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German Pages 384 [385] Year 2020
Martina Roesner
Ich – Logos – Welt Der egologische Ansatz der Ersten Philosophie bei Meister Eckhart und Edmund Husserl
ALBER PHILOSOPHIE
https://doi.org/10.5771/9783495821633
B
Martina Roesner Ich – Logos – Welt
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495821633
A
https://doi.org/10.5771/9783495821633
Martina Roesner
Ich – Logos – Welt Der egologische Ansatz der Ersten Philosophie bei Meister Eckhart und Edmund Husserl
Verlag Karl Alber Freiburg / München
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Martina Roesner I – Logos – World The Egological Foundation of First Philosophy in Meister Eckhart and Edmund Husserl During the past few decades, phenomenology has become more and more openly involved with theological issues, the common presupposition being that philosophical theology can only be properly developed outside the methodological boundaries of Husserlian phenomenology. The present monograph, by contrast, intends to focus on a much less known topic, i. e. the line of reception that links Husserl’s egology to Meister Eckhart’s intellectual mysticism. Both the Dominican from Thuringia and the founding father of phenomenology consider the pure »I« as the place where the divine immediately breaks through as Logos actualizing itself in all our theoretical and practical relationships with the world and with other human beings.
The author: PD Dr. Martina Roesner M.A. studied philosophy in Rome, Paris, Tübingen, and Salzburg and Catholic theology in Vienna. The focus of her research is on the areas of phenomenology, medieval and contemporary philosophy, metaphysics, philosophical anthropology, and philosophy of religion. She directs an Austrian Science Fund (FWF) research project on Meister Eckhart and Edmund Husserl at the Department of Catholic Theology at the University of Vienna.
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Martina Roesner Ich – Logos – Welt Der egologische Ansatz der Ersten Philosophie bei Meister Eckhart und Edmund Husserl Die neuere Phänomenologie ist durch eine intensive Auseinandersetzung mit theologischen Fragestellungen gekennzeichnet. Dabei gilt jedoch als ausgemacht, dass ein angemessenes philosophisches Gottesdenken sich nur jenseits der von Husserl vorgegebenen methodischen Grenzen der Phänomenologie entwickeln könne. Das vorliegende Buch will demgegenüber die bislang noch kaum beachtete rezeptionsgeschichtliche Verbindung zwischen Husserls Egologie und Meister Eckharts Intellektmystik in den Vordergrund rücken: Sowohl für den Thüringer Dominikaner als auch für den Begründer der Phänomenologie ist das reine Ich der Ort, an dem das Göttliche unmittelbar durchbricht und als wirkender Logos allen theoretischen wie praktischen Bezügen zur Welt und zu den Mitmenschen zugrunde liegt.
Die Autorin: PD Dr. Martina Roesner M.A. studierte Philosophie in Rom, Paris, Tübingen und Salzburg sowie Katholische Theologie in Wien. Der Schwerpunkt ihrer Forschungsarbeit liegt auf dem Gebiet der Phänomenologie, der Mittelalterlichen und Neuzeitlichen Philosophie, der Metaphysik, der Philosophischen Anthropologie sowie der Religionsphilosophie. Sie ist Leiterin eines vom Austrian Science Fund (FWF) geförderten Forschungsprojekts zu Meister Eckhart und Edmund Husserl an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien.
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Gedruckt mit freundlicher Förderung des Austrian Science Fund (FWF) unter der Projektnummer P 31358 sowie der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien
© VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2020 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49169-0 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82163-3
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Inhaltsverzeichnis
Vorwort I. 1. 2. 3.
II. 1.
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Meister Eckhart und Husserl – ein unmöglicher Vergleich? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Husserls Sicht des Verhältnisses von Mystik und Phänomenologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methodologische Vorüberlegungen: Eine alternative Subjektphilosophie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Der existenzielle Vollzugscharakter der Ersten Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Die Egologien Meister Eckharts und Husserls im Unterschied zu den Subjektphilosophien Descartes’ und Kants . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Die Endlichkeit des cartesianischen Ich und seines Gottesbezugs . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Der Dualismus von Ich und Personalität bei Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Die anthropologische Frage als Problemhorizont von Eckharts und Husserls Denken . . . . . . . . . . .
15
Das Ich ist nicht von dieser Welt. Das über-natürliche Leben der Vernunft bei Meister Eckhart . . . . . . . . . . . . . Die Überwindung des wirkursächlichen Zusammenhangs im Verhältnis von Denken und Sein . . . . . . . . . . . 1.1 Die positive Deutung der Nichthaftigkeit des ›ens in anima‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Der Schöpfungsvorgang als »Verweltlichung« des absoluten Ich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15 22 33 35
41 42 48 53
59 59 59 69
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Inhaltsverzeichnis
2.
3.
4. III. 1.
1.3 Der Intellekt des Menschen in seinem wesenhaften Weltbezug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Eckharts »Armut im Geiste« als Methode der Epoché 1.5 Die Funktionseinheit von überweltlichem Ich und innerweltlicher Person . . . . . . . . . . . . . . . Der phänomenologische Charakter von Eckharts Erster Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Vom ›ens qua ens‹ zum ›(Ego) sum qui sum‹ : Meister Eckharts egologische Fundierung der ontotheologischen Metaphysikkonzeption . . . . . . . . 2.2 Der Baum mit der ichlichen Wurzel . . . . . . . . 2.3 Der Erscheinungscharakter des welthaften Seins . . 2.4 Eckharts Methode der »Wesensschau« und die zwei Formen der Vernunft . . . . . . . . . . . . . 2.5 Die urquellende Dynamik des vorichlichen Vernunftbewusstseins . . . . . . . . . . . . . . . . . Die ethisch-universalistische Dimension von Eckharts Erster Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Die monadologische Grundstruktur von Eckharts Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Die Wirkeinheit mit dem Absoluten als Möglichkeitsgrund ethischer Intersubjektivität . . . . . . . 3.3 Der zirkuläre Gang der betrachtenden Vernunft in Eckharts Maria-Martha-Predigt . . . . . . . . . . 3.4 Die ethische Rolle des Gelehrten in Eckharts philosophisch-theologischem Ansatz . . . . . . . . . . 3.5 Der inkarnatorische Charakter gesamtmenschheitlicher Vollendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das reine Ich als Möglichkeitsgrund von Welt, Personalität und Absolutem bei Edmund Husserl . . . . . . . . . . . Phänomenologie als egologisch fundierte Erste Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Die Grundlagenkrise der Wissenschaften als Katalysator für die Entwicklung von Husserls Phänomenologie . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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80 86 97 103
108 120 126 134 140 144 148 155 162 174 183 190
193 193
193
Inhaltsverzeichnis
2.
3.
1.2 Vor das Sein zurückgehen – die Epoché als radikale »Armut im Geiste« . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Husserls Wissenschaftsarchitektonik und die »Region« des reinen Bewusstseins . . . . . . . . . 1.4 Phänomenologie als egologische Selbstbesinnung . 1.5 »Ohne Mittel« – der intuitive Grundcharakter des phänomenologischen Bewusstseins . . . . . . . . . 1.5.1 Die Wesensschau als Verweis auf eine Sphäre reiner Intelligibilität . . . . . . . . . . . . . 1.5.2 Die Möglichkeit einer Selbstanschauung des reinen Ich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6 Die »Urzeugung« des inneren Zeitbewusstseins als Durchbruch zur absoluten Subjektivität . . . . . . Die egologisch-monadologische Vergemeinschaftung von Mensch und Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Jenseits von »Heinrich und Konrad« – die phänomenologische Verhältnisbestimmung von reinem Ich und innerweltlicher Person . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Die transzendentale Vergemeinschaftung in der Weltkonstitution . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Die transzendentale Ursprungseinheit im Ur-Ich 2.2 »Wäre ich nicht, so wäre auch Gott nicht« – das reine Ich als notwendiges Faktum . . . . . . . . . . . . 2.3 Husserls hermeneutische Metaphysik der Geschichte 2.4 Die ethisch-axiologische Dimension des reinen Ich als Grundbedingung wahrer Humanität . . . . . . 2.5 Transzendentale »Verblendungsgeschichte« und phänomenologische »Heilsgeschichte« . . . . . . . 2.6 Vernunft und Glückseligkeit: Leben als Teilhabe am absoluten Logos . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Besser wäre ein Lebemeister denn tausend Lesemeister« – die Stellung der Phänomenologie zwischen theoretischer Wissenschaft und lebensweltlicher Praxis . . . . . . . . 3.1 Der »Baum der Erkenntnis« als »Baum des Lebens« . 3.2 »Maria und Martha« – die Rehabilitierung der Lebenswelt als immanente Vollendung der Phänomenologie . . . . . . . . . . . . . . . . . .
201 208 217 223 226 231 235 246
248 248 259 264 270 277 287 293
303 303
308
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Inhaltsverzeichnis
3.3 Die phänomenologische Bedeutung der Offenbarungsreligion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Die bildlose Intentionalität der religiösen Einstellung IV. 1. 2. 3.
Resümee und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . Phänomenologie und/oder Metaphysik? . . . . . . . . Phänomenologische Enthüllung und/oder theologische Offenbarung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Phänomenologie und/oder Mystik? . . . . . . . . . .
316 327
. 333 . 333 . 340 . 344
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
349
Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
369
Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
373
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Vorwort
Die Philosophie ist ihrem eigenen Verständnis nach diejenige denkerische Grundhaltung, die sich im Gegensatz zu allen anderen wissenschaftlichen Disziplinen nicht bei »gesicherten Erkenntnissen« zur Ruhe setzen darf, sondern stets dazu aufgerufen ist, vermeintliche Selbstverständlichkeiten in Frage zu stellen und allzu griffig und bequem gewordene Gewissheiten zu erschüttern. Umso erstaunlicher ist es daher, dass sich mit Blick auf die Geschichte der Philosophie gewisse Narrative eingebürgert haben, deren Stichhaltigkeit auch von den Philosophen nur selten auf den Prüfstand gestellt wird. Am deutlichsten wird dies an der Rede von der »Alternativlosigkeit« des nachmetaphysischen Denkens erkennbar, die – ob eingestanden oder uneingestanden – auf den Schultern der von Heidegger betriebenen Dekonstruktion der abendländischen Philosophietradition steht. Dies ist insofern nicht unproblematisch, als dem heideggerschen Projekt eine stillschweigende Rekonstruktion der Geschichte des Denkens zugrunde liegt, die von ganz bestimmten interpretatorischen Vorentscheidungen, Auslassungen und Einseitigkeiten geprägt ist und daher nicht unbesehen übernommen werden sollte. Anders als Heideggers Deutung dies nahelegt, gibt es »die« Metaphysik ebenso wenig wie »die« Subjektphilosophie, so dass das nachmetaphysische Denken mit seinem Gestus des eindeutigen »Sich-Abstoßens von …« genau jene differenzvernichtende Universalisierung praktiziert, die es auf theoretischer Ebene der Metaphysik anlastet. Im Gegensatz zu seinen postmetaphysischen bzw. postmodernen Kritikern ist sich das traditionelle philosophische Denken keineswegs sicher gewesen, eine eindeutige Antwort auf die Frage nach dem Wesen der Metaphysik zu besitzen, sondern hat darum immer wieder neu gerungen. Dabei wurde gerade das von Heidegger so plakativ auf die Geschichte der abendländischen Philosophie insgesamt projizierte Modell der »Onto-theologie« schon früh einer metaphysikimmanenten Kritik unterzogen und zugunsten anderer philosophischer Grundansätze relativiert. 11 https://doi.org/10.5771/9783495821633
Vorwort
Das vorliegende Buch stellt mit Meister Eckhart und Edmund Husserl zwei Autoren in den Mittelpunkt, die sich einer Einordnung in die klassischen philosophiegeschichtlichen Schemata widersetzen. Ihre denkerischen Entwürfe sind insofern von besonderem Interesse für die heutige Zeit, als sie die Philosophie sehr wohl als begrifflichwissenschaftlich verfahrende Erkenntnisform verstehen, sie zugleich aber aus dem gelebten Selbstverhältnis des Menschen entspringen lassen, das von einer fundamentalen Nichtidentität durchzogen ist. Die auf dem Wege der Selbstbesinnung freigelegte grundlegende Differenz zwischen dem »Ich« in seiner inhaltslosen, eigenschaftslosen Performativität und der Person als Teil des innerweltlichen Erfahrungszusammenhangs lässt sich durch keinen übergeordneten Begriff entschärfen und verwehrt es somit auch der aus dieser Differenz entspringenden Philosophie, in der greifbaren Objektivität ihrer ausformulierten Thesen und Positionen aufzugehen. Da für Eckhart wie für Husserl nicht so sehr das Gedachte als solches, sondern der Ursprung des Denkens im Mittelpunkt steht, verlieren quasi-lokalisierende Begriffe wie »meta-physisch« oder »nach-metaphysisch« ihren Sinn bzw. können nur noch in abgeleiteter Weise auf die innerweltlich phänomenalisierten Produkte der Denktätigkeit angewendet werden, nicht aber auf das Denken selbst in seiner prinziphaften Ursprünglichkeit. Die Grundidee eines systematischen Vergleichs von Meister Eckhart und Husserl lag bereits der kumulativen Habilitationsschrift mit dem Titel Ich, Welt und Wissenschaft. Der egologische Ansatz der Ersten Philosophie bei Meister Eckhart und Edmund Husserl zugrunde, mit der sich die Verfasserin im Jahr 2017 an der Universität Oldenburg habilitiert hat. Die darin enthaltenen Aufsätze waren über einen längeren Zeitraum hinweg entstanden und spiegelten die verschiedenen Etappen des akademischen wie gedanklich-philosophischen Weges wider, den die Verfasserin in dieser Zeit durchlaufen hat. Aus diesem Grunde lag es nahe, das Thema noch einmal in systematischer Form aufzugreifen und in Form einer Monographie zu vertiefen. Bis auf Teile der Einleitung, die dem damaligen Textkonvolut vorangestellt war, stellt das vorliegende Buch somit einen gänzlich neuen Text dar. An den passenden Stellen wurde jedoch in den Fußnoten auf diese früheren Publikationen verwiesen, da gewisse Fragestellungen darin noch einmal ausführlicher abgehandelt werden, als es im Rahmen dieses Buches möglich war. An dieser Stelle möchte ich mich sehr herzlich bei Herrn Dr. 12 https://doi.org/10.5771/9783495821633
Vorwort
Thomas Vongehr von den Husserl-Archiven in Leuven bedanken, der mir mit Blick auf die in Husserls Privatbibliothek vorhandenen Bücher zur Mystik im Allgemeinen und Meister Eckhart im Besonderen wertvolle Informationen gegeben hat. Diese Monographie ist im Rahmen eines Forschungsprojekts zu Meister Eckhart und Husserl entstanden, das vom Austrian Science Fund (FWF) unter der Projektnummer P 31358 gefördert wird. Mein besonderer Dank gilt dem Dekan der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien, Prof. Dr. Johann Pock, sowie dem Leiter des Faches Kirchengeschichte, Prof. Dr. Thomas Prügl, die das Erscheinen dieses Buches durch einen großzügigen Zuschuss zu den Druckkosten gefördert haben. Wien, den 26. 06. 2020
Martina Roesner
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I. Einführung
1.
Meister Eckhart und Husserl – ein unmöglicher Vergleich?
Das Bestreben, Meister Eckhart und Edmund Husserl zum Gegenstand einer vergleichenden Untersuchung zu machen, stellt auf den ersten Blick ein ausgesprochen ungewöhnliches, um nicht zu sagen befremdliches Unterfangen dar. Ein solches Vorhaben sieht sich zum einen mit der unleugbaren Tatsache konfrontiert, dass Husserl in seinen veröffentlichten Schriften und Vorlesungen Eckhart kein einziges Mal ausdrücklich erwähnt oder gar zitiert. Darüber hinaus ist der von ihm praktizierte Stil des Philosophierens derart stark vom Gedanken wissenschaftlicher Methodenstrenge beherrscht, dass es zunächst absurd anmutet, ihn in irgendeiner Weise mit einem Vertreter der mittelalterlichen Mystik in Verbindung zu bringen. 1 Zum anderen ist es jedoch ein ebenso unleugbares wie bedenkenswertes Faktum, dass Meister Eckharts Grundgedanken am intensivsten von denjenigen Philosophen des 20. Jahrhunderts rezipiert wurden, die aus der Phänomenologie husserlscher Prägung hervorgegangen sind: allen voran Martin Heidegger, 2 aber auch französische Denker wie In Karl Alberts Buch Mystik und Philosophie werden als zeitgenössische Vertreter einer mystisch geprägten Philosophie lediglich Martin Buber, Martin Heidegger und Louis Lavelle angeführt, während Husserl mit keinem Wort erwähnt wird (vgl. K. Albert, Mystik und Philosophie, Sankt Augustin, Richarz Verlag, 1986, 183–214). Auch in Christopher D. Shaws kürzlich erschienener Eckhart-Monographie sucht man Husserl im Namensindex vergeblich. Er wird lediglich in einer Fußnote erwähnt, wo es um den Unterschied zwischen dem Phänomenologiebegriff seiner Ideen I und dem Phänomenologieverständnis Hans-Georg Gadamers geht (vgl. C. D. Shaw, On Mysticism, Ontology, and Modernity. A Theological Engagement with Secularity, Oxford / Bern u. a., P. Lang, 2019, 47 Anm. 113). Im vierten Kapitel dieses Buches, das die Überschrift »On Mysticism and Ontology in Post-Kantian Thought« trägt, findet Husserl jedoch keinerlei Erwähnung; vielmehr geht der Autor von Hegel gleich zu Heidegger über (vgl. ebd., 151–181, hier 162 f.). 2 Die gedankliche Nähe von Meister Eckhart und Martin Heidegger hat schon früh 1
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Einführung
Jacques Derrida 3 und Michel Henry. 4 Doch während diese rezeptionsgeschichtliche Linie bereits seit längerem intensiv erforscht wird, hat die mögliche Verbindung zwischen Eckhart und Husserl bislang noch kaum das Interesse der Spezialisten auf sich gezogen. Das 2016 erschienene Buch von Yves Meessen mit dem Titel Percée de l’Ego. Maître Eckhart en phénoménologie konzentriert sich fast gänzlich auf den Einfluss, den Eckharts Denken auf Heidegger, Derrida und Henry ausgeübt hat, und begnügt sich in Bezug auf Husserl mit wenigen skizzenhaften Andeutungen. 5 Lediglich der Aufsatz von Secondo Bongiovanni mit dem Titel »Phénoménologie et mystique spéculative. Edmond Husserl et Maître Eckhart: de la réduction au ›je‹ à la réduction du ›je‹« 6 macht den Versuch, die denkerischen Ansätze Meister Eckharts und Husserls zum Gegenstand eines direkten Vergleichs zu machen. Der Fokus liegt dabei auf einer Deutung der von die Aufmerksamkeit der Interpreten geweckt; vgl. etwa J. D. Caputo, The Mystical Element in Heidegger’s Thought, Athens (Ohio), Ohio University Press, 1978; ders., »Poverty of Thought. A Reflection on Heidegger and Eckhart«, Listening 12 (1977), 84–91; R. Baeza, Die Topologie des Ursprungs. Der Begriff der Gelassenheit bei Eckhart und Heidegger und seine Entfaltung in der abendländischen Mystik und im zeitgenössischen Denken, Berlin, LIT Verlag, 2009; G. Strumiello, »›Alte Wörter‹. Gelassenheit und Gottheit bei Heidegger und Eckhart«, Heidegger Studies 28 (2012), 191–211; M. Roesner, »Causa sive enarratio. Heideggers Kritik der neuzeitlichen Technik vor dem Hintergrund der Geschichte des metaphysischen Kausalitätsbegriffs«, Heidegger Studies 29 (2013), 27–49. 3 Vgl. I. Almond, »Doing Violence upon God: Nonviolent Alterities and Their Medieval Precedents«, Harvard Theological Review 92 (1999), 325–347; ders., »How Not to Deconstruct a Dominican: Derrida on God and ›Hypertruth‹«, Journal of the American Academy of Religion 68 (2000), 329–344; ders., »Negative Theology, Derrida, and the Critique of Presence: A Poststructuralist Reading of Meister Eckhart«, The Heythrop Journal 40 (1999), 150–165; D. Newheiser, »Eckhart, Derrida, and the Gift of Love«, The Heythrop Journal 56,6 (2012), 1010–1021. 4 L. Lavaud, »Naître hors du monde. Deux phénoménologies de la naissance: Maître Eckhart et Michel Henry«, Revue des sciences philosophiques et théologiques 93 (2009), 757–777; J. Reaidy, »La connaissance de l’absolu et l’essence de la vérité chez Maître Eckhart et Michel Henry«, Studia Phaenomenologica 9 (2009), 287–301; N. Depraz, »En quête d’une métaphysique phénoménologique: la référence henryenne à Maître Eckhart«, in: A. David / J. Greisch (Hg.), Michel Henry. L’épreuve de la vie [Actes du colloque de Cerisy 1996], Paris, Les Éditions du Cerf, 2001, 253–279. 5 Vgl. Y. Meessen, Percée de l’Ego. Maître Eckhart en phénoménologie, Paris, Éditions Hermann, 2016, 5–30. 368–371. 382–392. 6 Vgl. S. Bongiovanni, »Phénoménologie et mystique spéculative. Edmond Husserl et Maître Eckhart: de la réduction au ›je‹ à la réduction du ›je‹«, in: S. Bongiovanni et al. (Hg.), L’anneau immobile. Regards croisés sur Maître Eckhart, Paris, Éditions Facultés Jésuites de Paris, 2005, 17–58.
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Meister Eckhart und Husserl – ein unmöglicher Vergleich?
Eckhart propagierten »Gelassenheit« bzw. »Abgeschiedenheit« und der von Husserl entwickelten »phänomenologischen Epoché« als zwei sehr ähnlichen existenziellen Grundhaltungen, die vom philosophierenden Subjekt verlangen, sich nicht länger von der empirischen Wirklichkeit her zu definieren, sondern von allem Dinglichen zu lassen und sich mit Blick auf das eigene Selbstverständnis einer radikalen denkerischen Armut zu befleißigen. Die gedankliche Verbindungslinie zwischen Eckhart und Husserl hat in der Forschung wohl nicht zuletzt deshalb so wenig Beachtung gefunden, weil die nachfolgenden phänomenologischen Rezeptionsansätze den Thüringer Dominikaner vornehmlich als Gewährsmann für gewisse philosophisch-theologische Grundideen betrachtet haben, die typischerweise dem nachmetaphysischen, postmodernen Denken zugerechnet werden. Dazu zählen vor allem die Kritik an einem ontotheologischen Metaphysikparadigma, das Bewusstsein für die Grenzen der logisch-kategorialen Sprache mitsamt der sich daraus ergebenden Betonung einer negativen Theologie sowie schließlich ein Modell von Subjektivität, das seinen einstigen transzendentalen Machtansprüchen entsagt hat und ganz vom Gedanken der Passivität, der Selbstzurücknahme und der Absage an eine rational begründete und willentlich durchsetzbare Beherrschung der Wirklichkeit geprägt ist. 7 Meister Eckhart bietet sich als Inspirationsquelle für ein derartiges »nachmetaphysisches« Denken insofern an, als er in der Tat in gewissen zentralen Punkten andere Positionen vertritt als die meisten Scholastiker seiner Zeit. Diese Abweichungen betreffen vor allem das Verhältnis Gottes zur Schöpfung, das Wesen des Menschen sowie die Art und Weise, in der die Gemeinschaft zwischen Mensch und Gott verwirklicht werden soll. Darüber hinaus wirken Eckharts Lehre von der »Gelassenheit«, die vom Menschen verlangt, seinen individuellen Eigenwillen aufzugeben, wie auch seine Auffassung, dass Gott eher »During the 20th century, however, interest in Eckhart broadened and diversified. Eckhart has been discussed as […] the apostle of freedom and ›letting be‹ ; postmodern transgressive deconstructionist; postmetaphysical theologian […]. Twentieth-century philosophers of very different outlooks have been attracted to Eckhart, including existentialists (Karl Jaspers), phenomenologists (Martin Heidegger), Marxists (Ernst Bloch), and postmodern theologians (John D. Caputo, Michel Henry), among many others (e. g. Josiah Royce)« (D. Moran, »Meister Eckhart in 20th-Century Philosophy«, in: J. M. Hackett [Hg.], A Companion to Meister Eckhart, Leiden / Boston, Brill, 2013, 669–698, hier 671–673 [Hervorhebung im Original]; vgl. auch ebd., 687– 694 für eine ausführlichere Analyse von Heideggers Eckhart-Rezeption).
7
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Einführung
als Nichts denn als Sein verstanden werden muss, wie eine Vorwegnahme der Kritik, die Heidegger im 20. Jahrhundert an die Adresse der neuzeitlichen Subjektphilosophie und der ihr zugrunde liegenden Metaphysik gerichtet hat. 8 Damit ist zwar noch keineswegs darüber entschieden, ob Eckharts philosophisch-theologischer Entwurf auch in allen übrigen Punkten mit dem zeitgenössischen Verständnis eines postmodernen Denkens übereinstimmt, doch ist seine Kritik am klassischen onto-theologischen Denkansatz den meisten heutigen Vertretern eines nachmetaphysischen Denkens Grund genug, ihn als ihren Verbündeten zu betrachten. Es liegt auf der Hand, dass ein solcherart postmodern gedeuteter Eckhart mit Husserls Phänomenologie schlechterdings nicht auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen ist; gilt diese doch als Bewusstseinsphilosophie par excellence, die der Vorstellung eines reinen, transzendentalen Ich nicht nur nicht abgeschworen hat, sondern sie vielmehr gegen die in der damaligen Philosophie vorherrschenden Strömungen des Psychologismus, Vitalismus und Vernunftskeptizismus vehement verteidigt. Allerdings ist damit noch nicht ausgemacht, ob eine solche nachmetaphysische Eckhart-Deutung und die daraus folgende angebliche Unvereinbarkeit mit dem husserlschen Subjekt- und Wirklichkeitsverständnis zwingend sind. In dem Maße, wie die Forschung im Laufe der Zeit Eckharts ausschließliche Charakterisierung als Mystiker revidieren und das hohe philosophisch-intellekttheoretische Niveau seines Denkens anerkennen musste, 9 stellt sich auch die Frage nach seiner möglichen inneren Verwandtschaft mit Husserls Phänomenologie auf neue Weise. Dies gilt umso mehr, als auch Husserls Philosophieansatz trotz seiner starken transzendentalphänomenologischen Prägung nicht einfach eine VariVgl. M. Heidegger, Hegels Phänomenologie des Geistes (GA 32), Frankfurt a. M., Klostermann, 31997, 183; ders., »Gelassenheit«, in: ders., Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges (GA 16), Frankfurt a. M., Klostermann, 2000, 517–529; ders., »Ein Gespräch selbdritt auf einem Feldweg«, in: ders., Feldweggespräche (GA 77), Frankfurt a. M., Klostermann, 1995, 3–159, hier 105–159. 9 In zahlreichen philosophiegeschichtlichen bzw. kirchengeschichtlichen Abhandlungen des 19. Jahrhunderts wurde – zumeist vor dem Hintergrund einer konfessionell geprägten Kulturkampfpolemik – Eckharts volkssprachlich artikulierte Mystik in plakativer Weise als Gegenentwurf zur »rationalistischen«, lateinischsprachigen Scholastik seiner Zeit stilisiert. Dass dieser vermeintliche Gegensatz von Mystik und Scholastik mit Blick auf Eckhart gänzlich unhaltbar ist, wurde erst nach der Wiederentdeckung seiner lateinischen Schriften deutlich. Vgl. dazu I. Degenhardt, Studien zum Wandel des Eckhartbildes, Leiden, Brill, 1967. 8
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Meister Eckhart und Husserl – ein unmöglicher Vergleich?
ante der damals verbreiteten Subjektphilosophien darstellt, sondern mit Blick auf das Verständnis von Bewusstsein, Ich und Wirklichkeit in wesentlichen Punkten andere Wege einschlägt. Als die von Husserl begründete Phänomenologie auf der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert die akademische Bühne betritt, ist das philosophische Denken zu weiten Teilen von einer vornehmlich wissenschaftstheoretisch ausgerichteten Transzendentalphilosophie neukantianischer Prägung einerseits und von einer philologisch-historisch orientierten Auseinandersetzung mit der philosophischen Tradition andererseits geprägt. Angesichts der Tatsache, dass Husserl zunächst ein mathematisch-naturwissenschaftliches Studium absolviert hatte und erst über logisch-mathematische Grundlagenfragen zu einer vertieften Auseinandersetzung mit der Philosophie gekommen war, nimmt es nicht wunder, dass er die Phänomenologie in bewusster Abkehr von aller philosophischen Doxographie als »methodische Arbeitsphilosophie« 10 konzipiert. Die berühmte phänomenologische Maxime »zu den Sachen selbst« 11 besagt dabei, dass philosophische Fragen nicht unter Verweis auf bereits bestehende Lehrmeinungen, Denkansätze und Systeme beantwortet werden können, sondern eine rein inhaltliche Arbeit an den betreffenden Phänomenen selbst erfordern. 12 Dieses Methodenprinzip größtmöglicher Unvoreingenommenheit zielt dabei nicht nur auf die möglichen Vorurteile, Einseitigkeiten und Vormeinungen ab, die sich aus der unkritischen Übernahme philosophiehistorischer Positionen ergeben, sondern enthält auch ein Verdikt gegen den systematisch gefassten Begriff des Vernunftbewusstseins, wie er sich innerhalb der neukantianisch geprägten Transzendentalphilosophie der Marburger Schule entwickelt hat. Diese begreift den Erkenntnisprozess als eine asymptotische Rekonstruktion des erfahrungsmäßig Gegebenen durch die kategorialen Vgl. E. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (Hua VI), Den Haag, Nijhoff, 1976, 104. 11 E. Husserl, Logische Untersuchungen. Zweiter Band, Erster Teil: Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis (im Folgenden abgekürzt mit LU II/ 1; Hua XIX/1), Den Haag / Boston / Lancaster, Nijhoff, 1984, 10. 12 Nathalie Depraz sieht in dieser Abkehr von aller philosophiehistorischen Verankerung den Grund dafür, dass die Phänomenologie von zahlreichen Vertretern der damaligen Universitätsphilosophie geradezu als denkerische »Häresie« wahrgenommen wurde. Vgl. N. Depraz, »Edmund Husserl. Adversus haereses mystikes?«, Laval théologique et philosophique 50 (1994), 327–347, hier 328. 10
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Einführung
Verstandesformen, so dass das rezeptive Moment der Anschauung letztlich wegfällt und alle Gegenständlichkeit als Ergebnis einer produktiven Setzung durch das Denken gedeutet werden kann. 13 Die Auffassung, dass Rationalität als solche einer vermittelnden Rekonstruktion bedürfe, die sich am Schema der mathematischen Infinitesimalmethode orientiert, 14 ist in Husserls Augen bereits eine in ihrer philosophischen Stichhaltigkeit unausgewiesene Vorannahme, die den Vernunftbegriff einem einzelwissenschaftlichen Methodenideal unterordnet und ihn damit auf unzulässige Weise verengt. Demgegenüber betont Husserl, dass alle Verstandesurteile und sonstigen kategorialen Akte letztlich in einer ursprünglicheren Bewusstseinshaltung wurzeln, die in der vorbegrifflichen Hinnahme der phänomenalen Inhalte in ihrer originären Selbstgegebenheit besteht. 15 Ebendiese Betonung der unvermittelten Hinnahme des Gegebenen durch das Bewusstsein hat Husserl jedoch von Seiten Hermann Cohens den Vorwurf eingetragen, er huldige einer »neuen Scholastik«, 16 die in die Aus diesem Grunde sieht Hermann Cohen, das Schulhaupt des Marburger Neukantianismus, eine Schwäche Kants darin, dass er das Denken auf eine ihm »gegebene«, außerhalb seiner selbst gelegene Erfahrung verwiesen sein lässt (vgl. H. Cohen, Logik der reinen Erkenntnis, Berlin, B. Cassirer Verlag, 21914, 12. 17). Demgegenüber ist es sein Bestreben, die vermeintliche Heterogenität der beiden Erkenntnisquellen (d. h. Anschauung und Denken) zum Verschwinden zu bringen und durch einen Ursprungsmonismus zu ersetzen: »Wir fangen mit dem Denken an. Das Denken darf keinen Ursprung außerhalb seiner selbst haben. […] Denken ist Denken des Ursprungs. Dem Ursprung darf nichts gegeben sein« (ebd., 13. 36; Hervorhebungen im Original). 14 Vgl. H. Cohen, Das Prinzip der Infinitesimal-Methode und seine Geschichte. Ein Kapitel zur Grundlegung der Erkenntniskritik, Berlin, Dümmler, 1883, 145 f. 15 »Am Prinzip aller Prinzipien: daß jede originär gebende Anschauung eine Rechtsquelle der Erkenntnis sei, daß alles, was sich uns in der ›Intuition‹ originär, (sozusagen in seiner leibhaften Wirklichkeit) darbietet, einfach hinzunehmen sei, als was es sich gibt, aber auch nur in den Schranken, in denen es sich da gibt, kann uns keine erdenkliche Theorie irre machen. Sehen wir doch ein, daß eine jede ihre Wahrheit selbst wieder nur aus den originären Gegebenheiten schöpfen kann« (E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie, § 24 [im Folgenden abgekürzt als Ideen I; Hua III], Den Haag, Nijhoff, 1950, 52; Hervorhebungen im Original). 16 »Es wäre verkehrt, wenn wir den Versuch unternehmen wollten, den Aufbau unserer Logik zu beginnen mit einer Kritik der neuen Scholastik, welche sich Phänomenologie benennt. […] Jene Phänomenologie ist in der Tat, wie sie sich jetzt selbst auch proklamiert, günstigstenfalls Ontologie, als erster Teil der Metaphysik, wenn sie durchaus nicht Psychologie sein will und soll. Es kommt hierbei nicht darauf an, ob der Probleminhalt sich mit dem alten der Ontologie mehr oder weniger deckt, sondern entscheidend ist hier der Gesichtspunkt: daß dem Inhalt der Logik ein Vorinhalt 13
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Meister Eckhart und Husserl – ein unmöglicher Vergleich?
vorkritische Annahme zurückfalle, der menschliche Verstand müsse sich nach einer von ihm unabhängigen Wirklichkeit richten. Husserl selbst hat diesen Vorwurf eines Rückfalls in einen vorkritischen Objektivismus zu Recht energisch bestritten, da gerade vom phänomenologischen Standpunkt aus die Vorstellung eines schlechthin bewusstseinsunabhängigen »Dinges an sich« widersinnig ist. 17 Das phänomenologische Verständnis von »Gegebenheit« suggeriert ja keineswegs, dass es ein von aller Subjektbezogenheit freies Sein jenseits aller Erscheinung gäbe, sondern besagt lediglich, dass der Urmodus der untrennbaren Korrelation zwischen Bewusstsein und phänomenaler Wirklichkeit keinen kategorial-rekonstruktiven, sondern einen vorbegrifflich-intuitiven Charakter besitzt. In phänomenologischem Kontext ist die »Intuition« bzw. »Anschauung« dabei nicht nur auf die Sphäre der sinnlichen Erfahrung beschränkt, sondern kommt ebenso auch auf der Ebene der Vernunft zum Tragen, wenn es um die Einsicht in adäquat gegebene Wesenszusammenhänge und theoretische Evidenzen kategorialer Natur geht. 18 Die von Cohen behauptete Nähe der Husserlschen Phänomenologie zum mittelalterlichen Denken ist dennoch nicht gänzlich unzutreffend, wenn man statt der Scholastik eine andere geistesgeschichtliche Strömung einsetzt, nämlich die Mystik. Dies mag insofern erstaunen, als Husserl selbst immer wieder den streng wissenschaftlichen Charakter der Phänomenologie betont hat, 19 während zugemutet wird. […] Wenn diese Auffassung richtig wäre, würde diese Neu-Scholastik eine weit größere Gefahr für den Betrieb der Logik bilden, als jemals von der Psychologie gedroht hat« (H. Cohen, Logik der reinen Erkenntnis, 56; Hervorhebungen im Original). 17 »Also wird es klar, daß trotz aller in ihrem Sinne sicherlich wohlbegründeten Rede von einem realen Sein des menschlichen Ich und seiner Bewußtseinserlebnisse in der Welt und von allem, was irgend dazu gehört in Hinsicht auf ›psychophysische‹ Zusammenhänge – daß trotz alledem Bewußtsein, in ›Reinheit‹ betrachtet, als ein für sich geschlossener Seinszusammenhang zu gelten hat, als ein Zusammenhang absoluten Seins, in den nichts hineindringen und aus dem nichts entschlüpfen kann […]. Andererseits ist die ganze räumlich-zeitliche Welt […] ihrem Sinne nach bloßes intentionales Sein […]. Es ist ein Sein, das das Bewußtsein in seinen Erfahrungen setzt, das […] darüber hinaus aber ein Nichts ist, oder genauer, für das ein Darüberhinaus ein widersinniger Gedanke ist« (E. Husserl, Ideen I, § 49 [Hua III], 117; Hervorhebungen im Original). 18 Vgl. E. Husserl, Logische Untersuchungen. Zweiter Band, Zweiter Teil: Elemente einer phänomenologischen Aufklärung der Erkenntnis (im Folgenden LU II/2; Hua XIX/2), Dordrecht / Boston / Lancaster, 1984, 541. 19 Vgl. E. Husserl, »Philosophie als strenge Wissenschaft«, in: ders., Aufsätze und
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Einführung
die Mystik nicht selten im Ruf steht, einen emotional aufgeladenen religiösen Subjektivismus und Irrationalismus zu befördern. Allerdings relativiert sich die vermeintliche Kluft zwischen diesen beiden Ansätzen beträchtlich, wenn man bedenkt, dass zum einen Husserls Begriff einer »wissenschaftlichen Philosophie« keineswegs szientistisch verengt ist und zum anderen nicht jede Mystik die Form einer affektiv-emotional gefärbten Vernunftskepsis annimmt. Darüber hinaus gibt es konkrete Indizien dafür, dass sich Husserl in positiver Weise mit gewissen Strömungen der mystischen Tradition auseinandergesetzt hat. Allerdings lässt sich ebenso eindeutig nachweisen, dass er nicht jede Form von Mystik als philosophiekompatibel betrachtet, sondern all jene Denkrichtungen scharf kritisiert, die den Begriff des »Mystischen« als Deckmantel für irrationalistische Anwandlungen verwenden. Insofern ist Husserls eigene Verwendung des Terminus »Mystik« ambivalent, je nachdem, um welche Ausprägung dieser Geistesrichtung es sich jeweils handelt. Daher gilt es zunächst zu klären, in welchem Sinne die Mystik bei Husserl positiv konnotiert ist und wie groß seine Kenntnis der mystischen Tradition tatsächlich war.
2.
Husserls Sicht des Verhältnisses von Mystik und Phänomenologie
Trotz – oder vielleicht gerade wegen – der durch und durch sachlichsystematischen Ausrichtung seines Philosophierens zeigt Husserl keinerlei Berührungsängste gegenüber all jenen Autoren oder geistesgeschichtlichen Strömungen, die in den gängigen philosophiehistorischen Narrativen gemeinhin als veraltet, überwunden oder nicht philosophierelevant dargestellt werden. Stattdessen geht er von einer idealen Gleichzeitigkeit des Vernunftdenkens aus, die es ihm erlaubt, alle großen Denker der Vergangenheit gleichermaßen als ernstzunehmende Gesprächspartner in der Auseinandersetzung um konkrete Sachfragen zu betrachten. In seinem Aufsatz »Philosophie als strenge Wissenschaft« aus dem Jahr 1910/11 schreibt Husserl: »Dem wahrhaft Vorurteilslosen ist es gleichgültig, ob eine Feststellung von Kant oder Thomas von Aquino, ob sie von Darwin oder von AristoteVorträge [1911–1921] (Hua XXV), Dordrecht / Boston / Lancaster, Nijhoff, 1986, 3– 62.
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Husserls Sicht des Verhältnisses von Mystik und Phänomenologie
les, von Helmholtz oder Paracelsus herstamme«. 20 Der Umstand, dass Husserl in diesem Zusammenhang ausgerechnet Thomas von Aquin und Paracelsus erwähnt, ist ausgesprochen bemerkenswert; gilt doch ersterer zur damaligen Zeit als der maßgebliche Referenzautor der Neuscholastik, die vor allem an kirchlichen Lehranstalten sowie an den philosophischen Lehrstühlen Katholisch-Theologischer Fakultäten gepflegt wurde, auf die übrige Universitätsphilosophie aber so gut wie keinen Einfluss hatte. 21 Noch provokanter erscheint die Erwähnung von Paracelsus, wenn man bedenkt, dass dieser für eine Form der Heilkunst steht, die aufgrund ihrer untrennbaren Verflechtung mit philosophischen, astrologischen und alchimistischen Gedankenmotiven auf einem ganz anderen Fundament ruht als die evidenzbasierte, naturwissenschaftlich geprägte Medizin des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. 22 Und dennoch ist weder der eine noch der andere Umstand für Husserl ein grundsätzliches Hindernis dafür, die von diesen beiden Denkern geäußerten Ansichten ernstzunehmen und auf ihren möglichen Wahrheitsgehalt und ihre philosophische Relevanz hin zu prüfen. Angesichts einer derart großen geistesgeschichtlichen Unvoreingenommenheit ist es nicht verwunderlich, dass Husserl auch der Mystik grundsätzlich offen und vorurteilsfrei gegenübersteht und sie keineswegs automatisch als den Antipoden philosophischer Vernunft betrachtet. In seiner Göttinger Vorlesung Die Idee der Phänomenologie aus dem Jahr 1907 thematisiert er an einer Stelle ausdrücklich
E. Husserl, »Philosophie als strenge Wissenschaft«, in: ders., Aufsätze und Vorträge [1911–1921] (Hua XXV), 61. 21 Vgl. P. Walter, »Die neuscholastische Philosophie im deutschsprachigen Raum«, in: E. Coreth / W. M. Neidl / G. Pfligersdorfer (Hg.), Christliche Philosophie (3 Bd.), Graz / Wien / Köln, Styria, 1988, Bd. II, 131–194, hier 175 f. 185 f. 22 In der Zeit der Romantik fand Paracelsus’ ganzheitlicher, von einer Korrispondenz zwischen Mikro- und Makrokosmos ausgehender Ansatz noch Anklang bei zahlreichen Philosophen und Naturforschern, doch wurde er im Laufe des 19. Jahrhunderts auch von wohlmeinenden Rezipienten eher als Produkt einer vergangenen Epoche angesehen denn als direkter Beitrag zur modernen Medizin. Vgl. D. von Engelhardt, »Paracelsus im Urteil der Naturforschung und Medizin der Romantik«, NTM – Zeitschrift für Geschichte der Naturwissenschaften 2 (1994), 97–116; [Anonymus], Die Charlatanerie und ihre Parteigänger. Eine naturwissenschaftlich-kommerzielle Studie von Theofrastus Bombastus Paracelsus dem Jüngeren, Wien, Rudolf Lechner, 1858; U. Frietsch, Häresie und Wissenschaft. Eine Genealogie der paracelsischen Alchemie, München, W. Fink, 2013, 380–399. 20
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Einführung
die Nähe der mystischen Grundhaltung zu seinem eigenen phänomenologischen Ansatz. Er schreibt: Indessen, keine Neigung ist für die schauende Erkenntnis der Ursprünge, der absoluten Gegebenheiten gefährlicher als die, sich zu viel Gedanken zu machen und aus diesen denkenden Reflexionen vermeintliche Selbstverständlichkeiten zu schöpfen. […] Schauende Erkenntnis ist die Vernunft, die sich vorsetzt, den Verstand eben zur Vernunft zu bringen. Der Verstand darf nicht dazwischenreden und seine uneingelösten Blankoscheine zwischen die eingelösten schmuggeln […]. Also möglichst wenig Verstand, aber möglichst reine Intuition; (intuitio sine comprehensione); wir werden in der Tat an die Reden der Mystiker erinnert, wenn sie das intellektuelle Schauen, das kein Verstandeswissen sei, beschreiben. Und die ganze Kunst besteht darin, rein dem schauenden Auge das Wort zu lassen und das mit dem Schauen verflochtene transzendierende Meinen, das vermeintliche Mitgegebenhaben, das Mitgedachte und ev. das durch hinzukommende Reflexion Hineingedeutete auszuschalten. 23
Mit dieser Vorstellung einer »schauenden Erkenntnis«, die nicht nur die individuelle, sinnliche Erfahrung, sondern auch »Ursprünge« und »absolute Gegebenheiten« zu erfassen vermag, begibt sich Husserl in offenkundigen Widerspruch zur klassisch-kantianischen wie auch zur neukantianischen Philosophie, die das Vermögen der Anschauung grundsätzlich auf die Sinnlichkeit beschränkt und dem Verstand die Rolle zuweist, mittels der kategorialen Formen die gegebenen Anschauungen zur Einheit der Erfahrung zu verbinden. 24 Noch weniger könnte man vom kantischen Standpunkt aus Husserls Absicht nachvollziehen, die diskursive Funktion des Verstandes möglichst weit auszuschalten und die Vernunft selbst zum »Auge« einer Anschauung zu machen, deren Gegenstände nicht mehr einen sinnlich-individuellen, sondern einen wesenhaft-universalen Charakter besitzen. Die Tatsache, dass Husserl in diesem Zusammenhang in pauschaler Weise auf »die Reden der Mystiker« verweist, ist insofern bemerkenswert, als die meisten Vertreter der traditionellen christlichen Mystik mitnichten in erster Linie von intellektuellen Anschauungen, sondern eher von konkreten Visionen, Auditionen, Ekstasen und affektiv getragenen Gotteserfahrungen sprechen. 25 Dass Husserl hier 23 E. Husserl, Die Idee der Phänomenologie. Fünf Vorlesungen (Hua II), Den Haag, Nijhoff, 1950, 62 (Hervorhebungen im Original). 24 Vgl. I. Kant, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, § 34, AA IV, 316 f. 25 Vgl. R. Otto, West-östliche Mystik. Vergleich und Unterscheidung zur Wesens-
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Husserls Sicht des Verhältnisses von Mystik und Phänomenologie
wie selbstverständlich die besondere Form der Intellektmystik mit »der« Mystik schlechthin gleichsetzt, ist ein erstes Indiz für seine Nähe zum Denkansatz Meister Eckharts, für den die Einheit mit Gott ebenfalls nichts mit sinnlichen Visionen, spürbaren Verzückungen und ähnlichen übernatürlichen Erlebnissen zu tun hat, 26 sondern allein in einer Selbstanschauung der Vernunft in ihrer überempirischen Absolutheit besteht. 27 Abgesehen von dem eben zitierten Passus aus Husserls Göttinger Vorlesung von 1907 gibt es in seinen Schriften noch einige andere Stellen, an denen er die mittelalterliche Mystik in positiver Weise erwähnt. Überraschenderweise versteht er auch hier die mystische Grundhaltung nicht im Sinne eines religiösen Individualismus, Subjektivismus oder gar Irrationalismus, sondern im Gegenteil als Vorläufer der Idee eines die gesamte Menschheit umfassenden Universalismus. In den Beilagen zu einem unveröffentlicht gebliebenen Aufsatz mit dem Titel »Formale Typen der Kultur in der Mensch-
deutung, Gotha, Leopold Klotz Verlag, 1926, 38–49. 95–103; H.-U. von Balthasar, »Zur Ortsbestimmung christlicher Mystik«, in: W. Beierwaltes (Hg.), Grundfragen der Mystik, Einsiedeln, Johannes Verlag, 1974, 37–71; B. McGinn, Die Mystik im Abendland (4 Bd.; aus dem Engl. übers. von B. Schellenberger), Bd. 4: Fülle: die Mystik im mittelalterlichen Deutschland (1300–1500), Freiburg u. a., Herder, 2008, 30– 58. 26 Vgl. Eckhart, Pr. 86, DW III 481–483. 489–492; ders., Reden der Unterweisung 10, DW V 215–224. 27 Als wir got nemen in dem wesene, sô nehmen wir in in sînem vorbürge, wan wesen ist sîn vorbürge, dâ er inne wonet. Wâ ist er denne in sînem tempel, dâ er heilic inne schînet? Vernünfticheit ist der tempel gotes. Niergen wonet got eigentlîcher dan in sînem tempel, in vernünfticheit […]. Got in sîn selbes bekantnisse bekennet sich selben in im selben. […] Vernünfticheit nimet got blôz, als er entkleidet ist von güete und von wesene. […] Dâ von enbin ich niht sælic, daz got guot ist. Ich enwil des niemer begern, daz mich got sælic mache mit sîner güete, wan er enmöhte ez niht getuon. Dâ von bin ich aleine sælic, daz got vernünftic ist und ich daz bekenne (»Wenn wir Gott im Sein nehmen, so nehmen wir ihn in seinem Vorhof, denn das Sein ist sein Vorhof, in dem er wohnt. Wo ist er denn aber in seinem Tempel, in dem er als heilig erglänzt? Vernunft ist ›der Tempel Gottes‹. Nirgends wohnt Gott eigentlicher als in seinem Tempel, in der Vernunft […]. Gott erkennt im Erkennen seiner selbst sich selbst in sich selbst. […] Die Vernunft nimmt Gott bloß, wie er entkleidet ist von Gutheit und von Sein. […] Nicht dadurch bin ich selig, daß Gott gut ist. Ich will hauchi niemals danach begehren, daß Gott mich selig mache mit seiner Gutheit, denn das vermöchte er gar nicht zu tun. Dadurch allein bin ich selig, daß Gott vernünftig ist und ich dies erkenne« [Eckhart, Pr. 9, DW I 150,1–4.7; 153,4–5.9–12; Übers. 464]).
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Einführung
heitsentwicklung«, 28 der ursprünglich in der japanischen Zeitschrift Kaizo hätte erscheinen sollen, notiert Husserl: Eigentliche Religion ist also ein Durchbruch der Freiheit, und auf ihrem Wege liegt Kirche und, wenn es eine universale Menschheitsreligion sein will, der Durchbruch einer bewußten Tendenz auf eine frei erzeugte Kultur, auf eine erneuerte, echte, oder die Herausbildung einer bewußt gestalteten Entelechie in der Kultur und der kulturtätigen Menschheit […], Normen der Selbsterziehung zum neuen Menschen und gleichsam der Selbsterziehung der Menschheit zu einer neuen Menschheit. […] Die Idee der civitas dei, die ihre herrschende Idee ist, ist auch die herrschende Leitidee des Mittelalters; in ihr liegt eine fortschreitende Realisierung dieser Idee in der aktuellen Menschheitskultur und als einer universalen vereinheitlichten Menschheitskultur überhaupt (Mystik). […] Die kirchliche Weltherrschaft als Idee, oder die Idee der civitas dei, birgt, wie der letztere Ausdruck besagt, in sich den Gedanken, daß Gott selbst sein Gottesvolk, die Christenheit, in der göttlich gestifteten Regierungsform der Kirche regiert bzw. zugleich regiert und durch geistige Reinigung (Mystik) so erweitert, daß schließlich die ganze Menschheit der Gnade der Erlösung aktuell teilhaftig sei oder in eigener Freiheit zu ihr Stellung nehmen könne. In der Theologie erteilt er der Menschheit das Vernunftorgan, einen Anteil an seiner Vernunft in der Selbstrealisierung dieses Heilsweges. 29
Aus diesen Passagen geht einerseits hervor, dass Husserl die Mystik als geistesgeschichtliches Phänomen sehr wohl wahrgenommen und in ihrer positiven Bedeutung für die Verwirklichung einer geistig gereinigten, verinnerlichten, zugleich aber auch auf Universalität ausgerichteten Menschheitskultur anerkannt hat. Andererseits wirft der wenig differenzierte Charakter seiner Aussagen über »die« Mystik die Frage auf, ob es sich dabei womöglich eher um allgemein gehaltene Aperçus handelt, die er auf indirektem Wege vermittelt bekommen hat, als um eine vertiefte, aus erster Hand erworbene Kenntnis. Auch wenn Husserls veröffentlichte Werke keinen ausdrücklichen Hinweis zu seiner Beschäftigung mit der Mystik enthalten, geben doch seine Briefkorrespondenz sowie die Zeugnisse und Erinnerungen seiner Schüler und Zeitgenossen darüber einigen Aufschluss. Die Indizien sprechen dafür, dass Husserl seine insgesamt recht begrenzten Kenntnisse im Bereich des mittelalterlichen Denkens im AllE. Husserl, »Formale Typen der Kultur in der Menschheitsentwicklung«, in: ders., Aufsätze und Vorträge [1922–1937] (Hua XXVII), Dordrecht, Nijhoff, 1989, 59–124. 29 E. Husserl, »Formale Typen der Kultur in der Menschheitsentwicklung«, in: ders., Aufsätze und Vorträge [1922–1937] (Hua XXVII), 103. 105. 28
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Husserls Sicht des Verhältnisses von Mystik und Phänomenologie
gemeinen 30 sowie der Mystik im Besonderen zum überwiegenden Teil aus den Gesprächen mit seinen Schülern Dietrich Mahnke und Martin Heidegger bezogen hat, die sich beide in intensiver Form mit der neuplatonisch-mystischen Strömung des abendländischen Denkens befasst haben. 31 Darüber hinaus lässt sich jedoch auch nachweisen, dass sich Husserl mit bestimmten Originaltexten der mystischen Tradition direkt auseinandergesetzt hat. So heißt es in einem Brief Husserls an Dietrich Mahnke vom 05. 09. 1917: Die Deutsche Theologie habe ich schon früher wiederholt angesehen und ich habe sie hier mit und liebe sie sehr: wie ich überhaupt große Neigung zur deutschen Mystik habe, deren innige Religiosität mich sehr anzieht. […] Auf die Ausführung Ihrer docta ignorhantiai bin ich sehr begierig. Ich meine zur Mystik Zugang zu haben. Aber ich habe nicht genug darin gelebt, und je älter ich werde, desto mehr zieht es mich, mich in die Glaubensfragen zu vertiefen und dann über sie in reiner Kontemplation wissenschaftlich zu denken. 32
In seiner Einleitung zu Husserls zweibändigem Werk Erste Philosophie bemerkt der Herausgeber Rudolf Boehm: »Zur Philosophie des Mittelalters hatte Husserl keinerlei auf eigene historische und Textstudien gegründetes Verhältnis« (E. Husserl, Erste Philosophie. Erster Teil: Kritische Ideengeschichte [Hua VII], Den Haag, Nijhoff, 1956, S. XXIX). 31 Vgl. dazu die Notizen zu Plotin und Cusanus in E. Husserl, Erste Philosophie. Erster Teil (Hua VII), 328–330. Ein Monographie Dietrich Mahnkes, die im Jahr 1937 erschienen ist, enthält unter anderem ein Kapitel, das der Rezeption des neuplatonischen Topos der sphaera intelligibilis bei Meister Eckhart gewidmet ist, doch ist es angesichts des Publikationsdatums – ein Jahr vor Husserls Tod – eher unwahrscheinlich, dass Husserl dieses Werk noch zur Kenntnis nehmen und bewusst rezipieren konnte. Allerdings ist dies zumindest der Beweis dafür, dass Mahnke Eckharts Texte – und dazu zählen auch die im Codex Cusanus enthaltenen lateinischen Schriften – gut kannte, so dass Husserl möglicherweise über Gespräche mit ihm einen besseren Überblick über Eckharts Denken erlangen konnte, als ihm allein durch eigene Lektüre möglich gewesen wäre. Vgl. dazu D. Mahnke, Unendliche Sphäre und Allmittelpunkt. Beiträge zur Genealogie der mathematischen Mystik, Halle, Niemeyer, 1937, 144–171. Vgl. auch M. Heidegger, »Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus«, in: ders., Frühe Schriften (GA 1), Frankfurt a. M., Klostermann, 1978, 189– 411, hier 409–411; ders., »Der Zeitbegriff in der Geschichtswissenschaft«, in: ders., Frühe Schriften (GA 1), 413–433, hier 415. 418 Anm. 1; ders., »Die philosophischen Grundlagen der mittelalterlichen Mystik«, in: ders., Zur Phänomenologie des religiösen Lebens (GA 60), Frankfurt a. M., Klostermann, 1995, 303–337. 32 Vgl. Edmund Husserl, Briefwechsel (in 9 Bd., Husserliana Dokumente III, abgekürzt mit Hua Dok III, hg. von E. Schuhmann / K. Schuhmann), Bd. 3: Die Göttinger Schule, Dordrecht / Boston / London, Kluwer, 1994, 419. 30
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Einführung
Aus diesem Passus geht hervor, dass Husserl der deutschen Mystik im allgemeinen Sinne zugeneigt war und die Theologia deutsch gelesen hat. Allerdings lässt sich daraus noch nicht eindeutig schließen, ob er auch Meister Eckhart aus erster Hand rezipiert hat, und wenn ja, durch wen er zu dieser Lektüre angeregt wurde. In einem Text, den Bernhard Welte zur Erinnerung an Husserls Schüler Heinrich Ochsner verfasst hat, findet sich ein diesbezüglicher Hinweis. Welte schreibt: Heinrich Ochsner erzählte mir einmal, Husserl habe ihm eines Tages davon berichtet, wie Paul Natorp, der berühmte Marburger Neukantianer, den Meister Eckhart entdeckt habe und ihn, Husserl, auf dessen Texte aufmerksam gemacht habe. Nun sitze er, Husserl, schon zwei Tage in seinem Zimmer und rauche Zigarren und lese nichts als Meister Eckhart. Und er hat bei dieser Begegnung zu Heinrich Ochsner gesagt: »Ich beneide Sie um Ihr reiches geschichtliches Wissen«. Denn Heinrich Ochsner kannte ja den Meister Eckhart schon lange und konnte so Husserl auf vieles aufmerksam machen, was zu dessen Verständnis wichtig war. 33
Dieser Gesprächserinnerung lässt sich entnehmen, dass Husserls Interesse für die Mystik offenbar nicht zu einer vertieften, systematischen Beschäftigung mit sämtlichen Autoren und Traditionssträngen des mystischen Denkens geführt hat, sondern punktueller, eklektischer Natur war und durch die Gespräche mit kompetenteren Sachkennern auf diesem Gebiet ergänzt wurde. Nun beweist dieser aus einem Bericht zweiter Hand belegte Umstand, dass Husserl tatsächlich Meister Eckhart gelesen hat, allerdings noch nicht, dass er sich dessen Denken auch in positiver Weise zu eigen gemacht hätte. Umso bedeutungsvoller ist unter diesem Gesichtspunkt eine Äußerung Husserls aus dem Jahr 1932. Der amerikanische Phänomenologe Do-
B. Welte, »Der stille große Partner. Erinnerungen an Heinrich Ochsner«, in: C. Ochwadt / E. Tecklenborg (Hg.), Das Maß des Verborgenen. Heinrich Ochsner zum Gedächtnis, Hannover, Charis Verlag, 1981, 209–219, hier 213. Natorp hatte sich im Rahmen der Abfassung seines 1918 erschienenen zweibändigen Werkes Deutscher Weltberuf eingehend mit Meister Eckhart befasst und ihm eine besondere Rolle in der deutschen Geistesgeschichte zugeschrieben (vgl. P. Natorp, Deutscher Weltberuf, Bd. 2: Die Seele des Deutschen, Jena, Diederichs, 1918, 59–83). Husserl hatte ein Exemplar dieses Werkes kurz nach seinem Erscheinen von Natorp persönlich zugeschickt bekommen und es, wie er ihm ausdrücklich schrieb, mit großer Begeisterung gelesen. Vgl. dazu E. Husserl, »Brief an Natorp vom 29. 06. 1918«, in: ders., Briefwechsel, Bd. 5: Die Neukantianer (Hua Dok III/5), Dordrecht / Boston / London, Kluwer, 1994, 135–138, hier 136 f.
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Husserls Sicht des Verhältnisses von Mystik und Phänomenologie
rion Cairns, der in Freiburg studiert hatte, berichtet in seinen Erinnerungen an die Gespräche mit seinem Lehrer Husserl davon, dass dieser sich ihm gegenüber einmal ausgesprochen wohlwollend über die Mystik im Allgemeinen und Meister Eckhart im Besonderen geäußert habe: Husserl spoke of mysticism. Every genuine evidence has its right. The question is always of the Tragweite hrange, scopei of any given evidence. This applies also to the particular evidences which the mystic has. Whole pages of Meister Eckehart, Husserl said, could be taken over by him unchanged. He doubts however the practical sufficiency of mysticism. The »awakening« from the mystical experience is likely to be a rude one. On the other hand the insight into the rationality of the world which one gains through true scientific investigation remains through all future experience. The difference is furthermore, one between passive enjoyment and work. The mystic neglects work. Both are necessary. 34
Dieses Gespräch wurde, wie Cairns vermerkt, am 27. 06. 1932 geführt. Eckharts lateinische Werke waren damals größtenteils noch nicht in kritischer Form ediert, 35 so dass es eher unwahrscheinlich ist, dass Husserl diese Texte gelesen und sich mit ihnen auseinandergesetzt hat. Die damals verfügbaren neuhochdeutschen Ausgaben von Eckharts mittelhochdeutschen Predigten und Traktaten hatten wiederum einen ausgesprochen selektiven, um nicht zu sagen florilegienhaften Charakter, so dass selbst deren gründliche Lektüre ihm ein nur partielles, unvollständiges Bild von Eckharts Denken hätte D. Cairns, Conversations with Husserl and Fink, Den Haag, Nijhoff, 1976, 91 (Hervorhebungen d. Verf.). Vgl. dazu auch Y. Meessen, Percée de l’Ego, 11 f. 35 Heinrich Denifle hatte Ende des 19. Jahrhunderts einige Fragmente der von ihm wiederentdeckten lateinischen Werke Eckharts ediert. Vgl. H. Denifle, »Meister Eckharts lateinische Schriften und die Grundgedanken seiner Lehre«, Archiv für Litteratur- und Kirchengeschichte des Mittelalters 2 (1886), 417–640, hier 533–615. Es handelte sich dabei um den Prolog zum Opus tripartitum (ebd., 533–541), das Prooemium zum Opus propositionum (ebd., 542–549), den Prolog zum Opus expositionum (ebd., 549 f.) sowie kurze Auszüge aus dem ersten Genesiskommentar (ebd., 550–556), dem Exoduskommentar (ebd., 556–562), dem Kommentar zu Jesus Sirach (ebd., 563–597) und dem Kommentar zum Buch der Weisheit (ebd., 597–615). Da diese recht fragmentarische Edition nicht als Buch, sondern in einer wissenschaftlichen Zeitschrift und ohne deutsche Übersetzung publiziert wurde, ist jedoch unwahrscheinlich, dass Husserl sie gelesen hat. Der erste Band der im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft herausgegebenen kritischen Edition von Eckharts Lateinischen Werken (= LW), die auch eine neuhochdeutsche Übersetzung beinhaltete, war der Johanneskommentar (LW III), dessen erste Faszikel im Jahr 1936, also zwei Jahre vor Husserls Tod, veröffentlicht wurden. 34
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Einführung
vermitteln können. 36 Dass Husserl zumindest die von Herman Büttner herausgegebene neuhochdeutsche Übersetzung von Eckharts deutschen Predigten und Traktaten gelesen haben muss, darf als gesichert gelten, doch lässt sich nicht ausschließen, dass er darüber hinaus noch andere Eckhart-Teilausgaben konsultiert hat bzw. weitere Textauszüge aus Eckharts Werken in Sekundärquellen finden konnte. 37 Die zu Husserls Zeit am weitesten verbreitete neuhochdeutsche Teilausgabe von Eckharts deutschen Werken ist die unverkennbar deutschnational ausgerichtete Ausgabe von Herman Büttner, Meister Eckeharts Schriften und Predigten (aus dem Mhd. übers. und hg. von H. Büttner), Jena, Diederichs, 21912. Gustav Landauer geht in seiner kleinen Eckhart-Anthologie (Meister Eckharts mystische Schriften, [Berlin 1903] Nachdruck: Wetzlar, Büchse der Pandora, 1978) noch freier, um nicht zu sagen willkürlicher mit Eckharts Texten um, da er selbst die wenigen von ihm ausgewählten deutschen Predigten nicht zur Gänze wiedergibt, sondern ganze Passagen davon weglässt, die in seinen Augen für den heutigen Leser irrelevant und unverständlich sind. Darüber hinaus enthält Landauers Büchlein eine von ihm selbst erstellte Sammlung sentenzenhafter Eckhart-Sprüche, die er aus ihrem Zusammenhang herausgelöst und teilweise in seinem Sinne umformuliert hat. Die von Joseph Bernhart in der Reihe Deutsche Mystiker, Bd. III herausgegebene, ins Neuhochdeutsche übersetzte Auswahl von Eckhart-Texten enthält neben neun seiner deutschen Predigten, den Reden der Unterweisung und dem Buch der göttlichen Tröstung eine Einleitung, die immerhin die wesentlichen Grundgedanken aus Eckharts lateinischen Werken in knapper, doch inhaltlich treffender Form referiert (vgl. J. Bernhart [Hg. und Übers.], Deutsche Mystiker, Bd. III: Meister Eckhart, München, Kösel / Pustet, 1914, 1–23). Ob man sich, ausgehend von einer derart schmalen Textgrundlage, ein vollständiges, objektives Bild von Eckharts Denken machen kann, darf jedoch bezweifelt werden. 37 Ein nichtdatierter Tagebucheintrag Husserls (X I 3) enthält ein von ihm nicht weiter kommentiertes Zitat aus Büttners Eckhart-Ausgabe. In Husserls Privatbibliothek in Leuven ist dieses Buch allerdings nicht aufzufinden. Ansonsten sind dort folgende Werke zur Mystik vorhanden: K. Joël, Der Ursprung der Naturphilosophie aus dem Geiste der Mystik, Jena, Diederichs, 1906; E. Lehmann, Mystik im Heidentum und Christentum, übers. von A. Grundtvig (Aus Natur und Geisteswelt 217), Leipzig, Teubner, 1908; J. Bernhart, Die philosophische Mystik des Mittelalters: von ihren antiken Ursprüngen bis zur Renaissance (Geschichte der Philosophie in Einzeldarstellungen, Abt. 3: Die christliche Philosophie, Bd. 14), München, Reinhardt, 1922; G. Walther, Zur Phänomenologie der Mystik, Halle/Saale, Niemeyer, 1923; G. Mehlis, Die Mystik in der Fülle ihrer Erscheinungsformen in allen Zeiten und Kulturen, München, Bruckmann, 1927; E. Bergmann, Die Entsinkung ins Weiselose: Seelengeschichte eines modernen Mystikers, Breslau, Hirt, 1932; A. Schweitzer, Die Weltanschauung der indischen Denker: Mystik und Ethik, München, Beck, 1935; E. Hoffmann, Platonismus und Mystik im Altertum (Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse 1934–35,2), Heidelberg, Winter, 1935; Nicolaus Cusanus, Predigten 2–5: Vier Predigten im Geiste Eckharts (lat./dt., mit einer literarhistorischen Einl. und Erl. hg. von J. Koch [Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse 1936–37,2]), Heidelberg, Winter, 1937; H. Leser, Das religiöse Wahrheitspro36
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Husserls Sicht des Verhältnisses von Mystik und Phänomenologie
Gleichwohl erscheint in Cairns’ Schilderung Husserls Haltung gegenüber der Mystik ambivalent: Einerseits bejaht er ihre grundlegende Rechtmäßigkeit, insofern sie zur Erkenntnis echter Evidenzen führen kann; andererseits betrachtet er die passiv-hinnehmende Grundhaltung, durch die der Mystiker zu diesen Evidenzen gelangt, als unzureichend im Vergleich zur methodischen Arbeitshaltung des Philosophen, der die Evidenzen im Modus eines bleibenden Erwerbs gewinnt. In anderen Schriften Husserls finden sich Stellen, an denen der Begriff »Mystik« in direkt pejorativer Weise verwendet wird, nämlich im Sinne eines »dunklen« Redens von vermeintlich rational nicht einholbaren Einsichten oder Erlebnissen. Mit Blick auf den oft im mystischen Sinne missverstandenen Begriff der »phänomenologischen Wesensschau« bemerkt Husserl: Den Wesensunterschieden der Anschauung korrespondieren die Wesensbeziehungen zwischen »Existenz« (hier offenbar im Sinne von individuell Daseiendem) und »Essenz«, zwischen Tatsache und Eidos. Solchen Zusammenhängen nachgehend, erfassen wir einsichtig die diesen Terminis zugehörigen und von nun an fest zugeordneten begrifflichen Wesen, und damit bleiben alle, sich zumal an die Begriffe Eidos (Idee), Wesen anheftenden, z. T. mystischen Gedanken reinlich ausgeschieden. 38
Diese mystikkritischen Äußerungen stehen auf den ersten Blick in einer gewissen Spannung zu der oben zitierten Passage aus der Vorlesung Die Idee der Phänomenologie, die das von der Vernunft zu praktizierende, hinnehmende Schauen der absoluten Gegebenheiten in die Nähe zur intellektmystischen Grundhaltung rückt. Darin muss allerdings kein grundlegender Widerspruch liegen, insofern Husserls kritische Bemerkungen sich lediglich auf jene Art von Mystik beziehen, deren besonders geartete Evidenzen lediglich in einzelnen, punktuellen Momenten erlebt werden, aber keine kontinuierlich fortgeltende, in bleibender Form habitualisierte und rational ausweisbare blem im Lichte der deutschen Mystik, Leipzig, Barth, o. J. Für diese Informationen danke ich sehr herzlich Herrn Dr. Thomas Vongehr von den Husserl-Archiven in Leuven. 38 E. Husserl, Ideen I, § 3 (Hua III), 16 (Hervorhebung im Original). Vgl. auch ähnliche negative Verwendungen des Wortes »Mystik« bzw. des Adjektivs »mystisch« als Synonym von »irrationalistisch« ebd., 47. 354 sowie in E. Husserl, Krisis (Hua VI), 1. 217; ders., Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlaß. Erster Teil: 1905–1920 (Hua XIII), Den Haag, Nijhoff, 1973, 36. Vgl. dazu N. Depraz, »Edmund Husserl. Adversus haereses mystikes?«, 332–336.
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Erkenntnis der Wirklichkeit begründen. Gerade dies trifft auf die klassische Intellektmystik aber nicht zu, da es hier nicht um übernatürliche Einzelerlebnisse geht, die auf plötzliche, unvorhersehbare Weise kommen und gehen, sondern vielmehr um das schauende Gewahrwerden einer universalen, geistigen Wahrheit, durch die sich die Sicht auf die Welt und das eigene Selbst ein für allemal in bleibender Weise verändert. 39 Auch der andere von Husserl genannte Kritikpunkt – nämlich die Vernachlässigung der Arbeit zugunsten eines passiven Schwelgens in geistlichen Genüssen – trifft nur manche Ausprägungsformen der mystischen Grundhaltung, aber nicht die Mystik schlechthin und schon gar nicht die Meister Eckharts. 40 Dies gilt selbst dann, wenn man voraussetzt, dass Husserl mit »Arbeit« weniger eine äußere, physische Tätigkeit meint als vielmehr die kontinuierlich zu betreibende theoretische Umsetzung der intellektuell erkannten Evidenzen zum Zweck einer kohärenten philosophischen Wirklichkeitsdeutung. Durch die im Laufe der letzten Jahrzehnte erfolgte Veröffentlichung und wissenschaftliche Rezeption von Eckharts lateinischen Schriften ist deutlich geworden, dass die intellektmystischen Einsichten, die er in seinen deutschen Predigten und Traktaten in der Tat oft ziemlich unvermittelt und ohne eingehende argumentative Begründung ausspricht, keineswegs nur Ausdruck punktueller geistiAls Hauptvertreter einer solchen »transformativen« Intellektmystik können neben Meister Eckhart vor allem Boethius und Richard von St. Viktor gelten. Vgl. A. M. S. Boethius, De consolatione philosophiae IV 3, 26–31; V 4, 86–100; V 5, 44–54 (ed. C. Moreschini), Leipzig, Saur, 22005, 109. 149 f. 154 sowie Richard von St. Viktor, Benjamin Minor, cap. LXXIV, PL 196, 53C: Possumus tamen illa quae in hac vita haberi potest, Dei cognitionem, tribus gradibus distinguere, et secundum triplicem graduum differentiam per tres coelos dividere. Aliter siquidem Deus videtur per fidem, aliter cognoscitur per rationem, atque aliter cognoscitur per contemplationem. Prima ergo visio ad primum coelum, secunda ad secundum, tertia pertinet ad tertium. Prima est infra rationem, tertia supra rationem. Ad primum itaque et secundum contemplationis coelum, homines sane ascendere possunt, sed ad illud quod est supra rationem, nisi per mentis excessum supra seipsum rapti nunquam pertingunt. Vgl. dazu E. Wolz-Gottwald, Transformation der Phänomenologie. Zur Mystik bei Husserl und Heidegger, Wien, Passagen Verlag, 1999, 47 f. 52 f. 40 Vgl. Eckhart, Pr. 86, DW III 481–485 sowie D. Mieth, Die Einheit von vita activa und vita contemplativa in den deutschen Predigten und Traktaten Meister Eckharts und bei Johannes Tauler: Untersuchungen zur Struktur des geistlichen Lebens, Regensburg, Pustet, 1969; erweiterte Neuausgabe unter dem Titel: Im Wirken schauen. Die Einheit von vita activa und vita contemplativa bei Meister Eckhart und Johannes Tauler, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2018. 39
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ger Intuitionen sind, sondern auf dem Fundament einer ausgearbeiteten philosophisch-theologischen Gesamtkonzeption ruhen. In dem Maße, wie es gelingt, die in Eckharts Predigten und Traktaten enthaltenen intellektuellen Evidenzen, von denen Husserl spricht, jeweils auf ihre ausführliche argumentative Begründung in seinen lateinischen Schriften zurückzuverfolgen, ist es möglich, einen direkten, systematischen Vergleich zwischen den beiden Autoren anzustellen. Auch wenn Husserl in den ihm zugänglichen deutschen EckhartTexten gewisse philosophische Grundeinsichten nur in verkürzter, bruchstückhafter Form ausgesprochen finden konnte und manches extrapolieren musste, hat er ganz richtig erfasst, dass das denkerische Anliegen des Thüringer Dominikaners dem seinen ähnlich genug war, um in der Tat eine geistige Verwandtschaft zu begründen.
3.
Methodologische Vorüberlegungen: Eine alternative Subjektphilosophie?
Ungeachtet der Tatsache, dass Husserl selbst eine große innere Nähe seiner eigenen Phänomenologie zu Meister Eckharts Denken konstatiert, steht der heutige Interpret, der ihre beiden Ansätze miteinander vergleichen will, zunächst vor einer grundlegenden hermeneutischen Schwierigkeit: Angesichts der mannigfachen Umbrüche, die die Philosophie im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit erfahren hat, scheint der Graben zwischen dem scholastischen Denken des späten 13. und frühen 14. Jahrhunderts einerseits und der Philosophie des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts andererseits unüberwindlich tief. Als wohl gravierendster Einschnitt zwischen den beiden Epochen gilt dabei die von Descartes begonnene und von Kant vollendete »Wende zum Subjekt«, durch die sich die Philosophie, wie es gemeinhin heißt, sowohl von einer naiven, objektivistisch-metaphysischen Wirklichkeitsauffassung als auch von der Bindung an philosophische wie theologische Traditionen und Autoritäten befreit habe. Unter dieser Voraussetzung wäre ein Vergleich zwischen einem scholastischvorkritischen und einem nachkantianisch-transzendentalphilosophischen Denker in der Tat ein Ding der Unmöglichkeit, da sie sich nicht nur unterschiedlicher philosophischer Terminologien und Methoden bedienen, sondern sich auch von vornherein in ganz verschiedenen Denkhorizonten bewegen. Die religiös-metaphysische Weltsicht, die für Meister Eckhart den selbstverständlichen lebensweltlichen Kon33 https://doi.org/10.5771/9783495821633
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text seines Denkens bildet, ist zu Lebzeiten Edmund Husserls schon seit mehreren Jahrhunderten Geschichte. Kann unter diesen Umständen eine vergleichende Deutung dieser beiden Autoren dann noch mehr sein als ein künstliches, um nicht zu sagen gewaltsames Unterfangen, das zwei nicht nur sehr unterschiedliche, sondern schlechthin nicht vergleichbare Denkansätze zusammenzuspannen versucht? Wenn im Folgenden dennoch eine solche Gegenüberstellung unternommen werden soll, so deshalb, weil das weitverbreitete Narrativ eines radikalen Bruchs zwischen mittelalterlicher und neuzeitlicher Philosophie ein unhistorisches Konstrukt darstellt, das sich in dieser schematisch-simplifizierenden Form nicht aufrechterhalten lässt. 41 Gewiss gibt es zu Beginn der Neuzeit Aufbrüche, die nicht einfach nur als Modifikationen und Wandlungen des Bisherigen verstanden werden können, sondern wirkliche Neuansätze darstellen – man denke etwa an die Eliminierung der qualitativen Gegenstandsbestimmungen aus der Physik zugunsten einer durchgängigen Quantifizierung und Mathematisierung der Naturerkenntnis, die positive Umdeutung und mathematische Domestizierung des Unendlichkeitsbegriffs oder die Reduktion der vier von Aristoteles entworfenen metaphysischen Kausalitätsarten auf die einfache Form der Wirkursächlichkeit. 42 Dennoch bestehen zwischen dem mittelalterlichen und dem neuzeitlichen Denken hinsichtlich gewisser Themen sehr wohl Vgl. K. Flasch (Hg.), Das Licht der Vernunft. Die Anfänge der Aufklärung im Mittelalter, München, C. H. Beck, 1997, vor allem 7–17; ders., »Kennt die mittelalterliche Philosophie die konstitutive Funktion des menschlichen Denkens? Eine Untersuchung zu Dietrich von Freiberg«, Kant-Studien 63 (1972), 182–206; B. Mojsisch, »Das Ich als Ursache seiner selbst und Gottes in der Philosophie Meister Eckharts«, in: G. Binder et al. (Hg.), Gottmenschen. Konzepte existenzieller Selbstüberschreitung im Altertum, Trier, Wissenschaftlicher Verlag, 2003, 181–203; ders., »›Dieses Ich‹. Meister Eckharts Ich-Konzeption. Ein Beitrag zur ›Aufklärung‹ im Mittelalter«, in: C. Asmuth (Hg.), Sein – Reflexion – Freiheit. Aspekte der Philosophie Johann Gottlieb Fichtes, Amsterdam, Grüner, 1997, 239–252; J. Halfwassen, »Gibt es eine Philosophie der Subjektivität im Mittelalter? Zur Theorie des Intellekts bei Dietrich von Freiberg und Meister Eckhart«, Theologie und Philosophie 72 (1997), 337–359; H. Heimsoeth, Die sechs großen Themen der abendländischen Metaphysik und der Ausgang des Mittelalters, Stuttgart, Kohlhammer, 31954, 3–17. 146–148. 42 Vgl. A. Koyré, Von der geschlossenen Welt zum unendlichen Universum, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 1969; A. Maier, An der Grenze von Scholastik und Naturwissenschaft, Essen, Essener Verlagsanstalt, 1943; U. Wenzel, Vom Ursprung zum Prozess: zur Rekonstruktion des aristotelischen Kausalitätsverständnisses und seiner Wandlungen bis zur Neuzeit, Opladen, Leske + Budrich, 2000, 149–173; G. Hennemann, Grundzüge einer Geschichte der Naturphilosophie und ihrer Hauptprobleme, 41
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auch kontinuierliche Entwicklungslinien, die einen epochenübergreifenden Vergleich sachlich gerechtfertigt erscheinen lassen. Gerade diese Fragestellungen nehmen in Eckharts und Husserls Denkansätzen eine besonders prominente Stellung ein und werden von ihnen überraschenderweise auf ganz ähnliche Weise beantwortet, so dass man die beiden Autoren in der Tat einem gemeinsamen philosophischen Traditionsstrang zuordnen kann.
