Formale Strukturen der Subjektivität: Egologische Grundlagen des Systems der Transzendentalphilosophie bei Kant und Husserl 9783787323739, 9783787316151

Philosophie als wissenschaftliches System bedarf eines obersten Einheitspunktes, der all ihre Systemteile methodisch zus

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German Pages 447 [457] Year 2002

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Formale Strukturen der Subjektivität: Egologische Grundlagen des Systems der Transzendentalphilosophie bei Kant und Husserl
 9783787323739, 9783787316151

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Rebecca Paimann Formale Strukturen der Subjektivität Egologische Grundlagen des Systems der Transzendentalphilosophie bei Kant und Husserl

Meiner · BoD

SCHRIFTEN ZUR TR AN SZENDENTALPHILOSOPHIE Band 13

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

REBECCA PAIMANN

Formale Strukturen der Subjektivität Egologische Grundlagen des Systems der Transzendentalphilosophie bei Kant und Husserl

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

Im Digitaldruck »on demand« hergestelltes, inhaltlich mit der ursprünglichen Ausgabe identisches Exemplar. Wir bitten um Verständnis für ­u nvermeidliche Abweichungen in der Ausstattung, die der Einzelfertigung geschuldet sind. Weitere Informationen unter: www.meiner.de/bod

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliogra­phi­­sche Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-1615-1 ISBN eBook: 978-3-7873-2373-9

© Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 2002. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§  53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Gesamtherstellung: BoD, Norderstedt. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruck­papier, hergestellt aus 100 % chlor­frei gebleich­tem Zellstoff. Printed in Germany. www.meiner.de

INH ALT

Vorbemerkung

................ . .........................................................

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

IX

1

ERSTER TEIL:

Egologische Grundstrukturen in der Transzendentalphilosophie Kants

9

I. Die drei "Wege in eine transzendentale Philosophie bei Kant

...

................

A. Der 'natürlich-logische' Weg als erster Weg in die transzendentale Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 . Der gesunde Menschenverstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die wissenschaftliche Einstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 . Die formale Logik und der Übergang zur transzendentalen Logik ..

.

9 9 10 15 41

B. Der 'psychologiekritische' Weg als zweiter Weg in die

transzendentale Philosophie

..........................................................

49

1 . Die empirische Psychologie und ihr Verhältnis zur Philosophie . . . . .

50

2. Die rationale Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der negative Nutzen der rationalen Psychologie und der Übergang zur Transzendentalphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Exkurs: Auseinandersetzung mit einigen Einwänden gegen Kants theoretische Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

54

...

61 67

C. Der 'transzendentale' Weg als dritter Weg in die transzendentale Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 1 . Das System der Transzendentalphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 2. Die Form des Systems der Transzendentalphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . 8 0 3 . Die Ergebnisse des Systems der Transzendentalphilosophie . . . . . . . . . 1 00 .... .....

..

.....

..

II. Die drei Formen des Ich bei Kant A.

...

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1 08

Das 'natürliche' Ich . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 08 1 . Die Charakteristik des 'natürlichen' Ich . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 08 ...

.......

VI

Inhalt

20 Der Übergang zu den Funktionen des 'natürlichen' Ich: die Tafel des Nichts 3 Die Funktionen des 'natürlichen' Ich

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117 123

B Das 'psychologische' Ich 10 Die Charakteristik des 'psychologischen' Ich a) Die Paralogismen nach der Version von 178 1 b) Die Paralogismen nach der Version von 1787 2 Der Übergang zu den Funktionen des 'psychologischen' Ich: die Tafel des Nichts 30 Die Funktionen des 'psychologischen' Ich

128 129 132 14 1

Co Das 'transzendentale' Ich

154

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10 Die Charakteristik des 'transzendentalen' Ich 20 Der Übergang zu den Funktionen des 'transzendentalen' Ich: die Tafel des Nichts 30 Die Funktionen des 'transzendentalen' Ich

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III . Die drei Stufen

des 'transzendentalen Ego' bei Kant

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146 149 156 174 176 18 1

A Das 'apprehendierende Ego' 1. Die Charakteristik des 'apprehendierenden Ego' 2 Der Übergang zu den Funktionen des 'apprehendierenden Ego' : der Schematismus der reinen Verstandesbegriffe 3 Die Funktionen des 'apprehendierenden Ego'

18 1 185

B Das 'reproduktive Ego' 10 Die Charakteristik des 'reproduktiven Ego' 2 Der Übergang zu den Funktionen des 'reproduktiven Ego': der oberste analytische und synthetische Grundsatz 3 Die Funktionen des 'reproduktiven Ego'

192 192

Co Das 'rekognitive Ego' 1o Die Charakteristik des 'rekognitiven Ego' 2 Der Übergang zu den Funktionen des 'rekognitiven Ego': die Amphibolie der Reflexionsbegriffe 3 Die Funktionen des 'rekognitiven Ego' 40 Schlußbemerkung

200 200

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186 191

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195 198

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206 208 2 10

Inhalt

VII

ZWEITER TEIL: Egologische Grundstrukturen in der Phänomenologie Husserls und ihr Verhältnis zur Kamischen Subjektivitätsphilosophie

215

I . Die drei 'Wege in eine transzendentale Philosophie bei Husserl . .............. 227 A. Der Weg über die Lebenswelt zu einer mundaneo Phänomenologie

227

1. Die Lebenswelt und die Wissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 2. Die Wissenschaften und die Philosophie .. ... ... ....... . . . . . . . . . . . . . . . ....... 233 3 . Vergleich zwischen Kant und Husserl beim ersten Weg in die Transzendentalphilosophie ............ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 B. Der Weg über die Psychologismuskritik zu einer universalen phänomenologischen Psychologie ...... . . . . . . . . . . . . . . . . . . .......... .. . . . . . . . . . . . . . . . . 260 1 . Darstellung des zweiten Weges in die transzendentale Phänomenologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 2. Die Problematik des psychologismuskritischen Weges in die Phänomenologie ....... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ... . . . . . . . . . . . . . . . . 274 3. Vergleich zwischen Kant und Husserl beim zweiten Weg in die Transzendentalphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . 282 C. Der Cartesianische Weg zu einer transzendentalen Phänomenologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Darstellung des dritten Weges in die transzendentale Phänomenologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Exkurs: Anmerkungen zum Verhältnis der Husserlschen zur Cartesischen Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ....... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ... .. . . 3. Vergleich zwischen Kant und Husserl beim dritten Weg in die Transzendentalphilosophie ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . ..............

291 291 297 302

II. Die drei Formen des Ich bei Husserl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 15 A. Das lebensweltliche Ich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeine Darstellung des lebensweltlichen Ich . . . . . . . . . . . . . . . . ..... .... 2 . Die Einzelaspekte des lebensweltlichen Ich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ............. 3. Vergleich zwischen Kant und Husserl bei der ersten Form des Ich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3 15 315 317 329

B. Das phänomenologische Ich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 1. Darstellung des phänomenologischen Ich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 2. Die Problematik des phänomenologischen Ich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338

VIII

Inhalt

3. Vergleich zwischen Kant und Husserl bei der zweiten Form des Ich

........................................................................................

C. Das transzendentale Ich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 . Darstellung des transzendentalen Ich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 . Die Problematik des transzendentalen Ich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Frage nach der Notwendigkeit der Wendung zum transzendentalen Ich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Frage nach der Intersubjektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . :. . 3. Vergleich zwischen Kant und Husserl bei der dritten Form des Ich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III . Die drei Formen

des 'transzendentalen Ego' bei Husserl . .

. . . .

.. . ..... ....... .

.

. .

.

347 351 351 352 352 358 372 376

A. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Die drei Formen des 'transzendentalen Ego' mit ihren Funktionen ... 1 . Das 'Wir-Ich' der Lebenswelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das 'psychologische Ich' ....... ... .... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das 'absolute Ur-Ich' . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

376 38 1 38 1 384 389

C. Vergleich zwischen Kant und Husserl beim 'transzendentalen Ego'

400

DRITTER TEIL: Schluß

...

409

I. Abschließender allgemeiner Vergleich zwischen Kant und Husserl .. .... 409 ..

..

II. Die allgemeine Form der egologischen Transzendentalphilosophie bei Kant und Husserl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .... .. .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 4 1 8 ..

...............

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423

V O R BEME RKU N G

Die vorliegende Untersuchung stellt die gekürzte und leicht überarbeitete Fas­ sung meiner Dissertation dar, mit der ich im Dezember 2000 an der Ruhr­ Universität Bochum promoviert wurde. All denen, die zu ihrem Entstehen und ihrer Fertigstellung in der jetzigen Form beigetragen haben, möchte ich an dieser Stelle herzlich danken - insbesondere Herrn Prof. Dr. Walter Jaeschke und Herrn Prof. Dr. Kurt Rainer Meist für ihre Förderung, ihre Loyalität und das mir entgegengebrachte Vertrauen sowie man­ ches, auch in praktischer Hinsicht, hilfreiche Gespräch. Danken möchte ich ebenfalls der Studienstiftung des deutschen Volkes für die Gewährung eines Promotionsstipendiums sowie der Prof. Dr. Fritz-Peter Hager­ Stiftung (Zürich) für ihre großzügige Druckbeihilfe. Großer Dank gebührt auch meinen Eltern für ihre jahrelange mannigfaltige Unterstützung. Mein letzter und ganz besonderer Dank gilt Herrn Dr. Dirk Cürsgen für seine kritische und ermutigende Anteilnahme beim Entstehen dieser Arbeit - und für manch anderes.

E I N LE I T U N G

Die Thematik der Subjektivität stellt in der Philosophie einen immer wieder auftretenden und schon aufgrund seiner historischen Relevanz nicht zu übersehenden Problemkreis dar, der trotz mannigfacher kritischer Einwände bis heute ungebrochene Aktualität besitzt1 und - betrachtet man die Diskussion der letzten Jahre2 - sogar zunehmende Bedeutung aufweisen kann.3 Dabei bedürfen die komplexen Zusammenhänge zwischen Subjekt und Welt, Subjekt und Sub­ jekt sowie Subjekt und Objekt in mancher Hinsicht der fortführenden Untersu­ chung. Um eine derartige Aufklärung befördern zu können, scheint es geraten, zunächst einen Blick zurück in die Geschichte der Philosophie zu werfen, weil dadurch zentrale Aspekte der Subjektivitätslehre generell, aber auch Modi­ fikationen innerhalb ihrer möglichen Ausarbeitung besonders klar hervortreten können. In der vorliegenden Arbeit ist jedoch keine Auseinandersetzung mit allen Theorien der Subjektivität von der Antike bis zur Moderne geplant - zum einen existieren Untersuchungen dieser Art bereits, zum anderen gingen die für eine ausgewogene Darstellung erforderlichen Detailanalysen über die räumlichen Möglichkeiten dieser Arbeit hinaus. Statt dessen sollen im Zentrum dieser Studie zwei einander gegenüberzustellende Subjektkonzeptionen von grundlegender Bedeutung stehen, die beide sowohl auf dem Fundament eines transzendentalen Denkens gründen als auch aufgrund des theoretischen Umfeldes, in dem sie ent­ standen sind, weitreichende Folgen hatten, ja die gewissermaßen als Rahmen-

I Vgl. M. Frank (Hrsg.) . Analytische Theorien des Selbstbewußtseins. Frankfurt am Main, 1 994: S. 8. - Einen allgemeinen Überblick über die Entwicklung des Gedankens des Selbstbe­ wußtseins gibt W. Jaeschke. "Selbstbewußtsein". In: K. Gründer (Hrsg.) . Historisches Wörter­ buch der Philosophie. Band Se-Sp. Band 9. Basel, 1 996: Sp. 352-37 1 . 2 Vgl. K. Gloy. Bewußtseinstheorien. Zur Problematik und Problemgeschichte des Bewußtseins und Selbstbewußtseins. Freiburg, München, 1 998: S. 15-2 1 . - R. Bubner. "Wie wichtig ist Subjektivität? Über einige Selbstverständlichkeiten und mögliche Mißverständnisse der Gegenwart". In: W. Hogrebe (Hrsg.). Subjektivität. München, 1 998: S. 235-246. 3 Hierbei ist allerdings eine Tendenz festzustellen, die den Schwerpunkt vom formalen, strukturellen Ich auf das empirische - soziale, politische, historische - Subjekt verlagert. [Vgl. K. Gloy. "Der Begriff des Selbstbewußtseins bei Kant". In: Deutsche Zeitschrift for Philoso­ phie. Monatszeitschrift der internationalen philosophischen Forschung. 39. Jahrgang, 3, 1 99 1 : . s. 255.]

2

Einleitung

punkte der Transzendentalphilosophie überhaupt gelten können: nämlich die Ich-Konzeption bei Kam und die Ego-Strukrur bei Husserl. Wie alle anderen Subjektivitätstheorien weisen auch diejenigen Kants und Husserls bekannte Schwierigkeiten auf. Da auf generelle Einwände gegen die Möglichkeit derartiger Theorien im allgemeinen und gegen bestimmte Aspekte derselben im Verlauf der Auseinandersetzung mit der Vernunftkritik Kants und der Phänomenologie Husserls nicht unabhängig vom dabei je vorliegenden Zu­ sammenhang eingegangen werden kann, sollen die wichtigsten Einwände an dieser Stelle kurz angesprochen werden, wobei sich zeigen wird, daß sie auf Kam und Husserl entweder nicht zutreffen oder deren Konzeptionen nicht generell in Frage stellen. Aus den vorliegenden Einwänden seien drei herausgegriffen, die in besonders engem Konnex mit der egologischen Thematik bei Husserl und Kam stehen, nämlich grundsätzliche Einwände gegen die Annahme eines nicht­ empirischen, transzendentalen Ich, sprachanalytische Einwürfe und Hinweise auf eine scheinbar unüberwindliche zirkelhafte und deshalb aporetische Struktur. Ein besonderer Schwerpunkt soll auf der Behandlung des letztgenannten Einwands liegen.4 Zunächst zum ersten Einwand, der generell davon ausgeht, daß zwar ein empirisches, aber kein transzendentales Ich angenommen werden kann: Interes­ santerweise vertrat Husserl selbst diese Kritik in seinem Anfangswerk der Phäno­ menologie, den Logischen Untersuchungen, die zwar auch der Behandlung von Bewußtseinsphänomenen gewidmet sind, aber ein reines, apriorisches und tran­ szendentales Ich als Prinzip ablehnen, weil ein solches Ich nicht denkbar sei. (Schon hieran zeigt sich eine Differenz zum kritischen Kant, der umgekehrt da­ von ausging, daß ein derartiges transzendentales Ich sich gerade dadurch vor al­ len anderen Denkstrukruren auszeichnet, daß es sich selbst denken - wenn auch nicht real erkennen - kann.) Noch in der ersten Auflage der Logischen Untersu­ chungen besteht Husserl darauf, daß ein reines Ich nicht zu finden und wahrzu­ nehmen sei - was er schon in der zweiten Auflage dieses Werks revidiert.5 Hus­ serl muß diesen Einwand deshalb zurücknehmen, weil er nur dann überhaupt vorgebracht werden kann, wenn die Forderung nach wirklicher, materieller 4 Daß es darüber hinaus weitere Einwände gegen die Subjektivitätsstruktur gibt, führt be­ sonders differenziert K. Düsing in Selbstbewußtseinsmodelle. Moderne Kritiken und syste­ matische Entwürfe zur konkreten Subjektivität. München, 1 997: S. 27-120 aus, auf dessen konzentrierte Analysen im folgenden immer wieder zurückgegriffen werden soll. - Vgl. auch: K. Düsing. Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik. Systematische und entwick­ lungsgeschichtliche Untersuchungen zum Prinzip des Idealismus und zur Dialektik. Reihe: Hegel-Studien, hrsg. von E Nicolin und 0. Pöggeler, Beiheft 1 5, Bonn, 1 976: S. 1 6- 1 8 . 5 Vgl. Husserl. Logische Untersuchungen I/2, S. 372-376. (Zur Ziderweise der Hus­ serlschen Schriften vgl. die Angaben im Literaturverzeichnis dieser Arbeit.) -

Einleitung

3

Erfahrbarkeit dieses Ich aufgestellt wird. Daß dieser Anspruch einem Widersinn verfällt, indem er nicht zwischen Denken und Sein zu differenzieren vermag, hat jedoch schon Kant im Paralogismuskapitel der Kritik der reinen Vernunft ab­ schließend nachgewiesen. Da auf diese Weise die Grundvoraussetzung seiner Kritik auch für Husserl selbst immer mehr der Plausibilität entbehrte, nahm er seit den Ideen I ausdrücklich (und schon vorher schwankend) ein reines, tran­ szendentales Ich an, dessen Vergleich mit dem Kamischen 'Ich denke' der reinen Apperzeption im Zentrum dieser Arbeit stehen wird. - Der Einwand der Un­ haltbarkeit der Annahme eines transzendentalen neben dem empirischen Ich hat sich durch diese knappe Skizzierung als nicht zwingend erwiesen; nicht zuletzt, da vom empirischen Ich auf das transzendentale grundsätzlich keine Schlüsse möglich sind (weder positiv noch negativ) .6 Wie genau empirisches und reines Ich gemeinsam zu denken und zu verbinden sind, wird sich an den nach­ folgenden Untersuchungen zu Kant und Husserl zeigen. Der zweite im vorliegenden Zusammenhang bedeutsame Einwand gegen die Subjektivitätstheorie wird von der sprachanalytischen Richtung der Philosophie vertreten, die schon eine empirische Ich-Entität ablehnt, ein transzendentales Ich aber als völlig unhaltbar ansieht, da sie davon ausgeht, daß die Rede vom eigenen 'ich' nicht auf ein selbständig existierendes, konkretes 'Ich' verweist.? Da in­ nerhalb dieser Arbeit eine ausführlichere Beschäftigung mit dem sprachanalyti­ schen Einwand geplant ist, mögen an dieser Stelle einige Anmerkungen dazu ge­ nügen, die sich - aufgrund der inhaltlichen Bezugspunkte zu Kam - an die Kritik Strawsons8 an der synthetischen ursprünglichen Einheit der Apperzeption, wie sie in der Kritik der reinen Vernunft ausgearbeitet wird, anschließen. So behauptet Strawson, es sei zumindest verwunderlich, wie eine Bezugnahme auf die kombinierenden oder synthetischen Aktivitäten des Verstandes die Be­ dingungen aufklären solle, unter denen Selbstbewußtsein möglich sei; denn das von Kant angesetzte transzendentale Selbstbewußtsein sei letzdich - schon wegen der Rede von 'meinen' Vorstellungen - vom empirischen Selbstbewußtsein nicht zu unterscheiden. Deshalb schließt Strawson, Kam mache in der Deduktion nicht wirklich klar, wie die Lehre von der Aktivität des Verstandes die Möglichkeit erkläre, dem einen Selbst Erfahrungen zuzuschreiben und damit die

6 Hierauf geht auch K. Düsing in Selbstbewußtseinsmodelle, a.a.O., S. 27-39 ein. 7 Vgl. ebd., S. 75-76. s Vgl. dazu: K. Ameriks. "Kant's Transeendental Deduction as a regressive Argument". In:

Kant-Studien 69, 1 978: S. 277-285. - K. Hartmann. "Transzendentale Argumentation. Eine Abwägung der verschiedenen Ansätze". In: E. Schaper und W. Vossenkuhl (Hrsg.) . Bedin­ gungen der Möglichkeit: 'transcendental arguments' und transzendentales Denken. Stuttgart, 1 984: s. 30-36. .

4

Einleitung

Einheit verschiedener Vorstellungen in einem einzelnen Bewußtsein zu erklären.9 Kam betreibe damit zwar keine empirische Psychologie mehr - obwohl er sich auch nicht gänzlich von ihr lösen könne -, sondern er betreibe das "imaginäre Fach der transzendentalen Psychologie"10 als einen Teil seines Gesamtmodells. Hierbei verkennt Strawson den besonderen reflexiven, funktionalen und forma­ len Aspekt der transzendentalen Apperzeption und ihrer synthetisierenden Lei­ stungen11, so daß ihm der Zugang zum transzendentalen Bereich verschlossen bleiben muß, der gerade vom material-empirischen Bereich zu unterscheiden ist. Noch problematischer ist seine Behauptung, Kam gehe einer nur von ihm imaginierten transzendentalen Psychologie nach, die es eigentlich gar nicht geben könne. Hieran erweist sich, daß der Sinn der Kamischen Paralogismusunter­ suchungen mit der sich aus ihnen ergebenden Unterscheidung von empirischer Psychologie, rationaler Psychologie und Philosophie nicht verarbeitet wurde; denn sonst könnte weder behauptet werden, Kam betreibe eine eigenständige Art der Psychologie12, noch, er imaginiere ein Feld der Philosophie als transzen­ dentales. Es gelingt Strawson also einerseits nicht, die Trennung zwischen empirischem und transzendentalem Bereich wirklich zu erfassen - ein Problem, das bei anderen Sprachanalytikern besonders an der Verwechslung von 'ich' und 'Ich' zum Ausdruck kommt; andererseits vermengt er Psychologie und Philoso­ phie, indem das Selbstbewußtsein als Wissen um die eigenen Zustände nicht vom transzendentalen Selbstbewußtsein als Bedingung der Möglichkeit von Er­ kenntnis unterschieden wird. Auf diese Weise verfehlt Strawson den Kamischen Ansatz, wodurch auch seine Kritik an Kant obsolet wird. Diese knappen Überlegungen zu Strawsons sprachanalytischen Einwänden gegen Kant und damit gegen die Möglichkeit einer Subjektivitätstheorie generell mögen genügen, um die allgemeine Tendenz der Sprachanalytik zu verdeutli­ chen, die in einer Verkennung der Differenz von Empirischem und Transzen­ dentalem auf der einen und einer Vermengung von Psychologie und Philosophie auf der anderen Seite besteht. Auch der sprachanalytischen Kritik kann deshalb eine Aufhebung der Subjektivitätstheorie nicht gelingen13, ja es ist fraglich, ob sie 9 Vgl. P. F. Strawson. Die Grenzen des Sinns. Ein Kommentar zu Kants 'Kritik der reinen Vernunft'. Königstein/Ts. , 1 98 1 : S. 8 1 . 1 0 Vgl. ebd., S . 82. I I Darauf, daß die Kamische Theorie in einer rein neurophysiologischen Ausdrucksweise ohne den Terminus 'Ich denke' nicht formulierbar ist, macht P. Rohs in " Über Sinn und Sinn­ losigkeit von Kants Theorie der Subjektivität". In: Neue Hefte for Philosophie 27/28, 1 988: S. 60 gegen Strawson und Tugendhat aufmerksam. 12 Vgl. W. Röd. "Zur psychologischen Deutung der Kamischen Erfahrungstheorie". In: H. Oberer und G. Sed (Hrsg.) . Kant. Analysen - Probleme - Kritik. Würzburg, 1 988: S. 9-26. 1 3 Vgl. R-P. Horstmann. "Gibt es ein philosophisches Problem des Sdbstbewußtseins?". In: K. Cramer, H. F. Fulda, R-P. Horstmann und U. Pothast (Hrsg.). Theorie der Sub-

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diese in ihrer Kopplung an die Transzendentalphilosophie überhaupt zu treffen vermag. 14 Der dritte Einwand gegen die Selbstbewußtseinsphilosophie, der angespro­ chen werden soll, ist der sogenannte Zirkel- oder Regreßeinwand15, der inner­ halb der Philosophiegeschichte seit Platin eine bedeutende Rolle spielt. Er be­ steht bekanntermaßen darin, daß gegen die Möglichkeit einer jeden Subjektivi­ tätstheorie vorgebracht wird, jedes Selbstbewußtsein bedürfe, um bestimmt zu werden, schon des Selbstbewußtseins als Erkenntnisvoraussetzung. 16 Dieses Ar­ gument erweist sich allerdings nur dann als schwerwiegend, wenn weder der positive Aspekt eines derartigen Zirkels bzw. einer solchen Kreisbewegung im Selbstverständnis beachtet noch der formal-funktionalen Bestimmung des tran­ szendentalen Ich in den hauptsächlich betroffenen transzendental-idealistischen Konzeptionen Rechnung getragen wird. Denn der Zirkel im Selbstbewußtsein gewinnt dann einen positiven, unverzichtbaren Sinn, wenn er als zur Selbstbe­ gründung dieser obersten Erkenntnisstruktur notwendig gehörend erkannt wird - was im Schlußteil dieser Arbeit bei der Behandlung des 'transzendentalen Ego' deutlich werden wird. Und er gewinnt dann einen wirklich transzendentalen Sinn, wenn er als notwendiger Aspekt der formalen Struktur des Selbstbewußt­ seins verstanden wird, die eine Selbstauslegung desselben auf einer nicht weiter hintergehbaren Ebene dadurch ermöglicht, daß in die etwa von Kant aufgewie­ sene oberste Denkstruktur des 'Ich denke X' an Stelle des X wiederum das Ich eingesetzt wird. Nur dann, wenn angenommen wird, das gedachte Ich sei mit dem denkenden vollständig identisch, so daß eine Trennung zwischen Subjekt und Objekt nicht mehr durchgeführt werden kann, wird dieses 'Ich denke mich' oder 'Ich Ich' zum Problem. Dies ist allerdings nicht der Fall, weil im gedach­ ten Ich bereits die Erkenntnis der Leistungen des denkenden Ich (d. h. bei Kant das Wissen um seinen synthetisch-synthetisierenden Aufbau) enthalten ist, die das denkende Ich zwar ausführt, sich aber nicht in jedem Moment zuschreibt; =

jektivität. Frankfurt am Main, 1 987: S. 220-248, besonders S. 223 und S. 227. W. Becker. Selbstbewußtsein und Erfahrung. Zu Kants transzendentaler Deduktion und ihrer argu­ mentativen Rekonstruktion. Freiburg, München, 1 984: S. 1 3 . 1 4 Vgl. R. Bubner. "Sdbstbezüglichkeit als Struktur transzendentaler Argumente". In: E. Schaper und W. Vossenkuhl (Hrsg.) . Bedingungen der Möglichkeit, a.a. O . , S. 75-79. 1 5 Vgl. P. Braiding. Hegels Subjektivitätsbegriff Eine Analyse mit Berücksichtigung intersubjektiver Aspekte. Würzburg, 1 99 1 : S. 50-5 1 . - K. Gloy. Bewußtseinstheorien, a.a.O., S. 1 86-1 90 und S. 205-209. - K. Gloy. "Der Begriff des Selbstbewußtseins bei Kant", a.a.O., S. 256-257. - D. Henrich. "Selbstbewußtsein. Kritische Einleitung in eine Theorie". In: R. Bubner, K. Cramer und R. Wiehl (Hrsg.) . Hermeneutik und Dialektik. Aufsätze I. Methode und Wissenschaft. Lebenswelt und Geschichte. Tübingen, 1 970: S. 265. U. Pothast. Ober einige Fragen der Selbstbeziehung. Frankfurt am Main, 1 97 1 : S. 9. 16 Vgl. K. Düsing. Selbstbewußtseinsmodelle, a.a.O., S. 1 00-1 20. -

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denn das 'Ich denke' "muß alle meine Vorstellungen begleiten können"17• Wenn das 'Ich denke' auch die Vorstellung des Ich begleitet, legt das Ich sich selbst aus und gelangt so zum obersten Punkt aller Erkenntnis, der sich selbst durchsichti­ gen transzendentalen Apperzeption18; wenn das 'Ich denke' die Ich-Vorstellung nicht aktiv begleitet, übt es seine Funktion als erkenntnisstiftende Denkform aus.19 Indem so das denkende vom gedachten Ich unterschieden werden kann, verlieren der Zirkeleinwand und der vorausliegende Regreßeinwand ihren ver­ nichtenden Charakter. Das reine Ich kann sich zwar selbst denken, aber solange damit mehr als nur eine (negative) Tautologie und weniger als eine material-reale Erkenntnis beansprucht wird, kann daraus der Subjektivitätstheorie kein Schaden erwachsen, sondern nur ein ursprünglicher, unverzichtbarer Nutzen zu­ teil werden. Ist damit schon gezeigt, daß der Zirkeleinwand auf inhaltlicher Ebene so grav­ ierende Mängel aufweist, daß er kaum haltbar sein dürfte, so zeigt sich zusätzlich eine Parallele hierzu auf formalem Gebiet: Der Zirkeleinwand (bzw. das Regreß­ argument) ist, so wie er vorgebracht wird, derart allgemein, daß er jeden Grund­ begriff - und zwar nicht nur der Philosophie - trifft, was jedoch ein Argument letztlich ad absurdum führen muß. Dieser Einwand kann nämlich nicht nur in bezug auf die Analyse des Selbstbewußtseins angewandt werden, sondern er kann für alle zentralen Begriffe formuliert werden - er kann auf den Terminus 'Sein' angewandt werden, indem gesagt wird: 'Um das Sein bestimmen zu können, muß man schon wissen, was das Sein ist'; er kann auf die Begriffe 'Zeit', 'Den­ ken', 'Nichts' , 'Wahrheit' , 'Erkenntnis' oder 'Wissen' bezogen werden, um nur ei­ nige Termini zu nennen. Doch indem der Zirkeleinwand sich als so universal und quasi unreflektiert einsetzbar erweist, hebt er sich selbst auf; ein solcherart auf alles beziehbares und damit mechanisch-beliebiges Argument offenbart nicht nur seine eigene Fraglichkeit und Substanzlosigkeit, sondern es erweist sich in letzter Konsequenz als vernunftwidrig.20 1 7 Kam. Kritik der reinen Vernunft, B 1 3 1 . - (Zur Zitierweise der Kamischen Schriften vgl. das Literaturverzeichnis dieser Arbeit. (Außer der Kritik der reinen Vernunft, die nach A und B zitiert wird, werden die Werke Kams nach der Akademie-Ausgabe angeführt.)) IB Vgl. A. Rosales. "Zur teleologischen Grundlage der transzendentalen Deduktion der Ka­ tegorien". In: Kant-Studien 80, 1 989: S. 384-385. 1 9 Damit trifft im 'Ich denke' der höchste Reflexionsstandpunkt mit den Modalkategorien zusammen, wodurch die oberste Reflexionsstufe überhaupt erreicht ist, die in sich Möglichkeit ("können") , Dasein ("begleiten") und Notwendigkeit ("muß") vereinigt, so daß sich schon hieran die für alle Transzendentalphilosophie bedeutsame Stellung der Apperzeption andeutet. zo Daß dieser Einwand die Kantische Theorie nicht eigentlich trifft, weil sie nicht auf einer zirkulären Voraussetzung beruht, zeigt H. F. Klemme. Kants Philosophie des Subjekts. Syste­ matische und entwicklungsgeschichtliche Untersuchungen zum Verhältnis von Selbstbewußt­ sein und Selbsterkenntnis. Hamburg, 1 996: S. 1 0.

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Wenn die genannten Einwände einer Theorie der Subjektivität nicht in der Weise widersprechen können, daß sie dazu in der Lage wären, sie aufzuheben, muß das Augenmerk von den von außen an eine derartige Theorie herangetrage­ nen Schwierigkeiten auf die eventuell bestehenden inneren Probleme gelenkt werden. Dazu bedarf es der Analyse von Form und Struktur einer Subjektivitäts­ theorie, die jedoch nur dann durchgeführt werden kann, wenn konkrete Ausfüh­ rungen von auf der Subjektivität basierenden philosophischen Systemen be­ trachtet werden, da sonst einer solchen Untersuchung der feste Boden fehlt. Wegen ihrer bereits angesprochenen zentralen Stellung sollen dafür die transzen­ dentale Vernunftkritik Kants auf der einen sowie die transzendentale Phänome­ nologie Husserls auf der anderen Seite herangewgen werden21 , die beide sowohl einzeln analysiert als auch vergleichend in Beziehung gesetzt werden. 22 Da es zur Erkenntnis der notwendigen Strukturen einer Subjektivitätstheorie in besonderer Weise des Vergleichs zwischen diesen beiden Konzeptionen bedarf. muß die Einzelanalyse teilweise knapper ausfallen als dies sonst der Fall wäre, so daß ei­ nige Zusammenhänge bei Kant und Husserl eher angedeutet als bis ins letzte Detail ausgearbeitet werden können. Der besseren Verständlichkeit halber soll bei diesem Vorhaben die chronologi­ sche Reihenfolge der miteinander in Beziehung zu setzenden Subjektivitätsvor­ stellungen eingehalten werden. Daher wird im ersten Hauptteil der Arbeit die Konzeption Kants dargestellt und untersucht werden, wofür in erster Linie seine Kritik der reinen Vernunft heranzuziehen ist, da sie die theoretische Fundierung aller Aussagen Kants bezüglich des (überindividuellen) Ich als transzendentaler Apperzeption liefert, auf die dann erst praktische Erwägungen folgen können, die jedoch nicht mehr Thema dieser Untersuchung sind, da in ihr dem dafür grundlegenden, theoretisch primären Zusammenhang zwischen Transzendental­ philosophie und Subjektivitätsphilosophie nachgegangen werden soll. In rein theoretisch-analysierender Betrachtung wird eine Antwort auf die Frage nach dem Wesen der Subjektivität gesucht, so daß der Schwerpunkt der Auseinander­ setzung aufformalen und funktionalen Aspekten liegen muß; Form und Aufbau sind so zentral, daß aus ihnen inhaltliche Konsequenzen abzuleiten sind. 21 Beide Theorien eignen sich hierfür besonders gut, weil Kant und Husserl mit der Erforschung der Bewußtseinssubjektivität dasselbe Ziel verfolgen, nämlich das Verständnis der Objektivität als einer geistigen Leistung der lebendig fungierenden Subjektivität. [Vgl. A. Gur­ wirsch. "Der Begriff des Bewußtseins bei Kant und Husserl". In: Kant-Studien 5 5 , 1 964: s. 4 1 0-4 1 1 .] 22 Eine gewisse Schwierigkeit, aber zugleich auch eine ausgezeichnete Rechtfertigung für den zu leistenden Vergleich entsteht durch die Doppelrolle Husserls, der zum einen Kant rezi­ piert, der aber zum anderen der ursprünglichen Leistung Kants eine eigene, in mancher Hin­ sicht ebenso ursprüngliche Deutung der Subjektivität entgegenstellt.

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In einem zweiten Hauptteil der vorliegenden Arbeit soll dann entsprechend die Ich-Konzeption Hussecis analysiert werden, um anschließend an deren ein­ zelne Aspekte einen Vergleich mit dem Kantischen Entwurf durchzuführen. In diesem Zusammenhang muß auch das Kam-Verständnis Hussecis immer wieder kritisch untersucht werden, indem seine Auffassung der Kamischen Philosophie bzw. von ausgewählten Teilen derselben mit konkreten Aussagen Kants konfron­ tiert wird, wobei manches Mißverständnis auf Husseciseher Seite angesprochen werden muß. Der eigentliche Schwerpunkt aber soll nicht auf diesen histori­ schen Bezugspunkten, sondern auf der Subjektkonzeption Hussecis selbst liegen. Da hierbei Hussecis eigener Entwurf analysiert werden soll, muß bei ihm eine breitere textliche Grundlage als im Falle Kants gewählt werden, so daß die Ent­ wicklung, aber auch die thematisch-strukturelle Permanenz seines Denkens ad­ äquater zum Ausdruck gebracht werden können. - Besonders anhand des Ver­ gleichs zwischen Kant und Husserl wird die Grundthese der vorliegenden Arbeit deutlich zu machen sein, die davon ausgeht, daß sowohl die Kamische als auch die Hussecisehe Subjektivitätskonzeption auf einem identischen, auf mehreren Dreiteilungen basierenden Muster beruht, das eine inhaltlich-systematische, vor allem aber eine formal aufeinander aufbauende Stufenfolge und ein ebensolches Funktionsgefüge beinhaltet. 23

2 3 Die Bedeutung dieser Analyse des Bewußtseins (durch das Bewußtsein) ist deshalb so groß, weil in ihr der Idealismus Kants und auch Husserls wurzelt. [Vgl. Alain. "Briefe über die 'Kritik der reinen Vernunft'". In: J. Kopper und R. Malter (Hrsg.) . Materialien zu Kants 'Kritik der reinen Vernunft'. Frankfurt am Main, 1 975: S. 33 1 . - T. Seebohm. Die Be­ dingungen der Möglichkeit der Transzendental-Philosophie. Edmund Husserls transzendental­ phänomenologischer Ansatz, dargestellt im Anschluß an seine Kant-Kritik. Bonn, 1 962: s. 22.]

E R S TE R TE I L: EG O L O G I S C HE G RU NDST RUKT U REN I N DE R T RAN SZENDENTAL P H I L O S O P H IE KANTS

I.

Die drei Wiege in eine transzendentale Philosophie bei Kant A. Der 'natürlich-logische' Weg als erster Weg in die transzendentale Philosophie

Vorbemerkung Um die Entwicklung der Subjektivitätsstruktur im Kamischen Werk nachvoll­ ziehen zu können, werden ausgehend von der Kritik der reinen Vernunft drei Ansätze Kants untersucht, die zur transzendentalen Philosophie führen, deren Prägung durch das reine Selbstbewußtsein schon daran sichtbar wird und entsprechend weiter verfolgt werden kann. Diese Ansätze sollen, um ihren inneren Entwicklungscharakter anzudeuten, als 'Wege' in die Transzendental­ philosophie bezeichnet werden. Es wird also mit diesem Ausdruck nicht auf die historische Entstehung des Kamischen Werks Bezug genommen in dem Sinne, daß der Weg Kants vom vorkritischen zum kritischen Stadium seiner Philoso­ phie analysiert würde, sondern es geht um den Vollzug verschiedener Zugangs­ weisen zur transzendentalen Sphäre der Kamischen Philosophie unabhängig von ihrer historischen Genese. Kants erster Weg in die transzendentale Philosophie ist ein Weg, der sein ei­ gentliches Ziel, nämlich die Etablierung einer kritischen Transzendentalphiloso­ phie, noch nicht völlig erreicht, da er lediglich auf negative Weise (damit aller­ dings charakteristisch für das Vorgehen an vielen Stellen der Kritik der reinen Vernunft) die Notwendigkeit zeigt, dieses übergeordnete Ziel anzustreben. Kant beschreitet diesen ersten Weg, der aufgrund der in ihm zu behandelnden The­ matik im folgenden als 'natürlich-logischer' W'eg bezeichnet werden soll - ob­ wohl sich diese Benennung bei Kant selbst, ebenso wie eine explizite Ausar­ beitung, nicht findet -, zunächst auf negative Weise, indem er immer wieder auf das Unzureichende der Einstellung des gesunden Menschenverstandes hinweist.

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Egologische Grundstrukturen i n der Transzendentalphilosophie Kants

1. Der gesunde Menschenverstand Nichts scheint natürlicher zu sein, als auch an Fragen der Philosophie und sogar an die Begründungs- und Ursprungsfrage derselben mit der Haltung des gesun­ den Menschenverstandes1 , der doch auch jedem Philosophierenden bis zu einem gewissen Grade eignet, heranzutreten und mittels dieses Instrumentariums auf diesem Gebiet zu gesicherten Erkenntnissen zu gelangen. Zum einen spricht für eine derartige Auffassung die allgemeine, wenn auch graduell abgestufte Verbrei­ tung dieser natürlichen Einstellung, zum anderen die relativ leichte Vermittel­ barkeit der auf diese Weise erlangten Erkenntnisse, die - als jedermann nachvol­ ziehbar - rasche und weite Verbreitung finden dürften. In der Tat besitzt der gemeine Verstand all diese positiven Kennzeichen; und solange er innerhalb seines eigenen Bereichs agiert, d. h. in dem der praktischen Alltagserfahrung und der bestätigenden und als plausibel oder unplausibel nach­ weisenden Denkbewegung, können ihm weder Nutzen noch Eigenrecht abge­ sprochen werden. In dieser sein Eigenwesen beachtenden Hinsicht behält der natürliche Verstand selbstverständlich sein Recht, ja Kant erachtet ihn in seiner Funktion als allgemeines Mittel, gewissermaßen als Handwerkszeug des Ver­ standes, durchaus als zu schätzende Gabe, die sogar als Überprüfungsinstanz für weiterreichende Erkenntnisse herangezogen werden kann. Insbesondere in der zuletzt genannten Absicht bedient sich Kant sogar selbst dieses natürlichen Instrumentariums, indem er etwa in der Einleitung zur Kritik der reinen Ver­ nunft auf die notwendige Übereinstimmung aller Teile seiner kritischen Tran­ szendentalphilosophie mit dem gesunden Menschenverstand aufmerksam macht, wenn er schreibt, daß der Versuch, auch nur den kleinsten Teil dieses Sy­ stems zu ändern oder gar auszulassen, "sofort Widersprüche, nicht bloß des Sy­ stems, sondern der allgemeinen Menschenvernunft herbeiführt"2• Abgesehen von dieser positiven Nutzbarmachung des natürlichen Verstandes für sein eige­ nes Werk, welche sich an anderen Stellen der Kritik der reinen Vernunft bestä­ tigt und die Kant auch wider seine Gegner immer wieder anführt3, sieht er einen I Im folgenden werden die Begriffe gesunder Menschenverstand, gemeiner Verstand, natürliche Vernunft und alltäglicher Verstand o. ä. als weitgehend gleichbedeutend begriffen und synonym verwendet. - Hingewiesen sei noch darauf, daß die natürliche Vernunft kei­ neswegs nur als statisch zu verstehen ist, sondern aufgrund einer in ihr angelegten Enrwick­ lungstendenz, die sich besonders in Tradition und Kultur manifestiert, auch als Vernunft mit einer Geschichte bzw. als geschichtliche Vernunft zu begreifen ist. 2 Kant. Kritik der reinen Vernunft, B XXXVI II. 3 Besonders deutlich wird diese bestätigende Verwendung des gesunden Menschen­ verstandes auch in der Methodenlehre der Kritik der reinen Vernunft, in der Kant sich gegen mögliche Anfeindungen seines Systems bzw. der Ergebnisse desselben zur Wehr setzt: ,,Aber verlangt ihr denn, daß ein Erkenntnis, welches alle Menschen angeht, den gemeinen Verstand

Die drei Wege in eine transzendentale Philosophie bei Kant

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grundlegenden Vorteil des gemeinen Menschenverstandes in der durch ihn gege­ benen praktischen Alltagsklugheit. Daß Kant dennoch davon absieht, dem natürlichen Verstand einen umfassenden positiven Wert zuzusprechen, hat seine Ursache in der erwähnten gradweise sich unterscheidenden Verbreitung dessel­ ben unter den Menschen; dazu stellt Kant fest: "Der Mangel an Urteilskraft ist eigentlich das, was man Dummheit nennt, und einem solchen Gebrechen ist gar nicht abzuhelfen. "4 Das Fehlen des gesunden Menschenverstandes bzw. seine zu geringe Ausgeprägtheit werden also von Kant negativ beurteilt. Obgleich der natürlichen Vernunft in diesem Sinne eine gewisse einschrän­ kende, bestätigende und ganz allgemein dem menschlichen Verhalten zuträgli­ che Funktion zukommt, können doch diese positiven und als solche anerkann­ ten Charakteristika nicht darüber hinwegtäuschen, daß dieser gesunde Men­ schenverstand zweierlei nicht zu leisten imstande ist5: Weder kann er aus eigener Kraft je sein eigenes Gebiet verlassen noch kann er dazu dienen, das, was er im besten Falle in seinem Recht bestätigt, zu begründen.6 Die natürliche Vernunft kann demnach das eigentlich philosophisch Relevante nie aus eigener Kraft lei­ sten, d. h. sie kann nie das Fundament der Philosophie schaffen. Auch wenn der gesunde Menschenverstand dazu in der Lage sein mag, einmal auf philo­ sophischem Gebiet Erreichtes in seiner allgemeinen Richtigkeit zu bestätigen, so kann es ihm aufgrund der mit seiner Anwendungsweise und seinem individuell­ graduellen Vorkommen verbundenen Unsicherheit und Vorläufigkeit keinesfalls gelingen, Ausgangspunkt der philosophischen Erkenntnis zu werden. 7 Dies kann auf mehrere Gründe zurückgeführt werden, die zusammen Kant davon abhalten mußten, dem gesunden Menschenverstand mehr als lediglich praktisch-bestä­ tigende Bedeutung zuzusprechen: Zum einen ist die natürliche Vernunft nicht übersteigen, und euch nur von Philosophen entdeckt werden solle?'' [A 83 1 / B 859.] An dieser Stdle wird das positiv mögliche Verhältnis von Philosophie und gesundem Menschenverstand deutlich, indem letzterer als Bewährungsinstanz für die erstere fungieren und dazu beitragen kann, unerlaubte Grenzüberschreitungen der Verstandes- und Vernunfterkenntnis anzuzeigen, so daß die Philosophie vor dem Bereich der bloßen Spekulation bewahrt und auf den Boden sicherer Erkenntnis zurückgeholt werden kann. 4 Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 1 34/B 1 73 . 5 Kants negative Auffassung der gemeinen Menschenvernunft erörtert auch H.-G. Gada­ mer in Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen, 4 1 975: s. 29-3 1 . 6 Diese beiden Defizite des gesunden Menschenverstandes hängen eng (kausal) mitein­ ander zusammen. Denn indem dersdbe nicht über sein eigenes Gebiet hinausgehen kann, ist ihm auch die Möglichkeit, eine Begründungsfunktion für sich sdbst oder gar für andere Berei­ che zu erfüllen, genommen. 7 Daß der gesunde Menschenverstand auch auf praktischem Gebiet unzureichend ist, zeigt B. Kleinhans in Der 'Philosoph' in der neueren Geschichte der Philosophie. 'Eigentlicher Philosoph' und 'vollendeter Gelehrter'. Konkretionen des praktischen Philosophen bei Kant und Fichte. Reihe: Epistemata, Band 243. Würzburg, 1 999: S. 27 1 .

Egologische Grundstrukturen in der Transzendentalphilosophie Kants

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zu derart subtiler Spekulation fähig, wie sie zur Grundlegung einer philo­ sophischen Wissenschaft erforderlich ist, in der das Stadium der alleinigen Fä­ higkeit zum Nachvollziehen überwunden und durch ein aktives Begriffe- und Systembilden ersetzt und aufgehoben werden muß. 8 Zum anderen ist sie bestän­ dig durch die Möglichkeit von Täuschungen bedroht, was besonders deutlich im Antinomienkapitel gezeigt wird, wo durch die Vermengung der für den gesun­ den Menschenverstand ununterscheidbaren Bereiche des Empirischen und Tran­ szendentalen die Situation der Unentscheidbarkeit der Wahrheit auftritt, nach Kam sogar als "eine ganz natürliche Täuschung der gemeinen Vernunft"9 auftre­ ten muß. Ein dem Irrtum so geradezu unvermeidbar anheimfallendes Vermögen aber kann nicht zum Ausgangspunkt von Erkenntnissen gemacht werden, die mit dem Anspruch auf Unhintergehbarkeit eines, nämlich des philosophischen Wissens auftreten. Daß der gemeine Verstand zur philosophischen Grundlegung nicht heran­ gezogen werden kann, liegt außerhalb seines Erkenntnishorizontes und muß erst durch das transzendental-kritische Vorgehen der Philosophie nachträglich erwie­ sen werden. Denn er bedient sich häufig derselben Begriffe und Vorstellungen wie die philosophische Spekulation, so daß ihm selbst der Bereichsunterschied und die Zuständigkeitsdifferenz nicht auffallen (können) . Mögen also auch die Begriffe in beiden Fällen dieselben sein, so besteht doch im gemeinen Verstand keinerlei Bewußtsein der Komplexität und Mannigfaltigkeit der mit diesen Be­ griffen verbundenen Vorstellungen. Dieser Mangel an überschauendem Bewußt­ sein10 ist aber in enger Verbindung mit der Täuschungsanfälligkeit dieses natürli­ chen Vermögens zu sehen. Daß dabei die Täuschbarkeit durchaus in die Versu­ che einer aktiven Täuschung hinüberführen kann, macht Kant wieder an einer exponierten Stelle, im Paralogismuskapitel der ersten Kritik, deutlich. Denn gerade hier entstehen die größten Schwierigkeiten dadurch, daß die Einsichts­ fähigkeit des gemeinen Verstandes über den Bereich des für ihn zu Leistenden hinaus ausgeweitet wird, so daß "man sich das Ansehen einer tieferen Einsicht in die Natur der Dinge, als der gemeine Verstand wohl haben kann, zu geben sucht" 1 1 • Indem der natürliche Verstand sich so in einen künstlichen Verstand verwandelt und seines positiven Wesens verlustig geht, da er sich Einsichten zu­ schreibt, die eo ipso außerhalb seines Bereichs liegen, und indem er Urteile über ihm - schon methodisch - unzugängliche Fragen erlaubt, wird er sowohl selbst getäuscht, da er seine eigene Beschaffenheit verkennt, als auch zum Organ von Täuschungen, da er vorgibt, fundierte Aussagen in einem ihm prinzipiell 8 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, B XXXI I . 9 Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 499-500/B 528. 1o Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 43-44/B 6 1 . II

Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 384.

Die drei Wege in eine transzendentale Philosophie bei Kam

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unzugänglichen Bereich machen zu können, nämlich i n dem der Wissen­ schaften. Die besondere Relevanz des gefährlichen Einflusses der natürlichen Vernunft auf eine psychologische Fragestellung betont Kant noch dadurch, daß er auf den dogmatischen Anspruch der auch hierbei täuschenden Vernunft hin­ weist. 12 Als noch weitreichendere Folge muß aus den drei Momenten der Täuschbar­ keit, der aktiven Täuschungstendenz und des Dogmatismus auch das völlig Un­ zureichende der gesunden Menschenvernunft für jede philosophische Erkenntnis abgeleitet werden. Dabei gilt weiterhin, daß Kant bei diesem negativen Befund keineswegs stehenbleibt, sondern daß er ein dogmatisches Verfahren bei der na­ türlichen Vernunft nicht nur konstatiert, sondern auch aus seinen Ursprüngen her begreiflich macht. Denn Kant erkennt, daß auch diese Vernunft eine gesi­ cherte Grundlage ihrer Erkenntnisse anstrebt, die sie gegen mögliche Einwürfe gefeit macht. Dabei begnügt der gemeine Verstand sich keineswegs mit den etwa vom Empirismus bereitgestellten Erklärungen, sondern er versteigt sich zu Be­ griffsebenen, auf denen ihm auch kein anderes Vermögen mehr widersprechen kann. Gerade aus diesem Grunde kann dann der gemeine Verstand "doch dar­ über unendlich mehr vernünfteln, weil er unter lauter Ideen herumwandelt, über die man eben darum am beredtsten ist, weil man davon nichts weiß 13 • Da er also wohl eine Ausgangsgrundlage besitzen will, sich aber der mit einem sol­ chen Anspruch verbundenen Schwierigkeiten nicht bewußt werden kann, und da er außerdem, weil er "nicht weiß, was Begreifen heißt" 14, auch durch die von ihm gemachten Voraussetzungen nie beunruhigt werden kann - deshalb nimmt er schließlich seine Ausgangsprämissen aus Gewohnheit als bewiesen hin. "Zu­ letzt verschwindet alles spekulative Interesse bei ihm vor dem Praktischen, und er bildet sich ein, das einzusehen und zu wissen, was anzunehmen oder zu glau­ ben, ihn seine Besorgnisse oder Hoffnungen antreiben. " 1 5 Der enge Zusammenhang zwischen dem gesunden Menschenverstand und dem Dogmatismus bildet eine Thematik, die Kant auch noch in der Methoden­ lehre der Kritik der reinen Vernunft beschäftigt. Hier zeigt er nämlich, daß die natürliche Vernunft nicht nur selbst dogmatisch vorgehen kann, sondern daß sie auch dann, wenn sie nicht auf diese Weise fortschreitet, in einem Alternativver­ hältnis zum Dogmatismus steht, der jedoch auch in diesem Falle seine eigene '

12 "Nun sind wir nach den gemeinen Begriffen unserer Vernunft in Ansehung der Ge­ meinschaft, darin unser denkendes Subjekt mit den Dingen außer uns steht, dogmatisch und sehen diese als wahrhaft unabhängig von uns bestehende Gegenstände an, [ . . ]. [Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 389. (Kursivierung ergänzt von R. P.)) 1 3 Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 473/B 50 1 . 14 Ebd. 1 5 Ebd. .

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Egologische Grundstrukturen i n der Transzendentalphilosophie Kants

Negativität auf sie zurückspiegelt. Denn weder Dogmatismus noch gemeiner Verstand sind dazu befähigt, Grundsätze (wie den des Satzes vom zureichenden Grunde) zu beweisen, was allein durch eine transzendentale Kritik im Kanti­ schen Sinne geleistet werden kann. Für Kant wird schon dadurch deutlich, daß die Berufung auf den gesunden Menschenverstand (in der Philosophie) lediglich "eine Zuflucht [ist] , die jederzeit beweist, daß die Sache der Vernunft verzweifelt ist" 16. - Aufgrund der gemachten Einwände gegen den gesunden Menschenver­ stand und seiner Unfähigkeit, im Bereich der wissenschaftlichen Philosophie auch nur ansatzweise eine tragfähige Grundlage zu schaffen, nimmt Kants nega­ tive Bewertung dieses Vermögens nicht mehr wunder, die er mit besonderer Schärfe in den Prolegomena vorträgt. 17 Trotz dieser eindeutigen Kritik, ja sogar trotz des eindeutigen Vorrangs, den Kant der kritischen Vernunft gegenüber dem gemeinen Verstand einräumt, ver­ säumt er doch nie, neben seiner negativen auch die positive Seite des gesunden Menschenverstandes anzusprechen. Obwohl die kritische Vernunft gegenüber diesem eine übergeordnete Position einnimmt, indem sie die Schranken des ge­ meinen Verstandes erkennt und bestimmt, damit er weder selbst in den Bereich der Spekulationen übergehe noch auch über solche entscheide, und obwohl der gemeine Verstand nur dadurch auch ein gesunder Verstand bleiben kann, daß die Vernunft an ihm ihr beschränkendes Werk verrichtet, anerkennt Kant doch den Eigenwert desselben. Denn wenn er innerhalb seiner eigenen Region bleibt, ist er bei Urteilen, die in der Erfahrung unmittelbare Anwendung finden, nutz­ bringend. Zusammenfassend kann also festgehalten werden, daß Kant neben einer rela­ tiv gründlichen Auseinandersetzung und einer innerhalb seines Werkes im gan­ zen wie auch innerhalb der einzelnen Teile der Kritik der reinen Vernunft im be­ sonderen stets wieder aufgenommenen Analyse des gesunden Menschenverstan­ des diesem seine eigene Berechtigung zuerkennt. An der praktischen, für Alltags­ belange bedeutsamen Relevanz dieses Klugheitsvermögens kann deshalb kein Zweifel bestehen. Dennoch wehrt Kant entschieden den zunächst so nahelie­ gend erscheinenden Glauben ab, der gemeine Verstand könne außerhalb des ihm zugewiesenen Bereiches für sich noch weitere Erkenntnisgründe beanspru­ chen. Schon durch den Nachweis der Notwendigkeit, diesem Verstand durch das Vernunftvermögen Schranken setzen zu lassen, erweist Kant die Unselbständig­ keit desselben und seine Angewiesenheit auf regulierende Mechanismen. Insbe16 Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 783-784/B 8 1 1-8 1 2. 1 7 Vgl. Kant. Prolegomena. Akademieausgabe, Band N: S. 259. - Schon an dieser Stelle

wird deutlich, daß Kant sich immer wieder an exponierten Stellen der juristischen Sprache be­ dient (hier: Appellation, Berufung, Urteil) , was im Zusammenhang mit der Analyse der Wis­ senschaften noch von Bedeutung sein wird.

Die drei Wege in eine transzendentale Philosophie bei Kam

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sondere wird durch die als notwendig nachgewiesene Einführung von Vernunft­ schranken für den gemeinen Verstand auch der immer wieder von ihm erhobene philosophische Anspruch ad absurdum geführt. Gerade gegen diesen Anspruch vorzugehen, ist das Hauptziel Kants bei seiner Untersuchung des gesunden Menschenverstandes - auch wenn diese nicht fortlaufend, sondern immer wie­ der in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen besonders im Rahmen der Kri­ tik der reinen Vernunft durchgeführt wird. Kam wendet sich also nicht pauschal gegen jegliche Ansprüche der natürlichen Vernunft, sondern gegen den nach­ weisbar falschen und nur vorgespiegelten Anspruch derselben auf philosophische Erkenntnis: Mit dem gesunden Menschenverstand kann die Philosophie nicht beginnen. Durch die Herausarbeitung des Unzureichenden der gemeinen Ver­ nunft auf philosophischem Gebiet wendet Kam sich entschlossen gegen die An­ nahme, mit ihr liege ein selbstverständlicher, nicht mehr eigens zu begründender Ausgangspunkt für den Weg in die Philosophie vor. Das bedeutet aber, daß Kant diesen 'natürlichen' Weg auch beschreitet, allerdings nur auf negative Weise; er verfolgt das Eigene eines solchen Weges mit Interesse, muß aber durch das an ihm feststellbare Mangelhafte einhergehend mit der Notwendigkeit der Schran­ kensetzung durch die Vernunft den Anspruch dieses Weges auf philosophische Gebietsbegründung ablehnen. Indem Kant also den Anspruch der natürlichen Vernunft ernst nimmt, muß er auch zwangsläufig seine Unhaltbarkeit erweisen.

2.

Die wissenschaftliche Einstellung

Dennoch bleibt Kant bei diesem Befund bezüglich des gesunden Menschenver­ standes nicht stehen, sondern geht über das negative Anfangsstadium positiv hinaus, indem er sich der wissenschaftlichen Einstellung zuwendet18 und eine ei­ genständige transzendentale Logik begründet. Durch diese beiden Erweiterun­ gen des 'natürlichen' Weges in die Philosophie gelingt Kam die positive Um­ formung desselben in einen als natürlich logisch ' zu bezeichnenden Weg. Dabei wird sich zeigen, daß erst mit der Ebene der transzendentalen Logik der eigent­ lich philosophische Anfang gemacht werden kann, weil erst sie das Neue und Notwendige der Transzendentalphilosophie ans Licht treten läßt. Damit einher­ gehend wird sich erweisen, daß auch mit der Ebene der transzendentalen Logik die Philosophie keineswegs Anfang und Ende gefunden hat, sondern daß auf diese Weise lediglich ein notwendiges methodisches Instrumentarium zur Errei'

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1 8 Diese Differenz zwischen einer unmittelbaren, vorwissenschaftliehen und evolutionsge­ schichtlich erzeugten und einer normierenden wissenschaftlichen Erfahrung analysiert auch G. Böhme in "Kants Theorie der Gegenstandskonstitution". In: Kant-Studien 73, 1 982: S. 1 56.

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Egologische Grundstrukturen in der Transzendentalphilosophie Kants

chung eines transzendentalphilosophischen Systems an die Hand gegeben wird, das zu seiner Durchführung noch weiterer, von der transzendentalen Logik selbst nicht zu leistender Schritte und Aufgaben bedarf. 1 9 Zunächst ist es erforderlich, auf die wissenschaftliche Einstellung bzw. die Stellung der Wissenschaft bei Kam einzugehen, weil dadurch eine Zwischen­ stufe20 auf dem Weg vom philosophisch unzureichenden gesunden Menschen­ verstand zur Transzendentalphilosophie erreicht wird.21 Dabei ist zu beachten, daß mit dem Begriff der Wissenschaftlichkeit ein für die Kamische Philosophie zentraler Terminus ins Blickfeld tritt, ist doch mit ihm eines der, wenn nicht so­ gar das Hauptanliegen dieser Philosophie bezeichnet. Denn es ist erklärterma­ ßen Kants Absicht, durch den transzendentalen und kritischen Zugang die Phi­ losophie in den "sicheren Gang einer Wissenschaft"22 zu bringen. Im Gegensatz zu anderen Wissenschaften, insbesondere zu Logik, Mathematik und Naturwis­ senschaften, kann die Philosophie (bzw. die Metaphysik) für sich noch keine wissenschaftliche Grundlage und Vorgehensweise beanspruchen. Gleich dem ge­ sunden Menschenverstand, mit dem sie derart eng verwandt ist, behauptet die Metaphysik für sich Sicherheit und Wissenschaftlichkeit ihrer nur scheinbaren Einsichten, denen allerdings bei genauerem Hinsehen jede Grundlage fehlt23, weil widersprüchliche Ergebnisse für sich jeweils Wahrheit beanspruchen - wozu sie, wie Kam besonders einprägsam im Antinomienkapitel nachweist, auch be­ rechtigt sind. Dieser offenbare Mangel der Metaphysik wird durch einen Vergleich mit den anderen Wissenschaften noch deutlicher: Logik, Mathematik und Physik gehen den sicheren Weg einer Wissenschaft. Dies haben sie - abgesehen von der noch ausführlicher zu behandelnden Logik - einer "Revolution der Denkart"24 zu ver1 9 Die endgültige Durchführung dieses transzendentalphilosophischen Systemprogramms wird Kant erst mit seinem dritten, dem eigendich 'transzendentalen' Weg gelingen. Vgl. dazu den entsprechenden Teil dieser Arbeit. 2o Indem Kant die Erkenntnisansprüche des gesunden Menschenverstandes mit einem ge­ wissen Recht versieht und dennoch die Notwendigkeit eines gesicherten wissenschaftlichen Fortkoromens sichtbar macht, kann er als der erste Philosoph angesehen werden, der das Pro­ blem der Erfahrungswissenschaft erkannte. [Vgl . K. Popper. " Über die Möglichkeit der Erfah­ rungswissenschaft und der Metaphysik". In: Ratio 2, 1 9 57/58: S. 1-3.] 21 Im folgenden soll keine detaillierte Analyse des Wissenschaftsbegriffs bei Kant geleistet werden, da dies den Rahmen des hier Beabsichtigten sprengen würde, sondern es sollen ledig­ lich die für den 'natürlich-logischen' Weg relevanten wissenschaftstheoretischen Überlegungen Kants herausgegriffen und in diesen Kontext eingeordnet werden. 22 Vgl. dazu beispielsweise: Kant. Kritik der reinen Vernunft, B VIII. 2 3 Die Kritik der reinen Vernunft beweist deshalb, daß die Versuche der metaphysica spe­ cialis gescheitert sind, weil das, was beansprucht wird, gar nicht geleistet werden kann. [Vgl. dazu: W. Bröcker. Kant über Metaphysik und Erfahrung. Frankfurt am Main, 1 970: S. 9.] 24 Kant. Kritik der reinen Vernunft, B XI.

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danken, die Kant hinsichtlich der Mathematik, die diese Veränderung ihrer Ver­ gehensweise vor allen anderen Wissenschaften vollwg, folgendermaßen darstellt: Ihre Revolution bestand darin, daß ihr Ausgangspunkt von gegebenen Figuren und Begriffen auf das verlagert wurde, was man nach Begriffen a priori in die Fi­ guren hineindenkt und durch Konstruktion darstellt, so daß man, um sicher et­ was a priori zu wissen, der Sache nichts beilegen darf, als was aus dem folgt, was man dem eigenen Begriffe gemäß in sie gelegt hat. zs Obwohl die Naturwissenschaften diese Revolution viel später als die Mathe­ matik vollzogen, so machten doch auch sie sich die alles verändernde Erkenntnis zunutze, daß die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurf hervorbringt, woraus folgt, daß sie mit ihren Prinzipien und mit Hilfe von Ex­ perimenten an die Natur herangehen muß, um von ihr - gewissermaßen über ihre eigenen Einsichten - belehrt zu werden.26 Demgegenüber muß Kant fest­ stellen, daß im Bereich der Metaphysik, also der reinen, erfahrungsfreien Ver­ nunfterkenntnis, dieser sichere Gang einer Wissenschaft noch nicht erreicht wurde, was er darauf zurückführt, daß in diesem Erkenntnisbereich eine den an­ deren Wissenschaften analoge Revolution der Denkungsart noch nicht, nicht einmal in Ansätzen, vollwgen wurde.27 Dies scheint aber unbedingt erforderlich, um auch die Metaphysik zu einer gesicherten Wissenschaft zu machen, um sie von ihrem Verfahren des "Herumtappens"28 unter bloßen Begriffen zu befreien. Nimmt man nämlich - wie in der vorkantischen Metaphysik - an, die Erkennt2 5 Vgl. Kam. Kritik der reinen Vernunft, B XII. 26 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, B XIII. 27 Wenn Kant also in diesem Zusammenhang auf die Mathematik Bezug nimmt und sich

darüber hinaus auch den Naturwissenschaften mit großem Interesse zuwendet, so kann daraus doch nicht geschlossen werden, Kant setze die Möglichkeit von Mathematik und Naturwis­ senschaft ungeprüft voraus, so daß nie ein eigener philosophischer Wahrheitsanspruch erhoben werden könnte. Dieser Vorwurf wird besonders von V. Hösle in Hegels System. Der Idealis­ mus der Subjektivität und das Problem der Intersubjektivität. Band I : Systementwicklung und Logik. Hamburg, 1 987: S. 1 7 erhoben. Dagegen muß eingewandt werden - und diese Kritik an Hösle wird sich im Anschluß an die vollständige Durchführung der drei Wege Kants in die Transzendentalphilosophie noch bestätigen -, daß ein solcher Vorwurf gegen Kant nur dann erhoben werden kann, wenn innerhalb der Kantischen Philosophie nur ein einziger Weg in die transzendentale Metaphysik angenommen wird. Sind mehrere Wege gegeben, wird hin­ gegen verständlich, welche Rolle der Ausgangspunkt von Mathematik und Naturwissenschaft wirklich spielt: Er bietet innerhalb des 'natürlich-logischen' Weges eine bestimmte Art der Erkenntnissicherheit, die allerdings durch den 'transzendentalen' Weg nicht mehr berück­ sichtigt werden muß, weil er über das Desiderat einer allgemein nachvollziehbaren Einführung in die transzendentale Philosophie hinausgehen kann. Die Annahme dreier verschiedener We­ ge, die zwar durchaus nicht unabhängig voneinander sind, die sich aber gerade durch ihre dif­ ferierenden Ansätze und die damit verbundenen Resultate in ihrer Verschiedenheit bekunden, macht deshalb den von Hösle vorgebrachten Zirkelvorwurf in bezug auf Wissenschaft und Philosophie unhaltbar. 28 Kant. Kritik der reinen Vernunft, B XV:

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nisse müßten sich nach den Gegenständen richten, so müssen alle Versuche, über sie a priori etwas durch Begriffe auszumachen, scheitern, so daß es auch zu keiner Erweiterung der Erkenntnis kommen kann: "Man versuche es daher ein­ mal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser fortkommen, daß wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntnis rich­ ten, welches so schon besser mit der verlangten Möglichkeit einer Erkenntnis derselben a priori zusammenstimmt, die über Gegenstände, ehe sie uns gegeben werden, etwas festsetzen soll. "29 Kants Vergleich dieser Revolution der Denkart30 mit der Wendung des Ko­ pernikus ist allzu bekannt, als daß er an dieser Stelle noch des eingehenderen Kommentars bedürfte.31 Festzuhalten bleibt, daß die Aufgabe der Metaphysik 29 Kant. Kritik der reinen Vernunft, B XVI. - Nicht minder deutlich spricht sich Kant wenige Zeilen später in der Vorrede aus [B XVII] . Neu an dieser Stelle ist der explizite Bezug auf das innerhalb der Kritik der reinen Vernunft so bedeutsam werdende Anschauungsvermö­ gen, der auf die Einschränkung jeder sicheren Erkenntnis auf den Bereich der Erfahrung vor­ ausdeutet, so daß schon auf den inhaltlich sehr beschränkten Bereich der metaphysischen Er­ kenntnis verwiesen wird. Hierdurch ergibt sich eine deutliche Gemeinsamkeit zum gesunden Menschenverstand als der ersten Etappe des 'natürlich-logischen' Weges in die Transzendental­ philosophie: Wie die kritischen Einsichten der Transzendentalphilosophie letzdich nicht dem gemeinen Verstand Unerreichbares zu erkennen geben [vgl. Kritik der reinen Vernunft, A 83 1 /B 859] , so geht auch die ebenso kritisch und transzendental analysierte Metaphysik nicht über den Bereich des allgemein und spekulationslos, d. h. ohne gesicherte anschauend-den­ kende Erfahrung zugänglichen Wissens hinaus. 30 Darauf, daß es sich bei dieser Än derung der Denkart tatsächlich um eine Revolution handdt, verweist auch H. Putnam in "Meaning Holism and Epistemic Holism". In: K. Cra­ mer, H. E Fulda, R.-P. Horstmann, U. Pothast (Hrsg.). Theorie der Subjektivität. Frankfurt am Main, 1 987: S. 253-254. - Die besondere Bedeutung dieser Wende für den Komplex der Subjektivität hebt D. Sturma in Kant über Selbstbewußtsein. Zum Zusammenhang von Er­ kenntniskritik und Theorie des Selbstbewußtseins. Reihe: Philosophische Texte und Studien, Band 1 2. Hildesheim, Zürich, New York, 1 98 5 : S. 1 0 5 hervor. 3 1 Hingewiesen sei allerdings auf E. Lasks Die Lehre vom Urteil. Tübingen, 1 9 1 2 : S. 1 , wo er in der kopernikanischen Tat den eigentlichen Wendepunkt in der Gesamtentwicklung der theoretischen Philosophie und der Logik sieht. Außerdem geht er in Die Logik der Philoso­ phie und die Kategorien/ehre. Eine Studie über den Herrschaftsbereich der logischen Form. Tübingen, 3 1 993: S. 28-29 auf die große Bedeutung dieser Wende durch Kant ein, die nach ihm darin besteht, daß der Seinsbegriff in einen Begriff der transzendentalen Logik überführt wird, wodurch Kant die Unabhängigkeit des Seins gegenüber der Sphäre der Logik überwindet und die Trennung von Gegenstand und Wahrheitsgehalt aufhebt. - Auch Schdling stellt in seinem Nachruf auf Kant die große Bedeutung der kopernikanischen Wendung dar. [Vgl. E W. J. Schelling. "Immanuel Kant". In: E W. J. Schelling. Ausgewählte Schriften in sechs Bän­ den. Band 3: 1 804-1806. Frankfurt am Main, 2 1 987: S. 1 5.] - Ebenso erörtert K. Vorländer in Immanuel Kant. Der Mann und das Werk. Hamburg, 3 1 992: S. 266-267 Wesen und Be­ deutung der kopernikanischen Revolution. Vgl. auch: M. A. de Oliveira. Subjektivität und Vermittlung. Studien zur Entwicklung des transzendentalen Denkens bei I. Kant, E. Husser/ und H. Wagner. München, 1 973: S. 1 03-1 04 und G. Mohr und M. Willaschek. "Einleitung: Kants Kritik der reinen Vernunft". In: G. Mohr und M. Wulaschek (Hrsg.). Immanuel Kant:

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dann gelöst und ihre Grundlegung als Wissenschaft dann erreicht werden kön­ nen, wenn die Begriffe nicht mehr als sich nach den Gegenständen, sondern wenn die Gegenstände (als Bereich der Erfahrung) als sich nach den Begriffen richtend verstanden werden. Diese radikale Veränderung der Vorgehensweise gilt - betrachtet man die grundlegenden Anliegen jeder Metaphysik - in ausgezeich­ neter Weise für die reinen, notwendigen Vernunftgegenstände, d. h. für die Ideen von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit der Seele, die gerade den Inhalt je­ der Metaphysik als Naturanlage ausmachen.32 Das methodisch geeignete Verfah­ ren, das die Metaphysik dazu anwenden muß, ähnelt nach Kant dem einer wei­ teren, schon genannten Wissenschaft, nämlich dem synthetischen Verfahren der Chemie.33 Wird in der zweiten Vorrede die Notwendigkeit einer generellen Revolution der Denkungsart im Bereich der Metaphysik gleichsam nur hypothetisch vorge­ tragen, so wird sie in der Kritik der reinen Vernunft selbst ausgeführt, denn in dem Versuch, das bisherige Verfahren der Metaphysik umzuändern und eine Re­ volution der metaphysischen Denkungsart zu bewirken, besteht das Geschäft der Kritik der reinen spekulativen Vernunft. Damit ist sie "ein Traktat von der Me­ thode, nicht ein System der Wissenschaft selbst; aber sie verzeichnet gleichwohl den ganzen Umriß derselben, sowohl in Ansehung ihrer Grenzen, als auch den ganzen inneren Gliederbau derselben"34. Die reine spekulative Vernunft soll also das ganze System der Metaphysik vorzeichnen. Umgekehrt kann die Metaphy­ sik, wenn sie durch die Kritik in den sicheren Gang einer Wissenschaft gebracht worden ist, das ganze Feld der ihr zugehörigen Erkenntnisse umfassen; denn als Grundwissenschaft muß sie auch vollständig sein.35 Aus dem Gesagten lassen sich (mindestens) drei bedeutungsvolle Schlußfolge­ rungen in bezug auf das Kantische Werk, aber auch auf die Philosophie insge­ samt ziehen: Kritik der reinen Vernunft. Reihe: Klassiker auslegen, Band 1 7/ 1 8. Berlin, 1 998: S. 1 7- 1 8 . ­ Ganz allgemein kann zu dieser Thematik H. Blumenbergs Die kopernikanische Wende. Frankfurt am Main, 1 965, herangezogen werden. 3 2 Vgl. dazu zum Beispiel: Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 7, B 22, aber auch schon B XXXI mit der Aussage, daß irgendeine Metaphysik immer in der Welt sein wird. - Daß eine kopernikanische Wendung innerhalb der Philosophie keineswegs ausschließlich auf den Bereich der Ideen beschränkt werden muß, zeigt beispielsweise P. Guyer in "Nature, Art and Auronomy: A Copernican Revolution in Kant's Aesthetics". In: K. Cramer, H. E Fulda, R.-P. Horstmann, U. Pothast (Hrsg.). Theorie der Subjektivität, a.a.O., S. 299-343, in dem er eine Revolution der Denkungsart auch für Kants Ästhetik nachzuweisen sucht, indem Kants Veränderungen und Umkehrungen zeitgenössischer Auffassungen von Kunst, Erhabenheit und Natur etwa gegenüber Wolff, Baumgarten, Burke oder Addison hervorgehoben werden. 33 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, B XXI. 34 Kant. Kritik der reinen Vernunft, B XXII. 35 Vgl. dazu: Kant. Kritik der reinen Vernunft, B XXIII-B XXN.

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( 1) Daß die reine Vernunft das System der Metaphysik "verzeichnen kann und soll"36, macht aus ihrer Aufgabe auch ein dem praktischen Handeln analo­ ges Vorgehen, ohne dabei selbst ethisch (relevant) zu sein, d. h. schon in diesem frühen Stadium werden terminologische Anklänge an Kants praktische Philoso­ phie erkennbarY Denn im Bereich der praktischen Philosophie gilt - verein­ facht gesprochen -, daß der Mensch in seinem Tun das Sittengesetz deswegen anwenden kann, weil er es befolgen soll. Dies hat seinen Grund darin, daß er vor jede mögliche moralisch relevante Situation gestellt - urteilt, "daß er etwas kann, darum, weil er sich bewußt ist, daß er es soll, und [so] erkennt [er] in sich die Freiheit, die ihm sonst ohne das moralische Gesetz unbekannt geblieben wäre"38• Die enge Verbindung, die Kant zwischen der Einsicht in ein notwendi­ ges Sollen und der Umsetzung eines möglichen Könnens herstellt, gemahnt an sein ähnliches Vorgehen bei der Einführung des für den Beweis der Realität der Freiheit so bedeutsamen Faktums der Vernunft39, das darin besteht, daß sich der Mensch in jeder (Handlungs-)Situation darüber im klaren ist, wie die moralisch angemessene Handlungsweise auszusehen hätte. Kant setzt also das Bewußtsein des Sittengesetzes und nicht das Sittengesetz selbst zum Beweis dafür an, daß es reale Freiheit und damit letztlich das Vorkommen der reinen Vernunft gibt. Weil der Mensch weiß, wie er richtig handeln soll, weil er sich die Relevanz des Sit­ tengesetzes, d. h. des Kategorischen Imperativs, stets vor Augen führen kann, ist es ihm auch möglich, entgegen niedrigen Beweggründen, diese Einsichten zur Grundlage seines Handeins zu machen: Weil der Mensch sich darüber im klaren ist, daß er nach dem Sittengesetz handeln soll, kann er auch frei sein, so daß die Realität (der Kausalität) der Freiheit bewiesen ist. Diese Verknüpfung von Kön­ nen und Sollen sowohl in ihrem reinen Bewgensein auf das Sittengesetz als auch in ihrer weiterreichenden Bedeutung für die Realität der Freiheit als Faktum der Vernunft bildet also eine Grundrelation der praktischen Philosophie; aber auch in der theoretischen Philosophie der Kritik der reinen Vernunft verweist ihr Auf­ treten auf den Gang der Philosophie hin zur Transzendentalphilosophie. Denn hier gilt die nicht im Sinne eines ethisch-praktischen Handeins zu begreifende 36 Kant. Kritik der reinen Vernunft, B XXIII. 37 Ohne daß an dieser Stelle detaillierter auf die Kantische Antinomie von Freiheit und

Kausalität in ihrer Rezeption bei T. W Adorno eingegangen werden kann, sei doch wenigstens auf seine Kritik an diesem Komplex in der Negativen Dialektik. Frankfurt am Main, 61 990: S. 238-239 verwiesen. Dabei bleibt anzumerken, daß Adorno seiner Kritik an Kants Lösung dieser Antinomie durch eine Aufteilung auf das reine und das empirische Ich dadurch den Boden entzieht, daß er Kant unreflektiert und plakativ einer 'bürgerlichen Philosophie' zuordnet - was ihn auch zu einer ganz unhaltbaren Stellungnahme zum Problem des Bösen bei Kant führt, an der sich sein falscher Gebrauch des Wortes 'radikal' erweist. 3 8 Kant. Kritik der praktischen Vernunft. Akademie-Ausgabe, Band V: S. 30, vgl. S. 1 59. 39 Vgl. Kant. Kritik der praktischen Vernunft. Akademie-Ausgabe, Band V: S. 3 1 -32.

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theoretische Beziehung von Können und Sollen mit der Kraft einer Kausalbezie­ hung: Weil die reine spekulative Vernunft das System der Metaphysik grundle­ gen und damit das bisher nur gemutmaßte Wissen auf diesem Gebiet in den si­ cheren Gang einer Wissenschaft führen soll, deshalb kann sie diese Aufgabe er­ füllen.40 Weil die reine Vernunft weiß, was sie tun soll, indem sie sich selbst kritisiert, kann sie den unsichersten Bereich ihres Wissens, den durch Erfahrung unzugänglichen, jedoch gleichermaßen unüberwindlichen Ideenbereich abgren­ zen, so daß das Wissen auch hier auf eine gesicherte, obgleich - abgesehen vom Bereich der Freiheit - nur negative Grundlage gestellt werden kann. Bei der Schaffung des Bodens für die Metaphysik kommt es so zu einer Verschmelzung von Theorie {Was kann ich wissen?) und Praxis {Was soll ich tun?) . Wenn auch die erste Kritik den Bereich der praktischen Vernunft nicht ausführlich zu ihrer Sache macht, so bildet sie doch ihre unverzichtbare Voraussetzung; und obwohl die Kritik der praktischen Vernunft den Bereich der theoretischen Vernunft nicht mehr detailliert behandelt, so bildet er doch ihre stets mitzudenkende Vor­ aussetzung. Damit wird nicht nur äußerlich nochmals die Untrennbarkeit der Kritiken betont, die sich teilweise durch die Frage zusammenfassen lassen: 'Was darf ich hoffen, wenn ich erkannt habe, was ich wissen kann und tun soll?', so daß alle drei in ihrer Gesamtheit die Antwort auf die Frage nach dem, was der Mensch sei, liefern. Damit wird auch noch einmal die innere Notwendigkeit ei­ ner wissenschaftlichen Metaphysik bzw. Philosophie verdeutlicht. Denn wenn sich tatsächlich alle Bereiche derselben in einem unauflösbaren (nur der größe­ ren Übersichtlichkeit wegen darstellungsmäßig zu trennenden) Zusammenhang befinden, dessen Ausgangspunkt die theoretische Vernunft der ersten Kritik bil­ det - die solcherart als Text und inhaltlich in eine exponierte Stellung gerückt wird -, so ist offensichtlich, daß ohne eine gesicherte wissenschaftliche Basis das gesamte in den drei Kritiken vorgestellte Programm scheitern müßte. Gelingt es Kant allerdings mit Hilfe der alles umkehrenden kopernikanischen Wende, die Metaphysik als Wissenschaft grundzulegen, so ist damit sowohl die Notwendig­ keit aller ihrer Teile als auch die für jede Philosophie dadurch unverzichtbar ge­ wordene Methode der Kritik erwiesen. Und wenn die Wahrheit dieser Methode derart nachweisbar geworden und wenn dazu tatsächlich eine unbezweifelbare Methode das Kennzeichen jeder sicheren Wissenschaft ist, dann ist auch die Phi­ losophie in den von ihr angestrebten Rang aufgestiegen und zu der Grund­ wissenschaft schlechthin geworden. Indem die Kritik der reinen Vernunft also 4 0 Diesen Zusammenhang vertiefend kann gesagt werden: ., [ . . . ] weil das vernün&ige Sub­ jekt erkennen kann, soll es sich erkennen". [D. Sturma. Kant über Selbstbewußtsein, a.a.O., S. 1 06.] Durch dieses analoge Verhältnis im Bereich der Subjektivität deutet sich schon die be­ deutende Stellung der Sdbstbewußtseinstheorie für das Kantische System insgesamt an - unter Einbeziehung auch seiner praktischen Aspekte.

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auf der einen Seite durch die Forderung nach Wissenschaftlichkeit die kritische Transzendentalmethode als notwendig etabliert und indem sie auf der anderen Seite durch diese Methode Wissenschaftlichkeit und System der Philosophie ins­ gesamt nachweist, macht sie zu ihrem eigenen Ausgangspunkt einen sich selbst begründenden Zirkel, der - besonders eindringlich durch die kopernikanische Wende plausibel gemacht - das Problem eines notwendigen Anfangs in der Phi­ losophie löst. Die Frage, ob mit diesem Anfang nur ein Zirkel oder schon ein Paradox vorliegt, ist dadurch in ihrer Bedeutung herabgemindert, wenn nicht gar überflüssig geworden, weil das eigendich philosophisch Erforderliche gelei­ stet werden kann: ein unhintergehbarer und in seiner Evidenz sicherer Anfang.41 Den dargestellten Zusammenhang zwischen Sollen und Können in ihrer theoretischen und praktischen Verschiedenheit erweitert Kant gegen Ende der zweiten Vorrede der Kritik der reinen Vernunft noch um die bereits erwähnte Dimension des Glaubens, wenn er schreibt: "Ich mußte also das Wissen aufhe­ ben, um zum Glauben Platz zu bekommen, und der Dogmatismus der Meta­ physik, d. i. das Vorurteil, in ihr ohne Kritik der reinen Vernunft fortzukom­ men, ist die wahre Quelle alles der Moralität widerstreitenden Unglaubens, der jederzeit gar sehr dogmatisch ist."42 Dieses Zitat zeigt zweierlei: Können und Sollen vereint, d. h. die Gesamtheit von theoretischer und praktischer Philoso­ phie, lassen immer noch Raum für die Frage 'Was darf ich hoffen?', ja sie geben dem auf die Hoffensfrage antwortenden Glauben43 erst seine wahre Berechti4 1 Ein solches Muster findet sich nicht nur in der Philosophie Kants, sondern auch bei vielen seiner Nachfolger. Aufgrund der dabei fast immer auftretenden Problematik der Subjektivität seien hier schon einige Beispiele genannt: Bei Kant selbst findet sich der alle Philosophie begründende Ausgangszirkel auf der Ebene des Ich wieder, denn obwohl das Ich als oberstes Wissen weder selbst begründet noch inhaltlich bestimmt werden kann, begründet es doch alles Wissen und alle Inhalte. Zu besonderer Bedeutung gelangt dieser Zusammen­ hang bei Fichte, der ebenfalls davon ausgeht, daß der letzte Grund allen Wissens, das Ich, zwar selbst nicht begründet werden kann, aber doch jedem möglichen Wissen zugrunde liegt, d. h. daß die oberste Grundlage notwendig von einem Urparadox ausgehen muß, das auf die Identi­ tät des Wissens mit sich selbst verweist. [Vgl. dazu: J. G. Fichte. Ueber den Begriff der Wis­ senschafts/ehre. In: Fichtes Werke. Hrsg. von I. H. Fichte. Band I: Zur theoretischen Philoso­ phie. Nachdruck, Berlin, 1 97 1 .] Ebenfalls aufgegriffen wird dieses Grundgefüge von Schel­ ling, der das oberste Wissen als absolute Identität einführt. [Vgl. dazu: E W. J. Schelling. System des transzendentalen Idealismus. In: E W. J. Schelling. Ausgewählte Schriften in sechs Bänden. Band 1 : 1 794-1 800. Frankfurt am Main, 2 1 995.] In der modernen Philosophie finden sich analoge Tendenzen etwa bei Husserl, wozu später das Nötige gesagt werden wird. Und noch Heidegger geht ähnlich vor, wenn er zur Grundlage alles Philosophierens den her­ meneutischen Zirkel macht, wodurch er das von manchen der genannten Philosophen als Paradox bemängelte Verhältnis in einen unantastbaren Zirkel verwandelt. [Vgl. dazu: M. Hei­ degger. Sein und Zeit. Tübingen, 171 993.] 4 2 Kant. Kritik der reinen Vernunft, B XXX . 43 Zur Differenz von Glauben und Wissen vgl. etwa: H. Rickert. Kant als Philosoph der modernen Kultur. Ein geschichtsphilosophischer Versuch. Tübingen, 1 924: S. 1 87-200. -

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gung, indem sie beide zusammen die Problematik der drei Ideen aufweisen (Kri­ tik der reinen Vernunft) und dann ihre Realität ausgehend von der zentralen Idee der Freiheit in Beziehung auf die Ausübung des moralischen Gesetzes er­ weisen (Kritik der praktischen Vernunft), wodurch die Erkenntnis in praktischer Hinsicht erweitert wird. Denn erst wenn das Gebiet des möglichen Wissens mit Hilfe der systematischen Analyse der zum Wissen notwendigerweise gehörenden Erkenntnisvermögen gegen den Bereich des dem Wissen niemals Zugänglichen abgegrenzt ist (wobei der Tafel des Nichts in der Kritik der reinen Vernunft be­ sondere Bedeutung zukommt), ist auch die tragende Grundlage fiir einen sinn­ vollen und auf praktischem Gebiet Konsequenzen (des Handelns) nach sich zie­ henden Glauben geschaffen.44 Abgesehen von diesen grundsätzlichen Zusam­ menhängen zeigt die zitierte Stelle noch einmal deutlich das Anliegen Kants, den Dogmatismus der Metaphysik zu überwinden - ein Anliegen, das weder durch den unwissentlich dogmatisch vorgehenden gesunden Menschenverstand noch durch die auf ihren je eigenen Gebieten ebenfalls von der Gefahr einer sol­ chen Vorgehensweise bedrohten Einzelwissenschaften geleistet werden kann. Die einzige Möglichkeit, den Dogmatismus innerhalb der Philosophie auszuschal­ ten, sieht Kant in der Schaffung der geeigneten kritischen Methode. (2) Die reine spekulative Vernunft kann das ganze System der Metaphysik vorzeichnen.45 Durch diese Kennzeichnung der primären Aufgabe der reinen Vernunft wird schon innerhalb der Vorrede einer der zentralen Begriffe fiir das gesamte Kamische Denken eingefiihrt, eben der des Systems. Er durchzieht die gesamte erste Kritik und gibt ihr sowie ihren Inhalten ihre Form - wodurch auch er unter die fiir alles Denken konstitutiven Begriffe von Form und Materie zu zählen ist. Die gesamte Kritik der reinen Vernunft wie auch ihre einzelnen Teile entsprechen in ihrem Aufbau der Systemform, d. h. sie bilden kein Aggre­ gat aus zufällig zusammengebrachten Teilen, sondern sie stehen in einer notwen­ digen inneren Beziehung. Dabei gilt stets: Wird auch nur ein Teil aus diesem SyA. Ros. "Kants Begriff der synthetischen Urteile a priori". In: Kant-Studien 82, 1 99 1 : S. 1 56, Anmerkung 25. 44 Daß sich dabei der Einzelne in seinem Glauben dieser Wissensgrundlage nicht immer bewußt ist, beweist nicht, daß es dieses wissenden Grundes für den Glauben nicht bedarf, son­ dern lediglich, daß auch auf dem Gebiet des Glaubens ein kritisch-transzendentaler Apparat vorgeschaltet sein muß, damit die Notwendigkeit des Glaubens sich nicht im Subjektiv­ Spekulativen verliert. Das bedeutet aber wiederum, daß nicht einmal in dem nur scheinbar so unsicheren Raum des Glaubens der Ausgang vom gesunden Menschenverstand genommen werden darf. Ganz im Gegenteil erfordert gerade die Glaubenssphäre ein Hinausgehen über einen rein natürlichen Standpunkt hin zu einem begründeten Standpunkt, den allein die Kri­ tik der reinen Vernunft zu geben vermag. In dieser Hinsicht kommen also Glauben und Wis­ senschaften überein, da sie beide eines ihnen erst ihr Recht verschaffenden Bodens, der kri­ tischen Transzendentalphilosophie, bedürfen, um mehr zu sein als bloße Behauptung. 45 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, B XXIII.

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stem der Erkenntnis abgezogen, so fällt das ganze Gebäude in sich zusammen. So ist wahre Erkenntnis durch das gelingende Zusammenspiel aller Erkenntnis­ vermögen - angefangen von der Sinnlichkeit bis hin zur Vernunft - allein im Sy­ stem möglich. Und damit sind drei für die Kamische Transzendentalphilosophie konstitutive Größen wiederum in Form eines notwendigen Systems aneinander­ gekoppelt, nämlich Wahrheit, Erkenntnis(-möglichkeit) und System. Dies be­ deutet, daß die Teile der Kritik der reinen Vernunft einhergehend mit den in ih­ nen thematisierten Vermögen in ihrem Auftreten und Zusammenhang unver­ zichtbar sind: Ohne transzendentale Ästhetik erübrigt sich eine transzendentale Logik, ohne Analyse des Denkens läuft eine Analyse der Sinnlichkeit ins Leere, ohne den Lösungsversuch der die reine Vernunft betreffenden Ideenproblematik bleibt der Aufweis der Verstandesarbeit ziellos - die Reihe der Beispiele ließe sich mühelos verlängern. Das hat allerdings keineswegs zur Folge, daß diese Teile und Abschnitte stets in derselben Reihenfolge auftreten und bearbeitet werden müssen; dies zeigt sich beispielsweise an den unterschiedlichen Vorgehensweisen der Kritik der reinen Vernunft und der Prolegomena, aber auch innerhalb der er­ sten Kritik selbst, am deutlichsten wohl an den beiden schon äußerlich ganz ver­ schieden aufgebauten Versionen der transzendentalen Deduktion in der ersten und zweiten Auflage. Generell wird das Bemühen Kants sichtbar, die Reihen­ folge der Textabschnitte, der Themen und der Vermögen einer dem Menschen gewissermaßen natürlich gegebenen Ordnung anzulehnen. Dies führt oft zu ei­ ner scheinbaren Verschiebung der Gewichte, indem das zunächst leichter Zu­ gängliche an den Anfang gestellt wird, worauf dann das an sich Grundlegende, aber ferner Liegende erst folgt. Dieses Phänomen ist etwa in der transzendenta­ len Ästhetik zu beobachten: Dem natürlich eingestellten Menschen begegnet in seinem alltäglichen Umgang mit Dingen der Raum zuerst, denn er bewegt sich selbstverständlich in ihm. Da es dem Verständnis der Untersuchung zugute kommt, hebt Kam bei der Analyse der Anschauungsformen mit der Untersu­ chung des Raumes an. Dieser wird dann die Analyse der Zeit nachgestellt, die beim täglichen Hantieren oft nur abgeleitet wahrgenommen wird. Dennoch macht Kam durch die inhaltliche Erfassung der Zeit deutlich, daß diese von grö­ ßerer Bedeutung als der Raum und also diesem an sich vorgeordnet ist. Um die Inhalte der Kritik der reinen Vernunft verständlich zu machen und um sie ge­ rade in ihren Anfängen didaktisch vermitteln zu können, bedient sich Kant der Vertauschung von Wertigkeit und Verständlichkeit. Darin kann durchaus eine Konzession an den gesunden Menschenverstand erblickt werden, der dazu befähigt werden soll, Vorgehen und Inhalte der Transzendentalphilosophie we­ nigstens nachzuvollziehen.46 Wenn Kam also die leichtere Verständlichkeit seiner 4 6 Damit bestätigt sich das bisher über den gesunden Menschenverstand Gesagte: Kant

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Aussagen anstrebt, so zeigt dies, daß die Reihenfolge der Teile nicht von ent­ scheidender Bedeutung ist, wohl aber daß die Teile als solche unverzichtbar und für die Erkenntnis notwendig sind. Darüber hinaus wird auch derjenige Leser, der sich die Schritte der Kritik der reinen Vernunft angeeignet hat, die sachlich angemessene Reihenfolge von selbst herstellen, indem er sich - um beim ge­ wählten Beispiel zu bleiben - der Vorordnung der Zeit vor dem Raum bewußt wird und so den philosophisch angemessenen Weg von der Zeit als dem Primä­ ren zum Raum als dem Nachgeordneten beschreiten wird. Wenn demnach bei der Behandlung der Phänomene eine gewisse, sich auch an äußerlichen Anliegen orientierende Beliebigkeit anzutreffen ist, so wird derselben durch die inhaltliche Sphäre ihre feste Grenze gesetzt. Den verschiedenen Anordnungsmöglichkeiten steht die eine sachliche Notwendigkeit gegenüber, durch die sich das Gesamtsy­ stem der Kamischen Philosophie auszeichnet. Allerdings gibt es hinsichtlich der möglichen Abfolgen noch Gradunterschiede, wie beispielsweise ein Blick auf die Kategorientafel lehren kann: Selbst wenn es möglich wäre, die Tafel innerhalb des Textes an einen anderen Ort zu stellen - eine Vorordnung vor die Urteilstafel wäre zumindest denkbar -, so kann doch die in ihr aufgewiesene Anordnung der Kategorien nicht verändert werden. So ist die Variierbarkeit innerhalb des Sy­ stemrahmens zwar groß, aber doch nicht unbegrenzt, sondern begrenzt durch das System und seine eigene Vernünftigkeit selbstY Das bisher zum System Gesagte kann folgendermaßen zusammengefaßt wer­ den: Oie Form und Folgeordnung des Systems können zur Verbesserung der Er­ faßbarkeit seiner Hauptgedanken variiert werden. Gerade die mögliche Um­ strukturierung der Systemteile läßt den Inhalt derselben deutlich werden, da beide dadurch von einem spezifischen Ort befreit und damit auch in ihrer Ei­ genbedeutung zugänglich werden. Bedeutung kann es überhaupt nur dann ge­ ben, wenn es ein Gesamtsystem, d. h. wenn es auch die verschiedenen Teile des­ selben gibt. Die Loslösbarkeit von einem bestimmten Ort innerhalb des Ganzen darf nicht dazu führen, die Abhängigkeit der Systemteile untereinander zu verlehnt ihn nicht vollständig ab und anerkennt seine bestätigende Funktion, die nicht zuletzt zur allgemeinen Verbreitung einer Lehre beitragen kann. 47 Zusätzlich zu den Möglichkeiten unterschiedlicher Reihenbildungen innerhalb des Systems ergibt sich noch ein weiterer, die Anwendung desselben betreffender Punkt: Der Satz, daß wahre Erkenntnis immer nur im System möglich ist, gilt ohne Einschränkung. Das ver­ hindert jedoch nicht, daß die praktische Arbeit an Einzelfragen auch mit herausgelösten Teilen des Systems forrschreitet, d. h. mit einem Aggregat. Natürlich ist es möglich, die Formen der Anschauung zunächst ohne Bezug zu den Kategorien zu betrachten; vorausgesetzt nur, daß ih­ nen im folgenden ihr Ort im System zugewiesen und daß sie in die sich aus der System­ perspektive als notwendig ergebende Beziehung zu den Formen des Verstandes gesetzt werden. Auf die Einzelarbeit muß also die Systemarbeit folgen, die auch die strenge Verwiesenheit des Einzelnen auf das Ganze sowie den vom letzteren ausgehenden Begründungscharakter auf­ deckt.

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schleiern. Die Variabilität der Form ist also keine absolute, sondern eine durch den Systemrahmen begrenzte. Noch deutlicher wird diese nur partielle Verän­ derbarkeit der Form bei Heranziehung ihres Pendants, der Materie; denn die in­ haltlichen Bestimmungen der einzelnen Systemteile können nicht verändert werden, sondern bilden einen festen Pol, der bei allen Modifikationen der Dar­ stellung erhalten bleibt. Das alles Denken bestimmende Begriffspaar von Form und Materie besteht also auch bei der alles andere erst zur Sinnhaftigkeit führen­ den Größe wie dem System der reinen Vernunft weiter. Und zwar in der Weise, daß wohl die Form verändert werden kann, nicht aber ihre Materie und auch nicht - und dies ist von entscheidender Bedeutung - die Form der Form, d. h. das System selbst. Zum Schluß bleibt hier noch eine Anmerkung zu machen: Die reine spekula­ tive Vernunft ist nach Kant lediglich ein Traktat von der Methode, nicht aber ein System der Wissenschaft der Metaphysik selbst.48 Auf diese Weise soll also der Grundriß einer wissenschaftlichen Metaphysik geschaffen werden, der dann zur Füllung der einzelnen 'Gebäudeteile' mit Inhalt bereitsteht. Die reine Ver­ nunft erhält damit eine zunächst vorzeichnende Rolle zugewiesen. Daraus könnte nun geschlossen werden, Kant habe das eigentlich Erforderliche, nämlich die Vollständigkeit des Systems der Philosophie nicht erreicht und nur als Ziel in Aussicht gestellt. Doch indem er das System der Metaphysik in seinem Umriß samt Grenzen und innerem Gliederbau vorzeichnet, hat er gerade das Notwen­ dige getan, um den Aufbau der Metaphysik vollständig aufzuweisen. Ist aber der gesamte Systemaufriß vorhanden und sogar - wie durch die Kritik der reinen Vernunft geleistet - in seinen zentralen Teilen weitgehend ausgearbeitet, so ist seine Vervollständigung durch die noch ausstehenden Einzelheiten zwar erfor­ derlich, aber keineswegs für den Moment unverzichtbar. Die letzten Details können immer nachgeliefert werden, ohne daß dadurch das System im ganzen fundamental berührt würde. Sind der Plan und die bestimmende Form erfaßt, so ist die Komplettierung im Einzelfall nur noch eine Frage der Zeit. Mit der Form des Systems ist alles geleistet, seine abschließende Füllung mit Materie kann demgegenüber zurückstehen. Fast zu Beginn der Kritik der reinen Vernunft schreibt Kant: "Eine solche [transzendentale] Kritik ist demnach eine Vorbereitung, wo möglich, zu einem Organon, und, wenn dieses nicht gelingen sollte, wenigstens zu einem Kanon derselben, nach welchen allenfalls dereinst das vollständige System der Philoso­ phie der reinen Vernunft, [ . . . ] , sowohl analytisch, als synthetisch dargestellt wer­ den könnte. "49 Auch hier werden der vollständige Bauplan und die ergänzenden 4 8 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, B XXII. 49 Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 1 2.

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Ausführungen desselben voneinander geschieden. Strenggenommen beansprucht also Kant für sich nicht, das gesamte System der Transzendentalphilosophie in all seinen Einzelheiten ausgearbeitet zu haben. Dennoch ist er der Meinung, die für ein derartiges System grundlegenden Untersuchungen in der Kritik der rei­ nen Vernunft durchgeführt zu haben, die im Anschluß an dieses Werk nur noch der Ergänzung durch ein bloß analytisches Vorgehen bedürfen, wozu sogar die Heranziehung einiger zu Kants Zeit gängiger ontologischer Lehrbücher ausrei­ chend sein sollte.5° Kants Anspruch ist der, alles Wesentliche hinsichtlich einer Transzendentalphilosophie geleistet zu haben und lediglich einiger kleinerer Er­ gänzungen zu bedürfen, um das System auch äußerlich abzuschließen, wozu al­ lerdings nicht die Tiefe und Strenge erforderlich sind, wie er sie in der Kritik der reinen Vernunft zur inneren Strukturanalyse desselben anwenden mußte.51 Da­ bei bleibt zwar Kants letztes und mit der ersten Kritik noch nicht endgültig er­ reichtes Ziel eine auf dem kritischen Boden erwachsende Transzendentalphiloso­ phie, die Anspruch auf abschließende Vollständigkeit erheben kann, doch ist diese Aufgabe innerhalb einer absehbaren Zeit in ihrer Ganzheit auszuführen. Indem die Vollständigkeit des Systems als erreichbar angezeigt ist, wird das die Transzendentalphilosophie insgesamt leitende Ziel der Grundlegung der Me­ taphysik selbst als strenge Wissenschaft in greifbare Nähe gerückt und findet in der Kritik der reinen Vernunft seine für das Gesamtsystem notwendige Erfül­ lung.52 Der Charakter der Systemvorzeichnung macht die Kritik der reinen Ver­ nunft zwar noch nicht zum System der Transzendentalphilosophie insgesamt, zeigt aber an, daß im Systembegriff die Ganzheit der Philosophie beschlossen liegt; durch die Ganzheit der Form, die in sich den Schlüssel zu einer Ganzheit der Materie trägt, indem die systematisch ganze Form die vollständige Erfassung 5 0 Dies verdeutlicht Kant im Zusammenhang der Kategorientafel, wenn er in A 8 1 -82/ B 1 07-1 08 schreibt: " [Es] ist also noch zu bemerken: daß die Kategorien, als die wahren Stammbegriffe des reinen Verstandes, auch ihre ebenso reinen abgeleiteten Begriffe haben, die in einem vollständigen System der Transzendental-Philosophie keineswegs übergangen werden können, mit deren bloßer Erwähnung aber ich in einem bloß kritischen Versuch zufrieden sein kann. [ . . . ] Da es mir hier nicht um die Vollständigkeit des Systems, sondern nur der Prin­ zipien zu einem System zu tun ist, so verspare ich diese Ergänzung auf eine andere Be­ schäftigung. Man kann aber diese Absicht ziemlich erreichen, wenn man die Ontologischen Lehrbücher zur Hand nimmt, [ . . ] . " 5 1 Damit ist gezeigt, d aß bei der Systembetrachtung neben dem fundamentalen Begriffs­ paar von Form und Materie, das den obersten Rang bei der Bestimmung des Systems ein­ nimmt, weiterhin das andere zentrale Begriffspaar des Inneren und Äußeren, wie Kant es im Amphiboliekapitel vorführt, von großer Bedeutung ist, weil auch dadurch das System um­ grenzt und dem Denken zugänglich gemacht wird. 5 2 Daß er dieses Ziel schon erreicht hat, dessen ist Kant sich durchaus bewußt: " [ . . . ] ich erkühne mich zu sagen, daß nicht eine einzige metaphysische Aufgabe sein müsse, die hier nicht aufgelöst, oder zu deren Auflösung nicht wenigstens der Schlüssel dargereicht worden." [Kant. Kritik der reinen Vernunft, A XIII.] .

