachliteratur zugrunde liegt, das originalgetreu wiedergegeben wird. 2 | Dieser Abschnitt ist in leicht veränderter Form bereits in einem Artikel des Sozialmagazins erschienen, vgl. Timmermanns 2014.

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Städten wie Berlin aber z.B. auch in Aachen oder Freiburg kann mittlerweile auf eine lange Tradition zurückgeblickt werden (vgl. ebd.). Vorbilder für diese pädagogische Arbeit gab es im Ausland, etwa Projekte unter dem Dach des RFSL (Riksförbundet för homosexuellas, bisexuellas och transpersoners rättigheter) in Schweden seit den 1970er oder ähnliche Veranstaltungen in den Niederlanden seit den 1980er Jahren (vgl. ebd.). In Deutschland klären hauptsächlich junge Lesben und Schwule, aber auch Bi- und Heterosexuelle sowie Trans*-Menschen Jugendliche in Schulen über sexuelle und geschlechtliche Vielfalt auf.3 Ihr Hauptziel ist dabei, Vorurteile abzubauen sowie Akzeptanz für LSBTI* zu schaffen. Eine landesweite Vernetzung der Projekte gründete sich erstmals im Jahr 2000 in Nordrhein-Westfalen unter dem Namen SchLAu (vgl. ebd.: 79). Die damaligen Projekte schlossen sich dem Landesverband des schwul-lesbischen Jugendnetzwerks Lambda an, um bereits bestehende Strukturen nutzen zu können.4 Die Abkürzung steht dabei für »schwul-lesbische Aufklärung«. Die Vernetzung diente zum einen der Etablierung von Qualitätsstandards, zum anderen aber auch dem gegenseitigen Austausch und der Organisation von Fortbildungen für die ehrenamtlich Aufklärenden (vgl. Quelle in Fußnote 4). In den folgenden Jahren gab es mehrere Kontaktaufnahmen und Vernetzungstreffen zahlreicher Aufklärungsprojekte aus dem ganzen Bundesgebiet. Dies führte ab 2009 dazu, dass sich nach dem Vorbild in NRW auch Projekte in Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Hessen und Schleswig-Holstein vernetzten und eigene landesweite Organisationsstrukturen unter dem Namen SchLAu entwickelten. Ein einheitliches Konzept der ca. 50 Projekte im Bereich der LSBTI*-Aufklärungsarbeit in Deutschland existiert nicht. Die Umsetzung der Veranstaltungen hängt von den jeweiligen Projektgruppen ab. Dabei ist sicher auch maßgeblich, welche Personen sie durchführen. Dies hat Einfluss auf die Ziele, die angestrebt werden, und die Methoden, die zum Einsatz kommen. Am 26.04.2003 wurden in Bonn zum ersten Mal von SchLAu NRW gemeinsame Qualitätsstandards beschlossen, zu denen sich die damals bestehenden

3  |  In einigen Projekten in Deutschland arbeiten sowohl homo-, hetero-, bi-, intersexuelle als auch Trans*-Menschen mit. Über die genaue Verteilung gibt es derzeit keine verlässlichen Angaben. In einer aktuellen Bestandsaufnahme wird deutlich, dass fast alle Veranstaltungen von schwulen Männern und lesbischen Frauen durchgeführt werden. Bi-, Heterosexuelle und Trans* sind hingegen deutlich seltener involviert, Intersexuelle fast gar nicht (vgl. Klocke/Salden 2013). 4  |  Nach der Insolvenz des Jugendnetzwerks Lambda NRW e.V. im Jahr 2006 schloss sich SchLAu NRW dem Schwulen Netzwerk NRW an (vgl. www.homowiki.de/SchLAu_NRW).

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Gruppen freiwillig verpflichteten.5 Diese sind kontinuierlich weiterentwickelt worden und in der aktuellen Fassung für alle Projekte, die unter dem Namen SchLAu arbeiten, qua Selbstverpflichtung verbindlich. Es kann davon ausgegangen werden, dass die meisten Veranstaltungen mindestens 90 Minuten (oder länger) dauern. Sie werden von zwei bis vier Mitarbeitenden des Projekts durchgeführt, oftmals von zwei Männern und zwei Frauen. Zu den Zielen gehören u.a., Vorurteile und Klischees zu reflektieren, Diskriminierung abzubauen, Gewalt gegen LSBTI* zu verhindern, sexuelle Selbstbestimmung zu stärken sowie sexuelle und geschlechtliche Vielfalt und unterschiedliche Lebensweisen zu fördern (vgl. SchLAu NRW 2012: 20). Die Methoden stammen meist aus der Jugendarbeit und Sexualpädagogik, zu ihnen gehören z.B. Brainstorming, Fantasiereisen, Diskussionen, Arbeit mit Fotos oder Filmausschnitten, hauptsächlich jedoch Gesprächsrunden, in denen die Jugendlichen den Projektmitarbeiter_innen Fragen zu ihrem Coming-out bzw. ihrer Lebenswelt stellen können (vgl. ebd.: 30; Timmermanns 2003: 79). Die Möglichkeit, LSBTI* persönliche Fragen zu stellen, wird auch als »biografischer Ansatz« (SchLAu NRW 2012: 26) bezeichnet, weil die Aufklärenden über ihre persönlichen Erfahrungen berichten, die sie mit ihrer Familie, ihrem sozialen Umfeld, in der Schule oder am Arbeitsplatz gemacht haben. Die Besonderheit des Ansatzes besteht darin, dass LSBTI* in einen Dialog mit den Jugendlichen treten, authentisch über ihr Leben sprechen und nicht unpersönlich ›über‹ sie geredet oder gemutmaßt wird. Damit ist die Hoffnung verbunden, Klischees und Vorurteile effektiver abbauen zu können, als wenn die Thematik von heterosexuellem pädagogischem Personal behandelt wird.