3.1
Der existenzielle Vollzugscharakter der Ersten Philosophie
Die wenigen wissenschaftlichen Arbeiten, die der geistesgeschichtlichen Verbindungslinie zwischen Eckhart und Husserl nachgehen, beschränken eine mögliche Annäherung der beiden Philosophen auf das Terrain des mystisch-religiösen Denkens. So vertritt das Buch von Eckard Wolz-Gottwald Transformation der Phänomenologie. Zur Mystik bei Husserl und Heidegger zwar die These, dass es bei Husserl durchaus mystische Anklänge gebe, doch seien diese auf sein Spätwerk, nämlich die sogenannte Krisis-Schrift beschränkt, in der Husserl die Phänomenologie nicht mehr, wie noch zur Zeit der Ideen I, als »strenge Wissenschaft« konzipiere, sondern sie als Heils- und Erlösungslehre verstanden wissen wolle, die dazu berufen sei, den Sinn des Menschseins als solchen zu transformieren. 43 Ähnlichkeiten mit Meister Eckharts Denken seien daher nur dort zu finden, wo Husserl Phänomenologie als »Lebensphilosophie« verstehe, die von der nur-theoretischen Erkenntnis der akademischen Wissenschaftler – in Eckharts Terminologie: der bloßen »Lesemeister« – klar unterschieden sei. 44 Diese Deutung ist zwar nicht grundsätzlich falsch, erweist sich jedoch als zu einseitig. Auch wenn es durchaus zutrifft, dass Meister Eckhart eine von ihrer existenziellen Dimension abgekoppelte Philosophie und Theologie scharf kritisiert hat, 45 so war er selbst doch Berlin, Duncker & Humblot, 1975, 33–56; J. Biard / J. Ceylerette (Hg.), De la théologie aux mathématiques. L’infini au XIVe siècle, Paris, Les Belles Lettres, 2005. 43 Vgl. E. Wolz-Gottwald, Transformation der Phänomenologie, 21. 79. 104 f. 44 Vgl. E. Wolz-Gottwald, Transformation der Phänomenologie, 62. 70. 161. 45 So betont Eckhart beispielsweise, dass demütige, einfältige Menschen die Hl. Schrift oft eher zu ergründen vermögen als die Gelehrten, die den biblischen Text vor allem in theoretischer Hinsicht zergliedern und analysieren wollen (vgl. Eckhart, Pr. 51, DW II 465,1–466,5).
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keineswegs nur ein frommer Prediger und Meister des geistlichen Lebens, sondern gehörte zu den bedeutendsten akademischen Lehrern seiner Zeit. In dieser Eigenschaft hat Eckhart sich zwar mit bestimmten Thesen der zeitgenössischen Scholastik sehr kritisch auseinandergesetzt, aber keineswegs das scholastische Denken als solches verworfen. Das umfangreiche Korpus seiner lateinischen Schriften, die aus seiner akademischen Lehrtätigkeit hervorgegangen sind, ist ein beredtes Zeugnis dafür, dass für ihn Leben und intellektuelle Erkenntnis nicht nur keinen Widerspruch bilden, sondern geradezu Synonyme sind. 46 Und ebenso ist auch die Präsenz mystischer bzw. eckhartscher Motive bei Husserl keineswegs nur auf die Spätphase seines Denkens beschränkt, in der er das neuzeitliche Ideal der theoretischen, mathematisch-naturwissenschaftlichen Erkenntnis durchaus kritisch betrachtet und die Phänomenologie unumwunden als universale Erlösungslehre für die Vernunftmenschheit bezeichnet, sondern bricht sich schon sehr viel früher Bahn. 47 So wenig Eckharts Intellektmystik zu einer pauschalen Abwertung der wissenschaftlichen, philosophisch-theologischen Erkenntnis zugunsten des vorreflexiven religiösen Lebens führt, so wenig lassen sich bei Husserl der Primat der Lebenswelt und der Gedanke einer transformativen Rolle der Phänomenologie gegen das Ideal einer »streng wissenschaftlichen Philosophie« ausspielen. Vielmehr sind die Denkansätze beider Autoren von einem philosophischen Grundthema durchzogen, in dem die wissenschaftlich-theoretische und die existenziell-transformative Dimension des philosophischen Denkens wie der Mystik ineinsfallen. 46 Intellectivum enim abundantius est quam vivum […] ipsum enim intelligendo cognoscere vita aeterna est (»Das Geistige ist nämlich überströmender als das Lebendige […]. Denn ihn [= Gott, M. R.] durch Erkennen erfassen, ist ewiges Leben« [Eckhart, In Ioh. n. 500, LW III 431,10; Übers. ebd.]). Vgl. auch ebd. nn. 61–69, LW III 50– 58. 47 In dem bereits zitierten Brief Husserls an Natorp vom 28. 06. 1918, in dem er sich für die Zusendung von dessen Werk Deutscher Weltberuf bedankt, heißt es: »Meine innere Entwicklung hat schon seit mehr als einem Jahrzehnt Richtungslinien eingeschlagen, die in metaphysischer, religions- und geschichtsphilosophischer Beziehung den von Ihnen gezeichneten sehr nahe verwandt sind« (E. Husserl, »Brief an Natorp vom 28. 06. 1918«, in: ders., Briefwechsel, Bd. 5: Die Neukantianer [Hua Dok III/5], 137). Da Natorp insbesondere im zweiten Teil dieses Buches die besondere Rolle der eckhartschen Mystik für die deutsche Geistesgeschichte hervorgehoben hatte, lässt sich daraus schließen, dass Husserls Annäherung an mystische und metaphysische Fragestellungen bereits vor 1908 begonnen haben muss.
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Dieses Thema ist die Frage nach dem »Ich«, das für Eckhart wie für Husserl in zweifacher Hinsicht von Bedeutung ist: 48 Zum einen manifestiert es die für das menschliche Bewusstsein grundlegende Funktionseinheit von universaler Subjektivität und individueller Personalität; zum anderen ist es der philosophische Ort, von dem aus die Frage nach dem ersten Grund und Ursprung der Wirklichkeit in ihrer Gesamtheit gestellt wird. Auf den ersten Blick gehören diese beiden Fragestellungen zwei verschiedenen Bereichen innerhalb der Philosophie an, nämlich der philosophischen Anthropologie einerseits und der Metaphysik andererseits. Das Spezifikum von Eckharts und Husserls philosophischen Entwürfen besteht darin, dass sie diese beiden Themengebiete nicht einfach nebeneinanderstellen, sondern sie vielmehr auf das »reine Ich« als ihre gemeinsame Wurzel zurückführen. Das gibt nicht nur der Frage nach dem Menschen, seinem Vernunftbewusstsein und seiner leibseelischen Individualität eine besondere Wendung, sondern verändert zugleich auch die Bedeutung dessen, was in der langen Geschichte des abendländischen Denkens als »Metaphysik« bezeichnet wurde. Traditionellerweise versteht man unter dieser Bezeichnung die von Aristoteles erstmals in systematischer Abgrenzung zu den anderen Wissenschaften konzipierte »Wissenschaft vom Seienden als Seiendem« (ἐπιστήμη τις ἣ θεωρεῖ τὸ ὂν ᾗ ὄν / epistême tis hê theôrei to on hê on), 49 die von ihm auch als »göttliche Wissenschaft« (ἐπιστήμη θεολογική / epistême theologikê) 50 sowie als »Erste Philosophie« (πρώτη φιλοσοφία / prôtê philosophia) 51 bezeichnet wird, insofern sie es mit dem im höchsten Maße Seienden (d. h. dem Göttlichen) bzw. mit den ersten Prinzipien und Ursprüngen alles Seienden zu tun hat. Im weiteren Verlauf der abendländischen Philosophiegeschichte erscheint insbesondere das Verhältnis zwischen dem »onSecondo Bongiovanni bezeichnet in seiner vergleichenden Studie zu Meister Eckhart und Husserl die Frage nach dem Ich (ego) und die damit in Verbindung stehende Vorstellung einer grundlegenden »Freiheit des Denkens« zutreffend als den gemeinsamen Topos (lieu commun) ihres Philosophierens. Allerdings konzentriert er sich in seinen Analysen vornehmlich auf diesen subjekttheoretisch-anthropologischen Aspekt, ohne die weiteren Gemeinsamkeiten von Eckharts und Husserls Denken hinsichtlich ihres Weltbegriffs, ihres Lebensbegriffs sowie ihres Verständnisses von Metaphysik bzw. Erster Philosophie näher zu beleuchten (vgl. S. Bongiovanni, »Phénoménologie et mystique spéculative«, 18 f.). 49 Aristoteles, Metaphysik IV 1, 1003 a 21–22. 50 Aristoteles, Metaphysik XI 7, 1064 b 1–3; vgl. auch ebd. I 2, 983 a 5–11. 51 Aristoteles, Metaphysik VI 1, 1026 a 10–25. 48
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tologischen« und dem »theologischen« Aspekt der Metaphysik strittig und führt zu immer neuen Versuchen, diese beiden Gegenstandsbereiche systematisch aufeinander hinzuordnen. 52 Eine solche Neubestimmung ist deswegen nötig, weil vor dem Hintergrund des biblischen Schöpfungsgedankens das Verhältnis der Wirklichkeit in ihrer Gesamtheit zu Gott bzw. dem Göttlichen anders gedacht wird als in der griechischen Philosophie, nämlich als ein Hervorgang, der nicht mehr aus Notwendigkeit, sondern aus Freiheit erfolgt. Damit wird die Möglichkeit einer philosophischen Erkenntnis des göttlichen Wesens problematisch, sofern diese im Ausgang von der nunmehr als kontingent erkannten Naturwirklichkeit erfolgen soll. Wenn die Vernunft des Menschen nicht mehr in der Lage ist, mit Gewissheit, sondern nur noch mit einer mehr oder weniger großen Wahrscheinlichkeit von der Struktur der empirischen Wirklichkeit auf das Göttliche zu schließen, dann folgt daraus, dass der primäre und eigentliche Gegenstand der Metaphysik nicht mehr Gott sein kann, sondern nur noch das Seiende als Seiendes (ens inquantum ens). Das bedeutet nicht, dass Gott überhaupt nicht mehr Gegenstand philosophischer Betrachtung werden könnte, wohl aber, dass er nur indirekt erörtert werden kann, nämlich insofern er mit dem Seienden in einem kausalen Zusammenhang steht. Diese Beschränkung der philosophischen Theologik auf Gott, insofern er »erste Ursache« der Wirklichkeit ist, lässt Raum für eine davon unterschiedene Offenbarungstheologie, die Gott, insofern er Gott ist, zum Gegenstand hat. 53 Die dritte von Aristoteles verwendete Bezeichnung der Metaphysik, die der »Ersten Philosophie«, erscheint hingegen wesentlich weniger problematisch, da sie relativ zwanglos entweder dem ontologischen oder dem theologischen Aspekt zugeordnet werden kann: Versteht man das »Erste« im ontologischen Sinne als oberstes, wirkursächliches Prinzip des Werdens und Entstehens, kann man es mit Gott identifizieren; bezieht man es hingegen im epistemologischen Sinne auf die obersten Prinzipien der Erkenntnis, lässt es sich wieder Vgl. J.-F. Courtine, Suárez et le système de la métaphysique, Paris, Vrin, 1990, 9– 154; A. Zimmermann, Ontologie oder Metaphysik? Die Diskussion über den Gegenstand der Metaphysik im 13. und 14. Jahrhundert, Leuven, Peeters, 1998, vor allem 119–250; L. Honnefelder, Ens inquantum ens. Der Begriff des Seienden als solchen als Gegenstand der Metaphysik nach der Lehre des Johannes Duns Scotus, Münster, Aschendorff, 1979. 53 Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae I, q. 1, a. 1 c; a. 7 c; ders., In Boethii De Trinitate, q. 5, a. 4 c; ders., Summa contra Gentiles III, cap. 41. 52
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dem ontologischen Aspekt der Metaphysik als schlechthin universaler, allumfassender Wissenschaft zuschlagen. 54 Umso überraschender ist es daher, dass sowohl Meister Eckhart als auch Husserl die Synonymie der Metaphysik als der »Wissenschaft vom Seienden als solchem« mit der »Ersten Philosophie« aufheben. 55 Insofern das ens inquantum ens den Horizont der Wirklichkeit in ihrer Gesamtheit darstellt, ist es lediglich der erste Gegenstand des Denkens, nicht aber das von der Philosophie zu thematisierende Erste schlechthin. Dieses muss vielmehr auf Seiten des denkenden Bewusstseins selbst gesucht werden, das sich gerade nicht mehr als Teil des Seienden als solchen begreift, sondern als eine davon qualitativ unterschiedene Größe. Entgegen der Deutung Heideggers, der die abendländische Philosophie als ganze von einer onto-theologischen Denkstruktur durchzogen sieht, 56 erweisen sich sowohl Meister Eckhart als auch Husserl als Vertreter eines philosophischen Ansatzes, den man als Proto-Egologie bezeichnen könnte. 57 Es geht ihnen um das Ich als jenes Erste, Secundum igitur tria praedicta, ex quibus perfectio huius scientiae attenditur, sortitur tria nomina. Dicitur enim scientia divina sive theologia, inquantum praedictas substantias considerat. Metaphysica, inquantum considerat ens et ea quae consequuntur ipsum. Haec enim transphysica inveniuntur in via resolutionis, sicut magis communia post minus communia. Dicitur autem prima philosophia, inquantum primas rerum causas considerat. Sic igitur patet quid sit subiectum huius scientiae, et qualiter se habeat ad alias scientias, et quo nomine nominetur (Thomas von Aquin, In XII libros Metaphysicorum Aristotelis expositio, Prooemium [ed. M.-R. Cathala / R. M. Spiazzi], Torino / Roma, Marietti, 1950, 2b). – De quibus omnibus est theologia, id est scientia divina, quia praecipuum in ea cognitorum est Deus, quae alio nomine dicitur metaphysica, id est trans physicam, quia post physicam discenda occurrit nobis, quibus ex sensibilibus oportet in insensibilia devenire. Dicitur etiam philosophia prima, in quantum aliae omnes scientiae ab ea sua principia accipientes eam consequuntur (ders., In Boethii De Trinitate, p. 3, q. 5, a. 1 c 3). – Ultimus ergo terminus resolutionis in hac via est, cum pervenitur ad causas supremas maxime simplices, quae sunt substantiae separatae. Quandoque vero procedit de uno in aliud secundum rationem, ut quando est processus secundum causas intrinsecas: componendo quidem, quando a formis maxime universalibus in magis particulata proceditur; resolvendo autem quando e converso, eo quod universalius est simplicius. Maxime autem universalia sunt, quae sunt communia omnibus entibus. Et ideo terminus resolutionis in hac via ultimus est consideratio entis et eorum quae sunt entis in quantum huiusmodi. Haec autem sunt, de quibus scientia divina considerat, ut supra dictum est, scilicet substantiae separatae et communia omnibus entibus (ebd., q. 6, a. 1 c 22). 55 Vgl. E. Husserl, Ideen I, § 63 (Hua III), 151. 56 Vgl. M. Heidegger, Beiträge zur Philosophie [Vom Ereignis] (GA 65), Frankfurt a. M., Klostermann, 21994, 169–224; ders., »Die onto-theo-logische Verfassung der Metaphysik«, in: ders., Identität und Differenz, Pfullingen, Neske, 101996, 31–67. 57 Der Begriff »Egologie« wird von Husserl selbst geprägt, um seinen Ansatz einer 54
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das als solches weder ein Seiendes noch ein Göttliches ist, sondern vielmehr die Grundbedingung dafür darstellt, dass sich das Denken überhaupt auf diese beiden von der klassischen Metaphysik thematisierten Wirklichkeitsbereiche beziehen kann. Darüber hinaus ist das Ich bei beiden Autoren aber auch der Ort, an dem das Denken durch Analyse seiner eigenen Wesensstruktur an seine Grenzen geführt wird und den Rückgang zu einem vor-ichlichen, aber dennoch innerhalb des Bewusstseins liegenden, mit der Sprache der bereits konstituierten Wirklichkeit nicht adäquat zu fassenden Einheitsgrund vollzieht. Die Frage nach dem ersten Ursprung erfährt bei den beiden Autoren somit eine grundlegende Wandlung; handelt es sich doch beim Ich nicht mehr um ein inhaltlich bestimmbares, objektivierbares Prinzip der Erkenntnis bzw. der Wirklichkeit als ganzer, sondern um den nur in der Perspektive der Ersten Person zugänglichen, akthaften Durchbruchspunkt der Wirklichkeit des Bewusstseins als solchen in seiner untrennbaren Einheit von Selbstgegebenheit und Selbstentzogenheit. Gerade weil das Ich die Grundbedingung für alle bewussten Bezüge auf die Welt oder auf Gott hin darstellt, bleibt es in seinem beständigen Fungieren zumeist sich selbst verborgen und läuft damit Gefahr, sich zu verkennen, indem es sich für einen Teil der von ihm erfahrenen Wirklichkeit hält. Das bedeutet, dass eine ausdrückliche philosophische Thematisierung des Ich nicht unmittelbar erfolgen kann, so als läge es bereits vor wie ein objektivierbarer Wirklichkeitsbereich unter anderen. Vielmehr muss es erst mittels einer geeigneten Methode freigelegt werden, die am Selbstbezug und an der Selbstauslegung des denkenden Subjekts ansetzt und den qualitativen Unterschied zwischen dem Ich und der von ihm erkannten Wirklichkeit sichtbar werden lässt. Dieser Methodenschritt wird von Meister Eckhart mit dem Begriff der »Abgeschiedenheit« und von Husserl mit dem der »phänomenologischen Reduktion« bzw. der »Epoché« bezeichnet. Anders, als diese Begriffe nahezulegen scheinen, handelt es sich dabei jedoch phänomenologischen Auslegung des Bewusstseinslebens zu charakterisieren (vgl. dazu E. Husserl, Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge [Hua I], Den Haag, Nijhoff, 1950, 69). Meister Eckhart selbst erfindet für seinen wesentlich am Ich festgemachten Rückgang in den Ursprung keinen vergleichbaren Begriff, doch ist sein Ansatz von der Sache her in der Tat »egologisch« und nicht »ontologisch«, da die Sphäre des Intellekts, zu der das Ich gehört, nicht Teil des Seienden (ens) ist, sondern über diesem steht (vgl. Eckhart, In Exod. n. 265, LW II 213,11–214,7).
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nicht um einen Rückzug des Bewusstseins von der Welt in eine Sphäre solipsistischer Immanenz oder um eine quantitative Beschneidung des für die Erste Philosophie relevanten Wirklichkeitsbereichs, sondern vielmehr um eine qualitative Veränderung der Deutung des Verhältnisses von Ichbewusstsein und Welt insgesamt. Diese Veränderung ist nicht gradueller Natur, sondern besteht in einem radikalen Umschlag der Perspektive, der seinen Ursprung allein in der Freiheit des denkenden Bewusstseins hat. Auch wenn die durch die Abgeschiedenheit bzw. die phänomenologische Reduktion freigelegten Strukturen Notwendigkeitscharakter besitzen, ergibt sich die Einsicht in diese Zusammenhänge keineswegs notwendigerweise aus dem innerweltlichen Erfahrungszusammenhang des Bewusstseins, sondern entspringt allein der freien Entscheidung des denkenden Ich, sich selbst lieber aus dem Nichts als aus dem Etwas, lieber aus dem schlechthin Nichtphänomenalisierbaren als aus dem phänomenal Gegebenen namens »Welt« verstehen zu wollen. 58
3.2
Die Egologien Meister Eckharts und Husserls im Unterschied zu den Subjektphilosophien Descartes’ und Kants
Die zentrale Rolle, die das ichliche Bewusstsein im Denken Eckharts und Husserls einnimmt, könnte auf den ersten Blick den Eindruck erwecken, als stellten ihre Ansätze eine bloße Antizipation bzw. Fortführung jener neuzeitlichen Subjektphilosophie dar, für die in paradigmatischer Weise die Namen René Descartes und Immanuel Kant stehen. Dabei wird jedoch übersehen, dass die jeweiligen Konzeptionen von Ichlichkeit und Personalität sich in einem derart hohen Maße voneinander unterscheiden, dass die Vorstellung eines homogenen subjektphilosophischen Kontinuums innerhalb der Philosophiegeschichte unhaltbar erscheint. Dadurch eröffnet sich eine alternative Entwicklungslinie innerhalb der Geschichte des philosophischen Denkens, die von Heideggers Kritik am onto-theologischen Paradigma der abendländischen Philosophie im Allgemeinen sowie
Diesen grundlegenden Freiheitscharakter der phänomenologischen Reduktion hat d. Verf. an anderer Stelle ausführlicher thematisiert. Vgl. dazu M. Roesner, »Das große Spiel der Epoché. Die transzendentalphänomenologische Einstellung zwischen natürlichem Weltverhalten und theoretischer Wissenschaft«, Husserl Studies 24 (2008), 31–52.
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am traditionellen Subjektdenken im Besonderen nicht berührt wird. Das, was er der Metaphysik insgesamt vorwirft – nämlich dass sie das Sein des Seienden auf seine bloße »Gegenständlichkeit« für das Denken reduziert und es der berechnend-planenden Herrschaft der Technik unterworfen habe –, gilt, wenn überhaupt, nur für jene Strömungen der abendländischen Philosophiegeschichte, die das Verhältnis von Subjektivität und Welt in der einen oder anderen Richtung nach dem Modell der Wirkursächlichkeit deuten. Dass dies keineswegs auf alle philosophischen Denkrichtungen zutrifft und dass nicht jede Art der Ich- oder Bewusstseinsphilosophie die Form des von Heidegger kritisierten Subjektdenkens annimmt, soll im Verlauf der vorliegenden Untersuchung deutlich werden. 3.2.1
Die Endlichkeit des cartesianischen Ich und seines Gottesbezugs
Der Versuch, Eckhart und Husserl als Ahnherrn bzw. Nachfahren des cartesianischen Ansatzes zu interpretieren, erscheint auf den ersten Blick naheliegend, wenn man bedenkt, dass auch Descartes an den Anfang seines philosophischen Weges den religiös konnotierten Begriff der »Meditation«, also der inneren Sammlung, Selbstbesinnung und introspektiven Gedankenführung setzt. Dieser methodische Grundgestus betont zunächst einmal die existenzielle Dimension der Suche nach wahrer Erkenntnis: Was die Möglichkeit gültiger Wirklichkeitserkenntnis verbürgt, ist keine Sachinformation unter anderen, die sich von außen gewinnen ließe, sondern kann nur auf immanent-reflexivem Wege freigelegt werden. 59 Allerdings fällt der Ansatzpunkt dieser erkenntniskritischen Unternehmung nicht mit dem letzten Fundament der zu gewinnenden Gewissheit zusammen; gewinnt das cartesianische ego sein explizites Selbstbewusstsein doch mittels eines hyperbolischen Zweifelversuchs, dem das Wissen um die Endlichkeit und Fehlbarkeit der eigenen Erkenntnis zugrunde liegt. 60 Das sich auf sich selbst besinnende ego kann sich lediglich im Modus performativer Faktizität seiner selbst gewiss sein, vermag aber
Zu den augustinischen Wurzeln der cartesianischen Methode der Wahrheitssuche vgl. E. Bermon, Le ›Cogito‹ dans la pensée de saint Augustin, Paris, Vrin, 2001. 60 Vgl. R. Descartes, Meditationes de prima philosophia I, in: ders., Œuvres complètes (ed. C. Adam / P. Tannery; im Folgenden abgekürzt AT), Bd. VII, Paris, Vrin, 2 1996, 17–23. 59
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gerade aufgrund dieses inhaltsleeren Vollzugscharakters nicht, aus eigener Kraft zur gewissen Erkenntnis intentionaler Gedankeninhalte zu kommen. Dazu bedarf es des Rekurses auf die göttliche Schöpferkraft, Allmacht und Wahrhaftigkeit, die die Welt so eingerichtet hat, dass der menschliche Geist fähig ist, zu gültiger Erkenntnis zu gelangen. Es gibt also keine »ewigen Wahrheiten« mehr, die unabhängig von der Existenz eines Schöpfergottes als absolut gewiss erkannt werden könnten – nicht einmal im Bereich der Mathematik –, sondern vielmehr ist auch das vermeintlich rein apriorische Geflecht gedanklicher Idealitäten das Resultat eines bewusst gewollten, wirkursächlichen Aktes seitens des göttlichen Geistes. 61 Die Endlichkeit des cartesianischen ego ist des Weiteren auch daran ablesbar, dass selbst die allen konkreten Gedankeninhalten vorgeordnete, unbezweifelbare Gewissheit des ego sum, ego existo letztlich nur wieder kontingenter Natur ist; bestimmt Descartes das ego doch als geschaffene, endliche Seele (mens), die aus der punktuell erfahrenen Gewissheit ihres faktischen Seins keine Fortdauer ihrer Existenz in der Zeit ableiten kann. 62 Das Faktum des denkenden Bewusstseins erklärt sich somit nicht aus sich selbst heraus, sondern hängt wiederum an der wirkursächlich verstandenen Schöpfungs-
Sed quoties haec praeconcepta de summa Dei potentia opinio mihi occurrit, non possum non fateri, siquidem velit, facile illi esse efficere ut errem, etiam in iis quae me puto mentis oculis quam evidentissime intueri (»Immer wenn sich mir diese vorgefasste Meinung über die Allmacht Gottes darbietet, kann ich nicht umhin, einzuräumen, dass, wenn er es denn will, es ihm ein leichtes wäre, zu bewirken, dass ich mich auch in dem irre, von dem ich meine, es mit den Augen des Geistes am evidentesten zu erblicken« [R. Descartes, Meditationes de prima philosophia III, AT VII, 36; dt. Übers. von C. Wohlers in: R. Descartes, Meditationes de prima philosophia (lat./ dt.), Hamburg, Meiner, 2008, 71]). Die »metaphysische Angst«, die das Subjekt der cartesianischen Meditationes verfolgt, liegt darin begründet, dass die Evidenz, mit der es sich der Wahrheit seiner mathematischen Operationen sicher zu sein glaubt, ihm keinerlei Auskunft darüber gibt, ob die Ergebnisse seiner Berechnungen auch vom Standpunkt Gottes aus wahr wären. Damit ist jeder Strukturanalogie zwischen menschlichem und göttlichem Geist der Boden entzogen und der Möglichkeitsgrund wissenschaftlicher Wahrheitserkenntnis ausschließlich in letzterem verankert (vgl. dazu M. Božovič, Der große Andere. Gotteskonzepte in der Philosophie der Neuzeit, Wien, Turia & Kant, 1993, 39. 43). 62 Vgl. R. Descartes, Meditationes de prima philosophia III, AT VII, 49. Dies ist der Grund dafür, dass in Descartes’ Augen ein Atheist sich bestenfalls der Wahrheit in der unmittelbaren Gegenwartsform gewiss sein könnte, aber keine Gewähr dafür besäße, dass auch seine Erinnerungen an vergangene Wahrheitserkenntnis dieselbe Gültigkeit hätten (vgl. dazu M. Božovič, Der große Andere, 49. 52 f.). 61
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und Erhaltungstätigkeit Gottes. Letztlich ist das cartesianische ego also immer noch Teil des kausalen Zusammenhangs der Wirklichkeit, auch wenn es nicht als Produkt der dinglichen Natur, sondern als Ergebnis der göttlichen Schöpfermacht gedeutet wird. Damit verweist es über sich selbst hinaus auf einen transzendenten Grund, den es nur indirekt erschließen, aufgrund seiner eigenen Endlichkeit aber nicht konstituieren kann. 63 Letztlich ist es somit nicht die Ähnlichkeit, sondern die Unähnlichkeit der menschlichen Vernunft gegenüber dem göttlichen Geist, die in Descartes’ Philosophie des Ich im Mittelpunkt steht. Die Beziehung zwischen Gott und dem sich philosophisch selbstbesinnenden ego ist insofern äußerlicher, asymmetrischer Natur, als Gott den menschlichen Geist zwar geschaffen hat und ihn beständig im Sein erhält, umgekehrt aber in keiner Weise auf diesen Bezug zu einem außerhalb seiner selbst liegenden Vernunftwesen und dessen Selbsterkenntnis angewiesen ist. 64 Diese Asymmetrie wird in Descartes’ Interpretation des biblischen Motivs der »Gottebenbildlichkeit« des Menschen besonders deutlich erkennbar: [O]mnino est concludendum, ex hoc solo quod existam, quaedamque idea entis perfectissimi, hoc est Dei, in me sit, evidentissime demonstrari Deum etiam existere. Superest tantum ut examinem qua ratione ideam istam a Deo accepi; neque enim illam sensibus hausi, […] nec etiam a me efficta est […]; ac proinde superest ut mihi sit innata, quemadmodum etiam mihi est innata idea mei ipsius. Et sane non mirum est Deum, me creando, ideam illam mihi indidisse, ut esset tanquam nota artificis operi suo impressa; nec etiam opus est ut nota illa sit aliqua res ab opere ipso diversa. Sed ex hoc uno quod Deus me creavit, valde credibile est me quodammodo ad imaginem et similitudinem ejus factum esse, illamque similitudinem, in qua Dei idea continetur, a me percipi per eandem facultatem, per quam ego ipse a me percipior: hoc est, dum in meipsum mentis aciem converto, non modo intelligo me esse rem incompletam et ab alio dependentem, remque ad majora et majora sive meliora indefinite aspirantem; sed simul etiam intelligo illum, a quo pendeo, majora ista omnia non indefinite et potentia tantum, sed reipsa infinite in se habere, atque ita Deum esse. Insgesamt ist also zu schließen, dass allein daraus, dass ich existiere und die bestimmte Idee eines äußerst vollkommenen Seienden, will sagen: die Idee Gottes, in mir ist, sich ganz evident beweisen lässt, dass auch Gott existiert. Es steht nun noch aus, zu prüfen, auf welchem Wege ich von Gott diese Idee erhalten habe. Ich habe sie nicht aus den Sinnen geschöpft […]. Ich habe sie 63 64
Vgl. R. Descartes, Meditationes de prima philosophia VI, AT VII, 65–71. Vgl. R. Descartes, Meditationes de prima philosophia III, AT VII, 40–52.
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auch nicht selbst ausgebildet […]. Demnach bleibt nur übrig, dass sie mir angeboren ist, so wie mir auch die Idee meiner selbst angeboren ist. Außerdem ist es überhaupt nicht verwunderlich, dass Gott, als er mich schuf, mir diese Idee eingegeben hat, gleichsam als ein seinem Werk aufgedrucktes Kennzeichen des Technikers. Auch ist es nicht nötig, dass dieses Kennzeichen irgendein von dem Werk selbst verschiedenes Ding sei. Sondern es ist allein deshalb, weil Gott mich geschaffen hat, äußerst glaubhaft, dass ich gewissermaßen nach seinem Bild und als sein Abbild gemacht bin, und dass dieses Abbild, in dem die Idee Gottes enthalten ist, von mir durch dasselbe Vermögen erfasst wird, durch das ich mich selbst erfassen kann. Solange ich also die Schärfe des Geistes auf mich selbst ausrichte, sehe ich nicht nur ein, dass ich ein unvollständiges und von einem anderen abhängiges Ding bin, und zwar ein Ding, das unbegrenzt zu immer Größerem und noch Größerem, bzw. Besserem zu gelangen versucht; sondern ich sehe zugleich auch ein, dass der, von dem ich abhänge, alles dies Größere nicht nur unbegrenzt und der Möglichkeit nach, sondern tatsächlich unendlich in sich hat, und demnach Gott ist. 65
Der Vergleich der Beziehung zwischen Gott und der Seele mit dem Verhältnis zwischen dem Handwerker und dem von ihm signierten Produkt macht deutlich, dass das »Bild« allenfalls die Handschrift seines Urhebers trägt, aber keinesfalls ein ebenbürtiges Gegenüber darstellt, in dem Gott sich selbst so erkennen könnte, wie er ist. Was der geschaffenen menschlichen Seele einwohnt, ist lediglich die Idee Gottes, d. h. die Vorstellung dessen, was Gott ist, im Modus der Möglichkeit, aber nicht der Wirklichkeit nach. Das bedeutet, dass die Erkenntnis der uns immer schon innewohnenden Idee Gottes Teil der adäquaten menschlichen Selbsterkenntnis ist, aber nicht umgekehrt, da Gott die ihm eigene Wirklichkeitsfülle und Unendlichkeit nur in einem ontologisch gleichwirklichen und gleichmächtigen Gegenüber erkennen könnte und nicht in der lediglich als Gegenstand des Denkens gegebenen Vorstellung, die ein endlicher Geist von ihm hat. Auch wenn Descartes zwischen der realitas obiectiva der Idee Gottes im menschlichen Geist und der realitas formalis Gottes, wie er in sich existiert, eine univoke Übereinstimmung annimmt, führt dies jedoch nicht zu einer Transformation der realitas formalis des menschlichen Denkens als solchen. 66 Auch unter der Voraussetzung, dass das cartesianische ego durch die ihm eingeborene idea Dei Gott tatsächlich R. Descartes, Meditationes de prima philosophia III, AT VII, 51; dt. Übers. 101. 103. 66 Vgl. A. Goudriaan, Philosophische Gotteserkenntnis bei Suárez und Descartes im 65
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adäquat erkennen kann, bleibt sein eigener Seinsmodus als denkendes Bewusstsein doch nach wie vor endlich und kann somit nicht Teil von Gottes Selbsterkenntnis werden. 67 Diese Betonung der Endlichkeit und Kreatürlichkeit des erkennenden Subjekts hat weitreichende Konsequenzen für Descartes’ Philosophieverständnis. Zwar ersetzt er in der lateinischen Fassung seiner Meditationes den Begriff »Metaphysik« durch die neutralere Bezeichnung »Erste Philosophie« (prima philosophia) und entwirft diese im Ausgang von dem introspektiv gewonnenen Prinzip des ego, doch ist die auf dem Wege der meditatio durchgeführte Freilegung des denkenden Subjekts bei ihm kein Selbstzweck. Wohl ist die von Descartes vorgenommene Thematisierung der je eigenen, denkenden Subjektivität und ihrer ontologischen Abhängigkeit von Gott der Garant für die Gewinnung gesicherter Erkenntnis in den anderen wissenschaftlichen Disziplinen (Physik, Mechanik, Medizin und Moral), 68 doch stellt sie kein bleibendes philosophisches Thema sui generis dar, im Gegenteil: In Descartes’ Augen wäre eine dauerhafte Beschäftigung mit der Metaphysik ein fruchtloses und unnützes Unterfangen, so als wollte man sich beständig mit den Wurzeln des »Baumes der Wissenschaft« befassen, anstatt seine Äste zu kultivieren und von ihnen Früchte zu pflücken. 69 Der Grund dafür ist leicht ersichtlich, da das cartesianische ego durch seine Selbstbesinnung erkennt, dass das letzte Geltungsfundament seiner Erkenntnis gerade nicht in ihm selbst zu finden ist. Deshalb wäre eine kontinuierlich fortgesetzte »Egologie« letztlich ein sinnloses, ja strenggenommen unmögliches Unterfangen: sinnlos, weil das Ichbewusstsein als individuelle seelische Wirklichkeit verstanden wird, so dass die Egologie von der rationalen Psychologie nicht zu unterscheiden wäre; unmöglich, weil das ego selbst ein absolut inhaltsleerer Punkt ist, der lediglich unter methodischen Gesichtspunkten von Relevanz ist, darüber hinaus aber keine eigenständige Wirklichkeitssphäre eröffnet, die Gegenstand einer dauerhaften wissenschaftlichen Betrachtung sein könnte. Zusammenhang mit der niederländischen reformierten Theologie und Philosophie des 17. Jahrhunderts, Leiden, Brill, 1999, 220. 226. 67 Vgl. A. Goudriaan, Philosophische Gotteserkenntnis bei Suárez und Descartes, 278. 68 Vgl. R. Descartes, Meditationes de prima philosophia I, AT VII, 17; ders., LettrePréface des Principes de la Philosophie, AT IX/2, 16–20. 69 Vgl. R. Descartes, Lettre-Préface des Principes de la philosophie, AT IX/2, 14 f.
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Insofern unterscheidet sich das cartesianische Verständnis der Ersten Philosophie deutlich von jener Form ichlicher Besinnung, die den Ansätzen Eckharts und Husserls zugrunde liegt. In ihren jeweiligen egologischen Entwürfen stellt die Selbstbesinnung und Selbstauslegung des Ich mitsamt seinem weltlich vermittelten Erfahrungszusammenhang eine bleibende Aufgabe dar, deren Sinnhaftigkeit nicht in wissenschaftstheoretischen Begründungsstrategien aufgeht, sondern dem Menschen als Menschen aufgegeben ist. Das bedeutet keineswegs, dass wissenschaftliche Erkenntnis als solche in existenzieller Hinsicht irrelevant wäre und in keinem inneren Zusammenhang mehr zur menschlichen Selbsterkenntnis und Selbstwerdung stünde. Wohl aber bedeutet es, dass die denkerische Selbstbesinnung des Menschen nicht auf einen bloßen Unterbau des wissenschaftlichen Weltverhaltens reduziert werden darf, sondern umgekehrt allen anderen Wissens- und Erkenntnisformen einen umfassenden theoretischen wie ethischen Entwicklungshorizont vorgibt. Aus diesem Grund kann das »Ich« auch nicht in wirkursächlicher Weise auf ein anderes ontologisches Fundament zurückgeführt werden, sondern ist selbst der konstitutive Ursprung, von dem aus so etwas wie Natur mitsamt dem ihr eigenen Gesetz der Kausalität verstanden werden muss. Da Eckhart und Husserl ihre jeweiligen philosophischen Entwürfe wesentlich in einer bestimmten Grundhaltung bzw. einem Methodenschritt verankern, ist es nur folgerichtig, dass die klassische Frage nach dem Gegenstandsbereich der Philosophie als Wissenschaft nicht länger am Anfang ihres Denkens steht. 70 Wo derlei systematische Fragen gestellt werden, geschieht dies im Verlauf ihrer Überlegungen, wenn es von der Sache her erforderlich ist, doch primär geht es ihnen um die Analyse und Deutung der Erlebenszusammenhänge des Ichbewusstseins als solchen in seiner vorwissenschaftAlbert Zimmermann kommt in Bezug auf Meister Eckhart zu der Schlussfolgerung, dass die Frage nach dem subiectum der Metaphysik in seinem Denken keine Rolle spiele. Dies ist nicht ganz zutreffend, da sich in Eckharts Schriften sehr wohl Äußerungen zu diesem Thema finden, doch hat Zimmermann insofern recht, als diese Bemerkungen über Eckharts Gesamtwerk verstreut sind, anstatt, wie bei den scholastischen Autoren üblich, in systematischer Weise am Anfang seiner Werke abgehandelt zu werden (vgl. A. Zimmermann, Ontologie oder Metaphysik?, 1). Was Husserl anbetrifft, so steht über lange Jahre die Arbeit an konkreten phänomenologischen Problemstellungen im Mittelpunkt seines Interesses. Erst relativ spät beginnt er, die von ihm begründete Transzendentalphänomenologie in ausdrücklicher Weise zu den traditionellen Einteilungsschemata der Wissenschaften in Beziehung zu setzen.
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lichen Allgemeinheit. Weder Eckhart noch Husserl beginnen damit, dass sie ihrem Denken innerhalb des bestehenden Gebäudes der Wissenschaften einen systematischen Platz zuzuweisen versuchen. Vielmehr gehen sie vom Erleben des erfahrungsmäßig Gegebenen aus und legen dessen Strukturen frei, um auf dieser Grundlage das Verhältnis zwischen dem vorwissenschaftlichen und dem wissenschaftlich-theoretischen Weltverhalten grundlegend neu zu bestimmen. Dabei entwerfen sie beide kein philosophisches System, doch besitzt ihr Denken sehr wohl eine spezifische Systematik, insofern sämtliche Begriffe, Differenzen und Einteilungsschemata aus dem Ich, seinem Selbstverhältnis sowie seinem Verhältnis zur Welt heraus neu entwickelt werden. Letztlich ist bei Meister Eckhart wie auch bei Husserl der Begriff des Lebens die Matrix, die das vortheoretische wie auch das theoretisch-wissenschaftliche bzw. philosophische Weltverhalten umfasst und zusammenhält. »Leben« ist dabei nicht einfach der Gegenpol zum theoretischen Denken, sondern Synonym für die untrennbare Einheit zwischen der grundlosen Spontaneität des Bewusstseins, das in beständiger Selbstkonstitution seine eigene Form hervorbringt, und seiner Rezeptivität gegenüber den ihm gegebenen, im weitesten Sinne als »Welt« zu bezeichnenden Inhalten, deren materiales Moment das Ich nicht produzieren, wohl aber sich anverwandeln und damit zu einem integralen Bestandteil seiner eigenen Wirklichkeit machen kann. Es gibt bei Eckhart wie bei Husserl daher keine Dichotomie zwischen einer »Philosophie nach dem Schulbegriff« und einer »Philosophie nach dem Weltbegriff«, sondern nur eine einzige Form des philosophischen Denkens, die aus den verschiedenen Dimensionen des Menschseins erwächst und auf den Menschen als solchen zurückwirkt. 3.2.2
Der Dualismus von Ich und Personalität bei Kant
Vor dem Hintergrund der bisherigen Überlegungen könnte man annehmen, dass die Philosophie Kants eine weit größere innere Verwandtschaft zu Eckharts und Husserls philosophischen Entwürfen aufweist als die Descartes’; ist doch die Einsicht, dass die verschiedenen Themenbereiche und Disziplinen der Philosophie letztlich in der Natur des Menschen wurzeln und sich auf diese zurückführen lassen, wohl von keinem Denker mit größerer Klarheit ausgesprochen worden als von dem großen Königsberger Philosophen. Er führt die drei Grundfragen »Was kann ich erkennen?«, »Was soll ich tun?«, »Was 48 https://doi.org/10.5771/9783495821633
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darf ich hoffen?«, die jeweils für die Metaphysik bzw. die theoretische Vernunft, die Moral bzw. die praktische Vernunft sowie die Religion bzw. die Frage nach dem teleologischen Endziel der Wirklichkeit stehen, auf die Frage »Was ist der Mensch?« zurück. 71 Letztlich sind also für Kant in der Anthropologie sämtliche Teildisziplinen der Philosophie virtuell enthalten, da ihre jeweiligen Gegenstandsbereiche in den verschiedenen Seelenvermögen des Menschen ihr systematisches Korrelat finden. Problematisch ist allerdings, dass Kants Anthropologie weitgehend die überkommenen Schemata der aus der Schulmetaphysik stammenden rationalen Psychologie übernimmt, ohne sie als solche auf den Prüfstand zu stellen und auf ihre Stichhaltigkeit hin zu untersuchen. Dies gilt insbesondere für die Rede von den »Vermögen des Gemüts« (Sinnlichkeit, Verstand, Willen usw.), die bereits eine bestimmte Gliederung und Unterteilung des menschlichen Bewusstseins auf der Subjektseite voraussetzen, ohne zunächst einmal den Erlebenszusammenhang als solchen in seiner grundlegenden Kontinuität und vorkategorialen Einheit zu betrachten. 72 Die Bedeutung der »menschlichen Natur« bleibt insofern unterbestimmt, als Kant dabei apriorische und aposteriorische, transzendental-formale und empirisch-universale Elemente vermengt, ohne diese Vorgehensweise ausdrücklich zu reflektieren und zu rechtfertigen. Sein anthropologischer Ansatz setzt das Menschsein als solches mit Personhaftigkeit und Vernunftbegabtheit gleich, 73 ohne das Verhältnis zwischen der individuellen menschlichen Person und dem transzendentalen Subjekt hinreichend zu bestimmen. Diese Schwierigkeit ist darauf zurückzuführen, dass das »Ich«, wie Kant es in der Kritik der reinen Vernunft entwirft, lediglich eine logische Einheitsfunktion zur Verbindung erscheinungshaft gegebener Inhalte darstellt, als solches aber nichts von »Existenz« an sich hat. 74 Aus diesem Grunde kann es auch auf dem Wege der individuell-theoretischen 71 Vgl. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft (= KrV), A 805 f. / B 833 f.; ders., Logik, AA IX, Berlin / Leipzig, De Gruyter, 1923, 25. 72 Vgl. I. Kant, KrV, A 50–55 / B 74–79. 73 »Daß der Mensch in seiner Vorstellung das Ich haben kann, erhebt ihn unendlich über alle anderen auf der Erde lebenden Wesen. Dadurch ist er eine Person und vermöge der Einheit des Bewußtseins bei allen Veränderungen, die ihm zustoßen mögen, eine und dieselbe Person« (I. Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, AA VII, Berlin, Reimer, 1917, 127). Vgl. auch ders., Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, Berlin, Reimer, 1911, 428 f. 74 Vgl. I. Kant, KrV, B 419–432.
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Introspektion zu keiner inhaltlich bestimmten Selbsterfahrung gelangen, sondern ist dafür auf die wesentlich praktische orientierte, intersubjektive Lebenserfahrung angewiesen. 75 Das rein funktionale Ich der empirisch fundierten, theoretischen Welterfahrung und das konkret-menschliche Bewusstsein der praktischen Selbsterfahrung sind somit nicht systematisch vermittelt. Die Folge davon ist, dass Kants Personbegriff in eine logische und eine moralische Bedeutung zerfällt, ohne dass die Verbindung zwischen den beiden Ebenen plausibel gemacht würde. In seinem legitimen Bestreben, die dogmatische Vorstellung einer objektiv erkennbaren »Seelensubstanz« abzuwehren, reduziert Kant den theoretischen Begriff der Person auf seine reine funktionale Dimension, nämlich auf das Subjekt des »Ich denke« der transzendentalen Apperzeption. 76 Aus diesem Grund hat all das, was am Menschen selbst nicht mit diesem reinen Bewusstsein identisch ist, keinen personhaften Charakter, sondern verfällt dem Verdikt der innerweltlichen »Sächlichkeit«. Kant bestimmt daher das Verhältnis des kategorial fungierenden, transzendentalen Subjekts zu seiner innerweltlich erfahrbaren psychophysischen Leibstruktur dergestalt, dass es sich seiner selbst »als Objects der Anschauung« bewusst ist. 77 Dass der je eigene, empirisch-faktische Leib des einzelnen Subjekts auch unter transzendentalphilosophischen Gesichtspunkten weder von diesem selbst noch von seinen Mitmenschen erfahren wird wie ein innerweltlicher Gegenstand der Anschauung unter anderen, scheint ihm dabei entgangen zu sein. 78 Dies hat auch weitreichende Folgen für Kants Verständnis von Intersubjektivität. Generell spielt diese Thematik im Rahmen seiner Philosophie eine eher untergeordnete Rolle, und wenn er auf diese Fragestellung eingeht, macht er sie ausschließlich am Phänomen der Sprache fest, ohne die Möglichkeit einer vorsprachlich-intuitiven, leiblich vermittelten Alteritätserfahrung näher zu bedenken. 79 Vgl. I. Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, AA VII, 119–123. 141–143 sowie J. Schwartländer, Der Mensch ist Person. Kants Lehre vom Menschen, Stuttgart, Kohlhammer, 1968, 158. 76 I. Kant, KrV, B 131–136. 77 Vgl. I. Kant, Opus postumum IX, AA XXII, Berlin / Leipzig, De Gruyter, 1938, 22. 78 Vgl. dazu R. Paimann, Formale Strukturen der Subjektivität. Egologische Grundlagen des Systems der Transzendentalphilosophie bei Kant und Husserl, Hamburg, Meiner, 2002, 111. 79 Vgl. I. Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, AA VII, 192 f. Ludwig 75
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Methodologische Vorüberlegungen: Eine alternative Subjektphilosophie?
Letztlich ist diese Problematik bei Kant dadurch bedingt, dass er die »Einheit des Bewusstseins« im analytisch-apperzeptiven Sinne lediglich von der objektsynthetischen Funktion des Verstandes her zu denken vermag. Die Einheit des Selbstbewusstseins kann daher nicht aus diesem selbst heraus begründet werden, sondern wird sich selbst nur mittels einer transzendentallogischen Reflexion über das welterfahrende Bewusstsein zugänglich. Damit wird zwar nicht das »Ich« der Apperzeption als solches, wohl aber die Möglichkeit seiner Selbsterkenntnis als identisches Vernunftbewusstsein vom Vorhandensein einer sinnlich erfahrbaren Welt abhängig gemacht, deren Seinsweise durch Relativität und Kontingenz charakterisiert ist. 80 Als allgemeines Korrelat der Apperzeption ist »Ich« für Kant daher lediglich ein »Vorwort« (= Fürwort, Pronomen), in dem das Subjekt sein bloßes Dass-Sein, nicht aber sein Wie-Sein erkennt und das ihm somit auch keine Auskunft über die axiologische Dimension seiner Existenz als menschliches Vernunftwesen geben kann. 81 Die Unmöglichkeit, auf dem Wege der inneren Selbstwahrnehmung einen inhaltlich angereicherten Personbegriff zu gewinnen, führt dazu, dass Kant Personalität im eigentlichen Sinne nur auf moralischer Ebene denken kann. In diesem Zusammenhang steht sie für jenes mit sich selbst identische Aktionszentrum, dessen Spontaneität den von ihm vollzogenen Handlungen den Charakter der Freiheit und damit der ethischen bzw. juristischen Zurechenbarkeit verleiht. 82 Kants moralisch gefasster Personalismus ist derart ausgeprägt, dass Landgrebe führt das bei Kant beobachtbare Unvermögen, die unmittelbare Evidenz der Du-Erfahrung zu denken, darauf zurück, dass er das Ich nicht als einheitlichen Ursprung der Welteröffnung und Welterfahrung begreift, sondern es in eine Vielzahl von Vermögen zerlegt. Das Fehlen einer unmittelbaren Selbsterfahrung zieht somit unweigerlich die Leugnung bzw. Ausblendung der Möglichkeit einer unmittelbaren intersubjektiven Fremderfahrung nach sich (vgl. L. Landgrebe, Phänomenologie und Metaphysik, Hamburg, Schröder, 1949, 183). 80 Zu dieser fehlenden Begründung der Berechtigung des »Weltglaubens« bei Kant vgl. L. Landgrebe, Faktizität und Individuation. Studien zu den Grundfragen der Phänomenologie, Hamburg, Meiner, 1982, 96. 81 »Das Ich, das allgemeine Korrelat der Apperzeption und selbst bloß ein Gedanke, bezeichnet, als ein bloßes Vorwort, ein Ding von unbestimmter Bedeutung, nämlich das Subjekt aller Prädikate, ohne irgend eine Bedingung, die diese Vorstellung des Subjekts von dem eines Etwas überhaupt unterschiede, also Substanz, von der man, was sie sei, durch diesen Ausdruck keinen Begriff hat« (I. Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, AA IV, 542 f.). 82 Vgl. I. Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, AA VI, 26– 28 [B 15–19].
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Einführung
er nicht nur den Menschen, sondern sogar Gott selbst als »eine Person« bezeichnet. Dies stellt selbst nach den Maßstäben der klassischen christlichen Trinitätstheologie eine unzulässige Vereinfachung dar, da das komplexe Verhältnis zwischen dem einen, unteilbaren Wesen Gottes und der triadischen Differenzstruktur der Personen einfach wegfällt und Gott insgesamt auf eine Person reduziert wird, die noch dazu als Grenzfall menschlich-moralischer Personalität erscheint, nämlich als ausschließlicher Inhaber von Rechten, der selbst keinerlei Pflichten unterliegt, aber alle anderen Vernunftwesen durch Pflichten einschränken kann. 83 Selbst mit Blick auf das Absolute kann für Kant Vernunftbewusstsein demnach nicht anders gedacht werden denn als personales Sein. Dies ist insofern nicht unproblematisch, als er in der Kritik der reinen Vernunft dem menschlichen Bewusstsein zwar die Fähigkeit zubilligt, sich in logischer Hinsicht als identische Einheit zu erkennen, ihm aber die Möglichkeit bestreitet, daraus auf die eigene Identität als Person zu schließen. 84 Die Frage, ob diese Einschränkung auch für Gott gilt, bleibt dabei ungeklärt, ebenso wie die Frage, ob die von Kant in ihrer Möglichkeit bestrittene theoretische Erkenntnis der je eigenen Personalität wirklich den Charakter einer »Erkenntnis meiner selbst als Objekts« 85 hätte. In seiner moralischen Dimension hat der Personbegriff wiederum nur den Charakter einer regulativen Idee, so dass nicht klar wird, ob der Mensch als innerweltliche Erscheinung überhaupt mit dem Begriff der Personalität in Verbindung gebracht werden kann. 86 Das, was die Würde des Menschen ausmacht, hängt bei Kant demnach ganz am Begriff der Person, während das »Ich« nur die transzendentallogische Schwundstufe menschlicher Subjektivität darstellt. 87 Auch unternimmt er keinen wirklichen Versuch, die Beziehung zwischen logischer und moralischer PersönlichVgl. dazu I. Kant, Opus postumum VIII, AA XXI, Berlin / Leipzig, De Gruyter, 1936, 9–11. In der Religionsschrift kommt Kant auf die klassische christliche Trinitätslehre zu sprechen und kritisiert sie als unzulässigen und überdies in moralischer Hinsicht gänzlich entbehrlichen Anthropomorphismus. Was die drei trinitarischen Personen im traditionellen Sinne meinten, dürfe nur als Dreiheit moralischer Qualitäten ein und derselben göttlichen Persönlichkeit verstanden werden (vgl. I. Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, AA VI, 141–143 [B 213–216]). 84 Vgl. I. Kant, KrV, B 408 f. 85 I. Kant, KrV, B 409. 86 Vgl. W. Schmidt, Der Begriff der Persönlichkeit bei Kant, Langensalza, Hermann Beyer & Söhne, 1911, 70 f. 76 f. 83. 87 Vgl. dazu W. Schmidt, Der Begriff der Persönlichkeit bei Kant, 17 f. 30–33. 83
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Methodologische Vorüberlegungen: Eine alternative Subjektphilosophie?
keit genauer zu bestimmen, so dass letztlich unverständlich bleibt, wie die Funktionseinheit zwischen dem reinen Ich und der innerweltlichen Person sowie die unmittelbar erlebte Einheit des menschlichen Selbstbewusstseins in all seinen theoretischen und praktischen Vollzügen zustande kommt. 88 Genau an diesem Punkt wird der wesentliche Unterschied zwischen Kants Philosophie und den Ansätzen Meister Eckharts und Husserl deutlich; geben letztere sich doch nicht mit einer bleibenden Vielzahl menschlicher Seelenvermögen zufrieden, sondern sind bestrebt, die Ursprungseinheit des erkennenden und des handelnden Ich aufzuweisen und vor diesem Hintergrund auch das Verhältnis der verschiedenen philosophischen und wissenschaftlichen Disziplinen neu zu ordnen. Das Ich ist bei ihnen nicht das inhaltlich defiziente Residuum einer primär personhaft zu denkenden Form des Menschentums, sondern umgekehrt jene ursprüngliche Form reiner, weltkonstituierender Spontaneität und Freiheit, die sich in der individuellen Person ihre innerweltliche Erscheinung schafft. Diese ist jedoch kein »bloßer Schein«, sondern vielmehr die konkrete Manifestation jener absoluten Ursprunghaftigkeit, die sich nicht in dinglich-objektivierender Weise abbilden lässt, wohl aber ein organisch strukturiertes, psychophysisches Aktionszentrum ausbilden und dadurch in die Welt hineinagieren kann.
3.3
Die anthropologische Frage als Problemhorizont von Eckharts und Husserls Denken
Bei Meister Eckhart und Edmund Husserl stellt die Frage nach dem Menschen zweifellos nicht nur ein philosophisches Thema unter anderen dar, sondern ist mit dem Zentrum ihres Denkens auf das engste verbunden. 89 Dabei fällt jedoch auf, dass sie den in der Geschichte der abendländischen Philosophie so zentralen Begriff der Person mitsamt seinen ursprünglichen theologischen Konnotationen letztlich deZu dieser fehlenden Vermittlung von theoretischer und praktischer Zeitbetrachtung bei Kant vgl. L. Landgrebe, Faktizität und Individuation, 147. 89 Die folgenden Ausführungen greifen teilweise Überlegungen auf, die d. Verf. bereits andernorts in einem Aufsatz ausgeführt hat. Vgl. M. Roesner, »Abgeschiedenheit und Reduktion. Der Weg zum reinen Ich bei Meister Eckhart und Edmund Husserl«, in: W. Erb / N. Fischer (Hg.), Meister Eckhart als Denker (Meister-EckhartJahrbuch, Beihefte 4), Stuttgart, Kohlhammer, 2018, 407–428, hier 409–411. 88
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Einführung
potenzieren bzw. dekonstruieren, und zwar sowohl mit Blick auf die Bestimmung des eigentlichen Wesens des Menschen als auch hinsichtlich der Bestimmung Gottes bzw. des Absoluten. Der Weg zur Erkenntnis der Wahrheit, der zugleich der Weg zur wahren existenziellen Selbstwerdung und gelungenen Lebensgestaltung ist, verläuft bei beiden Philosophen über eine richtig verstandene »Entpersönlichung« des Menschen. 90 Damit ist aber gerade kein Aufgehen in einem numinosen Ozean der Unbestimmtheit gemeint, sondern im Gegenteil die Überschreitung des empirischen Seelenlebens des Menschen auf jene reine, überempirische Form der Subjektivität hin, die sich in seinem »Ich« ausspricht. Dieses »reine Ich« ist zwar immer schon in ihm am Werk, jedoch zumeist in impliziter, unbewusster Weise, so dass der Mensch beständig aus der Differenz zwischen seinem konkreten Erlebniszusammenhang und dessen transzendentalem, nicht direkt in Erscheinung tretenden Einheitsgrund heraus existiert, ohne darum zu wissen. Die verblüffende Ähnlichkeit zwischen Meister Eckharts und Husserls Ansätzen zur Bestimmung des Menschen als eines innerhalb der Welt vorfindlichen Wesens, dessen wahres Selbst in einer nicht auf Innerweltliches zu reduzierenden Dimension angesiedelt ist, kommt nicht von ungefähr. Die Zeiten, in denen sie leben – die Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert bei dem einen, die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert bei dem anderen –, sind von ähnlich tiefgreifenden philosophisch-wissenschaftlichen Umbrüchen gekennzeichnet, die das menschliche Selbstverständnis in vergleichbar radikaler Weise erschüttern. Im Falle Eckharts ist es der Aristotelismus, genauer gesagt: die aristotelische Seelenlehre, gepaart mit ihrer Auslegung durch den arabischen Aristoteleskommentator Averroes, die das VerVgl. M.-A. Vannier, »Déconstruction de l’individualité ou assomption de la personne chez Maître Eckhart?«, in: J. A. Aertsen / A. Speer (Hg.), Individuum und Individualität im Mittelalter (Miscellanea Mediaevalia 24), Berlin / New York, De Gruyter, 1996, 622–641. Husserls Projekt einer am reinen Ich orientierten Transzendentalphänomenologie wird von Eugen Fink plakativ als »Entmenschung des Menschen« bezeichnet, doch geht es Husserl nicht nur um eine Ausschaltung aller naturalistischen Anthropologien, sondern ebenso auch um eine Einklammerung aller personalistischen Deutungsansätze, insoweit diese die Subjektivität immer schon in ihrer innerweltlich erfahrbaren Form betrachten. Vgl. dazu E. Fink, VI. Cartesianische Meditation, Teil I: Die Idee einer transzendentalen Methodenlehre, Dordrecht / Boston / London, Kluwer, 1988, 43 f.; E. Husserl, »Phänomenologie und Anthropologie«, in: ders., Aufsätze und Vorträge [1916–1937] (Hua XXVII), 164–181, hier 179–181; ders., Die Idee der Phänomenologie (Hua II), 44.
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Methodologische Vorüberlegungen: Eine alternative Subjektphilosophie?
hältnis zwischen der natürlich-biologischen und der vernunftgemäßen Dimension des Menschen in noch nie dagewesener Weise problematisiert und dadurch die traditionellen anthropologischen Schemata des christlich-lateinischen Denkens in Frage stellt. Der Grundgedanke der averroistischen Seelenlehre läuft darauf hinaus, dass das, was den Menschen in spezifischer Weise auszeichnet, nämlich seine Vernunft, den einzelnen Individuen nicht wirklich zu eigen ist wie ihre übrigen Seelenvermögen, sondern getrennt von ihnen existiert und sich nur gelegentlich, nämlich anlässlich konkreter Denkakte, in äußerlicher Weise mit ihnen verbindet. 91 So gesehen, wird der als Vernunftwesen verstandene Mensch also nur durch das zum Menschen, was außerhalb seiner selbst liegt und mit seiner konkreten Person keine bleibende Verbindung eingeht. Das, was die spezifisch menschliche Subjektivität ausmacht, wird gleichsam in den einen, überindividuellen Intellekt ausgelagert, der zwar nicht einfach mit Gott identisch ist, aber doch einen überpersönlichen und ewigen Charakter besitzt. Diese Konzeption trägt in das menschliche Normalbewusstsein eine Spaltung 92 hinein: Der Mensch kann im eigentlichen, wörtlichen Sinne sagen: »Ich sehe«, da er kraft der ihm eigenen Sehfähigkeit tatsächlich das Subjekt seiner visuellen Wahrnehmungsakte ist. Sagt er hingegen »Ich denke« und meint dabei mit »Ich« seine individuelle, empirische Person, gibt er sich hingegen einer Illusion hin, da in Wirklichkeit nicht er selbst, sondern der getrennte, universale Intellekt das eigentliche Subjekt seines Vernunftdenkens ist. 93 Die scheinbar problemlose Selbstidentifikation des Menschen als Aktzentrum all seiner Bezüge und Verhaltensweisen wird dadurch unterminiert und als partielle Illusion entlarvt. Edmund Husserl entwickelt seinen phänomenologischen Denkansatz vor dem Hintergrund einer ähnlich tiefgehenden anthropologischen Krise. Nachdem die Philosophie seit der Antike in allen nicht direkt theologisch konnotierten, glaubensrelevanten Belangen die rationale Deutungshoheit über das Wesen des Menschen innegehabt 91 Vgl. Averroes, Großer Kommentar zu Aristoteles’ De anima III 5, 3.3–4, in: Averroes: Über den Intellekt (hg. und übers. von D. Wirmer), Freiburg / Basel / Wien, Herder, 2008, 201–231. 92 Alain de Libera spricht im Zusammenhang mit der averroistischen Intellekttheorie von einem décentrement du sujet (»Dezentrierung des Subjekts«). Vgl. A. de Libera, L’Unité de l’intellect de Thomas d’Aquin, Paris, Vrin, 2004, 312–316. 93 Vgl. A. de Libera, L’Unité de l’intellect de Thomas d’Aquin, 295.
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Einführung
hatte, sieht sie sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts mit der aufstrebenden Biologie, der Evolutionstheorie sowie den neuentstehenden Humanwissenschaften konfrontiert, die das traditionelle philosophische Verständnis des Menschen als eines von den Tieren qualitativ verschiedenen Vernunftwesens in Frage stellen. Allerdings verläuft hier die Erschütterung der anthropologischen Identität in der entgegengesetzten Richtung als beim Averroismus, insofern nun die Vernunft des Menschen gerade nicht in eine überempirische, transzendente Sphäre ausgelagert, sondern auf die physiologisch-biologische Grundstruktur des menschlichen Organismus reduziert wird. Das, was die klassische neuzeitliche Philosophietradition als denkende Subjektivität bzw. vernünftiges Bewusstsein angesehen hatte, erscheint auf einmal nur noch als kleines, unbedeutendes Epiphänomen physiologischer Naturprozesse, das unter evolutionären Gesichtspunkten zwar nützlich sein mag, die »wirkliche« Identität des Menschen als Teil des kausalen, biologisch-physikalischen Naturzusammenhangs aber nicht außer Kraft setzt. 94 Sagt hier der Mensch »Ich denke«, so gilt nicht, wie bei Averroes, eine getrennte, rein geistige Intellektsubstanz als das eigentliche Subjekt dieser Aussage, sondern das organische Substrat seines Gehirns bzw. sein Organismus als ganzer. In beiden Fällen – sowohl in der averroistischen Seelenlehre des 13. Jahrhunderts als auch in den biologistisch-naturalistischen Anthropologien des 19. Jahrhunderts – handelt es sich letztlich um eine Ent-eignung der vernünftigen Subjektivität, da die Tatsache, dass wir uns unmittelbar als denkende Wesen erleben, zu einem bloßen Schein erklärt und in eine von unserem Bewusstsein nicht direkt einholbare Sphäre – eine getrennte, kosmologische Intellektsubstanz einerseits bzw. die anonymen, materiellen Naturvorgänge des menschlichen Körpers andererseits – verlegt wird. Was Meister Eckharts und Edmund Husserls Ansätze demgegenüber auszeichnet, ist Vgl. C. Darwin, Die Entstehung des Menschen (übers. von H. Schmidt), Stuttgart, Kröner, 1966, 78–121; F. Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen II, Kritische Studienausgabe (= KSA), Bd. 1 (ed. G. Colli / M. Montinari), München / Berlin / New York, De Gruyter, 1980, 326–329; ders., Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, 382; ders., Also sprach Zarathustra, KSA 4, 39; O. Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte (2 Bd.), Bd. 2: Welthistorische Perspektiven, München, Oskar Beck, (1917) 21924, 223. Vgl. dazu insgesamt A. Ebrecht, Das individuelle Ganze. Zum Psychologismus der Lebensphilosophie, Stuttgart, Metzlersche Verlagsbuchhandlung, 1991, vor allem 137–209.
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Methodologische Vorüberlegungen: Eine alternative Subjektphilosophie?
das gemeinsame Bestreben, auf die problematisch gewordene Identität des Menschen zu reagieren und eine Methode zu entwickeln, die das eigentliche Ich freilegen und von seinen irrigen, entfremdenden Selbstdeutungen befreien soll. Dabei werden die legitimen philosophischen Anliegen, die sich im mittelalterlichen Averroismus bzw. in den biologistisch-psychologistisch orientierten Anthropologien des 19. und frühen 20. Jahrhunderts aussprechen – nämlich die Möglichkeit einer überempirischen Universalität der Vernunfterkenntnis einerseits und die physisch-leibliche Verankerung des individuellen menschlichen Bewusstseins andererseits –, nicht einfach abgestoßen, sondern aufgegriffen und in Form einer dem Bewusstseinsleben selbst innewohnenden, phänomenologisch ausweisbaren Differenz den jeweiligen anthropologischen Entwürfen eingegliedert. Im Folgenden sollen diejenigen philosophischen Grundmotive analysiert werden, an denen die sachliche Übereinstimmung von Meister Eckharts und Husserls Ansätzen am deutlichsten sichtbar wird. Dies sind vor allem ihre Konzeption des Ich als einer von der Natursphäre radikal verschiedenen Größe, die zugleich als Ort der Frage nach dem Absoluten fungiert; die ontologische Abhängigkeit der als »Welt« im weitesten Sinne bestimmten Seinssphäre von der absoluten Wirklichkeit des Ich; die Frage nach dem Verhältnis von reinem ego und empirischer Person; das neu zu bestimmende Verhältnis zwischen der in egologischer Form betriebenen Ersten Philosophie und der Metaphysik im traditionellen, aristotelischen Sinne; das Verhältnis zwischen dem ichlichen Bewusstsein und seinem vorichlichen Einheitsgrund und schließlich die untrennbare Verbindung von Selbstverhältnis und Weltverhältnis des Ich mitsamt den sich daraus ergebenden ethisch-praktischen Konsequenzen für das menschliche Handeln. Letztlich lassen sich der Thüringer Dominikaner und der Begründer der Phänomenologie weder der älteren, ontotheologischen Metaphysiktradition noch dem postmodern-nachmetaphysischen Denken zurechnen. Jenseits der beiden Möglichkeiten, die bisherige Metaphysik einfach zu übernehmen oder sie in toto abzulehnen, beziehen Eckhart und Husserl eine dritte Position, die darin besteht, das, was »Sein« bzw. »Seiendes« heißt, von seiner untrennbaren Bezogenheit auf das produktive, noetische Nichts des Bewusstseins her zu deuten. In Eckharts Intellekttheorie wie auch in Husserls Phänomenologie wird die traditionelle, aristotelische Metaphysik damit nicht verworfen oder für obsolet erklärt, sondern in ähnlicher Weise »aufgehoben« wie die euklidische Geometrie in der 57 https://doi.org/10.5771/9783495821633
Einführung
riemannschen, d. h. als Spezialfall eines relativ-universalen Denksystems, das nicht einfach überwunden oder widerlegt wird, sondern durch Integration in eine höhere, absolut-universale Ordnung eine gewandelte Bedeutung annimmt.
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II. Das Ich ist nicht von dieser Welt. Das über-natürliche Leben der Vernunft bei Meister Eckhart
1.
Die Überwindung des wirkursächlichen Zusammenhangs im Verhältnis von Denken und Sein
1.1
Die positive Deutung der Nichthaftigkeit des ›ens in anima‹
Die Einsicht, dass die Sphäre des Denkens nicht Teil der Naturwirklichkeit ist, sondern einen grundlegend anderen ontologischen Status besitzt, ist als solche kein Alleinstellungsmerkmal Meister Eckharts, sondern geht letztlich auf die spezifische Rezeption der aristotelischen Intellekttheorie zurück, wie sie auch von anderen Scholastikern des 13. und 14. Jahrhunderts – Albertus Magnus, Dietrich von Freiberg, Boethius von Dacien und Siger von Brabant, um nur einige zu nennen – vertreten wird. 1 Dieser Theorie zufolge ist der Intellekt das schlechthin Andere gegenüber dem von ihm Erkannten, und zwar nicht nur in funktionaler, sondern in essentieller Hinsicht. 2 Das bedeutet, dass der einzelne Mensch nicht einfach mit seiner empirischen Person identisch ist, sondern wesentlich in relationaler Hinsicht gedacht werden muss, nämlich als das Verhältnis zwischen seiner faktischen Individualität einerseits und seinem überempirischen, durch Universalität ausgezeichneten Intellekt andererseits. Insbesondere bei Eckharts älterem Zeitgenossen Dietrich von Freiberg wird der Intellekt wesentlich von seinem Aktcharakter her begriffen und vom Seinsmodus der »Naturdinge« scharf abgegrenzt. 3 Die Sphäre des Denkens (d. h. des intellectus per essentiam sowie Vgl. A. de Libera, Métaphysique et noétique. Albert le Grand, Paris, Vrin, 2005, 265–361. 2 Vgl. Aristoteles, De anima II 7, 418 b 26–419 a 7; ebd. III 4, 429 a 15–29. 3 Vgl. Dietrich von Freiberg, De intellectu et intelligibili II 35–36, in: ders., Opera omnia I (ed. B. Mojsisch), Hamburg, Meiner, 1977, 173–175 sowie dazu insgesamt B. Mojsisch, Die Theorie des Intellekts bei Dietrich von Freiberg, Hamburg, Meiner, 1977. 1
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Das Ich ist nicht von dieser Welt
des von ihm hervorgebrachten »gedanklichen Seins«, des ens conceptionale) ist von der Sphäre des naturhaft Seienden (esse naturae) nicht nur graduell, sondern prinzipiell verschieden. Da der Intellekt selbst der produktive Ursprung der Begriffe ist, mit denen er die Naturwirklichkeit erkennt, darf er folglich nicht gemäß den Kategorien der dinglichen Wirklichkeit gedeutet werden, sondern bedarf eines gesonderten Systems begrifflicher Bestimmungen, die seinem besonderen ontologischen Status Rechnung tragen. 4 Meister Eckhart steht eindeutig in dieser gedanklichen Tradition, die den Intellekt des Menschen nicht einfach als Teil seines geschöpflichen Seins interpretiert, sondern ihn einer grundsätzlich anderen Wirklichkeitssphäre zurechnet. 5 Er entfaltet diesen Gedanken am ausführlichsten in seinen ersten beiden Pariser Quaestiones, die der Frage nach dem Verhältnis von Denken und Sein in Gott bzw. in den Engeln gewidmet sind. Auf den ersten Blick handelt es sich dabei um eine rein theologische Fragestellung, wie sie in den scholastischen Werken der damaligen Zeit zu Dutzenden erörtert wird. Bei näherem Hinsehen wird jedoch deutlich, dass Eckhart diese Quaestiones nutzt, um das Verhältnis von Sein und Denken insgesamt auf einen neuen Boden zu stellen, auch und gerade mit Blick auf die intellektuelle Erkenntnis des Menschen. Die ersten beiden seiner Argumente in der ersten Pariser Quaestio wiederholen die klassische, auch von Thomas von Aquin vertretene These, dass in Gott Denken und Sein schlechthin identisch und miteinander konvertibel sind. 6 Der Leitgedanke dabei ist, dass es aufgrund der absoluten Einfachheit Gottes in ihm keine Unterscheidung zwischen Potenz und Akt, substantiellem Sein und akzidenteller Weiterbestimmung, Ursache und Ziel geben kann. All diese Unterscheidungen wären aber notwendig, um Gottes Denktätigkeit als etwas von seinem Sein Verschiedenes ansehen zu können. Vor dem Hintergrund dieser aristotelisch-thomasi4 Vgl. Dietrich von Freiberg, De intellectu et intelligibili I 1.3, in: ders., Opera omnia I (ed. Mojsisch), 137; ders., De origine rerum praedicamentalium 5.1–49, in: ders., Opera omnia III (ed. L. Sturlese), Hamburg, Meiner, 1983, 181–195. 5 Vgl. dazu K. Flasch (Hg.), Von Meister Dietrich zu Meister Eckhart, Hamburg, Meiner, 1984. 6 Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae I, q. 14, a. 4; ders., Summa contra Gentiles I, cap. 45 sowie dazu R. Imbach, Deus est intelligere. Das Verhältnis von Sein und Denken in seiner Bedeutung für das Gottesverständnis bei Thomas von Aquin und in den Pariser Quaestionen Meister Eckharts, Freiburg/Schweiz, Universitätsverlag, 1973, 8–34.