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aller möglichen Inhalte erlaubt, weil nichts, was dem Formprinzip genügen kann, nicht auch in seinem eigenen materialen Wesen unzugänglich bleiben kann, wird die Vollendung der Philosophie aus dem Bereich des nur Möglichen in den des Wirklichen überführt. (3) Als Grundwissenschaft muß die Metaphysik vollständig sein.53 Hiermit spricht Kant zwei zentrale Faktoren der Philosophie an: ihren Charakter als Grundwissenschaft gegenüber allen anderen Wissenschaften und ihre Vollstän­ digkeit, die in der Totalität des philosophischen Systems liegt. - Wenn es mög­ lich ist, das System der Transzendentalphilosophie mit all seinen Teilen aufzu­ stellen, wozu Kant in der Kritik der reinen Vernunft den Plan liefert, der durch die beiden anderen Kritiken weiter ausgebreitet wird, so ist damit auch der Bo­ den für alle Einzelwissenschaften gelegt. Denn wenn es ein in sich stimmiges, abgeschlossenes und durch sich selbst begründetes System der Philosophie gibt, so kann es auch zur Grundlage aller anderen Wissenschaften dienen, weil dann in beiden Bereichen dieselbe Aufgabe gelöst werden kann, nämlich die Frage nach der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori54 • Indem die Metaphysik in sich selbst gründet, vermag sie allen Einzelwissenschaften einen sicheren Grund zu geben, weil diese nicht in der Lage sind, innerhalb ihres eigenen inhaltlichen Fortschreirens auf ihr Fundament zu reflektieren. 55 Kann so die Möglichkeit der Lösung der Aufgabe der synthetischen Urteile a priori bewiesen werden, so "ist zugleich die Möglichkeit des reinen Vernunftgebrauches in Gründung und Aus­ führung aller Wissenschaften, die eine theoretische Erkenntnis a priori von Ge­ genständen enthalten, mit begriffen, d. i. die Beantwortung der Fragen: Wie ist reine Mathematik möglich? Wie ist reine Naturwissenschaft möglich?"56 Kant verfolgt also mit der Grundlegung der Metaphysik als Wissenschaft zu­ gleich das Ziel der Grundlegung aller anderen Wissenschaften, vorrangig der rei­ nen MathematikY Damit tritt die Situation ein, daß diejenige Wissenschaft, die 53 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, B XXN. 54 Vgl. A. Ros. "Kants Begriff der synthetischen Urteile a priori", a.a. O . , S . 1 46- 1 72. 55 In diesem Zusammenhang zeigt sich der umfassende Reflexionscharakter der echten, wissenschaftlichen Metaphysik, die als solche auch die Möglichkeit aller Wissenschaft in sich enthält, indem sie dieselbe allererst aufklären kann und sich der Notwendigkeit bewußt ist, nach dieser Möglichkeit zu fragen. [Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 20.] 56 Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 20. 57 Darauf, daß es nicht Kants Ziel war, Physik und Mathematik allein zu begründen, son­ dern sie im Zusammenhang mit der einen, wahren Wissenschaft, der Metaphysik, grundzule­ gen, verweist etwa B. H. Son in Science and Person. A Study of the Idea of Philosophy as a Rigorous Science in Kant and Husserl. Assen, 1 972: S. 2. - Indem diese Bezüge zwischen der Transzendentalphilosophie und den Wissenschaften bestehen, erfüllt die Kantische Konzep­ tion den Anspruch, den etwa Natorp an alle wahre Philosophie stellt, daß sie sowohl sich selbst als Wissenschaft ausweisen als auch alle anderen Wissenschaften zur Begründung führen muß. [Vgl. P. Natorp. Philosophische Propädeutik. Allgemeine Einleitung in die Philosophie

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den Anstoß für den Versuch der Verwissenschaftlichung der Philosophie gab, in­ dem die Sicherheit ihres Vorgehens auch auf den metaphysischen Bereich über­ tragen werden sollte, von der Philosophie erst rückwirkend als Wissenschaft be­ stätigt werden kann. Während sich die Metaphysik die an der Mathematik be­ obachtete kopernikanische Wendung zu eigen macht, um selbst zu einer sicheren Wissenschaft zu werden, bedarf die Mathematik nach Schaffung der wissenschaftlichen Philosophie gerade dieser, um in ihrem eigenen wissenschaft­ lichen Charakter bestätigt werden zu können. Denn die Mathematik vermag keine hinreichende Erklärung für ihre eigene Wissenschaftlichkeit zu geben, da eine solche Reflexion auf sich selbst diesem Erkenntnisgebiet unzugänglich ist und die Metaebene der Transzendentalphilosophie erfordert. 58 Erst die Philoso­ phie kann erklären, wa ru m die reine Mathematik notwendig zu den sicheren Wissenschaften gehört; die Mathematik selbst kann nur feststellen, daß sie zu diesen zu zählen ist.59 So wie die Transzendentalphilosophie die Wissenschaft­ lichkeit der Mathematik begründen kann, genauso vermag sie auch im Bereich der Naturwissenschaften zu wirken, die der Mathematik nachgeordnet werden,

und Anfangsgründe der Logik, Ethik und Psychologie. Marburg, 1 903: S. 3.] - Vgl . auch: H. M. Chalybäus. Fundamentalphilosophie. Ein Versuch, das System der Philosophie auf ein Realprinzip zu gründen. Kiel, 1 86 1 : S. 5 1 . 5 8 Eben deswegen handelt j a die Transzendentalphilosophie mit ihrem Anspruch darauf, die Frage, was der Mensch wissen kann, umfassend zu beantworten, wobei sie auf synthetische Urteile a priori Bezug nimmt, auch von den Bedingungen der Möglichkeit von Wissenschaft. Vgl. dazu: P. Rohs. Transzendentale Logik. Meisenheim am Glan, 1 976: S. 3 . 5 9 Dieser fundamentale Unterschied zwischen den Wissensgebieten der Mathematik und der Philosophie spiegelt sich in ihren unterschiedlichen Vorgehensweisen wider. [Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 7 1 4/ B 742 und A 7 1 5/B 743 .] So wie die philosophische Er­ kenntnis auf allgemeingültige Erklärungen abzielt, so zieht die mathematische Vorgehensweise das Besondere oder Einzelne heran, um es durch Konstruktion in der Anschauung zu bewei­ sen. Die Philosophie versucht überdies, die letzten Erkenntniszusammenhänge aufzuweisen, von denen aus im Rückblick alles Besondere verständlich gemacht werden kann, und so ge­ lingt es ihr durch den Aufweis dessen, was Wissenschaftlichkeit an sich ist, d. h. durch die Grundlegung ihrer selbst als gesicherte Wissenschaft in einem Akt der absoluten Selbst­ reflexion, auch den wissenschaftlichen Charakter aller ihr deshalb untergeordneten Wissen­ schaften zu demonstrieren. Indem die Philosophie den allgemeinsten, von allen Einzelerkennt­ nissen abstrahierenden Standpunkt einnimmt, gelingt ihr die Erklärung alles Besonderen, sowohl der Wissenschaften als auch ihrer jeweiligen Methode. Umgekehrt bedarf die Mathe­ matik der philosophischen Begründung, um nicht auf den Bereich der bloßen Meinung be­ schränkt zu bleiben. Allerdings gelingt es ihr durch ihre Vetwiesenheit auf den Bereich der Einzelphänomene auch, dem in ihr Untersuchten durch mögliches Anschaubarmachen den Beweis seiner Richtigkeit zu geben. Da die Mathematik sich der Anschauung bedienen kann, ist ihr Erkenntnisbereich dem allgemeinen Verständnis, d. h. der natürlichen Vernunft weitaus leichter zugänglich als die im Denken verharrende philosophische Erkenntnis, die eines größe­ ren Grades an Abstraktion bedar(

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wobei sie die auch in ihnen unverzichtbare Revolution der Denkungsart viel später vollwgen als jene.60 Besonders bedeutsam sind Kants Bezugnahmen auf die Newtonsehe Physik61 und die Euklidische Geometrie. Anklänge an die physikalischen Erkenntnisse seiner Zeit können sicherlich in den Raum-62 und Zeitargumenten, aber auch in der Grundsatzlehre der Kritik der reinen Vernunft entdeckt werden.63 Doch da­ durch, daß sich die Philosophie auf derartige Erkenntnisse nur in beispielhafter Form bezieht, zeigt sich, daß ihre Einsichten denen der Physik vorgeordnet sind, weil erst die wissenschaftliche Philosophie die Grundlage für die Wissenschaft­ lichkeit der Physik bereitstellt. Wie für die Mathematik gilt auch für die Physik, daß sie sich zwar im Stadium einer Wissenschaft befinden kann, daß sie aber darauf nie zu reflektieren vermag, so daß ihr Wissenschaftscharakter auch bloßer Schein sein könnte. Erst auf der Metaebene der Transzendentalphilosophie kann über die Wissenschaftlichkeit der Physik entschieden werden, da jene unabhän­ gig von den physikalischen Einzelwissenschaften und allein auf den Bereich des Denkens bewgen ist. Analoges gilt für den Bereich der Geometrie: Auch hier können die Raum- und Zeitargumente der Kritik der reinen Vernunft herange­ wgen werden.64 Die Geometrie als "Mathematik der Ausdehnung"65 bedarf ei­ ner Erklärung dessen, wie synthetische Urteile a priori möglich sind. Denn ob­ wohl sie selbst auf solche Weise vorgeht, ist es ihr doch aus sich selbst heraus nicht möglich, die ihr eigene (wissenschaftliche) Vorgehensweise (sich selbst) verständlich zu machen; dazu benötigt die Geometrie die Transzendental­ philosophie. 66 60 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, B XII . 6 1 Den Einfluß Newtons auf die Kantische Philosophie behandelt zum Beispiel A . N. Whitehead in Wissenschaft und moderne Welt. Frankfurt am Main, 1 98 1 : S. 47 und S. 1 63 . 6 2 Z u Kants Raumtheorie vgl. u. a. : M. Glouberman. "The distinction between 'transcen­ dental' and 'metaphysical' in Kant's Philosophy of Science" . In: The Modern Schoolman 5 5 , 1 977/7 8 : s. 3 7 1 -375. 63 Zu Kants Raum- und Zeitargumenten können herangezogen werden: T. Greenwood. "Kant on the Modalities of Space". In: E. Schaper und W. Vossenkuhl (Hrsg.) . Reading Kant - New Perspectives on Transeendental Arguments and Critical Philosophy. New York, 1 98 9 : S. 1 1 7- 1 39, w o betont wird, daß der Raumbeweis Kants noch kein Geometriebeweis sei. W. Patt. "Kants Raum- und Zeitargumente unter besonderer Berücksichtigung des Brief­ wechsels Leibniz - Clarke". In: H. Oberer und G. See! (Hrsg.) . Kant, a .a. O . , S. 28-3 8 . 64 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 4 0 . I n diesem Zusammenhang sind auch die Ausführungen G. Freges in Die Grundlagen der Arithmetik. Eine logisch-mathematische Un­ tersuchung über den Begriff der Zahl. Stuttgart, 1 987: S. 1 2 1 - 1 22 von großem Interesse, weil Frege dort ein großes Verdienst Kants in der Unterscheidung von synthetischen und ana­ lytischen Urteilen erkennt. Frege zufolge wurde sich Kant des wahren Wesens der geometri­ schen Wahrheiten bewußt, indem er sie synthetisch a priori nannte. 6 5 Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 1 63/B 204. 66 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 1 9 . -

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Anhand dieser Beispiele macht Kant das Begründungsverhältnis zwischen den Wissenschaften - seien es nun reine Mathematik, Geometrie oder Physik - und der Philosophie offenkundig. Dabei wird immer wieder versucht, die nur einge­ schränkte Gültigkeit oder sogar die Unhaltbarkeit der Kantischen Position hin­ sichtlich der Wissenschaften, insbesondere hinsichtlich der Euklidischen Geo­ metrie und der Physik, nachzuweisen, indem der inhaltlichen Auffassung Kants von diesen Wissenschaften moderne Entwicklungen auf den entsprechenden Gebieten entgegengehalten werden. So wird angeblich gezeigt, daß die Kanti­ sche Zeittheorie durch die Entwicklungen der relativistischen Physik überholt sei.67 Dem ist zu entgegnen, daß damit zwar Fehler und Lücken für die von Kant gewählten und aufgrund der von ihm allein durch den wissenschaftlichen Stand seiner Zeit wählbaren Beispiele nachgewiesen werden können, daß aller­ dings die von diesen Beispielen weitgehend unabhängigen philosophischen ln­ halte seiner Theorie unangetastet bleiben. Denn selbst wenn die Kantische Lehre von der Zeit eine philosophische Grundlegung von Newtons Theorie der abso­ luten Zeit ist, dann muß eine durch die Einführung der Relativitätstheorie not­ wendig gewordene Modifikation der von Kant herangezogenen Beispielsphäre durchaus keine damit einhergehende Veränderung der generellen philosophi­ schen Grundaussagen Kants zur Folge haben. Im Gegenteil: Nur dadurch, daß Kant die Grundtatsache des Gegebenseins der sinnlichen Anschauungen in Raum und Zeit als notwendig erweist und damit die empirische Herleitung der­ selben ad absurdum führt, daß er also sowohl die Rechtmäßigkeit des gesunden Menschenverstandes, von Raum und Zeit als den unumstößlichen Grundtatsa­ chen aller Wahrnehmung auszugehen, als auch die Wissenschaftlichkeit der die­ sen Formen korrespondierenden geometrischen und physikalischen Untersu­ chungen nachweisen kann - nur durch all diese rein philosophischen Beweise zeigt er die Möglichkeit eines wissenschaftlichen Umgangs mit Raum und Zeit überhaupt auf. D. h. nur dadurch, daß Kant die Bestimmungen von Raum und Zeit überhaupt philosophisch grundlegt und daß er die Apriorirät der Zeit als Form der Anschauung und als formale Anschauung und in eins damit auch die Zeit als Bedingung der endlichen menschlichen Erkenntnis aufzeigt, ist es mög­ lich, überhaupt auf einer wissenschaftlichen Grundlage über Probleme von Zeit und Raum im einzelnen zu reflektieren. Ganz knapp läßt sich sagen: Ohne phi­ losophische Grundlegung kann es überhaupt keine Wissenschaft von Raum und Zeit geben. Kant liefert diese Grundlage, indem er das apriorische Wesen beider philosophisch klärt, nachdem er zuvor die Wissenschaftlichkeit der Philosophie 67 Vgl. hierzu: K. Düsing. "Objektive und subjektive Zeit. Untersuchungen zu Kants Zeittheorie und zu ihrer modernen kritischen Rezeption". In: Kant-Studien 7 1 , 1 980: S. 1 71 8 , wo auf die Unterschiedenheit der relativistischen und der Kamischen Zeitbestimmungen verwiesen und wo auch entsprechende Literatur angegeben wird.

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selbst und ihre dadurch bedingte Grundlegungsfähigkeit erwiesen hat. Kant hat also die Gültigkeit der Formen von Raum und Zeit an sich (ohne inhaltliche Bestimmungen) aufgezeigt.68 Sollten dabei neue Erkenntnisse seine Beispiele und Ausführungen fragwürdig machen, so wäre damit nichts an der Gültigkeit der durch ihn entdeckten Grundeinsicht geändert.69 Kann also auf inhaltlichem Gebiet manches Unzureichende der Kamischen Thematisierung von Raum und Zeit aufgedeckt werden, so bedeutet dies weder einen Nachweis der einge­ schränkten Gültigkeit noch der Unhaltbarkeit der Ausführungen der Kritik der reinen Vernunft zu Raum70 und Zeit noch eine gescheiterte Grundlegung der Wissenschaft durch Kant. In allem bisher Dargestellten war eine Einschränkung im Bereich der von Kam behandelten Wissenschaften zu konstatieren. Kant wendet sich in seinen Analysen in erster Linie der Mathematik und den Naturwissenschaften zu; die von ihm angeführten Wissenschaften sind die reine Mathematik71 , Physik72 und Geometrie (als Grenzwissenschaft zwischen der reinen Mathematik und den völ­ lig auf Anschauung bezogenen Naturwissenschaften)73• Doch muß diese Kon­ zentration auf einen Typus von Wissenschaften tatsächlich bedeuten, daß alle anderen Bereiche der Forschung nicht in den Bereich der Wissenschaftlichkeit aufsteigen können? - Keineswegs. Denn Kants Aussagen über die Grundle­ gungsfunktion der Transzendentalphilosophie für reine und angewandte Natur­ wissenschaften lassen sich ohne Gewaltsamkeiten auch auf die Geisteswissen68 Vgl. dazu: R. Heckmann. Kants Kategoriendeduktion. Ein Beitrag zu einer Philosophie des Geistes. Freiburg, München, 1 997: S. 70. 69 Vgl. dazu: C. F. von Weizsäcker. Zum Weltbild der Physik. Stuttgart, 4 1 949: S . 80-1 1 7 und C . F. von Weizsäcker. Die Tragweite der Wissenschaft. Stuttgart, 6 1 990: S. 282-283, wo insbesondere betont wird, daß Kants Anhindung an die Euklidische Geometrie seine Position nicht schwächt, sondern daß - im Gegenteil - alle Erfahrung und Wissenschaft Raum und Zeit voraussetzen, so daß noch niemand über Kants Aussage hinausgekommen ist, daß Zeit eine Bedingung a priori der Erfahrung ist. 70 Auf ein interessantes Gedankenexperiment geht G. Wohlfart in "Ist der Raum eine Idee? Bemerkungen zur transzendentalen Ästhetik Kants". In: Kant-Studien 7 1 , 1 980: S. 1 37-1 54 ein, wo er Ü berlegungen dazu anstellt, ob Raum und Zeit bei Kant sowohl Anschauungen als auch Ideen sein könnten. - Auf eigentümliche Wege gelangt H. Schmitz im 7. Kapitel seines Buches Was wollte Kant? Sonn, 1 989, wo er in Kants Raumargumenten eine Versubjekti­ vierung der barocken Raumtheorie als Wendung gegen den Spinozismus erkennen will. - Von besonderer Bedeutung ist im Rahmen der Behandlung der Kantischen Raum- und Zeit­ thematik der Versuch einer Verbindung zwischen den Modalkategorien und der Anschau­ ungsform der Zeit. Siehe dazu: N. Hartmann. Möglichkeit und Wirklichkeit. Meisenheim, 2 1 949 und B. Grünewald. Modalität und empirisches Denken. Eine kritische Auseinan­ dersetzung mit der Kantischen Modaltheorie. Reihe: Schriften zur Transzendentalphilo­ sophie, Band 7. Hamburg, 1 986. 7 1 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, B X-XII. 72 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 20. 73 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 4 1 .

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schaften ausdehnen, selbst wenn es diese in der durch Schleiermacher und Dil­ they entwickelten Form zu Kants Zeit noch nicht gab. Da die Philosophie die Aufgabe hat, das Wesen von Wissenschaft zu begründen, und da nur sie so weit von allen Inhalten abstrahieren kann, daß sie Aufschluß darüber geben kann, warum eine Wissenschaft mit Recht als solche bezeichnet wird, umfaßt sie mit dieser jeder besonderen Einzelwissenschaft vorgelagerten Bestimmung des Cha­ rakters der Wissenschaft alle denkbaren Möglichkeiten und Richtungen wissen­ schaftlichen Forschens. Aus diesem Grunde schließt Kants Grundlegung der Wissenschaften in der Kritik der reinen Vernunft potentiell auch die Geistes­ wissenschaften mit ein. Sie werden allerdings aufgrund des unsicheren Zustandes dieser Wissenschaften zu Kants Zeit nicht explizit erwähnt, so daß es den An­ schein haben könnte, als gelte die Begründung von Wissenschaftlichkeit für sie nicht. Gefördert wurde Kants Ausblendung des geisteswissenschaftlichen Be­ reichs sicher durch die weiterreichenden und nachweisbar richtigen Ergebnisse auf dem Gebiet der Naturwissenschaften. Dennoch schließt Kant die Geistes­ wissenschaften nicht explizit aus dem von ihm geschaffenen Begründungsgefüge aus und erwähnt ausdrücklich einen Fall einer solchen Untersuchungsprove­ nienz, der vielleicht einmal in den Bereich der Wissenschaften aufsteigen könn­ te, nämlich die empirische Psychologie, der Kant den Rang einer Wissenschaft im Rahmen der Anthropologie zutraut.74 Natürlich nimmt die empirische Psy­ chologie eine Zwischenstellung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften ein, doch da sie keinesfalls allein dem Bereich der ersteren zuzurechnen ist, wird im­ merhin deutlich, daß Kant den Bereich der Wissenschaftlichkeit nicht nur auf naturwissenschaftliche Zusammenhänge einschränkte. Gestützt wird diese Behauptung durch die große Bedeutung, die eine andere empirische Wissenschaft für die Ausführung der Kritik der reinen Vernunft be­ sitzt: die Rechtswissenschaft. Die kritische Methode fühlt sich in wichtigen Ab­ schnitten der auf rechtlichem Gebiet aufstellbaren Forderung nach einem Beweis des von ihr erhobenen Anspruchs verpflichtet.75 Dadurch, daß einer der zentral­ sten Abschnitte der ersten Kritik, die Deduktion, mit einer Bezugnahme auf ju­ ristische Vorgehensweisen einsetzt, weist Kant darauf hin, daß er für die Juris­ prudenz zumindest die Möglichkeit anerkennt, zu einer echten Wissenschaft zu werden. Dies beweist, daß es Kant keineswegs nur um eine philosophische Be­ gründung der Naturwissenschaften, sondern potentiell aller Wissenschaft ging. Die mögliche Ausdehnbarkeit des wissenschaftlichen Bereichs auf das Gebiet der Geisteswissenschaften sollte dadurch hinreichend erwiesen sein; ebenfalls deutlich geworden ist: Die Grundlegung aller Wissenschaftlichkeit kann allein 74 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 848/B 876. 75 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 84/B 1 1 6.

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von der Grundwissenschaft der Metaphysik geleistet werden, die allein die Frage nach der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori zu beantworten und den übergeordneten, von einzelnen inhaltlichen Fragen der unterschiedlichen Diszi­ plinen unabhängigen Standpunkt einzunehmen vermag, von dem aus der wis­ senschaftliche Charakter der anderen Wissenschaften nachgewiesen werden kann. Diese Erklärung bedarf - wie jede Erkenntnis - der Kategorien, die erst durch die Transzendentalphilosophie in ihrer Reinheit zugänglich gemacht wer­ den können, die aber angewandt auch allen Wissenschaften eignen, so daß auch die zu ihrer Verdeutlichung dienenden Beispiele aus den einzelnen Kategorien­ gruppen entnommen werden müssen: So werden die zur Erklärung der Mathe­ matik gewählten Beispiele, wie der Satz "7 + 5 1 2"76, leicht in ihrer Verbin­ dung mit den Quantitätskategorien erkennbar; denn unter Zuhilfenahme der Anschaulichkeit verleihenden Finger werden zu den sieben Einheiten noch fünf weitere hinzugetan, bis die für diese besondere Rechenoperation geltende Allheit der zwölf Einheiten, die auf einer Vielheit von Einheiten beruht, erreicht ist. Hingegen müssen die Beispiele zur Geometrie in einem besonderen Verhältnis zu den Qualitätskategorien gesehen werden, was an der von Kam gewählten ge­ raden Linie bzw. den zwei Punkten deutlich wird: "Denn mein Begriff vom Ge­ raden enthält nichts von Größe, sondern nur eine Qualität. "77 Für die Naturwis­ senschaft gewinnen die Relationskategorien im Beispielbereich große Bedeu­ tung: So treten in den Beispielsätzen, "daß in allen Veränderungen der körper­ lichen Welt die Quantität der Materie unverändert bleibe, oder daß, in aller Mitteilung der Bewegung, Wirkung und Gegenwirkung jederzeit einander gleich sein müssen"78, die Kategorien von Substanz und Akzidenz sowie der Wechselwirkung sichtbar hervor. Das bedeutet natürlich nicht, daß die anderen in diesen drei Bereichen nicht erwähnten Kategorien für sie keine Bedeutung hätten, sondern daß sie allein zum Zwecke des leichteren Verständlichmachens ausgeblendet wurden. Dennoch kann allgemein behauptet werden, daß mit ei­ nem zunehmenden Grad an Bewegtheit innerhalb der Wissenschaften - die Arithmetik kann als statischer aufgefaßt werden als die Geometrie, und diese ist wiederum weniger dynamisch als die Physik - auch die Verwobenheit der Kate­ gorien immer deutlicher hervortritt. Die an vierter Stelle erläuterte Metaphysik schließlich steht innerhalb ihrer Beispielsphäre in einem besonderen Verhältnis zu den Modalitätskategorien, was "z. B. in dem Satze: die Welt muß einen ersten Anfang haben"79, deutlich wird, der in sich die Kategorie der Notwendigkeit enthält. Aus der besonderen Beziehung zwischen Modalitätskategorien und =

76 77 78 79

Kant. Kritik der reinen Kant. Kritik der reinen Kant. Kritik der reinen Kant. Kritik der reinen

Vernunft, Vernunft, Vernunft, Vernunft,

B B B B

1 5- 1 6 . 1 6. 1 7. 1 8 . (Kursivierung ergänzt von R. P.)

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Metaphysik läßt sich folgern: Die Modalitätskategorien beziehen sich nur auf die Copula, d. h. sie vermehren nicht die Bestimmung des Objekts80; sie sind also rein auf die Form der Erkenntnis bezogen. Die Metaphysik bezieht sich als Wissenschaft auf die Begründung ihrer selbst sowie der anderen Wissenschaften und zielt auf eine Klärung der möglichen Bedeutung der Ideen für die Erkennt­ nis; die Metaphysik ist also auch rein auf die Form der Erkenntnis bezogen. So­ wohl die Modalitätskategorien als auch die Metaphysik erweitern also nicht den Bereich der empirischen Erkenntnis, sondern sie reflektieren nur so auf ihn, daß sie seine Grenzen bestimmen und die Form jeder möglichen Erkenntnis analy­ sieren, die dann auf die Ideen als den eigentlichen Inhalt der Metaphysik als Naturanlage bezogen den Bereich der praktischen Philosophie als notwendig er­ weist. Obwohl also weder die Modalitätskategorien noch die Metaphysik den Bereich der empirischen Erkenntnis erweitern (können) , sind sie durch ihre Auf­ gaben der Formbestimmung von Copula bzw. Ideen für das auf die Möglichkeit von Erkenntnis reflektierende Denken doch besonders grundlegend, weil sie ihn beide auf diese Weise in der Reflexion über den Bereich der Erfahrung hinaus­ führen, ohne ihn deshalb dem Bereich des Scheins anheimfallen zu lassen.81

8 0 Vgl. Kanr. Kritik der reinen Vernunft, A 2 1 9/ B 266. 8 1 In einem weiteren Schritt könnten nun noch die Beziehungen zwischen den Modalitäts­ kategorien und der Metaphysik, die noch über ihre Formverwandtschaft hinaus in einem en­ gen Verhältnis stehen, betrachtet werden. Die Transzendentalphilosophie steht in enger Bezie­ hung zur Modalitätskategorie des Möglichen, geht sie doch in erster Linie auf die Erforschung der formalen Bedingungen der Erkenntnis aus und heißt es doch in den Postulaten: "Was mit den formalen Bedingungen der Erfahrung (der Anschauung und den Begriffen nach) überein­ kommt, ist möglich. " [Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 2 1 8/B 265.] - Die Logik als Um­ grenzung alles überhaupt sinnvoll Denkbaren, dem sonst nur noch ein Nichts gegenübersteht, d. h. als Grundgegebenheit des Denkens alles Erfahrbaren und Seienden, ist eng mit der Mo­ dalitätskategorie des Daseins bzw. des Wirklichen verknüpft; damit die Logik einen Sinn be­ kommt, muß sie sich auf erwas Wirkliches, Materiales beziehen, was schon den Standpunkt der transzendentalen Logik vorausserzt. Hierzu kann das zweite Postulat des empirischen Den­ kens überhaupt herangezogen werden: "Was mit den materialen Bedingungen der Erfahrung (der Empfindung) zusammenhängt, ist wirklich." [Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 2 1 8/B 266.] - Schließlich steht die transzendentale Begründung der Metaphysik in engem Zusam­ menhang mit der Modalitätskategorie der Norwendigkeit, da ohne sie weder die Wirklichkeit noch die norwendige Bedingung für Erkenntnis gegeben wären. Auch hierzu die entspre­ chende Stelle aus den Postulaten: "Dessen Zusammenhang mit dem Wirklichen nach allge­ meinen Bedingungen der Erfahrung bestimmt ist, ist {existiert) notwendig." [Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 2 1 8/B 266.] - An den Verknüpfungslinien zwischen den verschiedenen Bereichen der Metaphysik und den verschiedenen Modalitätsausformungen ist wiederum die herausragende Stellung des Formprinzips innerhalb des philosophischen Denkens offenkundig geworden: Ohne diese Form sind weder theoretische Beziehungen innerhalb der Transzenden­ talphilosophie noch Verbindungen zwischen Metaphysik und Erfahrung, d. h. zwischen der Denkform und der für das Denken begegnenden Materie überhaupt möglich.

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Insgesamt bleibt festzuhalten: Die Philosophie legt die Form der Wissenschaft fest, begründet und begrenzt sie. Dabei läßt sie sich zunächst von der Form der Mathematik leiten; aber erst die Transzendentalphilosophie ist dazu in der Lage, diese Form zu erklären und als genuin wissenschaftlich grundzulegen. Die durch die Mathematik gegebene Leitung und alle Orientierung der Metaphysik an die­ ser Wissenschaft werden aus praktischen Gründen gewählt, um das Formprinzip (in) der Philosophie verständlicher zu machen, so daß auch im Bereich der Wis­ senschaftlichkeit eine Konzession an den gesunden Menschenverstand sowie eine Anknüpfung an historische Bezüge offenkundig werden. Die Philosophie be­ stimmt also nur die notwendige Form aller Wissenschaft, nicht aber den Gehalt jeder Einzelwissenschaft im Detail: Ihr Worüber bestimmen die Wissenschaften selbst aus inneren Motiven und Sachzwängen; ihr Wie und Warum wird ihnen jedoch von der Philosophie vorgegeben, wird erst durch sie erklärbar und er­ klärt. - Da auch die Philosophie selbst eine Wissenschaft ist bzw. durch eine ko­ pernikanische Wendung dazu werden soll, eignen ihr natürlich, wie allen ande­ ren Wissenschaften, Form und Materie, die allerdings bei ihr in einem ganz be­ sonderen Verhältnis zueinander stehen. Denn die Materie der Philosophie ist ihre Form und ihre Form ist ihre Materie. Das beruht darauf, daß die Philoso­ phie die Schaffung ihres eigenen Systems anstrebt, mit dessen Hilfe sie dann alle anderen Einzelwissenschaften begründen kann. Indem die Transzendentalphilo­ sophie auf ihr eigenes System reflektieren und sich selbst mit all ihren Bestand­ teilen als notwendig setzen kann, wird sie wirklich zur Ersten Philosophie und zur Ersten Wissenschaft. 82 Die aufgezeigten Elemente der Philosophie, also die in ihr herrschende Iden­ tität von Form und Materie, ihre formgebende Funktion hinsichtlich aller ande­ ren Wissenschaften sowie ihr Anfangscharakter als Erste Wissenschaft, lassen in dieser Zusammenstellung an die Weiterführung des Kamischen Systems beim frühen Fichte in seiner Schrift Ueber den Begriff der Wissenschaftslehre von 179483 denken. Da es an dieser Stelle nicht darum gehen kann, in eine ausge82 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 23. 83 Diese Schrift Fichtes soll hier aus mehreren Gründen herangezogen werden, wogegen die verschiedenen Versionen seiner Wissenschaftslehre zurückgestellt werden. Zunächst ist die Schrift (historisch) deswegen so bedeutend, weil ihre Grundgedanken von Schdling und He­ gel konkretisiert wurden und weil sie - zum 'natürlich-logischen' Weg passend - die Idee der Philosophie als Wissenschaft der Prinzipien aus "einem grundsätzlichen Problem der Einzd­ wissenschaft herzuleiten versucht" [Y. Hösle. Hegels System, a . a. O . , S. 23 (Kursivierung aufge­ hoben von R. P.).] Dann erweist diese Schrift ihre Bedeutung noch dadurch, daß Fichte in ihr das Problem von Form und Materie, das für die gesamte Kantische Philosophie von außeror­ dentlicher Wichtigkeit ist, an den Anfang seines Denkens stdlt, so daß er sich damit näher an das Kantische Werk anlehnt als in seinen späteren, auf Einzdanalysen größeren Wert legenden Versionen der Wissenschaftslehre.

Die drei Wege in eine transzendentale Philosophie bei Kant

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dehnte Auseinandersetzung mit Fichte oder einen grundsätzlichen Vergleich zwi­ schen Kant und Fichte einzutreten, sollen nur zwei der vielleicht aufschlußreich­ sten Gemeinsamkeiten angeführt werden, die allerdings schon auf die zum Teil von Kant abweichende Entwicklung des Fichteschen Denkens verweisen. - So­ wohl im Kautischen als auch im Fichteschen Denken spielen die Begriffe von Form und Materie bzw. Gehalt eine herausragende Rolle, da sie jeder Reflexion zugrunde liegen und außerdem das System der (Transzendental-)Philosophie von innen heraus prägen sowie von außen begrenzen, indem ohne das Zusam­ menwirken von Form und Materie nichts mehr oder nur noch ein Nichts84 ge­ dacht werden kann. Auch bei Fichte besitzt der oberste Grundsatz der Wissen­ schaftslehre notwendig Gehalt und Form, weil auch die Philosophie von einem Inhalt des Wissens ausgehen muß. Da dieser oberste Grundsatz unmittelbar durch sich selbst gewiß sein soll, muß das nach Fichte bedeuten, "dass der Ge­ halt desselben seine Form, und umgekehrt die Form desselben seinen Gehalt be­ stimme"85. In seiner Betonung des Zusammenspiels von Form und Gehalt lehnt sich Fichte eng an Kant an; ebenso damit, daß dieses Verhältnis im gesamten Denkbereich bis hinauf in die obersten Regionen von Vernunft und Verstand in Geltung sein soll. Auch für Fichte nimmt die Philosophie, die er anders als Kant nicht nur als Wissenschaft begründen, sondern deren bereits anerkannten Wissenschaftscharakter er beweisen will86, eine herausragende Position ein, in­ dem für sie Gehalt und Form eins werden auf der höchsten von der Wissen­ schaftslehre zu erreichenden Stufe und erst bei der Ableitung des Systems ge­ trennt werden, sobald aus dem obersten, absoluten Grundsatz zwei weitere reine, nicht dem Bereich der Einzelwissenschaften zugehörende Grundsätze abgeleitet werden, deren einer nur durch seine Form und deren anderer nur dem Gehalt nach durch sich selbst bestimmt istB7• Die zentrale Bedeutung von Materie und Form übernimmt Fichte also von Kant; dennoch unterscheidet er sich gerade durch die Aufstellung eines ersten und einzigen Grundsatzes, der allem Wissen vorangehen soll, von Kant, der we­ der bei der Aufstellung seines Systems von einem solchen Grundsatz ausgeht noch einen solchen vorbehaltlos aufstellt, was wohl in erster Linie auf seiner Trennung des Erkenntnisvermögens in zwei Stämme bzw. an seiner Aufteilung der Bedingungen der Erkenntnis in Anschauung und Begriff beruht. So kann das, was bei Kant einem absoluten Grundsatz im Sinne Fichtes am ehesten na­ bekommt, die transzendentale Apperzeption, nur unter gewissen Einschrän84 Vgl. dazu die (später noch ausführlicher zu kommentierende) Tafel des Nichts in Kants

Kritik der reinen Vernunft, A 290-292/B 346-349. 85 J . G . Fichte. Ueber den Begriff der Wissenschafts/ehre, a.a. O . , S . 49. 8 6 Vgl. ebd., S . 32 und besonders S . 3 8 . 8 7 Vgl. ebd., S . SO.

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Egologische Grundstrukturen in der Transzendentalphilosophie Kants

kungen (wie dem unerläßlichen Bezug auf die Anschauungsformen88) als ober­ ster Punkt seiner Transzendentalphilosophie bezeichnet werden. 89 Denn bei Kant wird der oberste Grundsatz als Satz, der nicht in höheren und allgemeine­ ren Erkenntnissen gegründet ist9°, durch den Bereich der gleichrangigen Sinn­ lichkeit eingeschränkt, wodurch er nur als einer von zwei obersten, allerdings ebenfalls - wie bei Fichte - reinen Grundsätzen gelten kann. Die Gleichwertig­ keit von Sinnlichkeit und Verstand bei Kant ist jedoch nicht immer eindeutig, weil die Sinnlichkeit (als Anschauungsvermögen) zum einen schon in der Kritik der reinen Vernunft oft in eine bloß den Verstand mit Material beliefernde Stel­ lung gedrängt wird, und weil sie zum anderen (als Sinnesempfindung und -ge­ fühl) im davon verschiedenen Kontext der Sittlichkeit oftmals eine negative Be­ wertung als Grund des Bösen91 erfährt. Deshalb kann doch immerhin vermutet werden, daß auch Kant den obersten Grundsatz allen Wissens ins Denken verla­ gert92, so daß auch bei ihm unter ganz besonderen Bedingungen derselbe als der oberste Grundsatz der Philosophie angenommen werden kann. Doch weil hier­ bei so viele Prämissen erfüllt und so viele Einschränkungen gemacht werden müssen, kann an dem Grundsatz der transzendentalen Apperzeption nicht die­ selbe Radikalität festgestellt werden wie an Fichtes oberstem Grundsatz des 'Ich bin Ich'. Darin geht also Fichte über Kant hinaus und leitet so eine für den Deutschen Idealismus kennzeichnende Verschärfung ein, die sich beispielsweise im Werk des jungen Schelling wiederfindet, der gleich Fichte vom absoluten 'Ich = Ich' ausgeht, wobei auch er das Wechselverhältnis von Form und Gehalt über­ nimmt und weiter ausführt93.

88 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 1 36-1 37. 8 9 Zu dieser Differenz zwischen Kant und Fichte kann D. Henrichs Fichtes ursprüngliche

Einsicht. Frankfurt am Main, 1 967: S. 9 herangezogen werden, wo die Entwicklung der Wis­ senschaftlehre als fortschreitende Analyse eines Begriffs vom Ich gedeutet wird. Über die gene­ rellen Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den Deutschen Idealisten und Kant in­ formiert beispielsweise wiederum D. Henrich in Konstellationen. Probleme und Debatten am Ursprung der idealistischen Philosophie (1 789-1 795). Stuttgart, 1 99 1 . Vgl. auch N. Hart­ mann. Die Philosophie des deutschen Idealismus. Berlin, 2 1 960, S. 4 1 -48. 9 0 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 1 48/B 1 88. 9 1 Vgl. Kant. Opus postumum. Akademie-Ausgabe, Band XXII: S. 290. 9 2 Seine ausschließliche Bedeutung erhält das Prinzip der transzendentalen Apperzeption nur im Bereich der reinen philosophischen Reflexion und keineswegs schon im Bereich der Erfahrungserkennrnis, die doch den Vorteil der Sicherheit, Überprüfbarkeie und, unter be­ stimmten Umständen, der Irrtumsfreiheit besirzt - und das gerade wegen ihrer notwendigen Verbundenheit mit sinnlicher Anschauung. Die transzendentale Apperzeption kann also nur unter ganz speziellen Bedingungen als der eine oberste Grundsarz der Transzendentalphilo­ sophie fungieren. 93 Vgl. dazu: F. W. J. Schelling. System des transzendentalen Idealismus, a.a.O., S. 440 und u. a. auch S. 509-52 1 .

Die drei Wege in eine transzendentale Philosophie bei Kam

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Noch in einer weiteren Hinsicht ähnelt die Fichtesche Konzeption in dem ge­ nannten Frühwerk der Kantischen, nämlich hinsichdich der herausgehobenen Stellung der Philosophie als Erste Wissenschaft, die beansprucht, allen anderen Wissenschaften ein sicheres Fundament zu geben. Die Wissenschaftslehre besitzt nämlich absolute Totalität, und nur sie ist durch Vollendung zu charakterisieren. Alle anderen Wissenschaften können, weil sie unendlich sind, nicht wieder in ihren jeweiligen Grundsatz als Ausgangspunkt zurückkehren und sind deshalb auf die Wissenschaftslehre angewiesen.94 Ebenso wie Kant behauptet Fichte die generelle Abschließbarkeit der Metaphysik bzw. der Wissenschaftslehre; und ebenso behauptet er ihre Begründungsfunktion gegenüber allen Einzelwissen­ schaften. Diese Erstbegründungsfunktion ist der Philosophie zuzusprechen, weil in ihr auf die Grundlagen aller Wissenschaftlichkeit überhaupt reflektiert wird, was nur aufgrund des komplexen Gefüges von Form und Materie und ihrer Identität im philosophischen Bereich möglich ist. Sowohl bei Kant als auch bei Fichte ist die Philosophie also Erste Wissenschaft, weil sie dazu imstande ist, sich selbst einen Anfang und einen in sich selbst ruhenden Begründungspunkt zu ge­ ben, der allen Einzelwissenschaften ein unhintergehbares Fundament zu geben vermag. Mit diesen Ausführungen zu Fichte sind noch einmal die wichtigsten Stich­ wörter für Philosophie und Wissenschaft genannt; damit lassen sich zudem Schlußfolgerungen ziehen, die den 'natürlich-logischen' (bis jetzt nur 'natürlich­ wissenschaftlichen') Weg in die transzendentale Philosophie betreffen: Auch bei seiner Behandlung der Wissenschaften und ihres Verhältnisses zur Philosophie strebt Kant Nachvollziehbarkeit an. Damit zeigt sich wiederum die besondere, wenn auch philosophisch unselbständige Bedeutung des natürlichen Verstandes, der auf diesem Feld seine bestätigende Funktion behält. Um wissenschaftliche, wissenschaftstheoretische und philosophische Analysen verstehen zu können, be­ darf es auch des gesunden Menschenverstandes, obwohl er weder wissenschaftli­ che noch philosophische Einsichten zu geben weiß. Das 'Schöpfertum' inner­ halb dieser beiden Gebiete kann vom natürlichen Verstand zwar nicht eingeholt werden, doch vermag er in beiden Fällen, das Ergebnis als richtig nachzuvollzie­ hen. Dadurch bestätigt sich von wissenschaftlicher Warte aus der Ausgangspunkt des ersten Weges in die Transzendentalphilosophie, der mit einer Untersuchung des reproduktiven, bestätigenden gesunden Menschenverstandes einsetzen muß. Darüber hinaus zeigt sich auch, daß das Fortschreiten von der selbstverständlich einnehmbaren natürlichen Einstellung in den wissenschaftlichen Bereich noch nicht den gesamten transzendentalen Bereich zugänglich gemacht hat. Wohl ist mit der Exaktheit der Wissenschaften ein Leitfaden für die Philosophie ent94 Vgl. dazu: J. G. Fichte. Ueber den Begriffder Wissenschafts/ehre, a.a.O., S. 59.

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Egologische Grundstrukturen in der Transzendentalphilosophie Kants

deckt, und wohl bedeutet der wissenschaftliche Standpunkt einen Fortschritt ge­ genüber dem natürlichen Verstand, der selbst als eine (geschichtlich erwiesene) natürliche Notwendigkeit angesehen werden könnte, weil sich das Wissen nicht mit bloß nachvollziehbaren Vermutungen bescheiden kann. Dennoch wird an den Verbindungen zwischen Philosophie und Wissenschaften sichtbar, daß auch die Wissenschaften nicht den letzten Punkt der Erkenntnis darstellen können. Daß die Philosophie diese Erkenntnis darstellt, daran kann nach dem, was Kant über die Wissenschaften ausführt, kein Zweifel mehr aufkommen. Doch obwohl Kant die Notwendigkeit der kopernikanischen Wendung innerhalb des meta­ physischen Bereichs deutlich macht, und obwohl er die Selbstbegründungsmög­ lichkeit der Philosophie schon theoretisch vor Augen führt, muß doch nach der Wissenschaftsgrundlegung immer noch das System der Transzendentalphiloso­ phie ausgearbeitet und die Kritik der reinen Vernunft in ihren Grundzügen durchgeführt werden. Dies kann nur vom philosophierend-reflexiven Stand­ punkt aus geschehen, also weder vom natürlichen noch vom wissenschaftlichen Standpunkt aus. Damit die Philosophie ihre Ansprüche verwirklichen kann, muß ihre wissenschaftliche Form als System ausgeführt werden. Dazu muß zu­ nächst die in der Kritik der reinen Vernunft ausgearbeitete Abfolge und Zusam­ mengehörigkeit der einzelnen Erkenntnisvermögen untersucht werden, die den Boden jeder genuin philosophischen Forschung bilden. Nach der Bereitstellung dieses theoretischen Grundes kann die Philosophie dann weiter fortschreiten zu praktischer Philosophie, Teleologie, Moral-, Rechts- und Religionsphilosophie.95 Bevor im folgenden der Themenkomplex von Logik - transzendentaler Logik - Philosophie behandelt wird, soll noch eine Anmerkung über die Bedeutung des Verhältnisses Kants zur Wissenschaftsbegründung gemacht werden. Denn durch die Ausführungen über die Rolle der Wissenschaften sowie ihrer Grundle­ gung sollte auch gezeigt werden, daß es Kant in seinem Werk und insbesondere in der Kritik der reinen Vernunft u. a. auch um die Problematik der Begrün­ dung von Wissenschaftlichkeit im allgemeinen geht; Kant ist also durchaus 'Wissenschaftstheoretiker'.96 Daß er dabei mehr wollte als nur die Begründung 95 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 27 und A 1 3. 9 6 Eine Zuordnung Kants zum Bereich der Wissenschaftsforschung nehmen etwa vor: R.

Zocher. Kants Grund/ehre. Erlangen, 1 959: S. 1 3 ; F. KambarteL Erfahrung und Struktur. Bausteine zu einer Kritik des Empirismus und Formalismus. Frankfurt am Main, 1 968: S. 88; G. Martin. Immanuel Kant. Ontologie und Wissenschaftstheorie. Köln, 1 95 1 : S. 94; W. Bröcker. Kant über Metaphysik und Erfahrung, a.a.O., S. 32; M. Hossenfdder. Kants Konstitutionstheorie und die transzendentale Deduktion. Berlin, New York, 1 978: S. 1 oder K. Gloy. Die Kantische Theorie der Naturwissenschaft. Eine Strukturanalyse ihrer Möglich­ keit, ihres Umfangs und ihrer Grenzen. Berlin, New York, 1 976: S. 87-88 und A. Gurwitsch. "Der Begriff des Bewußtseins bei Kant und Husserl", a.a.O., S. 4 1 3. - Allerdings wird Kant in denjenigen Fällen, in denen seine Philosophie ausdrücklich mit der Wissenschaftstheorie in

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e1mger ausgewählter, gar naturwissenschaftlicher Einzeldisziplinen, zeigt sich nicht zuletzt an der Position, die die Behandlung derartiger Fragestellungen in seinem Werk einnimmt. Die Mittelposition der Wissenschaften zwischen der natürlichen, alltäglichen Erfahrung und dem wirklich philosophischen Bereich zeigt, daß sie im Kantischen Denken vor allem aufgrund ihrer für die Metaphy­ sik vorbildhaften Funktion durchaus von Belang sind, daß die Beschäftigung mit ihnen philosophisch relevant ist, daß sie aber dennoch nie das letzte Ziel der philosophischen Forschung darstellen können.97

3.

Die formale Logik und der Übergang zur transzendentalen Logik

Bisher wurde bei der Behandlung der Wissenschaften eine Disziplin ausgeklam­ mert, die jedoch nach Kant noch vor der Mathematik den Namen einer sicheren Wissenschaft verdient, nämlich die Logik. Sie wurde zurückgestellt, weil sie als sicherste Wissenschaft den notwendigen Übergang in die transzendentale Sphäre und den fundamentalen Unterschied zwischen Philosophie und Wissenschaften besonders deutlich macht, weil sie derjenige Bereich ist, von dem Kant sich vor­ nehmlich abgrenzen muß, um das radikal Neue seiner Konzeption der Philoso­ phie sichtbar machen zu können. Deshalb sei zunächst eine kurze Darstellung der formalen Logik gegeben, die dazu dienen soll, die letzte Etappe auf dem 'na­ türlich logisch en Weg in die Transzendentalphilosophie aufzuweisen. Von den "ältesten Zeiten her" bewegt sich die Logik im sicheren Gang einer Wissenschaft, ohne bemerkenswerte Fortschritte zu machen - allerdings auch, ohne in ihren Erkenntnissen zurückgeworfen worden zu sein.98 Dabei spricht -

'

Verbindung gebracht wird, häufig einseitig als Vertreter der Begründung der Natur­ wissenschaften angesehen (vgl. W. Bröcker, a. a. 0 . , S. 32) . 97 Völlig unangemessen sind demnach Extrempositionen, die Kant enrweder nur als Wis­ senschaftstheoretiker auffassen oder die ihm gar keine nennenswerte Beschäftigung mit den Wissenschaften und ihrer Begründung zugestehen wollen. Letzteres findet sich etwa bei M. Heidegger. Kant und das Problem der Metaphysik. Gesamtausgabe, Band 3. Frankfurt am Main, 1 99 1 : S. 25; G. Bird. Kant's Theory of Knowledge. London, New York, 1 96 5 : S. 87 oder H . Jansohn. Kants Lehre von der Subjektivität. Eine systematische Analyse des Ver­ hältnisses von transzendentaler und empirischer Subjektivität in seiner theoretischen Philoso­ phie. Bonn, 1 969: S. 2 1 5 . - Noch radikaler gehen G. Prauss oder D. Henrich vor, die das Problem der Wissenschaftsbegründung bei Kant nicht einmal mehr erwähnen. Ein angemes­ sener Mindweg wird besonders von H. Hoppe in Synthesis bei Kant. Das Problem der Ver­ bindung von Vorstellungen und ihrer Gegenstandsbeziehung in der 'Kritik der reinen Ver­ nunft'. Berlin, 1 983: S. 4, von M. Wetze! in Prinzip Subjektivität: Spezielle Theorie. Freiburg, München, 1 997: S. 334 oder von J. N. Mohanty in The Possibility of Transcen­ dental Philosophy. Reihe: Phaenomenologica, Band 98. Dordrecht, Boston, London, 1 98 5 : S. XXV verfolgt. 9 8 Kant. Kritik der reinen Vernunft, B VIII.

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Egologische Grundstrukturen in der Transzendentalphilosophie Kants

Kant der Logik - im Gegensatz zu den anderen Wissenschaften - keine Revolu­ tion der Denkart zu, weil dies einen inneren Widerspruch hervorriefe: Da die Logik "eine Wissenschaft ist, welche nichts als die formalen Regeln alles Den­ kens [ . . . ] ausführlich darlegt und strenge beweist"99, wäre eine Umkehrung ihrer formalen Struktur ein innerer Widerspruch. Weil sie nur ein Hilfsmittel des Denkens darstellt, kann sie sich nicht in sich selbst wandeln, ohne sich damit aufzuheben. Die Wandlung, die sie allein vollziehen kann, ist der Aufstieg zur transzendentalen Logik, die allerdings die formale Logik in Geltung läßt, sich ihrer sogar bedient, nachdem sie ihr ihr Recht zugesprochen und sie begründet hat. Da die Logik nur mit der Form des Denkens beschäftigt ist, kann sie zu ih­ rer Materie, die es im Grunde gar nicht gibt, auch keine radikal veränderte Hal­ tung einnehmen.100 In sich selbst bedarf die formale Logik also keiner umwäl­ zenden Reform; dennoch bedarf sie eines sie selbst begründenden Instrumentari­ ums, das nur in der Philosophie zu finden sein kann, die als Erste Wissenschaft auch die wissenschaftliche Form der Logik garantiert. Weil die Logik es nur mit der Form des Denkens zu tun hat, besitzt sie einen anderen Wirkungskreis als die anderen Wissenschaften, aber auch eine einge­ schränktere (nicht geringere), propädeutische Bedeutung als diese.101 Dabei zeigt sich zugleich die doppelt bedeutungsvolle Rolle der formalen Logik: Um über­ haupt wissenschaftlich arbeiten zu können, bedarf es des absichernden Verfah­ rens der Logik. Verstößt eine Wissenschaft schon in ihren Grundsätzen gegen formallogische Regeln, so stürzt ihr gesamter Bau notwendig in sich zusammen, da er dann außerhalb alles Denkbaren verankert wäre. Neben dieser Grundla­ genfunktion besitzt die Logik noch eine bestätigende Funktion hinsichtlich der gewonnenen, in Satzform vorliegenden Erkenntnisse der Einzelwissenschaften: Die Ergebnisse der Wissenschaften können auf ihre Übereinstimmung mit den Denkgesetzen der formalen Logik hin überprüft werden; widersprechen sie schon ihnen, dann ist eine Analyse ihres materialen Anteils nicht mehr erforder­ lich, um ihre Falschheit zu beweisen. - An dieser bestätigenden Funktion der Logik offenbart sich eine Übereinstimmung zwischen dem formallogischen Be­ reich und dem gesunden Menschenverstand, die es gestattet, die Logik dem er­ sten Weg in die Transzendentalphilosophie zuzurechnen. Ebenso wie der gemei­ ne Verstand kann die formale Logik zur Überprüfung gegebener Erkenntnisse herangezogen werden. Eine ähnliche Funktion hat auch die natürliche Vernunft beispielsweise im Gebiet der Philosophie, obzwar mit weniger Eigengewicht, weil ihr die der formalen Logik eigene Sicherheit fehlt. Damit stehen dem Men99 Kant. Kritik der reinen Vernunft, B VIII-IX. wo Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, B IX. 1 o 1 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, B IX.

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sehen mit Logik und Alltagsverstand zwei Instanzen zur Verfügung, die insbe­ sondere auf wissenschaftliche Erkenntnisse angewandt werden müssen, wenn diesen neben ihrer Plausibilität auch Sicherheit zuteil werden soll. Durch for­ male Logik und natürlichen Menschenverstand gewinnt also der 'natürlich­ logische' Weg seine Strukrur. Bevor im folgenden der Unterschied zwischen formaler und transzendentaler Logik102 genauer betrachtet werden soll, seien noch einige Charakteristika der formalen Logik erwähnt, um das Bild dieser reinen Denkwissenschaft für unsere Zwecke abzurunden. Kant selbst verweist103 auf eine gewisse Analogie zwischen dem Verhältnis der formalen Logik zu den Einzelwissenschaften und der Tran­ szendentalphilosophie zur Form der Wissenschaftlichkeit überhaupt. So wie die formale Logik allen Wissenschaften zugrunde liegen muß, indem sie als ihr Or­ ganon dient, so ist der Standpunkt der Transzendentalphilosophie die unabding­ bare Voraussetzung aller Wissenschaftlichkeit. 104 Der Zusammenhang zwischen formaler und transzendentaler Logik ist damit schon vorgezeichnet: Die letztere begründet die erstere in ihrem wissenschaftlichen Charakter und verleiht ihrem begründenden Anspruch hinsichtlich der Einzelwissenschaften sein Recht; die formale Logik wiederum sichert den denkrichtigen Charakter der Einzeldiszipli­ nen, die allerdings in ihrer Form der Wissenschaftlichkeit ebenso auf die Tran­ szendentalphilosophie angewiesen sind wie die formale Logik selbst. Die verschiedenen Relationen zwischen formaler Logik, Wissenschaften und Transzendentalphilosophie werden auch an den vier Haupteinteilungen der Lo­ gik, die Kant vornimmt, sowie an einer weiteren Parallele zwischen Metaphysik und Logik ersichtlich. Wie die Metaphysik dient auch die Logik nicht zu einer Erweiterung der Erfahrungserkenntnis. 105 Was schon für das Verhältnis von Me­ taphysik und Erkenntnis, aber auch für die Beziehung der Modalitätskategorien auf die Copula gilt, ist ebenso für die Logik entscheidend: Da sie sich allein mit der Form des Denkens beschäftigt, erweitert sie nicht seine Materie, d. h. sie konstituiert keine speziellen Raum-Zeit-Punkte, auf die sich das Denken richten könnte. Insofern erweitert die formale Logik die menschliche Erkenntnis nicht inhaltlich, sondern (ihrem Namen entsprechend) rein formal. In dieser Funktion ist sie für den Menschen von besonderer Bedeurung, dient sie doch der Absiche­ rung und Umgrenzung des für ihn Wißbaren. Daß sie sich damit in die Gefahr begibt, dort zum bloßen Scheinwissen zu werden, wo sie sich ohne jede Absiehe-

I02 Zum Begriff der transzendentalen Logik vgl. N. K. Smith. Commentary to Kant's Critique ofPure Reason. London, 1 923, New York, 1 962: S. 1 70-1 72. 1 03 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 52/B 76. 1 04 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 1 1 /B 24-25. 10 5 Vgl . Kant. Logik. Akademie-Ausgabe, Band IX: S. 1 4 .

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rung(-smöglichkeit) durch die Anschauung zu inhaltlichen Aussagen hinreißen läßt, ist offenkundig. Damit ist die erste der vier die Logik betreffenden Unterscheidungen ange­ sprochen, nämlich die Einteilung der Logik in Analytik und Dialektik. 1 06 Mit der Metaphysik hat die formale Logik gemein, daß beide ohne transzendentale Logik zum bloßen Schein werden müssen bzw. im Falle der Logik: werden kön­ nen. Schon dadurch ist die Verwiesenheit der formalen auf die transzendentale Logik deutlich geworden, die der Logik erst die Form der Wissenschaftlichkeit garantiert und dadurch über sie hinausgeht, daß sie fragt, was der Verstand beim Denken macht, d. h. wie er ist, denkt und bisher im Denken verfuhr. Während die formale Logik zeigt, wie der Verstand beim Denken (unabhängig von Inhal­ ten) verfährt, zeigt die transzendentale Logik in ihrem analytischen Teil, wie der Verstand beim Denken (bezogen auf Inhalte) vorgeht, um zu Erkenntnissen zu gelangen. 1 07 Neben der Trennung in Analytik und Dialektik ist die Aufspaltung in eine natürlich-populäre und eine künstlich-wissenschaftliche Logik zu finden. 1 08 Die natürliche Logik ist gar keine Logik im eigentlichen Sinn, sondern eine anthro­ pologische Wissenschaft, die auf empirischen Prinzipien beruht. Demgegenüber ist die künstliche Logik die Wissenschaft von den notwendigen, allgemeinen Re­ geln des Denkens. An dieser Aufteilung wird zweierlei sichtbar: ( 1) Logik und gesunder Menschenverstand hängen eng miteinander zusammen - ebenso wie beide mit den Wissenschaften. Auch im Bereich der natürlichen Vernunft haben logische Gesetzmäßigkeiten ihre Berechtigung, obzwar auf andere Weise als im wissenschaftlichen Bereich. Die natürliche Logik kann als eine der wissenschaft­ lich-formalen Logik nachgeordnete Bestätigung und als Vermittlung logischer Einsichten angesehen werden. - (2) Indem die natürliche Logik dem Bereich der Anthropologie zugewiesen wird, zeigt sich eines der durch das Durchschreiten des ersten, des 'natürlich-logischen' Weges in die Transzendentalphilosophie zu erreichenden Hauptziele neben dem Erweis der Möglichkeit einer wissenschaft­ lichen Philosophie und dem damit verbundenen Übergang von der natürlich­ wissenschaftlich-logischen Sphäre in die kritische Transzendentalphilosophie. Dieses Ziel besteht in der Begründung der Anthropologie als Wissenschaft. 1 0 6 Vgl. Kant. Logik. Akademie-Ausgabe, Band IX: S. 1 6. 1 0 7 Es ist klar, daß keine Form der Logik die Frage danach stellt, was der Verstand selbst ist,

sondern daß sie immer nur nach seinem Wie fragt. Die weiterführende Frage nach dem Sein des Verstandes ist weder mit formalen noch mit transzendental-formalen Mitteln zu beant­ worten, weil sonst dem Verstand neben seiner Erkenntnisaufgabe noch die der Konstitution zukommen müßte, was er aber nicht erfüllen kann, da beim endlichen Verstand Sein und Denken nicht wie beim anschauenden, göttlichen Verstand zusammenfallen. [Vgl. Kant. Kri­ tik der reinen Vernunft, A XVII.] l OB Vgl. Kant. Logik. Akademie-Ausgabe, Band IX: S. 1 7.

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Denn die natürliche Einstellung des gesunden Menschenverstandes, der wissen­ schaftliche Bereich und die mit beiden verknüpfte formale Logik können als drei das menschliche Wesen insgesamt kennzeichnende Charakterzüge angesehen werden, mit denen sich also eine wissenschaftliche Anthropologie auseinander­ setzen muß, die durch den ersten Weg einen sicheren Ausgangspunkt gefunden hat. Natürlicher Verstand, Wissenschaften und (transzendentale) Logik stehen also in mannigfachen Wechselbeziehungen und können gerade deshalb weiter­ führende Ergebnisse, wie die Grundlegung der Anthropologie als Wissenschaft, zeitigen. Eine dritte Einteilung besteht in der Unterscheidung von theoretischer und praktischer Logik. 109 Während die theoretische von allen Gegenständen abstra­ hiert, hat die allgemeine Logik noch einen praktischen Teil. Gerade er macht das komplizierte Beziehungsgeflecht zwischen Logik, Wissenschaften und Philoso­ phie deutlich: Nach Kant kann nämlich jede Wissenschaft als praktische Logik aufgefaßt werden, so daß die allgemeine Logik - als praktische betrachtet - nur eine Technik der Gelehrsamkeit überhaupt sein kann, d. h. ein Organon der Schulmethode. Daran zeigt sich wieder, daß jede Art der Logik auf die Begrün­ dung durch die Philosophie angewiesen bleibt, daß weiterhin die Logik nur ein Werkzeug ist, dessen sich Einzelwissenschaften und Philosophie bedienen kön­ nen und daß zwischen Logik und Wissenschaften eine besondere Verbindung besteht, da die Wissenschaften selbst als praktische Logik bezeichnet werden können. Darüber hinaus findet sich bei Kant eine vierte Differenzierung: die zwischen reiner und angewandter Logik. Während in ersterer der Verstand von den übri­ gen Gemütskräften abgesondert und daraufhin betrachtet werden kann, was er für sich allein tut - nicht was er ist -, ist die angewandte Logik eine Art der Psy­ chologie, keine Propädeutik. 1 10 - Aus den genannten Betrachtungsweisen, durch die die Logik eingeteilt wird, ergibt sich, daß die formale Logik zwar keineswegs gleichrangig mit der Philosophie ist, daß sie aber unentbehrlich ist als eine Kri­ tik der Erkenntnis oder zur Beurteilung der gemeinen und der spekulativen Ver­ nunft, um sie mit sich selbst übereinstimmend zu machen. 1 1 1 Schon durch diese Skizzierung erweist sich die Notwendigkeit der für den ersten Weg gewählten Reihenfolge von gesundem Menschenverstand, Wissenschaften und Logik, die alle das Erfordernis einer wissenschaftlichen Philosophie vor Augen führen. Doch Kant bleibt keineswegs auf dem Standpunkt der formalen Logik stehen und auch nicht auf dem der analysierenden Betrachtung des komplexen Verbin10 9 Vgl. Kant. Logik. Akademie-Ausgabe, Band IX: S. 1 7. 1 10 Vgl. Kant. Logik. Akademie-Ausgabe, Band IX: S. 1 8. 1 1 1 Vgl. Kant. Logik. Akademie-Ausgabe, Band IX: S . 20.

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dungsgefüges zwischen gesundem Menschenverstand, Wissenschaften und Lo­ gik, sondern er geht über den bisher lediglich negativ bestimmten Horizont hin­ aus, indem er positiv die Disziplin der transzendentalen Logik schafft. 1 12 Sie bil­ det also das durch den 'natürlich-logischen' Weg zu erreichende philosophische Untersuchungsfeld, das nicht nur über die behandelten Gebiete hinausweist, sondern ihnen auch ihre eigene Begründung zuteil werden läßt. - Im Unter­ schied zur formalen Logik, die von aller Beziehung der Erkenntnis auf Gegen­ stände absieht, gibt es die andersgeartete transzendentale Logik, in der gerade nicht von allem Inhalt der Erkenntnis abstrahiert wird, sondern nur von empiri­ schen Erkenntnisinhalten. Diese Logik enthält also die Regeln des reinen Den­ kens eines Gegenstandes. 1 13 In der transzendentalen Logik wird somit der Ver­ stand isoliert, doch dieses reine Denken führt ohne Anwendung auf in der An­ schauung Gegebenes zu keiner objektiven Erkenntnis. Eine der Hauptaufgaben der Kritik der reinen Vernunft wird darin bestehen zu untersuchen, in welchem Verhältnis Anschauung und Denken stehen und wie sie zusammenwirken müs­ sen, damit gesicherte objektive Erkenntnis, also Wahrheit, entstehen kann. Nachdem in der transzendentalen Ästhetik die Formen der Anschauung thema­ tisiert wurden, muß in der transzendentalen Logik eine Analyse der Formen des Denkens folgen. Außerdem muß im Anschluß an seine Denkformen die Zusam­ menarbeit des Verstandes mit der Sinnlichkeit untersucht werden, weil sonst keine gesicherte Erkenntnis entstehen kann. Denn es gilt: "Gedanken ohne ln­ halt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind. " 1 1 4 Zu diesem Zwecke unterteilt Kant die transzendentale Logik in Analytik und Dialektik. Erstere trägt die Elemente der reinen Verstandeserkenntnis vor und die Prinzipien, ohne die kein Gegenstand gedacht werden kann. Die transzendentale Analytik ist demnach eine Logik der Wahrheit, denn ihr kann keine Erkenntnis widerspre­ chen, ohne daß sie zugleich allen Inhalt verlöre, d. h. alle Beziehung auf Objek­ te, durch die allein Wahrheit möglich ist. 1 1 5 Die Grenze der Analytik bildet das Nichts, das von ihr gerade noch mitgedacht werden kann, dessen Überschrei­ tung aber über den Bereich der Wahrheit hinausführt. 1 16 Im Gegensatz zur Ana1 1 2 Zum Verhältnis von formaler und transzendentaler Logik bei Kant vgl.: M. Baum. "Wahrheit bei Kant und Hege!". In: D. Henrich (Hrsg.). Kant oder Hege/? Über Formen der Begründung in der Philosophie. Stuttgarter Hegel-Kongreß 198 1 . Stuttgart, 1 983: S. 234. 1 1 3 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 55/B 79-80. 1 1 4 Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 5 1 /B 75. 1 1 5 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 60/B 84-8 5. 1 1 6 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 292/B 348. - Das Nichts steht zwischen den Bereichen des Erkennbaren und des Scheins, d. h. zwischen bezüglichem und nur scheinbar bezüglichem Denken. Obwohl es selbst relationslos ist, stiftet es doch einen Bezug zwischen wahrer und falscher Relationalität - und zwar sowohl in der Form des Systems der Transzen­ dentalphilosophie als auch im Denken.

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lytik untersucht die transzendentale Dialektik den dialektischen Gebrauch des reinen Verstandes, der eintritt, wenn reine Verstandesgrundsätze über die Gren­ zen der Erfahrung hinaus und ohne Bezug auf mögliche Anschauung angewandt werden. Diesen dialektischen Schein muß die Dialektik aufdecken, um die An­ sprüche der spekulierenden Vernunft herabzusetzen. 1 17 Die transzendentale Lo­ gik ist also diejenige Wissenschaft, die Ursprung, Umfang und objektive Gültig­ keit der apriorischen Erkenntnisse bestimmt. 1 1 8 Damit verwendet Kant drei Be­ stimmungen, die er immer wieder aufgreift, um die höchste Aufgabe der reinen Vernunft zu charakterisieren. All diese Begriffe aber verweisen darauf, daß es in der Kritik der reinen Vernunft um die Selbsterkenntnis der (reinen) Vernunft geht, die in der Erkenntnis ihrer eigenen Gesetzmäßigkeiten besteht, wozu es ei­ nes Wissens um die Formen von Denken und Anschauung bedarf. Wurden letz­ tere in der transzendentalen Ästhetik behandelt, so liefert die transzendentale Logik die Ableitung der Kategorien aus der Urteilstafel der 'metaphysischen' De­ duktion. Sind alle Formen als Grundlage möglicher Erkenntnis bestimmt, so können auch die resultierenden Grenzen der Erkenntnis aufgewiesen werden. 1 1 9 Der Zweck der Vernunftanalyse liegt vornehmlich i n der Bestimmung ihrer eige­ nen Grenzen, wozu die Analysen ihres Inhalts und Umfangs gehören. Dadurch wird es möglich, die objektive Gültigkeit von Vernunfterkenntnissen nachzuwei­ sen und die Vernunft als Ursprungsort aller reinen, apriorischen Erkenntnis auf­ zuzeigen. All dies leistet die transzendentale Logik, indem sie auf den potentiel­ len Gegenstandsbereich von Verstand und Vernunft achtet, d. h. indem sie im Gegensatz zur formalen Logik nicht von der Beziehung der Erkenntnis auf das Objekt absieht. Abschließend sei eine kurze Gesamtcharakteristik der Logik gegeben: Zu un­ terscheiden sind allgemeine, besondere und transzendentale Logik, denen je eine Leitfrage zugeordnet wird. So stellt die allgemeine Logik die generelle Frage, wie (formales) Denken überhaupt möglich ist. Sie teilt sich wieder auf in reine und angewandte Logik. Während erstere von allen möglichen korrespondierenden Gegenständen abstrahiert, ist letztere "auf die Regeln des Gebrauchs des Verstan­ des unter den subjektiven empirischen Bedingungen, die uns die Psychologie lehrt, gerichtet"120• Die allgemeine Logik kann also ohne auf Gegenstände des 1 1 7 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 60-6 1 /B 85. 1 1 8 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 57/B 8 1 -82. 1 1 9 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 76 1 / B 789. - Kann aber mit dieser Unter­

suchung der Grenzen der reinen Vernunft das noch Erkennbare vom nicht mehr Erkennbaren getrennt werden, so wird über diese Charakterisierung seiner Erkenntnismöglichkeiten hinaus eine Bestimmung des Menschen gegeben, so daß die Kantische Transzendentalphilosophie unter bestimmten Bedingungen - auch als Anthropologie bezeichnet werden könnte, jedoch als transzendentale Anthropologie. 1 2o Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 53/B 77.

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Wahrnehmungs- und Erfahrungsbereichs Rücksicht zu nehmen, der Subjektseite zugerechnet werden. Neben der allgemeinen gibt es die besondere Logik, die Kant mit den Methoden der Einzelwissenschaften identifiziert. Diese Wissen­ schaften gehen nahezu völlig in ihrem Gegenstandsbereich auf, weil ihnen jede Reflexion auf ihre eigene Wissenschaftlichkeit oder auf die in ihnen angewand­ ten Denkgesetze ermangelt; denn sie fragen danach, wie das Denken von be­ stimmten Gegenständen möglich ist. Damit befindet sich die besondere Logik völlig im Gegenstandsbereich, also auf der Objektseite. Schließlich muß von diesen Arten noch die transzendentale Logik unterschieden werden. Sie fragt, wie das Denken überhaupt hinsichtlich unbestimmter Gegenstände möglich ist. 121 Sie bezieht demnach den Gegenstandsbereich allgemein in ihre Aufgaben­ sphäre ein, ohne jedoch so auf den konkreten Gegenstand gerichtet zu sein wie die Einzelwissenschaften. Damit stellt die transzendentale Logik den theoreti­ schen Übergang von der Subjekt- zur Objektseite dar, d. h. sie ist sowohl subjek­ tiv als auch objektiv, und kann für beide Bereiche Gültigkeit beanspruchen. Aufgabe und Funktion der transzendentalen Logik sind damit so weit darge­ stellt, daß der erste Weg als abgeschlossen angesehen werden kann. War dieser Weg auf dem Stufengang von natürlicher Vernunft, Wissenschaften und forma­ ler Logik noch als negativ zu bezeichnen, weil keiner dieser Bereiche dazu dienen kann, die Philosophie als Wissenschaft und sich selbst als sicheres Wissen grund­ zulegen, so hat der 'natürlich-logische' Weg mit seiner Wendung zur Transzen­ dentalphilosophie auch die Wendung zur Positivität vollzogen. Er macht also mit dem Überschreiten der formalen die transzendentale Logik zur Ersten Philo­ sophie und dank der durch sie grundzulegenden Formen der Wissenschaftlich­ keit überhaupt und des Denkens auch zur Ersten Wissenschaft. Die durchschrittene Trias von gesundem Menschenverstand, Wissenschaften und transzendentaler Logik vermag also zu einem Anfang der echten, wissen­ schaftlichen Philosophie zu führen. Gleichzeitig gilt: Dieser Weg ist nicht viel mehr als ein erster Anfang der wahren, transzendentalen Philosophie. Da er noch nicht die Ausarbeitung der gesamten Kritik der reinen Vernunft enthält, ist mit dem 'natürlich-logischen' Weg das System der Philosophie noch nicht abge­ schlossen. Indem er jedoch auf die Verbundenheit aller Wissensstufen hinweist und den Zugang zur Transzendentalphilosophie eröffnet, hat er einen positiven Nutzen, läßt sich doch durch ihn die Notwendigkeit des Übergangs der Meta­ physik zur wissenschaftlichen Philosophie vermittelbar machen. Damit also die transzendentale Logik selbst zur Wissenschaft werden kann, so daß das angedeu1 2 1 Damit ist nicht gemeint, daß die transzendentale Logik die Frage nach der Möglichkeit des Denkvermögens selbst stellt [vgl. nochmals: Kant. Kritik der reinen Vernunft, A XVII] , worauf bereits hingewiesen wurde, sondern daß sie nach der Möglichkeit fragt, wie unbe­ stimmte Gegenstände gedacht werden können.

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tete philosophische Programm seinen Abschluß erreicht, bedarf es der Durch­ führung der Transzendentalphilosophie selbst, d. h. der 'natürlich-logische' Weg muß durch andere Wege ergänzt werden, die weiter gehen als er selbst und die in sich das ganze System der reinen Vernunft enthalten.

B. Der 'psychologiekritische' Weg als zweiter Weg in die transzendentale Philosophie

Vorbemerkung Kants zweiter Weg in die transzendentale Philosophie ist, ebenso wie der erste, als negative Hinführung zum eigentlichen Ziel der Kritik der reinen Vernunft, der Etablierung einer den Namen Wissenschaft verdienenden Metaphysik, auf­ zufassen. Denn das Ziel dieses Weges ist es nicht, das gesamte System der Tran­ szendentalphilosophie mit seinen Einzelheiten auszuarbeiten, sondern nochmals die Notwendigkeit einer transzendentalen, kopernikanischen Wendung zu er­ weisen, indem die Andersartigkeit des philosophischen gegenüber allem anderen Wissen aufgezeigt wird. Dies wird nicht mehr - wie beim 'natürlich-logischen' Weg - dadurch erreicht, daß es einer über die alltäglich-wissenschaftliche Sphäre sich erhebenden und sie erst begründenden philosophischen Reflexion bedarf, sondern dadurch, daß die Grenzen eines bestimmten Wissenszweiges in bezug auf metaphysische Fragen aufgewiesen werden, nämlich die der rationalen Psy­ chologie, die behauptet, die genuin philosophische Frage nach der Unsterblich­ keit der Seele beantworten zu können. Diesen falschen Anspruch der Psycholo­ gie will Kam aufdecken, um so die Unumgänglichkeit eines transzendentalphi­ losophischen Vorgehens im Hinblick auf die Hauptfragen der Metaphysik zu erweisen. Da es nicht nur seine Absicht ist, den transzendentalphilosophischen Bereich zu eröffnen und in seiner Eigentümlichkeit als einzige Möglichkeit zur Lösung metaphysischer Fragestellungen zu offenbaren, sondern auch, durch den Nachweis der falschen Behauptungen der Psychologie auf philosophischem Ge­ biet die Grenzen dieser Disziplin und das in ihr Wißbare au&uzeigen, soll der von Kam zu diesem Zweck beschrittene Weg der 'psychologiekritische' weg ge­ nannt werden. {Auch für ihn gilt, daß Kam ihn zwar nicht ausdrücklich so be­ zeichnet, daß er aber aufgrund der in der ersten Kritik gemachten Aussagen zur empirischen Psychologie, den Paralogismen und der rationalen Psychologie überzeugend rekonstruiert werden kann.)

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1. Die empirische Psychologie und ihr Verhältnis zur Philosophie Um den 'psychologiekritischen' Weg verstehen zu können, müssen zunächst die Fragen geklärt werden, welchen Status die empirische Psychologie besitzt, ob sie eine Wissenschaft sein kann und in welchem Verhältnis sie zur Philosophie steht. 122 Um den Gegenstandsbereich der empirischen Psychologie angeben zu können, empfiehlt sich eine Abgrenzung zwischen psychischem und physikali­ schem Bereich. Während der empirische Gegenstand als solcher des äußeren Sinnes innerhalb der Physik behandelt wird, tritt der psychische Gegenstand als solcher des inneren Sinnes lediglich in der Zeit auf. Während sich also der physi­ kalische Gegenstand im weitesten Sinne als Natur123 fassen läßt, ist der Gegen­ stand psychologischer Untersuchungen als innerer mit dem Begriff der Seele wiederzugeben.

1 22 Schon aufgrund der im folgenden darzustellenden Zusammenhänge zeigt sich, daß der von G. H. Lorenz in ihrem Buch Das Problem der Erklärung der Kategorien. Eine Unter­ suchung der formalen Strukturelemente in der 'Kritik der reinen Vern unft'. Berlin, New York, 1 986: S. 1 29 erhobene Vorwurf. Kant entscheide nicht über die Möglichkeit empiri­ scher Psychologie, unhaltbar ist. 1 23 An den Begriff der Natur knüpft sich eng der der Welt an; mit Hilfe dieser beiden Ter­ mini läßt sich noch einmal einiges über das Verhältnis zwischen Philosophie und (Natur-)Wis­ senschaften ausmachen. [Zur Idee der Welt vgl. K. Düsing. Die Teleologie in Kants Welt­ begriff. Reihe: Kant-Studien, Ergänzungshefte, hrsg. von I. Heidemann, Nr. 96. Bonn, 1 976: S. 25.] Der Begriff der Welt hat keine Beziehung auf das Dasein von Dingen, weil er als rein mathematisches Aggregat eine nie erfahrbare Idee darstellt, die nur scheinbar die Gesamtheit aller Erscheinungen umfaßt. [Vgl. Kam. Kritik der reinen Vernunft, A 4 1 8-420/B 446-448.] Hingegen serzt der Begriff der Natur - sei es als Wesen eines Dinges oder als Gesamtheit aller Dinge - das Dasein von Dingen voraus, so daß die Natur als Inbegriff der Erscheinungen die erfahrbare Wirklichkeit bedeutet. Deshalb wird die Natur, im Gegensatz zur Welt, zum Gegenstand der Deduktion [vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 1 1 4 und A 1 25] . Deshalb muß der Weltbegriff, um überhaupt gedacht werden zu können, in Beziehung zur Gottesidee gebracht werden, wohingegen der Naturbegriff unabhängig von einer (nur schein­ baren) Wirkursache gedacht werden kann. - Sowohl die Naturwissenschaften als auch die kri­ tische Philosophie beziehen sich positiv auf den Naturbegriff, wobei die letztere darüber hin­ aus noch eine negative Bestimmung des Weltbegriffs vornehmen kann. Doch gerade an der Art dieser Bezugnahme wird der Unterschied zwischen beiden Disziplinen deutlich. Die Na­ turwissenschaften behandeln die Natur inhaltlich, d. h. sie unterscheiden innerhalb der Ge­ samtheit aller Erscheinungen bestimmte Bereiche und Zusammenhänge. Die Philosophie hin­ gegen behandelt die Natur nicht inhaltlich, d. h. sie ist nicht am Ding oder an Dingzusam­ menhängen orientiert, sondern ausschließlich formal, so daß sie den Naturbegriff erst auf eine sichere Grundlage hebt und damit die Basis der Wissenschaften garantiert. - Da auch die empirische Psychologie eine Wissenschaft werden kann, hat auch sie den Mangel, sich selbst nicht begründen zu können. Da sie aber im Gegensan zu den Naturwissenschaften nicht auf den Bereich der äußeren Gegenstände bezogen ist, ist dieser Mangel nicht an einen unbe­ gründbaren Naturbegriff gekoppelt.

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Verbunden werden jedoch Psychisches und Physisches dadurch, daß sich beide auf den Erscheinungsbereich beziehen, d. h. daß ihnen das zugrundelie­ gende transzendentale Objekt unbekannt bleibt, weil es in der Beziehung der Wahrnehmung auf ihre Ursache zweifelhaft bleibt, "ob diese innerlich, oder äu­ ßerlich sei, ob also alle sogenannten äußeren Wahrnehmungen nicht ein bloßes Spiel unseres inneren Sinnes sind, oder ob sie sich auf äußere wirkliche Gegen­ stände, als ihre Ursache beziehen" 1 24• Während also das Physische auf Räumli­ ches bewgen etwas Stehendes zum Gegenstand hat, gewinnt das Psychische mit der Zeit als der Form innerer Anschauung125 nichts Bleibendes, so daß ihm nur ein Wechsel von Bestimmungen, nicht aber ein erkennbarer Gegenstand gege­ ben wird. Schon daraus wird ersichtlich, daß die Psychologie zwar manches em­ pirisch erkennen kann, daß ihr aber keine übergeordnete Erkenntnis zuteil wird, die über den begrenzten Bereich der Erfahrung - und sei es nur begrifflich hinausgehen könnte. Dadurch nimmt sie eine gegenüber den Naturwissenschaf­ ten untergeordnete Stellung ein, weil in diesen Wissenschaften aus Begriffen ge­ folgert werden kann. 1 26 Da die Psychologie also nicht dazu in der Lage ist, etwas synthetisch a priori zu erkennen, kann sie nicht dazu befähigt sein, auch nur eine Teilantwort auf die Hauptfrage der Kritik der reinen Vernunft - nach der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori - zu liefern. 127 Das bedeutet, daß ihr der philosophische Bereich als solcher notwendig verschlossen bleiben muß und daß sie nicht einmal - wie etwa die Mathematik - Fingerzeige darauf geben kann, wie die Metaphysik auf den Weg einer sicheren Wissenschaft gelangen könnte, so daß sie in der Begrün­ dung der eigenen Wissenschaftlichkeit völlig auf die Grundlegungsfunktion der Transzendentalphilosophie angewiesen ist. Von einer derart möglichen empiri­ schen Psychologie gilt jedoch, daß sie selbst als Wissenschaft nur von recht ge­ ringem Wert wäre, da sie die vom natürlichen und philosophischen Standpunkt aus gesehen relevanten Fragen (nach Ich und Seele) nicht beantworten kann. Durch ihre notwendige Verwiesenheit auf den Erfahrungsbereich muß der empi­ rischen Psychologie das zur Klärung des Ich-Seele-Komplexes erforderliche reine Vernunftdenken verschlossen bleiben, so daß sie als nicht-rationale Psychologie von lediglich untergeordnetem Interesse sein könnte - allerdings immer noch 1 24 1 25 1 26 1 27

Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 368. Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 33/B 49. Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 38 1 . Die Erkenntnis Kants, daß die psychologische Methode für die Behandlung philosophi­ scher Probleme unzulänglich sei, betont auch W. Windelband in seinem Lehrbuch der Ge­ schichte der Philosophie. Mit einem Schlußkapitel ' Die Philosophie im 20. Jahrhundert' und einer Übersicht über den Stand der philosophiegeschichtlichen Forschung. Hrsg. von H. Heimsoeth. Tübingen, 1 5 1 957: S. 457.

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von Interesse, so daß alle Versuche, ihre gänzliche Verzichtbarkeit zu erweisen, ebenso unhaltbar sind wie diejenigen, die ihr eine weiterreichende und die Phi­ losophie ersetzende Funktion zusprechen wollen. Obwohl die empirische Psy­ chologie also einen eigenen bedeutungsvollen Bereich besitzt, bleibt doch ihre Stellung innerhalb größerer Zusammenhänge verschwindend. 1 28 Die rationale Psychologie aber bildet einen Zweig der zur Metaphysik der Natur gehörenden immanenten Physiologie und ist als Metaphysik der denken­ den Natur auch eine apriorische Wissenschaft. Sollten an ihrem wissenschaftli­ chen Charakter einige Zweifel bestehen, da sie das menschliche Wissen, wenn überhaupt, nur in beschränktem Maße erweitern kann, so behält die rationale Psychologie doch stets praktische Relevanz, denn sie beruht "auf einem einzigen Schlusse der moralischen Theologie [ . . . ] , wie denn auch ihr ganzer Gebrauch bloß der letzteren, als unserer praktischen Bestimmung wegen, notwendig ist" 129• Demgegenüber nimmt die empirische Psychologie einen anderen Rang ein: Als Erfahrungswissenschaft gehört sie zur angewandten Philosophie, aber auf keinen Fall zur transzendentalen Metaphysik. Da sie nur empirisch ist, kann sie auch nur Anthropologie des inneren Sinnes sein 130; denn die "Psychologie ist für menschliche Einsichten nichts mehr und kann auch nichts mehr werden, als An­ thropologie, d. i. als Kenntnis des Menschen, nur auf die Bedingung einge­ schränkt, sofern er sich als Gegenstand des inneren Sinnes kennt" 131 • Doch nicht nur die Unterscheidung zwischen empirischer und rationaler Psy­ chologie muß Beachtung finden, sondern auch die Differenzen zu und die Ge1 28 Vgl. Kam. Kritik der reinen Vernunft, A 347/B 405-406. - Als empirische Wissen­ schaft wäre die Psychologie auf die Naturgesetze des denkenden Selbst bezogen und be­ schränkt, d. h. sie stünde in enger Beziehung auf das Dasein von Dingen, in ihrem Fall von Dingen, die im inneren Sinn, also nur in der Zeit auftreten. Damit fügt auch sie sich harmo­ nisch in das oben behandelte Verhältnis von Natur und Welt, von Wissenschaft und Schein ein. 1 29 Kam. Kritik der Urteilskraft. Akademie-Ausgabe, Band V: S. 46 1 . 1 30 Vgl. Kam. Kritik der reinen Vernunft, A 848-849/B 876-877. - An dieser Verbin­ dung mit dem inneren Sinn wird die hinsichtlich des Selbstbewußtseins nur untergeordnete Bedeutung der empirischen Psychologie sichtbar: Durch den inneren Sinn sind Anschauungen so gegeben, daß ihr Auftreten mit der Möglichkeit verbunden ist, sich ihrer als innerer Selbst­ anschauungen bewußt zu werden. Der innere Sinn ist eine notwendige Bedingung dafür, daß diese Möglichkeit besteht, nicht aber ein Vermögen, das als solches schon das Erfülltsein der Bedingungen empirischen Selbstbewußtseins garantiert. [Vgl. G. Mohr. Das sinnliche Ich. In­ nerer Sinn und Bewußtsein bei Kant. Würzburg, 1 99 1 : S. 58-66, besonders S. 63-64.] 1 3 1 Kam. Fortschritte der Metaphysik. Akademie-Ausgabe, Band XX: S. 308. - Ist die em­ pirische Psychologie als Anthropologie anzuerkennen, so ist sowohl ihr Rang als Wissenschaft gesichert als auch ihr Verhältnis zur Philosophie geklärt, weil sie dann der wissenschaftlich­ philosophischen Anthropologie zwar untergeordnet wäre, aber ihr doch als Erfahrungswissen­ schaft Material liefern könnte, um so die rein transzendental begründete Anthropologie als Sy­ stem zu vervollständigen.

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meinsamkeiten mit der Logik. Denn, wie gezeigt, unterscheidet Kant reine und angewandte Logik; gerade letztere steht in besonderer Beziehung zur Psychologie als empirischer Wissenschaft: "Eine allgemeine Logik heißt aber alsdann ange­ wandt, wenn sie auf die Regeln des Gebrauchs des Verstandes unter den subjek­ tiven empirischen Bedingungen, die uns die Psychologie lehrt, gerichtet ist." 132 Diese angewandte Logik bedarf also empirischer und psychologischer Prinzi­ pien.133 Damit bestätigt sich, was an der entsprechenden Stelle des ersten Weges in die Transzendentalphilosophie gesagt wurde: Die angewandte Logik ist ei­ gentlich nur Psychologie. Anders formuliert: Sie ist notwendig auf eine empiri­ sche Psychologie angewiesen. Als solche ist sie zwar kein Organon der Wahrheit, aber doch nützlich als Kritik der Erkenntnis oder zur Beurteilung der gemeinen und spekulativen Vernunft, um sie mit sich selbst übereinstimmend zu ma­ chen.134 Es gilt also: Die empirische Psychologie hat ihren Wert, da sie als Erfahrungs­ wissenschaft vom Menschen Einsichten in dessen Wesen gewähren kann, so daß sie aus anthropologischer Sicht als bedeutsam eingestuft werden muß. Sie ist al­ lerdings nur empirische Erkenntnis des denkenden Selbst des Menschen, so daß ihr eine strenge Gesetzmäßigkeit mangelt. Die empirische Psychologie kann also nicht dem Bereich der Naturwissenschaften zugerechnet werden, weil auf sie ein rein mathematisches Verfahren nicht anwendbar ist. Während die Mathematik innerhalb des Bereichs der Wissenschaften - wie im Verlaufe des 'natürlich-logi­ schen' Weges ersichtlich geworden ist - eine besondere Stellung einnimmt, auf­ grund ihrer Initialfunktion für eine Revolution der Denkart, kann die empiri­ sche Psychologie für sich nicht den Charakter einer Naturwissenschaft (und überhaupt einer Wissenschaft) in Anspruch nehmen. Dies gilt wenigstens so­ lange, bis sie den durch die sichere mathematische Wissenschaft gesetzten Anfor­ derungen der Wissenschaftlichkeit genügt. Das bedeutet schließlich, daß die em­ pirische Psychologie - wenigstens zur Zeit Kants - nicht in den Rang einer Wis­ senschaft aufsteigen konnte; und dies insbesondere deshalb nicht, weil ihr eigener Bereich durch die Beobachtungen und Experimente, auf die sie auf­ grund ihres empirischen Charakters angewiesen ist, stets Schwankungen unter­ worfen bleibt. Wegen eines mangelnden methodischen Rahmens und der natür­ lichen Veränderlichkeit ihres Forschungsgegenstandes, des einzelnen Menschen, kann die empirische Psychologie noch nicht in den Rang einer Wissenschaft auf-

1 3 2 Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 53/B 77. 1 33 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 54-5 5/B 79. 1 34 Vgl. Kant. Logik. Akademie-Ausgabe, Band IX: S. A 20.

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steigen. 135 Das bedeutet aber, daß die empirische Psychologie zunächst nur eine negative Stellung einnehmen kann. 136 Trotz dieses negativen Befundes verwirft Kant die empirische Psychologie kei­ neswegs; er erkennt ihr Eigenrecht schon dadurch an, daß er sie, wenigstens auf Zeit, in das Gebiet der angewandten Philosophie eingliedert. Zwar ist es der so gearteten Psychologie nicht möglich, den Bereich des philosophischen Wissens zu erweitern oder gar dazu beizutragen, die Metaphysik in den sicheren Gang ei­ ner Wissenschaft zu leiten, dennoch sollte sie als Erweiterung des praktischen Wissens des Menschen von sich selbst nicht in Vergessenheit geraten. Sobald die Anthropologie einmal zu einer eigenfundierten Wissenschaft geworden sein wird, muß es ihre Aufgabe sein, sich die empirische Psychologie einzuverleiben, um sie aus dem philosophischen Gebiet abzuziehen und die Transzendentalphi­ losophie von ihr zu entlasten. Diese Übergangssituation der empirischen Psycho­ logie zwischen Philosophie und Anthropologie stellt Kant in der Methodenlehre der Kritik der reinen Vernunft dar. l37 2.

Die rationale Psychologie

Kant bleibt bei dieser Analyse der empirischen Psychologie keineswegs stehen, sondern geht zur Untersuchung desjenigen Teils der Psychologie über, der für sich Einsichten in metaphysische Fragen beansprucht, d. h. Kant wendet sich der rationalen Psychologie und ihren Verirrungen zu, die er im Paralogismuska­ pitel der Kritik der reinen Vernunft offenlegt. Schon durch das bisher Gesagte zeigten sich anhand der Unterscheidung von physikalischer und psychologischer Erkenntnis einige herausragende Merkmale der rationalen Psychologie sowie ihr enges Verhältnis zur empirischen Psycholo­ gie einerseits, aber auch die Differenzen zwischen diesen Teilgebieten der Psy­ chologie andererseits, was für das Folgende jedoch nur noch von untergeordne1 35 Vgl. Kant. Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft. Akademie-Ausgabe, Band IV: S. 47 1 : "Die empirische Seelenlehre [muß] jederzeit von dem Range einer eigentlich so zu nennenden Naturwissenschaft entfernt bleiben, [ . . . ] weil Mathematik auf die Phänome­ ne des inneren Sinnes und ihre Gesetze nicht anwendbar ist, [ . . . ] . " Nicht einmal als systemati­ sche Zergliederungskunst oder Experimentallehre kann sie der Chemie nahe kommen, "weil sich in ihr das Mannigfaltige der inneren Beobachtung [ . . . ] nicht [ . . . ] abgesondert aufbehal­ ten und beliebig wiederum verknüpfen, noch weniger aber ein anderes denkendes Subject sich unseren Versuchen der Absicht angemessen von uns unterwerfen läßt, und selbst die Beobach­ tung an sich schon den Zustand des beobachteten Gegenstandes alteriet und verstellt." 1 36 Vgl. Kant. Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft. Akademie-Ausgabe, Band IV: S. 47 1 . 1 37 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 848-849/B 876-877.

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ter Bedeutung ist. So konnte bereits erschlossen werden, daß die rationale Psy­ chologie als Metaphysik der denkenden Natur verstanden werden muß, die keine empirische Wissenschaft mehr ist, sondern dadurch, daß sie die Prinzipien der Erkenntnis der denkenden Natur a priori enthalten soll, als apriorische Wis­ senschaft und rationale Erkenntnis zu verstehen ist. Als solche gehört sie in den Bereich der Erkenntnis aus bloßer Vernunft (als des Vermögens der Prinzi­ pien138) , d. h. sie ist dem System der Metaphysik zuzurechnen. 139 Die rationale beschäftigt sich im Gegensatz zur empirischen Psychologie nicht mit den Gegenständen äußerer Sinne, sondern mit dem Gegenstand des inneren Sinnes im Zeitverhältnis, d. h. mit dem denkenden Ich oder - was (scheinbar) dasselbe besagt - der Seele. Da die rationale Psychologie unabhängig von aller Erfahrung sein soll, betrachtet sie auch die Seele als erfahrungsunabhängig, so daß sie nur auf das allem Denken inhärente Ich gerichtet ist. Die rationale Psy­ chologie ist also genau dann eine erfahrungsunabhängige Vernunftwissenschaft, "wenn ich von der Seele nichts weiter zu wissen verlange, als was unabhängig von aller Erfahrung (welche mich näher und in concreto bestimmt) aus diesem Begriffe Ich, sofern er bei allem Denken vorkommt, geschlossen werden kann"140. Sie beschäftigt sich als rein vernunftbezogene Wissenschaft also aus­ schließlich mit der Seele, die als 'Ich denke' aufgefaßt wird. 141 Da es hier noch nicht um die inhaltliche Auseinandersetzung mit den Begrif­ fen der Seele und des 'Ich denke' gehen soll, kann im folgenden der Inhalt der rationalen Psychologie weitgehend zurückgestellt werden, um dafür den forma­ len Aspekten größere Aufmerksamkeit widmen zu können. 142 Aus diesem Grund sollen die Paralogismen zunächst nur hinsichtlich ihrer Form Beachtung finden; doch wie schon beim ersten Weg in die Transzendentalphilosophie geht es auch hier nicht primär um eine inhaltliche Klärung der herangewgenen Wissenschaft der Psychologie - so wie es zuvor nicht um eine inhaltliche Klärung von Mathe­ matik oder Geometrie ging -, sondern die rationale Psychologie ist lediglich in­ sofern von Belang, als sie die Notwendigkeit einer eigenständigen wissenschaftli­ chen Philosophie offenbart. Zu diesem Zweck muß nur gezeigt werden, daß die rationale Psychologie sich einer falschen Vorgehensweise, also einer unzureichen­ den Form bedient, die ihre Behauptungen als unhaltbar offenlegt. Es muß geI 3B 1 39 1 40 141

Vgl. zum Beispiel: Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 299/B 356 oder A 837/B 865. Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 846-847/B 874-875 sowie A 334/B 39 1 . Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 342/B 400. Siehe dazu: Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 343/B 40 1 : "Ich denke, ist also der alleinige Text der rationalen Psychologie, aus welchem sie ihre ganze Weisheit auswickeln soll." 1 4 2 Ein solches Vorgehen ist auch dadurch berechtigt, daß die Transzendentalphilosophie Kants als formaler Idealismus angesehen werden kann [vgl. K. Gloy. Studien zur theoretischen Philosophie Kants. Würzburg, 1 990: S. 1 43].

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zeigt werden, daß die rationale Psychologie durch ihre nicht einzulösenden An­ sprüche, die auf falschen formalen Voraussetzungen beruhen, weder dem Ziel der Metaphysik entsprechen kann noch dem Bereich der transzendentalen Philo­ sophie zugerechnet werden darf. Die rationale Psychologie bzw. die transzendentale Seelenlehre werden von Kant vornehmlich innerhalb des Paralogismuskapitels der Kritik der reinen Ver­ nunft behandelt. Schon an ihrer Stellung innerhalb der transzendentalen Dialek­ tik wird deutlich, daß die Behandlung der Paralogismen nicht zu den positiven Inhalten der kritischen Transzendentalphilosophie als wissenschaftlicher Meta­ physik gehört, sondern daß sie diese Wissenschaft nur negativ nach außen be­ grenzt, d. h. vor Scheinwissen schützt. Daß die Paralogismen aber nicht zum wahren, synthetisch-apriorischen Wesen der Philosophie gehören, liegt weniger an den in ihnen gegebenen zentralen Themenstellungen - denn rationale Psy­ chologie und transzendentale Philosophie kommen darin überein, das 'Ich den­ ke' zum höchsten Punkt zu machen -, also nicht an den Inhalten, sondern an der der rationalen Psychologie eigenen Form. Denn alle Hauptbegriffe der tran­ szendentalen Seelenlehre können als auf Paralogismen basierend aufgewiesen werden. Der logische hat mit dem transzendentalen Paralogismus eines gemein­ sam: beide beruhen auf einem der Form nach falschen Vernunftschluß. 143 Aller­ dings beruht der logische Paralogismus auf der Falschheit eines solchen Ver­ nunftschlusses bloß seiner Form nach, ohne daß inhaltliche Folgerungen abge­ leitet würden, wohingegen der transzendentale Paralogismus als Fehlschluß, der in der Natur der Menschenvernunft seinen Grund hat, mit dem Anspruch auf inhaltliche Folgerungen auftritt - im Falle der transzendentalen Seelenlehre dar­ auf, das Wesen der Seele bestimmen zu können. Die logische Form verbindet sich so beim transzendentalen Paralogismus mit dem Inhalt, und daraus resultiert letzdich ein doppelter Formfehler: Auf der lo­ gischen Ebene stimmen Prämissen und Konklusion (vom transzendentalen Standpunkt aus gesehen) nur scheinbar überein. Aber noch gewichtiger ist der Fehler auf der transzendentalen Ebene; denn hier verstößt die Vernunft gegen die notwendigen Bedingungen der Form der Erfahrung144 selbst. Alle Erfahrung 1 43 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 34 1 / B 399. 1 44 Wie bedeutsam der Erfahrungsbezug für jede wahre Erkenntnis ist, hat auch A. N.

Whitehead in Process and Reality. An Essay in Cosmology. Corrected Edition. Hrsg. von D. R. Griffin und D. W. Sherburne. New York, London, 1 979: S. 1 56 betont. Der generelle Ein­ fluß Kants auf das Denken Whiteheads zeigt sich schon äußerlich daran, daß letzterer in seiner Philosophie in Anlehnung an und Abgrenzung gegenüber Kants Kritik der reinen Vernunft eine Kritik des reinen Gefühls ("a critique of pure feeling") aufzustellen hoffte [vgl. ebd. , S. 1 1 3] . Dieser Versuch Whiteheads, auf einer fundamentaleren Ebene als Kant, auf der Emp­ findungsebene anzusetzen, weist sowohl Parallelen zu Fichtes Betonung der Bedeutung des Gefühls [vgl. J. G. Fichte. Ueber den Begriff der Wissenschafts/ehre, a.a.O., S. 29] als auch zu

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besteht aus den zwei Seiten der Sinnlichkeit und des Verstandes, die durch ihr kompliziertes, synthetisches Zusammenspiel wirkliche Erfahrung(-serkenntnis) erst ermöglichen, wozu sich die Sinnlichkeit anschaubarer Mannigfaltigkeiten, der Verstand sich seiner das Denken erst ermöglichenden Grundbegriffe, der Ka­ tegorien, bedient. Gegen diese notwendige Verknüpfung von Sinnlichkeit und Denken als Form der Erfahrung verstoßen die Schlußfolgerungen der rationalen Psychologie über den reinen Denkgegenstand 'Seele'. Denn die transzendentale Seelenlehre gibt bei ihren Schlüssen vor, sich auf etwas real Anschaubares zu beziehen, obwohl sie allein aus einem logischen Verhältnis auf die Realität eines Gegenstandes zu schließen versucht. 145 Dies zeigt sich besonders deutlich in der B-Fassung des Pa­ ralogismuskapitels: "In dem Verfahren [ dem formalen Vorgehen] der rationa­ len Psychologie herrscht ein Paralogism, der durch folgenden Vernunftschluß dargestellt wird, was nicht anders als Subjekt gedacht werden kann, existiert auch nicht anders als Subjekt, und ist also Substanz. Nun kann ein denkendes Wesen, bloß als ein solches betrachtet, nicht anders als Subjekt gedacht werden. Also existiert es auch nur als ein solches, d. i. als Substanz." 146 Die Konklusion beruht also auf einem Trugschluß, da einmal von einem Wesen geredet wird, das in der Anschauung vorkommen kann, während das andere Mal, im Untersatz, nur von dem sich selbst denkenden Wesen die Rede ist. Die rationale Psycholo­ gie gibt also nur vor, der Form der Erfahrung gerecht zu werden - und doch kann sie die von ihr behauptete Eigenschaft der Seele, Substanz zu sein, niemals an einem Erfahrungsgegenstand nachweisen, weil sie ihr gesamtes Material allein aus dem Denken nimmt. Sie vermengt also die Ebene des Denkens mit der des realen Seins, indem sie vom Denken auf die Wirklichkeit des Gedachten schließt. Da das Denken aber beim endlichen Verstand seine Gegenstände nicht selbst durch den Denkakt hervorbringen kann, darf es nicht vom bloß gedach­ ten Etwas auf ein seiendes Ding schließen. Die transzendentale Seelenlehre ver­ stößt also in zweifachem Sinne gegen die Form der Erkenntnis: Sie begeht einen logischen Fehler, der in der Rückwendung von der transzendentalen auf die for­ male Logik erst deutlich wird147, und einen transzendentallogischen Fehler, in=

Husserls Betonung der passiven Synthesen und der Bedeutung der Intuition für die Philo­ sophie auf. - Zu Whiteheads Kritik an Kant vgl. R. Wiehl. Metaphysik und Erfahrung. Phi­ losophische Essays. Frankfurt arn Main, 1 996: S. 345-360, bes. S. 3 50-3 5 1 . 1 45 Vgl. P. Lachieze-Rey. L'idealisme kantien. Paris, 2 1 950: S. 44. 1 46 Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 4 1 0-4 1 1 . 1 47 Aussagenlogisch ist der Schluß der rationalen Psychologie korrekt aufgebaut nach dem Schema 'Wenn A B und C A, dann C B'. Aber wenn dieser Schluß nach der transzen­ dentallogischen Einsicht umformuliert wird und dann lautet: 'Wenn A B und C 0, dann C B', so liegt nicht nur in der Prädikaten-, sondern auch in der Aussagenlogik ein Fehler vor. Nach der transzendentallogischen Fehlererkenntnis aufgrund einer unrechtmäßigen Verwen=

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dem sie die Anforderungen der Erfahrungsform nicht erfüllt und doch auf etwas wirklich Existierendes schließt. Aber: Erfahrung ohne Anschauung kann es nicht geben, und das bedeutet für die rationale Psychologie: Eine existierende Seele als Substanz kann es nicht geben, weil sie nicht erfahren werden kann. Nicht daß die transzendentale Seelenlehre also das Ich ('Ich denke') zum Gegenstand von Untersuchungen macht, ist ihr Fehler, sondern das, was sie aus diesem Gegen­ stand macht. 148 Diese Problematik der rationalen Psychologie zeigt sich dann noch einmal deutlich, wenn der bereits behandelte Unterschied zwischen Körper- und See­ lenlehre mit in den Gedankengang einbewgen wird. Die Körperlehre beschäftigt sich mit den Gegenständen äußerer Sinne, also mit räumlichen Gegenständen. Sie kann aus dem bloßen Begriff eines ausgedehnten Wesens apriorische Er­ kenntnisse gewinnen; sie kann einen synthetischen Begriff vom Raum und einer Erscheinung in ihm bilden. Die Körperlehre läßt folglich synthetische Urteile a priori zu. 149 Hingegen gilt für die Seelenlehre, daß es keinen bleibenden Gegen­ stand des inneren Sinnes gibt. Die Zeit selbst hat nichts Bleibendes an sich; sie gibt also nur den Wechsel von Gegenstandsbestimmungen zu erkennen, nicht aber einen bestimmten Gegenstand. Nur der Wechsel von Zuständen ist dem­ nach in der (zahlenmäßig faßbaren) Zeit gegeben - eventuell ist er sogar die Zeit selbst. Das bedeutet wiederum, daß auch das Ich als scheinbarer Gegenstand der rationalen Psychologie kein wirklicher Gegenstand sein kann, weil das Ich - als reine Denkform - weder angeschaut noch wirklich begrifflich gefaßt werden dung desselben Begriffs für verschiedene Sachverhalte und der daraus resultierenden adäquaten Umformulierung des formallogischen Schlusses, wird auch der aussagenlogische Fehler evi­ dent. Deshalb kann - ausgehend vom Primat der Transzendentallogik - der doppelte formale und transzendentale Fehler der rationalen Psychologie aufgezeigt werden, obwohl ihre Schlüsse zunächst formallogisch korrekt erscheinen. 1 4 8 Vgl. dazu: ( 1 ) Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 350: "Hieraus folgt: daß der erste Vernunftschluß der transzendentalen Psychologie uns nur eine vermeintliche neue Einsicht aufhefte, indem er das beständige logische Subjekt des Denkens, für die Erkenntnis des realen Subjekts der Inhärenz ausgibt, von welchem wir nicht die mindeste Kenntnis haben, noch ha­ ben können, weil [ . . . ] wir, außer dieser logischen Bedeutung des Ich, keine Kenntnis von dem Subjekte an sich selbst haben, was diesem, so wie allen Gedanken, als Substratum zum Grun­ de liegt." (Kursivierung ergänzt von R. P.) Und (2) : Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 354: ,,Also bleibt ebenso hier, wie in dem vorigen Paralogism, der formale Satz der Apperzeption: Ich denke, der ganze Grund, auf welchen die rationale Psychologie die Erweiterung ihrer Erkenntnisse wagt, welcher Satz zwar freilich keine Erfahrung ist, sondern die Form der Apperzeption, die jeder Erfahrung anhängt und ihr vorgeht, gleichwohl aber nur immer in Ansehung einer möglichen Erkenntnis überhaupt, als bloß subjektive Bedingung derselben, angesehen werden muß, die wir mit Unrecht zur Bedingung der Möglichkeit einer Erkenntnis der Gegenstände, nämlich zu einem Begriffe vom denkenden Wesen überhaupt machen, [ . ] . (Kursivierung zum Teil ergänzt von R. P.) 1 49 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 38 1 . . .