2. E ffek te der LSBTI*-A ufkl ärungsarbeit Die empirische Datenlage zu dieser Art der Peer-to-Peer-Aufklärung ist mehr als dürftig und es bestehen aktuell eine Reihe von Forschungsdesideraten. Erste Pionierarbeiten von Anglowski (1997) und Timmermanns (2003) brachten die Erkenntnis, dass sich ein positiver Effekt der Kurzzeitinterventionen nachweisen lässt, jedoch sind die Fallzahlen nicht repräsentativ und die Daten wurden bereits vor über 15 Jahren erhoben. Ob und wie sich die Arbeit in den letzten Jahren durch die Erweiterung der Inhalte durch die Trans*- und Inter*Thematik verändert hat, ist bisher kaum erforscht (vgl. hierzu Klocke 2012). Wenn neben der sexuellen auch die geschlechtliche Vielfalt Berücksichtigung in den Aufklärungsveranstaltungen findet, dann dürfte dies mehr Zeit in An5 | Siehe dazu www.homowiki.de/SchLAu_NRW. Diese Standards gehen u.a. auf die Vorschläge von Timmermanns (vgl. 2003: 199ff) zurück und sind in der aktuellen Fassung unter www.schlau-nrw.de/index_downloads.htm abrufbar.

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spruch nehmen. Trans- und Intersexualität erklären sich schließlich nicht mit einem Satz. Es drängt sich zudem die Frage auf, ob alle Projektgruppen gleichermaßen die Akzeptanz von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans* und Inter* erhöhen wollen oder ob es hauptsächlich um Akzeptanz für Lesben und Schwule geht. Wird der Unterschied zwischen sexueller und geschlechtlicher Vielfalt von den Mitarbeitenden überhaupt bewusst wahrgenommen oder gehört die Thematik des sexuellen Begehrens und der Geschlechtsidentität für sie »irgendwie« zusammen? In meiner eigenen Untersuchung in Nordrhein-Westfalen, die keinen repräsentativen Charakter hat, konnte nach den Besuchen von Auf klärungsprojekten in 18 verschiedenen Schulklassen bei 58 Prozent der Jungen und 48 Prozent der Mädchen eine positive Einstellungsänderung gegenüber Lesben und Schwulen beobachtet werden. Die niedrigere Zahl der Mädchen kann damit begründet werden, dass sie schon vor der Veranstaltung eine positivere Haltung hatten (vgl. Timmermanns 2003: 133). In der qualitativen Auswertung der Daten konnten ferner Anzeichen für eine differenziertere Wahrnehmung von Lesben und Schwulen gefunden werden. Dies liegt vermutlich darin begründet, dass die Veranstaltung häufig von zwei Männern und zwei Frauen durchgeführt wurde, was einer Stereotypenbildung zumindest tendenziell entgegenwirkt (vgl. ebd.: 200). Natürlich spielt dabei auch die Auswahl der Personen eine Rolle. Viele der gängigen Vorurteile, z.B. dass schwule Männer sich feminin verhielten, schminkten, eine hohe Stimme hätten oder dass lesbische Frauen sich eher maskulin verhielten und kurze Haare trügen, konnten in den schulischen Veranstaltungen hinterfragt und relativiert werden (vgl. ebd.: 138f). Schüler_innen einiger Klassen berichteten ca. zehn Wochen nach der Intervention auch von Verhaltensänderungen, etwa dass nun weniger über Lesben und Schwule in der Klasse gelästert oder dass unter den Jugendlichen ernsthafter über Homosexualität gesprochen würde (vgl. ebd.: 141). Allerdings konnte auch ein leichter kontraproduktiver Effekt nachgewiesen werden: 17 Prozent der Jugendlichen hatten nach dem Besuch eines Auf klärungsprojektes eine negativere Einstellung als vorher (vgl. ebd.). Eine mögliche Erklärung hierfür könnte sein, dass diese Personen sich vor dem Besuch kaum mit dem Thema Homosexualität beschäftigt haben und ihre Haltung eher als indifferent einzustufen ist. Durch die intensivere Auseinandersetzung haben sie diese Gleichgültigkeit jedoch abgelegt und eine negativere Haltung entwickelt. Die Frage, wie nachhaltig die Effekte von Aufklärungsprojekten sind, bleibt auch nach der Untersuchung offen, weil die dritte Messung ca. zehn Wochen nach der Veranstaltung durch Messfehler getrübt war (vgl. ebd.: 122ff.). Es ist aber davon auszugehen, dass der Effekt mit abnehmender Erinnerung verblasst. Dies spricht für ein Anknüpfen der Lehrkräfte an die Erfahrungen der Jugendlichen mit den externen Expert_innen oder für eine weiterführende Be-

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handlung eines übergeordneten Themas, bspw. Antidiskriminierungsgesetze oder Menschenrechte.

3. S truk turelle V or ausse t zungen Hinweise darauf, wie mehr Nachhaltigkeit erzielt werden kann, erhalten die Ergebnisse einer neueren quantitativen Untersuchung an Berliner Schulen. Ulrich Klocke fand heraus, dass das Wissen darüber, ob im Leitbild der Schule Mobbing bzw. Diskriminierung verboten sind, eine positive Einstellung und Solidarität gegenüber LSBT* erhöht (vgl. Klocke 2012: 92). Dies spricht dafür, einen Kodex zum Schutz vor Diskriminierung auf Schulebene einzuführen. Die Haltung des Kollegiums und der Schulleitung ist dabei nicht unerheblich. Denn ob und wie ein Leitbild mit Leben gefüllt wird bzw. ob es im Alltag auch angewandt wird, hängt maßgeblich von diesen beiden Instanzen ab. Oft bestehen bei Lehrkräften Ängste, dass Eltern nicht damit einverstanden seien, wenn die Schule sexuelle und geschlechtliche Vielfalt im Unterricht thematisiert. Dass diese Angst nicht ganz unbegründet ist, zeigte sich im Januar 2014 in Baden-Württemberg. Eltern aber auch andere Teile der Gesamtbevölkerung warfen dem Land vor, mit dem Bildungsplan 2015 »einer Ideologie des Regenbogens« Vorschub leisten zu wollen. Eine Petition im Internet sammelte ca. 192.000 Unterschriften aus dem ganzen Bundesgebiet gegen den neuen Bildungsplan. Wie repräsentativ diese Unterschriftensammlung für die gesamte Elternschaft jedoch tatsächlich ist, darf angezweifelt werden, da nur ca. 82.000 aus Baden-Württemberg stammten.6 Zwei Gegenpetitionen sammelten zur Unterstützung des Bildungsplanes rund 89.000 (davon 36.500 in Baden-Württemberg)7 bzw. 137.500 Unterschriften8. Dieses Beispiel macht deutlich, wie sehr die Reaktionen der Eltern von irrationalen Ängsten geprägt