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Die Überwindung des wirkursächlichen Zusammenhangs von Denken und Sein
schen Argumentation erscheint Gott als positiver Grenzbegriff substantiellen Seins (esse), dessen Fülle keinen wie immer gearteten Ausstand kennt und daher auch immer schon das als vollendete Selbsterkenntnis verstandene Denken (intelligere) mitumfasst. Eckhart geht aber noch einen Schritt weiter, um mit Blick auf Gott sowie mit Blick auf die Sphäre des Intellekts insgesamt die Universalgültigkeit des aristotelischen Substanzparadigmas aus den Angeln zu heben. In dem berühmten, vieldiskutierten Passus aus dem vierten Paragraphen seiner ersten Pariser Quaestio erklärt Eckhart, dass er nicht nur die Meinung vertrete, dass Gott erkenne, insofern er sei, sondern dass er vielmehr sei, insofern er erkenne, so dass das Erkennen selbst das Fundament seines Seins sei (non ita videtur mihi modo, ut quia sit, ideo intelligat, sed quia intelligit, ideo est, ita quod deus est intellectus et intelligere et est ipsum intelligere fundamentum ipsius esse). 7 Diese Behauptung eines Fundierungszusammenhangs zwischen Denken und Sein stellt jedoch nicht einfach die spiegelverkehrte Variante all jener Modelle akzidenteller oder prozessualer Unterscheidung von Sein und Denken in Gott dar, die Eckhart gerade vorher noch mit guten Gründen zurückgewiesen hatte. Vielmehr wird durch die Anerkennung des Primats des intelligere auch die Bedeutung dessen, was esse bedeutet, auf grundlegende Weise verwandelt und gemäß einem neuen Paradigma gedeutet, das sich von der aristotelischen Substanzmetaphysik in wesentlichen Punkten unterscheidet. Eckhart versteht das Erkennen (intelligere) grundsätzlich nicht als eine bloß qualitative Eigenschaft, die innerhalb der umfassenderen Sphäre des Seins eine besondere Gruppe von Seienden, nämlich die Vernunftwesen, heraushebt. Vielmehr durchbricht das Erkennen in radikaler Weise den Bereich dessen, was »Sein« heißt, und ist somit eher dem Nichts als dem Etwas verwandt. Alles, was zur Sphäre des Erkennens zählt – Worte und Begriffsinhalte (verba), Wahrheit (veritas), Weisheit (sapientia) usw. –, ist keine Untermenge innerhalb eines übergeordneten Wirklichkeitsbereichs des »Seins selbst« (ipsum esse), sondern liegt auf einer gänzlich anderen ontologischen – oder vielmehr meontologischen, d. h. dem »Nichtseienden« zugehörigen – Ebene. 8 Andererseits ist diese prinzipielle AndersartigEckhart, Quaest. Par. I n. 4, LW V 40,5–7. Secundo accipio quod ipsum intelligere et ea quae ad intellectum pertinent, sunt alterius condicionis quam ipsum esse. […] Dicitur enim VI Metaphysicae: bonum et
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Das Ich ist nicht von dieser Welt
keit des Erkennens gegenüber dem Sein nicht so zu verstehen, als hätte man es mit zwei getrennten, aber grundsätzlich gleichwertigen Wirklichkeitsbereichen zu tun, die ohne innere Verbindung nebeneinander existieren. Eckharts These der »Nichthaftigkeit« des Denkens läuft darauf hinaus, zwischen intelligere und esse eine Beziehung zu stiften, die nicht wirkursächlicher Art ist, aber dennoch das Faktum der »seienden« Wirklichkeit aus seiner Bezüglichkeit zum Denken heraus erklären kann. Die Auffassung, dass eine radikal nichtseiende Instanz als Ursprung der seienden Wirklichkeit fungieren soll, wirkt auf den ersten Blick paradox. Eckhart löst diesen scheinbaren Widerspruch jedoch dadurch auf, dass er die dem intelligere eigene Bestimmungslosigkeit nicht als Mangel, sondern im Gegenteil als unbegrenzte Fülle deutet, deren Selbstbeschränkung alles Seiende als konkretes »Dies und das« überhaupt erst hervortreten lässt. 9 Diese Deutung des Seienden als Ergebnis einer negierenden Selbstbestimmung des Denkens führt dazu, dass das ens in der Sphäre des intelligere einbehalten bleibt und ohne Bezug auf dessen radikales
malum sunt in rebus, verum et falsum in anima. Unde ibi dicitur quod verum, quod est in anima, non est ens sicut nec ens per accidens, quod non est ens, quia non habet causam, ut ibi dicitur. Ens ergo in anima, ut in anima, non habet rationem entis et ut sic vadit ad oppositum ipsius esse. Sicut etiam imago in quantum huiusmodi est non ens, quia quanto magis consideras entitatem suam, tanto magis abducit a cognitione rei cuius est imago (»Zweitens unterstelle ich, daß das Erkennen und das, was zum Intellekt gehört, einer andern Schicht angehört als das Sein. […] Auch heißt es im 6. Buch der Metaphysik: das Gute und Schlechte ist in den Dingen, das Wahre und Falsche in der Seele. Deshalb wird ebenda gesagt, daß das Wahre, das in der Seele ist, nicht ein Seiendes ist, ebensowenig wie das akzidentell Seiende ein Seiendes ist, da es keine Ursache hat, wie ebenda gesagt wird. Folglich hat das in der Seele Seiende, insofern es in der Seele ist, nicht die Wesensbestimmtheit des Seienden, und in dieser Hinsicht bewegt es sich auf das Gegenteil des Seins selbst hin. Wie auch das Bild als solches ein Nichtseiendes ist; denn je mehr man das Bild seinem Seinsgehalt nach betrachtet, um so mehr lenkt es von der Erkenntnis des Gegenstandes, dessen Bild es ist, ab« [Eckhart, Quaest. Par. I n. 7, LW V 43,6–7.9–44,2; Übers. ebd.]). 9 [I]ntellectus nec est hic nec nunc nec hoc, in quantum intellectus. Sed omne ens vel esse est determinatum ad genus et speciem. Ergo intellectus, in quantum huiusmodi, non est aliquod ens nec habet aliquod esse. Ergo non dabit ipsi intelligere, quod sit aliquod ens, quia operatio non magis habet esse quam operans, immo minus (»[D]er Intellekt ist als Intellekt weder hier noch jetzt noch dieses da. Hingegen ist alles Seiende oder Sein nach Gattung und Art bestimmt. Folglich ist der Intellekt als solcher kein Seiendes noch hat er ein Sein. Folglich kann er dem Erkennen selbst nicht verleihen, daß es ein Seiendes ist, weil die Tätigkeit nicht mehr Sein hat als das Tätige, vielmehr weniger« [Eckhart, Quaest. Par. II n. 7, LW V 52,16–53,4; Übers. ebd.]).
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Die Überwindung des wirkursächlichen Zusammenhangs von Denken und Sein
noetisches Nichtsein 10 nicht in adäquater Weise gedacht werden kann. Nun ist die Bezeichnung des »Seienden in der Seele« (ens in anima) als eines »Nichtseienden« keine Erfindung Eckharts, sondern geht, wie er selbst ausdrücklich betont, auf Aristoteles zurück. 11 Vor dem Hintergrund der aristotelischen Metaphysik ist das Erkenntnisbild (species), das die Seele von den äußeren Dingen eingeprägt bekommt, selbst kein dingliches Seiendes mehr, sondern Teil derselben ontologischen Sphäre, der die Seele angehört. 12 Der Erkenntnisprozess besteht somit darin, dass sich die Seele die zu erkennenden Gegenstände in entmaterialisierter Form anverwandelt. Das bedeutet aber wiederum nicht, dass die Erkenntnisbilder der Seele inhärieren würden wie Akzidenzien ihrer materiellen Substanz. Eine solche Deutung würde nämlich wieder zu einer Verdinglichung des Erkenntnisprozesses führen, die ja gerade vermieden werden soll. Aus diesem Grunde müssen nicht nur die Erkenntnisbilder (species) selbst ent-ontifiziert werden, sondern auch die Art und Weise ihrer Beziehung zur erkennenden Seele. Die von Aristoteles gewählte Bezeichnung der Seele (ψυχή / psychê) als des »Ortes der Bilder« (τόπος εἰδῶν / topos eidôn) 13 könnte zunächst den Eindruck erwecken, als fungiere die Seele als substantielles, passiv-statisches Trägermaterial für die darauf »eingeschriebenen« Inhalte. Dies ist jedoch aus zweierlei Gründen irreführend: Zum einen bezieht sich diese Charakterisierung nicht auf diejenigen Bilder, die dem erkennenden Menschen durch seine körperlichmateriell fundierten Sinnesorgane vermittelt werden, sondern auf die geistigen Erkenntnisinhalte, die als solche universaler, immaterieller Natur sind. Aus diesem Grund werden sie nicht von der Seele als ganzer, sondern nur von deren vernünftigem Teil erkannt. Zum anderen ist die Vernunftseele auch in diesem Falle kein bloßer »Speicherort« intellektueller Inhalte, wie es die verräumlichende Metapher 10 Quae ergo ad intellectum pertinent, in quantum huiusmodi, sunt non-entia (»Was also zum Intellekt gehört, ist als solches ein Nichtseiendes« [Eckhart, Quaest. Par. I n. 7, LW V 44,6; Übers. ebd.]). Vladimir Lossky spricht in diesem Zusammenhang von Eckharts »intellektuellem Nihilismus« (nihilisme intellectuel); vgl. V. Lossky, Théologie négative et connaissance de Dieu chez Maître Eckhart, Paris, Vrin, 1973, 242. 11 Vgl. Eckhart, Quaest. Par. I n. 7, LW V 43,6–12; ders., Quaest. Par. II n. 2, LW V 50,3. 12 Vgl. Aristoteles, De anima II 12, 424 a 17–24; ebd. III 8, 431 b 28–432 a 1. 13 Vgl. Aristoteles, De anima III 4, 429 a 27–28.
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der zu beschreibenden Wachstafel 14 suggeriert. Deren anfängliches »Unbeschriebensein« besagt lediglich, dass sie gegenüber ihren möglichen intelligiblen Erkenntnisgegenständen zunächst einmal reine Potentialität ist, nicht aber, dass sie ein bloßes Substrat darstellte, das sich gegenüber den Erkenntnisinhalten, die ihm eingeprägt werden, rein passiv verhielte. 15 Vielmehr deutet die im griechischen Wort τόπος (topos) liegende Bedeutung der Örtlichkeit im Sinne der Punktualität 16 darauf hin, dass die Seele als dynamischer Ursprung all ihrer erkennenden Bezüge fungiert, in denen sie nicht etwa in verdinglichter Weise ihre Erkenntnisbilder (εἴδη / eidê) erkennt, sondern durch deren transparentes, noetisches Nichtsein hindurch die Dinge selbst. 17 Der Erkenntnisprozess als ganzer wird somit entsubstantialisiert und als reine Relation, nämlich als intentionales, dynamisches Ausgespanntsein der erkennenden Seele auf ihre jeweiligen Erkenntnisinhalte gedeutet. Aus ebendiesem Grunde schließt Aristoteles die Sphäre des Wahr- oder Falschseins aber auch aus dem Gegenstandsbereich der Metaphysik aus, da es in dieser gerade um das »Seiende als solches« gehen soll und nicht um dessen »bloßes« Erkanntsein mittels gedanklicher Begriffsverknüpfungen. 18 Das »Seiende in der Seele« (ens in Vgl. Aristoteles, De anima III 5, 429 b 29–430 a 2. In De anima II 2, 414 a 14–15 verneint Aristoteles ausdrücklich, dass die Seele etwas Zugrundeliegendes (ὑποκείμενον / hypokeimenon) sei. 16 Bereits mit Blick auf die Sinneswahrnehmung bemerkt Aristoteles, dass das Wahrnehmende – im Unterschied zu dem jeweiligen Sinnesorgan – keine ausgedehnte Größe sei (vgl. Aristoteles, De anima II 12, 424 a 25–28). An etlichen anderen Stellen des De anima verwendet Aristoteles mit Blick auf die Vernunftseele (νοῦς / noûs) sogar den noch deutlicher auf Punktualität und Ausdehnungslosigkeit verweisenden Ausdruck στιγμή (stigmê); vgl. Aristoteles, De anima I 3, 407 a 2–8; ebd. III 2, 427 a 9–12; ebd. III 6, 430 b 15.20–21; ders., Nikomachische Ethik X 7, 1178 a 1–2 sowie dazu H. Busche, Die Seele als System. Aristoteles’ Wissenschaft von der Psyche, Hamburg, Meiner, 2001, 67–96. Insgesamt ist die aristotelische Topos-Lehre von gewissen Widersprüchen durchzogen, da sie den »Ort« teils an die Existenz realer Körper koppelt, ihn teils aber auch als punktuellen, rein abstrakten Ausschnitt des Gesamtsystems des Raumes zu betrachten scheint, ohne die beiden Aspekte miteinander zu vermitteln. Vgl. dazu H. G. Zekl, Topos. Die aristotelische Lehre vom Raum, Hamburg, Meiner, 1990, 27. 42. 91. 17 Vgl. Aristoteles, De anima III 4, 429 a 15–20; ebd. III 7, 431 b 17–18. 18 »Was nun also über das in diesem Sinne Seiende und Nichtseiende zu untersuchen ist, das wollen wir später erwägen. Da nämlich die Verbindung und Trennung im Denken stattfindet und nicht in den Dingen, und was in dieser Bedeutung (als wahr) seiend ist, verschieden ist von dem im eigentlichen Sinne Seienden […], so wollen wir das akzidentelle Seiende und das als wahr Seiende beiseite lassen. Denn des einen 14 15
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anima) ist in seinen Augen nicht auf eminente, sondern auf defiziente Weise ein Nichtseiendes und kann daher in keiner Weise als Fundament des realen, dinglichen Seins fungieren. Dieser Primat des extramentalen Seienden gegenüber dem »bloßen« Gedachtsein findet seine formale Entsprechung im aristotelischen Kategoriensystem. Zum einen dominiert bei Aristoteles die Kategorie der als autarkes In-sich-Sein verstandenen Substanz gegenüber den übrigen obersten Gattungsbegriffen, die lediglich akzidenteller Natur sind. 19 Dabei gelten diese »hinzutretenden« Bestimmungen jedoch als reale Eigenschaften, deren unselbständiges Sein auf der Grundlage des eigenständigen Seins der Substanzen existiert. Was die aristotelische Logik bzw. Metaphysik als begrifflich gefasstes Kategorienschema entwirft, ist daher lediglich die innerhalb der menschlichen Seele erfolgende Reproduktion einer Ordnung, die unabhängig davon in der außerseelischen Wirklichkeit schon existiert. 20 Unter allen akzidentellen Bestimmungen gilt daher die Relation als die schwächste und am wenigsten ontologisch fundierte, da sie der jeweiligen Substanz nicht inhäriert, sondern ihr äußerlich ist und nur durch den gedanklich hergestellten Bezug auf eine andere Substanz (»doppelt so groß wie …«, »halb so groß wie …«, »links von …«, »rechts von …« usw.) zustande kommt. 21 Das Spezifikum Eckharts besteht nun darin, dass er die von Aristoteles entwickelte These der Nichthaftigkeit des epistemologisch verstandenen ens in anima positiv deutet und diesen Paradigmenwechsel hinsichtlich des Verhältnisses von Denken und Sein mit einer grundsätzlichen Neuordnung der ontologischen Hierarchie innerhalb des Kategorienschemas verbindet. Die wohl augenfälligste Abweichung gegenüber dem aristotelischen Modell besteht darin, dass die Seele bei Eckhart nicht alle Kategorien einfach nur passiv von der Struktur der vorgegebenen Wirklichkeit entgegennimmt, sondern in beUrsache ist unbestimmt, des andern Ursache ist eine gewisse Affektion des Denkens, und beide gehen auf die noch übrige Gattung des Seienden und zeigen nicht noch außerdem eine andere Natur des Seienden. Also dies mag beiseite gesetzt sein, und wir haben vielmehr die Ursachen und Prinzipien des Seienden, insofern es Seiendes ist, zu untersuchen« (Aristoteles, Metaphysik VI 4, 1027 b 28–1028 a 4). 19 Vgl. Aristoteles, Kategorien V, 2 a 11–19. 20 Vgl. Aristoteles, Kategorien IV, 1 b 25–2 a 4; ders., Analytica posteriora I 22, 83 a 24–35. 21 Vgl. Aristoteles, Metaphysik XIV 1, 1088 a 22–b 3; ders., Kategorien VII, 6 a 36–b 35; 8 a 13–b 24.
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stimmten Fällen als ihr unmittelbarer Ursprung fungiert. Die betreffende Kategorie ist dann nicht lediglich ein ontologisch diminuiertes ens in anima, sondern ein ens ab anima, also eine Form von primärer Realität, die ihr Sein direkt von der Seele bezieht. Eckhart erläutert diesen Umstand am Beispiel der Zeit und der Zahl. Beide Bestimmungen kommen darin überein, dass sie die gedankliche Zusammenfassung einer Vielheit – unterschiedliche Jetztmomente bzw. unterschiedliche diskrete Größen – zu einer Einheit voraussetzen. Eine solche synthetische Leistung ist aber ausschließlich ein Werk der Seele, der es eigen ist, Vieles als Eines aufzufassen. 22 Daher haben Zeit und Zahl als Einheiten keinerlei ontologisches Fundament in den äußeren Naturdingen (nullo modo sunt entia extra animam), 23 sondern existieren überhaupt nur in der Seele als eine von ihr originär hervorgebrachte Form von Wirklichkeit. Die Aktivität des Intellekts besteht also hier nicht in einem bloßen »Nach-denken« dessen, was ihm von der Sphäre des naturhaften Seins vorgegeben wird, sondern in einer genuin schöpferischen 24 Hervorbringung dessen, was gegenüber dem Seinsmodus der Natur in eminentem Sinne ein »Nichtsei-
Ratio est quia proprium et formale est animae solius accipere multa simul et in unum et multa copulare ut unum et in uno. […] Unum autem et ens idem, in uno semper sedet esse. Tempus igitur, utpote numerus, naturaliter in anima est et ab anima est; a quo enim quodlibet est, in illo et est (»Die Begründung hierfür ist die: es ist der Seele allein eigen und wesenhaft, vieles zugleich aufzufassen und als eins aufzufassen und auch vieles zusammenzufügen als eins und in einem. […] Eins und Seiendes aber sind identisch, Sein hat immer im Einen seinen festen Sitz. Zeit ist also ihrer Natur nach in der Seele und von der Seele (hervorgebracht), weil sie ja Zahl ist; wovon nämlich ein jegliches stammt, in dem ist es auch« [Eckhart, In Sap. n. 297, LW II 631,12–632,2; Übers. ebd.]). Niklaus Largier vertritt die These, dass Eckhart die Zeit nicht in so radikaler Weise subjektiviert habe wie etwa Dietrich von Freiberg, sondern eine gemäßigte Position zwischen einer rein naturhaft-objektivistischen und einer ausschließlich subjektiv-konstitutiven Zeitauffassung vertrete. Als Prädikament ist die Zeit jedoch für Eckhart absolut nichts Seiendes, sondern ausschließlich ein Produkt der erkennenden Seele. Vgl. N. Largier, Zeit – Zeitlichkeit – Ewigkeit: Ein Aufriss des Zeitproblems bei Dietrich von Freiberg und Meister Eckhart, Frankfurt a. M. / New York, Peter Lang, 1989, 155. 23 Eckhart, In Sap., Tabula auct., LW II 318,14–15. 24 Eckhart deutet diese Fähigkeit der menschlichen Seele, Seiendes aus Nichtseiendem hervorzubringen, als unmittelbaren Ausdruck ihrer Teilhabe an der Schöpferkraft Gottes: anima, utpote particeps divinae naturae, producit ens ex non ente (vgl. Eckhart, In Sap., Tabula auct., LW II 318,16–17). Mit dieser Deutung der »Seinslosigkeit« der Akzidentien steht Eckhart der Position Dietrichs von Freiberg sehr nahe; vgl. dazu R. Imbach, Deus est intelligere, 171. 22
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endes« darstellt, in sich jedoch die eigentliche Bedeutung von Sein, nämlich die des reinen Denkens, verwirklicht. 25 Doch auch mit Blick auf die außerseelisch existierenden Dinge hält Eckhart dafür, dass sie im Modus intentionaler Immanenz, d. h. als von der Vernunftseele erkannte, einen höheren und edleren ontologischen Status besitzen als in ihrem naturhaften Sein. In Predigt 17 erläutert er: Hie meine ich, daz alliu dinc unzellîche edeler sint in der vernünftigen werlt, diu diu sêle ist, dan sie sîn in dirre werlt; […] niemer ist diu sêle komen in ir blôze natûre, si envinde alliu dinc in ir gebildet in der vernünftigen werlt, diu unbegrîfelich ist. Hierin meine ich, daß alle Dinge unermeßlich edler sind in der Vernunftwelt, die die Seele ist, als sie in dieser Welt sind; […] Niemals ist die Seele zu ihrer reinen Natur gelangt, sie finde denn alle Dinge in sich gebildet in der Vernunftwelt, die unbegreiflich ist. 26
In dieser Auffassung liegt eine »Umwertung der Werte« im Vergleich zum aristotelischen Modell, insofern bei Eckhart die Dinge als erkannte keine bloßen Abstraktionen darstellen, deren Wirklichkeitsfülle hinter der des »realen«, extramentalen Seienden zurückbliebe. Vielmehr verhält es sich genau umgekehrt: Im Modus ihres Erkanntseins durch die Seele stellen sich die Dinge in ihrer reinen, intelligiblen Form dar, während ihr innerweltliches Sein stets mit Materie verbunden und in die Vereinzelung des »Dies und das« zersplittert ist. Demgegenüber zeichnet sich der Bereich des Geistigen dadurch aus, dass in ihm alle Dinge kraft ihrer intelligiblen Formen einen apriorischen Strukturzusammenhang bilden und somit immer schon als relationales »Für-anderes-Sein« erscheinen. Besonders bedeutungsvoll ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass für Eckhart der Modus des »Erkanntseins durch die Seele« nicht nur den Dingen ihr eigentliches, höheres Sein verleiht, sondern auch der Seele selbst: Diese gelangt, wie er ausdrücklich sagt, erst dann zu ihrer »reinen Natur« (blôze natûre), wenn sie alle Dinge als in sich gebildet beSicut ergo multa in se in anima sunt unum, sic non entia ab anima et in anima sunt entia, sunt in esse, et esse est in ipsis, ipsa in deo et deus in ipsis (»Ebenso also wie das, was in sich vieles ist, in der Seele eins ist, ebenso ist Nichtseiendes von der Seele [hervorgebracht] und ist in der Seele Seiendes, ist im Sein, und Sein ist in ihm, es selbst ist in Gott, und Gott ist in ihm« [Eckhart, In Sap. n. 297, LW II 632,5–6; Übers. ebd.]). 26 Eckhart, Pr. 17, DW I 290,5–6; 291,3–4; Übers. 497 f. 25
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greift, so dass sie in ihrer Gesamtheit den Horizont der »Vernunftwelt« (vernünftige werlt) bilden. Der Erkenntnisprozess darf also nicht so gedeutet werden, als trüge er aus einer dinglichen Außensphäre heterogene Elemente in die Seele hinein; vielmehr versteht die Seele sich selbst und alle Dinge erst dann richtig, wenn sie ihr eigenes intentionales Ausgespanntsein und die Gesamtheit ihrer intelligiblen Erkenntnisinhalte als eine in sich abgeschlossene Sphäre begreift, d. h. als eine Welt für sich, die vom Bereich der Naturdinge nicht kausal abhängig ist. Eckharts These des schöpferischen Charakters der Vernunftseele hat weitreichende Konsequenzen für den Anwendungsbereich des traditionellen Kategorienschemas. In seinem Johanneskommentar trifft er eine grundlegende Unterscheidung zwischen dem außermentalen Seienden (ens reale extra animam), das in die bekannten zehn aristotelischen Kategorien unterteilt wird, und dem »Seienden in der Seele« (ens in anima / ens cognitivum). 27 Letzteres begründet insofern eine neuartige Wirklichkeitssphäre, als es weder als Substanz noch als Akzidens im traditionellen Sinne verstanden werden kann, sondern ein anderes Kategoriensystem erfordert, das der besonders gearteten Ursprungsbeziehung zwischen der Seele und dem von ihr Hervorgebrachten Rechnung trägt. Gerade weil das ens ab anima in sich nichts ist, sondern beständig an der geistigen Produktivität der es erzeugenden Vernunftinstanz hängt, wird in seinem Falle die Relation zur beherrschenden und stärksten Kategorie, die für sein gesamtes Sein aufkommt. Die von Eckhart vorgenommene Unterscheidung zwischen dem ens reale extra animam und dem ens in anima impliziert jedoch, dass »Relation«, auf letzteres angewandt, nicht dieselbe Bedeutung haben kann wie innerhalb des aristotelischen Kategorienschemas und dass demnach auch der Substanzbegriff im Bereich des Geistig-Intellektuellen anders gefasst werden muss als in der Sphäre der Naturdinge. Darin liegt insofern eine Relativierung der aristotelischen Metaphysik, als deren Gegenstandsbereich – das »Seiende als Seiendes« mitsamt dem für die Leitbedeutung von »Sein« maßgeblichen Substanzbegriff – nicht mehr auf die gesamte Wirklichkeit anSciendum ergo quod ens secundum totum sui ambitum prima sui divisione dividitur in ens reale extra animam, divisum in decem praedicamenta, et in ens in anima sive in ens cognitivum (»Es ist also zu wissen, daß das Seiende seinem ganzen Umfang nach in einer ersten Einteilung geteilt wird in das reale Sein außerhalb der Seele, eingeteilt in die zehn Kategorien, und in das Seiende in der Seele oder das geistige Seiende« [Eckhart, In Ioh. n. 514, LW III 445,4–6; Übers. ebd.]).
27
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Die Überwindung des wirkursächlichen Zusammenhangs von Denken und Sein
wendbar ist, sondern nur noch auf das ens reale extra animam. Demgegenüber entwickelt Eckhart eine neue Form von Erster Philosophie, in der nicht mehr dingliches Sein, sondern intellektuelles Nichtsein die höchste Wirklichkeitsform darstellt und die naturhaften Substanzen stets aus ihrer Beziehung zu ihrem geistigen Ursprung verstanden werden müssen.
1.2
Der Schöpfungsvorgang als »Verweltlichung« des absoluten Ich
Eckharts These der radikalen ontologischen Abhängigkeit des Seins (esse) vom Erkennen (intelligere) könnte zunächst den Eindruck erwecken, dass der Bezug des Denkens auf so etwas wie dingliches Sein ihm selbst äußerlich ist. Dies wäre jedoch nur dann der Fall, wenn Eckhart den Intellekt als eine statisch in sich ruhende Instanz verstünde, die sich nach Belieben auf etwas von ihr Verschiedenes beziehen kann oder auch nicht. In Eckharts Verständnis ist der Intellekt jedoch ein produktiver Ursprung, der gar nicht anders kann, als sich beständig zu veräußerlichen, um sich im Anderen seiner selbst zu erkennen. Als paradigmatisches Vorbild für diese Produktivität dient ihm der absolute Intellekt Gottes in seiner Beziehung zu der von ihm geschaffenen Welt. Dabei deutet Eckhart die Strukturen dieser geistigen Produktivität allerdings solcherart, dass sie nicht als alleiniges Spezifikum des göttlichen Intellekts erscheinen, sondern auch für den Intellekt des Menschen und dessen Weltbezug Gültigkeit besitzen. Im Rahmen der eckhartschen Intellekttheorie fungiert Gott somit nicht als thetisch vorausgesetztes, außerphilosophisches Apriori, sondern ist lediglich ein eminenter Grenzfall jener Invarianzstrukturen, die das Wesen des Geistes als solchen ausmachen, unabhängig davon, ob sich dieser in Form absoluter Subjektivität oder in einer mit empirischer, endlicher Personalität verbundenen Weise verwirklicht. Bereits in seiner ersten Pariser Quaestio beschränkt sich Eckhart nicht darauf, den Primat des Denkens gegenüber dem Sein lediglich unter systematisch-erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten zu untersuchen, sondern wendet ihn in einer genetischen Perspektive auf den Hervorgang der Wirklichkeit als ganzer aus ihrem intelligiblen Ursprung an. Dadurch wird der Schöpfungsvorgang insgesamt zu einem intellektuellen Prozess umgedeutet, in dem, anders als bei 69 https://doi.org/10.5771/9783495821633
Das Ich ist nicht von dieser Welt
Thomas von Aquin, keine analog-kausale Hervorbringung des Seins des Seienden durch das göttliche Sein selbst stattfindet, 28 sondern das Sein vielmehr das Ergebnis der beschränkenden Selbstnegation des radikal nichtseienden, bestimmungslosen Erkennens darstellt. Welthaftes Sein ist demnach vom erkennenden Ursprung, aus dem es hervorgeht, nicht graduell, sondern prinzipiell verschieden, 29 gerade aufgrund dieser ontologischen Kluft jedoch von ihm radikal abhängig und durch seine untrennbare Korrelation zum Denken der Sphäre des intelligere immanent. Das naturhafte Sein als ganzes verliert damit – trotz der empirisch erfahrbaren Substanzialität der Einzeldinge, die Eckhart nicht in Frage stellt – seine metaphysische Eigenständigkeit und muss nunmehr stets in Relation zu seinem intelligiblen Ursprung verstanden werden. 30 Diese Ursprungsbeziehung ist jedoch nicht als transitive Wirkursächlichkeit zu verstehen, so als sei das Sein (esse) nach seinem Hervorgebrachtwerden dem Erkennen (intelligere) äußerlich. Eckharts Bezeichnung Gottes als einer »geistigen, nicht-umgreifbaren Kugel, deren Mittelpunkt überall und deren Peripherie nirgendwo ist« (Deus est sphaera intelligibilis et incomprehensibilis, cuius centrum ubique et circumferentia nusquam), 31 Vgl. Thomas von Aquin, Sent. I, d. 8, q. 1, a. 2 c; q. 5, a. 1 c. Ex his ostendo quod in deo non est ens nec esse, quia nihil est formaliter in causa et causato, si causa sit vera causa. Deus autem est causa omnis esse. Ergo esse formaliter non est in deo (»Aus diesen Voraussetzungen zeige ich nun, daß in Gott kein Seiendes noch ein Sein ist. Denn nichts ist seinem Wesen nach in der Ursache und im Verursachten, vorausgesetzt, daß die Ursache eine wahre Ursache ist. Gott aber ist die Ursache alles Seins. Folglich ist das Sein seinem Wesen nach nicht in Gott« [Eckhart, Quaest. Par. I n. 8, LW V 45,1–3; Übers. ebd.]). – [P]rincipium numquam est principiatum, ut punctus numquam est linea. Et ideo cum deus sit principium vel scilicet ipsius esse vel entis, deus non est ens vel esse creaturae; nihil quod est in creatura est in deo nisi sicut in causa, et non est ibi formaliter (»[D]as Prinzip ist niemals das aus dem Prinzip Abgeleitete, wie der Punkt niemals die Linie ist. Und deshalb, da Gott Prinzip ist, nämlich entweder des Seins oder des Seienden, so ist Gott nicht das Seiende oder das Sein des Geschöpfes. Alles, was im Geschöpf ist, ist in Gott nur wie in seiner Ursache und nicht seinem Wesen nach« [Eckhart, Quaest. Par. I n. 9, LW V 45,6–9; Übers. ebd.]). 30 Adhuc autem secundo sciendum quod principium, in quo ›creavit deus caelum et terram‹, est natura intellectus. […] Intellectus enim est principium totius naturae (»Ferner aber muß man zweitens wissen, daß der Anfang, in dem Gott Himmel und Erde schuf, die Geistnatur ist. […] Denn der Geist ist Ursprung der ganzen Natur« [Eckhart, In Gen. I n. 6, LW I,2 63,24–65,1; Übers. ebd.]). 31 Eckhart, Sermo Pasch. n. 1, LW V 137,4–5; Übers. ebd.; siehe auch ders., In Exod. n. 91, LW II 94,17–95,3; ders., In Eccl. n. 20, LW II 248,2–4; ders., Sermo LV,3 n. 546, LW IV 457,6–9. 28 29
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Die Überwindung des wirkursächlichen Zusammenhangs von Denken und Sein
macht deutlich, dass es außerhalb der Sphäre des Denkens nichts Umfassenderes gibt (incomprehensibilis) und dass auch das, was man gemeinhin als »Sein« bezeichnet, im Denken einbehalten bleibt und nur in Bezug auf das intellektuelle Erkennen begriffen werden kann. 32 So philosophisch-systematisch Eckharts Argumentation in seiner ersten Pariser Quaestio auch anmutet, so sehr ist er doch schon an dieser Stelle bestrebt, seine These des Fundierungszusammenhangs zwischen Denken und Sein auch durch Verweise auf die Hl. Schrift zu untermauern. Zum einen beruft er sich auf den ersten Vers des Johannesevangeliums, dem zufolge im Anfang nicht das »Sein« (ens), sondern das »Wort« (verbum) war, aus dem alles Seiende geworden ist. 33 Damit ist zunächst einmal in allgemeiner Form ausgesagt, dass Gottes Intellektnatur der Ursprung all dessen ist, was man als »Sein« bezeichnen kann, und dass es zwischen den beiden Bereichen keine graduelle Abstufung, sondern einen ontologischen Quantensprung gibt. 34 Zum anderen zitiert Eckhart mit Blick auf die immanente Struktur des göttlichen Intellekts aber auch Ex 3,14, wo Gott sich Moses gegenüber mit den Worten »Ich bin, der ich bin« (Ego sum qui sum) zu erkennen gibt. Dieser Satz bringt zweierlei zum Ausdruck: Einerseits liegt darin ein Umschwung von der Dritte-Person-Perspektive, in der man über das Wesen des Intellekts philosophiert, zur Erste-Person-Perspektive, in der sich der Intellekt direkt als Ursprung manifestiert. Andererseits deutet Eckhart die Verdoppelung des sum qui sum nicht einfach als performative Tautologie, sondern interpretiert sie als eine Form der Selbsterkenntnis, die
Vgl. Eckhart, Quaest. Par. I nn. 8–10, LW V 45,1–46,6 sowie dazu R. Imbach, Deus est intelligere, 188 f. 33 Quia dicitur Ioh. 1: ›in principio erat verbum, et verbum erat apud deum, et deus erat verbum‹. Non autem dixit evangelista: ›in principio erat ens et deus erat ens‹ […]. Et sequitur post verbum assumptum Ioh. 1: ›omnia per ipsum facta sunt‹, ut sic legatur: ›omnia per ipsum facta sunt‹, ut ipsis factis ipsum esse post conveniat (»Denn Joh. 1,1 heißt es: ›im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort‹. Nicht aber hat der Evangelist gesagt: ›im Anfang war das Sein und Gott war das Sein‹. […] Auf das angezogene Wort folgt Joh. 1,3: ›alles ist durch ihn geworden‹, was so gelesen werden muß: alles durch ihn Gewordene ist, so daß dem Gewordenen nachher Sein zukommt« [Eckhart, Quaest. Par. I n. 4, LW V 40,7–9; 41,4–6; Übers. ebd.]). 34 Ideo, quidquid est in deo, est super ipsum esse et est totum intelligere (»Deshalb liegt alles, was in Gott ist, über dem Sein selbst und ist ganz Erkennen« [Eckhart, Quaest. Par. I n. 8, LW V 44,13–14; Übers. ebd.]). 32
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Das Ich ist nicht von dieser Welt
in die Sphäre des Intellekts eine gleichursprüngliche Form von Intersubjektivität hineinträgt. Auf den ersten Blick scheint der Satz »Ich bin, der ich bin« Eckharts These zu widersprechen, dass Gott in keiner Weise als »Sein« bezeichnet werden dürfe. Doch ist das in der Aussage »ich bin« (sum) enthaltene Sein nicht das Äquivalent dessen, was »Sein« im Bereich der dinglichen Natur bedeutet. Im letztgenannten Fall hat es die Bedeutung eines substantiellen Trägers, dem man verschiedene akzidentelle Bestimmungen zu- oder absprechen kann. Im Fall des »ich bin« manifestiert sich hingegen die Ursprunghaftigkeit des Intellekts in Form einer performativen Einfachheit, die sich von allem, was nicht dieser gedankliche Akt selbst ist, abgrenzt und daher keine wie auch immer gearteten akzidentellen Eigenschaften mehr haben kann. Aus diesem Grund definiert Eckhart das »Ich« (ego) ausdrücklich als »reine Substanz« (mera substantia), 35 also als eine Form absolut prinziphafter, nur in sich selbst und nicht in einem anderen existierender Wirklichkeit, die ihr Verharren nicht aus ihrer synthetischen Funktion gegenüber einer Vielzahl von Akzidentien, sondern allein aus ihrer beständigen Selbstproduktion schöpft. Zugleich enthält der Satz Ego sum qui sum aber auch den Bezug auf ein zweites sum, das weder einfach mit dem ersten sum identisch ist noch dessen Erkenntnisgegenstand im eigentlichen Sinne bildet, sondern ihm als gleichwertige intellektuelle Ursprungsinstanz gegenübersteht, in der das erste ego sum sich als solches, d. h. als geistige, von allem anderen unterschiedene Einheit, erkennen kann. Aus diesem Grunde ist die einzige zusätzliche Bestimmung, die man von diesen geistigen Aktzentren aussagen kann, ausschließlich relationaler Natur: Sie stehen einander gegenüber als Durchbruchspunkte intellektueller Spontaneität, die als solche kein anderes Spezifikum haben als die Fähigkeit, sich auf anderes beziehen zu können. Eckharts Deutung von Ex 3,14 ist letztlich trinitarischer Natur, was bedeutet, dass er die beiden intellektuellen Instanzen, die sich jeweils in Form des sum gegenüberstehen, als Gott Vater und Gott Sohn deutet. Dennoch analysiert er die Struktur der Aussage Ego sum qui sum und ihre metaphysischen Implikationen zunächst in einer allgemein-philosophischen Begrifflichkeit, die auf das Wesen des Intellekts als solchen, seine ichhafte Selbstmanifestation und seine apriorische Verwiesenheit auf andere Ichzentren abhebt. Von be35
Eckhart, In Exod. n. 14, LW II 20,3–5.
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Die Überwindung des wirkursächlichen Zusammenhangs von Denken und Sein
sonderer Bedeutung dabei ist, dass er die »reine Substanz« des Ichbewusstseins nicht als statische Instanz, sondern als lebendiges Prinzip, also gleichsam als punctum saliens begreift, der im Ausgang von sich selbst die Kategorie der Relation immer schon miterzeugt und doch gerade in dieser Relationalität ein- und derselbe bleibt. 36 Interessanterweise bringt Eckhart mit Blick auf die intersubjektiven Bezüge die Vorstellung einer Gegenintentionalität ins Spiel, da die Relation eher vom Gegenüberstehenden hervorgebracht wird als von der Bewusstseinsinstanz, die sich zum Gegenüberstehenden als seinem Anderen verhält. In seinem Kommentar zu Ex 15,3 (omnipotens nomen eius) schreibt Eckhart hinsichtlich der Anwendbarkeit der beiden Kategorien »Substanz« und »Relation« auf Gott: Relatio autem sola non sortitur genus suum praedicamentale a subiecto nec per ordinem ad subiectum, sed potius ad illius oppositum. Propter hoc solum genus praedicamenti relationis non transit in substantiam in divinis, sed manet quasi foris stans. […] Sed contra hoc videtur fortassis quod praedicamentum actionis non significat ›ut in agente, sed‹ potius significat ›ut ab agente‹. Et secundum hoc eadem ratione non transiret in substantiam, cum non significet aliquod inesse sed ab aliquo esse. Sed haec dubitatio solvitur, quia, licet actio non significet ut in agente, id tamen, quod significat, est aliquid et secundum aliquid in subiecto, puta secundum principium sui. Relatio vero non sic, sed potius oritur et principium sui est non in subiecto, sed in opposito. Die Beziehung allein aber empfängt ihre Gattung als Kategorie weder von ihrem Träger noch durch ihr Verhältnis zu ihrem Träger, vielmehr zu dem ihm Gegenüberstehenden. Deswegen geht die Beziehung als einzige Kategorie bei Gott nicht in die Substanz über, sondern bleibt gleichsam draußen stehen. […] Dem scheint aber entgegenzustehen, daß die Kategorie Wirken nicht bezeichnet, ›insofern (das Wirken) am Wirkenden ist‹, sondern vielmehr, ›insofern es von ihm ausgeht‹. Dementsprechend dürfte sie aus demselben Grund nicht in die (Kategorie) Substanz übergehen, da sie nicht ein Sein an (einem Träger), sondern ein davon ausgehendes bezeichnet. Die Zweifelsfrage löst sich aber dadurch, daß zwar (die Kategorie) Wirken nicht [L]i ego dicit substantiam sine omni accidente, quin immo accidens in ipsa et per ipsam transit in substantiam. […] Sed quia sola relatio non habet esse in subiecto nec a subiecto, sed potius ab obiecto et a suo opposito, non transit in substantiam (»[D]as Fürwort ich [besagt] die Substanz ohne jedes Akzidens, ja das Akzidens geht sogar in ihr und durch sie in die Substanz über. […] Weil aber die Beziehung allein ihr Sein nicht im Träger noch vom Träger hat, sondern vielmehr vom Objekt, das heißt vom Gegenüberstehenden, geht sie nicht in die Substanz über« [Eckhart, In Eccl. n. 10, LW II 239,4–5.7–9; Übers. ebd.]).
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Das Ich ist nicht von dieser Welt
bezeichnet, insofern das Wirken am Wirkenden ist, daß jedoch das von ihm Bezeichnete etwas an einem Träger ist, und zwar in besonderer Hinsicht, nämlich seinem Ursprung nach. Die Beziehung dagegen verhält sich nicht so, sie entsteht vielmehr im Gegenüberstehenden, dort ist ihr Ursprung, nicht in ihrem Träger. 37
Konkret gesprochen, bedeutet dies, dass mit Blick auf die innertrinitarischen Bezüge das alter ego nicht das abgeleitete Produkt einer Setzung oder einseitigen aktiven Konstitution durch das erste ego sum ist, sondern co-konstitutiver Ursprung ihrer wechselseitigen Bezüglichkeit. Dennoch versteht Eckhart diese besonders geartete innertrinitarische Dynamik nicht als einen Vorgang, der sich in einer immanenten geistigen Reziprozität erschöpft. Vielmehr ist die lebendige, den Raum einer gegenintentionalen Intersubjektivität aufspannende Produktivität des absoluten Intellekts so beschaffen, dass sie gar nicht ohne den Bezug auf so etwas wie Welt gedacht werden kann. 38 Dieser Brückenschlag erfolgt auf dem Wege einer transzendental-grammatikalischen Analyse des lateinischen Satzes aus Ex 3,14. In der betonten Aussage »Ego sum …«, die eine Abgrenzung des Sprechers vom Rest der Wirklichkeit markiert, 39 liegt unter metaphysischen Gesichtspunkten ein Aspekt, der die Hinzufügung dieses Personalpronomens nicht redundant erscheinen lässt. Das ego durchbricht die Autarkie der in sich vollkommenen innergöttlichen Selbsterkenntnis des sum qui sum und verweist damit auf die Veräußerlichung des göttlichen Lebens in der Schöpfung. 40 Dabei deutet Eckhart, In Exod. nn. 65–66, LW II 69,16–70,3.7–71,2; Übers. ebd. In diesem Punkt unterscheidet sich die vorliegende Eckhart-Interpretation deutlich von der Rolf Kühns, der – wie auch schon Michel Henry – Eckhart als Gewährsmann für ein Denken der reinen Immanenz betrachtet, in der es keine wie immer geartete Distanz mehr gibt, nicht einmal die des intentionalen Erkennens (vgl. R. Kühn, Lebensreligion. Unmittelbarkeit des Religiösen als Realitätsbezug, Dresden, Verlag Text & Dialog, 2013, 130). Auch Eckharts trinitarische Auslegung der »aufquellenden Dynamik« des Ego sum qui sum in Ex 3,14 widerspricht Kühns These, der zufolge bei Eckhart »der absolute Anfang […] als ›Ursprung‹ keine Fraktur oder Differenz in seinem Wesen kennen kann« (R. Kühn, Lebensreligion, 134). 39 Da die Verben im Lateinischen schon durch ihre Endungen die grammatikalische Person sowie den Numerus eindeutig erkennbar machen, ist das hinzugefügte ego ein pronomen discretivum, das der betonten Abgrenzung des Sprechers gegenüber allen anderen Personen und Dingen dient (vgl. Eckhart, In Exod. n. 14, LW II 20,3). 40 Alain de Libera vertritt die These, dass Eckharts Deutung des sum qui sum aus Ex 3,14 eine solipistische »Selbstheit des Seins« (ipséité de l’Être) vertrete, zu der es nichts Äußerliches geben könne. Diese Deutung übersieht jedoch, dass Eckhart nicht nur die auf die innertrinitarischen Bezüge beschränkte Formulierung des sum qui 37 38
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Die Überwindung des wirkursächlichen Zusammenhangs von Denken und Sein
Eckhart das Verhältnis zwischen Schöpfer und Geschöpfen aber nicht im Sinne der wirkursächlichen Hervorbringung einer teilselbständigen, gegenständlichen Welt, sondern als eine Form der intentionalen Inhärenz, die dem göttlichen Wesen nichts real hinzufügt, wohl aber seine immanente Dynamik nach außen kehrt und dadurch manifest macht. Eckhart schreibt: Tertio notandum quod repetitio, quod bis ait: sum qui sum, puritatem affirmationis excluso omni negativo ab ipso deo indicat; rursus ipsius esse quandam in se ipsum et super se ipsum reflexivam conversionem et in se ipso mansionem sive fixionem; adhuc autem quandam bullitionem sive parturitionem sui – in se fervens et in se ipso et in se ipsum liquescens et bulliens, lux in luce et in lucem se toto se totum penetrans, et se toto super se totum conversum et reflexum undique, secundum illud sapientis: »monas monadem gignit – vel genuit – et in se ipsum reflexit amorem – sive ardorem«. Propter hoc in Ioh. 1 dicitur: »in ipso vita erat«. Vita enim quandam dicit exseritionem, qua res in se ipsa intumescens se profundit primo in se toto, quodlibet sui in quodlibet sui, antequam effundat et ebulliat extra. Hinc est quod emanatio personarum in divinis ratio est et praevia creationis. Sic enim Ioh. 1: »in principio erat verbum«; et post demum: »omnia per ipsum facta sunt«. Die Wiederholung: ich bin, der ich bin, zeigt die Lauterkeit der Bejahung unter Ausschluß jeder Verneinung von Gott an. Wiederum auch eine Art Rückwendung des Seins zu sich und auf sich selbst und ein Verharren oder Feststehen in sich, ferner aber gleichsam ein Aufwallen oder Sichselbstgebären – (das Sein ist) in sich brausend und in sich und auf sich fließend und wallend, Licht, das in Licht zu (neuem) Licht (erstrahlt), das sich selbst ganz durchdringt, das von allen Seiten ganz auf sich selbst zurückfließt und -strahlt, nach dem Wort des Weisen: »Die Einheit zeugt – oder zeugte – die Einheit, und auf sich selbst strahlte sie ihre Liebe – oder ihre Glut – zurück«. Daher heißt es: ›in ihm war das Leben‹ (Joh. 1,4). Leben nämlich bedeutet eine Art Überquellen, wodurch etwas in sich selbst anschwillt und sich zuerst ganz und gar in sich selbst ergießt, jedes Teilchen mit sich selbst durchdringend, bevor es sich ausgießt und überwallt. Daher kommt es, daß das Ausfließen der Personen in der Gottheit der Grund für die
sum analysiert, sondern ebenso auch das im Ego sum qui sum liegende Durchbrechen und Ausfließen dieses immanenten Lebens nach außen thematisiert (vgl. A. de Libera, »L’Être et le Bien: Exode 3,14 dans la théologie rhénane«, in: ders. / E. Zum Brunn [Hg.], Celui qui est. Interprétations juives et chrétiennes d’Exode 3,14, Paris, Les Éditions du Cerf, 1986, 127–162, hier 153. 159).
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Das Ich ist nicht von dieser Welt
Schöpfung ist und ihr vorangeht. Denn so (heißt es): ›im Anfang war das Wort‹ und dann erst: ›alles ist durch es geworden‹ (Joh 1,1.3). 41
Zwischen dem »Sprudeln« (bullitio) des innertrinitarischen Lebens und dem »Überwallen« (ebullitio) der Schöpfung besteht demnach grundsätzliche Kontinuität, auch wenn das Hervorgebrachte durch Räumlichkeit, Zeitlichkeit und Materialität gekennzeichnet und damit verendlicht ist. Letztlich trägt es aber dadurch keine Endlichkeit in Gottes Wesen hinein, sondern ermöglicht lediglich eine endliche Perspektive auf denselben Vorgang, der aus der Sicht Gottes nichts anderes ist als seine immanente, prozessuale Selbsterkenntnis. 42 Aus geschöpflicher Sicht mag es so aussehen, als sei die geschaffene Welt »außerhalb« Gottes bzw. als sei Gott »transzendent« zur Welt, doch sind solche örtlich verstandenen Unterscheidungen im Verhältnis von Gott und Welt prinzipiell unangebracht, wenn man »Ort« im Sinne der entsprechenden aristotelischen Kategorie versteht. 43 In Wirklichkeit handelt es sich um ein und denselben Bezug des göttlichen Bewusstseins auf seine Erkenntnisinhalte, die im Logos als dem Anderen (alius) innerhalb Gottes auf inbegriffliche Weise enthalten sind und nur aus der endlichen Perspektive des Geschaffenseins als ein Anderes (aliud) gegenüber Gott erscheinen. 44 Die Welt hängt demnach am sich beständig neu erzeugenden Ich Gottes, da sie Eckhart, In Exod. n. 16, LW II 21,7–22,9; Übers. ebd. Simul enim et semel quo deus fuit, quo filium sibi coaeternum per omnia coaequalem deum genuit, etiam mundum creavit […]. Loquitur autem filium generando, quia filius est verbum; loquitur et creaturas creando […]. Hinc est quod in alio Psalmo dicitur: »semel locutus est deus, duo haec audivi«. »Duo«, scilicet caelum et terram, vel potius »duo haec«, personarum scilicet emanationem et mundi creationem, quae tamen »semel ipse loquitur«, »semel locutus est« (»In demselben und einen [Jetzt] nämlich, in dem Gott war und in dem er den ihm gleich ewigen, den durchaus gottgleichen Sohn zeugte, schuf er auch die Welt. […] Er spricht aber in der Zeugung des Sohnes, weil der Sohn das Wort ist. Er spricht auch in der Schöpfung die Kreaturen […]. Daher heißt es in einem anderen Psalm (61,12): ›einmal hat Gott gesprochen, diese zwei hörte ich‹. ›Zwei‹, sage ich, Himmel und Erde, oder vielmehr ›diese zwei‹, nämlich das Ausfließen der Personen und die Schöpfung der Welt, die er jedoch ›einmal spricht‹, ›einmal gesprochen hat‹« [Eckhart, In Gen. I n. 7, LW I,1 190,11–191,5; Übers. ebd.]; vgl. auch ders., In Ioh. n. 73, LW III 61,1–5). 43 Zu diesem nicht mehr kategorialen, sondern transzendentalen Verständnis von Örtlichkeit bei Meister Eckhart vgl. den Aufsatz d. Verf. »Das Motiv der transzendentalen Topologie in den Reden der Unterweisung vor dem Hintergrund von Meister Eckharts lateinischen Schriften«, Meister-Eckhart-Jahrbuch 6 (2012), 243–256. 44 Filius est enim qui fit alius in persona, non aliud in natura (Eckhart, In Ioh. n. 6, LW III 7,8–9). 41 42
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Die Überwindung des wirkursächlichen Zusammenhangs von Denken und Sein
in sich keine echte ontologische Eigenständigkeit besitzt, sondern ihre Wirklichkeit allein aus dem permanenten produktiven Erkanntwerden durch Gott bezieht. 45 Gleichzeitig fügt dieses geschöpfliche Inhärieren aber auch nichts zur reinen Substanz des göttlichen Ich hinzu wie ein reales Akzidens, sondern ist nur eine andere, nämlich raumzeitlich manifestierte Weise des Selben. 46 Eckharts intellekttheoretische Deutung des Schöpfungsvorgangs unterscheidet sich von der Thomas von Aquins 47 in zwei grundlegenVgl. Eckhart, Super Eccl. n. 46, LW II 274,14–275,16. Hinc est quod in divinis personis emanatio est formalis quaedam ebullitio, et propter hoc tres personae sunt simpliciter unum et absolute. Creaturarum vero productio […] non manet simpliciter unum, sed unum in multis (»Daher kommt es, daß das Ausfließen bei den göttlichen Personen eine Art Übersprudeln der Form nach ist, und deswegen sind die drei Personen schlechthin und ohne Einschränkung eins. Das Hervorbringen der Geschöpfe aber […] bleibt […] nicht das Eine schlechthin, sondern das Eine im Vielen« [Eckhart, In Ioh. n. 342, LW III 291,7–11; Übers. ebd.]). – Die liute wænent, daz sie mê haben, sô sie diu dinc hânt mit gote, dan ob sie got hæten âne diu dinc. Aber dem ist unreht, wan alliu dinc mit gote enist niht mê dan got aleine (»Die Leute wähnen, mehr zu haben, wenn sie die Dinge zu Gott hinzu haben, als wenn sie Gott ohne die Dinge hätten. Das aber ist unrichtig, denn alle Dinge zu Gott hinzu ist nicht mehr als Gott allein« [ders., Pr. 30, DW II 101,2–4; Übers. 657]). Dieses nicht additive, sondern manifestative Verhältnis des absoluten Seins (esse) zu dem von ihm hervorgebrachten Seienden (ens) wurzelt in Eckharts Transzendentalienlehre, die er in den Prologen zum Opus tripartitum entwirft (vgl. dazu Eckhart, Prol. gen. n. 4, LW I,1 150,1–151,1; ders., Prol. op. prop. n. 15, LW I,1 176,3–7). Die nicht im eigentlichen Sinne akzidentelle, sondern dynamische Inhärenz aller Kreaturen in Gott wird von Eckhart mit dem Ausstrahlen des Lichts verglichen, das in dem von ihm erleuchteten Medium der Luft gleichfalls keine Wurzeln schlägt (vgl. Eckhart, In Ioh. n. 70, LW III 58,11–59,10). 47 Thomas von Aquin unterscheidet deutlich zwischen der immanenten processio der trinitarischen Personen und der Hervorbringung der Welt, die er als von Gott frei gewollte productio definiert. Daher ist für ihn die Vorstellung einer von Ewigkeit her geschehenden, direkt aus der göttlichen Natur erfließenden Schöpfung widersprüchlich: Deus sua voluntate res in esse producit, ut supra ostensum est. Non est autem necessarium, si Deus suam bonitatem vult esse, quod velit alia a se produci: huius enim conditionalis antecedens est necessarium, non autem consequens; ostensum est enim in primo libro quod Deus ex necessitate vult suam bonitatem esse, non autem ex necessitate vult alia. Igitur non ex necessitate debetur divinae bonitati creaturarum productio (»Gott bringt mit seinem Willen die Dinge ins Sein, wie oben dargelegt wurde. Wenn Gott aber will, daß sein Gutsein ist, so ist nicht notwendig, daß er will, daß etwas von ihm Verschiedenes hervorgebracht wird. Denn von dem angeführten Bedingungssatz ist der Vordersatz notwendig, nicht aber der Folgesatz. Es wurde nämlich im ersten Buch dargelegt, daß Gott notwendig will, daß sein Gutsein ist, aber nicht notwendig von ihm Verschiedenes will« [Thomas von Aquin, Summa contra Gentiles II, cap. 28, n. 9; dt. Übers. in: Thomas von Aquin, Summe gegen 45 46
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den Aspekten: Zum einen postuliert er eine grundsätzliche Kontinuität zwischen der Art von Produktivität, die den immanenten, innertrinitarischen Hervorgängen zugrunde liegt, und deren Überborden in Form der Schöpfung. Das bedeutet, dass die Erschaffung der Welt keinen akzidentellen Vorgang darstellt, den Gott ebenso gut auch hätte unterlassen können, sondern buchstäblich ein unmittelbarer Ausfluss seiner trinitarischen Geistnatur ist. Daraus ergibt sich, dass der Schöpfungsprozess als solcher keinen transitiv-wirkursächlichen Vorgang darstellt, sondern als geistig-immanente Genese gedeutet werden muss. Zum anderen folgt aus Eckharts These der grundsätzlichen Kontinuität zwischen den innertrinitarischen Hervorgängen und der Erschaffung der Welt aber auch, dass die Existenz von so etwas wie »Welt« insgesamt keinen monolithischen Ursprung hat, sondern sich notwendigerweise aus der intersubjektiven Verflechtung
die Heiden (in 4 Bd., hg. und übers. von K. Albert und P. Engelhardt), Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2001, Bd. II, 87]). – Ad tertium dicendum quod, cum creatura procedat a Deo in diversitate naturae, Deus est extra ordinem totius creaturae, nec ex eius natura est eius habitudo ad creaturas. Non enim producit creaturas ex necessitate suae naturae, sed per intellectum et per voluntatem, ut supra dictum est. Et ideo in Deo non est realis relatio ad creaturas. Sed in creaturis est realis relatio ad Deum, quia creaturae continentur sub ordine divino, et in earum natura est quod dependeant a Deo. Sed processiones divinae sunt in eadem natura. Unde non est similis ratio (»Da das Geschöpf in der Verschiedenheit der Natur von Gott hervorgeht, steht Gott außerhalb der Ordnung der gesamten Schöpfung; noch auch hat Er auf Grund Seiner Natur eine Beziehung zu den Geschöpfen. Denn Er bringt die Geschöpfe nicht kraft einer Notwendigkeit Seiner Natur hervor, sondern durch Verstand und Willen. Daher gibt es in Gott keine naturwirkliche Beziehung zu den Geschöpfen. In den Geschöpfen dagegen findet sich eine naturwirkliche Beziehung zu Gott, denn die Geschöpfe stehen unter der göttlichen Ordnung und es liegt in ihrer Natur, daß sie von Gott abhängen. Die göttlichen Hervorgänge jedoch erfolgen in ein und derselben Natur. Also haben wir nicht denselben Sachverhalt« [Thomas von Aquin, Summa theologiae I, q. 28, a. 1 ad 3; Übers. in: Die deutsche Thomas-Ausgabe, Bd. 3, Salzburg / Leipzig, Pustet, 1939, 26]). – Ad decimumtertium dicendum, quod licet ipsum verbum Dei naturaliter a patre oriatur, non tamen oportet quod creaturae naturaliter procedant a Deo. Hoc autem modo pater verbo suo creaturas dicit sicut in ipso patre sunt; in quo quidem sunt non ut per necessitatem producendae, sed per voluntatem (»Das göttliche Wort selbst geht zwar wesensmäßig aus dem Vater hervor. Gleichwohl müssen nicht auch die Geschöpfe wesensmäßig aus Gott hervorgehen. Denn der Vater spricht in seinem Wort die Geschöpfe in der Weise aus, in der sie im Vater selbst sind, und darin liegen sie freilich nicht als notwendig hervorzubringende, sondern als gewollte« [Thomas von Aquin, De potentia, q. 3, a. 15 ad 13; Übers. von S. Grotz in: Thomas von Aquin, Über Gottes Vermögen, Teilband I (qq. 1–3), Hamburg, Meiner, 2009, 256]).
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der innergöttlichen Bewusstseinszentren ergibt. 48 Auch wenn das »Ich« (ego) letztlich das Prinzip der schöpferischen Veräußerlichung des innergöttlichen Wesens darstellt, resultiert das Entstehen von Welt nicht aus einer einzelnen Ich-Instanz, sondern setzt eine apriorische Pluralität von Vernunftsubjekten voraus. Umgekehrt ist in der wechselseitigen Verflechtung der innergöttlichen Bewusstseinszentren aber auch schon die emanative Hervorbringung von Welt untrennbar mitgegeben. Daraus folgt, dass zwar die einzelnen innerweltlichen Dinge kontingent sind und einen Anfang und ein Ende in der Zeit haben, nicht aber die Welt als ganze. Sie ist – unbeschadet ihrer Abhängigkeit von der intersubjektiv strukturierten göttlichen Intellektnatur – ein notwendiges Korrelat des reinen Ichbewusstseins und somit ewig. 49 Dadurch macht sich Eckhart zwar die aristotelische These der Ewigkeit der Welt zu eigen, wandelt sie aber in einem entscheidendem Punkt ab: Die Begründung dafür wird nun nicht mehr in kosmologischer Perspektive aus der anfangslosen Kreisbewegung
Vgl. Eckhart, In Sap. n. 71, LW II 400,7–401,7. Rursus tertio principium, in quo ›deus creavit caelum et terram‹, est primum nunc simplex aeternitatis, ipsum, inquam, idem nunc penitus, in quo deus est ab aeterno, in quo etiam est, fuit et erit aeternaliter personarum emanatio. […] Unde cum quaereretur a me aliquando, quare deus mundum non creasset prius, respondi quod non potuit, eo quod non esset. Nec fuerit prius, antequam esset mundus (»Ferner ist drittens der Anfang, in dem Gott Himmel und Erde schuf, das erste einfache Jetzt der Ewigkeit. Genau dasselbe Jetzt, sage ich, in dem Gott von Ewigkeit her ist und in dem auch das Ausfließen der Personen ewig ist, war und sein wird. […] Als ich daher einstmals gefragt wurde, warum Gott die Welt nicht früher geschaffen habe, antwortete ich: er konnte es nicht, weil er nicht war. Es hatte kein früher gegeben, bevor die Welt war« [Eckhart, In Gen. I n. 7, LW I,2 65,8–10.12–14; Übers. ebd.]). Demgegenüber betont Thomas von Aquin, dass die Vorstellung der Ewigkeit der Welt selbst dann dem Glauben widerspräche, wenn man die Welt als von Ewigkeit her durch Gott geschaffene dächte: Ex his autem quae praedicta sunt, vitare possumus diversos errores gentilium philosophorum. Quorum quidam posuerunt mundum aeternum. Quidam materiam mundi aeternam, ex qua ex aliquo tempore mundus coepit generari: vel a casu; vel ab aliquo intellectu; aut etiam amore aut lite. Ab omnibus enim his ponitur aliquid praeter Deum aeternum. Quod fidei Catholicae repugnat (»Von dem aus aber, was soeben gesagt wurde, können wir die verschiedenen Irrtümer heidnischer Philosophen vermeiden. Von diesen haben einige die Welt als ewig angenommen, einige den Stoff der Welt als ewig, aus dem von einer bestimmten Zeit an die Welt zu entstehen begann, und zwar entweder aus Zufall, oder durch einen Verstand oder auch durch Liebe und Streit. Von allen diesen nämlich wird etwas Ewiges außer Gott angenommen. Dies aber widerspricht dem katholischen Glauben« [Thomas von Aquin, Summa contra Gentiles II, cap. 38, n. 16; dt. Übers. Bd. II, 143]). 48 49
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Das Ich ist nicht von dieser Welt
der Himmelssphären abgeleitet, 50 sondern aus der Überzeitlichkeit des reinen Ich, das in apriorischer Vergemeinschaftung mit anderen Ich-Subjekten immer schon auf einen Gesamthorizont intentionaler Transzendenz namens »geschaffene Wirklichkeit« bezogen ist. Ein weiterer Aspekt von Eckharts oben zitierter Auslegung von Ex 3,14 verdient hier Beachtung: Im Zusammenhang mit seiner trinitarischen Deutung des Ego sum qui sum spricht Eckhart von einem Erzeugungsprozess, in dem die Einheit (monas) eine andere Einheit (monadem) hervorbringt. Diese »monadologische« Ausrichtung seiner Trinitätstheologie hat neuplatonische Wurzeln; verweist Eckhart an dieser Stelle doch auf die erste der insgesamt 23 philosophischen Definitionen des Wesens Gottes, die im anonym überlieferten Liber XXIV philosophorum enthalten sind. 51 Die Besonderheit des Terminus monas liegt darin, dass er an dieser Stelle weder als abstrakte, mathematische Einheit noch als Synonym dinglich-statischer Substantialität fungiert, sondern als Ausgangspunkt eines in sich selbst zurückgespiegelten Lichtstrahls bezeichnet wird (in se unum reflectens ardorem). Gott Vater als die »oberste Monade« erzeugt somit eine andere Monade – den Sohn –, indem der von ihm ausgehende Erkenntnisstrahl in gleichursprünglicher Prozessualität auf ihn zurückgeworfen wird. Das Geistige kann sich also nur unter der Bedingung als unteilbare Einheit erfahren, dass ihm immer schon mindestens eine andere Instanz gegenübersteht, die von ihm nicht als passiver Gegenstand der Erkenntnis, sondern als gleichfalls unteilbarer Ausgangspunkt geistiger Akte erfahren wird. Auf dieses wechselseitige Sich-ineinander-Spiegeln und Ineinander-Enthaltensein geistiger Monaden wird im Zusammenhang mit Eckharts Theorie der Intersubjektivität noch zurückzukommen sein.
1.3
Der Intellekt des Menschen in seinem wesenhaften Weltbezug
Eckharts emanative Deutung der Schöpfung als des intentionalen Außenhorizontes innergöttlicher Intersubjektivität hat die Konsequenz, dass die Welt als ganze, aber auch die einzelnen innerweltVgl. Aristoteles, De caelo I 10, 279 b 12. Vgl. F. Hudry, Le livre des XXIV philosophes: résurgence d’un texte du IVe siècle, Paris, Vrin, 2009. 50 51
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Die Überwindung des wirkursächlichen Zusammenhangs von Denken und Sein
lichen Dinge nicht länger unter dem Gesichtspunkt substrathafter Existenz betrachtet werden können, sondern nunmehr als das Ergebnis einer allein durch die intelligible Form bestimmten Prozessualität zwischen dem Prinzip und dem von ihm Hervorgebrachten (principiatum) erscheinen. Auch als geschaffene und »wirklich seiende« (ens reale) wird die Welt damit nicht primär unter dem Gesichtspunkt ihres Seins (esse), sondern unter dem des Erkennens (intelligere) anvisiert und damit aus der Sphäre der Naturkausalität in die der geistigen Sinnproduktion hineingehoben. Die ratio rerum, d. h. die intelligible Struktur der Dinge, ist die apriorische Ursache ihres Seins und zugleich doch derjenige Aspekt an ihnen, der unabhängig von ihrem realen, extramentalen Sein oder Nichtsein betrachtet werden kann. 52 Die absolute ontologische Asymmetrie zwischen dem Ich Gottes und der Schöpfung hat zur Folge, dass auch in der Beziehung zwischen dem Ich des Menschen und der Welt das Substanz-AkzidensSchema nicht mehr anwendbar ist. Dies wird an Eckharts Kommentaren zu weiteren Passagen aus dem Buch Exodus und anderen biblischen Büchern deutlich, in denen gleichfalls das Ich thematisiert wird, diesmal aber als Aussage menschlicher Personen. In Ex 33,13 richtet Moses an Gott die Bitte: »Zeige mir deine Herrlichkeit, damit ich dich kenne« (Ostende mihi gloriam tuam, ut sciam te). Eckhart deutet die Tatsache, dass »mir« (mihi) der Dativ von »ich« (ego) ist, als Indiz dafür, dass es im Menschen eine Dimension gibt, die dem sich als Ich manifestierenden Gott im univoken Sinne gleich und ebenbürtig ist, nämlich den Intellekt. Nicht insofern der Mensch ein Naturwesen ist, sondern nur, insofern er »ich« sagen kann, ist er fähig, die Selbsterschließung des sich als »Ich« offenbarenden Gottes entgegenzunehmen. 53 Gleichzeitig bedeutet dies aber auch, dass das vernünftige Ichbewusstsein des Menschen von seiner empirischen, natürlichen Person nicht aufgenommen werden kann wie ein Akzidens von seinem Träger. Als Ichbewusstsein existiert es unmittelbar aus der reinen Erkenntniskorrelation zum göttlichen Ich heraus 54 und Vgl. Eckhart, In Ioh. n. 29, LW III 23,1–2. Vgl. Eckhart, In Exod. n. 277, LW II 223,4–6. 54 Cum enim homo, ut dictum est, accipit totum suum esse se toto a solo deo, obiecto, sibi est esse non sibi esse, sed deo esse, deo, inquam, ut principio dante esse, et deo ut fini, cui est et cui vivit, se ipsum nescire nec quidquam nisi deum et in deo, in quantum in deum et in quantum deus (»Denn wenn der Mensch, wie gesagt wurde, sein ganzes Sein gänzlich von Gott allein, seinem Gegenstande, empfängt, so ist für ihn 52 53
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Das Ich ist nicht von dieser Welt
ist somit auf gleichursprüngliche Weise in die innertrinitarischen Intersubjektivitätsbezüge hineingestellt. 55 Aus Eckharts spekulativer Deutung der »Reinheit« des ego kann man entnehmen, dass dieses weder ein »Teil« der Welt ist, noch im üblichen Sinne als »außerhalb« oder »transzendent« zur Welt angesehen werden kann. Insofern es Ausdruck absoluter Einheit ist, entzieht es sich der Logik vom Ganzen und den Teilen, ist gerade deswegen aber in allem wirksam als der beständig quellende Ursprung allen Seins wie aller Erkenntnis. Dies gilt auch für das Ich des Menschen, insofern dieses immer schon in einem untrennbaren Vollzugszusammenhang mit dem Ich Gottes steht. In Predigt 28 erläutert Eckhart: Plâtô […] sprichet von einer lûterkeit, diu enist in der werlt niht; si enist niht in der werlt noch ûzer der werlt, ez enist weder in zît noch in êwicheit, ez enhat ûzerlich noch innerlich. Her ûz drücket im got, der êwige vater, die vüllede und den abgrunt aller sîner gotheit. Daz gebirt er hie in sînem eingebornen sune und daz wir der selbe sun sîn, und sîn gebern daz ist sîn innebleiben, und sîn innebleiben ist sîn ûzgebern. Ez blîbet allez daz eine, daz in im selben quellende ist. ›Ego‹, daz wort ›ich‹, enist nieman eigen dan gote aleine in sîner einicheit. ›Vos‹, daz wort daz sprichet als vil als ›ir‹, daz ir ein sît in der einicheit, daz ist: daz wort ›ego‹ und ›vos‹, ›ich‹ und ›ir‹, daz meinet die einicheit. Plato […] spricht von einer Lauterkeit, die nicht in der Welt ist; sie ist weder in der Welt noch außer der Welt, ist etwas, das weder in der Zeit noch in der Ewigkeit ist, das weder Äußeres noch Inneres hat. Aus ihr treibt Gott, der ewige Vater, die Fülle und den Abgrund seiner Gottheit hervor. Dies hallesi gebiert er hier in seinem eingeborenen Sohn und hbewirkti, daß wir derselbe Sohn seien; und sein Gebären ist zugleich sein Innebleiben, und sein Innebleiben ist sein Ausgebären. Es bleibt immer das Eine, das in sich selber quillt. ›Ego‹, das Wort ›Ich‹, ist niemandem eigen als Gott allein in seiner
das Sein nicht Für-sich-sein, sondern Zu-Gott-sein, zu Gott, sage ich, als Ursprung, der das Sein gibt, und zu Gott als Ziel, für das er ist und lebt; es ist Nichtwissen von sich selbst und allem andern, es sei denn Gott und in Gott, insofern es in Gott und Gott ist« [Eckhart, In Ioh. n. 107, LW III 92,9–13; Übers. ebd.]). 55 Diu nâheit gotes und der sêle diu enhât keinen underscheit in der wârheit. Daz selbe bekantnisse, dâ sich got selben inne bekennet, daz ist eines ieglîchen abegescheidenen geistes bekanntnisse und kein anderz. Diu sêle nimet ir wesen âne mittel von gote; dar umbe ist got der sêle næher, dan si ir selber sî (»Die Nähe zwischen Gott und der Seele kennt keinen Unterschied hzwischen beideni, fürwahr. Dasselbe Erkennen, in dem sich Gott selbst erkennt, das ist eines jeden losgelösten Geistes Erkennen und kein anderes. Die Seele nimmt ihr Sein unmittelbar von Gott; darum ist Gott der Seele näher, als sie sich selbst ist« [Eckhart, Pr. 10, DW I 162,1–5; Übers. 467]).
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Einheit. ›Vos‹, dieses Wort bedeutet soviel wie ›Ihr‹, daß ihr eins seid in der Einheit, das heißt: Das Wort ›ego‹ und ›vos‹, ›Ich‹ und ›Ihr‹, das deutet auf die Einheit hin. 56
Die Akkusativform »Ihr« (vos) ist in ihrer deklinierten Form lediglich Anweisung auf die absolute Einheit, die sich im Nominativ des »Ich«Sagens vollzieht. Nur weil sich der Mensch in qualitativ absolut gleicher Weise wie Gott ebenfalls als »Ich« zu manifestieren vermag, kann Gott ihn auch mit dem Wort »Ihr« als ein von ihm unterschiedenes Gegenüber anreden. Die Universalisierung der Überweltlichkeit des Ich geht am deutlichsten aus Eckharts Auslegung von Joh 8,23 »Ich bin nicht von dieser Welt« (Ego non sum de hoc mundo) hervor. Im Kontext des Johannesevangeliums ist dies zunächst eine Aussage Jesu, die sich auf ihn selbst bezieht. Doch für Eckhart unterliegt das Personalpronomen »ich« nicht der sonst üblichen deiktischen Einschränkung, die sich aus der konkreten Redesituation ergibt, sondern steht für jedes Ich überhaupt. Der Intellekt als solcher, die von ihm erkannte Wahrheit sowie seine Selbstmanifestation im Ich-Sagen sind nicht Teil der natürlichen, innerweltlichen Wirklichkeit, sondern gehören, so wie Gott selbst, dem Bereich der »reinen Substanz« (mera substantia) an, auch wenn dieser Ichvollzug im Menschen stattfindet. Eckhart schreibt dazu: Notandum quod homo, filius dei natus ex deo, non est de hoc mundo. Primo quia, ut Augustinus ait De moribus ecclesiae, mens inhaerens deo, toto mundo est omnino sublimior. […] Secundo, quia li ›ego‹ pronomen significat meram substantiam sine omni qualitate; talis autem non est in hoc mundo. Tertio, quia ›ego sum veritas‹, infra quarto decimo; veritas autem non est in rebus huius mundi, sed in solo intellectu. Es ist zu bemerken, daß der Mensch, der Gottes Sohn ist, der aus Gott Geborene, nicht von dieser Welt ist. Erstens, weil, wie Augustin in seinem Buch von der Ethik der Kirche sagt, der Geist, der Gott anhängt, weit erhabener ist als die ganze Welt. […] Zweitens, weil das Fürwort ich die reine Substanz ohne jede Beschaffenheit bezeichnet. Eine solche aber ist nicht in dieser Welt. Drittens, weil es später heißt: ›ich bin die Wahrheit‹ (14,6); die Wahrheit ist aber nicht in den Dingen dieser Welt, sondern allein im Intellekt. 57
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Eckhart, Pr. 28, DW II 67,1–69,2; Übers. 651 (Hervorhebungen im Original). Eckhart, In Ioh. n. 450, LW III 385,7–10; Übers. ebd. (modifiziert).
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Das Ich ist nicht von dieser Welt
Vor diesem Hintergrund müsste die Übersetzung des fraglichen Verses aus Joh 8,23 eigentlich lauten: »Das Ich (als solches) ist nicht von dieser Welt«. Daher ist die Fähigkeit, die Dinge so zu betrachten, wie sie sich vor ihrem Ausgang in die geschaffene, raumzeitliche Existenz darstellen, keineswegs eine alleinige Prärogative des göttlichen Intellekts, sondern kommt auch dem Intellekt des Menschen zu. Dieser ist kein geschaffenes Seelenvermögen unter anderen – also kein »Teil« des Menschen in seinem naturhaften Sein –, sondern ist schlechthin allumfassend, da er sich in denkender Weise auf alles Seiende wie Nichtseiende beziehen kann, ohne durch einen besonderen Gegenstand in seinem Umfang eingeschränkt zu werden. Insofern trifft auch auf den Intellekt des Menschen das Bild der allumfassenden sphaera intelligibilis zu, das Eckhart zunächst mit Blick auf den göttlichen Geist verwendet hatte. 58 Selbst das Universum als ganzes mit all seinen Himmelssphären ist weniger umfassend als der Intellekt des Menschen, der all das denken kann, was tatsächlich existiert, darüber hinaus aber auch all das, was de facto nicht existiert bzw. prinzipiell niemals existieren könnte. Eckhart notiert diesbezüglich: [L]icet caeli noni latitudo sit tanta, quod sit incognita […], imaginativum tamen animae latius est, ut probat Augustinus. Quanto magis intellectus, iam magnus sine magnitudine. Wenn auch der neunte Himmel eine so riesige Weite hat, daß sie uns unbekannt ist […], so ist doch die Vorstellungskraft der Seele weiter, wie Augustin beweist. Wieviel weiter muß erst der Intellekt sein, der groß ist ohne Größe. 59
Ez ist ein kraft in der sêle, diu ist wîter dan alliu disiu werlt (»Es ist eine Kraft in der Seele, die ist weiter als diese ganze Welt« [Eckhart, Pr. 59, DW II 624,7; Übers. 753]). Kurt Flasch betont im Kommentar zu seiner Übersetzung des Liber XXIV philosophorum, dass Eckhart den Spruch von der sphaera infinita auf Gott beziehe und nicht auf die Individualseele (vgl. K. Flasch, Was ist Gott? Das Buch der 24 Philosophen, München. C. H. Beck, 22011, 31 f.). Dies trifft für das von ihm angeführte Zitat auch zu (vgl. Eckhart, In Gen. I n. 155, LW I,1 305,3–7). Allerdings betont Eckhart an anderer Stelle, dass die Vorstellungskraft der menschlichen Seele unendlich weiter sei als die ganze Welt, was darauf hindeutet, dass für ihn auch die sphaera intelligibilis des menschlichen Geistes eine sphaera infinita darstellt (vgl. Eckhart, In Sap. n. 131, LW II 469,6–9). Vgl. dazu auch E. Brient, »Meister Eckhart: The Mystical Interpretation of the Infinite Sphere«, in: dies., The immanence of the infinite. Hans Blumenberg and the threshold to modernity, Washington, D.C., Catholic University of America Press, 2002, 147–183. 59 Eckhart, Sermo XLVIII,1 n. 501, LW IV 416,3.5–6; Übers. ebd. 58
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Quae ergo ad intellectum pertinent, in quantum huiusmodi, sunt non-entia. Intelligimus enim, quod deus non posset facere, ut intelligens ignem non intelligendo eius calorem; deus tamen non posset facere quod esset ignis et quod non calefaceret. Was also zum Intellekt gehört, ist als solches ein Nichtseiendes. Wir erkennen nämlich etwas, was Gott nicht machen könnte, wie z. B. jemand das Feuer denkt, ohne seine Wärme mitzudenken. Gott aber könnte nicht machen, daß ein Feuer existierte und daß es nicht wärmte. 60
Nicht nur mit Blick auf die sphaera intelligibilis des göttlichen Geistes, sondern auch in Bezug auf den menschlichen Intellekt gilt der Grundsatz, dass dessen »Weite« (latitudo bzw. magnitudo) nicht quantitativ-kategorialer, sondern ausschließlich intentionaler Natur ist; erweist sie sich doch nicht an das faktisch bestehende Sein gebunden, sondern ist diesem gegenüber ebenso frei wie der göttliche Intellekt selbst. In dem Maße, wie dessen innertrinitarisches Leben sich in Form einer apriorischen Intersubjektivität entfaltet, die als solche immer schon notwendigerweise auf Welt hin bezogen ist, steht auch der Intellekt des Menschen nicht nur »oberhalb des Seins«, sondern ist zugleich auf die Welt als den intentionalen Universalhorizont aller Erkenntnis hin ausgespannt, ohne Teil des innerweltlichen Kausalzusammenhangs zu sein. Gerade um seiner ontologischen Andersartigkeit gegenüber der Natur und seines wesenhaften intersubjektiven Bezuges zum Intellekt Gottes innezuwerden, ist der menschliche Intellekt jedoch auf die Erkenntnis des welthaften Seins angewiesen. Erst im Durchgang durch die Erkenntnis der innerweltlichen Dinge kann er lernen, sie unter dem Gesichtspunkt der ihnen innewohnenden intelligiblen Strukturen zu betrachten und diese auf das absolute Ich Gottes als den schöpferischen Ursprung der Wirklichkeit zurückzuverfolgen. 61 In dem Maße, wie der Mensch bei diesem Rückgang in den Ursprung erkennt, dass das reine Ich in seiner Funktionalität univoker Natur sein muss, wird er befähigt, die Beziehung zwischen Bewusstsein und Wirklichkeit in der umgekehrten Richtung zu Eckhart, Quaest. Par. I n. 7, LW V 44,6–9; Übers. ebd. Möhte si Gott bekennen âne die werlt, diu werlt enwære nie durch sie geschaffen. Dar umbe ist diu werlt durch sie geschaffen, daz der sêle ouge geüebet und gesterket werde, daz si daz götlîche lieht lîden mac (»Könnte sie hdie Seelei Gott erkennen ohne die Welt, so wäre die Welt nie um ihretwillen geschaffen worden. Die Welt ist um ihretwillen zu dem Ende geschaffen worden, daß der Seele Auge geübt und gestärkt werde, auf daß sie das göttliche Licht aushalten könne« [Eckhart, Pr. 32, DW II 134,5– 135,1; Übers. 661]).