"

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kann. Mit der falsch verstandenen Seele als Inhalt der rationalen Psychologie liegt lediglich der Schein eines echten Begriffes vor, und das bedeutet letztlich ein Nichts als leerer Begriff ohne Gegenstand bzw. "der Gegenstand eines Be­ griffs, dem gar keine anzugebende Anschauung korrespondiert, = Nichts" 15°. Kant zeigt also, daß die rationale Psychologie deswegen unhaltbar bleibt, weil sie glaubt, durch reines, auf den Terminus 'Ich' oder 'Seele' bezogenes Denken die menschliche Erkenntnis erweitern zu können, obwohl sie damit den notwen­ digen Anforderungen des Erfahrungsbereiches nicht mehr genügen kann. l 5 1 Doch obwohl die rationale Seelenlehre als Wissenschaft nicht haltbar ist und das menschliche Wissen nicht positiv erweitern kann, spricht Kant dieser Disziplin nicht jeden Nutzen ab. Denn da die Erkenntnis des Menschen von sich selbst durch das Verfahren der rationalen Psychologie nicht erweitert werden kann, ist es möglich, die der Vernunft gesetzten Erkenntnisgrenzen genauer zu bestim­ men. 1 52 Wenn die rationale Psychologie keine eigenständige, erkenntniserwei­ ternde Lehre ist, so kann sie doch dazu herangezogen werden, die Vernunft zu disziplinieren153, so daß sie von einer widerrechtlichen Überschreitung der eige­ nen Grenzen abgehalten wird. Auf diese Weise kann die rationale Seelenlehre vor "dem seelenlosen Materialism [sowie dem] grundlosen Spiritualism" 1 54 be­ wahren. Kann die rationale Psychologie also auf ihrem eigenen Gebiet das ange­ strebte Ziel nicht erreichen, so ist sie dennoch mit einer eigenen Analogiefunk­ tion hinsichtlich der praktischen Vernunft ausgestattet, die sich auf die Idee der Unsterblichkeit bezieht. 155 Eine noch größere Gefahr, die die rationale Psychologie in sich birgt, besteht darin, daß sie nicht nur vorgibt, das Wesen der Seele aus dem Denken allein bestimmen zu können, sondern daß sie für sich beansprucht, Fragen beantwor­ ten zu können, die nach Kant ursprünglich in das Gebiet der transzendentalen Philosophie fallen. Die rationale Psychologie kann zwar als negativer Bestandteil der Philosophie erhalten bleiben, so daß die im 18. Jahrhundert gültige Eintei­ lung in eine metaphysica generalis und eine metaphysica specialis, die unter sich 1 50 Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 290/B 347. 1 5 1 Vgl. dazu: Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 405. - Vgl. auch A 355 und A 36 1 . 1 5 2 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 382. - Wenn auf diese Weise deutlich

geworden ist, daß das Hauptanliegen der rationalen Psychologie nie realisiert werden kann, dann folgt daraus auch, daß die mit dem Begriff der Seele verbundenen drei dialektischen Fragen, von denen die dritte als Frage nach der Unsterblichkeit der Seele philosophisch sicher­ lich am bedeutsamsten ist, da durch sie eine der drei Ideen einer Metaphysik als Naturanlage Aufklärung finden soll, ebenfalls als theoretisch unlösbar angesehen werden müssen. 1 53 Vgl. dazu den in der Methodenlehre der Kritik der reinen Vernunft vorgestellten Begriff der 'Disziplin der reinen Vernunft': A 708-7 1 3/B 736-74 1 , besonders A 709/B 737. 1 54 Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 42 1 . 1 55 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 42 1 .

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auch die rationale Psychologie beschließt, durchaus noch gültig ist, aber sie kann nie behaupten, die philosophische Frage nach der Unsterblichkeit der Seele be­ antworten zu können. Das Hauptinteresse der Metaphysik besteht nach Kant in der Untersuchung der drei Ideen Gott, Freiheit und Unsterblichkeit der Seele. 156 Die rationale Psychologie beansprucht für sich, die Idee der Unsterblichkeit der Seele klären zu können, indem sie den Begriff der Seele mit seinen Bestandteilen der Substantialität, der Simplizität, der Personalität und der Idealität vollständig ausarbeitet. Sie behauptet also, als psychologia rationalis in der Lage zu sein, aufgrund des denkenden Subjekts als Gegenstand der Psychologie, die erste der transzendentalen Ideen, d. h. "die absolute (unbedingte) Einheit des denkenden Subjekts" 157 beweisen zu können. Da die rationale Psychologie auf lauter Paralo­ gismen beruht und somit gegen die (transzendental-) /ogische Form verstößt, und da sie weiterhin gegen die Form der Erfahrung verstößt, die jeder wahren Er­ kenntnis zugrunde liegen muß, kann sie die von ihr behaupteten Einsichten in den Bereich der Ideen nicht geben. Weil die rationale Psychologie als Physiologie des inneren Sinnes aus dem Be­ griff eines denkenden Wesens nichts synthetisch a priori erkennen kann, ist es ihr auch nicht möglich, dem eigentlichen Ziel der Metaphysik zu entsprechen, weil sie weder die Wissenschaftlichkeit derselben dadurch festigen kann, daß sie einen Beitrag zu der Frage nach der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori liefern, noch den Zweck der Metaphysik, die Erforschung der Ideen von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, positiv vorantreiben kann. Indem die rationale Seelenlehre nicht einmal das Niveau einer sicheren Naturwissenschaft erreichen kann, ist ihre Untauglichkeit auf philosophischem Gebiet fast vollkommen - ab­ gesehen von ihrer negativen, grenzziehenden Funktion für die reine Vernunft. 158 Wenn aber die rationale Seelenlehre als Scheinwissenschaft zur Metaphysik nichts beitragen und das Programm derselben nicht positiv befördern kann, so kann allerdings umgekehrt die Metaphysik die von der rationalen Psychologie aufgeworfenen Fragen zu einem Abschluß führen - wenn auch nicht zu einer positiven Antwort. Denn die Transzendentalphilosophie kann zeigen, daß die Fragen nach der Beschaffenheit der Seele, also des Ich im bloßen Denken ohne Erfahrungsbezug, keine sinnvoll gestellten Fragen sind und eben deshalb über­ haupt keiner Antwort zugeführt werden können. I 59

I 56 1 57 1 58 1 59

Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, zum Beispiel B XXX oder B 395. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 334/B 39 1 . Vgl . Kant. Fortschritte der Metaphysik. Akademie-Ausgabe, Band XX: S. 286. Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 479/B 507.

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Der negative Nutzen der rationalen Psychologie und der Übergang zur Transzendentalphilosophie

Kant trennt die Bereiche der Transzendentalphilosophie und der (rationalen) Psychologie innerhalb der Kritik der reinen Vernunft streng voneinander. 160 Daß die Scheinaussagen der rationalen Seelenlehre nicht zu einer Wissenserweiterung führen können, und daß die von ihr aufgeworfenen Fragen keine echten Fragen sind, da sie nie eine Antwort finden können, wird besonders in der Methoden­ lehre der Kritik der reinen Vernunft noch einmal hervorgehoben. Dort geht Kant wiederum auf die Antithetik der reinen Vernunft ein, und er schließt, da keine der beiden Antithesen (empirisch) bewiesen werden kann: ,,Auf solche Weise gibt es eigentlich gar keine Antithetik der reinen Vernunft. Denn der ein­ zige Kamp fp latz für sie würde auf dem Felde der reinen Theologie und Psycho­ logie zu suchen sein; dieser Boden aber trägt keinen Kämpfer in seiner ganzen Rüstung, und mit Waffen, die zu fürchten wären. " 161 Doch Kant macht sich diese negative Situation der rationalen Psychologie in doppelter Weise zunutze, indem er sie innerhalb der Transzendentalphilosophie in positive Ergebnisse umwandelt. Zum einen wird die Idee der Unsterblichkeit der Seele für die praktische Philosophie anwendbar, zum anderen wird der Be­ griff des 'Ich denke' in seiner rein funktionalen Bedeutung für die theoretische Philosophie fruchtbar gemacht. - Zunächst zum Ideenbereich: Die Ideen von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit dienen als regulative Prinzipien, wodurch die empirische Erkenntnis in sinnvolle Grenzen gebracht werden kann, die Sicher­ heit und Wahrheit garantieren. Hinsichtlich der praktischen Philosophie bietet sich die Möglichkeit, sich die Annahme der Ideen auf positive Weise zunutze zu machen. Für die psychologisch relevante Idee der Unsterblichkeit der Seele be­ deutet das ein Vorgehen, das "alle Erscheinungen, Handlungen und Empfäng­ lichkeit unseres Gemüts an dem Leitfaden der inneren Erfahrung so verknüpf[t] , als ob dasselbe eine einfache Substanz wäre, die, mit persönlicher Identität, be­ harrlich (wenigstens im Leben) existiert, indessen daß ihre Zustände, zu welcher die des Körpers nur als äußere Bedingungen gehören, kontinuierlich wech­ seln"162. Diese Ausdrucksweise, die zu einer ganzen 'Philosophie des Als Ob' An-

l 6o Besonders faßlich wird diese Unterscheidung in der B-Deduktion ausgesprochen [siehe etwa Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 1 52] ; sie ist aber auch in der ganz anders gearteten Behandlung der Gottesbeweise ebenso präsent, wenn auch nicht immer auf gleiche Weise ex­ plizit [vgl. etwa Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 628-630/B 656-658] . 1 6 1 Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 743/B 77 1 . 162 Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 672/B 700.

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laß gab163, hebt sowohl die Nutzbarmachung der Ideen als auch die große Be­ deutung der praktischen Philosophie insgesamt hervor. Allerdings ist nicht die Idee der Unsterblichkeit entscheidend, weil sie sich auch in der praktischen Philosophie noch als in Abhängigkeit von der Idee der Freiheit befindlich erweist. 164 Denn das Vermögen der reinen praktischen Ver­ nunft beweist die Möglichkeit der transzendentalen Freiheit, da die praktische Vernunft dem übersinnlichen Gegenstand der Kategorie der Kausalität, der Frei­ heit, Realität verschafft, und da die Wirklichkeit der Freiheit auch den Ideen von Gott und Unsterblichkeit objektive Realität und Befugnis, ja subjektive Notwendigkeit zukommen lassen soll. 165 Indem aber die Idee der Freiheit im praktischen Gebiet auch die Möglichkeit der beiden anderen Ideen erweist, ge­ winnen diese eigene Bedeutung, die mit der Begrifflichkeit des Als Ob lediglich angedeutet wird. Nun zur funktionalen Bedeutung des 'Ich denke' innerhalb der Transzenden­ talphilosophie: Auch hier soll das bereits bei den Paralogismen angewandte Vor­ gehen Verwendung finden; denn obwohl die transzendentale Deduktion für das Auszuführende von entscheidender Bedeutung ist, soll sie nur hinsichtlich eini­ ger ausgewählter formaler Gesichtspunkte herangewgen werden. Anhand der aufzuweisenden formalen Zusammenhänge kann der 'psychologiekritische' Weg zu einem positiven Abschluß gebracht werden, indem gezeigt wird, daß Kant über seinen negativen Befund hinsichtlich der rationalen Seelenlehre hinausgeht und die Notwendigkeit eines Übergangs in den transzendentalen Bereich der Philosophie aufzeigt, aus dem heraus erst die wahre Stellung der rationalen See­ lenlehre deutlich werden sowie die Metaphysik als eigene sichere Wissenschaft ohne Scheinwissen erwiesen werden kann. Ausschlaggebend ist das in der Deduktion von 1787 gewählte Vorgehen, weil es äußerlich größere Gemeinsamkeiten mit dem für die rationale Psychologie charakteristischen Vorgehen - wie es sich an den Paralogismen zeigte - aufweist als das der A-Deduktion. Denn ebenso wie die rationale Seelenlehre geht die transzendentale Deduktion - obgleich auf entgegengesetzte Weise - vom 'Ich 1 63 Vgl. hierzu insbesondere: H. Vaihinger. Die Philosophie des Als Ob. System der theore­ tischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit auf Grund eines idealistischen Positivismus. Berlin, 1 9 1 1 . 1 64 Zur Bedeutung der Idee der Freiheit und zu ihrer Entwicklung in den drei Kritiken vgl. R. Loock. Idee und Reflexion bei Kant. Reihe: Schriften zur Transzendentalphilosophie, Band 1 2 . Hamburg, 1 998: S. 1 -3. 1 6 5 Vgl. Kant. Kritik der praktischen Vernunft. Akademie-Ausgabe, Band V: S. S-6. Damit einhergehend gilt, daß das moralische Gesetz ein Gesetz der Kausalität durch Freiheit ist, wodurch es den transzendenten Gebrauch der Ideen der reinen Vernunft in einen imma­ nenten verwandelt, so daß die spekulative Vernunft praktische Realität gewinnt. [Siehe dazu: Kant. Kritik der praktischen Vernunft. Akademie-Ausgabe, Band V: S. 48-49.]

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denke' als unhintergehbarem Punkt aus, um von ihm aus alle transzendentalphi­ losophische Erkenntnis abzuleiten. 1 66 Kant bedient sich in der B-Deduktion der synthetischen Methode, die von dem, was eigentlich gesucht wird - dem Gege­ bensein von Gegenständen -, so ausgeht, als ob es gegeben sei, und dann zu den Bedingungen aufsteigt, unter denen es allein möglich ist. 167 Im Ausgang von der reinen Apperzeption, dem 'Ich denke', das "alle meine Vorstellungen begleiten können muß" 168, eröffnet sich die wahre Bedeutung der Synthesis, auf die eine Analysis derselben folgt, die wiederum die empirische Apperzeption, die Gegen­ standserkenntnis sowie den hinter jedem empirischen Gegenstand stehenden transzendentalen Gegenstand als unbestimmtes X ermöglicht, der so den reinen Objektpol bildet, der dem reinen Subjektpol des 'Ich denke' erweiternd gegen­ übersteht. Die transzendentale Apperzeption erweist sich als Grundidentität aus einer Einheit der Synthesis, worin An-sich- und Für-uns-sein verschmelzen, so daß der Weg der Erkenntnis vom Für-uns- zum An-sich-sein führt, wobei letzte­ res in der Reflexion als ersteres grundlegend erkannt wird. Dies findet in der Formulierung des Begleiten-können-müssens seine Entsprechung, in der das 'Können' auf die nachgeordnete Reflexion, das 'Müssen' aber auf das unverzicht­ bare An-sich-sein verweist. 169 Ein analoges Abhängigkeitsverhältnis ergibt sich für die analytische und synthetische Einheit der Apperzeption: Erstere setzt als Bewußtsein die Identität des 'Ich denke', letztere die Stufenfolge des Bewußt­ seins bis zum 'Ich denke' voraus, was aber erst auf der Ebene der Reflexion ver­ ständlich werden kann. Rein formal ist also das 'Ich denke' der Transzendentalphilosophie ebenso be­ deutungsvoll wie der Begriff der Seele in der rationalen Psychologie, die auch von ihm als einem obersten, reinen Punkt ausgeht, ohne allerdings von Fehl­ schlüssen schon rein formaler Natur frei zu sein. Die Transzendentalphilosophie kann deshalb aus der transzendentalen Apperzeption Ableitungen vornehmen und reflexive Erkenntnisse gewinnen, weil sie weder aus dem 'Ich denke' auf das Ich an sich ohne seinen funktionalen Gehalt Schlüsse zieht noch aus ihm die Realität der Idee der Unsterblichkeit folgert. Denn sie nimmt diese Idee sowie 1 66 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 1 34. 1 67 Vgl. Kant. Prolegomena. Akademie-Ausgabe, Band IV: S. 276. - Dennoch bedient sich

Kant auch in der B-Deduktion der analytischen Form, da er von einem höchsten Punkt, dem 'Ich denke' der transzendentalen Apperzeption, ausgeht und von da zur Begründung der Ge­ genständlichkeit hinabsteigt. Die Methode ist also synthetisch und bedient sich der Einsichten der transzendentalen Ästhetik, die Form aber ist analytisch und bedient sich eines übergeord­ neten Ausgangspunktes aller transzendentalphilosophischen Erkenntnisse. - Aussagen wie die von P. Lachieze-Rey [in: L'idealisme kantien, a.a.O., S. 44] , daß die B-Deduktion analytisch verfahre, sind also zu unpräzise. 1 68 Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 1 3 1 . 1 69 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 1 33.

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die beiden anderen Ideen von Gott und Freiheit nur als regulative Prinzipien, also in praktischer Hinsicht an, nicht aber als reale, erfahrbare Vorkommnisse. Wenn es zusammenfassend tatsächlich die Aufgabe der wissenschaftlichen Philosophie ist, die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt zu klären, dann muß sie in ihrem höchsten Teil, der transzendentalen Deduktion, auch das Gelingen des Zusammenspiels aller Komponenten des Systems der rei­ nen Vernunft aufzuzeigen und in seiner Faktizität als nur so und nicht auch an­ ders möglich nachzuweisen imstande sein. Dabei muß sie von dem ausgehen, was schon rein formal als höchster Punkt dieses Abschnitts der Kritik der reinen Vernunft sowie damit des gesamten Vernunftsystems erkannt wurde: vom reinen 'Ich denke'. Wenn es gelingt, die notwendigen und hinreichenden Bedingungen für Erkenntnis überhaupt und für Wahrheit mittels dieses 'Ich denke' nachzu­ weisen und gegen falsche Übergriffe zu sichern, dann bildet dieses tatsächlich den Ausgangspunkt der Transzendentalphilosophie insgesamt, die damit schon aus begrifflichen Gründen und rein formal für sich in Anspruch nehmen kann, wahre transzendentale Psychologie zu sein, die mit den Scheinbehauptungen der bloß rationalen Psychologie nichts mehr gemein hat. Durch die sichtbar gewor­ dene Notwendigkeit, zum reinen 'Ich denke' als oberstem Systemglied aller Me­ taphysik zu gelangen, ist auch der Weg in die echte, transzendentale Philosophie aufgewiesen. Durch ihn wird dann rückwirkend der Bereich der empirischen Psychologie als Bestandteil der Anthropologie legitimiert, aber durch ihn wird auch die Fehlerbehaftetheit der rationalen Psychologie nicht nur in rein philoso­ phischer Hinsicht offenbart. - Die empirische Psychologie bietet also wegen des beiden Forschungsrichtungen gemeinsamen Phänomenbereichs einen natürli­ chen Ausgangspunkt der Ausarbeitung der Idee der Transzendentalphilosophie. Sie bleibt aber wegen ihrer eigenen Mangelhaftigkeit notwendig auf diesen Be­ reich angewiesen, da sie sich weder selbst grundlegen noch gegen die im rationa­ len Gebiet der Psychologie auftretenden Fehlerquellen selbständig absichern kann. Auf diese Weise bildet die rationale Psychologie das negative Pendant zur transzendentalen Philosophie. Dieses Verhältnis geht in den Aufbau der Kritik der reinen Vernunft ein: Während Kam im Paralogismuskapitel den doppelten Formfehler und das Scheinwissen der rationalen Seelenlehre aufdeckt, erweist er mit dem Verfahren der transzendentalen Deduktion die einzige Möglichkeit, wie wahre Erkenntnis gewonnen werden kann. Kann also die Deduktion als Kants Wahrheitslehre verstanden werden, so müssen die Paralogismen als ihr negatives Gegenstück vorgestellt werden - ein Zusammenhang, der besonders an der Rela­ tion von B-Deduktion und B-Paralogismen deutlich wird. Beide Texte machen das 'Ich denke' auf je entgegengesetzte Weise zum Ausgangspunkt und schreiten dann mittels unterschiedlicher Methoden zu weiteren Aussagen über dasselbe

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fort, um es als höchsten Punkt zu bestätigen und inhaltlich zu bestimmen. Wäh­ rend jedoch die Deduktion eine rein funktionale Bestimmung vornimmt, be­ hauptet die rationale Psychologie, eine Realdefinition der Seele geben zu kön­ nen, die aber notwendig scheitern muß, weil sie im echten Sinne des Wortes grundlos ist. Der formale Aufbau dieser beiden Textabschnitte stimmt in gewis­ sen Hinsichten überein. Daß diese Übereinstimmung in der zweiten noch weit­ aus deutlicher als in der ersten Auflage ist, liegt an ihrer Betonung von Funkti­ ons- und Formprinzipien, die in A zwar auch vorhanden sind, aber weniger ge­ drängt. Denn in A gibt es ein von der Form und Aufteilung der Urteils- und Kategorientafel ausgehendes, in allen Textteilen aufgenommenes und präsentes Formprinzip. So sind sowohl in der Fassung der transzendentalen Deduktion von 178 1 als auch in der entsprechenden Fassung des Paralogismuskapitels an der Kategorientafel orientierte Strukturen aufweisbar: seien es nun die an der Anzahl und Aufteilung der Kategoriengruppen orientierten Syntheseleistungen der Deduktion, die aus Apprehension, den zusammenhängenden Leistungen von Assoziation, Affi n ität und Rekognition bestehen, oder sei es die nur noch in A (404) in dieser Deutlichkeit aufgestellte SeelentafeL Damit unterliegt die erste Auflage der Kritik der reinen Vernunft einem allgemeinen und recht groben Form- und Funktionsschema. In B jedoch wird dieses Schema feingliedriger, in­ dem Verknüpfungen zwischen einzelnen Textpassagen durch Formprinzipien hervorgehoben werden; doch wird es noch umfassender als in A dadurch, daß die allem Erkennen, aller Wahrheit und in letzter Konsequenz auch allem Sein zugrundeliegende Syntheseleistung des Verstandes als alle Erkenntnisschritte und -vorgänge verbindende Handlung hervorgehoben wird, so daß B einem enger­ rnaschigen und weiter ausgreifenden doppelten Form- und Funktionsraster un­ terworfen wird, in das auch jeweils noch Anschauungsformen und Vernunftein­ flüsse einzubeziehen sind. Da sowohl die Deduktion als auch das Paralogismuskapitel für die Neuauf­ lage von 1787 völlig umgearbeitet wurden, können an beiden Teilen die gewach­ sene Form- und Funktionsbedeutung gut abgelesen werden. Gerade das spiegel­ bildliche Verhältnis zwischen B-Deduktion und B-Paralogismen wird so offen­ sichtlich: die {B-)Deduktion als positive, die (B-)Paralogismen als negative Wahrheitslehre; die Deduktion als positive, die Paralogismen als negative Ver­ nunfterkenntnis; die Deduktion als positive Erkenntniserweiterung und -grund­ legung, die Paralogismen als negative Vernunftbegrenzung nach außen. - Beson­ ders an dieser Gegenüberstellung der beiden Abschnitte wird die Notwendigkeit einer transzendentalen Seelenlehre für die Vernunftkritik noch einmal deutlich: Obgleich die rationale Psychologie keine eigene Doktrin bilden kann, ist sie doch wegen ihrer grenzziehenden Aufgabe als Disziplin der spekulativen Ver­ nunft unverzichtbar. Denn es ist nicht nur die Aufgabe der Transzendentalphilo-

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sophie, Verstandes- und Vernunfterkenntnis auf einen wissenschaftlichen Boden zu stellen, sondern sie muß dazu den Bereich des wahren Wissens abgrenzen und dazu bedarf es sowohl einer Analyse dieser Grenzen von außen, vom Stand­ punkt des Scheinwissens, das dadurch erst in seiner Scheinhaftigkeit aufgewiesen werden kann, als auch einer Analyse von innen, vom Standpunkt des zu wahrer Erkenntnis führenden Zusammenspiels von Anschauung und Denken, das eben­ falls erst durch seine sich auf mannigfaltige Weise bestätigenden Ergebnisse in seiner Wahrhaftigkeit gezeigt werden kann. Daß diese Bestätigung aus unter­ schiedlichen Bereichen kommt, machte schon der 'natürlich-logische' Weg deut­ lich. Denn sowohl durch den gesunden Menschenverstand und wissenschaft­ liche Nachforschungen als auch durch logische Überprüfung wie durch Refle­ xion ganz allgemein können die transzendentalphilosophischen Einsichten in das Wesen der wahren Erkenntnis als richtig erfaßt und bestätigt werden. Im Gegensatz zum ersten Weg in die Transzendentalphilosophie, der durch große Allgemeinheit und ein alle möglichen Wissensformen einbeziehendes und grundlegendes Vorgehen geprägt ist, geht der 'psychologiekritische' Weg von ein­ geschränkteren Voraussetzungen aus. Er stützt sich auf die beiden Formen der Psychologie, die sich als für transzendentalphilosophische Zwecke unangemessen herausstellen, weil die empirische Psychologie philosophisch nicht weit genug gehen kann, indem sie nur als ein Teil der Anthropologie bestehen kann, wäh­ rend die rationale Psychologie philosophisch zu weit geht, indem sie aus dem Bereich des sicheren Wissens aus Formgründen schon in den Bereich des speku­ lativen Scheinwissens überwechselt. Weil beide psychologischen Ansätze keinen Aufschluß über Begriff und Gegenstand der Seele zu geben vermögen, erweisen sie sich beide als von lediglich negativer philosophischer Relevanz. Ihr Angewie­ sensein auf eine kritische Transzendentalphilosophie wird dadurch noch augen­ fälliger. Wenn die empirische Psychologie als Wissenschaft Bestand haben soll, ist sie - wie alle Wissenschaften - auf die Grundlegung durch die Transzenden­ talphilosophie angewiesen, was schon der 'natürlich-logische' Weg verständlich macht. Wenn die rationale Psychologie weiterhin irgendeine Funktion haben soll, dann kann sie eine solche Stellung nur innerhalb der Transzendentalphilo­ sophie einnehmen, die sie zur Grenzbestimmung der Vernunfterkenntnis mit heranziehen kann. Die Notwendigkeit des Übergangs zur kritischen Transzendentalphilosophie aufzuweisen, war das Ziel des 'psychologiekritischen' Weges. Wie schon der 'na­ türlich-logische' Weg führt auch er das System der Transzendentalphilosophie nicht aus, sondern leitet lediglich zu seinem Anfang hin. Daran müssen sich die Ausführungen der Kritik der reinen Vernunft über die einzelnen Stadien und Systemteile der transzendentalen Philosophie anschließen. Auf diese Weise führt der 'psychologiekritische' Weg bis zum Ausgangspunkt der Transzendentalphilo-

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sophie, begründet aber gleichzeitig eine negative Metaphysik als grenzbestim­ mende Unter(bau)wissenschaft fur die reine Vernunft. Dadurch zeitigt der fal­ sche Gebrauch des Seelenbegriffs zwei positive Folgen: Er fuhrt zu einem unum­ gänglichen Übergang von rein spekulativer Vernunfterkenntnis zu einer tran­ szendentalphilosophischen Metaphysikwissenschaft, und er leistet als negative, grenzziehende Metaphysik einen positiven Beitrag zu dieser alle anderen Wis­ senszweige grundlegenden Transzendentalphilosophie. Damit gewinnt der 'psy­ chologiekritische' Weg eine eigene Berechtigung und einen positiven Nutzen. Dennoch gilt - wie schon beim 'natürlich-logischen' Weg -, daß der zweite Weg nicht fur sich allein bestehen kann, sondern der Ergänzung durch die beiden anderen Wege bedarf. Der erste Weg mußte immer schon an einzelnen Stellen herangezogen werden, um gewisse Sachverhalte und Erfordernisse des zweiten Weges zu erklären; erst der dritte, eigentlich 'transzendentale' Weg kann die bei­ den ersten Wege zu ihrem endgültigen Abschluß bringen, weil nur er die Tran­ szendentalphilosophie in Form der transzendentalen Logik als metaphysische Wissenschaft grundlegt und das System dieser Wissenschaft in seinen Haupt­ zügen vor Augen fuhrt.

4.

Exkurs: Auseinandersetzung mit einigen Einwänden gegen Kants theoretische Philosophie

Bevor der dritte Weg in die Transzendentalphilosophie dargestellt wird, soll eine Auseinandersetzung mit einem oft erhobenen Vorwurf gegen Kant gefuhrt wer­ den, der genau genommen zwei unterschiedliche Richtungen aufweist. So gilt es fur viele Autoren als ausgemacht, daß Kant, obwohl er immer wieder auf die notwendige Trennung von Transzendentalphilosophie und Psychologie hinweist und ihre jeweiligen Aufgabenbereiche voneinander abgrenzt, doch selbst unge­ wollt an vielen und entscheidenden Stellen der Kritik der reinen Vernunft in eine psychologische Haltung und einen Psychologismus zurückfalle, was sich be­ sonders an begrifflichen Strukturen und der Übernahme psychologischer Aus­ drücke in die Transzendentalphilosophie erweise; im folgenden soll diese Posi­ tion überprüft werden. Daran sollen sich einige Überlegungen zu sprachanalyti­ schen Einwänden gegen die Kamische Philosophie anschließen, deren eigener Bezug zu einer psychologisierenden Haltung zu untersuchen ist. Anband ver­ schiedener Einwände gegen eine sprachanalytische Herangehensweise an die Kamische Transzendentalphilosophie möge vielmehr gezeigt werden, daß diese moderne Richtung der Philosophie nur im Rahmen des 'psychologiekritischen' Weges überhaupt einen Platz innerhalb derselben einnehmen kann.

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In der Kam-Literatur - vor allem in der älteren - findet sich häufig die Auf­ fassung, Kam verfalle mittels einer an der Psychologie angelehnten Begriffiich­ keit (Ich, Bewußtsein, Bewußtseinsleistungen, Seele und anderes mehr) selbst ei­ ner psychologischen Einstellung. So wird ihm beispielsweise von M. Dessoir eine unklare Trennung von logisch-philosophischem und psychologischem Be­ reich vorgeworfen, ebenso wie auch Kants Auffassung des Bewußtseins als Tätig­ keit im psychologischen Sinne gedeutet wird. 170 R. Zacher geht sogar so weit, aus einem Psychologismus der Kamischen Methode ein Scheitern der Deduk­ tion abzuleiten - zumindest in formeller Hinsicht. 171 Vergleichbare Deutungen finden sich bei J. F. Fries, J. F. Herbart, A. Riehl, aber auch noch bei T. Adorno oder H. Hoppe.172 Eine komplexere Deutung findet sich schon bei H. Cohen173, der zwar Gemeinsamkeiten zwischen der Position Kants und der Psychologie feststellt, der aber doch eine psychologische Deutung der transzendentalen De­ duktion als Mißverständnis ablehm. 174 W. Röd weist ferner darauf hin, daß eine Deutung der Erfahrung als subjektiver Leistung zu einem psychologischen Ver­ ständnis Kams führen könne175, während D. Henrich nur noch einige histori­ sche psychologische Voraussetzungen für das Kantische Werk (besonders bei Crusius) aufzeigt, um ein fundierteres Kamverständnis erzielen zu können176• In der neueren Kam-Forschung lassen sich immer mehr Hinweise auf eine von je­ dem Psychologismus freie Kamische Philosophie finden. So wenden sich etwa 1 70 Vgl. hierzu: M. Dessoir. "Kant und die Psychologie". In: Kant-Studien 29, 1 924: S. 99 und S. 1 07. 1 7 1 Vgl. R. Zocher. "Kants transzendentale Deduktion der Kategorien". In: Zeitschrift für philosophische Forschung 8, 1 9 54: S. 1 62 und S. 1 94. 1 7 2 Vgl. J. F. Fries. Neue und anthropologische Kritik der Vernunft. Band I. Berlin, 1 828: S. 28-29. J. F. Herbart. Allgemeine Metaphysik, nebst den Anfongen der philosophischen Naturlehre. In: J. E Herbart. Sämtliche werke. Band VII und Band VIII. Langensalza, 1 893: §§ 39 und 88. - J. F. Herbart. Psychologie als Wissenschaft, neu gegründet auf Erfahrung, Metaphysik und Mathematik. In: J. E Herbart. Sämtliche werke. Band V und Band VI. Langensalza, 1 892: § 1 02. - A. Riehl. Der philosophische Kritizismus. Band I. Leipzig, 1 908: S. 504-507. T. W. Adorno. Negative Dialektik, a.a.O., S. 268-269. - H. Hoppe. "Mög­ lichkeit der Erfahrung und Einheit des Selbstbewußtseins bei Kant". In: G. Funke (Hrsg.). Akten des 4. Internationalen Kant-Kongresses. Mainz 6. - 1 0. Apri/ 1974. Teil li, 1: Sektio­ nen. Berlin, New York, 1 974: S. 280-282. 1 73 Zu Cohens logisch-analytischer Deutung der Kantischen Philosophie kann herange­ zogen werden: M. Pascher. Einführung in den Neukantianismus. Kontext - Grundpositionen - Praktische Philosophie. München, 1 997: S. 55. 1 74 Vgl. etwa: H. Cohen. Kants Theorie der Erfahrung. Hildesheim, Zürich, New York, 5 1 987: s. 379. 1 75 Vgl. W. Röd. "Zur psychologischen Deutung der Kantischen Erfahrungstheorie", a.a.O., S. 1 8- 1 9 . 1 76 Vgl. D. Henrich. " Über die Einheit der Subjektivität". In: Philosophische Rundschau 3, 1 955: s. 33-36. -

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Röd insgesamt und W. Carl gegen eine psychologische Deutung der Kami­ schen Transzendentalphilosophie. 177 Aus den gemachten Angaben läßt sich eine Tendenz erkennen, die sich von den psychologischen (Miß-)Deutungen der Kamischen Transzendentalphiloso­ phie abwendet. Daß diese Deutungen in der Tat nicht haltbar178 und mit den Kamischen Intentionen nicht vereinbar sind, sollte durch die Darstellung des 'psychologiekritischen' Weges erwiesen sein. Denn wenn sich Kant in seinen Ausführungen zur rationalen Psychologie und zur Transzendentalphilosophie zu­ weilen einer psychologischen Begrifflichkeit bedient, so kann dieser Gebrauch einmal als historische Reminiszenz, dann aber auch als Konzession Kants an den gesunden Menschenverstand zum Zwecke einer leichteren Verständlichmachung seines Systems gesehen werden. Doch die Verwendung einer solchen Begrifflich­ keit allein kann noch nicht als Psychologismus gedeutet werden. Auch alle Ver­ suche, die transzendentale Deduktion als positive Fassung einer psychologischen Grundposition auszulegen, müssen wegen des Beziehungsgeflechts zwischen De­ duktion und Paralogismuskapitel als gescheitert angesehen werden. Denn die Wahrheits- und Erkenntnislehre (der Deduktion) ist nur insoweit mit psycholo­ gischen Fragestellungen in Verbindung zu bringen, als sie als Kernstück der transzendentalen Philosophie eine empirische Psychologie als Wissenschaft er­ möglicht. Damit heben sich alle psychologischen Mißdeutungen der Kamischen Philosophie selbst auf. Wenn also die Kamische Transzendentalphilosophie nicht psychologisch vor­ geht (wenn es auch in einigen Punkten zu begrifflichen Überschneidungen zwi­ schen den beiden Bereichen kommt) , so kann doch umgekehrt gegen die viel-

W.

1 77 Vgl. W. Röd. "Zur psychologischen Deutung der Kantischen Erfahrungstheorie", a.a.O., S. 9-26. Röd leugnet nicht die prinzipielle Möglichkeit einer psychologischen Deutung, wohl aber erachtet er sie als gegenüber einer subsumtionstheoretischen Deutung als sekundär. - Vgl. auch W. Carl. Die transzendentale Deduktion der Kategorien in der ersten Auflage der 'Kritik der reinen Vernunft: Ein Kommentar. Frankfurt am Main, 1 992: S. 8990. - Entsprechende Hinweise finden sich teilweise schon in der älteren Kant-Literatur, wie erwa bei W. Windelband. Immanuel Kant und seine Weltanschauung. Gedenkrede zur Feier der 100. Wiederkehr seines Todestages. Heidelberg, 1 904: S. 1 2. - Auf Husserls Vorwurf des Psychologismus gegen Kant wird noch detaillierter eingegangen werden, so daß eine Behand­ lung der Husserlschen Position hier nicht geleistet werden muß. Dennoch soll vorausgreifend auf einige relevante Sekundärliteratur verwiesen werden: S. S. Gehlhaar. Die frühpositivisti­ sche (Helmholtz) und phänomenologische (Husserl) Revision der Kantischen Erkenntnislehre. Cuxhaven, 1 99 1 : S. 9 1 . - T. Seebohm. Die Bedingungen der Möglichkeit der Transzenden­ talphilosophie. Bann, 1 962. - H. Lenk. Kritik der logischen Konstanten. Philosophische Be­ gründungen der Urteilsformen vom Idealismus bis zur Gegenwart. Berlin, 1 968: S. 1 5 . 1 78 Daß eine psychologische Deutung nicht einmal bei der Betrachtung des Systems der Vermögen im Kantischen Werk angebracht ist, da jedes menschliche Vermögen in seiner Tä­ tigkeit jeweils durch Prinzipien des Selbstbewußtseins geleitet ist, zeigt auch K. Düsing in Die Teleologie in Kants Weltbegriff, a.a.O., S. 1 04.

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leicht stärkste Oppositionspartei gegen Kant vom Standpunkt der kritischen Transzendentalphilosophie aus der Vorwurf des Psychologismus erhoben wer­ den, nämlich gegen die Gruppe der Sprachanalytiker. 179 D. h. das, was sonst oft­ mals gegen die Kantische Philosophie eingewandt wurde, kann gerade vom Standpunkt Kants als Argument gegen sprachlich-grammatische Einwände Ver­ wendung finden. - Im folgenden soll keine umfassende Darstellung der sprach­ analytischen Position(en) gegeben werden180; aus diesem Grunde wird einer der Sprachanalytiker exemplarisch für diese Richtung herausgegriffen, weil er sich immer wieder auf die Kamische Philosophie bezieht und auch gegen Kants direkte Nachfolger seine Kritik vorbringt, wobei das Bemühen sichtbar wird, diesen Systemen, wenn auch nur in Ansätzen, gerecht zu werden. Die Rede ist von E. Tugendhat, dessen Vorlesungen zu Selbstbewußtsein und Selbstbestim­ mung hier herangezogen werden sollen.181 Aus den Darstellungen Tugendhats sollen drei Haupteinwände gegen die Transzendentalphilosophie Kants heraus­ gestellt werden, die für die sprachanalytischen Positionen mehr oder weniger kennzeichnend sind. Diese Einwände betreffen den höchsten Punkt der Kanti­ schen Philosophie, der diese erst erklären und zusammenhalten kann, die tran­ szendentale Apperzeption oder das reine Selbstbewußtsein, wodurch letztlich die gesamte kritische Transzendentalphilosophie in Frage gestellt wird. Tugendhat lehnt den Begriff des Selbstbewußtseins an sich ab, weil er in seinen Augen le­ diglich einen philosophischen Kunstausdruck darstellt. 1 82 Als solcher sei er der Alltagssprache und dem gewöhnlichen Denken nicht mehr zugänglich und führe so zu falschen Theorien des Bewußtseins, das freilich nicht von allen Sprachanalytikern generell bezweifelt wird. 183 Wenn die Phänomene von Be­ wußtsein und Selbstbewußtsein überhaupt auf irgendeine Weise mit Sinn verse­ hen sein sollen, bedarf es nach Tugendhat - dies ist sein zweiter Vorwurf gegen den Kantischen Standpunkt - notwendig der semantisch-grammatischen Refle­ xion. 184 Dies führt ihn zur Analyse von Sätzen wie 'Ich weiß, daß ich . . . ' oder 1 79 Ein Vergleich der Kantischen Position mit der analytischen Transzendentalphilosophie vor allem P. F. Strawsons findet sich zum Beispiel bei K. Hartmann in "Transzendentale Argu­ mentation", a.a.O., S. 1 7-20. 1 80 Zur sprachanalytischen Philosophie insgesamt kann herangezogen werden: M. Frank (Hrsg.) . Analytische Theorien des Selbstbewußtseins, a.a.O., besonders S. 7-34. 1 8 1 Zu Tugendbars Kritik an der traditionellen Theorie des Selbstbewußtseins vgl. u. a. : D. Srurma. Kant über Selbstbewußtsein, a.a.O., S. 1 27-1 4 1 . 1 82 Vgl. E. Tugendhat. Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung. Frankfurt am Main, 1 979: s. 1 2. 1 8 3 So behauptet zum Beispiel G. E. M. Anscombe das Selbstbewußtsein als etwas Wirkli­ ches in dem Aufsatz "Die erste Person". In: P. Bieri (Hrsg.). Analytische Philosophie des Gei­ stes. Königstein/Ts., 1 98 1 : S. 227. 1 8 4 Vgl. E. Tugendhat. Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, a.a.O., S. 1 8 .

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'ich weiß: ich cp' • 185 Aus diesen Untersuchungen gewinnt er zuletzt seinen dritten Kritikpunkt, der in der Behauptung besteht, Selbstbewußtsein könne nur ein praktisches Sichzusiehverhalten sein, denn nur so sei es überhaupt (auch außer­ philosophisch) relevant. 186 Demgegenüber bleibt nach Tugendhat der Stellen­ wert des transzendentalen Selbstbewußtseins bei Kant unklar187, so daß dem theoretischen Selbstbewußtsein nicht die philosophische Relevanz zukommen könne, die ihm von Descartes und Kant zugewiesen worden sei.188 - Diese Skiz­ zierung der Tugendhatschen Position reicht an dieser Stelle aus, um als Hinter­ grund für die vorzutragenden Einwände gegen diese Richtung der neueren Phi­ losophie189 zu dienen. - Gegen die Sprachanalytiker lassen sich in diesem Kon­ text mindestens drei Kritikpunkte vorbringen: ( 1 ) Obwohl das Fehlen einer ausgearbeiteten Sprachphilosophie bei Kant zu­ nächst als Vorteil der Sprachanalytiker ihm gegenüber erscheinen könnte, so wird diese scheinbare Überlegenheit schon dadurch zunichte, daß allgemein ge­ sagt werden kann, daß eine philosophische Sprachanalyse vom Boden der Kami­ schen Transzendentalphilosophie aus unnötig, ja überflüssig ist, weil die Sprache keine Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt darstellt. Die Spra­ che bedingt nicht die Erkenntnis, wohl aber kann sie Erkenntnis vermitteln und intersubjektiv zugänglich machen. 1 90 Damit es überhaupt Sprache geben kann, 1 8 5 Vgl. ebd., S. 22 und S. 50. ! 86 Vgl. ebd., S. 46. - Siehe dazu auch Tugendhats Auseinandersetzung mit Heidegger in

den Vorlesungen VIII bis X des genannten Textes: S. 1 64-242. 1 87 In Erweiterung dieses Arguments wirft Tugendhat auch Fichte bei dessen Grundaussage 'Ich Ich' einen logischen Fehler vor [vgl. ebd., S. 303] . Doch dieser Vorwurf kann schon durch ein von Kant selbst vorgebrachtes Argument entkräftet werden, der auf Seite A 598/B 626 der Kritik der reinen Vernunft schreibt: "Zum logischen Prädikate kann alles dienen, was man will, sogar das Subjekt kann von sich selbst prädiziert werden; denn die Logik abstrahiert von allem Inhalte." Die Formel 'Ich Ich', die sowohl von Fichte als auch von Schelling in zentraler Bedeutung eingesetzt wird, bildet also durchaus keinen logischen Widerspruch, ja sie bildet dann, wenn Ich 1 von Ich2 getrennt und unterschiedlich inhaltlich bestimmt wird, nicht einmal einen transzendentallogischen Widerspruch, da dann Ich2 nicht in Ich 1 enthalten ist. [Vgl. dazu die Kritik K. Cramers an Tugendhat in " über Kants Satz: Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können". In: K. Cramer, H. F. Fulda, R.-P. Horstmann, U. Pothast (Hrsg.) . Theorie der Subjektivität, a.a.O., S. 1 92 und S. 20 1 sowie R.-P. Horstmanns Aufsatz "Gibt es ein philosophisches Problem des Selbstbewußtseins?", a.a.O., S. 220-248.] 1 88 Vgl. E. Tugendhat. Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, a.a.O., S. 45. 1 89 Eine Ü bersicht über die verschiedenen Tendenzen analytischer Einwände gegen die Möglichkeit einer Subjektivitätsphilosophie findet sich bei K. Düsing. Selbstbewußtseins­ modelle, a.a.O., S. 75-96, wobei auf den Seiten 76-80 insbesondere der sprachanalytische Einwand Berücksichtigung findet. - Zum historischen Hintergrund von Sprachphilosophie im allgemeinen und Sprachanalyse im besonderen vgl. auch: P. Prechtl. Sprachphilosophie: Lehr­ buch Philosophie. Stuttgart, Weimar, 1 999: S. 5-1 62. 1 9 0 Eine vergleichbare Position vertritt Whitehead, der auf die Vorrangigkeit des Denkens vor der Sprache verweist, obwohl er an der Norwendigkeit des sprachlichen Ausdrückens fest=

=

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bedarf es vorgängig der aus dem Zusammenspiel von Sinnlichkeit und Verstand entspringenden Erkenntnis, die allerdings den höchsten Reflexionsstandpunkt erfordert. Sprache und Sprachanalyse sind folglich nur dort möglich, wo schon ein reflexives Selbstbewußtsein vorhanden ist1 9 1 , d. h. ohne Ich kann es keine Sprache geben.192 Aufgrund dieser ausgezeichneten Stellung des transzendenta­ len Selbstbewußtseins zeigt sich, daß sprachanalytische Untersuchungen der Er­ kenntnis an sich stets nachgeordnet sein müssen. Ohne Ich gibt es also keine Sprache, aber ohne Sprache kann es immer noch die transzendentale Ich-Struk­ tur geben. Da die transzendentale Apperzeption das Denken selbst ermöglicht, indem es mittels der zwölf Kategorien ihre identische Einheit ausdrückt, und da das Denken selbst durch sprachliche Mittel zum Ausdruck gebracht werden kann, ermöglicht das Ich erst die Sprache und damit die Sprachreflexion. Des­ halb ist die Sprache 'nur' als natürliches Faktum zu werten, das für Gedanken­ austausch, Kommunikation und (intersubjektive) Erkenntnisvermittlung unent­ behrlich ist. Als solches gehört die Sprache mit zu den natürlichen Überprü­ fungs- und Vermittlungsinstanzen des gesunden Menschenverstandes, wodurch ihr eine bestätigende Funktion zukommt. Doch so wie der gemeine Verstand weder zu philosophischen Einsichten noch zur Grundlegung der Philosophie herangezogen werden kann, so bietet auch die Sprachanalyse keine über sich hinausweisende Erkenntnis. D. h. auch wenn das Selbstbewußtsein als Begriff ein philosophischer Kunstausdruck sein mag, so ist doch seine Klärung nur möglich vor dem Hintergrund der Fundamentalstruktur des 'Ich denke' . Und genau in dieser Funktion kann er reflexiv für den gesunden Menschenverstand, die Alltagssprache und das gewöhnliche Denken zugänglich gemacht werden. Damit ist der erste Einwand Tugendhats als unzutreffend aufzugeben. 1 93 hält. Die Einsicht in die prinzipielle Inkongruenz von Sprache und Denken führt so nicht zu einem Verzicht auf Sprache überhaupt, zeigt aber, daß das Denken nie in Sprache aufgehen kann. [Vgl. A. N. Whitehead. Modes of Thought. New York, 1 938: S. 35-36.] 1 9 1 Das Selbstbewußtsein ist also allen (seinen) sprachlichen Auslegungsweisen übergeord­ net, was sich auch schon daran zeigt, daß sich das Problem des Selbstbewußtseins in ganz ver­ schiedenen sprachlichen Formen behandeln läßt, wodurch es sich als sachlich von diesen un­ abhängig erweist. [Vgl. dazu: W. Wieland. "Staat und Selbstbewußtsein. Eine Notiz zu Platons Politeia". In: Synthesis Philosophica 1 0, 1 990: S. 394.] 1 9 2 Denn es gilt: Das Sprachsubjekt serzt das Existenzsubjekt voraus. - Vgl. dazu: H. Ebe­ ling. "Das Subjekt im Dasein. Versuch über das bewußte Sein". In: K. Cramer, H. F. Fulda, R.-P. Horstmann, U. Pothast (Hrsg.). Theorie der Subjektivität, a.a.O., S. 84. Ebeling nimmt allerdings hierbei noch ein sogenanntes "Intersubjekt" der Vernunft an, das sowohl dem Sprach- als auch dem Existenzsubjekt zugrunde liegt. Auch dies stimmt insofern mit der Kantischen Struktur überein, als auch in ihr erst die transzendentale Apperzeption das empiri­ sche und damit auch das sich sprachlich ausdrückende Ich begründet. 1 93 In diesem Zusammenhang sei auch auf D. Henrichs Kritik an Tugendhat hingewiesen, wie er sie in "Noch einmal in Zirkeln. Eine Kritik von E. Tugendhats semantischer Erklärung von Selbstbewußtsein". In: C. Bellut und U. Müller-Schöll (Hrsg.). Mensch und Moderne.

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(2) Bei den Sprachanalytikern zeigt sich eine Verquickung oder Verwechslung von empirischem und transzendentalem Bereich, was sich deutlich an der be­ ständig wieder vorgenommenen Unterscheidung von 'Ich' und 'ich' offenbart. So weist Tugendhat darauf hin, daß die Frage nach der Identität des Ich mit sich eine sprachanalytische, d. h. eine semantisch-grammatische Untersuchung des Wortes 'ich' verlange.194 Damit greift er auf eine von U. Pothast ausführlich be­ handelte Problematik zurück, der ebenfalls auf einer sprachlichen Analyse des Wortes 'ich' I95 beharrt. 196 An dieser Unterscheidung von 'Ich' und 'ich' zeigt sich, daß sich der sprachanalytische Ansatz lediglich im empirischen Bereich be­ wegt. Denn mit einer Untersuchung des 'ich' als einer grammatischen Funktion wird allein der alltägliche Sprachgebrauch auf seine Regeln hin untersucht und aus sich selbst heraus erklärt. Mittels dieses Vorgehens kann weder das Wesen der Sprache verständlich gemacht werden, noch ist es möglich, grundsätzlichere Einsichten in das Wesen des Bewußtseins zu erlangen, weil die reine Gramma­ tikanalyse - wie jede Wissenschaft - den Mangel aufweist, sich nicht selbst rechtfertigen und grundlegen zu können. Dem sprachanalytischen Standpunkt ist es somit aus immanenten Gründen niemals möglich, den für philosophische Fragestellungen relevanten Bereich des Transzendentalen197 zu erreichen, so daß er ihn folglich mit seiner auf ganz andere (eben semantisch-grammatische) BeBeiträge zur philosophischen Anthropologie und Gesellschaftskritik. Würzburg, 1 989: bes. S. 99- 1 26 vorgetragen hat. 1 94 Vgl. E. Tugendhat. Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, a.a.O., S. 69-70. 1 95 Der Ausdruck 'ich' spielt generell bei der Sprachanalyse als selbstreferentieller, irrtums­ freier Ausdruck eine große Rolle. Vgl. etwa: P. Bieri in seiner Einleitung zur Analytischen Phi­ losophie des Geistes. Königstein/Ts., 1 98 1 : S. 20 1 und S. Shoemaker in "Selbstreferenz und Selbstbewußtsein". In: P. Bieri (Hrsg.) . Analytische Philosophie des Geistes, a.a.O., S. 2 1 1 . 1 9 6 VgL U. Pothast. Über einige Fragen der Selbstbeziehung, a.a.O., S . 1 2 . Dazu ist be­ sonders der erste Teil von Pothasts Text heranzuziehen, also die Seiten 1 8-3 1 . Er gipfelt in ei­ nem eigenen Vorschlag Pothasts für die Entwicklung eines verbalen Selbstverhältnisses, wobei er 'ich' als Eigennamen annehmen möchte, den jemand für sich selbst verwendet. [Vgl. ebd., S. 25-3 1 .] Doch diese Lösung erklärt letzdich gar nichts, muß doch bei ihr gefragt werden, wie sich jemand selbst einen Namen geben kann und woraus die Notwendigkeit für eine sol­ che Namengebung resultiert. Der Selbstbezug und die Unterscheidung zwischen dem 'Ich' als Namen und der wahrgenommenen Welt, die für Pothast beide selbstverständlich sind, werden auf diese Weise verkannt und damit erst wirklich problematisch. - Wie verworren der gemach­ te Vorschlag ist, beweisen Äußerungen sogar aus dem eigenen Lager der Sprachanalytiker. Bei­ spielsweise Tugendhat betont: "Es ist mir nicht gelungen, die verwickelten Überlegungen [Pot­ hasts] auf den folgenden Seiten (25-32) [von Über einige Fragen der Selbstbeziehung] zu verstehen." [E. Tugendhat. Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, a.a.O., S. 8 1 .] Aber auch G. E. M. Anscombe betont in "Die erste Person", a.a.O., S. 224, daß 'ich' nicht als Eigenname verwendet werden darf. 1 97 Das Verfehlen der Bedeutung der Transzendentalphilosophie zeigt sich auch bei J. Ben­ net in "Analytische transzendentale Argumente". In: P. Bieri. (Hrsg.) . Analytische Philosophie der Erkenntnis. Frankfurt am Main, 1 987: S. 373-387.

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lange gerichteten Kritik nicht treffen kann. Die Sprachanalyse verfehlt dadurch nicht nur ihr Ziel, sondern auch ihren Gegner. - Damit wird auch der zweite Einwand Tugendhats gegenstandslos, der behauptete, zur Klärung der philoso­ phischen Begriffe wie Bewußtsein, Selbstbewußtsein oder Ich sei eine seman­ tisch-grammatische Reflexion unumgänglich. (3) Neben der Vermengung des empirischen und transzendentalen Bereichs läßt sich bei den Sprachanalytikern noch eine Verkennung des Unterschiedes von Philosophie und Psychologie nachweisen. Denn der Unterschied zwischen dem Selbstbewußtsein als dem Wissen um die eigenen Zustände und dem Selbstbewußtsein als Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis, d. h. zwischen empirischem und reinem Selbstbewußtsein, wird nicht beachtet oder erst gar nicht erkannt. Lediglich der erstgenannte Bereich, der noch im Empirischen liegt, wird von der sprachanalytischen Philosophie behandelt - wodurch sich be­ stätigt, daß die Differenz von empirischem und transzendentalem Standpunkt nicht verstanden sein kann. Nur durch einen der Erfahrung und dem alltägli­ chen Handeln und Fühlen entstammenden Ansatz wird eine Erklärung wie die Tugendhats, daß das Selbstbewußtsein nur ein praktisches Sichzusiehverhalten sein könne, möglich. Psychologische Zustände werden zum Maßstab und sollen zur Klärung philosophischer Fragestellungen dienen. Daß von einem psycholo­ gischen Standpunkt aus der wahre Sinn des Praktischen nicht erschlossen wer­ den kann, versteht sich von selbst. Damit ist auch Tugendhats dritter Kritik­ punkt als nicht stichhaltig zurückgewiesen. Denn im Sinne Kants muß die Sprachanalyse als Teil der mit der Philosophie nicht zu vermengenden Psycho­ logie angesehen werden; vom Standpunkt Kants muß ihr gegenüber der Vorwurf des Psychologismus erhoben werden, weil für Kant die Sprache als bloßes Mittel des Verstehens198 weder etwas absolut Letztes (oder Erstes) noch etwas Grund­ legendes sein kann. In der Kritik der reinen Vernunft findet sich eine der wenigen Stellen, an de­ nen Kant die Sprache ausdrücklich behandelt: "Die gegenwärtige Welt eröffnet uns einen so unermeßlichen Schauplatz von Mannigfaltigkeit, Ordnung, Zweck­ mäßigkeit und Schönheit, man mag diese nun in der Unendlichkeit des Rau­ mes, oder in der unbegrenzten Teilung desselben verfolgen, daß selbst nach den 1 9 8 Vgl. dazu: Kant. Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Akademie-Ausgabe, Band VII: S. 1 92, § 39: ,,Alle Sprache ist Bezeichnung der Gedanken und umgekehrt die vonüg­ lichste Art der Gedankenbezeichnung ist die durch Sprache, diesem größten Mittel, sich selbst und andere zu verstehen." [Kursivierung ergänzt von R. P.] Schon der Ort, an dem Kant die Sprache solcherart behandelt, wirft ein bezeichnendes Licht auf die Stellung, die er ihr über­ haupt zuerkennt: sie gehört nur zur Anthropologie - also genau dorthin, wo auch die von den Sprachanalytikern vertretene Position des Selbstbewußtseins als eines praktischen Sichzusich­ verhaltens zu verorten wäre.

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Kenntnissen, welche unser schwacher Verstand davon hat erwerben können, alle Sprache, über so viele und unabsehlich große Wunder, ihren Nachdruck, alle Zahlen ihre Kraft zu messen, und Selbst unsere Gedanken alle Begrenzung ver­ missen, so, daß sich unser Urteil vom Ganzen in ein sprachloses, aber desto be­ redteres Erstaunen auflösen muß." I 99 Aus dieser Stelle sind einige Zusammen­ hänge abzuleiten, die die verschiedenen Erkenntnisvermögen sowie die von ih­ nen verwendeten Mittel betreffen. So stehen der Verstand und die Urteilskraft auf der einen und die Sinnlichkeit auf der anderen Seite in Beziehung zum Mannigfaltigen, das begrifflich und sprachlich sowie anschaulich zugleich gefaßt wird. Alle Ordnung des Mannigfaltigen wird von Verstand und Einbildungskraft geschaffen, und zwar mittels der mit Zahlen operierenden Schemata und mittels synthetisierender Leistungen. Die Erkenntnis der Zweckmäßigkeit dieser Ord­ nung geschieht auf der Grundlage von Einsichten durch Verstand, Vernunft und Urteilskraft durch gedanklich gefaßte Urteile und Vernunftprinzipien und durch ein fundamentales Interesse der Urteilskraft an Ordnungsstrukturen. Kann eine solche Zweckmäßigkeit nicht mehr festgestellt werden, so bleibt nur das Staunen der Urteilskraft über Schönheit und Erhabenheit, eventuell verbunden mit dem Gefühl der Lust oder Unlust. Doch selbst alle diese Leistungen und Vermögen zusammen sind nicht in der Lage, die Welt insgesamt zu erfassen, d. h. Sprache und Zahlen als Verstandesausdrücke sowie die Gedanken als Vernunftausdruck können nicht zum wahren Wesen der Welt gelangen, das bedeutet, daß die Spra­ che als Mittel des Verstandes nicht dazu geeignet ist, das Wesen der Idee der Welt zu erfassen. Wenn die Sprache nicht zur Erklärung der Ideen beitragen kann, dann kann sie weder allgemein zur Lösung philosophischer Probleme tauglich noch zur Grundlegung einer wissenschaftlichen transzendentalen Philo­ sophie relevant sein. Indem Kant auf die begrenzten Möglichkeiten und die ein­ geschränkte Nützlichkeit sprachlicher Mittel verweist, macht er noch einmal die Trennung zwischen Philosophie und Psychologie deutlich. Denn während die erstere auf die Sprache nur ergänzend und zu Vermittlungszwecken zurückgreift, will die letztere aus einer Analyse sprachlicher Größen eigene philosophische Er­ kenntnisse ableiten. Die Ungebundenheit an die Sprache (abgesehen von ihr als Mittel) sowie an die auf sie bewgene Analyse erweist sich damit als Vorteil idea­ listischer Konzeptionen. Für die Kamische und idealistische Philosophie scheint eine Gleichsetzung von Denken, als Vermögen, und Sprache, als Ausdruck dieses Vermögens und seiner Ergebnisse, zu gelten. Daher hebt die Reflexion auf das grundlegende Denken diejenige auf das ihm nachgeordnete Ausdrucksmittel der Sprache in sich auf, so daß eine gesonderte sprachanalytische Betrachtung überflüssig ist. 1 99 Kam. Kritik der reinen Vernunft, A 622/B 650.

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Wenn der Sprachanalytiker hingegen in Opposition zur Kantisch-idealistischen Position die Sprache zum obersten Punkt alles Philosophierens zu machen ver­ sucht, dann muß er in letzter Konsequenz ein nicht-denkendes Sprechen als sinnvoll annehmen und allem Denken voransetzen, wodurch er seine Überle­ gungen schon für den gesunden Menschenverstand ad absurdum führt. Über die Sprache lassen sich nur dann sinnvolle Aussagen machen, wenn sie in einem übergeordneten, nicht auf das Einzelwort bewgenen Sinn behandelt wird, wobei das Denken die unabdingbare Voraussetzung - sowohl für den Sprachgebrauch selbst als auch für die Reflexion auf die Sprache - darstellt. - So geschieht es (um einen von Tugendhat in seinen hier herangewgenen Vorlesungen behandel­ ten Denker zu berücksichtigen) zum Beispiel bei Heidegger mit seiner Rede von der Sprache als dem Haus des Seins. 200 Die Sprache und d. h. eigentlich das Denken der Sprache bzw. die denkende Sprache - denn Heidegger meint mit 'Sprache' nicht das Gerede, so wie er es in Sein und Zeit vorstellt, sondern ein eigentliches Sprechen, das sich wie das Gewissen nur im Schweigen, im Denken, in der Innerlichkeit, äußern kann - können nur dann zum Thema der Philoso­ phie werden, wenn sie im Hinblick auf etwas Höheres als sie selbst und eventuell sogar als das Denken verstanden werden: bei Heidegger ist dies der Hinblick auf das Sein. Dazu muß die Sprache jedoch erst wieder innerhalb des eigentlich phi­ losophischen Bereichs, nämlich dem der Behandlung der Bedingung(en) der Möglichkeit von Etwas, analysiert werden, was die Sprachanalytiker aber gerade nicht tun (können) , weil ihnen der Bereich des Transzendentalen aufgrund ihrer psychologischen Voreingenommenheit notwendig verschlossen bleibt.201 2oo Vgl. M. Heidegger. Wegmarken. Gesamtausgabe, Band 9. Frankfurt am Main, 1 976: S. 3 1 8 und S. 333. 201 Das Fehlen einer ausgearbeiteten Sprachtheorie und ein transzendentalphilosophischer Ansatz scheinen also in bestimmter Weise miteinander verbunden zu sein. Dafür könnte die Philosophie Hegels Hinweise liefern, die jedoch hier nicht in gebührender Ausführlichkeit be­ handelt werden kann. Für Hege! scheint, unter besonderen Bedingungen, die Ontologie kein sinnvolles Unternehmen zu sein. [Vgl. H. F. Fulda. "Spekulatives Denken und Selbstbe­ wußtsein". In: K. Cramer, H. F. Fulda, R.-P. Horstmann, U. Pothast (Hrsg.) . Theorie der Subjektivität, a.a.O., S. 446-448.] Da der Übergang zur Ontologie nicht angestrebt wird, fehlt bei Hege! auch eine entsprechende Sprachtheorie. Dabei muß der Ausdruck 'Ontologie' hier in einer ganz bestimmten, eingeschränkten Sonderbedeutung verstanden werden, nämlich im Zusammenhang mit Hegels Ablehnung von 'Es gibt' -Sätzen, d. h. im Rahmen seiner Kri­ tik an Schelling. [Vgl. F. W. J. Schelling. System des transzendentalen Idealismus, a.a.O., § 2: S. 4 1 0-4 1 3.] - Abgesehen von dieser Sonderbedeutung gibt es bei Hege! das Programm einer Ontologie, das durch seine herausragende Stellung in einem ebenso übergeordneten Sinne wie bei Heidegger verstanden werden muß. Diese Hegeische Ontologie geht vom Unterschied zwischen Sein und Nichts aus. [Vgl. G. W. F. Hege!. Wissenschaft der Logik. Erster Teil: Die objektive Logik. Erstes Buch. In: G. W. F. Hege!. Werke. Band 5. Frankfurt am Main, 2 1 990: S. 82-1 1 5 , wo Sein, Nichts und Werden als dialektischer Dreischritt behandelt werden.] Damit knüpft Hege! an die Kantische Nichts-Tafel an. - Die Verfolgung ontologischer Frage-

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Obwohl nach den dargelegten Zusammenhängen deutlich wurde, daß die sprachanalytische Vorgehensweise der Kamischen Philosophie unangemessen ist, und obwohl erkennbar wurde, daß sie vom Standpunkt dieser Philosophie als Psychologie abzulehnen ist, kann doch der Versuch einer Verbindung beider Richtungen unternommen werden. Ansätze dazu finden sich beispielsweise bei W. Hogrebe, der die Möglichkeit sieht, eine Annäherung zwischen der Kami­ schen Kategorientheorie auf der einen sowie Semiotik, Hermeneutik und analy­ tischer Philosophie auf der anderen Seite zu versuchen.202 Mittels der Zeit als Form des Mediums von Sinn und Bedeutung glaubt er, die verschiedenen An­ sätze vereinigen zu können, da die Transzendentalphilosophie dort, wo sie den Funktionskreis theoretischer Vernunft im Lichte der Idee einer transzendentalen Semantik beschreibe, stets transzendentale Semantik der Temporalität möglicher Bestimmung sei. Bei Hogrebe bietet allerdings dieser verbindende Ansatz neue Probleme, wenn etwa die mathematischen und dynamischen Grundsätze einer konstitutiven bzw. regulativen Semantik zugeordnet werden sollen, wodurch der Rahmen der Kamischen Transzendentalphilosophie erneut gesprengt wird. 203 Einen anders gerichteten Versuch eines Zusammennehmens von Sprachanalytik und Transzendentalphilosophie unternimmt S. Kripke in Name und Notwen­ digkeit, wo er beide Positionen als zu extrem und widersprüchlich darstellt, da­ bei aber eine eigene vermittelnde Stellung einnimmt. Sein Text kann als gemä­ ßigtere Kritik an der Kamischen Philosophie als die der Sprachanalytiker angese­ hen werden, weshalb sie als Mittelweg zwischen beiden gelten könnte - wobei allerdings auch dieser Mittelweg fraglich ist, weil die Kamische Position zumin­ dest eigentümlich dargestellt wird204, so daß zwar eine Mitte eingenommen sein mag, ohne daß jedoch das, wozwischen diese Mitte liegt, korrekt wiedergegeben wäre.

stellungen durch Hege! wird auch an der Tatsache offenbar, daß die spekulative Philosophie, die die Idee des Geistes entwirft, zugleich ontologische und metaphysische Bedeutung hat, weil sie die Idee des Geistes als Idee des wahrhaft an sich Seienden erkennen soll. [Vgl. G. W. F. Hege!. Jenaer Realphilosophie. Vorlesungsmanuskripte zur Philosophie der Natur und des Geistes von 1805106. Hrsg. von J. Hoffmeister. Hamburg, 1 967: S. 272.] [Vgl. dazu: K. Dü­ sing. Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik, a.a.O., S. 1 59 und S. 1 96. - R.-P. Horstmann. Hegels vorphänomenologische Entwürfe zu einer Philosophie der Subjektivität in Beziehung auf die Kritik an den Prinzipien der Reflexionsphilosophie. Heidelberg, 1 968: s . 1 02-1 23.] 202 Vgl. W. Hogrebe. Kant und das Problem einer transzendentalen Semantik. Freiburg, München, 1 974: S. 96. 20 3 Vgl . ebd., S. 1 22 und S. 1 40. 20 4 Dies zeigt sich besonders am Problem des Apriori. Siehe insgesamt: S. Kripke. Name und Notwendigkeit. Frankfurt am Main, 1 980, und zum letztgenannten Zusammenhang be­ sonders S. 44-45 und S. 1 82.

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Egologische Grundstrukturen in der Transzendentalphilosophie Kants

Die Probleme eines die Kantische Transzendentalphilosophie und den Ansatz der Sprachanalytiker verbindenden Standpunktes sind also so gewichtig, daß sich die Frage stellt, ob eine derartige Verbindung überhaupt möglich ist. Wenn der sprachanalytische Ausgangspunkt als psychologistisch erkannt wurde, erüb­ rigt sich jeder Versuch einer Verbindbarkeit der beiden Positionen, da das eine zu verbindende Teil sich selbst wegen seines verfehlten Ansatzes aufhebt. Beide behandelten Vorwürfe gegen Kant sind unhaltbar: Weder kann ihm ein psycho­ logisches Vorgehen angelastet werden, noch sind die sprachanalytischen Ein­ würfe gegen Kant aufrechtzuerhalten. Vielmehr kehrt sich der von den Sprach­ analytikern gemachte Vorwurf gegen sie selbst. 205

C. Der 'transzendentale' Weg als dritter Weg in die transzendentale Philosophie

Vorbemerkung Neben den bereits dargestellten Wegen beschreitet Kant noch einen dritten Weg in die Transzendentalphilosophie, der sich von jenen dadurch unterscheidet, daß er einen direkten Zugang zum philosophischen Bereich eröffnet, ohne auf einen vorbereitenden Ausgangspunkt wie den gesunden Menschenverstand oder die Psychologie zurückgreifen zu müssen. Da dieser dritte Weg das reine Grundpro­ gramm der Kantischen Vernunftkritik wiedergibt, soll er als 'transzendentaler' Weg bezeichnet werden. Indem er einen direkten Zugang zum Bereich der Tran­ szendentalphilosophie eröffnet, stellt er die Grundgedanken des Kantischen Sy­ stems in Reinheit dar, ohne dabei auf Hilfsmittel oder vorbereitende Erörterun­ gen angewiesen zu sein, die noch vor der kopernikanischen Wendung in der Kant eigenen philosophischen Denkungsart liegen. - Ein solcher Zugang zur Transzendentalphilosophie setzt dort ein, wo der siebente Abschnitt der Einlei­ tung in B die einführenden Erläuterungen Kants abschließt. An die reine Ausar­ beitung seines Systems müssen sich in zwei weiteren Schritten Analysen der Form desselben sowie seiner Ergebnisse anschließen. Schon an dieser groben Skizzierung des dritten Weges wird deutlich, daß er viel weiter führt als die an­ deren Wege, indem er die Hauptergebnisse der Transzendentalphilosophie bein20 5 Deshalb kann festgehalten werden: "Der Verdacht, daß sprachanalytisches Denken zwar das Instrumentarium des Argumentierens schärfen, aber für sich kaum philosophische Fragen beantworten kann, verstärkt sich, und so sucht man immer mehr, erneut an die Kanti­ sche 'Revolution der Denkart' anzuknüpfen. " [In: P. Rohs. "Vorbemerkung". In: S. Blasche, W. R. Köhler, W. Kuhlmann, P. Rohs (Hrsg.) . Kants transzendentale Deduktion und die Möglichkeit von Transzendentalphilosophie. Frankfurt am Main, 1 988: S. 7.]

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haltet. Während der 'natürlich-logische' sowie der 'psychologiekritische' Weg nur den Anfang und die unabdingbare Notwendigkeit der Transzendentalphiloso­ phie schlechthin aufweisen konnten, geht der 'transzendentale' Weg über ein sol­ ches Anfangsstadium hinaus und weist sogar voraus bis zum Abschluß des Sy­ stems der transzendentalen Philosophie.

1. Das System der Transzendentalphilosophie Angesichts des Unzureichenden aller Metaphysik, die zwar die für den Men­ schen wichtigsten Fragen stellt, diese aber nicht zu endgültigen Antworten zu führen vermag, ist eine neue Wissenschaft erforderlich, die auf diese Fragen (nach Gott, Freiheit und Unsterblichkeit) Antworten finden kann, die weder den Gesetzen der Erfahrung noch denen der Wahrheit widersprechen. Diese Wissenschaft nennt Kant Kritik der reinen Vernunft.206 Deren Ergebnis und Nutzen würden "in Ansehung der Spekulation wirklich nur negativ sein"207, weil sie die Vernunfterkenntnis inhaltlich nicht erweitern, sondern nur formal in ih­ rem Bereich so begrenzen kann, daß die Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt zu klären ist. Diese Kritik bereitet also das endgültige System der Transzenden­ talphilosophie nur vor, das noch in seinen Einzelheiten vervollständigt werden muß.208 Kant faßt dies folgendermaßen zusammen: "Die Transzendental-Philo­ sophie ist die Idee einer Wissenschaft, wozu die Kritik der reinen Vernunft den ganzen Plan architektonisch, d. i. aus Prinzipien, entwerfen soll, mit völliger Ge­ währleistung der Vollständigkeit und Sicherheit aller Stücke, die dieses Gebäude ausmachen. Sie ist das System aller Prinzipien der reinen Vernunft. "209 Wenn es überhaupt echte Philosophie als sichere Wissenschaft geben kann, dann muß sie als Transzendentalphilosophie auftreten, die der Kritik der reinen Vernunft be­ darf, um als in sich geschlossenes, stimmiges System der Erkenntnis auftreten zu 206 Siehe Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 1 0/B 24. - Zur Namenserklärung der Kritik der reinen Vernunft vgl. G. Mohr und M. Wulaschek. "Einleitung: Kants Kritik der reinen Vernunft", a.a.O., S. 1 3-1 5. - U. Schultz. Immanuel Kant. Reinbek bei Hamburg, 1 965: S. 92. Schultz weist auf die doppelte Interpretationsmöglichkeit des Titels mit genitivus subiectivus und genitivus obiectivus hin. [Vgl. F. Kaulbach. Immanuel Kant. Berlin, 1 969: S. 1 08-109.] (Deshalb versteht die Vernunftkritik Kants die Vernunft auch als die Selbstge­ wißheit einer Tätigkeit, die sich aus sich selbst zu rationalen Ordnungen organisiert. [Vgl. D. Henrich. "Deduktion und Dialektik. Vorstellung einer Problemlage". In: D. Henrich (Hrsg.) . Kant oder Hege/? Ober Formen der Begründung i n der Philosophie. Stuttgarter Hegel­ Kongreß 1981. Stuttgart, 1 983: S. 1 6.]) 207 Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 25. 2os Vgl. die entsprechenden Ausführungen des 'natürlich-logischen' Weges in die Transzen­ dentalphilosophie. 209 Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 27. Vgl. A 1 3.

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können. Daß ein solches System notwendig und ein bloßes Aggregat des Wis­ sens in der Philosophie unmöglich ist, wurde bereits durch den 'natürlich-logi­ schen' Weg aufgewiesen. Damit ein solches System möglich wird, ist allerdings ein besonderes Vorgehen erforderlich, das frei von empirischen Einflüssen ist, aber doch die Möglichkeit der Erfahrung bzw. die Bedingungen derselben erst aufklärt und damit grundlegt.210 Deswegen ist dieses System das der Transzen­ dentalphilosophie, denn Kant schreibt: "Ich nenne alle Erkenntnis transzenden­ tal, die sich nicht sowohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, insofern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäf­ tigt. Ein System solcher Begriffe würde Transzendental-Philosophie heißen."21 1

2.

Die Form des Systems der Transzendentalphilosophie

Kant stellt in seiner Kritik der reinen Vernunft die grundlegende, gültige Form des Systems der Transzendentalphilosophie vor, indem er sich nacheinander der Behandlung der einzelnen Erkenntnisvermögen des Menschen zuwendet. Deren Grundeinteilung besteht in der Gegenüberstellung und dem gleichzeitigen Mit­ einander von Anschauungs- und Denkvermögen, die als Sinnlichkeit und Ver­ stand die Stämme der menschlichen Erkenntnis bilden, "die vielleicht aus einer gemeinschaftlichen, aber uns unbekannten Wurzel entspringen"212• Diesen bei­ den elementaren Vermögen werden innerhalb der Elementarlehre die beiden Hauptabschnitte, die transzendentale Ästhetik und die transzendentale Logik, 2 1 0 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 1 4/B 28. - Aus diesem Grund verfolgt Kant mit seinem transzendentalen Programm zugleich zwei Ziele: die Herleitung synthetischer Urteile a priori und den Beweis der objektiven Gültigkeit der Kategorien, der mit dem Beweis der objektiven Gültigkeit empirischer Vorstellungen verbunden ist. [Vgl. dazu: H. Hoppe. "Die Bedeutung der Empirie für transzendentale Deduktionen". In: S. Blasche, W. R. Köhler, W. Kuhlmann, P. Rohs (Hrsg.) . Kants transzendentale Deduktion , a.a.O., S. 1 22-1 23.] 2 1 1 Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 25. Interessant ist an dieser Stelle ein Vergleich der Formulierung von 1 787 mit der der Ausgabe von 1 78 1 : "Ich nenne alle Erkenntnis tran­ szendental, die sich nicht so wohl mit Gegenständen, sondern mit unsern Begriffen a priori von Gegenständen überhaupt beschäftigt. Ein System solcher Begriffe würde Transzendental­ Philosophie heißen." Während in A vorausgesetzt wird, daß die menschliche Erkenntnis sich begrifflich vollzieht, wird dieser Schluß in B erst gezogen, so daß gefolgert werden kann, daß die Trennung von Sinnlichkeit und Verstand in B noch an Bedeutung zugenommen hat, und daß die Frage nach der Möglichkeit ihrer Verbindung - im Begriff ausgedrückt - in B viel­ leicht mit noch größerer Dringlichkeit gestellt werden mußte. Dies mag zum Teil auch an der gegenüber A veränderten Rolle der Einbildungskraft liegen, deren Bedeutung in B gesunken ist - wie sich noch an der Analyse der Deduktion zeigen wird und worauf insbesondere M. Heidegger in Kant und das Problem der Metaphysik, a.a.O., S. 1 27-203, besonders S. 1 60, aufmerksam macht. 2 1 2 Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 1 5/B 29. -

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gewidmet. Die transzendentale Ästhetik als Wissenschaft von allen Prinzipien der Sinnlichkeit a priori213 ist vornehmlich der Behandlung der Anschauungsfor­ men Raum und Zeit gewidmet, indem eine aufeinander aufbauende Reihung von der reinen Sinnlichkeit über die reine Anschauung (als ihre Form) über die reine Vorstellung {als ihre Bestimmung) über die apriorische Form der Erschei­ nungen bis hin zu Raum und Zeit selbst aufgestellt werden kann. Da es hier nicht das Ziel ist, die gesamte transzendentale Ästhetik inhaltlich zu erörtern, weil wiederum das Schwergewicht auf formalen Aspekten liegen soll, möge nur die äußere Struktur dieses Abschnitts kurz betrachtet werden. Hinsichtlich der Form sind ein gleicher Aufbau sowie eine gleiche Begrifflichkeit der Raum- und Zeitargumente von herausragender Bedeutung, geben sie doch dem gesamten Textabschnitt schon äußerlich sein Gepräge. Der gleiche Aufbau der Raum- und Zeitargumente ist durch die Form der Kritik der reinen Ver­ nunft selbst vorgegeben: Um die Stellung dieser Argumente innerhalb des Ge­ samtkomplexes der Vernunftkritik anzuzeigen, werden sie mittels ihrer Begriff­ lichkeit auch formal der transzendentalen Ästhetik zugeordnet. Denn der gleiche Ausdrucksaufbau der Argumente - wie zum Beispiel: "Der Raum ist kein empi­ rischer Begriff, der äußeren Erfahrungen abgewgen worden"214 und "Die Zeit ist kein empirischer Begriff, der irgend von einer Erfahrung abgezogen worden"21 5 - fügt die gesamte Ästhetik zu einer unauflösbaren Einheit, aus der kein Teil ab­ gezogen oder verändert werden darf, ohne daß das ganze System zerfiele. Schon hier wird deutlich, daß der die gesamte Kritik der reinen Vernunft beherr­ schende Systemgedanke auch innerhalb ihrer Teile aufrechterhalten wird. Die großen, das Hauptsystem tragenden Teile von Ästhetik und Logik (mit Analytik und Dialektik) müssen in sich Systemform aufvveisen und dürfen nicht aggre­ gathaft zusammengesetzt sein. Der identische Aufbau der Raum- und Zeitargu­ mente weist außerdem auf die ursprüngliche Gleichwertigkeit der beiden An­ schauungsformen hin. Obwohl später der Zeit ein gewisser Primat vor dem Raum zugebilligt wird, ist dieser doch nur abgeleitet; er zeigt sich beispielsweise an der transzendentalen Deduktion mit ihrer Überordnung des zusammenfas­ senden Denksubstrats der transzendentalen Apperzeption über das Vermögen der sinnlichen Anschauung, wobei das Denken zwar, da es im inneren Sinn stattfindet, notwendig zeitlich, aber nicht räumlich ist; und er zeigt sich beson­ ders deutlich an der Bedeutung der Zeit innerhalb des Schematismuskapitels, wo es heißt: "Das reine Bild aller Größen [ ] vor dem äußeren Sinne, ist der Raum, aller Gegenstände der Sinne aber überhaupt, die Zeit. "216 Das Ungleich. . .

213 21 4 21 5 216

Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 2 1 /B 3 5 . Kam. Kritik der reinen Vernunft, A 23/B 3 8 . Kam. Kritik der reinen Vernunft, A 30/B 46. Kam. Kritik der reinen Vernunft, A 1 42/B 1 82.

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gewicht der Stellung von Raum und Zeit ergibt sich erst durch ihre jeweiligen Beziehungen zum Denkvermögen und der allgemein zu leistenden Verbindung von Sinnlichkeit und Verstand. Als die reinen Formen der sinnlichen Anschau­ ung und der Gegenstände, aus denen a priori synthetische Erkenntnisse ge­ schöpft werden können217, sind Raum und Zeit gleichgeordnet und durch ihre Bereiche des Äußeren und Inneren aufeinander verwiesen. Dadurch kommt die Notwendigkeit zum Ausdruck, Raum- und Zeitargumente analog anzulegen, was durch ihren Aufbau und ihre Begriffiichkeit auch äußerlich sichtbar ge­ macht wird. Da die Kategorien durch ihre geschlossene Präsentation ihre innere Zusam­ mengehörigkeit ebenfalls schon nach außen hin dokumentieren, liegt es nahe, auch in dieser äußeren Form ein Bindeglied zwischen der transzendentalen Ästhetik und der transzendentalen Analytik zu sehen. Dennoch zeigen sich schon im Ausgang von den Raum- und Zeitargumenten Differenzen zwischen Ästhetik und Logik, die erst durch den größeren Verbindungsversuch zwischen Anschauung und Verstand in der transzendentalen Deduktion überwunden wer­ den. Denn während sowohl der Raum als auch die Zeit empirisch real und tran­ szendental ideal sein können218, ist dies für den Bereich der Kategorien nicht gültig. Die Kopplung von empirischer Realität und transzendentaler Idealität bei den Raum- und Zeitargumenten, die bei der Kategorientafel nicht wieder auf­ tritt, kann als Unterscheidungsmerkmal zwischen transzendentaler Ästhetik und Logik angenommen werden, das ihre Verschiedenheit auch nach außen hin noch einmal kundtut. Außerdem zeigt diese Unterscheidung, daß Raum und Zeit nicht in jeder Hinsicht Nichts sind, sondern daß sie im empirischen Bereich als Etwas zu gelten haben, das nur deshalb als 'ens imaginarium' zu verstehen ist, weil die reinen Formen ohne entsprechende Gegenstände nicht erfahren werden können; sie liegen zwar aller Erfahrung als Formen der Anschauung zugrunde, können aber für sich niemals angeschaut werden.219 - Diese wenigen, keineswegs 2 17 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 38-43/B 55-60. 21 8 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 28/B 44 und A 35-36/B 52. - Zur Ver­

bindung von transzendentalem Idealismus und empirischem Realismus bei Kam vgl. W. H. Walsh. "Subjective and Objective Idealism". In: D. Henrich (Hrsg.) . Kant oder Hege!?, a.a.O., S. 84-8 5 . - A. W. Collins. 'Possible experience'. Understanding Kant's 'Critique of pure reason'. Berkeley, Los Angeles, London, 1 999. - L. B. Puntel. "Transzendentaler und ab­ soluter Idealismus". In: D. Henrich (Hrsg.). Kant oder Heget?, a.a. O . , S. 1 99-207. 2 1 9 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 29 1 / B 347. - Schon hieran erweist sich die Notwendigkeit einer Untersuchung der Verbindungen zwischen transzendentaler Idealität und empirischer Realität auf der einen sowie von Nichts und Etwas auf der anderen Seite, die hier jedoch aus Platzgründen nicht durchzuführen ist. - Noch über diesen speziellen Zusammen­ hang hinaus lassen sich unter Einbeziehung der Realitäts-Idealitätsstruktur die Verbindungen zwischen metaphysischer und transzendentaler Erörterung, zwischen empirischer Realität und transzendentaler Idealität, zwischen Analysis und Synthesis in ihren Verknüpfungsmöglichkei-

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erschöpfenden Verweise auf das vielleicht auffälligste Formmerkmal der tran­ szendentalen Ästhetik, die Symmetrie bei Aufbau und Begriffiichkeit, sollen ge­ nügen, führen sie doch schon zu den formalen Charakteristika der transzenden­ talen Logik, die auch bei der kurzen Behandlung des Verstandes als eigenes Ver­ mögen im Zentrum des Interesses stehen werden. Im Anschluß an die Behandlung der Sinnlichkeit geht Kant zur Analyse des Denkvermögens über, das in zwei Untervermögen aufgeteilt wird, nämlich in Verstand und Vernunft, denen die Abschnitte der transzendentalen Logik, Ana­ lytik und Dialektik, gewidmet sind. Im Gegensatz zur sinnlichen Anschauung ist der Verstand "eine Erkenntnis durch Begriffe, nicht intuitiv, sondern diskur­ siv"220. Den Aufbau des Verstandes hinsichtlich seines begriffiichen Charakters glaubt Kant durch die Aufstellung der aus der Urteilstafel abgeleiteten Kategori­ entafel gegeben zu haben. Hier soll es weder darum gehen, die Kategorientafel in ihren Einzelheiten auszuführen221 , noch darum, die Stichhaltigkeit ihrer Ab­ leitung aus der Urteilstafel222 zu untersuchen, denn beides führt über den re­ levanten formalen Zusammenhang hinaus. - Dennoch sei wenigstens auf ein mit dem Aufbau der Kategorientafel zusammenhängendes Problem hingewiesen, weil es nicht nur den Inhalt, sondern auch die Form der kategorialen Erkenntnis ten erahnen. Denn es sind nicht nur die Verbindungen zwischen den jeweiligen Gliedern die­ ser Begriffspaare, sondern darüber hinaus existieren noch Querbeziehungen zwischen der me­ taphysischen Erörterung, der empirischen Realität und der Analysis auf der einen und der transzendentalen Erörterung, der transzendentalen Idealität und der Synthesis auf der anderen Seite, denen an dieser Stelle nicht detailliert nachgegangen werden kann, auf die aber we­ nigstens hingewiesen werden sollte. 220 Kam. Kritik der reinen Vernunft, A 68/B 93. 221 Verwiesen sei zum Beispiel auf H. Heimsoeth, der in "Zur Herkunft und Enrwicklung von Kants Kategorientafel". In: Kant-Studien 54, 1 963: S. 38 1-401 Kriterien für die Auswahl der Kategorien erarbeitet. - Die grundsätzliche Bedeutung der Kategorien betont auch W. Hinsch in Erfahrung und Selbstbewußtsein. Zur Kategoriendeduktion bei Kant. Hamburg, 1 986: S. 8 1 -90. Er weist allerdings darauf hin, daß bei der Aufstellung der Kategorientafel Ableitungsprobleme bestehen, da Kant nur die universale Geltung der Quantitätskategorien, nicht aber die aller Kategorien insgesamt nachweisen könne [vgl. S. 1 04-1 07] . - Auf die Un­ möglichkeit, andere Kategorien als die von Kam aufgestellten zu denken, geht T. Seebohm in " Über die unmögliche Möglichkeit, andere Kategorien zu denken als die unseren". In: S. Bla­ sche, W. R. Köhler, W. Kuhlmann, P. Rohs (Hrsg.). Kants transzendentale Deduktion, a.a.O., S. 1 7 ein: Da für das Kategoriensystem keine Alternativen denkbar sind, für die auch nur eine logische Möglichkeit angenommen werden könnte, unternahm Kant erst gar nicht den sinn­ losen Versuch eines Nachweises seiner Norwendigkeit, d. h. er fragte vernünftigerweise nicht nach dem Grund des Kategoriensystems. 222 Die wohl ausführlichste Darstellung zur Urteilstafel findet sich bei R. Brandt. Die Ur­ teilstaftl. Kritik der reinen Vernunft A 67-76; B 92-101. Hamburg, 1 99 1 . - Weitere Aus­ führungen zur Urteilstafel enthält auch J. Bennets Kant's Analytic. Cambridge 1 966: S. 7679. - Vgl. auch: H. M. Chalybäus. Historische Entwicklung der speculativen Philosophie von Kant bis Hege/. Dresden, Leipzig, 2 1 839: S. 24-25.

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betrifft: "Daß allerwärts eine gleiche Zahl der Kategorien jeder Klasse, nämlich drei sind, welches eben sowohl zum Nachdenken auffordert, da sonst alle Eintei­ lung a priori durch Begriffe Dichotomie sein muß. Dazu kommt aber noch, daß die dritte Kategorie allenthalben aus der Verbindung der zweiten mit der ersten ihrer Klasse entspringt. "223 Zwei Aussagen Kants in diesen Sätzen sind von be­ sonderer Bedeutung: Zunächst weist er auf eine grundlegend zweigeteilte Struk­ tur im Bereich der Erkenntnis durch Begriffe hin, wie sie vor allem an der Auf­ teilung des Denkens in die zwei Vermögen von Verstand224 und Vernunft225 deutlich wird. - Dies kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Grundeinteilungen der Kritik der reinen Vernunft zumeist auf einer Trichoto­ mie oder einem Trialismus beruhen226, gibt es doch mindestens neun wichtige Dreiteilungen innerhalb dieses Systems, die als dieses bestimmend deutlich wer­ den und unverzichtbar für die Transzendentalphilosophie insgesamt sind: 1) die Aufteilung von Begriff, Urteil und Schluß, die jeden Denkprozeß be­ stimmt; 2) die drei Kategorien innerhalb jeder Kategoriengruppe; 3) die drei fundamentalen Kategoriengruppen der Quantität, Qualität und Rela­ tion, denen eine vierte Kategoriengruppe der Modalität auf reflexive Art an­ gegliedert ist; 4) die drei Grundfragen: 'Was kann ich wissen?', 'Was soll ich tun?' und 'Was darf ich hoffen?'; 5) die drei deen von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit (der Seele)227; 6) die drei synthetisierenden Vermögen, die innerhalb der transzendentalen De­ duktion behandelt werden, also Apprehension, Reproduktion und Rekogni­ tion; 223 Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 1 1 0. 224 Der Verstand fungiert als das Vermögen zu denken [vgl. Kant. Kritik der reinen Ver­

nunft, A 5 1 /B 75] , das Vermögen der Begriffe [A 68/B 93] , des Herverbringens von Vorstel­ lungen [A 5 1 / B 94] , das Vermögen zu urteilen [A 69/B 94] , das Vermögen der Regeln [A 1 32/B 1 7 1 ] und alles zusammenfassend als das Vermögen der synthetischen Einheit der Ap­ perzeption [B 1 53] . 22 5 Die Vernunft fungiert hingegen als das Vermögen zu schließen [vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 299/B 3 5 5] , das Vermögen der Prinzipien [A 299/B 3 56] oder noch ge­ nauer als das Vermögen der Einheit der Verstandesregeln unter Prinzipien [A 302/B 359] . 226 Vgl. hierzu unbedingt: Kant. Kritik der Urteilskraft. Akademie-Ausgabe, Band V: S. 1 97, wo Kant selbst darauf hinweist, daß insbesondere das Verfahren der Synthesis Dreitei­ lungen erfordert. An dieser Stelle gibt er eine methodisch-systematische Rechtfertigung der Trichotomien in seiner Philosophie, auf deren unendliches Verdienst besonders Hegel in der Wissenschaft der Logik hingewiesen hat, der sich selbst in seiner Enzyklopädie [vgl. § 230] zur triadischen bzw. dann tetradiseben Einteilung äußert. 227 Ausgerechnet diese drei Grundideen jedes metaphysischen Denkens nach Kant könnten bei dem anderen Denker der Ideen, bei Platon, niemals in den Rang von Ideen aufsteigen, weil sie Erkennendes, also Subjekte, und nicht Erkanntes, also Objekte, sind.

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7) die verschiedenen Erkenntnisvermögen der Anschauung, der Kombination von Urteils- und Einbildungskraft sowie dem als Verstand und Vernunft ge­ faßten Denkvermögen; 8) die allgemeiner gefaßte Aufteilung der Erkenntnisvermögen in Sinnlichkeit, Verstand und Vernunft; 9) die drei höchsten, alles Denken bestimmenden Reflexionsbegriffe: Nichts, Ich und Welt. Nicht zuletzt gehören auch die hier vorgestellten drei Wege in die Transzenden­ talphilosophie, obwohl sie von Kant nicht eigens begrifflich gefaßt werden, in diese Reihe der Dreiteilungen.228 Vor diesem Hintergrund erscheint die Auftei­ lung der Kategoriengruppen in drei Einzelkategorien nicht mehr so verwunder­ lich, fügt sie sich doch in das umfassende, triadisch aufgebaute Gesamtpro­ gramm, das seine größte Stütze in den unter (9) genannten Reflexionsbegriffen findet, die Ausgangs- und Endpunkte allen Philosophierens bilden. 229 228 Dafür, daß sich im Kantischen System gerade drei Wege in die Philosophie finden, lassen sich mehrere Argumente anführen: ( 1 ) Die drei Wege orientieren sich an den drei Wei­ sen, wie der Mensch sich zu sich selbst in Beziehung setzen kann: alltäglich, psychologisch und (transzendemal-)philosophisch. (2) Sie korrespondieren den Entwicklungsphasen der Kanti­ schen Philosophie von der vorkritischen in die kritische Phase: Ausarbeitung der transzenden­ talen Ästhetik vor der Dialektik und der systemabschließenden Deduktion. (3) Die Wege ver­ deutlichen durch die mit ihnen verbundene Umstellung der Kantischen Systemteile deren formale und materiale Struktur. (4) Sie lassen durch ihre Parallelordnung bei Husserl Rück­ schlüsse auf die Gesamtform einer Transzendentalphilosophie zu. 22 9 Warum den alles durchziehenden Dreiteilungen eine so große Bedeutung zukommt, kann nicht mit letzter Gewißheit beantwortet werden, was deshalb verständlich ist, weil die aufgezeigten Dreiteilungen das Eigenwesentliche des Denkens widerspiegeln. Da das Denken selbst in seinem Wasgehalt nicht definiert werden kann [vgl. Kant. Kritik der reinen Vt?r­ nunfi, A XVII] , sind folgerichtig auch diese Dreiteilungen nicht in ihrem (onto-)logischen Status zu begründen. Bestehen bleibt so allein das Faktum des triadischen Aufbaus selbst, der sich für das Gelingen der transzendentalen Subjektivitätsphilosophie jedoch als unvetzichtbar erweist. Ihn auf vorgelagerte Gründe wie grammatische (Ich - Du - Wir) oder auch mytho­ logische (Vater - Mutter - Kind) Strukturen zurückführen zu wollen, bleibt nur Spekulation. - Einige interessante, auch auf den Zusammenhang mit der Subjektivität verweisende Unter­ suchungen zu Begriff und Bedeutung der Zahl im allgemeinen, aber auch zur Dreizahl im be­ sonderen finden sich bei E. Cassirer. [Vgl. Philosophie der symbolischen Formen. I . Teil: Die Sprache. Darmstadt, 101 994: S. 203.] Zur besonderen Bedeutung der Zahl Drei können wei­ tere Stellen herangezogen werden (neben einem ganz allgemeinen Kontext, der die Zahl als mythischen Begriff verständlich machen will [wie auf S. 78, 1 69-1 8 2 und S. 228 des 2. Teils der Philosophie der symbolischen Formen. Darmstadt, 91 994]) . Auf die inhaltliche Bedeutung der Zahl für die Kantische Philosophie geht Cassirer etwa im 3. Teil der Philosophie der symbolischen Formen auf S. 403-404 ein. Wenn auch diese Hinweise auf die Bedeutung der Zahl generell und speziell der Dreizahl die Notwendigkeit der Entstehung einer auf Dreiheiten basierenden Subjektivitätsphilosophie nicht erklären können, so dienen sie doch dazu, den möglichen Hintergrund dieser Ent­ stehung zu verdeutlichen und auf diese Weise die enge Zusammengehörigkeit von natürlicher Einstellung, wissenschaftlichem Vorgehen und philosophischem Verstehen offenkundig zu ma-

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Gerade an die Einteilung der Kategoriengruppen in drei Einzelkategorien knüpft sich das eigentliche, hier aufzuzeigende Problem, durch das zugleich die zweite Aussage Kants aus dem bereits angesprochenen Zitat (B 1 1 0) aufgenom­ men wird. Indem Kant immer wieder auf die Reinheit der Kategorien ver­ weist230, macht er deutlich, daß die zwölf Einzelkategorien gleichursprünglich sein müssen, da sie alle Stammbegriffe des reinen Verstandes sind. Doch ist diese Gleichursprünglichkeit der Kategorien tatsächlich aufrechtzuerhalten? Sprechen nicht mehrere Überlegungen dagegen?231 - Zum einen sind die Kategorien in ih­ rer Wichtigkeit gestaffelt, so daß etwa die alles Denken bestimmenden Quanti­ tätskategorien grundlegender sind als die Gruppe der reflexiven Modalitätskate­ gorien. Zum anderen bauen auch die Einzelkategorien in ihrer Ordnung auf­ einander auf, d. h. die jeweils dritte Kategorie entsteht aus einer Verbindung der beiden ersten Kategorien einer jeden Gruppe; aber auch die einzelnen Gruppen stehen in dem Verhältnis zueinander, daß die folgenden die vorangegangenen Kategorien in sich aufheben, indem zum Beispiel Qualität überhaupt nur da an­ getroffen und bestimmt werden kann, wo es schon Quantität gibt. Deshalb kann sowohl innerhalb einer Kategoriengruppe als auch innerhalb der gesamten Kategorientafel ein aufeinander bezogenes Ableitungsverhältnis festgestellt werden, das dem Gedanken einer völligen Gleichursprünglichkeit aller Kategochen. In der Verbindung dieser drei Grundbereiche des menschlichen Wissens ist schon der dreifache Ansatz der Transzendentalphilosophie vorgezeichnet. In letzter Konsequenz muß die Sinnhaftigkeit der Dreiteilungen innerhalb der Kantischen - und auch der Husserlschen transzendentalen Subjektivitätsphilosophie an ihrem Ergebnis gemessen werden. Legt man al­ lerdings die Resultate dieser Philosophie als Maßstab an, dann bestätigen sich im nachhinein Notwendigkeit und Rechtmäßigkeit ihres triadischen Charakters. So wie nicht geldärt werden kann, warum der Mensch eine natürliche Anlage zu metaphysischen Fragen besitzt, so kann auch nicht mit letzter Sicherheit geldärt werden, warum der Aufbau der Subjektivitätsphiloso­ phie (Kants) notwendig auf Dreiheiten basiert; nur daß beides der Fall ist, kann eingesehen werden. Am plausibelsten erscheint noch eine Erldärung, die von der synthetischen Grund­ struktur des Kantischen Systems ausgeht, bei der zwei scheinbar unvereinbare Gegensätze zu einer Einheit verbunden werden - sei diese Einheit nun eine reale, formale oder funktionale. Da sich die Sinnhaftigkeit dieser grundlegenden synthetischen Struktur erst am Ergebnis der kritischen Transzendentalphilosophie bestätigt, fügt sich auch die diese Philosophie bestim­ mende triadische Struktur diesem Aufbau nahtlos ein. Daß es durchaus statthaft ist, eine Philosophie von ihrem Ende her, also von ihren Ergebnissen und Schlußfolgerungen aus, zu bestätigen, hat schon Fichte in Ueber den Begriffder Wissenschaftlehre bewiesen. 230 Zum Beispiel in Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 79-8 1 /B 1 05- 1 07. 23 ! Obwohl im folgenden Zweifel an der behaupteten Gleichursprünglichkeit der Katego­ rien geäußert werden sollen, darf dies keineswegs so verstanden werden, als seien damit auch Zweifel an der Gleichzeitigkeit der Kategorien im Denken geäußert. Eine Position wie die E. Cairds, daß die Kategorien verschiedene Phasen des Denkens darstellten, wobei zu einem Zeitpunkt immer nur eine einzige Kategorie in Tätigkeit sein könne, ist grundsätzlich abzu­ lehnen. [Vgl. E. Caird. The Critical Philosophy of lmmanuel Kant. Band I. Glasgow, 1 889: s . 568.] -

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rien widerspricht. Besonders auffällig wird diese Problematik bei der Betrach­ tung der jeweils dritten Kategorie einer Gruppe. Gerade bei diesen Kategorien muß gefragt werden, ob sie tatsächlich Stammbegriffe darstellen oder ob nicht nur ihre Hervorbringung eine eigenständige Handlung des Verstandes ist, wäh­ rend sie inhaltlich aus einer Verbindung der jeweils ersten mit der zweiten Kategorie der einzelnen Gruppen abgeleitet wurden. D. h. nur die Form der zwölf Kategorien wäre gleichursprünglich und sowohl reines Resultat der Ver­ standestätigkeit als auch ihr reiner Ausdruck232; der Inhalt der Kategorien jedoch wäre ein durch Kombination der Kategorien entstandener Prozeß, der gleich­ wohl allem möglichen Denken zugrunde liegen muß. Wenn dieses Form-Inhalt­ Verhältnis stimmig ist, dann müßte zur Erreichung der dritten Kategorie einer jeden Gruppe eine besondere, synthetisierende und dabei ursprüngliche Verstan­ deshandlung ausgeführt werden, durch die das kombinatorische Ergebnis der beiden ersten Stammkategorien erzielt werden könnte. Diese beruhen selbst wie­ der auf der Einteilung in Position und Negation, so daß zu ihrer Aufstellung schon der oberste Reflexionsbegriff des Nichts zur Anwendung kommen muß. Auf diese Weise wären die dritten Kategorien bei ihrer Verwendung den anderen Kategorien im Erfahrungsbereich gleichursprünglich, weil erst in Kombination mit ihnen der Bereich der gesicherten Erfahrung lückenlos zugänglich wird. Au­ ßerdem dienten die dritten Kategorien dazu, ein alle Denkmöglichkeiten umfas­ sendes Verhältnis der beiden ersten Kategorien der vier Gruppen herzustellen. Indem die Kategorientafel "die Verzeichnung aller ursprünglich reinen Begriffe der Synthesis, die der Verstand a priori in sich enthält, "233 ist, gibt sie die tran­ szendentallogische Form der reinen Verstandesbegriffe wieder. 234 Obwohl die Kategorientafel einige Schwierigkeiten aufweist, darf nicht über­ sehen werden, daß die Analyse des Verstandesvermögens in enger Verbindung zu der des Anschauungsvermögens steht und daß eine der Hauptaufgaben darin be23 2 Dies stimmt damit überein, daß die Kategorien kraft ihrer Funktion für etwas mit ihrer jeweiligen Bedeutung nicht Identisches, nämlich für Erkenntnis von Objekten in Raum und Zeit, ein System bilden, während die interne Stabilität der Bedeutung der einzelnen Katego­ rien vorausgesetzt wird. [Vgl. K. Cramer. "Kant oder Hegel - Entwurf einer Alternative". In: D. Henrich (Hrsg.). Kant oder Heget?, a.a.O., S. 1 43-1 4 5.] 2 33 Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 80/B 1 06. 2 34 Auf ganz eigene Art wurden diese die Gleichursprünglichkeit betreffenden Schwierig­ keiten von Hegel verarbeitet. Während die Behauptung dieser Gleichursprünglichkeit in der Kamischen Aufstellung der Kategorientafel zu den genannten Unstimmigkeiten führt, umgeht Hegel diese Problemlage dadurch, daß er von vornherein eine aufeinander aufbauende Stufen­ leiter annimmt, bei der auch eine durch den Begriff des 'Aufhebens' angedeutete Wertsteige­ rung festgestellt werden kann. [Vgl. dazu: G. W. F. Hegel. Wissenschaft der Logik. Erster Teil: Die objektive Logik. Erstes Buch, a.a.O., S. 1 1 3-1 1 5.] Auf diese Weise verwendet Hegel das Kantische Grundgerüst; er formt es allerdings so um, daß einige bei Kant selbst auftretende Probleme vermieden werden können.

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steht, Sinnlichkeit und Verstand in ihrem Zusammenspiel aufzuzeigen, nachdem diese Vermögen aus methodologisch-heuristischen Gründen getrennt wurden. Diese Aufgabe übernimmt in der ersten Kritik die transzendentale Deduktion, die den Aufbau jeder Erkenntnis aufgrund des Zusammenwirkens von raumzeit­ licher Anschauung und begrifflichem Denken analysiert. Da die Deduktion selbst noch innerhalb der Ich-Thematik untersucht werden soll, sei hier lediglich ein Aspekt aus der B-Fassung herangezogen, der in besonderer Beziehung zum Begriff der Form steht. Gemeint ist die Differenzierung von Form der Anschau­ ung und formaler Anschauung235: "Der Raum, als Gegenstand vorgestellt, (wie man es wirklich in der Geometrie bedarf,) enthält mehr, als bloße Form der An­ schauung, nämlich Zusammenfassung des Mannigfaltigen, nach der Form der Sinnlichkeit gegebenen, in eine anschauliche Vorstellung, so daß die Form der Anschauung bloß Mannigfaltiges, die formale Anschauung aber Einheit der Vor­ stellung gibt. "236 Raum und Zeit bilden die Form der Anschauung, die nur Mannigfaltiges ge­ ben kann. Als eigene Gegenstände vorgestellt und somit als formale Anschauung genommen, geben sie die Einheit von Vorstellungen, die die Verstandessynthesis der Begriffe von Raum und Zeit voraussetzt. Raum und Zeit als Gegenstände setzen also, wie alle Gegenstände, Synthesis voraus237; aber als bloße Formen der Anschauung setzen sie diese Synthesisleistung nicht voraus, weil sie als solche nur . zur (nicht-begrifflichen) Sinnlichkeit gehören. Daran anschließend ergibt sich eine Verbindung der Begriffe 'Form' und 'Unbegrenztheit' auf der einen und 'formal' und 'begrenzt' auf der anderen Seite. Raum und Zeit als reine For­ men sind unendlich238, womit sie erst das Endliche der bestimmten Einzelan­ schauung ermöglichen, so daß auf ein Bedingungsverhältnis von Unendlichkeit und Endlichkeit geschlossen werden kann. Nur formal bilden Raum und Zeit eine eigene, abgegrenzte Einheit, da hier eine objektivierende Synthesis als endli­ ches Gebilde vorausgesetzt wird als etwas, woran Raum und Zeit selbst gegen­ ständlich angeschaut werden können; als Formen bilden sie aber keine endlichen Einheiten, sondern treten als umfassende Unendlichkeitsstrukturen auf, woraus sich ergibt, daß es nur eine formale Anschauung geben kann. Als Formen kön­ nen Raum und Zeit nur eine Mannigfaltigkeit von Einheiten geben. Daran knüpft sich die Frage, ob Raum und Zeit überhaupt vorgestellt werden können, da dies einen Widerspruch bedeuten müßte, indem jede Vorstellung Synthesis­ leistungen, d. h. Verstandestätigkeiten voraussetzt und enthält, die reinen An235 Vgl. hierzu G. Mohr. Das sin nliche Ich, a.a. O . , S. 79. 236 Kant. Kritik der reinen Vern unft, B 1 60; vgl. auch weiter B 1 6 1 . 2 37 Vgl. dazu: Kant. Kritik der reinen Vern unft, B 1 36 und A 99- 1 00, wo betont wird,

daß Raum und Zeit als Vorstellungen Resultat einer Synthesishandlung des Verstandes sind. 23 8 Vgl. besonders das vierte Raumargument der Kritik der reinen Vernunft, B 39-40.