6 | Die Zeichnungsmöglichkeit der Petition war zum Zeitpunkt der Einreichung dieses Beitrags beendet, vgl. https://www.openpetition.de/petition/online/zukunft-ver antwortung-lernen-kein-bildungsplan-2015-unter-der-ideologie-des-regenbogens, zuletzt aufgerufen am 02.02.2014. 7 | Die Zeichnungsmöglichkeit der Petition war zum Zeitpunkt der Einreichung dieses Beitrags noch nicht beendet, vgl. https://www.openpetition.de/petition/online/gegen petition-zu-kein-bildungsplan-2015-unter-der-ideologie-des-regenbogens, zuletzt aufgerufen am 07.02.2014. 8 | Die Zeichnungsmöglichkeit der Petition war zum Zeitpunkt der Einreichung dieses Beitrags noch nicht beendet, vgl. https://www.openpetition.de/petition/online/gegen petition-zu-kein-bildungsplan-2015-unter-der-ideologie-des-regenbogens, zuletzt aufgerufen am 07.02.2014.

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sind und zugleich durch unsachliche oder falsche Informationen beeinflusst werden können. So wird z.B. in der Petition gegen den Bildungsplan von einer »pädagogische(n), moralische(n) und ideologische(n) Umerziehung an den allgemeinbildenden Schulen«9 gesprochen und suggeriert, dass er zum Ziel habe, die sexuelle Orientierung der Kinder und Jugendlichen beeinflussen zu wollen. Auch werden »negative Begleiterscheinungen eines LSBTTIQ-Lebensstils, wie die höhere Suizidgefährdung unter homosexuellen Jugendlichen, die erhöhte Anfälligkeit für Alkohol und Drogen, die auffällig hohe HIV-Infektionsrate bei homosexuellen Männern«10 als Argument gegen den Bildungsplan angeführt und damit Ursache und Wirkung vertauscht. Die »negative(n) Begleiterscheinungen« liegen nicht in der sexuellen Orientierung begründet, sondern in den abwertenden und diskriminierenden Reaktionen der Gesellschaft auf LSBTI*. In der Fachliteratur wird daher neben anderen Bevölkerungsgruppen auch von LSBTI* als einer besonders vulnerablen Gruppe gesprochen (vgl. StaubBernasconi 2006; Plöderl 2006, 2009; Timmermanns 2013). Diese will der Bildungsplan vor Ausschluss und Diskriminierung schützen.11 Im Lichte dieser Debatten erscheint eine frühzeitige und umfassende Einbeziehung aller beteiligter Gruppen sowie Transparenz bei der Entwicklung von Richtlinien wichtig zu sein. Nur so kann Fehlinformationen der Boden entzogen werden. Damit den Lehrenden und der Schulleitung bei dieser Aufgabe von offizieller Seite der Rücken gestärkt wird, brauchen sie eine Legitimation vor allem in Form von Richtlinien und Lehrplänen, die Informationen über das gesamte Spektrum sexueller und geschlechtlicher Vielfalt sowie Gleichbehandlung und Akzeptanz von LSBTI* als verbindliche Inhalte und Lernziele festschreiben. Trotz aller Vorkehrungen muss jedoch davon ausgegangen werden, dass Teile der Bevölkerung auch gegen noch so bescheidene Versuche, Diskriminierung von LSBTI* mithilfe schulischer Bildung zu bekämpfen, opponieren werden. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Erkenntnis, dass Eltern beim Thema Schutz vor Mobbing und Diskriminierung durchaus Verbündete an9  |  Siehe hierzu die Quellenangabe in Fußnote 6. 10 | Ebd. Die Herausgeber_innen des Entwurfs zum neuen Bildungsplan 2015 in Baden-Württemberg verwenden die Abkürzung LSBTTIQ, um alle Gruppierungen sichtbar zu machen: Lesben, Schwule, Bi-, Trans- und Intersexuelle sowie Transgender und Queer. 11  |  Ein weiteres zentrales Argument der Gegnerschaft von LSBTI*-Aufklärung ist, dass die Sexualität des Menschen Privatsache sei und niemanden etwas angehe. Deshalb solle auch nicht in der Schule über die sexuelle Orientierung von Lehrkräften oder Schüler_ innen gesprochen werden. Als Replik hierauf sei der Artikel »Der Satz, Homosexualität sei Privatsache, ist nicht liberal« von Aletta Gräfin von Hardenberg zur Lektüre empfohlen: www.tagesspiegel.de/meinung/andere-meinung/sexuelle-vielfalt-der-satz-homosexualitaet-sei-privatsache-ist-nicht-liberal/9347192.html.