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Das Ich ist nicht von dieser Welt
durchlaufen und auf diese Weise das in ihm selbst wirksame, überempirische »Ich« als konstitutiven Quellpunkt aller nur möglichen Bezüge auf eine von ihm unterschiedene Wirklichkeit zu erkennen.
1.4
Eckharts »Armut im Geiste« als Methode der Epoché
In den averroistisch beeinflussten Intellekttheorien der lateinischen Scholastik liegt bereits eine bedeutsame Relativierung des für das Mittelalter angeblich so charakteristischen Paradigmas einer Substanzmetaphysik, die sich am Modell statischer Dinglichkeit orientiert, und eine Hinwendung zu einer teilweise schon neuzeitlich anmutenden Form der Subjektphilosophie. 62 Dennoch bleibt bei diesen Intellekttheorien die Frage nach der Einheit des menschlichen Selbstbewusstseins unterbestimmt, das sich im Normalfall eben nicht als Zusammensetzung zweier heterogener Wirklichkeitsbereiche, sondern als einheitlichen Erlebenszusammenhang erfährt. Die philosophische Analyse des Verhältnisses zwischen den empirischen Seelenvermögen des Menschen und seinem Intellekt bleibt der erlebten Vollzugseinheit dieser beiden Dimensionen seiner Existenz äußerlich und erscheint eher als eine Abhandlung über Gegenstände höherer Ordnung denn als eine Selbstauslegung des ichlichen Bewusstseins als solchen. 63 So schreibt etwa Dietrich von Freiberg bezüglich der Die Frage, inwieweit die mittelalterlichen Intellekttheoretiker tatsächlich als Vorläufer des neuzeitlichen transzendentalphilosophischen Denkens angesehen werden können, ist in der Forschung umstritten. Zweifellos richtig ist die Tatsache, dass Dietrich von Freiberg den menschlichen Intellekt sowie die Sphäre des Denkens insgesamt als eine Wirklichkeit sui generis deutet, die sich nicht aus der naturhaften Dingwelt heraus erklärt, sondern dieser umgekehrt ihre eigenen Kategorien vorgibt. Neben diesem sehr modern anmutenden Grundzug seines Denken finden sich jedoch auch durchaus traditionell wirkende Aspekte: So entspringt die Selbsterfahrung des menschlichen Intellekts als eines aktual existierenden nicht seiner absoluten Selbstsetzung, sondern gründet vielmehr darin, dass er permanent seinem göttlichen Ursprung erkennend zugewandt ist. Darüber hinaus lässt Dietrich trotz der überaus innovativen Züge seiner Intellekttheorie die Stellung der von der Philosophie klar unterschiedenen Offenbarungstheologie als solcher unangetastet. Dieses theologische Apriori kann ersichtlicherweise von einer Transzendentalphilosophie kantischer Prägung auf dem Gebiet der theoretischen Vernunft nicht mehr übernommen werden. Vgl. dazu das Vorwort des Herausgebers Kurt Flasch zu Dietrich von Freiberg, Opera omnia II, S. XIII. 63 Bezüglich des Fehlens einer ausdrücklichen Theorie des Ich bei Dietrich von Freiberg vgl. B. Mojsisch, »›Dieses Ich‹. Meister Eckharts Ich-Konzeption«, 243 f. 62
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Verbindung zwischen dem Intellekt des Menschen und dessen empirischer Seele und Personalität: Intellectus igitur noster, cum sit de numero formaliorum entium naturae, manifestum est, quod eius entitas est per se. Ipse etiam non solum est ens simpliciter secundum rationem speciei secundum modum generabilium et corruptibilium, sed etiam in unoquoque individuo retinet modum entis simpliciter: Quamvis enim numeretur natura eius in diversis individuis, hoc tamen sibi accidit inquantum intellectus. Da nämlich unser Intellekt zu den stärker formbestimmten Naturdingen gehört, ist es offensichtlich, dass seine Seinsheit durch sich selbst existiert. Er selbst ist auch nicht nur ein schlechthin Seiendes gemäß dem Artbegriff nach der Art und Weise der entstehenden und vergänglichen Dinge, sondern behält auch in jedem einzelnen Individuum die Weise eines schlechthin Seienden: Denn obgleich seine Natur in den verschiedenen Individuen [zahlenmäßig] vervielfältigt wird, berührt ihn dies dennoch [nur] äußerlich, insofern er Intellekt ist. 64
Damit bestätigt Dietrich ausdrücklich, dass der Intellekt in den einzelnen, numerisch verschiedenen Menschen sehr wohl individuiert ist, ohne dabei seine Grundeigenschaft als eigenständig existierende Instanz (ens simpliciter) einzubüßen. Als Intellekt ist er in der Lage, der einzelnen Seele ein individuelles Sein zu verleihen, indem er sich mit ihr verbindet. Allerdings bleibt unter dieser Voraussetzung nach wie vor unklar, wie sich der Mensch aus der Innenperspektive seines Bewusstseins dennoch als intellektuell-seelisch-leibliche Einheit erfahren kann. Zum einen wird der Intellekt in seinem Wesen von seiner Vervielfältigung in den einzelnen Individuen nicht wirklich berührt, und zum anderen ist die Materie, die zum menschlichen Körper notwendigerweise dazugehört, in Dietrichs anthropologischem Schema nicht integraler Bestandteil dieses Individuationsprozesses. 65 Im Vergleich zu den anderen averroistisch beeinflussten Intellekttheoretikern seiner Zeit ist Meister Eckharts Ansatz insofern innovativ, als er nicht nur über die besondere ontologische Qualität des Dietrich von Freiberg, De origine rerum praedicamentalium 5.18, in: ders., Opera omnia III (ed. Sturlese), 185 (Übersetzung d. Verf.). 65 Vgl. Dietrich von Freiberg, De intellectu et intelligibili II.19(3), in: ders., Opera omnia I, 159 sowie dazu B. Mojsisch, Die Theorie des Intellekts bei Dietrich von Freiberg, Hamburg, Meiner, 1977, 54–62 und K. Flasch, Dietrich von Freiberg. Philosophie, Theologie, Naturforschung um 1300, München, C. H. Beck, 2007, 314 f. 318 f. 64
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Intellekts reflektiert, als sei dieser lediglich ein besonders geartetes Objekt philosophischer Erörterung, sondern mit dem »Ich« jenen Umschwung in die Erste-Person-Perspektive der denkenden Subjektivität vollzieht, die gemeinhin als Spezifikum der neuzeitlichen, cartesianischen Philosophie angesehen wird. Anders, als Descartes es knapp drei Jahrhunderte später tun sollte, deutet Eckhart das ego aber gerade nicht als Synonym des endlichen, geschöpflichen Bewusstseins, das in wirkursächlicher Weise von Gott abhängig ist, sondern als jene im strengen Sinne spontane, kausal nicht ableitbare Manifestation des Vernunftbewusstseins, die den qualitativen Indifferenzpunkt des Verhältnisses zwischen Gott und Mensch bildet. Strenggenommen kann nur Gott im vollen Sinne des Wortes »Ich« sagen, und aus diesem Grunde ist das Ich auch nicht empirisch vervielfältigt wie die einzelnen, numerisch verschiedenen Individuen einer übergeordneten Spezies. Das bedeutet jedoch nicht, dass das menschliche Bewusstsein als solches vernichtet würde und unterschiedslos im göttlichen Ich aufginge, 66 sondern nur, dass zwischen Gottes Ich und dem Ich des Menschen lediglich die Differenz des reinen Gegenübers, nicht aber ein definitorisch zu fassender Wesensunterschied besteht. 67 Da das ego als solches in univoker Weise auch dem Menschen zukommt, ist – anders als bei Aristoteles – das in sich Erkennbarste zugleich auch das für uns am leichtesten Erkennbare, aber deswegen nicht schon das von uns im expliziten Sinne Ersterkannte. Insofern jede Art der Erkenntnis notwendigerweise am Ich des Menschen hängt, ist dieses in allem, was es weiß, implizit mitgewusst, aber sich nicht notwendigerweise als solches bewusst. Daher bedarf es einer ausdrücklichen Freilegung dessen, was mit dem Wort ego wirklich Dieser auf eine theonome Engführung des »Ich« und eine völlige Vernichtung des menschlichen Selbstbewusstseins abzielende Deutungsansatz überwiegt bei A. M. Haas, »›… Das Persönliche und Eigene verleugnen‹. Mystische vernichtigkeit vnd verworffenheit sein selbs im Geiste Meister Eckharts«, in: M. Frank / A. Haverkamp (Hg.), Mystik als Aussage, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 1996, 335–383 sowie bei U. Kern, »Ich ›ist die Bezeugung eines Seienden‹. Meister Eckharts theoontologische Wertung des Ich«, in: J. A. Aertsen / A. Speer (Hg.), Individuum und Individualität im Mittelalter, 612–621. 67 Diesen Aspekt hat d. Verf. an anderer Stelle ausführlicher erörtert. Vgl. dazu M. Roesner, »Selbstentäußerung und Selbstverleugnung bei Meister Eckhart unter besonderer Berücksichtigung seines lateinischen Schriftwerks«, in: M. Enders (Hg.), Meister Eckhart und Bernhard Welte. Meister Eckhart als Inspirationsquelle für Bernhard Welte und für die Gegenwart (Heinrich-Seuse-Forum 4), Berlin / Münster, LIT Verlag, 2015, 119–141. 66
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gemeint ist, und zwar ausgehend von einer performativen Selbstbesinnung, in der der Mensch auch die Immanenz seiner individuellen seelischen Sphäre noch auf ihren transzendental fungierenden Grund hin übersteigt. Eckhart entfaltet diesen Gedanken vor allem in gewissen Passagen seiner deutschen Predigten, die in besonderer Weise der menschlichen Seele gewidmet sind. Anders, als man dies von einem mittelalterlichen Prediger erwarten könnte, betrachtet Eckhart die Individualseele keineswegs als den wertvollsten Teil der Person, der aufgrund seiner immateriellen, unsterblichen Natur eine höhere metaphysisch-theologische Stellung gegenüber dem Körper genießen würde. Was in Eckharts Augen zählt, ist vielmehr die Tatsache, dass die Seele – ganz gleich, ob sie mit dem Leib verbunden oder von ihm getrennt ist – immer nur »diese Seele hier« sein kann und somit der Beschränkung des »Dies und das« (hoc et hoc) unterliegt. Diese einschränkende Bestimmtheit ist es aber, die das Signum des Kreatürlichen darstellt und den Menschen somit von der direkten Erkenntnis Gottes ausschließt. Daher muss die Seele nicht nur ihre Hinwendung zur materiellen Welt überwinden, sondern auch ihre eigene »Jemeinigkeit« qua Seele. In Predigt 17 erläutert Eckhart diesen Umstand anhand des Verses aus Joh 12,25 Qui odit animam suam in hoc mundo, in vitam aeternam custodit eam (»Wer seine Seele in dieser Welt hasst, wird sie bewahren zum ewigen Leben«): Daz wort, daz die sêle nennet, daz meinet die sêle, als si in dem kerker des lîbes ist, und dâ von meinet er, swaz diu sêle in ir selber ist, daz si noch bedenken mac, dâ ist si noch in irm kerker. […] Ez sint drî sache, war umbe diu sêle hazzen sol sich selbst. Diu eine sache: Als verre si mîn ist, sô sol ich sie hazzen; wan als verre si mîn ist, als verre enist si gotes niht. […] Swaz der sêle in dirre werlt ist oder in dise werlt luoget und swâ ir iht begriffen ist und ûzlouget, daz sol si hazzen. Das Wort, das die Seele benennt, das meint die Seele, wie sie im Kerker des Leibes ist, und deshalb meint er, daß die Seele mit allem jenem Sein ihrer selbst, das sie noch zum Gegenstand ihres Denkens zu machen vermag, noch in ihrem Kerker ist. […] Es gibt drei Gründe, weshalb die Seele sich selbst hassen soll. Der eine Grund: soweit sie mein ist, soll ich sie hassen; denn, soweit sie mein ist, soweit ist sie nicht Gottes. […] Was von der Seele in dieser Welt ist oder in diese Welt lugt und wo etwas von ihr berührt wird und nach außen lugt, das soll sie hassen. 68 68
Eckhart, Pr. 17, DW I 285,1–4; 286,1–3; 287,1–2; Übers. 496 f.
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Interessanterweise muss die Seele also nicht nur von all jenen Funktionen und Vermögen absehen, die sie mit dem ihr zugehörigen Leib verbinden, sondern auch von aller Selbstobjektivierung, durch die sie sich selbst zum Thema ihrer denkerischen Reflexion machen kann (swaz diu sêle in ir selber ist, daz si noch bedenken mac). Mit anderen Worten: Die Seele ist so lange »von dieser Welt«, wie sie sich noch als einen »Gegenstand« im weitesten Sinne versteht, d. h. nicht notwendigerweise als etwas Physisch-Materielles, sondern als ein intentionales Gegenüber. Daraus folgt, dass die recht verstandene »Entweltlichung« der Seele darauf abzielen muss, nicht etwa nur ihr individuelles Sein in den Universalbegriff einer sich immer noch innerweltlich manifestierenden »Seele im Allgemeinen« hinein aufzuheben, sondern alle Seelenhaftigkeit als solche auf den fungierenden Ursprung hin zu übersteigen, der alle psychophysischen Korrelationen überhaupt erst möglich macht. Dieser Weg erfolgt daher in zwei Schritten, von denen der erste zunächst in der Dritte-PersonPerspektive von der Vielheit zur Einheit führt und der zweite die objektivierte Einheit auf ihren subjektiven Grund hin befragt. Paradoxerweise erfordert die wahre Selbsterkenntnis, so wie Eckhart sie versteht, gerade ein Absehen von den angeborenen wie biographisch bedingten Individualzügen der eigenen Person. Dieser scheinbare Widerspruch löst sich jedoch auf, wenn man bedenkt, dass diese individuellen Merkmale kontingenter Natur und somit der Zeitlichkeit, dem Werden und Vergehen unterworfen sind. Ein bewusstes Absehen von all diesen individuierenden Eigenheiten führt zunächst dazu, dass sich der einzelne Mensch in erster Linie von der einen menschlichen Natur her versteht, die als solche weder entstehen noch vergehen kann. In Predigt 46 führt Eckhart aus: [W]ellet ir sælic sîn, sô müezet ir éin sun sîn, niht vile süne, mêr: éin sun. Ir sult wol underscheiden sîn nâch lîplîcher geburt, aber in der êwigen geburt sult ir ein sîn, wan in gote enist niht wan éin natiurlîcher ursprunc; und dar umbe sô enist dâ niht wan éin natiurlîcher ûzvluz des sunes, niht zwêne, mêr: einer. […] Wie sol der mensche hie zuo komen, daz er ein einiger sun sî des vaters? Daz merket! Daz êwige wort ennam niht an sich dísen menschen noch dén menschen, sunder ez nam an sich eine vrîe, ungeteilte menschlîche natûre, diu dâ blôz was sunder bilde; wan diu einvaltige forme der menscheit diu ist sunder bilde. Und dar umbe, hwani in der annemunge diu menschlîche natûre von dem êwigen worte einvalticlîche sunder bilde anegenomen wart, sô wart daz bilde des vaters, daz der êwige sun ist, bilde der menschlîchen natûre. […] Und alsô, sult ir éin sun sîn, sô müezet ir
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abescheiden und abegân alles des, daz underscheit an iu machende ist. Wan der mensche ist ein zuoval der natûre, und dar umbe gât abe alles des, daz zuoval an iu ist, und nemet iuch nâch der vrîen, ungeteilten menschlîchen natûre. Wollt ihr selig sein, so müßt ihr ein Sohn sein, nicht viele Söhne, sondern ein Sohn. Ihr sollt wohl unterschieden sein nach der leiblichen Geburt; in der ewigen Geburt aber sollt ihr eins sein, denn in Gott ist nichts als ein naturhafter Ursprung; und darum ist da nur ein naturhafter Ausfluß des Sohnes, nicht zwei, sondern einer. […] Wie soll der Mensch hierzu kommen, daß er ein einziger Sohn des Vaters sei? Merkt euch! Das ewige Wort nahm nicht diesen noch jenen Menschen an, sondern es nahm eine freie, ungeteilte menschliche Natur an, die da rein war, ohne Individualzüge. Denn die einfaltige Form der Menschheit ist ohne Individualzüge. Und darum: weil bei der Annahme die menschliche Natur von dem ewigen Wort einfaltig ohne Individualzüge angenommen wurde, darum wurde das Bild des Vaters, das der ewige Sohn ist, hzugleichi zum Bild der menschlichen Natur. […] So denn: Sollt ihr ein Sohn sein, so müßt ihr abscheiden und abgehen von allem dem, was Unterschiedenheit an euch verursacht. Denn der heinzelnei Mensch ist ein Akzidens zur hmenschlicheni Natur; und darum geht ab von allem dem, was Akzidens an euch ist, und nehmt euch nach der freien, ungeteilten menschlichen Natur. 69
Der Prozess des »Abscheidens«, den Eckhart hier im Blick hat, ist keineswegs nur logischer Natur, so als ginge es um die induktive Gewinnung des Universalbegriffs »Mensch« im Ausgang von den einzelnen menschlichen Personen. Was er mit »Menschheit« meint, ist kein bloßes Abstraktum, sondern die höchste Wirklichkeit des Menschseins, insofern diese sich in Vollzugseinheit mit dem überzeitlichen Logos (dem »Sohn Gottes«) befindet, der in einem einzigen, überzeitlichen Vorgang aus dem Vater hervorgeht. Insofern ist die menschliche Natur kein allgemeiner Begriff, sondern in unterschiedsloser Weise Teil der innertrinitarischen Selbsterkenntnis. Dies geht daraus hervor, dass Eckhart nicht nur Gott Vater und Gott Sohn, sondern auch die menschliche Natur wörtlich als »bildlos« (sunder bilde) bezeichnet. Das bedeutet, dass strenggenommen nicht nur die »Individualzüge« der eigenen Person abgestreift werden müssen, wie es die neuhochdeutsche Übersetzung nahelegt, sondern auch alle universalen, objektiv-deskriptiven Bestimmungen des Menschseins als solchen. Was die menschliche Natur bedeutet, lässt sich nicht durch Eckhart, Pr. 46, DW II 378,8–379,3; 379,5–380,5; 381,2–6; Übers. 707 (Hervorhebungen im Original).
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bestimmte Adjektive – nicht einmal dem Menschen wesensmäßig eigene – bestimmen, sondern geht gänzlich im überzeitlichen Selbsterkenntnisprozess des göttlichen Intellekts auf. Dieses »Sich-selbstVerlieren« des Menschen hinsichtlich seiner kategorialen Beschreibbarkeit und sein Aufgehen im trinitarisch-inkarnatorischen Prozess ist jedoch nicht gleichbedeutend mit einem Verzicht auf jegliche Selbsterkenntnis der Seele, sondern vielmehr deren Grundbedingung. In Predigt 68 erläutert Eckhart diesen Umstand folgendermaßen: Ich pflige underwîlen ze sprechenne: sol diu sêle got bekennen, sô muoz si ir selber vergezzen und muoz sich selber verliesen; wan bekente si sich selber, sô enbekente si got niht; mêr: si vindet sich wider in gote. In dem, als si got bekennet, sô bekennet si sich selben und alliu dinc in im, dâ si sich von gescheiden hât. Nâch dem, daz si sich dâ von gescheiden hât, sô bekennet si sich selben genzlîche. Ich pflege zuweilen zu sagen: Soll die Seele Gott erkennen, so muß sie sich selbst verlieren; denn, erkennte sie sich selbst, so erkennte sie Gott nicht; in Gott aber findet sie sich wieder. Indem sie Gott erkennt, erkennt sie sich selber und alle Dinge, von denen sie sich geschieden hat, in ihm. In dem Maße, in dem sie sich davon h= von sich selbst und allen Dingeni geschieden hat, erkennt sie sich selbst völlig. 70
Das Sich-Abscheiden der Seele von allem bestimmten »Dies und das« führt also nicht zu einem quantitativen Verlust an Erkenntnis ihrer selbst und aller Dinge, sondern lediglich zu einem qualitativ anderen Modus des Erkennens, insofern sie nun alles, was ist, nicht in sich selbst, sondern in seiner prozessualen Beziehung zum absoluten Bewusstsein Gottes betrachtet. Allerdings ist damit noch nicht die Frage geklärt, ob diese prozessuale Beziehung zwischen dem überempirischen Bewusstsein und seinen Erkenntnisinhalten vom Menschen nur indirekt erkannt oder auch unmittelbar in der Erste-Person-Perspektive eingeholt werden kann. Diesen Schritt vollzieht Eckhart in Predigt 52, der sogenannten »Armutspredigt«, die den Einheitsgrund des reinen Bewusstseins nicht mehr mit dem dreifaltigen Gott identifiziert, sondern auch noch vor die überzeitlichen Hervorgänge in Gott zurückgeht. Hatte Eckhart in seinem Exoduskommentar das Ich des Menschen wesentlich vom Ich Gottes her gedacht, so verfolgt Predigt 52 70
Eckhart, Pr. 68, DW III 149,5–9; Übers. 533.
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die umgekehrte Strategie. Der Unterschied liegt dabei vor allem in der Rolle, die jeweils dem ego im Verhältnis zur trinitarischen Struktur zugewiesen wird. Eckharts Kommentar zu Ex 3,14 deutet das sum qui sum als Ausdruck der lebendigen, produktiven Dynamik der immanenten Trinität, während das ego dessen Überfließen nach außen in Form der geschaffenen Welt markiert. In der »Armutspredigt« schlägt Eckhart die entgegengesetzte Richtung ein, um vor die Korrelation zwischen dem dreifaltigen Schöpfergott und der Schöpfung zurückzugehen und auf diese Weise das Ich als den absoluten Indifferenzpunkt zu erweisen, von dem aus so etwas wie eine intentionale Transzendenz – heiße sie nun Welt oder Gott – überhaupt erst gedacht werden kann. Der Gedankengang beginnt mit einer genauen Bestimmung des Begriffs »Armut«, der zur Zeit Eckharts durch den sogenannten »Armutsstreit« zwischen Franziskanern und Dominikanern bereits in einer gewissen Weise konnotiert ist. Genauer gesagt, geht es dabei um die Frage, ob die »evangelische Armut« im Sinne materieller Besitzlosigkeit bereits in sich die Höchstform christlicher Vollkommenheit darstellt oder ob sie lediglich ein mögliches Mittel unter anderen ist, um diese Vollkommenheit zu erlangen. Eckhart geht mit seinem Mitbruder Thomas von Aquin darin konform, dass er den Wert der materiellen Armut nicht sonderlich hoch ansetzt und die eigentliche Vollkommenheit des Christen auf einem ganz anderen, geistigen Gebiet sucht. 71 Anders, als man erwarten könnte, ist für Eckhart die »Armut im Geiste« jedoch auch nicht gleichbedeutend mit der demütigen Erkenntnis der Kluft zwischen der eigenen geschöpflichen Niedrigkeit und der Hoheit Gottes. Vielmehr besteht die wahre Armut darin, von all dem abzusehen, was an der eigenen Person kreatürlich ist, um den Kern des eigenen Ich freizulegen, das in keiner Weise mehr auf »seiende Wirklichkeit« im weitesten Sinne verweist: Dô ich stuont in mîner êrsten sache, dô enhâte ich keinen got, und dô was ich sache mîn selbes; dô enwolte ich niht, noch enbegerte ich niht, wan ich was ein ledic sîn und ein bekennære mîn selbes nâch gebrûchlicher wârheit. Dô wolte ich mich selben und enwolte kein ander dinc; daz ich wolte, daz was ich, und daz ich was, daz wolte ich, und hie stuont ich ledic gotes und aller dinge.
Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae II-II, q. 184, a. 1 c; a. 3 c; Eckhart, Pr. 52, DW II 486,8–487,4.
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Das Ich ist nicht von dieser Welt
Als ich in meiner ersten Ursache stand, da hatte ich keinen Gott, und da war ich Ursache meiner selbst; da wollte ich nichts und begehrte ich nichts, denn ich war ein lediges Sein und ein Erkenner meiner selbst im Genuß der Wahrheit. Da wollte ich mich selbst und wollte nichts sonst; was ich wollte, das war ich, und was ich war, das wollte ich, und hier stand ich Gottes und aller Dinge ledig. 72
Die »erste Ursache«, von der hier die Rede ist, fällt demnach gerade nicht mit dem Schöpfergott als dem ersten Ursprung des geschaffenen Seins zusammen. Vielmehr ist sie nichts anderes als das Ich selbst, das sich beständig als spontane Selbstproduktion vorfindet, ohne diese auf ein außerhalb seiner selbst liegendes Fundament zurückführen zu können. So gesehen, »hat« es nichts als seine eigene quellende Dynamik, die sich jedoch nicht als etwas Gegenständliches fixieren lässt. Dieses nichtseiende, abgründige In-sich-Stehen des Ich wird sich in dem Moment seiner selbst bewusst, wo es jeden thetischen Bezug auf eine seinem eigenen Bewusstsein transzendente Wirklichkeit ausgeschaltet hat, sei diese nun weltlicher oder göttlicher Natur. Daraus folgt, dass dieses Ich zunächst auch nicht mit dem Bewusstsein einer konkreten, empirischen Person identisch ist. Dies geschieht erst in einem zweiten Schritt, in dem sich das ungeschaffene Ich in einem individuellen Menschen »verweltlicht«: Aber dô ich ûzgienc von mînem vrîen willen und ich enpfienc mîn geschaffen wesen, dô hâte ich einen got; wan ê die crêatûren wâren, dô enwas got niht ›got‹ ; mêr: er was, waz er was. […] wan in dem selben wesene gotes, dâ got ist obe wesene und ob underscheide, dâ was ich selbe, dâ wolte ich mich selben und bekante mich selben ze machenne disen menschen. Her umbe sô bin ich mîn selbes sache nâch mînem wesene, daz êwic ist, und niht nâch mînem gewerdenne, daz zîtlich ist. Als ich aber aus freiem Willensentschluß ausging und mein geschaffenes Sein empfing, da hatte ich einen Gott; denn, ehe die Kreaturen waren, war Gott hnochi nicht ›Gott‹ ; er war vielmehr, was er war. […] In jenem Sein Gottes nämlich, wo Gott über allem Sein und über aller Unterschiedenheit ist, dort war ich selbst, da wollte ich mich selbst und erkannte mich selber hwillensi, diesen Menschen h= michi zu schaffen. Darum bin ich Ursache meiner selbst meinem Sein nach, das ewig ist, nicht aber meinem Werden nach, das zeitlich ist. 73
Eckhart, Pr. 52, DW II 492,3–7; Übers. 728. Eckhart, Pr. 52, DW II 492,7–9; 502,7–503,2; Übers. 728. 730 (Hervorhebungen im Original). 72 73
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Die Überwindung des wirkursächlichen Zusammenhangs von Denken und Sein
Der Ausgang des überzeitlichen Ich in den Bereich der Geschaffenheit ist demnach nicht das Ergebnis einer fremdbestimmten Entscheidung, sondern resultiert aus dem freien Entschluss des reinen Ich, sich in einer apperzeptiven Funktionseinheit mit der empirischen Person zu verstehen, deren konkrete Bewusstseinsinhalte den Verweis auf eine leibseelische Individualität und damit auf eine natürliche, von Werden und Vergehen gekennzeichnete Wirklichkeit enthalten. Dies ist jedoch keine phänomenologische Urgegebenheit, sondern bereits der Ausdruck einer bestimmten Selbstauslegung, die das je eigene, personale Sein als Teil der Welt versteht. Die Tatsache, dass diese »Selbstverweltlichung« einem Willensakt entspringt, bedeutet zugleich, dass das Ich sehr wohl die Freiheit besitzt, von seiner eigenen innerweltlich-personalen Erscheinung mitsamt ihren vielfältigen Eigenschaften auch wieder abzusehen und sich gemäß dem zu nehmen, was in keiner Weise von einem kausal geprägten Naturzusammenhang abhängig ist. Diese Freiheit zur Einklammerung aller beschreibbaren Züge der je eigenen Individualität bedeutet jedoch nicht, dass zwischen dem Ich in seiner überzeitlichen Reinheit und der individualpsychischen Sphäre der jeweiligen Person keinerlei Verbindung bestünde. Eckhart deutet vielmehr die unterschiedlichen Vermögen und Kräfte der einzelnen Seele als das Ergebnis ihres Hervorgehens aus dem Seelengrund, der seinerseits jedoch keinerlei empirisch-individuelle Züge an sich trägt, sondern namenlos bleibt: Einez ist in der sêle, von dem vliuzet bekennen und minnen; daz enbekennet selber niht noch enminnet niht alsô als die krefte der sêle. […] Diz enhât weder vor noch nâch, und ez enist niht wartende keines zuokomenden dinges, wan ez enmac weder gewinnen noch verliesen. […] Dô ich ûz gote vlôz, dô sprâchen alliu dinc: got der ist; und diz enmac mich niht sælic machen, wan alhie bekenne ich mich crêatûre. Mêr: in dem durchbrechen, dâ ich ledic stân mîn selbes willen und des willen gotes und aller sîner werke und gotes selben, sô bin ich ob allen crêatûren und enbin weder got noch crêatûre, mêr: ich bin daz ich was und daz ich blîben sol nû und iemermê. […] Dâ bin ich waz ich was, und dâ nime ich weder abe noch zuo, wan ich bin dâ ein unbewegelîchiu sache, diu alliu dinc beweget. Es gibt vielmehr ein Etwas in der Seele, aus dem Erkennen und Lieben ausfließen; es selbst erkennt und liebt nicht, wie’s die Kräfte der Seele tun. […] Dies hat weder Vor noch Nach, und es wartet auf nichts Hinzukommendes, denn es kann weder gewinnen noch verlieren. […] Als ich aus Gott floß, da sprachen alle Dinge: Gott ist; dies aber kann mich nicht selig machen, denn hierbei erkenne ich mich als Kreatur. In dem Durchbrechen aber, wo ich
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ledig stehe meines eigenen Willens und des Willens Gottes und aller seiner Werke und Gottes selbst, da bin ich über allen Kreaturen und bin weder »Gott« noch Kreatur, bin vielmehr, was ich war und was ich bleiben werde jetzt und immerfort. […] Da bin ich, was ich war, und da nehme ich weder ab noch zu, denn ich bin da eine unbewegliche Ursache, die alle Dinge bewegt. 74
Ist das »Ausfließen« gleichbedeutend mit der Selbstverweltlichung des reinen Ich in Form einer individuellen Person, so steht das »Durchbrechen« für jene Reduktion des je eigenen innerweltlichen Seins, durch die jeder Mensch sich des reinen Ich bewusst wird, das auf unthematische Weise immer schon in ihm am Werk ist. Der Umstand, dass dieses Ich laut Eckhart weder Gott noch Natur ist, deutet darauf hin, dass der Zielpunkt der als »Durchbruch« bezeichneten Bewegung weder kosmologisch-ontologischer noch theologischer, sondern rein egologischer Natur ist und darauf abzielt, jede Form einer entfremdenden Selbstdeutung des Ich – die verweltlicht-naturalisierende ebenso wie die von einer göttlichen Transzendenz her argumentierende – zu korrigieren. Dieser Schritt macht die Unterscheidung zwischen der Sphäre des Individualpsychischen und der Sphäre des Intellekts deutlich: Das Ich ist nicht einfach das Selbstbewusstsein der einzelnen Seele als Seele, sondern bringt die prinzipielle Differenz zwischen dem Bewusstsein als fungierendem Einheitsgrund und der sich in unterschiedlichen operativen Vermögen phänomenalisierenden Seele zum Ausdruck. Die philosophische Selbstbesinnung des einzelnen Menschen zielt demnach nicht darauf ab, dass er sich vom Rest der Wirklichkeit – Gott, Welt und Mitmenschen – absetzen soll wie ein Teil vom Ganzen; vielmehr soll sie ihn zu der Einsicht führen, dass sein eigentliches Selbst auch noch oberhalb jener Ganzheit steht, von der die eigene Person ein Teil ist. Das bedeutet keineswegs, dass das Ich nicht in wesentlicher Weise auf die Welt bzw. auf Gott bezogen wäre, sondern nur, dass das, was »Ich« in seinem unthematischen Fungieren bedeutet, die Bedingung der Möglichkeit jedes expliziten Bezuges auf die Welt bzw. auf Gott hin darstellt und daher von keinem der beiden abgeleitet oder mit ihnen gleichgesetzt werden kann. 75 Eckhart, Pr. 52, DW II 496,3–6; 504,5–505,1.5–6; Übers. 729–731 (Hervorhebung im Original). 75 Insofern erscheint Ernst Tugendhats Deutung der eckhartschen Mystik unzureichend, da er sie als Abstreifen allen Ichbewusstseins zugunsten eines Versinkens im 74
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Die Überwindung des wirkursächlichen Zusammenhangs von Denken und Sein
1.5
Die Funktionseinheit von überweltlichem Ich und innerweltlicher Person
Trotz seiner nicht-weltlichen Natur ist das Ich des Menschen bei Eckhart gleichwohl nicht von dessen empirischer Dimension getrennt, sondern fungiert zugleich auch als Aktzentrum des ihm individuell zugehörigen, belebten Körpers. Dabei handelt es sich allerdings um eine Beziehung besonderer Art: Weder ist das Ich ein Akzidens des Menschen als eines Naturwesens, da naturhaftes Sein für das Ich als solches nicht aufnahmefähig ist, 76 noch ist sein geschaffenes, personhaftes Sein ein Akzidens seines Ich, da dieses als reine Substanz grundsätzlich keine akzidentellen Eigenschaften besitzen kann. Vielmehr ist die einzelne menschliche Person die sich innerweltlich ausbildende Erscheinung des Ich als sich bekundender Spontaneität und Lebendigkeit. 77 Das intellektuelle Ich eines Menschen und seine empirische Personalität existieren demnach weder nebeneinander wie unterschiedslosen Abgrund der Gottheit versteht (vgl. dazu E. Tugendhat, Egozentrik und Mystik. Eine anthropologische Studie, München, C. H. Beck, 2003, 7. 125. 140– 143). Die Dimension der absoluten Unterschiedslosigkeit gibt es bei Eckhart zwar auch, doch bedeutet das nicht, dass er das Ich mit der empirischen Person identifizieren würde, die sich zu Unrecht aufspreizt und zum Mittelpunkt der Welt macht. Vielmehr ist das Ich jenes von allen persönlichen Egoismen und allem Eigenwillen gereinigte Prinzip vollkommener Intersubjektivität, das Gott, den Mitmenschen und auch sich selbst in der Haltung eines grundlos-freien Sich-im-anderen-Erkennens und Einander-Bejahens zu begegnen vermag. Dieses Grundverhalten bezeichnet Tugendhat in einem späteren Text als eine dritte Form von Mystik, die er allerdings ausschließlich in der Person Jesu verwirklicht sieht (vgl. E. Tugendhat, »Über Mystik. Vortrag anläßlich der Verleihung des Meister-Eckhart-Preises«, in: ders., Anthropologie statt Metaphysik, München, C. H. Beck, 2007, 176–190, hier 184 f. 188 f.). 76 Quinto, quia substantiae ut sic, quam li ego significat, non est capax hic mundus nec dignus, sed solus intellectus; nec hic in quantum natura sive ens naturae, sed in quantum altius quid naturae (»Fünftens ist diese [irdische] Welt für die Substanz als solche, die das Fürwort ich bezeichnet, weder aufnahmefähig noch ihrer würdig, sondern der Intellekt allein; und auch dieser nicht, sofern er Natur oder ein Naturwesen, sondern sofern er etwas über die Natur Erhabenes ist« [Eckhart, Super Eccl. n. 10, LW II 240,1–3; Übers. ebd.]). 77 »Eckhart […] geht […] auf den trinitarischen Grundgedanken der Einheit von göttlicher und menschlicher Natur zurück und radikalisiert ihn. […] Individuelles Dasein ist als Einheit von Leib und Seele ein sich in seiner Endlichkeit begreifendes Bild dessen, was es als göttliche Trinität denkt. […] Bild ist nicht Abbild (Kopie), sondern die erscheinende Wirklichkeit dessen, wovon es als Bild gedacht wird« (J. Kreuzer, »Der Begriff der Person in der Philosophie des Mittelalters«, in: D. Sturma [Hg.], Person. Philosophiegeschichte – Theoretische Philosophie – Praktische Philosophie, Paderborn, Mentis Verlag, 2001, 59–77, hier 73).
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zwei eigenständige Substanzen, noch stehen sie in der einen oder anderen Richtung in einem Substanz-Akzidens-Verhältnis, sondern sie verhalten sich zueinander wie das immanente Leben des göttlichen Ich zu seiner äußerlich sichtbaren, welthaften Erscheinung, die gerade kein »bloßer Schein« ist, sondern in kontinuierlicher Weise aus dem Aktzentrum des göttlichen Intellekts hervorgeht und von diesem kündet. Dieses Analogieverhältnis zwischen der Vernunftseele und der körperlichen Erscheinung des Menschen einerseits und Gott in seiner Beziehung zur Welt andererseits ergibt sich aus der von Eckhart verwendeten Bezeichnung Gottes als »Weltseele« (anima mundi): So ist Gott für ihn nicht nur reiner Intellekt, sondern wohnt der von ihm geschaffenen, materiellen Welt zugleich auch als belebendes und beseelendes Prinzip inne. 78 Die Funktion der Seele als solcher ist in Eckharts Augen jedoch nicht darauf beschränkt, das Lebewesen, dem sie innewohnt, lediglich im Sein zu erhalten. Vielmehr erleuchtet sie den ihr zugehörigen Leib, der ihre »Welt« bildet, von innen her. 79 Eckhart [D]eus, utpote anima mundi, se toto anima et intellectus, propriissime habet creare, de nihilo facere ens et esse (»Gott, die Seele der Welt, ist ganz und gar Seele und Vernunft, darum ist seine besondere Eigentümlichkeit, Seiendes und Sein aus dem Nichts zu machen« [Eckhart, In Sap. n. 299, LW II 632,12–14; Übers. ebd.]). Vgl. auch ders., In Gen. I n. 112, LW I,1 266,7–267,3. Heinz Robert Schlette bestreitet in seiner Monographie zur Geschichte des Begriffs der »Weltseele«, dass Eckhart in der zitierten Textpassage wirklich eine ontologisch zu verstehende Gleichsetzung Gottes mit der anima mundi gemeint habe. Vielmehr habe er lediglich sagen wollen, dass man ihn metaphorisch so verstehen könne (H. R. Schlette, Weltseele: Geschichte und Hermeneutik, Frankfurt a. M., Knecht, 1993, 151–153). Allerdings scheint Schlettes Argumentation insofern nicht stichhaltig, als er die Auffassung vertritt, Eckhart denke – wie auch schon Albertus Magnus und Thomas von Aquin – ausschließlich aristotelisch und nicht platonisch, was die Vorstellung einer göttlich zu verstehenden, kosmischen Gesamtseele ausschließe. Dies trifft jedoch nicht zu, wie Eckharts häufige Verweise auf Platon bzw. die platonisch-neuplatonische Philosophie belegen. Aus diesem Grunde ist für ihn auch das Leben im biologischen Sinne nichts, was nur in den Zuständigkeitsbereich der Naturphilosophie oder Naturwissenschaft fiele, sondern besitzt immer schon den Charakter einer göttlichen Emanation bzw. Manifestation (vgl. Eckhart, In Gen. I n. 112, LW I,1 266,3–5). 79 Vivere autem et esse cum sit lux, constat quod anima illuminat per suam essentiam, qua forma et lux quaedam est, omnem partem corporis et omne veniens sub hanc formam et in hoc corpus, in hunc mundum corporis animati (»Da aber Leben und Sein Licht ist, so erleuchtet die Seele sicherlich durch ihr Wesen, durch das sie Form und Licht ist, jeden Teil des Leibes und alles, was unter diese Form und in diesen Leib kommt, in diese Welt des beseelten Leibes« [Eckhart, In Ioh. n. 93, LW III 80,7–10; Übers. ebd.]). 78
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zieht hier eine direkte Parallele zwischen der Selbstmanifestation Gottes in der Schöpfung und der Beziehung zwischen der ungeschaffenen und der geschaffenen Dimension des Menschen: So, wie der überzeitliche göttliche Logos nicht etwas »anderes« ist als die Welt, sondern sich in ihr als »Erleuchtung« (illuminatio) manifestiert, 80 so kann man umgekehrt schließen, dass die leibseelisch individuierte Personalität des Menschen nicht etwas substantiell »anderes« ist als sein vernünftiges Ich, sondern dessen beständig neu erzeugte innerweltliche Erscheinung. Die radikale Andersheit betrifft lediglich die Perspektive, die der Mensch auf sich selbst haben kann, je nachdem, ob er sich ausschließlich als homogenen Bestandteil der äußeren Welt versteht oder sein reines Ich als Ursprung seiner Welterfahrung begreift. 81 Für den menschlichen Weltbezug bedeutet dies zweierlei: Zum einen darf sich der Mensch nicht nur als diese oder jene individuelle, von Akzidentalität und »Eigenschaft« gekennzeichnete Person verstehen, sondern primär als Ich. Er muss sich somit von jenem Prinzip intellektueller Spontaneität her deuten, das aufgrund seiner radikalen Akzidenslosigkeit die Grenzen seiner personalen Vereinzelung übersteigt und es ihm erlaubt, mit allen Mitmenschen und mit Gott eins zu sein. Zum anderen kann diese Freilegung des »reinen Ich« in seiner Abgeschiedenheit von allem Kreatürlichen jedoch nur durch eine konkrete, in der Perspektive der Ersten Person durchgeführten Selbstbesinnung jedes Menschen erfolgen. In Predigt 28 führt Eckhart aus: [D]az ich ein mensche bin, daz ist ouch einem andern menschen gemeine mit mir, daz ich gesihe und hœre und izze und trinke, daz tuot ouch ein ander vihe; aber daz ích bin, daz enist keines menschen mê dan mîn aleine, weder menschen noch engels noch gotes, dan als verre als ich ein mit im bin; ez ist ein lûterkeit und ein einicheit. Daß ich ein Mensch bin, das hat auch ein anderer Mensch mit mir gemein; daß ich sehe und höre und esse und trinke, das tut auch das Vieh; aber was ich bin, das gehört keinem anderen Menschen sonst zu als mir allein; kei-
Vgl. Eckhart, In Ioh. n. 75, LW III 63,1–2. Secundo nota quod interior homo ab homine exteriori, quamvis simul videantur loco, plus tamen distant quam caelum ultimum a centro terrae (»Bemerke, daß der innere Mensch zwar mit dem äußeren zugleich an demselben Ort erscheint, trotzdem sind sie weiter voneinander geschieden als der oberste Himmel vom Mittelpunkt der Erde« [Eckhart, Sermo VII n. 82, LW IV 79,4–6; Übers. ebd.]).
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nem Menschen noch Engel noch Gott, außer, soweit ich eins mit ihm bin; es ist eine Lauterkeit und eine Einheit. 82
Auf den ersten Blick wirkt diese Aussage paradox, doch wird das Gemeinte verständlich, wenn man den dialektischen Aspekt des Ich-Sagens beachtet: In seiner gewöhnlichen, deiktischen Funktion verweist das »Ich« zum einen auf die absolut unveräußerliche Individualität des jeweiligen Sprechers, d. h. auf seine konkrete, innerweltliche Person mit all ihren Eigenschaften. Zum anderen erweist das »Ich« seinen Sprecher aber auch als Inhaber jener ungeschaffenen Intellektdimension, die gerade nicht vom kreatürlichen Dies-und-das-Sein (ens hoc et hoc) affiziert wird, sondern reine, eigenschaftslose Substanz und damit allen Vernunftwesen – und d. h. nicht nur allen Menschen und Engeln, sondern ebenso auch Gott – gemeinsam ist. Als in der Welt existierende ist die raumzeitliche, menschlich-personale Individualität in der Tat ein absolut einzigartiges und unveräußerliches Dies-da (ens hoc); als sich seiner selbst bewusstes und im Wort »ich« aussprechendes schlägt dieses individuelle Sein jedoch wieder um in die Universalität des Intellekts, der alle Vernunftwesen – Menschen, Engel und Gott – dadurch miteinander verbindet und eint, dass er in ihnen allen gleichermaßen als numerisch nicht zu vervielfältigender durchbricht. 83 Insbesondere in Eckharts deutschen Predigten findet man neben den Passagen, in denen die überempirische Reinheit des Ich betont wird, jedoch auch andere Stellen, in denen Eckhart ganz bewusst Ich-Aussagen macht, die untrennbar mit seiner individuellen Existenz als »dieser Mensch hier« (hic homo) und seinen ganz persönlichen Erfahrungen, Beobachtungen und Gedanken verbunden sind: Dô ich gester her in diz klôster kam, dô sach ich salbei und ander wurzen ûf einem grabe stân; und dô gedâhte ich: hie liget eines menschen lieber vriunt, und dar umbe hât ez diz ertrîche deste lieber.
Eckhart, Pr. 28, DW II 63,3–7; Übers. 650. Zu dieser dem eckhartschen Gebrauch des Wortes »Ich« eigenen Spannung zwischen absoluter Universalität und okkasioneller Indexalität vgl. J. G. Hart, »Die Individualität des wahren göttlichen Selbst. Eine Eckhartianische Meditation«, in: R. Kühn / S. Laoureux (Hg.), Meister Eckhart – Erkenntnis und Mystik des Lebens. Forschungsbeiträge der Lebensphänomenologie, Freiburg / München, Alber, 2008, 383–407, hier 390–392.
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Als ich gestern hier in dieses Kloster kam, da sah ich Salbei und andere Kräuter auf einem Grabe stehen; und da dachte ich: Hier liegt eines Menschen lieber Freund, und deshalb hat er diesen Erdenfleck um so lieber. 84 Dô ich hiute her gienc, dô gedâhte ich, wie ich iu alsô vernünfticlîche gepredigete, daz ir mich wol verstüendet. Als ich heute hierher ging, da sann ich darüber nach, wie ich euch so verständlich predigen könnte, daß ihr mich wohl verstündet. 85
Aussagen dieser Art haben einen mehr als nur anekdotischen Charakter, da sie eine implizite Antwort auf die vom Averroismus aufgeworfene Problematik der überindividuellen Natur des Intellekts enthalten. Nach Averroes kann man nicht in demselben, eigentlichen Sinne sagen: »Dieser Mensch hier denkt« (hic homo intelligit), wie man sagen kann: »Dieser Mensch hier sieht« (hic homo videt), da das eigentliche Aktzentrum des Denkens außerhalb der individuellen Person angesiedelt ist. Bei Meister Eckhart ist der Intellekt zwar gleichfalls nicht einfach Teil unserer empirischen, kontingenten Personalität, doch ist das »Ich«, in dem er sich als geistige Spontaneität und Freiheit manifestiert, nicht nur ein Verweis auf die universale Vernunftnatur des Menschen, sondern zugleich auch im eigentlichen Sinne eine wirkliche Aussage »dieses konkreten Menschen hier«. Die Ebenen der überempirischen Universalität und der empirischen Individualität werden somit nicht in nachträglicher Weise begrifflich vermittelt, sondern im Ich-Sagen unmittelbar als eine Funktionseinheit erfahren, die zumeist implizit und unthematisch bleibt, sich ihrer universal-singulären Doppelstruktur aber auch explizit innewerden kann. In Predigt 47 weist Eckhart ausdrücklich auf die als ununterscheidbar erlebte Einheit von leibseelischem Sinnensubjekt und denkendem Vernunftsubjekt hin: Swie doch der geist ist vernünftic und er daz werk zemâle würket, daz dâ geworht wirt in dem lîbe, sô ensol man doch niht sprechen: mîn sêle bekennet oder tuot diz oder daz, mêr: man sol sprechen: ich tuon oder ich bekenne diz oder daz, durch die grôzen einunge, die sie mit einander hânt; wan sie beide mit einander sint éin mensche. Wiewohl der Geist vernunftbegabt ist und er das Werk ganz verrichtet, das da im Leib gewirkt wird, soll man doch nicht sagen: Meine Seele erkennt 84 85
Eckhart, Pr. 16b, DW I 271,4–6; Übers. 494. Eckhart, Pr. 48, DW II 416,1–2; Übers. 712.
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oder tut dies oder das, sondern man soll sagen: Ich tue oder erkenne dies oder das, wegen der großen Einheit, die sie miteinander haben; denn sie beide sind zusammen ein Mensch. 86
Dieser Satz stellt eine klare Widerlegung der in der Dritte-PersonPerspektive formulierten averroistischen Position dar: Leib, Seele und Geist des Menschen existieren nicht als getrennte, nachträglich zu vermittelnde Seinsmodi, sondern werden in den verschiedenen Handlungs- und Erkenntnisvollzügen des Ich in unterschiedsloser Einheit als ein und derselbe Ursprung des menschlichen Weltverhaltens erfahren und können erst durch nachträgliche Reflexion als verschiedene Aspekte menschlicher Selbstauslegung voneinander unterschieden werden. Eckharts Vorgehensweise ist insofern bemerkenswert, als er in der weiter oben zitierten Textpassage aus Predigt 28 nicht über das Ich als solches und seine Einheit mit der leibseelischen Dimension des Menschen spricht, sondern seine Gedanken ausdrücklich in die Form einer performativen Selbstbesinnung kleidet (»Dass ich ein Mensch bin …, dass ich höre und sehe …, was ich bin …«), die jeder seiner Zuhörer für sich selbst nachvollziehen muss, um sie wirklich zu verstehen. Eckhart entwickelt demnach nicht eigentlich eine objektivierende Theorie des Ich im Allgemeinen, sondern will die Menschen auf gedanklicher Ebene zu einer bestimmten Form der Selbsterfahrung anleiten, die ihnen keine zusätzlichen Erkenntnisse über etwas vermittelt, sondern ihnen lediglich zur Einsicht in den unveräußerlichen Vollzugscharakter ihres intellektuellen Seins verhilft. Die Selbstbesinnung setzt somit zwar am je eigenen Bewusstsein der einzelnen Menschen an, will sie jedoch dahin führen, dass sie von ihrer persönlichen, individuellen Eigenheit gerade absehen und jener überempirischen, »abgeschiedenen« Aktualität des Ich innewerden, das schlechthin universal und allen Vernunftwesen gemeinsam ist. Die Naturüberhobenheit des Intellekts und damit auch des Ich bedeutet, dass die Selbstverständigung des Menschen bei Eckhart nicht kausal, also an der »Warum?«-Frage orientiert sein darf, sondern als immanente Auslegung von Erlebenszusammenhängen zu verstehen ist, die ihren Sinn in sich selbst tragen und als solche gedeutet werden können, ohne auf Wirk- oder Zielursachen zu rekurrieren. 87 Diese beiden äußeren Kausalitätsformen finden nur auf das 86 87
Eckhart, Pr. 47, DW II 405,5–406,4; Übers. 710 f. (Hervorhebungen im Original). Vgl. Eckhart, In Gen. I n. 4, LW I,1 187,13–188,2; ders., Pr. 6, DW I 105,4–106,3;
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geschaffene, innerweltliche Sein Anwendung, das in den Zuständigkeitsbereich der Naturphilosophie fällt, nicht aber auf die Sphäre des Geistes. 88 Diese unterliegt keinen kausalen Einflüssen aus dem Bereich der dinglichen Wirklichkeit, sondern betrachtet das, was wir als konkrete, empirische Personen erleben und erfahren, ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der intelligiblen »Form« (forma), die der immanente, nicht weiter wirkursächlich zu erklärende Ursprung der Bedeutungshaftigkeit der Dinge ist. 89 In dem Maße, wie sich der Mensch wesentlich von seinem Ich her versteht und die von ihm erfahrene Wirklichkeit unter dem Gesichtspunkt ihrer immanenten Bedeutungsstrukturen betrachtet, anstatt sich von ihr kausal beeinflusst zu wähnen, ist er im radikalen Sinne frei. Das bedeutet nicht, dass das Ich in dualistischer Weise von der Welt getrennt wäre, sondern nur, dass es, um sich selbst recht zu verstehen, den primären Ursprung von Kausalität in sich selbst und nicht in der von ihm erlebten Dingwelt suchen muss. In diesem Sinne ist das Ich als solches tatsächlich nicht von dieser Welt, da es kein Epiphänomen des Menschen in seiner naturhaften Personalität ist, aber sehr wohl in dieser Welt, insofern es sich in Funktionseinheit mit der jeweiligen menschlichen Person als spontaner Ursprung innerhalb des weltlichen Erfahrungszusammenhangs manifestiert. 90
2.
Der phänomenologische Charakter von Eckharts Erster Philosophie
Eckharts Intellekttheorie setzt am Bewusstsein des Menschen an, um ihn aus seinem verfehlten Selbstverständnis im Sinne der »Weltkindschaft« zu befreien und ihn zur Einsicht in die überempirische Natur seines Ich zu führen. Die dabei angewendete Methode der »Abgeschiedenheit« besteht darin, sowohl die eigene faktische Existenz als auch das Sein der Welt und das Sein Gottes einzuklammern und auf diese Weise das reine Ich in seiner überweltlichen Funktionalität freiders., Pr. 26, DW II 26,3–27,10 sowie J. Greisch, »›Warum denn das Warum?‹ Heidegger und Meister Eckhart: Von der Phänomenologie zum Ereignisdenken«, in: N. Fischer / F.-W. von Herrmann (Hg.), Heidegger und die christliche Tradition. Annäherung an ein schwieriges Thema, Hamburg, Meiner, 2007, 129–147. 88 Vgl. Eckhart, In Ioh. n. 443, LW III 380,7–11. 89 Vgl. Eckhart, In Ioh. n. 50, LW III 41,11–14. 90 Vgl. Eckhart, In Ioh. n. 450, LW III 385,2–386,2.
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zulegen. Dieser Umschwung im eigenen Selbstverständnis, der das Verhältnis des denkenden Bewusstseins zur Wirklichkeit insgesamt betrifft, hat zur Folge, dass sich bei Eckhart auch die Frage nach der inneren Ordnung der einzelnen Wissenschaften auf grundlegende andere Weise stellt als bei Aristoteles. 91 Im Rahmen der aristotelischen Philosophie zielt diese Problematik letztlich auf die Prinzipien der einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen und ihren möglichen inneren Zusammenhang ab. Um die methodische Autonomie der unterschiedlichen Wissenschaften zu wahren, erteilt Aristoteles einer realen, im Sinne eines deduktiven Ableitungszusammenhangs verstandenen Reduktion ihrer unterschiedlichen Prinzipien auf ein einheitliches Grundprinzip eine klare Absage. Wohl gibt es im absoluten Sinne »oberste« bzw. »erste Prinzipien«, die letztlich in jeder Form der wissenschaftlichen Erkenntnis implizit zum Tragen kommen und von der Metaphysik als der Ersten Philosophie ausdrücklich thematisiert werden. 92 Das bedeutet jedoch nicht, dass die anderen Wissenschaften aus der Metaphysik direkt deduziert werden könnten bzw. dass ihre jeweiligen Gegenstandsgebiete in ihr reell enthalten wären. Zwar ist der für die Metaphysik charakteristische Gegenstand, »das Seiende, insofern es Seiendes ist«, hinsichtlich des Materialobjektes (»das Seiende«) im extensionalen Sinne allumfassend, doch begreift der formale Aspekt (»insofern es Seiendes ist«) trotz seiner scheinbar größtmöglichen Allgemeinheit gerade nicht die spezifischen Formalobjekte aller anderen Wissenschaften (Mathematik, Physik etc.) im intensionalen Sinne in sich ein. Die Universalität der auf »alles Seiende schlechthin« gerichteten Perspektive ist somit ihrerseits partikulärer Natur und fällt in den Zuständigkeitsbereich der Metaphysik als einer besonderen, von den anderen Disziplinen klar unterschiedenen Wissenschaft. 93 Aristoteles zufolge besteht die Aufgabe der Metaphysik darin, die Ursachen und Prinzipien des Seienden als solchen zu untersuchen. Dabei konzentriert sich für ihn die privilegierte Bedeutung dessen, was »Sein« bedeutet, in der Substanz, d. h. in den belebten, sich aus sich selbst heraus entwickelnden und verändernden NaturDie Frage der eckhartschen Wissenschaftsarchitektonik hat d. Verf. an anderer Stelle ausführlich erörtert; vgl. M. Roesner, Logik des Ursprungs. Vernunft und Offenbarung bei Meister Eckhart, Freiburg / München, Alber, 2017. 92 Vgl. Aristoteles, Analytica posteriora I 2, 71 b 20–34; ebd. I 9, 76 a 16–22; ebd. I 10, 76 a 32–77 a 4; ebd. II 19, 100 b 5–17. 93 Vgl. Aristoteles, Metaphysik XI 3–4, 1061 b 3–33. 91
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Der phänomenologische Charakter von Eckharts Erster Philosophie
dingen wie Pflanzen, Tiere und Menschen. 94 Nicht die akzidentelle oder gedachte Wirklichkeit, sondern nur die substantielle, in sich und für sich seiende Wirklichkeit mitsamt den sie bestimmenden Prinzipien ist das eigentliche Thema der aristotelischen Metaphysik. Dieser Primat des extramentalen Seins gegenüber dem Gedachtsein, der schon weiter oben im Zusammenhang mit dem ens in anima angeklungen war, 95 bedeutet, dass die Metaphysik sich nicht damit begnügen kann, nur die inneren Strukturprinzipien der Dinge, d. h. Materie und Form, zu erforschen, sondern auch die äußeren Prinzipien ihrer Entstehung, Bewegung und Veränderung, nämlich Wirk- und Zielursächlichkeit, untersuchen muss. Letztlich ist die Metaphysik damit zwar nicht in ausschließlicher, aber doch wesentlicher Weise auf die physische Wirklichkeit verwiesen und hat deren erste Prinzipien und Ursachen herauszufinden. In seiner Metaphysik gibt Aristoteles unumwunden zu, dass die Physik Anspruch auf den Titel der »Ersten Philosophie« erheben könnte, wenn es außer den materiellen, veränderlichen Natursubstanzen und deren Prinzipien nichts gäbe. 96 Nur insofern man in der Lage ist, die Existenz von »getrennten«, d. h. immateriellen, rein geistigen und unveränderlichen Substanzen nachzuweisen, ist es möglich, die Metaphysik als eine von der Physik klar unterschiedene Wissenschaft zu etablieren. Dies gelingt Aristoteles zwar auch, jedoch nur unter der Prämisse, dass die begrenzten, wirk- und zielursächlich strukturierten Bewegungen und Vorgänge, die sich innerhalb der Welt beobachten lassen, auf einen absoluten teleologischen Limes verweisen, der nicht mehr Teil der empirisch erfahrbaren Wirklichkeit ist, sondern separat davon existiert. Dieser absolute Limes aller zielgerichteten Bewegung und Entwicklung ist das Göttliche, das jedoch der nach ihm strebenden Wirklichkeit äußerlich und durch eine ontologische Kluft von ihr getrennt ist. 97 Auch wenn der Metaphysiker nicht nur die einzelnen, naturimmanenten Ursachen innerweltlicher Vorgänge, sondern auch die gegenüber der materiellen Welt transzendente Finalursache aller innerkosmischen Bewegung und
Vgl. Aristoteles, Metaphysik VII 2, 1028 a 10–31. Vgl. Abschnitt II.1.1 der vorliegenden Monographie. 96 Vgl. Aristoteles, Metaphysik XI 7, 1064 b 10–14. Vgl. dazu auch G. Reale, Il concetto di ›filosofia prima‹ e la metafisica di Aristotele, Milano, Vita e pensiero, 1993, 27–37. 182–188. 258–273. 97 Vgl. Aristoteles, Metaphysik XI 7, 1064 a 33–1064 b 1. 94 95
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Das Ich ist nicht von dieser Welt
Veränderung zu erkennen sucht, ist der Ausgangspunkt seiner Betrachtungen doch nach wie vor die physische Welt. Das, was die Metaphysik gegenüber allen anderen Wissenschaften auszeichnet, kann somit nur negativ, d. h. in Abstoßung vom Bereich der Physik, erkannt und definiert werden, aber nicht aus sich selbst heraus. Trotz der irreduziblen Pluralität der verschiedenen wissenschaftlichen Formalobjekte entfaltet sich die aristotelische Wissenschaftsarchitektonik auf dem Boden eines einheitlichen Seins- und Wirklichkeitsverständnisses. 98 Unter diesem Gesichtspunkt steht auch die Metaphysik zwar auf einem anderen, aber nicht auf einem radikal verschiedenen Boden als die anderen Wissenschaften. Auch sie betrachtet das, was ist, d. h. das Seiende, dessen extensionale Totalität den Gesamthorizont der Wirklichkeit als solcher bildet. So sehr Aristoteles in seiner Erkenntnistheorie die qualitative Andersheit des erkennenden Intellekts gegenüber der erkannten Wirklichkeit betont, 99 so wenig entwickelt er daraus eine durchgängige, der Metaphysik in systematischer Hinsicht vorgeordnete Lehre der erkennenden Subjektivität als eines nichtkategorialen »Überseienden«. Dieser grundlegende Schritt erfolgt erst bei Meister Eckhart, der nicht nur, wie schon sein Zeitgenosse Dietrich von Freiberg, die Sphäre des Intellekts von der des »naturhaft Seienden« (ens naturae) prinzipiell unterscheidet, sondern ausgehend von der selbstreflexiven Dynamik des Ich auch Rolle und Funktion der aristotelischen Metaphysik neu definiert. Darin liegt bereits eine deutliche Relativierung der traditionellen, am klassischen Substanzdenken orientierten Metaphysik zugunsten einer neuzeitlich anmutenden, transzendental orientierten Philosophie der Subjektivität. Vor diesem Hintergrund gelingt es Eckhart zudem, das statische Nebeneinander der unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen zu überwinden, indem er sie nicht primär von ihren jeweiligen Gegenstandsbereichen her definiert, sondern sie von ihrem dynamischen Bezug auf die erkennende Subjektivität her deutet. Unter kosmologischen Gesichtspunkten verhält es sich zwar so, dass Aristoteles von einem grundlegenden qualitativen Unterschied zwischen der sublunaren und der supralunaren Sphäre ausgeht. Doch sind die Eigenschaften, durch die sich die Himmelskörper und ihre immateriellen Bewegungsprinzipien von den Körpern unterhalb des Mondes unterscheiden (Unvergänglichkeit, Vollkommenheit) lediglich akzidenteller Natur und können somit immer noch anhand der Kategorien des aristotelischen Substanzdenkens im Allgemeinen begriffen werden. 99 Vgl. Aristoteles, De anima III 4, 429 a 15–24. 98
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Der phänomenologische Charakter von Eckharts Erster Philosophie
Die These der notwendigen relationalen Immanenz des Seins im Denken hat weitreichende Folgen für Eckharts Begriff der Metaphysik als der »Wissenschaft vom Seienden als Seiendem«. Wenn nicht mehr Sein, sondern Erkennen die höchste Form von Wirklichkeit ist, kann sich auch die Erste Philosophie nicht mehr damit begnügen, das »Seiende als solches« als ihren Gegenstand zu betrachten, sondern muss das Sein von seinem intelligiblen Ursprung und dessen spezifischer Nichthaftigkeit her deuten. Das bedeutet, dass die solcherart neudefinierte Erste Philosophie nicht mehr nur eine Wissenschaft unter anderen ist: Während die übrigen Disziplinen einen mehr oder weniger großen Bereich des Seienden untersuchen, hat die von Eckhart konzipierte Ursprungswissenschaft keine statisch vorgegebene Gegenstandssphäre mehr, nicht einmal die allumfassende des »Seienden, insofern es Seiendes ist«. Was sie auszeichnet, ist vielmehr ein bestimmtes Wie der Betrachtungsweise, das darin besteht, all das, was ist, nicht als naturhafte Substanz, sondern als Teil der negierenden Selbstbestimmung und Selbstauslegung des überseienden Intellekts zu verstehen. Die spezifische Methode der Ersten Philosophie besteht folglich darin, die scheinbare Eigenständigkeit der innerweltlichen Einzeldinge als Trugschluss zu erkennen und ihr Sein in relationaler Weise, nämlich unter dem Gesichtspunkt des Hervorgangs ihrer begrenzten, intelligiblen Formen aus dem absoluten Intellekt 100 als der im eminenten Sinne bestimmungslosen, aber alles andere bestimmenden »Form der Formen« 101 zu interpretieren. Man kann Eckharts Erste Philosophie daher insofern als protophänomenologisch bezeichnen, als sie sich nicht beim »Seienden als solchem« zur Ruhe setzt, sondern dieses auf das reine Ich als seinen konstitutiven Ursprung zurückverfolgt. In dieser Perspektive wird der Seinscharakter der Welt im Sinne des ens reale extra animam 100 [P]rincipium omnium productorum naturalium est intellectus altior natura et omnia creato, et hic deus, de quo proprie loquitur Anaxagoras ad litteram quod est »separatus«, »immixtus«, »nulli nihil habens commune«, ut discernat omnia (»[D]er Ursprung alles in der Natur Hervorgebrachten ist der Intellekt, der höher ist als die Natur und alles Geschaffene. Das ist Gott, von dem Anaxagoras dem Wortlaut nach eigentlich spricht, wenn er sagt: er ist ›abgesondert‹ und ›unvermischt und hat mit nichts etwas gemein‹, um Unterscheidungen zu treffen« [Eckhart, In Gen. I n. 168, LW I,1 313,12–314,2]). 101 Vgl. Aristoteles, De anima III 8, 432 a 2–3 sowie Eckhart, In Sap. n. 189, LW II 525,1–2: Deus autem, sapientia, ipsa est actualitas et forma actuum omnium et formarum (»Gott aber, die Weisheit selbst, ist die Wirklichkeit und die Form aller Akte und Formen«).
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zwar nicht bestritten, doch ist er für die Metaphysik in Eckharts Sinne ohne Belang, da sie es mit dem intentionalen Grundverhältnis zwischen dem absoluten Intellekt und den von ihm hervorgebrachten Wesensstrukturen der einzelnen Dinge zu tun hat. Was die eckhartsche Ursprungswissenschaft an gültiger Erkenntnis zu gewinnen vermag, bezieht sich auf jene apriorischen Invarianzstrukturen, die notwendigerweise immer wahr sind, auch wenn es keine Schöpfung gäbe. Die Welt wird dadurch nicht als solche negiert, aber in ihrer Seinsgeltung eingeklammert, um das freizulegen, was sie in nicht nur faktischer, sondern wesenhafter Weise auszeichnet. Dennoch reduziert sich die Erste Philosophie dadurch nicht auf eine rein formale Wissenschaft von statischen Gedankeninhalten, sondern betrachtet die produktive Bewegung, in der das reine Ich durch eine nicht-naturkausale Form der Generativität die intelligiblen Strukturen erzeugt, durch die es sich in erkennender Weise auf die Welt beziehen kann. Diese Betrachtung verläuft dabei in der umgekehrten Richtung, d. h. sie hat die Form eines Rückgangs in den konstitutiven Ursprung aller kategorialen und transzendentalen Bestimmungen, die in der aristotelischen Metaphysik als der »Wissenschaft vom Seienden als solchem« Anwendung finden.
2.1
Vom ›ens qua ens‹ zum ›(Ego) sum qui sum‹ : Meister Eckharts egologische Fundierung der onto-theologischen Metaphysikkonzeption
Der lateinische Aristotelismus des Mittelalters lernt die Problematik der aristotelischen Metaphysikdefinition nicht in ihrer ursprünglichen Form kennen, sondern bereits in der systematischen Zuspitzung, die sie bei den arabischen Aristoteleskommentatoren, namentlich Avicenna und Averroes, erfahren hat. 102 Die entscheidende Frage lautet dabei, ob sich die Metaphysik primär als philosophische Theologik, also als Wissenschaft vom Göttlichen, zu verstehen hat oder als Wissenschaft vom Seienden als solchem. Die Beantwortung dieser Frage ist insofern entscheidend, als von ihr die Stellung der Metaphysik im Zusammenhang der übrigen Wissenschaften abhängt. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als sei die »theologische« Definition der
102
Vgl. J.-F. Courtine, Suárez et le système de la métaphysique, 9–30.
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Der phänomenologische Charakter von Eckharts Erster Philosophie
Metaphysik diejenige, die ihrem besonderen Status als höchste und vornehmste Wissenschaft am ehesten gerecht wird. Der Schein trügt jedoch insofern, als diese Bestimmung die Autarkie der Metaphysik als Wissenschaft unterläuft und sie von bestimmten faktischen Gegebenheiten abhängig macht. Aristoteles definiert das Göttliche als »Ersten unbewegten Beweger«, also als Zielursache des bewegten, materiellen Kosmos. 103 Erklärt man nun, wie dies Averroes tut, 104 das Göttliche zum primären Gegenstand der Metaphysik, ist diese nicht nur von der Existenz einer so beschaffenen Welt abhängig, sondern ebenso auch von dem spezifischen Bewegungsbegriff, wie er im Rahmen der aristotelischen Physik entwickelt wird. Die Metaphysik ist damit keine absolut eigenständige Wissenschaft, sondern hat die Physik und die von dieser erkannte Naturwirklichkeit – mit anderen Worten: das Seiende, insofern es materiell und von Bewegung gekennzeichnet ist – zur Voraussetzung. Demgegenüber ist die andere Gegenstandsbestimmung der aristotelischen Metaphysik – das Seiende, insofern es Seiendes ist – frei von dieser Einschränkung auf einen bestimmten Seinstypus und ist somit nicht von spezifischen kosmologischen Prämissen abhängig. Diese zweite, »ontologische« Definition, für die in paradigmatischer Weise der Name Avicenna steht, ist somit weit eher dazu angetan, die Autarkie und Voraussetzungslosigkeit der Metaphysik zu wahren, als die theologisch konnotierte »trans-physische« Wissenschaft, die Averroes entwickelt. 105 Letztere kann nur unter der Bedingung Notwendigkeitscharakter beanspruchen, dass sie die Existenz der Welt gleichfalls als notwendig ansieht – was zum biblischen Schöpfungsgedanken in Widerspruch steht –, und selbst dann ist sie immer noch auf die physische Welt und deren spezifische Struktur bezogen und baut darauf auf. Die weitaus meisten lateinischen Scholastiker geben daher Avicennas Ansatz den Vorzug, der das ens inquantum ens als den eigentVgl. Aristoteles, Metaphysik XII 7, 1072 a 19–1072 b 16. Vgl. Averroes, Aristotelis De Physico auditu I, cap. 83F-H, in: Aristotelis opera cum Averrois commentariis, vol. IV, (Venetiis 1562–1574) Unveränderter Nachdruck: Frankfurt a. M., Minerva, 1962, 47rb–va; vgl. auch A. Zimmermann, Ontologie oder Metaphysik?, 152–155. 105 Vgl. Avicenna, Das Buch der Genesung der Seele, II. Serie: Die Philosophie, III. Gruppe, XIII. Teil: Die Metaphysik, Theologie, Kosmologie und Ethik (übers. und erläutert von M. Horten), Frankfurt a. M., Minerva, 1960, 6–10. 14–23; A. Zimmermann, Ontologie oder Metaphysik?, 144–152. 103 104
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Das Ich ist nicht von dieser Welt
lichen Gegenstand der Metaphysik ansieht. 106 Die Frage, was mit ens gemeint ist, bleibt dabei jedoch zunächst offen, insofern es sich auf die Wirklichkeit des Seienden in seiner größtmöglichen Allgemeinheit (ens commune), 107 auf den bloßen Begriff des Seienden (conceptus entis) 108 oder aber auf eine besondere, paradigmatische Form dessen, was »seiend« heißt, beziehen kann. Die erstgenannte Option, die von Thomas von Aquin favorisiert wird, versteht den Gegenstand der Metaphysik in einem universalen, zugleich aber auch auf die extramentale Wirklichkeit bezogenen Sinne. Die Metaphysik betrachtet somit all das, was ist, unter dem Gesichtspunkt seines Seins. Insofern das Sein der Dinge als solches aber nicht notwendig, sondern kontingent ist, verweist das ens commune indirekt auf Gott als seinen Schöpfer, ohne ihn im realen Sinne einzuschließen. 109 Gott als das esse absolutum ist dem von ihm geschaffenen, allen Geschöpfen eigenen Sein gerade nicht gemeinsam, sondern steht ihm in der Distanz der analogen Seinsmitteilung gegenüber. 110 Vgl. J.-F. Courtine, Suárez et le système de la métaphysique, 31–154; A. Zimmermann, Ontologie oder Metaphysik?, 415–421; O. Boulnois, »La métaphysique au Moyen Âge: onto-théologie ou diversité rebelle?«, Quaestio 5 (2005), 37–66, hier 52–62. 107 Unde oportet quod ad eamdem scientiam pertineat considerare substantias separatas, et ens commune, quod est genus, cuius sunt praedictae substantiae communes et universales causae. Ex quo apparet, quod quamvis ista scientia praedicta tria consideret, non tamen considerat quodlibet eorum ut subiectum, sed ipsum solum ens commune (»Daher ist es erforderlich, dass es derselben Wissenschaft zukommt, die getrennten Substanzen und das allgemeine Seiende, das die Gattung ist, deren allgemeine und universale Ursachen die genannten Substanzen sind, zu betrachten« [Thomas von Aquin, In XII libros Metaphysicorum Aristotelis expositio, Prooemium (ed. Marietti), 2b; Übers. von F. Cheneval und R. Imbach, in: Thomas von Aquin, Prologe zu den Aristoteles-Kommentaren, Frankfurt a. M., Klostermann, 22014, 103]). 108 Vgl. Johannes Duns Scotus, Quaestiones in Metaphysica I, q. 1, nn. 64. 117–119. 132–133. 138. 144, in: ders., Opera omnia (editio minor), vol. I: Opera philosophica (ed. G. Lauriola), Bari, Alberobello, 1998, 17. 24. 26–28. 109 Cognoscere autem rationem entis et non entis, et totius et partis, et aliorum quae consequuntur ad ens, ex quibus sicut ex terminis constituuntur principia indemonstrabilia, pertinet ad sapientiam: quia ens commune est proprius effectus causae altissimae, scilicet Dei (»Die Erkenntnis des Seins aber und des Nichtseins, des Ganzen und des Teiles, wie auch der anderen Eigenheiten, die dem Sein folgen, aus denen als aus ihren Begriffen die unbeweisbaren Ursätze bestehen, gehört zur Weisheit; denn das allgemeine Sein ist die eigentliche Wirkung der höchsten Ursache, nämlich Gottes« [Thomas von Aquin, Summa theologiae I-II, q. 66, a. 5 ad 4; Übers. in: Die deutsche Thomas-Ausgabe, Bd. 11, Salzburg, Pustet, 1940, 325]). Vgl. auch ders., Summa theologiae I, q. 12, a. 1 ad 4. 110 Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae I, q. 44, a. 1 c. 106
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Der phänomenologische Charakter von Eckharts Erster Philosophie
Die zweite, von Duns Scotus entworfene Metaphysikkonzeption bezieht das ens nicht auf eine konkrete Wirklichkeit, sondern versteht es als rein formalen Begriff, der für nichts anderes steht als für die allgemeinste Intention, unter der man etwas denken kann. 111 So gesehen, umfasst der Begriffsumfang des ens inquantum ens auch Gott und kann somit von ihm und den Geschöpfen in univoker Weise ausgesagt werden. In diesem Sinne ist also auch Gott Teil des Gegenstandsbereichs der Metaphysik, doch um den Preis, dass alle möglichen Erkenntnisse, die sich im Rahmen dieser Wissenschaft von ihm gewinnen lassen, rein begrifflich-abstrakter Natur bleiben. Was Gott in sich wirklich ist, kann vom Menschen unter irdischen Bedingungen prinzipiell nicht mit den Mitteln der Vernunft erkannt werden, sondern wird ihm nur durch die Offenbarung zugänglich. 112 Die Metaphysik wird im Gegenzug zu einer Transzendentalwissenschaft, die es in erster Linie nicht mehr mit der Wirklichkeit zu tun hat, sondern mit den Begriffen, durch die wir nicht nur jede tatsächlich existierende, sondern auch jede nur mögliche Wirklichkeit denken. 113 Meister Eckharts Ansatz verkörpert eine dritte Option, die sich nicht einfach den bereits existierenden Metaphysikmodellen zurechnen lässt. In seinen lateinischen Werken finden sich mehrere Stellen, an denen er die drei verschiedenen aristotelischen Definitionen der Metaphysik als der »Wissenschaft vom Seienden als Seiendem« (scientia qui considerat ens inquantum ens), der »göttlichen Wissenschaft« (scientia divina) und der »Ersten Philosophie« (philosophia prima) erwähnt. 114 Zunächst sieht es so aus, als bevorzuge er die erstgenannte Definition, die nicht den theologischen, sondern den universalwissenschaftlich-ontologischen Aspekt der Metaphysik in den Vordergrund stellt. Damit steht er in einer Reihe mit all jenen Scholastikern, die im Gefolge von Avicennas Interpretation der aristotelischen Metaphysik die Erste Philosophie in erster Linie als Wissen111 Vgl. Johannes Duns Scotus, Quaestiones in Metaphysica IV, q. 1, n. 5, in: Opera philosophica (ed. Lauriola), 128; A. Zimmermann, Ontologie oder Metaphysik?, 316– 320; L. Honnefelder, Ens inquantum ens, 51–72. 112 Vgl. Johannes Duns Scotus, Quaestiones de anima, q. 21, nn. 13–15, in: Opera philosophica (ed. Lauriola), 630; A. Zimmermann, Ontologie oder Metaphysik?, 322–329. 113 Vgl. L. Honnefelder, Ens inquantum ens, 351–382. 114 Vgl. Eckhart, In Gen. II nn. 3–4, LW I,1 453,7–10; 454,6–10; ebd. n. 131, LW I,1 586,9–11; ebd. n. 121, LW I,1 586,7–11; ders., In Exod. n.169, LW II 147,10–14; ebd. n. 207, LW II 541,8–9; ders., In Ioh. n. 443, LW III 380,8.