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schauungsformen aber nur der reinen Sinnlichkeit, die ohne jede Beimengung des Verstandes arbeitet, zugänglich sind. Doch auch wenn die Formen der An­ schauung selbst in ihrer Reinheit nicht vorgestellt werden können, so können sie doch - darin der Vernunft ähnlich - als Faktum erschlossen werden, das sich ge­ rade durch seine unmögliche Undenkbarkeit in seiner Notwendigkeit bestätigt. Dementgegen ist zwar die formale Anschauung selbst vorstellbar, sie kann aber nur dank der ihr zugrundeliegenden Form der Anschauung selbst, die allein durch Reflexion begriffen werden kann, verständlich werden. Ein analoges Verhältnis kann zwischen metaphysischer und transzendentaler Deduktion festgestellt werden: Während die metaphysische Deduktion die grundlegenden Verstandesbestimmungen der Kategorien direkt aus der Urteils­ tafel ableitet und so - wenigstens der Form nach - auch nach außen hin ver­ ständlich macht, erklärt die transzendentale Deduktion den Zusammenhang zwischen Sinnlichkeit und Verstand auf die komplexere und der Intuition un­ zugängliche Weise der Reflexion, die auf dem Zusammenwirken der verschiede­ nen Syntheseleistungen beruht. Auch wenn die transzendentale Deduktion nur in der Reflexion wirklich verständlich werden kann, ist es doch eben diese (tran­ szendentale) Reflexion, durch die deutlich wird, daß die metaphysische Deduk­ tion nur auf der Grundlage der transzendentalen überhaupt vollwgen werden kann. Die Ableitung der Kategorien aus der Urteilstafel kann nur nach der Klä­ rung des Zusammenhanges von Anschauung und Denken geschehen, der dann überdies sichtbar macht, daß - aufgrund der fundamentalen Bedeutung der Be­ grifflichkeit im allgemeinen - eigentlich ein Ableitungsverhältnis zwischen Kate­ gorien- und Urteilstafel und nicht umgekehrt besteht, das aber der Intuition verschlossen bleibt und dem gesunden Menschenverstand nicht zugänglich ist. Denn die Kategorien- geht der Urteilstafel erkenntnistheoretisch voraus, so daß zwischen ihr und der letzteren kein einseitiges Ableitungsverhältnis bestehen kann. Dies liegt daran, daß Kant auch bei der Bestimmung von Urteils- und Ka­ tegorientafel ein dem Vorgehen bei Raum und Zeit vergleichbares Verhältnis aufbaut: So wie der Raum als das bekanntere Anschauungsmedium vor der Zeit behandelt wird, so steht auch die Aufstellung der Urteilstafel mit ihren Anknüp­ fungspunkten an die aus der formalen Logik bekannten Urteilsformen vor der Ausarbeitung der KategorientafeL Daß allerdings erst dann wirkliche Urteile ge­ bildet werden können, wenn der Kategorienapparat vorliegt, wird mit den Un­ tersuchungen der transzendentalen Deduktion deutlich. Wenn aber ohne Kate­ gorien und ihre Einheit in der transzendentalen Apperzeption keine Begriffe ge­ bildet und deshalb auch keine Urteile gefällt werden können, so macht dieses Verhältnis offenbar, daß die Urteilstafel erst auf der Grundlage der Kategorienta­ fel ihren letzten Sinn erhalten kann, obwohl sie aus methodischen Gründen vor ihr behandelt werden muß und obwohl ausgehend von ihr der Aufbau der Kate-

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gorientafel erst begriffen und vor scheinbarer Willkürlichkeit bewahrt werden kann. Die Urteilstafel gibt also zwar den Leitfaden für die Bestimmung der An­ zahl der Kategorien ab, sie ist aber nicht die begründende Quelle derselben, weil die Kategorien- der Urteilstafel dann zugrunde liegen muß, wenn an der (auch intuitiv einsichtigen) Reihenfolge von Begriff - Urteil - Schluß festgehalten wer­ den soll. Dies zeigt sich schon äußerlich an der Verwendung der Begrifflichkeit der Kategorientafel bei der Aufstellung und Begründung der Urteilstafel.239 Diese Überlegungen zur Kategorientafel mögen genügen, um die Analytik der transzendentalen Logik in ihren Grundzügen herauszustellen. Bei der Form des Systems schließt sich die Analyse des Verstandesvermögens an die des An­ schauungsvermögens an, wobei immer die Notwendigkeit von zentraler Bedeu­ tung ist, beide Vermögen einer Verbindung zuzuführen bzw. ihr gelingendes Zu­ sammenwirken für die (Erfahrungs-)Erkenntnis aufzuklären. - Mit der Einfüh­ rung des Verstandesvermögens ist das System der Transzendentalphilosophie keineswegs abgeschlossen, sondern Kant fügt noch einen dritten Hauptteil an, nämlich eine Analyse des Vernunftvermögens in der Dialektik der transzenden­ talen Logik.240 Erst wenn die drei der Sinnlichkeit, dem Verstand und der Ver­ nunft gewidmeten Teile der Kritik der reinen Vernunft zusammengefaßt wer­ den, ist das System der Transzendentalphilosophie (und damit auch seine Form) vollständig. Kant muß dieses zweite Denkvermögen, die Vernunft, einführen, um die durch Sinnlichkeit und Verstand erreichte Erkenntnis auch nach außen abzu­ grenzen, d. h. um zu zeigen, wie weit sich eine aus Anschauung und Verstandes­ denken kombinierte Erkenntnis241 bewegen darf, ohne auf ungesicherte Wege zu geraten. Indem die transzendentale Dialektik dieser Aufgabe gewidmet ist, steht sie in engem Zusammenhang mit den in der Analytik durchgeführten Untersu­ chungen zu Sinnlichkeit und Verstand in ihrer Erkenntnisverbindung. Aus die­ sem Blickpunkt erklärt sich die Zweiteilung der Elementarlehre in transzenden2 39 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 70-76/B 95-1 0 1 . - Besonders deutlich wer­ den die Vorausgriffe von der Urteilstafd aus in das Gebiet des Verstandes hinein in A 75/B 1 00, wo auf die Verbindungen zwischen der Modalität der Urteile und den Denkvermögen Verstand, Urteilskraft und Vernunft hingewiesen wird. Erst im Rückblick von der auf der Ka­ tegorientafel gründenden Verstandesanalyse aus können die Modalitätsurteile und die Urteils­ tafd wirklich verständlich werden. Denn erst durch die Kombination von Möglichkeit, Wirk­ lichkeit und Notwendigkeit können die von Kant gemachten Anspidungen auf Verstand, Ur­ teilskraft und Vernunft ihren Sinn erhalten, der sich noch durch die Postulate des empirischen Denkens bestätigt [vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 2 1 8-226/B 265-274] . 240 Vgl. H. Krings: "Funktion und Grenzen der 'Transzendentalen Dialektik' in Kants 'Kri­ tik der reinen Vernunft'". In: E. Schaper und W. Vossenkuhl (Hrsg.) . Bedingungen der Mög­ lichkeit, a.a. O . , S. 9 1 - 1 03 . 24 ! Schon daran zeigt sich, daß zwischen Denken und Erkennen unterschieden werden muß. [Vgl. E. Adickes. Kant und das Ding an sich. Berlin, 1 894: S. 49.]

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tale Ästhetik und transzendentale Logik, weil i n diesem Fall Verstandes- und Vernunfteinsichten nur die positive oder negative Ansicht derselben Sachlage darstellen. Wenn dennoch drei Hauptteile bei der Form des Systems der Tran­ szendentalphilosophie angenommen werden (können) , so liegt dies daran, daß Kam selbst die zwei Denkvermögen Verstand und Vernunft in den getrennten Teilen von Analytik und Dialektik behandelt, wobei die Vernunft dadurch als dem Verstand übergeordnet anzusehen ist, daß sie sich als "Vermögen der Prinzi­ pien"242 auf die Verstandeseinsichten bezieht und ihnen eine weiterführende Ordnung gibt. Wenn eine solche aufsteigende Ordnung von der Sinnlichkeit über den Verstand hin zur Vernunft angenommen wird, dann erlaubt dies eine Trennung des gesamten Systems der Kritik der reinen Vernunft in drei gleich­ rangige (weil formal gleichgeordnete) , wenn auch nicht gleichwertige (weil in­ haltlich in ihrem Gewicht differierende) Teile.243 Wenn hingegen der Schwer­ punkt der Betrachtung darauf gelegt wird, daß sowohl der Verstand als auch die Vernunft beide Denkvermögen sind, dann führt dies zu einer Bestätigung der Kamischen Einteilung in die beiden Teile von transzendentaler Ästhetik und Lo­ gik - wobei dann allerdings ein (relativ) ausgewogenes Verhältnis zwischen die­ sen Teilen nur noch der Aufteilung des Textes gemäß dem Inhaltsverzeichnis, aber nicht mehr gemäß dem Umfang der einzelnen Textcorpora festzustellen ist. Wenn auf das sinnvolle Verhältnis der Länge der einzelnen Textabschnitte zuein­ ander geachtet wird, spricht einiges zugunsten der Annahme der transzendenta­ len Dialektik als eines eigenständigen dritten Teils der Kritik der reinen Ver­ nunft. Werden allerdings andere Maßstäbe angelegt - die Übereinstimmung von Verstand und Vernunft in ihrer Eigenschaft als Denkvermögen -, so muß der Einteilung Kants in zwei Hauptteile Folge geleistet werden. In jedem Fall bietet die Möglichkeit einer solchen Schwerpunktverlagerung verschiedene Betrach­ tungsweisen der Vernunft - als negatives Denkvermögen und als positives Glied innerhalb der von der Sinnlichkeit anhebenden und bis zur Vernunft aufsteigen2 4 2 Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 299/B 356. 243 Die formale Logik gibt zw ar mit Begriff, Urteil und Schluß eine Anleitung für die Auf­

teilung der transzendentalen Logik in den begriffsbildenden und urteilenden Verstand sowie in die pinzipienableitende Vernunft, doch bildet dieses Anleitungsverfahren keine hinreichende Aufklärung bezüglich der transzendentalen Logik. Denn in dieser scheint ein Übergewicht des Verstandes gegenüber den beiden anderen behandelten Vermögen, Sinnlichkeit und Vernunft, vorzuliegen, indem der Verstand sowohl das sinnliche Anschauungsmaterial ordnet als auch der ideenbildenden Vernunft ihr in den Kategorien vorliegendes Material vorgibt. Damit wird ein stimmiges Analogieverhältnis zwischen der transzendentalen Vernunft und dem logischen Schlußverfahren unmöglich, da dem Schlußverfahren im Gegensatz zu den reinen Vernunfter­ kenntnissen auch eine positive Funktion zukommt, während die Vernunft innerhalb ihrer Dia­ lektik nur eine negative, grenzziehende Aufgabe besitzt. Aus diesem Grund eignet den drei der Sinnlichkeit, dem Verstand und der Vernunft zugeordneten Teilen der Kritik der reinen Ver­ nunft nur ein formal gleicher Rang, ohne daß dem ein inhaltlich gleicher Wert folgte.

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den Vermögenskette -, so daß allein darin ein Deutungsvorteil zu sehen ist, der es nicht erforderlich macht, eine Entscheidung darüber zu treffen, ob eine und welche Gewichtung die richtige ist. Begriffliche Schwierigkeiten bei der Einordnung des Vernunftvermögens sind schon durch die nicht immer eindeutigen Verstandes- und Vernunftbestimmun­ gen Kants gegeben. Denn sowohl die Vernunft als auch der Verstand werden als das obere Erkenntnisvermögen ausgegeben, beide werden als der eine von zwei Stämmen unserer Erkenntnis bezeichnet.244 Somit sind die Begriffe von Verstand und Vernunft in gewisser Weise austauschbar, was nicht dazu führen darf, daß auch die beiden nicht übereinstimmenden Vermögen von Verstand und Vernunft identisch gesehen und verwechselt werden.245 Darin, daß die Vernunft als Prinzi­ pienvermögen gefaßt wird, liegt ihr eigenständiger Wert als Erkenntnisvermö­ gen, aber auch die größte Gefahr für jeden Vernunftschluß, nämlich die, einem dialektischen Schein anheimzufallen. Denn als derartiges Vermögen geht die Vernunft über den Verstand hinaus und bringt seine Einsichten auf eine überge­ ordnete, einheitliche Ebene. Löst sich die Vernunft allerdings völlig vom Bereich des Verstandes und fährt unabhängig fort, begriffliche Arbeit zu leisten, so gerät sie zwangsläufig in das Gebiet der Ideen, in dem wahre von falscher Erkenntnis nicht unterschieden werden kann, weil den Ideen als den reinen Vernunftbegrif­ fen, die alle Erfahrung übersteigen, keine Anschauung mehr korrespondieren kann, so daß ein Wahrheitskriterium fehlt - das Kennzeichen dialektischer Scheineinsichten.246 Für die Vernunft kann so nur eine Wahrheitsbestimmung gefunden werden, wenn ihr Bezug zu den Verstandesbegriffen247 weiter verfolgt wird: Wenn die Vernunft die begriffliche Verstandeserkenntnis in Prinzipien faßt, und wenn der Verstand seinerseits in einem notwendigen Wechselverhältnis mit der Sinnlichkeit steht, müßte dann nicht auch die Vernunft immer in einer durch den Verstand vermittelten, indirekten Beziehung zur Sinnlichkeit stehen? Könnte nicht daraus ein mögliches Wahrheitskriterium für die Vernunfterkennt­ nis geschöpft werden, daß untersucht wird, ob sie durch das Durchschreiten mehrerer reflexiver Stufen wieder mit der anschaulichen Sinnlichkeit in Verbin­ dung gebracht werden kann? Sollte eine solche indirekte Beziehung zum Bereich 244 245 246 247

Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 1 5/B 29 und A 83 5/B 863. Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 302/B 359. Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 320/B 376-377. Dies mag auch der Grund sein, weshalb H. M. Chalybäus in Historische Entwicklung der speculativen Philosophie, a.a.O., S. 35 die Vernunft als formales, logisches Reflexionsver­ mögen in höherer Potenz interpretiert, die eigendich nichts anderes sei als der Verstand, be­ sonders weil ihre Ideen ihrem Ursprung und Gebrauch nach nichts anderes seien als die höch­ sten Abstraktions- und Reflexionsbegriffe von der subjektiven Tätigkeit unseres Denkvermö­ gens.

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der Sinnlichkeit - wie beim Begriff der Welt - möglich sein, so könnte auch für die Vernunftsphäre (erkenntnisfähige) Wahrheit beansprucht werden; sollte eine solche Beziehung jedoch - wie bei den Ideen von Gott, Freiheit und Unsterb­ lichkeit - nicht möglich sein, so müßte die scheinbare Vernunfterkenntnis als wahrheitsindifferent begriffen und als nicht weiter theoretisch bestimmbar dem praktischen Bereich der Philosophie überlassen werden. Dieses Vorgehen ent­ spricht dem Kants, läßt es aber zu, einzelne Vernunftwahrheiten festzuhalten und so das Vernunftvermögen über sein negatives Aufgabenfeld der Begrenzung von Scheineinsichten hinauszuführen. Sicherlich falsch ist dabei jeder Versuch der Vernunft, Sinnlichkeit und Verstand nicht nur reflexiv, sondern real zu trennen, so daß die Verstandesbe­ griffe überstiegen werden müssen, woran sich der Versuch anschließt, die zu Ideen übersteigerten Kategorien zur Grundlage alles Sinnlichen zu machen. Nur als transzendentales Vermögen, das sich der möglichen Scheinhaftigkeit seiner Erkenntnisse bewußt und dieses Bewußtsein in positive Erkenntnisbegrenzung umzusetzen imstande ist, kann der Vernunft ein eigener Sinn zugesprochen wer­ den. Dieses schmale Feld bildet dann, fast paradoxerweise, die höchste Aufgabe des menschlichen Geistes, der schon durch sein natürliches Streben nach meta­ physischen Einsichten dazu gebracht wird, sich immer wieder mit der Frage nach Möglichkeit und Wahrheit erkenntnisrelevanter Vernunftprinzipien ausein­ anderzusetzen - obgleich er dadurch an ein Ende der theoretischen philosophi­ schen Möglichkeiten gelangt. Wenn der Vernunftbereich dadurch festlegbar ist, daß er zum einen als eige­ ner Wahrheitsbereich, zum anderen als Begrenzung von Scheinwahrheiten der Dialektik und darüber hinaus als notwendiger Übergang zur Sphäre der prakti­ schen Philosophie fungiert, dann klärt sich auch die Frage nach der Notwendig­ keit zweier unterschiedlicher Denkvermögen. Zwar bedienen sich sowohl der Verstand als auch die Vernunft begrifflicher Mittel; doch beide tun dies auf un­ terschiedliche Weise und mit unterschiedlichen Ergebnissen. Im Daß ihres Den­ kens sind sich Verstand und Vernunft also verwandt, im Wie differieren sie je­ doch so stark, daß ein Bezug zwischen dem Regel- und dem Prinzipienvermögen erst hergestellt werden muß. Zusammen führen Verstand und Vernunft eine an­ einander gekoppelte Denkleistung durch: Der Verstand als Vermögen, durch Synthesis zu denken, kann sich in seiner direkten Verbindung mit der Sinnlich­ keit auf Erfahrbares richten und dabei mittels aufgefundener Übereinstimmun­ gen oder Widersprüche zwischen Erkenntnis und Gegenstand zu Verifikationen oder Falsifikationen gelangen - was wiederum einen Hinweis auf die Bedeutung der Wahrheitslehre für die Kritik der reinen Vernunft im ganzen ergibt. Die Ver­ nunft als übergeordnetes Denkvermögen zur Bildung transzendentaler Begriffe kann sich auch auf nicht anschaulich Erfahrbares richten und durch den Über-

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gang in den Bereich des Praktischen die Aporien der theoretischen Philosophie wenigstens teilweise lösen. Diese Überlegungen zu den Denkvermögen Verstand und Vernunft mögen hinreichen, um einige formale Grundtendenzen der transzendentalen Dialektik und den groben Aufbau des Systems der Transzendentalphilosophie in seinen Hauptzügen aufzuweisen.248 - Auch für diesen Aufbau gilt das, was bereits bei früheren Ausführungen festgestellt wurde: Die Reihenfolge der Teile des Systems ist dem menschlichen Auffassungsvermögen angepaßt; das, was dem Menschen zunächst liegt, die Sinnlichkeit, die in ihrer fundamentalen Bedeutung unmittel­ barer ist als das abstrakte Denken, wird von Kant an erster Stelle behandelt. Da jedem Menschen bei seinen (auch denkerischen) Tätigkeiten raumzeitliche Ge­ genstände begegnen, ist der Ausgangspunkt einer Philosophie von den diesen Gegenständen zugrundeliegenden Anschauungsformen schon intuitiv nachvoll­ ziehbar. Er bietet darüber hinaus den Vorteil der Vorstellbarkeit, der nicht bei al­ len Verstandestätigkeiten in gleicher Weise anzutreffen ist. Indem Kant den Abstraktionsgrad nur allmählich steigert und immer versucht, einen Anfang zu wählen, der auch dem gesunden Menschenverstand, begreiflich zu machen ist, gelingt es ihm, sogar den 'transzendentalen' Weg transparent zu machen. - Die Vorgehensweise über Sinnlichkeit (Ästhetik) , Verstand (Analytik) und Vernunft (Dialektik) , die in dieser Reihenfolge dem Menschen nacheinander bewußt wer­ den, führt zu der übergeordneten Einteilung, die sich an der menschlichen Auf­ fassungsgabe orientiert. Sie findet ihr Gegenstück in vielen kleineren Anordnun-

24 8 Natürlich ist es weder aus räumlichen noch aus inhaltlichen Gründen möglich, dieses System in all seinen Einzelheiten vorzustellen; dies wäre die Aufgabe eines Gesamtkommentars zur Kritik der reinen Vernunft. Da derartige Kommentare bereits vorliegen, sei auf einige von ihnen verwiesen: P. Baumanns. Kants Philosophie der Erkenntnis: durchgehender Kommentar zu den Hauptkapiteln der 'Kritik der reinen Vernunft'. Würzburg, 1 997. - H. Cohen. Kom­ mentar zu Immanuel Kants 'Kritik der reinen Vernunft'. Hildesheim, New York, 5 1 978. - F. Grayeff. Ein Kommentar zu den grundlegenden Teilen der 'Kritik der reinen Vernunft'. Hamburg, 1 95 1 . [Zu diesem Kommentar kann herangezogen werden: D. Henrich. "Zur theo­ retischen Philosophie Kants". In: Philosophische Rundschau 1 , 1 953/54: S. 1 27-1 32.] - H. Heimsoeth. Transzendentale Dialektik. Ein Kom mentar zu Kants 'Kritik der reinen Ver­ nunft'. Berlin, 1 967. N. K. Smith. Commentary to Kant's Critique ofPure Reason, a.a.O. P. F. Strawson. Die Grenzen des Sinns, a.a.O. - H. Vaihinger. Commentar zu Kants 'Kritik der reinen Vernunft'. 1 . Band: Stuttgart, 1 88 1 . 2. Band: Stuttgart, Berlin, Leipzig, 1 892. Auch dieser Gruppe von Texten zuzuordnen ist E. Cassirer. Kants Leben und Lehre. Berlin, 1 92 1 , obwohl kein Kommentar im engeren Sinne vorliegt. Ebenfalls eine Gesamtdarstellung des Kantischen Werks bieten erwa E. Adickes. Kants Kritik der reinen Vernunft. Berlin, 1 889. - B. Bauch. Immanuel Kant. Berlin, Leipzig, 1 9 1 7. - H. M. Baumgartner. Kants 'Kri­ tik der reinen Vernunft'. Anleitung zur Lektüre. Freiburg, München, 1 985. W. Dilthey. Grundriß der allgemeinen Geschichte der Philosophie. Hrsg. und ergänzt von H.-G. Gada­ mer. Frankfurt am Main, 1 949: S. 1 94-200. - 0. Höffe. Immanuel Kant. München, 1 983. -

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gen derselben Art, die in allen Abschnitten der Kritik der reinen Vernunft glei­ chermaßen zu finden sind. 249 Nach diesen Einzelbetrachtungen zu Sinnlichkeit, Verstand und Vernunft soll noch einmal versucht werden, anband der Methodenlehre der Kritik der reinen Vernunft einen Gesamtplan (der Form) des Systems der Transzendentalphiloso­ phie nachzuzeichnen.250 In diesem zweiten Hauptteil der Kritik der reinen Ver­ nunft geht Kant zunächst noch einmal auf die Einteilung in Elementar- und Methodenlehre ein. Wenn Kant die Methodenlehre als "die Bestimmung der formalen Bedingungen eines vollständigen Systems der reinen Vernunft"251 defi­ niert, so läßt sich für die Elementarlehre ableiten, daß sie die Bestimmung der materialen Bedingungen eines vollständigen Systems der reinen Vernunft dar­ stellt. Damit findet auch hier das grundsätzlich jeder Reflexion innewohnende Begriffspaar von Form und Materie252 seine Anwendung und bestimmt das Ver­ hältnis zwischen den Grundabschnitten der Kritik der reinen Vernunft. Wäh­ rend in der Elementarlehre die einzelnen Bestandteile des Erkenntnisapparates, die Erkenntnisvermögen, inhaltlich durch ihren Funktions- und Synthesis­ charakter bestimmt werden, beschreibt die Methodenlehre den Plan, wie diese Einzelvermögen und Sonderanalysen angeordnet sein müssen, damit das "Haus der Vernunft"253 gebaut werden kann. Es geht der Methodenlehre also nicht 2 49 Als Beispid sei noch einmal die transzendentale Ästhetik herangezogen, in der Kant an mehreren Stellen auf die Unterscheidung von Bewegung und Veränderung eingeht. Sowohl der Begriff der Bewegung als auch der der Veränderung ist "nur durch und in der Zeitvorstd­ lung möglich" [Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 48] . Während die Bewegung Raum und Zeit vereinigt [vgl. dazu und zum folgenden: A 4 1 /B 58] , dem Menschen aber vornehmlich als im Raum befindlich zugänglich wird, ist die Veränderung auf die Zeit bzw. auf das, was in der Zeit ist, bezogen. So entspricht die Reihenfolge, in der die beiden Begriffe behandelt werden, der Grundeinteilung der Ästhetik, in der die Analyse des Raumes der der Zeit vorangestellt wurde. Dabei wird die Bewegung vor der Veränderung behanddt, weil sie dem Menschen wie der Raum - in seinen Tätigkeiten zuerst begegnet: Bevor er sich bestimmter Veränderun­ gen bewußt werden kann, hat er schon eigene und fremde Bewegungen erfahren - nicht zu­ letzt deshalb, weil der Begriff der Veränderung sowie die ihm entsprechenden Erscheinungen einen höheren Grad an Abstraktion und Reflexion voraussetzen als die leichter zugänglichen Bewegungen. Obwohl der Bewegungsbegriff dem Veränderungsbegriff vorangestellt wird, er­ weist sich auch an ihm ein zweites Charakteristikum der Kantischen Vorgehensweise. Die an nachgeordneter Stelle behanddten Begriffe und Phänomene zeigen sich meist als übergeordnet gegenüber den leichter einsehbaren, zuerst analysierten Begriffen. 2 5 0 Die Methodenlehre soll nicht zuletzt deshalb herangewgen werden, weil in ihr das Sy­ stem der Transzendentalphilosophie seinen Abschluß findet, wobei A. Kojeve in "Die tran­ szendentale Methodenlehre". In: J. Kopper und R. Malter (Hrsg.). Materialien zu Kants 'Kri­ tik der reinen Vernunft', a.a.O., S. 27 darauf hinweist, daß mit der Methodenlehre der Zirkd des Systems der Transzendentalphilosophie geschlossen wird. 2 5 1 Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 707-708/B 73 5-736. 2 5 2 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 266-268/B 322-324. 2 53 Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 707/B 735.

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mehr um eine inhaltliche Analyse der Erkenntnisvermögen, sondern darum, sie in ihrer notwendigen Gesamtordnung darzustellen. Dabei ergibt sich innerhalb von Elementar- und Methodenlehre ein doppelter Formbezug: Während die Methodenlehre die Gesamtform des Systems der Transzendentalphilosophie vor Augen führt, widmet sich die Elementarlehre der Analyse der einzelnen Formen der Erkenntnisvermögen. Die Erkenntnisleistungen werden in ihrer auf Synthe­ sen beruhenden Funktionsleistung betrachtet, die in ihrer Gesamtheit genom­ men wahres Wissen ermöglichen. Die Untersuchungen der Formen des Erkennt­ nisapparates bilden wiederum den Inhalt für das formgebende Verfahren der Methodenlehre, d. h. die Formen der Elementarlehre werden in der Metho­ denlehre selbst zu Inhalten, denen die Form eines Systems gegeben werden muß. Nur in dieser Hinsicht kann die Elementarlehre als materiale, die Metho­ denlehre aber als formale (strukturale) Bestimmung der Bedingungen des Sy­ stems der reinen Vernunft bezeichnet werden. Die Methodenlehre betreibt die Erforschung und vor allem die Anordnung der Form der Erkenntnis, wie sie durch die Elementarlehre bereitgestellt wird. Nur unter dem Aspekt dieser höhe­ ren Form kann die Form der Erkenntnisvermögen, die das Thema der Elemen­ tarlehre bildet, selbst zur Materie werden. Allein vor diesem doppelten Formhintergrund ergibt die Einteilung in Mate­ rie und Form für die beiden Hauptabschnitte der Kritik der reinen Vernunft ei­ nen Sinn; denn er macht nochmals deutlich, warum Kants erste Kritik nur als Propädeutik eingeführt wird254 und nicht als abgeschlossenes System. Weil sich die Vernunftkritik in ihren Hauptteilen nur mit der Form bzw. einer Metarefle­ xion über die Form als Materie (Gegenstand) der Erkenntnis beschäftigt, d. h. weil sie sich nur den Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis widmet, nicht aber den einzelnen unter die Form des Systems zu subsumierenden Inhal­ ten, kann auch das Vernunftsystem allein aufgrund von Formanalysen noch nicht als abgeschlossen betrachtet werden. Erst unter Einbeziehung der besonde­ ren Inhalte, für die Kant auf die vorhandenen Lehrbücher verweist, könnte das System der reinen Vernunft absolute Vollständigkeit beanspruchen. Da eine der­ artige gehaltliehe Füllung der gegebenen Form jedoch eine vielfach mechanisch zu leistende Arbeit darstellt, die deswegen relativ einfach, wenn auch zeitaufwen­ dig, getan werden kann, weil das entsprechende Formgerüst vorhanden ist, wird auch dieser Einwand gegen die Vollständigkeit des Vernunftsystems als bloß äu­ ßerlich einsichtig. Indem die Form des Systems der Transzendentalphilosophie vorliegt, liegt das gesamte System vor; nur Gründe der Genauigkeit führen dazu, hier noch Einschränkungen vorzunehmen.

2 54 Vgl. noch einmal Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 1 2/B 26.

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Einen guten Überblick über das gesamte System der Kritik der reinen Ver­ nunft bietet die Architektonik der Methodenlehre, die den Vorteil hat, das Ziel Kants einer Begründung der Philosophie als Wissenschaft noch einmal aufgrei­ fen zu können. Kant schreibt: "Ich verstehe unter einer Architektonik die Kunst der Systeme. Weil die systematische Einheit dasjenige ist, was gemeine Erkennt­ nis allererst zur Wissenschaft, d. i. aus einem bloßen Aggregat derselben ein Sy­ stem macht, so ist Architektonik die Lehre des Scientifischen in unserer Er­ kenntnis überhaupt, und sie gehört also notwendig zur Methodenlehre. "255 Mehrere wichtige Hinweise sind aus dieser in die Architektonik einführenden Stelle zu entnehmen: ( 1) Noch einmal wird die Unfähigkeit der gemeinen Erkenntnis aufgegriffen, selbständig zu wissenschaftlichen Einsichten zu gelangen; ohne die Hilfe der Philosophie kann sie keinen Erkenntniszuwachs herbeiführen. (2) Kant weist wieder auf den fundamentalen Unterschied zwischen Aggregat und System hin, wobei nur dem System Erkenntniswert zugesprochen werden kann, während das Aggregat im Zustand der nur zufälligen Verbindung und da­ her des nur eingeschränkt Wahrheitsfähigen verbleibt. Indem die Vernunftkritik den Zustand des Aggregathaften überwindet und zugleich die Gründe für die Notwendigkeit einer solchen Überwindung angibt, erweist sie sich als allen anderen Ansätzen überlegen. Obzwar die Philosophie also letztlich nicht viel mehr als der gemeine Verstand erkennen kann256, so besitzt sie doch gegenüber allen anderen Erklärungsversuchen den Vorzug, diese Erkenntnis begründen und wissenschaftlich absichern zu können. (3) In seiner Definition der Architektonik als Lehre des Szientifischen greift Kant den Wissenschaftsgedanken noch einmal auf; er bereitet aber auch den Bo­ den für ein schon begrifflich an den Wissenschaftsgedanken gebundenes Philo­ sophieren, wie es bei Schelling und insbesondere Fichte zu finden sein wird. Für Schelling geht es in seinem System des transzendentalen Idealismus nicht zu­ letzt um ein Wissen des Wissens257; das Prinzip allen Wissens ist sowohl indirekt Prinzip jeder Wissenschaft als auch direkt Prinzip der Wissenschaft allen Wis­ sens, d. h. der Transzendentalphilosophie.258 Die Anlehnungen an Kant sind so auffällig, daß sie keines weiteren Kommentars bedürfen; beide Philosophen stre­ ben eine Synthese aus Subjektivität, Wissenschaft(-lichkeit) und Philosophie an und erreichen sie zum einen durch die Durchführung eines transzendental-kriti­ schen und zum anderen eines ästhetischen Idealismus. - Für Fichte ist gar die gesamte Philosophie Wissenschaftstheorie, denn nach ihm ist die Philosophie 2 55 256 2 57 258

Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 832/B 860. Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 831/B 859. Vgl. E W. J. Schelling. System des transzendentalen Idealismus, a.a.O., S. 4 1 3 . Vgl. ebd. , S . 422.

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die "Wissenschaft von einer Wissenschaft überhaupt"259, Noch prägnanter kommt dies in der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre zum Ausdruck. Dort werden auch die Gemeinsamkeiten mit Kam noch deutlicher, wenn Fichte schreibt, daß die Wissenschaftslehre den Weg vorgibt, wie sich die Philosophie in den Rang einer evidenten Wissenschaft erheben kann. Seine Ausführungen stellen Grund und Umfang der Wissenschaftslehre als Bedingung eines vollstän­ digen Systems dar. Auch für ihn bedarf das philosophische System weiterer Ver­ besserungen, bis es als Ganzes vorliegt. 26° Fichtes Rede von der Wissenschafts­ lehre als 'Weg' hat große Ähnlichkeit mit den drei Wegen Kants in die Transzen­ dentalphilosophie, so daß schon hier die Frage gestellt werden kann, ob dieser Zugang mittels verschiedener Wege nicht als Kennzeichen aller Subjektivitäts­ philosophie angesehen werden muß.261 Gleich Kant, der Umfang, Grenzen und Gehalt der reinen Vernunft bestimmen will, ist es auch Fichtes Anliegen, Grund und Umfang der Wissenschaftslehre anzugeben, die die Voraussetzung für jede wahre, wissenschaftliche Philosophie beinhalten. Zurück zur Architektonik der Kritik der reinen Vernunft: Die Anknüpfungs­ punkte an die Elementarlehre sind so mannigfaltig, daß sie an dieser Stelle kei­ nesfalls alle behandelt werden können. Deshalb sei nur auf ein Beispiel verwie­ sen, dessen Bedeutung schon früher evident wurde; gemeint ist der Rückgang auf die Zweistämmetheorie. Auch die Architektonik greift diesen Gedanken wie­ der auf262, wobei diese Stellen allerdings nur dann als identisch angesehen wer­ den dürfen, wenn sichergestellt ist, daß Vernunft und Verstand sowie die Be­ griffe des Empirischen und der Sinnlichkeit in beiden Fällen dasselbe bedeuten. Wenn diese Bedingung erfüllt ist, dann zeigt sich wiederum der doppelte Form­ bezug: Während die beiden Erkenntnisstämme in der Methodenlehre unter rei­ nen Formgesichtspunkten betrachtet werden, kommt in der Elementarlehre ein material-inhaltlicher Aspekt hinzu, der auf den Funktionscharakter d�rselben Rücksicht nimmt, ohne daß konkrete Einzeldaten im Zentrum stünden. Von entscheidender Bedeutung für die Methodenlehre erweist sich der für die gesamte Vernunftkritik kennzeichnende Begriff des Systems, wobei in der Cha2 59 Vgl. J. G. Fichte. Ueber den Begriffder Wissenschafts/ehre, a.a.O., S. 44. 260 Vgl. J. G. Fichte. Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre (1 794, 1802}. In:

Fichtes werke. Hrsg. von I. H. Fichte. Band 1 : Zur theoretischen Philosophie. Nachdruck, Berlin, 1 97 1 : S. 86-87. 261 Vgl. zum Zusammenhang zwischen der Wegmetapher und der Philosophie bzw. Wis­ senschaftslehre auch Fichtes Ueber den Begriff der Wissenschafts/ehre, a.a.O., S. 29, wo be­ tont wird, daß durch die Wissenschaftslehre ein Weg gefunden werden soll, durch den sich die kritische Philosophie gegen dogmatische und skeptische Einwände behaupten kann. (Schon damit zeigt sich die Differenz zwischen dem Wegbegriff in der Transzendentalphilosophie und dem in der modernen Philosophie bedeutsamen Weggedanken bei Heidegger.) 262 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 1 5/B 29 und A 83 5/B 863.

Die drei Wege in eine transzendentale Philosophie bei Kam

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rakterisierung dieses Begriffs innerhalb der Methodenlehre die Hauptgedanken der ersten Kritik noch einmal in aller Kürze zusammengenommen werden. So schreibt Kant: "Unter der Regierung der Vernunft dürfen unsere Erkenntnisse überhaupt keine Rhapsodie, sondern sie müssen ein System ausmachen, in wel­ chem sie allein die wesentlichen Zwecke derselben unterstützen und befördern können. Ich verstehe aber unter einem System die Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee. Diese ist der Vernunftbegriff von der Form eines Ganzen, sofern durch denselben der Umfang des Mannigfaltigen sowohl, als die Stelle der Teile untereinander, a priori bestimmt wird. Der szientifische Ver­ nunftbegriff enthält also den Zweck und die Form des Ganzen, das mit demsel­ ben kongruiert. "263 In dieser Textpassage werden folgende zentrale Aussagen der Kritik der reinen Vernunft in ihrer unbedingten Zusammengehörigkeit präsentiert: Ausgangs­ und Endpunkt aller Philosophie als Wissenschaft ist das als umfassend zu begrei­ fende Vernunft- bzw. Denkvermögen. Dabei stellt die Vernunft im engeren Sinne, als Vermögen der Prinzipien, das oberste Denkvermögen dar, da es zum einen die Resultate des Verstandesvermögens unter sich begreift und da es zum anderen dem natürlichen Streben des Menschen nach metaphysischer Einsicht Ausdruck verleiht. Damit die Vernunft zu diesem höchsten Ziel, der Einsicht in das Wesen der Ideen, gelangen kann, muß ihr Vorgehen an sich selbst systema­ tisch sein. Denn ein nur willkürliches, nach uneinheitlichen Gesichtspunkten zusammengesetztes Gebilde vermag keine sichere Erkenntnis zu gewähren - vor allem keine Erkenntnis der höchsten Ideen. Nur ein solches System kann den Zwecken der Vernunft dienen, indem es allein gesicherte Erkenntnis und Wahr­ heit ermöglicht. Dabei muß das System zwischen Mannigfaltigkeit und Einheit oszillieren, indem es die erstere zu Einheiten verbindet, die dann als Unterein­ heiten wiederum zu höheren Einheiten gefügt werden, bis die Ebene der letzten und obersten Einheiten, der Ideen, erreicht ist. In ihnen kommt das Ziel der ge­ samten Vernunftkritik zum Ausdruck, indem sie den höchsten Punkt bilden, von dem aus sich der ganze Erkenntnisaufbau überblicken und in dem sich die Absicht desselben erfassen läßt. Das Vernunftsystem steht unter einer obersten Idee als dem Vernunftbegriff, der die Form des Ganzen angibt. Hierdurch wird die Bedeutung der Form für die Kritik der reinen Vernunft nochmals besonders klar: Das ganze System ist einer höchsten Formidee unterworfen und in seinen Zentralaspekten reine Form zur Ordnung materialer und/oder gedanklich­ inhaltlicher Größen. Dadurch, daß sowohl die Aufgabe des Vernunftsystems als auch sein innerer Aufbau formal bestimmt sind, wird noch einmal auf die fun­ damentale Zweiteilung der Kritik der reinen Vernunft insgesamt verwiesen: 26 3 Kam. Kritik der reinen Vernunft, A 832/B 860.

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Egologische Grundstrukturen in der Transzendentalphilosophie Kants

Während die Elementarlehre die Stellung der einzelnen Vermögen zueinander sowie ihre (synthetisierende) Funktionsweise analysiert, zeigt die Methodenlehre den Gesamtplan des Systems der reinen Vernunft. Dieser Gesamtplan des Vernunftsystems wird auf den Seiten A 837-85 1/ B 865-879 der Kritik der reinen Vernunft ausgeführt, wo die notwendige Ord­ nung der Philosophie als Wissenschaft dargestellt wird, die von einer Einteilung in den Schul- und Weltbegriff der Philosophie ausgehend unter dem Weltbegriff die Philosophie der reinen Vernunft mit ihren Bestandteilen von Kritik und Me­ taphysik befaßt, wobei sich die Metaphysik selbst wieder in eine Metaphysik der Natur als Naturlehre und in eine Metaphysik der Sitten als Freiheitslehre auf­ spaltet, aus denen dann die vier Hauptteile der Metaphysik - nämlich Ontolo­ gie, rationale Physiologie, rationale Kosmologie und rationale Theologie - her­ vorgehen, die zu den Grundlagen der verschiedenen Erkenntnisse (transzenden­ tale Welt- und Gotteserkenntnis) , der verschiedenen Wissenschaften (Physik und Physiologie) und der Religion gemacht werden können. 264 Schon aus Raumgründen ist es an dieser Stelle nicht möglich, auf alle Teile der Vernunft­ kritik auch inhaltlich einzugehen. Der Aufweis ihrer formalen Anordnung ge­ nügt, um das Ziel des Abschnitts, den Nachweis der fundamentalen Bedeutung der Form für die Kritik der reinen Vernunft zu erbringen, so daß die Form des Systems der Transzendentalphilosophie als solche vorliegt. Ergänzt werden muß diese reine Formanalyse jedoch durch eine Untersuchung der Hauptergebnisse dieses Systems, womit die dritte Etappe des 'transzendentalen' Weges erreicht ist.

3.

Die Ergebnisse des Systems der Transzendentalphilosophie

Aus der Form des Systems der Transzendentalphilosophie ergeben sich drei zen­ trale Ergebnisse, die Ziel und Zweck einer jeden Vernunftkritik in sich vereinen. Analog der Reihenfolge des Systems mit seinen an den Erkenntnisvermögen ori­ entierten Bestandteilen zeigen sich diese Ergebnisse wieder in einer bestimmten Ordnung. Zunächst wird durch die Verbindung von transzendentaler Ästhetik und Logik die transzendentale Logik als eigene Wissenschaft begründet; dann gelingt Kant - durch die transzendentale Deduktion - eine Begründung von 264 Interessant dabei ist auch der von Kant begründete Zusammenhang zwischen Rdigion und Metaphysik, indem die Metaphysik als "Schutzwehr" [Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 849/B 877] der Rdigion bezeichnet wird. Damit werden schon wichtige Gedanken der Religionsschrift vorweggenommen, die die Moral zum Fundament der Religion erklärt. [Vgl. Kant. Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Akademie-Ausgabe, Band VI: S. 4-6.] Wird dazu analog die Metaphysik der Sitten als Begründung der Moral verstan­ den, so ist das Verhältnis zur Rdigion offensichtlich.

Die drei Wege in eine transzendentale Philosophie bei Kant

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Wahrheit; und schließlich werden - innerhalb der transzendentalen Dialektik die Grenzen des Wissens aufgezeigt. Indem Kant eine eigene Methode für seine Vernunftkritik erarbeitet, gelingt es ihm, eine die Anschauung einbeziehende transzendentale Logik zu schaffen, die als Lehre von den transzendental-apriorischen Erkenntnissen die Idee einer Wissenschaft der reinen Verstandes- und Vernunfterkenntnis in sich enthält, in­ dem sie Ursprung, Umfang und objektive Gültigkeit dieser Erkenntnis be­ stimmt.265 Da der Plan der transzendentalen Logik schon innerhalb des 'natür­ lich-logischen' Weges untersucht wurde, kann darauf an dieser Stelle verzichtet werden. Dadurch, daß die transzendentale Logik selbst als Wissenschaft begrün­ det wird und der Transzendentalphilosophie ihren methodischen Weg weist, ist der Begründung der Philosophie als Wissenschaft der Boden bereitet. Das zweite Ergebnis, die Begründung von Wahrheit266, ist ein allgemein menschliches und wissenschaftliches Desiderat. Eine eigene (implizite) Wahr­ heitstheorie liefert Kant vor allem innerhalb der transzendentalen Deduktion.267 Während für sich erkannte Anschauungen objektiv, also wahr wären, weil in ih­ nen keine Widersprüche auftreten können, kann solches für Erkenntnisse, die aus Anschauungen und Begriffen zusammengesetzt sind und dadurch erst ent­ stehen, nicht gelten, da durch die Notwendigkeit der Verbindung zweier unter­ schiedlicher Vermögen die Gefahr von Fehlern gegeben ist. Diese Gefahr wird dann noch größer, wenn der Versuch unternommen wird, auf rein begriffliche Weise zu Erkenntnissen zu gelangen. Dieser Tendenz geht die transzendentale Dialektik nach, der der Nachweis gelingt, daß die Produkte einer solch reinen Begriffsarbeit, die Ideen, nicht wahrheitsfähig sind und deshalb zu keiner Er26 5 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 57/B 8 1 . 266 Siehe zu Kants Wahrheitstheorie etwa: M . Baum. "Wahrheit bei Kant und Hege!",

a.a.O., S. 230-238. Auf Kants Wahrheitstheorie geht auch A. Gulyga in Immanuel Kant. Frankfurt am Main, 1 98 1 : S. 22 1 kurz ein. 267 Hinsichtlich dieser wahrheitsbegründenden Funktion der Deduktion finden sich in der Forschungsliteratur unterschiedliche Positionen, die von der Annahme einer Theorie der Ge­ genstandskonstiturion bis hin zu der einer Urteilstheorie als Hauptthemen dieser Deduktion reichen. Vgl. dazu: P. Rohs. "Die transzendentale Deduktion als Lösung von Invarianzproble­ men". In: S. Blasche, W: R. Köhler, W: Kuhlmann, P. Rohs (Hrsg.) . Kants transzendentale Deduktion, a.a.O., S. 1 3 5-1 92. Besonders ausführlich geht R. Hiltscher in Wahrheit und Reflexion. Eine transzendentalphilosophische Studie zum Wahrheitsbegriff bei Kant, dem frühen Fichte und Hege/. Bonn, 1 998: S. 1 1 6-1 30 auf die Wahrheitstheorie Kants ein. - In­ nerhalb der vorliegenden Arbeit wird die Wahrheitsfunktion der transzendentalen Deduktion darin gesehen, daß in ihr die notwendigen erkenntnistheoretischen Voraussetzungen für eine den Gegebenheiten adäquate Erfahrung, die sich begrifflich artikuliert, auf der Grundlage von Sinnlichkeit und Verstand in ihrer gelingenden Verbindung analysiert werden, die notwendige und hinreichende Bedingungen einer jeden übereinstimmenden, d. h. 'wahren', Erkenntnis sind.

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Egologische Grundstrukturen in der Transzendentalphilosophie Kants

kenntniserweiterung dienen können.268 Wenn also zur wahren, gesicherten Er­ kenntnis ein besonderes Zusammenwirken von Verstand und Sinnlichkeit erfor­ derlich ist, durch das anschaubare Begriffe entstehen können, die als solche nachprüfbar sind, so kann die transzendentale Deduktion der Kritik der reinen Vernunft mit ihrem durch die Subjektivität gegebenen obersten Standpunkt als die Kamische Wahrheitslehre bzw. als ihr Kern angesehen werden. Denn in ihr werden Möglichkeit und Gehalt der notwendigen Kombination von Verstand und Sinnlichkeit analysiert, so daß ihr Zusammengehören für die Entstehung wahrer Erkenntnis verständlich werden kann. Das dritte Ergebnis der Transzendentalphilosophie, nämlich die Begründung der Grenzen des Wissens, ist vor allem Aufgabe der transzendentalen Dialektik, die aufzeigt, an welchen Stellen Überschreitungen des durch die transzendentale Deduktion aufgewiesenen notwendigen Zusammenhangs von Anschauung und Denken vorliegen, so daß es - im theoretischen Bereich der Philosophie - zu bloßen Scheineinsichten kommen muß. Einen Anfang dieser Grenzbestimmung bildet die noch der Analytik angehörende Tafel des Nichts, die durch ihre Be­ handlung eines Grenzbegriffs eine Zwischenstellung zwischen den Hauptteilen der Kritik der reinen Vernunft einnimmt, so daß sie sowohl als Abschluß der Analytik als auch als Anfang der Dialektik angesehen werden kann. Am Nichts­ Begriff wird die Notwendigkeit eines Zusammenwirkens von Sinnlichkeit und Denken besonders offensichtlich, wenn gesicherte Erkenntnis möglich sein soll. Denn durch die aneinander gekoppelten Begriffe von Sein und Nichts kann der Mensch selbst die Grenzen seiner Erkenntnis bestimmen. Vor diesem Hinter­ grund wird die Bestimmung von Wahrheit erst möglich; Grenzziehung und Wahrheitsbestimmung stehen demnach in einem Wechselverhältnis. In diesem Kontext ist auch die Unterscheidung zwischen 'sinnlichem' und 'verstandesmäßigem' Wahrheitsbegriff zu sehen, wie sie auf Seite A 26 1 /B 3 1 7 der Kritik der reinen Vernunft zu finden ist, wo die unmittelbar einsichtigen und nicht weiter begründbaren Wahrheiten eines sinnlich dominierten Erkennt­ nisfeldes (wie etwa dem der Geometrie) von den reflexiven, stärker auf den Ver­ stand bezogenen Wahrheiten, denen allerdings ein sinnlicher Anteil nicht voll­ ständig ermangeln kann, unterschieden werden. So zeigt sich, wie wichtig der Ort der Erkenntnis für die Einsicht in ihre Wahrheit(-sfähigkeit) ist. Wenn näm­ lich Urteile so gegeben sind, daß ihr direkter Bezug auf die anschaubare Sinn268 Zur unmittelbaren Evidenz rein anschaulicher Erkenntnis ist Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 87/B 1 20 heranzuziehen. Auf die möglichen, durch den Verstand und seine Bezü­ ge zur Sinnlichkeit auftretenden Fehlerquellen verweist Kant zum Beispiel in A 88/B 1 2 1 oder A 93/B 1 26. Die Ausführungen zum falschen Gebrauch reiner Begriffe sind über die gesamte transzendentale Dialektik verteilt, werden aber bei der Behandlung der Ideen (insbesondere der Gottesidee) sowie bei der Analyse der dialektischen Schlüsse besonders deutlich.

Die drei Wege in eine transzendentale Philosophie bei Kant

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lichkeit deutlich wird, dann ist auch ihre Wahrheit (fast) unzweifelhaft. Bei der Vermitdung durch den Verstand, also bei nur indirekt auf Sinnliches bezogenen Urteilen, muß die Wahrheitsfrage eigens gestellt und der Bezug zur Wahrheit ge­ währenden Anschauung hergestellt werden. Die Reflexion als Verstandeshand­ lung macht die Möglichkeit einer vorrangig verstandesmäßigen und einer vor­ wiegend sinnlichen Wahrheit offenbar, die beide zugleich im Verstand gültig sind. Mit diesen Überlegungen greift Kant auf seine Ausführungen zu Wesen und Begriff der Wahrheit zurück, die die wissenschaftliche, transzendentale Logik einleiten. Indem Kant zeigt, daß die formale Logik zwar eine reine "Namener­ klärung der Wahrheit, daß sie nämlich die Übereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstande sei"269, besitzt, daß aber nur die transzendentale Logik diese Erklärung begründen kann, gelingt ihm der Nachweis des Charakteristischen dieser neuen Wissenschaft.270 Kant übernimmt so nicht einfach die in der for­ malen Logik gültige Korrespondenztheorie der Wahrheit mit ihrer Überein­ stimmung von Subjekt und Objekt, sondern er beweist, daß erst die transzen­ dentale Logik zu einer Begründung dieser Theorie in der Lage ist, die es auch erlaubt, die Wahrheit konkreter Einzelfälle zu überprüfen. Indem die formale Logik die Inhalte besonderer Urteile nicht berücksichtigen kann, vermag erst die transzendentale Logik, die auch die materiale Erkenntnis heranzieht, den vollen Begriff der Wahrheit zu geben. Indem die transzendentale Logik so - nämlich indem sie Inhalt und Form, Anschauung und Denken, Sinnlichkeit und Ver­ stand auf gleiche und gleichberechtigte Weise berücksichtigt - Wesen und Form der Wahrheit begründet, erweist sie selbst ihren wissenschaftlichen Wert. Gleich­ zeitig werden durch eine auf Sinnlichkeit und Verstand ruhende Bestimmung 269 Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 58/B 82. 270 Auf die große Bedeutung der Wahrheitsbegründung bei Kant verweist G. Prauss in

"Zum Wahrheitsproblem bei Kant". In: Kant-Studien 60, 1 969: S. 1 66-1 82, wo er dem engen Bezug zwischen der Abgrenzung von formaler und transzendentaler Logik und dem Wahrheitsproblem insgesamt nachgeht. Da Kant mit der transzendentalen Logik eine eigene Wahrheitstheorie aufstellen will, weist er nach, daß die Frage nach der Wahrheit innerhalb der formalen Logik ohne Sinn ist, weil sie nur die negativen Bedingungen der Wahrheit angeben kann, wodurch aber die Frage nach dem Wesen der Wahrheit nicht zu beantworten ist. Bean­ sprucht die formale Logik für sich dennoch eine solche Wahrheitserkenntnis, so wird sie zur Logik des Scheins, zur Dialektik [vgl. ebd., S. 1 7 1 und S. 1 77] . Schon aufgrund der von Prauss dargestellten Beziehungen zwischen formaler und transzendentaler Logik und ihrer je­ weiligen Wahrheitsbedeutungen hebt sich der Vorwurf M. Wolffs, der Kritik der reinen Vernunft lägen zwei sich widersprechende Konzeptionen von formaler Logik - einmal als Theorie analytischer Urteile und einmal als Theorie notwendiger Wahrheitsbedingungen zugrunde, selbst auf. [Vgl. M. Wolff. "Der Begriff des Widerspruchs in der Kritik der reinen Vernunft. Zum Verhältnis von formaler und transzendentaler Logik". In: B. Tuschling (Hrsg.) . Probleme der 'Kritik der reinen Vernunft'. Kant- Tagung Marburg 1981. Berlin, N ew York, 1 984: s. 1 87.]

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Egologische Grundstrukturen in der Transzendentalphilosophie Kants

von Wahrheit die Grenzen des sicher Erkennbaren sichtbar. Denn überall dort, wo ein Zusammenwirken von Anschauung und Denken bei einem Erkennt­ nisprozeß nicht mehr gegeben ist, kann auch Wahrheit nur noch eingeschränkt behauptet werden. Wenn (insbesondere begrifflichen) Einsichten nicht we­ nigstens potentiell eine Anschauung korrespondieren kann, können sie für sich keine (theoretische) Wahrheit in Anspruch nehmen. Dies bestätigt sich an den Ideen als den reinsten begrifflichen Erkenntnis­ sen.271 Da keiner der drei Ideen eine Anschauung entspricht oder gegeben wer­ den kann, bleiben sie für die theoretische Erkenntnis wahrheitswertindifferent. Erst im praktischen Bereich kann ihnen ein eigener Wert, obzwar keine eigene Wahrheit, zugesprochen werden; in dieser Grenzfunktion erlangen sie ihren be­ sonderen Status. Um die Scheinwahrheiten der formalen Logik als solche auf­ weisen und in ihrer Gefährlichkeit für das Denken (besonders für den durch sie allzu leicht überzeugten gesunden Menschenverstand) ausschalten zu können, bedarf es einer mehr als nur die formalen Bestimmungen einbeziehenden tran­ szendentalen Logik. Erst durch die auf ihr gründende Philosophie, die wissen­ schaftlichen und erkenntnistheoretischen Ansprüchen genügt, kann Wahrheit er­ reicht und gewährleistet werden. Die drei Aufgaben des Systems der Transzendentalphilosophie - die Begrün­ dung der transzendentalen Logik als Wissenschaft, der Wahrheit sowie der Gren­ zen des Wissens - stehen also in einem engen Zusammenhang, wobei es sinnvoll ist, die Wahrheitsbegründung in eine Mittelstellung zu rücken, weil sie das Zen­ trum all dieser Ziele darstellt. - Ebenso eng wie die Aufgaben hängen auch die entsprechenden Abschnitte der Kritik der reinen Vernunft zusammen. Die Ver­ bindung von transzendentaler Ästhetik und Logik zu einem anschauungsbezoge­ nen Denken, die transzendentale Deduktion sowie die transzendentale Dialektik sind ebenso zentral für das Kamische Vernunftprogramm wie die durch sie je­ weils erreichten Begründungen. Auch bei diesen Abschnitten bestätigt sich wie27 1 Auf die Stellung der Ideen sowie ihre Relevanz für den praktischen Vernunftgebrauch verweist M. Gueroult in "Vom Kanon der 'Kritik der reinen Vernunft' zur 'Kritik der prakti­ schen Vernunft'". In: Kant-Studien 54, 1 963: S. 433-436. - Wie A. Hurter in "Die Span­ nung zwischen theoretischer und praktischer Vernunft. Schellings späte Anknüpfung an Kant". In: Kant-Studien 86, 1 995: S. 436, 439 und S. 444 gezeigt hat, knüpft auch Schelling vornehmlich in seiner Spätphilosophie an die Kantische Vernunftkritik mit ihrer Trennung zwischen theoretischer und praktischer Vernunft an, wobei Hurter den Weg von Kant zur Spätphilosophie Schellings als Vergeschichdichung des Vernunftbegriffs begreift. {Interes­ santerweise kann hier aber ebenso auf einen Einfluß der Schellingschen Naturphilosophie auf das Spärwerk Kants im Opus postumum hingewiesen werden, so daß von einer Wechsel­ wirkung zwischen diesen beiden idealistischen Philosophen gesprochen werden kann. [Vgl. E Hemann. "Immanuel Kants philosophisches Vermächtnis. Ein Gedenkblatt zum hundert­ jährigen Todestag des Philosophen". In: Kant-Studien 9, 1 904: S. 1 5 5.])

Die drei Wege in eine transzendentale Philosophie bei Kant

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der die Zentralstellung des Mittelteils, der Deduktion, fü r die gesamte Vernunft­ kritik. Sie bildet den Dreh- und Angelpunkt aller Vernunfterkenntnisse, indem in ihr, ausgehend von der transzendentalen Subjektivität, eine allgültige Wahr­ heitstheorie und -begründung gegeben wird. So wie die Begründung von Wahr­ heit das oberste inhaltliche Ziel der Transzendentalphilosophie darstellt, so stellt die alle Wahrheitsfunktionen enthaltende transzendentale Deduktion den ober­ sten formalen Punkt des Systems der Transzendentalphilosophie dar, weshalb Wahrheitslehre und Philosophie zu identifizieren sind. Die Zentralstellung des zweiten Gliedes fällt außerdem bei der Form des Sy­ stems insgesamt auf, obzwar dort auch noch eine parallele aufsteigende Ord­ nung existiert: Der Verstand als mittleres der drei Systemvermögen steht sowohl in enger Beziehung zur Sinnlichkeit, mit der zusammen er zur wahren Erkennt­ nis führt, als auch zur Vernunft, mit der er auf rein begrifflicher Ebene unter ge­ wissen Umständen zu den dialektischen Scheinerkenntnissen führt. Dennoch leitet auch eine Ordnungsreihe von der Sinnlichkeit über den Verstand zur Ver­ nunft, die die knappste Zusammenfassung aller begrifflich-anschaulichen Er­ kenntnis zu geben vermag, indem sie Prinzipien aufstellt. Welcher Ordnung jeweils der Vorzug gegeben wird, hängt davon ab, welches Verständnis der Rolle der transzendentalen Deduktion im einzelnen dominiert. Wird das Ziel der Wahrheitsbegründung nur als eines von drei gleichrangigen Zielen angesehen, dann wird auch die Deduktion als Wahrheit begründender Teil der Transzenden­ talphilosophie nur als ein, obgleich wichtiger Schritt innerhalb des transzenden­ talen Systems begriffen, so daß die aufsteigende Ordnung einen gewissen Vorzug erfährt. Wird allerdings die Bedeutung der Wahrheitslehre höher eingestuft, nämlich so, daß sie und die Philosophie nahezu identisch sind, dann wird auch der wahrheitstheoretische Teil der ersten Kritik, die transzendentale Deduktion, in seiner Bedeutung erhöht, so daß diejenige Ordnung mit dem Verstand als Zentralvermögen bevorzugt wird, von dem Sinnlichkeit und Vernunft abhängen. Beide Ordnungen widersprechen einander nicht, sondern bedeuten nur je unter­ schiedliche Blickwinkel auf denselben Sachverhalt, die je nach Akzentuierung verschoben werden können. Dieses sich ergänzende Verhältnis wird schon da­ durch sichtbar, daß die Ziele bei beiden Ordnungen dieselben sind, obwohl ih­ nen unterschiedliche Gewichtungen zukommen. Mit diesen drei Zielen und den entsprechenden Ergebnissen findet das System der Transzendentalphilosophie nicht nur formal - seinen Abschluß. Die Begründungen der transzendentalen Logik als Wissenschaft, der Wahr­ heit und der Grenzen des Wissens stehen somit auch zu Recht am Ende des drit­ ten, des 'transzendentalen' Weges in die Transzendentalphänomenologie - und das nicht nur wegen ihrer Bezugnahmen auf und Beziehungen zu den einzelnen Teilen der Kritik der reinen Vernunft im ganzen, sondern auch wegen ihrer das

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Wissen insgesamt ordnenden Funktion sowie wegen des in ihnen schon ange­ deuteten Übergangs in einen neuen Bereich der Philosophie, den des Prakti­ schen nämlich, der das Gebiet der Transzendentalphilosophie über die rein er­ kenntnistheoretische Ebene erweitert und auch die Aufgaben der praktischen Philosophie und der teleologischen Urteilskraft, wie sie in den beiden anderen Kritiken Kants behandelt werden, dem Gesamtsystem der Philosophie einglie­ dert. Dem Abschluß des 'transzendentalen' Weges sei noch eine kurze Reflexion auf seine Methodik beigegeben: So ist der dritte Weg in die transzendentale Philoso­ phie in seiner Methodik der Aufstellung der Kategorientafel verwandt, weil auch er - wie alles Denken - aus ihr hervorgeht. Im Vergleich mit den beiden anderen Wegen ist er der ursprünglichste Weg, durch den alles andere erst begründbar wird, da er direkt und für jedes philosophische Wissen grundlegend ist. Er ist hingegen auch ein abgeleiteter Weg, weil er erst dann als Kernbereich der Philo­ sophie verstanden werden kann, nachdem er als auf den beiden anderen Wegen aufbauend erkannt wurde. Wird der 'transzendentale' Weg ohne die Vorberei­ tung durch die beiden anderen Wege beschritten, so besteht die Gefahr der Un­ verständlichkeit, obwohl die anderen Wege ohne ihn gar nicht begründbar wä­ ren. Auf diese Weise muß zumindest ein Wechselverhältnis zwischen den beiden ersten und dem dritten Weg angenommen werden, was der bei der Frage nach der Gleichursprünglichkeit der Kategorien anzutreffenden Ordnung in gewisser Hinsicht entspricht. Das Wechselverhältnis kommt der Kategorienanordnung bedeutungsmäßig nicht gleich; denn die dritte Kategorie ist aus einer Kombina­ tion aus den beiden anderen zu gewinnen, während der dritte Weg erst eine Ver­ bindung der beiden anderen Wege ermöglicht und sinnvoll macht. Dennoch entspricht dieses Verhältnis der Aufeinanderfolge der Kategorien, indem der 'transzendentale' Weg den 'natürlich-logischen' und den 'psychologiekritischen' Weg in sich befaßt und damit eine übergeordnete Stellung einnimmt. Dadurch ist er sowohl ursprünglicher als auch abgeleiteter als die beiden anderen Wege. Schon deshalb ist er dem Anfänger in der Transzendentalphilosophie schwerer zu vermitteln als die ersten beiden Wege, wenn er auch dem Fortgeschrittenen (und zwar fortgeschritten aufgrund einer Kenntnis und eines Durchschrittenha­ bens der beiden vorhergehenden Wege) einen direkten Zugang zu den eigendich philosophisch relevanten Problembereichen eröffnet. So wie die drei Wege in die Transzendentalphilosophie in einer besonderen Beziehung zueinander stehen, so zeitigen auch die drei ihnen jeweils zuzuord­ nenden Resultate ein weiteres Begründungsergebnis. Denn indem der 'natürlich­ logische' Weg die Begründung der Anthropologie als Wissenschaft leistet, der 'psychologiekritische' Weg eine negative, nicht-dogmatische Metaphysik als Wis­ senschaft grundlegt sowie dadurch, daß dem 'transzendentalen' Weg die Begrün-

Die drei Wege in eine transzendentale Philosophie bei Kant

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dung der transzendentalen Logik als Wissenschaft, der Wahrheit und der Gren­ zen des Wissens gelingt, wird das diesen Wegen gemeinsame Ziel erreicht, die Philosophie als Wissenschaft zu begründen und gegenüber falschen Ansprüchen der dogmatischen Metaphysik zu etablieren. Daran, daß dieses höherstufige Ziel der Begründung der wissenschaftlichen Philosophie erst aus einer Kombination der drei Wege erreicht werden kann, zeigt sich, daß diese Wege nicht zu trennen sind, sondern nur reflexiv und der leichteren Verständlichkeit wegen aufgespalten werden können. Jeder der drei Wege bleibt einzeln, ohne die beiden anderen unvollständig, weil keiner allein dazu imstande ist, die Philosophie als Wissenschaft und das System der Tran­ szendentalphilosophie zu begründen. Dem ersten Weg fehlt dazu die detaillierte Ausarbeitung (der Form) des Systems der Transzendentalphilosophie, wie erst der dritte Weg sie bietet; dem zweiten Weg fehlt die Begründung der Metaphy­ sik als einer positiven apriorischen Wissenschaft, wie auch erst der 'transzenden­ tale' Weg sie bereitstellt; und dem dritten Weg fehlt dazu der allgemeinverständ­ liche Ansatz, wie er durch den 'natürlichen' und den 'psychologiekritischen' Weg eröffnet wird. Obwohl die drei Wege jeweils für sich beschritten werden können und obwohl jeder einzelne Weg ein bedeutsames Ergebnis liefert und dem Ge­ samtziel förderlich ist, erwächst doch erst aus einer Verbindung der drei Einzel­ wege und ihrer Begründungsresultate dieses Gesamtziel in Gestalt der Begrün­ dung der Philosophie als Wissenschaft. Deshalb kann gesagt werden: Das Ziel der drei Wege ist eines, doch damit es erreicht werden kann, bedarf es verschiedener Zugangsweisen, die alle für sich unterschiedliche Teilergebnisse liefern, die erst dadurch, daß sie vereint werden, zur Begründung der gesamten Philosophie führen können. Um Bedeutung und Gehalt dieser Unterergebnisse zu präsentieren, wurden die drei Wege einzeln be­ schritten und in ihrer reflexiven Trennung ausgeführt. Um darüber hinaus das diesen Wegen übergeordnete und sie erst rechtfertigende Ziel einer Begründung der wissenschaftlichen Philosophie zu erreichen, müssen sie in ihren Ergebnissen wieder zusammengefügt und als Einheit betrachtet werden.

I 08

Egologische Grundstrukturen in der Transzendentalphilosophie Kants Il

Die drei Formen des Ich bei Kant A. Das 'natürliche' Ich

Vorbemerkung Nachdem im vorhergehenden die drei Wege Kants in die Transzendentalphiloso­ phie mitsamt den ihnen eigenen Zielen und Ergebnissen sowie ihrem gemeinsa­ men Begründungswerk der Etablierung der Philosophie als strenger Wissen­ schaft dargestellt wurden, soll nun der Zusammenhang zwischen diesen Wegen und der Subjektivität, die eine Schlüsselstellung innerhalb der kritischen Philo­ sophie Kants einnimmt, analysiert werden. Denn es wird sich zeigen, daß jedem dieser Wege eine eigene Form des Ich und darüber hinaus noch eine spezifische Ausprägung der transzendentalen Subjektivität korrespondiert, wobei letztere zwar den Formen des Ich in ihrer Behandlung nachgeordnet ist, ihnen aber be­ gründungsmäßig vorausgeht.

I.

Die Charakteristik des 'n atürlichen' Ich

Das 'natürliche' Ich, dessen Bezeichnung sich bei Kant - wie schon die Namen­ gebung der drei Wege - so nicht findet, die aber den aufzuzeigenden Zusam­ menhängen gemäß so gewählt werden soll, ist auf dreifache Weise bestimmbar: Es ist das Ich des gesunden Menschenverstandes; es ist das durch Raum und Zeit bestimmte Ich; es ist das durch Erfahrung bestimmte Ich. Wie bei der Untersu­ chung des 'natürlich-logischen' Weges deutlich geworden ist, bedarf der gesunde Menschenverstand eines ausführenden Organs, das zum einen die bestätigende Aufgabe des Alltagsverstandes vollzieht, nachdem es zuvor durch einen natürli­ chen Hang zu philosophischen Grundfragen getrieben wurde, und das zum an­ deren durch das Unzureichende des gesunden Menschenverstandes in den Be­ reich der Wissenschaften getrieben wird. Das 'natürliche' Ich ist deshalb als sol­ ches zu bezeichnen, weil es die Aufgaben der natürlichen Vernunft vollzieht und - mit einer mehr oder weniger gut ausgebildeten Alltagsklugheit ausgestattet ­ Geltungsfragen stellt und Begründungsansprüche erhebt, die von der transzen­ dentalen Philosophie zwar zurückgewiesen werden müssen, die aber dennoch ei­ nen ersten Schritt hin zur wahren Metaphysik darstellen. Das 'natürliche' Ich ist das Vollzugs-Ich der alltäglich-natürlichen Einstellung; es ist dabei auch das Ich, das Fragen, die über seinen Bereich hinausweisen, stellt und so in die Bahnen der sicheren Wissenschaften gelangt, deren Gebiete es zwar behandeln, aber nicht letztgültig begründen kann; auf solche Weise gehört das 'natürliche' Ich

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einmal der Sphäre des gesunden Menschenverstandes an. Das 'natürliche' Ich kann aber auch über diese Sphäre hinausgehen und sich dem wissenschaftlichen Bereich zuwenden, der einerseits Annahmen des gesunden Menschenverstandes bestätigen, der aber andererseits durch seine Methodik die Metaphysik als Naturanlage dahingehend fördern kann, daß die Notwendigkeit einer rein phi­ losophischen Einstellung zutage tritt. Als im Bereich des gesunden Menschenverstandes aufgehendes Ich ist das 'na­ türliche' Ich durch Raum und Zeit bestimmt, da beide die ihm begegnenden Alltags- und Untersuchungsgegenstände erst ermöglichen. So haben die von Kant in der transzendentalen Ästhetik gemachten Aussagen über die beiden An­ schauungsformen für das 'natürliche' Ich insofern Bedeutung, als sie es sind, die Handeln und Umfeld desselben kennzeichnen. Doch die Zeit als Anschauungs­ form und als Form des inneren Sinnes1 kennzeichnet das 'natürliche' Ich auf doppelte Weise: Alle von ihm zu ordnenden Gegenständlichkeiten und Erlebnis­ se treten ihm in der Form der Zeit entgegen. Zugleich kann es nur um die zeitli­ che Bestimmtheit der Außenwelt wissen und die Erfahrungsgegenstände in ihr kennenlernen, wenn es auch über einen Punkt verfügt, von dem ausgehend sol­ che Erfahrungserkenntnis vereint werden kann; dieser Punkt ist das Wissen um sich selbst in seiner durch den inneren Sinn bestimmten Ordnungsfi.mktion. 2 In enger Beziehung hierzu stehen Kants Ausführungen zur Widerlegung des Idealismus in der Kritik der reinen Vernunft. Denn sie führen zu einem auf dem Selbstbewußtsein gründenden Wahrheitszirkel, der Wirklichkeit zugänglich macht. In der Widerlegung des Idealismus ist zu lesen: "Das bloße, aber empi­ risch bestimmte, Bewußtsein meines eigenen Daseins beweist das Dasein der Gegenstände im Raum außer mir. "3 Dafür wird folgender Beweis angeführt: Selbstwahrnehmung setzt etwas Beharrliches voraus, das nur außerhalb des Ich sein kann. Alles Dasein in der Zeit ist nur durch die Existenz wirklicher äußerer Dinge möglich. Also ist das Bewußtsein meines eigenen Daseins ein unmittelba­ res Bewußtsein des Daseins anderer Dinge außer dem Ich.4 Das bedeutet, daß Kant bei seiner Widerlegung des Idealismus den Raumbeweis, d. h. den Beweis der Wirklichkeit der raumzeitlichen Gegenstände und damit der Wirklichkeit der Außenwelt, aus dem Selbstbewußtsein ableitet. In der Metaphysik wird hin­ gegen aus Raum-Zeit-Verhältnissen auf das tatsächliche Vorhandensein des eige­ nen, empirischen Selbstbewußtseins geschlossen. Das empirische Selbstbewußt1 Zum Begriff des inneren Sinnes vgl. u. a. : D. Sturma. Kant über Selbstbewußtsein, a.a.O., S. 79-82. 2 Vgl. Kant. Metaphysik. Akademie-Ausgabe, Band XVIII: S. 680 (Reflexion 6354) und S. 3 1 3 (Reflexion 5654). 3 Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 275. 4 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 275-276.

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sein des 'natürlichen' Ich aber bietet den Ausgangspunkt, um zum transzenden­ talen Selbstbewußtsein der Apperzeption zu gelangen, das in seiner Begrün­ dungsfunktion alle raumzeitliche Erkenntnis ermöglicht. Daß es derartige Er­ kenntnis geben kann, verdankt sich äußeren Gegenständen, die vom 'natürli­ chen' Ich erfahren werden (können) und deren Wirklichkeit sich in dieser Erfah­ rung manifestiert. In diesem Kreisgeschehen zwischen Selbstbewußtsein und Raum-Zeit-Beweisen gründet das Ich nicht nur, sondern es ist zugleich eines sei­ ner gründenden Glieder. Die transzendentale Apperzeption, die reine Zeit mit dem reinen Raum und die konkreten raumzeitlichen Gegenstände stehen also mit der empirischen Apperzeption, die als innerer Sinn Raum und Zeit denkt, in einer Wechselbeziehung. Die empirische Apperzeption denkt als Selbstan­ schauung des Gemüts die Gegenstände in Raum und Zeit sowie sich selbst, d. h. das 'natürliche' Ich in Raum und Zeit. - Daß diese Zusammenhänge auch dem 'natürlichen' Ich selbst einleuchten können, wenn es sie auch weder als richtig festzulegen vermag noch ohne das Einwirken der transzendentalen Apperzeption in ihnen überhaupt befangen sein könnte, darauf verweist Kant selbst. 5 Das 'natürliche' Ich des gesunden Menschenverstandes ist damit in seinem Beziehungsgeflecht mit Raum und Zeit sichtbar geworden; zugleich sind seine Verknüpfungen mit der Erfahrung schon wiederholt in den Blick geraten. Dabei präsentiert sich der Erfahrungsbereich mit seinen Gliedern der äußeren und in­ neren Erfahrung, die sich gegenseitig beweisen. Die äußere beinhaltet vor allem die Erfahrung der empirischen Körperlehre unter der Form des Raumes, denn ohne den Raum als Form der Anschauung kann über die äußeren, dem 'natürli­ chen' Ich begegnenden Objekte nichts synthetisch a priori ausgemacht werden.6 Dies wird insbesondere an Paralogismen und Antinomien sichtbar, bei denen versucht wird, ohne Rückgriff auf Erfahrung Aussagen zu machen. So kann von der Seele beispielsweise nicht behauptet werden, sie sei einfach, weil eine derar­ tige Behauptung in keiner Beziehung zu Gegenständen der Erfahrung steht?, so daß die Wahrheit einer solchen Annahme immer unentscheidbar bleibt. - Ähn­ liches zeigt sich bei der Betrachtung etwa der zweiten Antinomie: Das absolut Einfache kann nie aus einer äußeren oder inneren Erfahrung dargetan werden8; allerdings kann auch die immer weiter fortschreitende Aufspaltung in weitere Teile nicht mehr als der Erfahrung zugänglich behauptet werden9, so daß ein of­ fensichtlicher Widerspruch entsteht, der nur durch die Trennung von Empiri5 Vgl. Kant. Metaphysik. Akademie-Ausgabe, Band XVIII: S. 3 1 3 (Reflexion 5654). 6 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 48-49/B 66. - Auch hier wird das unbedingte

Zusammengehören von Raum und Zeit unzweifelhaft betont. 7 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 360. s Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 437/B 465. 9 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 436/B 464.

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schem und Transzendentalem gelöst werden kann. Schon an dieser zweiten Anti­ nomie wird die Bezogenheit aller Erkenntnis auf die Anschauungsformen ebenso deutlich wie die Möglichkeit der Schwerpunktsetzung, die sich entweder auf den Verstandes- oder den Sinnlichkeitsbereich bezieht. So erweist sich bei der Thesis der zweiten Antinomie ein enger Zusammenhang mit der Synthesisleistung des Verstandes, was eine Bindung an die transzendentale Logik voraussetzt, aber auf­ grund ihrer Einseitigkeit zu den Fehlern einer rationalistisch geprägten Einstel­ lung führt. Hingegen zeigt sich an der Antithesis derselben Antinomie eine Be­ zugnahme auf die beiden Anschauungsformen von Raum und Zeit, so daß die Anlehnung an die transzendentale Ästhetik sichtbar wird, wobei allerdings auch in diesem Fall die Einseitigkeit der Darstellungsweise zu Fehlern führen muß im Gegensatz zur Thesis aber zu denen eines übersteigerten Empirismus. Von ebenso großer Bedeutung für das 'natürliche' Ich erweist sich der Bereich der inneren Erfahrung, weil sich das Ich seines eigenen Daseins und der Be­ stimmbarkeit desselben nur in der Zeit bewußt werden und so ein empirisches Bewußtsein seines eigenen Daseins erlangen kann. Dazu sind Äußeres und inne­ rer Sinn notwendig verknüpft. 10 Dabei gilt für das Ich - wie für alle Gegen­ stände -, daß es sich selbst nur als Erscheinung, niemals als Ding an sich wahr­ nehmen kann. 1 1 Selbsterkenntnis ist folglich nur in bezug auf das Ich als Er­ scheinung möglich, in der denkendes und gedachtes, anschauendes und ange­ schautes Ich ebenso getrennt sind wie bei anderen Objekten Materie und Form. Das Ich kann sich zwar selbst erkennen, aber nur mittels der Erkenntnisweise, die ihm auch bei allen anderen raumzeitlichen Gegenständen zur Verfügung steht. So setzt die Selbsterkenntnis die Affizierung des Subjekts voraus. Da aber jede Affektion einen von der Affektion unterschiedenen Gegenstand erfordert, kann das Ich sich selbst nur als Erscheinung, also als etwas anderes gegeben sein. Da weiterhin jede Erkenntnis Anschauung voraussetzt, muß das eigene Ich der Form des inneren Sinnes gemäß bestimmt werden. Selbstanschauung ist folglich nur in der Zeit möglich. Als Mangel könnte allerdings die fehlende Thematisierung des Leibbewußt­ seins in der Kritik der reinen Vernunft angesehen werden, weil dem Leib dann, wenn das ('natürliche') Ich sich als raumzeitlich bestimmte Erscheinung erfahren kann, besondere Bedeutung zukommt, da er als materialer Träger dieser Raum­ und Zeitbestimmungen anzusehen ist. Kant behebt diesen Mangel erst durch •

IO Vgl. Kam. Kritik der reinen Vernunft, B XL. - Zur Selbsterfahrung des Ich als eines innerzeitigen muß unbedingt auch Kants Metaphysik. Akademie-Ausgabe, Band XVIII: S. 306 und S. 3 1 2-3 1 6 herangezogen werden. II Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 277/B 333 und B 1 5 5-1 56. - Zum Begriff des Dinges an sich vgl. G. Prauss. Kant und das Problem der Dinge an sich. Bonn, 1 977: be­ sonders S. 23 und S. 37.

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Reflexionen über den Zusammenhang von Leibbewußtsein und Erfahrung im Opus postumum12, wo eine Deduktion des Leibes als Bedingung der Möglich­ keit von Erfahrung durchgeführt wird. 13 Dennoch kann schon in der ersten Kri­ tik darauf geschlossen werden, daß das 'natürliche' Ich, um von sich selbst wis­ sen zu können, eines materialen Körpers bedarf, weil die Dichotomie von Mate­ rie (Körper) und Form (Raum und Zeit als Formen der Anschauung und der äußeren und inneren Erfahrung) erst die Erkenntnis von Erscheinungen ermög­ licht. Wenn also das Ich sich (nur) als Erscheinung erkennen können soll, so muß dieser Erkenntnis ein materialer Anteil eignen, der in Form des menschli­ chen Körpers vorgestellt werden muß. Durch die Veränderungen dieses Erkennt­ nisbestandteils, die sich sowohl synchron als auch diachron für den Träger dieses Körpers bemerkbar machen, wird die Fassung des eigenen Ich als (leibliche) Er­ scheinung noch einmal betont. Der Verbindung von innerer und äußerer Erfahrung mit dem 'natürlichen' Ich ist auch seine Stellung innerhalb des transzendentalen Idealismus zu entneh­ men. Da derselbe die Wirklichkeit der Gegenstände äußerer Anschauung im Raum und die der vom inneren Sinn vorgestellten Veränderungen in der Zeit beweist14, kann auch die Erfahrung des Ich von sich nur in Raum-Zeit-Bezügen gründen. Wenn das Ich - wie beim 'natürlichen' Ich erforderlich - außerhalb seiner formgebenden Denkstruktur, also noch nicht als die alles begründende transzendentale Apperzeption, durch die erst ein Denken der Zeit möglich wird, analysiert werden soll, dann kann dies nur in seiner Eingebundenheit in den Komplex von innerer und äußerer Erfahrung und ihren Verbindungen zu Raum und Zeit geschehen. Daß dabei der Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich großes Gewicht zukommt, wird bei der zu leistenden Einbeziehung der 12 Darauf, daß damit der Mensch zum Angelpunkt des transzendentalphilosophischen Sy­ stems zu werden scheint, verweist H. Knittermeyer in "Von der klassischen zur kritischen Transzendentalphilosophie". In: Kant-Studien 45, 1 9 53/54: S. 1 24. Ohne daß im Opus po­ stumum die kritische Grundhaltung preisgegeben werde, sei es jetzt die Wirklichkeit des menschlichen Existierens, die ihr in der Spannung zwischen Gottes- und Weltidee den Über­ gang zur Erfahrung freigebe [vgl. S. 1 26] . - Die zentrale Stellung des Menschen im Opus postumum wird durch die Beziehung des Subjekts zur Grundfrage der Transzendentalphiloso­ phie nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis deutlich, denn Kant schreibt: "Der Act durch welchen das Subject sich selbst in der Warnehmung afficirt enthält das Prin­ cip der Möglichkeit der Erfahrung. " [Kant. Opus postum um. Akademie-Ausgabe, Band XXII: S. 387. (Kursivierung ergänzt von R. P.)] Damit wird der Mensch letzdich zur notwendigen Bedingung von Erkenntnis überhaupt. - Zum Opus postumum im allgemeinen vgl. E. Adickes. Kants Opus postumum. Berlin, 1 920. 1 3 Vgl. K. Hübner. "Leib und Erfahrung in Kanrs 'Opus postumum'". In: Zeitschrift for philosophische Forschung 7, 1 953: S. 205 und F. Kaulbach. "Leibbewußtsein und Welterfah­ rung beim frühen und späten Kant". In: Kant-Studien 54, 1 963: S. 487-489. 1 4 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 490-492/B 5 1 8-520.

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Freiheitsproblematik noch deutlicher werden. 1 5 Schon hier wurde sichtbar, daß innere und äußere Erfahrung untrennbar zusammenhängen und sich sogar ge­ genseitig beweisen können. Daß sich dieses Wechselverhältnis bis in den Bereich der transzendentalen Apperzeption erstreckt und nicht auf das 'natürliche' Ich beschränkt bleibt, erweist spätestens die Paralogismusuntersuchung, die bestä­ tigt, daß diese Apperzeption der Grund der Möglichkeit der Kategorien ist, die ihrerseits nichts anderes vorstellen als die Synthesis des Mannigfaltigen der An­ schauung, sofern dasselbe in der Apperzeption Einheit hat. 16 Die eigene Bestimmung des 'natürlichen' Ich läßt sich auch an einer Betrach­ tung der für es charakteristischen Urteilsform, den Wahrnehmungsurteilen, able­ sen. Dabei ist eine Analyse dieser Urteilsform ohne Miteinbeziehung der Erfah­ rungsurteile nicht sinnvoll. - "Empirische Urteile, sofern sie objektive Gültigkeit haben, sind Erfahrungsurteile; die aber, so nur subjektiv gültig sind, nenne ich bloße Wahrnehmungsurteile."17 In unserem Zusammenhang sollen nur zwei An­ merkungen zu diesen Urteilsweisen gemacht werden, um dadurch einen umfas­ senderen Bezugsrahmen herzustellen. 18 - Wahrnehmungsurteile weisen einen subjektiv beeinflußten Aussagegehalt auf, der Gültigkeit nur für das Ich hat, das seine Empfindungen in dieser Weise ausdrückt. 1 9 Derartige Urteile können für sich nie intersubjektive Gültigkeit beanspruchen, da sie auf persönlichen Ein­ drücken beruhen, die zwar in Satzform vermittelt und über die von anderen Subjekten wiederum objektive Urteile gefällt werden können20, die aber niemals für alle Subjekte in Geltung sein können, so daß sie nur Aussagen über den Aus­ sagenden, über das Subjekt selbst ausdrücken. Sie stellen eine Art von Urteilen dar, die jedes mit gesundem Menschenverstand begabte Subjekt fällen kann, die also dem Wesen des 'natürlichen' Ich besonders nahesteht, weil dieses Ich bei all seinen (denkerischen) Aktivitäten in hohem Maße von sich selbst ausgeht. Des­ halb sind Wahrnehmungsurteile auf einen bestimmten bestehenden Zustand eingeschränkt.21 Sie erfolgen also in der subjektiven, auf das je urteilende Ich be­ wgenen Zeit. Zu einiger Verwirrung gaben folgende Ausführungen Kants Anlaß: Die Wahrnehmungsurteile "bedürfen keines reinen Vernunftbegriffs, sondern nur der logischen Verknüpfung der Wahrnehmungen in einem denkenden Subjekt. 15 16 17 18

Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 672/B 700. Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 40 1 . Kant. Prolegomena. Akademie-Ausgabe, Band IV: S . 298 und vgl. weiter: S . 297-3 1 2 . Vgl. G. Prauss. Erscheinung bei Kant. Ein Problem der 'Kritik der reinen Vernunft'. Berlin, 1 97 1 : bes. S. 1 1 - 1 4 und S. 3 1 2-320. - J. Freudiger. "Zum Problem der Wahrneh­ mungsurteile in Kants theoretischer Philosophie". In: Kant-Studien 82, 1 99 1 : S. 4 1 4--435. 1 9 Vgl. Kant. Prolegomena. Akademie-Ausgabe, Band IV: S. 299. 2 0 Vgl. G. Prauss. Erscheinung bei Kant, a.a.O., S. 1 69-170. 21 Vgl. W. Becker. Selbstbewußtsein und Erfahrung, a.a.O., S. 1 89-1 90.

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Die ersteren [d. h. die Erfahrungsurteile] aber erfordern jederzeit über die Vor­ stellungen der sinnlichen Anschauung hinaus noch besondere, im Verstande ur­ sprünglich erzeugte Begriffe, welche es eben machen, daß das Erfahrungsurteil objektiv gültig ist"22. Dies wurde zuweilen so ausgelegt, als seien die Wahrneh­ mungsurteile eine Klasse empirischer Urteile ohne Kategorien.23 Trotzdem gilt: Wohl bedürfen Wahrnehmungsurteile keines reinen Verstandesbegriffs, da sie sich immer im Anschauungsbereich bewegen und so auf Sinnlichkeit rekurrie­ ren. Wahrnehmungsurteile bedürfen der angewandten Kategorien, ohne diese jemals in Reinheit als bloße Denkformen erkennen zu können. Weil dem 'natür­ lichen' Ich der philosophische Bereich in seiner transzendentalen Ausprägung verschlossen bleibt, kann es auch keine Erkenntnis über die reinen Anschauungs­ und Denkformen erlangen, wie sie in der transzendentalen Ästhetik und Logik vorgestellt werden. Das bedeutet nicht, daß dieses Ich auch nicht denkt und nicht raumzeitlich anschaut. Der gesunde Menschenverstand dieses Ich zeichnet sich dadurch aus, daß sein Denken unzureichend bleibt; einmal in den wissen­ schaftlichen Bereich vorgedrungen, bewegt sich das 'natürliche' Ich (beispiels­ weise mit Experimenten) im Anschauungsbereich. Indem dem 'natürlichen' Ich mit der Logik ein - ebenfalls auf Kategorien angewiesenes - Instrumentarium zur denkerischen Ordnung seiner Wirklichkeit zur Verfügung steht, kann es Wahrnehmungsurteile fallen, die den logischen Gesetzen genügen; denn auch dieses Ich bemerkt logische Widersprüche, zum Beispiel gegen das Kausalitätsge­ setz oder den Satz der Identität. So würde es, durch Tradition, Übung und Ein­ sicht dazu gebracht, niemals zugleich kontradiktorisch entgegengesetzte Aussa­ gen für wahr halten. Deshalb rekurrieren auch Wahrnehmungsurteile versteckt auf Verstandesbegriffe24 und wenden sie, ohne es zu wissen, an. Das 'natürliche' Ich kann die Kategorien zwar weder ableiten noch begründen, doch es kann Ur­ teile fällen, in denen sie wie selbstverständlich angewandt werden. Im Gegensatz zu den Wahrnehmungsurteilen können die objektiven Erfah­ rungsurteile wegen ihres intersubjektiv vermittelbaren Aussagegehalts für sich Unabhängigkeit von den einzelnen Zuständen eines urteilenden Subjekts bean­ spruchen25; denn indem im Erfahrungsurteil unmittelbar gegebene Erscheinun­ gen gedeutet werden, wird die subjektiv-private Gemütsbestimmung in die intersubjektive Objektivität hinein überschritten.26 Da die Erfahrungsurteile in22 Kant. Prolegomena. Akademie-Ausgabe, Band IV: S. 298. 23 Vgl. H. Jansohn. Kants Lehre von der Subjektivität, a.a.O., S. 1 37. Jansohn lehnt in

Folge dieses Mißverständnisses die gesamte Unterscheidung von Wahrnehmungs- und Erfah­ rungsurteilen bei Kant als unhaltbar ab. 24 Vgl. J. Freudiger. "Zum Problem der Wahrnehmungsurteile", a.a.O., S. 42 1 . 2 5 Vgl. W Becker. Selbstbewußtsein und Erfahrung, a.a.O., S . 1 88-1 89. 26 Vgl. G. Prauss. Erscheinung bei Kant, a.a.O., S. 1 69.

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teesubjektiv gültige Objektivität für sich behaupten können, ist für sie eine je­ dermann erkennbare Notwendigkeit ihrer Vorstellungsverbindungen zu konsta­ tieren.27 Erfahrungsurteile beziehen sich also (im Gegensatz zu Wahrnehmungs­ urteilen) auf die objektive Zeit. Weil sie jedoch, um als wahre Aussagen gelten zu können28, auf Erfahrung und Anschauung zurückgehen müssen, d. h. weil sie sich zwar bewußt der Kategorien bedienen können, diese aber nur in ihrer sche­ matisierten, also verzeitlichten Form verwenden, müssen die Erfahrungsurteile gleich den Wahrnehmungsurteilen als kategorial unreine Urteile gelten.29 Indem das Erfahrungsurteil der objektiven Zeit angehört, erstreckt es sich auf alle Zeitphasen, d. h. es gilt für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Durch seinen Zukunftsbezug unterscheidet sich das Erfahrungs- vom Wahrnehmungs­ urteil, das immer an einen Jetzt-Zustand gebunden ist.30 An dieser über alle Zeitstufen hinweg bestehenden Gültigkeit wird auch die Verbundenheit des Er­ fahrungsurteils mit der wissenschaftlichen Sphäre und mit dem zu dieser aufge­ stiegenen 'natürlichen' Ich deutlich. So wie wissenschaftliche Experimente Ein­ sichten abstützen können, so daß sie für folgende Zeiten ihre Richtigkeit be­ wahren, so erhält sich auch der Wahrheitsgehalt der aus dieser wissenschaftlichen Tätigkeit hervorgehenden Erfahrungsurteile. Fällt das 'natürliche' Ich im Bereich des Alltagsverstandes private, subjektiv-augenblickshaft gültige Wahrnehmungs­ urteile, so geht es im wissenschaftlichen Bereich dazu über, intersubjektiv-allzei­ tige Erfahrungsurteile zu erarbeiten. Beide Stufen bleiben jedoch auf eine logi­ sche Bestätigung angewiesen, da in keinem Fall Verstöße gegen logische Regeln hingenommen werden (können) . Auf diese Weise kann der Dreischritt des ersten Weges als mit den Urteilsweisen des 'natürlichen' Ich in Verbindung stehend nachgewiesen werden. Wahrnehmungsurteile erwachsen aus der alltäglichen Einstellung des gesunden Menschenverstandes; Erfahrungsurteile sind Ergeb­ nisse weiterreichender Formalisierungen, so daß sie dem schon zur Wissenschaft tendierenden gesunden Menschenverstand angehören, auch wenn sich weder alle 2 7 Vgl. H. Hoppe. Synthesis bei Kant, a.a.O., S. 37. 28 Sowohl Erfahrungs- als auch Wahrnehmungsurteile beruhen auf einem Wahrheitsgehalt,

der bei ersteren positiv und negativ bestimmbar ist, so daß es auch falsche Erfahrungsurteile geben kann, der aber bei den Wahrnehmungsurteilen nur positiv sein kann, weil es falsche rein subjektive Urteile nicht geben kann. Die 'Falschheit' eines Wahrnehmungsurteils kann nur vom Urteilenden selbst, aber nur nach einem zeitlichen Abstand erkannt werden. 2 9 Vgl. noch weiterreichend: K. Cramer. Nicht-reine synthetische Urteile a priori. Ein Problem der Transzendentalphilosophie Immanuel Kants. Heidelberg, 1 98 5 : S. 63. Für Cra­ mer sind Erfahrungsurteile in doppelter Hinsicht nicht-reine Urteile: Zum einen besitzen bei­ de in ihnen verbundenen Begriffe den formalen Status empirischer Begriffe; zum anderen ist der Akt der Verbindung des empirisch gegebenen Mannigfaltigen der Anschauungen, die durch diese Begriffe bezeichnet werden, keine reine Synthesis, weil sowohl der Subjekt- als auch der Prädikatterm eines Erfahrungsurteils den Status empirischer Begriffe besitzen. 3 0 Vgl. W. Bröcker. Kant über Metaphysik und Erfahrung, a.a.O., S. 64.

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Wissenschaft in Erfahrungsurteilen ausdrückt noch alle Erfahrungsurteile wis­ senschaftliche Erkenntnisse ausdrücken. Hier sei noch auf zwei sich anschließende Problemfelder verwiesen: Zunächst muß gefragt werden, ob nicht ein falsches Verständnis der Wahrnehmungsurteile für eine falsche Bestimmung der Qualität der Welt verantwortlich ist. Wird nämlich das Wahrnehmungsurteil vom Subjekt fälschlicherweise deshalb als ob­ jektiv angesehen, weil auch in ihm Kategoriengebrauch stattfindet, so muß die­ ses Subjekt zu einer falschen Weltauffassung gelangen, weil subjektive Ansichten von nur eingeschränkter Dauer als objektive Qualitätsbestimmungen begriffen werden. Umgekehrt muß es dadurch zu einer falschen Bestimmung des Subjekts selbst kommen, wenn das Wahrnehmungsurteil vom Subjekt rein formal darauf­ hin betrachtet wird, wie sich die Kategorien in ihm zum urteilenden Ich verhal­ ten, ohne daß dabei der Inhalt des Wahrnehmungsurteils für sich genommen Beachtung fände. Mündet eine solch falsche Bestimmung des Subjekts nicht in die im Paralogismuskapitel dargestellte Problematik, indem aus einer willkürli­ chen Ansammlung von Wahrnehmungsurteilen das 'Ich denke' in seiner Erfah­ rungsunabhängigkeit scheinbar abgeleitet werden kann, woraus die Fehler der rationalen Psychologie resultieren? Denn sowohl ein falscher Vernunftgebrauch, der von aller Erfahrung absieht, als auch eine falsche Erfahrungsanwendung, die die subjektiven Komponenten derselben und d. h. ihre allgemeine Gültigkeit nicht beachtet, müssen zu einer falschen Bestimmung der Seele und damit des Subjekts führen. Sodann stellt sich die Frage nach der Stellung der Erfahrungsurteile im Ur­ teilssystem. Nach Kant sind "alle unsere Urteile [ . . ] zuerst bloße Wahrneh­ mungsurteile"31 , so daß Erfahrungsurteile aus Wahrnehmungsurteilen hervorge­ hen.32 Bestätigt wird dieses Gründungsverhältnis durch die Einbeziehung der Zeitstruktur. Die Zeit ist für Kant in ihrer objektiven Form die objektivierte subjektive Zeit in ihrer reinen Sukzessivität. Wenn also die subjektive der objek­ tiven Zeit zugrunde liegt, dann liegt auch jedem Erfahrungsurteil, als der objek­ tiven Zeit angehörend, ein Wahrnehmungsurteil, als der subjektiven Zeit ange­ hörend, zugrunde. Gleichzeitig nehmen die Erfahrungsurteile eine Mittelstei­ lung zwischen der subjektiv-empirischen Ebene der Wahrnehmungsurteile (z. B.: 'Der Stein ist warm.') und der transzendentalen Ebene der Kategorien (z. B. der Kausalität) ein (was sich im Beispiel so äußert: 'Wenn die Sonne scheint, dann erwärmt sich die Erde und damit auch der Stein.') . Erfahrungsurteile sind also auf Wahrnehmungsurteile sowie transzendental-kategoriale Bestimmungen an­ gewiesen, um überhaupt gefällt werden zu können. Auch hierin dokumentiert .

3 1 Kant. Prolegomena. Akademie-Ausgabe, Band N: S. 298. 3 2 Zum 'Hervorgehen' vgl. G. Prauss. Erscheinung bei Kant, a.a.O., S. 1 45-1 58.

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sich die Abhängigkeit des 'natürlichen' Ich von der Transzendentalphilosophie; denn nicht einmal die dem in den Bereich der Wissenschaften eingetretenen 'na­ türlichen' Ich eigene Urteilsweise der Erfahrungsurteile ist ohne die reflexive Einsicht der kritischen Philosophie in Form (und Inhalt) abgesichert. - Resul­ tiert aber nicht aus einer falschen Bewertung der Wahrnehmungs- und Erfah­ rungsurteile das, was hier verallgemeinernd das Humesche Mißverständnis hinsichtlich der Kategorien genannt werden soll? Werden nämlich die Wahrneh­ mungsurteile als absolute, letzte Urteile genommen, wird der Mittelschritt der Erfahrungsurteile zwischen Wahrnehmungs- und transzendentaler Ebene nicht beachtet oder wird übersehen, daß jedem Erfahrungsurteil als empirischem Ur­ teil immer schon Kategorien vorausgesetzt werden müssen33, so scheint es wohl, als wären die Kategorien aus der persönlichen und deshalb zufälligen Ebene der �ahrnehmungsurteile abgeleitet. Eine solche Kategorienableitung entspräche derjenigen Humes - wenigstens in Kants Augen.34 Wenn die Erfahrungsurteile also nicht als eigenständige Urteilsform erkannt werden, kommt es zur scheinba­ ren Ableitung der Kategorien aus der Erfahrung und eventuell sogar zur Ver­ wechslung von Erscheinung und Ding an sich, indem das eine oder das andere absolut gesetzt wird.

2.

Der Übergang zu den Funktionen des 'n atürlichen' Ich: die Tafel des Nichts

In engem Zusammenhang mit der möglicherweise falschen Bewertung der dem 'natürlichen' Ich eigenen Urteilsweise, insbesondere der Erfahrungsurteile, steht eine weitere Ich und Vernunftkritik betreffende Problematik, die über die reine Analyse des Ich in seiner natürlichen Ausprägung hinausführt und neben einer Behandlung der Freiheitsthematik die Grundlegung der Kosmologie als Wissen­ schaft zum Resultat hat. Gemeint ist die Kamische Untersuchung des Nichts35, die als Umschlagspunkt zwischen den Hauptteilen der Kritik der reinen Ver­ nunft anzusehen ist und damit einen Wendepunkt zwischen der rein immanen33 Vgl. W. Bröcker. Kant über Metaphysik und Erfahrung, a.a.O., S. 5 1 . 34 Hierbei ist insbesondere auf Humes falsche Ableitung des Kausalitätsbegriffs hinzuwei­

sen. Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 760/B 788 und A 764-769/B 792-797. 35 Zur Thematik des Nichts können herangezogen werden: K. Gloy. "Die paradoxale Ver­ fassung des Nichts". In: Kant-Studien 54, 1 983: S. 1 33-1 60. - E. M. Vallenilla. Die Frage nach dem Nichts bei Kant. Analyse des Kantschen Entwurfs und eine neue Problem-Grund­ legung. Pfullingen, 1 974, wo Vallenilla versucht, bei allen vier Nichts-Begriffen eine eigene Form der Zeitlichkeit nachzuweisen. - E. M. Vallenilla. "Das Nichts, das Nihil Negativum, das Ens Extramundanum und das Un-Mögliche in der Problematik der Kritik der reinen Ver­ nunft". In: G. Funke (Hrsg.) . Akten des 4. Internationalen Kant-Kongresses. Teil 1: Kant­ Studien-Sonderhefi Symposien, a.a.O., S. 1 78-1 83.

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ten Erörterung des 'natürlichen' Ich und der ihm eigenen Begründungsbereiche bildet. Während die bisherige Darstellung dieser Ich-Form vorwiegend auf Er­ kenntnisse der transzendentalen Ästhetik und Analytik zurückgreifen konnte, wird die Betrachtung ihrer funktionalen Aspekte sich auch den Gedanken der transzendentalen Dialektik zuzuwenden haben. Die im folgenden sich ergeben­ de Funktion der Nichts-Tafel als Wendepunkt innerhalb der einzelnen Formen des Ich wird sich beim 'psychologischen' und dem 'transzendentalen' Ich bestäti­ gen. Dabei wird je ein anderer Nichts-Begriff im Zentrum stehen, der sich je­ weils als negatives Pendant zum positiven Ich-Begriff erweist. Mit den drei Ich­ Formen wird also auch der volle Begriff des Nichts erschöpft sein, der jeweils über den bloßen Formaspekt in eine Analyse der funktionalen Bedeutung der verschiedenen Ich-Formen hinausgeht. Dem 'natürlichen', durch Raum, Zeit und Erfahrung bestimmten Ich ent­ spricht als negatives Gegenstück der Bereich der leeren, nicht mehr erfahrbaren Anschauungsformen, d. h. die von Kam als "ens imaginarium" bezeichnete dritte Nichts-Form.36 Die Verbindung des dritten Nichts-Begriffs mit dem 'na­ türlichen' Ich ist leicht zu erkennen; so wie dieses raumzeitlich bestimmte Ich in ausgezeichneter Beziehung zu den Anschauungsformen steht, so bezieht sich auch diese Art des Nichts in besonderer Weise auf diese Anschauungsformen und damit auf das 'natürliche' Ich, dessen Bereich es erweitert, indem es seine Aufgaben sichtbar macht. Hierzu muß das Nichts als 'ens imaginarium' zunächst selbst betrachtet und innerhalb seines Horizonts analysiert werden, der deshalb besonders interessant ist, weil durch ihn Grundprobleme der Kamischen Tran­ szendentalphilosophie zur Sprache kommen. Wie alle Nichts-Begriffe steht auch der dritte in besonderer Beziehung zur KategorientafeL indem er der Substanzkategorie entgegengesetzt ist. Er faßt die formalen Bedingungen von Gegenständen als Erscheinungen zusammen, d. h. die reinen Formen von Raum und Zeit, die zwar jeder Gegenstandsanschauung zugrunde liegen (müssen) , die aber selbst keinen eigenen Gegenstand bilden, der für sich angeschaut werden könnte. Die Anschauungsformen selbst können nur indirekt angeschaut werden, wenn sie an einem Gegenstand der Erfahrung auf­ treten. Raum und Zeit ohne materialen Gehalt sind selbst Nichts, obwohl sie al­ les, was erfahrbar ist, bedingen. Raum- und Zeitpunkte ohne Materie sind leer und für sich selbst nicht anschaubar, weil das Vermögen der Sinnlichkeit nicht ansetzen kann. Obwohl der Raum ohne Gegenstände gedacht werden kann37 ebenso wie die Erscheinungen aus der Zeit weggenommen werden können38 -, 3 6 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 29 1 / B 347. 37 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 24/B 38-39. 3 8 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 3 1 /B 46.

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so sind doch Raum und Zeit in dieser Hinsicht nur transzendental ideal, und weil ihnen jede empirische Realität fehlt, nur noch Nichts.39 Das mit dem 'ens imaginarium' hauptsächlich verbundene Problem ist das des Fehlens des Seins.40 Da Kant den reinen Formen, die aller Anschauung, Erfah­ rung und wahren Erkenntnis zugrunde liegen, einen Materieanteil absprechen muß4 1 , spricht er ihnen infolgedessen scheinbar selbstverständlich auch das Sein ab, weil der Seinsbegriff allein nicht zur prädikativen Bestimmung von irgendet­ was dienen kann.42 Dadurch wird ein enger Zusammenhang zwischen Sein und Modalitätskategorien ersichtlich, weil beide auf die Copula eines Urteils bezogen sind; beide liefern keine Aussagen über Gegenstände, sondern nur über Urteile, die die Anwesenheit von Gegenständen weder zwingend voraussetzen noch be­ weisen können. Das Sein als Copula wird sowohl im logischen als auch im tran­ szendentalen Bereich als Relation gefaßt. Bei einer derartigen Zusammenfüh­ rung von Sein und Copula wird deutlich, daß das Sein keine Differenz zwischen Gegenstand und Begriff bedeuten kann.43 Es drückt demnach keine erfahrbare Existenz eines Dinges aus, so daß a priori für die Vernunft notwendige Bestim­ mungen keine a posteriori wirklichen Inhalte von Dingen bedeuten. Indem Kam den reinen Anschauungsformen das Sein abspricht, muß er sie in ihrer Losgelöstheit von aller Erfahrung als Nichts annehmen. Dabei stellt sich die Frage, ob tatsächlich den reinen Formen jedes Sein abzusprechen ist. Wäre es nicht möglich, ein eigenes Sein von Formen und Funktionen (im Denken) anzu­ nehmen, über das allerdings erst dann sinnvoll Aussagen gemacht werden kön­ nen, wenn das Arbeiten dieser Funktionen und das Einbezogensein dieser For­ men in den mittels Synthesisfunktionen sich vollziehenden Erkenntnisprozeß analysiert wird? Denn nur über Strukturen, die sich im Gebrauch befinden, können Aussagen gemacht werden - was aber nicht bedeuten kann, daß es die Vermögen selbst nicht mehr gibt, wenn sie nicht in Tätigkeit befindlich sind. Kann also nicht in Anlehnung an das, was über die Erkenntnisvermögen gilt, 39 Vgl. Kant Kritik der reinen Vernunft, A 24/B 39 und A 3 1 /B 46. 4o Darauf verweist auch N. Hartmann in "Diesseits von Idealismus und Realismus. Ein .