Schulische Bildungsarbeit und LSBTI*-Aufklärungsprojekte

statt Gegner der Schulen sein können (vgl. Klocke 2012: 93f). Dies lässt darauf hoffen, dass man Eltern mit ins Boot holen kann, wenn man ihnen erfolgreich vermittelt, dass z.B. ein umfassendes Leitbild auch ihre Kinder vor Diskriminierung und Ausgrenzung schützen kann. Dies setzt meines Erachtens voraus, dass neben der sexuellen Orientierung auch andere Diskriminierungsgründe mit in das Leitbild aufgenommen werden, etwa ethnische Herkunft, Religion, Behinderung etc. Damit wird die Notwendigkeit eines Schutzes vor Diskriminierung sowie der Rückhalt aller Beteiligten erhöht. Umfragen deuten darauf hin, dass Personen wie bspw. diejenigen, die hinter der Petition in Baden-Württemberg stehen, vermutlich einer Minderheit angehören. Eine von RTL bei Forsa in Auftrag gegebene repräsentative Umfrage ermittelte, dass 82 Prozent der Eltern ihre Kinder unterstützen würden, wenn diese homosexuell wären. 63 Prozent der Befragten waren dafür, dass die Rechte von Homosexuellen im Unterricht thematisiert werden.12 Als weitere strukturelle Voraussetzung für mehr Nachhaltigkeit muss die Aus- und Fortbildung der Lehrkräfte zu sexueller und geschlechtlicher Vielfalt genannt werden, die bisher kaum und wenn, dann nur in einigen wenigen Bundesländern existiert (z.B. Berlin oder Nordrhein-Westfalen).13 Damit Lehrpersonen die Relevanz des Themas bewusst wird und sie konkrete Hilfestellung erhalten, ist es wichtig, sexuelle und geschlechtliche Vielfalt in der Lehramtsausbildung sowie an den Landesinstituten für Lehrerbildung zu verankern. Hier sind die 16 Bildungsministerien in den jeweiligen Bundesländern gefordert, das Thema auf die Agenda zu setzen und den Lehrkörper nicht mit der anspruchsvollen methodisch-didaktischen Umsetzung alleine zu lassen. Das Rad muss aber an dieser Stelle nicht neu erfunden werden – vielmehr kann auf bestehendes Material zurückgegriffen werden.14

12  |  Vgl. http://lsvd.de/newsletters/newsletter-2014/wie-tolerant-ist-deutschland.html. 13  |  Ähnlich stellt sich die Situation in der Sexualpädagogik dar. Die Sexualpädagogik ist ebenfalls nicht standardmäßig in die Lehrerausbildung integriert und wird nur an wenigen Universitäten gelehrt. 14 | Hier sind vor allem die zahlreichen Materialien der Initiative für Sexuelle Vielfalt (ISV) sowie die Bildungsinitiative queerformat in Berlin zu nennen (www.queerformat. de). Aber auch das Handbuch »Mit Vielfalt umgehen« (www.diversity-in-europe.org), die Handreichung »Ganz normal anders« von Martin Ganguly (2003) oder das Buch »Sexualpädagogik der Vielfalt« (Timmermanns/Tuider 2008) bieten zahlreiche methodische und didaktische Hilfestellungen für Lehrkräfte, die sexuelle und geschlechtliche Vielfalt in den Unterricht zu integrieren bzw. es explizit zum Thema zu machen.

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4. M e thodische und didak tische H er angehensweisen Das Thema sexuelle und geschlechtliche Vielfalt wird in der Schule sowie in der außerschulischen Bildungsarbeit in unterschiedlichen Kontexten behandelt. Den Zugang mit der längsten Tradition hat in Deutschland die Sexualpädagogik. Vor allem die (neo-)emanzipatorische Richtung der Sexualpädagogik setzt sich für die Gleichberechtigung von LSBTI* ein (vgl. Sielert 1994; Koch 2000; Timmermanns/Tuider 2008). Die Rechte von LSBTI* unter der Rubrik der allgemeinen Menschenrechte zu thematisieren, halten Thomas Kugler und Claudia Lohrenscheidt (2004) für sinnvoll. Diesen Ansatz stützen die Ergebnisse Ulrich Klockes (vgl. 2012: 96). Ebenso scheint eine Reflexion traditioneller Geschlechterrollen eine positive Einstellung gegenüber LSBT* zu bewirken (vgl. ebd.: 96). Für Jugendliche mit religiöser Einstellung ist eine moderne Interpretation religiöser Schriften hilfreich, weil es ihnen dann besser gelingt, sexuelle und geschlechtliche Vielfalt in ihr Weltbild zu integrieren (vgl. ebd.). In den 1990er Jahren hat Annedore Prengel (1995) das Konzept einer Pädagogik der Vielfalt skizziert. Anfangs lediglich auf die Abschaffung der Benachteiligung von Frauen, Migrant_innen und Menschen mit Behinderung zielend, wurde es von ihr später auch auf andere Gruppen ausgeweitet. In einer neueren Publikation spricht Prengel daher von »Diversity education« (Prengel 2007). Jutta Hartmann prägte den Begriff der »Pädagogik vielfältiger Lebensweisen«, die die sexuelle und geschlechtliche Vielfalt deutlich stärker in den Blick nimmt als dies z.B. bei Prengel der Fall ist (vgl. Hartmann 2002). Welche Herangehensweise die erfolgversprechendste im Kampf gegen Diskriminierung und für mehr Akzeptanz ist, kann derzeit nicht beantwortet werden, weil keine empirischen Daten über die Effektivität der einzelnen Konzepte vorliegen. Plausibel erscheint jedoch, dass eine nachhaltige und umfassende Strategie sich unterschiedlichster Aspekte des Lebens bedienen sollte, auch um einer Reduzierung von LSB auf ihre Sexualität vorzubeugen. Gleichzeitig darf die Sorge vor einer Engführung der Betrachtungsweise nicht dazu führen, sexuelle Aspekte völlig auszuklammern – vor allem dann, wenn Jugendliche zu diesem Thema von sich aus Fragen formulieren, was erfahrungsgemäß häufig der Fall ist. Um mehr Nachhaltigkeit von Aufklärungsbemühungen herzustellen, ist ein weiterer Hinweis aus der Studie von Ulrich Klocke beachtenswert. LSBT*Lebensweisen in verschiedenen Jahrgängen und Fächern zu thematisieren, erhöht das Wissen der Schüler_innen und führt zu einer positiveren Einstellung (vgl. Klocke 2012: 89f). Für methodisch-didaktische Überlegungen bedeutet dies, dass Wiederholungen oder ein erneutes Aufgreifen durchaus sinnvoll sein können. In den unterschiedlichen Jahrgangsstufen ist es zudem einfacher, mögliche Aspekte des Themas zu behandeln, die Jugendliche in einem bestimmten Alter am meisten interessieren. Um einer ›Sexualisierung‹, also der einseitigen Wahrnehmung von LSB als ausschließlich sexuelle Wesen vor-