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Das Ich ist nicht von dieser Welt
schaft von den obersten, transzendentalen Bestimmungen des Seienden als solchen verstehen. 115 Für eine solche Deutung scheint auch die Tatsache zu sprechen, dass er Avicenna in seinen lateinischen Werken des Öfteren zitiert. 116 Eckhart bedient sich im Zusammenhang mit dem ens inquantum ens auch des Ausdrucks subiectum, der für den von einer Wissenschaft nicht weiter zu beweisenden, sondern vorausgesetzten Gegenstandshorizont ihrer einzelnen Fragen und Probleme steht. Des Weiteren teilt er mit Avicenna auch die Auffassung, dass der Gegenstandsbereich der Metaphysik frei sein muss von allen mit der physischen Welt assoziierten Aspekten der Wirk- und Zielursächlichkeit. Allein die zwei inneren Ursachenformen aller Dinge, nämlich Materie und Form, sowie die an der intelligiblen Form hängenden Eigenschaften von Wahr und Falsch sind für den Metaphysiker von Belang, während die Wirk- und Zielursächlichkeit sowie die Begriffe von Gut und Böse in den Bereich der Physik bzw. der Ethik fallen, die es mit dem realen Sein der Dinge zu tun haben. 117 Zunächst sieht es daher so aus, als gehe Eckhart in die Richtung einer als Transzendentalwissenschaft verstandenen Metaphysik, die das ens lediglich als allgemeinste Intention der menschlichen Erkenntnis betrachtet. Daher verweist die Bedeutung von ens wie auch die aller anderen transkategorialen Grundbegriffe (unum, aliquid, verum, bonum) nicht auf reale Existenz, sondern auf die ersten, obersten Begriffsinhalte, die der Intellekt als solcher bei jedem Erkenntnisakt notwendigerweise miterkennt, ganz gleich, ob es sich dabei um einen Gegenstand sinnlicher Anschauung oder um einen nur gedachten, erst noch zu verwirklichenden Gegenstand handelt. 118 An115 Vgl. Avicenna, Metaphysik, tr. I, cap. 5, in: Avicenna Latinus, Liber de philosophia prima sive scientia divina (3 Bd., ed. S. van Riet), Louvain / Leiden, Peeters / Brill, 1977, Bd. I, 31–42. 116 Vgl. Eckhart, In Gen. I n. 9, LW I,1 154,5; ebd. n. 13, LW I,1 159,1; ebd. n. 91, LW I,1 249,11; ebd. n. 91, LW I,1 250,1; ders., In Exod. n. 21, LW II 27,10; ebd. n. 29, LW II 35,5–6; ebd. n. 36, LW II 42,6; ebd. n. 114, LW II 451,8–9; ebd. n. 231, LW II 566,5; ebd. n. 282, LW II 614,6; ebd. n. 287, LW II 620,4; ders., In Ioh. n. 128, LW III 110,5; ebd. n. 263, LW III 218,1. 117 Primus philosophus ipsum quod est, ut est ens, considerans, nec efficiens nec finem considerat, utpote extra ens et id quod est (»Wenn daher der Metaphysiker das Seiende als Seiendes betrachtet, fragt er nicht nach dem Wirkenden und dem Ziel, weil diese außerhalb des Seienden und des Wesens [der Dinge] liegen« [Eckhart, In Gen. II n. 121, LW I,1 586,9–11; Übers. ebd.]). Vgl. auch ders., In Ioh. n. 226, LW III 284,6–285,9 sowie ders., Quaest. Par. I n. 7, LW V 43,6–12. 118 Praeterea ens, unum, verum, bonum sunt prima in rebus et omnibus communia,
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ders als die kategorialen Universalbegriffe, die der Intellekt im Ausgang von der sinnlichen Erfahrung gewinnt, sind die transzendentalen Grundbegriffe nicht das aposteriorische Ergebnis eines Abstraktionsprozesses, sondern der apriorische Rahmen aller Erkenntnisbeziehungen, der in der Struktur des Intellekts als solchen bereits angelegt ist. Dennoch reduziert sich das als der eigentliche Gegenstand der Metaphysik bestimmte ens inquantum ens bei Eckhart weder auf das von Gott unterschiedene, kreatürliche ens commune noch auf einen rein formalen, Gott und Geschöpfe gleichermaßen umfassenden Begriff des ens univocum. Vielmehr bestimmt er die Bedeutung des Seins (esse) dahingehend neu, dass das ens qua ens eine Dynamik erhält, die über die Grenzen eines »Gegenstandsbereichs« im üblichen Sinne hinausweist und damit auch die Bedeutung der Metaphysik als Wissenschaft grundlegend verändert. Konkret gesprochen, bedeutet dies, dass Eckhart das aristotelisch-avicennische Modell zunächst übernimmt, es dann aber zum Ausgangspunkt einer intellektuellen Überstiegsbewegung macht, die vom Bereich des Seienden in den des Nichtseins führt. Die Metaphysik vollzieht damit das umgekehrte Gegenstück zu jener Emanationsbewegung, die mit Blick auf den Ursprung der Wirklichkeit als ganzer vom Erkennen (intelligere) zum Sein (esse) verläuft. 119 Obwohl Eckhart vom Gegenstand propter quod assunt et insunt omnibus ante adventum cuiuslibet causae non primae et universalis omnium. Et rursus insunt a sola causa prima et universali omnium (»Überdies sind seiend, eines, wahr und gut die ersten und allen gemeinsamen Bestimmungen in den Dingen. Deswegen sind sie bei und in allen vor dem Hinzutreten jeder anderen nicht ersten und [nicht] allumfassenden Ursache. Außerdem sind sie in ihnen nur von der ersten und allumfassenden Ursache her« [Eckhart, Prol. gen. n. 11, LW I,2 45,22–24; Übers. ebd.]). – Obiectum intellectus et quod primum cadit in intellectu est ens. Igitur non potest dici quod quis videt lucem, ut fiat, si lux nullum ens est, antequam fiat (»Gegenstand der Verstandeserkenntnis ist das Seiende, und zwar ist es das, was zuerst von allen erfaßt wird. Daher kann man nicht sagen, jemand sähe das Licht, um es zu entzünden, wenn das Licht, bevor es entzündet wird, kein Seiendes ist« [Eckhart, In Gen. II n. 60, LW I,2 367,25–27; Übers. ebd.]). 119 Igitur intellectus hdeumi in se non attingit, nisi ascendat. Ascensus autem ad superius est. Transcendere igitur oportet non solum imaginabilia, sed etiam intelligibilia. Item cum intellectus resolvat ad esse, oportet et hoc transire. Esse namque non est causa esse, sicut nec ignis est causa ignis, sed aliquid longe altius, in quo oportet ascendere. […] [C]um intellectus iuxta nomen suum intra procedat et ab extra, e converso voluntati, et secundum naturam suam abstrahat ab omni foras addito, eius ascensus est introitus in primam radicem puritatis omnium, quae est in verbo (»Daher berührt der Intellekt in sich nicht Gott, außer er steige auf. Aufstieg besagt aber
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Das Ich ist nicht von dieser Welt
der Metaphysik jede Vorstellung einer transitiv-wirkursächlichen Hervorbringung fernhalten will, reduziert sich das ens inquantum ens doch nicht einfach auf einen statischen, abstraktiv gewonnenen Verstandesbegriff, sondern erscheint vielmehr als unmittelbare, nichttransitive Form der Auszeugung des reinen esse Gottes. In seinem Johanneskommentar schreibt Eckhart: Filius utique creatoris, in quantum creator, est creatura, in quantum creatura, et ens, inquantum ens, filius est ipsius esse sic proprie, ut creator, inquantum creator, filium non habet nisi creaturam, inquantum creatura est […] Sohn des Schöpfers, insofern er Schöpfer ist, ist ja das Geschöpf, insofern es Geschöpf ist; und das Seiende, insofern es seiend ist, ist der Sohn des Seins selbst, und zwar in einem so eigentlichen Sinne, daß der Schöpfer als Schöpfer nur das Geschöpf als Geschöpf zum Sohn hat […] 120
und führt an anderer Stelle weiter aus: Deus ipse est ipsummet esse et principium omnium, et per consequens ab ipso accipiunt esse suum omnia, quae citra sunt, et certe immediate; inter esse enim et ens nullum cadit medium. Gott ist selbst das Sein und der Ursprung aller Wesen; folglich empfangen sie alle im Diesseits von ihm das Sein, und zwar ohne Zweifel unmittelbar. Denn zwischen dem Sein und dem Seienden als solchem gibt es kein Mittleres. 121
Die Frage, ob die Metaphysik das Seiende als Seiendes oder Gott als die höchstmögliche Verwirklichung des Seins zum Gegenstand hat, stellt sich bei Eckhart somit gar nicht, da das Sein (esse) als solches göttlicher Natur ist und dem Seienden als solchem im Modus per-
›über sich hinaus‹. Der Intellekt muß also nicht nur das der Einbildung Zugängliche, sondern auch das ihm selbst Zugängliche übersteigen. Ferner: da der Intellekt [alles] auf das Sein zurückführt, muß er auch über das Sein hinausschreiten. Denn das Sein ist nicht die Ursache des Seins, wie auch das Feuer nicht die Ursache des Feuers ist, sondern etwas weit Höheres, zu dem er aufsteigen muß. […] [D]a der Intellekt seinem Namen nach von außen nach innen fortschreitet, im Gegensatz zu dem Willen, und seiner Natur nach von allem von außen her Herangebrachten abzieht, so ist sein Aufstieg der Eintritt in die erste Wurzel der Reinheit aller [Wesen], nämlich das Wort« [Eckhart, Sermo XXIV,2 nn. 247–248, LW IV 226,1–5; 227,1–4; Übers. ebd.]). 120 Eckhart, In Ioh. n. 153, LW III 126,16–127,1; Übers. ebd. (Hervorhebungen d. Verf.). 121 Eckhart, In Ioh. n. 205, LW III 172,12–14; Übers. ebd.
114 https://doi.org/10.5771/9783495821633
Der phänomenologische Charakter von Eckharts Erster Philosophie
manenter Erzeugung unmittelbar innewohnt. 122 Daraus erklärt sich die Tatsache, dass Meister Eckhart einerseits das ens inquantum ens als den eigentlichen Gegenstand der Metaphysik definiert, andererseits aber an anderer Stelle im Zusammenhang mit der aristotelischen Dreiteilung der theoretischen Wissenschaften von der philosophia naturalis, mathematica et divina 123 sprechen kann. Insofern es außerhalb Gottes als des reinen Seins überhaupt nichts Seiendes geben kann, ist somit jede metaphysische Betrachtung des Seienden als solchen in sich schon philosophische Theologik. Dennoch reduziert sich Eckharts Ansatz damit keinesfalls auf eine Spielart der von Heidegger kritisierten, onto-theologischen Philosophietradition. Die eigentliche Bedeutung dessen, was mit esse gemeint ist, wird von Eckhart nämlich nicht als paradigmatische Verwirklichung von »Seiendheit« verstanden, sondern vielmehr als intelligere bestimmt. 124 Gottes Sein ist also nicht die exemplarische, urbildhafte Verwirklichung desjenigen Wirklichkeitsmodus, den man am Sein der dinglichen Natursubstanzen ablesen kann, sondern umgekehrt ist alles, was ist, nur insofern seiend, als es von einer intelligiblen Form durchdrungen ist, die in beständiger Prozessualität aus der Selbsterkenntnis des göttlichen Intellekts hervorgeht. 125 Dies hat wiederum Folgen für Eckharts Bestimmung des angemessenen Gegenstandes des menschlichen Erkenntnis im Allgemeinen sowie des
122 [E]sse, deus scilicet, est intimum omni enti, omni formae et fini (»[D]as Sein, nämlich Gott, [ist] das Innigste […] für alles Seiende, alle Form und [alles] Ziel« [Eckhart, Sermo IV,2 n. 29, LW IV 30,3–4; Übers. ebd.]). 123 Possunt etiam ista tria respondere tribus partibus essentialibus philosophiae, naturali, mathematicae, divinae (»Man kann diese drei auch mit den drei wesentlichen Teilen der Philosophie in Beziehung setzen: mit der Naturphilosophie, mit der Mathematik und der Theologie« [Eckhart, In Sap. n. 207, LW II 541,8–9; Übers. ebd.]). 124 Vgl. Eckhart, Quaest. Par. I n. 4, LW V 40,5–41,14. 125 Ex his ostendo quod in deo non est ens nec esse, quia nihil est formaliter in causa et causato, si causa sit vera causa. Deus autem est causa omnis esse. Ergo esse formaliter non est in deo. Et si tu intelligere velis vocare esse, placet mihi. Dico nihilominus quod, si in deo est aliquid, quod velis vocare esse, sibi competit per intelligere (»Aus diesen Voraussetzungen zeige ich nun, daß in Gott kein Seiendes noch ein Sein ist. Denn nichts ist seinem Wesen nach in der Ursache und im Verursachten, vorausgesetzt, daß die Ursache eine wahre Ursache ist. Gott aber ist die Ursache alles Seins. Folglich ist das Sein seinem Wesen nach nicht in Gott. Willst du aber das Erkennen Sein nennen, so habe ich nichts dagegen. Nichtsdestoweniger behaupte ich: wenn in Gott etwas ist, was du Sein nennen willst, so kommt es ihm zu durch das Erkennen« [Eckhart, Quaest. Par. I n. 8, LW V 45,1–5; Übers. ebd.]).
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Gegenstandes der Metaphysik im Besonderen. In seinem Johanneskommentar führt er weiter aus: Obiectum autem intellectus proprie est ens nudum simpliciter et absolute […]. Patet ergo quod nudam dei substantiam, plenitudinem esse, quae est nostra beatitudo, deus scilicet, consistit, invenitur, accipitur, attingitur et hauritur per intellectum. Das Objekt des Intellekts im eigentlichen Sinne aber ist das bloße Seiende, schlechthin und ohne Einschränkung […]. Es erhellt also, daß die bloße Substanz Gottes, die Fülle des Seins, die unsere Seligkeit, nämlich Gott ist, im Verstande besteht, gefunden, empfangen, durch ihn erreicht und geschöpft wird. 126
Die Gleichsetzung des eigentlichen Gegenstandes (obiectum proprium) der menschlichen Erkenntnis mit dem eigentlichen Gegenstand der Metaphysik ist zunächst einmal eine theoretische Grundoption, die Eckhart mit Duns Scotus gemeinsam hat. 127 Beide Autoren kommen darin überein, dass sie Thomas von Aquins These einer Beschränkung der menschlichen Erkenntnis auf die Wesenheiten der materiellen Dinge nicht teilen. 128 Wenn die Vollendung des Menschen in der visio beatifica als Verwirklichung des höchsten Vermögens seiner naturhaften Veranlagung gedacht werden soll, muss Gott zumindest grundsätzlich innerhalb des Erkenntnishorizontes der menschlichen Vernunft liegen. Das »im einfachen und absoluten Sinne bloße Seiende« (ens nudum simpliciter et absolute) ist bei Eckhart allerdings nicht, wie bei Duns Scotus, gleichbedeutend mit einem absolut inhaltsleeren, rein formalen Begriff des Seienden, der im allerallgemeinsten Sinne auch Gott einschließt, sondern wird als »Sohn«, d. h. als unmittelbare Auszeugung der bloßen Substanz Gottes (nuda Dei substantia) verstanden, die die Fülle des Seins darstellt. Wie Eckhart bereits in seinem Kommentar zu Ex 3,14 betont hatte, ist der Begriff der absolut eigenschaftslosen nuda substantia dabei nicht Synonym für das absolute intensionale Minimum gegenständlicher Denkbarkeit, sondern steht vielmehr für jenes Maximum aktualer Intelligibilität, das sich in der selbstreflexiven Bewusstheit Eckhart, In Ioh. n. 677, LW III 591,6.9–11; Übers. ebd. (modifiziert). Vgl. Johannes Duns Scotus, Quaestiones De anima, q. 21, nn. 19–34, in: Opera philosophica (ed. Lauriola), 631 f. 128 Vgl. J. A. Aertsen, »Vernunftkritik und Offenbarung. Duns Scotus’ Kritik an Thomas von Aquin«, in: G. Mensching (Hg.), De usu rationis. Vernunft und Offenbarung im Mittelalter, Würzburg, Königshausen & Neumann, 2007, 91–101, hier 93–96. 126 127
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des Ich manifestiert. 129 Dieses erkennt in erster Linie sich selbst, und zwar nicht als ein »Objekt«, sondern als lebendige, produktive Dynamik. Das bedeutet aber letztlich, dass der Intellekt des Menschen im Unterschied zu allen anderen Seelenvermögen letztlich kein obiectum proprium im eigentlichen Sinne haben kann, sofern man darunter einen abgegrenzten Gegenstandsbereich versteht: Ubi nota quomodo veritas liberat, tum quia omne quod est, omne quod pulchrum, quod bonum et huiusmodi est, utique veritate huiusmodi est, tum quia omnes potentiae animae quoddammodo limitatae et quasi captae sunt obiectis suis. Intellectus autem, in quo veritas est, liber est. […] Septimo modo dic quod adhuc oportet liberari vero, id est a vero, scilicet a ipsa veritate, vel quia ratio veritatis abstractior sit ipsa veritate, vel quia ratio aut – octavo modo – quia ens nudum absque omni ratione contrahente et etiam concipiente seu etiam apprehendente beatificat et salvat, dans vitam aeternam, fructum et finem beatorum. Dabei bemerke, auf welche Weise die Wahrheit befreit, einmal weil alles, was ist, alles was schön, gut und dergleichen ist, auf Grund der Wahrheit so beschaffen ist; weiter, weil alle Vermögen der Seele auf eine gewisse Weise begrenzt und gewissermaßen gefangen sind von ihren Gegenständen. Der Intellekt aber, in dem die Wahrheit ist, ist frei. […] Auf eine siebte Weise sprich, daß wir sogar vom Wahren befreit werden müssen, das heißt von der Wahrheit selbst, entweder, weil die Idee der Wahrheit reiner ist als die Wahrheit, oder weil die Idee oder – auf eine achte Weise – weil das Seiende, das entblößt ist von jeder beschränkenden und unserer Denk- und Auffassungsweise entsprechenden Idee, Heil und Seligkeit bringt, indem es ewiges Leben, Frucht und Vollendung der Seligen, schenkt. 130
Der Intellekt hat bei Eckhart also im eigentlichen Sinne gar keinen »Gegenstand« mehr, sondern ist frei, d. h. reine Spontaneität des Denkens, die jeden in den Universalhorizont des ens qua ens fallenden, beschränkten Denkinhalt auf seinen Ursprung hin zurückverfolgt und dadurch sprengt. Die Tätigkeit des Intellekts kommt demnach nicht schon in der Zurückführung der einzelnen Dinge auf das Sein zur Ruhe, sofern dieses noch als differenzierte Pluralität intelligibler Inhalte gedacht wird, sondern muss auch die einzelnen intelligibilia noch übersteigen auf ihren Ursprung hin, nämlich den überseienden göttlichen Intellekt. 131 Insofern dieser aber keinen anderen Vgl. Eckhart, In Exod. n. 14, LW II 20,4. Eckhart, Sermo XVII,2 n. 168, LW IV 160,8–11; ebd. n. 169, LW II 161,6–11; Übers. ebd. (Hervorhebungen d. Verf.). 131 Vgl. Eckhart, Sermo XXIV,2 n. 247, LW IV 226,2–4. 129 130
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»Erkenntnisgegenstand« hat als sich selbst, wird auch der als ens qua ens bestimmte Gegenstand der Metaphysik von Eckhart auf das (Ego) sum qui sum des göttlichen Selbstbewusstseins hin überschritten und in diesem verankert. Vor diesem Hintergrund könnte man zunächst den Eindruck gewinnen, als habe Eckharts Erste Philosophie letztlich doch einen primär theologischen Charakter; erklärt er doch mehrfach ausdrücklich, dass die eigentliche Aufgabe des menschlichen Intellekts darin bestehe, die Dinge nicht nur unter dem Gesichtspunkt ihrer intelligiblen Formen zu betrachten, sondern diese Formen ihrerseits in ihren ersten Ursprung, den göttlichen Intellekt, zurückzutragen. 132 Letztlich überwindet Eckhart jedoch eine solche theologische Engführung der Ersten Philosophie, indem er das intelligible Prinzip, auf das alle Wesensstrukturen der Dinge zurückgeführt werden müssen, mit dem »Ich« als solchem identifiziert, das in seiner Eigenschaft als Pronomen weder spezifisch göttlicher noch spezifisch menschlicher, sondern rein funktionaler Natur ist: Intellectus […] rationes rerum scilicet in summitate causarum originalium sive primordialium, priusquam in res ipsas prodeant, ›in solis puris nudis intellectibus‹ latentes, apprehendit. Sub haec puritate substantiae significat li ›ego‹ […]. Relucet autem ista puritas excellens ex quinque. Primo, quia est substantia se tota stans in se ipsa tota et ›in quolibet sui‹, nulli innixa, nulli permixta. Propter quod redit super se ›reditione completa‹. Der Intellekt […] erfaßt die Gründe der Dinge im Wipfel ihrer ursprünglichen und uranfänglichen Ursachen, wo sie vor ihrem Ausgang in die Dinge ›noch in ihrem reinen und bloß geistigen Sein‹ verborgen sind. In diesen Bereich der Reinheit gehört nun der Sinngehalt des Fürwortes ich […]. Diese erhabene Reinheit erhellt aus fünf Überlegungen. Erstens ist sie die 132 Intellectus vero non sistit in re ipsa in se ipsa, sed iuxta nomen intellectus intrat ad ipsa rei principia et ibi rem accipit in principiis suis in radice et origine. Accipit deum ›in sinu patris‹, ›verbum‹ ›apud deum‹, ›verbum‹, ›in principio‹, verbum ipsum principium, Ioh. 1: ›in principio erat verbum‹. Accipit enim intellectus non res ipsas, sed ipsarum rationes (»[…], während der Intellekt nicht in dem Ding als solchem selbst zum Stehen kommt, sondern, seinem Namen Intellekt gemäß, bis in die eigentlichen Prinzipien des Dinges eindringt und das Ding dort in seinen Prinzipien als in seiner Wurzel und in seinem Ursprung erfaßt. Er erfaßt Gott ›im Schoße des Vaters‹, ›das Wort bei Gott‹, ›das Wort im Ursprung‹, ja als Ursprung selbst: ›im Ursprung war das Wort‹ (Joh 1,18; 1,1). Denn der Intellekt erfaßt nicht die Dinge selbst, sondern ihre Ideen« (Eckhart, In Exod. n. 265, LW II 213,12–214,3; Übers. ebd.; Hervorhebungen im Original); vgl. auch ders., Super Eccl. n. 9, LW II 237,9–11; ders., In Ioh. nn. 19–20, LW III 16,11–15; 17,3–5.
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Substanz, die durch sich ganz in sich selbst als ganzer und ›in allem, was zu ihr gehört‹, ruht, die sich auf nichts stützt, mit nichts vermischt ist. Deshalb wendet sie sich auf sich selbst zurück ›in vollendeter Rückwendung‹. 133
Eckharts Begriff der Ersten Philosophie, die den Gegenstand der Metaphysik (das ens inquantum ens) auf seinen konstitutiven Ursprung zurückverfolgt, ist folglich nicht primär ontologischer Natur und auch nicht in erster Linie theologischer, d. h. auf die getrennten, materiefreien Substanzen ausgerichteter Natur, sondern ist auf jenes principium aller Erkenntnis ausgerichtet, das sich als reines, eigenschaftsloses »Ich« manifestiert und durch seine permanente geistige Selbstproduktion zum Ausgangspunkt jedes nur möglichen Weltbezugs wird. Anders als in der aristotelischen Metaphysik lässt sich dieser Prinzipiencharakter aber gerade nicht in Form eines allgemein formulierten, universalgültigen Aussagesatzes fassen, sondern wird vielmehr in der unveräußerlichen Performativität und quellenden Produktivität des ego als absoluter Ursprung sichtbar. Jede einzelne, begrenzte Wahrheit – ganz gleich, ob im Bereich des Seins oder der Erkenntnis, in der Hl. Schrift oder in der Natur – entspringt daher einer Quelle oder Wurzel der Wahrheit, die als solche keinen Aussagecharakter mehr hat, sondern der reine Vollzug des intellektuellen Erkennens selbst ist. 134 Das bedeutet, dass die Philosophie bei Eckhart in einem zweifachen Sinne verstanden werden kann: Einerseits liegt sie in Aussageform, d. h. in Form der überlieferten Schriften früherer Autoren zur Logik, Metaphysik, Naturphilosophie, Ethik usw. vor und ist in diesem Sinne nur eine begrenzte, endliche Ausdrucksform des Wahren (verum), die zu anderen, ebenso begrenzten Wahrheitsaussagen in Beziehung gesetzt werden kann. Auf dieser Möglichkeit eines In-Beziehung-Setzens von Aussagen, die verschiedenen semantischen Kontexten entstammen, beruht nicht zuletzt Eckharts ganze Methode einer philosophischen Schriftauslegung. 135 Andererseits Eckhart, Super Eccl. nn. 9–10, LW II 239,2.5–7; 240,1–3; Übers. ebd. (modifiziert). […] cum ex uno fonte et una radice procedat veritatis omne quod verum est, sive essendo sive cognoscendo, in scriptura et in natura (»[…] zumal aus einer Quelle und einer Wurzel der Wahrheit alles hervorgeht, was wahr ist, sei es im Sein, sei es im Erkennen, in der Schrift und in der Natur« [Eckhart, In Ioh. n. 185, LW III 154,16– 155,2; Übers. ebd.]). 135 Vgl. Eckhart, In Ioh. n. 3, LW III 4,14–17; ebd. nn. 441–443, LW III 379,8–380,11. Diesen Aspekt hat die Verf. an anderer Stelle vertieft analysiert; vgl. dazu M. Roesner, »Eine Wahrheit in vielerlei Weisen. Zum Verhältnis von Offenbarungstheologie, Metaphysik und Naturphilosophie bei Meister Eckhart«, in: N. Fischer / J. Sirovátka 133 134
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kann Philosophie aber auch in einem performativen Sinne verstanden werden, nämlich als egologische Selbstbesinnung des Denkens auf den nicht mehr propositionalen, sondern wesentlich produktiv-spontanen Möglichkeitsgrund seiner eigenen Vermittlungsleistung. In diesem Sinne ist sie Erste Philosophie in einer radikaleren und ursprünglicheren Form als die im Sinne eines philosophischen Textkorpus oder einer innerphilosophischen Disziplin verstandene Metaphysik und steht über allen bereits konstituierten, durch ihre je eigenen Gegenstandsbereiche voneinander unterschiedenen Wissenschaften. Bei Eckhart nimmt diese »Egologie« zunächst die Form einer transzendentalgrammatikalischen Analyse an, die von bestimmten Sätzen der Hl. Schrift ausgeht und diese nach den allgemeinen Regeln einer spekulativen Semantik deutet. 136 Das Wort ego erweist sich dabei als univok, insofern es nichts weiter manifestiert als die Gott und allen Vernunftwesen gleichermaßen eigene, reine Intellektsubstanz. Dennoch reduziert sich Eckharts egologisch verankerte Erste Philosophie nicht auf eine transzendentale Begriffswissenschaft, da das ego wesentlich von seinem produktiven Aktcharakter her verstanden wird, der nicht nur als synthetischer Einheitsgrund aller Aussagen über die erkannte Wirklichkeit fungiert, sondern der erkannten Wirklichkeit selbst zugrunde liegt. Das bedeutet, dass letztlich auch die einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen, die sich mit den diversen Gegenstandsregionen der Wirklichkeit befassen, nicht nur in ein äußerliches Ordnungsschema eingeordnet werden dürfen, sondern durch ihre gemeinsame egologische Fundierung eine lebendige, organische Einheit bilden.
2.2
Der Baum mit der ichlichen Wurzel
In der Geschichte der Wissenschaftstheorie haben sich die unterschiedlichsten Modelle herausgebildet, um das Verhältnis der wissenschaftlichen Disziplinen untereinander zu beschreiben. Diese Ordnungsschemata sind dabei teils statischer, teils dynamischer Natur, je nachdem, ob sie mehr die logisch-systematische Stellung der Wissen(Hg.), Vernunftreligion und Offenbarungsglaube. Zur Erörterung einer seit Kant verschärften Problematik, Freiburg / Basel / Wien, Herder, 2015, 136–152. 136 Vgl. S. Grotz, »Zwei Sprachen und das Eine Wort. Zur Identität von Meister Eckharts Werk«, Vivarium 41 (2003), 47–83, hier 52–56.
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schaften untereinander oder die genetische Reihenfolge ihrer Aneignung durch das lernende Subjekt betonen. Der erstgenannte Aspekt überwiegt dabei in denjenigen Ansätzen, die Wissenschaft in erster Linie als ein in sich bestehendes, objektiv vorliegendes Korpus von Erkenntnissen verstehen, auf die sich das erkennende Subjekt primär in der Grundhaltung der theoretischen Kenntnisnahme bezieht. 137 Der zweite Aspekt kommt naturgemäß dort stärker ins Spiel, wo die Wissenschaften keinen losgelösten Sonderbereich der Wirklichkeit begründen, sondern als Teil eines Bildungsprozesses verstanden werden, in dessen Verlauf das erkennende Individuum eine existenzielle Transformation erfährt. 138 Darüber hinaus unterscheiden sich die wissenschaftstheoretischen Ordnungsschemata auch dahingehend, ob sie von einem bleibenden Pluralismus der Wissensbereiche und wissenschaftlichen Methoden ausgehen oder die Vielfalt der Disziplinen auf ein einziges Grundprinzip zurückführen bzw. es auf einer einzigen Fundamentalwissenschaft aufbauen lassen. Ist letzteres der Fall, nimmt die Ordnung der Wissenschaften die Form eines Baumes an, der sich aus einem einfachen Ursprung heraus immer weiter verzweigt und ausdifferenziert. Die innere Untergliederung dieses »Baumschemas« kann dabei rein logisch-begrifflicher Natur sein 139 oder aber einen lebendigen Zusammenhang bilden, in dem die unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen in organischer Weise auseinander erwachsen und in einem dynamischen Wechselverhältnis zueinander stehen. 140 Bei Eckhart ist die Frage nach dem möglichen Einheitsgrund der 137 Dies ist vor allem bei der aristotelischen Wissenschaftstheorie der Fall, die die unterschiedlichen Disziplinen nach ihren jeweiligen Gegenständen und Prinzipien einteilt und den theoretischen Wissenschaften die höchste und vornehmste Stellung zuweist (vgl. Aristoteles, Analytica posteriora I 1–4, 71 a 1–74 a 3; ebd. I 7, 75 a 38–75 b 20; ebd. I 13, 78 b 32–79 a 16). 138 Ein typisches Beispiel für diesen Ansatz ist das stoische System der Wissenschaftseinteilung, bei dem das Studium der Logik und Physik den Anfang eines Bildungsweges darstellt, der letztlich in der Ethik und der guten Lebensführung gipfelt (vgl. dazu Chrysippos, frgm. 42–43, in: Stoicorum veterum fragmenta [in 4 Bd., ed. J. von Arnim; im Folgenden zitiert als SVF], Stuttgart, Teubner, 1979, Bd. III, 16 f.). 139 Beispiele für eine solche Unterteilung, die ausschließlich auf der Methode der begrifflichen Dihärese beruht, sind etwa der »Baum des Porphyrios« und das darauf aufbauende Schema der Arbor scientiae von Raimundus Lullus. 140 Ein berühmtes Beispiel für ein solches organisch gefasstes Ordnungsschema der Wissenschaften findet sich bei Descartes (vgl. R. Descartes, Lettre-Préface des Principes de la Philosophie, AT IX/2, 14 f.).
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Wissenschaften deshalb von besonderem Interesse, weil mit dem zu seiner Zeit vorherrschenden Aristotelismus ein irreduzibler wissenschaftlicher Fächer- und Methodenpluralismus Einzug gehalten hat, der nicht mehr unter ein oberstes Prinzip oder eine Grundwissenschaft subsumierbar ist. Unter diesem Gesichtspunkt ist es umso bedeutungsvoller, dass Eckhart diese Vorgabe zwar sehr wohl ernst nimmt, sie aber dennoch auf charakteristische Weise abwandelt. Die Grundvoraussetzung dabei ist, dass die Prinzipien des Seins und des Erkennens letztlich dieselben sind, 141 und zwar dergestalt, dass zwischen dem Prinzip des Erkennens und der Gesamtheit der Wissenschaften dieselbe Art von generativer Beziehung zum Tragen kommt wie zwischen dem »überseienden«, rein geistigen Ursprung der Wirklichkeit und der Welt als ganzer. Eckhart überwindet folglich das zu seiner Zeit so brisante Problem der wechselseitigen Verhältnisbestimmung von Philosophie und Offenbarungstheologie, indem er das statische Nebeneinander der als Wissenschaften konstituierten Disziplinen auf ihren lebendigen Ursprung hin dynamisiert. In seinem Johanneskommentar heißt es: Evangelium contemplatur ens inquantum ens. […] Patet ergo […] quod ex eadem vena descendit veritas et doctrina theologiae, philosophiae naturalis, moralis, artis factibilium et speculabilium et etiam iuris positivi. Das Evangelium betrachtet das Seiende, insofern es Seiendes ist. […] Es erhellt also […], daß aus derselben Ader die Wahrheit und die Lehre der Theologie, die der Natur- und Moralphilosophie, die der praktischen und theoretischen Kunst und des positiven Rechts herkommt. 142
Es fällt auf, dass die Metaphysik oder Erste Philosophie in der Auflistung der einzelnen Disziplinen gar nicht mehr genannt wird. Hieraus könnte man zunächst mit Burkhard Mojsisch folgern, dass Eckhart Offenbarungstheologie und Metaphysik einfach miteinander identifiziert, so dass ihre Gegenstandsbereiche gar nicht mehr voneinander unterschieden werden können. 143 Gegen eine solche direkte Gleichsetzung spricht jedoch, dass Eckhart an anderer Stelle die scientia divina im Sinne der aristotelischen Metaphysikdefinition sehr wohl als einen Teil der Philosophie und nicht der Theologie beVgl. Eckhart, In Gen. II n. 52, LW I,2 365,8–10. Eckhart, In Ioh. n. 444, LW III 380,13–14; 381,4–6; Übers. ebd. 143 Vgl. B. Mojsisch, Meister Eckhart. Analogie – Univozität – Einheit, Hamburg, Meiner, 1983, 17. 141 142
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stimmt. 144 Auch wenn das Evangelium und die Metaphysik denselben Gegenstand haben (das ens inquantum ens), betrachten der Theologe und der Philosoph diesen doch auf unterschiedliche Weise. Die Offenbarungstheologie ist wesentlich auf den Text der Hl. Schrift verwiesen und hat die Aufgabe, die darin enthaltenen Wahrheiten metaphysischer, naturphilosophischer und ethischer Art freizulegen. 145 Sie umfasst also noch mehr wissenschaftliche Aspekte als die der Ersten Philosophie, ist im Gegenzug aber an den biblischen Text als ihren Ausgangspunkt gebunden. Die Metaphysik als solche, wie sie der Philosoph betreibt, kennt dagegen kein derartiges textuelles Apriori, sondern betrachtet alles, was ist, allein unter dem Gesichtspunkt von Materie und Form. Insofern gibt es zwischen den Gegenstandsbereichen von Offenbarungstheologie und Metaphysik gewiss bedeutsame Überschneidungen, aber keine einfache Identität. Die von Eckhart betriebene Schriftauslegung will den Buchstaben des biblischen Textes auf seinen verborgenen Vernunftgehalt hin durchsichtig machen, ihn aber keineswegs in seiner Positivität aufheben. Dagegen nimmt die Metaphysik ihren Gegenstand, das ens inquantum ens, nicht einfach als bestehend an, sondern übersteigt ihn auf die reine Dynamik des göttlichen esse hin, aus dem er hervorgeht. Diese Deutung legt sich deswegen nahe, weil Eckhart ausdrücklich betont, mit dem ens inquantum ens sei nicht einfach alles Seiende im allgemeinsten Sinne, also unabhängig von seiner Materialität oder Immaterialität, gemeint, sondern ausschließlich das, was seiner Natur nach im positiven, direkten Sinne unkörperlich ist. 146 Dies trifft aber nur auf die Sphäre des Intellekts zu, der in seinem Vollzugscharakter mit der akzidenslosen Prozessualität der göttlichen Selbsterkenntnis identisch ist. Damit bietet sich für die oben zitierte Passage aus Eckharts Johanneskommentar eine etwas andere Deutung an als die von Mojsisch vorgeschlagene: Insofern die Metaphysik, ebenso wie das Evangelium, das ens inquantum ens betrachtet, kann man sie in forVgl. Eckhart, In Exod. n. 207, LW II 541,8–9. Vgl. Eckhart, In Ioh. n. 2, LW III 4,4–6; ders., In Gen. II n. 4, LW I,1 454,6–10. 146 Evangelium contemplatur ens inquantum ens. Esse autem dicimus illa quae ipsa quidem natura incorporea sunt et immutabilis substantiae ratione vigentia (»Das Evangelium betrachtet das Seiende, insofern es Seiendes ist. Sein aber heißen wir das, was seiner Natur selbst nach unkörperlich, von unveränderlicher Substanz ist und seine Kraft in der Vernunft hat« [Eckhart, In Ioh. n. 444, LW III 380,13–381,1; Übers. ebd.]). 144 145
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malem Sinne mit der Theologie gleichsetzen, so dass ihre gesonderte Nennung in der Tat überflüssig wird. Insofern die Metaphysik – als egologisch orientierte Erste Philosophie – dieses ens inquantum ens jedoch auf seinen dynamischen Ursprung im göttlichen Intellekt zurückführt, kann sie ebenfalls nicht als eine wissenschaftliche Disziplin unter anderen genannt werden, sondern befindet sich vielmehr auf der Ebene der »Ader« (vena), aus der die gegenstandsbezogenen Einzelwissenschaften hervorgehen. Der Begriff der Ader ist bei Eckhart mehr als nur metaphorischer Natur; verweist er doch auf die fließende, quellende Dynamik des innertrinitarischen Lebens, in dem Gott Vater sich im Sohn als der absoluten Wahrheit selbst erkennt und dessen innerer Reichtum nach außen überbordet. Dabei kommt dem Vater als dem absoluten Prinzip, aus dem alles ausfließt, im eigentlichsten Sinne zu, die »Ader oder Wurzel« zu sein, und zwar nicht nur hinsichtlich des Seins, sondern auch in Bezug auf die Erkenntnis all dessen, was ist. 147 Nicht nur die Welt in ihrer Gesamtheit, sondern auch alle auf die Wirklichkeit bezogenen Einzelwissenschaften erfließen demnach aus der übersprudelnden Selbstreflexivität des göttlichen Ich. Dementsprechend muss die vom ens inquantum ens ausgehende Metaphysik ihren Selbstüberstieg zu einer egologisch verstandenen Ersten Philosophie vollziehen, die in einer performativen Selbstbesinnung das Entfaltungsgesetz des Ego sum qui sum als oberstes Prinzip aller Wirklichkeit wie aller Wissenschaft begreift. Die verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen erscheinen folglich als beschränkte, durch ein je eigenes subiectum und eigene Prinzipien charakterisierte Regionalwissenschaften innerhalb des objektiven Universalhorizonts des »Seienden als solchen«. Die auf das ens inquantum ens bezogene Metaphysik ist jedoch nicht schon die absolut erste und grundlegendste Wissenschaft, sondern ist dies nur mit Blick auf die unter dem Gesichtspunkt des Seins objektiv anvisier147 [D]er krefte volkomenheit liget an der obersten kraft, diu dâ heizet vernünfticheit, diu enkan niemer geruowen. Si enwil niht got, als er der heilige geist ist und als er der sun ist […] si wil in, als er vater ist […] si will in als er ein mark ist, von dem urspringet güete; […] si will in, als er ein wurzel ist, ein âder […], und dâ ist er aleine vater (»Die höchste Vollendung dieser Kräfte liegt in der obersten Kraft, die da Vernunft heißt; die kann niemals zur Ruhe kommen. Sie erstrebt Gott nicht, sofern er der Heilige Geist ist und (auch nicht), sofern er der Sohn ist […], sie will ihn, wie er Vater ist. […] Sie will ihn wie ein Mark, aus dem die Gutheit entspringt […], sie will ihn, wie er eine Wurzel ist, eine Ader […] und nur dort ist er Vater« [Eckhart, Pr. 26, DW II 31,2–4.7–8; 32,1–3; Übers. 643]).
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bare Wirklichkeit. Insofern für Eckhart so etwas wie »Sein« nur aus der Dynamik des reinen Denkens heraus begriffen werden kann, ist die Metaphysik im traditionell-aristotelischen Sinne lediglich die »Zweite Philosophie«, die auf die egologisch gefasste Erste Philosophie verwiesen bleibt. Letztere hat jedoch keine »Seinsregion« und damit kein subiectum im herkömmlichen Sinne mehr, sondern bezieht sich auf jene nichtseiende, konstitutiv-intentionale Dynamik, die es dem Ich erlaubt, sich überhaupt auf etwas von ihm Verschiedenes zu beziehen. Die von Eckhart vorgenommene Überblendung des Ego sum qui sum mit den innertrinitarischen Bezügen, die sich aus der göttlichen Selbsterkenntnis im Logos ergeben, führt dazu, dass jedes philosophische Reden über den Logos immer schon Ego-logie ist. Insofern dasselbe ego aber auch in jedem Menschen als Vernunftwesen lebendig ist, hat die in Eckharts Sinne als performativer Aufstieg vom ens qua ens zu dessen intelligiblem Ursprung betriebene Erste Philosophie immer zugleich auch den Charakter einer existenziellen Selbstbesinnung. 148 »Existenziell« ist hier nicht im Sinne des bloß faktischen Vorkommens der je eigenen empirischen Person im innerweltlichen Erfahrungszusammenhang gemeint, sondern im Sinne des »Ich« als jenes Durchbruchspunktes, durch den der Mensch sich seiner selbst als empirischer, innerweltlicher Person überhaupt erst bewusst werden kann und der zugleich doch als radikal spontaner, intellektueller Ursprung aus dem Naturzusammenhang heraus-steht (ek-sistere). Wie der Vollzug des je eigenen Lebens, so ist bei Eckhart auch die Erste Philosophie, die sich auf die Auslegung der konstitutiven Beziehung zwischen dem Seienden als solchem und seinem absoluten ichhaften Ursprung konzentriert, kein festes System, sondern ein beständiges Tun, das auf den, der es vollzieht, zurückwirkt und ihn in bleibender Weise verändert. 149
148 Vgl. dazu T. Kobusch, »Mystik als Metaphysik des moralischen Seins. Bemerkungen zur spekulativen Ethik Meister Eckharts«, in: K. Ruh (Hg.), Abendländische Mystik im Mittelalter, Stuttgart, Metzlersche Verlagsbuchhandlung, 1986, 49–62. 149 Vgl. Eckhart, Sermo die b. Aug. n. 6, LW V 94,11–95,2.
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2.3
Der Erscheinungscharakter des welthaften Seins
Eckharts intellekttheoretisch-egologische Neuausrichtung der Ersten Philosophie hat zur Folge, dass in ihrem Bereich auch das Verständnis von »Ursächlichkeit« anders gefasst werden muss als in der aristotelischen Metaphysik. Der Substanzbegriff, der dem Verständnis von »Sein« in Aristoteles’ Metaphysik zugrunde liegt, beruht auf vier verschiedenen Ursachenformen, die das jeweilige Seiende in seiner immanenten Struktur bzw. in seiner prozessualen Entwicklung und seiner kausalen Verflochtenheit mit anderen Seienden betreffen. Während die Form- und die Materialursache innerhalb der einzelnen Substanz zum Tragen kommen, betrachten die Wirk- und die Zielursächlichkeit das Woher und Woraufhin seiner Entstehung und Veränderung, durch die es in horizontaler Weise mit anderen Substanzen verbunden ist. Dadurch, dass Wirk- und Zielursache in aller Regel außerhalb des jeweiligen Dinges in seinem momentanen Sosein liegen, betonen sie sein Eingebundensein in einen homogenen Naturzusammenhang, der das Von-Woher des einzelnen Dinges in seiner hylemorphischen Struktur, aber nicht das Von-Woher der Form als solcher untersucht. 150 Die vier Ursachenformen kommen daher gleichermaßen in Aristoteles’ Physik wie in seiner Metaphysik zum Tragen; der einzige Unterschied besteht darin, dass der von der letztgenannten Wissenschaft erforschte Wirklichkeitsbereich auch immaterielle, rein geistige Substanzen und deren Prinzipien umfasst. Dennoch fällt die Sphäre des beweglichen, veränderlichen Seienden nicht aus dem Zuständigkeitsbereich der Metaphysik heraus, sondern wird von dieser lediglich unter einem anderen Blickwinkel betrachtet als in der Physik, nämlich unter dem Gesichtspunkt der teleologischen Bezogenheit aller einzelnen innerkosmischen Bewegungen und Veränderungen auf den Ersten unbewegten Beweger. 151 150 »Denn wenn man auch diese, die Form, hervorbrächte, so müsste man sie aus einem anderen hervorbringen, denn dies war vorausgesetzt. […] Wenn man nun auch dies selbst wieder macht, so müsste man es offenbar auf dieselbe Weise machen, und es würde so das Werden ins Unendliche gehen. Es ist also offenbar, dass die Form, oder wie man sonst die Gestaltung am sinnlich Wahrnehmbaren nennen soll, nicht wird, und dass es keine Entstehung derselben gibt, und dass ebenso wenig das Sosein entsteht; denn dies, die Form, ist vielmehr dasjenige, was in einem anderen wird, durch Kunst oder durch Natur oder durch das Vermögen des Hervorbringens« (Aristoteles, Metaphysik VII 8, 1033 a 34–1033 b 1.3–8). 151 Vgl. Aristoteles, Metaphysik XII 6, 1071 b 3–1072 a 18.
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Der phänomenologische Charakter von Eckharts Erster Philosophie
In Eckharts Ansatz fällt die Unterscheidungslinie zwischen Physik und Metaphysik hingegen mit der Grenze zwischen den äußeren und den inneren Ursachen zusammen. Das bedeutet, dass der Geltungsbereich der Wirk- und Zielursächlichkeit auf die Physik beschränkt ist, während die Metaphysik die Aufgabe hat, die Wirklichkeit ausschließlich mit Blick auf die beiden anderen, immanenten Ursachenformen, nämlich Materie und Form, zu betrachten. Der Metaphysiker ist folglich dazu verpflichtet, die Dinge nicht in ihrem geschaffenen, veränderlichen Sein zu untersuchen – diese Aufgabe obliegt allein dem Naturphilosophen –, 152 sondern diesen Aspekt einzuklammern und sich nur auf ihre immanenten Wesensstrukturen zu konzentrieren. 153 Der Wegfall der beiden äußeren Kausalitätsarten könnte zunächst den Eindruck erwecken, dass Eckharts Metaphysik ein ausgesprochen statisches Bild von der Wirklichkeit entwirft. Überraschenderweise ist dies jedoch nicht der Fall; vielmehr ist es gerade die als überzeitliche Universalstruktur verstandene Form, die es ihm erlaubt, sein Metaphysikkonzept durchgehend zu dynamisieren. Der grundlegende Unterschied im Vergleich zum aristotelischen Modell besteht darin, dass die Form bei Eckhart sehr wohl ein VonWoher hat, wenn auch nicht in einem äußerlichen, wirkursächlichen Sinn. Mit Blick auf die materiegebundenen Natursubstanzen wird bei Aristoteles die konkrete Form – d. h. die als Lebensprinzip fungierende Seele – im Prozess der Entstehung des jeweiligen Lebewesens nach und nach manifest, indem sie die Materie durchdringt und immer weiter ausdifferenziert. In diesem Prozess der Eduktion fungiert die Seele als leitendes, immanentes Prinzip des ganzen Prozesses, 154 ohne dass ihre formgebende Bestimmtheit als solche auf ihren Möglichkeitsgrund hin befragt würde. Dass die Wirklichkeit aus begrenzten, Vgl. Eckhart, In Ioh. n. 443, LW III 380,7–10. Adhuc autem ipsa rerum ratio sic est principium, ut causam extra non habeat nec respiciat, sed solam rerum essentiam intra respicit. Propter quod metaphysicus rerum entitatem considerans nihil demonstrat per causas extra, puta efficientem et finalem. Hoc est ergo principium, ratio scilicet idealis, in quo deus cuncta creavit, nihil extra respiciens (»Ferner aber ist die Idee der Dinge in der Weise Ursprung, daß sie keine äußere Ursache hat oder auf sie hinblickt; vielmehr blickt sie lediglich auf das Wesen der Dinge, das in ihr ist. Deswegen beweist der Metaphysiker, der die Seinsheit der Dinge betrachtet, nichts durch äußere Ursachen, nämlich durch die Wirk- und Zweckursache. Das also ist der Ursprung, nämlich die Idee, worin Gott alles schuf, ohne auf etwas Äußeres hinzublicken« [Eckhart, In Gen. I n. 4, LW I,2 63,5–9; Übers. ebd.]). 154 Vgl. Aristoteles, De anima II 1–2, 412 a 3–414 a 28; ders., De generatione animalium II 3, 736 b 8–29. 152 153
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Das Ich ist nicht von dieser Welt
endlichen und von einer jeweils spezifischen Form bestimmten Dingen besteht, bedarf für Aristoteles keiner weiteren Erklärung oder metaphysischen Begründung, sondern wird als selbstverständlich gegeben angenommen. 155 Anders hingegen bei Meister Eckhart. Vor dem Hintergrund des biblischen Schöpfungsgedankens ist die Existenz endlicher, formbestimmter Lebewesen und Dinge keine Selbstverständlichkeit, sondern muss auf ihren metaphysischen Ursprung hin befragt werden. Die Wesensstrukturen der Dinge können daher nicht in isolierter Form betrachtet werden, sondern weisen über sich hinaus auf ihr erstes Prinzip, den göttlichen Intellekt. 156 Innerhalb von Eckharts intellekttheoretischer Deutung des göttlichen Wesens läuft diese Ursprungsbetrachtung letztlich auf die Frage hinaus, wie sich die begrenzten, bestimmten Formen der geschaffenen Dinge zum absolut bestimmungslosen noetischen Nichts des göttlichen Intellekts verhalten. Eckhart löst dieses Problem dahingehend, dass er in Gott nicht die einzelnen Formen der Dinge selbst, wohl aber deren Grund (ratio) angelegt sieht. Die Begrenztheit der einzelnen Formen erklärt sich also nicht aus sich selbst heraus, sondern muss als Ergebnis eines Selbstbeschränkungsprozesses des ersten Prinzips verstanden werden, das selbst über alle konkreten Bestimmungen erhaben und zugleich doch Ursprung aller möglichen Bestimmtheit ist. In seinem Exoduskommentar schreibt Eckhart: In deo non sunt res ipsae aut formae rerum, sed rerum et formarum rationes. Deus enim est verbum, id est logos, quod est ratio. […] Nihil autem tam simile pariter et dissimile sicut ratio rei et res ipsa. In Gott sind nicht die Dinge selbst oder die Formen der Dinge, sondern die Ideen der Dinge und der Formen […]. Nichts aber ist so ähnlich und unähnlich zugleich wie die Idee eines Dinges und das Ding selbst. 157
Da das Sein des einzelnen Seienden allein durch seine Form bestimmt wird, 158 die ihrerseits in einem überzeitlichen Prozess negierender Vgl. Aristoteles, Physik II 1, 192 b 8–193 b 21. Vgl. Eckhart, In Ioh. n. 568, LW III 495,8–12. 157 Eckhart, In Exod. n. 120, LW II 113,7–10; Übers. ebd. 158 Uniuscuiusque enim rei universaliter principium et radix est ratio ipsius rei. […] Haec enim ratio rei est »quod quid est« et omnium rerum proprietatum »propter quid est« (»Ganz allgemein nämlich ist der Ursprung und die Wurzel eines jeden Dinges seine Idee. […] Diese Idee ist nämlich das Was des Dinges und das Warum aller Eigenschaften des Dinges« [Eckhart, In Gen. I n. 3, LW I,2 61,16; 63,2–3; Übers. ebd.]). 155 156
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Der phänomenologische Charakter von Eckharts Erster Philosophie
Selbstbeschränkung aus dem absoluten Intellekt hervorgeht, ist die primäre für die einzelnen Dinge bestimmende Beziehung diejenige, die sie in vertikaler Richtung mit ihrem Ursprung verbindet. Erst in zweiter Linie betrachtet die Metaphysik die Relation zwischen dem Prinzip und dem daraus Entsprungenen in horizontaler Richtung, d. h. hinsichtlich der Hervorbringung von Seiendem durch anderes Seiendes. Doch auch mit Blick auf diese innerweltlichen Erzeugungsprozesse konzentriert sich die eckhartsche Metaphysik auf den Aspekt der Weitergabe der Form, die als solche überzeitlich ist und dem Ursprung immanent bleibt, und nicht auf die äußeren Wirkoder Zielursachen, die am Entstehungsprozess beteiligt sind, der entstandenen Sache selbst aber äußerlich bleiben. 159 In der Inhaltsübersicht zu seinem zweiten Genesiskommentar legt Eckhart dar: Secundo habes, quod tamen ibidem praemittitur, quod effectus sive productum universaliter est verbum sui producentis. Item secundo quod ipsum productum est verbum, quo producens dicit se totum id quod est et omnia quae in ipso sunt, inquantum producens est. […] His praemissis habes tertio principaliter quod in producente quolibet semper est et praeest similitudo rei productae, ad quam et per quam res producitur. Item secundo quod haec similitudo proles est et verbum producentis. Item tertio quod haec similitudo est principium producti secundum omne sui. Item quarto ut haec similitudo ut sic est ingenita, huti productum autem est similitudo eadem quidem secundum id quod est, non tamen ingenita, sed genita. Zweitens findet man, – das wird aber dort vorausgeschickt – daß allgemein eine Wirkung oder etwas Hervorgebrachtes das Wort seines HervorbrinRursus forma ipsa ex sui proprietate se totam communicat et est principium sive causa totius esse in producto. Et propter hoc iterum in formali emanatione producens et productus sunt unum in substantia simpliciter, in esse, vivere et intelligere et operari (»Wiederum: die Form selbst teilt sich auf Grund ihrer Eigentümlichkeit ganz mit und ist Ursprung oder Ursache des ganzen Seins im Hervorgebrachten. Und deswegen sind auch bei dem Ausfließen der Form nach das Hervorbringende und das Hervorgebrachte schlechthin eins im Wesen, im Sein, im Leben, im Erkennen und Wirken« [Eckhart, In Ioh. n. 343, LW III 291,14–292,1; Übers. ebd.]). 159 Forma enim et materia causae sunt rei intrinsecae, agens vero et finis, quae sub metaphora patris et matris accipiuntur, causae sunt extrinsecae rerum. Propter quod primus philosophus, ipsum quod est, ut est ens, considerans, nec efficiens nec finem considerat, utpote extra ens et id quod est (»Denn Form und Materie sind die innern, Wirkendes und Ziel jedoch die äußern Ursachen der Dinge, und diese werden nun unter der Metapher von Vater und Mutter verstanden. Wenn daher der Metaphysiker das Seiende als Seiendes betrachtet, fragt er nicht nach dem Wirkenden und dem Ziel, weil diese außerhalb des Seienden und des Wesens [der Dinge] liegen« [Eckhart, In Gen. II n. 121, LW I,2 392,23–26; Übers. ebd.]).
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genden ist. Ferner zweitens: das Hervorgebrachte ist das Wort, durch welches sich das Hervorbringende seinem ganzen Wesen nach und alles, was in ihm als Hervorbringendem ist, ausspricht. […] Nach diesen Vorbemerkungen findet man als dritten Hauptpunkt, daß in jeglichem Hervorbringenden immer – und zwar vorher – ein Vorbild des hervorgebrachten Dinges ist, nach welchem und durch welches das Ding hervorgebracht wird. Ferner zweitens: dieses Vorbild ist Sproß und Wort des Hervorbringenden. Ferner drittens: dieses Vorbild ist Prinzip des Hervorgebrachten nach allem, was ihm eigen ist. Ferner viertens: dieses Vorbild ist als solches ungezeugt, als etwas Hervorgebrachtes aber ist das Vorbild zwar seinem Wesen nach dasselbe, aber nicht ungezeugt, sondern gezeugt. 160
Interessanterweise beschränkt Eckhart die intentionale Immanenz der Form im hervorbringenden Prinzip nicht auf den menschlichen Intellekt, sondern weitet sie auf alles Hervorbringende, d. h. die ganze belebte Natur aus. Auch vernunftlose Wesen, die nicht »ich« sagen können, sind doch durch die auszeugende Sichtbarmachung des ihnen innewohnenden Formprinzips einer Selbstmanifestation fähig, die einen worthaften und somit intelligiblen Charakter hat. Da das, was das Sosein der einzelnen Sache ausmacht, deren Form ist, stellt sich das innerweltliche Seiende vom Standpunkt der eckhartschen Ersten Philosophie nicht in erster Linie als naturkausaler Zusammenhang dar, sondern als Verknüpfung intelligibler Bestimmungen, die als solche weder entstehen noch vergehen können, sondern ein lückenloses Netzwerk sich manifestierender Wesensstrukturen bilden. Für Eckharts Wirklichkeitsverständnis bedeutet das zweierlei: Zum einen verweist für ihn die empirisch erfahrbare Welt nicht auf eine wie immer geartete »Transzendenz« im traditionell-metaphysischen Sinne, also auf eine außerhalb des Weltganzen gelegene Instanz, auf die das Sein der Welt in kausaler Hinsicht zurückgeführt werden müsste. Vielmehr ist die Wirklichkeit in ihrem reinen Erscheinen mit jener Sphäre des reinen Seins identisch, außerhalb derer es nichts geben kann. Im Allgemeinen Prolog zum Opus tripartitum erläutert Eckhart: Si deus non est, nihil est. Consequens est falsum. Et ergo antecedens, scilicet deum non esse. Consequentia probatur sic: si esse non est, nullum ens est sive nihil est […]. Sed esse est deus, ut ait propositio. Igitur si deus non est, nihil est. Consequentis falsitatem probat natura, sensus et ratio.
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Eckhart, In Gen. II, Tabula auct., LW I,2 339,20–23; 340,4–9; Übers. ebd.
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Der phänomenologische Charakter von Eckharts Erster Philosophie
Wenn Gott nicht ist, dann ist nichts. Der Nachsatz ist falsch. Also auch der Vordersatz, nämlich daß Gott nicht ist. Die Folgerung wird so bewiesen: wenn das Sein nicht ist, ist nichts Seiendes oder nichts. […] Aber das Sein ist Gott, wie die These sagt. Wenn also Gott nicht ist, ist nichts. Daß der Nachsatz falsch ist, beweisen Natur, Sinne und Vernunft. 161
Dies ist auch der Grund, warum man nirgendwo bei Eckhart einen »Gottesbeweis« im traditionellen Sinne findet. In dem Maße, wie für ihn der Grundsatz Esse est deus – »Sein ist Gott« – gilt, würde eine Leugnung der Existenz Gottes darauf hinauslaufen, leugnen zu wollen, dass es überhaupt etwas gibt. Da dies offenkundig absurd ist, folgt daraus, dass mit der Anerkennung des erscheinungshaften Gegebenseins der Welt auch schon die Wirklichkeit Gottes notwendigerweise mit anerkannt ist, wenn auch nur in impliziter Form. Letztlich handelt es sich dabei jedoch nicht um einen kausalen Rückschluss vom »kreatürlichen Sein« der geschaffenen Welt zum »reinen Sein« eines welttranszendenten Schöpfers, sondern vielmehr um die Anerkenntnis einer unmittelbaren Evidenz, deren Gültigkeit nicht davon abhängig ist, ob man sie in ausdrücklicher Form mit Gott in Verbindung bringt oder nicht. In dem Moment, wo die Welt – vornehmlich die naturhafte und sinnlich wahrnehmbare Wirklichkeit – als solche bewusst wird, ist damit auch schon die Unmöglichkeit anerkannt, ihr erscheinendes Sein als solches zu leugnen. Es handelt sich dabei um eine unmittelbar-intuitiv gegebene Einsicht, die nicht das Ergebnis eines diskursiven Gedankengangs ist, sondern jeder diskursiven Begründung und Argumentation vorausgeht. Einzelnes Seiendes kann werden und vergehen, sich als trügerisch herausstellen usw., aber nicht das welthafte Sein als solches. Allerdings macht Eckhart ebenso unmissverständlich deutlich, dass sich seine Deutungsperspektive auf denjenigen Aspekt der Wirklichkeit bezieht, der unabhängig vom realen Sein oder Nichtsein der Dinge betrachtet werden kann, nämlich ihre ratio bzw. idea. In seinem Johanneskommentar führt er aus: Decimo notandum quod proprium intellectus est obiectum suum, intelligibile scilicet, accipere non in se, ut totum quoddam, perfectum et bonum est, 161 Eckhart, Prol. gen. n. 13, LW I,2 30,10–13; Übers. ebd.; vgl. dazu auch R. Vinco, »Meister Eckhart’s Non-standard Natural Theology«, Neue Zeitschrift für Systematische Theologie 58,4 (2016), 473–488, vor allem 484–488, sowie ders., Elemente einer Evidenzmetaphysik. Eine geschichtsphilosophische Studie (Reihe: Collegium metaphysicum), Tübingen, Mohr Siebeck, 2021.
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sed accipere in suis principiis. […] Duodecimo notandum quod arca in mente et in arte ipsa nec arca est nec facta est, sed est ars ipsa, vita est, conceptus vitalis arteficis est. […] Rursus quarto decimo: verbum, ratio et ars ipsa, non minus lucet in nocte quam in die, non minus interiora latentia quam exteriora patentia illustrat. Zehntens ist zu bemerken: es ist dem Intellekt eigen, seinen Gegenstand, das geistig Erfaßbare, nicht in seinem An-sich zu nehmen, insofern er ein Ganzes, Vollkommenes und Gutes ist, sondern ihn in seinen Ursprüngen zu nehmen. […] Zwölftens ist zu bemerken: die Truhe im Geist oder im künstlerischen Vermögen selbst ist weder eine Truhe, noch ist sie gemacht, sie ist vielmehr die Kunst selbst, sie ist Leben, sie ist der lebendige Entwurf des Künstlers. […] Wiederum vierzehntens: das Wort, die Idee und die Kunst selbst, leuchtet nicht weniger bei Nacht als am Tage, erleuchtet nicht weniger das im Innern Verborgene als das nach außen Offenliegende. 162
Der Unterschied zwischen dem »im Inneren Verborgenen« und dem »nach außen Offenliegenden« entspricht der Unterscheidung zwischen dem ens in anima (Gedachtsein, Erkanntsein, intentionales Gegebensein im weitesten Sinne) und dem ens extra animam (naturhaftes, »wirklich existierendes« Sein). Eckhart betont jedoch, dass die intelligible Struktur der Dinge von diesem Unterschied nicht berührt wird, sondern dieselbe bleibt, ganz gleich, ob es sich um »nur gedachte« oder um außermentale Gegenstände handelt. Die von ihm gewählte Perspektive, die allein auf die ratio rerum abzielt, bezweifelt nicht etwa die reale Existenz der Außenwelt, sondern klammert die Frage nach ihrem Sein oder Nichtsein ein, weil sie für Eckharts Untersuchungsabsicht ohne Belang ist. Dadurch verschwindet der Unterschied zwischen »Innen« und »Außen« im Sinne einer realen Abgrenzung zweier verschiedener Wirklichkeitsbereiche, und es bleibt nichts anderes mehr als der unüberbietbar universale Raum, der sich zwischen dem Ich und der Gesamtheit seiner intentionalen Gegenstände aufspannt. Die Frage nach einem wirkursächlich verstandenen Woher des Seins der Welt wird dadurch sinnlos, nicht aber die Frage nach dem Woher der intelligiblen Wesensstrukturen, die den innerweltlich erscheinenden Dingen eigen sind. Diese Form der Ursprunghaftigkeit ist aber nicht mehr im Sinne einer äußerlichen Kausalitätsform zu verstehen, sondern als eine permanente, der Welterfahrung immanente Erzeugung jener Strukturen, die die absolute Bestimmungslosigkeit des reinen Seins auf »dieses oder jenes Seiende« hin einschränken. 162
Eckhart, In Ioh. nn. 9–11, LW III 10,1–3.8–9; 11,1–2; Übers. ebd. (modifiziert).
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Der phänomenologische Charakter von Eckharts Erster Philosophie
Im Zusammenhang mit seiner Auslegung von Joh 1,5 (»Das Licht leuchtet in der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht erfasst«) betont Eckhart, dass die Phänomenalität der Dinge und ihre daraus resultierende Erkennbarkeit gänzlich auf ihren intelligiblen Strukturen beruhen, und führt diesbezüglich aus: Adhuc autem melius notandum quod in rebus creatis nihil lucet praeter ipsarum rationes. ›Ratio enim rei, quam nomen significat, est diffinitio‹, ut ait philosophus. Diffinitio autem est medium demonstrationis, aut potius est tota demonstratio faciens scire. Constat ergo quod in rebus creatis nihil lucet praeter solam rerum ipsarum rationem. Zudem ist es aber noch richtiger zu sagen, daß in den geschaffenen Dingen nichts leuchtet als ihre Ideen. »Denn die Idee eines Dinges, welche der Name bezeichnet, ist seine Begriffsbestimmung«, wie der Philosoph sagt. Die Begriffsbestimmung aber ist das Beweismittel oder vielmehr der ganze Beweis, der Wissen erzeugt. Also steht fest, daß in den geschaffenen Dingen nichts leuchtet außer ihrer Idee allein. 163
Da das, was das Sein der Dinge begründet, ihre intelligible Wesensstruktur ist und diese wiederum in den Dingen ausleuchtet und »scheint«, kann man auf Eckharts Wirklichkeitsdeutung mit Fug und Recht das phänomenologische Prinzip »So viel Schein, so viel Sein« 164 anwenden. Zugleich bedeutet dies aber auch, dass in der Wahrnehmung der einzelnen Dinge immer schon mehr gesehen wird als ihr individuell-faktisches »Dies und das«, nämlich ihre universale Wesensstruktur mitsamt den sich daraus ergebenden apriorischen Wahrheiten. Das bedeutet, dass intellektuelle Erkenntnis für Eckhart primär keinen diskursiven, sondern einen unmittelbar-intuitiven Charakter hat, sofern der Mensch die Dinge nicht in ihrer empirischen Vereinzelung, sondern unter dem Gesichtspunkt der ihnen innewohnenden intelligiblen Strukturen betrachtet.
163 164
Eckhart, In Ioh. n. 11, LW III 11,6–10; Übers. ebd. E. Husserl, Cartesianische Meditationen (Hua I), 133.
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Das Ich ist nicht von dieser Welt
2.4
Eckharts Methode der »Wesensschau« und die zwei Formen der Vernunft
Generell zeichnet sich Eckharts Philosophie durch eine Höherbewertung des Universalen gegenüber dem Individuellen aus. Dies gilt in besonderer Weise für die Transzendentalien (ens, unum, verum, bonum), die, wie er ausdrücklich betont, nicht nachträglich in abstraktiver Weise von den einzelnen seienden, einen, wahren und guten Dingen gewonnen werden, sondern diesen vorausgehen und sie zu dem machen, was sie sind. 165 Die individuierende Vereinzelung zu »diesem und jenem Seienden, Einen, Wahren und Guten« führt dabei nicht etwa zu einer inhaltlichen Bereicherung dessen, was die transzendentalen Grundbegriffe meinen, sondern besteht lediglich in einer partikularisierenden Beschränkung ihres unbestimmt-unendlichen Sachgehaltes. 166 Erstaunlicherweise überträgt Eckhart diesen Primat der transkategorialen Allgemeinbegriffe gegenüber ihren einzelnen Trägern aber auch auf das Verhältnis zwischen kategorialen Universalbegriffen und ihren individuellen Verwirklichungen. So ist etwa eine universale Qualität wie »die Weiße« (albedo) der Ursprung des Weiß-Seins (esse album) eines konkreten Gegenstandes, während er sein Ausgedehntsein (quantum) allein der Quantität als solcher (quantitas) verdankt. 167 Auch im Bereich der empirischen, durch kategoriale Bestimmungen beschreibbaren Gegenstände sind die einzelnen, individuellen Eigenschaften demnach nicht aus sich selbst heraus verstehbar, sondern verweisen stets auf ihre universalen Ursprünge, die zwar auf jeweils eine bestimmte Kategorie eingeschränkt, aber in ihrer Universalität nicht vergänglich sind. Werden und vergehen kann jeweils nur dieser oder jene weiße oder schwarze Gegenstand, aber nicht »die Weiße« oder »die Schwärze« als solche. Die Verwirklichung dieser Qualitäten in einem konkreten, aus Materie und Form zusammengesetzten Gegenstand lässt das, was sie selbst sind, unverändert. 168 Was in einem konkreten weißen Gegenstand Vgl. Eckhart, Prol. gen. n. 8, LW I,1 152,8–153,4; ders., Prol. op. prop. nn. 2–3, LW I,1 166,6–167,8. 166 Vgl. Eckhart, Prol. op. prop. n. 15, LW I,1 176,3–7. 167 Vgl. Eckhart, Prol. op. prop. n. 23, LW I,1 179,7–9. 168 Rursus corpus idem se toto est aliquale sola qualitate, puta album albedine, nigrum nigredine, et sic de aliis. Et in hoc nihil aliorum, puta materia, forma, quantitas et cetera huiusmodi nihil prorsus adiciunt seu afferunt vel augent qualitatis (»Wiederum ist derselbe Körper als ganzer allein durch die Qualität so und so beschaffen, ist 165
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Der phänomenologische Charakter von Eckharts Erster Philosophie
gesehen wird, ist somit nie nur diese oder jene raumzeitlich gegebene sinnliche Qualität, sondern zugleich auch deren kategoriales Universale, das nicht mehr den Sinnen, sondern nur der Vernunfterkenntnis zugänglich ist. 169 Genaugenommen muss man hinsichtlich der Vernunft zwei Aspekte unterscheiden, nämlich zum einen die niedere Vernunft (ratio inferior), die zwar zu begrifflich-universaler Erkenntnis fähig ist, diese jedoch nur aposteriorisch im Ausgang von den sinnlich wahrnehmbaren Dingen gewinnen und diskursiv artikulieren kann, und zum anderen die höhere Vernunft (ratio superior), die anlässlich der Begegnung mit empirischen Einzeldingen die ihnen innewohnenden intelligiblen Universalstrukturen in intuitiver Unmittelbarkeit zu erschauen vermag. 170 Diese Unterteilung kommt dem sehr nahe, was man in der neuzeitlichen, kantianisch geprägten Philosophie mit der Unterscheidung zwischen Verstand und Vernunft bezeichnet: Ersterer ist das Vermögen zur kategorialen Erkenntnis und diskursiven Urteilsbildung hinsichtlich der bedingten, empirischen Wirklichkeit; letztere ist das Vermögen der Prinzipien, dessen Streben nach dem Unbedingten, den Ideen, keine dingkonstitutive, sondern nur noch eine regulative Funktion innehat. 171 Bei Eckhart bleiben die beiden Dimensionen der menschlichen Vernunft aber nicht unverbunden nebeneinander stehen und nach ihren jeweiligen Erkenntnisgebieten getrennt. Vielmehr sieht er sie in einem dynamischen Verhältnis zueinander, und zwar sowohl mit Blick auf ihren Ursprung als auch mit Blick auf ihr richtig geordnetes Zusammenwirken. Die niedere Vernunft bzw. der diskursive Verstand (ratio inferior), den Eckhart im Mittelhochdeutschen als verstantnisse bzw. bekantnisse bezeichnet, ist nicht einfach eine statisch vorgegebene Anlage des Menschen, sondern geht aus der höheren Vernunft (ratio superior / vernünfticheit) hervor, die der unwandelbaren Wahrheit zugekehrt ist. 172 Aus dieser These eines Ursprungszusammenhangs zum Beispiel weiß durch die Weiße, schwarz durch die Schwärze und so weiter. Auch hier fügt keines der anderen [Prinzipien], weder die Materie noch die Form noch die Quantität noch anderes Derartiges auch nur irgend etwas an Qualität hinzu, trägt nichts zu ihr bei und vermehrt es sie« [Eckhart, Prol. op. prop. n. 23, LW I,1 179,14– 180,3; Übers. ebd.]). 169 Vgl. Eckhart, In Gen. II n. 80, LW I,1 542,6–10. 170 Vgl. Eckhart, In Gen. II n. 129, LW I,1 593,12–594,9. 171 Vgl. I. Kant, KrV, A 547 / B 575. 172 Vgl. Eckhart, Pr. 37, DW I 219,8–10; ders., Pr. 73, DW III 261,4–12.
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Das Ich ist nicht von dieser Welt
zwischen höherer und niederer Vernunft folgt zugleich auch, dass die diskursive Erkenntnis nicht das absolute Andere der intuitiven Erkenntnis sein kann, sondern aus deren Selbstentäußerung ins Medium der Zeitlichkeit resultiert. Ohne diese Verzeitlichung und Verendlichung könnte der Mensch überhaupt keine sinnlich-empirische Wirklichkeit erkennen. Allerdings soll die diskursive, dem Innerweltlichen zugewandte Verstandeserkenntnis auch nicht einfach nur in der Erkenntnis des Bedingten aufgehen, da sie auf diese Weise Gefahr liefe, sich darin zu verlieren und auf diese Weise ihr eigenes Wesen zu verkennen. Vielmehr soll sie sich ihrem Ursprung, der höheren, intuitiven Vernunft, zuwenden und sich von dieser überformen lassen. 173 Das bedeutet keineswegs, dass der Mensch aller Verstandeserkenntnis abschwören und sich nur noch dem Überzeitlichen als solchem widmen sollte. Wohl aber gewinnt er nur in der Hinwendung auf die höhere Vernunft eine Einsicht in die apriorischen Universalstrukturen, die auch seine diskursive Erkenntnis allererst möglich machen. So gesehen, geht es auch Eckhart darum, »den Verstand zur Vernunft zu bringen«, 174 d. h. seine logisch-synthetische Funktion, die er hinsichtlich der endlichen Wirklichkeit ausübt, auf ihren Einheitsgrund, das prädiskursive Bei-sich-Sein der höheren Vernunft, durchsichtig zu machen und dadurch zu dynamisieren. Das Ziel dabei ist nicht, die sinnliche Erfahrung abzustoßen, sondern vielmehr, ihre Erkenntnisleistung durch Rückgang in ihren konstitutiven Ursprung aufzuhellen. Dies geschieht in einem zweifach gestuften Schritt, indem die bloße Sinnlichkeit zunächst durch die niedere Vernunft – also das diskursiv-kategoriale Erkenntnisvermögen – überformt wird und die niedere Vernunft sich ihrerseits an der höheren, überempirischen Vernunft ausrichtet. Die Tätigkeit der höheren Vernunft erschöpft sich aber nicht darin, lediglich das Zusammenspiel von Sinnlichkeit (operatio animalis) und Verstand (operatio intellectualis) zu ermöglichen, sondern ist darüber hinaus noch einer dritten Tätigkeit fähig, die sie in einen unmittelbaren Vollzugszusammenhang mit Gott als der absoluten, ursprunghaften Vernunft bringt (operatio divina):
Vgl. Eckhart, In Gen. II n. 140, LW I,2 401,23–27. Vgl. das weiter oben in Abschnitt I.2 erwähnte Zitat aus Husserls Vorlesung Die Idee der Phänomenologie (Hua II), 62.