Beitrag zur Scheidung des Geschichtlichen und Übergeschichtlichen in der Kantischen Philo­ sophie". In: Kant-Studien 29, 1 924: S. 1 93-1 94. 4 I Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 260-289/B 3 1 6-346, besonders A 266268/B 322-324. 42 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 598-626. - Die These, daß Sein kein reales Prädikat sei, wird zum Beispiel von J. Hintikka in "Kant on Existence, Predication and the Ontological Argument". In: Dialectica 3 5 , 1 98 1 : S. 1 29 bestritten, wobei Hintikka sich be­ rechtigt fühlt, von Existenz statt von Sein zu sprechen [vgl. S. 1 38-1 39] . Schon diese Vertau­ schung macht Hintikkas Nachweis unhaltbar. Denn nach Kant gilt, daß Seinsaussagen zum Begriff eines Dinges nichts hinzutun [vgl. Kritik der reinen Vernunft, A 598/B 626] , während Existenzaussagen dies sehr wohl tun [vgl. A 599/B 627 (Kants Talerbeispiel)] . 4 3 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 600-60 1 / B 628-629.

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auch den Anschauungs- und Denkformen als den Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt eine eigene Art des Seins zugesprochen werden, das keine Materie besitzt und daher notwendig mit tatsächlichen Anschauungsab­ läufen zu ergänzen ist? - Denn daß es mit dem Sein und den verschiedenen Aus­ prägungen des Seienden komplizierter bewandt ist, als es die nur scheinbar ein­ deutigen Aussagen Kants nahelegen, und daß die Festlegung dieser Begriffe auf eine einzige Bedeutung keineswegs unproblematisch ist, dürfte spätestens seit der Weiterführung der Aristotelischen Seinsthematik durch Brentano und Hei­ degger offensichtlich sein.44 Natürlich werden die Formen von Raum und Zeit nicht dadurch zu einer besonderen Art des Seins, daß sie nur gedacht werden denn dies käme einem Fehlschluß analog dem des ontologischen Gottesbeweises gleich -, aber sie müssen wenigstens im Denken Etwas sein und nicht Nichts, weil sie sonst kaum zu etwas Wirklichem führen könnten. - Außerdem kann die Frage gestellt werden, ob es nicht deshalb notwendig wäre, den Formen und Funktionen eine eigene Seinsart zuzugestehen, weil dann in diesem Sein das Ge­ meinsame aller Formen und Funktionsweisen zusammengefaßt werden könnte. Kann und muß denn der Seinsbegriff ausschließlich auf Materie bezogen wer­ den?45 Aus der Fassung der Anschauungsformen als Nichts ergeben sich zwei weitrei­ chende Folgen: Jede sinnvolle Vorstellung setzt die Formen von Raum und Zeit, Materie sowie einen sich aus dem synthetisierenden Vorgehen der transzendenta­ len Deduktion ergebenden Begriff voraus. Also kann geschlossen werden: ( 1) Die rationale Fassung von reinem Raum und reiner Zeit ist, wie gesehen, der Nichts-Begriff, der aber selbst kein echter, durch Erfahrung zu bestätigender Be­ griff ist, weil ihm keine mögliche Anschauung korrespondieren kann, der also selbst Nichts ist. Daraus ergibt sich der 'tautologisch wahre' Satz: 'Nichts =

44 Dazu kann etwa herangezogen werden: Aristoteles. Analytica Posteriora: II 7, 92 b 1 31 4 . Von besonderer Bedeutung hierbei ist der Satt, daß das Sein für kein Ding Wesenheit sei, da er der Kantischen Aussage vom Sein, das kein reales Prädikat sein kann, besonders nahezu­ stehen scheint. - Vgl. F. Brentano. Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden nach Aristoteles. (Nachdruck.) Darmstadt, 1 960. Im Falle Heideggers bietet vor allem Sein und Zeit, aber auch mit Bezugnahme auf Kant sein Vortrag "Kants These über das Sein" mannig­ fachen Aufschluß [vgl. M. Heidegger. Wegmarken, a.a.O., besonders S. 453-4 5 5] . 4 5 Bei einer teleologischen Auffassung der Kritik der reinen Vernunft mit einem stufen­ haften Aufbau der Erkenntnisvermögen, wie ihn Kants Nachfolger zum Teil vertraten [vgl. den Grundriß von Schellings System des transzendentalen Idealismus] , muß die Frage nach dem Sein von Formen und Funktionen im Anschluß an alle die Erkenntnisvermögen betref­ fenden Untersuchungen gestellt werden. Sie kann nur bei extremer Betonung der Gleichur­ sprünglichkeit der Vermögen umgangen werden - wie bei Kant selbst -, wodurch allerdings ein gelungenes Zusammenwirken aller Erkenntniskräfte in gewisser Weise zufällig erscheinen muß. In dieser Hinsicht geht also der Deutsche Idealismus positiv über Kant hinaus, indem er eine bei diesem selbst angelegte Ordnung in eine extremere Stufenordnung überführt. -

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Nichts'. (Vielleicht rührt die scheinbar beiläufige Behandlung der Nichts-Tafel durch Kanc46 aus diesem Zusammenhang her: Auch das Nichts - mitsamt sei­ nem Begriff - enthält kein Sein, und das heißt bei Kant keine Materie. Dadurch kommt dem Nichts als bloßer Form nur ein untergeordneter Status zu.) - (2) Eine empirische Vorstellung, die Erkenntnis beinhalten soll, muß räumlich und zeitlich sein. Darauf verweist schon das Grundsatzkapitel der Kritik der reinen Vernunft, in dem bezeichnenderweise bei der dritten Gruppe, den Analogien, das Dasein ins Spiel kommtY Damit Raum und Zeit beurteilt werden können, bedarf es des Daseins; außerdem genügt jede empirische Vorstellung dem Satz vom Widerspruch.48 Das setzt voraus, daß eine empirische Vorstellung durch mindestens ein Prädikat bestimmt werden kann. Das Sein selbst hingegen kann, da es kein Gegenstand und keine (empirische) Vorstellung ist, weder räumlich oder zeitlich noch wirklich, d. h. anschaulich-begrifflich, gefaßt werden. Daraus ergibt sich eine Bestätigung für den bereits angesprochenen Satz "Sein ist kein reales Prädikat", weil das Sein selbst dem Satz vom Widerspruch nicht genügt, also in gewisser Hinsicht selber Nichts ist, nämlich ein leerer Gegenstand ohne echten, auf Anschauung beziehbaren Begriff. Daraus ergibt sich der paradoxe, aber im Zusammenhang der gemachten Ausführungen verständliche Satz: 'Sein Nichts'. - Aus der Gemeinsamkeit von Sein und Nichts im Nichts zeigt sich, daß diese beiden besonderen Begriffe, denen beiden eine Anschauungsseite fehlt, Grenzbegriffe der transzendentalen Philosophie sind. Durch sie kann der Mensch selbst die Grenzen seiner Erkenntnis bestimmen, wodurch auch eine Be­ stimmung von Wahrheit möglich wird. Da das Sein in dem speziellen, eben vor­ gestellten Sinn noch durch das Nichts ausgedrückt werden kann, bildet das Nichts in der Transzendentalphilosophie die höchste Stufe und Form der Refle­ xion und der Reflektierbarkeit; es stellt die Reflexionsgrenze schlechthin dar. Aus dem Gesagten ergeben sich mehrere Überlegungen, die dafür sprechen, daß die Nichts-Tafel in Kants System eine viel wesentlichere Stellung einnimmt als er selbst einzuräumen bereit isc49: ( 1) Das Nichts ist die Grenze der sicheren Erkenntnis. Über das, was in sei­ nen Bereich fällt, kann nur noch spekuliert, aber in ihm kann nichts mehr mit Gewißheit erkannt werden. Die Bestimmung der Grenzen der reinen Vernunft ist eine der Hauptaufgaben der Kritik der reinen Vernunft - neben der Analyse =

46 Vgl. Kant . Kritik der reinen Vernunft, A 290/B 346. 47 Vgl. Kam. Kritik der reinen Vernunft, A 1 76-2 1 8/B 2 1 8-265, ganz besonders die erste

Analogie. 4 8 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 1 5 1 /B 1 90. 49 Diese allgemeineren Ü berlegungen sollen schon an dieser Stdle ausgeführt werden, um einen umfassenderen Überblick über die Nichts-Tafd und ihre Stellung im Ganzen der Kritik der reinen Vernunft zu gewährleisten.

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Egologische Grundstrukturen in der Transzendentalphilosophie Kants

ihres Umfangs und Inhalts. Das Nichts korrespondiert also der negativen Funk­ tion der reinen Vernunft. (2) Das Unmögliche ist das logische Nichts. Da das Nichts der Grenzbegriff aller Transzendentalphilosophie ist, ist es auch die einzige Grundlage einer Aus­ sage über das Unmögliche. - Die Unterscheidung von Möglichem und Unmög­ lichem ging der Tafel des Nichts voran. 5° Während beim Möglichen sowohl eine Sinnes- als auch eine Verstandesseite gegeben ist, findet sich beim Unmöglichen immer nur eine der beiden Seiten. Dabei tritt bei jedem der vier Nichts-Begriffe eine andere Art der Verteilung auf: Beim 'ens rationis' wird nur noch die Form des Denkens bestimmt, d. h. es gibt nur die Seite des Verstandes. Beim 'nihil privativum' gibt es nur noch Materie, d. h. nur eine sinnliche Seite. Beim 'ens imaginarium' gibt es nur noch die reine Form der Anschauung, d. h. ebenfalls bloß eine sinnliche Seite, die allerdings im Gegensatz zu dem beim 'nihil privati­ vum' auftretenden sinnlichen Aspekt die Bedingung der Möglichkeit von Sinn­ lichkeit überhaupt darstellt.5' Beim 'nihil negativum' gibt es weder Form noch Materie, d. h. nur noch der Verstand kann - allerdings notwendig erfolglos versuchen zu arbeiten. (3) Das Nichts steht zwischen Denken und Anschauung, Begriff und Gegen­ stand, Verstand und Sinnlichkeit, die jeweils beide durch das Nichts an ihre Grenzen geführt werden. Ist die transzendentale Deduktion als Kants Wahrheits­ lehre zu verstehen, weil sie die notwendigen Bedingungen einer richtigen Ver­ bindung von Sinnes- und Verstandestätigkeit liefert, so daß sie als innere Bestimmung von Wahrheit gelten kann, so ist das Nichts als Umgrenzung der Wahrheit von außen zu verstehen, indem es denjenigen Bereich angibt, in dem Wahrheit entweder unmöglich oder unbestimmbar ist. Auch diese Funktion des Nichts gehört also zur negativen Grenzbestimmung der reinen Vernunft. 52 50 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 290/B 346. 5 1 Aufgrund des Zusammenhangs zwischen der zweiten und dritten Nichts-Form soll das

'nihil privativum' hier kurz abgehandelt werden, weil es als der am wenigsten folgenreiche Nichts-Begriff nur noch als Vorstufe des 'nihil negativuni bei der Untersuchung des 'tran­ szendentalen' Ich von Bedeutung sein wird. Kant bestimmt diese Nichts-Form in A 29 1 / B 347; sie entspricht der Negationskategorie und bildet s o einen Gegensatz zur ersten Qualitäts­ kategorie, der Realität als Etwas. Beim 'nihil privativum' kann zwar ein Begriff gebildet wer­ den, der aber dadurch, daß er sich nur auf den Mangel eines Gegenstandes bezieht, wie die Begriffe Schatten und Kälte, nicht selber positiv bestimmt werden kann, sondern nur als Ne­ gation anderer positiver Begriffe möglich ist. Dem Begriff korrespondiert damit zwar eine An­ schauung, die aber nur als Gegensatz zu einer anderen Anschauung vom Verstand überhaupt gedacht werden kann. 5 2 Hier zeigt sich, daß für Wahrheit und Erkenntnis kein Meinungsfundament notwendig oder gar ausreichend ist, wie dies von D. Davidson in "Eine Kohärenztheorie der Wahrheit und Erkenntnis". In: P. Bieri (Hrsg.). Analytische Philosophie der Erkenntnis, a.a.O., S. 288 angenommen wird.

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(4) Die Tafel des Nichts bildet den Abschluß der transzendentalen Analytik und damit in gewisser Weise den Anfang der Dialektik, indem sie einen zwi­ schen beiden liegenden Grenz- und Reflexionsbegriff behandelt. Damit steht die Nichts-Tafel am Ende der Verstandesanalysen und am Anfang der Analysen der Vernunft. Ihr Inhalt könnte deshalb einen Hinweis darauf bilden, daß in den Vernunftanalysen vorwiegend (theoretisch) unentscheidbare Erkenntnisse abge­ handelt werden, die die wenigstens der Möglichkeit nach sichere Erkenntnis des Verstandes nach außen abgrenzen.

3.

Die Funktionen des 'natürlichen' Ich

Die Tafel des Nichts bildet also den Übergangspunkt von der reinen Charakteri­ stik des 'natürlichen' Ich als gesundem Menschenverstand, das an raumzeitliche Bedingungen geknüpft und durch Erfahrung bestimmt ist, zu den scheinbaren Einsichten dieses Ich, die über den Bereich der Erfahrung hinausgehen sollen. Wie der erste Weg in die Transzendentalphilosophie zeigte, glaubt der gemeine Verstand, sowohl für sich allein als auch durch einen Übergang zur Wissenschaft und durch Unterstützung der Logik zu philosophisch relevanten Grundaussagen gelangen zu können. Wird aber der Boden der Erfahrung verlassen, indem das 'natürliche' Ich den für sie notwendigen Anschauungsbezug aufgibt und sich dem Bereich der Ideen nähert, so verlieren auch die Gesetze der Erfahrung scheinbar ihre Gültigkeit. Zwar ist es so, daß das 'natürliche' Ich diese Grenze nicht selbst aufstellen und erkennen kann, weil es dazu der kritischen Reflexion der transzendentalen Philosophie bedarf; dennoch kann es unter Aufgabe des für wahre Erkenntnis erforderlichen Anschauungsrahmens gegen diese Grenze ver­ stoßen, ohne sich dessen bewußt zu sein. Wenn das 'natürliche' Ich den Erfah­ rungsraum verläßt, um sich dem ihm unzugänglichen philosophischen Bereich zuzuwenden, dann verliert auch eines der wichtigsten Gesetze der Erfahrungs­ welt, das Kausalgesetz, scheinbar seine Gültigkeit. An seine Stelle scheint dem 'natürlichen' Ich eine absolute Freiheit zu treten, die von allen möglichen Bindungen loslöst. In dieser Hinsicht ähnelt die Argumentation des 'natürlichen' Ich der Thesis der dritten Antinomie der reinen Vernunft. 53 Wie unhaltbar diese Position letztlich ist, hat Kant dadurch erwiesen, daß der These eine ebenso überzeugende Antithese gegenübergestellt werden kann. Hier zeigt sich nochmals die Unfähigkeit des gesunden Menschenverstandes, zu tragfähigen philosophischen Einsichten zu gelangen.

53 Vgl. Kam. Kritik der reinen Vernunft, A 444--4 5 1 /B 472--479.

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Egologische Grundstrukturen in der Transzendentalphilosophie Kants

Damit die Geltung des Kausalitätsgesetzes mit der Annahme der (menschli­ chen) Freiheit54 verbunden werden kann, bedarf es des doppelten Freiheitsbe­ griffs55 der Kritik der reinen Vernunft, der durch die Ausführungen der Kritik der praktischen Vernunft erweitert wird. Der Kategorie der Kausalität kommt innerhalb des Systems der theoretischen Vernunft zentrale Bedeutung zu, da die gesamte Welt der Erscheinungen durch sie bestimmt ist. Die Erscheinungen ste­ hen nämlich alle, ihrem phänomenalen Sinn nach, unter dem Kausalgesetz, das den Vorgängen innerhalb des Erscheinungsbereichs als Naturgesetz zugrunde liegt. - Diese Gültigkeit für die gesamte Natur war es, die Kants Nachfolger dazu veranlaßte, in der Relationskategorie der Kausalität die Zentralkategorie schlechthin zu sehen, die alle anderen Kategorien unter sich begreift. 56 In der Kritik der reinen Vernunft geht Kant mit der Auflösung der Antino­ mien so weit, die Denkmöglichkeit einer Kausalität durch Freiheit nachzuwei­ sen. Er löst damit das Problem, daß die einander widersprechenden Sätze in be­ zug auf die Kausalität gleichermaßen logisch wahr sind; denn sowohl die ge­ nannte These als auch ihre Antithese sind logisch richtig. Bei keinem dieser Sätze kann allein unter Rückgriff auf die Welt der Erscheinungen die Wahrheit bzw. Falschheit der in ihnen gemachten Aussagen bewiesen werden. Kant löst dieses scheinbare Paradox, indem er Freiheit und Naturnotwendigkeit zwei ver­ schiedenen Bereichen, nämlich dem intelligiblen und dem sensiblen zuordnet.57 Während im Bereich der Erscheinungen an der Naturgesetzlichkeit nicht ge­ zweifelt werden kann, so daß in ihm eine Kausalität durch Freiheit ausgeschlos­ sen zu sein scheint, gilt für den intelligiblen Bereich gerade die Unausweichlich­ keit der Kausalität durch Freiheit. Denn da Erscheinungen nicht Dinge an sich selbst sind, müssen sie nach Kant eine Ursache haben, die nicht in den Bereich der Erscheinungen fällt, weil sonst ein unendlicher Regreß entstünde.58 So steht jedes Subjekt der Sinnenwelt mit allen anderen Erscheinungen in einem Zusam54 Daß diese Freiheit in einem besonders engen Verhältnis zur Subjektivität steht, muß hier kaum noch eigens betont werden. - Vgl. dazu: H. Schmitz. "Zeit und Freiheit". In: K. Cra­ mer, H. F. Fulda, R.-P. Horstmann, U. Pothast (Hrsg.) . Theorie der Subjektivität, a.a.O., s . 347. 55 Während allerdings in der Kritik der reinen Vernunft sowohl der theoretisch­ transzendentale [vgl. etwa A 533/B 5 6 1 ] als auch der praktische Freiheitsbegriff [vgl. etwa A 534/B 562] in letzter Konsequenz nur von negativer, einschränkender Bedeutung sind, er­ weitert erst die Kritik der praktischen Vernunft den praktischen Freiheitsbegriff, der an die Kritik der reinen Vernunft anknüpft, zu einem eigenen positiven Begriff. 5 6 Vgl. etwa F. W. J. Schelling. System des transzendentalen Idealismus, a.a.O., S. 540, wo gezeigt wird, daß es ohne Kausalität keine Objekte geben kann. A. Schopenhauer. Die Welt als Wille und Vorstellung. Erster Band: Vier Bücher, nebst einem Anhange, der die Kritik der Kantischen Philosophie enthält. Hrsg. von L. Lütkehaus. Zürich, 1 988: S. 568. 57 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 538/B 566. 5 8 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 537/B 565. -

Die drei Formen des Ich bei Kam

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menhang nach Naturgesetzen; d. h. die äußerlich sichtbar werdenden Handlun­ gen eines solchen Subjekts sind dem Gesetz der Naturkausalität unterworfen. Demgegenüber steht der intelligible Charakter des handelnden Subjekts, der nicht dem Bereich der Erscheinungen angehört, weil er allein dem Verstand zu­ zurechnen ist. Er ist gleichsam der Charakter des Dinges an sich selbst; er steht deshalb auch nicht unter Zeitbedingungen, da diese nur für die Erscheinungen gelten. Damit ist er aber auch unabhängig von dem Ursache-Wirkungsgesetz der Erscheinungswelt. Der intelligible Charakter kann zwar selbst nicht erfahren, aber dennoch mit Notwendigkeit gedacht werden; er ist also eine wohl bewie­ sene Denkmöglichkeit.59 In der Kritik der reinen Vernunft erweist Kam also die Denkmöglichkeit ei­ ner Kausalität aus Freiheit und ihre Kompatibilität mit einer Kausalität aus Na­ turnotwendigkeit. Schon in diesem Text steht diese Unterscheidung mitsamt dem Nachweis der Gleichberechtigung ihrer Glieder in Beziehung zur Sphäre des Handelns, denn es ist das handelnde Subjekt, dem in verschiedener Hinsicht beide Bestimmungen zukommen. Dieser Zusammenhang wird aber erst in der Kritik der praktischen Vernunft in seiner ganzen Bedeutung erschlossen. Kam geht hierbei, wie in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, von einer Be­ stimmung des Willens aus60, der das Vermögen ist, nach der Vorstellung von Ge­ setzen zu handeln, so daß die praktische Vernunft nichts anderes als das Vermö­ gen zu wollen isr6 1 • Maximen sind diejenigen subjektiven Grundsätze, die eine allgemeine Bestimmung des Willens enthalten. So besteht nach Kam der Wille oder die praktische Vernunft als entsprechendes Vermögen in der Fähigkeit, nach der Vorstellung derartiger Maximen zu handeln; d. h. die Bedingung der Möglichkeit, moralisch zu handeln, liegt in der Fähigkeit, sich nach selbstgesetz­ ten Grundsätzen zu bestimmen. Da es dabei nicht darum gehen kann, sich nach konkreten Gesetzen zu richten, sondern da allein die Vorstellung von Gesetzen zum Maßstab wird, ist folglich nur die Form des Gesetzes entscheidend. Diese kommt durch den kategorischen Imperativ zum Ausdruck, der den Begriff und das Gesetz darstellt, unter denen der autonome Wille62 steht, ohne den aber die Forderungen des kategorischen Imperativs nicht erfüllt werden könnten, so daß 59 Vgl. Kam. Kritik der reinen Vernunft, A 540-54 1 / B 568-569.

60

Vgl. zur Freiheitsproblematik und ihrer Verbindung mit dem Willen E. Tugendhat. "Der Begriff der Willensfreiheit". In: K. Cramer, H. F. Fulda, R.-P. Horstmann, U. Pothast (Hrsg.) . Theorie der Subjektivität, a.a.O., S. 373-393. 61 Vgl. hierzu: Kant. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Akademie-Ausgabe, Band IV: S. 4 1 2. 62 Dieser autonome Wille, der zugleich das Sollen des kategorischen Imperativs in Freiheit anerkennt, bildet die Basis für den sittlichen und auch für den theoretischen, denkenden Menschen. [Vgl. dazu: H. Ricken. Fichtes Atheismusstreit und die Kantische Philosophie. Eine Säkularbetrachtung. Berlin, 1 899: S. 9.]

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Egologische Grundstrukturen in der Transzendentalphilosophie Kants

er und dieser Imperativ in einer Wechselbeziehung stehen. Aufgrund dieser Wechselbeziehung wird deutlich, daß es nicht materiale Bestimmungsgründe sein können, die praktische Gesetze abgeben, sondern daß nur die gesetzgebende Form von Maximen von Bedeutung ist; damit erweist sich in diesem Zusam­ menhang wiederum die Dominanz der Form. Diese bloße Form der Gesetze kann kein Gegenstand der Sinne sein und des­ halb nicht dem Bereich der Erscheinungen angehören. Hier ergibt sich der An­ knüpfungspunkt zu Kants Ausführungen über die Kausalität: Wenn die Geset­ zesform von den Erscheinungen unabhängig ist, dann auch vom Prinzip der Kausalität, indem sie durch die Form der Maximen gleichsam transzendiert wird. Diese Unabhängigkeit vom Naturgesetz der Kausalität ist das, was schon in der ersten Kritik als Freiheit bezeichnet wurde.63 Daraus folgt, daß die Mora­ lität ihren Ursprung in der Freiheit hat, so daß die Unabhängigkeit von aller Na­ tur, die in der Kritik der reinen Vernunft theoretisch gedacht wird, in der Ethik der Kritik der praktischen Vernunft zur moralischen Freiheit im Sinne der Selbstbestimmung wird. Denn der von aller Naturkausalität und Fremdbestim­ mung freie Wille ist dadurch ausgezeichnet, daß er sich selbst sein Gesetz gibt; mithin liegt das Prinzip aller moralischen Gesetze in der Autonomie des Willens. Dadurch gelangt Kant zu dem angedeuteten doppelten Freiheitsbegriff: Freiheit kann als negative Unabhängigkeit von allen materialen Bestimmungsgründen angesehen werden oder aber als positive Selbstbestimmung oder eigene Gesetz­ gebung, was dementgegen die praktische Vernunft selbst bezeichnet.64 Der doppelte Kausalitäts- und Freiheitsbegriff lassen noch einmal deutlich werden, wo der dem 'natürlichen' Ich eigene Erkenntnisbereich endet und die Sphäre der Philosophie beginnt. Während dieses Ich nur einseitige Freiheitsbe­ stimmungen zu geben vermag, gelingt es der Transzendentalphilosophie, diese als Scheinwissen aufzudecken und dagegen das komplexe Gefüge einer doppel­ ten Freiheit zu setzen. Indem das 'natürliche' Ich mitsamt seinem Erkenntnisin­ strument des gesunden Menschenverstandes so in seine Schranken65 gewiesen wird, daß auch die Naturgesetzlichkeit verzerrende Ansichten vermieden wer­ den, erreicht die transzendentale Philosophie eine Bestätigung der Bedeutung des Erfahrungsbereichs. - Bleibt das 'natürliche' Ich in seinem eigenen Gebiet der Wahrnehmungs- und Erfahrungserkenntnis, so kann in transzendentalphilo63 Siehe auch: Kant. Kritik der praktischen Vernunft. Akademie-Ausgabe, Band V: § 5 . 64 Vgl. Kant. Kritik der praktischen Vernunft. Akademie-Ausgabe, Band V: § 8 . 6 5 Vgl. Kant. Metaphysik. Akademie-Ausgabe, Band XVIII: S. 30 (Reflexion 4926) : "Wir

können uns auf den gemeinen Menschenverstand berufen, wenn wir die Regel und die Trieb­ feder unseres Verhaltens bestimmen wollen, also dasjenige, was uns wirklich angeht. Wollen wir aber weiter, als unsere Pflicht angeht, aufsteigen und in theoretischen Behauptungen uns versteigen, so berufen wir uns vergeblich auf den gemeinen Menschenverstand."

Die drei Formen des Ich bei Kant

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sophischer Reflexion auf dieses ursprüngliche 'natürliche' Ich eine bedeutsame Einsichtsstufe erreicht werden. Denn durch die Reflexion auf das erfahrungsge­ bundene 'natürliche' Ich kann die Kosmologie als Wissenschaft von allen Er­ scheinungen begründet werden, woraus sich die Einzelwissenschaften des 'natür­ lich-logischen' Weges entwickeln lassen. Während das natürlich eingestellte Ich die Erscheinungswelt ordnen und wis­ senschaftlich erfassen kann, ist es die Aufgabe der transzendentalen Philosophie, die "Einheit der Reihe der Bedingungen der Erscheinung"66 aufzuweisen. Diese Philosophie ermöglicht - wie erst im nachhinein ersichtlich wird - die Erklä­ rung der Möglichkeit von Erscheinungserfahrung, wie sie für das 'natürliche' Ich kennzeichnend ist. Erst die transzendentale Philosophie kann den Inbegriff aller Erscheinungen als Welt auffassen, die zum Gegenstand der Kosmologie als tran­ szendentaler Weltwissenschaft wird. Das absolute, im Ideenbereich verankerte Objekt 'Welt' wird durch ein hypothetisches Verfahren gewonnen. Aufbauend auf der philosophischen Ebene der transzendentalen Kosmologie kann das 'na­ türliche' Ich zur Begründungsinstanz für die jener untergeordnete wissenschaft­ liche Kosmologie werden. Das 'natürliche' Ich kann mittels der ihm etwa durch Erfahrungsurteile zugänglichen wissenschaftlichen Einstellung zu einem Wissen über die einzelnen Typen und Aspekte aller Erscheinungen gelangen. Jedem Er­ scheinungsbereich wird dann eine besondere Einzelwissenschaft zugewiesen, die (mit eigener Methode) diesen Bereich erforschen und auswerten soll. Würden alle einzelwissenschaftlichen Erkenntnisse vereint, könnte eine Gesamtsicht der Welt entstehen. Obwohl dies aus praktischen Gründen kaum möglich sein dürf­ te, liegt doch in dieser Absicht das Hauptziel des 'natürlichen' Ich, nämlich die Begründung einer wissenschaftlich fundierten, über bloßes Einzelwissen hinaus­ gehenden Kosmologie beschlossen. Dabei ist es dem wissenschaftlich vorgehen­ den Ich zwar unmöglich, diese Kosmologie zu begründen, aber es kann damit ei­ ne allgemeinverständliche Vorstufe zur transzendentalen Kosmologie bereitstel­ len. Hieran wird die Zusammengehörigkeit von 'natürlich-logischem' Weg und 'natürlichem' Ich offenkundig: So wie der erste Weg aufgrund seiner allgemeinen Nachvollziehbarkeit und schrittweisen Annäherung an die Transzendentalphilo­ sophie eine gute Einführung in das philosophische Denken darstellt, so eröffnet die wissenschaftliche Kosmologie des 'natürlichen' Ich einen Zugang zur tran­ szendentalen Kosmologie der Metaphysik. Indem der wissenschaftlichen Welter­ forschung noch der letzte Begründungszusammenhang ermangelt, verweist sie auf die Philosophie, die aller Erkenntnis, also auch der Welterkenntnis erst den sicheren Boden gibt. Indem die Philosophie durch die empirische Kosmologie in ihrem eigenen Ansatz einer transzendentalen Kosmologie bestätigt wird, kommt 66 Kam. Kritik der reinen Vernunft, A 334/B 39 1 .

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Egologische Grundstrukturen in der Transzendentalphilosophie Kants

es zur expliziten Begründung der transzendentalphilosophischen Sphäre der Weltwissenschaft, die allerdings im Ergebnis negativ ausfallen muß, da erst die praktische Vernunft der Idee der Freiheit Realität verschaffen kann.67 Der Zu­ sammenhang zwischen Ich, Freiheit und Kosmologie dürfte durch die vorange­ gangenen Ausführungen deutlich geworden sein. So wie durch den 'natürlich­ logischen' Weg ein Fundament für die Anthropologie als Wissenschaft gelegt wird, so ermöglicht es das ihm entsprechende 'natürliche' Ich, die Kosmologie als Wissenschaft zu etablieren. Allerdings gilt auch hier die Einschränkung, daß das 'natürliche' Ich sich ebensowenig selbst erklären kann wie die wissenschaftli­ che Kosmologie sich selbst in ihrer Wissenschaftlichkeit. So wie es zum Nach­ weis dessen, was Wissenschaft ausmacht, der Grundlegungsfunktion der Tran­ szendentalphilosophie bedarf, so kann das 'natürliche' Ich in seiner Subjektivi­ tätszugehörigkeit erst durch das 'transzendentale' Ich, besonders in seiner noch au&uweisenden Apprehensionsstufe, begründet werden. Die der natürlichen Einstellung und dem 'natürlich-logischen' Weg korre­ spondierende erste Form des Ich kann so zusammengefaßt werden: Das raum­ zeitliche Ich des gesunden Menschenverstandes, das durch (äußere und innere) Erfahrung bestimmt ist, besitzt in den Wahrnehmungs- und Erfahrungsurteilen seine eigene Urteilsweise. Mittels ihrer kann es entweder den Bereich der Erfah­ rung verlassen, so daß es vor dem Nichts als Wendepunkt zur Dialektik steht, die zu den Scheineinsichten eines erfahrungsunabhängigen Kausalitäts- und Freiheitsbegriffs führt. Bleibt es hingegen in seinem Gebiet der Erfahrung, so kann es gelingen, die Kosmologie als Wissenschaft zu begründen, wobei sie auf der einen Seite durch die Transzendentalphilosophie in ihrem Recht bestätigt werden kann, und das 'natürliche' Ich auf der anderen Seite noch der abschlie­ ßenden Rechtfertigung durch das 'transzendentale' Ich bedarf.68

B. Das 'psychologische' Ich

Vorbemerkung So wie beim 'natürlich-logischen' Weg eine eigene Ich-Form, das 'natürliche' Ich, aufgewiesen wurde, so korrespondiert auch dem 'psychologiekritischen' Weg in die Transzendentalphilosophie eine eigene Ich-Form, die im folgenden als 'psy67 Vgl. Kant. Kritik der praktischen Vernunft. Akademie-Ausgabe, Band V: S. 6. 68 Schon hier ist sichtbar geworden, daß es bei Kant verschiedene Arten des Ich (empirisch

und nicht-empirisch) und zudem auch verschiedene Arten des Selbstbewußtseins gibt und ge­ ben muß. [Vgl. D. Carr. lnterpreting Husserl. Critical and Comparative Studies. Reihe: Phaenomenologica, Band 1 06. Dordrecht, Boston, Lancaster, 1 987: S. 1 38.]

Die drei Formen des Ich bei Kam

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chologisches' Ich bezeichnet werden soll. Auch hier gilt, wie bei allen anderen ge­ wählten Bezeichnungen, daß Kant den Terminus 'psychologisches' Ich zwar selbst nicht verwendet, daß aber der diesem Begriff entsprechende Tatbestand aus seiner Philosophie eindeutig hervorgeht. Bei dieser Ich-Form muß jedoch beachtet werden, daß auch sie eine negative, grenzziehende Aufgabe hat, solange nur die Charakteristik des 'psychologischen' Ich betrachtet wird, aber noch nicht seine Funktion. Da das 'psychologische' Ich sich vorwiegend aus einer Analyse des Paralogismuskapitels erschließen läßt, gilt für diese Ich-Form, daß ihr der negative Charakter der Paralogismen anhängt. Denn so wie die rationale Diszi­ plin der Psychologie sich auf dem 'psychologiekritischen' Weg als nur negative Ergänzung und Grenzbestimmung der Philosophie erwies, kann auch das die­ sem Weg entsprechende Ich für sich keinen positiven Bereich beanspruchen, da es aus der an Inhalt leeren Vorstellung 'Ich' abgeleitet werden soll, "von der man nicht einmal sagen kann, daß sie ein Begriff sei, sondern ein bloßes Bewußtsein, das alle Begriffe begleitet"69• Da die Untersuchung des 'psychologischen' Ich sich auf die Ausführungen des Paralogismuskapitels stützen soll, gilt für diese Ich­ Form, daß sie nur negative, grenzziehende Bedeutung haben und daß erst durch die transzendentale Deduktion als der positiven Kantischen Wahrheitslehre ein positiver Ich-Begriff entwickelt werden kann. So zeigt sich an einem Vergleich der Ich-Formen das Spiegelverhältnis zwischen Paralogismen und Deduktion. Denn die Paralogismen allein ermöglichen keine abgeschlossene Theorie des Ich, sondern erst bei der dritten zu behandelnden Ich-Form, dem 'transzendentalen' Ich, wird sich Kants eigene, positive Ich-Theorie erweisen lassen.7°

I.

Die Charakteristik des 'psychologischen' Ich

Zur Erhellung des 'psychologischen' Ich ist es notwendig, die Paralogismusaus­ führungen Kants detaillierter als bisher darzustellen.71 Dabei erweist sich hier wieder der Bezug zur Kategorientafel als bedeutungsvoll, was sich schon an der 69 Kam. Kritik der reinen Vernunft, A 346/B 404. 70 Vgl. R.-P. Horstmann. "Kants Paralogismen". In: Kant-Studien 84, 1 993: S. 409. 7 1 Vgl. zum Paralogismuskapitel allgemein: H. M. Chalybäus. Historische Entwicklung

der speculativen Philosophie, a.a.O., S. 37-38. - R.-P. Horstmann. "Kants Paralogismen", a.a.O., S. 408--425. - P. E Strawson. "Kant's Paralogisms: Sdf-Consciousness and the 'Outside Observer'". In: K. Cramer, H. E Fulda, R.-P. Horstmann, U. Pothast (Hrsg.) . Theorie der Subjektivität, a.a.O., S. 203-2 1 9. - D. Henrich. Identität und Objektivität. Eine Untersu­ chung über Kants transzendentale Deduktion. Heidelberg, 1 976: S. 56-9 1 . - H. Heimsoeth. Transzendentale Dialektik, a.a.O., I. Ideenlehre und Paralogismen. - 0. Höffe. Immanuel Kant, a.a.O., S. 96- 1 04. - N. K. Smith. Commentary to Kant's Critique of Pure Reason, a.a.O., S. 45 5--477. - H. E Klemme. Kants Philosophie des Subjekts, a.a.O., S. 285-374.

1 30

Egologische Grundstrukturen in der Transzendentalphilosophie Kants

Topik der rationalen Seelenlehre72 zeigt, wobei allerdings die Reihenfolge der Kategorien umgekehrt wird. Während die Kategorien- wie auch die Urteilstafel mit den Quantitätskategorien anhebt, setzt die Seelentafel mit einer Relations­ bestimmung ein und läßt Qualität, Quantität und Modalität erst folgen. Dabei schränkt die Bestimmung der Seele als Substanz die Relationskategorien noch zusätzlich auf die Substanzkategorie ein, was dadurch erklärbar wird, daß erst mit den Relationskategorien der Anspruch auf Dasein erhoben werden kann, was durch die Grundsatzlehre deutlich wurde. Da die Substanz in einem weiten Sinne Dasein verkörpert, ist der Anfang der Topik der rationalen Seelenlehre mit dieser besonderen Relationsbestimmung verständlich. Daß die Seele ihrer Quali­ tät nach einfach sein soll, verweist auf eine Entsprechung zur Limitationskatego­ rie; dadurch, daß sie "den verschiedenen Zeiten nach, in welchen sie da ist, nu­ merisch-identisch, d. i. Einheit (nicht Vielheit)"73 ist, werden die Quantitätska­ tegorien auf die Einheitskategorie eingeschränkt, wobei es zugleich zu einer Betonung der Zeit kommt; dadurch, daß die Seele schließlich im Verhältnis zu möglichen Gegenständen bestimmt wird, werden die Modalitätskategorien auf ihren Möglichkeitssinn eingeschränkt, wobei gleichzeitig die Beziehung zum Raum besonders betont wird.74 Damit ergibt sich auch ein Anschluß an die Po­ stulatenlehre, denn dort wurde schon aufgewiesen, daß das, "was mit den forma­ len Bedingungen der Erfahrung (der Anschauung und den Begriffen nach) über­ einkommt, [ . . . ] möglich [ist] "75. Hier zeigt sich im Vorgriff das Hauptproblem der paralogistischen Seelenlehre; während echte Erkenntnis ihrer Möglichkeit nach auf den Erfahrungsbereich verwiesen ist, wird die rationale Psychologie den Fehler begehen, die Gegebenheit dieses Erfahrungsbezugs weder nachzuprüfen noch bereitzustellen. Insofern kann sie den notwendigen Wahrheitsbedingungen nicht genügen und muß dem aufgewiesenen doppelten Formfehler anheimfal­ len. Da der in der Topik noch behauptete Raum- und Zeitbezug nicht wirklich nachgewiesen werden kann, muß diese Abteilung der Psychologie scheitern. n

Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 344/B 402.

73 Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 344/B 402. 74 So gibt die rationale Psychologie zwar in ihrer Topik einen Bezug zu den Anschau­

ungsformen von Raum und Zeit als der unverzichtbaren Bedingung der Erfahrung vor, sie kann diesen scheinbaren Erfahrungsbezug jedoch nicht aufrechterhalten, so daß ihren dialekti­ schen Einsichten Evidenz und Wahrheit versagt bleiben. Denn bei den Paralogismen kann kei­ ne Zeit und kein On der Sede angegeben werden, so daß der für wahre Erkenntnis unabding­ bare Erfahrungsrahmen fehlt. Die Erweiterung des 'Ich denke' zu einem 'Ich denke hier jerzt', wie sie von H.-N. Castafieda vorgeschlagen wird [in: "The Sdf and the I-Guises, Empirical and Transcendental". In: K. Cramer, H. F. Fulda, R.-P. Horstmann, U. Pothast (Hrsg.). Theo­ rie der Subjektivität, a.a.O., S. 1 33 und S. 1 39] . kann also keinesfalls durchgeführt werden, woran sich der Fehler der Paralogismen noch einmal erweist. 75 Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 2 1 8/B 265.

Die drei Formen des Ich bei Kam

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Daß die Topik der rationalen Seelenlehre auf diese einschränkende Weise mit der Kategorientafel zusammenhängt, zeigt sich nochmals an dem Punkt, wo Kant das 'Ich denke x' einführt: "Durch dieses Ich, oder Er, oder Es (das Ding) , welches denkt, wird nun nichts weiter, als ein transzendentales Subjekt der Ge­ danken vorgestellt x, welches nur durch die Gedanken, die seine Prädikate sind, erkannt wird, und wovon wir, abgesondert, niemals den mindesten Begriff haben können; [ . . . ] ."76 Indem sich die rationale Seelenlehre allein auf das Ich bezieht und den Denkakt sowie den Bezugspunkt des x außer acht läßt77, muß sie zwangsläufig den Bereich der Erfahrung verlassen und zum Opfer bloßer Spekulation ohne möglichen Wahrheitsbezug werden. Denn während an das 'Ich denke x' noch der Verstand mit der Kategorientafel und ihrem Synthesis­ grund angebunden bleibt, verläßt die rationale Psychologie mit ihrem auf das nackte Ich eingeschränkten Verfahren den Verstandesbereich und tritt in die Sphäre rein immanenter, aber deshalb dialektischer, spekulativer Vernunftanalyse ein. So gelangt sie zum reinen, 'psychologischen' Ich, das jedoch ein völlig leeres, nicht wahrheitsfähiges Bewußtsein ist, das alle Vorstellungen der rationalen Psy­ chologie aktiv begleiten muß, damit diese überhaupt auf etwas gründen, das also die notwendige Bedingung jeder psychologischen Vorstellung ist. Das volle 'Ich denke x' hingegen, das von der Psychologie nicht betrachtet wird, das alle "Vor­ stellungen begleiten können"78 muß, stellt entgegengesetzt dazu die Verstandes­ seite des Ich-Phänomens dar und kann deshalb allein zu sinnvollen Aussagen über das Ich führen. Im Gegensatz zum 'Ich' der Deduktion kann also die Ich­ Bestimmung der Psychologie nur bloßer (dialektischer) Schein sein. Das reine Ich der Psychologie, das vom Denk- und Dingbezug abgeschnitten ist, so daß es weder selbst erkennen noch wirklich, d. h. anders als scheinhaft erkannt werden kann, bildet deshalb nur ein unartikuliertes, dumpfes, aber für den rationalen Psychologen notwendiges Bewußtsein einer erforderlichen Grundlage allen Er­ kennens und Seins. Da der Psychologe jedoch im Gegensatz zum Transzenden­ talphilosophen nicht die Notwendigkeit erkennen kann, mit der alles Erkennen auf Anschauungs- und Denkformen (sowie auf Materie) bezogen sein muß, bleibt das von ihm entdeckte 'psychologische' Ich grund- und ergebnislos. =

76 Kam. Kritik der reinen Vernunft, A 346/B 404. - Mit dieser Formulierung liegt also keine Kamische Standpunktformulierung vor, sondern eine kritische Bezugnahme auf Descar­ tes, was insbesondere an der Kombination von Es und Ding sichtbar wird, die innerhalb des Kantischen Systems gerade als unhaltbar aufgewiesen wird. 77 Die rationale Psychologie scheitert also zuletzt daran, daß sie die Rolle des Denkens nicht interpretiert und es zu Unrecht als Wiedergabe einer Wirklichkeit auffaßt, während es doch ein Vermögen der Konstruktion und der Systematisierung ist. 7 8 Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 1 32.

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Egologische Grundstrukturen in der Transzendentalphilosophie Kants

Das 'psychologische' Ich darf also keineswegs mit dem 'Ich denke (x) ' der transzendentalen Deduktion verwechselt werden. Denn das 'Ich denke' als Aus­ druck der transzendentalen Apperzeption gibt das Prinzip der synthetischen Ein­ heit des Mannigfaltigen in aller möglichen Anschauung und führt zu den Kate­ gorien als den letzten Bedingungen der in der Erfahrung möglichen Anschau­ ungen. Aber das 'psychologische' Ich als Ausdruck der Seele gehört zu den reinen Vernunftbegriffen, die nicht in einer möglichen Erfahrung anschaulich gemacht werden können. Es begleitet jedoch die anderen Ideen ebenso wie die transzen­ dentale Apperzeption als 'transzendentales' Ich die Kategorien begleitet, so daß geschlossen werden kann, daß es die spekulative, unerfahrbare und deshalb dia­ lektische 'Vernunftfassung' der Apperzeption ist. Dieses 'psychologische' Ich kann als innere Wahrnehmung der reinen Apperzeption des Verstandes beschrie­ ben werden, d. h. es bezieht sich noch auf einzelne Kategorien - wie Substanz, Limitation, Einheit und Möglichkeit - und reflektiert so auf die transzendentale Apperzeption, die allerdings die volle Einheit aller Kategorien nicht nur reprä­ sentiert, sondern auch denkt. Deshalb bildet das 'psychologische' Ich der Ver­ nunft eine unzulässige Aufspaltung der Kategorien, indem deren Systemeinheit zugunsten eines Aggregatzustandes bewußt aufgegeben wird, was zu falschen, ungegründeten Aussagen führen muß. Aus diesem Grund dürfen Kants Aussa­ gen auf den Seiten A 346/B 404 nicht als vorläufige Darstellung seiner eigenen Ich-Theorie aufgefaßt, sondern müssen als negatives Gegenstück zur Subjektivi­ tätskonzeption der Deduktion begriffen werden; daher muß diese Stelle als Kri­ tik Kants an Descartes angesehen werden/9

a) Die Paralogismen nach der Version von 178 1 Zunächst soll die Fassung der A-Paralogismen dargestellt werden80, um daran den Zusammenhang mit der Kategorientafel, den Personbegriff und die Selbst­ erkenntnis der Seele zu betrachten, da sie Aufschluß über die Form des 'psycho­ logischen' Ich geben können. Kant behandelt in der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft die vier Paralogismen der rationalen Seelenlehre einzeln, 79 Auf den Zusammenhang der Aussagen Kants in A 346/B 404 mit seiner Descartes­ Kritik verweist besonders K. Düsing in Selbstbewußtseinsmodelle, a.a.O., S. 1 05. - Auf Kants Auseinandersetzung mit Descartes im Rahmen seiner Kritik an der rationalen Psychologie geht Düsing auch in "Cogito ergo sum? Untersuchungen zu Descartes und Kant". In: Wiener Jahr­ buch für Philosophie 1 9, 1 987: S. 99 ein. s o Vgl. H. E Klemme. Kants Philosophie des Subjekts, a.a.O., S. 293-3 1 1 . - K. Ameriks. "The Paralogisms of Pure Reason in the First Edition". In: G. Mohr und M. Willaschek (Hrsg.) . Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, a.a.O., S. 371-390.

Die drei Formen des Ich bei Kam

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wobei bei jedem Paralogismus der bereits beim 'psychologiekritischen' Weg aufgewiesene doppelte Formfehler in bezug auf Logik und Erfahrung(-smöglich­ keit) auftritt. In A 348/B 406 erweist sich nicht nur der Hauptfehler der rationalen Seelen­ lehre, ihr völliger Mangel an einem Anschauungsgehalt, der einen nachprüfba­ ren Erfahrungsgehalt gewähren könnte, sondern es zeigt sich auch die erwähnte Differenz zwischen der Behandlung des 'Ich denke' in der transzendentalen De­ duktion einerseits und in der rationalen Psychologie andererseits. Denn Kant unterscheidet zwischen der Unmöglichkeit der tatsächlichen Erkennbarkeif des reinen Ich durch bloßes Denken (als Thema des Paralogismuskapitels) und der Möglichkeit der reflexiven, formalen und funktionalen Bestimmbarkeif des 'Ich denke' der transzendentalen Apperzeption durch das Denken (als Thema der transzendentalen Deduktion) .81 - In dieser Hinsicht ist auch der Zirkel zu ver­ stehen, von dem Kant wenige Seiten zuvor gesprochen hat.82 Der Zirkel, auf den Kant hier verweist, besteht nicht darin, daß das Ich sich grundsätzlich nie selbst denken kann - dies kann es schon dadurch, daß es auf den Zusammenhang zwi­ schen 'Ich denke' und Kategorien reflektiert -, sondern darin, daß die rationale Psychologie die Seele als Wirklichkeit annimmt, deren Realität nur dadurch be­ wiesen werden kann, daß sie als solche ausgegeben wird. D. h. die rationale See­ lenlehre kann das Ich nur dadurch bestimmen, daß sie, von der Annahme der Wirklichkeit des 'psychologischen' Ich ausgehend, dieselbe als durch das nur an­ genommene Wirklichsein bewiesen ansieht; vom selbstverfertigten Begriff wird also auf die Wirklichkeit des Begrifflichen zirkelhaft zurückgeschlossen.83 Schon beim Paralogismus der Substantialitär84 wird das Grundmuster der Kamischen Kritik an der rationalen Seelenlehre sichtbar. Außer der falschen Schlußweise, die auf den genannten Formfehlern beruht, wird der mangelnde Bezug der diesem Paralogismus vereinzelt zugrunde gelegten Kategorie der Sub­ stanz auf Anschauung sichtbar.85 Der Paralogismus der Substantialität erörtert also nur die logische Bedeutung der Substantialität des Ich und gewinnt deshalb keine Erkenntnis des echten Selbst, da der Begriff der Substanz im reinen Den-

8 t Vgl. dazu: K. Düsing. Selbstbewußtseinsmodelle, a.a.O., S. 48. 82 Vgl. Kam. Kritik der reinen Vernunft, A 346/B 404: "Durch dieses Ich, oder Er, oder

Es [ . . ] wird nun nichts weiter, als ein transzendentales Subjekt der Gedanken vorgestellt [ . . . ] ; um welches wir uns daher in einem beständigen Zirkel herumdrehen, [ . . . ] . " 8 3 Vgl. K . Düsing. Selbstbewußtseinsmodelle, a.a.O., S. 28-29. - Vgl. auch S. 1 03-1 06, wo ausgeführt wird, warum es nicht sinnvoll ist, bei Kant einen Iterations- oder Zirkeleinwand gegen die Möglichkeit von Selbstbewußtsein oder einer Selbstbewußtseinstheorie anzuneh­ men. 84 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 348. 8 5 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 348-349. .

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Egologische Grundstrukturen in der Transzendentalphilosophie Kants

ken nur eine Idee86, aber keine Realität bezeichnen kann. Indem das Ich der ra­ tionalen Psychologie selbst nie angeschaut und erfahren werden kann, ist es zwar möglich wahrzunehmen, "daß diese Vorstellung bei allem Denken immer wie­ derum vorkommt, nicht aber, daß es eine stehende und bleibende Anschauung sei, worin die Gedanken (als wandelbar) wechselten"87• Der Substanzcharakter des 'psychologischen' Ich kann niemals bewiesen werden, weil die rationale See­ lenlehre dem Ich den Erscheinungscharakter ab- und den Ding-an-sich-Charak­ ter zuspricht. 88 Schon hier kann also das falsche Vorgehen der rationalen Psycho­ logie von dem richtigen Vorgehen der Deduktion abgegrenzt werden, die im Ge­ gensatz zur ersteren aufweist, daß uns der innere Sinn uns selbst nur als Erscheinung zeigr89, so daß sich das Ich als denkendes Subjekt selbst lediglich als gedachtes Objekt erkennen kann.9° Der Begriff der Substanz wird von der ratio­ nalen Seelenlehre fälschlicherweise mit dem Ich-Bewußtsein gleichgesetzt, wobei der Schein entsteht, beide stünden in einem Identitätsverhältnis. Somit zeigt sich die Differenz zwischen den echten Erkenntnismöglichkeiten der Transzen­ dentalphilosophie und den Scheinerkenntnissen der rationalen Psychologie. Denn während die Transzendentalphilosophie stets betont, daß auch das eigene Dasein auf Erfahrung bezogen sein muß, um wirklich zu sein und um die Wirk­ lichkeit von Gegenständen im Raum beweisen zu können91 , vernachlässigt oder leugnet die Psychologie jeden Zusammenhang zwischen 'psychologischem' Ich und Erfahrungsbereich, in dem ein solches Ich wenigstens der Möglichkeit nach anschaubar gemacht werden können müßte.92 86 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 3 5 1 . 8 7 Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 350. 88 Hier sei darauf hingewiesen, daß Kant selbst in der Dialektik die von ihm kritisierten

Lehren in der Weise aufgreift, daß er sie in seinen eigenen Begriffen darstellt. [Vgl. M. Glou­ berman. "Reason and Substance". In: Kant-Studien 73, 1 982: S. 2.] Dies kann allerdings zu einiger Verwirrung führen, wenn der Leser aufgrund der begrifflichen Fassung davon ausgeht, Kant stelle immer dann, wenn er eigene Termini verwende, auch seine eigene Lehre dar. 8 9 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 1 53. 90 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 1 56. - Bei der Seelenanalyse der Psychologie geht in gewisser Weise der Subjekt-Objekt-Unterschied verloren, d. h. die von so unterschied­ lichen Denkern wie Spinoza und SeheHing behauptete Duplizität in der Identität wird nicht beachtet, so daß das Ich eine Einheit ohne Trennung von Subjekt und Prädikat zu sein scheint oder so, daß aus dem 'Ich Ich' nur noch ein 'Ich' gemacht wird. 9 1 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, Lehrsatz in B 275. 9 2 Daß Kants Widerlegung des Idealismus an dieser Stelle ergänzend herangezogen werden kann, liegt nicht zuletzt daran, daß diese Textpassage erst in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft an ihren endgültigen Ort innerhalb der Grundsatzlehre gerückt wurde, wäh­ rend sie 1 78 1 noch einen Teil des Paralogismuskapitels bildete. Daß Kant auch in der B-Fas­ sung auf diesen Abschnitt des Paralogismuskapitels zurückgriff und ihn sogar an eine exponier­ te Stelle innerhalb des Systems verlagerte, betont zusätzlich die werkimmanente Bedeutung dieses Kapitels, die dadurch unterstrichen wird, daß Kant für die Dialektik frühere Arbeiten =

Die drei Formen des Ich bei Kant

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Das Vorgehen Kants bei der Kritik des ersten Paralogismus liegt auch allen anderen Paralogismen zugrunde; so auch dem der Simplizität.93 Daß viele Vor­ stellungen in der absoluten Einheit des denkenden Subjekts enthalten sein müs­ sen, um einen Gedanken auszumachen, wie es die rationale Seelenlehre behaup­ tet, ist weder ein synthetischer Satz a priori noch kann dieser Satz aus der Erfahrung hergeleitet werden.94 Der zweite Paralogismus gründet auf der unteil­ baren logischen Einheit der Vorstellung 'Ich denke', obwohl die Einfachheit der Vorstellung eines transzendentalen Subjekts keine Erkenntnis der Einfachheit des Subjekts selbst sein kann. Durch das 'psychologische' Ich wird nur eine abso­ lute, aber logische Einheit des Subjekts als Einfachheit gedacht, doch wird da­ durch nicht die wirkliche Einfachheit des eigenen Subjekts erkannt.95 Die Seele kann so nur noch der Name für den transzendentalen Gegenstand des inneren Sinnes sein; sie kann aber aufgrund ihrer Irrealität für die ihr zugeschriebenen Prädikate (wie dem der Einfachheit) keine Gültigkeit behaupten.96 - Insgesamt hat sich also auch beim zweiten Paralogismus die Differenz zwischen dem fal­ schen Vorgehen der rationalen Psychologie und dem richtigen, synthetischen Vorgehen der transzendentalen Deduktion gezeigt: Wird das Ich nur als innere Vorstellung genommen, so können gerade durch diese Einschränkung Aussagen über das Ich gemacht werden, weil kein Anspruch auf (empirische) Wirklichkeit derselben erhoben wird, da "die Möglichkeit der logischen Form alles Erkennt­ nisses [ . . . ] notwendig auf dem Verhältnis zu dieser Apperzeption als einem Ver­ mögen [beruht] ."97 - An der Betonung des Vermögens und der Form zeigt sich der Unterschied zwischen richtigem und falschem Ich-Gebrauch erneut: Wird eine Analyse der Form des Ich in ihrem Vermögens- und Funktionszusammen­ hang durchgeführt, so sind positive Ergebnisse möglich; wird eine Analyse der Seele als Wirklichkeit und im einzelnen bestimmte Materie (zum Beispiel als Substanz) durchgeführt, dann muß die rationale Psychologie zu dialektischen Schlüssen gelangen, so daß im besten Falle nur noch eine negative, grenzzie­ hende Aufgabe für sie übrig bleibt. Denn im Gegensatz zur Deduktion nimmt die rationale Seelenlehre das Ich als substantielles, einfaches, raumzeitliches Sub­ jekt an, womit die Wirklichkeit und Erfahrbarkeit des 'psychologischen' Ich vorwiederaufnahm - mit Ausnahme des Paralogismuskapitels, das er für die erste Kritik neu an­ fertigte. [Vgl. E. Boutroux. "Die transzendentale Dialektik". In: J. Kopper und R Malter (Hrsg.). Materialien zu Kants 'Kritik der reinen Vernunft', a.a.O., S. 275-278.] 93 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 35 1 . - Zur Widerlegung des zweiten Paralo­ gismus vgl. H. Cohen. Kommentar zu Immanuel Kants 'Kritik der reinen Vernunft', a.a.O., s . 1 27. 94 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 3 52-353. 95 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 3 56. 9 6 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 36 1 . 97 Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 1 1 8 .

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Egologische Grundstrukturen in der Transzendentalphilosophie Kams

gespiegelt werden. Indem ein reiner Denkgegenstand als Wirklichkeit ausgege­ ben wird, erhebt die Psychologie einen nicht legitimen ontologischen Anspruch und muß daher dem dialektischen Schein unterliegen, was ihr Scheitern verur­ sacht. In diese Richtung zielt auch Kants Kritik am dritten Paralogismus, dem der Personalität.98 Die Identität der Person ist im eigenen Bewußtsein stets anzutref­ fen.99 Doch da sowohl das Ich nur ein Gegenstand des inneren Sinnes als auch die Zeit nur die Form desselben ist, kann noch nicht auf eine objektive, äußere Beharrlichkeit des Selbst geschlossen werden. 100 Die Identität des Bewußtseins meiner selbst in verschiedenen Zeiten ist also nur eine formale Bedingung mei­ ner Gedanken und ihres Zusammenhangs, beweist aber nicht die numerische Identität meines Subjekts.101 Der Begriff der Persönlichkeit ist folglich wie der der Substanz und der Einfachheit zum praktischen Gebrauch nützlich; er ist aber nicht zur Erweiterung der Selbsterkenntnis durch reine Vernunft geeignet, da er ebensowenig wie die beiden anderen jemals Gegenstand anschaubarer Er­ fahrung werden kann.102 Wenn hierzu der vielzitierte Satz aus der Einleitung zur transzendentalen Logik mit herangezogen wird, daß Gedanken ohne Inhalt leer, Anschauungen ohne Begriffe aber blind seien, zeigt sich, daß auch die dritte An­ nahme der rationalen Psychologie durch ihren mangelnden Anschauungsbezug zum Scheitern verurteilt ist. Daß Kant den Begriff der Persönlichkeit der rationalen Psychologie derart de­ struiert, bedeutet nicht, daß er keinen eigenen Personbegriffl03 entwickelt hat. So ist etwa im Opus postumum zu lesen: "Daß der Mensch nicht allein denkt sondern auch zu sich selbst sagen kann ich denke macht ihn zu einer Person."104 Der Personbegriff wird von Kant auf die subjektive Seite des Menschen verortet, indem Denken und Bewußtsein des Denkens eine unproblematische Einheit bil­ den.105 Diese Verlagerung der Persönlichkeitsstruktur auf die Subjektseite des Ich verweist auf eine Trennung Kants in bezug auf das Ich, wobei ein Ich als Subjekt 9 8 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 36 1 . 99 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 362. 1 0o Vgl. Kam. Kritik der reinen Vernunft, A 362-363. I O I Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 363. - Zu Kams Widerlegung der numeri­

schen Einheit des Ich in den Paralogismen vgl. K. Gloy. Studien zur theoretischen Philosophie Kants, a.a.O., S. 1 29-1 33. 102 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 365-366. 1 03 Vgl. H.-P. Falk. "Person und Subjekt". In: Neue Hefte for Philosophie 27/28, 1 988: s. 8 1 - 1 22. 1 04 Kam. Opus postumum. Akademie-Ausgabe, Band XXI: S. 1 1 3. 1 0 5 Der oft ausgeführte Zirkeleinwand in der Philosophie Kants kann also nicht als das un­ lösbare Problem figurieren, als das es erst Herbart (und nicht Fichte) postulierte. [Vgl. K. Dü­ sing. Selbstbewußtseinsmodelle, a.a.O., S. 1 03-1 1 2.]

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von einem Ich als Objekt unterschieden wird. 106 Deshalb ist es Kant möglich, ei­ nen positiven Personbegriff zu entwickeln, der auf der Trennung von Subjekt und Objekt beruht, während die rationale Seelenlehre genau daran scheitert, in­ dem sie unhinterfragt an der Einheit von Subjekt und Objekt auch dort festhält, wo deren Sinn verlorengehen muß. I 07 Der bei allen Paralogismusargumentationen anzutreffende Hinweis auf den fehlenden Anschauungs- und Erfahrungsbezug erweist auch beim vierten Para­ logismus, dem der Idealität (des äußeren Verhältnisses) , den dialektischen Schein. 108 Im Gegensatz zu den anderen Paralogismen erweist sich der vierte Pa­ ralogismus jedoch als Ausnahmeerscheinung, nicht zuletzt weil Kant an ihn eine ausführliche Differenzierung zwischen empirischem Idealismus, transzendenta­ lem Realismus und transzendentalem Idealismus109 anbindet. Die Eigentümlich­ keit des Paralogismus der Idealität erweist sich auch an Kants Kritik an ihm. Während bei den ersten drei Paralogismen eine Verwechslung der logischen Be­ dingungen des Denkens mit den realen Eigenschaften des denkenden Subjekts vorliegt, wirft Kant dem transzendentalen Realisten eine Verwechslung der sub­ jektiven Anschauungsformen mit den Dingen an sich selbst vor. 1 10 Auf das Dasein äußerer Gegenstände kann nach Kant nur geschlossen wer­ den, weil sie nicht in der Apperzeption des Selbst enthalten sein können. 1 1 1 Den beiden seiner Meinung nach unhaltbaren Positionen des empirischen Idealis1 06 Vgl. Kam. Welches sind die wirklichen Fortschritte . . . Akademie-Ausgabe, Band XX: 270. 1 07 Die rationale Psychologie nimmt nämlich an, das Ich als Subjekt inhaltlich bestimmen und unabhängig von Erfahrung und Anschauung einen gültigen Ich-Begriff aufstellen zu kön­ nen. Die Kritik Kants an den Schlußfolgerungen der rationalen Psychologie im Paralogismus­ kapitel zeigt jedoch, daß in diesem Glauben der rationalen Seelenlehre ihr Kardinalfehler be­ schlossen liegt. Daß Kant dennoch ein erkennbares empirisches Ich als Subjekt der Perzeption annimmt, verweist auf die positiven, aus dem 'psychologischen' Ich abzuleitenden Funktionen dieser Form des Ich; es wird damit aber auch bestätigt, daß mit dem raumzeitlichen Erfah­ rungs-Ich des 'natürlich-logischen' Weges tatsächlich eine Ich-Form vorliegt, die der Erkennt­ nis zugänglich ist. Daß Kant dieses Ich als "psychologisches Ich" [vgl. wieder Welches sind die wirklichen Fortschritte . . Akademie-Ausgabe, Band XX: S. 270] bezeichnet, gibt der ge­ wählten Benennung der zweiten Ich-Form ein zusätzliches Recht, auch wenn nicht übersehen werden darf, daß die beiden Ausdrücke keineswegs identisch verwendet werden. - Somit dür&e auch deutlich geworden sein, daß es mit Kant keinen Sinn ergibt, den Begriff der Per­ son normativ zu fassen, wie dies von D. C. Dennet in "Bedingungen der Persönlichkeit". In: P. Bieri (Hrsg.) . Analytische Philosophie des Geistes, a.a.O., S. 320 vorgeschlagen wird. 108 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 366-367. I 09 Vgl. hierzu: K. Rogerson. "Kantian Ontology". In: Kant-Studien 84, 1 993: S. 1 2- 1 3 und S. 2 1 . 1 1 0 Vgl. H. F. Klemme. Kants Philosophie des Subjekts, a.a.O., S. 349. Klemme gibt au­ ßerdem auf den Seiten 339-361 eine ausführliche Darstellung des gesamten vierten Paralogis­ mus. I I I Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 367-368. s.

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Egologische Grundstrukturen i n der Transzendentalphilosophie Kants

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mus, der behauptet, die Wirklichkeit könne durch alle mögliche Erfahrung nie gewiß erkannt werden, der also von der Idealität bzw. Ungewißheit äußerer Er­ scheinungen ausgeht, und des transzendentalen Realismus, der behauptet, Raum und Zeit existierten an sich, der also von der Realität bzw. Gewißheit äußerer Erscheinungen ausgeht, stellt Kant seine eigene Position des transzendentalen Idealismus entgegen. 1 12 Es zeigt sich hier, daß alle Vorstellungen durch Form und Abstufungen differenziert werden: Das Verstandesvermögen ist dabei geglie­ dert in die vier als gleichursprünglich bezeichneten, aber doch aufeinander auf­ bauenden Kategoriengruppen; Raum und Zeit als Anschauungsformen sind for­ mal ebenfalls gleichrangig, wobei jedoch der Raum die Zeit immer voraussetzt. Daran kann sich die Frage anschließen, ob nicht auch beim Ich selbst als nur in der Zeit seiend Grade unterschieden werden können, ohne die Wahrnehmung und Erkenntnis unmöglich wären. Das Ich ist durch die drei in der transzenden­ talen Deduktion (A) aufgewiesenen Weisen der Synthesis in sich abgestuft, was jedoch nur von einem kritisch-reflexiven Standpunkt aus erkannt werden kann. Das reflektierte Ich gewinnt damit an Intensität gegenüber dem nicht-reflektier­ ten; doch dieses Verhältnis kehrt sich für den Handlungsbereich der praktischen Philosophie um. Dem transzendentalen Idealismus zufolge korrespondiert unseren äußeren Anschauungen etwas Wirkliches im Raum. 1 1 3 Das Reale äußerer Erscheinungen ist aber nur in der Wahrnehmung gegeben und kann auf keine andere Weise wirklich sein. 1 14 An diesem Zusammenhang offenbart sich erneut der Grundfeh­ ler der rationalen Psychologie. Denn indem die Psychologie den Bezug zum Em­ pirischen verliert oder bewußt aufgibt, weil sie die Anschaubarkeit ihrer Behaup­ tungen weder anstrebt noch erzielen könnte, vermag sie nie bis zur Sphäre der Wirklichkeit vorzudringen. Ihre Annahmen können damit keine Wahrheit für sich beanspruchen, wodurch die der Seele zugeschriebenen Eigenschaften sich als bloßer Schein und die auf ihnen beruhende Konzeption des 'psychologischen' Ich sich als reines Konstrukt erweisen. - So scheitert die rationale Seelenlehre auch mit ihrer letzten Bestimmung der Seele, die Kam unter dem Paralogismus der Idealität (des äußeren Verhältnisses) behandelt. Derart hat Kant die Unhalt­ barkeit der gesamten rationalen Psychologie aufgedeckt. 1 1 5 Die rationale Psychologie scheitert also nicht, weil sie das Denken für sich nutzbar zu machen sucht, sondern weil sie es absolut setzt. Dabei bedient sie sich notwendig sowohl des synthetischen Erkenntnisverlaufs als auch der Kate­ gorien als den allem Denken zugrundeliegenden Formen; denn alles Denken 1 12 1 13 1 14 115

Vgl. Vgl . Vgl. Vgl.

Kant. Kritik der reinen Kant. Kritik der reinen Kant. Kritik der reinen Kant. Kritik der reinen

Vernunft, A 368-37 1 . Vernunft, A 375. Vernunft, A 376. Vernunft, A 382.

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setzt die Kategorien voraus, deshalb auch der Irrtum .1 16 Weil auch die rationale Psychologie sich der Kategorien bedienen muß, um überhaupt zu ihren Schein­ ergebnissen gelangen zu können, soll an dieser Stelle, die Betrachtung der A-Pa­ ralogismen abschließend, noch eine Untersuchung des Zusammenhangs dersel­ ben mit der Kategorientafel folgen. Die rationale Seelenlehre ist nicht nur in ihren Annahmen durch die tran­ szendentale Philosophie als falsch auszuweisen, es müssen nicht nur der Schein ihrer Behauptungen sowie ihr grundsätzlicher Formfehler aufgewiesen werden, sondern ebenso ihre über das rein Negative hinausgehende positive Funktion. Denn obwohl die rationale Psychologie die Erkenntnis nicht erweitern kann, "so kann man ihr doch, [ . . ] , einen wichtigen negativen Nutzen nicht abspre­ chen" 1 17. Das 'psychologische' Ich hat nämlich, wie alle über den Bereich der Er­ fahrung hinausgehenden, aber darin durchschauten Scheinerkenntnisse, eine grenzziehende Aufgabe hinsichtlich der reinen Vernunft, indem anhand der Feh­ ler der rationalen Psychologie gezeigt werden kann, wie weit der Verstand bei der Bestimmung der Apperzeption gehen kann, ohne Trugschlüssen zu verfallen. ln­ dem die rationale Psychologie durch ihren fehlenden Erfahrungsbezug die tran­ szendentalen Analysen davor bewahrt, ebenfalls auf Erfahrung und Anschauung zu verzichten oder in reinem Denkwissen reales Wissen zu vermuten, trägt sie zur Sicherheit dieser Wissenschaft bei. Denn auch die Transzendentalphiloso­ phie bedarf eines eigenen Ich-Begriffs und analysiert dazu die reine Apperzep­ tion. Werden die Bestimmungen des 'psychologischen' Ich nur auf das Denken eingeschränkt, ohne auf Wirldichkeit Anspruch zu erheben, dann haben sie ih­ ren Sinn gefunden. 1 1s Ob es sich nun um eine rational-psychologische oder eine transzendentalphi­ losophische Untersuchung des Ich handelt, eines bleibt sich bei beiden Herange­ hensweisen an das Feld der Subjektivität gleich: die Bedeutung der Kategorien. Sie ermöglichen nicht nur ein Erfassen der transzendentalen Apperzeption, son­ dern sie leiten auch das Vorgehen der rationalen Psychologie bei der Aufstellung der SeelentafeL Besonders interessant wird der Kategorieneinfluß dann, wenn neben den Paralogismen auch die beiden anderen Fälle des dialektischen Ver­ nunftgebrauchs herangezogen werden, also die Synthesis der Bedingungen des empirischen Denkens oder die Antinomienlehre und die Synthesis der Bedin­ gungen des reinen Denkens oder das Ideal der reinen Vernunft. 1 19 Die Paralogismen weisen durchgehend einen engen Zusammenhang mit der jeweils ersten Kategorie einer Gruppe auf: Der Quantitätskategorie der Einheit .

1 16 1 17 1 1s 1 19

Vgl. Kam. Kritik der reinen Vernunft, A 222/B 269. Kam. Kritik der reinen Vernunft, A 382. Vgl. Kam. Kritik der reinen Vernunft, A 400. Vgl. Kam. Kritik der reinen Vernunft, A 397 und A 339-340/B 397-398.

Egologische Grundstrukturen in der Transzendentalphilosophie Kants

1 40

korrespondiert die unbedingte Einheit als Substanz, der Qualitätskategorie der Realität die Einfachheit als Realität, der Relationskategorie von Inhärenz und Subsistenz das Subjekt als eines und dasselbe sowie der Modalitätskategorie von Möglichkeit - Unmöglichkeit das Dasein im Raum im Verhältnis zu möglichen Gegenständen. 120 - Bei den Antinomien ist ein weitgehendes Entsprechungsver­ hältnis zur jeweils zweiten Kategorie einer Gruppe festzustellen: Der Kategorie der Vielheit korrespondiert die vollständige Vielheit, die dann gedacht werden kann, wenn Raum und Zeit als Anschauungsformen auf jede mögliche Mannig­ faltigkeit Anwendung finden.121 Der Kategorie der Negation entspricht auf der Seite der Antinomien eine vollständige negierende Disjunktion, was sich beson­ ders an den Formulierungen von Thesis und Antithesis zeigt. 122 Der Kategorie der Kausalität korrespondiert eine sich aus der Zusammennahme des dritten Thesis-Antithesis-Paares ergebende vollständige Kausalität bei den Antinomien, die aber erst durch den dargestellten doppelten Freiheits- und Kausalbegriff der Kritik der reinen Vernunft ihre endgültige Form erhält. 123 Der Kategorie von Dasein - Nichtsein entspricht das vollständige Dasein auf der Antinomienseite, indem die bei diesem Widerstreit im Hintergrund stehende Gottesidee ausgelegt werden kann. 1 24 - Das Ideal der Vernunft schließlich steht in einem besonderen Entsprechungsverhältnis zur je dritten Kategorie einer Gruppe: Der Kategorie der Allheit korrespondiert die Dingbestimmung in einem dreifachen Sinn, näm­ lich als Allheit aller Prädikate, als Idee vom Inbegriff aller Möglichkeit und als Allbesitz der Realität. 125 Der Kategorie der Limitation entspricht beim Ideal der Umstand, daß die Idee von einem All der Realität erst die wahren Verneinungen als Schranken ermöglicht. 126 Die Kategorie der Gemeinschaft steht in engem Zusammenhang mit der Hypostasierung der Idee vom Inbegriff aller Realität zur Idee der empirischen Realität127, die die Welt als Gefüge vorstellen läßt. Der Kategorie von Notwendigkeit - Zufälligkeit entspricht es zuletzt, daß das Ideal überhaupt eine notwendige Vorstellung der reinen Vernunft ist. - Während bei Paralogismen und Antinomien jeweils noch ein falscher Bezug zu den Formen von Raum und Zeit vorliegt, enthält das Ideal der Vernunft nur noch einen sym­ bolischen Bezug auf Raum und Zeit. Äußerlich spiegelt sich diese Differenz zwi­ schen den Teilen darin wider, daß die Antinomien mit ihrer Gegenüberstellung 1 20 121 1 22 1 23 1 24 1 25 1 26 1 27

Vgl. Kant. Kritik der reinen Vgl. Kant. Kritik der reinen Vgl. Kanr. Kritik der reinen Vgl. Kant. Kritik der reinen Vgl. Kam. Kritik der reinen Vgl. Kam. Kritik der reinen Vgl. Kam. Kritik der reinen Vgl. Kant. Kritik der reinen

Vernunft, A 404. Vernunft, A 426-427/B 454-4 5 5 . Vernunft, A 434-435/B 462-463. Vernunft, A 444-445/B 472-473. Vernunft, A 452-4 53/B 480-48 1 . Vernunft, A 572-576/B 600-604. Vernunft, A 576/B 604. Vernunft, A 582/B 6 1 0.

Die drei Formen des Ich bei Kant

141

von Thesen und Antithesen so etwas wie eine letzte Tafel der Kritik der reinen Vernunft enthalten, während sich beim Ideal keine Tafel mehr findet. 128

b) Die Paralogismen nach der Version von 1 787 Obwohl Kant auch in der gegenüber A weit kürzeren B-Version des Paralogis­ muskapitels129 am Bezugspunkt der Kategorientafel festhält, werden doch die vier aus A bekannten Paralogismen nicht eigens ausgeführt, sondern Kant geht von einem Vergleich zwischen der (transzendental-}logisch bestimmbaren Ap­ perzeption und der im reinen Denken nicht wirklich erkennbaren Seele aus. Kant stellt also in B die transzendentale Einheit des Bewußtseins und die analy­ tischen Urteilsfunktionen ins Zentrum seiner Ausführungen. Noch immer muß der mangelnde Erfahrungsbezug der rationalen Psychologie als ihr Hauptfehler angesehen werden. Doch daneben tritt in B ein anderer, in A wenig beachteter Fehler, nämlich das der Psychologie fehlende Bewußtsein von der notwendigen Verbindung aller wahren Erkenntnis mit der transzendentalen Apperzeption. 13° So wird aus dem Formfehler der A-Paralogismen in B ein doppelter Formfehler: Zum einen verstößt die rationale Seelenlehre gegen die notwendige Form der Erkenntnis, indem ein Anschauungsbezug der behaupteten Einsichten in das Wesen der Seele weder vorhanden noch angestrebt ist; zum anderen verstößt sie gegen die alles Denken grundlegende Form des transzendentalen Bewußtseins, indem sie das denkende nicht vom gedachten Ich zu unterscheiden vermag. Die Bestimmungen, die dem reinen Ich der Apperzeption zukommen, werden von der rationalen Psychologie nicht in ihrem Funktionscharakter erkannt, sondern 1 28 Allgemein sei noch angemerkt, daß es beim Gesamtaufbau der Kritik der reinen Ver­ nunft ein Entsprechungsverhälrnis zu den Kategorien zu geben scheint, das allerdings hier nur angedeutet werden kann. Bis zum Ende der 'Analytik der Begriffe' findet eine Reflexion auf das Mögliche (der Erkenntnis) statt, wobei in der transzendentalen Deduktion der Übergang zum Wirklichen vollzogen wird. Bis zum Ende der Grundsatzlehre wird dann auf das Wirkli­ che reflektiert, wobei mit der Tafel des Nichts der Übergang zum Notwendigen (dem Ideal der reinen Vernunft) geschaffen wird, das aber nur in Form der Negation, also als Unmögliches ge­ dacht werden kann. Bis zum Ende der transzendentalen Dialektik vollzieht sich dann eine Re­ flexion auf das (scheinbar notwendig) Notwendige und der Rückgang zum Möglichen in Form der Negation (als Unmöglichkeit eines Beweises vom Dasein Gottes). Diese dritte Reflexions­ stufe verwendet darüber hinaus noch einmal die drei Modalitätskategorien, wie der oben aus­ geführte Zusammenhang zwischen der vierten Kategoriengruppe und dem Ideal der reinen Vernunft bewies. 1 2 9 Vgl. D. Sturma. "Die Paralogismen der reinen Vernunft in der zweiten Auflage". In: G. Mohr und M. Willaschek (Hrsg.) . Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, a.a.O., s . 29 1-4 1 1 . 1 3 o Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 406.

1 42

Egologische Grundstrukturen in der Transzendentalphilosophie Kants

dem 'psychologischen' Ich als reale Eigenschaften auch außerhalb des Denkens zugesprochen. Die Psychologie verkennt, daß "nicht das Bewußtsein des Bestim­ menden, sondern nur die des bestimmbaren Selbst, d. i. meiner inneren An­ schauung (sofern ihr Mannigfaltiges der allgemeinen Bedingung der Einheit der Apperzeption im Denken gemäß verbunden werden kann) , [ . . . ] das Objekt" 131 ist. Im folgenden zeigt Kant an vier an der Ordnung der Paralogismen aus A ori­ entierten Punkten, daß die der transzendentalen Apperzeption als logischem Subjekt sinnvoll im Denken zuzusprechenden Bestimmungen dann als falsch an­ zusehen sind, wenn sie als Prädikate eines an sich seienden Subjekts genommen werden. So kann zwar von der reinen Apperzeption behauptet werden, sie sei das bestimmende Subjekt der Urteilsverhältnisse, aber der Schluß darauf, daß des­ halb das Ich als Objekt ein für sich selbst bestehendes Wesen sei, ist demgegen­ über falsch, da er auf die genannte doppelte Weise unbeweisbar ist. 132 - Noch deutlicher wird der Fehlschluß der rationalen Seelenlehre bei der zweiten erläu­ terten Bestimmung, dem aus A bekannten Paralogismus der Simplizität, der in B zwar nicht unter diesem Namen, doch mit derselben Problematik auftritt. 133 Während bei der (Selbst-)Erkenntnis des Ich als Apperzeption nur ein analyti­ scher Satz behauptet wird, der gerade deshalb richtig sein muß, weil er nicht über den in ihm untersuchten Begriff hinaus- und auf die Ebene der Realität übergeht, nimmt die rationale Psychologie mit der Behauptung, das denkende, 'psychologische' Ich sei Substanz, einen synthetischen Satz an, der wegen seiner fehlenden Grundlage falsch werden muß. Sowohl die B-Paralogismen als auch die B-Deduktion beziehen sich demnach auf die allem Denken inhärierende Urteilsform, die in den Paralogismen nach der Grundeinteilung von analytisch und synthetisch differenziert wird. Die Ur­ teilsform kann, richtig verstanden, die notwendige Beziehung zwischen Denken und Anschauung garantieren, wozu den in den Urteilen behandelten Gegenstän­ den (mögliche) Anschaubarkeit zukommen muß. Da die Ideen auf der einen und das reine Ich auf der anderen Seite aber beide aus unterschiedlichen Grün­ den nie anschaubar gemacht werden können - die Ideen liegen in einem Be­ reich, der die Grenze des reinen Denkens nach außen hin überschreitet und der deshalb nur von praktischer Relevanz sein kann, das Ich ist so weit mit dem Bereich des reinen Denkens identisch, daß es nicht ohne Wesensveränderung aus diesem hinaus- und in den Bereich der nachprüfbaren Wirklichkeit eintreten

1 3 1 Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 407. 1 3 2 Vgl. ebd. 1 33 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 407-408.

Die drei Formen des Ich bei Kant

1 43

kann 134 , können sie auch nicht in die für alle wirkliche Erkennbarkeit notwen­ dige Urteilsform gebracht werden. Deshalb müssen alle Aussagen über sie dann zu einem bloßen Schein absinken, wenn ihnen ein wirklicher Gehalt und nicht nur eine Erkenntnis im Denken zugeschrieben wird. Hierbei ist anzumerken, daß das vor allem in der Deduktion analysierte Ver­ mögen zu synthetisierenden Leistungen grundsätzlich bei jedem Denken Ver­ wendung findet. Die Urteile machen schon durch ihre Grundform (S ist P) diese Synthesis aus den verschiedenen Komponenten von Verstand und Sinn­ lichkeit ausdrücklich und durch ihre notwendige Beziehung auf Anschauung, wenn auch nicht greifbar, so doch begreifbar. Bei Körperbegriffen, die beurteilt werden, kann wegen der gegebenen Nachprüfbarkeit durch Anschauung Wahr­ heit beansprucht werden, die unveränderliche Denkfiguren bereitstellt, die allen Folgenden Denk- und Urteilsprozessen zugrunde liegen werden. Bei den Ideen oder dem Ich hingegen ist solche Anschaubarkeit nicht gegeben, so daß nicht die Wahrheit einer Wirklichkeit, sondern nur eine praktische Wahrheit oder eine denkimmanente und als solche notwendige Wahrheit behauptet werden kann. Die Synthesisvermögen sind also im Menschen immer schon angelegt. Werden sie allein nach ihrem Funktionsgehalt analysiert, und wird auch die durch sie er­ reichbare höchste Reflexionsebene der transzendentalen Apperzeption allein in ihrer formalen Denkfunktion bestimmt, so können auch über das Ich im und als Denken wertvolle Einsichten gewonnen werden. Werden aber die Syntheselei­ stungen mit ihrem obersten Punkt als 'psychologisches' Ich oder Seele inhaltlich­ real bestimmt, so können nur die Scheineinsichten der rationalen Seelenlehre, ihre Paralogismen, entstehen. Auch der dritte Paralogismus weist die schon beim zweiten hervorgetretene Fehlerquelle der Verwechslung von analytischen und synthetischen Urteilen auf. Da die rationale Psychologie für sich mit der Bestimmung des Ich als Person ei­ nen erkenntniserweiternden Anspruch erhebt, der aber durch keine Anschauung verifiziert werden kann, verfällt sie wieder einem gefährlichen Schein. An die A­ Paralogismen konnte sich eine allgemeine Betrachtung des Personbegriffs an­ schließen; da jedoch die Persönlichkeit in B als zur Substantialität der Seele ge­ hörig begriffen wird, muß auch die weiterführende Idealismusproblematik an -

1 34 Wenn das reine Ich der transzendentalen Apperzeption allerdings einer derartigen We­ sensveränderung unterworfen wird, kann es untersucht werden. Es ist dann aber notwendig zu einem nur noch empirischen Ich geworden, das als Thema der empirischen Psychologie, also der Anthropologie, fungieren kann. Alle darin gewonnenen Aussagen über ein körperliches Ich sind zwar anschaulich nachprüfbar, aber für die von der rationalen Psychologie behauptete Er­ kenntnis des reinen 'psychologischen' Ich nicht aufschlußreich.

1 44

Egologische Grundstrukturen in der Transzendentalphilosophie Kants

dieser Stelle von Kant nicht eigens erörtert werden, so daß sie sogar an einer an­ deren Stelle der Kritik der reinen Vernunft plaziert werden kann. 135 Ebenso wie die vorhergehenden Paralogismen macht sich auch deren vierte Behauptung der Unabhängigkeit des denkenden Wesens von der Außenwelt ei­ nes Fehlschlusses wegen der Nichtbeachtung des Unterschieds von analytischen und synthetischen Urteilen schuldig. 136 So zeigt sich an diesem Paralogismus be­ sonders deutlich der in B bearbeitete Grundfehler der rationalen Seelenlehre, der darin besteht, eine nur im Denken gültige Bestimmung des Ich als wirkliche Objekterkenntnis mißzuverstehen. An dieser für alle Paralogismen geltenden Be­ stimmung wird noch einmal sichtbar, daß ein doppelter Formfehler das Schei­ tern der rationalen Psychologie herbeiführt: Indem sie weder auf die für alle wahre Erkenntnis notwendige Form aus Denken und Anschauung noch auf die von ihr verwendete Form des synthetischen Urteils, das zwar an sich erkenntnis­ erweiternd, aber in ihrem Fall nicht nachprüfbar ist, achtet, muß sie mit ihren Schlußfolgerungen über das wirkliche Wesen des 'psychologischen' Ich notwen­ digerweise fehlgehen. Dies erweist sich ebenfalls bei der nachfolgenden 'Wider­ legung des Mendelssohnschen Beweises der Beharrlichkeit der Seele' 137, wo die Fehlschlüsse der rationalen Seelenlehre in einer Tafel zusammengefaßt werden: " 1. Ich denke, 2. als Subjekt, 3. als einfaches Subjekt, 4. als identisches Subjekt, in jedem Zustande meines Denkens. " 1 38 - Dennoch gilt auch beim 'psychologi­ schen' Ich und bei der Kritik an der rationalen Psychologie, daß Kant über die negativen Aspekte hinausgeht und mittels einer Funktionsanalyse zu positiven Ergebnissen gelangt. Wie bereits mehrfach gesehen, werden beide Fassungen des Paralogismuskapi­ tels von einem Formfehler bestimmt, wobei es zu verschiedenen Schwerpunkt­ setzungen kommt: Während in A der mangelnde Anschauungsbezug von zentra­ ler Bedeutung ist, der mit dem logischen Formfehler gekoppelt ist, der dem ge­ samten Abschnitt der Kritik der reinen Vernunft seinen Namen gibt, wird in B die falsche Anwendung der Urteilsform entscheidend, da die rationale Psycholo­ gie die analytischen Bedingungen des Denkens synthetisiert und daher die analytischen Kennzeichen des denkenden Ich mit realen Eigenschaften des Sub-

1 35 Auf diesen Zusammenhang macht besonders H. F. Klemme in Kants Philosophie des Subjekts, a.a.O., S. 371 aufmerksam, indem er erweist, daß es durch die Art, wie die Persön­ lichkeit 1 787 als unmittelbares lmplikat der Substantialität der Seele aufgefaßt wird, keine Notwendigkeit mehr gibt, die Idealismusproblematik zu erörtern; im Zentrum des Paralogis­ mus B steht nämlich nach Klemme allein der Beweis der (einfachen) Substantialität der Seele. 1 36 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 409. 1 37 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 4 1 3-428. 1 3 8 Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 4 1 9.

Die drei Formen des Ich bei Kam

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jekts verwechselt. B geht also radikaler vor als A , denn wo in A nur der fehlende Anschauungsbezug festgehalten wird, behauptet B die Nichtbeurteilbarkeit eines solchen nicht anschaubaren Ich als wirklichen Gegenstandes von Aussagen. In A kann kein adäquater Begriff des Ich gebildet werden, weil dieses Ich nie ange­ schaut werden kann; in B kann das Ich nicht als Objekt angenommen werden, weil es nie beurteilt werden kann. In A kann kein Ich-Begriff entwickelt werden, in B kann es kein reales Ich-Objekt mehr geben.139 Dies bedeutet nicht, daß in B behauptet würde, das 'Ich denke' der transzendentalen Apperzeption könne in seiner Funktion für das Denken nie erkannt werden, sondern nur, daß dieses Ich niemals ein anschaubares, reales Objekt synthetischer Urteile sein kann. Daß eine funktionale Denkbestimmung des reinen Ich möglich ist, beweist die De­ duktion, die Kants eigenen Ich-Begriff enthält. Daß allerdings die bloße Form des 'psychologischen' Ich keine Objekterkenntnis ermöglicht, weil weder der An­ schauungsbezug gegeben noch der Kategorienbezug korrekt durchgeführt ist, be­ weisen die Paralogismen von 1787. Der falsche Kategorienbezug wird erst in B in seiner vollen Bedeutung erschöpft, wohingegen in A der fehlende Anschau­ ungsbezug im Mittelpunkt steht. Auch in dieser Hinsicht geht B über A hinaus; denn während in A nur nachgewiesen wird, daß das 'psychologische' Ich nie Ge­ genstand einer Anschauung werden kann, so daß auch der kategoriale Apparat nie greifen kann, wodurch ein echter Ich-Begriff verhindert wird, weist B nach, daß das 'psychologische' Ich deshalb nicht erkannt und begrifflich bestimmt werden kann, weil es kein Gegenstand äußerer Sinne ist, so daß ein Ansetzen von Sinnlichkeit und Verstand unmöglich ist. Wenn in A die Unmöglichkeit der begrifflichen Erfassung noch auf den zuerst feststellbaren Mangel an Anschau­ barkeit zurückgeführt wird, sind die Unmöglichkeit des sinnlichen und des kate­ gorialen Zugangs zum Ich in B untrennbar verbunden. Dies macht die Erkennt­ nisse aus A nicht unwahr, sondern diese werden in B so erweitert, daß die Kritik an der rationalen Psychologie auf einer fundamentaleren und unangreifbaren Ebene ansetzt. Wo A erst auf die Unmöglichkeit der Anschauung verweist, be­ weist B schon die Unmöglichkeit der Erkennbarkeie des Ich. - Obwohl auch in B die vier Paralogismen aus A analysiert werden, fällt doch die Kritik in B kürzer aus, da der Schwerpunkt der Argumentation auf dem einen umfassenden Grundfehler der rationalen Psychologie liegt, der - einmal in seinem Folgen­ reichtum erkannt - eine detaillierte Auseinandersetzung mit jedem einzelnen der vier Fehlschlüsse überflüssig macht. Indem A also in weniger konzentrierter Form als B vorliegt, wird klar, weshalb sich die frühere Fassung der Paralogismen auf zahlreichere Abschnitte der Kritik der reinen Vernunft bezieht als B, wo nur

I 39 Vgl. dazu: R.-P. Horstmann. "Kants Paralogismen", a.a.O., S. 4 1 9 und S. 422.

1 46

Egologische Grundstrukturen in der Transzendentalphilosophie Kants

der eine Bezugspunkt der Deduktion (B) wirklich bedeutsam wird140• So werden in A Verbindungen zur A-Deduktion sichtbar, weil sich das Fehlen des sinnlichen Anteils beim Ich in enger Beziehung zum Ich als Gegenstand des inneren Sinnes befindet, und weil dabei die Differenz zwischen der positiven Wahrheitslehre der Deduktion und der negativen Wahrheitslehre der Para­ logismen deutlich hervortritt; außerdem ergeben sich Bezugspunkte zur Wider­ legung des Idealismus, zu den Unterscheidungen von Phaenomena und Noume­ na sowie zwischen Erscheinung und Ding an sich, zum Amphiboliekapitel mit seinem zentralen Reflexionspaar von Materie und Form und zur Lehre von Raum und Zeit in der transzendentalen Ästhetik. 141

2.

Der Obergang zu den Funktionen des 'psychologischen' Ich: die Tafel des Nichts

Damit dem 'psychologischen' Ich eine positive Funktion zugesprochen werden kann, so daß es das Projekt der Vernunftkritik befördern kann, muß der äußerste Bereich des Negativen, der dieser Form des Ich innewohnt, untersucht werden, um nach dieser Grenzklärung die bislang negative Charakteristik des 'psycholo­ gischen' Ich in eine positive Funktionsbestimmung überfUhren zu können. Hierzu soll wiederum die Nichts-Tafel als Umschlagspunkt herangewgen wer­ den. Damit das 'psychologische' Ich in seiner positiven Funktion erkannt wer­ den kann, muß es bis in den ihm korrespondierenden Bereich des Nichts ver­ folgt werden, d. h. bis zu seiner letzten negativen Entsprechung, durch die er­ sichtlich wird, daß es, um der mit dem Ich eng verbundenen Idee der Unsterblichkeit ein eigenes Sinngefiige zu geben, eines Übergangs in den Be­ reich der praktischen Philosophie bedarf. Dem 'psychologischen' Ich entspricht als negatives Pendant der Bereich des nicht anschaubaren Begriffs, d. h. die Nichts-Form des 'ens rationis', die zunächst fiir sich dargestellt werden soll. 142 Der erste Nichts-Begriff ist der gesamten ersten Kategoriengruppe entgegen­ gesetzt, indem Keines der Gesamtheit von Allem, Vielem und Einem entgegen1 40 Das Wesen der Veränderungen in B liegt also in einer Vereinheitlichungstendenz, wäh­ rend A von größerer innerer Differenzierung geprägt ist; B liefert eine Gesamttheorie, A eine innere Strukturanalyse. 1 4 1 Indem die B-Fassung den mangelnden Anschauungs- und Denkbezug gleichwertig the­ matisiert und nicht das eine aus dem anderen folgen läßt, kann erst in B erklärt werden, wes­ halb die gemeinschaftliche Wurzel der beiden Erkenntnisvermögen nur eine regulative Idee sein kann, die nicht selbst erkennbar ist, weil auch bei ihr Anschauung und Denken gleicher­ maßen ansatzlos bleiben müssen. [Vgl. D. Henrich. " Über die Einheit der Subjektivität", a.a.O., S. 42.] 1 4 2 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 347/B 290-29 1 .

Die drei Formen des Ich bei Kant

1 47

steht; er stellt also eine Verneinung der Quantität dar. Zwar kann bei dieser Form des Nichts noch ein Begriff gebildet werden, doch ihm korrespondiert keine mögliche Anschauung - ebenso wie dem Ich-Begriff der rationalen Psy­ chologie. Der zu diesem Nichts-Begriff gehörende Gegenstand ist leer, so daß das Vermögen der Sinnlichkeit nicht mehr ansetzen kann. Dadurch kann keine Erkenntnis entstehen, die doch auf dem Zusammenspiel von Sinnlichkeit und Verstand beruht. Dies hat wiederum zur Folge, daß kein echter Begriff gebildet werden kann, dem wenigstens potentiell die Möglichkeit der Anschauung bzw. der Anschaubarmachung entspricht. Wo aber nicht die Sinnlichkeit den Zugang zu der begrifflich-synthetisch zu fassenden Materie liefert, kann auch keine An­ schaubarkeit erzielt werden. Der Verstand allein kann keine Materie geben und bezieht sich nur auf die Form des Gegenstandes. Dem ersten Nichts-Begriff fehlt also die Anschauungsseite der Sinnlichkeit und damit die positive Begriffsseite, so daß keine adäquate Vorstellung einer extensiven Größe gebildet werden kann, was aber nach der Grundsatzlehre die notwendige Bedingung für den Zugang zu Erscheinungen als Erfahrungsgegenständen darstellt. Als Beispiele für den ersten Nichts-Begriff nennt Kant zum einen Gedanken­ spiele von neuen Grundkräften, die zwar der Erfahrung nicht widersprechen, in ihr aber auch nicht angetroffen werden können. 1 43 Zum anderen führt er die in einem eigenen Abschnitt der Kritik der reinen Vernunft behandelten Noumena bzw. Gedankendinge an 144, die ebenso der Erfahrung nicht widersprechen, aber durch sie weder bewiesen noch widerlegt werden können. Kant unterscheidet Noumena in positiver und negativer Bedeutung. 145 Bei den Noumena in negati­ ver Bedeutung werden Dinge an sich gedacht, ohne daß der Versuch einer Be­ stimmung ihres Ursprungs gemacht würde. Bei den Noumena in positiver Be­ deutung werden ebenfalls Dinge an sich gedacht, aber unter Berücksichtigung der Weise ihres Entstehens, nämlich aus einem anschauenden, göttlichen Ver­ stand. Durch diese Beziehung auf einen unbekannten, positiv nicht bestimmba­ ren göttlichen Verstand gehören die Noumena in positiver Bedeutung nicht mehr zum sinnvoll Vorstellbaren. Die Noumena, die allein sinnvoll gedacht wer­ den können, sind also nur die im negativen Verstande. Damit sind sie aber in­ haltsleer und somit Nichts, also nur zur Grenzbestimmung für den Verstand tauglich.146 - Da Kant beim 'ens rationis' die Ununterscheidbarkeit von Mögli­ chem und Unmöglichem bei allen Beispielen betont, liegt es nahe, auch die 1 43 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 4 1 5-4 1 8 . 1 44 Vgl. hierzu und zu den folgenden Ausführungen: Kant. Kritik der reinen Vernunft,

A 23 5-260/B 294-3 1 5, besonders B 307. 1 45 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 307. 1 4 6 Vgl. E. M. Vallenilla. Die Frage nach dem Nichts bei Kant, a.a.O., S. 32-56, beson­ ders S. 33.

Egologische Grundstrukturen in der Transzendentalphilosophie Kants

1 48

Ideen in diese erste Nichts-Gruppe einzuordnen. Denn auch sie können in der Existenz ihrer Gegenstände weder bewiesen noch widerlegt werden - wohin­ gegen ihre praktische Relevanz festzuhalten ist. 147 Diese Gleichwertigkeit von Möglichkeit und Unmöglichkeit führt zum dialektischen Schein, der für den Erfahrungsbereich ein Nichts bedeutet. Der Zusammenhang zwischen dem ersten Nichts-Begriff und dem 'psycholo­ gischen' Ich dürfte somit deutlich geworden sein. Da beiden Formen die An­ schauungsseite fehlt und auch nicht nachträglich gegeben werden kann, können beide für sich keine positive Wahrheit beanspruchen. Indem das 'psychologische' Ich darin, daß es niemals Gegenstand einer objektiven Erfahrung werden kann, den Noumena gleichkommt, muß auch diese Form des Ich dem Bereich des Nichts eingegliedert werden. Die Wt>sensanalyse kann deshalb weder beim Ich noch beim Nichts zu positiven Bestimmungen führen; dies ist jedoch nicht der Fall bei einer Funktionsanalyse der beiden Formen. Während beim 'natürlichen' Ich die Nichts-Tafel in erster Linie als Übergangsbereich zwischen Analytik und Dialektik herangewgen werden konnte, stehen beim 'psychologischen' Ich noch mehr die Übereinstimmungen zwischen der Form des Nichts und der des Ich im Vordergrund. Sie sind vor allem in dem bei beiden Formen vorliegenden charak­ teristischen Mangel an Anschaubarkeit und Erfahrbarkeit zu erkennen. Weder das 'psychologische' Ich noch das 'ens rationis' können angeschaut werden, so daß sie inhaltlich negativ zu bewerten sind. Dennoch führen beide Formen zu einem Erkenntnisfortschritt, indem sie dazu herangewgen werden können, fal­ sche und wahre Einsichten voneinander zu trennen. So wie die Nichts-Tafel zur Bestimmung der Grenzen der reinen Vernunft genutzt werden kann, indem das Nichts zum einen der negativen Funktion der reinen Vernunft korrespondiert und zum anderen als Umgrenzung der Wahrheit von außen verstanden werden kann, so kann auch das 'psychologische' Ich in seiner grenzziehenden Funktion Verwendung innerhalb der transzendentalen Philosophie finden. Denn obwohl die rationale Psychologie keinen positiven Inhalt hat, kann sie doch zur negati­ ven Grenzbestimmung der reinen Vernunft eingesetzt werden, aus der dann wie­ der positive Ergebnisse entwickelt werden können. 148 Auf diese eingeschränkte Weise ist die rationale Psychologie mit der aus ihr zu entwickelnden Form des 'psychologischen' Ich positiv für das Programm und System der Kamischen Ver­ nunftkritik nutzbar zu machen.

1 47 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 405-567/B 432-595. 1 4 8 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 42 1 . - Siehe dazu auch: A 708-7 1 2/B 736-

740.

Die drei Formen des Ich bei Kant 3.

1 49

Die Funktionen des 'psychologischen' Ich

Wird das 'psychologische' Ich nicht nur nach seinem Eigenwesen betrachtet, des­ sen Bestimmung immer negativ ausfallen muß, weil diese Ich-Form dem Erfah­ rungsbereich und damit der Wahrheitsfähigkeit verschlossen bleibt, sondern werden auch sein funktionaler Gehalt sowie seine grenzziehende Aufgabe mit einbezogen, so können dadurch mehrere positive Ergebnisse erzielt werden: Mittels der rationalen Psychologie als Disziplin lassen sich Aufschlüsse über Kants eigene Ich-Theorie gewinnen, indem Kant in einer wichtigen Anmerkung die Bestandteile seines eigenen Ich-Begriffs verbindet. Diese Ausführungen bil­ den eine Einleitung in die Problematik der Deduktion und führen zur dritten Form des Ich. Weiterhin können Aufschlüsse über die Idee der Unsterblichkeit gewonnen werden, die mit dem 'psychologischen' Ich ebenso eng verknüpft ist wie die Idee der Freiheit mit dem 'natürlichen' Ich. Zuletzt zeigt sich, wie die Form des 'psychologischen' Ich, von Scheinhaftigkeit und falschen Ansprüchen befreit, die (empirische) Psychologie als Wissenschaft begründen kann. Über den von Kant selbst vertretenen Ich-Begriff bietet insbesondere B 422 423 der Kritik der reinen Vernunft Aufschluß, denn "in dieser Fußnote hat Kant alle wesentlichen Elemente seiner Ich-Theorie, soweit sie sich überhaupt positiv als eine Art Phänomenologie des Ich-Bewußtseins formulieren läßt, inte­ griert" 149. Der empirische Satz 'Ich denke' enthält den Satz 'Ich existiere' in sich. Es gilt aber nicht: �les, was denkt, existiert', da dieser Schluß aus dem logi­ schen Bereich auf die Wirklichkeit übergehen will, so daß verschiedene Bereiche vermengt werden. Hieran zeigt sich wieder der fundamentale Unterschied zwi­ schen formaler und transzendentaler Logik; es wird nämlich nur eine notwen­ dige Folgebeziehung konstruiert, die aber noch nichts über die Notwendigkeit bestimmter denkender Individuen aussagt; im Bereich der Wirklichkeit gibt es nichts, was denkt, aber nicht existiert. Im rein logischen Bereich kann also vom Denken auf das Existieren geschlossen werden, weil das 'Ich denke' mit dem 'Ich existiere' identisch ist. 1 50 Doch diese Schlußweise ist für die auf den Inhalt von Urteilen bezogene transzendentale Logik nicht statthaft, so daß zwar logisch eine Identität von Denken und Existieren (obzwar nicht von Existieren und Denken) gelten mag, aber nicht transzendentallogisch auf die Wirklichkeit geschlossen werden darf: 'Denkendes ist identisch mit Existierendem'. Beachtenswert in diesem Zusammenhang sind Kants Aussagen über das 'Ich denke' und die Schlußfolgerungen, die aus ihnen gezogen werden können. Zu1 49 R.-P. Horstmann. "Kants Paralogismen", a.a.O., S. 424. 1 5 0 Problematisch bleibt diese Identifizierung jedoch deshalb, weil 'Ich denke' und 'Ich exi­

stiere' keine Ausdrücke und Gegenstände der formalen Logik darstellen, so daß es sich hier um eine Rückübertragung aus dem Bereich der transzendentalen Philosophie zu handeln scheint.