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zubeugen, wäre eine ausgewogene Behandlung von sexuellen und nicht sexuellen Aspekten ihrer Lebensrealität hilfreich. Hierzu könnte z.B. die rechtliche Situation in den unterschiedlichen Ländern der Erde, das Alltagsleben von Regenbogenfamilien, die Darstellung in den Medien, der Umgang mit sexueller und geschlechtlicher Vielfalt in unterschiedlichen Epochen der Geschichte, die Ähnlichkeiten und Besonderheiten von LSBTI* im Vergleich zu anderen diskriminierten Gruppen oder die Bedeutung von Vielfalt für die Evolution zählen. Die Beschäftigung mit diesen Themen könnte in den Sprachen, Sozialkunde, Geschichte, Biologie, Ethik/Religion oder einer Projektwoche erfolgen. Auf die Gefahr einer »Verantwortungsdiffusion« (ebd.: 95) hat Klocke in seiner Studie hingewiesen. Es gilt daher, zu verhindern, dass sich am Ende keiner zuständig fühlt, über sexuelle und geschlechtliche Vielfalt zu sprechen, weil es die Aufgabe aller ist und jede_r sich dabei auf die Kolleg_innen verlässt. Klocke empfiehlt daher, dass die Lehrpläne der Fächer explizite Vorgaben enthalten, in welcher Jahrgangsstufe welche Themen aufgegriffen werden sollen (vgl. ebd.). Die Debatte darüber, in welchem Kontext sexuelle und geschlechtliche Vielfalt am besten einzubeziehen ist, hat gerade erst begonnen. Den Ergebnissen seiner Untersuchung folgend plädiert Klocke für eine Verlagerung des Themas in die sozial- und gesellschaftswissenschaftlichen Fächer (vgl. ebd.: 95f.). Dem möchte ich grundsätzlich zustimmen, aber an einer Stelle widersprechen. Klocke hat mit seinem Vorschlag recht, denn wenn es allein Aufgabe der Biologie oder der Sexualpädagogik wäre, über sexuelle und geschlechtliche Vielfalt zu informieren, bestünde die Gefahr, dass sexuelle Fragestellungen im Vordergrund stehen und alle anderen Themen zu kurz kämen. LSBTI* könnten von den Jugendlichen hauptsächlich als sexuelle Wesen wahrgenommen werden. Dies würde die bestehenden Stereotype in der Bevölkerung verstärken. Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt jedoch ausschließlich in den Gesellschaftswissenschaften anzusiedeln, könnte wiederum zu einer Ausblendung sexueller Aspekte führen. Zudem ist es wenig zielführend, die Sexualität von LSBTI* in einer gesonderten Unterrichtseinheit zu behandeln. Am besten geschieht dies an den Stellen, an denen auch die Themen Geschlechtsentwicklung und Sexualität im Lehrplan verankert sind. Daher sollte vor allem die schulische Sexualpädagogik damit beauftragt werden, ihre bisherige Vorgehensweise daraufhin zu überprüfen, inwieweit das gesamte Spektrum der existierenden Geschlechter sowie des sexuellen Begehrens, aber auch die unterschiedlichen Sinnaspekte von Sexualität Berücksichtigung finden (zu den Sinnaspekten vgl. Sielert/ Valtl 2000: 172). Ein fächer- und jahrgangstufenübergreifender Ansatz für alle weiteren Aspekte des Themas sexuelle und geschlechtliche Vielfalt ist sinnvoll, denn nur so kann eine ganzheitliche Perspektive auf das Thema gewährleistet werden. Damit wären alle Lehrpersonen, z.B. auch im Bereich Mathematik, in der Pflicht, bei homophoben Beleidigungen pädagogisch zu intervenieren.

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Zudem könnten die oben genannten Aspekte sexueller und geschlechtlicher Vielfalt auch einer bestimmten Altersstufe und den unterschiedlichen Fächern besser zugeordnet werden. Allerdings fehlt bisher eine fachliche Debatte darüber, in welchem Alter welche Inhalte und Themen sexueller geschlechtlicher Vielfalt der kindlichen Entwicklung angemessen vermittelt werden können. Für den Bereich des Kindergartens hat die ›Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung‹ das Thema aufgegriffen. Kinder aus Regenbogenfamilien werden auch in Kitas immer sichtbarer. Daher fragen bereits Kinder unter sechs Jahren danach, warum es in manchen Familien einen Vater und eine Mutter, in anderen wiederum zwei Väter oder zwei Mütter gibt (vgl. Gerlach 2008). Während die Thematisierung von Familien- und Beziehungsformen im Bereich der unter Sechsjährigen im Vordergrund steht, erscheint mir die Behandlung der Sexualität von LSB dann sinnvoll zu sein, wenn auch heterosexueller Geschlechtsverkehr in den schulischen Richtlinien vorgesehen ist.15 Im Rahmen einer Kontextualisierung von LSBTI*-Themen im Bereich der Menschenrechte könnte es ebenfalls hilfreich sein, Querverbindungen, Überschneidungen und Vergleiche zu anderen diskriminierten Gruppen herzustellen, damit deutlich wird, dass in unserer Gesellschaft unterschiedliche Gruppen von Diskriminierung bedroht bzw. betroffen sind. Als eine von mehreren vulnerablen Gruppen bedürfen LSBTI* des gesellschaftlichen Schutzes ebenso wie Frauen, Migrant_innen oder Menschen mit einer Behinderung und Personen, die mehrere dieser Merkmale in sich vereinen. In diesem Zusammenhang sollte jedoch nicht davon ausgegangen werden, dass ein exemplarisches Lernen anhand eines Diskriminierungsmerkmals ausreicht. Die wenigsten Jugendlichen werden nach der Beschäftigung mit der Situation von Migrant_ innen in der Lage sein, eigenständig Analogien zur Situation von LSBTI* herzustellen und deswegen ein weniger diskriminierendes Verhalten an den Tag legen als zuvor. Hierzu ein Beispiel: Es erscheint unwahrscheinlich, dass die aktuell 1270 Schulen, die sich der Initiative »Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage« im gesamten Bundesgebiet angeschlossen haben,16 durch ihr Engagement gegen Rassismus automatisch sensibler im Umgang mit Sexismus, Homo- oder Transphobie sind. Jeder diskriminierten Gruppe muss Zeit gewidmet werden, damit die jeweiligen Besonderheiten besprochen werden können und deutlich wird, warum die Freiheit unserer demokratischen Gesellschaft verteidigt wird, wenn bestimmte Bevölkerungsgruppen vor Diskriminierung geschützt werden.