173 174
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Der phänomenologische Charakter von Eckharts Erster Philosophie
Et »anima nobilis« vocetur ratio superior, ex qua profluit »operatio animalis«, quantum ad sensitivum, et »operatio intellectualis« propria rationali per essentiam »et operatio divina«, quam a deo immediate supra se ipsam accipit et imbibit transformata. Setzen wir für »edle Seele« obere Vernunft, so fließt aus ihr die dem Sinnenvermögen gemäße »sinnliche Tätigkeit«, sodann die »vernünftige Tätigkeit«, die dem wesenhaft vernünftigen Vermögen eigen ist, und (endlich) die »göttliche Tätigkeit«, die sie unmittelbar von Gott empfängt und in sich aufnimmt, wenn sie über sich selbst hinaus verwandelt ist. 175
Die obere Vernunft ist demnach zum einen der Ursprung der auf die Welt gerichteten Erkenntnisakte sinnlicher wie verstandesmäßig-kategorialer Art. Zum anderen ist sie aber auch fähig, sich selbst zu überschreiten, so dass sie ihr eigentliches Wesen nicht von ihrer weltzugewandten Erkenntnisleistung ableitet, sondern von ihrer unmittelbaren Ursprungsbeziehung mit dem absoluten Bewusstsein Gottes. Gleichwohl spricht Eckhart hier nicht primär von unterschiedlichen »Vermögen«, sondern davon, dass die höhere Vernunft selbst der Ursprung der Tätigkeiten (operationes) ist, die die Seele im Bereich der Sinnlichkeit und des diskursiven Verstandes ausführt. Die ratio superior ist, so gesehen, nicht »etwas anderes« als die Sinnlichkeit und die ratio inferior, sondern befindet sich mit diesen immer schon in einer Funktionseinheit, die meistens unthematisch bleibt, aber durch den selbsttransformierenden Rückgang der höheren Vernunft in ihren absoluten Ursprung offengelegt werden kann. Bleibt die höhere Vernunft hingegen durch ihre sinnlichen Erkenntnisinhalte befangen und versteht sich von diesen anstatt von ihrer eigenen Ursprunghaftigkeit her, verkennt sie ihr eigentliches Sein und bleibt in einem entfremdeten Selbstbezug stecken. 176 Eckhart legt diese Binnendifferenzierung des Vernunftbewusstseins auch in seinen deutschen Predigten dar. Dort wird das Verhältnis zwischen niederer und höherer Vernunft häufig durch das Begriffspaar »Frau – Mann« wiedergegeben, was stärker die funktionale Verschiedenheit zweier komplementärer Seelenvermögen zum Eckhart, In Gen. II n. 141, LW I,2 402,18–21; Übers. ebd. Qui vult conformari divinae et »incommutabilitati veritati« et in eius imaginem transformari, non debet habere ›velamen‹ inferiorum ›super caput‹ mentis et ›faciem‹ (»Wer der göttlichen und ›unwandelbaren Wahrheit‹ gleichgestaltet und in ihr Bild verwandelt werden will, [darf] keinen ›Schleier‹ aus niedern Dingen ›auf dem Haupt‹ des Geistes und ›dem Antlitz‹ […] tragen« [Eckhart, In Gen. II n. 130, LW I,2 396,17– 18; Übers. ebd.]). 175 176
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Das Ich ist nicht von dieser Welt
Ausdruck bringt. 177 Gelegentlich bedient sich Eckhart jedoch auch der Metapher der »zwei Antlitze«. In Predigt 37 schreibt er unter Verweis auf Augustinus und Avicenna: Sant Augustînus sprichet – und mit im ein ander, heidenischer meister – von zwein antlützen der sêle. Daz ein ist gekêret in dise werlt und ze dem lîbe; in dem würket si tugent und kunst und heilic leben. Daz ander anlütze ist gekêret die rihte in got; in dem ist âne underlâz götlich lieht und würket dar inne, aleine daz si ez niht enweiz, dar umbe, wan si dâ heime niht enist. Sankt Augustinus sagt – und mit ihm ein anderer, heidnischer Meister – von zwei Antlitzen der Seele. Das eine ist dieser Welt zugekehrt und dem Leibe; in ihm wirkt sie Tugend und Kunst und heiligmäßiges Leben. Das andere Antlitz ist geradewegs Gott zugekehrt; in ihm ist ununterbrochen göttliches Licht und wirkt darin, wenngleich sie h= die Seelei deshalb nicht darum weiß, weil sie nicht daheim ist. 178
Die Rede von den »zwei Antlitzen« bringt deutlicher zum Ausdruck, dass es sich beim Verhältnis zwischen höherer und niederer Vernunft weniger um zwei statisch vorhandene Seelenvermögen als vielmehr um zwei verschiedene Sichtweisen bzw. Perspektiven desselben Bewusstseins handelt: In ihrer Zugewandtheit zur Welt ist die Seele Lebensprinzip des ihr zugehörigen Leibes sowie Handlungsprinzip im Bereich der pragmatischen wie auch der ethisch-praktischen Tätigkeiten. Bei alledem ist sie stets auf die Welt hinorientiert, sich selbst in ihrem Fungieren jedoch verborgen. Insofern sie zugleich ihrem göttlichen Ursprung permanent zugewandt ist, wirkt sie darüber hinaus in einer Weise, die für sie selbst allerdings nicht mehr unmittelbar erfahrbar ist, weil sie die Bedingung der Möglichkeit aller Erfahrung darstellt. Nur insofern die Seele »daheim« ist – mit anderen Worten: nur insofern sie einen radikalen Umschwung in der Sichtweise auf sich selbst vollbracht hat, wird sie ihrer Vollzugseinheit mit dem absoluten Bewusstsein gewahr. Das »höhere Antlitz« besteht folglich nicht in einem gesonderten Erkenntnisvermögen, sondern ist nichts anderes als das weltzugewandte Antlitz, das sich des transzendentalen Ursprungs seiner eigenen, auf Welt hintendierenden Spontaneität bewusst geworden ist und diesen in ausdrücklich-thematischer Form freizulegen sucht.
177 Vgl. Eckhart, Pr. 11, DW I 184,5–8; ders., Pr. 18, DW I 304,5–305,5; ders., Pr. 40, DW II 279,4–280,3. 178 Eckhart, Pr. 37, DW II 218,2–219,3; Übers. 677 (Hervorhebung im Original).
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Der phänomenologische Charakter von Eckharts Erster Philosophie
Der Unterschied zwischen der ratio inferior und der ratio superior beschränkt sich bei Eckhart nicht auf eine akzidentelle Differenz innerhalb eines ansonsten univoken Vernunftbegriffs. Vielmehr entspricht der Unterschied zwischen dem weltzugewandt fungierenden Verstand und der die eigene Konstitutionsleistung aufhellenden, ichlichen Vernunft einem qualitativen Sprung, der durch keine begriffliche Vermittlung überbrückt werden kann. Der Intellekt als die höhere, sich beständig in Wirkeinheit mit dem göttlichen Bewusstsein befindende Vernunft ist gegenüber der von ihm erkannten Weltwirklichkeit kein »Grund« im Sinne eines ontologischen oder epistemologischen Fundaments, sondern ein »Abgrund« im Sinne des weltkonstituierenden, aber nicht in der eigenen Konstitutionstätigkeit aufgehenden Ursprungs. Auch wenn man den Intellekt in seiner Funktion als konstitutives Prinzip aller Welterkenntnis aufgewiesen hat, ist seine Prinziphaftigkeit als solche nicht mehr weiter konstitutiv zu begründen, sondern nur in ihrer Unableitbarkeit als absolute Gegebenheit hinzunehmen. 179 In dem Maße, wie der Mensch sich selbst nicht primär als innerweltliche Person begreift, sondern sich von der abgründigen Ursprunghaftigkeit seines Vernunftbewusstseins her versteht, verwirklicht er sein eigentliches Wesen und erlangt auf diese Weise die ihm angemessene Form der Glückseligkeit. 180 Diese Einsicht in die Nichtweltlichkeit des eigenen Selbstseins ist dabei nicht das Ergebnis einer diskursiven Überlegung, sondern die Bewusstwerdung des unthematischen Immer-schon-bei-sichSeins des Ich, das sich gar nicht wirklich verlorengehen, sondern allenfalls den eigenen Ursprungscharakter durch ein restloses Aufgehen im Innerweltlichen verdrängen kann. 181
Vgl. Eckhart, In Ioh. n. 50, LW III 41,10–14. Vgl. Eckhart, Pr. 42, DW II 309,3–5. 181 Vgl. dazu auch B. Mojsisch, »Der Grund der Seele. Das Ich als Ursache seiner selbst und Gottes in der Philosophie Meister Eckharts«, in: G. Binder / B. Effe / R. Glei (Hg.), Gottmenschen. Konzepte existentieller Selbstüberschreitung im Altertum, Trier, Wissenschaftlicher Verlag, 181–203, hier 196. 179 180
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Das Ich ist nicht von dieser Welt
2.5
Die urquellende Dynamik des vorichlichen Vernunftbewusstseins
Eckharts Betonung der überempirischen Natur der Vernunft und des reinen Ich könnte den Eindruck erwecken, als sei dieser weltkonstituierende Ursprung in sich statisch und schlechthin überzeitlich. Zwar ist es richtig, dass das Vernunftbewusstsein als solches nicht dem Werden und Vergehen unterworfen ist, doch bedeutet das nicht, dass es mit der Zeitlichkeit in keinerlei Verbindung stünde. 182 Auch wenn Eckhart häufig davon spricht, dass der Intellekt »oberhalb der Zeit« steht, 183 gibt es doch auch andere Stellen, an denen er die Beziehung zwischen diesen beiden Begriffen nicht negativ fasst, sondern im positiven Sinne als Begründungsverhältnis deutet. Der Unterschied zwischen diesen beiden Aussageweisen resultiert aus der Betrachtungsrichtung: Geht man von der Zeitlichkeit der mit dem Leibe verbundenen Seelenvermögen aus und steigt nach oben zum Intellekt auf, muss man in der Tat zugestehen, dass der Intellekt von der Zeitlichkeit nicht berührt wird. Geht man hingegen vom Intellekt aus, kann man sagen, dass die Zeit aus ihm hervorgeht, da der Ursprung nicht notwendigerweise von den Eigenschaften dessen, was aus ihm entspringt, mitbetroffen ist. Sofern er einen höheren Ordnung angehört als das Entsprungene, besteht zwischen den beiden ein asymmetrisches Abhängigkeitsverhältnis, bei dem das Obere durch Negation seines eigenen Wesens das Niedere aus sich entlässt, ohne von ihm berührt zu werden. 184 Mit Blick auf die Zeit bedeutet dies, dass sie aus dem Intellekt hervorgehen und daher in diesem präfiguriert sein muss, auch wenn er selbst nicht zeitlicher Natur ist. Aus diesem Grund charakterisiert Eckhart die intellektuelle Dimension der Seele bisweilen in einer Weise, die weniger eine absolute Zeitlosigkeit als vielmehr einen Limes originärer Zeitigung zum Ausdruck bringt. In Predigt 83 be182 Zu diesem nicht schlechthin kontradiktorischen, sondern positiv-dialektischen Verhältnis von Zeitlichkeit und Überzeitlichkeit bei Eckhart, vgl. N. Largier, Zeit – Zeitlichkeit – Ewigkeit, 148. 176. 183 Vgl. Eckhart, Pr. 23, DW I 404,2–405,3; ders., Pr. 38, DW II 231,1–6; ders., Pr. 54a, DW II 556,5–557,1. 184 Principium numquam est principiatum, ut punctus numquam est linea (»[D]as Prinzip ist niemals das aus dem Prinzip Abgeleitete, wie der Punkt niemals die Linie ist« [Eckhart, Quaest. Par. I n. 9, LW V 45,6–7; Übers. ebd.]). Vgl. auch ders., In Ioh. n. 140, LW III 118,5–6.
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Der phänomenologische Charakter von Eckharts Erster Philosophie
trachtet Eckhart die zwei Wirkdimensionen der Seele hinsichtlich ihres Betroffenseins oder Nichtbetroffenseins durch »Erneuerung«. Dieser Begriff bringt als solcher schon zum Ausdruck, dass die Seele in gewisser Weise durch »Alterung« gekennzeichnet sein kann, nämlich insofern sie als Form mit der ihr zugehörigen organischen Leibstruktur verbunden ist und in diese hineinwirkt. Auf den ersten Blick könnte man nun erwarten, dass Eckhart die andere, überempirische Seite der Seele als schlechthin unberührt von allen Eigenschaften des organischen Lebens bezeichnen würde. Überraschenderweise verbindet er jedoch den Begriff der »Ewigkeit« mit dem der »Jugend«, so dass der höhere, vernunftgemäße Seelenteil nicht als statisch in sich verharrend, sondern als eminenter Grenzfall einer stets im Entstehen begriffenen Lebendigkeit erscheint. 185 Wohl handelt es sich hierbei um eine absolute Jugend, die keine innerzeitliche Entwicklung und somit kein Alter kennt, doch liegt zugleich darin der Hinweis auf eine quellende Dynamik, die konstitutiver Ursprung aller Zeitlichkeit ist. In Predigt 43 deutet Eckhart den Topos der »höheren« und der »niederen« Kräfte der Seele dahingehend, dass sie nicht einfach als angeborene Vermögen erscheinen, sondern in Form einer transzendentalen Genese aus ihrem Ursprung, dem Grund der Seele, hervorgehen: Alle die krefte, die ze der sêle hœrent, die enaltent niht. Die krefte, die ze dem lîbe hœrent, die slîzent und nement abe. […] Die meister sprechent: daz ist junc, daz sînem beginne nâhe ist. Vernünfticheit, in der ist man alzemâle junc: ie man mê würkende ist in dér kraft, ie næher man sîner geburt ist. Daz ist junc, daz sîner geburt nahe ist. Der êrste ûzbruch von der sêle ist vernünfticheit, dar nâch wille, dar nâch alle die andern krefte. Alle Kräfte, die der Seele zugehören, altern nicht. Die Kräfte aber, die dem Leibe zugehören, die verschleißen und nehmen ab. […] Es sagen die Meister: Das ist ›jung‹, was seinem Ursprung nahe ist. In der Vernunft ist man völlig ›jung‹ : je mehr man in dieser Kraft wirkt, umso näher ist man seiner Geburt. Das haberi ist ›jung‹, was seiner Geburt nahe ist. Der erste Ausbruch aus der Seele ist die Vernunft, danach hfolgti der Wille und danach die anderen Kräfte. 186 185 Was ist ewhiikeit? das merkent! Der ewikeit eigenschaft ist, Das wesen vnd ivgent in ir eins ist; wan ewikeit nit ewig enwere, obe si nv´we werden mochte vnd nit allewegen were (»Was ist Ewigkeit? Merkt auf! Der Ewigkeit Eigenheit ist, daß Sein und Jungsein in ihr eins sind; denn die Ewigkeit wäre nicht ewig, wenn sie neu werden könnte und es nicht beständig wäre« [Eckhart, Pr. 83, DW III 439,3–5; Übers. 584; Hervorhebungen im Original]). 186 Eckhart, Pr. 43, DW II 323,5–6; 324,1–5; Übers. 698 (Hervorhebung im Original).
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Das Ich ist nicht von dieser Welt
Es handelt sich bei diesem Jungsein also nicht um einen Zustand, sondern um die permanente transzendentale Geburt der Vernunft aus ihrem Grund. Dabei beschränkt sich die Dynamik dieses Hervorgangs nicht auf den Intellekt, sondern umfasst auch den Willen sowie die anderen Seelenkräfte, die innerhalb der Zeitlichkeit operieren. In Predigt 5b fasst Eckhart diesen Umstand in einer Begrifflichkeit, die es ihm erlaubt, das Verhältnis zwischen dem Ursprung und dem Entsprungenen noch präziser zu fassen: Als wæhrlîche der vater in sîner einvaltigen natûre gebirt sînen sun natiurlîche, als gewæhrlîche gebirt er in in des geistes innigestez, und diz ist diu inner werlt. Hie ist gotes grunt mîn grunt und mîn grunt gotes grunt. Hie lebe ich ûzer mînem eigen, als got lebet ûzer sînem eigen. […] Daz ist dâ von, wan leben lebet ûzer sînem eigenen grunde und quillet ûzer sînem eigene; dar umbe lebet ez âne warumbe in dem, daz ez sich selber lebet. So wahr der Vater in seiner einfaltigen Natur seinen Sohn natürlich gebiert, so wahr gebiert er ihn in des Geistes Innigstes, und dies ist die innere Welt. Hier ist Gottes Grund mein Grund und mein Grund Gottes Grund. Hier lebe ich aus meinem Eigenen, wie Gott aus seinem Eigenen lebt. […] Das kommt daher, daß das Leben aus seinem eigenen Grunde lebt und aus seinem Eigenen quillt; darum lebt es ohne Warum eben darin, daß es hfüri sich selbst lebt. 187
Das bedeutet, dass das Leben bei Eckhart sich nicht erst in der organischen Natur verwirklicht, sondern primär dem Grund der Seele zugesprochen werden muss, der ohne weiter anzugebende Begründung in sich selbst lebt und ausquillt. Der Begriff des »Quellens« verweist dabei – noch stärker als die Metapher der »Geburt« – auf ein kontinuierliches Ausfließen, bei dem der Einheitsgrund in einer absoluten Form von Präsentialität durchbricht und dabei die Vernunft sowie die niedrigeren, mit der Zeitlichkeit verbundenen Seelenkräfte aus sich hervorgehen lässt. Letztlich ist der Seelengrund jener »Urquellpunkt«, dem nicht nur die auf die Naturzeit verweisenden, vegetativen Vermögen, sondern auch die transzendentale Prozessualität der Vernunft mitsamt ihrer »inneren Welt« entstammen. Letztlich stehen sich also Ewigkeit und Zeit nicht unverbunden gegenüber, sondern vielmehr geht letztere durch eine sich permanent vollziehende, in ihren Ursprüngen nicht weiter aufzuhellende »Zeitigung« aus ersterer hervor. Obwohl dieser Hervorgang selbst nicht fließt und ver187
Eckhart, Pr. 5b, DW I 90,6–9; 92,1–3; Übers. 450.
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Der phänomenologische Charakter von Eckharts Erster Philosophie
geht, ist er doch der Durchbruchspunkt, dem die immanente Zeitstruktur des Vernunftbewusstseins sowie die äußere Zeitlichkeit der innerweltlichen Dinge entströmen. Das Entscheidende ist, dass dieser letzte »quellende Grund«, von dem Eckhart spricht, nicht-ichlicher Natur und völlig namenlos ist. In Predigt 77 legt er dies in einer Weise dar, die das traditionelle Prinzip der negativen Theologie – die Unfasslichkeit und Unsagbarkeit Gottes – auf den Grund der Seele überträgt. Ansatzpunkt dafür ist das Thema der Predigt, das auf lateinisch Ecce mitto angelum meum (»Sieh, ich sende meinen Engel«) lautet. Anders als in der Überschrift zu Predigt 31 (Ecce ego mitto angelum meum) fehlt diesmal im Lateinischen das Personalpronomen ego. Dabei handelt es sich jedoch um kein Versehen, sondern um ein absichtliches Vorgehen, das die eckhartschen Egologie auf ihren vorichlichen Grund hin durchsichtig macht. Eckhart führt aus: Der prophête saget: ›ich sende mînen engel‹ ; aber der êwangeliste geswîget des namen ›ich‹ und saget: ›sehet, sende mînen engel‹. Waz nû daz meine, daz diu ein geschrift geswîget des namen ›ich‹ ? Ez meinet des êrsten die unsprechelicheit gotes, daz got ist unnennelich und über alliu wort in lûterkeit sînes grundes, dâ got kein wort noch rede niht haben enmac, dâ er unsprechelich ist allen crêatûren und unwortlich. Daz ander: ez meinet, daz diu sêle unsprechelich ist und âne wort; dâ si sich nimet in irme eigenen grunde, dâ sie ist unwortlich und unnennelich noch enkan dâ kein wort gehaben, wan dâ ist si über namen und über alliu wort. Dáz meinet, daz des namen ›ich‹ geswîgen ist, wan si enhât dâ noch wort noch rede. Der Prophet sagt: ›Ich sende meinen Engel‹ ; der Evangelist aber verschweigt das Wort ›ich‹ und sagt: ›Sehet, sende meinen Engel‹. Was mag das nun meinen h= bedeuteni, daß die eine Schrift den Namen ›ich‹ verschweigt? Es zielt zum ersten auf die Unaussprechlichkeit Gottes, daß Gott unnennbar ist und über alle Benennungen hinaus in der Lauterkeit seines Grundes, wo Gott keine Benennung noch Aussage zu haben vermag, wo er für alle Kreaturen unaussprechlich und unaussagbar ist. Zum anderen will es besagen, daß hauchi die Seele unaussprechbar und ohne hadäquatei Benennung h= wortlosi ist; wo sie sich in ihrem eigenen Grunde erfaßt, da ist sie unaussprechlich und unaussagbar und kann dort keine Benennung haben, denn dort ist sie über alle Benennungen und über alle Aussagen herhabeni. Dies ist gemeint, wenn das Wort ›ich‹ verschwiegen wird, denn sie findet dort weder Benennung noch Aussage. 188
188
Eckhart, Pr. 77, DW III 337,2–338,2; Übers. 566 f. (Hervorhebungen im Original).
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Das Ich ist nicht von dieser Welt
Dieser Passus macht deutlich, dass letztlich nicht nur Gottes Grund unerkennbar und jenseits aller sprachlichen Benennbarkeit liegt, sondern ebenso auch der Grund der Seele, wenn diese versucht, sich durch Rückgang in ihren eigenen konstitutiven Ursprung ihres eigentlichen Wesens bewusst zu werden. Dabei betrifft die Unsagbarkeit nicht nur die diversen kreatürlichen Bestimmungen, sondern auch das Pronomen »ich« (ego), sofern damit die Selbstmanifestation der Vernunft in ihrer überempirischen Spontaneität gemeint ist. Was aller Manifestation, auch und gerade der ichlichen, zugrunde liegt – das permanente Durchbrechen des Urquellpunktes in seiner absoluten Einheit gegenüber der Vielheit der »Ich«-sagenden Wesen –, ist selbst weder direkt erfahrbar noch mit Wörtern zu bezeichnen, sondern kann nur durch den »gegen den Strom« verlaufenden Gang des Bewusstseins zu seinem ursprünglichen Quellpunkt indirekt erschlossen werden. Da alle sprachliche Benennung sich immer schon innerhalb der Zeitlichkeit und Diskursivität vollzieht, ist der vorichliche Grund nur in einer inneren Betrachtung des einzelnen Ich zu erschließen, kann von ihm jedoch prinzipiell nie in adäquater Weise begrifflich ausgedrückt werden. Letztlich ist dieser absolute Ursprung nur einer inneren prädiskursiven Selbstanschauung zugänglich, in der die sich als ichlich erkennende Vernunft auch noch vor ihre eigene transzendentale Singularisierung zurückgeht und den Grund ihres überweltlichen Fungierens als identisch mit dem absoluten Einheitsgrund der Gottheit vor den trinitarisch-schöpfungstheologischen Entfaltungen erkennt.
3.
Die ethisch-universalistische Dimension von Eckharts Erster Philosophie
Die von Eckhart vorgenommene egologische Überwindung und Neubegründung des traditionellen Metaphysikbegriffs hat mitnichten eine rein innerphilosophische oder innertheologische Bedeutung, sondern dient vielmehr dazu, die universal-menschheitliche Relevanz des nunmehr als Selbstbesinnung verstandenen Denkens deutlich zu machen. In dem Maße, wie die Erste Philosophie nicht mehr primär als objektiv-wissenschaftliche scientia, sondern als performative Analyse der ichlichen Bewusstseinsdynamik verstanden wird, hat sie es mit dem zu tun, was jeden Menschen, insofern er Mensch ist, unmittelbar angeht. Daher nimmt sie ihren Ausgangspunkt vom welt144 https://doi.org/10.5771/9783495821633
Die ethisch-universalistische Dimension von Eckharts Erster Philosophie
erfahrenden Bewusstsein als solchem, um es zur Einsicht in die Überweltlichkeit des Ich zu führen. Eckharts egologisch gefasste Erste Philosophie ist somit keine Angelegenheit, die nur den Spezialisten auf dem Gebiet der Philosophie vorbehalten wäre, sondern eine Unternehmung, die grundsätzlich jedem Menschen zugänglich ist; setzt sie doch nichts weiter voraus als die konsequente Auslegung des Zusammenhangs aller Welt- und Selbsterfahrung auf seinen Sinngehalt und dessen konstitutiven, in jedem Individuum selbst vorfindbaren, aber mit seiner Individualität nicht identischen Grund hin. 189 Zugleich ist diese egologische Selbstbesinnung aber auch kein denkerischer Luxus, auf den man ebenso gut auch verzichten könnte. Vielmehr ist Eckhart davon überzeugt, dass die Einsicht in den überempirischen Charakter des Ich die Grundbedingung für gelungene menschliche Existenz als solche darstellt, und zwar sowohl in ihrer individuellen als auch in ihrer intersubjektiven Ausprägung. Entscheidend dabei ist, dass der Terminus »Menschheit« nicht bloß als abstraktes logisches Universale fungiert, sondern eine unmittelbar existentielle Dimension besitzt. Die Einsicht in das reine Ich, das in jeder menschlichen Person als mit ihrer Personalität nichtidentisches durchbricht, ist die Bedingung der Möglichkeit dafür, dass der Mensch die Selbstverkapselung seiner empirischen Individualität übersteigen und jenen Universalhorizont reiner Egoität betreten kann, der ihn in eine nicht nur theoretische, sondern auch ethischpraktische Lebensgemeinschaft mit Gott sowie mit allen anderen Menschen bringt. Sich auf das je eigene Ich zu besinnen bedeutet gerade nicht, sich in die Innensphäre der je eigenen Seele zurückzuziehen, der gegenüber die Welt ein abzuwehrendes »Draußen« wäre, sondern mit dem Ich jenen Quellpunkt geistiger Ursprunghaftigkeit freizulegen, zu dem es kein »Draußen« gibt, weil er auf intentionale Weise immer schon die Welt als ganze wie auch die Gemeinschaft aller Vernunftsubjekte mit umfasst. Anders, als es auf den ersten Blick scheinen mag, hat der Begriff der »Welt« als solcher bei Meister Eckhart keine grundsätzlich negative Konnotation, etwa im Sinne der »Gottferne« oder der »sündhaften Verfallenheit«. Negativ kann er allenfalls in einem relationalen Sinne werden, nämlich dann, wenn er als möglicher Ursprung wirk189 Vgl. dazu J. Casteigt, »›Ni Conrad, ni Henri‹. Le fond de la personne est-il personnel, impersonnel ou sans fond dans les sermons allemands de Maître Eckhart?«, Archives de Philosophie 76 (2013), 425–440, hier 432. 438 f.
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Das Ich ist nicht von dieser Welt
ursächlicher Einflüsse auf das Ich missverstanden wird und dadurch zu einer verfehlten Selbstdeutung des Menschen Anlass gibt. Versteht sich der Mensch jedoch primär von seinem Ich her, das oberhalb von Wirk- und Zielursächlichkeit angesiedelt ist, wird die Welt zum Ort, an dem sich die lebendige Spontaneität und Freiheit des Ich durch dessen ethisches Handeln bekunden kann. Nicht auf der Ebene einer statischen, ontologischen Betrachtung, wohl aber auf der Ebene des absichtslosen (d. h. ohne eigennützige Hintergedanken ausgeführten) Wirkens »ohne Warum« kann die Welt ein integraler Bestandteil des Lebenszusammenhangs des Ich werden, ohne dessen »abgeschiedene« Selbstdeutung in naturalistischer Weise zu verfälschen. 190 Eckharts Ich-Konzeption steht damit jenseits des klassischen Gegensatzes zwischen »Immanenz« im Sinne einer persönlich-subjektiv verstandenen Innerlichkeit und »Transzendenz« im Sinne einer davon real unterschiedenen dinglichen Außenwelt. Wohl will er den Menschen dazu anleiten, sich als ein gegenüber dem Seinsmodus der geschaffenen Welt qualitativ verschiedenes Ich zu begreifen, doch besteht für Eckhart der Sinn der wahren Selbsterkenntnis gerade darin, die überempirischen Vernunftstrukturen des Intellekts nicht nur in einer rein introspektiven Einstellung zu betrachten, sondern ihren überweltlichen Charakter im Durchgang durch die erscheinungshaft gegebene Welt und deren intelligible Strukturen zu erfahren. Das Ich ist aber nicht nur der Ursprung des menschlichen Weltbezugs, sondern auch jene Ebene, die eine wirkliche Gleichheit aller Menschen und damit eine ethisch geprägte Form zwischenmenschlicher Beziehungen ermöglicht. Die Zweckfreiheit menschlicher Existenz, die Kant der individuellen menschlichen Person in ihrer noumenalen Dimension zuerkennt, 191 ist bei Eckhart auf der Ebene des Ich angesiedelt, das oberhalb von Wirk- und Zielursächlichkeit steht und mit dem Menschen als individueller Person gerade nicht zusammenfällt. Gerade weil Eckhart das besondere Charakteristikum des Menschen als eines Vernunftwesens nicht an seiner empirischen Personalität als solcher festmacht, sondern allein an der reinen Substanz seines Ich, kann keine wie immer geartete »Eigenschaft« eines empi-
190 Vgl. Eckhart, In Ioh. n. 340, LW III 288,1–289,11; ders., Pr. 9, DW I 151,1–12; ders., Pr. 86, DW III 484,14–485,13. Vgl. dazu insgesamt D. Mieth, Im Wirken schauen sowie K. Ceming, Mystik und Ethik bei Meister Eckhart und Johann Gottlieb Fichte, Frankfurt a. M., P. Lang, 1999. 191 Vgl. I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, 429.
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Die ethisch-universalistische Dimension von Eckharts Erster Philosophie
rischen menschlichen Individuums seiner Würde als Vernunftwesen Eintrag tun. 192 Wohl ist die individuelle, personale Existenz eines Menschen in ihrer Kontingenz und Verletzlichkeit der Ort, an dem das ethische Handeln ausgeübt wird, doch ist das Movens des ethischen Handelns gerade nicht die empirisch erfahrbare Individualität des Mitmenschen als solche, sondern vielmehr sein reines Ich, dessen akthafte Verwirklichung in der Erste-Person-Perspektive sich zwar innerweltlich manifestiert, aber jeder Vergegenständlichung entzieht. Die einzelnen Personen sind damit zwar aufgrund ihrer raumzeitlichen Individuation sehr wohl in einem natürlichen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang verflochten, stehen zugleich jedoch als Durchbruchspunkte intellektueller Spontaneität außerhalb dieses innerweltlichen Kausalzusammenhangs in der reinen Differenz von ego und alter ego einander in vollkommener Gleichheit gegenüber. 193 Daraus wird ersichtlich, dass Meister Eckharts Ansatz in zweifacher Weise das von Heidegger kritisierte »onto-theologische« Denkschema überwindet: Der Mensch wird nicht mehr primär als animal rationale betrachtet, sondern von seinem ichhaften Intellekt her verstanden, der den Naturzusammenhang durchbricht und ihn damit auf die universale Vernunftebene hin öffnet, die es ihm erlaubt, nicht nur zu Gott, sondern auf gleichursprüngliche Weise auch zu allen anderen Menschen in Beziehung zu treten. Ebenso wenig wird aber auch Gott aus seiner traditionellen metaphysischen Funktion als »Handwerkergott« (deus artifex) und erste Wirkursache des naturhaften Seins deduziert, sondern als absoluter Grenzfall vernünftiger Subjektivität erschlossen, nämlich als reines Ich, dessen immanentes Leben immer schon alle nur mögliche Veräußerlichung namens »Welt« mit umfasst und zugleich eine ideale Gemeinschaft menschlicher Vernunftwesen ermöglicht. 194 Dieser Ansatz überwindet das statische Substanzdenken aristotelischer Prägung und deutet den Weltbezug des Menschen als ein Geschehen, das den wechselseitigen Bezügen zwischen reinen Ichzentren entspringt und wesentlich der ethisch geprägten Veräußerlichung ihrer immanenten Lebensdynamik dient. So wenig das reine Ich des Menschen je von innerweltlichen Dingen Vgl. Eckhart, Super Eccl. n. 9, LW II 238,7–9; ders., Pr. 12, DW I 194,1–8. Vgl. Eckhart, Pr. 4, DW I 67,5–68,8. 194 Zu dieser intellekttheoretischen Neuinterpretation des Schöpfungsbegriffs bei Meister Eckhart vgl. den bereits erwähnten Aufsatz d. Verf. »Causa sive enarratio. Heideggers Kritik der neuzeitlichen Technik vor dem Hintergrund der Geschichte des metaphysischen Kausalitätsbegriffs«, Heidegger Studies 29 (2013), 27–49. 192 193
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Das Ich ist nicht von dieser Welt
kausal beeinflusst werden kann, so sehr braucht es die Welt, um ausgehend von ihr die eigene Überweltlichkeit zu erkennen und sich durch sein kausales Hineinwirken in die Sphäre der geschaffenen Dinglichkeit als ursprüngliche Spontaneität und Freiheit zu erfahren. 195
3.1
Die monadologische Grundstruktur von Eckharts Anthropologie
Es ist ein Grundtopos der aristotelischen Ethik und Politik, dass der Mensch nie als isoliertes Einzelwesen existiert, sondern von Natur aus auf ein Leben in Gemeinschaft hin angelegt ist. 196 Diese Einsicht ist auch für die Scholastik des 13. und 14. Jahrhunderts maßgebend, die Aristoteles’ Schriften zur praktischen Philosophie schon frühzeitig rezipiert und zur Grundlage einer eigenständigen philosophischen Anthropologie und Ethik gemacht hat. 197 Zugleich ist für die christlichen Denker dieser Zeit jedoch die Frage nach menschlicher Gemeinschaft und Gesellschaft unauflöslich mit der biblisch fundierten Lehre vom »Reich Gottes« sowie dessen irdisch sichtbarer Antizipation, der Kirche, als der von Christus gestifteten Gemeinschaft aller Gläubigen verbunden. Auch die nicht spezifisch religiösen, sondern naturgegebenen Formen menschlicher Vergesellschaftung (Familie, Sippenverband, Volk, Staat usw.) werden daher nicht mehr ausschließlich unter einem »profanen« Blickwinkel betrachtet, sondern implizit oder explizit zu jener Sphäre übernatürlicher Gemeinschaft in Beziehung gesetzt, die in unsichtbarer Weise die auf Erden lebenden Gläubigen untereinander, mit allen Heiligen im Himmel sowie mit Gott verbindet. 198 Die weltlichen Formen menschlicher Sozialität mitsamt den Vgl. Eckhart, Pr. 32, DW II 134,5–6. Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik VIII 1–11, 1155 a 1–1160 a 30; ders., Politik I 2, 1253 a 1–29. 197 Vgl. Thomas von Aquin, Summa contra gentiles III, cap. 117, n. 4; ebd. III, cap. 128, n. 1; ebd. III, cap. 129, n. 5; ebd. III, cap. 131, n. 4; ders., Summa theologiae I, q. 96, a. 4 c; ebd. I-II, q. 95, a. 4 c; ebd. II-II, q. 109, a. 3 ad 1; ebd. II-II, q. 188, a. 8 c. Vgl. dazu G. Wieland, Ethica – scientia practica. Die Anfänge der philosophischen Ethik im 13. Jahrhundert, Münster, Aschendorff, 1981. 198 Der Gedanke eines fundamentalen Antagonismus zwischen der Gemeinschaft aller guten, d. h. Gott untertanen Vernunftwesen (civitas Dei) und der Gemeinschaft aller dem Bösen dienstbaren Vernunftwesen (civitas diaboli) wird erstmals von Augustinus in seinem Werk De civitate Dei ausführlich entfaltet. Allerdings betont er 195 196
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Die ethisch-universalistische Dimension von Eckharts Erster Philosophie
ihnen eigenen natürlichen Zielen behalten ihre relative Eigenständigkeit, doch ist nunmehr klar, dass es darüber hinaus auch übernatürliche Ziele menschlicher Gemeinschaft gibt, die sich nicht notwendigerweise mit den innerweltlichen decken müssen. 199 In Meister Eckharts Werken sucht man vergeblich nach einem Kommentar zur Aristotelischen Ethik bzw. Politik oder anderer Schriften zur praktischen Philosophie. Auch hat er keine eigene, zusammenhängende Abhandlung zum Thema menschlicher Intersubjektivität und Sozialität aus philosophischer oder theologischer Perspektive verfasst, und auch das im Mittelalter so heißumstrittene Verhältnis zwischen weltlicher und geistlicher Macht scheint ihn nicht interessiert zu haben. Seine Schriften enthalten weder eine noch so rudimentär entwickelte Staatstheorie noch eine Ekklesiologie, so dass man den Eindruck gewinnen könnte, es gehe ihm einzig und allein um das Verhältnis der menschlichen Seele zu Gott und die dadurch gestiftete vertikal-überzeitliche Gemeinschaft jedes Einzelnen mit dem Leben der Dreifaltigkeit. Eine solche Schlussfolgerung scheint zunächst naheliegend, wenn man bedenkt, dass Eckhart in manchen Predigten das »Reich Gottes« ausschließlich in einem individuell-immanenten Sinne zu verstehen scheint. 200 Doch dieser Eindruck trügt. Eckhart predigt keineswegs einen geistlichen Solipsismus, sondern stellt seine Anthropologie gerade unter das Zeichen der Universalität des Menschseins. 201 Allerdings interessiert er sich weder für die vielfältigen konkreten Formen noch gar die rechtlichen Grundlagen, die menschliche Gemeinschaften zu unterschiedlichen ausdrücklich, dass die Grenze zwischen den beiden Gemeinwesen nicht mit dem Unterschied zwischen der civitas terrena als der diesseitig institutionalisierten Staatsgewalt und der civitas caelestis als der im Jenseits bestehenden Gemeinschaft aller Heiligen mit Gott zusammenfällt, sondern sich in unsichtbarer Weise durch alle irdischen Formen menschlicher Sozialität hindurchzieht. Vgl. Augustinus, De civitate Dei I 35; XIV 28; XVIII 49, in: Augustinus, Der Gottesstaat / De civitate Dei (2 Bd., lat./dt.; hg. und übers. von C. J. Perl), Paderborn, Schöningh, 1979, Bd. I, 70–73. 988 f.; Bd. II, 404–407. 199 Vgl. Thomas von Aquin, De veritate, q. 12, a. 3 ad 11. Zu den immanenten Spannungen von Thomas’ politischer Theorie, in der sich genuin aristotelische Gedanken mit neuplatonischen bzw. offenbarungstheologischen Motiven mischen, vgl. H. Ottmann, Geschichte des politischen Denkens, Bd. II/2: Das Mittelalter, Stuttgart, J. B. Metzler, 2004, 203. 209–211. 200 Vgl. Eckhart, Pr. 68, DW III 143,1–144,3. 201 Vgl. D. Mieth, Christus – das Soziale im Menschen, Düsseldorf, Patmos, 1972, 136–144.
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Das Ich ist nicht von dieser Welt
Zeiten an unterschiedlichen Orten haben können, sondern nur für jene Art von Intersubjektivität, die aus dem Wesen der menschlichen Natur als solcher erfließt und alle Menschen ungeachtet ihrer kontingenten Lebensumstände miteinander verbindet. Eckhart versteht den Menschen nicht in erster Linie von seiner innerweltlichen Personalität her, sondern begreift diese als Erscheinung seines reinen Ich, das als solches nicht Teil der Welt ist. Damit ist es nur folgerichtig, dass er auch das Phänomen zwischenmenschlicher Beziehungen nicht in erster Linie anhand der faktisch-empirischen Interaktion innerweltlich vorkommender Individuen analysiert, sondern ihm ebenfalls eine egologische Fundierung gibt. In dem Maße, wie es zur Sphäre des Intellekts kein reales »Außen« gibt, sondern nur ein intentionales Einbehaltensein dessen, was sich zum »Dies und das« des geschaffenen Seins vereinzelt hat, muss auch der interpersonale Bezug zwischen menschlichen Individuen anders gedacht werden als eine Begegnung, die in akzidenteller Weise von außen an das Ich herantritt. Eckhart denkt also Intersubjektivität nicht als erst noch zu realisierende, nachträgliche Verknüpfung zwischen einzelnen menschlichen Personen, sondern als transzendentales Apriori, das im Wesen des Ich immer schon angelegt ist und sich in der zwischenmenschlichen Begegnung lediglich konkretisiert. Das bedeutet nicht, dass die leibseelische Dimension des Menschen dabei irrelevant wäre, aber die Richtung der Begegnung verläuft nicht im ontischen Sinne von außen nach innen, sondern von der Innensphäre der immer schon miteinander verbundenen, rein geistigen Ichzentren in das »Außen« der innerweltlichen Erscheinung ihres Bezogenseins. 202 202 Dieser Aspekt wird von Saskia Wendel zu wenig berücksichtigt, da sie in ihrer Eckhart-Interpretation das Ich als absolutes singulare tantum versteht, das nur Gott zukommt und dem Menschen nur insofern, als dieser unterschiedslos eins mit dem göttlichen Einheitsgrund ist. Vor dem Hintergrund dieser Deutung kritisiert sie an Eckharts Ansatz, dass sich im Ausgang von seiner Lehre des Ich als des Seelengrundes keine echte Interpersonalität denken lasse (vgl. S. Wendel, Affektiv und inkarniert. Ansätze deutscher Mystik als subjekttheoretische Herausforderung, Regensburg, Pustet, 2002, 211 f. 241). Bei Eckhart ist jedoch der Seelengrund unter dem Gesichtspunkt des Innebleibens in der absoluten Einheit ichlos, während das Ich als solches immer schon eine Pluralität von Vernunftsubjekten impliziert, und zwar sowohl mit Blick auf Gott als auch mit Blick auf den Menschen. Auch Jens Halfwassen identifiziert in Bezug auf Eckhart das Ich mit dem Seelengrund und bestimmt es daher als reine Selbstbeziehung ohne jede intersubjektive Dimension. Dabei wird jedoch der Unterschied zwischen dem vorichlichen Einheitsgrund als innebleibendem und dem
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Die ethisch-universalistische Dimension von Eckharts Erster Philosophie
Der systematische Ansatzpunkt dieser anthropologischen Konzeption liegt in Eckharts Deutung des Intellekts als einer geistigen Sphäre, die immer schon die ganze Welt umfasst und sich in einem beständigen Vollzugszusammenhang mit dem trinitarisch vergemeinschafteten göttlichen Intellekt befindet. Eckhart entwickelt diesen Gedanken anhand eines komplexen Zitats, das eine Kombination aus der propositio XVIII, der propositio II und der propositio III des Liber XXIV philosophorum darstellt. In seinem Kommentar zu Ex 16,18 schreibt Eckhart: Et hoc est quod in Libro XXIV philosophorum dicitur: »deus est sphaera« intellectualis »infinita, cuius tot sunt circumferentiae, quot puncta«, et »cuius centrum est ubique et circumferentia nusquam«, et qui »totus est in suo minimo«. Und diesen Sinn hat der Satz im Buch der 24 Philosophen: »Gott ist eine unendliche geistige Kugel, die so viel Oberflächen hat, als es in ihr Punkte gibt, und deren Mittelpunkt überall und deren Oberfläche nirgends ist. (Gott) ist ganz (auch) in dem Geringsten von ihm«. 203
Der aus der propositio XVIII stammende Gedanke der Pluralisierung der peripheren »Oberflächen« der sphaera des göttlichen Geistes ist deswegen besonders interessant, weil er impliziert, dass Gott nicht das einzige Ausstrahlungszentrum geistiger Bezüge ist, sondern zugleich auch als Ursprung unendlich vieler anderer geistiger Aktzentren fungiert, die die gesamte Wirklichkeit im Modus intentionaler Immanenz in sich tragen, aufgrund ihrer perspektivischen Beschränkung jedoch eine »Oberfläche« besitzen. So gesehen, spiegeln sich in jedem intellektbegabten Wesen immer schon Gott und das gesamte Universum wider, doch auf je eigene Weise, da der Intellekt des Menschen immer nur in einer fungierenden Einheit mit der jeweiligen individuellen Person – dem »Heinrich und Konrad« – verwirklicht ist. Dabei bestimmt Eckhart das Wesen des Intellekts nicht vom Begriff des Seins, sondern von dem der Einheit her, da er als »Ich«-Akt radikal einfache, reine Substanz ist, die nicht geteilt werden kann und um diese Unteilbarkeit weiß. 204 Schon im Bereich der nichtgeistigen Ich als prinziphafter Selbstmanifestation der Einheit nicht ausreichend berücksichtigt (vgl. J. Halfwassen, Hegel und der spätantike Neuplatonismus. Untersuchungen zur Metaphysik des Einen und des Nous in Hegels spekulativer und geschichtlicher Deutung, Bonn, Bouvier, 22005, 141 f.). 203 Eckhart, In Exod. n. 91, LW II 94,17–95,3; Übers. ebd. 204 [U]num ipsum est negatio negationis, negationis, inquam, quam multitudo omnis
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Das Ich ist nicht von dieser Welt
Wirklichkeit gilt der Grundsatz, dass ein Ding umso mehr Sein besitzt, je mehr es mit sich selbst eins ist. 205 Doch während Dinge oder nichtmenschliche Lebewesen nur in einem relativen, abgeschwächten Sinne als Einheiten und damit als seiende Wirklichkeit gelten können, da bei ihnen die Einheit rein äußerlicher Natur ist bzw. vorwiegend in die sie umgebende Umwelt hineinagiert, ist der Intellekt des Menschen wirkliches Sein im Vollsinne, da er sich in reflexiver Weise erkennen kann und damit die nach innen gerichtete Einheit wahrer Selbsthabe verkörpert. So gesehen, kann man Eckhart als Vorläufer des monadologischen Denkens betrachten, da sich Wirklichkeit für ihn primär in Form geistiger Aktzentren realisiert, die unteilbare Einheiten bilden und alles andere, was sie nicht selbst sind, in Form einer phänomenalen Immanenz in sich tragen. 206 Dieses immanente Enthaltensein von allem in allem ist jedoch nicht als statische Präsenz zu verstehen, sondern als Entwicklungsdynamik, die jedes Ding, jedes Lebewesen und jede menschliche Person in einen universalen Transformationszusammenhang bringt. Alles, was ist, drängt danach, sich weiter- und höherzuentwickeln und in anderes zu verwandeln, so dass alles virtuell in allem enthalten ist. 207 Diese Immanenz realisiert sich jedoch auf unterschiedliche Weise, je nachdem, ob man es mit dinglicher Wirklichkeit oder mit anderen cui opponitur unum includit; negatio autem negationis medulla, puritas et germinatio est affirmati esse, Exodi 3: ›ego sum qui sum‹ (»[D]as Eine selbst ist Verneinung der Verneinung, und zwar der Verneinung, die jede Vielheit, der das Eine entgegensteht, einschließt; die Verneinung der Verneinung ist aber der Kern, die Lauterkeit und die Verdopplung des bejahten Seins, ›ich bin, der ich bin‹ [Ex. 3,14]« [Eckhart, In Ioh. n. 536, LW III 485,5–7; Übers. ebd.]). 205 Vgl. Aristoteles, Metaphysik X 2, 1053 b 9–1054 a 19. 206 De ratione enim imaginis est quod sit expressiva totius eius plene, cuius imago est, non expressiva alicuius determinati in illo. Hinc est quod Graecus vocat hominem microcosmum, id est minorem mundum. Intellectus enim, in quantum intellectus, est similitudo totius entis, in se continens universitatem entium, non hoc aut illud cum praecisione. Unde et eius obiectum est ens absolute, non hoc aut illud tantum (»Es gehört nämlich zum Wesen des Ebenbildes, daß es das, dessen Ebenbild es ist, nicht nur mit einer seiner Bestimmungen, sondern ganz und vollkommen zum Ausdruck bringt. Daher nennt der Grieche den Menschen Mikrokosmos, das heißt die Welt im Kleinen. Der Intellekt ist nämlich als Intellekt Gleichnis alles Seienden und umfaßt in sich das Seiende in seiner Allheit, nicht nur dieses oder jenes mit Ausschluß (der andern). Daher ist auch sein Gegenstand das Seiende schlechthin, nicht nur dieses oder jenes (Seiende)« [Eckhart, In Gen. I n. 115, LW I,1 272,1–6; Übers. ebd.]); vgl. dazu D. Mahnke, Unendliche Sphäre und Allmittelpunkt, 146–155. 207 Vgl. Eckhart, Pr. 51, DW II 474,6–475,12.
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Die ethisch-universalistische Dimension von Eckharts Erster Philosophie
Subjektivitäten zu tun hat. Im Falle nichtmenschlicher Gegenstände und Lebewesen ist es der Mensch, der auf der Ebene seiner vegetativen Seelenkräfte und sinnlichen Vermögen – also durch Nahrungsaufnahme und Wahrnehmungstätigkeit – die Welt in sich aufnimmt, sie sich anverwandelt und auf diese Weise alles in einen universalen Bezugszusammenhang bringt. 208 Auf interpersonaler Ebene geht es hingegen nicht um eine assimilierende »Einverleibung« anderer Mitsubjekte in den je eigenen Lebenszusammenhang des Ich, sondern um ein geistiges Sich-ineinander-Spiegeln und ein wechselseitiges Sich-Durchdringen der von den einzelnen Ich ausgehenden und auf Welt hin ausgerichteten Wirkungssphären. Eckhart begründet diese wechselseitige Innerlichkeit der einzelnen intellektbegabten Wesen unter Verweis auf den grundlegenden Unterschied zwischen materieller und geistiger Wirklichkeit: materielle Dinge schließen einander aus, d. h. sie können nicht zur gleichen Zeit den gleichen Ort einnehmen, sondern verdrängen einander und können allenfalls an ihren Oberflächen miteinander in Kontakt treten. Ebenso ist ihre physikalische Wirkung nach außen gerichtet, und zwar umso mehr, je stärker die von ihnen ausgehende Kraft ist. Beispielsweise breitet sich die durch ein Feuer erzeugte Hitze umso rascher aus, je größer der Brandherd ist, 209 und im Bereich der belebten Natur ist die Zeugungskraft von Pflanzen oder Tieren umso stärker, je mehr Nachkommen sie aus sich hervorbringen und in die Umgebung entlassen können. 210 Im Bereich des Geistes ist es dagegen genau umgekehrt: Geistige Sphären durchdringen einander, anstatt sich gegenseitig zu verdrängen, da ihre Erstreckung keine materielle, sondern eine intentionale ist, 211 und ebenso geht ihr Grad an Stärke und Wirkmacht mit einer umso größeren zentripetalen Innenwirkung Hand in Hand. In seinem Johanneskommentar erläutert Eckhart:
Vgl. Eckhart, Pr. 20b, DW I 343,10–345,10; ders., Pr. 75, DW III 295,1–4. Vgl. Eckhart, In Ioh. n. 669, LW III 582,4–6. 210 Vgl. Eckhart, In Ioh. n. 193, LW III 161,12–13. 211 Quarto nota quod homo interior nullo modo est in tempore aut loco, sed prorsus in aeternitate. […] Hic homo interior spatiosissimus est, quia magnus sine magnitudine (»Viertens bemerke, daß der innere Mensch auf keinerlei Weise in der Zeit oder an einem Ort ist, sondern ganz in der Ewigkeit. […] Hier ist der innere Mensch in seiner ganzen Weite, weil er groß ist ohne Größe« [Eckhart, Sermo VII n. 83, LW IV 79,10–11.13; Übers. ebd.]). 208 209
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Das Ich ist nicht von dieser Welt
Intellectualis vero generatio e converso est ab extra ad intus; est enim motus ad animam. Et quanto intellectus quilibet est perfectior et superior, tanto plus universales habet species et pauciores, minus scilicet divisas; ergo in supremo et primo intellectu qui deus est necesse est, ut sit unicum verbum et unum patri. Die geistige Zeugung aber geht umgekehrt von außen nach innen; denn sie ist eine Bewegung zur Seele hin. Je vollkommener und erhabener nun ein Intellekt ist, um so allgemeinere und an Zahl geringere Bilder hat er, nämlich weniger geteilte. Also darf in dem obersten und ersten Intellekt, der Gott ist, nur ein einziges Wort sein, welches eins mit dem Vater ist. 212
Einerseits umfasst also jedes vernunftbegabte Wesen dank seiner sphaera intelligibilis die ganze Welt und kann alles, was es erkennt, mittels der von ihm erzeugten Begriffe (verba) erfassen. In der von ihm erfahrenen Sphäre der gesamten Wirklichkeit sind zwar auch die anderen vernünftigen Mitsubjekte enthalten, doch begegnen ihm diese als geistige nicht in einer Weise, die sich in einem beschränkten Begriff zusammenfassen ließe; sind sie doch keine intentionalen Gegenstände im gewöhnlichen Sinne, sondern eigenständige Entitäten, die ihrerseits als intelligible Gravitationszentren für die von ihnen erkannte gegenständliche Wirklichkeit fungieren, um sie begrifflich zu assimilieren und zur Einheit ihres jeweiligen Erfahrungszusammenhangs zusammenzufassen. In seiner eigenen Innensphäre erfährt jedes Ich demnach, dass ihm andere Wesen begegnen, die nicht nur als Teil der Naturwirklichkeit nach außen, sondern ebenso auch in Richtung auf das unsichtbare Zentrum einer ihm entzogenen geistigen Eigensphäre nach innen wirken. Sie sind daher nicht im eigentlichen Sinne »Teil« seines Erfahrungszusammenhangs, sondern aus dem Wahrnehmungsraum herausfallende Orte, an denen das Scheitern der begrifflichen Assimilation einer außerichlichen Wirklichkeit in die je eigene Innensphäre erfahrbar wird. Alle Vernunftwesen spannen somit ein Netz von potentiell unendlich vielen Ichpolen auf, die einander nicht als innerweltliche Dinge, sondern als gleichmaßen nichtseiende Ursprünge welthafter Erfahrung begegnen. In diesem Falle kann ersichtlicherweise keine transformierende »Anverwandlung« an das eigene Ich erfolgen, da die anderen Mitsubjekte in ebenso hohem Maße an der univoken menschlichen Natur teilhaben und gleichfalls Durchbruchsorte reiner Egoität darstellen, die als solche 212 Eckhart, In Ioh. n. 194, LW III 162,1–5; Übers. ebd. (modifiziert); vgl. auch ebd. n. 669, LW III 582,4–11 sowie ders., Pr. 69, DW III 174,5–7.
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Die ethisch-universalistische Dimension von Eckharts Erster Philosophie
nie anschaulich erfahrbar sind, sondern immer nur Ursprung und Einheitsgrund ihrer je eigenen Welterfahrung sein können. Andererseits stehen diese Ichzentren auch nicht in einer heterogenen Pluralität unverbunden nebeneinander, sondern sind als Zentren einer in die Welt hineinagierenden Spontaneität zu einem gemeinsamen Lebensund Handlungskontext verflochten, der für Eckhart sowohl in ethischer als auch in eschatologischer Hinsicht von besonderer Relevanz ist.
3.2
Die Wirkeinheit mit dem Absoluten als Möglichkeitsgrund ethischer Intersubjektivität
Eckharts philosophisch-theologische Deutung zwischenmenschlicher Beziehungen nimmt ihren Ausgangspunkt vom biblischen Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe: »Du sollst den Herrn, deinen Gott lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit deinem ganzen Denken und mit deiner ganzen Kraft. Als zweites kommt hinzu: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« (Mk 12,30 f.). Hinsichtlich der Beziehung zum Mitmenschen gilt also eine Proportionalität, die deutlich macht, dass das Verhältnis von Selbstliebe und Nächstenliebe kein Nullsummenspiel darstellt, bei dem man den Mitmenschen etwa nur unter der Bedingung lieben könnte, dass man sich selbst und die eigenen Bedürfnisse vernachlässigt und umgekehrt. Ein solches antiproportionales Verhältnis zwischen dem, was man selbst hat, und dem, was man anderen gibt, trifft nur im Bereich der materiellen Wirklichkeit zu, die endlich und von gegenseitiger Ausschließlichkeit geprägt ist. Da die Liebe, von der im Evangelium die Rede ist, aber letztlich einen göttlichen Ursprung hat, ist sie eine unendliche Größe, die durch das Mitgeteiltwerden nicht verringert, sondern gesteigert und potenziert wird. Dies setzt natürlich voraus, dass von der rechten Selbstliebe die Rede ist – also nicht von einer egoistischen Selbstverkapselung, die die eigene empirische Person zum Mittelpunkt der Welt und die eigenen Partikularinteressen zum absoluten Maßstab aller Handlungen erhebt, sondern von der Liebe zum wahren Selbst, das in der Universalität des reinen Ich in uns besteht. In der für ihn charakteristischen Weise deutet Eckhart das biblische Gebot der Nächstenliebe so um, dass es nicht primär als Gebot, d. h. als eine willkürliche, von außen an den Menschen herangetrage155 https://doi.org/10.5771/9783495821633
Das Ich ist nicht von dieser Welt
ne Forderung erscheint, sondern als logische Konsequenz dessen, was das Menschsein als solches ausmacht. Die Liebe zum Mitmenschen und die unbedingte Achtung für seine Person sind nicht Gegenstand eines kategorischen Imperativs, der sich auf ein erst noch zu verwirklichendes Sollen bezieht, sondern Ausdruck eines kategorischen Indikativs, der sich aus dem ergibt, was notwendigerweise immer schon der Fall ist. In dem Maße, wie alle Menschen in der Universalität des Menschseins eins sind und gleichermaßen »Ich« sagen können, sind sie immer schon zu einem Wirklichkeitszusammenhang verbunden, in dem das, was dem einen zustößt, alle anderen gleichermaßen mitbetrifft. Man braucht sich also nicht erst im Modus des »Als-ob« vorzustellen, wie es wäre, wenn einen dasselbe Schicksal beträfe wie den Mitmenschen: Man ist immer schon von dem mitbetroffen, was dem Nächsten widerfährt, sofern man sich nicht nach der Partikularität des »Heinrich« und »Konrad«, sondern nach der Menschheit als solcher nimmt. In Predigt 12 formuliert Eckhart: Hâst dû dich selben liep, sô hâst dû alle menschen liep als dich selben. Die wîle dû einen einigen menschen minner liep hâst dan dich selben, dû gewünne dich selben nie liep in der wârheit, dû enhabest denne alle menschen liep als dich selben, in einem menschen alle menschen, und der mensche ist got und mensche; sô ist dem menschen reht, der hât sich selben liep und alle menschen liep als sich selben, und dem ist gar reht. […] Hæte ich in als rehte liep als mich selben, swaz im denne geschæhe ze liebe oder ze leide, ez wære tôt oder leben, daz wære mir als liep, daz ez mir geschæhe als im, und daz wære rehtiu vriuntschaft. Hast du dich selbst lieb, so hast du alle Menschen lieb wie dich selbst. Solange du einen einzigen Menschen weniger lieb hast als dich selbst, so hast du dich selbst nie wahrhaft liebgewonnen, – wenn du nicht alle Menschen so lieb hast wie dich selbst, in einem Menschen alle Menschen: und dieser Mensch ist Gott und Mensch. So steht es recht mit einem solchen Menschen, der sich selbst lieb hat und alle Menschen so lieb wie sich selbst, und mit dem ist es gar recht bestellt. […] Hätte ich ihn [d. h. meinen Freund, M. R.] so recht lieb wie mich selbst, was immer ihm dann widerführe zur Freude oder zum Leide, sei’s Tod oder Leben, das wäre mir ebenso lieb, wenn es mir widerführe wie ihm, und dies wäre rechte Freundschaft. 213
Das Fundament dieser vollkommen ausgewogenen Selbst- und Nächstenliebe ist letztlich christologischer Natur: die Interessen der eigenen Person und die des Nächsten müssen nicht erst nachträglich 213
Eckhart, Pr. 12, DW I 195,1–6.11–13; Übers. 476 f.
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von außen vermittelt werden, sondern befinden sich bereits in einem vollkommenen Wechselverhältnis auf der Ebene der vom Logos durchdrungenen menschlichen Natur. In dem Maße, wie der göttliche Intellekt als sphaera infinita seinen Mittelpunkt überall hat, lebt er gleichermaßen in allen Vernunftwesen und verbindet sie zu einem unsichtbaren Netz ethischer Synergie, in dem jeder dem anderen gleich nahe bzw. fern ist wie sich selbst. Die perspektivische Asymmetrie des Weltbezugs kommt daher nur auf der Ebene unseres natürlich-biologischen Seins ins Spiel: Unser eigener Leib ist absolut unvergleichlich gegenüber den Leibern aller anderen Menschen und sonstigen Lebewesen, insofern er der einzige Ort ist, an dem unsere Seele wirken kann. 214 In diesem Sinne ist also unsere individuelle Leiblichkeit der nicht abstreifbare Nullpunkt aller unserer Weltbezüge. In dem Maße, wie unsere psychophysische Konstitution jedoch auch Durchbruchsort eines Ich ist, das als rein geistige Instanz nicht den Beschränkungen der Leiblichkeit unterworfen ist, steht sie zugleich in jenem Kontext apriorischer Intersubjektivität, in dem alle Ich-Instanzen einander als völlig gleichwertig erkennen und einander dementsprechend begegnen. In Predigt 5a erläutert Eckhart diesbezüglich: [A]lle die werck, die unnszer herr ye gewúrkt, die hat er mir als eygen gegeben, das si mir nit minder lonbar sind dann mine werk, die ich wúrke. sider uns allen nun glich eygen und glich noch ist, mir als im, all sin edelo keit, warum ennemment wir dann nit glych? Ach, daz verstand! wer zu o diser spend kommen wil, daz er disz gut glych empfoch und gemeine und menschlich natur allen menschen glych noche, also als in menschlich natur o nút frömbdes noch vërrers noch nëhers nit ist, also musz es ouch von not sin, daz du gelich syest in menschlicher gemeinsamkeit, dir selber nit nëher denn einem andern. Du solt alle menschen dir gelich liebhaben und gelich o achten und halten; waz einem andern geschicht, es sy bösz oder gut, daz sol dir sin, als ob es dir geschehe.
Ein pfaffe sprach: ›ich wölte, daz iuwer sêle in mînem lîchamen wære‹. Dô sprach ich: ›wærlîche, sô wære si ein tœrinne dar inne, wann si enkünde dâ mite niht, noch iuwer sêle enkünde in mînem lîchamen niht‹. Kein sêle enkan niht gewürken in keinem lîbe, wan dâ zuo si geordent ist (»Ein Pfaffe sagte: ›Ich möchte, daß Eure Seele in meinem Leibe wäre‹. Da sagte ich: ›Wahrlich, dann wäre sie eine Törin darin, denn sie vermöchte mit ihm nichts auszurichten, noch vermöchte Eure Seele in meinem Leibe etwas‹. Keine Seele vermag in irgendeinem Leibe zu wirken außer in dem, welchem sie zugeordnet ist« [Eckhart, Pr. 70, DW III 191,8–192,3; Übers. 541]). 214
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Das Ich ist nicht von dieser Welt
[A]lle die Werke, die unser Herr je wirkte, die hat er mir so zu eigen gegeben, daß sie für mich nicht weniger lohnwürdig sind als meine eigenen Werke, die ich wirke. Da nun uns allen sein ganzer Adel gleich eigen und gleich nahe ist, mir wie ihm, weshalb empfangen wir denn nicht Gleiches? Ach, das müßt ihr verstehen! Wenn einer zu dieser Spende kommen will, daß er dieses Gut gleicherweise und die allgemeine und allen Menschen gleich nahe menschliche Natur empfange, dann ist es dazu nötig, daß, so wie es in menschlicher Natur nichts Fremdes noch Ferneres noch Näheres gibt, du in der menschlichen Gesellschaft gleich stehest, dir selbst nicht näher als einem andern. Du sollst alle Menschen gleich wie dich lieben und gleich achten und halten; was einem andern geschieht, sei’s bös oder gut, das soll für dich so sein, als ob es dir geschehe. 215
Auch wenn unter dem Gesichtspunkt der natürlichen, biologischleiblichen Existenz zunächst einmal jeder Mensch buchstäblich »sich selbst der Nächste« ist und die Mitmenschen nur in mehr oder weniger großer Entfernung zu sich selbst wahrnimmt, wird dieses räumliche Außereinander der verschiedenen menschlichen Personen durchkreuzt und letztlich aufgehoben von jenem idealen Ineinander, das ihre jeweiligen geistig-intellektuellen Sphären auszeichnet. 216 Auf dieser Ebene kann jedes Ich alle anderen Ichzentren als dem eigenen Ich gleich nahe begreifen und sich damit in eine vollkommene Wirkeinheit mit dem göttlichen Logos begeben, der als schöpferischer Ursprung alles, was ist, vollkommen bejaht und in seinem Sein fördert. Diese – richtig verstandene – Entäußerung gegenüber der eigenen individuellen Personalität bedeutet keinen Verlust, sondern im Gegenteil einen unendlichen Zugewinn, denn in dem Maße, wie man dem Mitmenschen mit der gleichen neidlosen Liebe und Großzügigkeit begegnet, die Gott gegenüber allen Geschöpfen zeigt, kann man die Gnadengaben und alles sonstige Gute, das anderen Menschen zuteil wird, auf geistiger Ebene als gemeinschaftliches Eigentum betrachten, das allen zugutekommt und an dem alle gleichermaßen partizipieren. Eckhart, Pr. 5a, DW I 78,9–79,8; Übers. 446 f. [S]wâ zwei sint, dâ ist gebreste. War umbe? Einez enist daz ander niht, wan daz niht, daz dâ machet underscheit, daz enist niht anders wan bitterkeit, wan dâ enist niht vride. […] Dâ von sprichet er: ›minnet under einander!‹, daz ist: in einander (»[W]o Zwei ist, da ist Mangelhaftigkeit. Warum? Weil das eine nicht das andere ist, denn dieses ›nicht‹, das da Unterschiedenheit schafft, das ist nichts anderes als Bitterkeit, eben weil da kein Friede vorhanden ist. […] Daher spricht er h= unser Herri: ›Liebet einander!‹, das heißt: ineinander [Eckhart, Pr. 27, DW II 48,4–6; 49,3; Übers. 646]). 215 216
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Der Begriff des »Eigenen« bekommt dadurch einen dialektischen Grundzug: Einerseits versteht Eckhart darunter kreatürliche, individuell-personale Existenz, die uns vereinzelt und, wenn sie verabsolutiert wird, uns von Gott und den Mitmenschen trennt. Dieses negative »Eigensein« ist es, das der Mensch abstreifen muss, um sich gemäß seiner universalen Menschheit zu nehmen. 217 Gleichzeitig ist das »Eigene« aber auch Synonym für jene Innerlichkeit, in der der Mensch die ursprunghafte Spontaneität seines »Ich« erfährt, das in ihm lebt und zugleich doch mehr ist als nur »sein eigenes« im persönlich-individuellen Sinn. 218 Diesbezüglich führt Eckhart aus: [W]az ist min leben? daz von innen bewegt wirt von im selber. daz enlept nit, e daz von ussen wirt bewegt. lebend wir denn mit im, so mussend wir ouch mittwúrken von innen in im, also daz wir von ussnen nit enwúrkent; sunder wir söllend dannen ussz bewegt werden, dannen ussz wir leben, daz ist: durch in. Wir mugen und müssen uss unserm aigen wúrken uon innan. Súllen wir denn leben in im oder durch in, so sol er unser aigen sin und súllen wir uss unserm aigen wúrken; also als got alle ding wúrkt uss sinem aigen und durch sich selber, also súllen wir uss demm aygen wúrken, das er ist in uns. Er ist all zumaul unser aygen, und alle ding sind unser aigen in im. Was ist mein Leben? Was von innen her aus sich selbst bewegt wird. Das haberi lebt nicht, was von außen bewegt wird. Leben wir denn also mit ihm, so müssen wir auch von innen her mit ihm mitwirken, so daß wir nicht von außen her wirken; wir sollen vielmehr daraus bewegt werden, woraus wir leben, das heißt: durch ihn. Wir können und müssen haber nuni aus unserm Eigenen von innen her wirken. Sollen wir also denn in ihm oder durch ihn leben, so muß er unser Eigen sein und müssen wir aus unserm Eigenen wirken; so wie Gott alle Dinge aus seinem Eigenen und durch sich selbst wirkt, so müssen hauchi wir aus dem Eigenen wirken, das er in uns ist. Er ist ganz und gar unser Eigen, und alle Dinge sind unser Eigen in ihm. 219
Die Definition von »Leben« als »von innen her bewegt werden« ist aristotelischer Provenienz und bezieht sich im allgemeinen Sinne auf 217 Tertio docemur quod volens filius dei fieri, verbum caro factum in se habitare debet diligere proximum tamquam se ipsum, hoc est tantum quantum se ipsum, abnegare personale, abnegare proprium (»Drittens lernen wir: wer Sohn Gottes werden will, wer will, daß das Fleisch gewordene Wort in ihm wohne, muß den Nächsten lieben wie sich selbst, das heißt so sehr wie sich selbst, und muß das Persönliche und Eigene verleugnen« [Eckhart, In Ioh. n. 290, LW III 242,4–6; Übers. ebd.]). 218 Vgl. dazu den bereits zitierten Aufsatz d. Verf. »Selbstentäußerung und Selbstverleugnung bei Meister Eckhart unter besonderer Berücksichtigung seines lateinischen Schriftwerks«, 131–134. 219 Eckhart, Pr. 5a, DW I 80,19–81,5; Übers. 447.
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jede Form biologischer Lebendigkeit. 220 Doch Eckhart geht über diese naturphilosophische Bestimmung hinaus, indem er dasselbe Kriterium der Spontaneität und Prinzipienimmanenz auf das »Wirken«, also das spezifisch menschliche, ethische konnotierte Handeln ausweitet. Unsere Werke sind dann »lebendig«, d. h. die Frucht wahrer Autonomie, wenn sie aus unserem Eigenen entspringen. Damit ist aber gerade nicht das individuell-personale Eigensein gemeint, das von wechselseitiger Ausschließlichkeit gekennzeichnet ist, sondern die uns innewohnende Spontaneität des reinen Ich, die uns mit allen Mitmenschen und mit Gott verbindet. Auch im ethischen Sinne ist also das Ganze mehr als die Summe seiner Teile, was bedeutet, dass das Interesse jedes »Teiles« dann am besten gewahrt ist, wenn das primäre Ziel seines Wirkens der universale Lebenszusammenhang aller Vernunftwesen ist und nicht nur seine eigene, zum »Dies und das« kontrahierte Existenz. Eckhart entwickelt dieses ethische Grundprinzip aber erneut nicht als Ausdruck eines Sollens, sondern einer bereits verwirklichten transzendentalen Gegebenheit, der man sich durch das eigene Verhalten nur noch konform zu machen braucht. Es bedarf keiner nachträglichen Vermittlung der unterschiedlichen Eigeninteressen der einzelnen Menschen untereinander sowie in ihrer Beziehung zu Gott, sondern vielmehr bilden alle immer schon einen gemeinsamen Organismus, in dem alle Gliedmaßen auf den Gesamtzweck hingeordnet sind und von dessen Verwirklichung profitieren. Mit diesem Deutungsmodell steht Eckhart der klassischen Definition der Kirche als des mystischen Leibes Christi sehr nahe (vgl. 1 Kor 12,26), nur mit dem Unterschied, dass er diese lebendige Verbundenheit nicht auf die Gemeinschaft aller Getauften beschränkt sieht, sondern sie auf die Menschheit als ganze anwendet. In Predigt 30 schreibt er: Hâst dû einen menschen lieber dan den andern, dem ist unreht; und hâst dû dînen vater und dîne muoter und dich selben lieber dan einen andern menschen, im ist unreht; und hâst dû die sælicheit lieber in dir dan in einem andern, im ist unreht. […] Ez ist vil gelêrter liute, die diz niht enbegrîfent, und dünket sie gar swære; aber ez enist niht swære, ez ist gar lîhte. […] Sehet, diu natûre hât hzwô meinungei, daz ein ieglich glit dâ würket an dem menschen. Diu êrste meinunge, die ez meinet in sînen werken, daz ist, daz ez dem lîchamen zemâle diene und dar nâch einem ieglîchen glide sunderlîche als im selben und niht minner dan im selben noch enmeinet sich 220
Vgl. Aristoteles, Physik VIII 2, 252 b 21–23; ders., De anima II 2, 413 b 11–13.
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selben niht mê in sînen werken dan ein ander glit. Vil mê sol ez von gnâden sîn. Got sol ein regel und ein fundament sîn dîner minne. Diu êrste meinunge dîner minne sol blôz sîn an got und dar nâch an dînen næhsten als dich selben und niht minner dan dich selben. Hast Du einen Menschen lieber als einen andern, so ist das unrecht; und hast du deinen Vater und deine Mutter und dich selbst lieber als einen andern Menschen, so ist das unrecht; und hast du die Seligkeit in dir lieber als in einem andern, so ist das unrecht. […] Es gibt viele gelehrte Leute, die das nicht begreifen, und es dünkt sie gar schwer; es ist aber nicht schwer; es ist hvielmehri ganz leicht. […] Seht, die Natur verfolgt bei jedem Glied zweierlei Zwecke damit, daß es am Menschen wirkt. Der erste Zweck, den es in seinen Werken verfolgt, ist, dem Leibe insgesamt zu dienen und danach einem jeglichen Gliede gesondert wie sich selbst und nicht weniger als sich selbst, und es hat sich selbst in seinen Werken nicht mehr im Auge als ein anderes Glied. Um vieles mehr muß das im Bereich der Gnade gelten. Gott soll eine Regel und ein Fundament deiner Liebe sein. Das erste Absehen deiner Liebe soll rein auf Gott und danach auf deinen Nächsten wie auf dich selbst und nicht minder als auf dich selbst gerichtet sein. 221
Die Übertragung des biologischen Vergleichsbildes auf die Liebe zu Gott und dem Nächsten macht deutlich, dass Gott letztlich die vorgängige, lebendige Einheit ist, die alle einzelnen Menschen wie die Glieder eines Leibes miteinander verbindet. Alles Handeln des Menschen soll diese universale Einheit als primären Endzweck im Auge haben, und wo es um die einzelnen Personen geht, stehen die Partialzwecke der einen nicht höher als die der anderen, sondern befinden sich in einem wechselseitigen Regelzusammenhang und bedingen einander. Die ethische Dimension der universalen Verbundenheit aller Vernunftwesen bezieht sich bei Eckhart aber nicht nur auf die unmittelbare Einwirkung eines menschlichen Subjekts auf das andere, sondern beinhaltet ebenso das Hineinagieren in die Welt der Dinge. Das bedeutet, dass die zur Freilegung der eigenen, überempirischen Vernunftnatur erforderliche Selbstbesinnung und reflexive Thematisierung der nach innen wirkenden Kraft des Intellekts nicht zu einer abgesonderten, selbstzweckhaften Übung werden darf, sondern letztlich wieder in eine Haltung einmünden muss, die das eigentliche Telos des ichlichen Wirkens auf den intersubjektiven Lebenszusammenhang aller Menschen und der ihnen gemeinsam zugänglichen Welt der Dinge ausrichtet. 221
Eckhart, Pr. 30, DW II 102,4–104,2; Übers. 657 f.
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3.3
Der zirkuläre Gang der betrachtenden Vernunft in Eckharts Maria-Martha-Predigt
Gemäß der griechisch-aristotelischen Klassifizierung nimmt die »theoretische«, also rein in der zweckfreien Betrachtung der geistigen Zusammenhänge und Prinzipien der Wirklichkeit aufgehende Grundhaltung die höchste Stelle in der Hierarchie der verschiedenen menschlichen Tätigkeiten ein. Die Bedeutung von θεωρία (theôria) ist dabei nicht im verengten Sinne des Theoriebegriffs zu verstehen, wie er im Kontext der modernen Naturwissenschaften geläufig ist, sondern besitzt durchaus eine existentiell-lebenspraktische Komponente, da es sich um eine Form der geistigen Schau handelt, die den Erkennenden zumindest zeitweise der von ihm erkannten Wirklichkeit – im Falle der Metaphysik ist dies Gott bzw. das Göttliche – ähnlich macht. 222 Demgegenüber stellt die praktisch-politische Lebensform nur die zweitbeste Verwirklichung einer vernunftgemäßen menschlichen Existenz dar, da sie der Muße ermangelt und hinter dem Ideal geistiger Autarkie und Selbstgenügsamkeit zurückbleibt, das den antiken Weisen auszeichnet. 223 Durch die Begegnung der griechischen Philosophie mit dem christlichen Glauben wird die philosophische Hierarchisierung der geistig betrachtenden und der praktisch tätigen Lebensform zwar nicht verdrängt, aufgrund der christlichen Neuinterpretation des Gegensatzpaares von vita activa und vita contemplativa aber teilweise in ihrer Bedeutung verändert. 224 Der Hauptunterschied zwischen den beiden Deutungsparadigmen betrifft eine Akzentverschiebung vom äußeren Was zum inneren Wie einer Handlung. So kann beispielsweise ein Mönch, der auf dem Feld arbeitet und nach aristotelischen Kriterien somit eine aktive Lebensform praktiziert, nach christlichen Maßstäben dennoch die vita contemplativa verwirklichen, sofern seine innere geistige Haltung dabei unverrückbar auf Gott hin ausgerichtet ist. Die »Kontemplation« im christlichen Sinne ist daher nicht mehr einfachhin mit der Tätigkeit des Wissenschaftlers bzw. Philosophen identisch, der sich der Erforschung rein geistiger Er-
Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik X 8, 1178 b 8–32; zur neuplatonisch-patristischen Weiterentwicklung dieses Motivs vgl. auch T. Kobusch, »Epoptie – Metaphysik des inneren Menschen«, Quaestio 5 (2005), 23–36. 223 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik X 8, 1178 a 9–1178 b 7. 224 Vgl. dazu D. Mieth, Im Wirken schauen, 117–123. 222
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kenntnisgegenstände widmet, sondern bezieht sich auf die innere Grundhaltung des Menschen, der seinen Geist ganz auf Gott ausrichtet und vom unstillbaren Verlangen erfüllt ist, ihn von Angesicht zu Angesicht zu schauen. 225 Aufgrund dieser Bedeuungsverschiebung können auch monastische Orden wie die Benediktiner, Zisterzienser oder Kartäuser sich als eindeutig kontemplativ verstehen und sich zugleich der Rodung von Wäldern, der Urbarmachung und Bestellung von Ackerland, dem Weinbau, der Fischzucht sowie einem breiten Spektrum von handwerklichen und künstlerischen Tätigkeiten widmen. Entscheidend für die Einstufung als »kontemplativ« ist in diesem Fall die Tatsache, dass die Ordensangehörigen all diesen Tätigkeiten im Rahmen der monastischen Lebensform nachgehen, die maßgeblich von Gebet, Schriftlesung und Meditation geprägt ist, 226 und die aus diesen geistlichen Übungen resultierende Grundhaltung auch in alle anderen Bereiche des alltäglichen Lebens übertragen. Was sie von der vita activa im politisch-gesellschaftlichen Sinne trennt, ist die Tatsache, dass sich die Klöster in aller Regel an einem geographisch abgelegenen Ort befinden, so dass ein Kontakt mit der Mehrheitsgesellschaft der »Weltleute« entweder gar nicht oder nur in geringem Ausmaß stattfindet. Die bei den antiken Philosophen so verpönte Handarbeit ist hingegen eine Form der Aktivität, die der christlichen Kontemplation nicht nur nicht entgegensteht, sondern sie aufgrund ihrer asketisch-disziplinierenden Wirkung sogar fördert. 227 Darüber hinaus gilt für die religiös verstandene vita contemplativa in jedem Falle das ethische Caveat, dass sie nicht zu Lasten der Nächstenliebe gehen darf, sondern sich in dieser zu bewähren hat. 228
225 Contemplativa vero vita est charitatem quidem Dei et proximi tota mente retinere, sed ab exteriore actione quiescere, soli desiderio conditoris inhaerere, ut nil jam agere libeat, sed, calcatis curis omnibus, ad videndum faciem sui Creatoris animus inardescat (Gregor der Große, Homiliae in Ezechielem II, hom. 2, n. 8, PL 76, 953A– B). 226 Vgl. Hugo von St. Viktor, Allegoriae in Novum Testamentum III, cap. 3, PL 175, 805A. 227 Vgl. dazu Regula Benedicti, cap. 48 (»De opera manuum cottidiana«), in: Die Benediktusregel (lat./dt., hg. im Auftrag der Salzburger Äbtekonferenz), Beuron, Beuroner Kunstverlag, 62006, 218–223 sowie D. Mieth, Im Wirken schauen, 77–89. 228 Nemo namque (sicut in libris beati Gregorii legimus) debet propter contemplationem Dei, omnino postponere necessitatem proximi, nec propter necessitatem proximi, contemnere contemplationem Dei (Hugo von St. Viktor, Allegoriae in Novum Testamentum III, cap. 3, PL 175, 805A).