1 50

Egologische Grundstrukturen in der Transzendentalphilosophie Kants

nächst wird durch die Bestimmung des 'Ich denke' als empirischer Satz deutlich, daß die rein intellektuelle Vorstellung 'Ich' immer von empirischen Vorstellun­ gen als Stoff beliefert werden muß, da sonst kein Denkakt stattfinden könnte. Das Empirische ist die notwendige Bedingung der Anwendung des rein intellek­ tuellen Vermögens des Ich. Das Ich des 'Ich denke' kann in seiner Existenz nicht bewiesen werden, weil es nur den Denkakt begriffiich zusammenfaßt, so daß es nur eine reine Größe im Denken, nicht aber in der Anschauung ist. Selbst wenn dieser Akt aufgrund der Belieferung des Denkens mit empirischem Material durch das Vermögen der Sinnlichkeit abläuft, so kann doch über das Ich nicht mehr gefolgert werden, als daß es diesen Denkakt als vereinheitlichende Form zusammenhält und begleitet, d. h. von der Materie kann nur auf die ihr korre­ spondierende Form geschlossen werden, die aber nicht aus diesem Materie­ Form-Bezug herausgelöst werden kann. Die obersten Reflexionsbegriffe von Ma­ terie und Form sind damit nicht nur die obersten Gesetze im Denken, sondern auch für das Denken selbst. Ob das Ich also im Moment des Denkens real exi­ stiert oder nicht, kann aus dem Denkakt nicht erschlossen werden; sicher scheint nur, daß die Form des Ich für das Denken in einem weitesten Sinne 'existiert', wobei diese Ausdrucksweise dadurch problematisch wird, daß Kant den Formen und Funktionen keine eigene Seinsweise im Denken zuerkennt. Wird eine sol­ che Seinsweise der Form des Ich im Denken angenommen, so können zum ei­ nen Aussagen über den Inhalt des Denkens in einem auf den Begriff des Ge­ dachten sich beziehenden übergeordneten Reflexionsprozeß gemacht werden, die sich sowohl auf den materialen Gehalt des Denkgegenstandes beziehen als auch auf den Modalitätsstatus des Reflexionsprozesses selbst, d. h. ob er wirk­ lich, möglich oder notwendig ist. Das Ich ermöglicht dadurch die Existenzbe­ stimmung des Gedachten, d. h. des im Denken Analysierten. Zum anderen kön­ nen mittels einer solchen Seinsweise auch Aussagen über den Denkgehalt der Form des Ich gemacht werden, die zwar der Erkenntnis niemals in stoffiicher Form zur Bearbeitung gegeben werden kann, die aber durch ihre unverzichtbare funktionale Stellung im Erkenntnisprozeß selbst Gegenstand einer formal-funk­ tionalen Einsicht zu werden vermag. Das Ich kann also nicht als empirischer Ge­ genstand erkannt werden, da ihm dafür immer die Anschauungsseite fehlt, so daß es, als realer Gegenstand genommen, zu den Scheineinsichten über die Seele führen muß, denen die rationale Psychologie erliegt, indem sie weder logischen noch empirischen Erkenntnisanforderungen Genüge tut. Im empirischen Be­ reich ist das Ich als Seele verstanden Nichts, nämlich ein leerer Begriff ohne Ge­ genstand, ein 'ens rationis'. Dennoch kann das Ich als Gegenstand des Denkens und Zentrum der Denkhandlungen, wenn auch nicht anschaulich erkannt, so doch funktional und formal in seinem Wesen bestimmt werden. Dieses Wesen entspricht weder der Realität oder Substanz noch dem Dasein, da all diese

Die drei Formen des Ich bei Kant

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Bestimmungen auf ein notwendiges Anschauungspendant verweisen, wo­ hingegen das (Sein des) Ich als eine "unbestimmte empirische Anschauung" 1 5 1 , die rein intellektuell ist, weil sie zum Denken überhaupt gehört, zwar nicht angeschaut, aber doch denkend erfaßt werden kann. Das Ich kann also in seiner Denktätigkeit und seiner Funktion für das Denken begriffen werden, es ist also etwas, "was in der Tat existiert"1 52• Das 'Ich denke' weiß folglich um seine Existenz; sie ist ihm gegeben und mit ihm identisch, aber es hat dieses Selbstwissen nur in einer unbestimmten empiri­ schen Anschauung. Dabei weist die Unbestimmtheit darauf hin, daß das Ich eben keine gewöhnliche Erscheinung ist, die immer sinnlich-kategorial be­ stimmbar ist; dennoch ist das Ich auch kein Ding an sich, sondern etwas dem menschlichen, endlichen Denken Zugängliches; und dadurch, daß der Anschau­ ungscharakter betont wird, zeigt sich, daß das Ich doch eine eigene Form des Seins besitzen muß, obgleich nur im Denken. Diese Anschauung ist also eine Wahrnehmung vor aller Erfahrung, d. h. ein apriorisches Wissen des Ich um sich selbst in der Tat des Denkens. Dieses Wissen stellt somit eine nichtsinnliche Er­ fahrung dar, die jeder anderen Erfahrung vorausgehen muß, weil das 'Ich denke' "alle meine Vorstellungen begleiten können" l 53 muß. Kant nimmt gerade in die­ ser Fußnote zum Paralogismuskapitel Bezug auf das Wissen des Ich um sich selbst in einer intellektuellen Vorstellung, die als reflektierende Anschauung des denkenden Ich allerdings nicht mit der sonst von ihm für den Menschen als un­ möglich erkannten intellektuellen Anschauung1 54 verwechselt werden darf, son­ dern dieser nur begrifflich nahesteht. 1 55 1 5 1 Kant Kritik der reinen Vernunft, B 422. 1 5 2 Kant Kritik der reinen Vernunft, B 423. (Kursivierung ergänzt von R P.) - Nach der .

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Kantischen Ich-Theorie ist das 'Ich denke' also eine unbestimmte Wahrnehmung, die nur dann begriffen werden kann, wenn sie aus Anlaß der Handlung des Denkens aktualisiert wird. Das Ich existiert also nur in der Tat. (Vgl. Fichte.) 1 53 Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 1 32. 1 54 Vgl. zum Beispiel: Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 1 48. 1 55 Verständlicherweise haben sich einige von Kants Nachfolgern gerade auf diese Stelle be­ zogen und aus dieser reflektierenden, intellektuellen Anschauung eigene Schlüsse gezogen: Während Fichte nur allgemein davon ausging, daß Kant die intellektuelle Anschauung zwar wohl kannte, aber nicht auf sie reflektierte (was so nach Kenntnisnahme der hier behandelten Fußnote nicht mehr aufrechtzuerhalten ist) , so daß Kants ganze Philosophie nur ein Resultat dieser Anschauung sei [vgl. J. G. Fichte. Wissenschaftslehre nova methodo. Kollegnachschrift 1 798/99. Hrsg. von E. Fuchs. Hamburg, 1 982: S. 32. Zum Begriff der intellektualen An­ schauung bei Fichte vgl. N. Hartmann. Die Philosophie des deutschen Idealismus. Berlin, 2 1 960: S. S I .] , geht Schelling sehr detailliert auf diese Anmerkung Kants ein: "Nun aber be­ haupten wir, daß der menschliche Geist, indem er von allem Objektiven abstrahirt, in dieser Handlung zugleich eine Anschauung seiner selbst habe, die wir intellektual heißen, weil ihr Gegenstand ein lediglich intellektuales Handeln ist." [E W. J. Schelling. Abhandlung zur Er­ läuterung des Idealismus der Wissenschafts/ehre. In: E W. J. Schelling. Ausgewählte Schriften -

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Egologische Grundstrukturen in der Transzendentalphilosophie Kants

In dieser reflexiven Selbstbewußtwerdung des Ich liegt der Kern der Selbstbe­ wußtseinstheorie Kants, wie sie die Deduktion ausführlich dokumentiert. 1 56 Denn diese Fußnote zeigt einerseits, daß das Ich eine auf das Denken bezogene Funktion ist, die jedem Denkprozeß erst seine eigene Form verleiht; sie zeigt aber andererseits, daß diese alles Erkennen bestimmende Handlung des 'Ich denke' nur dann überhaupt stattfinden kann, wenn das Ich sich dabei auf Empi­ risches richtet, so daß der (vor allem in A) herausgearbeitete Grundfehler der ra­ tionalen Psychologie vermieden werden kann. 1 57 - So erhellt die Kantische An­ merkung {B 422-423) seinen eigenen Ich-Begriff. Indem die Analysen der ratio­ nalen Psychologie dazu den Anlaß geben, da sie nach der transzendentalen Deduktion noch einmal eine gedrängte Zusammenfassung der Subjektivitäts­ struktur erforderlich machen, kann in dieser Auslegung des 'Ich denke' durch Kant das erste positive Ergebnis der Funktion des 'psychologischen' Ich gesehen werden. Sofern die Grenzen dieses Ich sichtbar werden, erhebt sich die Forde­ rung nach einer anderen, gelingenden Ich-Theorie, die Kant mit dieser Anmer­ kung und vor allem mit der transzendentalen Deduktion erarbeitet. Zusätzlich ergeben sich noch zwei weitere Folgen: So lassen sich Einsichten in die für alle Metaphysik zentrale Idee der Unsterblichkeit der Seele erzielen, und eine Begründung der (empirischen) Psychologie als Wissenschaft wird möglich. Wie schon beim 'natürlichen' Ich in bezug auf die Idee der Freiheit wichtige Er­ kenntnisse gewonnen werden konnten, so zeigt sich an der falschen Vorstellung der rationalen Psychologie von der Seele, daß die Idee der Unsterblichkeit im theoretischen Bereich keiner eindeutigen Bestimmung zugeführt werden kann. Denn wie die Idee der Freiheit, so bleibt auch die der Unsterblichkeit in der theoretischen Philosophie ohne sicheren Wahrheitswert, da auf logischem Wege in sechs Bänden. Band 1 : 1 794-1 800. Frankfurt am Main, 2 1 995: S. 2 1 2.] Diese Handlung erzeugt nach Schelling das reine Sdbstbewußtsein. [Vgl. E W. J. Schelling. Vom Ich als Prin­ cip der Philosophie oder über das Unbedingte im menschlichen Wissen. In: E W. J. Schelling. Ausgewählte Schriften in sechs Bänden. Band 1 : 1 794-1 800. Frankfurt am Main, 2 1 995: S. 7 1 .] Für Schelling ist also die intellektuale Anschauung, die auch er begrifflich von der göttli­ chen, dem Menschen unzugänglichen intellektuellen Anschauung unterscheidet, die Sdbstan­ schauung bzw. das Selbstobjektwerden des Ich. Damit stimmen die Analysen seines Systems des transzendentalen Idealismus überein, die in der Kunst die Objektivation der intellektualen Anschauung sehen, in der das Ich als Prinzip allen Wissens zum Objekt wird. [Vgl. dazu: D. Jähnig. Schelling - Die Kunst in der Philosophie. Pfullingen, 1 969: besonders Band 2: Die Wahrheitsfunktion der Kunst: S. 302-307.] (Schon bei Schelling wird also die Brücke von der Wissenschaft zur Kunst geschlagen und nicht erst bei Davidson oder Derrida, wie R. Rorty in "Non-Reductive Physicalism". In: K. Cramer, H. E Fulda, R. -P. Horstmann, U. Pothast (Hrsg.) . Theorie der Subjektivität, a.a.O., S. 295 fälschliehetweise behauptet.) 1 5 6 Daß diese Theorie also nicht dem oft vorgebrachten Zirkel- oder Iterationseinwand an­ heimfällt, erhellt schon aus ihrer reflexiven Struktur. [Vgl. dazu: K. Düsing. Selbstbewußt­ seinsmodelle, a.a.O., S. 1 04-1 07 und S. 1 99.] 1 57 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 423.

Die drei Formen des Ich bei Kant

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sowohl für ihre Wahrheit als auch für ihre Falschheit Argumente von gleichem Sicherheitsgrad vorgebracht werden können. Der Widerstreit der Vernunft kann auf keine Weise theoretisch gelöst werden, weil beide dogmatischen Behauptun­ gen ohne sicheres Fundament bleiben.158 Daß dieser Widerspruch nicht aufge­ löst werden kann, resultiert daraus, daß weder die Annahme der Unsterblichkeit der Seele noch ihr Gegenteil jemals einem Beweis durch den Anschauungsbe­ reich zugeführt werden können. Wenn daher über das Ich mit den Mitteln der rationalen Seelenlehre keine sicheren Erkenntnisse gewonnen werden konnten, weil die Möglichkeit der empirischen Bestätigung ebenso fehlt wie die Einsicht in die Notwendigkeit, daß das Empirische Bedingung der Anwendung des rein intellektuellen Vermögens ist, so sind ausgehend von der unhaltbaren rational­ psychologischen Vorstellung des 'psychologischen' Ich keine gesicherten Wahr­ heiten über die mit dem 'psychologischen' Ich verbundene Idee der Unsterblich­ keit zu gewinnen. Aus diesem Grund kann die Vernunft in ihrem theoretischen Gebrauch keinen Nutzen aus der weder beweisbaren noch widerlegbaren Idee der Unsterblichkeit ziehen. 1 59 Wenn der Idee der Unsterblichkeit der Seele160 kein theoretischer Nutzen zugesprochen werden kann, weil sie der Erfahrung niemals zugänglich (gemacht) werden kann, wenn also durch sie Wissen und Er­ kenntnis nicht zu erweitern oder auch nur abzusichern sind, "so wird ihre Wich­ tigkeit wohl eigentlich nur das Praktische angehen müssen" 161 • Somit ist der Weg aufgewiesen, wie die Idee der Unsterblichkeit der Seele für die Philosophie insgesamt doch von positivem Nutzen sein kann. Da sie in einem engen Verhält­ nis zum 'psychologischen' Ich steht, ist eine Möglichkeit ersichtlich geworden, wie auch dieser Form des Ich neben seiner negativen, grenzziehenden Funktion, durch die die rationale Psychologie zur Disziplin wird, ohne je Doktrin sein zu können, eine positive Aufgabe zukommen kann. Hieraus ist auch die letzte posi­ tive Funktion des 'psychologischen' Ich, nämlich die Begründung der (empiri­ schen) Psychologie als Wissenschaft, zu ersehen. Wenn die Bestimmung der Psy­ chologie als Disziplin Beachtung erfährt162, dann kann - neben einem prakti-

1 5 8 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 74 1/B 769. 1 59 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 798-799/B 826-827. 1 60 Diese Verbindung von Unsterblichkeit und Seele in der Idee oder gar ihre Spaltung in

zwei Ideen, nämlich die Idee der Seele [vgl. etwa: Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 682/ B 7 1 0] und die Idee der Unsterblichkeit [vgl. etwa: B 395] , scheinen einer Prädikatenhyposta­ sierung der rationalen Psychologie analog, die ebenfalls der Seele die Unsterblichkeit zuspricht, so daß sie sich als problematisch erweisen, da aus der Seelenidee transzendentalphilosophisch die Unsterblichkeit nicht abgeleitet werden kann. 1 61 Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 799-800/B 827-828. 1 62 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 42 1 .

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Egologische Grundstrukturen in der Transzendentalphilosophie Kants

sehen Nutzen 163 - auch der Bereich einer eigenständigen Psychologie als Wissenschaft angegeben werden. Neben den Inhalt der empirischen Psychologie ist mit der Analyse der Form des 'psychologischen' Ich noch der Aufweis der Entstehung ihrer wissenschaftlichen Form und Funktion getreten, so daß durch eine Gewährleistung des Form-Materie-Bezugs der Erweis des Wesens und der Vollständigkeit dieser Wissenschaft abgeschlossen ist.

C. Das 'transzendentale' Ich

Vorbemerkung Schon bei den ersten Wegen in die Transzendentalphilosophie konnten korre­ spondierende Formen des Ich nachgewiesen werden; ebenso entspricht dem drit­ ten Weg eine besondere Ich-Form, die als 'transzendentales' Ich bezeichnet wer­ den soll.164 Im Gegensatz zu den beiden anderen Ich-Formen stellt das 'transzen­ dentale' Ich eine positive Ich-Theorie dar, durch die Kants eigene Subjektivitäts­ lehre zugänglich wird. Bei ihr handelt es sich weder um eine Vorstufe zu einer transzendentalphilosophisch haltbaren Ich-Konzeption, wie beim 'natürlichen' Ich 165, noch um die Widerlegung einer unhaltbaren, nur durch ihren Funktions­ gehalt auch positiven Ich-Vorstellung, wie sie durch das 'psychologische' Ich ge­ geben ist, sondern um eine eigenständige, positive Form des Ich. Dies geht schon äußerlich daraus hervor, daß die Charakteristik des 'transzendentalen' Ich im wesentlichen durch eine Analyse der Deduktion der Kritik der reinen Ver­ nunft gewonnen werden kann, also aus dem analytischen und nicht dem dia­ lektischen Teil dieses Werks. Im folgenden soll deshalb zunächst eine Darstel­ lung der B-Deduktion unternommen werden, während der A-Deduktion später noch die Aufgabe zukommen wird, eine komplexe innere Differenzierung des 'transzendentalen' Ich nachzuweisen. Es kann weder um eine allen Einzelheiten

1 63 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 423---4 26: Der praktische Vernunftgebrauch erweitert die menschliche Existenz über die Grenzen der Erfahrung hinaus, und das morali­ sche Gesetz im Menschen geht so weit über allen Nutzen und Vorteil hinaus, daß die Erkennt­ nis doch unbegrenzt erweitert werden kann. 1 6 4 Vgl. allgemein zu Begriff und Problematik des Transzendentalen: J. Mittelmaß. " Über 'transzendental'". In: E. Schaper und W. Vossenkuhl (Hrsg.) . Bedingungen der Möglichkeit, a.a.O., S. 1 58-1 82. 1 6 5 Zum allgemeinen Zusammenhang zwischen empirisch-natürlicher und transzendenta­ ler Subjektivität sowie zu ihren spezifischen Differenzen vgl. J. Hubbert. Transzendentale und empirische Subjektivität in der Erfahrung bei Kant, Cohen, Natorp und Cassirer. Frankfurt am Main, 1 993.

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der beiden Versionen gerecht werdende Darstellung166 dieses zentralen Ab­ schnitts der Kritik der reinen Vernunft gehen noch um eine detaillierte Ausein­ andersetzung mit der gesamten Forschungsliteratur zur Deduktion.167 Beide Un­ ternehmen würden den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen, ohne letzt­ lich dem angestrebten Ziel einer Charakterisierung der Form des 'transzenden­ talen' Ich zu dienen. Deshalb soll versucht werden, zunächst eine Präsentation 1 66 Einen allgemeinen Überblick über die Deduktion - meist jedoch auf eine der beiden Versionen beschränkt - bieten zum Beispiel folgende Bücher und Aufsätze, ohne daß mit die­ ser Aufstellung Anspruch auf Vollständigkeit erhoben würde: K. Ameriks. "Kant's Transcen­ dental Deduction as a regressive Argument", a.a.O., S. 273-287. - B. Bauch. lmmanuel Kant, a.a.O., S. 204-232. - M. Baum. Deduktion und Beweis in Kants Transzendental­ philosophie. Untersuchungen zur 'Kritik der reinen Vernunft'. Königstein/Ts., 1 986. - W. Carl. Die transzendentale Deduktion der Kategorien, a.a.O. - W. Carl. "Die transzendentale Deduktion in der zweiten Auflage". In: G. Mohr und M. Willaschek (Hrsg.). Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, a.a.O., S. 1 89-2 1 6. - H. Cohen. Kants Theorie der Erfah­ rung, a.a.O., S. 384--420. - F. Grayeff. Ein Kommentar zu den grundlegenden Teilen der 'Kritik der reinen Vernunft', a.a.O., S. 1 25-20 1 . - R Heckmann. Kants Kategoriende­ duktion, a.a.O. - D. Henrich. "Die Beweisstruktur von Kants transzendentaler Deduktion". In: G. Prauss (Hrsg.) . Kant. Zur Deutung seiner Theorie von Erkennen und Handeln. Köln, 1 973: S. 90- 1 04. - D. Henrich. "Die Identität des Subjekts in der transzendentalen Deduk­ tion". In: H. Oberer und G. Seel (Hrsg.) . Kant, a.a.O., S. 39-70. - R Hiltscher. Wahrheit und Reflexion, a.a.O., S. 25-1 1 4. - R Hiltscher. "Kants Begründung der Adäquationstheorie der Wahrheit in der transzendentalen Deduktion nach B". In: Kant-Studien 84, 1 993: S. 426--447. - W. Hinsch. Erfahrung und Selbstbewußtsein, a.a.O. - M. Hossenfelder. Kants Konstitutionstheorie und die transzendentale Deduktion, a.a.O. - H. F. Klemme. Kants Phi­ losophie des Subjekts, a.a.O. - V. Nowotny. "Die Struktur der Deduktion bei Kant". In: Kant-Studien 72, 1 98 1 : S. 270-279. - A. Rosales. "Zur teleologischen Grundlage der tran­ szendentalen Deduktion der Kategorien", a.a.O., S. 377--404. - D. Sturma. Kant über Selbst­ bewußtsein, a.a.O., S. 30-56. - H. Vaihinger. "Die transzendentale Deduktion der Katego­ rien". In: H. Vaihinger. Philosophische Abhandlungen. Halle, 1 902. - H. J. de Vleeschauwer. La deduction transeendentale dans l'oeuvre de Kant. 3 Bände, Paris, 1 934-1 937. - H. Wag­ ner. "Der Argumentationsgang in Kants Deduktion der Kategorien". In: Kant-Studien 7 1 , 1 980: S . 352-366. - R Zocher. "Kants transzendentale Deduktion der Kategorien", a.a.O., s . 1 6 1 - 1 94. 1 67 Insbesondere soll die um D. Henrichs "Die Beweisstruktur von Kants transzendentaler Deduktion" entstandene Auseinandersetzung nicht weiterverfolgt werden, da dies in der For­ schungsliteratur zur Genüge geschehen ist. Reaktionen auf diesen Aufsatz finden sich etwa bei: R Brouillet. "Dieter Henrich et 'The Proof-Structure of Kant's Transeendental Deduction'. Reflexions critiques". In: Dialogue XIV, 4, 1 975: S. 639-648 . - K. Cramer. Nicht-reine syn­ thetiche Urteile a priori, a.a.O., S. 259-264. - V. Nowotny. "Die Struktur der Deduktion bei Kant", a.a.O., S. 270-279. - Eine ausführliche Darstellung dieser Diskussion sowie einen For­ schungsüberblick zur Deduktion nach Ausgabe B bietet P. Baumanns in "Kants transzenden­ tale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe (B) . Ein kritischer Forschungsbericht." Vier Teile. In: Kant-Studien 82, 1 99 1 : S. 329-348 und S. 436--455 sowie Kant-Studien 83, 1 992: S. 60-83 und S. 1 8 5-207. - Allgemeine Hinweise zu Henrichs Unternehmen einer vom Selbstbewußtsein ausgehenden nachkantischen Metaphysik gibt auch J. Habermas in "Meta­ physik nach Kant". In: K. Cramer, H. F. Fulda, R-P. Horstmann, U. Pothast (Hrsg.). Theorie der Subjektivität, a.a.O., S. 425.

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der B-Deduktion zu geben, um einen fundierten Zugang zum Bereich der tran­ szendentalen Subjektivität zu erlangen, woraus die Möglichkeit erwächst, das 'transzendentale' Ich zu erkennen, zu bestimmen und in dem ihm eigenen Ge­ biet des Denkens zu verorten. Die folgende Darstellung der transzendentalen Deduktion ist also keineswegs als neue Deutung dieses äußerst komplexen Text­ abschnitts gedacht, sondern sie wird hier allein in ihrer formalen Bedeutung als zentrales Verbindungsglied innerhalb der Subjektivitätsstruktur herangewgen. 168 Durch eine Analyse dieses Textabschnitts kann ein direkter Zugang zur Kanti­ schen Subjektivitätslehre und damit zur Transzendentalphilosophie überhaupt gewonnen werden. 169 Das 'transzendentale' Ich teilt also neben anderen Paralle­ len mit dem 'transzendentalen' Weg den voraussetzungslosen, direkten Eintritt in den Bereich der transzendentalen Philosophie.

1. Die Charakteristik des 'transzendentalen' Ich Bevor Kam sich in A und B der transzendentalen Deduktion zuwendet, hat er in beiden Fällen schon die sogenannte 'metaphysische Deduktion' 17° vollwgen171, in der "der Ursprung der Kategorien a priori überhaupt durch ihre völlige Zu­ sammentreffung mit den allgemeinen logischen Funktionen des Denkens" 172 dargetan wurde. Mit ihr liegt also die Ableitung der Kategorien aus der Urteils1 68 Zu Kants Ich-Theorie bietet auch K. Düsings "Cogito ergo sum?", a.a.O., S. 1 02-1 04 Aufschluß, vor allem was ihr Verhältnis zu Descartes bzw. zu Kants Reaktion auf Descartes betrifft. 1 69 Vgl. K. Gloy. Bewußtseinstheorien, a.a.O., S. 1 62, wo besonders darauf verwiesen wird, daß durch die in der Deduktion anvisierte Verbindung von Anschauung und Denken die höchste Form des Denkens, das sich selber denkende Denken oder das Selbstbewußtsein, angesprochen wird. 1 70 Vgl. zur metaphysischen Deduktion: R.-P. Horstmann. "Die metaphysische Deduktion in Kants Kritik der reinen Vernunft". In: B. Tuschling (Hrsg.) . Probleme der 'Kritik der rei­ nen Vernunft', a.a.O., S. 1 5-34. - C. E. Macann. Kant and the Foundations of Metaphysics. An Interpretative Transformation ofKant 's Critical Philosophy. Heidelberg, 1 98 1 : S. 46-49. 1 7 1 Zur Unterscheidung der metaphysischen Deduktion, die die synthetische Einheit der Apperzeption als Prinzip der logischen Urteile und Kategorien bestimmt, also auf eine urteils­ logisch vorgeprägte Bedeutung des Seienden zurückgreift, von der transzendentalen Deduk­ tion, die den Bezug der verstandesimmanenten Kategorien auf Objekte untersucht, siehe K. Düsing. Hege/ und die Geschichte der Philosophie. Ontologie und Dialektik in Antike und Neuzeit. Reihe: Erträge der Forschung, Band 206. Darmstadt, 1 983: S. 22 1 -23 1 . - J. Ben­ nett. Kant's Analytic, a.a.O., S. 79- 1 0 5 . - H. Röttges. Dialektik als Grund der Kritik. Grundlegung einer Neuinterpretation der 'Kritik der reinen Vernunft' durch den Nachweis der Dialektik von Bedeutung und Gebrauch als Voraussetzung der Analytik. Königstein/Ts., 1 98 1 : S. 88-1 48. (Vgl. hierzu: G. Mohr. "Objektivität und Selbstbewußtsein". In: Philoso­ phischer Literaturanzeiger 38, 1 98 5 : S. 284-287.) 1 7 2 Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 1 59.

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tafel vor, d. h. der Verstandesbegriffe aus der Logik, wobei Anschauung und Denken schon untrennbar verbunden sind. 173 In der metaphysischen Deduktion liegt die Herleitung der allem Denken zugrundeliegenden Kategorien vor, so daß diese erste Stufe der Deduktion durch die zweite, also die transzendentale Deduktion, keineswegs ungültig wird. Dies zeigt sich bereits bei der allgemeinen Definition der transzendentalen Deduktion in § 1 3 der Kritik der reinen Ver­ nunft174, und bestätigt sich bei einer Betrachtung des Aufbaus der B-Deduktion. Denn ohne Kategorien können auch die Bereiche von Sinnlichkeit und Denken nicht zusammengebracht werden, da zu einer transzendentalen Deduktion so­ wohl die Anschauungsformen als auch die Verstandesbegriffe aufgeklärt sein müssen. Obwohl die Kategorien durch die metaphysische Deduktion eingeführt worden sind, kann erst die transzendentale Deduktion ihre Apriorität als Bedin­ gung, derer der Verstand zur synthetischen Einheit des Denkens bedarf, nach­ weisen. 175 Die transzendentale Deduktion spaltet sich in zwei Teile auf, deren jeder von einem zusammenfassenden Paragraphen abgeschlossen wird (§§ 1 5 bis 20 und 2 1 bis 26) . Da es hier vornehmlich um Form und Funktion des 'transzendenta­ len' Ich geht, muß die Darstellung der einzelnen Paragraphen knapp ausfallen, wobei auch in dieser Hinsicht die Orientierung an der Form primär sein soll.176 In § 1 5 wird die zentrale Bedeutung der jedes Denken, Handeln und Erken­ nen bestimmenden und erst ermöglichenden Synthesis177 hervorgehoben, die als Subjekttätigkeit nur die Erkenntnis von Erscheinungen, niemals von Dingen an sich fundieren kann. 1 78 Synthesis ist also die Verbindung von Mannigfaltigkeiten

1 73 Vgl. Kam. Kritik der reinen Vernunft, A 79/B 1 05. 1 74 Vgl. Kam. Kritik der reinen Vernunft, A 85/B 1 1 7. - Auf die besondere Bedeutung

der Orientierung Kants am juristischen Verfahren verweist hierbei zum Beispiel R Bubner in "Selbstbezüglichkeit als Struktur transzendentaler Argumente", a.a.O., S. 65. (Angemerkt sei jedoch, daß andere Ausführungen Bubners in diesem Aufsatz fraglich sind, etwa seine Annah­ me einer Versprachlichung des Selbstbewußtseins, durch die die transzendentale Deduktion ihren zwingenden Charakter verlieren soll.) 1 75 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 90/B 1 23. 1 76 Zur Beweisführung der Deduktion vgl. zum Beispiel H. J. Paton. Kant's Metaphysics of Experience. 1 . Band. London, New York, 4 1 965: S. 547-58 5 . m Zum Begriff der Synthesis vgl. allgemein: H. Hoppe. Synthesis bei Kant, a.a.O. - P. Rohs. "Die transzendentale Apperzeption als Bedingung der Möglichkeit von objektiv wirkli­ cher Symhesis". In: G. Funke (Hrsg.) . Akten des 4. Internationalen Kant-Kongresses. Teil li, 1: Sektionen, a.a.O., S . 329. 1 7 8 Daß also Synthesis generell nur durch die Einheit der Apperzeption möglich ist, betont auch K. Düsing in Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik, a.a.O., S. 1 9. - Vgl. P. Guyer. "Kam on Apperception and A Priori Synthesis". In: American Philosophical Quarter­ ly, 1 980: s. 205-2 1 2.

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zu Einheiten, und erst an diesen Einheiten wird die Synthesis erkennbar, die also erst dann bewußt werden kann, wenn sie schon stattgefunden hat. 179 Die höchsten Einheiten, die durch dieses synthetisierende Vorgehen gewon­ nen werden können, gründen in der Einheit des Bewußtseins180, in der transzen­ dentalen Apperzeption, im 'Ich denke', das "alle meine Vorstellungen begleiten können" 181 muß, wie der § 1 6 ausführt. 182 Mit diesem Textabschnitt {"Von der ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption") liegt das Zentrum der Kamischen Ich-Theorie in B vor, denn hier werden die reine Apperzeption, die transzendentale Einheit des Selbstbewußtseins183 und das Vermögen des Verstan­ des in eine unauflösliche Einheit gebracht und in ihren Beziehungen offengelegt. Die reine, ursprüngliche Apperzeption ist dasjenige Selbstbewußtsein, das die Vorstellung 'Ich denke' hervorbringt; die Einheit dieser Apperzeption nennt 1 79 Angemerkt sei hier der Vollständigkeit halber, daß sich die B-Deduktion der syntheti­ schen Methode bedient, die die Ergebnisse der Ästhetik als Fakten voraussetzt, so daß die For­ men der Anschauung nicht auch durch die Deduktion bewiesen werden müssen, weshalb Kant sie der analytischen Methode vorzog. Hieran wird nicht nur der Unterschied zwischen dem allgemeinen Synthesisvollzug und der philosophischen, synthetischen Methode noch ein­ mal ersichtlich, sondern auch auf den Bau der Kritik der reinen Vernunft fällt ein erhellendes Licht: Indem sie sich in der B-Deduktion der synthetischen Methode bedient und so die transzendentale Ästhetik als gegeben annimmt, zeigt sich, daß die in ihr vorgelegte Theorie des menschlichen Erkennens mit dem 'Ich denke' als höchstem Punkt beginnen muß, um sich erst im Anschluß daran in die Formen des Denkens und Anschauens deduktiv hinabzusenken; der Bau der ersten Kritik beginnt mit dem höchsten Punkt der Transzendentalphilosophie. [Vgl. R. Brandt. Die Urteilstaftl, a.a.O., S. 92.] (Auch wenn Brandt in dieser Hinsicht recht zu geben ist, so muß doch gefragt werden, ob seine Auffassung, die Urteilstafel lege die Struktur der Kritik der reinen Vernunft fest [vgl. ebd., S. 93] , berechtigt ist. Denn nach den in der vorliegenden Arbeit durchgeführten Analysen scheint es viel plausibler, der Kategorientafel, die auch die Urteilstafel grundlegt, diese zentrale Stellung zuzusprechen. [Vgl. die Untersu­ chungen zur Form des 'transzendentalen' Weges.]) 1 80 Daß es keinen Grund gibt, an dieser Einheit des Bewußtseins zu zweifeln, betont auch R. M. Chisholm in "Questions about the Unity of Consciousness". In: K. Crarner, H. E Fulda, R.-P. Horstmann, U. Pothast (Hrsg.). Theorie der Subjektivität, a.a.O., S. 1 0 1 . - Vgl. auch: H. Cohen. Kommentar zu Immanuel Kants 'Kritik der reinen Vernunft', a.a.O., S. 56 und H. Hoppe. Synthesis bei Kant, a.a.O., S. 1 26-1 29. 1 8 1 Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 1 32. - Zu dieser Stelle ist K. Crarner. " Über Kants Satz: Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können", a.a.O., S. 1 67-202 heranzuziehen. - Vgl. R. M. Chisholm. Die erste Person. Eine Theorie der Referenz und der Intentionalität. Frankfurt arn Main, 1 992: S. 1 26. Chisholm versteht allerdings die Notwen­ digkeit des Begleitenkönnens des 'Ich denke' als ,,Angehängtwerden" an selbstrepräsentierende Zustände. Damit kehrt er jedoch in letzter Konsequenz das eigentliche Verhältnis um. [Zu Chisholms Die erste Person vgl. die entsprechende Einleitung von H.-D. Heckmann in: M. Frank (Hrsg.) . Analytische Theorien des Selbstbewußtseins, a.a.O., S. 249-264.] 1 82 Daß dieses 'Ich denke' nicht als Individualität verstanden werden kann, ist offensicht­ lich. [Vgl. M. Frank. Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis. Essays zur analytischen Philoso­ phie der Subjektivität. Stuttgart, 1 99 1 : S. 5 1 .] 1 8 3 Vgl. D. Henrich. "Selbstbewußtsein", a.a.O., S. 257-284.

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Kant die transzendentale Einheit des Selbstbewußtseins. Damit unterscheidet sich die reine Apperzeption, das 'transzendentale' Ich, von der empirischen Ap­ perzeption184, dem 'natürlichen', auf Körperlichkeit, Raum und Zeit sowie auf Naturnotwendigkeit angewiesenen Ich, das auch im Gang der Erkenntnis dem 'transzendentalen' Ich nachgeordnet ist185, der von der reinen Apperzeption an­ hebt, mittels Synthesis und einer auf die Synthesis selbst gerichteten Analysis zu einer Erkenntnis der Apperzeption führt, die erst die Einsicht in die empirische Apperzeption und den von ihr abhängigen Gegenstand der Erfahrung, das im Denken mit X zu bezeichnende Objekt, ermöglicht. Da sich die reine Apperzep­ tion selbst als 'Ich denke' vorstellen kann, ist auf diese Weise der Bogen zwischen Subjekt und Objekt geschlagen, d. h. das 'Ich denke x' ist als oberste Denkform und zugleich als Ausdruck der Subjektivität etabliert. 1 86 An der Nachordnung der analytischen Einheit als Bewußtsein der Identität des 'Ich denke' gegenüber der synthetischen Einheit der Apperzeption als Stufenfolge des Bewußtseins bis hin zur Vorstellung des 'Ich denke' wird deutlich, daß "die synthetische Einheit der Apperzeption der höchste Punkt [ist] , an dem man allen Verstandesge­ brauch, selbst die ganze Logik, und, nach ihr, die Transzendental-Philosophie heften muß, ja dieses Vermögen ist der Verstand selbst" 187. Die Apperzeption be­ zieht sich immer auf die Einheit des Mannigfaltigen der Anschauungen, geht also a priori allem Denken voraus, indem sie ihm notwendig als Begleit- und Synthesisfunktion zugrunde liegt. Der Verstand verbindet demnach a priori und bringt das Mannigfaltige der Vorstellungen unter die oberste Einheit der Apper­ zeption. Da er aber kein anschauender, göttlicher, sondern nur ein denkender, endlicher Verstand ist, bedarf er der Anschauung der Vorstellungen, um sich des identischen, denkenden Selbst bewußt werden zu können. Das Selbstbewußtsein kann sich seiner selbst folglich nur als eines Denkenden im Denken bewußt wer­ den; die reine Apperzeption besteht nur im Akt der Hervorbringung des 'Ich denke', die in jedem Akt des kategorialen und auf Anschauung bezogenen Den­ kens identisch ist. Die Einheit des Bewußtseins als 'transzendentales' Ich gründet deshalb darin, daß ein einziger identischer Akt des Selbstbewußtseins alle Vor­ stellungen auf identische Weise begleiten kann und muß, so daß umgekehrt 1 84 Vgl. zu Kants Unterscheidung von empirischer und transzendentaler Einheit der Ap­ perzeption: R.-P. Horstmann. "Gibt es ein philosophisches Problem des Selbstbewußtseins?", a.a.O., S. 228. - Zum Begriff der Apperzeption im allgemeinen vgl. auch: C. F. von Weiz­ säcker. Die Tragweite der Wissenschaft, a.a.O., S. 283. 1 8 5 Hieraus ergibt sich, daß die transzendentale Apperzeption immer eines und ein identi­ sches Ich sein muß, während die empirische Apperzeption unterschiedlichen Gegebenheiten unterworfen ist und deshalb in ihren Zuständen wechselt. 1 86 Kants Selbstbewußtseinstheorie besitzt so mit dem 'Ich denke' eine egologische Grund­ struktur. [Vgl. K. Gloy. "Der Begriff des Selbstbewußtseins bei Kant", a.a.O., S. 258.] 1 87 Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 1 34.

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auch alle Vorstellungen dadurch vereinheitlicht werden, daß sie ausnahmslos durch die Einheit des 'Ich denke' als Vorstellung und Ausdruck der reinen Ap­ perzeption begleitet werden können und in der Reflexion als bewußte Vorstel­ lungen sogar begleitet werden müssen. Dieses Bewußtsein des Ich von sich selbst ist bei jeder synthetischen Leistung dasselbe; ohne dieses Bewußtsein sind weder Vorstellungen noch Erkenntnisse möglich. Denn alle Objekte und Vorstellungen sind Produkte der permanenten Synthesis des 'Ich denke' und stehen deshalb erst selber in Beziehung zueinander; sofern die Kategorien die Regeln aller Syn­ thesis sind, stehen alle Objekte und Vorstellungen des und im Bewußtsein(s) in einer notwendigen Beziehung zum Selbstbewußtsein, dessen Funktionen die Ka­ tegorien sind. Durch die Synthesis des Mannigfaltigen werden für Kant erst die Denkbarkeit für das Ich und die des Ich selbst, die Erkennbarkeit durch das Ich und die Erkennbarkeit des Gegenstandes möglich. Erst durch Synthesis ist Be­ wußtsein von etwas und erst durch die reine Apperzeption als transzendentaler Einheit des Selbstbewußtseins ist die das Bewußtsein ermöglichende syntheti­ sche Handlung möglich. Alle Erkenntnis überhaupt beruht somit auf der Ein­ heit der Apperzeption, und ohne das 'transzendentale' Ich kann es nicht nur keine Erkenntnis, sondern überhaupt nichtsiSS mehr geben.1S9 Aus dem Gesagten ergibt sich: "Der Grundsatz der synthetischen Einheit der Apperzeption ist das oberste Prinzip alles Verstandesgebrauchs"190, worüber der § 1 7 der transzendentalen Deduktion handelt. Während der oberste Grundsatz der Möglichkeit aller Anschauung in Beziehung auf die Sinnlichkeit besagte, "daß alles Mannigfaltige derselben unter den formalen Bedingungen des Rau­ mes und der Zeit stehe" 1 9 1 , lautet der oberste Grundsatz der Möglichkeit aller Anschauung in Beziehung auf den Verstand: " [ . . . ] alles Mannigfaltige der An­ schauung [steht] unter Bedingungen der ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption" 192. Der Verstand als das Vermögen der Erkenntnisse beruht auf der Einheit des Bewußtseins, und die erste reine Verstandeserkenntnis ist dieser Grundsatz der synthetischen Einheit der Apperzeption. 193 Die synthetische Ein­ heit des Bewußtseins ist die objektive Bedingung jeder Erkenntnis, ohne die es 1 88 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 1 1 6. - Ohne das 'Ich denke' bleibt nur noch ein Gewühl von Empfindungen übrig, die sich dadurch der Erkenntnis entziehen, daß sie auf­ geund ihrer Unsynthetisierbarkeit nie begriffsfähig werden können. - Siehe dazu auch: Kritik der reinen Vernunft, B 1 34. 1 89 Zur transzendentalen Apperzeption und ihrer Bedeutung für die Philosophie vgl. G. W. E Hege!. Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie li/. Frankfurt am Main, 1 97 1 : S . 343-344. - Vgl. auch H . Heimsoeth. Transzendentale Dialektik, a.a.O., Band III, S . 404. 1 90 Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 1 36. 1 9 1 Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 1 36. 1 92 Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 1 36. 1 9 3 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 1 37.

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keine Objekte für ein Subjekt geben kann. Kant erörtert i n diesem Paragraphen die Voraussetzungen für objektive Erkenntnis, die dann erfüllt sind, wenn den beiden genannten Grundsätzen Genüge getan wird. Während der erste Grund­ satz durch die transzendentale Ästhetik dargetan wurde, kann der zweite, auf den Verstand bewgene Grundsatz dadurch aufgestellt werden, daß die für alle Erkenntnis unentbehrliche Rolle der Apperzeption sowie ihrer Vorstellung des 'Ich denke' ausgearbeitet wird. Kant geht von der Mannigfaltigkeit des in der Anschauung Gegebenen aus und stellt es unter die apriorischen Formen des Be­ wußtseins, durch die es erst erkannt werden kann. Das in der Einheit von Raum und Zeit Gegebene wird folglich durch die oberste Denkfunktion synthetisch­ regelhaft verbunden, wobei am Ende dieses synthetischen, auf das Mannigfaltige in Raum und Zeit gerichteten Prozesses das Objekt steht, das der Einheit des Be­ wußtseins und den Regeln der Synthesis unterworfen ist. Dieses Objekt wird dann durch das auf Kategorien beruhende Urteil analysierbar, so daß seine Er­ kenntnis sowohl auf den synthetischen als auch auf den analytischen Fähigkeiten des 'transzendentalen' Ich beruht. Dabei schränkt Kant den Geltungsbereich die­ ses synthetischen Bewußtseins auf den endlichen Verstand ein, der zusammen mit der Sinnlichkeit Erkenntnis begründet, wobei erst die beiden Erkenntnis­ stämme in ihrer Verbindung zu Einsichten in die Objektwelt führen können. Da Verstand und Sinnlichkeit ihren Ausgang vom Mannigfaltigen nehmen und auf Syntheseleistungen beruhen, wird nicht nur die Gleichwertigkeit beider Er­ kenntnisstämme betont, sondern auch die formale Gleichrangigkeit von tran­ szendentaler Ästhetik und Logik. Nachdem § 1 7 das Wirken der transzendentalen Apperzeption und ihre Be­ deutung für jede Erkenntnis dargetan hat, erörtert § 1 8, "was objektive Einheit des Selbstbewußtseins sei"194• Dazu unterscheidet Kant zwischen der subjektiven und der objektiven Einheit des (Selbst-)Bewußtseins. 195 Erst durch Begriffe ver­ einigt die transzendentale Apperzeption das Mannigfaltige zu einem Erkenntnis­ objekt; die Synthesis im Begriff gibt also objektive Erkenntnis, wodurch ein Pri­ mat der reflexiven Verstandeshandlung vor der rezeptiven Sinnlichkeitstätigkeit zum Ausdruck kommt. Die objektive Einheit der Apperzeption ist diejenige transzendentale Einheit, die die apriorische Bedingung der Möglichkeit der auf gegebenes Mannigfaltiges gerichteten Gegenstandserkenntnis als fundamentale Erkenntnisstruktur abgibt. Aufgrund ihrer Verbindung mit dem durch Zeitlich­ keit geprägten inneren Sinn erweist sich die subjektive Einheit des Bewußtseins hingegen als diejenige empirische Einheit, die die Bestimmung des empirischen und damit zufälligen und konkreten Mannigfaltigen in der Zeit als Erkenntnis1 94 Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 1 39. 1 95 Vgl. ebd.

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ablauf darstellt. Da aber auf diese Weise die subjektive Einheit der objektiven untergeordnet ist, wird deutlich, daß verschiedene Wissens-, Bildungs- und Er­ fahrungsstufen, wie sie vor allem beim 'natürlichen' Ich auftreten, alle auf die gleiche objektive Struktur angewiesen sind, daß also das 'natürliche' dem 'tran­ szendentalen' Ich untergeordnet sein muß, obwohl es den Weg zur Einsicht in seine Notwendigkeit eröffnen kann. Auf die im § 17 angesprochene Urteilstätigkeit des Bewußtseins geht Kant im § 19 noch einmal ein, demzufolge "die logische Form aller Urteile [ . . . ] in der objektiven Einheit der Apperzeption der darin enthaltenen Begriffe" 196 besteht. Ein Urteil ist danach die Art, gegebene Erkenntnisse innerhalb der objektiven Einheit der Apperzeption auszudrücken. Durch verstandesgeleitete Begriffsver­ bindungen entsteht Objekterkenntnis, die durch Urteilsbildungen differenziert werden kann. Dabei gewinnt die Copula eine zentrale Stellung, denn durch sie kann die objektive Einheit gegebener Vorstellungen von der subjektiven Einheit unterschieden werden. 197 Je näher also die Erkenntnis beim 'transzendentalen' Ich liegt, je deutlicher ihre Verknüpfung mit der transzendentalen Apperzeption sichtbar wird, um so objektiver wird sie; die größtmögliche Nähe zum 'transzen­ dentalen' Ich gibt also die größtmögliche Objektivität, wobei diese in sich alle Bestandteile transzendentaler Erkenntnis beinhaltet, d. h. die Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt, Wahrheit, unbedingte Gültigkeit, Not­ wendigkeit und Allgemeinheit. Dadurch bestätigt sich das im § 1 8 hervor­ getretene Verhältnis zwischen subjektivem und objektivem Bewußtsein. Ohne Rückkopplung an die transzendentale, notwendige Einheit der Apperzeption ist keine Erkenntnis möglich; denn Vorstellungen gehören nicht in der empirischen Anschauung, "sondern sie gehören vermöge der notwendigen Einheit der Apper­ zeption in der Synthesis der Anschauungen zueinander" 198• Während in § 19 der Zusammenhang zwischen Apperzeption und Urteilen zentral war, wird im § 20 die noch grundlegendere kategoriale Ebene in die Deduktion einbezogen. Damit wird das Gesamtziel der transzendentalen De­ duktion der Kategorien wieder direkt in den Gang der Überlegungen aufge­ nommen. Alle Mannigfaltigkeit von Vorstellungen steht unter der Einheit der Apperzeption199; alles durch die transzendentale Apperzeption vereinigte Man­ nigfaltige ist in ,,Ansehung einer der logischen Funktionen zu urteilen be-

1 96 1 97 1 98 1 99

Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 1 40. Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 1 4 1 . Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 1 42. Damit wird auch das Verhältnis der Außenwelt zur Apperzeption aufgeklärt. [Vgl. B. Stroud. "Die Transzendentalphilosophie und das Problem der Außenwelt". In: E. Schaper und W. Vossenkuhl (Hrsg.) . Bedingungen der Möglichkeit, a.a.O., S. 204-229.]

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stimmt"200, und diese Urteilsfunktion liegt in den Kategorien vor; alle Mannig­ faltigkeit ist demnach kategorial bestimmt.201 Mit dem § 20 geht Kant also zum Beweisziel der transzendentalen Deduktion über, wobei aber dieses Ziel nur un­ ter ganz bestimmten Hinsichten schon erreicht ist und deshalb noch der Erwei­ terung durch die folgenden Paragraphen bedarf. Die §§ 1 5 bis 1 9 stellen näm­ lich die Ausfiihrung der einen Seite der Deduktion als reflexive Selbsterkenntnis des Bedingenden im Ausgang vom faktisch Gegebenen der Anschauung dar, die im § 20 ihre Zusammenfassung in dem Satz findet: ,,Also steht auch das Man­ nigfaltige in einer gegebenen Anschauung notwendig unter Kategorien. "202 Noch bilden also konkrete Anschauungsbezüge den Ausgangspunkt. Deshalb liegt mit dem § 20 die transzendentale Deduktion in vier besonderen Aspekten vor, die nachfolgend durch ihre vier Gegenstücke ergänzt werden, so daß erst im § 26 der Abschluß der Deduktion erreicht ist. Der § 20 fUhrt die noch am Empirischen orientierte Version der transzendentalen Deduktion vor, die auf den Erfahrungsgegenstand selbst rekurriert ( 1 ) ; er stellt die subjektive Seite der Deduktion203 als Frage nach der Möglichkeit und den Erkenntniskräften des rei­ nen Verstandes dar (2) ; er bedeutet mit den fiinf vorausgegangenen Paragraphen, deren Zusammenfassung er darstellt, den endgültigen Abschluß der metaphysi­ schen Deduktion bzw. den metaphysischen Teil der transzendentalen Deduktion mit einer Ableirung der Kategorien aus den logischen Formen mit ihren Bezie­ hungen zu Urteils- und Kategorientafel (3) ; und er bedient sich wiederum in Verbindung mit den §§ 1 5 bis 1 9 der analytischen Methode204 mit dem Aus­ gang von dem, was gesucht wird, so als ob es schon gegeben sei, also von der Einheit der Kategorien in der transzendentalen Apperzeption, und mit dem Auf­ stieg zu den Bedingungen, unter denen es allein erkennbar ist, d. h. zur Erfah­ rung als Bedingung der Anschaubarkeit der Kategorien und zur logischen Ein­ heit der Apperzeption (4) . Nachdem der erste Teil der transzendentalen Deduktion sich bis § 20 er­ streckte, setzt mit § 2 1 der zweite Teil derselben ein, der die §§ 2 1 bis 26 um­ faßt. Der § 2 1 stellt zunächst eine Anmerkung zu den gewonnenen Einsichten 200 2o1 202 203

Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 1 43. Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 1 28. Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 1 43 . Zur Differenz von subjektiver und objektiver Deduktion vgl. A . Rosales. "Die Einheit des Subjekts in Kants 'Kritik der reinen Vernunft'". In: Proceedings of the VI. International Kant Congress. Vol. 1: Invited Papers. Hrsg. von G. Funke und T. M. Seebohm. Washington, 1 99 1 : S. 1 69. - B. Erdmann. Kants Kritizismus in der ersten und in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft. Eine historische Untersuchung. Leipzig, 1 878, Hildesheim, 1 973: S. 24. R. P. Wolff. Kant's Theory ofMental Activity. A Com mentary on the Transeendental Analytic ofthe 'Critique ofPure Reason'. Cambridge, Mass., 1 963: S. 8 5 . 204 Vgl. Kant. Prolegomena. Akademie-Ausgabe, Band IV : S. 276. -

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dar, die den Übergang zum zweiten Teil der transzendentalen Deduktion bilden.205 Während im vorigen (bis § 20) der grundsätzliche Anschauungsbezug den Ausgangspunkt der Deduktion bildet, wird im folgenden (bis § 26) die apriorische Gültigkeit der Kategorien in Ansehung aller möglichen Gegenstände einer Anschauung überhaupt geklärt, d. h. die Begründungsfunktion der tran­ szendentalen Apperzeption wird in ihrer umfassenden Bedeutung vorgestellt, wodurch "die Absicht der Deduktion allererst völlig erreicht werden"206 kann. Wie eng der Zusammenhang zwischen Kategorien und Apperzeption ist, beweist die Rede von der "Kategorie" im Singular zu Anfang des § 2 1 .207 Die transzen­ dentale Apperzeption stellt gewissermaßen die 'Urkategorie' dar, die die Gesamt­ heit aller Kategorien in sich enthält, ja mit dieser identisch ist. Die Kategorien gründen vollständig im Verstand bzw. in der Einheit des transzendentalen Selbstbewußtseins und sind deshalb von sinnlichen Einflüssen in der Hinsicht völlig frei, daß sie erst mit dem Einsetzen des tatsächlichen Erkenntnisprozesses, wie er in den §§ 1 5 bis 20 ausgeführt wurde, in eine notwendige Beziehung zu sinnlich-anschaulichen Mannigfaltigkeiten treten, die die Arbeit der Kategorien erst ermöglichen, die aber ohne diese kategoriale Arbeit nie erkannt werden könnten.2°8 Für die endgültige Ausführung der Deduktion wird das raumzeitli­ che Mannigfaltige zur notwendigen Voraussetzung jeden Erkennens. Doch erst wenn es durch kategoriale Synthesis zum Objekt gefügt wurde, kann es tatsäch­ lich vom Subjekt erkannt werden. Der Verstand läßt das, was er erkennt, erst selbst erkennbar werden, indem er es durch Synthesis zur objektiven Einheit für das Erkennen formt. Das Mannigfaltige als solches muß vom 'transzendentalen' Ich erst synthetisiert werden, damit es als Etwas vorliegen kann; Synthesis, Ein­ heit, Erkenntnis und Objektivität stehen in einer notwendigen Verbindung. Damit wirkliche Erkenntnis entstehen kann, muß das sinnlich gegebene Mannigfaltige erfahren werden können, d. h. "die Kategorie hat keinen anderen Gebrauch zum Erkenntnisse der Dinge, als ihre Anwendung auf Gegenstände der Erfahrung"209, wie § 22 ausführt. Hier wird wieder die komplexe Bedeutung von 'Kategorie' durch den Gebrauch des Singulars ausgedrückt, der auf die Iden­ tität der Kategorien als den obersten Verstandesbegriffen mit dem 'transzenden­ talen' Ich verweist sowie auf die mittels der Kategorien auszuführende Synthesis­ funktion als Leistung dieser Apperzeption, die sich selbst als 'Ich denke' vor20 5 206 207 2o s

Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 1 44. Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 1 45. Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 1 44, Zeile 4. Nur beim anschauenden, göttlichen Verstand wären Verstand und Sinnlichkeit nicht einmal reflexiv zu trennen, da er durch seine Vorstellungen schon Gegenstände hervorbrächte, so daß Kategorien für ihn bedeutungslos wären. 209 Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 1 46.

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stellt. Noch einmal wird betont, daß die Erkenntnis von Gegenständen auf einer Kombination von Begriff und Anschauung beruht210 und daß die Kategorien vermittelst der reinen Anschauung noch keine Erkenntnis von Dingen liefern, sondern nur durch ihre mögliche Anwendung auf empirische Erkenntnis, so daß folgt, daß die Kategorien "keinen anderen Gebrauch zum Erkenntnisse der Dinge, als nur sofern diese als Gegenstände möglicher Erfahrung angenommen werden"21 1 , haben. Kant definiert die Aufgabe der Kategorien innerhalb des ge­ samten Vernunftsystems dadurch, daß sie sich auf Erfahrungsgegenstände bezie­ hen und diese zu erkennen geben. Der Verstand wird in seiner sinnvollen An­ wendung mit der Sinnlichkeit untrennbar verbunden; nur aus dieser Verbindung kann Wahrheit entstehen, wodurch sich die Rede von der Deduktion als Kants Wahrheitslehre bestätigt. 212 Das reine Denken bleibt solange subjektiv und feh­ leranfällig, wie es nicht auf Anschauung bezogen ist, wodurch sich die herausra­ gende Stellung der Erfahrungserkenntnis verdeutlicht. Die Wahrheitsfähigkeit der Erkenntnis ist in ihrer grundsätzlichen Verbundenheit mit der Einheit der Subjektivität als 'transzendentalem' Ich sichtbar geworden: Damit es wahre Er­ kenntnis geben kann, bedarf es der kategorial-synthetisierenden Tätigkeit des 'Ich denke'; damit das 'Ich denke' selbst verständlich werden kann, bedarf es der zu synthetisierenden Mannigfaltigkeiten der Sinnlichkeit, die Gegenstand wah­ rer (oder falscher) Erkenntnis werden können, indem sie vom reinen 'Ich denke' begleitet werden können müssen. Als Ergänzung dieser Kategorienbestimmung dient § 23, der zeigt, daß die Einschränkung der Anwendung der Kategorien auf den Bereich der Erfahrung die Grenzen ihres Gebrauchs bestimmt, über die hinaus eine Anwendung zwar denkbar, aber nicht sinnvoll ist, weil sie nur noch scheinhafte Einsichten zuläßt. Nur sinnliche Anschauung kann den Kategorien einen Sinn verschaffen; denn die reinen Verstandesbegriffe können nur auf Sinnlichkeit bezogen Wirklichkeit erlangen.213 Ohne diese Einschränkung bleibt nur noch das Feld der nie beweis­ baren Spekulation offen, womit Kant den Gedanken der Gleichsetzung von Er­ kenntnis und Erfahrung weiter ausführt. Von den Einsichten des § 23 führt ein direkter Weg zu denen des § 24, der "von der Anwendung der Kategorien auf Gegenstände der Sinne überhaupt"214 handelt. Da die reinen Verstandesbegriffe bloße Gedankenformen sind, ist der Mensch nur bei Erscheinungen der Anschauung a priori fähig. Hierbei unter2 1 0 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 1 46. 2 1 1 Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 1 47-1 48. 2 1 2 Vgl. R. Hiltscher. "Kants Begründung der Adäquationstheorie der Wahrheit", a.a.O.,

S. 428. - N. Hartmann. "Diesseits von Idealismus und Realismus", a.a.O., S. 1 8 1 . 2 1 3 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 1 48. 2 1 4 Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 1 50.

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scheidet Kant zwei Arten der Synthesis215, nämlich figürliche und intellektuale. Die erste bezieht sich auf Raum und Zeit sowie die Ordnung der Materie; sie ist die "Synthesis des Mannigfaltigen der sinnlichen Anschauung, die a priori möglich und notwendig ist"216. Sie ist zum einen auf die synthetische Einheit der transzendentalen Apperzeption gerichtet, nämlich als transzendentale Syn­ thesis der Einbildungskraft, wodurch sie rein begrifflich zu einem Denken der Form vordringt, wobei die Einbildungskraft als dem Verstand anhängende Funktion in ihrer produktiven Ausprägung mit Raum und Zeit als Formen agiert. Zum anderen kann die figürliche Synthesis auf empirisch Gegebenes ge­ richtet sein, nämlich als empirische Anschauung durch die Synthesis der Einbil­ dungskraft, die die Gegenwart eines wirklichen Gegenstandes voraussetzt, wo­ durch es schließlich zum Denken des rein materialen Gehalts der Materieform kommt, so daß sich die Einbildungskraft hier als Funktion der Sinnlichkeit bzw. als reproduktive Einbildungskraft mit Raum und Zeit als mit Materie angefüll­ ten Formen erweist. Hiermit wird der Gedanke der Assoziation aus der A-De­ duktion217 wieder aufgegriffen; dabei erweist sich die Dominanz der Kategorien, die die Einbildungskraft zur Verstandesfunktion macht, als durch das methodi­ sche, synthetische Verfahren von B bedingt, das vom 'transzendentalen' Ich aus­ geht, dann zuerst die Kategorien gewinnt und sich daraufhin den Formen der Sinnlichkeit zuwendet. Diese Möglichkeit war allerdings schon in A angelegt, so daß B außer der Definition der Einbildungskraft als dem "Vermögen, einen Ge­ genstand auch ohne dessen Gegenwart in der Anschauung vorzustellen"218, keine grundsätzliche Veränderung gegenüber der A-Fassung bringt, die auch die Un­ terscheidung von produktiver und reproduktiver Einbildungskraft kennt.219 Doch die Differenzierung zwischen Form und Materie gerade im Hinblick auf den Materiegehalt der Erkenntnis selbst wird immer wichtiger, obwohl nicht ex­ plizit ausgesprochen. - Dann geht Kant auf den besprochenen Sachverhalt ein, daß der Mensch auch sich selbst nur als Erscheinung erkennen kann220 und nicht als Ding an sich.221 Das Subjekt reflektiert auf sich durch den Verstand und dessen Synthesis der Einbildungskraft im inneren Sinn und macht sich da­ durch selbst zum Erscheinungsgegenstand222; es erscheint sich als Objekt in der Zeit. Hierbei ist der Zeitbezug von besonderem Interesse; denn die Syntheselei215 216 217 21s 219 220 221 222

Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 1 50-1 5 1 . Kant. Kritik der reinen Vern unft, B 1 5 1 . Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 1 1 2-1 1 3 . Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 1 5 1 . Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 1 23. Vgl. dazu: M. Baum. Deduktion und Beweis, a.a.O., S. 1 1 8 und S. 1 47. Vgl. Kant. Kritik der reinen Vern unft, B 1 53-1 54. Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 1 5 5.

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stung, die sich auf Raum und Zeit bezieht, die transzendentale figürliche Syn­ thesis, ist eine auf Anschauung gerichtete Verstandeshandlung - weshalb die sie ermöglichende Form der produktiven Einbildungskraft dem Verstand zugerech­ net werden kann -, weil es sich bei dieser Synthesis um (die transzendentale Möglichkeit von) Verbindung überhaupt handelt, aber nicht um die bloße Form der Anschauung. Ohne Synthesis, d. h. ohne Verstandeshandlungen, wäre gar nichts Gegebenes für den Menschen existent. Trotzdem sind weder die reinen Formen der Anschauung noch die Materie selbst (nicht aber die Form, in der sie rezipiert wird) Produkte des Verstandes; doch nur, indem der Verstand als tran­ szendentale Apperzeption sich auf beides richtet, auf reine Form und Materie, kann Bewußtsein von Gegenständen (mit und ohne deren Gegenwart) entste­ hen. Dementsprechend ist auch Selbsterkenntnis nur in Beziehung auf das Ich als Erscheinung möglich, wo zwischen denkendem und gedachtem, anschauen­ dem und angeschautem Ich unterschieden werden kann. Jede Selbsterkenntnis setzt die Affizierung des Subjekts voraus, und da jede Affektion ihrerseits einen eigenen Gegenstand voraussetzt, kann das Ich sich nur als Erscheinung gegeben sein.223 Während sich die Apperzeption mittels der Kategorien auf Objekte überhaupt bezieht, enthält der innere Sinn als bloße Form der Anschauung kei­ nen unmittelbaren Bezug auf Objekte, sondern dieser muß erst durch figürliche Synthesis zustande kommen. Die Selbstaffizierung des inneren Sinnes bringt die Selbsterkenntnis des Ich in der Erscheinung hervor. Der § 25 führt die Überlegungen zur Selbsterkenntnis des Subjekts weiter; er zeigt noch einmal, daß das Ich sich "in der synthetischen ursprünglichen Einheit der Apperzeption, [ . . . ], nicht wie ich mir erscheine, noch wie ich an mir selbst bin, sondern nur daß ich bin"224, bewußt wird. Dies liegt daran, daß diese Vor­ stellung nur ein Denken, aber kein Anschauen ist. Kant unterscheidet zwischen dem Wie des Gegebenseins des Ich (als Erscheinung) und seinem Daß, dem blo­ ßen Dasein der Apperzeption. Da alle Erkenntnis Anschauung voraussetzt, muß das Ich der Form des inneren Sinnes gemäß bestimmt werden, so daß alle Er­ kenntnis des 'transzendentalen' Ich von sich selbst nur als Erkenntnis des Wie dieses Ich als Erscheinung möglich ist. 225 In der synthetischen Einheit der Ap­ perzeption ist dem Subjekt sein Dasein bewußt, sein eigenes Sein wird ihm zur bloßen Position. Da der Verstand als Vermögen der Synthesis des Mannigfalti­ gen a priori der Ausdruck dieser Apperzeption ist, wird das Subjekt sich nicht nur seines eigenen Daseins, sondern seiner selbst auch als Denkendes bewußt. Selbsterkenntnis erfordert mehr als nur das reine Selbstbewußtsein, indem sie 223 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 1 56. 22 4 Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 1 57. 22 5 Vgl. Kant. Kritik der reinen Venunft, B 1 58.

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auch die Art und Weise der Gegebenheit des Mannigfaltigen im inneren Sinn miteinbeziehen muß. Nur als Dasein im inneren Sinn ist das Ich eine Erschei­ nung; Selbstanschauung ist allein in der Zeit möglich. Die transzendentale Ap­ perzeption kann deshalb nur im zeitlichen Ablauf ihrer kategorial-synthetischen Handlung, im Ainus der Spontaneität ihres Denkens, unter Beachtung der zeitlichen Dimension desselben bestimmt werden. Die Auslegung der Katego­ rien in einem zeitlichen Rahmen verbindet in sich Verstandestätigkeit und Sinn­ lichkeit, so daß das Dasein des eigenen Ich in seinem Wie nur als Erscheinung bestimmt werden kann. Hieraus entsteht ein unauflösbarer, positiver Zirkel, der die Subjektivität insgesamt kennzeichnet: Ohne 'Ich bin' kann es kein 'Ich denke' geben. Aber ohne Bewußtsein des 'Ich denke' kann niemals ein Bewußt­ sein des 'Ich bin' entstehen. - Die Selbsterkenntnis bedarf des Bewußtseins und der Anschauung; als Intelligenz erkennt der Mensch die Notwendigkeit dieser Verbindung. 226 Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis sind demnach keineswegs identisch, denn letztere setzt nicht nur das 'Ich denke', sondern auch Anschau­ ung voraus. Auch die auf das eigene Ich gerichtete Synthesis ist dem inneren Sinn unterworfen, der seiner Form nach unabhängig vom Verstand ist227 und erst dann, wenn auf ihn als Form reflektiert wird, in einen notwendigen Zusam­ menhang mit dem Verstand tritt.228 Sobald vom Ich mehr als sein bloßes Dasein ausgesagt werden soll, begegnet es nur als Erscheinung im Wie seines raumzeitli­ chen Gegebenseins. Das 'Ich denke' ist nicht nur der Sammelpunkt aller katego­ rialen Aussagen über Objekte, sondern auch über das Ich selbst in seiner Erschei­ nungshaftigkeit. Problematisch könnte nur erscheinen, daß das auf sich selbst re­ flektierende Ich zu dieser Selbsterkenntnis die Kategorien auf die Kategeorien beziehen muß, indem diese dann, wenn der Verstand und die transzendentale Apperzeption in einem Identitätsverhältnis stehen229, in doppelter Weise auftre­ ten und sich selbst erklären müssen. Diese Schwierigkeit wird dadurch überwun­ den, daß die Kategorien auch in zweifacher Funktion aufeinander bezogen wer-

226 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 1 59. 227 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 1 54-1 5 5 . 228 Indem Kant diese Differenz zwischen Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis behan­

delt, hat er das von D. Henrich dargestellte Grundproblem Fichtes, wie das Ich ein Wissen von sich selbst haben kann, ohne daß es dabei schon in seiner Gesamtheit vorausgesetzt wäre, gelöst. [Vgl. D. Henrich. Fichtes ursprüngliche Einsicht, a.a.O., S. 1 3-1 6.] Daß allerdings die Position Fichtes von Henrich nicht in ihrem vollen Sinn, nämlich als gelungene Überwindung dieses Subjektzirkels, erfaßt wurde, wird durch die Ausführungen K. Düsings in Selbstbe­ wußtseinsmodelle, a.a.O., S. 1 06-1 09 deutlich. - Vgl. die Ausführungen R. Wiehis in "Die Komplementarität von Selbstsein und Bewußtsein". In: K. Cramer, H. F. Fulda, R.-P. Horst­ mann, U. Pothast (Hrsg.) . Theorie der Subjektivität, a.a.O., S. 69. 229 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 1 33-1 34.

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· den, nämlich einmal als reine und zum anderen als auf Anschauung gerichtete, angewandte (wenn auch noch nicht völlig schematisierte) Verstandesbegriffe. ln­ dem durch diesen angedeuteten Übergang zum Schematismuskapitel die Selbst­ erkenntnis des Ich in einen nachvollziehbaren Zustand gebracht wurde, kann die transzendentale Deduktion der Kategorien ihren Abschluß finden. Dieser Abschluß wird in § 26 durchgeführt, den Kant mit einer Aufnahme der Unterscheidung von metaphysischer und transzendentaler Deduktion be­ ginnt, wobei die Bezeichnung 'metaphysische Deduktion' hier zum ersten Mal ausdrücklich verwendet wird. Während die metaphysische Deduktion die Darle­ gung des Ursprungs der Kategorien a priori überhaupt durch ihre Übereinstim­ mung mit den allgemeinen logischen Funktionen des Denkens darstellt23°, so daß durch sie die Apriorität der Kategorien geklärt wird, beinhaltet die transzen­ dentale Deduktion die Darstellung der Möglichkeit der Kategorien als Erkennt­ nissen a priori von Gegenständen einer Anschauung überhaupt. Hierzu kann Kants Erklärung eines Begriffs als Prinzip herangezogen werden, wodurch die Möglichkeit anderer synthetischer Erkenntnisse a priori eingesehen werden kann.231 Die transzendentale Deduktion klärt den Grund der Möglichkeit der Apriorität der Kategorien232, reflektiert damit auf die Möglichkeit apriorischer Kategorien überhaupt und setzt dabei die metaphysische Deduktion mit ihren Ergebnissen schon voraus. Also expliziert die transzendentale Deduktion die Möglichkeit, wie die Kategorien a priori auf Gegenstände der sinnlichen An­ schauung gerichtet sein können. Kam erweitert den Umfang des Geleisteten und legt die Möglichkeit dar, "durch die Kategorien die Natur und ihre Gesetze zu erklären. Damit ist bewiesen, daß nur die Transzendentalphilosophie den Wissenschaften ihre Grundlage geben kann, so daß sie schon beim 'natürlich-lo­ gischen' Weg zu Recht als Erste Wissenschaft bezeichnet wurde. - Kant greift dann auf die Aufspaltung der Synthesis in verschiedene Leistungen aus der A­ Deduktion233 zurück, indem er sich der Synthesis der Apprehension zuwen­ det.234 Sie ist die Zusammensetzung des Mannigfaltigen in einer empirischen Anschauung, wodurch Wahrnehmung erst möglich wird.235 Die Synthesis der Apprehension muß den Formen von Raum und Zeit gemäß sein, so daß die 2 3 0 Vgl. dazu die Erklärung der metaphysischen Erörterung in: Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 38. 2 3 1 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 40. 2 3 2 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 85/B 1 1 7. 2 33 Vgl. zu den Synthesen der A-Deduktion: R. A. Makkred. Einbildungskraft und Inter­ pretation. Die hermeneutische Tragweite von Kants 'Kritik der Urteilskraft'. Paderborn, 1 997: s. 34-4 1 . 2 34 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 98- 1 00. 2 35 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 1 60.

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Egologische Grundstrukturen in der Transzendentalphilosophie Kants

Kategorien alle Wahrnehmungssynthesis bestimmen. 236 Die Synthesis der Appre­ hension muß der Synthesis der Apperzeption gemäß sein.237 Schon auf der Wahrnehmungsebene bedingen die Kategorien die Möglichkeit jeder Erfahrung. Die Natur wird folglich durch die Kategorien a priori bestimmt, weil sie die Re­ geln des Verstandes sind, der sich in seinem richtigen Gebrauch auf Erscheinun­ gen beziehen muß.238 Damit ist Kant am Ziel der transzendentalen Deduktion angelangt, so daß der § 26 in seiner Funktion als Abschluß des zweiten Teils der B-Deduktion sichtbar wird. So ist er als Gegenstück zu § 20 anzusehen; denn so wie dieser die 'empirische' , 'subjektive' und metaphysische Deduktion durch die analytische Methode ausführte, ergänzt er diese Aspekte der Deduktion um ihre jeweiligen noch ausstehenden Teile: Denn mit der Schlußfolgerung in B 1 6 1 ist die im engeren Sinne transzendentale Deduktion endgültig durchgeführt, die auf die Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung zurück- und so über den konkreten Erfahrungsgegenstand hinausgeht. Der § 26 bildet die objektive Seite der Deduktion und weist die objektive Gültigkeit der apriorischen Begriffe des reinen Verstandes nach; er führt auch die eigentliche transzendentale Deduktion aus, indem er die Art erklärt, wie sich Begriffe a priori auf Gegenstände beziehen können, d. h. indem er die Frage beantwortet, wie sich die verstandesimmanen­ ten Kategorien a priori so auf Objekte beziehen können, daß sie Seiendes a prio­ ri zu erkennen geben. Dabei bedient sich der § 26, der immer in Verbindung mit den §§ 2 1 bis 25 zu sehen ist, der synthetischen Methode, die ihren Aus­ gang von den Bedingungen, den Kategorien, nimmt und von da aus zum Be­ dingten, dem Anschauungsmannigfaltigen der Erscheinungen, aufsteigt. 239 Somit ist zum einen die Verschiedenartigkeit der beiden Teile der Deduktion sichtbar geworden, zum anderen das sich ergänzende Verhältnis, in dem sie zu sehen sind. Diese Zweiseitigkeif der Beziehung wird dadurch unterstrichen, daß beide Teile der B-Deduktion auf die im Amphiboliekapitel dargestellten Reflexi­ onsbegriffe240 zurückgeführt werden können. Der Teil bis zum § 20, der vorwie­ gend die Seite des X im 'Ich denke X behandelt, kann mit seinen Bestimmun­ gen von Verschiedenheit, Widerstreit und Äußerem an das anschaulich gege­ bene, besondere Mannigfaltige und damit allgemein an die Materie gebunden werden. Der zweite Teil bis zum § 26, der vorwiegend die Seite des Ich im 'Ich denke X' behandelt, kann mit seinen Bestimmungen von Einerleiheit, Einstim2 36 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 1 6 1 und A 1 1 1 . [Vgl. hierzu: E. Förster. "How are transeendental arguments possible?". In: E. Schaper und W. Vossenkuhl (Hrsg.). Reading Kant, a.a.O., S. 6.) 237 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vern unft, B 1 62. 2 3 8 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 1 64-1 65 . 239 Vgl. Kant. Prolegomena. Akademie-Ausgabe, Band IV : S. 276. 24 0 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 263-268/B 3 1 9-324.

Die drei Formen des Ich bei Kant

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mung und Innerem a n das i n Einheit und Reflexion gegebene Subjekt und da­ mit an die Form im allgemeinen gebunden werden. Denn erst die transzenden­ tale Subjektivität gibt der Transzendentalphilosophie ihre Form; so wird das 'transzendentale' Ich zur Form schlechthin. Diese Aufteilung der beiden Ab­ schnitte der transzendentalen Deduktion auf die zusammengehörenden obersten Reflexionsbegriffe von Form und Materie macht auch die Untrennbarkeit der Deduktionsformen, -funktionen, -bestimmungen und -abschnitte deutlich. Denn die Deduktion ist eine, unabhängig von der Anzahl ihrer Beweisschritte und von der Anordnung derselben.241 Deshalb gilt in der B-Deduktion immer eine doppelte Verwendung der Reflexionsbegriffe. Obwohl in den §§ 1 5 bis 20 vorrangig dem jeweils zweiten Glied derselben Bedeutung eingeräumt wird, blei­ ben doch auch in ihnen die entsprechenden ersten Glieder der Begriffspaare in Geltung, nur daß auf ihnen nicht der Schwerpunkt der Gedankenführung liegt und daß sie nicht die Ausführung des Beweisgangs im ersten Schritt der Deduk­ tion bestimmen. Gleiches gilt für die §§ 2 1 bis 26: Obwohl bei ihnen das jeweils erste Glied der Reflexionsbegriffe dominiert, gelten selbstverständlich auch in ihnen die Gegenstücke dazu, ohne allerdings grund-legende Funktion zu erhal­ ten. So gehören in beiden Deduktionsahschnitten die Begriffspaare der Refle­ xion grundsätzlich zusammen, können aber, um die unterschiedlichen Teilergeb­ nisse dieser Abschnitte zu verdeutlichen, mit verschiedenen Schwerpunktset­ zungen versehen werden. Den endgültigen Abschluß der Deduktion in B bildet der § 27 zusammen mit einer kurzen Begriffsbestimmung dieser Deduktion.242 Die Kategorien ent­ halten von seiten des Verstandes die Gründe der Möglichkeit aller Erfahrung überhaupt.243 Damit hat die transzendentale Deduktion das ihr zugewiesene Ziel erreicht und gezeigt, wie sich die Begriffe von Raum und Zeit als Formen der Sinnlichkeit sowie die Kategorien als Begriffe des Verstandes a priori auf Gegen­ stände beziehen.244 Damit in Einklang steht die kurze Begriffsbestimmung dieser Deduktion, die dem letzten Paragraphen derselben beigegeben ist.245 Aus all dem ist das Wesen des 'transzendentalen' Ich hervorgegangen246: Die transzendentale Apperzeption oder das 'transzendentale' Ich ist auf den Bereich 24 1 Vgl. dazu: P. Baumanns. "Kants transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbe­ griffe (B)", a.a.O., 1 . Teil, S. 325. - P. Baumanns. Kants Philosophie der Erkenntnis, a.a.O., S. 4 1 9. D. Henrich. "Die Beweisstruktur von Kants transzendentaler Deduktion", a.a.O., s. 9 1 . 2 4 2 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 1 65-1 66. 243 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 1 67. 2 44 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 85/B 1 1 7. 2 45 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 1 68-1 69. 246 Allgemeine Merkmale zur Charakterisierung des Selbstbewußtseins führt K. Gloy in Studien zur theoretischen Philosophie Kants, a.a.O., S. 1 1 8 an. Das Selbstbewußtsein ist ( 1 ) -

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Egologische Grundstrukturen in der Transzendentalphilosophie Kants

des Denkens festgelegt. Als oberste Denkfunktion ist es konstitutiv für jede Er­ kenntnis(-leistung)247, indem es die Synthese des sich als Stoff (Materie) darbie­ tenden Mannigfaltigen vollzieht; es ist also eine rein intellektuelle Vorstellung, "weil sie zum Denken überhaupt gehört"248. - Zwischen Ich und Stoff besteht eine ausgezeichnete Beziehung, auf die Kam auch in der Methodenlehre der Kritik der reinen Vernunft eingeht: " [ . . . ] wir nehmen aus der Erfahrung nichts weiter, als was nötig ist, uns ein Objekt, teils des äußeren, teils des inneren Sin­ nes zu geben. Jenes geschieht durch den bloßen Begriff Materie (undurchdringli­ che leblose Ausdehnung) , dieses durch den Begriff eines denkenden Wesens (in der empirischen inneren Vorstellung: Ich denke) ."249 Die jeweils in Klammern gegebenen Erläuterungen zu Materie und denkendem Wesen müssen genauer betrachtet werden. Die Materie wird als undurchdringliche, leblose Ausdehnung bestimmt. Der Begriff der Undurchdringlichkeit kann so in materialer Hinsicht verstanden werden, daß diese Ausdehnung durch keine andere Materie durch­ drungen werden kann, was auf die zweite Bestimmung der Leblosigkeit voraus­ weist, die im Gegensatz zum durchdringlichen Lebendigen steht. - Der zweite, die Materie bestimmende Faktor der Leblosigkeit ist besonders aufschlußreich: Alles Leben besteht aus mannigfachen, in systematischer Ordnung befindlichen, aber doch verschiedenen Synthesen und kann nur mittels komplexer Synthese­ leistungen erfaßt werden. Materie liegt zwar allem Lebendigen zugrunde, kann aber selbst nicht leben, da sie dann wieder ein Synthesisprodukt sein müßte. Dies ist zum einen deshalb unmöglich, weil dann eine unsynthetisierte Urmate­ rie angenommen werden müßte, die der synthetisierten Materie zugrunde läge; dies müßte aber unvermeidlich in einen unendlichen Regreß münden, weil auch diese Urmaterie letztlich wieder als synthetisiert anzunehmen wäre, so daß es zur Bildung immer neuer Metaebenen kommen müßte. Zum anderen ist es deshalb nicht möglich, daß die Materie zum Lebendigen gehört, weil dann der Verstand, wenn auch die Materie einen aufgrund von Synthesen lebendigen Charakter bedenkendes Selbstverhältnis, (2) mit einer egologischen Grundstruktur, (3) die durch Aktivität und Spontaneität gekennzeichnet ist; es ist (4) Selbstreflexion, aber nicht Selbstproduktion. All diese Charakteristika haben sich auch aus der durchgeführten Untersuchung der Deduktion ergeben. 2 47 Als solche Denkfunktion ist das Selbstbewußtsein unzweifelhaft, da sein Wegfall zu einem bloßen Nichts führen müßte, das nicht einmal mehr gedacht werden kann. [Vgl. R. Aschenberg. "Einiges über Selbstbewußtsein als Prinzip der Transzendentalphilosophie". In: S. Blasche, W. R. Köhler, W. Kuhlmann, P. Rohs (Hrsg.) . Kants transzendentale Deduktion, a.a.O., S. 56.] 24 8 Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 423. Aufgrund der hier aufgewiesenen Zusam­ menhänge zeigt sich außerdem deutlich, daß Kant sehr wohl eine eigenständige Theorie des Selbstbewußtseins ausgearbeitet hat, womit in diese Richtung zielenden Aussagen D. Sturmas in Kant über Selbstbewußtsein, a.a.O., S. 1 1 widersprochen werden muß. 249 Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 848/B 876. -

Die drei Formen des Ich bei Kant

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säße, als produktiver Grund der Materie anzusetzen wäre; dies führte deutlich über Kants transzendentalen Idealismus hinaus zu einem spekulativen Idealis­ mus, in dem das Subjekt als produzierender Grund der Welt postuliert würde. Die letzte Bestimmung der Materie stellt eine Notwendigkeit dar; denn besäße Materie keine Ausdehnung, so wäre sie dem menschlichen Anschauungsvermö­ gen nicht einmal in vermittelter Form zugänglich. Wo nämlich keine Ausdeh­ nung gegeben ist, da kann es nie Anschauung, folglich auch nie (gesicherte) Er­ kenntnis geben. - Der von Kant in diesem Zusammenhang gegebene Begriff ei­ nes denkenden Wesens bedarf weniger ausführlicher Erläuterungen, da er durch Deduktion und Paralogismuskapitel schon detailliert kommentiert wurde. Daß die Vorstellung 'Ich denke' empirisch sein soll, ist im Sinne von B 423 zu verste­ hen, wo Kant ausführte, daß das Ich selbst rein intellektuell ist, aber der Actus 'Ich denke' doch nicht ohne den Anstoß durch Empirisches stattfinden könnte, so daß dieses "nur die Bedingung der Anwendung, oder des Gebrauchs des rei­ nen intellektuellen Vermögens"25° ist. Daß das 'Ich denke' als innere Vorstellung bezeichnet wird, verweist auf den in der Deduktion ausgeführten Bezug zwi­ schen Ich und Zeit. Aus diesen Materie- und Ich-Bestimmungen ist sichtbar geworden, daß das 'transzendentale' Ich als oberste Denkbedingung zwar der Grund der Möglich­ keit von Erkenntnis überhaupt ist, daß aber erst durch die Verbindung mit einer materialen Komponente oder einem anschaulich gegebenen Mannigfaltigen tat­ sächliche, wahre Erkenntnis möglich ist. Dadurch hat sich auf einer höheren Ebene die fast zu Anfang der Kritik der reinen Vernunft gemachte Aussage be­ stätigt, daß ohne Sinnlichkeit kein Gegenstand gegeben, ohne Verstand kein Ge­ genstand gedacht würde.25 1 Ohne das 'transzendentale' Ich mit seinem Vorstel­ lungsausdruck 'Ich denke' wären Erkennen und Denken gänzlich unmöglich; doch ohne die Bereitstellung eines Materieanteils durch die Sinnlichkeit könnte die Form des Denkens, bestehend aus den Syntheseleistungen des Verstandes, nie ansetzen, so daß es kein oder nur ein in die Leere von Nichts und Schein laufendes Denken geben würde. Nur aus dem gelingenden Zusammenspiel von Denken und Anschauung kann Erkenntnis entstehen; dieses Zusammenspiel ist ohne die Form des 'transzendentalen' Ich nicht möglich. Verstand und Sinnlich­ keit als die Stämme der Erkenntnis können daher zwar reflexiv getrennt und ein­ zeln betrachtet werden, aber um zu Einsichten zu gelangen, müssen sie notwen­ dig in ihrem Verbundensein analysiert und angewandt werden.

2 5 0 Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 423. 2 5 1 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 5 1 /B 75.

1 74 2.

Egologische Grundstrukturen in der Transzendentalphilosophie Kants

Der Obergang zu den Funktionen des 'transzendentalen' Ich: die Tafel des Nichts

Um nicht nur die Form, sondern auch die Funktionen des 'transzendentalen' Ich erkennen zu können, muß mittels des negativen Gegenstücks zum 'transzenden­ talen' Ich der Übergang zu seinen funktionalen Leistungen geschaffen werden. Damit dieses Ich bestimmt werden kann, muß es positiv gegen den ihm im Nichts entsprechenden Widerpart, vor allem das 'nihil negativum', abgegrenzt werden, so daß der höchste Reflexionsbegriff der erkenntnisstiftenden Transzen­ dentalphilosophie vom höchsten Reflexionsbegriff der mit ihr im Negativen identischen grenzziehenden Transzendentalphilosophie unterschieden werden kann, wobei sich entscheidende Parallelen und wechselseitige Bestimmungswei­ sen ergeben werden. Dazu ist es erforderlich, die Tafel des Nichts selbst in dieser Hinsicht zu befragen. Das bereits bei der Form des 'natürlichen' Ich behandelte 'nihil privativum' bildet auch beim 'transzendentalen' Ich keine direkte negative Entsprechung, aber es dient als denknotwendige Ergänzung.252 Indem diese Form des Nichts je­ dem Etwas entgegengesetzt ist, steht sie auch in Opposition zum Ich selbst, das damit in seiner formalen und funktionalen Realität ersichtlich wird. So kann das 'nihil privativum' nur eine Vorstufe zum eigentlichen Pendant des 'transzenden­ talen' Ich im negativen Bereich, dem 'nihil negativum'253, bilden. Dem alles aus­ legenden 'transzendentalen' Ich wird also im folgenden das absolute Nichts, dem höchsten Denken wird die Grenze des Denkbaren entgegengesetzt. - Der vierte Nichts-Begriff entspricht der Kategorie der Unmöglichkeit, also dem unterge­ ordneten Bestandteil der Modalitätskategorie der Möglichkeit.254 Bei ihm fehlen sowohl die Begriffs- als auch die Anschauungsseite, so daß eine vollkommene Leere an Vorstellbarkeit entsteht, in der keines der beiden Erkenntnisvermögen mehr ansetzen kann. Dadurch entsteht ein Unding oder absolutes Nichts, das sich selbst aufheben muß, weil es der Gegenstand eines Begriffs ist, der sich selbst widerspricht. Das 'nihil negativum' verstößt damit gegen den Satz vom Widerspruch255; so ist das allgemeinste, obzwar nur negative Kriterium der Wahrheit aufgehoben, das die condicio sine qua non unserer Erkenntnis dar­ stellt. 256 Eine Erkenntnis, die diesem Satz zuwider ist, vernichtet sich selbst.

2 5 2 Zum 'nihil privativum' vgl. a.a.O., S. 57-8 5 . 2 53 Vgl. Kant. Kritik der reinen 2 54 Vgl. Kant. Kritik der reinen 2 55 Vgl. Kam. Kritik der reinen 2 56 Vgl. Kant. Kritik der reinen

E. M. Vallenilla. Die Frage nach dem Nichts bei Kant, Vernunft, A 29 1/B 348. Vernunft, A 80/B 1 06. Vernunft, A 1 5 1 / B 1 90. Vernunft, A 1 5 1 -1 52/B 1 9 1 .

Die drei Formen des Ich bei Kam

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Beispiele für das derart Unmögliche sind die von Kant angeführte geradlinige Figur von zwei Seiten oder das runde Viereck. Dabei ist auffallig, daß die Bei­ spiele für das 'nihil negativum' alle dem räumlichen Bereich zu entnehmen sind und nicht dem der Zeit. Das kann vielleicht dadurch erklärt werden, daß der Zeit der Bereich der Arithmetik entspricht, die mit Zahlen arbeitet257, die immer kombinierbar sind und sich in sich nicht widersprechen können. Dem Raum entspricht dagegen der Bereich der Geometrie, die mit Begriffen, die auf An­ schauung zielen, arbeitet; diese Begriffe sind nicht in jedem Fall kombinierbar, weil der angestrebten Kombination zweier Grundbegriffe der Geometrie die An­ schaubarkeit versagt bleiben kann. Fehlt die Anschauung, so fehlt der echte Be­ griff und ein Unding entsteht. Das 'nihil negativum' entspringt daraus, daß zwei synthetisierte Begriffe in der Kombination unsynthetisierbar werden, weil ihr lritas filia temporis? Philoso­ phiehistorie zwischen Wahrheit und Geschichte. Festschrift for Rainer Specht zum 65. Ge­ burtstag. Berlin, New York, 1 995: S. 227.] - Eine mögliche Erklärung für das fast vollständige

Die drei Formen des Ich bei Husserl

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Interessanterweise gibt es dennoch bei Husserl einige beiläufig scheinende Anmerkungen zu diesem Sachbereich, die an eine phänomenologische Sprach­ theorie heranführen könnten. Der noch im einzelnen zu behandelnde Bereich der Intersubjektivität gibt dazu erste Hinweise an die Hand, denn bei der Be­ stimmung des Anderen als anderes Ich greift Husserl auf ein sprachliches Argu­ ment zurück: In der Redeweise von sich selbst als 'ich' kommt ein Bewußtsein vom Ich zustande, das auf den Anderen übertragen werden kann.99 Immerhin zeigt ein derartiges Verständnis sprachlicher Ausdrücke Husserls Glauben an eine Entsprechung derselben durch etwas Seiendes an; zudem ist die Annahme nicht unbegründet, daß Husserls Grundlegung der Logik sich nur von der Sprache her begreifen läßt. 100 Schließlich verweist er selbst in seinen Untersuchungen zur Philosophie als strenger Wissenschaft auf einen Zusammenhang zwischen der Methode der Wesensschau und der Sprache, der jedoch von ihm weder weiter verfolgt noch nutzbar gemacht wird: Alle Aussagen, die Phänomene durch di­ rekte Begriffe beschreiben, tun dies, soweit sie gültig sind, durch Wesensbegriffe, also begriffliche Wortbedeutungen, die sich in Wesensanschauung einlösen las­ sen müssen. 101 Wie aber lassen sich Begriffe durch Wesensanschauung einlösen, und setzt ein derartiger Vorgang nicht Sprache voraus, was auf das doppelte Problem von phänomenologischer Sprache und Sprache der Phänomenologie zurückweist? - Mehr als Andeutungen bietet Husserl also kaum, um alle die Sprache betreffenden Fragen zu beantworten, so daß die Thematik der Sprache als phänomenologisches Problemfeld bestehen bleibt. Allerdings stellt gerade dieses fast vollständige Fehlen einer ausgearbeiteten Sprachtheorie Husserl in den Zusammenhang des Idealismus. Schon bei der Betrachtung der sprachanalytischen Einwände gegen die Kantische Philosophie zeigte sich eine der idealistischen Philosophie eigene Tendenz der Vernachlässi­ gung sprachlicher Analysen, die aber auf den der Transzendentalphilosophie ei­ genen Ansatz zurückgeführt werden konnte. Da Sprache und Denken innerhalb der sogenannten idealistischen Systeme weitgehend gleichgesetzt werden, ist in den durchgeführten Verstandes-, Vernunft- und Erkenntnisforschungen eine Be­ handlung des Phänomens 'Sprache' von vornherein eingeschlossen, so daß es keiner eigenen, vom Denken unabhängigen Thematisierung des Ausdrucks­ mittels 'Sprache' bedarf. Da sich bei Husserl eine Phänomenologie der Logik Fehlen der Sprachanalyse könnte im engen Zusammenhang von Sprache und Imersubjektivi­ tät gesehen werden. 99 Vgl. R. Kozlowski. Die Aporien der lntersubjektivität, a.a.O., S. 77. 1 oo Vgl. L. Eley. "Logik und Welt - oder: Ursprung der Logik aus der Antinomie der Er­ kenntnis". In: E. W. Orth (Hrsg.). Die Phänomenologie und die Wissenschaften. Reihe: Phä­ nomenologische Forschungen, Band 2. Freiburg, München, 1 976: S. 29. 1o 1 Vgl. Husserl. Logos, S. 3 1 4.

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Egologische Grundstrukturen in der Phänomenologie Husserls

und des Logos im allgemeinen findet, kann durchaus davon gesprochen werden, daß eine spezielle Phänomenologie der Sprache vorliegt. Allerdings bleibt auch in diesem Fall noch das Desiderat einer eigenständigen phänomenologischen Sprache (die über das bloße Setzen von Anführungszeichen hinausgeht) beste­ hen, um dadurch auch äußerlich das Entsprechungsverhältnis von Denken und Sprache sowie die Auswirkungen der phänomenologischen Reduktionen sichtbar machen zu können. Nach diesem Exkurs zur Stellung der Sprache in der Phänomenologie soll nun wieder an die Frage nach der Möglichkeit einer sprachlichen Selbstausle­ gung des phänomenologischen Ich angeknüpft werden. Obwohl Husserl an eine derartige Selbstbestimmung des Ich durch sprachliche Mittel nicht dachte, muß dies nicht grundsätzlich für eine Defizienz eines solchen Auslegungsversuchs sprechen. Doch wenn diese Nichtbeachtung durch Husserl noch nicht die gene­ relle Unmöglichkeit einer sprachlich oder kulturell fundierten Selbstbestimmung des phänomenologischen Ich erweist, ergibt sich trotzdem folgende Problemlage, die daran zweifeln läßt, ob mit dieser Form des Ich die letzte Stufe phänomeno­ logischer Forschungen erreicht sein kann: Wenn der Versuch unternommen werden soll, das phänomenologische Ich sich selbst mittels einer Eigenanalyse seiner Sprache oder Kultur auslegen zu lassen, so wäre eine Grundforderung der phänomenologischen Methode verletzt, nämlich diejenige nach (im einzelnen) absoluter Voraussetzungslosigkeit. In der Tat müßte eine derartig begründete Selbstauslegung immer zirkelhaften Charakter besitzen, indem auf eine Ich-Ana­ lyse eine Sprachanalyse und auf eine Sprachanalyse eine sprachliche Ich-Analyse folgen müßte. Niemals können bei einer sprachlichen oder kulturellen Ausle­ gung die Sprache selbst oder die Kultur gleichzeitig mit dem zu analysierenden Ich in den Blick genommen werden, so daß die Untersuchung immer zwischen zwei, jeweils einen eigenen Voraussetzungsreichtum besitzenden Polen hin- und herpendeln müßte. Eine rein aus dem phänomenologischen Ich hervorgehende Ich-Auslegung ist folglich unmöglich, da schon dieser regressive Bezug die Notwendigkeit einer dieser Ebene übergeordneten transzendentalphänomenologischen Deutungsbasis erweist. Noch eine weitere Überlegung spricht zugunsten dieser Notwendigkeit: Letztlich wäre die Frage nach der Möglichkeit einer sprachlichen, kulturellen oder anders gearteten Selbstanalyse auch eine Frage nach der Gegebenheitsweise des Ich für sich selbst. Bei einem Verbleiben im Bereich des phänomenologi­ schen Ich müßte untersucht werden, wie dieses sich seine eigene Gegebenheits­ weise erklären kann, was aber einen vom phänomenologischen Ich verschiede­ nen, den transzendentalen, Standpunkt voraussetzt, da eine Trennung des phä­ nomenologischen Ich von sich selbst ausschließlich zu einer Analyse seines

Die drei Formen des Ich bei Husserl

345

lnterpretationsmodus, d. h. der Sprache oder Kultur, führen kann. 102 Dieses Ich ginge so in der Totalität seiner Gegenstandsbezüge auf, ohne daß sein eigenes Wesen erfaßt würde. Ein solches Einswerden mit dem jeweiligen Modus des Selbstverständnisses gäbe zu einer psychologischen (Miß-)Deutung der Phäno­ menologie Anlaß. Da ohne eine transzendentale Ebene eine Aufklärung der Gegebenheitsweisen (d. h. zuletzt der lntentionalitätsstruktur) nicht möglich ist, kann die phänomenologische Methode nicht beim phänomenologischen Ich als letzter Stufe stehenbleiben, sondern muß, um ihren Grundbegriffen und Haupt­ forderungen zu entsprechen, die methodische Ebene des transzendentalen Ich anstreben. Ohne Aufklärung der Gegebenheitsweisen bleibt der gesamte Versuch der Auslegung willkürlich. Sprache, Kultur oder andere Bereiche können nur zufällig gewählt werden, um als Interpretationszusammenhänge zu einer objekti­ vierten Ich-Auslegung zu gelangen. Das Wesen des zu erforschenden Ich kann bei diesem Vorgehen nicht mehr unabhängig von seinen Gegebenheitsweisen erfaßt werden, sondern das phänomenologische Ich kann nur noch als in be­ stimmte, willkürlich betonte Bezüge eingebunden erkannt werden, d. h. eben in sprachlichem, kulturellem oder sonstigem Kontext. Das rein phänomenologi­ sche Ich, unabhängig von seinen lnterpretationsmodi, kann auf diese Weise nicht begriffen werden, so daß das Wesen des Ich, das unabhängig von allen Deutungsbereichen besteht, unzugänglich bleibt. Ein vom phänomenologischen Ich verschiedener Standpunkt, der sowohl sein reines Wesen, das damit nicht der letzte Bereich phänomenologischer Forschung sein kann, als auch seine Gege­ benheitsweisen {Sprache, Kultur etc.) zu erfassen vermag, ist unumgänglich; denn nur er kann dem dargelegten Regreß entgehen. Einen solchen Standpunkt kann aber nur das transzendentale Ich bieten. Indem offenkundig geworden ist, daß das phänomenologische Ich nicht die letzte Stufe der Phänomenologie sein kann, ist schon die erste Funktion dieser zweiten Ich-Form sichtbar geworden: Das phänomenologische Ich leitet zum transzendentalen Bereich der Phänomenologie über und erweist die Notwendig­ keit einer übergeordneten, transzendentalen Form des Ich. 103 So wie erst durch 1 02 So ergibt sich, durch die Unmöglichkeit der Selbstauslegung des phänomenologischen Ich sichtbar geworden, folgende Verweisungskette: Das lebensweltliche Ich verweist auf das phänomenologische, das den Standpunkt zur Erkenntnis der Lebenswelt bereitstellt; dieses wiederum verweist auf das transzendentale Ich als einzige Möglichkeit zur Erkenntnis der We­ sensstrukturen des phänomenologischen Ich. 1 0 3 Die Unumgänglichkeit eines transzendentalen Standpunkts ist es auch, die das Werk Heideggers in Schwierigkeiten führt, da er eine transzendentale Wendung für seine Philoso­ phie ablehnt. Zwar gelingt es ihm im ersten Abschnitt von Sein und Zeit, das Dasein nur in­ nerhalb seiner Gegebenheitsweisen, d. h. ausgehend von der Verfallenheit des Man und damit uneigentlich, zu denken. Im zweiten Abschnitt, der das eigentliche Dasein thematisieren soll, mißlingt dieser Versuch jedoch, da die Position der Eigentlichkeit ohne transzendentalen

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Egologische Grundstrukturen in der Phänomenologie Husserls

das vom selbstverständlichen Weltglauben freie phänomenologische Ich ein un­ verstellter Blick auf das lebensweltliche Ich möglich wird, so bedarf umgekehrt dieses erkennende phänomenologische Ich einer ihm selbst wiederum überge­ ordneten Ebene, um in seinem Wesen zugänglich zu werden. Dabei muß diese immer weiter fortschreitende Selbstbesinnung des Ich sowohl über die Lebens­ welt als auch über das noch an Wesensstrukturen gebundene phänomenologi­ sche Ich hinausführen, ohne dabei je über die Subjektivität als solche hinaus­ gelangen zu können. Auf diese Weise leitet alles relativ Seiende aller Seins- und Ich-Horizonte vor bzw. zurück auf das absolut universale Subjektive, das da­ durch ist, daß es sich selbst für sich selbst konstituiert. 104 Das phänomenologi­ sche Ich weist also auf das transzendentale Ich insofern voraus, als diese Form des Ich noch eigens analysiert und mittels des Weiterschreitens der phänomeno­ logischen Methode zugänglich gemacht werden muß; es weist aber auch auf dieses Ich zurück, indem es als höchster Punkt aller Subjektivität und Transzen­ dentalphilosophie erkennbar wird, so daß Husserl von der Subjektivität als der konkreten Unendlichkeit sprechen kann. 105 Während das lebensweltliche Ich auf die Notwendigkeit der phänomenologischen Erfassung des Ich verwies, deutet das phänomenologische Ich auf die Unerläßlichkeit einer transzendentalphäno­ menologischen Ich-Analyse, die erst den beiden anderen Stufen eine abschlie­ ßende Begründung zu geben vermag. Mit dieser Aufgabe des phänomenologischen Ich liegt auch seine zweite Funktion vor, indem es nicht nur auf die Notwendigkeit einer transzendentalen Ich-Stufe hinweist, sondern auch auf die einer selbstreferentiellen Aufklärung des Ich. Um zu einer durch die Subjektivität gegebenen Erklärung von Ich, Welt und Philosophie zu gelangen, reicht es nicht aus, die Struktur des transzendenta­ len Ich zu analysieren, sondern dazu bedarf es des transzendentalen Ego als der dreigliedrigen Selbstauslegung des transzendentalen Ich. Noch vor diesen die in­ nere Struktur des transzendentalen Ich betreffenden Einzel- und Wesenheiten verweist das phänomenologische Ich allgemein auf die Selbstkonstituierungs­ funktion des transzendentalen Ego. I 06

Standpunkt, der die Auslegungsmodi des Daseins reflektieren und einklammern könnte, nicht plausibel zu machen ist. Die Kritik Heideggers an der Wendung Husserls zur transzendentalen Phänomenologie wird auch in diesem Abschnitt aus Sein und Zeit nicht aufgegeben; sein Festhalten am rein phänomenologischen Standpunkt, der weder auf sich selbst noch auf seine eigenen Gegebenheitsweisen reflektieren kann, trägt mit zum Scheitern des Gesamtprojekts von Sein und Zeit bei. 1 04 Vgl. Husserl. Erste Philosophie Il, S. 272-274. 1 0 5 Vgl. Husserl. Erste Philosophie Il, S. 269. 1 06 Vgl. Husserl. Erste Philosophie II, S. 1 67.

Die drei Formen des Ich bei Husserl

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3. Vergleich zwischen Kant und Husserl bei der zweiten Form des Ich

Aufgrund der Funktionen des phänomenologischen Ich bei Husserl ergibt sich eine allgemeine Beziehung zu dem bei Kant behandelten 'psychologischen' Ich. Denn beide Ich-Formen verweisen ausdrücklich auf die Notwendigkeit eines ei­ genen philosophischen Standpunktes innerhalb der alles umgreifenden Thema­ tik der Subjektivität. Das philosophisch ungenügende 'psychologische' Ich, das vor allem die Unhaltbarkeit der rationalen Psychologie erweist und damit ein­ hergehend das Desiderat eines genuin philosophischen Erkennens, das den Zu­ gang zur transzendentalen Philosophie mit dem ihr eigenen höchsten Punkt der transzendentalen Apperzeption aufdeckt, verweist genauso auf das transzenden­ tale Ich und damit die transzendentale Philosophie insgesamt wie das phänome­ nologische Ich, das allerdings auch zu positiven, philosophisch relevanten Ein­ sichten beitragen kann. Trotz dieser Grundgemeinsamkeit wird sichtbar, daß sich Kant und Husserl vielleicht nirgendwo so fern sind wie bei dieser zweiten Form des Ich. Denn wo Kant lediglich eine (fast ausschließlich negative) Auseinandersetzung mit der rationalen Psychologie führt, die es allein zuläßt, die Psychologie entweder in grenzziehender Weise oder als empirische, der Anthropologie zuzurechnende Wissenschaft bestehen zu lassen, weist Husserl dem phänomenologischen Ich auch eine eigenständige positive Aufgabe zu. Diese Differenz zwischen Kant und Husserl deutet sich nicht zuletzt in der Bezeichnung der beiden Ich-Formen an: Während diese Form des Ich wegen der mit ihr verbundenen und von ihr ausgehenden Auseinandersetzung mit der Psychologie als 'psychologisches' Ich bezeichnet wurde, wobei schon aus inhaltlichen Gründen offenbar ist, daß da­ mit keine von Kant selbst affirmativ vertretene Position und keine transzenden­ talphilosophische, vernunftkritische Darlegung der Subjektivität vorliegen kann, gewinnt das phänomenologische Ich bei Husserl schon gemäß seinem Namen Anteil an seiner phänomenologischen Methode. Das 'psychologische' Ich besitzt für Kants System eine grenzziehende Funktion und zeigt den falschen Ansatz, vor dem die Transzendentalphilosophie bewahrt werden soll und muß. Die vom 'psychologischen' Ich ausgehenden Erkenntnisse können also nur negativer Art sein oder müssen aus dem Negativen erst abgeleitet werden. Im Gegensatz dazu besitzt das phänomenologische Ich Husserls eine positive Bedeutung, indem es den phänomenologischen Erkenntnisstand um positive Wissensanteile vermehrt - hingewiesen sei nochmals auf die Verbindung von Noesis und Noema 107 - und 1 07 In dieser Hinsicht ist Husserls Bewußtseinsbegriff noch weiter als derjenige Kants, da er auch Aspekte des Sinnlichen und des Noetischen sowie darüber hinaus das Beziehungsgeflecht von aktiver und passiver Synthesis mit umgreife. [Vgl. J. N. Mohanty. "Kant and Husserl", a.a.O., S. 24-25.]