15  |  Zum Thema Intersexualität gibt es im Internet das Buch »Lila. Oder was ist Intersexualität«, das Kinder mit verständlichen Texten sowie Zeichnungen und Bildern aufklärt, vgl. www.db.intersexuelle-menschen.net/includes/pdf/Lila.pdf. 16 | Vgl. www.schule-ohne-rassismus.org/faq.html.

Schulische Bildungsarbeit und LSBTI*-Aufklärungsprojekte

Die oben genannten Überlegungen können jedoch erst dann ihre volle Wirkung entfalten, wenn die Lehrkräfte ihre eigene Haltung zum Umgang mit sexueller und geschlechtlicher Vielfalt in der Schule reflektieren und zu einem Minimalkonsens kommen. Klocke hat in seiner Studie herausgefunden, dass die Einstellung der Jugendlichen umso positiver ist, je deutlicher Lehrkräfte Position gegen Diskriminierung von bzw. Solidarität für LSBT* einnehmen (vgl. Klocke 2012: 92). Auch die Bekanntheit von LSB-Lehrkräften wirkt sich positiv auf die Einstellung der Schüler_innen aus (vgl. ebd.: 91). Da der Umgang mit Diskriminierung an einer Schule letztlich und maßgeblich von der Haltung der Lehrenden abhängt, wird klar, wie zentral eine Aus- und Fortbildung des pädagogischen Personals ist.

5. F a zit Die Aufklärungsarbeit entwickelt vor allem dadurch eine besondere Qualität und Intensität, weil Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans* oder Inter* authentisch über ihre Biografie sprechen. Die Jugendlichen in ihren Veranstaltungen reden mit und nicht nur über diejenigen, um die es eigentlich geht. Ein Leitbild gegen Diskriminierung sollte an möglichst vielen Schulen etabliert werden, um die Ausgrenzung unterschiedlicher Gruppen zu verhindern und deutlich zu machen, dass es in einer Demokratie wichtig ist, mit allen Teilen der Gesellschaft solidarisch zu sein. In diesem Sinne trägt ein solcher Kodex auch zur Demokratieerziehung bei. Ein Nachteil der LSBTI*-Aufklärungsarbeit ist, dass es sich in der Regel um eine einmalige Veranstaltung handelt, danach auftretende Fragestellungen der Jugendlichen folglich oft nicht mehr aufgegriffen werden. Um das bestehende Interesse zu nutzen, ist es sinnvoll, dass die Lehrkräfte den Jugendlichen im Anschluss an den Besuch Raum geben, das Thema anhand ihrer Fragen zu vertiefen. Dies kann am nächsten Tag oder aber in der folgenden Woche geschehen. Das Thema der vielfältigen Lebensweisen sollte zudem in unterschiedlichen Fächern und Jahrgangsstufen aufgegriffen werden, um einen nachhaltigeren Effekt zu gewährleisten. Dies könnte nach dem gleichen Prinzip geschehen, wie es bereits in der Sexualerziehung an Schulen etabliert ist – nämlich fächer- und jahrgangsstufenübergreifend. Wichtig ist dabei, die unterschiedlichen Themen und Aspekte sexueller und geschlechtlicher Vielfalt als Inhalte in die Lehrpläne der einzelnen Fächer einzuschreiben. Ansonsten besteht die Gefahr, dass diese vergessen oder weggelassen werden. Die Behandlung sexueller und geschlechtlicher Vielfalt kann durchaus auch als ein Thema unter mehreren im Rahmen eines übergeordneten Kontextes erfolgen, z.B. Antidiskriminierung oder Menschenrechte. Eine interdisziplinäre Betrachtung des Themas beugt zudem einer Verfestigung von Klischees über LSBTI* vor. Zen-

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trales Element einer nachhaltigen Strategie scheint jedoch die Haltung von Lehrkräften und Schulleitung in Bezug auf sexuelle und geschlechtliche Vielfalt zu sein, da sie durch ihren Umgang für Kolleg_innen und Jugendliche eine Vorbildfunktion einnehmen. Daher sollte es ein vorrangiges Ziel sein, ein offeneres Klima an Schulen für LSBTI*-Lehrkräfte zu schaffen.