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Bei alledem ist jedoch zu betonen, dass auch die christliche Bedeutung der »Kontemplation« im engeren Sinne, d. h. bezogen auf die Lektüre von Texten und die daran anknüpfenden geistigen Erwägungen, nicht mehr dieselbe Bedeutung wie in der griechischen Philosophie hat. Hauptgegenstand der Betrachtung ist nunmehr die Hl. Schrift sowie die darin bezeugte Offenbarung Gottes in der Person Jesu Christi, dessen Vorbild es sich durch den täglichen Lebenswandel anzugleichen gilt. Letztlich ist das göttliche Wort, das Christus selbst ist, der Hauptgegenstand der Kontemplation, die den Menschen zur Vereinigung mit Gott führen soll; von theoretisch-wissenschaftlicher Erkenntnis im aristotelischen Sinne ist hierbei nicht mehr die Rede. Die primäre Zweckabsicht dieser Form von vita contemplativa ist also gerade nicht »rein theoretischer«, sondern lebenspraktischer Natur, da sie den Menschen durch die innere Ausrichtung auf Gott in allen Bereichen des täglichen Lebens dem Endziel seiner Existenz, der himmlischen Glückseligkeit und der damit verbundenen Gottesschau, näherbringen soll. Im scholastischen Denken des 13. Jahrhunderts wird jedoch unter dem Einfluss des Aristotelismus die Frage nach der Bewertung von vita activa und vita contemplativa wieder stärker der ursprünglichen philosophischen Bedeutung angenähert und mit dieser teilweise verschmolzen. Der Eigenwert der intellektuellen Erkenntnis um ihrer selbst willen rückt erneut in den Vordergrund, so dass auch das Endziel des Menschen, die für das Jenseits erhoffte visio beatifica, in gut aristotelischer Manier als »höchstmögliche Erkenntnis des höchsten Erkenntnisgegenstandes« definiert werden kann. 229 Auch wenn 229 Rerum omnium perfectiones in Deo maxime inveniuntur. Inter alias autem perfectiones in rebus creatis inventas maxima est intelligere Deum: cum natura intellectualis aliis praemineat, cuius perfectio est intelligere; nobilissimum autem intelligibile Deus est. Deus igitur maxime seipsum intelligit (»Die Vollkommenheiten aller Dinge finden sich in Gott im höchsten Maße. Unter allen Vollkommenheiten, die sich in den geschaffenen Dingen finden, ist aber die höchste, Gott zu erkennen, da die geistige Natur, deren Vollkommenheit das Erkennen ist, die anderen [Naturen] überragt; der vorzüglichste Erkenntnisgegenstand aber ist Gott. Gott erkennt sich selbst also in höchstem Maße« [Thomas von Aquin, Summa contra Gentiles I, cap. 47, n. 7; dt. Übers. Bd. I, 185]). – Cum autem omnes creaturae, etiam intellectu carentes, ordinentur in Deum sicut in finem ultimum; ad hunc autem finem pertingunt omnia inquantum de similitudine eius aliquid participant: intellectuales creaturae aliquo specialiori modo ad ipsum pertingunt, scilicet per propriam operationem intelligendo ipsum. Unde oportet quod hoc sit finis intellectualis creaturae, scilicet intelligere Deum (»Da aber alle Geschöpfe, auch jene, die keinen Verstand haben, auf Gott als
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während des irdischen Lebens die Kontemplation im Sinne der unmittelbaren intuitiven Erkenntnis Gottes nicht möglich ist, 230 sind die spekulativen Wissenschaften im antik-aristotelischen Sinne doch nicht nutzlos, sondern führen den Menschen von der sinnlichen Erfahrungswelt über die Erkenntnis der intelligiblen Wirklichkeit zur Erkenntnis Gottes als des ersten Prinzips und bereiten den Menschen dadurch auf die vollkommene, unverhüllte Gottesschau im Jenseits vor. 231 letztes Ziel hingeordnet sind und zu diesem Ziel alle gelangen, insofern sie an der Ähnlichkeit mit ihm einen Anteil haben: so gelangen die geistigen Geschöpfe auf eine besondere Weise zu ihm, nämlich indem sie ihn durch die ihnen eigene Tätigkeit erkennen. Daher ist dies notwendig das Ziel des geistigen Geschöpfes: Gott zu erkennen« [ebd. III, cap. 25, n. 1; dt. Übers. Bd. III, 97. 99]). 230 Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae II-II, q. 180, a. 5. 231 Respondeo dicendum quod, sicut iam dictum est, ad vitam contemplativam pertinet aliquid dupliciter, uno modo, principaliter; alio modo, secundario vel dispositive. Principaliter quidem ad vitam contemplativam pertinet contemplatio divinae veritatis, quia huiusmodi contemplatio est finis totius humanae vitae. […] Quae quidem in futura vita erit perfecta, quando videbimus eum facie ad faciem, unde et perfecte beatos faciet. Nunc autem contemplatio divinae veritatis competit nobis imperfecte, videlicet ›per speculum et in aenigmate‹, unde per eam fit nobis quaedam inchoatio beatitudinis, quae hic incipit ut in futuro terminetur. Unde et philosophus, in X Ethic., in contemplatione optimi intelligibilis ponit ultimam felicitatem hominis. Sed quia per divinos effectus in Dei contemplationem manuducimur, secundum illud Rom. I, ›invisibilia Dei per ea quae facta sunt, intellecta, conspiciuntur‹, inde est quod etiam contemplatio divinorum effectuum secundario ad vitam contemplativam pertinet, prout scilicet ex hoc manuducitur homo in Dei cognitionem (»Wie schon gesagt [Art. 2], gehört etwas auf zweierlei Weise zum beschaulichen Leben; einmal hauptsächlich, sodann in zweiter Linie oder als Ausrichtung. Hauptsächlich gehört zum beschaulichen Leben die Beschauung der göttlichen Wahrheit, weil eine solche Beschauung das Ziel des ganzen menschlichen Lebens ist. […] Diese Beschauung wird im zukünftigen Leben vollkommen sein, wenn wir Ihn schauen werden ›von Angesicht zu Angesicht‹ (1 Kor 13,12). Darum macht sie die Seligen völlig selig. Jetzt aber kommt uns die Beschauung der göttlichen Wahrheit unvollkommen zu, nämlich ›im Spiegel und Rätsel‹ (ebd.); darum wird uns durch sie eine Art Anbruch der Seligkeit [geschenkt], welche hienieden beginnt, um in der Zukunft auf den Gipfel geführt zu werden. Darum verlegt auch der Philosoph die letzte Seligkeit des Menschen in die Beschauung des höchsten Gegenstandes geistigen Verstehens. Weil wir jedoch durch die göttlichen Wirkungen zur Beschauung Gottes hingeleitet werden – nach Röm 1,20: ›Das Unsichtbare Gottes wird in dem, was geschaffen ist, verstandhaft angeschaut‹ –, kommt es, daß auch die Beschauung der göttlichen Wirkungen mitfolgend zum beschaulichen Leben gehört, sofern nämlich der Mensch dadurch zur Erkenntnis Gottes hingeleitet wird« [Thomas von Aquin, Summa theologiae II-II, q. 180, a. 4 c; Übers. in: Die deutsche Thomas-Ausgabe, Bd. 23, Heidelberg / München / Graz, Kerle / Pustet, 1954, 186 f.]).
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Die Überblendung des philosophischen Modells theoretischer Erkenntnis mit dem christlichen Ideal der Kontemplation führt dazu, dass bei Thomas von Aquin die Gestalt der Maria von Bethanien, die Jesus zu Füßen sitzt und ihm lauscht, nicht nur als Prototyp einer ganz auf die göttliche Wahrheit ausgerichteten christlichen Existenz erscheint, sondern zugleich auch wieder mit Attributen beschrieben wird, die an das aristotelische Ideal des selbstgenügsamen, ganz in der Erkenntnis aufgehenden Philosophen erinnern. 232 Doch auch wenn 232 Dicendum est ergo quod vita contemplativa simpliciter melior est quam activa. Quod philosophus, in X Ethic., probat octo rationibus. Quarum prima est, quia vita contemplativa convenit homini secundum illud quod est optimum in ipso, scilicet secundum intellectum, et respectu propriorum obiectorum, scilicet intelligibilium, vita autem activa occupatur circa exteriora. […] Secundo, quia vita contemplativa potest esse magis continua, licet non quantum ad summum contemplationis gradum, sicut supra dictum est. Unde et Maria, per quam significatur vita contemplativa, describitur secus pedes domini assidue sedens. […] Quarto, quia in vita contemplativa est homo magis sibi sufficiens, quia paucioribus ad eam indiget. Unde dicitur Luc. X, ›Martha, Martha, sollicita es et turbaris erga plurima‹. […] Octavo, quia vita contemplativa est secundum id quod est magis proprium homini, idest secundum intellectum, in operationibus autem vitae activae communicant etiam inferiores vires, quae sunt nobis et brutis communes (»Es ist also zu sagen, daß das beschauliche Leben schlechthin besser ist als das tätige Leben. Dies beweist der Philosoph mit acht Gründen. Der erste Grund: Das beschauliche Leben kommt dem Menschen zu im Hinblick auf das Beste in ihm, nämlich im Hinblick auf den Verstand und in Anbetracht der besten Gegenstände, nämlich der geistigen Wahrheiten; das tätige Leben aber beschäftigt sich mit dem Äußeren. […] Zweitens: Das beschauliche Leben kann stetiger sein, wenn auch nicht in bezug auf den höchsten Grad der Beschauung, wie schon gesagt wurde […]. Darum wird auch Maria, durch welche das beschauliche Leben versinnbildet wird, als eifrig ›zu Füßen des Herrn sitzend‹ beschrieben (Lk 10,39). […] Viertens: Im beschaulichen Leben hat der Mensch mehr Selbstgenügsamkeit, weil er weniger dazu bedarf. Darum heißt es Lk 10,41: ›Martha, Martha, du machst dir Sorgen und kümmerst dich um allzuvieles‹. […] Achtens: Das beschauliche Leben liegt in dem, was dem Menschen eigentümlicher ist, nämlich im Verstande; an den Tätigkeiten des täglichen Lebens hingegen nehmen die niederen Kräfte teil, die uns mit den Tieren gemeinsam sind« [Thomas von Aquin, Summa theologiae II-II, q. 182, a. 1 c; Übers. in: Die deutsche Thomas-Ausgabe, Bd. 23, 226 f.]). – Per Ioannem enim contemplativa, per Petrum activa vita signatur. Petrus vero mediante Ioanne instruitur a Christo: quia vita activa de divinis instruitur mediante contemplativa: Maria enim sedens secus pedes domini audiebat verba illius; sed Martha satagebat circa frequens ministerium: Lc. X, 39 (»Johannes versinnbildlicht nämlich die beschauliche und Petrus die tätige Lebensweise. Petrus wird aber von Christus durch Johannes belehrt: denn das tätige Leben wird durch das beschauliche Leben über die göttlichen Dinge belehrt: Maria nämlich saß dem Herrn zu Füßen und hörte seine Worte, Martha aber kümmerte sich um viele Dinge (Lk 10,39)« [ders., Super Ioh., cap. 13, lect. 4; Übers. d. Verf.]).
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mit der scholastischen Wiederaneignung des Aristotelismus eine Aufwertung der ursprünglichen philosophischen Bedeutung der θεωρία (theôria) verbunden ist, 233 bedeutet dies – abgesehen von Ausnahmeerscheinungen wie den lateinischen Averroisten – doch nicht, dass die rein betrachtende Tätigkeit des Wissenschaftlers und Philosophen, für sich genommen, wieder den höchsten Rang in der christlichen Hierarchie der Lebensformen einnähme. 234 Vor allem die Angehörigen des Dominikanerordens, allen voran Thomas von Aquin, sehen sich in der Pflicht, die durch ihr intensives philosophisch-theologisches Studium gewonnenen Einsichten durch Predigt und Seelsorge an ihre Mitmenschen weiterzugeben. Diese Grundhaltung, die im Motto des Dominikanerordens Contemplata aliis tradere (»Die Früchte der Beschauung anderen weitergeben«) ihren Niederschlag gefunden hat, speist sich aus der Überzeugung, dass unter irdischen Bedingungen eine aus Kontemplation und Tätigkeit gemischte Lebensform (vita mixta) vollkommener als die reine vita contemplativa ist, und zwar unter der Bedingung, dass die Tätigkeit darin besteht, durch Lehre und Glaubensunterweisung auch andere Menschen zur Erkenntnis der göttlichen Wahrheit und damit letztlich zur Schau Gottes zu führen. 235 Diese Aufwertung der Akti233 Vgl. L. Sturlese, Vernunft und Glück. Die Lehre vom ›intellectus adeptus‹ und die mentale Glückseligkeit bei Albert dem Großen (Lectio Albertina 7), Münster, Aschendorff, 2005. Eine kritische Bewertung dieser Entwicklung findet sich bei D. Mieth, Im Wirken schauen, 123–127. 234 Eine der provokantesten Thesen der sogenannten »radikalen Aristoteliker« bzw. »lateinischen Averroisten« lautet dahingehend, dass es keine vorzüglichere Lebensform gebe als die des Philosophen (vgl. dazu paradigmatisch Boethius von Dacien, De summo bono sive De vita philosophi, in: Boethii Daci Opera VI/2 [ed. N. G. GreenPedersen), Hauniae, Bagge, 1976]). Da die radikalen Aristoteliker außerdem die These vertreten, dass es kein Jenseits gebe und alle nur mögliche Glückseligkeit daher in diesem Leben erreicht werden müsse, folgt daraus auch, dass nur die Philosophen das höchste Endziel des Menschseins erreichen können. Diese extrem elitäre Grundhaltung der berufsmäßigen Intellektuellen wurde im Jahr 1277 zusammen mit 218 weiteren als »radikalaristotelisch« eingestuften Thesen vom Bischof von Paris verurteilt (vgl. die Thesen Nr. 40, Nr. 144, Nr. 154, Nr. 157 und Nr. 176 in: K. Flasch, Aufklärung im Mittelalter? Die Verurteilung von 1277: das Dokument des Bischofs von Paris, Mainz, Dieterich, 1989, 137 f. 212. 217 f. 221. 230). 235 Sic ergo dicendum est quod opus vitae activae est duplex. Unum quidem quod ex plenitudine contemplationis derivatur, sicut doctrina et praedicatio. […] Et hoc praefertur simplici contemplationi. Sicut enim maius est illuminare quam lucere solum, ita maius est contemplata aliis tradere quam solum contemplari. Aliud autem est opus activae vitae quod totaliter consistit in occupatione exteriori, sicut eleemosynas dare, hospites recipere, et alia huiusmodi. Quae sunt minora operibus contemplatio-
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vität gilt also nicht unumschränkt, sondern betrifft vornehmlich die im weiteren Sinne geistigen Tätigkeiten (Lehre, Predigt usw.), die eine Universalisierung der positiven Effekte geistiger Erkenntnis zum Ziel haben. Dennoch wird durch das von Thomas favorisierte Modell einer vita mixta der soziale Aspekt der theoretischen Wissenschaften im Allgemeinen und der philosophisch-theologischen Erkenntnis im Besonderen in einer Weise hervorgehoben, die sich vom aristotelischen Ideal der individuellen Selbstgenügsamkeit und Autarkie des Metaphysikers abhebt. Meister Eckhart steht als Dominikaner eindeutig in der von Thomas begründeten Tradition der Verbindung von vita activa und vita contemplativa, doch deutet er in seiner berühmten Predigt 86 über Maria und Martha das Verhalten der beiden Schwestern noch einmal anders, als dies bei seinem älteren Ordensbruder der Fall ist. Thomas von Aquin hatte mit Blick auf den Primat der rein kontemplativen bzw. der gemischten Lebensform zwischen einem Vorrang schlechthin (simpliciter) und einem Vorrang unter den Bedingungen des gegenwärtigen Lebens unterschieden. So ist die rein kontemplative Haltung, in sich genommen, zwar der aktiven und der gemischten Lebensform überlegen, sofern die Gottesschau im Jenseits ausschließlich in dieser rein geistigen Betrachtung Gottes bestehen wird. Die vollkommenste irdische Vorwegnahme dieser einfachen, intuitiven Gotteserkenntnis ist für Thomas die ekstatische Entrückung, wie sie beispielsweise der Apostel Paulus erlebt hat. 236 Unter dem Gesichtsnis, nisi forte in casu necessitatis, ut ex supra dictis patet. Sic ergo summum gradum in religionibus tenent quae ordinantur ad docendum et praedicandum (»Demnach ist zu sagen, daß die Aufgabe des tätigen Lebens eine doppelte ist. Eine, welche aus der Fülle der Beschauung fließt, wie die Lehre und die Predigt. […] Und das ist der einfachen Beschauung vorzuziehen. Denn, wie es besser ist, zu erleuchten, als nur zu leuchten, so ist es auch größer, das in der Beschauung Empfangene an andere weiterzugeben, als bloß der Beschauung zu leben« [Thomas von Aquin, Summa theologiae II-II, q. 188, a. 6 c; Übers. in: Die deutsche Thomas-Ausgabe, Bd. 24, Heidelberg / München / Graz, Kerle / Pustet, 1952, 216]). Zu Eckharts Verwirklichung dieses Prinzips vgl. F. Löser, »›Contemplata aliis tradere‹. Aspekte der inneren Schau und der Vermittlung bei Meister Eckhart«, in: M. Roesner (Hg.), Subjekt und Wahrheit. Meister Eckharts dynamische Vermittlung von Philosophie, Offenbarungstheologie und Glaubenspraxis (Eckhart: Texts and Studies 8) Leuven, Peeters, 2018, 79–126. 236 Sic igitur dicendum est quod in hac vita potest esse aliquis dupliciter. Uno modo, secundum actum, inquantum scilicet actualiter utitur sensibus corporis. Et sic nullo modo contemplatio praesentis vitae potest pertingere ad videndum Dei essentiam. Alio modo potest esse aliquis in hac vita potentialiter, et non secundum actum, inquantum scilicet anima eius est corpori mortali coniuncta ut forma, ita tamen quod
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punkt der Universalität ist jedoch im Diesseits die gemischte Lebensform die vollkommenere, weil in ihr das einzelne Individuum nicht nur nach der je eigenen Erreichung des Endziels menschlicher Existenz strebt, sondern auch andere Menschen dazu befähigen will, dorthin zu gelangen. Eckhart grenzt sich in Predigt 86 jedoch auch von dieser bedingten, auf die Perspektive in se beschränkten Höherbewertung der ekstatischen Gottesschau unmissverständlich ab und betont demgegenüber den höheren Wert der natürlichen Vernunfterkenntnis. Die ekstatische Verzückung, für die in paradigmatischer Weise die zu Füßen Jesu sitzende Maria bzw. der Apostel Paulus stehen, ist für Eckhart – anders als für Thomas – nicht Synonym für die höchste geistige Erkenntnis, die man von Gott in diesem Leben gewinnen kann, sondern im Gegenteil eine Form von spirituell verbrämter Sinnlichkeit, die sich am Außerordentlichen berauscht und dabei vergisst, dass Gott kein bestimmtes »Etwas« ist und damit auch nicht zum Gegenstand eines besonderen religiösen Erlebnisses werden kann. 237 non utatur corporis sensibus, aut etiam imaginatione, sicut accidit in raptu. Et sic potest contemplatio huius vitae pertingere ad visionem divinae essentiae. Unde supremus gradus contemplationis praesentis vitae est qualem habuit Paulus in raptu, secundum quem fuit medio modo se habens inter statum praesentis vitae et futurae (»So ist denn zu sagen, daß jemand sich auf zweierlei Art in diesem Leben befinden kann. Einmal dem Akt nach, sofern er sich tatsächlich der Sinne des Leibes bedient. Und in diesem Sinne kann die Beschauung des gegenwärtigen Lebens auf keine Weise zur Schau der göttlichen Wesenheit hingelangen. Auf andere Weise kann jemand sich in diesem Leben dem Können nach, und nicht dem Akt nach, befinden; sofern nämlich seine Seele dem sterblichen Leibe als Formkraft verbunden ist, so jedoch, daß sie sich der Sinne des Leibes oder auch der Einbildungskraft nicht bedient, wie es bei der Entrückung zutrifft. Und in diesem Sinne kann die Beschauung dieses Lebens zur Schau der göttlichen Wesenheit hingelangen. Darum ist die höchste Stufe der Beschauung des gegenwärtigen Lebens jene, die Paulus in der Entrückung einnahm; auf dieser Stufe befand er sich in der Mitte zwischen dem Stand des gegenwärtigen und des zukünftigen Lebens (2 Kor 12,2 ff.)« [Thomas von Aquin, Summa theologiae II-II, q. 180, a. 5 c; Übers. in: Die deutsche Thomas-Ausgabe, Bd. 23, 191 f.]). 237 Daz uns got genuoc sî nâch redelicheit und daz er uns ouch genuoc sî nâch sinnelicheit, daz hât underscheit an den lieben vriunden gotes. Genuoc sîn nâch sinnelicheit, daz ist, daz uns got gibet trôst, lust und genüegede; und hie inne verwenet sîn, daz gât abe den lieben vriunden gotes nâch den nidern sinnen. Aber redelîchiu genüegede, daz ist nâch dem geiste (»Daß Gott uns in geistigem Bezug genugtue und daß er uns auch unserer Sinnennatur nach genugtue, das kann man an den lieben Freunden Gottes hdeutlichi unterscheiden. Der Sinnennatur genugtun, das heißt, daß uns Gott Trost gibt, Beglückung und Befriedigung; und darin verzärtelt zu sein, das geht den lieben Freunden Gottes ab im Bereich der niederen Sinne. Vernunft-
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Dieser »schmecklerischen« Fehlform des geistlichen Lebens stellt Eckhart das »vernunftgemäße Genügen« gegenüber, das er in der Person der Martha, aber auch in den heidnischen Philosophen verwirklicht sieht. Was deren Erkenntnis von den ekstatischen Einsichten einer Maria von Bethanien oder eines Paulus unterscheidet, ist gerade die Tatsache, dass sie ihre Erkenntnisse »nur« mit den Mitteln der natürlichen Vernunft gewinnen, gerade deswegen aber zu genaueren Kenntnissen im Bereich des Lebens und der Tugenden gelangen, als ihnen dies im gnadenhaften Licht der Entrückung möglich wäre: Marthâ bekante baz Marîen dan Marîâ Marthen, wan si lange und wol gelebet hâte; wan leben gibet daz edelste bekennen. Leben bekennet baz dan lust oder lieht allez, daz man in disem lîbe under gote enpfâhen mac, und etlîche wîs bekennet leben lûterer, dan êwic lieht gegeben müge. Êwic lieht gibet ze erkennenne sich selber únd got, aber niht sich selber âne got; aber leben gibet ze erkennenne sich selber âne got. Dâ ez sich selber aleine sihet, dâ merket ez baz daz, waz glîch oder unglîch ist. Daz bewîset sant Paulus und ouch die heidenischen meister. Sant Paulus sach in sînem zucke got únd sich selber nâch geistes wîse in gote, und enwas doch niht bildelîche wîs in im eine iegliche tugent erkennende an daz næhste; und daz was dâ von, daz er sie an werken niht geüebet enhâte. Die meister kâmen mit üebungen der tugende in sô hôch bekantnisse, daz sie eine ieglîche tugent bildelîche nâher bekanten dan Paulus oder dehein heilige in sînem êrsten zucke. Martha kannte Maria besser als Maria Martha, denn sie hatte hschoni lange und recht gelebt; denn das Leben gibt das edelste Erkennen. Das Leben erkennt besser als Lust oder Licht hes vermögeni, alles, was man in diesem Leben unterhalb Gottes h= abgesehen von Gotti erlangen kann, und in gewisser Weise reiner, als es das Licht der Ewigkeit zu verleihen vermag. Das Licht der Ewigkeit hnämlichi läßt uns immer hnuri uns selbst und Gott erkennen, nicht aber uns selbst ohne Gott; das Leben aber gibt uns selbst zu erkennen ohne Gott h= unter Absehung von Gotti. Wo es h= das Lebeni nur sich selbst im Blick hat, da nimmt es den Unterschied von Gleich und Ungleich schärfer wahr. Das bezeugen Sankt Paulus heinerseitsi und andererseits die heidnischen Meister: Sankt Paulus schaute in seiner Verzückung Gott und sich selber in Gott in hreini geistiger hErkenntnis-iWeise; und doch erkannte er in ihm h= in Gotti nicht eine jegliche Tugend in bildhafter Anschauung aufs genaueste; und das kam daher, weil er sie hvori
gemäßes Genügen aber, das ist hGenügeni im Geiste« [Eckhart, Pr. 86, DW III 482,4– 8; Übers. 592; Hervorhebung im Original]).
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Die ethisch-universalistische Dimension von Eckharts Erster Philosophie
seiner Bekehrungi nicht in Werken geübt hatte. Die hheidnischeni Meister hhingegeni gelangten durch Übung der Tugenden zu so hoher Erkenntnis, daß sie eine jede Tugend anschaulich genauer erkannten als Paulus oder irgendein Heiliger in seiner ersten Verzückung. 238
Die Erkenntnisweise, die Eckhart der Martha bzw. den heidnischen Philosophen zuschreibt, zeichnet sich dadurch aus, dass sie Gott gleichsam in Klammern setzt, um das Leben als solches zu betrachten und es aus sich selbst heraus zu verstehen. Diese Ausschaltung der göttlichen Transzendenz hat überraschenderweise keine Verringerung der Reichweite menschlicher Vernunfterkenntnis, sondern im Gegenteil eine Schärfung ihres Potentials zur Folge; erkennt man doch in diesem rein natürlichen Licht die Unterschiede zwischen den verschiedenen Phänomenen, die das Leben insgesamt ausmachen, deutlicher, weil sie in ihrer spezifischen Begrenztheit hervortreten können, anstatt vom Licht des Absoluten überstrahlt zu werden. Auch wenn Eckhart in anderen Texten immer wieder die besondere Beziehung zwischen Gott und der menschlichen Seele und ihr wechselseitiges Sich-ineinander-Erkennen thematisiert, geht aus dem soeben zitierten Passus doch deutlich hervor, dass das reflexive SichInnewerden des besonderen, überempirischen Status der Vernunftseele kein Selbstzweck ist, sondern dazu dient, bei der Betrachtung des eigenen Lebens und seiner ethischen Erfordernisse auf den thematischen Bezug auf Gott auch verzichten zu können. Gerade in dem Maße, wie das Ich sich selbst als transzendentalen Grund seiner Welterfahrung erkennt, braucht es zur Begründung der Normen seines Handelns nicht mehr auf Gott zu rekurrieren, sondern findet die Unbedingtheit seiner Verantwortung in seiner eigenen Wesensnatur immer schon angelegt. Insofern das vernünftige Ich sich gegenüber allen Dingen als qualitativ unterschieden begreift, kann es aus der Erkenntnis der eigenen Überweltlichkeit in das tätige Leben zurückkehren, ohne dadurch Gefahr zu laufen, sich darin zu verlieren und sich wieder nur für einen Teil der geschaffenen Natur zu halten. Das von Eckhart propagierte Modell der vita activa ist deshalb nicht mehr, wie bei Thomas, auf die Predigt und andere Formen des geistig-intellektuellen Nach-außen-Wirkens im weiteren Sinne beschränkt, sondern schließt ausdrücklich auch das Hineinwirken in die Welt der Dinge
238
Eckhart, Pr. 86, DW III 482,17–483,9; Übers. 593.
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mit ein, ohne dass dies zu einem Rückfall in die »Uneigentlichkeit« oder die geistige Zerstreuung führte: Nû kêren wider ze unser rede, wie diu liebe Marthâ und mit ir alle gotes vriunde stânt mít der sorge, niht ín der sorge, und dâ ist daz zîtlich werk als edel als dehein vüegen in got; wan ez vüeget als nâhe als daz oberste, daz uns werden mac, âne aleine got sehen in blôzer natûre. Dâ von sprichet er: ›dû stâst bî den dingen und bî der sorge‹ und meinet, daz si was wol mit den nidern sinnen betrüebet und bekümbert, wan si niht alsô verwenet stuont in geistes süeze. Si stuont bî den dingen, niht in den dingen; si stuont sunder und ez sunder. Nun wollen wir zurückkehren zu unserer Ausführung, wie die liebe Martha und mit ihr alle Freunde Gottes bei der Sorge, nicht aber in der Sorge stehen. Und dabei ist Wirken in der Zeit ebenso adlig wie irgendwelches Sichin-Gott-Versenken; denn es bringt uns ebenso nahe han Gotti heran wie das Höchste, das uns zuteil werden kann, ausgenommen einzig das Schauen Gottes in hseineri reinen Natur. Daher sagt er h= Christusi: »Du stehst bei den Dingen und bei der Sorge« und meint damit, daß sie mit den niederen Sinnen sich wohl der Trübsal und der Kümmernis hum die weltlichen Dingei aussetzte, denn sie war nicht hwie Mariai verzärtelt im Schmecklertum des Geistes. Sie stand bei den Dingen, nicht in den Dingen; sie stand hvon ihneni abgesondert, und sie h= die Dingei standen von ihr gesondert. 239
Der besorgende Umgang mit den Dingen ist bei Eckhart somit nicht etwas anderes als das kontemplative Sich-Versenken in Gott, sondern nur eine andere Weise, dieselbe unmittelbare Präsenz des Ursprungs in allen unseren Werken zu erfahren, sofern wir diese nur aus dem Bewusstsein unserer prinzipiellen Andersartigkeit gegenüber den Dingen heraus tun. Nicht nur die göttliche Transzendenz, sondern auch die Dingwelt verfällt somit zunächst der Einklammerung, wenn es darum geht, das Wesen der Vernunft zu bestimmen und vor diesem Hintergrund den je eigenen konkreten Lebenszusammenhang zu erkennen. Gerade insofern solche falschverstandenen »Transzendenzen« bei der Bestimmung des eigenen Selbstseins ausgeschaltet sind, kann das vernünftige Ich jedoch wieder ohne Scheu in die Welt hineinagieren und auf diese Weise all das wiedergewinnen, was es zum Zweck der Selbstbesinnung und der Erkenntnis des Lebens als solchen zunächst ausgeklammert hatte. Der Weg geistiger Vervollkommnung führt bei Eckhart somit von der Haltung der verzückten, sich in einer zu ihr selbst äußer239
Eckhart, Pr. 86, DW III 488,7–13; Übers. 596 (Hervorhebungen im Original).
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Die ethisch-universalistische Dimension von Eckharts Erster Philosophie
lichen Transzendenz verlierenden Maria zunächst zur Haltung einer Martha, die ihr Genügen in einer natürlichen, rein vernunftgemäßen Betrachtung des eigenen Lebenszusammenhangs findet und vor diesem Hintergrund aktiv in die Welt hineinwirkt. Doch Eckhart bleibt auch dabei nicht stehen, sondern legt dar, dass Maria, nachdem sie durch Martha aus dem passiven Schwelgen in geistlichen Genüssen herausgerissen wurde und durch tätige Bewährung in den Werken leben gelernt hatte, dazu befähigt wurde, zu predigen und zu lehren, mit anderen Worten: die beiden vorangegangenen Stufen ihrer Entwicklung nicht abzustoßen, sondern in einer verinnerlichten Form »aufzuheben«. Eckhart erläutert diesbezüglich: Nû wellent etelîche liute dar zuo komen, daz sie werke ledic sîn. Ich spriche: ez enmac niht gesîn. Nâch der zît, dô die jünger enpfiengen den heiligen geist, dô viengen sie êrste ane, tugende ze würkenne. ›Marîâ saz bî den vüezen unsers herren und hôrte sîniu wort‹ und lernete, wan si allerêrst ze schuole was gesetzet und lernete leben. Aber dar nâch, dô si gelernete und Kristus ze himel gevuor und si den heiligen geist enpfienc, dô vienc si allerêrst ane ze dienenne und vuor über mer und predigete und lêrte und wart ein dinærinne und ein wescherinne der jünger. Sô die heiligen ze heiligen werdent, danne allerêrst vâhent sie ane, tugende ze würkenne, wan danne samenent sie hort êwiger sælde. Nun haberi wollen gewisse Leute es gar so weit bringen, daß sie der Werke ledig werden. Ich haberi sage: Das kann nicht sein. Nach dem Zeitpunkt, da die Jünger den Heiligen Geist empfingen, da erst fingen sie an, Tugenden zu wirken. ›Maria saß zu Füßen unseres Herrn und hörte seine Worte‹ und lernte, denn sie war erst in die Schule genommen und lernte leben. Aber späterhin, als sie gelernt hatte und Christus gen Himmel gefahren war und sie den Heiligen Geist empfangen hatte, da erst fing sie an zu dienen und predigte und lehrte und ward eine Dienerin und eine Wäscherin der Jünger. Wenn die Heiligen zu Heiligen werden, dann erst fangen sie an, Tugenden zu wirken; denn dann erst sammeln sie einen Hort für die ewige Seligkeit. 240
Die rein geistige, doch noch im Sinne einer falschen Transzendenz verstandene Gotteserkenntnis, die Maria in ihrem noch unreifen Anfangszustand verkörpert, wird somit mit Blick auf die ihr zugrunde liegende Intention nicht schlechthin negiert und verworfen. Allerdings muss sie zeitweise ausgeschaltet werden, um auf der Grundlage einer ausschließlich mit der Vernunft betriebenen, aus dem Leben als 240
Eckhart, Pr. 86, DW III 492,5–13; Übers. 598 f. (Hervorhebung im Original).
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solchem hervorgehenden Selbsterkenntnis in verinnerlichter Weise wiedergewonnen zu werden. Erst eine solcherart durch eine »Einklammerung« aller Transzendenzen hindurchgegangene Theo-logie kann dann auch überzeugend nach außen hin vertreten werden, weil sie keine anderen argumentativen Anleihen macht als diejenigen, die grundsätzlich jedem Menschen auf der Grundlage seines je eigenen Lebens und der darauf bezogenen transzendentalen Selbsterfahrung zugänglich sind. Zugleich ist diese Verkündigungstätigkeit aber stets von einem tätigen Wirken im traditionellen Sinne (»Dienerin und Wäscherin«) begleitet, woraus hervorgeht, dass sich die Erkenntnis des göttlichen Logos in ihrer vollendeten Form weder von den alltäglichen Verrichtungen der vita activa absetzt noch in ihnen aufgeht, sondern den Menschen dazu befähigt, beide Tätigkeitsformen, die geistig-betrachtende ebenso wie die praktisch-tätige, aus demselben Prinzip der sich ihrer selbst bewusst gewordenen, immanenten Lebensspontaneität heraus zu wirken. 241
3.4
Die ethische Rolle des Gelehrten in Eckharts philosophischtheologischem Ansatz
Angesichts der Tatsache, dass im Kontext des scholastischen Aristotelismus die kontemplative Maria auch als Synonym für die intellektuelle Erkenntnis Gottes als des intelligibelsten Gegenstandes gilt, kann man das von Eckhart entworfene Modell des Fortschreitens von der unreifen Maria über die im tätigen Leben bewährte Martha hin zur gereiften Maria auch auf die betrachtende Vernunft des Philosophen im Bereich der Ersten Philosophie übertragen. Das Äquivalent zu der mystischen »Verzückung« ist in diesem Zusammenhang die aristotelisch-averroistische Auffassung, dass das Göttliche als der 241 Diese existenziell vermittelte Einheit von vita contemplativa und vita activa, von Maria und Martha, entspricht dem ursprünglichen Ideal der mittelalterlichen Frauenfrömmigkeit, wurde aber nach und nach durch die Aufspaltung in zwei getrennte Lebensformen – klausurierte Nonnen vs. karitativ tätige Beginen – verdrängt. Interessanterweise sind es gerade die Angehörigen der Bettelorden, die der von Martha verkörperten tätigen Lebensweise die höhere Vollkommenheit zubilligen, und zwar nicht zuletzt deswegen, weil sie in ihrem Apostolat von den städtischen Beginen tatkräftig unterstützt wurden. Vgl. dazu M. Wehrli-Johns, »Maria und Martha in der religiösen Frauenbewegung«, in: K. Ruh (Hg.), Abendländische Mystik im Mittelalter, 354–367, hier 354–356. 359 f.
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Die ethisch-universalistische Dimension von Eckharts Erster Philosophie
höchste Gegenstand der metaphysischen Erkenntnis, aber auch der Intellekt, dessen Ausübung die höchstmögliche Form menschlicher Glückseligkeit darstellt, außerhalb des Menschen angesiedelt sind und nur mittels einer ekstatischen Aufstiegsbewegung erreicht oder wenigstens temporär berührt werden können. 242 In dem Moment, wo diese falsche Form einer weltüberhobenen Transzendenz ausgeschaltet wird, bleibt dem Philosophen zunächst einmal nichts weiter als die Erkenntnis der Wirklichkeit, wie sie sich ihm im Zusammenhang seines Welterlebens darbietet. Doch in dem Maße, wie er mittels der natürlichen Vernunft dieses scheinbar rein weltimmanente Leben auf seine Grundstrukturen hin betrachtet, wird er der Tatsache inne, dass sich in der Spontaneität seiner erkennenden und wirkenden Tätigkeit eine absolute Ursprunghaftigkeit bekundet, die nicht Teil der Dingwelt ist, auf die er sich bezieht, sondern davon qualitativ unterschieden ist. Gerade aufgrund der Erkenntnis, dass das Leben nicht einfach ein Geflecht von innerweltlichen Bedingtheiten, sondern vielmehr das Resultat eines ursprunghaften Wirkens von innen her ist, kann der Philosoph nicht mehr für sich beanspruchen, im absolute Sinne eine höhere Lebensform zu verwirklichen als seine Mitmenschen. Was ihn von den Nichtphilosophen unterscheidet, ist lediglich die Tatsache, dass er um diese immer schon im Menschen anzutreffende Immanenz des Ursprungs, die daraus resultierende Freiheit sowie die Pflicht zu einer ethischen Lebensgestaltung weiß. Daraus ergibt sich für den eckhartschen Ersten Philosophen, der kein bloßer Metaphysiker im aristotelischen Sinne mehr ist, der transzendentale Imperativ, auch seine Mitmenschen zu dieser Form der Selbsterkenntnis zu führen und dadurch seinen Beitrag zur Verwirklichung einer immer vernunftgemäßeren Lebens- und Wirkensgemeinschaft aller Menschen zu leisten. Vor diesem Hintergrund sind all jene Stellen in Eckharts Werken von besonderem Interesse, in denen er nicht nur von der Philosophie und Theologie als Wissenschaften, sondern ganz konkret von der Person des Philosophen und Theologen spricht, und 242 Inwiefern die Vorstellung einer räumlich-kosmologischen Transzendenz des Göttlichen bereits bei Aristoteles selbst angelegt ist oder sich einer irrtümlichen Deutung gewisser Aussagen in seinen naturphilosophischen Schriften durch spätere Ausleger verdankt, ist nicht gänzlich klar. Vgl. dazu H. Happ, »Kosmologie und Metaphysik bei Aristoteles. Ein Beitrag zum Transzendenzproblem«, in: K. Flasch (Hg.), Parusia. Studien zur Philosophie Platons und zur Problemgeschichte des Platonismus, Frankfurt a. M., Minerva, 1965, 155–187, hier 155 f. 173. 175. 179 f.
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zwar sowohl mit Blick auf den akademischen Wirkungskreis als auch mit Blick auf die gesellschaftliche Funktion dieser berufsmäßigen Intellektuellen. Es lässt sich nicht leugnen, dass Eckhart in seinen Schriften, vor allem aber in seinen deutschen Predigten, auf den universitären Lehrbetrieb in Paris und andernorts zu sprechen kommt und nicht wenige seiner Kollegen, die er bisweilen ironisch als grôze pfaffen bezeichnet, zu »grobsinnigen Meistern« erklärt, denen trotz all ihrer Gelehrsamkeit oft wesentliche Grundeinsichten über das Wesen Gottes und des Menschen abgehen. 243 Zugleich ist Eckhart bestrebt, keine Zwei-Klassen-Theologie zu entwickeln, die zwischen dem philosophisch-theologischen Fachdiskurs an der Universität und der spirituell-pastoralen Unterweisung im Rahmen von Predigt und Seelsorge inhaltliche Unterschiede macht. Sein Grundsatz ist vielmehr, dass es nur eine Wahrheit für alle Menschen gibt und dass man dementsprechend auch dem »Ungelehrten«, also dem akademisch nicht vorgebildeten Zuhörer, dieselben anspruchsvollen Einsichten philosophisch-theologischer Art zumuten kann und muss, die sich in der wissenschaftlichen Reflexion als wahr erwiesen haben. 244 Dieser Umstand macht deutlich, dass Eckhart die berufsmäßigen Philosophen und Theologen nicht grundsätzlich kritisiert, sondern nur insofern, als sie ihre Tätigkeit losgelöst von ihrem Lebensumfeld betreiben und ihre Mitmenschen nicht an den bedeutsamen Einsichten, die sie durch ihre Forschungstätigkeit gewonnen haben, teilhaben lassen. Die theoretisch-spekulative Erkenntnis genießt bei Eckhart also nach wie vor eine besondere Hochschätzung, doch erhält sie nunmehr durch die Pflicht zur universalen Weitergabe an die Nichtakademiker eine ethische, auf die Menschheit als ganze abzielende Stoßrichtung. In seiner in Paris gehaltenen lateinischen Universitätspredigt zum Fest des hl. Augustinus legt Eckhart die ethisch-praktische Dimension der wissenschaftlichen Erkenntnis in der wohl detailliertesten Weise dar. Die Gestalt des hl. Augustinus dient ihm dabei als paradigmatische Verkörperung des existentiell vermittelten Zusammenspiels von intellektuellen und ethischen Tugenden, das idealerweise jeden Gelehrten auszeichnen sollte. Dieser Ansatz ist insofern von besonderem Interesse, als die allgemeine Tendenz im Aristotelis243 Vgl. Eckhart, Pr. 9, DW I 145,7–146,2; ders., Pr. 28, DW II 66,5–6; ders., Pr. 29, DW II 83,4–84,9; ders., Pr. 70, DW III 188,1–6; 191,8–192,2. 244 Vgl. Eckhart, Buch der göttlichen Tröstung, DW V 60,25–61,11.
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Die ethisch-universalistische Dimension von Eckharts Erster Philosophie
mus des 13. Jahrhunderts dahin geht, der philosophischen Ethik eine Eigenständigkeit sowohl gegenüber der Offenbarungstheologie als auch gegenüber der Metaphysik einzuräumen. Albertus Magnus hatte erstmals eine solche Unabhängigkeit der praktischen Vernunft gegenüber der spekulativen Erkenntnis der ersten Ursache betont und damit auch die relative Eigenständigkeit des politischen Glücks im Unterschied zur intellektuellen Glückseligkeit des Metaphysikers anerkannt. 245 Die im Bereich der Moral erforderliche Vernunft ist auf die als recta ratio definierte Klugheit beschränkt und schließt die höheren intellektuellen Tugenden, die den Bereich der spekulativen Vernunft betreffen, ausdrücklich nicht ein. Die »Weisheit« (sapientia) ist für Albert diejenige Form der Erkenntnis, die die moralischen Gegenstände im Licht ihrer ersten Ursache betrachtet, auf die das menschliche Handeln letztlich zustrebt, nämlich die Glückseligkeit. Doch ist diese ausdrückliche thematische Rückbindung der praktischen Vernunft an die erste Ursache für die Konstitution der Ethik als eigenständiger philosophischer Disziplin nicht zwingend erforderlich. 246 Bei Albert sind die als philosophische Theologie verstandene Metaphysik und die Ethik als Lehre vom moralisch richtigen Handeln daher klar voneinander unterschieden. Problematisch ist diese Konzeption allerdings insofern, als es unter diesen Voraussetzungen schwierig ist, die unbedingte Verbindlichkeit der ethischen Normen allein aus der Klugheit (recta ratio) heraus zu begründen, da bei Albert ein individualethischer Ansatz vorherrscht und das aristotelische Korrektiv einer durch die Polis vermittelten Verbindlichkeit des Ethos fehlt. 247 Vor diesem Problemhintergrund ist Eckharts Bestimmung des Verhältnisses von spekulativ-theoretischer Erkenntnis und ethischpraktischer Vernunft ein interessanter Gegenentwurf, der die bei Albert sichtbar werdenden Aporien zu lösen vermag, ohne die aristotelische Unterscheidung zwischen den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen einfach aufzuheben. Auch wenn sich Eckhart vor dem Hintergrund seiner Einheitsmetaphysik nicht mit einem bloßen Nebeneinander von Ethik, Metaphysik und Offenbarungstheologie 245 Vgl. Albertus Magnus, Super Ethica I 7 (ed. Coloniensis), 33–36. Vgl. dazu auch G. Wieland, Ethica – scientia practica, 277 f. 246 Vgl. Albertus Magnus, Super Ethica II 1 (ed. Coloniensis), 90 sowie dazu G. Wieland, Ethica – scientia practica, 273 f. 278 f. 247 Vgl. Albertus Magnus, Super Ethica VI 1 (ed. Coloniensis), 391–398; ebd. VI 7 (ed. Coloniensis), 436–445. Vgl. G. Wieland, Ethica – scientia practica, 279.
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Das Ich ist nicht von dieser Welt
zufriedengeben kann, bedeutet das doch nicht, dass die Bedeutung der praktischen Vernunft wieder hinter die als theoretische Wissenschaft gefasste Metaphysik zurückträte. 248 Vielmehr folgt aus der egologischen Fundierung, die Eckhart der Ersten Philosophie gibt, dass die unterschiedlichen Dimensionen der spekulativen wie der praktischen Vernunft in der Person des jeweiligen Denkers zusammengeführt und aus der ichlichen Spontaneität seines Weltbezuges heraus erschlossen werden müssen. Eckhart beginnt seine Predigt auf den hl. Augustinus mit dessen rühmender Erwähnung als bonus theoricus, egregius logicus et excellentissimus ethicus (»ein guter Theoretiker, ein vorzüglicher Logiker und ein überragender Ethiker«). 249 Diese Charakterisierung spiegelt zunächst einmal die klassische antike Einteilung der unterschiedlichen philosophischen Disziplinen wider, die sich in dieser oder ähnlicher Form bereits bei den Stoikern findet und sich in unterschiedlichen Varianten bis ins Mittelalter durchhält. 250 Die Tatsache, dass Eckhart die Ethik an letzter Stelle nennt und Augustinus auf diesem Gebiet die höchste Kompetenz (excellentissimus) bescheinigt, deutet bereits darauf hin, dass die praktische Vernunft für ihn einen besonderen Stellenwert besitzt. Diese Tendenz wird dadurch bestätigt, dass er in der weiteren, an Aristoteles angelehnten Unterteilung der philosophia theorica einen Zusatz einfügt, der über das aristotelische Modell hinausgeht. Im Anschluss an die mathematica und physica, die den ersten beiden Abstraktionsstufen der theoretischen Wissenschaften bei Aristoteles entsprechen, nennt Eckhart nämlich die ethica sive theologia, die der dritten Stufe, d. h. der Metaphysik als »göttlicher Wissenschaft« entspricht. 251 Doch während Aristoteles die im Bereich der Ersten Philosophie betriebene philosophische Theologie klar von der Ethik und erst recht von der Politik als Disziplinen der
248 Diese Deutung findet sich bei A. Speer, »Ethica sive theologia. Wissenschaftseinteilung und Philosophieverständnis bei Meister Eckhart«, in: J. A. Aertsen / ders. (Hg.), Was ist Philosophie im Mittelalter?, 683–693, hier 692. 249 Eckhart, Sermo die b. Aug. n. 2, LW V 89,8–9; Übers. ebd. 250 Die klassische stoische Unterteilung lautet zumeist logica – ethica – physica. Der Akzent liegt dabei aber eindeutig auf der Ethik, was bedeutet, dass auch die Physik nicht um ihrer selbst willen betrieben wird. Vielmehr soll die Erkenntnis der Gesetzmäßigkeiten des Kosmos den Menschen dazu anleiten, sein Leben in Übereinstimmung mit dieser universalen, vernunftgemäßen Harmonie der Wirklichkeit zu gestalten. Vgl. dazu Chrysippos, frgm. 4, SVF III (ed. von Arnim), 3 f. 251 Eckhart, Sermo die b. Aug. n. 2, LW V 89,13–90,1; Übers. ebd.
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Die ethisch-universalistische Dimension von Eckharts Erster Philosophie
praktischen Philosophie abgrenzt, 252 nennt Eckhart die Ethik nach der zunächst angeführten Trias theorica – logica – ethica hier ein zweites Mal und setzt sie mit der Theologie synonym. Wenn man diese beiden Wissenschaften in klassischer Weise von ihrem jeweiligen subiectum her definierte, erschiene diese Gleichsetzung in der Tat seltsam und schwer zu verstehen. Doch der weitere Text gibt Aufschluss darüber, wie man diesen scheinbaren Widerspruch auflösen kann. Eckhart schreibt: Ethicus sive theologus ideas rerum, quae in mente divina, antequam prodirent in corpora, ab aeterno quo modo ibi intelligibiliter exstiterunt, subtilius intuetur (»Der Ethiker oder Theologe betrachtet tiefer schauend die Ideen der Dinge, die im göttlichen Geiste, bevor sie in die Körperwelt hinausgingen, von Ewigkeit her in intelligiblen Formen bestanden«). 253 Diese Definition ist auf den ersten Blick fast wortgleich mit der Definition der Theologie, die sich bei Clarembald von Arras in seinem Kommentar zu Boethius’ Traktat De trinitate findet. Doch während bei Clarembald das Subjekt dieser Betrachtung die theoretische Wissenschaft selbst ist (theorica […] per theologiam ideas rerum […] contemplatur 254), spricht Eckhart vom ethicus sive theologus als konkreter Person und gibt dem gesamten Wissenschaftsmodell dadurch eine existenzielle Verankerung. Die Tatsache, dass auch der Ethiker die Ideen der Dinge unter Absehung von ihrem tatsächlichen Erschaffensein betrachtet, macht deutlich, dass zur Begründung der Ethik im ursprünglichen Sinne zunächst eine Einklammerung der Welt als faktisch existierender stattfinden muss. Erst auf der Grundlage der solcherart freigelegten Wesensstrukturen der Dinge und der Menschen kann eine Form von praktischer Philosophie entworfen werden, der es nicht primär um konkrete Handlungsanweisungen geht, sondern vielmehr um eine transzendentalethische Einsicht in die Voraussetzungen, die jeder konkreten Individualethik und politischen Philosophie immer schon zugrunde liegen. Im weiteren Verlauf seiner Predigt erwähnt Eckhart auch den Begriff der sapientia, den er bemerkenswerterweise nicht im aristotelischen Sinne als Ausdruck für die Metaphysik als höchstmögliche
252 253 254
Vgl. Aristoteles, Metaphysik II 1, 993 b 19–23. Eckhart, Sermo die b. Aug. n. 2, LW V 90,8–10; Übers. ebd. Eckhart, Sermo die b. Aug. n. 2, LW V 90,10 (Anm. 4).
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Das Ich ist nicht von dieser Welt
spekulative Erkenntnis versteht, 255 sondern als Synonym für die Grundlage der Tugend. Er schreibt: Sapientia igitur beati Augustini fuit sibi pro materia virtutis, virtutis inquam monasticae, politicae et theologicae. Monastica virtus ordinat er perficit hominem in se ipso, quia opus eius est carnis suppeditatio. Actus virtutis monasticae est hhic; fructus eius esti spiritualis laetitia. […] Virtus politica est luculenta bonorum operum exercitatio et perficit hominem et ordinat in civium collegio. Actus virtutis politicae est haec, quae exhibet opera amicis in deo et inimicis propter deum in tantum, ut ›si esurierit inimicus, cibat illum; si sitit, potum dat ei‹. Fructus autem qui ex hoc sequitur, est non tantum civium, sed etiam inimicorum vindicata amicitia. […] Theologica virtus perficit hominem cum deo, quia est integra spiritus conservatio ex carnis subiectione. Actus virtutis theologicae, id est fidei, dilectionis, est hic. Fructus eius est spiritualis effectus gratiae ad perfectionem iustitiae. Die Weisheit also des hl. Augustinus war für ihn Tugend, Tugend nämlich, die auf das Einzelwesen, die Gesellschaft und auf Gott gerichtet war. Die auf den Menschen als Einzelwesen gerichtete Tugend ordnet und vervollkommnet ihn in sich selbst, und ihr Werk ist die Unterwerfung des Fleisches (unter den Geist). Dies ist also der Akt der auf das Einzelwesen gerichteten Tugend; ihre Frucht ist die geistliche Freude. […] Die gesellschaftliche Tugend besteht in der offenkundigen Übung guter Werke; sie vervollkommnet und ordnet den Menschen in der Gemeinschaft seiner Mitbürger. Der Akt der gesellschaftlichen Tugend besteht darin, daß sie den Freunden Gutes tut in Gott und den Feinden um Gottes willen, bis zu dem Grade, daß ›wenn der Feind Hunger leidet, sie ihn speist; wenn er dürstet, sie ihm zu trinken gibt‹ (Röm. 12,20). Die Frucht aber, die daraus erwächst, ist eine gesicherte Freundschaft nicht nur mit den Mitbürgern, sondern auch mit den Feinden. […] Die göttliche Tugend vervollkommnet den Menschen in seinem Verhältnis zu Gott, da sie die unangetastete Bewahrung des Geistes infolge der Unterwerfung des Fleisches ist. Der Akt der göttlichen Tugend, das heißt des Glaubens und der Liebe, ist dieser. Seine Frucht ist die geistliche Wirkung der Gnade zur Vollendung der Gerechtigkeit. 256
Dieser Passus macht deutlich, dass für Eckhart die Weisheit im höchsten Sinne, die zunächst in der Betrachtung der reinen Ideen im göttlichen Geist unter Absehung von der realen Existenz der Dinge besteht, zugleich auch die Quelle aller praktischen Tugenden ist, und 255 256
Vgl. Aristoteles, Metaphysik I 2, 982 b 14–21. Eckhart, Sermo die b. Aug. nn. 8–10, LW V 96,7–10; 97,4–8.12–14; Übers. ebd.
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Die ethisch-universalistische Dimension von Eckharts Erster Philosophie
zwar sowohl mit Blick auf deren individualethische und sozialethisch-politische Dimension als auch mit Blick auf die göttlichen Tugenden (Glaube und Liebe), die über die rein natürliche Ausstattung des Menschen hinausgehen. In den beiden erstgenannten Bereichen der virtus monastica und der virtus politica, die die natürlichen Tugenden betreffen, spricht Eckhart von einer Vervollkommnung und Ordnung des Menschen in Bezug auf sich selbst sowie in Bezug auf seine Mitmenschen (perficit et ordinat in se ipso / perficit et ordinat in civium collegio). In Eckharts anthropologischem Modell gehören der erste und der zweite Aspekt untrennbar zusammen, denn die rechte Ordnung, die der Mensch in seinem Inneren schaffen muss, besteht darin, dass er die empirisch-individuelle Dimension seiner Existenz an dem ausrichtet, was in ihm ungeschaffen ist, nämlich sein reines Ich, das ihn mit allen Vernunftwesen gleichermaßen verbindet. Insofern schlägt die individualethische Selbstbesinnung notwendigerweise um in eine Ethik, die sich allen Menschen gleichermaßen verpflichtet weiß, ungeachtet der Unterschiede zwischen Vertrautheit und Fremdheit bzw. zwischen Freundschaft und Feindschaft, die auf faktischer Ebene zwischen den Menschen bestehen können. Doch Eckhart gibt sich mit dieser Zweiteilung der natürlichen Tugenden nicht zufrieden, sondern fügt noch eine dritte Form der Tugend hinzu, die sich auf die übernatürlichen, theologischen Tugenden Glaube und Liebe (fides, dilectio) bezieht. Überraschenderweise ist hier nur noch von einer Vervollkommnung des Menschen (perficit hominem cum deo), aber nicht mehr von einer »Ordnung« oder »Ausrichtung« die Rede. Das deutet darauf hin, dass diese dritte Dimension der Tugend nur erreicht werden kann, wenn die ersten beiden Formen der natürlichen Ethik bereits verwirklicht sind und der Mensch somit bereits auf vollkommene Weise in sich selbst und in der Beziehung zu seinen Mitmenschen geordnet ist. Hier geht es demnach nicht um etwas inhaltlich Neues, sondern um die unendliche Intensivierung jener Gerechtigkeit, die von der Sache her schon im Bereich der natürlichen Tugenden auf dem Gebiet der Individualethik und der Politik leitend ist. Letztlich wird die ethische Gemeinschaft von ichlichen Vernunftmonaden durch die Beziehung auf Gott nicht in ihrem Wesen verändert, sondern auf das Ideal absoluter Gerechtigkeit hin geöffnet, die innerweltlich nie vollkommen faktisch realisiert werden kann und gerade deshalb jede endliche Konfiguration menschlicher Sozialität aufbricht und über sich selbst hinausverweist. 181 https://doi.org/10.5771/9783495821633
Das Ich ist nicht von dieser Welt
Indem Eckhart postuliert, dass der Gelehrte – hier verkörpert durch den hl. Augustinus – die Einsicht in diese Zusammenhänge und damit auch die daraus folgenden ethischen Tugenden in herausragendem Maße besitzt, macht er ihn zu einem Prototypen und Vorbild dessen, was idealerweise von allen Menschen erkannt und praktiziert werden soll. Der Intellektuelle, der zunächst die real existierende Welt in Klammern setzt, um die Wesensstrukturen der Dinge zu betrachten, ist dadurch gerade nicht »abgehoben« von der Welt des praktischen Handelns, sondern erkennt, dass die ethisch-politische Verflochtenheit aller Vernunftwesen untereinander kein bloßes Faktum, sondern eine transzendentale Notwendigkeit ist. Gerade in dem Maße, wie er von der empirischen Wirklichkeit absieht, gewinnt er Zugang zu jener Sphäre wahrer Universalität, von der aus die »Menschheit« nicht als abstraktiv gewonnener Allgemeinbegriff für die Gesamtheit faktisch existierender Personen erscheint, sondern vielmehr zum Ausdruck eines apriorisch Seinsollenden wird, das notwendigerweise den Bezug zu Gott als der absoluten Verwirklichungsform vernünftiger Subjektivität miteinschließt. Gerade weil Eckhart den Ursprung aller Ethik in der Betrachtung jener Ideen verortet, die vor der Erschaffung der Welt in Gottes Geist existieren, ist ethisches Handeln in seinen Augen nie eine rein innerweltlich-natürliche Angelegenheit, sondern Teil jener Rückkehrbewegung, die die Vielheit des Geschaffenen wieder in ihren göttlichen Einheitsgrund zurückträgt. Grundsätzlich ist dies eine Aufgabe, die auch der Intellekt des Menschen in seiner theoretischen Ausprägungsform ausübt. Doch während es bei der intellektuellen Erkenntnis lediglich darum geht, die Formen der Dinge abstraktiv aus ihrer Versenkung in der Materie herauszulösen und sie durch Erkenntnis ihrer Prinzipien in ihren Ursprung zurückzutragen, 257 vollziehen sich die menschliche Existenz und das menschliche Handeln innerhalb der materiellen Wirklichkeit. Ethisches Handeln in Eckharts Sinne bedeutet somit, dass unsere einzelnen Entscheidungen und unser konkretes Verhalten innerhalb der materiellen Welt so beschaffen sein müssen, dass in ihnen die individuelle Teleologie dieses oder jenes Einzelzwecks informiert ist von jenem universalen Telos, das der geschaffenen Wirklichkeit im Allgemeinen sowie der Menschheit im Besonderen das Ziel ihrer Entwicklung vorgibt. Insofern nach Eckhart der vollkommene Gelehrte Vgl. Eckhart, In Exod. n. 265, LW II 213,11–214,7; ders., Super Eccl. n. 9, LW II 237,9–238,7.
257
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Die ethisch-universalistische Dimension von Eckharts Erster Philosophie
erkennt, dass Ursprung und Ziel der Wirklichkeit identisch sind, und dementsprechend lebt, präfiguriert er jene Harmonie von theoretischer und praktischer Vernunft, von Erkenntnis und Liebe, die sich in vollkommener Weise in universal-intersubjektiver Form, nämlich in der idealen Gemeinschaft des »Reichs Gottes«, verwirklichen soll.
3.5
Der inkarnatorische Charakter gesamtmenschheitlicher Vollendung
Sowohl aus Eckharts lateinischen Werken als auch aus seinen deutschen Predigten geht klar hervor, dass der Aspekt der Heilsgeschichte im eigentlichen Sinn für ihn praktisch kaum eine Rolle spielt. So verzichtet er bewusst darauf, im Verhältnis zwischen Altem und Neuem Testament das diachrone Schema von »Verheißung« und »Erfüllung« am Werk zu sehen, und konzentriert sich stattdessen auf den in beiden Testamenten erkennbaren Unterschied zwischen Textpassagen, die im Modus der Zeitlichkeit, Veränderlichkeit und Faktizität sprechen und die Wahrheit daher nur näherungsweise erkennen können, und anderen Textstellen, die im Modus der Überzeitlichkeit, Unveränderlichkeit und Universalität artikuliert sind und die Wahrheit im Modus absoluter Gewissheit aussprechen. 258 Die erstgenannte Ausdrucksweise ist für Eckhart synonym mit »Moses«, die zweite mit »Christus«, doch da sich beide Modi durch die gesamte Hl. Schrift hindurchziehen, findet das klassische typologische Auslegungsmodell bei Eckhart keine Anwendung. Letztlich ist der Durchbruch zur Wahrheit in ihrer absolut reinen, evidenten Form in jedem Moment der Geschichte und an jedem Ort in gleicher Weise möglich, 259 so dass es bei der Enthüllung der göttlichen Wahrheit keine progressive innergeschichtliche Entwicklung im eigentlichen Sinne geben kann. Ebenso wenig scheint für Eckhart die eschatologische Perspektive eine Rolle zu spielen, die, ausgehend vom einmaligen geschichtlichen Wendepunkt des Christusereignisses, die gesamte nachfolgende Zeitspanne als den letzten Akt der Weltgeschichte versteht, der mit der Wiederkunft Christi und dem Jüngsten Gericht sein Ende finden wird. Und schließlich ist auch ganz allgemein die Frage nach dem Jenseits im Sinne des individuellen menschlichen Schicksals nach dem 258 259
Vgl. Eckhart, In Ioh. nn. 185–186, LW III 154,14–156,6. Vgl. Eckhart, Pr. 66, DW III 113,8–114,2.
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Das Ich ist nicht von dieser Welt
Tod für Eckhart praktisch kein Thema. Seine Theologie ist ganz vom Gedanken einer präsentischen Eschatologie beherrscht, die das ewige Leben schon hier und jetzt, nämlich in der »abgeschiedenen« Haltung gegenüber unserer innerzeitlich-individuellen Existenz und der bewussten Erkenntnis unserer Teilhabe am überzeitlichen Selbsterkenntnisprozess Gottes, beginnen lässt. 260 Dementsprechend gründet sich für Eckhart auch die unabweisbare Notwendigkeit einer ethischen Lebensgestaltung nicht auf einen wie immer beschaffenen Lohngedanken oder die Idee einer von außen erfolgenden Vergeltung guter und böser Taten durch Gott, sondern ganz allein auf den Gedanken der vollkommenen Liebe zur Gerechtigkeit um ihrer selbst willen. 261 Insofern scheint sich die Frage nach der endgültigen Erfüllung menschlicher Existenz für Eckhart schon auf individuell-überzeitlicher Ebene zu lösen, ohne die Frage nach dem letzthinnigen Schicksal der Menschheit als ganzer auch nur zu stellen und dafür auf eine wie immer geartete Transzendenz zum jeweils gegenwärtigen Lebenszusammenhang rekurrieren zu müssen. Allerdings ist diese Schlussfolgerung nicht ganz zutreffend, da Eckhart sehr wohl – wenn auch äußerst sparsam – gewisse Andeutungen macht, die Aufschluss darüber geben, wie er den Unterschied zwischen dem irdischen Leben der einzelnen Menschen und ihrer eschatologischen Vollendung im Jenseits konzipiert. Die ausführlichste Erörterung dieser Problematik findet sich in Predigt 67, in der Eckhart die Frage der Auferstehung des Leibes so thematisch explizit erörtert, wie dies bei ihm sonst nie der Fall ist. Grundsätzlich vertritt Eckhart auch in diesem Text die Auffassung, dass wir bereits in diesem Leben zur absoluten Einheit mit Gott gelangen können. Diese Einheit erfolgt dadurch, dass das, was in uns schlechthin eins ist – der sich nicht phänomenalisierende Grund der Seele – über die trinitarischen Bezüge hinausgeht und durchbricht in den Einheitsgrund der Gottheit. Eckhart legt dar: Daz got in der kraft ist, daz sîn wir in dem bilde; daz der vater ist in der kraft und der sun in der wîsheit und der heilige geist in der güeticheit, daz sîn wir in dem bilde. ›Dâ bekennen wir, als wir bekant sîn‹, und minnen, als wir geminnet sîn. […] Diz ist noch allez werk in den persônen. Hie oben ist wesen únwürklich; sunder dâ ist aleine wesen únd werk. […] Nû merket mich! Dar obe nimet si êrste die lûter absolûcio des vrîen wesens, daz dâ ist 260 261
Vgl. Eckhart, Pr. 38, DW II 230,4–232,7. Vgl. Eckhart, Pr. 6, DW I 103,1–104,7.
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sunder dâ, dâ ez ennimet noch engibet; ez ist diu blôze isticheit, diu dâ beroubet ist alles wesens und aller isticheit. Dâ nimet si got blôz nâch dem grunde dâ, dâ er ist über allez wesen. […] Diz ist diu hœhste volkomenheit des geistes, dâ man zuo komen mac in disem lebene nâch geistes art. Was Gott in der Kraft ist, das sind wir in dem »Bilde«: was der Vater in der Kraft und der Sohn in der Weisheit und der Heilige Geist in der Gutheit ist, das sind wir in dem »Bilde«. ›Da erkennen wir, wie wir erkannt werden‹, und lieben, wie wir geliebt werden. […] Dies alles ist noch Wirken in den Personen. Oberhalb dessen haberi ist nichtwirkendes Sein. Dort aber gibt es nur Sein und Wirken. […] Nun merkt auf mich! Erst oberhalb dessen erfaßt sie h= die Seelei die reine »Absolutheit« des freien Seins, das ohne »Da« h= Orti ist, wo es weder empfängt noch gibt: es ist vielmehr die reine Seinsheit, die alles Seins und aller Seinsheit beraubt ist. Dort erfaßt sie Gott rein dem hgöttlicheni Grunde nach, wo er über alles Sein hinaus ist. […] Dies ist die höchste Vollkommenheit des Geistes, zu der man in diesem hirdischeni Leben zu gelangen vermag auf geistige Weise hd. h. unter Ausschluß des Körpersi. 262
Dieser Passus beginnt mit der für Eckhart charakteristischen These, dass die Seele ihre Gottebenbildlichkeit aus der unmittelbaren Teilhabe am Lebenszusammenhang der Dreifaltigkeit bezieht. Wir sind dadurch Gottes Bild, dass der Vater in unserer Vernunftseele in absoluter Wesensgleichheit seinen Sohn gebiert und der Heilige Geist als die Blüte dieser Sohnesgeburt uns der Liebe Gottes teilhaftig macht. Doch für Eckhart ist dieses unmittelbare Einbezogensein ins Leben der Dreifaltigkeit noch nicht die höchste und erstrebenswerteste Stufe der Einheit mit Gott, die der Mensch in diesem Leben erreichen kann, da es sich auf dieser Ebene immer noch um eine Einheit im Wirken handelt, aber noch nicht um eine Einheit im Sein. Um dahin zu gelangen, muss auch die dynamische Relationalität der innertrinitarischen Hervorgänge noch überstiegen werden, so dass die Seele ihre Bildhaftigkeit und die damit verbundene Binnendifferenzierung ihrer unterschiedlichen Vermögen verliert und erkennt, dass sie auf der Ebene ihres einfachen, nichtwirkenden Seins immer schon eins ist mit dem gleichfalls nichtwirkenden, sich nicht trinitarisch manifestierenden Einheitsgrund der Gottheit. Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass diese Stufe für Eckhart die höchste für den Menschen erreichbare Vollkommenheit 262 Eckhart, Pr. 67, DW III 132,2–4.7–8; 133,4–134,1; Übers. 529 (Hervorhebungen im Original).
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darstellt, da es sich hier um eine rein geistige Einheit mit Gott handelt, an der Leib und Seele aufgrund ihrer funktionalen Differenziertheit und ihrer Eingeschränktheit auf »diese und jene Person« nicht beteiligt sind. Vor diesem Hintergrund könnte man erwarten, dass Eckhart den biologischen Tod als etwas Positives deutet, da er den nicht in die Gottheit zu integrierenden »empirischen Rest« unserer personhaften Existenz auflöst. Obwohl manche Stellen in seinen Predigten dies nahezulegen scheinen, 263 ist dies jedoch nicht der Fall, sondern vielmehr interpretiert Eckhart den Übergang vom diesseitigen zum jenseitigen Leben dergestalt, dass auch die individuelle Leiblichkeit und die Einzelseele in gewandelter Weise weiterexistieren, wenn auch in einem universalen Zusammenhang, der die Grenzen der irdisch-faktischen Personalität überschreitet. Gerade weil schon in diesem Leben das reine Ich nicht losgelöst von der geschaffenen Person, sondern nur in unmittelbarer Funktionseinheit mit ihr existiert, muss auch die eschatologische Vollendung des Menschen dieser Einheit zwischen dem transzendentalen Einheitsgrund einerseits und der Vielheit der Seelenvermögen und leiblichen Organe andererseits Rechnung tragen. Eine »nur« auf der geistigen Ebene des Seelengrundes stattfindende Einigung mit Gott wäre demgegenüber nicht die höchste Vollendung des Menschen, weil sie diese unmittelbar erlebte Einheit mit seiner empirischen Person nicht auszudrücken vermag. Eckhart führt diesbezüglich aus: Aber ez enist niht diu beste volkomenheit, die wir iemer besitzen suln mit lîbe und mit sêle, daz der ûzerste mensche alzemâle enthalten werde in dem understantnisse habehnei von dem persônlîchen wesene alsô, als diu menscheit und diu gotheit an der persônlicheit Kristî éin persônlich wesen ist, daz ich in dem selben understantnisse habe des persônlîchen wesens, daz ich daz persônlich wesen selber sî, alzemâle lougenlîche mîn selbes verstantnisses alsô, als ich nâch geistes art éin bin nâch dem grunde alsô, als der grunt selbe ein grunt ist: – daz ich nâch dem ûzersten wesene daz selbe persônlich wesen sî, alzemâle beroubet eigens understantnisses. Aber dies [d. h. die Einheit mit dem göttlichen Grund unter Ausschluss des Körpers, M. R.] ist nicht die beste Vollkommenheit, die wir auf immer mit Leib und mit Seele so besitzen werden, daß der äußere h= leiblichei Mensch
263 Obwohl Eckhart grundsätzlich eine positive Sicht auf die Leiblichkeit des Menschen hat, bezeichnet er doch bisweilen den Körper und sogar alle nicht-intellekthaften Teile der menschlichen Seele als »Kerker« (vgl. Eckhart, Pr. 17, DW I 285,1–6; ders., Sermo LV,4 n. 548, LW IV 459,1–8).
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völlig aufbehalten werde im Haben des Gehaltenwerdens durch das personhafte Sein so, wie die Menschheit und die Gottheit in der Personhaftigkeit Christi ein personhaftes Sein sind, so daß ich in eben demselben das Gehaltenwerden des personhaften Seins so besitze, daß ich das personhafte Sein völlig selbst sei unter Verleugnung meines Selbstverständnisses, nach dem ich in geistiger Weise meinem hSeelen-iGrunde nach ebenso eins bin, wie der hgöttlichei Grund ein Grund ist: so also, daß ich meinem äußeren Sein nach dasselbe personhafte Sein bin, ganz meines eigenen Gehaltenseins beraubt. 264
Was im Jenseits gegenüber der irdischen Existenz des Menschen noch korrigiert werden muss, ist nicht seine leibseelische Komplexität als solche, sondern die einseitige Zentriertheit auf das vermeintliche Insichsein der je eigenen, zu »dieser oder jener Person« kontrahierten Existenz. Diese Verengung wird dadurch überwunden, dass der einzelne Mensch aus sich selbst hinausgerückt wird, indem das Lebensprinzip seiner Person nicht mehr in ihm selbst liegt, sondern in der Personhaftigkeit des erhöhten und verherrlichten Christus, in der alle Dimensionen des Menschseins ihre universalisierende Entsprechung finden: Die Seele des einzelnen Menschen wird in der Seele Christi aufbehalten sein, und der Leib des einzelnen Menschen wird im Leib Christi weiterbestehen. Obwohl Christus während seines irdischen Lebens eine konkrete, zum »Dies und das« vereinzelte Person war, ist diese Beschränkung unter eschatologischer Perspektive dahingehend aufgehoben, dass seine verklärte, erhöhte Personalität als konkretes Allgemeines zugleich die ganze Menschheit umfasst und in einen universalen Lebenszusammenhang einfügt. Das bedeutet nicht, dass die einzelnen Seelen mitsamt den ihnen zugehörigen Leibern sich auflösten und unterschiedslos in der numerisch einen Person Christi aufgingen, sondern vielmehr, dass die individuellmenschliche Person eine exzentrische Verankerung in der Personhaftigkeit Jesu erhält, die die Einzelpersonen zu einer intersubjektiven Gemeinschaft verbindet, in der die leibseelische Komplexität des Menschen nicht aufgehoben, sondern nur auf ihren christologischen Lebensgrund hin durchsichtig gemacht wird. Eckhart erläutert diesen Umstand folgendermaßen: Diz persônlich wesen mensche-got entwehset und überswebet dem ûzersten menschen alzemâle, daz er ez niemer ervolgen enkan. […] Alsô als der inner mensche nâch geistes art entvellet sînes eigens wesens, dâ er in 264
Eckhart, Pr. 67, DW III 134,1–9; Übers. 529 f. (Hervorhebungen im Original).
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dem grunde éin grunt ist, alsô müeste ouch der ûzer mensche beroubet werden eigens understantnisses und alzemâle behalten understantnisse des êwigen persônlîchen wesens, daz daz selbe persônlich wesen ist. […] Wan denne got in dem grunde des vaters êwiclîche inneblîbende ist und ich in im, ein grunt und der selbe Kristus, ein understandicheit mîner menscheit, sô ist si als wol mîn als sîn an einer understandicheit des êwigen wesens, daz beidiu wesen lîbes und sêle volbrâht werden in éinem Kristô, éin got, éin sun. Dieses personhafte Mensch-Gott-Sein entwächst und schwebt ganz über dem äußeren Menschen, so daß dieser es niemals erreichen kann. […] So wie der innere Mensch auf geistige Weise seinem eigenen Sein entfällt, wenn er mit dem hgöttlicheni Grunde ein Grund ist, so müßte auch der äußere Mensch seines eigenen Gehaltenseins beraubt werden und ganz das Gehaltensein des ewigen Seins erhalten, das dieses nämliche personhafte Sein ist. […] Da nun Gott h= Christusi im Grunde des Vaters ewig innebleibend ist und ich in ihm halsi ein Grund und als derselbe Christus, halsi ein Träger meiner Menschheit, so ist sie sowohl die meine wie die seine in einer Substanz des ewigen Seins, so daß beider Sein, des Leibes und der Seele, in einem Christus vollendet werde als ein Gott, ein Sohn. 265
Was sich unter eschatologischen Gesichtspunkten verändern wird, ist somit das Inhärenzverhältnis zwischen der einzelnen Person und ihrem universalen Seinsgrund. Mit Blick auf das irdische Leben deutet Eckhart das menschliche Individuum nicht in aristotelischer Art als hylemorphische Einzelsubstanz, sondern als partikularisierendes Akzidens der einen menschlichen Natur. 266 Man kann also nicht sagen, dass die universale menschliche Natur in den einzelnen menschlichen Personen verwirklicht ist und dort subsistiert, sondern vielmehr existiert die einzelne Person nur insofern, als sie der universalen menschlichen Natur inhäriert, die nicht auf ein »Dies und das« eingeschränkt ist. In dem soeben zitierten Passus geht Eckhart jedoch noch einen Schritt weiter und gibt auch der universalen Menschheit, aus der die einzelne Person ihr Menschsein bezieht, einen Träger, nämlich die Person Christi. Die menschliche Natur ist also kein abstrakt-universaler Oberbegriff, unter den sowohl die Individualität Christi als auch die Individualität aller anderen menschlichen Wesen subsumiert werden könnten, sondern vielmehr ist die
265 Eckhart, Pr. 67, DW III 134,9–10.17–135,4.11–15; Übers. 530 (Hervorhebungen im Original). 266 Vgl. Eckhart, Pr. 46, DW II 381,2–382,6.