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Egologische Grundstrukturen in der Phänomenologie Husserls

indem es das Verhältnis von Philosophie und Psychologie, um das es Husserl wie Kant zu tun ist, so definiert, daß beide Wissenschaften in ihren positiven Gehal­ ten bestimmbar werden. Daß nämlich eine auf psychologischen Grundlagen gebaute Philosophie nicht haltbar ist, hat Husserl schon mit dem Weg über die Psychologismuskritik bewiesen, bei dem in erster Linie die gegenüber der Phä­ nomenologie negativen Aspekte der Psychologie hervorgehoben wurden, wo­ durch weniger die Grenzen der Philosophie als vielmehr diejenigen der Psycho­ logie sichtbar wurden. Im Gegensatz dazu wird durch die zweite Form des Ich der positive Charakter der Psychologie hervorgehoben, indem besonders die Notwendigkeit einer empirischen Psychologie betont wird. Da allerdings die Psychologie auch von Husserl der Philosophie untergeordnet wird, entsprechen sich das Kantische und Husserlsche Konzept hier durchaus, wobei allerdings die Art der Aufteilung differiert. Trotz dieser Gemeinsamkeit hinsichtlich der Be­ wertung des Verhältnisses von Philosophie und Psychologie bleibt doch der zentrale Unterschied zwischen der dominierenden negativen Bedeutung des 'psychologischen' Ich bei Kant mit seiner nur grenzziehenden Funktion und der vorherrschend positiven Bedeutung des phänomenologischen Ich bei Husserl mit seinen Einsichten in die Grundbestandteile der phänomenologischen Me­ thode bestehen. An ihm offenbart sich die divergierende Beurteilung dieser Ich­ Form, so daß es unmöglich ist, 'psychologisches' und phänomenologisches Ich zur Deckung zu bringen. Husserl überschreitet mit dem phänomenologischen Ich die von Kant hervor­ gehobenen negativen Bezüge dieser Ich-Form, so daß sie als ein solcher Be­ standteil der phänomenologischen Theorie angesehen werden muß, der einen eigenen Ich-Begriff in sich enthält. Während Kants eigener Ich-Begriff innerhalb seiner Kritik an der rationalen Psychologie im Paralogismuskapitel lediglich angedeutet wird, erhält bei Husserl nicht nur das Ich selbst, sondern auch die phänomenologische Methode neue Konkretisierungen. Gegenüber Kant über­ wiegen in Husserls Konzeption die positiven Aspekte der zweiten Form des Ich, woraus erkennbar wird, daß Husserl auch hier den Rahmen der Kantischen Phi­ losophie sprengt, indem er wiederum die Peripherie verlagert; dadurch büßt die Konzeption Kants aber nichts von ihrer Richtigkeit ein. Denn seine Kritik an der rationalen Psychologie wird letztlich von Husserl geteilt - nur daß er neben seine Kritik die weiterführenden Einsichten in die eigene Methode stellt. In diesem Sinn geht Husserls Analyse des phänomenologischen Ich derjenigen Kants beim 'psychologischen' Ich voran. Dennoch müssen auch bei der vor allem methodisch umfassenderen Ich-Kon­ zeption Husserls mindestens zwei Defizite gegenüber Kant festgestellt werden: So zeigt sich, daß Husserl die für die Kantische Philosophie wichtige Problema­ tik des Nichts nicht kennt, so daß ihm bei den einzelnen Ich-Formen keine so

Die drei Formen des Ich bei Husserl

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umfangreich abgestützte Funktionsvermittlung wie Kant gelingen kann. Indem Husserl die Nichts-Thematik übergeht, fehlt ihm auch eine phänomenologisch zureichende Bestimmung des Wesens des Negativen, ohne das ihm aber das Pen­ dant zum Ich ermangelt, das über dieses Ich selbst einigen Aufschluß gewährt. In gewisser Weise ist somit die positive Erweiterung der zweiten Ich-Form ge­ genüber Kant zirkelhaft zu erklären, wodurch ihre Bedeutung teilweise herabge­ mindert erscheint: Da Husserl ein (phänomenologisch) zureichender Begriff des Nichts fehlt, kann er auch das Ich nur positiv bestimmen; da er das Ich nur positiv bestimmt, fehlt ihm ein philosophischer Begriff des Nichts. So ist die Phänomenologie Husserls im positiven Bereich zwar weiter als die Kantische, aber insgesamt ist sie enger als der Ansatz Kants, da ihr der Bereich der Nichts­ Thematik verschlossen bleibt. 1 08 Eine zweite Einschränkung erfährt die Analyse des phänomenologischen Ich dadurch, daß Husserl keine Beziehung zwischen den einzelnen Ich-Formen und den von Kant behandelten Ideen annimmt, da ihm eine solche Ideenproblema­ tik zwar nicht völlig fremd ist, aber doch bei ihm keine entscheidende Rolle spielt. Dort, wo Husserl sich der Ideenfrage zuwendet, behandelt er die für ihn einzig sinnvolle Idee der Philosophie als strenger Wissenschaft. Die Fragen nach Gott, Freiheit und Unsterblichkeit werden allenfalls am Rande erwähnt, wenn Husserl sich fast nebenbei auch einmal den Fragen einer phänomenologischen Ethik zuwendet. Diese Nichtbeachtung des klassischen Bereichs der Ideen kann zwar positiv als Überwindung der Metaphysiktradition gewertet werden; sie kann aber auch als Verkennung eines entscheidenden Teils der Vernunftproble­ matik eingestuft werden, nämlich des von Kant so hoch veranschlagten dialekti­ schen Teils der Vernunft, der ihn ja erst eigentlich zu seiner umfassenden Ver­ nunftkritik trieb. Da eine Auseinandersetzung mit der Dialektik der reinen Ver­ nunft ohne Einbeziehung der Antinomienlehre kaum möglich sein dürfte, müßte auch die Phänomenologie Husserls mit diesem Stück der Transzendental­ philosophie Kants konfrontiert werden. Dennoch kann dieses Einfügen der J OB Hierzu gibt D. Henrich in " Ü ber die Grundlagen von Husserls Kritik der philosophi­ schen Tradition", a.a.O., S. 22-23 einige Hinweise, die die Problematik des fehlenden Nichts­ Begriffs bei Husserl noch verschärfen: Da für Husserl die Negation nur ein sekundäres, abge­ leitetes und gegen das Sein isoliertes Phänomen ist, muß er auch den eigenen Seinssinn der Subjektivität unbestimmt lassen. - Dabei ist Sein keineswegs mit Realität gleichzuserzen, wo­ durch sich eine ähnliche Schwierigkeit wie bei Kam ergibt, dessen Seinsbegriff ja durch seine Bindung an Materie nicht umfassend genug ist. Während Kant also der ausreichende Begriff des Seins fehlt, so daß seine Bestimmungen der Funktion des Ich teilweise ergänzungsbedürf­ tig sind, fehlt Husserl ein hinreichender Begriff des Nichts, so daß auch seine Subjektivitäts­ analysen in einem gewissen Grade defizitär bleiben. Schon hier zeigt sich, daß die Systeme Kants und Husserls vereint werden müssen, um zu der einen Transzendentalphilosophie zu ge­ langen, die ein tragfähiges Konzept der Subjektivität in sich enthält.

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Egologische Grundstrukturen in der Phänomenologie Hussecis

Ideenreflexion Kants in das phänomenologische Gebäude Husserls nur von ad­ ditivem Wert sein, ohne daß daraus etwa eine positive Freiheitstheorie abgeleitet werden könnte. Nur das Negative der Ideen, ihre Unbeweisbarkeit im theoreti­ schen Bereich, kann der Husserlschen Phänomenologie an passender Stelle er­ weiternd mitgegeben werden. Die positive Ausführung der Ideenthematik in der praktischen Philosophie Kants darf jedoch nicht einfach in die Phänomenologie übernommen werden, auch deshalb nicht, weil der Primat des Theoretischen in der Husserlschen Transzendentalphilosophie dies nicht zuläßt. Praktische Über­ legungen, wie sie bei Kant schon aus der theoretischen Philosophie erwächsend notwendig werden, können innerhalb der Phänomenologie Husserls nur eine untergeordnete Rolle spielen. Damit unterscheidet sich Husserl nicht nur von Kant, sondern auch zum einen von den anderen idealistischen Systemen, besonders von Fichte mit dem von ihm vertretenen Vorrang der praktischen vor der theoretischen Philosophie, aber auch von Schelling, in dessen Geschichte des Selbstbewußtseins ebenfalls der praktischen Philosophie eine zentrale Stellung zugesprochen wird. Zum an­ deren steht Husserl damit in einem Gegensatzverhältnis zu verschiedenen Vertre­ tern der phänomenologischen Bewegung - etwa zu Heidegger, der nicht nur in Sein und Zeit, sondern auch in seiner Spätphilosophie ethischen Fragestellungen breiten Raum gab und sich besonders der schon von SeheHing erörterten Frei­ heitsproblematik zuwandte, oder auch zu Scheler, dessen materiale Wertethik gänzlich andere Prioritäten als Husserls theoretische Transzendentalphänomeno­ logie setzte. Aufgrund der angeführten Defizite Husserls gegenüber Kant kann die phäno­ menologische Anlage der zweiten Form des Ich dem 'psychologischen' Ich bei Kant nicht vorgewgen werden. Die Phänomenologie erweitert zwar diese Ich­ Form im positiven Bereich, kann den Kamischen Ansatz aber schon deshalb durch das phänomenologische Ich nicht ganz ersetzen, weil sie ihm in zwei ent­ scheidenden Punkten unterlegen bleibt. Phänomenologie und Vernunftkritik müssen also zusammengefaßt werden, um ein vollständiges Bild der zweiten Ich­ Form zu erlangen. Indem sich beide philosophischen Richtungen ergänzen, ent­ steht ein methodisch, funktional und inhaltlich breit angelegtes Fundament für eine transzendentale Subjektivitätsphilosophie; erst das 'psychologisch-phänome­ nologische' Ich erfüllt alle Ansprüche an diese Form des Ich und kann damit den umfassenden Erfordernissen der Transzendentalphilosophie überhaupt gerecht werden.

Die drei Formen des Ich bei Husserl

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C . Das transzendentale Ich

1. Darstellung des transzendentalen Ich Durch die transzendentalphänomenologische Reduktion, die einmal als auf die psychologische Reduktion aufgestuft109, dann als Voraussetzung für die Einsicht in das Wesen des Bewußtseins überhaupt1 10 und schließlich als bewußte Umge­ staltung der phänomenologischen Reduktion1 1 1 begriffen wird, vollzieht sich die im Rahmen der Phänomenologie Husserls entscheidende Wende zur transzen­ dentalen Ebene, die vor allem durch das transzendentale Ich1 12 repräsentiert wird. Dieses Ich ist von grundsätzlicher Bedeutung, weil es nach Ausschaltung aller die Wahrnehmungsgegenstände oder die Welt insgesamt betreffenden Set­ zungen als phänomenologisches Residuum zurückbehalten wird und dadurch als Grundlage der in der Epoche eingeklammerten Größen erkannt werden kann. Denn durch die transzendentalphänomenologische Reflexion wendet sich das phänomenologische Interesse von den Gegenstandstypen und Auffassungsfor­ men weg und zu den Leistungen des Bewußtseins und ihrem Anteil an der Ge­ genstandskonstitution hin. t t3 Durch die transzendentale Reduktion erscheint das reine Bewußtsein als von der Generalthesis der natürlichen Einstellung unabhängiges, dem keine empiri­ schen Komponenten mehr zugeschrieben werden können. Die Welt wird als in­ tentionaler Gegenstand dieses reinen Bewußtseins erkannt; alles Seiende ist auf dasselbe bewgen, das sich doch als prinzipiell notwendig erweist und dadurch eine Transzendenz in der Immanenz des Erkenntnisstroms darstellt, die alles Sei­ ende überhaupt erst konstituiert, insbesondere die im Sinne des empirischen Be­ wußtseins 'transzendente' Welt. Allein als unbezweifelbarer Grund erhalten bleibt dabei das Vollzugs-Ich der Epoche, die damit als Funktion der Reflexion des Residuums auf sich selbst bestimmt werden kann. Während jedes seiende, empirische Ich an seine cogitationes gebunden ist, führt die Epoche von allen 1 09

Vgl. Husserl. Encyclopaedia-Britannica-Artikel, S. 293. Vgl. Husserl. Ideen I, S. 68. 1 1 1 Vgl. Husserl. Krisis, S. 1 90. 1 1 2 Historisch gesehen beginnt die detaillierte Ausarbeitung des transzendentalen Ich inner­ halb des Husserlschen Werks mit den !dun I und erstreckt sich von da aus bis in die letzten Arbeiten Husserls, bildet also ein - wenn nicht das dominierende - Hauptthema der gesamten Phänomenologie. [Zur Entwicklung des reinen Ich in den Ideen I und II sowie in ihren Vorar­ beiten vgl. T. Sakakibara. "Das Problem des Ich und der Ursprung der genetischen Phänome­ nologie bei Husserl". In: Husserl-Studies 1 4 , 1 997: S. 22-27, wo auch der besondere Zusam­ menhang zwischen der Konzeption des reinen Ich und der genetischen Phänomenologie be­ tont wird (S. 28).] 1 1 3 Vgl. K.-H. Lembeck. Einfohrung in die phänomenologische Philosophie, a.a.O., S. 39. 1 10

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Egologische Grundstrukturen in der Phänomenologie Husserls

Geltungen zum transzendentalen Ich-Standpunkt, der jeder Bestimmung des empirischen Ich übergeordnet ist. Mit diesem transzendentalen Ich bleibt der Erlebnisstrom immer noch erhalten, in dem sich das empirische Ich als konstitu­ iertes und mundanisiertes mit seinen Bezügen zu Gegenständen oder anderen Menschen findet. 1 14 Genau diese Bezüge gibt die transzendentale Sphäre der Phänomenologie in ihrem Eigenwesen zu erkennen, wodurch offenkundig wird, daß sie alle überhaupt nur möglich sind auf dem konstituierenden Grunde des transzendentalen Ich, das also der höchste Punkt der Transzendentalphilosophie ist, der in sich Welt- und Ich-Konstitution vereinigt. Diese Bestimmung weist das transzendentale Ich allerdings nur in seinen Funktionsweisen auf, ohne daß es in seinem Eigenwesen völlig erfaßt wäre; ebenso müssen die Selbstreflexion dieses Ich und damit einhergehend die Selbstverständigung der Philosophie noch geleistet werden. Letztere kann erst durch eine dreifache Selbstauslegung des transzendentalen Ich als transzendentales Ego gelingen, wie sich im folgen­ den zeigen wird, so daß seine eigene Charakterisierung lediglich auf der allge­ meinen Stufe festgehalten werden kann, die hier erreicht ist, nämlich als oberster Punkt der transzendentalen Phänomenologie.

2.

Die Problematik des transzendentalen Ich

Im Zusammenhang der Konzeption des transzendentalen Ich ergeben sich wich­ tige Fragen: Zunächst die nach der Plausibilität der Wendung zum Transzenden­ talen insgesamt. Dann im Zuge der Problematik dieser Wendung: Kann es eine transzendentale Intersubjektivität geben? Und schließlich die zentrale Frage: Ist das transzendentale Ich als einheitliche Struktur aufzufassen oder weist es nicht vielmehr auffällige Parallelen zu den drei dargestellten Wegen in die Phänome­ nologie auf? D. h. ist das transzendentale Ich nicht selbst wieder in eine Dreiheit von Formen, die den drei Wegen korrespondieren, aufgespalten? - Die letzte Frage wird durch den dritten Teil bei der Behandlung der Ich-Konzeption Hus­ serls einer Lösung zugeführt werden; zuvor sollen die anderen Problemfelder ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt werden.

a) Die Frage nach der Notwendigkeit der Wendung zum transzendentalen Ich Nach der Abkehr vom Psychologismus war für Husserl eine neue, über die auf psychologischem Wege zu erlangenden Erkenntnisse hinausweisende Methode 1 1 4 Vgl. W. H. Müller. Die Philosophie Edmund Husserls, a.a.O., S. 75.

Die drei Formen des Ich bei Husserl

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notwendig geworden; der entscheidende Schritt war der zum Transzendentalen, der eine Begründung der Philosophie als strenger Wissenschaft erst ermöglichen soll. Dabei könnte leicht der Eindruck entstehen, als werde der zentrale Gehalt der universalen Epoche, das transzendentale Ich, als "apriorisches Zentrum ur­ sprünglicher Icheigenschaften" 1 15 lediglich in Form einer Setzung eingeführt. Denn was, außer methodischen Gründen, beweist die Notwendigkeit der Ein­ führung eines Ich, dem jede Realität abzusprechen, Husserl selbst sich gezwun­ gen sieht? Obzwar die phänomenologische Reduktion allein zur Erklärung des Seins des Menschen, der Intersubjektivität und der Welt unbefriedigend bleibt, ist zwar eine Erweiterung der phänomenologischen Methode erforderlich; ja selbst die Wendung zum transzendentalen Gang der Untersuchung - verstanden als Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von (phänomenologischer und lebensweltlicher) Erkenntnis - erscheint als bis zu einem gewissen Grad metho­ disch gerechtfertigt. Doch die Frage bleibt: Kann das transzendentale Ich ebenso gerechtfertigt werden, da sich besonders bei der Lektüre der Ideen der Eindruck aufdrängt, das reine Ich sei lediglich anerkannt - was um so erstaunlicher ist, da die Logischen Untersuchungen noch in einer anderen, ich-fernen, ja -feindlichen Sprache redeten?1 16 - Selbst wenn das transzendentale Ich zur überzeugenden Er­ klärung des Phänomens 'Welt' geeignet ist, bleibt unklar, ob es sich selbst ebenso überzeugend zu erklären vermag. Das reine Bewußtsein in seiner Funktion als phänomenologisches Residuum mag zur Konstitution eines anderen, sei es die Welt oder ein anderer Mensch, notwendig sein, aber ist es schon ausreichend als Erklärung seiner selbst? - Hinweise dazu bietet Husserls Selbstkritik: " [ . . . ] ver­ kehrt war [ . . . ] das Überspringen des Ur-Ich, des ego meiner Epoche, das seine Einzigkeit und persönliche Undeklinierbarkeit nie verlieren kann. Dem wider­ spricht nur scheinbar, daß es sich - aber durch eine besondere ihm eigene kon­ stitutive Leistung - für sich selbst transzendental deklinierbar macht; [ . . . ] . " 1 17 Warum ist dies nur ein scheinbarer Widerspruch? Deutet er nicht auf einen unendlichen Regreß, in dem jedes transzendentale Ich zu seiner Begründung ei­ nes weiteren transzendentalen Ich bedarf, das es wiederum zum phänomenologi­ schen Ich und schließlich zu einem bloßen Ich-Pol macht? Denn wird nicht je­ des transzendentale Ich allein dadurch, daß es sich einmal auf sich selbst als ein anderes, nämlich vergangenes Ich bezieht und sich darin selbst in transzendenta­ ler Reflexion deutet und daß es sich zum anderen durch Rückbeziehung auf seine primordiale Sphäre auf andere, von ihm selbst zu unterscheidende Ich-Pole bezieht, selbst zu einem solchen Ich-Pol? Da sich aber Ich-Pole stets auf Gegen1 15

Husserl. Ideen li, S. 3 1 1 . Vgl. E. Marbach. Das Problem des Ich in der Phänomenologie Husserls. Den Haag, 1 974: s. 1 26. 1 1 7 Husserl. Krisis, S. 1 88. 1 16

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Egologische Grundstrukturen in der Phänomenologie Husserls

standspole oder Leistungen beziehen, die sie selbst nicht sind, muß dem tran­ szendentalen Ich, zum Ich-Pol geworden, jeder Selbstbezug unmöglich werden und somit auch die Selbsterkenntnis als weltkonstituierendes reines Bewußtsein. Zu einer derartigen Selbsterkenntnis bedürfte es jeweils eines neuen, übergeord­ neten transzendentalen Ich, d. h. es käme zu einem unendlichen Regreß. Damit setzt das transzendentale Ich sich jedoch in seiner mehrfachen transzendentalen Aufsplitterung selbst als notwendig und schließt seine eigene Nichtexistenz als undenkbar aus. Diese Unaufhebbarkeit und Undenkbarkeit einer grundlegen­ den Struktur gemahnt in aufFälliger Weise an den Psychologismus, der von ei­ nem zugrundeliegenden Welthoriwnt nicht abtrennbar ist, was der Psychologie die Wendung zur transzendentalen Phänomenologie unmöglich macht. So be­ steht im Bereich des transzendentalen Ich neben dem genannten Regreßproblem noch ein zusätzliches Horiwntproblem. Obwohl zwischen dem Welthoriwnt der Psychologie und dem Bewußtseinshoriwnt der Phänomenologie große Un­ terschiede bestehen, scheint Husserl doch (auf einer höheren Stufe) der Zirku­ larität eines als notwendig zu denkenden Horiwnts nicht entgehen zu können. Wird die phänomenologische damit zu psychologischer Erkenntnis auf höherer Ebene? Sind der Phänomenologie, obwohl sie über den Psychologismus hinaus­ führt, nicht durch ihre Befangenheit in einem Horiwnt - wie umfassend er auch sein mag - in ihr selbst von vornherein schon gegebene Grenzen gesetzt? Oder werden durch die Wendung zum transzendentalen Ich alle transzendenta­ len Erkenntnisse unmöglich gemacht, so daß diesem Ich nur die Funktion der Verweisung auf das phänomenologisch und das natürlich eingestellte Ich zu­ kommt?1 18 - Daß eine Wendung zum transzendentalen Ich nicht frei von Schwierigkeiten ist, wurde deutlich. Doch wäre, obwohl eine Fortentwicklung der phänomenologischen Methode im Anschluß an die eidetische Reduktion zur adäquaten Aufweisung größerer Zusammenhänge, wie zum Beispiel des Seins der Welt oder etwa einer phänomenologisch fundierten Ontologie, notwendig erscheint, die Wendung zur Transzendentalität nicht vermeidbar gewesen? - eine Frage, die immer wieder an die Phänomenologie gerichtet werden muß. Bezüglich des Vorwurfs eines unendlichen Regresses kann allerdings auf einen Gedankengang in Husserls Erster Philosophie hingewiesen werden: Dort stellt er die Frage, was das für ein Ich sei, das nicht mehr eingeklammert und durchge­ strichen werden könne. Da es nicht das Phänomen des Menschen-Ich, sondern das Subjekt des 'Ich denke' ist, das vorfindbar wird, wenn Mensch und Ich im gewöhnlichen Sinn eingeklammert sind, muß es das transzendentale Ich sein. Es unterscheidet sich sowohl vom naiven Strom des Lebens, der keine Reflexion ha­ ben muß und reine Sachhingegebenheit ist, als auch von der ersten phänomeno1 1 8 Vgl. W. H. Müller. Die Philosophie Edmund Husserls, a.a.O., S. 75-76.

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logischen Reflexion und Reduktion, durch die erst die Objektivität und das reine Ich faßbar werden. Denn erst in einer weiteren Reflexion wird deutlich, daß die vorangegangene erste phänomenologische Reflexion selbst ein Phäno­ men ist, da jedes reine Phänomen und das reine dahinströmende Leben für das Ich da sind und zu ihm gehören; d. h. in jeder Reflexion findet sich das Ich als dasselbe in notwendiger Selbstdeckung. Damit wird erkennbar, daß im gesam­ ten Lebensstrom immer das Ich anwesend ist, daß also mit dem immer gegebe­ nen 'Ich denke' auch stets das Ich als Pol gegeben ist. Das reine Ich ist somit zwar, wie Husserl sagt, ein tausendfältiges und tausendmal in gesonderten Akten auftretendes, aber es ist doch numerisch dasselbe. 1 19 Durch diese Identität des reinen transzendentalen Ich, das sich durch alle Ich-Formen hindurch als das­ selbe erhält, ist der ausgeführte Regreßeinwand gegen die Husserlsche Konzep­ tion des transzendentalen Ich ausgeräumt. Obwohl das Ich immer neue Ebenen erreichen muß, um sich selbst erkennend konstituieren zu können (vom lebens­ weltlichen über das phänomenologische und transzendentale Ich hin zum tran­ szendentalen Ego) , so zeigt dennoch die transzendentalphänomenologische Re­ flexion auf die rein phänomenologische Reflexion, daß auf allen diesen Ebenen immer ein einziges Ich in verschiedenen Ausprägungen vorliegt. Wenn das tran­ szendentale Ich auf sich selbst als auf ein anderes Ich Bezug nimmt, so bleibt es sich dabei zum einen als Reflektierendes gleich; es bezieht sich aber zum anderen in diesem anderen Ich doch wieder auf sein eigenes Selbst, so daß weder ein un­ endlicher Regreß noch ein unaufhebbarer Widerspruch entstehen. Obwohl schon durch die Aufhebung des Regreßarguments die transzendenta­ le Wende der Phänomenologie wenigstens zum Teil gerechtfertigt erscheint, fin­ den sich doch weitere Hinweise zur Vermeidung einer solchen Wende in den Beilagen zu den Ideen !I - wenngleich sie von Husserl nicht wieder aufgegriffen und weiterverfolgt werden, wohl wegen der gegenüber dem transzendentalphä­ nomenologischen Idealismus noch größeren Schwierigkeiten, die sich aus einer derartigen Weiterentwicklung der Phänomenologie ergeben könnten. So schreibt Husserl: "Geht man nun darauf aus, [ . . . ] die Dingerscheinungen in dem relativ noetischen Sinn [ . . . ] für das Subjekt zu beschreiben, ihre Zusam­ menhänge zu verfolgen und die Weise, wie sie im Bewußtsein [ . . . ] und im Ein­ fühlungszusammenbang der Subjekte untereinander phänomenal sich darstellen und bewußtseinsmäßig entspringen nach ihren verschiedenen Stufen [ . . . ] , so lei­ stet man die tiefere 'verstehende' Aufklärung [ . . . ] der letzten Grundlagen der Geisteswissenschaften [ . . . ] - natürlich unter Anwendung der eidetischen geistes­ psychologischen, nicht transzendentalen 'Phänomenologie'. "120 Die Grundlagen 1 1 9 Vgl. Husserl. Erste Philosophie II, S. 4 1 0-4 1 2. 1 20 Husserl. Ideen II, S. 369.

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Egologische Grundstrukturen in der Phänomenologie Husserls

der Geisteswissenschaften können scheinbar ohne Verwendung der transzenden­ talen Phänomenologie in ihrem Wesen aufgeklärt werden. Zudem scheinen sie einen neuen, vierten Weg in die Phänomenologie zu eröffnen. 121 Wenn auch die Natur- als Kulturwissenschaften verstanden werden, ergibt sich die Identität von Phänomenologie und Philosophie, denn "es ist dann einzusehen, daß die [ . . ] Phänomenologie als die philosophische Grundwissenschaft gelten, also phäno­ menologische Philosophie und Philosophie überhaupt einerlei sein muß" 122. Diese Identität will Husserl durch die Begründung der Phänomenologie errei­ chen, indem allein sie die Philosophie zur gesicherten Wissenschaft macht. Dieser Zusammenhang zwischen Philosophie, Phänomenologie und Geistes­ wissenschaft123 kann zweierlei bedeuten: Entweder er bedeutet einen unausge­ sprochenen Zirkel, der sich durch die Stufenfolge der Reduktionen innerhalb der Phänomenologie dadurch ergibt, daß den Grundlagen der Geisteswissen­ schaften schon eine transzendentale Phänomenologie vorgeordnet sein muß wie auch das Wesen anderer Wissenschaften erst durch die transzendentale Phä­ nomenologie bestimmbar wird. Sie müßte in diesem Kontext bei der Aufklärung der genannten Grundlagen nicht eigens thematisiert werden, da sie, ohne daß dies einer nochmaligen Reflexion bedürfte, sowieso grundlegender als die Grundlagen aller Einzelwissenschaften wäre, so daß sich folgende Stationen er­ gäben: von der transzendentalen Phänomenologie hin zu den Grundlagen der Geisteswissenschaften, von da weiter zur eidetischen Phänomenologie und zur Aufklärung des Wesens der Grundlagen der Geisteswissenschaften. Wird der Zu­ sammenhang auf diese Weise gedeutet, so wird eine Aufgabe der transzendenta­ len Phänomenologie, die zunächst greifbar nah zu liegen schien, wieder unmög­ lich. - Oder der Zusammenhang wird ohne Rückfrage danach, was die Grundla­ gen ermöglicht, gewissermaßen phänomenologisch-naiv, aufgefaßt, so daß sich tatsächlich die Vermeidung einer Wendung zum transzendentalphänomenologi­ schen Idealismus andeutet, die einen Weg aufzeigt, wie ohne Übergang zum transzendentalen Ich das Phänomen 'Welt' aufgeklärt und Philosophie als Wis­ senschaft geschaffen werden können. Dies hätte weitreichende Konsequenzen hinsichdich der Stellung des phänomenologischen Ich, das dadurch eine erhebli­ che, in ihren Folgen nicht zu unterschätzende Aufwertung erführe, sowie hin­ sichdich der noch zu erörternden Problematik der lntersubjektivität, die derart in ihren Folgen für die Phänomenologie insgesamt in ihrer Bedeutsamkeit er­ heblich abgeschwächt würde. Die zweite Alternative scheint zur Deutung der Bezüge zwischen Phänome.

121

Vgl. Husserl. Ideen JI, S. 3 1 4. Husserl. Ideen JI, S. 3 1 5. 1 23 Vgl. N. Luhmann. Die neuzeitlichen Wissenschaften und die Phänomenologie, a.a.O., s. 2 1 -22. 1 22

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nologie, Geisteswissenschaften124 und Philosophie im Gesamtkomplex der Äu­ ßerungen Hussecis sowie aufgrund der Schwierigkeiten, die sich hinsichtlich der Praktikabilität ihrer Durchführung ergeben, in letzter Konsequenz nicht haltbar zu sein, so daß nur die erste Alternative, die auf der transzendentalen Phänome­ nologie aufbaut, als tatsächliche Möglichkeit anzusehen ist, deren Richtigkeit Husserl selbst nachweist125, indem er die Unmöglichkeit einer anderen als der transzendentalphänomenologischen Fundierung der Philosophie aufzeigt. Zu­ dem wird jener vierte Weg in die Phänomenologie zwar nicht ausgeschlossen, doch da er dieselben Schwierigkeiten wie der Weg über die Psychologismuskritik aufwiese, weil sich auch die Geisteswissenschaften innerhalb ihres Bereichs der eigenen Grundlagen nicht versichern können, bleibt er eine wenig fruchtbare phänomenologische Potentialität. 126 Es bleibt also nur die transzendentale Wen­ dung, um die phänomenologischen Forschungen voranzutreiben und um durch die Philosophie auch alle anderen Wissenschaften zu begründen. Die Notwen­ digkeit der Wendung zu einem transzendentalen Bereich der Phänomenologie scheint demnach unumgänglich und wird, durch den Nachweis der Unmöglich­ keit seiner Nichtdurchführbarkeit, endgültig als Kernstück der Phänomenologie ausgewiesen. Die Kopplung dieses Bereichs an ein transzendentales Ich scheint dabei ebenso unaufhebbar zu sein wie seine Aufnahme in die Phänomenologie insgesamt. Das bedeutet: Die Phänomenologie muß transzendental werden. Und: Um diesen Schritt in den transzendentalphänomenologischen Idealismus tun zu können, muß ein transzendentales Ich zwingend angenommen werden. War im Zusammenhang mit dem phänomenologischen Ich bereits nachge­ wiesen worden, daß eine sprach- oder kulturabhängige Selbstauslegung des Ich aufgrund der damit verbundenen Zirkelhaftigkeit nicht zu leisten ist, so muß die Frage nach der Möglichkeit des Selbstverständnisses in modifizierter Form auch auf das transzendentale Ich angewandt werden. Gibt es nicht auf transzendenta­ ler Ebene einen der Sphäre des phänomenologischen Ich vergleichbaren Zirkel, indem es so scheint, als bedürfe das das phänomenologische Ich konstituierende transzendentale Ich ebenfalls eines ihm selbst wieder übergeordneten transzen­ dentalen Ich und dieses dann eines weiteren und so fort in infinitum? Die Ant­ wort auf diese Frage wurde schon durch Hussecis Widerlegung des Regreßargu1 24 Vgl. zu diesem Komplex im allgemeinen: W. Dilthey. Die Philosophie des Lebens. Eine Auswahl aus seinen Schriften 1867-1910. Hrsg. von H. Nohl. Frankfurt am Main, 1 946: S. 48-73, wo die Geisteswissenschaften jeweils in verschiedener Hinsicht thematisiert werden. W. Dilthey. Das Wesen der Philosophie. Mit einer Einleitung hrsg. von 0. Pöggeler. Harn­ burg, 1 984: S. 83. 1 2 5 Vgl. Husserl. Ideen /1, S. 369-370. 1 26 Vgl. T. Luckmann. "Eine phänomenologische Begründung der Sozialwissenschaften?". In: D. Henrich (Hrsg.) . Kant oder Hege/? Ober Formen der Begründung in der Philosophie. Stuttgarter Hegel-Kongreß 198 1 . Stuttgart, 1 983: S. 506-5 1 8. -

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Egologische Grundstrukturen in der Phänomenologie Husserls

ments gegeben, aber sie kann darüber hinaus auch in seinem Ansatz des tran­ szendentalphänomenologischen Idealismus gefunden werden. Ausgehend vom idealistischen Standpunkt wird eine Selbstauslegung des transzendentalen Ich möglich, in der dieses Ich Erkennendes und Erkanntes zugleich ist, in der es sich als Sicherkennendes erkennt; das transzendentale Ich interpretiert sich selbst in dem ihm eigenen transzendentalen Bereich. Bei einer Betonung dieser idealisti­ schen Sichtweise ist auch die Welt als von der Konstitution des transzendentalen Ich abhängige mit in dieser Selbstauslegung eingeschlossen. 127 Allerdings bleiben bei diesem Deutungsversuch Fragen offen: Ist eine Ein­ schränkung der Transzendentalphänomenologie Husserls auf einen so radikal anzunehmenden Idealismus überhaupt hilfreich und sinnvoll? Bedeutet ein solch extremer Idealismus, für den die Frage nach der Realität der Außenwelt letztlich bedeutungslos geworden ist, nicht eine Abkehr von der Cartesianischen Linie in der Phänomenologie Husserls sowie eine Vernachlässigung der Betonung der Le­ benswelt in der Spätphase seines Denkens? - Beide Fragen sind kaum befriedi­ gend zu beantworten, wenn nicht die soeben entwickelte idealistische Konzep­ tion, besonders was ihre Einbeziehung der Welt in den transzendentalen Bereich anbelangt, wieder aufgegeben werden soll, wodurch sich dann erneut die erstge­ nannte Frage nach einem Regreß innerhalb der Transzendentalphilosophie er­ gäbe. Das bedeutet, daß entweder eine derart radikal-idealistische Konzeption bei Husserl angenommen werden muß oder daß das Regreßproblem wieder in Geltung tritt. Die Wahl zwischen diesen Gegensätzen, die vernünftigerweise zu­ gunsten der ersten Alternative ausfallen muß, scheint einen Schlußpunkt der ln­ terpretationsmöglichkeiten zu bilden. Ohne die Wendung zum transzendental­ egologischen Bereich der Phänomenologie gerät diese also in unüberwindbare Aporien, obwohl auch diese Wendung selbst Probleme in sich birgt, deren Lö­ sung wenigstens schwierig erscheinen muß.

b) Die Frage nach der Intersubjektivität Gegen die transzendentale Wende der Phänomenologie wird vor allem ein Ein­ wand erhoben: Ausgehend vom transzendentalen Standpunkt kann das Sein des Anderen nicht mehr eigentlich erkannt werden. Das lntersubjektivitätspro-

1 27 Das Aufgehobensein der Welt im transzendentalen Ich erlaubt ein angemessenes Ver­ ständnis der Husserlschen Bezüge zur Monadenlehre Leibniz'; denn ebenso wie bei diesem können die monadisch gedachten transzendentalen Ich-Subjekte als Spiegel des Universums gedeutet werden.

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blem128 zeigt sich besonders einprägsam an der Hinwendung der phänomeno­ logischen Methode zum transzendentalen Ich, ja es entsteht im Grunde erst durch den mit dieser Wendung sich etablierenden Primat einer egologischen Untersuchungsweise, die dazu führen muß, den Anderen nur noch vom eigenen Ich-Standpunkt aus zu verstehen. Indem die Anderen nicht gemäß ihrer phäno­ menalen Gegebenheit, sondern aufgrund der theoretischen Selbsterfassung be­ stimmt werden, kommt es zu ihrer Egologisierung. 129 Obwohl Husserl sich die­ ser Problematik130 wohl bewußt war, wie ihre Aufnahme in den phänomenolo­ gischen Forschungsbereich beweist1 3 1 , kann daraus nicht auf Zweifel Husserls am transzendentalen Ausgangspunkt der Phänomenologie oder seine Aufgabe ge­ schlossen werden, denn obgleich Husserl mit den aus der Intersubjektivität er­ wachsenden Schwierigkeiten kämpft, so hält er doch am Primat des transzen­ dentalen Ich fest. 132 Dennoch sind es nicht zuletzt methodische Fragen, die nach einer Lösung des Problems des Anderen suchen lassen, denn wie die radikal durchgeführte Epoche zur Ausschaltung des sonst scheinbar sicheren Weltbodens führt, so werden durch sie auch alle anderen Menschen mit erfaßt, womit sie zu bloßen Phäno­ menen werden, deren Subjektcharakter keineswegs selbstverständlich ist. Da me­ thodisch alles Ich-Fremde ausgeschaltet wird, scheint auch die phänomenologi­ sche Etablierung eines Begriffs intersubjektiver Wahrheit kaum möglich. 133 Ein zusätzliches Problem besteht darin, wie trotz und mit der Vorrangstellung des je 128 Darstellungen des Problems der Intersubjektivität bieten etwa: J. Allen. "Husserl's Overcoming of the Problem of lntersubjectivity". In: The Modern Schoolman 5 5 , 1 977/78: S. 26 1 . - T. Celms. Der phänomenologische Idealismus Husserls, a.a.O., S. 1 52-1 68. J. V. lribarne. Husserls Theorie der Intersubjektivität, a.a.O., besonders S. 2 1 --43. - C. Möckel. Einführung in die transzendentale Phänomenologie, a.a.O., S. 1 80-1 9 1 . - M. A. de Oliveira. Subjektivität und Vermittlung, a.a.O., S. 1 97-207. - H. Spiegelberg. The Phenomenological Movement, a.a.O., S. 1 57-1 59. - D. Zahavi. Husserl und die transzendentale Intersubjekti­ vität, a.a.O., besonders S. 1 1- 1 5 . - D. Zahavi. "Husserl's intersubjective Transformation of transeendental Philosophy". In: Journal of the British Society for Phenomenology 27, No. 3, 1 996: s. 228-245. 1 29 Vgl. R. Kozlowski. Die Aporien der Intersubjektivität, a.a.O., S. 64. 1 3 0 Daß es sich bei der Analyse der Intersubjektivität um ein allgemeines phänomenologi­ sches Problem handelt, beweisen etwa die Untersuchungen M. Schelers in "Wesen und Formen der Sympathie. Sonn, 2 1 923: S. 244-307, wo ebenfalls vom fremden Ich und von der Fremd­ wahrnehmung gehandelt wird. 1 3 1 Vgl. etwa: Husserl. Cartesianische Meditationen, insbesondere die V. Meditation. Erste Philosophie ll, zum Beispiel S. 65-66, wo die Zirkelhaftigkeit jeder Lösung des lnter­ subjektivitätsproblems und die Unmöglichkeit ihrer völligen Voraussetzungslosigkeit betont werden. - Zur Phänomenologie der Intersubjektivität, Band I-Ill. 1 3 2 Vgl. H.-G. Gadarner. Neuere Philosophie I, a.a.O., S. 1 3 1 - 1 34. 1 33 Vgl. G. Römpp. Husserls Phänomenologie der Intersubjektivität und ihre Bedeutung für eine Theorie intersubjektiver Objektivität und die Konzeption einer phänomenologischen Philosophie. Dordrecht, Boston, London, 1 992: S. 3. -

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eigenen Ich der Andere adäquat erkennbar ist, d. h. wie in der Eigenheitssphäre Motivationsfundamente für die Konstitution authentischer Transzendenzen ge­ funden werden können, die die Sphäre des Ich zum anderen Ich hin radikal überschreiten. 134 Während sich bei der eidetischen Reduktion die Frage erhebt, ob der Andere nicht nur noch als Objekt oder Gegenstandspol gedacht werden kann, muß bei der transzendentalen Reduktion die Frage gestellt werden, ob der Andere nach ihrem Vollzug überhaupt noch sein kann, ob er noch denkbar und erfahrbar ist. 135 Gegen diese Problematik nimmt sich Husserls Versicherung, die transzen­ dentale Intersubjektivität sei der absolute, allein selbständige Seinsboden, aus dem alles Objektive Sinn und Geltung schöpfe136, nicht sehr überzeugend aus. l37 1 34 1 35 1 36 1 37

Vgl. J.-E Courtine. "lntersubjektivität und Analogie", a.a.O., S. 25 1 . Vgl. Husserl. Cartesianische Meditationen, S . 1 2 1 . Vgl. Husserl. Phänomenologische Psychologie, S. 344. Daß es sich bei dieser Problematik um eine der Philosophie insgesamt, insbesondere aber der Phänomenologie eigene Fragestellung handelt, beweist auch die Wiederaufnahme ähnlicher Überlegungen bei Sartre oder Merleau-Ponty. So glaubt letzterer, die Unmöglichkeit eines wahren Solipsismus nachgewiesen zu haben. [Vgl. M. Merleau-Ponty. Phänomenologie und Wahrnehmung. Reihe: Phänomenologisch-psychologische Forschungen, Band 7. Berlin, 1 966: S. 4 1 2-4 1 3.] Doch auch diesem vorgeblichen Beweis der Unmöglichkeit des Solipsis­ mus eignen Probleme: Zum einen macht Merleau-Ponty - phänomenologisch immerhin nicht selbstverständlich - die Voraussetzung des Seins der Welt, wenn er behauptet, Existieren heiße Zur-Welt-sein. Gerade das Sein der Welt muß nach Husserl außer Kraft gesetzt werden, soll der Phänomenologie Erkenntniszuwachs und der Anfang der Philosophie gelingen. Wie Mer­ leau-Ponty auf diese Weise zu einer transzendentalen Subjektivität gelangen kann, bleibt im dunkeln. Zum anderen stellt die Notwendigkeit, den Anderen für das eigene Ich-Bewußtsein mitzudenken, eine empirische Notwendigkeit dar, deren Übernahme in den transzendentalen Bereich, die diese Notwendigkeit zur transzendentalen machen soll, eigener Beweise auf der Basis der phänomenologischen Methode bedürfte, die Merleau-Ponty nicht erbringt. - Abge­ sehen von derartigen Schwierigkeiten zeigt der genannte Textabschnitt Differenzen innerhalb der phänomenologischen Bewegung an; denn Husserl hängt noch in späteren Schriften der Vorstellung der Möglichkeit des Außer-Geltung-Setzens jeder mundanen Erfahrung an. [Vgl. Husserl. Erste Philosophie //, S. 72-73.] Schon soweit scheint eine Zusammenführung der Husserlschen Position mit derjenigen Merleau-Pontys kaum möglich zu sein; ganz entfremdet scheinen beide Philosophen jedoch dann nebeneinander zu stehen, wenn Husserl in die Mög­ lichkeit des Nichtseins der Welt ausdrücklich die Möglichkeit des Nichtseins der Anderen ein­ bezieht. [Vgl. Husserl. Erste Philosophie //, S. 64-69.. ] Zweierlei kann aus dem Gesagten fest­ gehalten werden: die Unumgänglichkeit der intersubjektiven Fragestellung und die Uneinheit­ lichkeit der sich auf die phänomenologische Methode berufenden philosophischen Positionen. Ebenso wie Merleau-Ponty glaubte auch Sartre, sowohl das Solipsismusproblem selbst als auch die Gründe, die zu seiner Entstehung in der Husserlschen Philosophie führten, aufge­ klärt zu haben, indem er seine Interpretation der Ich-Struktur, die das Ich als Transzendentes annimmt, das an allen Wechselfällen der Welt teilhat und damit kein Absolutum mehr sein kann, dem Husserlschen Entwurf gegenüberstellt. [Vgl. J.-P. Sartre. "Die Transzendenz des Ego", a.a.O., S. 4 1 -42.] Allerdings hat er später selbst diesen Versuch der Überwindung des Solipsismus innerhalb der Phänomenologie zurückgewiesen. [Einen Überblick über Sartres Po-

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Schon vor ihrer ausdrücklichen Thematisierung in den Cartesianischen Medita­ tionen und der Krisis gewinnen die die Intersubjektivität betreffenden Fragen in den Ideen II eigenständige Bedeutung, obwohl sie auch hier nicht frei von Wisitionswandlungen geben zum Beispiel: B. Waldenfels. Phänomenologie in Frankreich. Frank­ furt am Main, 1 987: S. 63- 1 4 1 . - M. Theunissen. Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart. Berlin, 1 965: S. 1 87-240. - K. Hartmann. Die Philosophie ]. -P. Sartres. Zwei Untersuchungen zu 'L'etre et le neant' und zur 'Critique de Ia raison dialectique'. Ber­ lin, New York, 2 1 983: S. 2 1 -30.] - Wenn das Ego die unendliche Totalität seiner Zustände und Handlungen darstellt, welche Beziehung kann dann noch zwischen ihm und dem von al­ len weltlichen Seinssetzungen unabhängigen transzendentalen Ego Husserls bestehen? Wenn es aber keine sinnvolle Beziehung geben kann, inwiefern kann dann Sartres Ansatz als Alterna­ tive zu Husserl verstanden werden und inwiefern vermag dann dieser Ansatz das Solipsismus­ problem bei Husserl zu lösen? Außerdem ergibt sich die Frage, ob das Solipsismusproblem von Sartre nicht auf einer anderen Ebene gelöst wird als von Husserl: Das Ego als transzendentes mag kein Absolutum sein, doch als transzendentales muß es absolut sein. Vertritt Sartre die er­ ste Position, so gestattet ihm dies keine Aussagen bezüglich der Fragen, die im Zusammenhang mit der zweiten Position entstehen können. - Trotz dieser Differenzen beharrt Sartre noch in Das Sein und das Nichts auf der Notwendigkeit der Aufgabe des transzendentalen Ich und macht diese Ablehnung zur Grundlage seiner eigenen Lösung der Solipsismusfrage, obwohl er erkennt, daß der Verzicht darauf die Frage nach dem Anderen nicht automatisch löst. So fol­ gert er, daß der Solipsismus nur dann vermieden werden kann, wenn "mein transzendentales Bewußtsein in seinem Sein selbst durch die weltjenseitige Existenz anderer Bewußtseine des­ selben Typus affiziert ist. Weil Husserl das Sein auf eine Reihe von Bedeutungen reduziert hat, ist die einzige Verbindung, die er zwischen meinem Sein und dem des Andern herstellen konnte, die der Erkenntnis; er kann demnach ebensowenig wie Kam dem Solipsismus entge­ hen." U.-P. Sartre. Das Sein und aas Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie. Hrsg. von T. König. Hamburg, 1 99 1 : S. 428-429.] Die Ablehnung der Struktur des transzen­ dentalen Ego dient Sartre lediglich dazu, seinen eigenen Lösungsvorschlag vorzustellen, der durch eine Analyse des Bewußtseins und seiner Strukturen zur Einsicht führt, daß bestimmte Erlebnistypen wie Scham, Furcht oder Stolz auf ontologischen Verbindungen des Bewußtseins mit dem Sein Anderer beruhen: So wie der Andere mich durch seinen Blick zum Objekt macht, so daß ich, das Subjekt, mich selbst erkennen kann, so macht er mich auch, indem ich mir meiner Freiheit ihm gegenüber bewußt werde, wiederum zum Subjekt. - Dabei werfen je­ doch auch Sanres Einwände gegen Husserl Fragen auf, die an einer endgültigen Lösung der Intersubjektivitätsfrage zweifeln lassen: So scheint sein Nachweis, daß das je eigene Bewußt­ sein in seinem Sein durch die weltjenseitige Existenz anderer Bewußtseine desselben Typus af­ fiziert sei, auf einer Vermengung von empirischem und transzendentalem Bereich zu beruhen. Die Bestimmung eines Typus von Bewußtsein setzt reale Komponenten voraus oder läßt we­ nigstens offen, ob nicht derartige Komponenten dazu erforderlich wären. Ein solcher Mangel an Genauigkeit läßt dann eine Interpretationsmöglichkeit zu, die dem transzendentalen Be­ wußtsein mehr zuspricht als nur einen geschlossenen Seinszusammenhang und die das cogiro über eine explizite Intentionalität ausweitet. Werden dem transzendentalen Bewußtsein jedoch reale Prädikate zuerkannt, so muß dies zu Widersinn führen [vgl. Husserl. Ideen //, §§ 4755]. Daß eine solche Füllung des Bewußtseins mit Realitäten der Phänomenologie Sartres nicht fremd ist, läßt sein Lösungskonzept zur Vermeidung des Solipsismus vermuten, das auf Erlebnistypen aufbaut, die auf ontologischen Verbindungen des eigenen mit fremdem Be­ wußtsein beruhen. Unabhängig von der Frage, ob hier eine Verwechslung von ontologischen mit ontischen Verbindungen vorliegt, bleibt es schwierig, ein den genannten Erlebnistypen zu-

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dersprüchen und einer in ihrer Komplexität noch auf keine befriedigende Lö­ sung vorausweisenden Problematik bleiben, die sich besonders hinsichtlich des Naturbegriffs ergibt. Dieser Terminus wird zunächst als "das gesamte räumlich­ zeitliche 'Weltall', der Gesamtbereich möglicher Erfahrung" 1 38 definiert, wo­ durch er schon begrifflich eine enge Verbindung zu der in der natürliChen Ein­ stellung selbstverständlichen Lebenswelt aufweist. Denn unter der Überschrift 'Relativität der Natur, Absolutheit des Geistes' stellt Husserl das Abhängigkeits­ verhältnis der Natur gegenüber dem Geist dar: Während bei Streichung aller Geister auch keine Natur mehr bestehen könnte, bliebe bei Streichung der Na­ tur immer noch ein individueller Geist bestehen, dem allerdings - leib- und da­ mit intersubjektivitätslos geworden - die Möglichkeit der Sozialität mangelt. 139 Die Vorrangstellung des Ich ist absolut, denn obwohl ein Ich durch seine Um­ welt bestimmbar wird, hat diese "doch die sekundäre Individuation des Gegen­ über, während im Ich selbst die originäre liegt, die absolute" 140• Das Ich ist also sowohl von der Natur als auch vom anderen Ich unabhängig. All dies legt eine Deutung nahe, die einen Vorrang des Ich vor der Natur und damit vor dem in ihr vorkommenden Anderen annimmt. Einen wichtigen Bei­ trag zur Stützung dieser dem Intersubjektivitätsproblem zugrundeliegenden Deutung leisten die Analysen zur Leiblichkeit, denn den Ausgangspunkt bei der Frage, wie sich die Naturrealität 'Mensch' konstituiert, stellt die Konstitution des Leibes in solipsistischer Betrachtung dar. 141 Schon die für die Ideen 11 zentralen Leiblichkeitsanalysen erweisen die Vorrangstellung des solipsistischen Subjekts, das zugleich den Ausgangspunkt der Reflexionen zur Konstitution bildet; denn bevor die Intersubjektivität einbezogen wird, nimmt Husserl das "erfahrende Subjekt als solipsistisches" 142• Wenn es jedoch möglich ist, die Analysen rein mit dem solipsistischen Ich beginnen zu lassen143, ohne den bzw. die Anderen be­ stimmen zu müssen, und wenn so Welt konstituiert werden kann, ja wenn "es grundeliegendes Ereignis wie den Blick des Anderen als von jeder Realitätssetzung unabhängi­ ges Vorkommnis zu begreifen. - Abgesehen von derartigen Spezialproblemen zeigt die genann­ te Textpassage aus Das Sein und das Nichts ebenfalls das Auseinanderfallen einer einheitlichen phänomenologischen Bewegung. (Allerdings beruht der Zusammenhalt der phänomenologi­ schen Bewegung nicht ausschließlich auf der Anerkennung des transzendentalen Ego, da sich viele Schüler Husserls gegen die Annahme eines solchen transzendentalen Bereichs in der Phä­ nomenologie ausgesprochen haben, ohne daß es dabei jedoch zu übereinstimmenden Ergeb­ nissen innerhalb der Systementwürfe der Phänomenologen der 'zweiten Generation' gekom­ men wäre.) 1 3 8 Husserl. Ideen II, S. 1 . 1 39 Vgl. Husserl. Ideen II, S . 297. 1 40 Husserl. Ideen II, S. 30 1 . 1 4 1 Vgl. Husserl. Ideen II, § 3 5 . 1 42 Husserl. Ideen II, S. 7 3 . 1 43 Vgl. Husserl. Erste Philosophie II, S. 66.

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von dem Leib und von dem Eigenen der Psyche abhängt, was das Subjekt als Welt sich gegenüber hat" 144, d. h. wenn eine "solipsistische Welt"145 wider­ spruchsfrei gedacht werden kann, wobei dieses Gedankenexperiment, das wie­ derum die wichtige Rolle der Phantasie hervorhebt, durchaus zu phänomenolo­ gisch relevanten Ergebnissen zu führen imstande ist: wenn all dies möglich ist, ohne daß irgendeine Form der Intersubjektivität zur Bildung und zum Bestehen dieses Welthoriwnts beitrüge, dann legt dies ein deutliches Zeugnis sowohl für eine thematische als auch für eine zeitliche Vorrangstellung des solipsistischen Subjekts ab. Weitere Ausführungen zur Thematik der Intersubjektivität finden sich in den Nachlaßbänden Zur Phänomenologie der Intersubjektivität (Husserliana, Band XIII-XV) , weshalb einige Hauptgedanken derselben bündig referiert werden sollen, wobei stets die bereits erörterte Thematik des Leibes eine entscheidende Rolle spielt. Schon am Leib zeigen sich fundamentale Differenzen zwischen dem eigenen Ich und dem Anderen: Während er für das Ich zum Träger von Empfin­ dungsfeldern, von subjektiven Eigenschaften und zum Organ für Wirkungen und Wahrnehmungen wird, können die spezifischen Eigenschaften des fremden Leibes sowie das zu ihm Gehörige und das mitaufgefaßte Ästhesiologische und Psychische dem Ich nicht zur originären Gegebenheit kommen. 146 Hieran offen­ bart sich die bereits angesprochene Vorrangstellung des je eigenen Ich vor dem Anderen. Dennoch betont Husserl, daß mit dem Anderen auch eo ipso das Ich gegeben sei, das sich folglich im Kontrast zum Du konstituiert. 147 Auf leiblicher Ebene bedeutet das, daß die Apperzeption des eigenen und des fremden Leibes wesentlich zusammengehören, weil die Grundart der Gegenständlichkeit, die sich beiderseits konstituiert, dieselbe ist. 148 So kommt dem Leib eine schwan­ kende Position bezüglich des Ich und des Anderen zu: Einerseits trennen sich an ihm beide in Eigenes und Fremdes, in Primäres und Sekundäres; andererseits bildet er ein gemeinsames Glied, da sich an ihm Ich und Fremd-Ich als identisch Bestimmte erkennen können; in jedem Fall ist der Leib das erste Intersubjektive, und zwar als Leib des Anderen. 1 49 Allerdings liegt darin nicht beschlossen, daß das Intersubjektive auch das Erste ist vor dem eigenen Ich, sondern nur, daß vor allem anderen Intersubjektiven der Leib zuerst gegeben ist. Denn das erste Ver­ stehen eines fremden Leibes ist der primitivste Schritt der Objektivierung und konstituiert das erste, noch unvollkommene Objekt, das erste intersubjektiv 1 44 1 45 1 46 1 47 148 1 49

Husserl. Ideen II, S. 75. Husserl. Ideen II, S. 79. Vgl. Husserl. Zur Phänomenologie der Intersubjektivität I, S. 47. Vgl. Husserl. Zur Phänomenologie der Intersubjektivität I, S. 245-247. Vgl. Husserl. Zur Phänomenologie der Intersubjektivität I, S. 344. Vgl. Husserl. Zur Phänomenologie der Intersubjektivität II, S. 1 1 0.

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Identifizierte der Erfahrungen verschiedener Subjekte. Daran erst kann sich die Objektivierung der physischen Umwelt anschließen, so daß die physische Ding­ lichkeit nur das zweite Objektive nach dem Leib sein kann. 1 5° Dennoch bleibt in dieser Bestimmung des Leibes und der beginnenden Objektivität der Andere nur ein dem Ich nachgeordnetes Phänomen, was sich daran bestätigt, daß jedes Ich sich zwar denken kann, daß kein anderes Ich sei, daß es sich aber niemals sein eigenes Nichtsein denken kann; das Sosein des Ich könnte zwar ein anderes sein, aber sein Sein duldet nicht einmal im Denken eine Veränderung. 1 5 1 Hier­ aus ergibt sich, daß nur ein Ich, das sich selbst derart erkennen kann, dazu in der Lage ist, irgendein anderes Ich, Natur und Welt zu begreifen. 152 Die Vorrangstel­ lung des Ich gegenüber dem Anderen bleibt bestehen, wenn Husserl auch be­ tont, daß erst in der Ich-Du-Beziehung das Ich zum personalen Subjekt wird und so personales Selbstbewußtsein gewinnt. 153 Da letzteres sowohl in seiner Konstitution als auch in seinem Erfassen vom transzendentalen Selbstbewußt­ sein abhängt, ohne das überhaupt kein Erkennen möglich wäre, bleibt das Be­ greifen des Anderen dadurch, daß es der transzendentalen Sphäre nachgeordnet ist, hinter der eigenen Subjektivität zurück. So entsteht eine Reihe vom überper­ sonalen, überindividuellen, ja sogar überrealen transzendentalen Ich über das personale, phänomenologische Erscheinungs-Ich hin zum leiblich erfahrbaren Ich des Anderen, wodurch sich die Überordnung der Ich- über die Fremdsubjek­ tivität nochmals bestätigt. In der natürlichen Selbsterfahrung findet sich das Ich mit seinem Bewußtseinsleben und zugleich damit die Raumwelt, die Dinge, die Menschen, seinen eigenen Leib, der sein personales Bewußtsein auch real mitbe­ dingt. Da alles, was für dieses Ich ist, nur durch sein Bewußtsein intentional ist, also auch die fremde Subjektivität, ist die Enthüllung des Ich-Bewußtseins und des reinen, transzendentalen Bewußtseins als diesem noch übergeordnet das Fundament aller systematischen Enthüllungen. Die Klärung der Idee des reinen Ich bildet daher die Grundlage der Klärung aller psychologischen und phäno­ menologischen Ideen. 1 54 Das transzendentale Ich bleibt deshalb allen intersub­ jektiven Bezügen vorgelagert; und da Husserl daran festhält, daß das Ich erst vom transzendentalen Standpunkt wieder zurückschreitend die Welt und den Anderen vollständig begreifen kann, bleibt der Andere dem eigenen Ich nachge­ ordnet. Deshalb stellt das primordiale Ich die Urmonade dar; nur dadurch kann sich die transzendentale Subjektivität, die immer den absoluten Grund bildet,

1 50 1 51 1 52 1 53 1 54

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

Husserl. Zur Phänomenologie der Intersubjektivität li, S. 1 1 0. Husserl. Zur Phänomenologie der Intersubjektivität li, S. 1 5 5. Husserl. Zur Phänomenologie der Intersubjektivität li, S. 1 57. Husserl. Zur Phänomenologie der Intersubjektivität li, S. 1 7 1 . Husserl. Zur Phänomenologie der Intersubjektivität li, S . 435--438.

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zur Intersubjektivität erweitern.155 Erst nach der transzendental-subjektiven kann es zur transzendental-intersubjektiven Selbstbesinnung kommen. 1 56 So wie die Intersubjektivität insgesamt der transzendental-egologischen Sphäre untergeord­ net bleibt, so ist auch der Andere dem eigenen Ich nicht gleich-, sondern nach­ geordnet157, denn erst durch das eigene Ich erhält auch jedes alter ego Sinn und Geltung. 1 58 Somit kann aus den Analysen zur Phänomenologie der Intersubjek­ tivität nur ein Verhältnis zwischen Ich und Anderem abgeleitet werden, das eine Vorrangstellung des solipsistischen Subjekts erhärtet. Das bedeutet zwar nicht, daß das Problem der Intersubjektivität keiner Lösung zugeführt worden wäre, es bedeutet aber, daß es einer einseitigen, den Husserlschen Absichten, den Ande­ ren als gleichursprünglich mit dem Ich und als für dessen Konstitution mitver­ antwortlich aufzuweisen, nicht gerecht werdenden Lösung nähergebracht wurde. Trotz der Probleme, die einen phänomenologischen Solipsismus1 59 nahezule­ gen scheinen, gibt Husserl selbst durch die Analyse des Phänomens der Einfüh­ lung Möglichkeiten zur Begründung der Intersubjektivität an die Hand. 160 Die Einfühlung ist nämlich eine besondere Appräsentationsform, die eine originäre Mitgegenwärtigung von ursprünglich nicht zu Gegenwärtigendem liefern soll161 1 55 Vgl. Husserl. Zur Phänomenologie der Intersubjektivität III, S. 1 7. - In der primor­ dialen Eigenheit meines transzendentalen Ich liegt das Motivationsfundament für die Konsti­ tution einer objektiven Welt des alltäglichen Sinnes [vgl. Husserl. Formale und transzenden­ tale Logik, S. 248] . 1 56 Vgl. Husserl. Formale und transzendentale Logik, S. 282. 1 57 Schon deshalb kann nicht behauptet werden, der Solipsismus Husserls liege nur in der Methode und nicht im Resultat, wie dies von T. Celms in Der phänomenologische Idealismus Busserls, a.a.O., S. 6 1 vertreten wird. 1 58 Vgl. Husserl. Formale und transzendentale Logik, S. 244. 1 59 Auf die Verknüpfung des Solipsismusproblems mit der Struktur des Apriori verweist R. T. Murphy in "The Transeendental 'A Priori' in Husserl and Kant", a.a.O., S. 76-77: Wenn das transzendentale Apriori in der Intentionalität des transzendentalen Subjekts gründet, dann muß dieses Subjekt sich im faktischen Ich konkretisieren, wodurch das Problem eines tran­ szendentalen Solipsismus entsteht. Dadurch, daß das Apriori mit der Konstitution in Wechsel­ beziehung steht, sieht Murphy dieses Problem als gelöst an, da die Apriorirät der Konstitution den Solipsismus verdränge und zur Intersubjektivität führe. Diese transzendentale Intersubjek­ tivität beinhalte dann eine doppelte transzendentale Konstitution: die des Anderen und die ei­ ner intersubjektiv gültigen Welt, wodurch auch die Bereiche von Ethik und Ästhetik in den Bereich der Apriorirät gerückt seien. - Allerdings muß hier angemerkt werden, daß auch bei dieser Aufteilung der transzendentalen Intersubjektivität die transzendentale Subjektivität als Reflexionsgrundlage vorausgehen muß, so daß das Solipsismusproblem nur auf einer niedri­ geren Stufe als der rein-transzendentalen gelöst werden kann. Auf ihr besitzen dann aber die von Murphy durchgeführten Überlegungen im Anschluß an das Apriori volle Gültigkeit; sie können allerdings nicht für sich beanspruchen, das Problem des Solipsismus an seiner Wurzel abgeschnitten, sondern nur, es verlagert zu haben. 1 60 Vgl. Husserl. Ideen II, S. 1 67. 1 6 1 Vgl. K.-H. Lembeck. Einfohrung in die phänomenologische Philosophie, a.a.O., S. 63.

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und damit einen ausgezeichneten Zugang zum fremden Ich bietet, da sie andere Leiber als Träger von Ich-Subjekten ausweist. 162 In der Einfühlung wird der An­ dere zusammen mit dem eigenen Ich gleichermaßen gesetzt, was nur auf der Grundlage einer wenigstens relativ gesicherten Position erfolgen kann, bei der um sie mit dem reinen Ich zu identifizieren - aus praktischen, vor allem aber methodischen Überlegungen heraus kein allzu weiter Weg zurückgelegt werden muß. Die Intersubjektivität erfordert einen inneren festen Punkt, der in weite­ ren, auf der Einsicht in dieses Zentrum aufbauenden Schritten zur äußeren Set­ zung des Anderen führt, wobei der in solchen Reflexionsstufen sich bewegende Mensch zu der Erkenntnis gelangt, daß jeder jeden Anderen als Naturwesen 'Mensch' findet, indem er sich auf dessen Standpunkt stellt. 163 Die Einfühlung ist damit die Grundlage der Intersubjektivität und ermöglicht die gleichur­ sprüngliche Erfahrung des eigenen und fremden Ich. Da sie jedoch nicht voraus­ setzungslos sein kann, sondern als gedankliches Konstrukt das reine Ich voraus­ setzt, um von ihm aus das, was das eigene Ich ausmacht, auf das andere, fremde Ich appräsentieren zu können, bleibt auch die Einfühlung hinsichtlich der tran­ szendentalen Reduktion unzureichend. Während bei der phänomenologischen Reduktion die Welt insgesamt noch nicht mit in die Epoche einbezogen, d. h. die Generalthesis der natürlichen Einstellung noch nicht ausdrücklich außer Kraft gesetzt wird, obwohl dabei die Anderen keineswegs ebenso selbstverständ­ lich angenommen und somit eine Wesensentsprechung bei Ich und fremdem Ich nicht mehr problemlos postuliert werden können, wird dieser selbstverständliche Weltglaube innerhalb der transzendentalen Reduktion ausgeschaltet, so daß als Ergebnis nur das transzendentale Ich verbleibt. Von ihm aus müßte - gewisser­ maßen durch eine umgekehrte Reduktion - der Weg zur Welt und mit ihr zum Anderen zurückgegangen werden, da sonst nicht plausibel zu machen ist, wes­ halb sich das reine Ich etwas anderem als sich selbst zuwenden sollte, weil es im transzendentalen Bereich autark ist und erst von ihm aus die Bedingung der Möglichkeit von Welt verstanden werden kann. Diese Bedingung der Möglich­ keit von Welt, die das transzendentale Ich darstellt, ist - da die anderen Subjekte ebenfalls nur innerhalb dieses Welthorizonts für das phänomenologische Ich em­ pirisch erscheinen können - auch die Bedingung der Möglichkeit dieser anderen Ich-Subjekte. Hingewiesen sei noch auf einen weiteren Versuch Husserls, mit der Begrün­ dung eines transzendentalen Idealismus den Solipsismus zu überwinden, wie er ihn in der Ersten Philosophie ausführt: Gegenüber der immanenten, egolo1 62 Vgl. Husserl. Zur Phänomenologie der Intersubjektivität I, S. 1 1 5, 1 87-1 88 und S. 229. - Ideen II, S. 1 70 und S. 227. 1 6 3 Vgl. Husserl. Ideen II, S. 1 69.

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giseben Erfahrung, die absolut gültig ist, ist alle empirische Gültigkeit, die sich in Erfahrungsurteilen ausdrückt, nur präsumtiv. Das Ich kann auf zweierlei Weise tätig sein, in natürlicher und in transzendentaler Einstellung, wobei die faktische Natur in der Gegebenheit der je eigenen Subjektivität als derjenigen möglicher Erfahrung(-surteile) beschlossen liegt. Indem hierbei der Andere als empirische Person appräsentiert wird, ist auch seine transzendentale Subjektivi­ tät appräsentiert, in der er sich als Person konstituiert; die fremde Subjektivität ist in der eigenen vergegenwärtigt und umgekehrt. Damit zugleich ist die dingli­ che Umwelt in personaler Beziehungsrichtung als intersubjektiv charakterisiert, d. h. als identische Umwelt für jedermann, in der auch alle personalen Subjekte intersubjektiv erfahrbar sind. 164 Allerdings muß festgestellt werden, daß zwar eine Gleichursprünglichkeit der Vergegenwärtigung von eigener und fremder Subjektivität in ihrem wechselseitigen Verhältnis behauptet wird, daß aber der gesamte Gedankengang vom Primat des je eigenen Ich ausgeht, dem das andere Ich nur nachgeordnet sein kann. Mögen auch das Ich und der Andere auf der niedrigeren, empirischen Ebene in gleichrangiger Wechselbeziehung stehen, so ist doch auf transzendentaler Ebene das Ich dem Anderen immer vorgeordnet, so daß die zweite Subjektivität des Anderen vom Ich aus erst erschlossen werden kann, ohne doch mit ihm gleichursprünglich oder gar vorrangig gegeben zu sein. So findet zwar eine Bewegung vom transzendentalen Ich zum empirischen Ich des Anderen, von da aus zu seiner transzendentalen Subjektivität und von ihr zur angeblich transzendentalen Intersubjektivität statt; aber obwohl mit ihr so­ wohl die transzendentale Subjektivität des Anderen als auch die lntersubjektivi­ tät insgesamt anerkannt werden, bleibt doch der Primat des (transzendentalen) Ich bestehen. 165 Auch bei Husserls erneutem Versuch der Lösung des Solipsismusproblems in den Cartesianischen Meditationen glaubt er, dadurch der Aufklärung näherge­ kommen zu sein, daß er die thematische Epoche mit ihrer Methode der themati­ schen Reduktion einführt, die zur Eigenheits- oder Primordialsphäre des Ego hinleitet. 166 Um den (die) Anderen als alter ego erfahren zu können, müsse der Mensch sich selbst als Ego verstanden haben. Dies bedeute jedoch keine zeitliche oder thematische Vorrangstellung des Ich vor dem Anderen, sondern eine Ab1 64 1 65

Vgl. Husserl. Erste Philosophie ll, S. 484--494. Ob es mit Husserls Aussagen gelingen kann, den Anderen als konstituierendes Ego für die Welt zu erfahren, und ob aus den Texten Husserls wirklich eine Selbstapperzeption auf­ grund einer vorausgehenden Fremdapperzeption entnommen werden kann, ist fraglich. E. Strökers Behauptung, erst die transzendentale Wir-Gemeinschaft mache die volle transzenden­ tale Subjektivität aus, so daß "das Gespenst des Solipsismus gebannt" [E. Ströker. Phänomeno­ logische Studien, a.a.O., S. 50.] sei, muß deshalb angezweifelt werden. 1 66 Vgl. Husserl. Cartesianische Meditationen, S. 1 24-1 26.

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straktion von aller Fremdwahrnehmung, um eine Sphäre ohne jede Fremderfah­ rung zu erreichen. Im Ausgang von dieser Eigenheitssphäre, der kein reales Kor­ relat entspreche, solle die Bildung von Fremderfahrung aufgeklärt werden, d. h. die Fremderfahrung behalte ihren ursprünglichen Charakter und solle nur mit­ tels einer gedanklichen Konstruktion in ihrem Entstehen verständlich werden. Die thematische Reduktion führe zu zwei Ergebnissen: Das Ich gewinne zum ei­ nen Bewußtsein vom eigenen Körper als Leib, wodurch "schon ein Stück Her­ ausstellung des eigentlichen Wesens des objektiven Phänomens 'Ich als dieser Mensch"' 167 geleistet sei; zum anderen gewinne es Wissen um den eigenen Be­ wußtseinsstrom. Es erhebt sich die Frage, weshalb der Andere keinen Einfluß auf den Ich-Leib ausüben sollte, da doch die Primordialsphäre als Ausgangspunkt, von dem aus der Bezug zum Anderen hergestellt wird, durch das mittels Kinästbesen erfah­ rene Leibbewußtsein geprägt ist. Primordial gegeben ist dem Ich so die Wahr­ nehmung eines Körpers außerhalb seines eigenen, der zugleich ein Leibcharakter appräsentiert wird. Das eigene kinästhetische Bewußtsein wird auf einen ande­ ren Körper übertragen, wodurch diesem ein eigenständiges transzendentales Ich unterlegt wird. Gleichzeitig ermöglicht erst der eigene Leib eine Unterscheidung zwischen Hier und Dort. Die Beziehung zum Anderen erfordert also Raum {und Zeit) , wodurch es möglich wird, dem fremden Leib in seinem empirischen Dort ein Hier zuzuordnen, was voraussetzt, daß "der meiner primordialen Um­ welt angehörige Körper (des nachmals Anderen) für mich Körper im Modus Dort" 168 ist. So muß "den ersten bestimmten Gehalt [ . . . ] das Verstehen der Leiblichkeit des Anderen und seines [ . . . ] leiblichen Gehabens bilden"169• Um so erstaunlicher ist es, daß der Leib des Anderen nicht umgekehrt auf einer ähnli­ chen Bedeutungsebene den Leib des Ich beeinflußt, sondern daß eine Rückwir­ kung auf das Ich, d. h. eine Wechselwirkung mit dem fremden Ich, der Apprä­ sentation des Leibcharakters nachfolgt, ohne daß sich hier Gleichzeitigkeit ein­ stellen könnte. Der Charakter der Primordialsphäre170 wird als Resultat hermeneutischer Vollzüge des transzendentalen Ich ersichtlich, d. h. die Unterscheidung zwischen Eigenem und Fremdem ist ein Produkt der Selbstauslegung dieses Ich. Als eige­ nes Ich kann sich das transzendentale Ego nur erfahren und vom primordialen Ich unterscheiden, wenn es sich von Fremdem unterscheidet, womit es indes zu einer Realität wird und seinen Status als gedankliches Konstrukt verliert. Derart real geworden, ginge es dem Anderen zeitlich und thematisch voraus, womit die 167 H usserl. Cartesianische Meditationen, S. 1 28.

1 68 Husserl. Cartesianische Meditationen, S. 1 47.

1 69 Husserl. Cartesianische Meditationen, S. 1 48.

1 70 Vgl. J.-F. Courtine. "Intersubjektivität und Analogie", a.a.O., S. 238-239 und S. 25 1 .

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Fremderfahrung ihren ursprünglichen Charakter verlöre. Aber die thematische Epoche ist noch aus einem weiteren Grund für die Gesamtkonzeption der Phä­ nomenologie problematisch, könnte sie doch - konsequent zu Ende gedacht deren transzendentale Wende in Frage stellen. Während die transzendentale Re­ duktion durch Einklammerung der Seinsgeltung der Welt zur reinen Subjektivi­ tät führt, gründet die thematische Epoche auf der selbstverständlichen Geltung der Welt, auf deren Boden die Subjektivität erscheinen kann. Damit müßte die primordiale Reduktion schließlich zur phänomenologischen Selbstaufhebung der universalen Epoche führen171 - ein Ergebnis, das keinesfalls in Husserls Ab­ sicht gelegen hätte. 172 Bei der Behandlung der Problematik des Solipsismus hat sich gezeigt, daß es Husserl in letzter Konsequenz nicht gelingen konnte, eine transzendentale Inter­ subjektivität zu etablieren. 173 Wenn das Problem der Intersubjektivität also kei­ ner endgültigen Lösung zugeführt werden kann, so erweist es sich doch als rich1 7 1 Vgl. E. Ströker. Phänomenologische Studien, a.a.O., S. 53. 172 Dem hier nur angedeuteten Problemfeld im Bereich der thematischen Epoche steht ei­

ne umfangreiche Auseinandersetzung um die Idee der primordialen Reduktion bei Nachfol­ gern und Kritikern Husserls gegenüber, auf die hier lediglich verwiesen sei: Die gegen Husserl gerichteten Vorwürfe erstrecken sich von der Nichtbeachtung der Erfahrung vom Verhalten der Anderen zu mir CW. Schapp, J.-P. Sartre, B. Waldenfels) über die Kritik an der Äh nlichkeit als ungenügendem Fundament für die appetzeptive Sinnübertragung (A. Schütz) bis hin zu ei­ ner Kritik an Husserls Auslegung der Als-ob-Bestimmungen (K. Held) . [Vgl. R Kozlowski. Die Aporien der Intersubjektivität, a.a.O., S. 2 1 -29.] Als Grundzug aller Kritik läßt sich die Forderung nach Auflösung der Aporien des Solipsismus durch die Gleichursprünglichkeit von eigenem und anderem Ich erfassen, wobei wiederum Uneinigkeit unter den Kritikern Husserls darüber besteht, ob ein derartiger Ansatz schon bei Husserl selbst zu finden ist oder nicht. 1 73 Demgegenüber nimmt J. Allen in "Husserl's Overcoming of the Problem of Intersub­ jectivity", a.a.O., S. 266-270 an, Husserl sei eine Lösung des Intersubjektivitätsproblems ge­ lungen: Husserl muß zeigen, daß der Andere gegenüber dem Ich transzendent, aber zugleich ebenso ursprünglich ist wie das Ich. Wird das Ich nur in seiner Primordialität gesehen, so kann dieses Problem nicht gelöst werden; insofern es aber von sich selbst abstrahieren, d. h. indem es auch den Anderen als ichhaft erfahren kann, ist dieses Problem für Allen lösbar. Diesem Abstraktionsvorgang soll eine Aufteilung des Ich in rein intersubjektive und bewußte Hand­ lungen des Ich entsprechen, aufgrund derer Husserl die Lösung des Intersubjektivitätspro­ blems gelinge. - Anzumerken bleibt allerdings, daß das Ich, um von sich selbst abstrahieren zu können, immer schon von sich selbst (reflexiv) wissen muß, so daß zwar der Andere nach dem Abstraktionsvorgang gleichursprünglich sein mag, keineswegs aber vorher. Dadurch zeigt sich auch, daß eine Rettung des Busserlsehen Ansatzes zur Intersubjektivität nicht so vorgenom­ men werden kann, daß ausschließlich der transzendentale Charakter desselben betont wird, wie D. Zahavi dies in Husserl und die transzendentale Intersubjektivität, a.a.O., S. 1 5 und in "Husserl's intersubjective Transformation", a.a.O., S. 229 versucht. (Verwiesen sei allerdings auf die interessante Aufteilung, die Zahavi in diesem Aufsatz (S. 234-242) durchführt, indem er drei Arten der Intersubjektivität bei Husserl unterscheidet: Die primäre lntersubjektivität, wodurch Objektivität, Realität und Transzendenz möglich werden; die apriorische lntersubjek­ tivität, die die Wechselbeziehung zwischen Ego und Intersubjektivität thematisiert; die gene­ rative lntersubjektivität, die auf den historisch-generativen Kontext des Ego verweist.)

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tig, daß es die transzendentale Phänomenologie letztlich gar nicht berührt, da es nur ein transzendentales Ich gibt, und daß Husserl fälschlicherweise nach der transzendentalen Intersubjektivität sucht. Dieser Sachverhalt wird dadurch abge­ sichert, daß gerade Kant innerhalb seines Systems der Transzendentalphilosophie das Problem der Intersubjektivität nicht als solches stellte, so daß er auch die Differenz zwischen Ich und Du nur auf der empirischen Ebene - etwa bei den Leibanalysen des Opus postumum in seine Überlegungen einbezog und be­ gründete. Husserl hat zwar dem Problemfeld der Intersubjektivität große Beach­ tung geschenkt, ohne daß dies aber dazu geführt hätte, die Vorrangstellung des (transzendentalen) Ich vor dem Anderen aufzuheben. Wie schon gesagt, bedeu­ tet diese übergeordnete Position des Ich nicht, daß die Intersubjektivität keine Begründung erführe, sondern sie erfährt sie in Abhängigkeit von diesem Ich. Ausgehend vom transzendentalen Ich, das erst alle anderen Funktionen der Kon­ stitution in der Phänomenologie ermöglicht, kann eine Theorie der Intersubjek­ tivität und Objektivität geschaffen werden. Der Andere kann im Ausgang vom eigenen Ich ebenfalls als ichhaftes Subjekt erkannt, ja es kann rückschließend von ihm aus zweierlei begriffen werden: Auch der Andere hat als welthaftes Ich Zugang zum transzendentalen Bereich des Ich; er kann das eigene wie auch das ihn erkennende Ich zum Ausgangspunkt von Fremd- und Selbsterfahrung ma­ chen, so daß er mit dem eigenen Ich in einem wechselseitigen Erkenntnisprozeß steht. Somit stellen primordiale Reduktion und Einfühlung doch phänomenolo­ gisch (nicht transzendental) geeignete Ansatzpunkte für ein Verständnis des An­ deren dar, obwohl sie diesem das eigene Ich zeitlich und thematisch vorordnen. Da sowohl das eigene Ich als auch das des Anderen sich als primär erfahren und zum Ausgangspunkt von Fremdwahrnehmung und Einsicht in das Wesen des jeweils Anderen als Subjekt machen (müssen) , erstaunt es, daß Husserl nicht zur Begründung dessen, daß die Vorrangstellung des je eigenen Ich zwar gegeben ist, aber durchaus keine aporetischen Folgen mit sich bringt, auf die von der Phänomenologie hervorgehobenen methodischen Mittel von Phantasie, Evidenz sowie Intuition zurückgreift, mit deren Hilfe im Ausgang vom eigenen die Gleichrangigkeit des anderen Ich einsichtig gemacht werden könnte. In der Phantasie kann zwar auch eine Welt ohne andere Subjekte angenommen wer­ den; doch sie ist ebenso dazu in der Lage, mittels der eidetischen Variation den Wesenskern des Anderen als Ich-Subjekt zu bestimmen. Zum selben Ergebnis könnte das vorurteilsfreie intuitive Vorgehen führen. Schließlich könnten die Subjekthaftigkeit des Anderen und sein Wechselverhältnis mit dem eigenen Ich für sich das Kriterium der Evidenz in Anspruch nehmen. - In letzter Konse­ quenz muß deshalb gefragt werden, ob die Thematik der Intersubjektivität tat­ sächlich ein derart hoch einzustufendes Problem für die Phänomenologie dar­ stellt oder ob sie nicht in ihrer Bedeutung überschätzt wird. Da kein transzen-

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dentales Ich ein personales oder reales Ich ist, stellt sich die Frage nach dem Anderen nicht auf der transzendentalphänomenologischen Ebene, sondern bleibt auf die Ebenen der Lebenswelt und der eidetischen Phänomenologie beschränkt. Husserl kann das Intersubjektivitätsproblem also deshalb nicht lösen, weil er es fälschlicherweise in den transzendentalen Bereich erhebt, obwohl es auf den vor­ transzendentalen, empirischen Bereich beschränkt ist. 174 Wie immer die Stellung der Intersubjektivitätsproblematik bewertet werden mag - an der Behandlung dieses Feldes lassen sich die beiden dem transzenden­ talen Ich eigenen Funktionen ablesen, die zum Abschluß der Darstellung dieser dritten Ich-Form betrachtet werden sollen. Zunächst ist offenbar, daß das tran­ szendentale Ich der Aufklärung der Subjektivität dient. Während das lebenswelt­ liche Ich die natürliche Einstellung zum Ausdruck brachte, und während das phänomenologische Ich geradezu als methodisches Ich der Phänomenologie be­ trachtet werden kann, das zum transzendentalen Ich überleitet und zugleich die Notwendigkeit einer selbstreferentiellen Explikation des Ich erweist, legt das transzendentale Ich die Form der Subjektivität auf transzendentaler Ebene fest. Erst hier kann der Phänomenologe einen reinen Ich-Standpunkt einnehmen, der das Ich ohne Bindung an Welt oder Natur zeigt; es übersteigt den Welthorizont, indem es zu einer überpersönlichen, überindividuellen, ja überrealen Konstituti­ onsform wird. - Dennoch ist das transzendentale Ich aufgrund der mit ihm ver­ bundenen Probleme nicht fähig, sich selbst zu erklären und philosophisch aufzu­ weisen. Daraus erwächst die zweite Funktion desselben: Es verweist auf die Not­ wendigkeit einer aus ihm selbst hervorgehenden und auf es selbst bezogenen reflexiven Metaebene, die dazu befähigt sein wird, die Selbstauslegung der Sub­ jektivität vom transzendentalen Standpunkt aus durchzuführen, um damit auch die Philosophie und mit ihr alle Einzeldisziplinen in ihrem sicheren wissen­ schaftlichen Charakter zu begründen. Zu dieser Selbstauslegung des transzen­ dentalen Ich bedarf es der drei Formen des transzendentalen Ego, wie das auf sich selbst gerichtete transzendentale Ich in seiner Gesamtheit bezeichnet werden soll. Diese Formen deuten sich durch die drei Wege in die Phänomenologie so­ wie die drei Ich-Formen an, müssen aber im folgenden erst abgeleitet und analy­ siert werden.

1 74 Auf diesen Zusammenhang der falschen Einordnung des Intersubjektivitätsproblems macht auch A. Schütz in Collected Papers I: The Problem ofsocial Reality. Reihe: Phaenome­ nologica, Band 1 1 . Den Haag, 1 962: S. 1 67 aufmerksam: " [ . . ] it is in no way established whether the existence of Others is a problern of the transeendental sphere at all, i. e. whether the problern of intersubjectivity does exist between transeendental egos [ . . ]; or whether inter­ subjectivity and therefore sociality does not rather belong exclusively to the mundane sphere of our lifeworld. " .

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Neben diesen beiden Funktionen des transzendentalen Ich ist an ihm auch der enge Zusammenhang der drei Formen des Ich hervorgetreten. Erst wenn die drei Ich-Formen mit ihren unterschiedlichen Aspekten verbunden werden, ent­ steht eine Einheit des Ich mit lebensweltlich-natürlichen, phänomenologisch­ methodischen und transzendentalphilosophischen Schwerpunkten. 175 Nur dann ergibt sich eine umfassende Bestimmung der Subjektivität, die über alle indivi­ duellen Schattierungen hinausreicht. Wie die drei Wege in engem, einander er­ gänzendem, zum Teil aufeinander aufbauendem Verhältnis stehen, so bilden auch die drei Formen des Ich eine zusammengehörige Trias, die nur zu Zwecken der Einsicht in das Ich selbst reflexiv aufgespalten werden kann. So wie etwa ein Mensch nicht nur in seinen alltäglichen Verrichtungen aufgeht, so kann auch das Ich nicht auf seinen lebensweltlichen Aspekt eingeschränkt werden; dasselbe gilt für die beiden anderen Ich-Formen. Das eine Ich und die eine Bestimmung der Subjektivität können deshalb nur aus dem lebensweltlichen, dem phänome­ nologischen und dem transzendentalen Ich zusammen gewonnen werden. 3.

Vergleich zwischen Kant und Busserl bei der dritten Form des Ich

An den ausgeführten Gedankengang anknüpfend zeigt sich eine wichtige Diffe­ renz zwischen Kant und Husserl, die zwar nicht auf das transzendentale Ich be­ schränkt ist, aber bei ihm ebenfalls auftritt, denn wiederum wird folgende allge­ meine Unterscheidung deutlich: Bei Kant besitzen die drei Wege in die Tran­ szendentalphilosophie ebenso wie die drei Formen des Ich eigenständige und abgeschlossene Funktionen, indem sie so unterschiedliche Gegebenheiten wie Teilbereiche der Philosophie, einzelne Hauptbegriffe, besondere Wissenschaften und dergleichen explizieren. Demgegenüber besitzen sowohl die Wege als auch die Ich-Formen bei Husserl fast ausschließlich vorausweisende Funktion, indem sie entweder auf die Notwendigkeit einer weiterführenden phänomenologischen Forschung oder auf die einer übergeordneten Analyse- und Bedeutungsebene verweisen. Dies kann negativ als Hinweis auf die prinzipielle Unabschließbarkeit der Phänomenologie insgesamt verstanden werden, die damit in einem ebenso uneinholbaren Unendlichkeitshoriwnt steht wie die Einzelwissenschaften - die Unendlichkeit nach unten zu den Einzelphänomenen ist nicht nur unproblema1 75 Diesen drei Aspekten des Ich, die bei den drei Wegen in die transzendentale Phänome­ nologie schon hervortraten, entsprechen auch drei Phänomenbegriffe, die E. Fink in "Refle­ xionen zu Husserls phänomenologischer Reduktion", a.a.O., S. 5 5 1 -552 ausführt: ( 1 ) die um­ weltlichen Dinge in ihrer Präsentation für das Ich; (2) die vordergründigen Aspekte des Seien­ den; (3) die Sache im Modus der Neutralität ohne Seinsaussage.

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tisch, sondern notwendig, und bildet eine phänomenologische Grundansicht, die auch von Kant schon vertreten wird. Dieser vorausdeutende Sachverhalt kann aber auch umgekehrt positiv als Aufweis der inneren Dynamik und Pro­ zeßhaftigkeit der Phänomenologie gedeutet werden, wodurch sie sich selbst ih­ ren eigenen Fortgang sowie ihre Grenzen vorgeben kann. Der Reichtum an Einzelergebnissen, die in der Phänomenologie Husserls nicht verteilt, sondern stark komprimiert bei den Formen des transzendentalen Ego auftreten, verschafft der Kantischen Transzendentalphilosophie durch ihren übersichtlichen Aufbau und die Einbeziehung aller philosophischen Ebenen in das Gesamtergebnis eine gewisse Vorrangstellung vor der Phänomenologie, die diese Vorgaben Kants aufgreifen müßte, um zu einer in jeder Hinsicht überzeu­ genden Transzendentalphilosophie zu werden. In diesem Kontext deutet sich also wiederum die (geradezu unumgängliche) Notwendigkeit an, die Philosophie Kants mit derjenigen Husserls zusammen und als Einheit zu denken, um zu ei­ nem umfassenden Konzept der Subjektivitätsphilosophie zu gelangen, wobei dem Entwurf Kants eine vorgebende Position zukommt, die durch die Phäno­ menologie ergänzt werden kann, ohne doch in ihrem Grundgehalt modifiziert zu werden. Besonders an der Form des transzendentalen Ich wird ein gewisses Zurück­ bleiben Husserls hinter den Ausführungen Kants deutlich, da mit dieser dritten Ich-Form nicht nur das Problem der Intersubjektivität vorliegt, sondern da mit ihrer Behandlung einige Mängel gegenüber der Kantischen Konzeption ans Licht treten, die an einer gelungenen Durchführung eines in jeder möglichen Hinsicht überzeugenden transzendentalen Idealismus bei Husserl zweifeln las­ sen. Als auffälligste Differenz zwischen Kant und Husserl beim transzendentalen Ich sticht das Fehlen einer transzendentalen Deduktion bei Husserl hervor. 176 Da Husserl weder eine so ausführliche transzendentale Ästhetik wie Kant177 1 76 Darüber hinaus wirft Husserl der Deduktionsmethode Kants vor, sie sei wegen ihrer Prämisse des ego cogito ungeeignet, die Dimension letzter Prinzipien zu erschließen, und sie könne - nach dem Vorbild der Methode der mathematischen Wissenschaften enrworfen - kei­ ne letztbegründende Erkenntnis vermittdn. [Vgl. D. Henrich. " Über die Grundlagen von Husserls Kritik der philosophischen Tradition", a.a.O., S. 1 4.] Diese Vorwürfe beinhalten zwei grundsätzliche Fehldeurungen: Weder setzt Kant in seiner Deduktion - besonders nicht in der von Husserl bevorzugten Ausgabe A - das ego cogito einfach voraus, sondern er beweist viel­ mehr die Norwendigkeit, die transzendentale Apperzeption als höchsten Punkt der Transzen­ dentalphilosophie annehmen zu müssen; noch verfährt er innerhalb der Deduktion nach dem Vorbild der mathematischen Wissenschaften - das Vorbild der Mathematik für die Philoso­ phie, die erst von der transzendentalen Philosophie begründet werden kann, verführt auch Husserl zu dem falschen Ansatz, Kant als Anhänger einer nach naturwissenschaftlichem Mu­ ster gebildeten und damit einseitigen Philosophie zu verstehen. 1 77 Allerdings weist die Husserlsche transzendentale Ästhetik gegenüber Kant auch Fort­ schritte auf: So faßt Husserl ihren Bereich so weit, daß das Problem der Konstitution der Wdt

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noch eine so gründliche Analyse des Vernunftvermögens insgesamt durchführt, steht für ihn auch die Frage nach der Verbindbarkeit der beiden Stämme der Er­ kenntnis nicht im Zentrum der Untersuchungen. So fehlt ihm die Möglichkeit, die transzendentale Subjektivität mit dem denkenden Verstand derart in Bezie­ ' hung zu setzen, daß daraus das transzendentale Ich rein zu bestimmen wäre. Während deshalb in der Husserlschen Philosophie zwischen den verschiedenen Erkenntnisebenen der Lebenswelt, der eidetischen und der transzendentalen Phänomenologie immer ein Sprung vorliegt, kann Kant durch das Instrumenta­ rium der Deduktion fließende Übergänge schaffen, die zudem die transzenden­ tale Apperzeption synthetisch und analytisch als den höchsten Punkt der Tran­ szendentalphilosophie erweisen. Deshalb gelingt Kant eine weiterreichende Bestimmung der Subjektivität als Husserl: Zwar ist auch bei ihm die transzendentale Aufklärung der Subjektivität mit der Form des 'transzendentalen' Ich nicht erreicht, da gleichfalls die Selbst­ auslegung durch das 'transzendentale Ego' noch aussteht, aber es gelingt ihm doch, das Selbstbewußtsein als das eigentlich Menschliche nachzuweisen. Ob­ wohl auch bei Husserl durch das transzendentale Ich die Subjektivität konsti­ tuiert werden soll, erscheint dieses bei ihm doch viel weniger eigenständig als bei Kant, da es noch stärker - besonders durch seine funktionalen Anteile - auf die Selbstbegründung des transzendentalen Ego angelegt ist, ja im Grunde nur auf diese Funktion des Ego verweist, so daß es in dieser dienenden Stellung dem mit einer viel umfassenderen Charakteristik ausgestatteten 'transzendentalen' Ich bei Kant nicht gleichzukommen scheint; und dies nicht zuletzt auch deshalb, weil diese Charakteristik bei Kant eines der zentralen Stücke seiner transzendentalen Philosophie, die transzendentale Deduktion, enthält. Indem Husserl dem transzendentalen Ich diesen überwiegend vorausweisen­ den Zug einräumt, gewinnt er einen Vorteil gegenüber der Kamischen Philoso­ phie. Während nämlich bei Kant der Übergang von der bloßen Auslegung der Subjektivität durch das 'transzendentale' Ich zu einer wirklichen transzendenta­ len Begründung, die die der wissenschaftlichen Philosophie einschließt, verbor­ gen erscheint und mehr oder weniger indirekt erschlossen werden muß, wird das Erfordernis eines solchen Ebenenübergangs bei Husserl sogar begrifflich vorge­ zeichnet (durch die Unterscheidung von reinem, personalem und Ur-Ich) . Die mangelnde Eigenständigkeit des transzendentalen Ich macht daher den bei Kant nur zu erschließenden Übergang zum 'transzendentalen Ego' offen-

bereits auf dieser Stufe auftaucht, worin er einen der grundlegenden Unterschiede im Ver­ gleich mit der Kantischen Konstitutionstheorie erblickt. [Vgl. Husserl. Formale und transzen­ dentale Logik, S. 256.]

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sichtlich, was im nachhinein dazu geeignet erscheint, die Differenz zwischen 'transzendentalem' Ich und 'transzendentalem Ego' bei Kam in ihrer Notwendig­ keit zu bestätigen und als Bestandteil der auf egologische Strukturen sich grün­ denden Transzendentalphilosophie zu erweisen. Die mangelnde Eigenständigkeit des transzendentalen Ich und seine knappe Charakterisierung durch Husserl werden also durch die mit ihm gegebene Bedeutung für die transzendentale Phä­ nomenologie insgesamt kompensiert. Dieser Zusammenhang verweist offen­ kundig nochmals auf die Notwendigkeit einer Kombination der Kamischen Phi­ losophie mit der Phänomenologie Husserls - ausgehend von der nur in Details ergänzungsbedürftigen Philosophie Kants, die dadurch in ihrem Grundaufbau, soweit dieser an die transzendentale Subjektivität geknüpft ist, als notwendig be­ stätigt und als richtig aufgewiesen wird. Bei Husserl erscheint die inhaltliche und formale Unterbestimmtheit des transzendentalen Ich im Vergleich mit Kam wenigstens abgemildert, wozu die Betonung der Zusammengehörigkeit der drei Wege und der drei Formen des Ich sowohl bei Kam als auch bei Husserl als affir­ mativer Faktor herangezogen werden kann. Der hier angestellte Vergleich zwi­ schen den Ausführungen Kants und Husserls kann folglich nur durch die Analy­ se der drei Formen des transzendentalen Ego bei Husserl abgeschlossen werden, die erst eine endgültige Bewertung ihres Verhältnisses zuläßt. Nur nach der Un­ tersuchung der Ego-Formen kann die Relation zwischen der Kamischen und der Husserlschen Transzendentalphilosophie, also auch von Kritik und Phänomeno­ logie, endgültig bestimmt werden.

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!li. Die drei Formen des 'transzendentalen Ego' bei Husserl A. Vorbemerkung Durch die folgenden Ausführungen soll die Selbstkonstitution des Selbstbe­ wußtseins bei Husserl analysiert werden, die auf einer Selbstauslegung des tran­ szendentalen Ich beruht, das sich als dritte Ich-Form so verstehen kann, daß eine in sich ruhende und aus sich hervorgehende Erklärung der zentralen Struktur des Selbstbewußtseins möglich wird, die in sich die Möglichkeit zur Grundle­ gung aller Philosophie überhaupt und darüber hinaus aller (Einzel-)Wissen­ schaft(en) trägt. Wie bei Kant erwächst auch bei Husserl diese oberste Stufe der Philosophie aus einer Dreiteilung des transzendentalen Ich, in der die verschie­ denen Formen des Ich ebenso erklärt werden wie die dazugehörigen Wege in die Transzendentalphilosophie. Diese Auslegungsweisen des transzendentalen Ich das 'Wir-Ich' der Lebenswelt, das 'psychologische Ich' und das 'absolute Ur-Ich' - sind bei Husserl begrifflich eindeutiger vorgegeben als bei Kant, obwohl sich auch bei ihm keine durchgängige Terminologie findet. Das Ergebnis der Ver­ knüpfung dieser drei Auslegungsmodi soll als transzendentales Ego bezeichnet werden, um zum einen die enge Verbindung der drei Formen anzuzeigen und zum anderen darauf hinzuweisen, daß mit dieser Ebene die abschließende Sphäre der Transzendentalphänomenologie erreicht ist. Die Formen des tran­ szendentalen Ego stellen die drei Modi der Selbstbegründung des transzendenta­ len Ich dar und bestätigen dadurch das Selbstbewußtsein als die alle Philosophie umspannende Größe. Gegenüber Kant besitzen die Aspekte des transzendenta­ len Ego bei Husserl jedoch so große Eigenständigkeit, daß sie nicht mehr nur als Stufen, sondern als Formen desselben verstanden werden können, worin sich eine weitere, entscheidende Radikalisierung der Transzendentalphilosophie durch Husserl andeutet. Bei ihm ergibt sich, wie bei Kant, eine Zentralstellung des transzendentalen Ich, von dem aus die Subjektivität zu ihrer eigenen Letzt­ begründung in Form der drei Ego-Ausprägungen ebenso fortschreitet wie zur nicht weiter hinterfragbaren Auslegung der Ich-Formen und Wege in die Tran­ szendentalphilosophie, um damit Phänomenologie und Philosophie endgültig abzuschließen. Den Ausgangspunkt der Durchführung der drei Formen des transzendentalen Ego möge ein Rückblick auf die drei behandelten Ich-Formen bilden: "Nennen wir das natürlich in die Welt hineinerfahrende und sonstwie hineinlebende Ich an der Welt 'interessiert' , so besteht die phänomenologisch geänderte und be­ ständig so festgehaltene Einstellung darin, daß sich eine Ichspaltung vollzieht, indem sich über dem naiv interessierten Ich das phänomenologische als 'uninter­ essierter Zuschauer' etabliert. Daß dies statt hat, ist dann selbst durch eine neue

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Reflexion zugänglich, die als transzendentale abermals den Vollzug eben dieser Haltung des 'uninteressierten' Zuschauers fordert - mit dem ihm einzig ver­ bleibenden Interesse, zu sehen und adäquat zu beschreiben." 1 Hier faßt Husserl nochmals die drei Formen des Ich, wie sie mittels der phänomenologischen Me­ thode, d. h. der verschiedenen Arten von Reduktionen, sichtbar gemacht werden können, zusammen: So verläuft der phänomenologisch begründete Weg vom natürlich eingestellten Ich der Lebenswelt über das vor allem methodisch be­ stimmte phänomenologische Ich hin zum transzendentalen Ich. Dieses dritte Ich der transzendentalen Reflexion kann aber, um sich selbst, die beiden anderen Ich-Formen wie auch die drei jeweils korrespondierenden Wege erklären zu kön­ nen, kein einheitliches Ich sein. Schon die drei von Husserl beschrittenen Wege selbst deuten - mitsamt der von ihm schon vorweggenommenen begrifflichen Aufspaltung in ein personales, reines und transzendentales Ich - auf eine Drei­ teilung der transzendentalen Ebene des Ich hin. Zu unterscheiden wären also drei Formen des transzendentalen Ich, die als transzendentales Ego zusammengenommen werden sollen: ein 'lebensweltlich­ transzendentales' oder 'Wir-Ich', das dem transzendentalen Ego insoweit ent­ spricht, als es als Grundlage der in der Lebenswelt sich gründenden Geschichte und Kultur angesehen werden kann, indem es zur sogenannten 'transzendenta­ len lntersubjektivität' führt2; ein 'psychologisches Ich', das die "transzendentale 'innere' Erfahrung"3 zum Ausdruck bringt und damit Grundlage einer phäno­ menologisch-psychologischen Anthropologie sein kann; und ein 'absolutes Ur­ Ich', das mit dem als rein bezeichneten Ich identisch ist, indem es als Grundlage von Raum, Zeit und Kausalität in der Abfolge von ego - cogito - cogitatum dient". - Daß es sich trotz der übergeordneten Einheit der drei Formen des tran­ szendentalen Ego tatsächlich um verschiedene Ausprägungen desselben handelt, beweist ein nochmaliger Blick auf die verschiedenen Reduktionen, von welchen ebenfalls gilt, daß sie nicht unabhängig voneinander bestehen können, da es sich bei ihnen um konstitutionsanalytische Forschungen handelt, die den ganzheitli­ chen Zusammenhang der transzendentalen Sphäre offenbar machen sollen.s So I

Husserl. Cartesianische Meditationen, S. 73. Vgl. zum Beispiel: Husserl. Cartesianische Meditationen, S. 1 58. 3 Husserl. Encyclopaedia-Britannica-Artikel, S. 294. 4 Denn "um zu wissen, daß das reine Ich ist und was es ist, kann mich keine noch so große Hoffnung von Selbsterfahrungen eines besseren belehren als die einzelne Erfahrung eines ein­ zigen schlichten cogito". [Husserl. Ideen Il, S. 1 04.] 5 Vgl. E. W. Orth. Bedeutung, Sinn, Gegenstand. Studien zur Sprachphilosophie Ed­ mund Husserls und Richard Hönigswalds. Reihe: Conscientia. Studien zur Bewußtseinsphi­ losophie, Band 3. Bonn, 1 967: S. 248. - Auch Orths begriffliche Unterscheidungen der Re­ duktionen zeigen, daß der transzendentale Bereich der Phänomenologie weiter zu unterteilen ist und daß dabei Egologie, Intersubjektivität und Lebenswelt, d. h. Eigen-, Fremd- und Ding2

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wie die drei Wege in die Phänomenologie und die drei Formen des Ich nur in ihrer Gesamtheit wirklich begriffen werden können, so vermögen auch die drei entsprechenden Formen des transzendentalen Ego nur als Gesamtheit genom­ men ein einheitliches Bild der transzendentalphänomenologischen Analyse zu liefern.6 Jedes einzelne transzendentale Ego bietet einen eigenen Zugang zu ei­ nem phänomenologischen Feld mit jeweils eigener Struktur und Problematik, bleibt aber ohne Bezugnahme auf die anderen Formen als Grundlage der Phäno­ menologie insgesamt unzureichend. Aus diesem Wechselverhältnis zwischen Ei­ genständigkeit und Abhängigkeit der Formen des transzendentalen Ego unter­ einander, das jedoch ihren Eigenwert jeweils eindrücklich betont, resultiert die angesprochene Radikalisierung der Transzendentalphilosophie durch Husserl, der dort, wo bei Kant nur Momente des transzendentalen Ego angenommen werden können, von relativ unabhängigen Formen ausgeht. Es stellen sich mindestens zwei Fragen, die noch vor der Analyse der drei For­ men des transzendentalen Ego bedacht werden sollen: ( 1 ) Wenn jedem der drei Wege in die transzendentale Phänomenologie eine eigene Form des transzenden­ talen Ego entspricht, der Cartesianische Weg aber eine besonders prägnante Durchführung der transzendentalen Reduktion liefert, als deren Ergebnis sich das transzendentale Ich erweist, muß dann nicht letztlich die gesamte Phänome­ nologie zu diesem Cartesianischen Weg führen bzw. von ihm ausgehen? Gibt es dann, wenn das transzendentale Ergebnis bei diesem Weg direkt erreicht werden kann und keine Bezugnahme auf einen anderen methodischen Ansatz zur phä­ nomenologischen Erklärung des transzendentalen Ego erforderlich ist, nicht nur noch diesen einen Cartesianischen Weg? Oder führt er einmal in den transzen­ dentalen Bereich der Phänomenologie ein, um dann ebenfalls einer eigenständi­ gen Form seines Korrelats, des transzendentalen Ego, zu bedürfen, die andere Aspekte als die den anderen Wegen entsprechenden Formen betont? Wenn letzt­ genannte Ansicht richtig ist, so ist daraus eine äußerst bedeutungsvolle Stellung des Cartesianischen Weges abzuleiten; zudem wäre durch diese Annahme die konstitution, mit einbezogen werden müssen. Gleichzeitig wird der enge Zusammenhang der (durch die) Reduktionen (gewonnenen Ergebnisse) betont, so daß offenkundig wird, daß erst die drei Formen des transzendentalen Ego zu einer geschlossenen Struktur des transzendenta­ len Bereichs der Phänomenologie führen. 6 Zu besonderer Prägnanz gelangt die Norwendigkeit des Konnexes der drei Ausprägungen des transzendentalen Ego innerhalb des Feldes des lntersubjektivität. Der Cartesianische Weg bereitet das 'Wir-Ich' der Lebenswelt durch die in ihm enthaltenen Analysen der Intersubjekti­ vität vor, was sich insbesondere an der V. Cartesianischen Meditation zeigt. In umgekehrter Weise löst zwar die lebensweltliche Phänomenologie nicht alle die Intersubjektivität betreffen­ den Probleme, zeigt jedoch Möglichkeiten zu ihrer Lösung auf, indem die Selbstverständlich­ keit des Miteinanderseins des Menschen mit Anderen durch eine Grundlegung der Kultur(en) zur Einsicht gebracht und als methodische Norwendigkeit nachgewiesen wird.