L iter atur Anglowski, Dirk (1997): Evaluation eines Lambda-Aufklärungsprojektes unter einstellungstheoretischer Perspektive. Diplomarbeit, Gießen. Ganguly, Martin (2003): Ganz normal anders – lesbisch, schwul, bi. Lebenskundesonderheft zur Integration gleichgeschlechtlicher Lebensweisen (2. Aufl.), Berlin: Humanistischer Verband Deutschlands, Landesverband Berlin. Gerlach, Stephanie (2008): »Sexuelle Orientierung – bedeutsam für kleine Kinder?«, in: Petra Wagner (Hg.), Handbuch Kinderwelten. Vielfalt als Chance – Grundlagen einer vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung, Freiburg/Basel/Wien: Herder, S. 171-183. Hartmann, Jutta (2002): vielfältige Lebensweisen. Dynamisierungen in der Triade Geschlecht – Sexualität – Lebensform. Kritisch-dekonstruktive Perspektiven für die Pädagogik, Opladen: Leske + Budrich. Klocke, Ulrich (2012): Akzeptanz sexueller Vielfalt an Berliner Schulen. Eine Befragung zu Verhalten, Einstellungen und Wissen zu LSBT und deren Einflussvariablen, www.psychologie.hu-berlin.de/prof/org/download/klocke2012_1, zuletzt abgerufen am 20.02.2014. Klocke, Ulrich/Salden, Franziska (2013): Schulaufklärung zu sexueller Vielfalt, Poster auf dem 1. LSBTI*-Wissenschaftskongress der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld vom 28.-30.11. 2013 in Berlin. Koch, Friedrich (2000): Sexualität, Erziehung und Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Peter Lang. Kugler, Thomas/Lohrenscheidt, Claudia (2004): »Vielfalt bereichert. Diversity in der pädagogischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen«, in: Jutta Hartmann (Hg.), Grenzverwischungen. Vielfältige Lebensweisen im Gender-, Sexualitäts- und Generationendiskurs, Innsbruck: Studia Verlag, S. 153-166. Plöderl, Martin (2006): »Suizidalität und psychische Gesundheit von homound bisexuellen Männern und Frauen – Eine metaanalytische Zusammenfassung internationaler Zufallsstichproben«, in: Verhaltenstherapeutische Psychosoziale Praxis 117, S. 4-10.

Schulische Bildungsarbeit und LSBTI*-Aufklärungsprojekte

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Über die Autor_innen

Dr. Zülfukar Çetin promovierte am Institut für Soziologie der Freien Universität in Berlin. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören u.a. Queer Politik und Theorie, Heteronormativität, Intersektionalität, Diskriminierung, Antidiskriminierung, Rassismus, Antirassismus sowie kritische Migrationsforschung. Derzeit lehrt er an der Alice Salomon Hochschule und der Evangelischen Hochschule in Berlin. Seit Juli 2012 ist er Fachbeiratsmitglied der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld. Adrian de Silva studierte Soziologie, Politikwissenschaft und Anglistik an den Universitäten Münster und York (Kanada). Seine Lehr- und Forschungsschwerpunkte sind Queer- und Transtheorie, Staatstheorie des 20. Jahrhunderts, Konzepte von Trans* in Sexualmedizin, Recht und Politik in der Bundesrepublik Deutschland. Er promoviert in den Gender Studies an der Humboldt-Universität zu Berlin zu Konstruktionen von Trans(-sexualität) im Vorfeld und während des Reform- und legislativen Prozesses zum Transsexuellengesetz. Prof. Dr. Jutta Hartmann ist Professorin für Allgemeine Pädagogik und Soziale Arbeit an der Alice Salomon Hochschule Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Bildungstheorie und Kritik, Gender und Queer Studies, Diskurstheorie und -analyse, Sexualpädagogik und Pädagogik vielfältiger Lebensweisen. Dr. Rainer Herrn ist seit 2008 Mitarbeiter am Institut für Geschichte der Medizin der Charité in der DFG-Forscher_innengruppe »Kulturen des Wahnsinns«. Seit 1991 arbeitet er an der Forschungsstelle zur Geschichte der Sexualwissenschaft der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft (Berlin). Seine Forschungsinteressen sind die Geschichte der Psychiatrie und Sexualwissenschaft (1850-1930) mit den Themen Etablierung, Funktionen und Praktiken beider Disziplinen als Deutungs- und Umgangsweisen psychischer, geschlechtlicher und sexueller Alterität in der urbanen Moderne.

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Forschung im Queer format

Dr. Ulrike Klöppel ist wissenschaftliche Mitarbeiterin (Postdoc) im Graduiertenkolleg »Geschlecht als Wissenskategorie« der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie arbeitet u.a. zur Geschichte von Inter- und Transsexualität und ist im Beirat der Internationalen Vereinigung Intergeschlechtlicher Menschen (Organisation Intersex International, Germany) aktiv. Dr. Klaus Mueller arbeitet als internationaler Consultant für Museen, NGOs und kulturelle Stiftungen und u.a. als europäischer Repräsentant für das United States Holocaust Memorial Museum, Washington DC. Mit dem Salzburg Global Seminar gründete er 2013 das Global LGBT Forum, das die internationale Auseinandersetzung über LGBT-Menschenrechte reflektiert und als globales Netzwerk deren Durchsetzung unterstützt. Er ist Mitglied des Fachbeirats der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld. Prof. Dr. Konstanze Plett ist Professorin an der Universität Bremen. Die Volljuristin hat in Marburg, Tübingen, Hamburg und Madison (Wisconsin, USA) studiert und darüber hinaus eine journalistische Ausbildung. Seit 20 Jahren befasst sie sich hauptsächlich mit Fragen zu Recht und Geschlecht. Dr. Kirsten Plötz ist freie Historikerin. Sie hat Geschichte und Politik in Hannover studiert und 2005 über alleinstehende Frauen in der frühen BRD promoviert. Sie war 2008 Kuratorin des weiblichen Teils der Ausstellung »Vom anderen Ufer« und betreibt verschiedene Forschungen über lesbisches Leben. Prof. Dr. Ralph J. Poole ist Professor für Amerikanistische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Universität Salzburg. Zuvor unterrichtete er als Associate Professor of English an der Fatih University in Istanbul, als Privatdozent an der Universität München und als Visiting Scholar am Center for Advanced Studies in Theater Arts der City University in New York. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich des Films, Fernsehens und Theaters, der Gender/Queer Studies, der Interkulturalität und Populärkultur. Andreas Pretzel hat Kultur- und Kunstwissenschaften, Germanistik, Literaturund Kulturgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin studiert und ist seit 2012 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Forschungsstelle Archiv für Sexualwissenschaft am Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Geschichte der Verfolgung und Emanzipation Homosexueller sowie der Geschichte der Sexualforschung.

Über die Autor_innen

Ilka Quirling ist seit zwölf Jahren selbstständige Rechtsanwältin in Hamburg. Sie ist Fachanwältin für Strafrecht, ihre Schwerpunkte sind Asylrecht für Transfrauen aus lateinamerikanischen Ländern sowie Strafrecht und Aufenthaltsrecht. Kim Emma Ritter ist Soziologin und promoviert im Rahmen des von der DFG geförderten Projektes »Die soziale Ordnung des Sexuellen« am Institut für Soziologie der Technischen Universität Darmstadt. Sie ist darüber hinaus in der gewerkschaftlichen Jugendbildungsarbeit tätig und arbeitet im Team des »Rat&Tat Bremen« ehrenamtlich in der Konzeption und Durchführung von Seminaren zur Aufklärung über geschlechtliche und sexuelle Vielfalt mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Saideh Saadat-Lendle studierte Psychologie auf Diplom an der Freien Universität Berlin. Seit 1998 leitet sie den Antidiskriminierungs- und Antigewaltarbeitsbereich der Lesbenberatung Berlin – LesMigraS. Sie ist freiberufliche Dozentin und Diversity-Trainerin zu den Schwerpunktthemen: Rassismus, Interkulturelle Kompetenz, Gender, Sexuelle Lebensweisen, Sprache und Diskriminierungen, Mehrfachzugehörigkeit und Mehrfachdiskriminierungen sowie Empowerment. Dr. Uta Schirmer hat zur Hervorbringung alternativer geschlechtlicher Wirklichkeiten im Kontext von Drag Kinging promoviert und ist derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin an der AG Geschlechterforschung der Uni Göttingen. Dr. Claudia Schoppmann ist Historikerin und Publizistin. Sie hat Germanistik, Geschichte und Publizistik in Münster und West-Berlin studiert und 1990 in Neuerer Geschichte an der TU Berlin zur geschlechtsspezifischen Bekämpfung der Homosexualität im Dritten Reich promoviert. Sie war von 2000 bis 2003 als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin tätig; seit 2005 arbeitet sie an der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin, deren Dauerausstellung »Stille Helden« sie mit konzipiert und kuratiert hat. Dr. Gesa C. Teichert arbeitet seit April 2013 an der Professur Gender und Diversity an der Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst Hildesheim/ Holzminden/Göttingen. 2010 promovierte sie zum Thema »Mode. Macht. Männer. Kulturwissenschaftliche Überlegungen zur bürgerlichen Herrenmode im 19. Jahrhundert«.

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Forschung im Queer format

Prof. Dr. Stefan Timmermanns ist Erziehungswissenschaftler und war Mitarbeiter bei pro familia und im Bundesverband der Deutschen AIDS-Hilfe. Er ist Lehrbeauftragter an der Hochschule Fulda sowie Vorsitzender der Gesellschaft für Sexualpädagogik e.V. Seit dem 01.09.2013 vertritt er die Professur zum Forschungsgebiet »Diversität in der Sozialen Arbeit insbesondere Sexualpädagogik/Sexuelle Bildung und Diversity Management« an der FH Frankfurt a.M. Prof. Dr. Elisabeth Tuider ist Professorin für Soziologie der Diversität unter besonderer Berücksichtigung der Dimension Gender an der Universität Kassel. Ihre Forschungsschwerpunkte sind gender- und queer-theory, cultural- und postcolonial-theory, Diversity und Sexualpädagogik, Soziale Bewegungen, (Trans-) Migrationsforschung, qualitative Forschungsmethoden (insbes. Diskursanalyse und Biografieforschung), Lateinamerikaforschung (insbes. Mexiko). Prof. Dr. Heinz-Jürgen Voß hat Diplom-Biologie in Dresden und Leipzig studiert und 2010 zur gesellschaftlichen Herstellung biologischen Geschlechts promoviert. Seit Mai 2014 ist er Professor für Sexualwissenschaft und sexuelle Bildung an der Hochschule Merseburg. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Sexualwissenschaft (sexuelle Bildung, sexuelle Gewalt), biologisch-medizinische Geschlechtertheorien, Geschichte und Ethik der Medizin und Biologie, Queer-feministische und kapitalismuskritische Theorien. Raimund Wolfert studierte an den Universitäten Bonn, Oslo und Berlin Skandinavistik, Linguistik und Bibliothekswissenschaft. Er arbeitet als freier Dozent in der Erwachsenenbildung in Berlin. Er ist Mitglied der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft (Berlin).

Queer Studies Wenzel Bilger Der postethnische Homosexuelle Zur Identität »schwuler Deutschtürken« 2012, 294 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2108-2

Zülfukar Cetin Homophobie und Islamophobie Intersektionale Diskriminierungen am Beispiel binationaler schwuler Paare in Berlin 2012, 422 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1986-7

Martin J. Gössl Schöne, queere Zeiten? Eine praxisbezogene Perspektive auf die Gender und Queer Studies August 2014, 256 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2831-9

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

2014-07-29 13-54-21 --- Projekt: transcript.anzeigen / Dokument: FAX ID 03c6373051094294|(S.

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2) ANZ2702.p 373051094302

Queer Studies Christine M. Klapeer Perverse Bürgerinnen Staatsbürgerschaft und lesbische Existenz April 2014, 344 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2000-9

Nina Schuster Andere Räume Soziale Praktiken der Raumproduktion von Drag Kings und Transgender 2010, 328 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1545-6

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

2014-07-29 13-54-21 --- Projekt: transcript.anzeigen / Dokument: FAX ID 03c6373051094294|(S.

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2) ANZ2702.p 373051094302