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weitere Differenzierung des auf diese Weise gewonnenen, in seiner Allgemein­ heit aber noch relativ unbestimmten transzendentalen Ego hin zur besonderen Form des 'absoluten Ur-Ich' ausreichend erklärt. Der Cartesianische Weg fUhrt zu der Einsicht, daß das "Bewußtsein in sich selbst ein Eigensein hat, das in sei­ nem absoluten Eigenwesen durch die phänomenologische Ausschaltung nicht betroffen wird. Somit bleibt es als 'phänomenologisches Residuum' zurück, als eine prinzipiell eigenartige Seinsregion, [ . . ] "7• Durch diesen Weg wird also die transzendentale Wendung der Phänomenologie als notwendig plausibel ge­ macht. Dennoch wird diese Wendung auch in den beiden anderen Wegen voll­ zogen bzw. vorbereitet, allerdings weniger geradlinig und dominierend, so daß sie weder beim Weg über die Lebenswelt noch bei dem über die Psychologis­ muskritik von so zentraler Relevanz ist, daß sie allen anderen Fragestellungen se­ kundäre Bedeutung zuwiese. Immerhin ist die transzendentale Wende auch bei diesen beiden vorgelagerten Wegen noch von so großem Gewicht, daß sie - gäbe es den Cartesianischen Weg nicht - zu einer Einleitung in die Phänomenologie dienen könnten, obwohl diese dabei ergänzungsbedürftig bliebe, so daß die bei­ den zuerst behandelten Wege nicht die alleinige Grundlage derselben sein kön­ nen. Hinsichtlich der Transzendentalität der Phänomenologie kommt dem Car­ tesianischen Weg demnach eine besondere Stellung zu, die sich zugleich an sei­ nem Ergebnis, der Begründung der Phänomenologie als Wissenschaft, zeigt, soll sie doch diejenige Methode sein, die wiederum die Philosophie als strenge Wis­ senschaft zu erweisen vermag. Die phänomenologische Reflexion soll charakteri­ stisch flir alle wahre philosophische Erkenntnis sein, die sich geradezu durch die phänomenologische Methode definiert.8 Trotz dieses Zusammenhangs zwischen dem Cartesianischen Weg und der transzendentalen Phänomenologie reicht er gleichfalls allein nicht aus, um die Philosophie als Wissenschaft zu begründen, da die phänomenologische Methode bei ihm noch unvollständig bliebe - besonders aufgrund der mangelnden Analyse der Selbstkonstitution. Doch auch seine weitere Spezialisierung hin zu einer besonderen Ausprägung des transzendentalen Ego wird verständlich, weil erst auf diese Weise die transzendentale Auslegung der Welt fundiert wird. Der Cartesianische Weg fUhrt also zwar zur transzendentalen Phänomenologie und sichert hiermit erst wirklich die transzendentalphänomenologischen Elemente der anderen Wege, er ist jedoch zu seiner eigenen Vollständigkeit auf eben diese Elemente angewiesen und bedarf zu seiner vollkommenen Plausibilität einer weiteren Ausdifferenzierung des durch ihn erreichten transzendentalen Ich, das .

7 Husserl. Ideen I, S. 68. 8

1 73.

Vgl. E. Tugendhat. Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, a.a.O., S. 1 72-

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Egologische Grundstrukturen in der Phänomenologie Husserls

sonst in seiner Bedeutung aufgrund mangelnder Konkretisierung eingeschränkt bliebe. (2) Eine zweite Frage, die sich in diesem Zusammenhang ergibt, ist die nach der Bedeutung des Auseinanderfallens der (wenigstens nominalen) Einheit des transzendentalen Ich, das sich jedoch bei genauerem Hinsehen in seinem wahren Charakter als Betonung verschiedener Aspekte zeigt, wobei der Bezogenheit auf die Welt ein jeweils unterschiedliches Gewicht zukommt. Ding-, Selbst- und Fremdkonstitution erfahren durch jede der drei Formen des transzendentalen Ego ihre eigenen Begründungen. Bei allen Differenzen im einzelnen bleibt da­ mit eine Identität in der Pluralität erhalten.9 Auch besagt die Identität der tran­ szendentalen Ego-Begriffe nicht mehr als einen Verweis auf die gemeinsame Grundlage des transzendentalen Bereichs der Phänomenologie, aus der sich diese Begriffe mit den ihnen entsprechenden Formen nicht durch Abstraktion, son­ dern durch einen Vergleich ihrer Ergebnisse, die auf der transzendentalphäno­ menologischen Reduktion beruhen, ableiten lassen, ohne daß jeder dieser Ablei­ tungen eine eigene Terminologie entspräche, obwohl sich durch eine besonders häufig auftretende Wortwahl im Zusammenhang mit den drei Formen - so etwa die Verwendung des Wortes 'absolut' in Verbindung mit dem dem Cartesiani­ schen Weg entsprechenden 'absoluten Ur-Ich' - Schlüsse auf eine solche Termi­ nologie ziehen lassen. Die Identität der Sprachform ist allerdings verständlich, da nur sie äußerlich die Einheit dieses sich in verschiedene Aspekte aufspalten­ den transzendentalen Ego wahrt; denn obzwar eine solche inhaltliche Aufteilung 9 Hier gilt also Analoges zu dem, was Adorno - allerdings in Gestalt einer Husserls Inten­ tion verfehlenden Kritik - in Zur Metakritik der Erkenntnistheorie, a.a.O., S. 226-227 über das Verhältnis von transzendentalem und empirischem Ich ausführt. Wie groß die Differenzen zwischen Husserls Absicht und Adornos Kritik an ihr, insbesondere an der transzendentalen Wendung der Phänomenologie, tatsächlich sind, beweisen Aussagen Adornos, die meist dem Anliegen Husserls nur unzureichend gerecht werden. So wendet er sich immer wieder gegen die - vielleicht unglücklich gewählte - Formulierung von 'meinem' transzendentalen Ego, die ihn zu dem Schluß führt, dasselbe entweder als unfähig zur Selbstobjektivation oder als mit der Fülle seiner Erlebnisse im mehr als formalen Sinn identisches Ich abzutun, da sie für ihn eine Mundanisierung des transzendentalen Bereichs bedeutet. Dieser Kritik an Husserl ent­ geht, daß zwar von 'meinem' Ego die Rede ist, dies aber keineswegs eine Beschränkung auf ein einzelnes, bestimmtes Ich in seiner privaten Abgeschlossenheit bedeutet, sondern daß auf der Grundlage dieser - nur bei einer oberflächlichen Lektüre mißverständlichen - Ausdrucksweise generelle Wesensaussagen gemacht werden sollen, wobei das Possessivpronomen lediglich auf die grundsätzliche Gültigkeit der das transzendentale Ego betreffenden Erkennmisse für jeden einzelnen Menschen verweist. Das Ziel einer solchen Redeweise besteht in der Herausarbei­ tung des konkreten Subjekts "in seiner faktischen Jemeinigkeit, in der Individualität seines sinnbildenden Erlebnisstroms - nicht aber um seine konkrete empirische, sondern um seine konkrete transzendentale Seite herauszustellen". [W: Marx. Die Phänomenologie Edmund Husserls, a.a.O., S. 33-34. Vgl. hierzu auch: E. Ströker. Phänomenologische Studien, a.a.O., s. 1 09.] -

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festgestellt werden kann, bleibt doch als Grundvoraussetzung seine unhintergeh­ bare Einheit bestehen. Um diese Vielheit als Einheit betrachten zu können mit dem Ziel, derart - in Anlehnung an die Kantische Terminologie - zur Allheit zu gelangen, müssen die drei Formen des transzendentalen Ego zunächst einzeln analysiert werden.

B. Die drei Formen des 'transzendentalen Ego' mit ihren Funktionen

1. Das 'Wir-Ich' der Lebenswelt Die Erfahrung einer Kommunikation mit anderen Subjekten in einem für alle gültigen Welthoriwnt macht das Ich in der Lebenswelt, die auf seiner Beziehung zum Anderen aufbaut. In der Lebenswelt ist das Ich nie ein einzelnes, es setzt so­ gar in seiner Eigenheitssphäre sich selbst, die Anderen und die Welt als Pluralität und kann deshalb nur noch in Form des 'Wir' gedacht werden. Daran zeigt sich ein enger Zusammenhang des ' Wir-Ich' der Lebenswelt mit dem ersten Weg in die transzendentale Phänomenologie wie auch mit dem lebensweltlichen Ich. Im Gegensatz zur ersten Ich-Form besitzt aber das transzendentale 'Wir-Ich' konsti­ tutiven Charakter hinsichtlich dieses lebensweltlichen Ich und des korrespondie­ renden Weges in die Phänomenologie, d. h. es besitzt einen phänomenologi­ schen Explikationscharakter, der erst das wahre Wesen der Lebenswelt und der entsprechenden Ich-Form vorurteilsfrei verständlich macht, denn es macht das lebensweltlich kommunizierende Ich durch seine reinen, transmundaneo Be­ wußtseinsfunktionen faßbar. Diesen Neuanfang innerhalb der transzendentalen und doch lebensweltlichen Perspektive unternimmt Husserl vor allem in der Krisis - aber verbunden mit der Notwendigkeit eines weiteren Weges in die Phänomenologie wird auch das 'Wir-Ich' immer wieder in Frage gestellt, indem häufig der Vorwurf erhoben wird, Husserl sei dieser Neuanfang entglitten. 10 Aber ist dieser neue Ansatz wirk­ lich bedeutungslos und im Ganzen der Transzendentalphänomenologie verzicht­ bar? Wohl stellt der Weg über die Lebenswelt einen neuen Versuch zur Veran­ schaulichung der phänomenologischen Methode dar; er rückt, um phänomeno­ logische Letzterfassung bemüht, einen bisher wenig beachteten Aspekt des {transzendentalen) Ich in den Vordergrund der Analyse, das lebensweltliche Wir. So wird ein für die Phänomenologie notwendiger, zu ihrer Vollständigkeit uner­ läßlicher und in allen vorausgehenden Untersuchungen nur mangelhaft ausgearIO

Vgl. besonders: E. Ströker. Husserls transzendentale Phänomenologie, a.a.O., S. 2 1 3 .

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beiteter Aspekt der Husseelseben Philosophie in die transzendentalphänomeno­ logische Forschung miteinbezogen: die transzendentale Erklärung von Fremd­ und Welterfahrung. Der neue Weg zur Einführung in die Phänomenologie mit ihrem Zentralaspekt des transzendentalen Ich ist daher weder redundant noch mit anderen Ausführungen Husserls unvereinbar, so daß ihm eine eigenständige und bedeutungsvolle Rolle nicht abgesprochen werden kann. 1 1 Mit dem lebens­ weltlichen Weg in die Phänomenologie ist ein eigener transzendentalegologi­ scher Ansatz verbunden, mit dessen Hilfe sowohl die Lebenswelt selbst als auch das naiv in sie hineinlebende und ihren Weltgrund als selbstverständlich· akzep­ tierende Ich phänomenologisch aufgewiesen werden sollen. Mittels des transzen­ dentalen 'Wir-Ich' der Lebenswelt versucht Husserl noch einmal, das Problem der Intersubjektivität zu lösen, denn obwohl die Problematik der lntersubjektivi­ tät letztlich kein Problem der transzendentalen Sphäre der Philosophie darstellt, hielt Husserl bis in sein Spätwerk hinein an der Notwendigkeit einer solchen transzendentalen Lösung fest. Die Phänomenologie bleibt auch in der Krisis und den Cartesianischen Meditationen bei ihren ureigensten Frage- und Problemstel­ lungen, setzt aber neue Schwerpunkte. Die (transzendentale) Phänomenologie wagt so mit der Krisis nochmals einen Neuanfang mit anderen Akzentuierun­ gen, dem es aber nicht darum zu tun ist, bisher phänomenologisch Erarbeitetes zu leugnen oder gar zu verwerfen, sondern bisher Unausdrückliches ausdrücklich zu machen und früher lediglich Mitgemeintes zu eigenständiger Bedeutung kommen zu lassen. Von einem 'Entgleiten' der phänomenologischen Alternative, die die Krisis darstellt, kann folglich keine Rede sein12, obwohl die zentrale Stel­ lung, die der Intersubjektivitätsfrage zugesprochen wird, transzendentalphiloso­ phisch nicht unhinterfragt bleiben kann. Der aus Husserls Spätwerk resultierende Neuansatz ist also weniger auf die Lösung der Problematik des Solipsismus zu beziehen als vielmehr auf die tran­ szendentalphänomenologische Auslegung der Lebenswelt, des ihr zugehörigen Apriori und der für beide vorauszusetzenden Form der Subjektivität. Durch das 'Wir-Ich' der Lebenswelt wird erst diejenige Stufe der transzendentalen Phäno­ menologie erreicht, durch die die Strukturen der Lebenswelt und der ihr ent­ sprechenden Ich-Form transzendental ausgewiesen werden können. Ohne diese I I Vgl. Husserl. Krisis, S. 1 57-1 58. 1 2 Auch E. Ströker, die die Frage nach dem Entgleiten der durch die Krisis vorliegenden phänomenologischen Alternative erst aufwarf, vertritt in bezug auf diesen letzten Neuansatz ei­ ne uneinheitliche Position, indem sie zwischen Anerkennung und Infragestellung dieses Weges schwankt. [Vgl. E. Ströker. Phänomenologische Studien, a.a.O., S. 1 38.] (Darüber hinaus zei­ gen diese Überlegungen Strökers, daß eine allgemeine Identifizierung der reinen Psychologie mit der transzendentalen Phänomenologie, wie sie bei I. Kern in Husserl und Kant [S. 2 1 7] anzutreffen ist, nicht der Busserlsehen Absicht entspricht.)

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rein transzendentale Herangehensweise blieben die anderen Strukturen der Phä­ nomenologie - seien sie formal, funktional, methodisch oder inhaltlich - ohne ausreichende Rechtfertigung; sie wird zum Teil vom transzendentalen 'Wir-Ich' übernommen, eben zu dem Teil, der die lebensweltlichen Strukturen betrifft. Das 'Wir-Ich' kann also nicht die gesamte Philosophie transzendental absichern, aber es kann dazu seinen Beitrag in der notwendigen Verbindung mit den bei­ den anderen transzendentalen Ego-Formen leisten. Das transzendentale Ego ist folglich untrennbar, wenn es auch unter verschiedenen Aspekten betrachtet wer­ den kann. 13 Wie eng der Konnex zwischen dem lebensweltlichen Weg und der ihm ent­ sprechenden Form des transzendentalen Ego tatsächlich ist, läßt sich schon aus einigen Formulierungen aus den Ideen 11 erkennen, die als vermittelndes Glied zwischen dem Cartesianischen und dem lebensweltlichen Weg angesehen wer­ den können: "Nach unseren Darstellungen sind die Begriffe Ich - Wir relativ; das Ich fordert das Du, das Wir, das �dere'. Und weiter fordert das Ich (das Ich als Person) die Beziehung auf eine Sachenwelt. Also ich, wir, die Welt gehö­ ren zusammen: die Welt als gemeinsame Umgebungswelt dadurch den Stempel der Subjektivität tragend."14 Die erste Form des transzendentalen Ego, das 'Wir­ Ich', steht damit in einer eigenartigen Vorherbestimmtheit durch den lebens­ weltlichen Weg in die Phänomenologie: Die Lebenswelt als Ausgangspunkt macht das Ego in seiner Transzendentalität als pluralistisches 'Wir-Ich' zwar plausibel, drängt es jedoch in die transzendental fragliche Intersubjektivität hin­ ein, die ohne Rückbeziehung auf die Lebenswelt selbst nur teilweise verständlich wird. Eine vollständige Loslösung vom lebensweltlichen Grund erscheint un­ möglich. 1 5 Das 'Wir-Ich', das mittels der transzendentalphänomenologischen Reduktion als die Lebenswelt konstituierend aufgewiesen werden sollte, er­ scheint somit doch - obwohl transzendental - als ein durch die Lebenswelt (vor­ her-)bestimmtes. Die Abhängigkeit bzw. Verbundenheit des 'Wir-Ich' von und mit seinem Ausgangspunkt, dem lebensweltlichen Weg, kann allerdings nicht nur negativ, sondern muß auch positiv gedeutet werden: Die völlige Loslösung von der Lebenswelt darf bei dieser Ego-Form gar nicht das Ziel sein, da sie ja erst den der Lebenswelt entsprechenden Weg zusammen mit dem lebenswelt1 3 Die Intersubjektivitätsfrage bildet dabei nur ein Problem unter anderen, das von Busserl aufgrund falscher Prämissen, die die Überindividualität und damit die gleichzeitige Einzel­ und Allgültigkeit des transzendentalen Ich teilweise außer acht lassen, mit in den transzenden­ talen Bedingungsrahmen der Philosophie aufgenommen wurde. 1 4 Busserl. Ideen 11, S. 288. 1 5 Vgl. hierzu: R. Boehm. "Busserls drei Thesen über die Lebenswelt". In: E. Ströker (Brsg.) . Lebenswelt und Wissenschaft in der Philosophie Edmund Husserls. Frankfurt am Main, 1 979: S. 26.

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liehen Ich transzendental fundiert. Diese Funktion kann ihr aber nur dann eig­ nen, wenn sie mit dem, was sie ausweisen soll, in einem inhaltlichen Verhältnis steht, das in dem Verbundensein des transzendentalen 'Wir-Ich' mit der Lebens­ welt zum Ausdruck kommt. Außerdem deutet sich durch seine Bezeichnung schon an, daß die Intersubjektivität zum einen auf der lebensweltlichen Stufe schon gegeben ist und deshalb transzendental nur noch als Faktum bestätigt werden muß und daß zum anderen auch dieser Form des transzendentalen Ego ein deutlicher Primat vor dem Anderen zukommt, da das Wir durch das Ich erst bestimmbar wird. Damit hat sich das transzendentale 'Wir-Ich' als erster Be­ standteil einer zur Selbstbegründung der Subjektivität notwendigen Metaebene zum transzendentalen Ich erwiesen. Aufgrund der Intention, die mit dieser er­ sten Form des transzendentalen Ego ursprünglich verbunden ist, nämlich der transzendentalphänomenologischen Explikation der Lebenswelt, in der nach Husserls Auffassung auch ein ebensolcher Aufweis der Intersubjektivität enthal­ ten ist, wäre es folglich möglich, das 'Wir-Ich' in seinem Korrespondenzverhält­ nis zum lebensweltlichen Weg als 'transzendentale Mitwelt' zu charakterisieren. Aufgrund des schon bei Kant sichtbar gewordenen engen Bezugs zwischen den Ausprägungen des transzendentalen Ego und der damit einhergehenden, bloß formal möglichen Auftrennbarkeit desselben soll der anstehende Vergleich mit dem 'apprehendierenden Ego' bei Kant hier zurückgestellt und erst im An­ schluß an die Behandlung aller drei Ego-Formen insgesamt durchgeführt wer­ den. Das transzendentale Ego bei Husserl soll also mit dem 'transzendentalen Ego' bei Kant im ganzen verglichen werden, so daß zuvor noch die beiden ande­ ren Formen desselben analysiert werden müssen.

2.

Das 'psychologische Ich'

Das von Husserl selbst nicht mit diesem Namen belegte 'psychologische Ich' (das keinesfalls mit der bei Kant so benannten Ich-Form verwechselt werden darf) gehört einerseits - aufgrund der zu seiner Gewinnung notwendigerweise zu voll­ ziehenden Reduktionen, nämlich der phänomenologischen und der transzen­ dentalen Reduktion, - völlig in den transzendentalen Bereich der Phänomenolo­ gie; es fällt aber andererseits - aufgrund gewisser, noch näher zu erörternder Vorbedingungen - aus diesem Bereich heraus, ohne deshalb jedoch Bestandteil des phänomenologischen Ich zu sein. Es bildet gewissermaßen eine Vorstufe zum reinen transzendentalen Ego, indem es die psychischen Phänomene tran­ szendental erhellt, ohne selbst ganz in der Transzendentalität aufzugehen: "Wir wollen hier so vorgehen, daß wir die 'transzendentale Reduktion' einführen als aufgestuft auf die psychologische Reduktion [ . . . ] . Fordert die transzendentale

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Relativität jeder möglichen Welt deren universale 'Einklammerung' , so fordert sie auch die der reinen Seelen und der auf sie bezogenen rein phänomenologi­ schen Psychologie. Dadurch verwandeln sich diese in transzendentale Phäno­ mene. Während also der Psychologe innerhalb der für ihn natürlich geltenden Welt die vorkommende Subjektivität auf die rein seelische Subjektivität - in der Welt - reduziert, reduziert der transzendentale Phänomenologe durch seine ab­ solut universale Epoche diese psychologisch reine auf die transzendental reine Subjektivität [ . . . ] ."16 Mehrere Schlußfolgerungen sind aus diesen Ausführungen zu ziehen: ( 1 ) Das transzendentale Ego steht außerhalb des Bereichs der psy­ chologischen Reduktion; es ist ein Bestandteil des reinen Bewußtseins. - (2) Das aufgewiesene transzendentale Ego besitzt dennoch eine enge Verbindung zur Psychologie und zur 'psychologischen' Reduktion, die hinsichtlich des alltäglich erfahren(d)en Ich das leistet, was sonst von Husserl als phänomenologische Re­ duktion bezeichnet wird, wobei das durch die psychologisch-phänomenologi­ sche Reduktion gewonnene Eidos das Wesen des alltäglichen Ich ist, das in der Welt vorkommt. Die hier zu vollziehende Wende ist also nur eine Folge der uni­ versalen Epoche, so daß sie mit dieser nicht identisch sein kann. Da keine voll­ kommene Identität zwischen beiden Reduktionsformen besteht, wird an dieser Stelle die Uneigenständigkeit dieser Form der transzendentalen Reduktion und des ihr zugehörigen transzendentalen Ego deutlich. Die Transzendentalität scheint eine abgeleitete zu sein, was sich hinsichtlich der Einordnung des 'psy­ chologischen Ich' in den transzendentalen Bereich der Phänomenologie als pro­ blematisch erweisen wird - scheint es doch auf diese Weise eine eigenartige Posi­ tion zwischen dem phänomenologischen und dem transzendental reduzierten Ich einzunehmen. Gleichzeitig bildet dieses Abhängigkeitsverhältnis mit der dar­ aus resultierenden weitgehenden Unselbständigkeit des dieser 'entliehenen' Form der Transzendentalität eigenen Ego einen weiteren Hinweis auf das Begrün­ dungsverhältnis zwischen Phänomenologie und Psychologie. Da sich die Psy­ chologie als Wissenschaft aufgrund des ihr aus immanenten Gründen verschlos­ sen bleibenden Bereichs der Transzendentalphilosophie in einem Verhältnis der Abhängigkeit gegenüber der Phänomenologie befindet, kann auch das dem Weg über die Psychologismuskritik in die Phänomenologie entsprechende transzen­ dentale Ego keine Eigenständigkeit für sich beanspruchen. (3) Entscheidend ist, daß die explizierte Form des transzendentalen Ego enge Zusammenhänge mit dem Phänomen 'Seele' aufweist, die es sogar erlauben, das 'psychologische Ich' als 'transzendentale Seele' zu bezeichnen. Zur Verdeutlichung der Bezüge zwischen der zweiten Ego-Form und der Seele soll die in den Ideen II gegebene Darstellung des Phänomens 'Seele' in Erinnerung gerufen werden, wobei das -

1 6 Husserl. Encyclopaedia-Britannica-Artikel, S. 293.

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Verhältnis von Seele und Leib bedeutsam ist, die immer in Verbindung mitein­ ander auftreten; das Seelische besitzt allerdings einen Vorzug vor dem Körperli­ chen, weil das Ich von Husserl der Seelenseite des Menschen zugerechnet wird, so daß die Bedingung der Erfahrbarkeit der Seele, nämlich ihre notwendige Ver­ knüpfung mit dem Leib, nur als sekundär eingestuft werden kann. Allein als Or­ gan des Geistes wird auch der Leib zum Ich gerechnet; denn "fällt die Seele fort, so haben wir tote Materie, ein bloß materielles Ding, das nichts mehr vom Men­ schen-Ich an sich hat" 17• Die reale Einheit der Seele kommt dadurch zustande, daß sie als Entität des seelischen Lebens mit dem Leib als Einheit des leiblichen Seinsstroms verknüpft ist. 18 Darüber hinaus gibt es auf der von Husserl so be­ zeichneten idiopsychischen Seite Abhängigkeiten des seelischen Bewußtseins von sich selbst, die neben den genannten Abhängigkeiten des Bewußtseinslebens vom Leib, d. h. der physischen Natur, auf der physiopsychischen Seite bestehen, sowie intersubjektive Abhängigkeiten, denn "soll ein seelisches Wesen sein, ob­ jektive Existenz haben, so müssen die Bedingungen der Möglichkeit intersubjek­ tiver Gegebenheit erfollt sein" 19• Die deutlichen Parallelen zwischen Seele und reinem Ich werden an weiteren Stellen der Ideen sichtbar.20 Eine phänomenologische Einklammerung des See­ lenlebens kann zur wahren transzendentalen Analyse führen, die erst Aufschluß über die psychophysische Manifestation der Seele zu geben vermag21 , d. h. über die notwendige Verbundenheit zwischen Seele und Körper im Leib. Die als psy­ chologisch zu bezeichnende Form des transzendentalen Ego bringt damit das in­ nere Bewußtseinsleben zum Ausdruck, das zwar auf Äußeres zu seiner Realität angewiesen ist, jedoch dieses Äußere erst durch eine Beziehung auf seine Tran­ szendentalität ermöglicht. Da die Phänomenologie das Ziel verfolgt, alle Seins­ und Realitätssetzungen einzuklammern, erweist sich gerade diese Realität des seelischen Lebens als für sie irrelevant. - Das 'psychologische Ich' scheint voll­ ständig dem transzendentalen Bereich der Phänomenologie anzugehören. Den­ noch könnte an seiner Konzeption Kritik geübt werden: Aufgrund der mit dem phänomenologischen Nachweis des 'psychologischen Ich' verbundenen Zielset­ zung, nämlich der Schaffung einer phänomenologisch-psychologischen Anthro­ pologie, könnten Zweifel an der Eindeutigkeit seiner Zugehörigkeit zum Bereich 17 Husserl. Ideen I!, S. 94. 1 8 Leib und Seele (Bewußtsein) scheinen in einer begründenden Wechselbeziehung zu ste­ hen: Das Bewußtseinsganze ist im Leib fundiert, aber er ist auch seinerseits im Bewußtsein fundiert, so daß es zur wechselseitigen Begründung der Leib-Seele-Einheit kommt. [Vgl. A. Süßbauer. Intentionalität, Sachverhalt, Noema, a.a.O., S. 80.] 19 Husserl. Ideen I!, S. 95. 2o Vgl. etwa: Husserl. Ideen III, S. 1 1 6. 2 1 Vgl. K.-H. Lembeck. Einführung in die phänomenologische Philosophie, a.a.O., S. 7576.

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des Transzendentalen laut werden. Denn ebenso wie die drei Wege in die Phäno­ menologie durch ihren jeweiligen Ausgangspunkt (mit-)bestimmt werden, so verweisen die Formen des transzendentalen Ego ebenfalls auf diesen Ausgangs­ punkt zurück und werden durch ihn (mit-)geprägt. Aufgrund dieser Determi­ niertheit bleiben Parallelen zur psychologischen Begrifflichkeit, die einen äußeren Hinweis für die Annahme einer eigenständigen psychologischen Aus­ prägung des transzendentalen Ego bilden, kein Zufall, sondern lassen die Aus­ drucksweise mit dem für sie zentralen Begriff der Seele zur Notwendigkeit wer­ den. - Diese Vorherbestimmtheit des 'psychologischen Ich' führt dazu, daß es trotz aller ihm eigenen transzendentalphänomenologischen Züge letztlich nur ein vortranszendentales Ich ist, obwohl es - da es die Weltsetzung nicht mehr, wie noch das phänomenologische Ich, mitvollzieht, sondern hinsichtlich der Welt schon den Standpunkt der universalen Epoche erreicht - auch nicht mehr als phänomenologisches Ich eingestuft werden kann. Obgleich es auf diese Weise von einer Seinssetzung Abstand nimmt, hält es doch an anderen Seinssetzungen fest - wie dem Sein des Leibes oder dem der Anderen. Da das 'psychologische Ich' schon vor seiner eigentlichen Aufweisung als transzendentales Ego zweckge­ bunden und am Ziel einer Anthropologie orientiert ist, wobei Psychologie und schließlich auch Philosophie auf der Grundlage seiner Transzendentalität eine Begründung als Wissenschaften erfahren sollen, bleibt es trotz dieses transzen­ dentalen Status an sein eigenes Forschungsgebiet, den Menschen, gebunden, weil die Frage nach dem Wer als Bedingung der Möglichkeit von Welt und (weltlichem) Ich nicht ohne ein Mitdenken des Menschen gestellt werden kann. Das Wer der für eine phänomenologische Anthropologie zentralen Frage bedingt die unumgängliche Vorherbestimmtheit einer möglichen Antwort und die sich daraus ergebende Unmöglichkeit einer reinen, von allen Seinssetzungen freien transzendentalen Analyse. Die 'psychologische Transzendentalität', die ihren Grund nicht in jeder Hin­ sicht erforscht und wegen ihrer durch sie selbst bedingten Vorannahmen auch nicht wirklich erforschen kann, sondern ihn teilweise als gegeben annehmen muß, so daß sie nicht eigentlich transzendental genannt werden kann, muß des­ halb auch als psychologische Erforschung des Menschen eingestuft werden. Da­ mit ist sie nicht rein transzendentalphänomenologisch, sondern nur eine rein überempirische, aber psychologisch fundierte Anthropologie. Dazu bedarf es der Annahme einer Zwischenstufe zwischen rein empirischer und rein transzenden­ taler Erkenntnis bzw. den diesen beiden Erkenntnisformen korrespondierenden Ausprägungen des Ich, die nicht mehr eidetisch-phänomenologisch, aber auch noch nicht rein transzendental sind. In dieser Anthropologie wird der Mensch folglich nicht mehr als natürliches oder geschichtliches Wesen begriffen, sondern als Grundlage psychologischer Forschung, wodurch diese Anthropologie selbst

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zeit- und geschichtsunabhängig wird. Das 'psychologische Ich' kann deshalb nur zur Explikation einer aufgrund ihres Ausgangspunktes von Psychologie und Psy­ chologismuskritik eingeschränkt gültigen Welt dienen: der Welt der Seele. Aus diesem Grund könnte es den Schein erwecken, als vermöge es sich nicht gegen die Problematik seines eigenen Ausgangspunktes durchzusetzen, sondern als gälte diese in seinem Bereich, obwohl unter phänomenologisch veränderten Vor­ zeichen, beinahe unbeeinflußt vom Gang seiner Reflexionen weiter. Demgegen­ über muß allerdings ein ähnlicher Einwand erhoben werden wie schon beim transzendentalen 'Wir-Ich': Nur aufgrund seiner Vorherbestimmtheit durch den zweiten Weg in die Phänomenologie und durch die zweite Form des Ich sowie aufgrund seiner engen Verbundenheit mit diesen kann das 'psychologische Ich' dazu in der Lage sein, beide transzendental zu begründen. Die Frage danach, ob das 'psychologische Ich' einen nur eidetisch-phänomenologischen oder schon ei­ nen transzendentalen oder ob es nur einen dazwischen liegenden Mittelstatus einnimmt, ist damit nicht eindeutig zu beantworten. Es zeigt sich jedoch auf diese Weise, daß eine innere Entsprechung, die auf formalen und methodischen Grundlagen beruht, nicht notwendig zu aporetischen Konsequenzen führen muß. Indem das 'psychologische Ich' eine innere Verwandtschaft zum Weg über die Psychologismuskritik wie auch zum phänomenologischen Ich, das die Schei­ dung zwischen Psychologie und Phänomenologie auf methodischer Ebene absi­ chert, besitzt, kann es dazu dienen, sowohl den Weg als auch die Ich-Form auf transzendentale Weise aufzuklären: Nur das 'psychologische Ich' kann den welt­ konstituierenden Charakter des Ich nachweisen. Aufgrund der engen Verbin­ dung zwischen Ich und Welt, die im Falle des 'psychologischen Ich' auch als Ver­ bindung zwischen Seele im transzendentalen Sinne und Welt verstanden werden kann, läßt sich der der Phänomenologie eigene Ansatz zur Welt- und Menschen­ erkenntnis als notwendig bestätigen. Das 'psychologische Ich' stellt die letzte Be­ stätigung der Richtigkeit der phänomenologischen Psychologismuskritik dar, wodurch der zweite Weg in die transzendentale Phänomenologie ebenso gerecht­ fertigt wird wie das phänomenologische Ich, das die formal-methodischen Voraussetzungen der (eidetischen) phänomenologischen Forschung in sich trägt. Dabei erweist sich die ausgeführte Kritik an der zweiten Form des transzenden­ talen Ego als unproblematisch, auch wenn dem 'psychologischen Ich' nach wie vor ein zwischen Transzendentalität und Vortranszendentalität schwankender Status nicht abgesprochen werden kann. Wenn dieses 'Ich' überhaupt zur Kon­ stitution der Subjektivität und der Philosophie mit herangewgen werden soll, dann bedarf es notwendig der Ergänzung durch die anderen Formen des tran­ szendentalen Ego, um gewisse, durch seine eigenartige Zwischenstellung be­ dingte Schwierigkeiten überwinden zu können. Derart wird auch am 'psycholo­ gischen Ich' die Zusammengehörigkeit der drei Ego-Formen sichtbar, die allein

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zum Ziel der subjektbezogenen Absicherung der wissenschaftlichen Philosophie führen kann.

3.

Das 'absolute Ur-Ich'

Die dritte Form des transzendentalen Ego, das hier so bezeichnete 'absolute Ur­ Ich' , macht sich von den beim 'psychologischen Ich' scheinbar so problemati­ schen Bindungen an die Psychologie frei und gehört sowohl aufgrund seiner Un­ abhängigkeit von bestimmten Einzelwissenschaften als auch durch die ihm eige­ nen Funktionen eindeutig zum transzendentalen Bereich der Phänomenologie. "Somit gehört es [ . . . ] zum Wesen des reinen Ich, sich selbst als das, was es ist und wie es fungiert, erfassen und sich so zum Gegenstand machen zu können. [ . . . ] Das reine Ich ist durch das reine Ich, das identisch selbe, gegenständlich setzbar. Zum Wesen des reinen Ich gehört dabei die Möglichkeit einer originä­ ren Selbsterfahrung [ ] ."22 Aus diesen Sätzen wird deutlich, daß dem 'absolu­ ten Ur-Ich', das mit dem solcherart fungierenden reinen Ich identisch ist, zwei phänomenologisch bedeutsame Aufgaben zukommen: Zum einen ermöglicht es unter Einbeziehung der Zeitlichkeit eine reine Theorie der Subjektivität, die nicht mehr einer an der Psychologie und ihren Vorgaben sich orientierenden Seelenlehre entspricht, wie dies beim 'psychologischen Ich' noch der Fall war, sondern die zur transzendentalphänomenologischen Rechtfertigung der bereits behandelten Aufteilung des Bewußtseins in Noesis und Noema hinleitet, die im­ mer auf den Rückbezug auf ein Ich angewiesen bleibt. Zum anderen ermöglicht das 'absolute Ur-Ich' auf einer übergeordneten Ebene eine 'Kritik der Kritik' bzw. eine Reflexion der transzendentalen Subjektivität auf sich selbst, die der rei­ nen Theorie des Selbstbewußtseins erst ihre volle Selbstbegründung zu geben vermag.23 . . .

22 Husserl. Ideen II, S. 1 0 1 . 23 Außer den genannten Problemen i m Zusammenhang mit dem transzendentalen Ego er­ geben sich Fragen aus seinen Beziehungen zu Geschichte und Geschichtlichkeit auf der einen sowie Zeit und Zeitlichkeit auf der anderen Seite, auf die hier nicht mehr im einzelnen einzu­ gehen ist, da diese Thematik schon beim Komplex der Lebenswelt behandelt wurde. Deshalb sollen nur einige Anmerkungen zur Forschungsliteratur gemacht werden, die die Wichtigkeit, aber auch Widersprüchlichkeit dieser Thematik noch einmal vor Augen führen - fragt doch Husserl selbst danach, ob die Urphänomenalität der Zeitigung, das Ur-Ich, überhaupt in der Form der Zeit ist. Von besonderer Bedeutung sind hier wieder Husserls Vorlesungen Zur Phä­ nomenologie des inneren Zeitbewußtseins, die mit der Ausschaltung der objektiven Zeit ein­ setzen: "Unser Absehen geht auf eine phänomenologische Analyse des Zeitbewußtseins. Darin liegt [ . . ] der völlige Ausschluß jedweder Annahmen, Festsetzungen, Überzeugungen in betreff der objektiven Zeit (aller transzendierenden Voraussetzungen von Existierendem) ." [Husserl. Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, S. 4.] Also gilt auch im Bereich der Unter.

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Im folgenden soll die erste der beiden Hauptaufgaben des 'absoluten Ur-Ich' untersucht werden, die in einer transzendentalen Absicherung der phänomenosuchung der Zeit die Notwendigkeit der Epoche, deren Verbindung zum transzendentalen Ego K. Held herausstellt - wodurch der Verweisungszusammenhang zwischen der Zeit- und der Ich-Thematik deutlich wird -, indem er eine vertiefte Epoche, die den Vergangenheits- und Zukunftshorizont des welterfahrenden Lebens einklammert, fordert, um zum Kern des 'Ich bin' zu gelangen, und indem er darüber hinaus behauptet: "Das transzendentale Ich kann sich über seine Vergangenheit und Zukunft täuschen." [K. Held. Lebendige Gegenwart, a.a.O., S. 73.] Beide von Held gemachten Voraussetzungen sind nicht unproblematisch: So muß hin­ sichtlich der Forderung einer vertieften Epoche die Frage gestellt werden, ob nicht alles Den­ ken und Wahrnehmen zeitlich ist und ob nicht durch eine Einklammerung der zeitlichen Struktur des cogito der Vorrang des 'Ich denke' vor dem 'Ich bin' aufgehoben wird, den Hus­ serl vor allem in Anlehnung an Descartes immer wieder betont und dessen Infragestellung der Selbstaufhebung der transzendentalen Reduktion gleichkäme, die nur aufgrund der Einklam­ merung jeder Seinssetzung gelingen kann. Welche Seinssetzung aber könnte die des 'Ich bin' an Intensität übertreffen? - Dies ist eine Frage, die generell an Held zu richten wäre, der in Le­ bendige Gegenwart eine Aufklärung der Seinsweise des transzendentalen Ich anstrebt. Wie kann nach der Seinsart des transzendentalen Bewußtseins gefragt werden, ohne diesem Be­ wußtsein (individuelle) Realität zuzusprechen, was von Husserl abgelehnt wird? - Der Ein­ wand gegen die zweite von Held gemachte Voraussetzung - die Täuschungsmöglichkeit des transzendentalen Ich hinsichtlich seiner Vergangenheit und Zukunft - ist ähnlicher Natur: Kann dem transzendentalen Ich überhaupt so etwas wie Vergangenheit und Zukunft zuge­ schrieben werden? Ist es nicht nur ein einziges in allen Zeiten und Zeitphasen, so daß ihm keine realen Zeiterlebnisse zuzusprechen sind, die das nichtreale transzendentale Ich aus einer eigentlichen Innerzeitigkeit ohne Zeitformen in eine uneigentliche, reale Innerweltlichkeit überführen würde? Obwohl das transzendentale Ich erst die Bedingung der Möglichkeit von Zeiterfahrung bildet, kann es selbst nur als zeitkonstituierend, nicht aber als durch die Zeit konstituiert und ihren Modi unterworfen begriffen werden. Der Annahme des tatsächlichen Auftretens der drei Zeitformen im transzendentalen Ich liegt demnach wohl eine ähnlich gela­ gerte, wenn auch anders zu bewertende Fehlinterpretation des schon von Adorno mißverstan­ denen Ausdrucks 'mein' transzendentales Ego zugrunde. Hierbei muß betont werden, daß Husserl selbst derartigen Überlegungen zu einem zeitlichen Horiwnt des transzendentalen Ich nachging, obwohl deren Konsequenzen auch bei ihm mit dem transzendentalphänomenologi­ schen Ansatz nicht in Einklang zu bringen sind. So verweist er in den Cartesianischen Medi­ tationen darauf, daß rein apodiktisch am Ich nur ein Kern sei, der von einem unbestimmten Horiwnt von bloß Mitgemeintem umgeben sei, das aus der Vergangenheit und bestimmten Eigenheiten des Ich bestehe [vgl. Husserl. Cartesianische Meditationen, S. 6 1 -62] . Dabei muß die Frage gestellt werden, ob dem reinen Ich ein Vergangenheitshoriwnt und bestimmte Eigenschaften als nicht-apodiktischer Horizont zugewiesen werden können; es ist nur als reine Denkstruktur möglich, da es sonst sinnliche Anteile haben müßte, die selbst zweifelhaft sind [vgl. Husserl. Cartesianische Meditationen, S. 57-58] . Wie kann aber eine derartige Urteils­ grundlage eine Vergangenheit besitzen? - Hier scheint auch bei Husserl der von Held weiter­ verfolgte phänomenologische Irrrum vorzuliegen, denn nur einem empirischen Ich können Zeitstrukturen und weltlich bedingte Eigenheiten zugeschrieben werden; das transzendental reine Ich ist als nicht-reales davon frei, es kann derartige Strukturen nur fundieren und als not­ wendig aufweisen. Diese Überlegungen zeigen schon deutlich genug die Unhaltbarkeit der Po­ sition Helds mit ihrer Annahme eines individuellen und realen transzendentalen Ego: Die transzendentale Subjektivität besirzt weder ein Sein als Realität noch eine (Erlebnis-)Zeit in den Modi von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

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logischen Methode mitsamt ihren Elementen und damit der Subjektivität insge­ samt besteht. Für die Klärung der dafür zentralen Methodenbegriffe eignen sich besonders zur nochmaligen Verdeutlichung des Unterschieds zwischen noeti­ scher und noematischer Betrachtungsweise die phänomenologischen Analysen zur Wahrnehmung. Hier sollen Husserls Untersuchungen aus den Analysen z u r passiven Synthesis zur Veranschaulichung dieser Funktion herangezogen werden, um auf diese Weise die Noesis-Noema-Struktur24 aus einem zusätzlichen Ge­ sichtspunkt heraus darzustellen. - In diesem Text zeigt Husserl die Selbstgebung der Wahrnehmung auf, indem er den Wahrnehmungsprozeß in einer Bezug­ nahme auf die Thematik von Zeit und Zeitlichkeit analysiert: "Oie äußere Wahrnehmung ist eine beständige Prätention, etwas zu leisten, was sie ihrem ei­ genen Wesen nach zu leisten außerstande ist. Also gewissermaßen ein Wider­ spruch gehört zu ihrem Wesen. "25 Diese These soll im Fortgang der Analysen zu voller Klarheit gebracht werden, wobei Husserl auf die Problematik der perspek­ tivischen Abschattung eingeht.26 Jeder räumliche Gegenstand kann nur von ei­ ner Seite betrachtet werden; niemals können alle Seiten und Aspekte zugleich er­ fahren werden. Dabei fehlen die nicht erfahrbaren Seiten keineswegs, aber sie sind nicht als Originalbewußtsein gegeben, sondern nur in Form des Mitbe­ wußtseins.27 So entsteht eine Erwartungshaltung, die zusammen mit dem tat­ sächlich für das Bewußtsein Gegebenen die Wahrnehmung ausmacht. Dies gilt zumindest für die noetische Betrachtungsweise, denn "das Wahrnehmen ist, noetisch gesprochen, ein Gemisch von wirklicher Darstellung, die das Darge­ stellte in der Weise originaler Darstellung anschaulich macht, und leerem Indi­ zieren, das auf mögliche neue Wahrnehmungen verweist"28• Diese Betrachtungs­ weise geht von den subjektiven Leistungen eines Ich aus, die zum Beispiel durch Apperzeption zur Konstitution eines Gegenstandes führen, so daß sie den Ich­ Pol mitsamt seinen Leistungen dem Gegenstandspol oder einer Vielheit von Ge­ genstandspolen gegenüberstellt. Ganz anders dagegen die noematische Sicht: "In noematischer Hinsicht ist das Wahrgenommene derart abschattungsmäßig Ge­ gebenes, daß die jeweilige gegebene auf anderes Nichtgegebenes ver24 Vgl. T. Celms. Der phänomenologische Idealismus Busserls, a.a.O., S. 1 02-1 1 2 . 2 5 Husserl. Analysen zur passiven Synthesis, S. 3. 26 Vgl. Husserl. Logische Untersuchungen II/2, S. 589. - Schon an der verwendeten Be­ grifflichkeit Husserls zeigt sich die Kontinuität innerhalb seiner Wahrnehmungsanalysen und damit die der phänomenologischen Forschung insgesamt. 27 Auch Kant kennt das Phänomen der perspektivischen Abschattung, obgleich nicht unter diesem Namen: "Z. E. so sieht eine Stadt von der Morgenseite anders aus, als von der Abend­ seite. Es sind also viele Erscheinungen von einer Sache nach den verschiedenen Seiten und Ge­ sichtspunkten." [Kant. Vorlesungen über Metaphysik und Rationaltheologie. Akademie-Aus­ gabe, Band XXVIII: S. 236.] 28 Husserl. Analysen zur passiven Synthesis, S. 5.

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weist, als nicht gegeben von demselben Gegenstand. "29 Im Gegensatz zur noeti­ schen Betrachtungsweise verweist die noematische vom gegenständlichen Sinn eines Bewußtseinserlebnisses ausgehend, der den Gegenstandspol mit seinen Gegebenheitsweisen für einen Ich-Pol etwa als Wirklichkeitssinn objektiviert, auf das am Gegenstand Gegebene, seinen intentionalen Sinngehalt, auf den das jeweilige intentionale Erlebnis ausgeht. Beim Zusammenhang zwischen Noesis und Noema handelt es sich somit um einen immanenten Bezug zwischen unter­ scheidbaren Bewußtseinsmomenten. 30 Damit ein Teilaspekt eines Gegenstandes, wie er durch perspektivische Ab­ schattung gegeben ist, überhaupt als Erscheinung für das Bewußtsein begriffen werden kann, ist es notwendig, einen Gegenstand als horizonthaft vorzustellen, denn "alles eigentlich Erscheinende ist nur dadurch Dingerscheinendes, daß es umflochten und durchsetzt ist von einem intentionalen Leerhorizont, daß es umgeben ist von einem Hof erscheinungsmäßiger Leere"3 1 . Bei einer derartigen Vorgehensweise erhält sich im Zentrum von Innen- und Außenhorizont, also bei der Betrachtungsweise hin zu immer Kleinerem, den Einzelheiten gewisserma­ ßen, und bei der inversen Hinsichtnahme auf immer Größeres, bis zu einem umfassenden Welthorizont, die den Gegenstand in seiner Besonderheit einer Umwelt einzuordnen erlauben, ein beständiges, identisches X. Voraussetzung für die Erkenntnis der Horizonthaftigkeit sind für Husserl die Kinästhesen, also die verschiedenen Körperbewegungen, die ausgeführt werden, um zu neuen Per­ spektiven eines Gegenstandes zu gelangen, wobei jeder dieser willentlich vom Ich vollzogenen Bewegungen ein Bewußtsein vom Sichbewegen eignet. Der Kör­ per wird zum Wahrnehmungsorgan, das die Grundbedingung überhaupt für jede Form der Erfahrung darstellt, da der Leib zum räumlichen Einteilungskrite­ rium wird.32 Unter Voraussetzung der Kinästbesen versteht Husserl die Wahr­ nehmung als einen Prozeß der Kenntnisnahme. Jede Wahrnehmung birgt dem­ nach neue Erkenntnisse, die die Leere um einen Gegenstand zu füllen vermögen - offenbar auch die einzige Weise, wie Husserl das Nichts denken kann. Somit 29 Husserl. Analysen zur passiven Synthesis, S. 5. 3 0 Daß der Noemata-Lehre im Husserlschen Werk eine zentrale Stellung zukommt - vor allem unter Berücksichtigung der mit ihr verbundenen Wahrnehmungsanalysen, die den Aus­ gangspunkt für die Untersuchung von Fremd-, Welt- und Dingkonstitution bilden -, ist in der Husserl-Forschung fast unstrittig. Eine Ausnahme bilden die Untersuchungen A. Süßbauers in Intentionalität, Sachverhalt, Noema, a.a.O., S. 397-40 1 . Da sich Süßbauer jedoch vorwie­ gend auf quantitative und chronologische Argumente beschränkt - ohne erwa die Husserl­ schen Analysen zur passiven Synthesis zu beachten, die aus dem von ihm gesetzten zeitlichen Rahmen herausfallen (so bilden die Ideen I keineswegs den Abschluß der Beschäftigung Hus­ serls mit dem Noesis-Noema-Zusammenhang) -, bleibt seine Wendung gegen den Schlüssel­ begriff des Noemas in Husserls Intentionalitätslehre zweifelhaft. 3 1 Husserl. Analysen zur passiven Synthesis, S. 6. 3 2 Vgl. Husserl. Analysen zur passiven Synthesis, S. 1 3-14.

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werden die Leerhorizonte, die Unbestimmtheiten eines Gegenstandes hinsicht­ lich seines Innen und Außen, sukzessive verringert, ohne daß der Horizont leerer Möglichkeiten, des Unvorhergesehenen und Unvorhersehbaren, eingeengt wer­ den könnte. Hierbei nehmen Husserls Ausführungen wiederum auf das Zeitbewußtsein als einen entscheidenden Bestandteil jeder Bewußtseinsleistung Bezug, ohne es jedoch vollständig zu analysieren. 33 Indem er den Begriff der Urimpression vor­ aussetzt, führt Husserl die Retention als Bedingung der Möglichkeit des Er­ kenntniszuwachses, des immer weitergehenden Füllens der Leerhorizonte eines Gegenstandes, ein.34 Als Noch-im-Bewußtsein-haben der Urimpression ermög­ licht die Retention das Kennen eines solchen Gegenstands. Sie bringt darüber hinaus die Einzelerkenntnisse über einen Gegenstand zusammen und erkennt sie als zu einem identischen X gehörig; sie ermöglicht bei Wiederaufnahme eines früher begonnenen Wahrnehmungserlebnisses die Wiedererinnerung. Das be­ reits Bekannte ist dem Wahrnehmenden durch die Retention frei verfügbar; er vermag jede durch Abwendung von einem Gegenstand geleerte Urimpression bei erneuter Zuwendung oder Begegnung wieder zu aktualisieren, also retentio­ nal zu füllen, was zum Wiedererkennen führt. Eine ähnliche Funktionsweise er­ gibt sich bei der Deutung neuer, unbekannter Gegenstände, die bekannten Ge­ genständen mehr oder weniger gleichen, welcher Vorgang von Husserl als Ähn­ lichkeitsassoziation bezeichnet wird.35 Natürlich können innere und äußere Wahrnehmung nicht gleichgesetzt wer­ den - so treten bei ersterer beispielsweise keine perspektivischen Abschattungen 33 Daß Husserl im Ausgang dieser Verknüpfung von Wahrnehmung und Bewußtsein das Thema der Zeitlichkeit wieder aufnimmt, ist kein Zufall, da der Konnex zwischen dem Be­ wußtseinsstrom und der zeitlichen Thematik von zentraler Bedeutung für die Phänomenologie ist. 34 Vgl. Husserl. Analysen zur passiven Synthesis, S. 8 . 35 Die Wahrnehmungsanalyse soll noch hinsichtlich zweier Probleme kurz betrachtet wer­ den. Einmal erweist sich der Wahrnehmungsbegriff selbst als schwierig: Obwohl es nicht zu­ letzt um eine phänomenologische Klärung dieses Begriffs geht bzw. darum, was Wahrneh­ mung ihrem Wesen nach ist, werden sowohl der Begriff sdbst als auch die Wahrnehmungs­ struktur von Husserl als nahezu unzweifdhaft hingenommen, was hinsichtlich des Anspruchs der phänomenologischen Methode auf Voraussetzungslosigkeit fraglich erscheint. Zum ande­ ren ist der von Husserl - zumindest in diesem Abschnitt der Analysen zur passiven Synthesis gemachte Voraussetzungsreichtum insgesamt nicht unproblematisch. So werden Raum, Zeit, Kausalität, die Unterscheidung zwischen dem eigenen Ich und dem des Anderen, aber auch ein lebenswdtlicher, praktischer Hintergrund sowie die Wdt sdbst als sdbstverständlich ange­ nommen. Sdbst wenn man all diese Voraussetzungen - und das sind in diesem Fall nicht we­ nige - hinnehmen mag, da Husserl an anderer Stelle ihre Gültigkeit nachgewiesen hat, so bleibt doch die Frage bestehen, ob er wohl auf diese Weise seiner eigenen Methode Genüge tut und ob es ihm unter diesen Umständen gelingen kann, Wahrnehmung als ein Grundphäno­ men, das nicht nur ein Phänomen unter anderen ist, plausibd zu machen.

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auf -, doch zur Veranschaulichung von Noesis und Noema konnten sie in der hier zu behandelnden Sphäre des transzendentalen Ego herangewgen werden. Generell ist in der Husserlschen Phänomenolo gie eine Tendenz zur Vermengung beider Arten der Wahrnehmung bzw. der Rückschlüsse von der einen auf die an­ dere Art festzustellen, die sich besonders im Zusammenhang mit den untersuch­ ten phänomenologischen Analysen zur Zeit manifestieren. Dabei werden fast ausschließlich Beispiele aus dem Bereich der äußeren Wahrnehmung - wie das Hören einzelner Töne - herangezogen, um innere Strukturen zu verdeutlichen. Das Selbstbewußtsein, an dessen Bildung und Bestehen die Zeitlichkeit großen Anteil hat, wird oft mit Hilfe äußerer Ereignisse zur Evidenz gebracht. Proble­ matisch erscheint dabei Husserls selbstverständliche Annahme der Evidenz des Wie der cogitationes, was innerhalb von Selbstbewußtsein und Reflexion ein der äußeren Wahrnehmungskonstellation analoges Verhältnis voraussetzt. Da Hus­ serl Wahrnehmungen von Empfindungsdaten als immanent versteht, ist ein sol­ ches Vorgehen plausibel, obwohl es kaum dem phänomenologischen Anspruch, Verfahren und Befund entspricht. 36 Als ein Ergebnis der Analysen des aus Ego, Noema, d. h. dem Inbegriff eines intentionalen Sinngehalts, auf den das intentionale Erlebnis ausgeht, und Noe­ sis, d. h. dem sinnverleihenden Moment des intentionalen Vollzugs, sich kon­ stituierenden Bewußtseinsstroms kann dessen Aufbau als Einheit von Erlebnis­ sen festgehalten werden. Jede Wahrnehmung und jede Erfahrung ist auf diesen Bewußtseinsfluß angewiesen. Die Subjektivität resultiert aus den Erfahrungsfor­ men bezüglich der Erlebnisse innerhalb des Bewußtseinsstroms und der Refle­ xion auf sie. Die Reflexion konstituiert das Wissen des Ich um sich selbst, indem sie den Bewußtseinsstrom auf ein einheitliches Selbst rückbezieht. Der in der Reflexion als das Ich bestimmend erfahrene Erlebnisstrom gründet im Zeitbe­ wußtsein, ja er ist sogar mit diesem identischY So kann hinsichtlich der Zeit erst durch die transzendentale Reduktion erkannt werden, was schon für das Ich in der natürlichen Einstellung gilt, daß es nämlich kein Erlebnis, sondern das Erlebende, kein Akt, sondern das den Akt Vollziehende ist. Dabei findet sich das Ich mitsamt seinen Erlebnissen in der Zeit vor, hat seine Zeitstelle, ist ein identi­ sches Ich in der Zeit, in der es eine bestimmte Stellung einnimmt.38

3 6 Vgl. E. Tugendhat. Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, a.a.O., S. 209. 37 Eine frühe Auseinandersetzung mit der Problematik der Zeitlichkeit, insbesondere mit der Retention, die auch schon auffälligerweise mit Beispielen aus dem Bereich äußerer Wahr­ nehmung illustriert wird (wiederum ist es das Hören eines Tones, das der Analyse zu größerer Deutlichkeit verhelfen soll) , findet sich bereits in einer Vorlesung aus dem Jahr 1 907. [Vgl. Husserl. Die Idee der Phänomenologie, S. 67-68.] 3 8 Vgl. Husserl. Zur Phänomenologie der Intersubjektivität I, S. 1 1 3.

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Nach der Behandlung der ersten Aufgabe der dritten Form des transzendenta­ len Ego soll nun seine zweite, noch wichtigere Funktion der Bildung einer sub­ jektivitätstheoretischen Metaebene untersucht werden, durch die die transzen­ dentalegologische Sphäre der phänomenologischen Forschung ihren Abschluß finden wird. Diese Fundamentalschicht kann dadurch erreicht werden, daß das Ich zu sich in ein selbstreflexives Verhältnis tritt, wodurch die Subjektivität und mit ihr die Philosophie einen letzten Grund erhalten, der aus sich selbst erklärt werden kann, so daß er keines weiteren, höheren Erklärungsfundaments mehr bedarf. 39 Indem das transzendentale Ich zur höchsten Stufe der Transzendental­ philosophie wird, findet diese ihren sicheren Anfangs- und Endpunkt. Es muß deshalb als archimedischer Punkt der Philosophie erwiesen werden, wobei die Selbstreflexion40 den Anfang aller Philosophie und philosophischen Methode darstellen muß.41 Der schon in seiner Wichtigkeit hervorgehobene Gedanke, daß die Philosophie die universale Selbstentfaltung der transzendentalen Subjek­ tivität in Form systematischer transzendentaler Selbsttheoretisierung auf dem Grunde der transzendentalen Selbsterfahrung und ihrer Derivate isr42, wird da­ durch in seiner Bedeutung bestätigt. Erst in Relation zu diesem selbstauslegen­ den Ich kann auch die Welt verstanden werden, denn sie ist mit ihren Realitäten ein Universum konstituierter Transzendenzen, verankert in den Erlebnissen und Vermögen des Ego, das ihr so als letztkonstituierende Subjektivität vorangeht. Die Transzendenz der Welt ist also Transzendenz in Relation zu diesem Ich, das im Sinne der konstituierenden Subjektivität für sich selbst apodiktisch notwen­ dig ist, während die Welt, die " von ihm konstituiert ist, nur den Sinn einer prä­ sumtiven Existenz besitzt.43 Darin enthalten ist die Aussage, daß alles Seiende ­ und damit auch alle Wissenschaften von diesem Seienden - relativ auf die tran­ szendentale Subjektivität sein muß, da nur sie in und für sich ist. Nur das abso­ lut Seiende der transzendentalen Subjektivität kann auf sich selbst reflektieren, weil zu seinem Wesen die Möglichkeit der Selbstbestimmung gehört. Da die Phänomenologie in ihrem Zentrum Erforschung der Subjektivität ist, kann sie 39 Durch diese Selbstbegründung des transzendentalen Ego genügt die Philosophie als Ur­ sprungswissenschaft der an sie zu richtenden Forderung nach Reflexion auf die eigene Bedeu­ tung mit einer radikalen Wendung, in der die Philosophie für sich selbst zum Objekt wird und sich selbst auf einen transzendentalen Boden stellt, so daß sie sich selbst transzendental erhellt. [Vgl. G. Funke. "La recepci6n de Kant en Husserl", a.a.O., S. 207.] 40 Die Reflexion macht das Ich-Subjekt zum intentionalen Objekt seiner eigenen Betrach­ tung. Daß sich daraus auch Konsequenzen hinsichdich der praktischen Philosophie ergeben, weist L. Landgrebe nach, indem er in Der Weg der Phänomenologie, a.a.O., S. 1 99 darauf hinweist, daß die phänomenologische Reduktion den Akt bedeutet, in dem sich das Ich auch seiner Freiheit zu absoluter Selbstverantwortung bewußt wird. 41 Vgl. Husserl. Erste Philosophie II, S. 6. 42 Vgl. Husserl. Erste Philosophie II, S. 1 67. 43 Vgl. Husserl. Formale und transzendentale Logik, S. 258.

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schließlich als Selbstbegründung der transzendentalen Subjektivität bestimmt werden.44 Dies bedeutet, daß die an sich erste Erkenntniskritik, in der alle an­ dere wurzelt, die transzendentale Selbstkritik der phänomenologischen Erkennt­ nis sein muß45; d. h. ohne transzendentale Selbstreflexion des Ego kann es auch keine Sicherung der Philosophie und somit aller Einzelwissenschaften geben. Damit echte Wissenschaft entstehen kann, muß die Sinngebung der Subjektivi­ tät verstanden sein. Über allen Einzelwissenschaften steht die Erste Wissenschaft, die Wissenschaft von der Methode überhaupt, d. h. die Phänomenologie, die sich in ausgezeichneten Gestaltungen der reinen Subjektivität bewegt, aus der al­ lein eine universale Wissenschaftstheorie entspringen kann.46 Indem alle Einzel­ wissenschaften und philosophischen Disziplinen in der reinen Phänomenologie wurzeln, wird Philosophie als strenge Wissenschaft möglich.47 Hierin dokumen­ tiert sich die Identität von Phänomenologie und Philosophie überhaupt (da aus der eidetisch-deskriptiven Phänomenologie das universale System des Apriori entwickelt werden kann, das alle erdenklichen apriorischen Wissenschaften um­ spannt) .48 Nur das transzendentale Ego in seiner höchsten Ausprägung als 'absolutes Ur­ Ich' ist dazu in der Lage, auf sich selbst in der Weise zu reflektieren, daß es sich in dieser Reflexion selbst erkennt. Diese Selbsterkenntnis49 ist die notwendige und hinreichende Bedingung für die Selbstkonstitution des transzendentalen Ego, das damit keines ihm irgendwie übergeordneten und außerhalb seiner selbst befindlichen Erklärungsgefüges mehr bedarf. Diese autonome Erkenntnis des Ich durch sich selbst verschafft der auf der transzendentalen Subjektivität basierenden Philosophie einen selbstgegebenen Boden, der der Forderung nach Letztbegründung genügt, d. h. die Philosophie kann sich aus der selbstreflexiven transzendentalen Subjektivität heraus verifizieren, kann einen zweifelsfreien, ersten Anfang gewinnen, der die Voraussetzung sicherer, wissenschaftlicher Phi­ losophie darstellt. Die sich in sich selbst reflektierend und dazu konstituierend (wahrhaft) zirkelhaft bewegende transzendentale Subjektivität bildet damit die Basis aller echten Philosophie, wobei der Zirkel des transzendentalen Ego keine negativ zu bewertende Selbstregressivität ist, sondern der Boden für alle positive Selbsterkenntnis, die sich in ihrer Zweiseitigkeit als Subjekt und Objekt zugleich einholt. Indem das 'absolute Ur-Ich' sich für sich selbst auf reflexive Weise kon­ stituiert, stellt es die Philosophie auf einen so sicheren Boden, daß auch die in 44 45 46 47 48 49

Vgl. Husserl. Formale und transzendentale Logik, S. 279-280. Vgl. Husserl. Formale und transzendentale Logik, S. 295. Vgl. Husserl. Erste Philosophie II, S. 248-250. Vgl. Husserl. Aufsätze und Vorträge (191 1-1921), S. 69 und Ideen I, S. 1 33 . Vgl. Husserl. Ideen //, S. 3 1 5 und Ideen III, S. 1 39. Vgl. J. ]. Kockelmans. "Husserl and Kant on the Pure Ego", a.a.O., S. 273 .

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ihrem Wissenschaftscharakter von ihr abhängigen Einzeldisziplinen als erwiesen anzusehen sind.5° Das transzendentale Ego in seiner Ausprägung als 'absolutes Ur-Ich' ist damit die "Urquelle [ . . . ] für die einzig denkbare Lösung der tiefsten Erkenntnispro­ bleme [ . . . ) "5 1 • Zugleich ist es als das Verbleibende innerhalb der transzendenta­ len Reduktion und für sie der absolute Grund der Welt, auf deren Erkenntnis sowohl Philosophie als auch Einzelwissenschaften abzielen. Das 'absolute Ur-Ich' ist also auch die Erkenntnisgrundlage der fundamentalen Weltcharakteristika Raum, Zeit und Kausalität, wobei es sowohl innerhalb einer Dreiteilung der Sinnbezüge steht, d. h. innerhalb der Struktur von Ego - Noesis - Noema, als auch innerhalb einer weltexplizierenden Ordnung, die - als solche erkannt - die grundsätzliche philosophische Einsicht der Phänomenologie ausmacht, nämlich die in die Ordnung von ego - cogito - cogitatum. Das 'absolute Ur-Ich' kann demnach - besonders im Gegensatz zum 'psychologischen Ich', .das die Welt als weitgehend fraglos annahm, - als Bedingung der Möglichkeit dieser Welt for ein einzelnes Ich bestimmt werden. Die Welt wird zum Residuum für ein sie erst er­ klärendes Ich, das noch keine Bezüge zu anderen Egos aufweist, denn "zwischen Bewußtsein und Realität gähnt ein wahrer Abgrund des Sinnes"52. Das Bewußt­ sein wird als die Welt erst setzend offenbar, als diese Welt durch seine absolute Reinheit erst reflexiv ermöglichend; es muß die Strukturen von Raum, Zeit und Kausalität keineswegs für sich in Anspruch nehmen, sondern verleiht ihnen auf­ grund der transzendentalphänomenologischen Reflexion erst ihren wahren Sinn. Besonders deutlich wird dieser Zusammenhang zwischen 'absolutem Ur-Ich' und Welt an dem von Husserl vollzogenen Gedankenexperiment der Zerstörung der gesamten Außenwelt, wodurch sichtbar wird, daß das Sein des Bewußtseins durch eine Vernichtung der Dingwelt zwar modifiziert würde, ohne doch in sei­ ner Existenz grundlegend verwandelt zu werden, so daß kein reales Sein für das Bewußtsein selbst, das Husserl hierbei mit dem Erlebnisstrom identifiziert, er50 So vollendet sich durch die Selbstreflexion des transzendentalen Ego die Idealismuskon­ zeption Husserls. - Dies hebt auch S. S. Gehlhaar in Die frühpositivistische und phänomeno­ logische Revision, a.a.O., S. 239 hervor, wobei allerdings ihre Behauptung, Husserl reinige den (Kantischen) Idealismus von allen empirisch-realistischen Komponenten, so daß bei ihm der Idealismus in seiner denkbar reinsten Form vorliege, in Frage gestellt werden muß. Besonders bei den vorangehenden Analysen der Phänomenologie Husserls haben sich immer wieder em­ pirische Voraussetzungen (schon bei der Beispielwahl) gezeigt, die daran zweifeln lassen, daß die Hussecisehe Transzendentalphilosophie in dieser Hinsicht der Kantischen überlegen ist. Ganz im Gegenteil muß gerade bezüglich der empirischen Voraussetzungslosigkeit und der rei­ nen, immanent-egologischen Aufklärung der Transzendentalphilosophie das Kantische System als der Hussecisehen Phänomenologie überlegen eingestuft werden. 51 Husserl. Ideen I, S. 1 05 . 52 Ebd.

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forderlich ist.53 Konnte das 'psychologische Ich', das sich durch seine Vorausset­ zungen, seine Intentionen und nicht zuletzt durch die Art seines Nachweises vom 'absoluten Ur-Ich' als dem transzendentalen Ego in absoluter Reinheit deut­ lich unterscheidet, mit gewissem Recht auch als 'transzendentale Seele' bezeich­ net werden, so könnte - in Analogie dazu - dem 'absoluten Ur-Ich' der Name einer 'transzendentalen Welt in ihrer Singularität' gegeben werden; denn jeder direkte Versuch, diese dritte Form des transzendentalen Ego in den tatsächli­ chen, vorphänomenologischen Weltzusammenhang einzuordnen, muß aufgrund des Setzungscharakters dieses Ego hinsichtlich der Welt scheitern. 54 Dabei kann für das 'absolute Ur-Ich' eine Verbundenheit mit Methode und Gehalten der Phänomenologie festgestellt werden, was sich schon an der Not­ wendigkeit zeigt, es als einzelnes, überindividuelles und nicht-reales Ego zu den­ ken. Bereits das phänomenologisch reduzierte Ich kann nur als singuläres ge­ dacht werden; beim absolut reinen Ego jedoch wird jede von der Vereinzelung des Ich abweichende Vorstellung vollkommen unmöglich. Diese Vereinzelung bildet die unbedingt notwendige Voraussetzung für das Verständnis der phäno­ menologisch aufgewiesenen Apriorirät von Raum, Zeit und Kausalität; denn denkbar ist deren Apriorität nur für das singuläre Ego. Damit aber über den rein transzendentalen Bereich hinaus Kommunikation mit Anderen sinnvoll stattfin­ den kann, muß das Ich erst als absolut einzelnes die Erfahrung dieser Apriorirät gemacht haben. Denn wenn für jedes Ich das Bewußtsein dieser Apriorirät vor­ handen ist, entsteht ein für alle gültiger Erfahrungshorizont, der als Bezugspunkt jeder Kommunikation unerläßlich ist, was wiederum auf das transzendentale 'Wir-Ich' der Lebenswelt verweist. Das 'absolute Ur-Ich' steht also in einem besonders engen Zusammenhang mit dem transzendentalen Ich, das dadurch seine transzendentalphänomenolo­ gisch letzte Explikation ebenso erfährt wie der ihm entsprechende Weg in die Phänomenologie, d. h. der Cartesianische Weg. Durch die mit dem 'absoluten Ur-Ich' gegebene Selbstreflexion finden sowohl die drei Ich-Formen als auch die drei Wege ihre letzte Rechtfertigung. Der Bezug zum transzendentalen Ich, als dessen Selbstauslegung das transzendentale Ego anzusehen ist, findet damit seine abschließende Bestätigung, und das transzendentale Ich selbst wird in die Letzt­ begründung der Philosophie derart aufgenommen, daß es selbst als in seinem Recht erwiesen anzusehen ist. So wie das transzendentale 'Wir-Ich' der Lebens­ welt das lebensweltliche Ich mitsamt dem Weg über die Lebenswelt zu einer mundanen Phänomenologie bestätigt, und so wie das 'psychologische Ich' das­ selbe für das phänomenologische Ich und den Weg über die Psychologismuskri53 Vgl. Husserl. Ideen I, S. 1 04. 54 Vgl. E. Tugendhat. Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, a.a.O., S. 1 98.

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tik zu einer universalen phänomenologischen Philosophie leistet, ebenso macht das 'absolute Ur-Ich' das transzendentale Ich durchsichtig und damit auch den Cartesianischen Weg zu einer transzendentalen Phänomenologie. Dadurch wird ersichtlich, daß die drei Wege in die Phänomenologie, die drei Ich-Formen und die drei Formen des transzendentalen Ego eine unauflösbare Einheit bilden, an der sich die eine (phänomenologische) Subjektivität widerspiegelt. Durch diese gemeinsame Bestimmung der Subjektivität wird nochmals eine terminologische Abgrenzung der drei - hinsichtlich ihrer jeweiligen primären Gerichtetheit - verschiedenen Formen des transzendentalen Ego möglich, die je­ doch aufgrund der ihnen jeweils zukommenden unterschiedlichen Bereiche ein Ganzes bilden können, indem sie vereint Umfang, Grenzen und Inhalt der Tran­ szendentalphilosophie bestimmen. In ihrem Zusammenspiel bilden diese drei f;ormen die eine, alles aufklärende 'transzendentale Welt', die die Bedingung der Möglichkeit der phänomenologisch reduzierten, eidetischen Sphäre ist, aber auch die der Möglichkeit der natürlich-alltäglichen Welt. Fremd-, Selbst- und Dingerfahrung werden je mittels einer Form des transzendentalen Ego abgesi­ chert und durch die Methode der transzendentalphänomenologischen Reduk­ tion als apriorische Gegebenheiten nachgewiesen. Ebenso erhält der natürliche Weltglaube durch den gemeinsamen Rückgang auf alle drei Formen des tran­ szendentalen Ego mit den von diesen Formen jeweils fundierten Bereichen seine Rechtfertigung. Zusammenfassend kann über die drei Wege in die Phänomenologie mit den ihnen analogen Formen des transzendentalen Ego folgendes festgehalten werden: ( 1 ) Der erste Weg in die Phänomenologie vermag mittels der für ihn spezifi­ schen Form des transzendentalen Ego, des transzendentalen 'Wir-Ich', das auch als 'transzendentale Mitwelt' bezeichnet werden kann, die Konstitution des Wir zu erweisen. Damit einhergehend werden zwei - in ihrer Bedeutsamkeit abge­ stufte - Ziele erreicht: die Schaffung einer (allerdings in ihrer Ausführung fragli­ chen) Intersubjektivitätstheorie und die Grundlegung der Einzelwissenschaften. - (2) Der zweite Weg in die Phänomenologie ist mittels der ihm eigenen Form des transzendentalen Ego, des 'psychologischen Ich', das auch als 'transzenden­ tale Seele' bezeichnet werden kann, dazu in der Lage, die Konstitution des Ich bzw. des auf seine Innerlichkeit bewgenen Selbst zu erweisen. Damit verbunden werden wiederum zwei Ziele erreicht: der Aufweis einer (phänomenologischen) Anthropologie und die Begründung der Psychologie als strenger Wissenschaft. (3) Dem dritten Weg in die transzendentale Phänomenologie gelingt es mittels der ihm eigenen Form des transzendentalen Ego, des 'absoluten Ur-Ich', das auch als 'transzendentale Welt in ihrer Singularität' bezeichnet werden kann, die Gegebenheit einer Umwelt für das durch den zweiten Weg bereits gegebene Selbst phänomenologisch nachzuweisen. Damit verbunden werden ebenfalls

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zwei - wiederum in ihrer Wichtigkeit gestaffelte - Ziele erreicht: der phänome­ nologische Nachweis der apriorischen Formen von Raum, Zeit und Kausalität, die allen weltlichen Dingen zugrunde liegen, und der Nachweis der Wissen­ schaftlichkeit der Phänomenologie selbst aufgrund ihrer durch die transzenden­ tale Wendung erreichten Vollständigkeit. Aus den jeweils zuerst genannten Zielen - der Erklärung der lntersubjektivi­ tät, der Begründung der Anthropologie und der natürlichen Welt, d. h. der Na­ tur mit ihren dominierenden Formen von Raum, Zeit und Kausalität - läßt sich die Erreichung eines nochmals übergeordneten Zieles erkennen: der phänome­ nologisch zureichenden Explikation der Welt; in der Zusammennahme dieser Bereiche der Fremd-, Selbst- und Dingkonstitution kann das Zustandekommen der Welt selbst nachgewiesen werden. - Aus den jeweils zuletzt genannten Zie­ len - der Begründung der Einzelwissenschaften sowie der Psychologie und Phä­ nomenologie als strengen Wissenschaften - wird hingegen die Erreichung des Grundziels aller phänomenologischen Forschung sichtbar: die Begründung der Philosophie als strenger Wissenschaft.55 Die Philosophie als Wissenschaft gibt zugleich der Konstitutionsanalyse der Welt selbst ihre abschließende Rechtferti­ gung. - Die Notwendigkeit der transzendentalen Wendung der Phänomenologie ist ebenso deutlich geworden wie die der Aufspaltung des dieser Wendung zu­ grundeliegenden transzendentalen Ego in drei getrennte Bereiche, die vereinigt die Ganzheit des transzendentalen Ego, die Allheit der die Welt konstituieren­ den Phänomene und die Einheit der phänomenologisch zu begründenden Phi­ losophie ausmachen.

C. Vergleich zwischen Kant und Husserl beim 'transzendentalen Ego' Trotz mancher Zweifel, die bezüglich des Nachweises der Wissenschaftlichkeit der Philosophie und des Gelingens der phänomenologischen Erklärung der Welt bestehen könnten, sollen als Abschluß der Analyse der komplexen Struktur des transzendentalen Ego anband einer Parallele zwischen der Kamischen Transzen55 Hieraus lassen sich auch Schlußfolgerungen für das Verständnis des Philosophiebegriffs bei Husserl ziehen: Es zeigt sich, daß er zum einen die Begriffe Phänomenologie und Philoso­ phie (im Sinne der universalen Wissenschaft) identifiziert [vgl. K. Schuhmann. "Husserls Idee der Philosophie". In: Husserl-Studies 5, 1 988: S. 23 5-243] , daß er aber zum anderen einen zweistöckigen Begriff der Philosophie annimmt mit einer Stufung von Phänomenologie als Be­ wußtseinswissenschaft und Philosophie als universaler Wissenschaft mit einer Gliederung in Theorie, Axiologie und Praktik, die in ihrer Struktur auf die Kamische Philosophie verweist [vgl. ebd., S. 243-249] .

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dentalphilosophie und der Hussecisehen Phänomenologie noch einmal der An­ spruch der Phänomenologie, aber auch ihre mit der Erfüllung dieses Anspruchs einhergehende Bedeutung für die Begründung einer wissenschaftlichen Philoso­ phie aufgezeigt werden. Denn auf diese Weise wird sich zeigen, daß die Konzep­ tionen Husserls und Kants in ein gegenseitiges Ergänzungsverhältnis gebracht werden sollten, damit es zu einer in jeder Hinsicht stichhaltigen Theorie der (transzendentalen) Subjektivität kommen kann. Die hier zunächst zu analysie­ rende Nähe zum Kamischen Werk ergibt sich aus der Möglichkeit, Selbst-, Fremd- und Dingkonstitution als Syntheseleistungen des transzendentalen Ego zu verstehen. Daß ein derartiger Vergleich möglich ist, beweist nicht zuletzt die große Bedeutung, die der Begriff der Synthesis im Werk Husserls gewinnt auch und gerade in Verbindung mit seinen Reflexionen zur Zeit.56 Dabei wird Kants Lehre von der Synthesis von Husserl genetisch-konstruktiv gedeutet57; er verwendet das Kamische transzendental-regressive Verfahren zur Aufdeckung der Korrelation von Kausalität und Substantialität einerseits und der Synthesen der Identifizierung und der objektiven Zeitbestimmung andererseits58; er betont be­ sonders die 'subjektive Deduktion' Kants wie auch die Ausführungen über die drei Synthesen in der transzendentalen Deduktion nach A59. Schließlich nimmt der Begriff der Synthesis in der Krisis eine zentrale Stellung ein60, wobei es Hus­ serl durch seine Betonung gelingt, die Verbindung zu den Logischen Untersu­ chungen herzustellen, so daß an seinem Spätwerk Einheit und Zusammenhang seines Denkens sichtbar werden, indem es in seiner Kontinuität vor Augen ge­ stellt wird, die auch durch die Aufteilung in mehrere Wege zur transzendentalen Phänomenologie mit mehreren Ich- und Ego-Formen nicht aufgelöst wird. Der Begriff der Synthesis ist ein für die Philosophie Kants zentraler Terminus, der insbesondere innerhalb der für die Subjektivitätsbestimmung bedeutsamen transzendentalen Deduktion der Kritik der reinen Vernunft eine herausragende Position einnimmt. Nach Kant bedarf es der drei in der A-Deduktion dargeleg­ ten Synthesen, damit Erfahrung und Erkenntnis möglich werden61 : der Synthe56 Vgl. Husserl. Cartesianische Meditationen, S. 43-46.

57 Vgl. I. Kern. Husserl und Kant, a.a.O., S. 39. Vgl. ebd., S. 1 66. Vgl. ebd., S. 1 76. Vgl. Husserl. Krisis, S. 237. M. Wetze! zufolge besteht zwischen dem Synthesisbegriff bei Kant und demjenigen bei Husserl folgendes Verhältnis: Während Kant die Grundkonturen möglicher Gegenstandskon­ stitution in Gestalt der dreifachen Synthesis als des letzten und unübersteigbaren Horizonts al­ ler Gegenstandserkenntnis ausarbeitet, vertritt Husserl eine Lehre von der Mannigfaltigkeit von Synthesen. Husserls Synthesis von Synthesen kommt nach Wetze! einer Ausdifferenzie­ rung von Kants dreifacher Synthesis als dem jeweils gegebenen Horizont gleich. [Vgl. M. Wetzel. "Synthesis und Regelbefolgung. Kant im Diskurs mit Husserl, Wirtgenstein und Pia­ get". In: Philosophisches fahrbuch 1 0 1 , 1 994: S. 369 und S. 373.] 58 59 60 61

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sis der Apprehension, der Reproduktion und der Rekognition, denen - wie die Analyse der drei Stufen des 'transzendentalen Ego' bei Kant zeigte - die drei Zeitmodi zuzuordnen sind, nämlich der Apprehension die Gegenwart, der Re­ produktion die Vergangenheit und der Rekognition die Zukunft.62 - Dem Kan­ tischen Muster folgend besäße die Erklärung der Intersubjektivität durch das 'Wir-Ich' bei Husserl den Charakter der Apprehension, so daß ihr die Zeitform der Gegenwart entspräche, was um so plausibler erscheint, als es gerade die Be­ gegnung mit dem Anderen ist, die für das Ich das Bewußtsein der eigenen und fremden Präsenz nach sich zieht, die also für das Ich ständige Anwesenheit, d. i. Gegenwart, bedeutet. Die Konstitution des Selbst besäße in Entsprechung zur Kantischen Terminologie den Charakter der Reproduktion, so daß ihr die Zeit­ form der Vergangenheit entspräche; denn schon die lntentionalitätsstruktur setzt das Ich als gegeben voraus, das als quasi vergangen erst die Erkenntnis von Din­ gen, Raum und Zeit sowie Kausalität, aber auch Selbsterkenntnis ermöglicht.63 Schließlich besäße die reflexive Konstitution der Dingwelt, ausgehend vom 'ab­ soluten Ur-Ich', den Charakter der Rekognition, womit auch die Zeitform der Zukunft gegeben wäre; ein Blick auf die Handlungsstrukturen des empirischen Ich erklärt diesen Nexus, da alles Handeln auf zukünftige Ergebnisse abzielt.64 Auch bei diesem Parallelismus zwischen der Busserlsehen und der Kantischen Philosophie darf die Bedeutung der Gemeinsamkeit der Syntheseleistungen nicht außer acht gelassen werden. Denn so wie die drei Wege zusammen die Be­ gründung der Philosophie als Wissenschaft ermöglichen und die drei Leistungen des transzendentalen Ego den Weltzusammenhang aufweisen, so vereinigen die drei Synthesen die drei Zeitformen und ermöglichen damit die Zeitlichkeit selbst als Ausdruck des Ich oder sogar als dessen identisches Gegenstück.65 Der6 2 Vgl. M. Heidegger. Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Ver­ nunft, a.a.O., S. 326-386, besonders die Abschnitte b) bis d) . 6 3 Auf einen derartigen Zusammenhang zwischen der Synthesis bei Kant und der Zeitlich­ keit, der im Busserlsehen Werk sichtbar wird, verweist A. Gurwirsch in "Der Begriff des Be­ wußtseins bei Kant und Husserl", a.a.O., S. 4 1 2, wo er ausführt, daß Husserls Analysen des retentionalen Zeitbewußtseins wie eine detaillierte Entfaltung von Gedankengängen wirke, die Kant anband der Synthesis der Reproduktion in der Einbildung entwickelt. 64 Damit ist auch ein Kritikpunkt I. Kerns aus Husserl und Kant, a.a.O., S. 45 an Husserl widerlegt, nämlich der, daß Husserls Cartesianischer Weg keine Beziehung zum Kantischen Denken habe. 6 5 Vielleicht ist aus diesem letztgenannten Zusammenhang sogar eine Lösung des Intersub­ jektivitätsproblems bei Husserl zu gewinnen: Einmal ist durch diese Nähe zwischen Ich und Zeit eine Verschmelzung des Ich mit seiner Geschichtlichkeit angedeutet, die nicht in der Pri­ vatheit des Ich aufgeht, sondern die der intersubjektiven Konstitution bedarf. Zum anderen scheint sich durch die Bezüge der drei Formen des transzendentalen Ego zu den drei Formen der Zeitlichkeit folgende Reihe zu ergeben: Das transzendentale Ego expliziert die Zeitlichkeit, die wiederum Voraussetzung für die drei Zeitformen von Vergangenheit, Gegenwart und Zu­ kunft ist. Diese Zeitformen besitzen aber für jedes Ich gleiche Gültigkeit, sind also intersub-

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art erweist sich die Komplexität des transzendentalen Bereichs und es ergibt sich der Nachweis, daß Husserl und Kant bei ihrer Verbindung des transzendentalen Ego mit den Strukturen der Zeit einen wenigstens ähnlichen Weg beschreiten66, da die Zeitrelationen ein inneres System und die Einheit des Ego stiften. Sowohl Husserl als auch Kant unterscheiden drei Varianten des transzenden­ talen Ego, das bei beiden als Selbstauslegung des transzendentalen Ich verstan­ den werden kann. Daß ein Zusammenhang innerer Art zwischen dem 'appre­ hendierenden Ego' und dem 'Wir-Ich', dem 'reproduktiven Ego' und dem 'psy­ chologischen Ich' sowie dem 'rekognitiven Ego' und dem 'absoluten Ur-Ich' besteht, hat die ausgeführte Betrachtung der Stellung der Synthesis in beiden Ansätzen gezeigt. Dem aufgewiesenen Muster folgend kann eine Übereinstim­ mung in der Zuordnung der Zeitmodi zu den Ego-Stufen bzw. -Formen ange­ nommen werden. Da allerdings bei Husserl die Ausführung einer (transzenden­ talen) Deduktion fehlt, kann er die zeitlichen Bezüge nicht so offenkundig wie Kant den einzelnen Synthesen als Leistungen des Ego zuordnen, so daß bei ihm der Zeitzusammenhang nur indirekt erschlossen oder mit Hilfe empirischer Analogien - wie etwa beim 'absoluten Ur-Ich' - hergestellt werden kann. Das Fehlen der Deduktion bei Husserl erweist sich so als äußerst problematisch. Dennoch können bei den drei Ego-Ausprägungen Ähnlichkeiten zwischen Kant und Husserl festgestellt werden: Das 'apprehendierende Ego' bei Kant ist vor allem auf die Sinnlichkeit bewgen als dasjenige Vermögen, das durch diese Stufe des 'transzendentalen Ego' erklärt wird. Damit stellt es einen für alle Er­ kenntnis notwendigen Boden zur Verfügung, der mittels der transzendental-ego­ logischen Bedeutungssphäre endgültig abgesichert ist. Das 'Wir-Ich' der Lebens­ welt kann als ähnlich fundamentale Struktur für alle Welterfahrung verstanden werden, da es denjenigen Bereich der Erfahrung transzendental erfaßt, der vom Ich nicht selbst aktiv beeinflußt werden kann und ihm somit als notwendige Be­ dingung jeder Erkenntnis vorgegeben ist, nämlich die Fremderfahrung. Der Husserlsche Entwurf hebt die Kantische Sinnlichkeitsanalyse damit auf eine an­ dere, zwar nicht allgemeinere, aber ins alltäglich-natürliche Bewußtsein stärker eingebundene Ebene, die auf eine größere Eigenständigkeit seiner Ego-Auspräjektiv und können als solche auch Grundlage einer gelingenden Theorie der Intersubjektivität werden. (Daß sich an in einzelnen Zeitpunkten stattfindenden Urimpressionen Retentionen und Protentionen, die für jedes Ich verschieden sind, anknüpfen können, beruht auf der im vorausgehenden aufgezeigten Konzeption des transzendentalen Ego mit den ihm eigenen Be­ zügen zur Zeit.) Allerdings wäre eine derartige Intersubjektivitätstheorie immer noch keine transzendentale, sondern höchstens eine über-empirische Theorie, so daß sich der vortranszen­ dentale Charakter dieser Thematik nochmals bestätigt. 66 Dennoch finden sich bei Husserl und Kant auch Unterschiede hinsichtlich des Zusam­ menhangs der Synthesen des Bewußtseins und der Zeit, auf die im folgenden noch einzugehen sein wird. [Vgl. M. Merleau-Ponty. Phänomenologie der Wahrnehmung, a.a.O., S. 322.]

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gung verweist, obwohl auch bei ihm der Zusammenhang der Formen unterein­ ander von größter Bedeutung ist. Da Husserl jedoch weder eine dem Kamischen Schematismus vergleichbare Operation durchführt, noch einen Versuch unter­ nimmt, Lebenswelt und Denken in eine explizite Verbindung zu bringen, bleibt er mit seiner funktionalen Bestimmung des 'Wir-Ich' hinter Kant zurück, wo­ durch eine Differenz in den Funktionen entsteht: Während bei Kant durch das 'apprehendierende Ego' Raum, Zeit und Kausalität zugänglich werden, steht bei Husserl die Untersuchung der Intersubjektivität im Vordergrund, die aber (auch vom Kamischen Standpunkt aus betrachtet) kein echtes Problem der Transzen­ dentalphilosophie darstellt; daß der Andere eine dem eigenen Ich empirisch oder vortranszendental vergleichbare Struktur besitzt, wird als ebenso selbstverständ­ lich angenommen wie die Tatsache, daß er aufgrund dieser Struktur Einfluß auf das eigene Ich gewinnen bzw. mit ihm in ein Wechselverhältnis treten kann. Da aber auf transzendentaler Ebene dem Ich Individualität, Realität und eine empi­ risch feststellbare Persönlichkeit abgesprochen werden müssen, ist hier das Pro­ blem der Intersubjektivität nicht mehr als solches gegeben. Indem Kant aller­ dings das Problem der Intersubjektivität keiner transzendentalen Lösung zu­ führt, gelingt ihm analog dazu auch keine transzendentale Aufklärung der Lebenswelt, wenigstens nicht auf direkte Weise. So ist der Nachweis von Gehalt und Funktion des gesunden Menschenverstandes bei Kant nur ein indirektes Nebenprodukt der durch das 'apprehendierende Ego' gegebenen transzendenta­ len Absicherung des ersten Weges in die Transzendentalphilosophie, als dessen erste Stufe dieser Menschenverstand dargetan wurde. - Hieran zeigt sich gleich­ falls die positive Bedeutung, die die erste Ausprägung des transzendentalen Ego sowohl bei Kant als auch bei Husserl besitzt: In beiden Fällen erfahrt der jeweils erste Weg seine abschließende Rechtfertigung, so daß die natürlich-alltägliche Einstellung, die in beiden Konzeptionen bei diesem Weg ebenso zentral ist wie die Einführung der philosophischen Wissenschaftsahsicherung und der Beginn der Unterscheidung von formaler und transzendentaler Logik, als transzendental gesichert betrachtet werden kann. Schon bei dieser Ausprägung des transzenden­ talen Ego wird somit sichtbar, daß der Husserlsche Ansatz mit demjenigen Kants zur Deckung gebracht werden sollte, um ein in sich geschlossenes Ganzes zu er­ geben. Da der Ausführung bei Husserl einige formale und funktionale Defizite eignen, muß diese Verbindung so ausfallen, daß beim Entwurf Kants die Er­ weiterungen durch Husserl ergänzend hinzugedacht werden müssen, so daß das von ihm geschaffene Grundgerüst einer auf Strukturen der (transzendentalen) Subjektivität ruhenden Philosophie noch breitere, zusätzliche Absicherung ge­ winnt. In diese Richtung zielende, allgemeine Schlußfolgerungen können auch bei der Analyse der zweiten Form des transzendentalen Ego, des 'psychologischen

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Ich', und ihrem Vergleich mit dem 'reproduktiven Ego' bei Kant gewgen wer­ den. Während es Kant bei dieser zweiten Stufe des 'transzendentalen Ego' vor al­ lem um eine Erklärung des mit dem Verstand eng verbundenen Vermögens der Einbildungskraft geht, wodurch schließlich mittels Heranziehung bestimmter Aspekte der Grundsatzlehre sowohl die (selbstreflexive) Ich-Erkenntnis als auch das geordnete Denken insgesamt erwiesen werden, verfolgt Husserl mit dieser Ego-Form nochmals das Ziel einer endgültigen Abgrenzung zwischen Phänome­ nologie und Psychologie, in der auch die abschließende Begründung der Psycho­ logie als Wissenschaft eingeschlossen ist. Die funktionalen Mängel der Husserl­ schen Ausführung werden an dieser Gegenüberstellung jedoch deutlich, woraus allerdings die Möglichkeit resultiert, ein gewisses methodisches Spiegelverhältnis zur zweiten Ich-Form bei Kant, dem 'psychologischen' Ich, festzustellen, das sich schon äußerlich an der identischen Benennung dieser Formen dokumentiert. Das 'psychologische' Ich bei Kant ist weitgehend der Auseinandersetzung mit der rationalen Psychologie gewidmet, so daß es als weniger direkte Ich-Form als das parallele phänomenologische Ich bei Husserl gewertet werden konnte. Das 'psychologische Ich' bei Husserl als zweite Form des transzendentalen Ego stellt eine ebenfalls an den falschen Vorstellungen der Psychologie orientierte Ego­ Form dar, der es allerdings darüber hinausgehend noch gelingt, eine transzen­ dentalphänomenologische Theorie der 'transzendentalen Seele' zu entwickeln, womit sie den Standpunkt der rationalen Psychologie überwindet. Aufgrund des nicht immer unproblematischen Voraussetzungsreichtums des 'psychologischen Ich' bleibt diese Gestaltung der zweiten Form des transzendentalen Ego bei Hus­ serl, wenigstens teilweise, hinter der rein transzendentalphilosophischen Analyse des 'reproduktiven Ego' bei Kant zurück. Während Husserl also bei der Ich­ Form radikaler vorgeht als Kant, ist dessen Konzeption der gleichnamigen Ego­ Stufe komplexer als diejenige Husserls. Insbesondere darin, daß die Ausprägun­ gen des transzendentalen Ego sich auch beim zweiten Ego als eher locker gefügt erweisen, wodurch bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der Zusammengehörig­ keit derselben auch ihre relative Eigenständigkeit betont wird, ist ein erneuter Hinweis darauf gegeben, daß bei Husserl nicht nur Stufen, sondern unabhängige Ego-Form en vorliegen. Dennoch erweist sich die voraussetzungsbelastete Ana­ lyse des 'psychologischen Ich' bei Husserl wegen ihrer zum Teil mangelnden transzendentalen Selbständigkeit zugleich als problematisch. Weil nämlich das transzendentale Ego die Selbstbegründung von Subjektivität und Philosophie leisten soll und da diese Begründung gerade durch die zweite Form des Ego bei Husserl gewisse Einschränkungen, zumindest Modifikationen, erfährt, bietet die in sich komplexere transzendentale Struktur bei Kant gegenüber der Husserl­ schen Anlage Vorteile, so daß sie dieser vorzuziehen ist. Trotz dieses Ungleichge­ wichts bleibt festzuhalten, daß sowohl Kant als auch Husserl durch diese zweite

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Variante des transzendentalen Ego jeweils den zweiten Weg in die Transzenden­ talphilosophie weiter rechtfertigen, worin die philosophische Fundierung der dazu analogen zweiten Form des Ich inbegriffen ist. Seide erreichen dabei (auf verschiedenen Ebenen) die Grundlegung der Psychologie als Wissenschaft, in der ihre Abgrenzung zur Philosophie enthalten ist. Auch bei der dritten Form des transzendentalen Ego, dem 'absoluten Ur-Ich' bei Husserl, zeigen sich markante Unterschiede zu Kant, aber ebenfalls Gemein­ samkeiten. Bei Kant bestehen beim 'rekognitiven Ego' besondere Bezüge zum Vernunftvermögen, woran sich durch einen funktionalen, in der Amphibolie der Reflexionsbegriffe fundierten Übergang die Bestätigung der transzendentalen Logik ebenso ergibt wie die des ordnenden Denkens. In der Zusammennahme der verschiedenen Charakteristika und Funktionen der drei Stufen des 'transzen­ dentalen Ego' liegt bei Kant die transzendentale Selbstreflexion des Selbstbe­ wußtseins, durch die sich dasselbe als oberste und dadurch letzt- und erstgültige Stufe der Transzendentalphilosophie, d. h. aller Philosophie überhaupt, erweist. Neben der Begründung von Raum, Zeit und Kausalität ist es vor allem diese selbstbezügliche Eigenreflexion als Kritik der Kritik und Metaebene zum tran­ szendentalen Ich, die bei Husserl den Kerngehalt des 'absoluten Ur-Ich' aus­ macht. Dort, wo bei Kant als übergeordnetes Ergebnis die Selbstauslegung steht, findet sich bei Husserl als noch einmal aufgestuftes Ziel die Explikation der Welt. Dies verweist wiederum auf die bei allen Ego-Formen bei Husserl anzu­ treffende Eigenständigkeit, denn diese Ego-Formen sind radikaler ausgeführt als die Stufen bei Kant - obgleich dies funktionale und formale Defizite nach sich zieht -, so daß hierin Husserls eigentliches Überschreiten der Grenzen der Tran­ szendentalphilosophie Kants zu sehen ist. Mit der Durchführung der Analysen zum transzendentalen Ego gelingt es Husserl, die bei Kant gegebene selbst­ bezügliche Letztbegründung der transzendentalen Subjektivität und damit der transzendentalen Philosophie zu verstärken. Da der Husserlschen Phänomenolo­ gie jedoch dabei oftmals der sichere Boden fehlt, was sich etwa an den bereits mehrfach erwähnten weniger ausgearbeiteten Funktionsnachweisen des tran­ szendentalen Ego und am Fehlen einer Deduktion offenbart, bleibt diese phäno­ menologische Philosophie immer auf den streng durchgeführten Grundansatz Kants angewiesen, ohne den der transzendental-egologischen Philosophiebe­ gründung kein gesichertes Fundament zuteil werden kann. Wiederum kann deshalb die Husserlsche Phänomenologie erweiternd zur Kantischen Transzen­ dentalphilosophie herangezogen werden, ohne diese jedoch ersetzen zu können. Daß eine solche Verbindung überhaupt möglich ist, zeigt sich daran, daß bei der dritten Variante des transzendentalen Ego sowohl bei Kant als auch bei Husserl eine Erklärungsleistung hinsichtlich des dritten Weges in die Transzendental­ philosophie gegeben ist. Hinzu kommt ebenfalls bei beiden die abschließende

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Bestätigung der dritten Form des Ich, als deren Selbstauslegung das transzenden­ tale Ego begriffen wurde, durch welchen positiven Zirkel die Form der Subjekti­ vität insgesamt so abgeschlossen wird, daß auch die Philosophie und mit ihr alle Einzelwissenschaften als letztbegründet anzusehen sind. In drei wichtigen Hinsichten bleibt also die Husserlsche Konzeption hinter derjenigen Kants zurück: Husserl führt keine Deduktion durch, die aber sowohl hinsichtlich der Erklärung des Zustandekommens von Erkenntnis im allgemei­ nen als auch der besonderen Dreistufung des transzendentalen Ego von besonde­ rer Relevanz ist. Außerdem sind die von Husserl bei den drei Formen dieses Ego ausgearbeiteten Zeitbezüge allgemeiner als diejenigen bei Kant; schon deshalb, weil sie häufig der empirischen Bestätigung bedürfen. Schließlich ist der Nach­ weis der einzelnen Funktionen des transzendentalen Ego methodisch weniger ausgearbeitet als bei Kant; weder finden sich bei Husserl Übergänge von den je­ weiligen Charakteristika einer Ego-Form zu ihren Funktionen, noch lassen sich derartig immanente Funktionsbestimmungen im Hinblick auf die grundlegen­ den Denkstrukturen ausmachen wie bei Kam. Insgesamt geht Kam systemati­ scher vor als Husserl, womit er der von ihm selbst aufgestellten Bedingung für das Gelingen der Transzendentalphilosophie genügt. Wie wichtig die System­ form für eine solche Philosophie ist, hat sich deutlich bei der Behandlung der Kamischen Subjektivitätstheorie gezeigt; ein bloßes Aggregat von Formen, Funktionen und Inhalten kann niemals zu der einen grundlegenden Philosophie führen. Dennoch findet sich auch · eine Reihe von Gemeinsamkeiten zwischen der Kamischen und der Husserlschen Anlage des transzendentalen Ego: Bei beiden Konzeptionen dienen die drei Ausprägungen des transzendentalen Ego zur end­ gültigen Bestätigung der drei Wege in die Transzendentalphilosophie. Indem je­ der der drei Ego-Stufen bzw. -Formen die Aufgabe zukommt, einen jeweils kor­ respondierenden Weg zu begründen, werden diese Wege in ihrer Notwendigkeit bestätigt - und zwar sowohl in ihrem Einzelrecht als auch in ihrer Gesamtan­ lage, die es erforderlich macht, die drei Wege als Ganzheit zu betrachten, durch die die Philosophie insgesamt fundiert wird. Außerdem werden bei Kam und Husserl analog zu den drei Wegen auch die drei Ich-Formen durch das transzen­ dentale Ego verifiziert. An diesen beiden Funktionen des transzendentalen Ego in bezug auf die drei Wege in die Transzendentalphilosophie und auf die drei Ich-Formen zeigt sich erneut der bei Kant und Husserl gemeinsame Zusammen­ hang zwischen Transzendentalphilosophie und Subjektivität: Nur die transzen­ dentale Subjektivität kann sich selbst (reflexiv) begründen, wodurch auch die drei für sich selbst noch nicht reinen Wege und Ich-Formen abschließend ge­ rechtfertigt werden, d. h. nur die transzendentale Subjektivität kann den höch­ sten und allein sicheren Punkt aller Philosophie überhaupt bilden, der auch den

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Ausgangs- und Endpunkt für die Sicherung aller philosophischen und wissen­ schaftlichen Einzeldisziplinen abgibt, so daß die Transzendentalphilosophie ih­ rem Anspruch gerecht werden kann, Erste Philosophie, Erste Wissenschaft und Erstes Wissen zu sein. Husserl und Kam verfolgen so mit dem transzendentalen Ego dasselbe Ziel, obwohl sich dabei einige untergeordnete inhaltliche und for­ male Differenzen ergeben. An der Dreigliedrigkeit des transzendentalen Ego zeigen sich aber auch zwei Aspekte, unter denen Husserl derart über Kam hinausgeht, daß die Phänomeno­ logie tatsächlich ein Eigenrecht gegenüber der Kamischen Transzendentalphilo­ sophie für sich in Anspruch nehmen kann. Zum einen verwendet Husserl die drei Ausprägungen des transzendentalen Ego als eigene Formen, denen eine so­ weit wie möglich anzusetzende Eigenständigkeit zukommt, womit er den Kami­ schen Ansatz radikalisiert, ohne ihn jedoch aufzuheben, so daß es ihm gelingt, die bei Kam angelegte selbstbezügliche Struktur der transzendentalen Subjektivi­ tät zu erweitern. Zum anderen tritt bei Husserl die Dreiteilung des transzenden­ talen Ego noch deutlicher hervor als bei Kam, indem sich bei ihm direkte Text­ belege und eine eindeutigere dreigliedrige Namengebung als bei Kam finden. Was bei Kant aus den drei in der A-Deduktion gegebenen Syntheseleistungen des Ich abgeleitet werden muß, tritt bei Husserl schon nominal offen zutage. Auf diese Weise bietet die Husserlsche Phänomenologie einen direkteren Zugang zu den aufgewiesenen Einteilungen der egologischen Transzendentalphilosophie als das System Kants, aus dem diese Zusammenhänge vielfach erst abgeleitet und eigens aufgewiesen werden müssen.

D R I TTE R TE I L : S C H L U S S

I.

Abschließender allgemeiner Vergleich zwischen Kant und Husserl

Die Untersuchungen der Theorien der Subjektivität bei Kant und Husserl, die bei beiden eine große, wenn nicht die zentrale Rolle spielen, führten schon zu vielen Einzelvergleichen zwischen den verschiedenen Ebenen dieser Subjektivi­ tätsphilosophien. Hier soll nun der Versuch unternommen werden, das Verhält­ nis der Busserlsehen zur Kamischen Philosophie auf einer allgemeineren Ebene zu skizzieren; durch diese abschließende Bewertung der Stellung beider Systeme zueinander soll der Vergleich derselben seinen Endpunkt erreichen. Obwohl sich bei den Einzelvergleichen zwischen Kant und Husserl viele Ge­ meinsamkeiten ergaben, wurde doch sichtbar, daß Husserl Kant in vielerlei Hin­ sicht nicht gleichgeordnet ist. Zunächst ist eine derartige Unterlegenheit auffo r­ maler Ebene festzustellen, deren immense Bedeutung für die Kamische Philoso­ phie insgesamt hier nicht noch einmal betont werden muß. So ist zwar die Art der Durchführung der Subjektivitätstheorie bei Husserl stets durch die phäno­ menologische Methode geleitet; dennoch kann er kein vollständiges System der Transzendentalphilosophie aufstellen, weil er nicht alle Teile derselben gleichmä­ ßig und mit wenigstens annähernd gleichem Gewicht behandelt. Es finden sich jeweils nur mehr oder weniger weit ausgearbeitete Ansätze zu einer umfassenden phänomenologischen Ethik, Freiheitslehre oder Religionslehre. D. h. der theore­ tische Teil der Transzendentalphänomenologie findet keine Entsprechung in ei­ nem analogen praktischen Teil, wie dies bei Kant der Fall ist, bei dem sogar die praktischen Fragen in ihren Grundzügen schon durch die theoretische Philoso­ phie vorgezeichnet werden. Durch das Fehlen eines derartigen übergeordneten Aufbaus der Philosophie kann Husserl weder die einzelnen Teile seiner Lehre ei­ ner einheitlichen Form unterwerfen - jede Reduktionsstufe bildet einen neuen, andersgearteten Ansatz, der nicht einfach mit den bereits ausgearbeiteten Analy­ sen gekoppelt werden kann (was sich etwa bei der primordialen Reduktion zeigte) - noch der Phänomenologie im ganzen eine in jeder Hinsicht ausgearbei­ tete Systemform geben; dadurch eignet seiner Transzendentalphänomenologie etwas Unabgeschlossenes. Husserls Phänomenologie besitzt also - überspitzt for­ muliert - noch keine Systemform, sondern nur Ansätze dazu. Hierin unterschei­ det sie sich von Kants Transzendentalphilosophie, die geradezu als Systemphilo­ sophie gekennzeichnet werden kann. Da Kant außerdem nachgewiesen hat, daß

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Schluß

die absolut systematische Ausführung die grundlegende Bedingung aller echten Philosophie ist, indem sie dieser ihre gesamte Form gibt, muß festgestellt wer­ den, daß die Husserlsche Phänomenologie in dieser Hinsicht hinter der !g der Phänomenologie. Gütersloh, 1 963. Lask, Emil. Die Lehre vom Urteil. Tübingen, 1 9 1 2. Lask, Emil. Die Logik der Philosophie und die Kategorien/ehre. Eine Studie über den Herrschaftsbereich der logischen Form. Tübingen, ' 1 993. Lembeck, Karl-Heinz. Einfohrung in die phänomenologische Philosophie. Darmstadt, 1 994. Lenk, Hans. Kritik der logischen Konstanten. Philosophische Begründungen der Urteils­ formen vom Idealismus bis zur Gegenwart. Berlin, 1 968. Loock, Reinhard. Idee und Reflexion bei Kant. Reihe: Schriften zur Transzendental­ philosophie, Band 12. Hamburg, 1 998. Lorenz, Gisela Helene. Das Problem der Erklärung der Kategorien. Eine Untersuchung der formalen Strukturelemente in der 'Kritik der reinen Vernunft'. Berlin, New York, 1 986. Luckmann, Thomas. "Eine phänomenologische Begründung der Sozialwissenschaften?". In: Dieter Henrich (Hrsg.) . Kant oder Hege!? Ober Formen der Begründung in der Philosophie. Stuttgarter Hegel-Kongreß 1981. Stuttgart, 1 983: S. 506-5 1 8.

Uteraturverzeichnis

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