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Person Christi der eigentliche Träger der universalen Menschheit, von der der einzelne Mensch eine akzidentelle Einschränkung darstellt. Das bedeutet, dass nach dem Tod die individuierende Vereinzelung zu »dieser oder jener Person« nicht einfach zugunsten der homogen-universalen menschlichen Natur abgestreift wird, sondern dass die nur scheinbare Subsistenz der empirischen Einzelpersonen in die reale Subsistenz der in Christus exemplarisch verwirklichten menschlichen Natur überführt wird. Diese Inhärenz wird aber – anders als beim Verhältnis zwischen allgemein-menschlicher Natur und individueller Person – nicht mehr nach dem Verhältnis von Substanz und Akzidens interpretiert, sondern vielmehr als das Verhältnis zwischen den Gliedern eines Leibes und dem Organismus als ganzem. Der erhöhte und verherrlichte Christus ist somit Synonym für die ideale eschatologische Konkordanz zwischen den beiden Aspekten des Menschseins, die sich unter irdischen Bedingungen in einem Konkurrenz- oder Ausschlussverhältnis befinden, nämlich der Universalität der menschlichen Natur und der individuellen Besonderung der einzelnen empirischen Personen. Während des irdischen Lebens muss der Mensch von den singularisierenden Individualzügen seines »Heinrich und Konrad« absehen, um der menschlichen Natur gemäß zu leben, die der Universalhorizont ethischen Handelns ist. Im Jenseits hingegen steht die Individualität der je eigenen leibseelischen Existenz nicht mehr im Widerspruch zur allgemeinen menschlichen Natur, da die egozentrischen Verengungen der Kreatürlichkeit durch das unmittelbare Eintreten in den Lebenszusammenhang der Person Christi überwunden werden, der in seiner menschlichen Individualität zugleich die relative Universalität der menschlichen Natur sowie die absolute Universalität und Allgemeinheit der göttlichen Natur verwirklicht. Letztere ist nicht nur im ontologisch-metaphysischen Sinne das alle Dinge verbindende communissimum (»Allergemeinsamste«), 267 sondern erweist sich auch als Wirklichkeitsgrund jeder Gemeinschaft von Vernunftwesen, die sich nicht nur als faktisch bestehende Sozialität, sondern als Ort der intersubjektiven Verwirklichung eines absolut seinsollenden Ideals – der Gerechtigkeit als solcher – versteht. Auch wenn deren Umsetzung unter irdischen Bedingungen nie vollkommen gelingen wird, steht für Eckhart doch fest, dass sie unter eschatologischen Bedingungen als trinitarisch-
267
Vgl. Eckhart, In Exod. n. 102, LW II 104,1–4.
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christologisch fundierte Liebesgemeinschaft all derjenigen Menschen ihre Verwirklichung finden wird, die den universalen Lebenszusammenhang der Menschheit mit ihrem göttlichen Grund schon während ihres irdischen Lebens durch ihre Werke bezeugt haben. 268 Demnach erschöpft sich Eckharts egologisch fundierte Erste Philosophie also nicht in einem rein innerweltlich-irdischen Erkenntnisstreben, sondern hat eine praktisch-eschatologische Stoßrichtung. Letztlich zielt sie darauf ab, die Gemeinschaft menschlicher Vernunftmonaden nicht nur auf der Ebene ihres Ich in einen Vollzugszusammenhang mit dem Göttlichen zu bringen, sondern auch ihre gesamte leibseelische Verfasstheit in die Lebensgemeinschaft mit dem Absoluten hineinzunehmen und als Teil der universalen Inkarnation des Logos zu begreifen.
4.
Zusammenfassung
In Eckharts besonders gearteter, intellekttheoretisch fundierter Neubestimmung des Verhältnisses von Philosophie und Theologie, von theoretischer Welterkenntnis und praktischem Weltverhalten werden gewisse Grundmotive erkennbar, die seinen Ansatz sowohl von den Entwürfen seiner Zeitgenossen als auch von den Subjektphilosophien späterer Zeiten abheben. Der wohl offenkundigste Unterschied betrifft die Tatsache, dass er nicht mehr nur über den Intellekt und dessen besonderen ontologischen Status im Unterschied zu den Naturdingen spricht, sondern ihn unter egologischer Perspektive, d. h. ausgehend vom »Ich« bzw. ego in seinem wesenhaften Vollzugscharakter betrachtet. Eckharts Analysen dieser dem Ich eigenen Dynamik nehmen zwar ihren Ausgang von der göttlichen Selbstmanifestation »Ich bin, der ich bin« (Ego sum qui sum) aus Ex 3,14, doch wird an seiner weiteren Behandlung dieser Fragestellung deutlich, dass er die besondere Stellung des Ich als Ausdruck absoluter, nicht mehr wirkursächlich ableitbarer Ursprunghaftigkeit und Spontaneität keineswegs als alleiniges Privileg des göttlichen Intellekts versteht, sondern es auf das Ich im Menschen ausweitet. Diese Vervielfältigung des reinen, überempirischen Ich ist deshalb so ungewöhnlich, weil mit ihr die klassische Unterscheidung zwischen menschlich-endlichem und göttlich-unendlichem Geist dahinfällt, die nicht nur im 268
Vgl. Eckhart, Pr. 67, DW III 135,5–11.
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Zusammenfassung
scholastischen Denken des Mittelalters, sondern auch bis in die neuzeitliche Philosophie hinein die Grundvoraussetzung aller erkenntnistheoretischen Entwürfe gebildet hatte. 269 Zugleich versteht Eckhart dieses reine Ich aber nicht als statische Substanz, sondern als quellende Selbstproduktion, die sich beständig neu erzeugt und immer schon auf das Andere ihrer selbst – andere Ich-Instanzen sowie die aus der Veräußerlichung der innertrinitarischen Lebensdynamik erfließende Welt der Dinge – bezogen ist. Dabei fällt auf, dass Eckhart die Intersubjektivität – sowohl mit Blick auf die Beziehung des Menschen zu Gott als auch mit Blick auf die Gemeinschaft der Menschen untereinander – nicht vom Begriff der Person, sondern von dem des Ich her entwirft. Die Personalität des Menschen als innerweltliche Manifestation der ichlichen Dynamik und notwendiges Organ für ihr Hineinwirken in die Welt ist unter irdischen Bedingungen zunächst Synonym für jene Form der Individuation, die die Menschen voneinander unterscheidet und sie als einander äußerlich erscheinen lässt. Letztlich ist es daher erforderlich, dass die intersubjektive Verflochtenheit, die sich in der Sphäre der Innerweltlichkeit lediglich auf der Ebene der Ichzentren adäquat verwirklichen kann, unter eschatologischen Gesichtspunkten auch auf die leibseelische Dimension des Menschseins ausgeweitet wird. Diese universal-inkarnatorische Liebesgemeinschaft, in der die je eigene Personalität nicht mehr raumzeitlich vereinzelt existieren, sondern in der Personhaftigkeit Christi gehalten und damit in einen gemeinsamen Lebenszusammenhang integriert sein wird, kann für Eckhart unter irdischen Bedingungen lediglich auf der Ebene des ethischen Wirkens antizipiert, aber nicht im ontologischen Sinne vollgültig eingelöst werden. Dieser Aspekt seines Denkens ist der wohl einzige Punkt, an dem ein Unterschied zwischen der philosophischen und
269 Jan M. Broekman deutet genau diese beiden Charakteristika – das Dahinfallen des Wesensunterschiedes zwischen endlichem und unendlichem Bewusstsein sowie die daraus folgende Pluralisierung der Instanzen des transzendentalen ego – als Spezifikum der Husserlschen Phänomenologie im Unterschied zu Descartes’ und Kants Subjekttheorien. Diese Einschätzung ist mit Blick auf die neuzeitlichen Autoren zweifellos richtig, doch findet sich in Meister Eckharts Egologie bereits eine mittelalterliche Antizipation dieser beiden Grundzüge der husserlschen Lehre vom reinen Bewusstsein. Vgl. dazu J. M. Broekman, Phänomenologie und Egologie. Faktisches und transzendentales Ego bei Edmund Husserl (Phaenomenologica 12), Den Haag, Nijhoff, 1963, 210.
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Das Ich ist nicht von dieser Welt
der offenbarungstheologischen Perspektive und damit auch ein – wenngleich in seinen systematischen Konsequenzen so weit wie möglich minimierter – eschatologischer Vorbehalt sichtbar wird.
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III. Das reine Ich als Möglichkeitsgrund von Welt, Personalität und Absolutem bei Edmund Husserl
1.
Phänomenologie als egologisch fundierte Erste Philosophie
1.1
Die Grundlagenkrise der Wissenschaften als Katalysator für die Entwicklung von Husserls Phänomenologie
Im Unterschied zu Meister Eckhart entwickelt Husserl seine Konzeption des reinen Ich nicht innerhalb einer offenbarungstheologisch geprägten Weltsicht, sondern ausgehend von der wissenschaftstheoretischen Problemlage, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts herausgebildet hatte. Diese Zeit ist vor allem dadurch gekennzeichnet, dass sich die einzelnen naturwissenschaftlichen und geisteswissenschaftlichen Fächer und Disziplinen gegenüber der Philosophie emanzipieren, jeweils eigene, neue Methoden entwickeln und der Vorstellung einer übergreifenden Universalwissenschaft, ganz gleich, welcher Couleur, eine entschiedene Absage erteilen. Für die Philosophie hat dies die Konsequenz, dass sie die spekulativen Ansprüche der klassischen metaphysischen Tradition wie auch des deutschen Idealismus nicht länger aufrechterhalten kann, sondern ihre eigenen Ziele und Aufgaben vor dem Hintergrund eines grundlegend gewandelten Wissenschaftsparadigmas neu bestimmen muss. Angesichts der Tatsache, dass die anderen Fächer in autonomer Weise jeweils einen bestimmten, genau abgegrenzten Bereich der Wirklichkeit bearbeiten, geht die Tendenz dahin, den Zuständigkeitsbereich der Philosophie ebenfalls auf ein gesondertes Spezialgebiet zu beschränken, und zwar die Erkenntnis als solche, die in allen anderen Wissenschaften implizit angewendet, aber nicht mit Blick auf ihre Grundstrukturen, ihre Möglichkeitsbedingungen sowie ihre Reichweite und Grenzen problematisiert wird. Wo sich die akademische Philosophie des späten 19. Jahrhunderts mit der Frage nach der Subjektivität befasst, geschieht dies daher zumeist in einer erkenntnistheoretisch funktionalisierten Art und Weise, die sich am Methoden193 https://doi.org/10.5771/9783495821633
Das reine Ich als Möglichkeitsgrund von Welt, Personalität und Absolutem
ideal bestimmter Einzelwissenschaften – im Marburger Neukantianismus sind dies die mathematischen Naturwissenschaften, in der Südwestdeutschen Schule des Neukantianismus die Geisteswissenschaften – orientiert. Obwohl die verschiedenen Strömungen des Neukantianismus das Faktum der Einzelwissenschaften als eine unhintergehbare Vorgabe allen Philosophierens verstehen, 1 die als solche nicht in Frage gestellt wird, verfolgen sie doch das Projekt einer apriorischen, universalgültigen Erkenntnislehre, die die Eigenständigkeit der theoretischen und praktischen Philosophie gegen alle naturalistischen Reduktionismen zu verteidigen sucht. 2 Der wachsende Einfluss der empirisch orientierten Disziplinen führt jedoch dazu, dass auch die traditionell der Philosophie vorbehaltene Erforschung des Menschen in seinen unterschiedlichen Formen des theoretischen wie praktischen Weltbezugs und Weltverhaltens zunehmend mit aposteriorisch-experimentellen Aspekten vermischt wird. Dieser Umbruch zeigt sich besonders deutlich am radikalen Bedeutungswandel des Begriffs der Psychologie. Diese hatte als Lehre von der menschlichen Subjektivität und ihren verschiedenen Vermögen ehedem unter dem Titel der »rationalen Seelenlehre« (psychologia rationalis) einen Zweig der »speziellen Metaphysik« (metaphysica specialis) gebildet. 3 Demgegenüber versteht sich die Psychologie des 19. Jahrhunderts als 1 Vgl. U. Renz, Die Rationalität der Kultur. Zur Kulturphilosophie und ihrer transzendentalen Begründung bei Cohen, Natorp und Cassirer, Hamburg, Meiner, 2002; dies., »Zwischen erkenntnistheoretischem Rationalismus und wissenschaftsphilosophischem Empirismus. Zu Cohens Philosophiebegriff«, in: C. Dammböck (Hg.), Philosophie und Wissenschaft bei Hermann Cohen / Philosophy and Science in Hermann Cohen, Cham, Springer International Publishing, 2018, 1–12; G. Edel, »›Faktum Wissenschaft‹ oder ›Einheit des Bewusstseins‹ ? Zur Frage des Ausgangspunktes der Philosophie: Kant, Cohen, Wiener Kreis«, in: ebd., 205–225, hier 205 f. 211–217; G. Scholz, »Das Historismusproblem und die Geisteswissenschaften im 20. Jahrhundert«, Archiv für Kulturgeschichte 71,2 (1989), 463–486. 2 Vgl. H. Cohen, Logik der reinen Erkenntnis, 4; ders., Ethik des reinen Willens, Berlin, B. Cassirer, 1904, 9–11. 27; P. Natorp, Einleitung in die Psychologie nach kritischer Methode, Freiburg i. Br., Mohr, 1888, 4–13; W. Windelband, »Geschichte und Naturwissenschaft«, in: ders., Präludien. Aufsätze und Reden zur Einleitung in die Philosophie, Tübingen, Mohr, 1907, 355–379; H. Rickert, Grundprobleme der Philosophie, Tübingen, Mohr, 1934, 158–166. 178. 183; ders., Die Probleme der Geschichtsphilosophie, Heidelberg, Carl Winters Universitätsbuchhandlung, 21924, 25. 37–39. 45. 60. 64. 107–109. 118. 3 In dieser Bedeutung wird der Begriff der psychologia rationalis auch noch von Kant verwendet, wenngleich er die damit bezeichnete Disziplin im Rahmen des Paralogis-
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Phänomenologie als egologisch fundierte Erste Philosophie
eine dezidiert antimetaphysische, weitgehend empirisch-experimentell verfahrende Wissenschaft, die nicht mehr von einem apriorischuniversalen Vorverständnis der menschlichen Natur ausgeht, sondern diese durch die Analyse der konkreten physiologischen Grundstrukturen und der beobachtbaren Verhaltensweisen menschlicher Individuen induktiv zu bestimmen sucht. 4 In dem Moment, wo die psychophysische Verfasstheit des Menschen nicht mehr unter primär philosophischen Gesichtspunkten, sondern nur noch als Teil des Naturzusammenhangs betrachtet wird, gerät auch der Anspruch des wissenschaftlichen Denkens, zu überzeitlich-universalgültigen Erkenntnissen gelangen zu können, ins Wanken. Wenn das Vernunftvermögen nicht mehr den unabdingbaren Wesenszug einer als unveränderlich gedachten menschlichen Natur bildet, sondern nur noch das Produkt der de facto so und nicht anders abgelaufenen biologischen Evolution der Spezies Homo sapiens darstellt, ist es nur folgerichtig, auch die vermeintlich idealen, empiriefreien Axiome und Prinzipien der Logik und Mathematik als bloße Tatsachengesetze zu deuten, die lediglich eine faktisch-allgemeine, aber keine apodiktisch-universale Geltung beanspruchen können. Vor diesem Hintergrund versucht der sogenannte Psychologismus, grundlegende mathematische Begriffe wie den der Zahl in einem empirisch-genetischen Sinne umzudeuten, d. h. nicht als eine unabhängig vom menschlichen Denken bestehende, ideale Wirklichkeit, sondern als Ergebnis bestimmter kognitiver Prozesse, die durch psychologische Mechanismen wie selektive Aufmerksamkeit, Assoziation, Kolligieren usw. gesteuert werden. Unter dieser Voraussetzung hätte es keinen Sinn, von einem »Wesen der Zahl« im allgemeinen Sinne zu reden, sondern die Frage, was Zahlen sind, könnte nur unter Verweis auf das tatsächliche Zustandekommen unserer individuellen, psychologischen Zahlvorstellungen beantwortet werden. Dass bei einer solchen genetischen Reduktion von Denkinhalten auf menkapitels der Kritik der reinen Vernunft als transzendentallogischen Trugschluss entlarvt. Vgl. dazu I. Kant, KrV, A 333–405 / B 390–432. 4 Der wohl prominenteste Vertreter einer solchen radikal antimetaphysischen, physiologisch-naturwissenschaftlichen Umdeutung von Kants Transzendentalphilosophie ist Hermann Helmholtz. Vgl. A. Riehl, »Helmholtz als Erkenntnistheoretiker«, Naturwissenschaften 35,9 (1921), 702–708 sowie M. Heidelberger, »Helmholtz’ Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie im Kontext der Philosophie und Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts«, in: L. Krüger (Hg.), Universalgenie Helmholtz. Rückblick nach 100 Jahren, Berlin, De Gruyter, 1994, 168–185, hier 181–183.
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Das reine Ich als Möglichkeitsgrund von Welt, Personalität und Absolutem
Denkprozesse die Gefahr besteht, in einen erkenntnistheoretischen Relativismus oder sogar Skeptizismus zu verfallen, liegt auf der Hand. 5 Die zweite Erschütterung, die den Status der Mathematik im 19. Jahrhundert zweifelhaft werden lässt, ist die sogenannte »Krise der Anschauung«. Seit der Antike hatte die Geometrie als das unangefochtene Fundament der Mathematik gegolten, da die anschauliche Ausweisbarkeit stets das entscheidende Kriterium für den Beweis der Richtigkeit arithmetischer Berechnungen gebildet hatte. Trotz ihres Charakters als Wissenschaft von idealen, überzeitlichen Entitäten und deren gedanklichen Verknüpfungen hatte die Mathematik dadurch eine Rückbindung an die konkrete Wirklichkeit bewahrt und daraus ihr Sinnfundament bezogen. Im 19. Jahrhundert ging jedoch durch die von Riemann betriebene Entwicklung einer nichteuklidischen Geometrie und durch die von Hilbert vorgenommene Formalisierung der euklidischen Axiome dieser anschauliche Grundcharakter der Geometrie verloren und damit auch ihre bis dahin selbstverständlich vorausgesetzte Vorrangstellung gegenüber der Arithmetik. Dieser Verlust des Fundaments reiner Anschauung hatte zur Folge, dass die Frage nach der Bedeutung mathematischer Zeichen und Symbole auf radikal neue Weise gestellt wurde: Wenn sich selbst die für die Mathematik konstitutiven Axiome der Geometrie restlos in algebraische Ausdrücke übersetzen lassen, die jeder Anschaulichkeit entbehren, dann folgt daraus in letzter Konsequenz, dass mathematische Formeln überhaupt nichts mehr »bedeuten«, sondern nichts anderes sind als methodisch geregelte Operationen mit Zeichensystemen, bei denen es nicht mehr um Wahrheit, sondern nur noch um formale Kohärenz geht. 6 Die Mathematik hängt damit gewissermaßen in der Luft, da sie in keiner noch so allgemein-idealen Weise mehr auf Wirklichkeit verweist oder in dieser gründet, sondern sich als inhaltsleerer, rein symbolischer Gedankenmechanismus allein mit sich selbst beschäftigt und darin ihr Genügen findet. 7 Vgl. H. Rickert, »Zwei Wege der Erkenntnistheorie. Transscendentalpsychologie und Transscendentallogik«, Kant-Studien 13 (1909), 169–228. 6 Das bedeutet, dass die einzelnen mathematischen Grundbegriffe wie »Punkt«, »Gerade«, »Ebene« usw. keine konkrete inhaltliche Bedeutung haben, sondern lediglich unter dem funktionalen Gesichtspunkt ihrer gegenseitigen Beziehungen und Verknüpfungen betrachtet werden (vgl. D. Hilbert, Grundlagen der Geometrie, §§ 1–8, Stuttgart, Teubner, 101968, 2–33). 7 Vgl. C. Thiel, Grundlagenkrise und Grundlagenstreit. Studie über das normative 5
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Phänomenologie als egologisch fundierte Erste Philosophie
Husserl beginnt seine wissenschaftliche Laufbahn zunächst als Mathematiker und arbeitet sich auf fachimmanentem Wege im Zusammenhang mit logisch-mathematischen Grundlagenfragen zur Philosophie vor. Dennoch hat er, wie aus seiner privaten Briefkorrespondenz und anderen Zeitzeugnissen hervorgeht, schon frühzeitig die in der Grundlagenkrise der Mathematik zum Ausdruck kommende Problematik des Verhältnisses von Erkenntnis und Wirklichkeit als Indiz für die Notwendigkeit gedeutet, die Philosophie in ihrer Vollgestalt zu erneuern, d. h. nicht nur als eine am naturwissenschaftlichen Methodenideal orientierte Erkenntnistheorie, sondern als Erste und Zweite Philosophie im klassischen Sinne. 8 Die Antrittsvorlesung, die Husserl 1887 als Privatdozent in Halle hielt, trug bezeichnenderweise den Titel »Ziele und Aufgaben der Metaphysik«, 9 und sein Hallenser Mathematikerkollege Georg Cantor, der seinerseits das Ziel verfolgte, über die von ihm entwickelte Theorie der transfiniten Mengen zu einem philosophischen Gottesbegriff zu gelangen, erwähnt in einem seiner Briefe mit enthusiastischem Unterton, dass Husserl zweifellos ein Theist sei und in Halle Vorlesungen über die Gottesbeweise und gegen den Darwinismus gehalten habe. 10 Auch wenn das philosophische Interesse des Mathematikers Husserl anfänglich durch die innerhalb seines eigenen Faches stattfindende, zwischen Psychologismus und Logizismus ausgetragene Auseinandersetzung um das Wesen der Zahl motiviert ist, 11 geht sein Verständnis von Philosophie doch schon in den Jahren vor der VerFundament der Wissenschaften am Beispiel von Mathematik und Sozialwissenschaft, Meisenheim a. G., Hain, 1972, 82–123 sowie D. Tyradellis, Husserls Begriffsebene zwischen Formalismus und Lebenswelt, Würzburg, Königshausen & Neumann, 2006, 21–24; O. K. Wiegand, Interpretationen der Modallogik. Ein Beitrag zur phänomenologischen Wissenschaftstheorie (Phaenomenologica 145), Dordrecht / Boston / London, Kluwer, 1998, 19 f. 8 Vgl. H.-M. Gerlach, »›Es ist keine Seligkeit 13 Jahre lang Privatdocent und Tit. ›Prof.‹ zu sein‹. Husserls hallesche Jahre 1887–1901«, in: ders. / H. R. Sepp (Hg.), Husserl in Halle. Spurensuche im Anfang der Phänomenologie, Frankfurt a. M., P. Lang, 1994, 15–39, hier 34. 9 Vgl. H.-M. Gerlach, »›Es ist keine Seligkeit 13 Jahre lang Privatdocent und Tit. ›Prof.‹ zu sein‹«, 27. 10 Vgl. G. Cantor, »Brief an Domkapitular Franz Woker vom 30. 11. 1895«, in: C. Tapp, Kardinalität und Kardinäle. Wissenschaftshistorische Aufarbeitung der Korrespondenz zwischen Georg Cantor und katholischen Theologen seiner Zeit, Wiesbaden / Stuttgart, Franz Steiner Verlag, 2005, 532. 11 Vgl. E. Husserl, »Über den Begriff der Zahl«, in: ders., Philosophie der Arithmetik (Hua XII), Den Haag, Nijhoff, 1970, 289–339.
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öffentlichung der Logischen Untersuchungen (1900/01) über ein rein erkenntnistheoretisch-funktionales Interesse hinaus. Die Frage nach der Möglichkeit absolut wahrer, apriorisch-universalgültiger Erkenntnis betrifft in Husserls Augen nicht nur den Status der mathematischen Entitäten und der darauf bezogenen Wissenschaft der Arithmetik und Geometrie, sondern hängt auf das engste mit einem existenziell gewendeten Wahrheitsbegriff zusammen, der als »persönliche Wahrhaftigkeit« die notwendige Grundvoraussetzung für ein ethisch verantwortetes Menschsein bildet. 12 Die mit dem Psychologismus und Naturalismus verbundene Vorstellung einer nur faktisch-relativen Geltung von Axiomen und Universalgesetzen untergräbt für Husserl nicht nur die Möglichkeit einer reinen, empiriefreien Logik, sondern auch und vor allem die Möglichkeit einer apriorisch-normativen Ethik. 13 Auch wenn dies in seinen frühen Schriften nur selten thematisch sichtbar wird, ist die Frage nach einem unbedingt Seinsollenden und die sich daran anschließende Frage nach dem Absoluten im Sinne eines philosophischen Gottesbegriffs die Triebfeder all seiner denkerischen Bemühungen, mit denen er seine »wahre gottgewollte Mission« 14 zu erfüllen sucht. Trotz – oder vielmehr gerade wegen – dieser theologisch-metaIn einem Brief an seinen Freiburger Schüler Arnold Metzger vom 4. 9. 1919 schreibt Husserl mit Blick auf seine eigene denkerische Entwicklung im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts: »Noch hatte ich kein Auge für praktische und kulturelle Realitäten, noch keine Menschen- und Völkerkenntnis, noch lebte ich in einem fast ausschließlich theoretischen Arbeitswillen – mochten auch die entscheidenden Antriebe (die mich von der Mathematik in die Philosophie als Berufsstätte gedrängt hatten) in übermächtigen religiösen Erlebnissen u. völligen Umwendungen liegen. Denn die gewaltige Wirkung des Nheueni Thestamentsi auf den 23jährigen lief doch in dem Triebe aus, mittelst einer strengen philoshophischeni Wissenschaft den Weg zu Gott und zu einem wahrhaften Leben zu finden« (E. Husserl, Briefwechsel, Bd. 4: Die Freiburger Schüler [Hua Dok III/4], Dordrecht / Boston / London, Kluwer, 1994, 408; Hervorhebung im Original). 13 Vgl. E. Husserl, Logische Untersuchungen, Erster Band: Prolegomena zur reinen Logik, §§ 14–16 (im Folgenden abgekürzt mit LU I; Hua XVIII), Den Haag, Nijhoff, 1975, 53–63; ders., Vorlesungen über Ethik und Wertlehre [1908–1914] (Hua XXVIII), Dordrecht / Boston / London, Kluwer, 1988, 10–19. 14 So drückt sich Husserl in seinem bereits erwähnten Brief an Arnold Metzger vom 4. 9. 1919 aus (E. Husserl, Briefwechsel, Bd. 4: Die Freiburger Schüler [Hua Dok III/4], 412). In einem Brief an Gustav Albrecht aus dem Jahr 1935 erklärt Husserl außerdem, für ihn sei Philosophie ein »a-religiöser Weg zur Religion« bzw. ein »a-theisthischeri Weg zu Gott« (E. Husserl, »Brief an Gustav Albrecht vom 22. 12. 1935«, in: ders., Briefwechsel, Bd. 9: Familienbriefe [Hua Dok III/9], Dordrecht / Boston / London, Kluwer, 1994, 124). 12
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Phänomenologie als egologisch fundierte Erste Philosophie
physischen Motivation seines Philosophierens verzichtet Husserl ausdrücklich darauf, in thematischer Hinsicht einfach nur an die klassische Metaphysiktradition aristotelisch-thomistischer Prägung wieder anzuknüpfen, die zur damaligen Zeit durch die von Papst Leo XIII. initiierte Neuscholastik eine energische Wiederbelebung erfahren hatte. Der Grund dafür liegt darin, dass diese Art von Metaphysik dem phänomenologischen Methodenideal absoluter Voraussetzungslosigkeit nicht entspricht, sondern von ungeprüften Vorannahmen ausgeht, die ihre Beweiskraft schwächen und damit auch der Universalgültigkeit der auf diesem Boden entwickelten philosophischen Theologie und Ethik abträglich sind. Gerade weil es Husserl letztlich um die Gewinnung absolut gewisser, universalgültiger Einsichten geht, von denen aus sich dann auch die unabweisbare Notwendigkeit eines Gottesbegriffs erschließen lässt, kann er sich auf kein vorgegebenes Datum – weder auf das historische Faktum der Offenbarung mitsamt dem Schriftzeugnis der Bibel noch auf die im Rahmen des Aristotelismus und der mittelalterlichen Scholastik entwickelte philosophische Gotteslehre – stützen, sondern muss einen eigenständigen, methodologisch unenfechtbaren Weg zur Behandlung dieser Fragestellungen finden, der nicht von speziellen religiösweltanschaulichen Prämissen abhängig ist. In Übereinstimmung mit seinem Projekt einer radikalen Neubegründung der Philosophie entwirft Husserl die Phänomenologie in ausdrücklicher Abgrenzung von allen bisher bestehenden philosophischen Schulen, Systemen und Denkrichtungen. Aus diesem Grunde ist er in der Frühphase seines Denkens mit der Verwendung der etablierten philosophischen Begrifflichkeit ausgesprochen zurückhaltend. Die überaus komplexe Bedeutungsgeschichte, die so gut wie jedem philosophischen Terminus anhaftet, lässt es als unmöglich erscheinen, das sprachliche Instrumentarium der klassischen Philosophie im Rahmen der neu zu begründenden Phänomenologie unbesehen weiterzuverwenden. Dies gilt zum einen für die im Laufe der Philosophiegeschichte geprägten Einzelbegriffe wie »Substanz«, »Subjekt«, »Objekt«, »Ich«, »Erscheinung«, »Anschauung«, »Zeit«, »Idee« usw., zum anderen aber auch und fast mehr noch für die Begriffe, die das philosophische Denken zur reflexiven Selbstbeschreibung seiner eigenen systematischen Binnenstruktur und seiner theoretischen Leistungsansprüche entwickelt hat. 15 Als besonders 15
Vgl. E. Husserl, LU II/1, Einleitung, § 7 (Hua XIX/1), 24–29.
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problematisch erweist sich der Begriff der Metaphysik, der im Gegensatz zu anderen philosophischen Disziplinenbezeichnungen wie »Logik«, »Erkenntnistheorie«, »Naturphilosophie«, »Ethik« oder »Ästhetik« nicht für ein philosophisches Teilgebiet unter anderen steht, sondern den Anspruch der Philosophie auf Erkenntnis der ersten und letzten Gründe und damit ihre Position als leitende, herrscherliche Form des Wissens zum Ausdruck bringt. Husserl nimmt den zu seiner Zeit bereits offenkundigen, außerhalb neuscholastisch-konfessioneller Kreise als unumkehrbar geltenden Bedeutungsverlust der klassischen Metaphysiktradition als Indiz dafür, dass deren ursprünglicher Konzeption ein grundlegender Fehler anhaftet, den es durch die neubegründete Phänomenologie zu korrigieren gilt. Wenn die Philosophie durch die Entwicklung der Einzelwissenschaften im 19. Jahrhundert derart in Bedrängnis geraten war, so deshalb, weil sie sich von vornherein auf einem Boden bewegt hatte, auf dem ihr durch die anderen Erkenntnisformen Konkurrenz erwachsen konnte – dem des »Seienden als solchen«. Daher kann das von Husserl angestrebte Vorhaben einer radikalen Erneuerung der Philosophie nicht einfach in einer restaurativen Wiederholung vergangener metaphysischer Denkansätze bestehen, um diese mit kritisch-polemischer Absicht gegen die zeitgenössischen Natur- und Geisteswissenschaften in Stellung zu bringen, sondern muss vielmehr zu einem tieferen Niveau vorstoßen, das von den anderen Disziplinen überhaupt nicht berührt wird. 16 Darin kündigt sich bereits ein Motiv an, das für Husserls ganze weitere Denkentwicklung bestimmend sein wird: Letztlich sind all seine Bemühungen von der Einsicht getragen, dass die »Krise der Wissenschaften« gerade nicht auf einem rein wissenschaftlich-objektiven Niveau überwunden werden kann – auch nicht auf dem einer als objektive Universalwissen»Wir leben in einer Zeit großer Umwendungen. Rationale Ontologie und rationale Psychologie – wie lange dauert es noch und auch rationale Kosmologie und Theologie – die vielgeschmähten und scheinbar für immer abgetanen Disziplinen vergangener Epochen, scheinen wieder zum Leben zu erwachen. Doch es wäre schlimm, wenn die Toten wieder erweckt werden sollten, sie, die nur als sachlich unzureichende Überzeugungen lebendig waren und dahingehen mußten, weil, was sie als Wahrheit hinstellen, im Reich der Wahrheit, des ewigen Lebens, keinen Platz hatte. Nur die allgemeine Idee solcher rationaler Disziplinen lebt, aber mit völlig neuem Gehalt, in unseren Analysen wieder auf […]« (E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Drittes Buch: Die Phänomenologie und die Fundamente der Wissenschaften [im Folgenden abgekürzt als Ideen III; Hua V], Den Haag, Nijhoff, 1952, 70 f.
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Phänomenologie als egologisch fundierte Erste Philosophie
schaft konzipierten Philosophie –, sondern zuerst eine grundlegende Änderung im Bewusstsein des Wissenschaftlers bzw. Philosophen voraussetzt. Der Phänomenologie eignet damit unvermeidlicherweise eine existenzielle Dimension, die sich nicht so sehr auf der explizitthematischen Ebene ihrer Analysen als vielmehr im Wie ihrer Betrachtungsweise zeigt.
1.2
Vor das Sein zurückgehen – die Epoché als radikale »Armut im Geiste«
Der von Husserl erhobene Anspruch, durch die phänomenologische Methode die Philosophie einer radikal neuen, unhintergehbaren Letztbegründung unterzogen zu haben, ist von seinen Kritikern oft in dem Sinne gedeutet worden, als besitze der Phänomenologe damit ein überlegenes Herrschaftswissen, das ihn dazu befähige, aus dem imaginären Thronsaal der transzendentalen Subjektivität heraus die Welt und das Treiben in ihr zu betrachten, ohne von alledem existenziell betroffen zu werden oder sich selbst gar in Frage stellen zu lassen. Der oft in recht polemischer Form artikulierte Vorwurf einer gedanklichen Selbstimmunisierung und Selbstüberhöhung wird dabei am methodologischen Grundgestus von Husserls Phänomenologie festgemacht, der in der Tat eine Distanznahme gegenüber der Sphäre der faktischen Wirklichkeit impliziert, um diese auf die sie bedingenden, apriorischen Grundstrukturen hin zu untersuchen. 17 In einer seiner Marburger Vorlesungen attestiert Heidegger seinem Lehrer Husserl, dass dessen transzendentalphänomenologischer Ansatz lediglich der theoretisch motivierten »Sorge um erkannte Erkenntnis« entspringe, die Ausdruck einer »Angst vor dem Dasein« sei. Vgl. M. Heidegger, Einführung in die phänomenologische Forschung (GA 17), Frankfurt a. M., Klostermann, 1994, 71–107, hier 97. Eine ähnliche Deutung, die Husserls Phänomenologie auf eine Variante der cartesianischen Suche nach »absoluter Gewissheit« reduziert, findet sich in ders., Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs (GA 20), Frankfurt a. M., Klostermann, 31994, 140–174. In nicht weniger drastischer Weise kommt Adorno zu dem Ergebnis, Husserls Betonung der unveränderlichen Wesensstrukturen bezeuge einen »horror intellectualis vorm Zufälligen«, der Ausdruck einer totalitären Gesinnung sei. Husserls »Haß gegen die Skepsis wie gegen die von ihm mit dieser verwechselten Dialektik drück[e] eine Bewußtseinslage aus, in der die Verzweiflung über den Verlust der statischen Konzeption von Wahrheit alle Theorien brandmarkt, die jenen Verlust bezeugen, anstatt daß darüber reflektiert würde, ob im Verlust selbst nicht ein Defekt des traditionellen Wahrheitsbegriffs zutage kommt« (T. W. Adorno, Zur Metakritik der Erkenntnis-
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Dabei wird jedoch übersehen, dass es Husserl – im Gegensatz zu den Transzendentalphilosophen neukantianischer Prägung – nicht darum zu tun ist, die epistemologischen wie real-innerweltlichen Herrschaftsansprüche der bereits existierenden und sich gerade zu seiner Zeit triumphal bewährenden Einzelwissenschaften abzusichern. Seine Phänomenologie intendiert keineswegs eine philosophisch verbrämte Rechtfertigung des Bestehenden, sondern im Gegenteil dessen radikale Infragestellung. Der empirisch erfahrbare, pragmatische Erfolg der Wissenschaften ist in seinen Augen gerade kein Beweis für die Richtigkeit der ihnen zugrunde liegenden Weltsicht, sondern eher der Indikator für die Verdrängung der eigentlich entscheidenden Fragen, die auf die grundlegende Motivation des Erkenntnisbezuges zwischen Bewusstsein und Welt abzielen. Husserls nachdrückliche und bisweilen fast pathetisch wirkende Betonung der radikalen Neuheit und Unvergleichbarkeit seines philosophischen Ansatzes entspringt nicht dem Bestreben, für sich persönlich eine besondere Originalität in Anspruch zu nehmen, sondern ist vielmehr Ausdruck einer radikalen denkerischen Entsagung. Die von ihm begründete Phänomenologie zeichnet sich dadurch aus, dass sie sich aus dem damals herrschenden Narrativ eines kultur- und wissenschaftsoptimistischen Fortschrittsglaubens ausklinkt und sich des Anhalts aller äußerlich stabilisierenden Faktoren beraubt. Diese innere Einstellung des Phänomenologen resultiert aus einem Methodenschritt, der ihn dazu nötigt, allen gedanklichen Herrschaftsansprüchen zu entsagen und eine konsequente geistige Askese zu praktizieren. Es handelt sich dabei um die Epoché oder phänomenologische Reduktion, die darin besteht, alle »Transzendenzen« im erkenntnistheoretischen, klassisch-metaphysischen sowie religiösen Sinne bewusst einzuklammern und in ihrer ontologischen Geltung außer Kraft zu setzen. 18 Die sich daraus ergebenden Implikationen sind mehrfacher Natur und können in genauer Entsprechung zu den drei von Meister Eckhart dargelegten Kriterien der »Armut im Geiste« – nichts wollen, nichts wissen und nichts haben 19 – aufgeschlüsselt werden. Zum ersten besagt die Epoché, dass es keinen Sinn hat, von einer theorie. Studien über Husserl und die phänomenologischen Antinomien, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 1970, 89. 94). 18 Vgl. E. Husserl, Ideen I, § 43, § 52 (Hua III), 98–100. 122–130. 19 Vgl. Eckhart, Pr. 52, DW II 489,2; 494,4; 498,4.
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Phänomenologie als egologisch fundierte Erste Philosophie
wie immer beschaffenen Wirklichkeit zu reden, die »außerhalb« oder »jenseits« der dem Bewusstsein gegebenen Phänomene läge. Es gibt also keinen prinzipiellen Gegensatz mehr zwischen »Erscheinung« und »wahrem Sein«, sondern was immer Anspruch auf den Titel objektiver Wirklichkeit erheben will, muss sich gegenüber dem Bewusstsein dementsprechend manifestieren und phänomenal ausweisen können. 20 Mit der Ausschaltung des naiven Seinsglaubens erkennt der Phänomenologe an, dass ihm mit Blick auf seinen Weltbezug nichts mehr selbstverständlich zu eigen ist, sondern dass die Seinsprätention dessen, was ihm innerweltlich erscheint, stets nur vorläufiger Natur ist und einer kontinuierlichen Bewährung und ausdrücklichen Rechtfertigung bedarf. Der Phänomenologe ist in diesem Sinne also der, der mit Blick auf seinen Weltbezug nichts mehr hat. Zum zweiten folgt aus der Epoché, dass der Phänomenologe auch sich selbst »einklammern« und in ontologischer Hinsicht neutralisieren muss, insofern er als faktisches, innerweltliches Individuum existiert. 21 Das bedeutet, dass seine philosophierende Tätigkeit frei von allen Motivationen sein muss, die mit den Eigeninteressen seiner empirischen Person – auch und gerade mit Blick auf deren Identität als Wissenschaftler – zusammenhängen. 22 Somit ist der Phänomenologe derjenige, der in Bezug auf die möglichen innerweltlichen Zweckabsichten der von ihm betriebenen Wissenschaft nichts mehr will. Und zum dritten bedeutet die in der Epoché liegende »Einklammerung«, dass man sich von allen doxographischen Vormeinungen und Vorurteilen frei machen muss und die philosophischen Denkansätze, Schulrichtungen und Systeme vergangener Zeiten, aber auch die vermeintlich »gesicherten Erkenntnisse« der anderen wissenschaftlichen Disziplinen, selbst der Physik und Mathematik, nicht unbesehen als gültig voraussetzen und zum Ausgangspunkt phänomenologischen Philosophierens machen darf. 23 Als historisch entstandene Kulturgebilde sind alle Wissenschaften – und mit ihnen auch die Philosophie in ihrer geschichtlich verfestigten Form – Teil der »Welt«, die der Vgl. E. Husserl, Ideen I, § 44 (Hua III), 100–104. Vgl. E. Husserl, Ideen I, § 64 (Hua III), 151 f. 22 »Der Phänomenologie braucht man gar keine Motive zu unterschieben, warum sie Erfahrungssetzung ausschaltet. Als Phänomenologie hat sie keine solchen Motive« (E. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Erster Teil [Hua XIII], 156 f.). So gesehen, ist die Phänomenologie die »ohne Warum« verfahrende Wissenschaft schlechthin. 23 Vgl. E. Husserl, Ideen I, § 32 (Hua III), 68 f. 20 21
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Epoché verfällt und ihrer scheinbar selbstverständlichen Geltung beraubt werden muss. Kein noch so verbreitetes, als unumstößlich geltendes Philosophem kann einfachhin als »wahr« übernommen werden, sondern gilt lediglich als Indikator bestimmter Sachfragen und Problemstellungen, die vom Boden der Phänomenologie aus neu aufgerollt werden müssen. 24 Damit ist der Phänomenologe derjenige, der nichts mehr weiß, sondern als radikaler Anfänger mit dem Fragen und Suchen ganz von vorne beginnen muss. Der für die Phänomenologie konstitutive Vollzug der Epoché ist daher weit mehr als eine wissenschaftliche Methode im üblichen Sinn. Die Ausschaltung bzw. Einklammerung von innerweltlichen Seinsgeltungen ist nämlich nicht nur für die phänomenologische Analyse der Welterfahrung von Belang, sondern hat eine qualitative Konnotation, die das Selbstbewusstsein und das Selbstverständnis des Phänomenologen in radikaler Weise verändert. Husserl bemerkt dazu: Aber es ist klar: Das neue Leben, das ich ins Spiel setze, indem ich der »Weltkindschaft entsage«, Epoché übe und Thematik der reinen Subjektivität übe, gehört selbst, obschon es wieder naiv gelebtes Leben ist, zur reinen Subjektivität, oder gehört zu mir, dem identischen reinen Ichpol, der der eine in allem meinem naiven und reflektierenden hLebeni ist. 25
Der Begriff der Weltkindschaft, den Husserl zur Charakterisierung der »naiven«, vorphänomenologischen Einstellung verwendet, ist mitsamt seinem religiösen Beiklang in diesem Zusammenhang nicht zufällig gewählt; verweist er doch nicht auf ein objektives Was, also das faktische Vorkommen des Menschen innerhalb des empirischen Erfahrungszusammenhangs der naturhaft gedeuteten Welt, sondern vielmehr auf ein Wie der menschlichen Existenz in ihrem grundlegenden Selbstverhältnis: Ein »Weltkind« ist derjenige, der den Sinn seines eigenen Seins wesentlich von der unselbständigen, dem Bewusstsein intentional gegebenen Wirklichkeitssphäre namens »Welt« her deutet und sich damit zu einem bloßen Teil eines homogenen Ganzen macht. Die Epoché besteht demgegenüber darin, von dieser entfremdeten, naturalistischen Selbstdeutung zu lassen und sich selbst als eine genuin andere, aus der Gesamtsphäre der Welt unableitbare Form von Wirklichkeit namens »reines Bewusstsein« zu Vgl. E. Husserl, Aufsätze und Vorträge [1911–1921] (Hua XXV), 206–208. E. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass [Zweiter Teil: 1921–1928] (Hua XIV), Den Haag, Nijhoff, 1973, 466.
24 25
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verstehen. Diese phänomenologische Einsicht in das wahre Selbst des Menschen eröffnet – analog zur biblischen Rede von den »Kindern dieser Welt« und den »Kindern des Lichts« (vgl. Lk 16,8) – einen neuen Modus des Existierens, der gegenüber dem früheren Erlebenszusammenhang nicht etwas anderes ist, sondern eine grundlegend andere Weise, als derselbe Mensch zu leben und das eigene Weltverhältnis zu verstehen. Die radikale phänomenologische Grundhaltung des NichtsHabens, Nichts-Wollens und Nichts-Wissens bedeutet daher keine bloße Abstoßung von allem Bestehenden im negativen Sinne, sondern vielmehr ein besonders geartetes Lassen, das es dem Philosophen erlaubt, all das, was auf den ersten Blick verloren schien, in gewandelter Weise wiederzugewinnen. Es geht Husserl also nicht darum, die bisherige philosophische Tradition mitsamt ihren eingebürgerten Fachbegriffen schlechthin zu verwerfen, sondern nur darum, durch ihre temporäre Nichtverwendung möglichen Missverständnissen vorzubeugen, um sie zu einem späteren Zeitpunkt von einem eindeutig phänomenologischen Boden aus in neuer Weise aufnehmen und integrieren zu können. Dies gilt – ähnlich wie bei dem in der Einleitung bereits erwähnten Begriff der Mystik, den Husserl je nach Kontext in negativ-abwehrender wie in positiv-aneignender Weise verwendet – auch für den Begriff der Metaphysik. 26 Was Husserl kritisiert, ist gerade nicht die Zielsetzung der Metaphysik schlechthin als rein philosophisch-vernunftgemäß verfahrender, absoluter Wissenschaft von den ersten Prinzipien, sondern vielmehr die Tatsache, dass sich die Metaphysik im aristotelisch-scholastischen Sinne ausgehend vom »Seienden als solchem« konstituiert, das in phänomenologischer Hinsicht gerade nicht mehr die ursprünglichste, universalste Betrachtungsebene des philosophischen Denkens darstellt. Der Letztbegründungsanspruch der Metaphysik im traditionellen Sinne wird damit hinfällig, weil ihr Gegenstandsgebiet gerade nichts Absolutes, sondern etwas Faktisch-Relatives ist. Beansprucht sie als Universalwissenschaft vom realen Sein und dessen obersten Prinzipien den Titel der Ersten Philosophie, verfällt sie dem Dogma-
Wo Husserl den Begriff der Metaphysik als Synonym für unwissenschaftliche, »überfliegende« Spekulationen verwendet, setzt er ihn zumeist in Anführungszeichen. Vgl. E. Husserl, Ideen I, § 149 (Hua III), 368; ders., »Phänomenologie und Erkenntnistheorie«, in: ders., Aufsätze und Vorträge [1911–1921] (Hua (XXV), Dordrecht / Boston / Lancaster, Nijhoff, 1987, 173.
26
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tismus. 27 Allerdings verfolgt Husserl keineswegs die Absicht einer »Zertrümmerung« der Metaphysik als solcher, sondern will sie vielmehr auf der Grundlage der transzendentalen Phänomenologie kritisch neubegründen. In der Einleitung zu den Ideen I erläutert er: Es wird die Einsicht erweckt werden, daß echte Philosophie, deren Idee es ist, die Idee absoluter Erkenntnis zu verwirklichen, in der reinen Phänomenologie wurzelt, und dies in so ernstem Sinne, daß die systematisch strenge Begründung und Ausführung dieser ersten aller Philosophien die unabläßliche Vorbedingung ist für jede Metaphysik und sonstige Philosophie – »die als Wissenschaft wird auftreten können«. 28
Angesichts der im letzten Satz des Zitats unüberhörbaren Anspielung auf Kant könnte man den Eindruck gewinnen, dass sich Husserl mit seinem Vorhaben ganz auf der Linie der kantischen Vernunftkritik bewegt, die nicht der Metaphysik schlechthin, sondern lediglich ihrer möglichen Fehlform, dem »überfliegenden«, an keine Anschauung mehr gebundenen Vernunftgebrauch, den Kampf angesagt hatte. Doch zeigt sich bei näherem Hinsehen, dass Husserl auch Kants Ansatz als nicht radikal und konsequent genug betrachtet. Seine Kritik gilt insbesondere denjenigen Begriffen der kantischen Transzendentalphilosophie, die keiner intuitiven Einlösung fähig sind und daher als undurchschaute metaphysische Restbestände ausgeschieden werden müssen: Das »Ding an sich« als die »uns unbekannte Ursache der Erscheinungen« gehört ebenso dazu wie die verschiedenen »Seelenvermögen«, die letztlich der metaphysisch-naturphilosophisch fundierten Psychologie des Aristoteles entstammen. 29 Husserl konzipiert daher die Phänomenologie als eine Form der Philosophie, die auf einem noch ursprünglicheren Niveau ansetzt als Kants Vernunftkritik und dieser den Boden bereiten will: Dazu kommt […] daß die Phänomenologie ihrem Wesen nach den Anspruch erheben muß, »erste« Philosophie zu sein und aller leistenden Vernunftkritik die Mittel zu bieten; daß sie daher die vollkommenste Voraussetzungslosigkeit und in Beziehung auf sich selbst absolute reflektive Einsicht fordert. Ihr eigenes Wesen ist es, vollkommenste Klarheit über ihr Vgl. E. Husserl, Einleitung in die Logik und Erkenntnistheorie [Vorlesungen 1906/ 07] (Hua XXIV), Dordrecht / Boston / Lancaster, Nijhoff, 1984, 380. 402. 28 E. Husserl, Ideen I (Hua III), 8. 29 Vgl. E. Husserl, LU I, § 58 (Hua XVIII), 216–218; ders., Ideen I, § 43, § 52 (Hua III), 98–100. 122–130; ders., Erste Philosophie. Erster Teil (Hua VII), 235–237; ders., Cartesianische Meditationen (Hua I), 182. 27
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eigenes Wesen zu realisieren und somit auch über die Prinzipien ihrer Methode. 30
Die Bezeichnung der Phänomenologie als »erster Philosophie« ist von Husserl nicht zufällig gewählt. So hat sie den Vorzug, dass sie philosophiehistorisch weniger vorbelastet ist als der Begriff der Metaphysik und im Gegensatz zu diesem keine inhaltliche Aussage über den Gegenstandsbereich der betreffenden Wissenschaft macht, sondern lediglich einen Hinweis auf die Richtung ihres Suchens und Fragens gibt. 31 Dabei leugnet Husserl keineswegs die Möglichkeit einer Metaphysik als erster und primärer Seinswissenschaft, doch erklärt sich die Bedeutung dessen, was mit »Sein« gemeint ist, nicht aus sich selbst heraus, sondern muss erst vor dem Hintergrund eines umfassender gedachten Phänomenbegriffs neu bestimmt werden. Dieses Projekt einer Neubegründung der Ersten Philosophie hat zur Folge, dass nicht nur das naive Ausgehen vom »Seienden als solchem«, sondern auch die zweite Grundbedeutung von Metaphysik als »philosophischer Theologie« dem Verdikt mangelnder phänomenologischer Ursprünglichkeit verfällt und eingeklammert werden muss. 32 Das von Husserl proklamierte »Prinzip aller Prinzipien« besagt ja, dass man keine Begriffe verwenden darf, deren Gegenstandskorrelate sich nicht wenigstens mittelbar auf eine selbstgebende Anschauung zurückführen lassen. 33 Insofern muss sich die Phänomenologie jedes thetischen Verweises auf eine als »seiend« oder »existierend« angesetzte göttliche Instanz enthalten, ganz gleich, ob damit der »Gott der Philosophen« oder der »Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs« gemeint ist. In den Ideen I erklärt Husserl unumwunden: »Unser unmittelbares Absehen geht nicht auf Theologie, sondern auf Phänomenologie, mag diese für jene mittelbar noch so viel bedeuten«. 34 Das, was den eigentlichen Anstoß zu seinem philosophischen Engagement gegeben hatte – die durch eine tiefe religiöse Erfahrung vermittelte Einsicht, dass die Suche nach absoluter Wahrheit und Wahrhaftigkeit letztlich ein Weg zu Gott ist –, kann also gerade nicht zum direkten Gegenstand phänomenologischer Analysen werden, sondern bleibt vorerst unthematisch. In Husserls Aussage deutet sich jedoch schon 30 31 32 33 34
E. Husserl, Ideen I, § 63 (Hua III), 151. Vgl. E. Husserl, Erste Philosophie. Erster Teil (Hua VII), 3–6. Vgl. E. Husserl, Ideen I, § 58 (Hua III), 138–140. Vgl. E. Husserl, Ideen I, § 24 (Hua III), 52. E. Husserl, Ideen I, § 51 (Hua III), 122.
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an, dass gerade diese phänomenologische Enthaltsamkeit in theologischen Dingen mittelbar zu Resultaten führen wird, die für die Theologie sehr wohl von Bedeutung sind: Gerade in dem Maße, wie die Phänomenologie in methodischer Hinsicht a-theistisch 35 bleibt und durch die Epoché »Gottes quitt geworden ist«, besitzt sie die nötige Offenheit und Unvoreingenommenheit, um sich einem nicht mehr onto-theologisch verstandenen Gott zu nähern, ohne dies bewusst intendiert zu haben.
1.3
Husserls Wissenschaftsarchitektonik und die »Region« des reinen Bewusstseins
Der Umstand, dass weder der ontologische noch der theologische Aspekt der traditionellen Metaphysik für die von Husserl angestrebte Erste Philosophie Pate stehen kann, lässt erkennbar werden, dass die von ihm konzipierte Phänomenologie überhaupt keine Wissenschaft unter anderen mehr ist, der man im Gefüge der übrigen Disziplinen einen Platz zuweisen könnte. Vielmehr ist sie eine Form der Erkenntnis, die auf das radikal Erste in seiner nicht zu vergegenständlichenden Dynamik abzielt und daher ihrerseits wesentlich methodischvollzugshafte Züge tragen muss. Damit kommt es gleichsam zu einer wissenschaftsarchitektonischen Parallelverschiebung im Vergleich zur aristotelischen Bestimmung der Ersten Philosophie: Deren Primat gründet darauf, dass sie als Wissenschaft von den schlechthin ersten, für alle materielle wie immaterielle Wirklichkeit geltenden Seinsprinzipien bestimmt wird, während die Physik, die von allem materiellen, veränderlichen Seienden handelt, lediglich den Status der Zweiten Philosophie besitzt. 36 Dagegen ist nun vom phänomenologischen Standpunkt aus der Gegenstandsbereich der aristotelischen Der Topos des »methodischen Atheismus« der phänomenologischen Philosophie wird in dieser plakativen Form zwar häufiger von Heidegger als von Husserl verwendet, doch trifft er von der Sache her auch auf letzteren zu. Vgl. M. Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles / Einführung in die phänomenologische Forschung (GA 61), Frankfurt a. M., Klostermann, 21994, 197; ders., Phänomenologische Interpretationen ausgewählter Abhandlungen des Aristoteles zur Ontologie und Logik (GA 62), Frankfurt a. M., Klostermann, 2005, 363; ders., Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs (GA 20), 109 f. 36 Vgl. Aristoteles, Metaphysik IV 3, 1005 b 1–2; ebd. VI 1, 1026 a 25–32; ebd. VII 11, 1037 a 13–16; ebd. XI 1, 1059 b 16–19; ebd. XI 7, 1064 a 10–1064 b 14. 35
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Metaphysik – das »Seiende als solches« mitsamt seinen ersten und höchsten Prinzipien – nur das Zweite gegenüber dem phänomenologisch Ersten der Sphäre des reinen Bewusstseins, das sich in intentionaler Weise auf die gesamte Wirklichkeit bezieht, ohne deren innerweltliches Sein in thetischer Weise vorauszusetzen. Damit wird das, wovon Aristoteles und die metaphysische Tradition insgesamt wie selbstverständlich ausgegangen waren, nämlich das Gegebensein einer seienden Wirklichkeit und einer darauf bezogenen theoretischen Erkenntnis, seinerseits zu einem bloßen Faktum, das sich nicht aus sich selbst heraus erklärt, sondern in seiner Möglichkeit aus dem reinen Bewusstsein hergeleitet werden muss. 37 Husserls Ansatz in den Ideen I folgt auf den ersten Blick dem Modell der Regionalisierung der Wissenschaften, dem zufolge jede Disziplin, einschließlich der Philosophie, nur für ein begrenztes Gebiet der Wirklichkeit zuständig ist. Je nachdem, wie die jeweils darin enthaltenen Gegenstände beschaffen sind (ideale geometrische Raumkörper, raumzeitlich bestimmte Materie, pflanzliche und tierische Lebewesen, kulturell-historische Gebilde usw.), liegt ihnen jeweils eine Regionalontologie zugrunde, die sich mit den apriorischen Wesenseigenschaften dieser Gegenständlichkeiten befasst. 38 Diese material konkretisierten Ontologien (im Plural!) sind allerdings noch nicht die höchste Stufe der wissenschaftlichen Betrachtung, sondern werden von der formalen Ontologie (im Singular!) umgriffen und überstiegen, die es mit den apriorischen Kategorien von »Gegenständlichkeit überhaupt« zu tun hat, d. h. ungeachtet der Tatsache, ob es sich dabei um real-seiende oder ideal-imaginierte Gegenstände handelt. 39 Nur die allgemeine Eigenschaft des »Gedachtwerdenkönnens überhaupt« ist für die Zugehörigkeit zum Bereich der formalen Ontologie maßgeblich. Das bedeutet, dass es sich hierbei nicht mehr um die Ontologie in ihrer klassisch-metaphysischen Bedeutung als Wissenschaft vom »Seienden als Seiendem« handelt, sondern um eine rein formale Gegenstandstheorie im Sinne der von Descartes und Leibniz entworfenen mathesis universalis. 40 Vgl. E. Husserl, Grenzprobleme der Phänomenologie. Analysen des Unbewusstseins und der Instinkte – Metaphysik – Späte Ethik. Texte aus dem Nachlass [1908– 1937] (Hua XLII), Dordrecht, Springer, 2014, 161 f. 38 Vgl. E. Husserl, Ideen I, § 9 (Hua III), 23–26. 39 Vgl. E. Husserl, Ideen I, § 10 (Hua III), 26–29. 40 Vgl. R. Descartes, Regulae ad directionem ingenii IV, AT X, 378 f.; G. W. Leibniz, Opuscules et fragments inédits (ed. L. Couturat), (Paris, Alcan, 1903) Nachdruck: 37
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Obwohl Husserl an dieser Stelle ausdrücklich auf den Begriff der Mathesis verweist, 41 kann er diese im Rahmen der Phänomenologie nicht mehr als die allumfassende Universalwissenschaft schlechthin anerkennen, die sie gemäß dem cartesianisch-leibnizschen Projekt hätte sein sollen. Auch wenn innerhalb der formalen Ontologie der »Gegenstand« nicht mehr für ein innerweltliches Dingsubstrat steht, sondern für die bloße Form möglicher Gegenständlichkeit überhaupt, 42 kann diese nicht aus sich selbst heraus verstanden werden, sondern erscheint als ein noematischer Leerhorizont, auf den das Denken in intentionaler Weise ausgerichtet ist, ohne je mit ihm zusammenzufallen. Die in größtmöglicher formaler Allgemeinheit verstandene Ontologie in Husserls Sinne bildet als »objektive« Wissenschaft im weitesten Sinne kein geschlossenes Ganzes, sondern weist zurück auf die erkennende Subjektivität als den apriorischen Ursprung alles nur möglichen Bezogenseins auf Gegenständlichkeit überhaupt. Auf den ersten Blick mag es daher erstaunen, dass Husserl in den Ideen I auch hinsichtlich des von der Phänomenologie zu erforschenden reinen Bewusstseins zunächst von einer »Seinsregion« spricht, so als handele es sich dabei um ein wissenschaftliches Gegenstandsgebiet unter anderen. 43 Doch verfolgt er mit diesem Begriff die genau entgegengesetzte Absicht, die radikale Eigenständigkeit der Phänomenologie gegenüber allen anderen bereits bestehenden Disziplinen zu betonen und dem Eindruck vorzubeugen, das philosophische Denken müsse sich von irgendeiner bereits bestehenden Einzelwissenschaft die Methode vorgeben lassen. Das, womit sich die Phänomenologie befasst, ist weder ein bloßes Konglomerat jener Gegenstandsbereiche, die von den anderen Wissenschaften erforscht werden, noch eine nachträgliche epistemologische Rechtfertigung der Erkenntnisleistungen, die in diesen Disziplinen erbracht werden, sondern etwas gänzlich Eigenständiges. Die Bezeichnung des reinen Bewusstseins als »Seinsregion« ist also gleichsam ein lucus a non Hildesheim, Olms, 21988, 161–182. 217–249. Vgl. dazu J.-F. Courtine, Suárez et le système de la métaphysique, 405–457. 41 Vgl. E. Husserl, LU I (Hua XVIII), 230–262; ders., Ideen I, § 10 (Hua III), 27. 42 »Die sog. ›formale Region‹ ist also doch nicht etwas den materialen Regionen (den Regionen schlechthin) Koordiniertes, sie ist eigentlich nicht Region, sondern leere Form von Region überhaupt« (E. Husserl, Ideen I, § 10 [Hua III], 27; Hervorhebungen im Original). 43 Vgl. E. Husserl, Ideen I, § 33 (Hua III), 69–71.
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lucendo, da Husserl im gleichen Atemzug bestrebt ist zu betonen, dass es sich hier weder um ein »Sein« im gewöhnlichen Sinne noch um eine quantitativ beschränkte »Region« unter anderen, sondern um eine qualitative Abgrenzung handelt. Die terminologische Schwierigkeit ergibt sich daraus, dass Husserl das Arbeitsgebiet der Phänomenologie gerade nicht mehr, wie dies in der Erkenntnistheorie neukantianischer Prägung der Fall war, auf ein bloßes Überbleibsel derselben Wirklichkeitssphäre einschränken will, deren übrige Gebiete und Regionen die anderen Wissenschaften bereits unter sich aufgeteilt haben. Phänomenologie reduziert sich nicht auf eine erkenntnistheoretische Erforschung der Subjektivität als des einzigen Gegenstandsbereichs, der ihr noch nicht von einer anderen Disziplin »weggenommen« wurde. Vielmehr ist die Seins»region« des reinen Bewusstseins eine gänzlich andersartige Form von Wirklichkeit, die im Modus intentionaler Immanenz sämtliche Wirklichkeitsbereiche enthält, die die anderen Wissenschaften auch erforschen, nur auf andere Weise: So wird sich die voran gestellte Frage beantworten, was dann noch übrig bleiben kann, wenn jene phänomenologische ἐποχή das Weltall – wie wir zunächst doch meinen, das All des Seienden überhaupt – außer Geltung setzt. Es verbleibt, oder vielmehr es wird durch diese ἐποχή allererst eröffnet, die absolute Seinsregion, die der absoluten oder »transzendentalen« Subjektivität[,] nicht eine partielle Region der totalen Realitätsregion Weltall, vielmehr von ihr und allen ihren Sonderregionen prinzipiell geschieden, aber keineswegs geschieden im Sinne einer Angrenzung, als ob sie sich ergänzend mit der Welt verbinden, mit ihr ein umfassendes Ganzes bilden könnte. Die Welt ist in sich eine Totalität, die ihrem Sinn gemäß eine Erweiterung nicht zuläßt. Und doch wird sich zeigen, daß die Region der absoluten oder transzendentalen Subjektivität in einer besonderen, ganz eigenartigen Weise das reale Weltall, bzw. alle möglichen realen Welten und alle Welten jedes erweiterten Sinnes »in sich trägt«, nämlich in sich durch wirkliche und mögliche »intentionale Konstitution«. 44
Husserl zufolge kann man das durch die Epoché freigelegte reine Bewusstsein im Vergleich zur Gesamtheit der Weltwirklichkeit also nur noch im äquivoken Sinne als »Sein« bezeichnen: Ist »Sein« ein Synonym für innerweltliche Wirklichkeit, so ist das Bewusstsein ein radikal Nichtseiendes; versteht man hingegen den Wirklichkeitsmodus des Bewusstseins als »Sein«, muss man der Welt das Sein (im 44
E. Husserl, Ideen I, § 33 (Hua III), 72 f. (Hervorhebung d. Verf.).
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Sinne eigenständiger, bewusstseinsunabhängiger Wirklichkeit) absprechen. Daher stehen sich Bewusstsein und Welt nicht einfach als zwei gleichrangige, voneinander unabhängige Sphären (»Innen« und »Außen«) gegenüber, sondern vielmehr ist alles, was in irgendeiner Weise als »innerweltliche Wirklichkeit« bezeichnet wird, in der absoluten Sphäre des reinen Bewusstseins inbegriffen und kann nur kraft dieses intentionalen Einbehaltenseins als »seiend« bezeichnet werden. Damit verliert die Welt den Anschein einer selbständig existierenden, extramentalen Wirklichkeitssphäre und wird zu einem unselbständigen Korrelat des reinen Bewusstseins umgedeutet, das als solches gerade nicht Teil der Welt, sondern Grundbedingung von deren phänomenalem Gegebensein ist. Die Beziehung des reinen Bewusstseins auf seine welthaften Inhalte ist also weder als ein nachträglich vermitteltes Gegenüber zweier statischer Instanzen namens »Subjekt« und »Objekt« zu verstehen, noch kann es als akzidentelle Weiterbestimmung einer zugrunde liegenden »Denksubstanz« gedeutet werden. Dies wird an der Art und Weise deutlich, in der Husserl die Absolutheit des reinen, durch die Epoché erschlossenen Bewusstseins mitsamt seinen intentionalen Inhalten von jedem Aspekt der »Dinglichkeit« im cartesianischen Sinne abgrenzt. In den Ideen I schreibt Husserl: »Das immanente Sein ist also zweifellos in dem Sinne absolutes Sein, daß es prinzipiell nulla ›re‹ indiget ad existendum«. 45 Diese Formulierung ist eine bewusste Anspielung auf die berühmte Substanzdefinition Descartes’ in den Principia philosophiae, die lautet: »Per substantiam nihil aliud intelligere possumus quam rem quae ita existit, ut nulla alia re indigeat ad existendum. Et quidem substantia quae nulla plane re indigeat, unica tantum potest intelligi, nempe Deus« (»Unter Substanz können wir nichts anderes verstehen als ein Ding, das so existiert, dass es keines anderen Dinges bedarf, um zu existieren. Und zwar können wir nur eine einzige Substanz denken, die schlechthin keines Dinges bedarf, nämlich Gott«). 46 Der Wegfall des alia in Husserls Formulierung ist hierbei der entscheidende Punkt, da er zum Ausdruck bringt, dass das Bewusstsein von keiner »anderen Sache« abgegrenzt zu werden braucht, weil es selbst in keiner Hinsicht mehr E. Husserl, Ideen I, § 49 (Hua III), 115 (Hervorhebung im Original). R. Descartes, Principia Philosophiae, § 1051, AT VIII/1, 24 (Übers. und Hervorhebungen d. Verf.). Vgl. dazu auch J.-L. Marion, »L’ego et le Dasein«, in: ders., Réduction et donation, Paris, Vrin, 1989, 119–161, hier 126 f. 45 46
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als »Sache« angesprochen werden kann. Mit anderen Worten: Der Unterschied zwischen dem reinen Bewusstsein und dem Rest der Wirklichkeit ist nicht mehr nur relativer, sondern absoluter Natur. Darüber hinaus weisen die Anführungszeichen, in die Husserl das Wort res setzt, darauf hin, dass es für ihn generell keine bewusstseinsunabhängige dingliche Substantialität gibt, sondern all das, was bei Descartes res heißt, auch und gerade die Sphäre innerweltlicher, räumlich-materieller »Objektivität«, überhaupt nur als intentionaler Gegenstand eines Bewusstseins – und zwar nicht nur eines erdachten, sondern eines existierenden Bewusstseins 47 – Wirklichkeit beanspruchen kann. Die Phänomenologie unterscheidet sich demnach von allen anderen Wissenschaften in einem nicht nur relativen, sondern prinzipiellen Sinne, insofern sie nicht unter inhaltlichen Gesichtspunkten auf etwas anderes bezogen ist als diese, sondern alle nur möglichen Formen der vorwissenschaftlichen wie wissenschaftlichen Welterfahrung auf andere Weise betrachtet. Da die Epoché vom realen Sein oder Nichtsein der phänomenal gegebenen Dinge, aber auch von der empirischen Person des Phänomenologen als Teil der objektiv »seienden« Welt absieht, besteht die Phänomenologie darin, die Beziehung zwischen reinem Bewusstsein und Wirklichkeit allein unter dem Gesichtspunkt des Erscheinens der Phänomene als solcher und der es bestimmenden Wesensstrukturen zu betrachten. Insofern diese Strukturen jeder Art von realer Bezogenheit auf innerweltliche Wirklichkeit vorausliegen und sie bedingen, kann das Phänomenologie treibende reine Bewusstsein für sich beanspruchen, eine absolute Wirklichkeit darzustellen, die von der gesamten Sphäre namens »weltliches Sein« in keiner Weise kausal beeinflusst werden kann, sondern umgekehrt diese auf nicht-kausale Weise in ihrer Phänomenalität konstituiert: [K]ein reales Sein, kein solches, das sich bewußtseinsmäßig durch Erscheinungen darstellt und ausweist, ist für das Sein des Bewußtseins selbst (im weitesten Sinne des Erlebnisstromes) notwendig. […] Wir sehen also, daß Bewußtsein (Erlebnis) und reales Sein nichts weniger als gleichgeordnete Seinsarten sind, die friedlich nebeneinander wohnen, sich gelegentlich aufeinander »beziehen« oder miteinander »verknüpfen«. […] Zwischen Bewußtsein und Wirklichkeit gähnt ein wahrer Abgrund des Sinnes. Hier ein sich abschattendes, prinzipiell nur mit präsumtiven Horizonten und nie ab47
Vgl. E. Husserl, Ideen I, § 49 (Hua III), 115 f.
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solut zu gebendes, bloß zufälliges und bewußtseinsrelatives Sein; dort ein notwendiges und absolutes Sein, prinzipiell nicht durch Abschattung und Erscheinung (in präsumtiver Weise, die immerfort das Nichtsein des SelbstWahrgenommenen offen läßt) zu geben. Also wird es klar, daß […] Bewußtsein, in »Reinheit« betrachtet, als ein für sich geschlossener Seinszusammenhang zu gelten hat, als ein Zusammenhang absoluten Seins, in den nichts hineindringen und aus dem nichts entschlüpfen kann […], der von keinem Dinge Kausalität erfahren und auf kein Ding Kausalität üben kann, vorausgesetzt, daß Kausalität den normalen Sinn natürlicher Kausalität hat, als einer Abhängigkeitsbeziehung zwischen Realitäten. 48
Die Rede vom transzendentalen Bewusstsein als einem »notwendigen, absoluten Sein«, das mit dem Seinsmodus der innerweltlichen Dinge schlechthin inkommensurabel ist, könnte den Eindruck erwecken, dass hier bereits eine quasi-theologische Überhöhung der Subjektivität stattfindet. Dies ist zum Zeitpunkt der Abfassung der Ideen I jedoch nicht der Fall, da Husserl den Sonderstatus des reinen Bewusstseins nicht im Sinne einer realen Transzendenz gegenüber den Erlebnissphären der Einzelsubjekte deutet. Das transzendentale Bewusstsein ist vielmehr immer schon in jedem faktischen, welterlebenden Bewusstsein am Werk und kann durch die Epoché aus seiner Anonymität herausgehoben und phänomenologisch thematisiert werden. Doch auch dann schwebt das reine Bewusstsein nicht in abstrakter Form »über« dem konkreten Bewusstsein der Einzelperson, sondern ist nichts anderes als eine grundlegend andere Weise, denselben individuellen Erlebnisstrom mit allen seinen Inhalten zu betrachten. 49 Es gibt also nicht »das« transzendentale Bewusstsein im Sinne einer absoluten Singularität, sondern so viele transzendentale Bewusstseine, wie es Menschen gibt, auch wenn die meisten sich der in ihrem Welterleben immer schon fungierenden Transzendentalität nie ausdrücklich bewusst werden. Was die Phänomenologie als eine überindividuelle Wissenschaft von der »Sphäre absoluten Seins« möglich macht, sind also nur die gemeinsamen Wesenseigenschaften, E. Husserl, Ideen I, § 49 (Hua III), 116 f. (Hervorhebungen im Original). »Die reinen Bewußtseinserlebnisse betrachten wir in der ganzen Fülle der Konkretion, mit der sie für jedes Ich in der Totalität eines konkreten Zusammenhanges – dem Erlebnisstrom – auftreten, und zu dem sie sich durch ihr eigenes Wesen kontinuierlich zusammenschließen. Es wird dann evident, daß jedes Erlebnis, das der reflektive Blick zu treffen vermag, ein eigenes, intuitiv zu erfassendes individuelles Wesen hat, einen ›Inhalt‹, der sich in seiner Eigenheit für sich betrachten und in eine eidetisch generelle Wesensbetrachtung einbeziehen lässt« (E. Husserl, Ideen I, § 49 [Hua III], 116 f. [Hervorhebungen im Original]).
48 49
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die jedem transzendentalen Bewusstsein als transzendentalem eigen sind, ohne dass die Pluralität der reinen Bewusstseinsströme zu einem übergeordneten, göttlich-singulären »Allbewusstsein« in Beziehung gesetzt würde. Der ontologische Status des durch die Epoché freigelegten »reinen Bewusstseins« erscheint also ambivalent. Einerseits spricht Husserl ihm mit dem Prädikat der »absoluten Wirklichkeit« und der prinzipiellen Unberührtheit durch naturkausale Einflüsse bereits Eigenschaften zu, die in der traditionellen Metaphysik Gott vorbehalten sind; andererseits widerspricht die transzendentale Individuation, die er den durch die Epoché modifizierten Bewusstseinsströmen zuschreibt, doch einer Identifikation dieses »reinen Bewusstseins« mit einer göttlichen Instanz. 50 Und doch kommt Husserl in den Ideen I an einer Stelle ausdrücklich auf Gott zu sprechen, und zwar in einer Weise, die nahezulegen scheint, dass es keinen grundlegenden Unterschied zwischen dem transzendentalen Bewusstsein des Menschen und Gott gibt. Husserl führt diesbezüglich aus: Es ist eine jederzeit erreichbare, weil unmittelbare Wesenseinsicht, daß vom gegenständlich Gegebenen als solchem aus eine Reflexion möglich ist auf das gebende Bewußtsein und sein Subjekt […]. Es ist evident, daß wesensmäßig – also nicht aus bloß zufälligen Gründen, etwa gar bloß »für uns« und unsere zufällige »psychophysische Konstitution« – nur durch Reflexionen dieser Art so etwas wie Bewußtsein und Bewußtseinsinhalt (in reellem oder intentionalem Sinn) erkennbar ist. An diese absolute und einsichtige Notwendigkeit ist also auch Gott gebunden, ebenso wie an die Einsicht, daß 2 + 1 = 1 + 2 ist. Auch er könnte von seinem Bewußtsein und Bewußtseinsgehalt Erkenntnis nur reflektiv gewinnen. 51
Daraus geht hervor, dass Husserl jeder Wesensunterscheidung zwischen »endlicher«, menschlicher und »unendlicher«, göttlicher ErLee-Chun Lo vertritt die Auffassung, dass es Husserls Beschränkung auf die statischen Konstitutionsanalysen sei, die ihn zum Zeitpunkt der Abfassung der Ideen I an einer ausdrücklichen Behandlung der Gottesfrage gehindert habe (vgl. L.-C. Lo, Die Gottesauffassung in Husserls Phänomenologie, Frankfurt a. M., P. Lang, 2008, 41). Allerdings ist dieser Aspekt nicht die einzige Erklärung für die fehlende phänomenologische Thematisierung dieses Problems. Husserls Konzentration auf den transzendental modifizierten individuellen Bewusstseinsstrom und die dadurch fehlende Perspektive der Intersubjektivität als einer ethisch-praktischen Universalgemeinschaft aller Vernunftwesen ist ein weiterer, mindestens ebenso gewichtiger Grund dafür, dass er die Gottesfrage zu diesem Zeitpunkt aus dem Bereich der Phänomenologie noch ausklammern muss. 51 E. Husserl, Ideen I, § 79 (Hua III), 191 (Hervorhebung im Original). 50
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kenntnis, wie sie bei Descartes, aber auch noch bis in Kants Vernunftkritik hinein maßgebend ist, 52 eine klare Absage erteilt. Insofern man Gott Bewusstsein zuschreiben kann, gelten für ihn dieselben Wesensgesetze der phänomenalen Erfahrung und Selbsterkenntnis wie für alle anderen Bewusstseinsinstanzen auch, da diese Gesetze sich aus der Struktur der jeweiligen intentionalen Gegenstände und nicht etwa aus der ontologischen Beschaffenheit des Subjekts ergeben. So gesehen, vertritt Husserl hier eine radikale Univozität des Bewusstseinsbegriffs, die Gott und Mensch auf strukturell-eidetischer Ebene in eine Wesensgemeinschaft bringt. 53 Allerdings handelt es sich um eine Form der Beziehung, bei der eines der beiden Relata nur im Sinne einer hypothetischen Extrapolation gegeben ist. Wie Husserl in einer Anmerkung zu dem eben angeführten Zitat präzisiert, handelt es sich lediglich um Gott als »Idee«, d. h. insofern er einen notwendigen Grenzbegriff des reinen transzendentalen Bewusstseins darstellt. 54 Das transzendentale Bewusstsein des Menschen als wirklich gegebenes und fungierendes erkennt demnach, dass es seine Wesensform mit einem möglichen göttlichen Bewusstsein gemeinsam hat, ohne dass damit schon die reale Existenz eines göttlichen Wesens gesetzt würde. Gott erscheint hier also vorerst nur als ein Postulat der theoretischen Vernunft, aber noch nicht als eine sich von sich selbst her im Bewusstsein bekundende Wirklichkeit von lebenspraktischer Relevanz. Phänomenologie und Theologie sind zu diesem Zeitpunkt demnach noch streng getrennt, und wenn der Gottesbegriff doch gelegentlich auftaucht, bleibt seine Funktion auf die eines erkenntnistheoretischen Konstrukts beschränkt.
Auch Kant geht von diesem Wesensunterschied aus, da er den Begriff der unendlich-schöpferischen Vernunft Gottes (intellectus archetypus) gleichsam als Kontrastfolie benutzt, um die begrenzten Möglichkeiten der endlich-rezeptiven Vernunft des Menschen (intellectus ectypus) deutlich zu machen. Vgl. I. Kant, KrV, B 68. 72. 135. 138 f. 145. 159. 606 sowie dazu I. Kern, Husserl und Kant. Eine Untersuchung über Husserls Verhältnis zu Kant und zum Neukantianismus (Phaenomenologica 16), Den Haag, Nijhoff, 1964, 128. 131. 53 Vgl. dazu auch E. Housset, Husserl et l’idée de Dieu, Paris, Les Éditions du Cerf, 2010, 92. 54 »Wir spielen hier den Streit nicht etwa hinüber in die Domäne der Theologie: Die Idee Gottes ist ein notwendiger Grenzbegriff in erkenntnistheoretischen Erwägungen, bzw. ein unentbehrlicher Index für die Konstruktion gewisser Grenzbegriffe, deren auch der philosophierende Atheist nicht entraten könnte« (E. Husserl, Ideen I, § 79 [Hua III], 191 Anm. 1). 52
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Phänomenologie als egologisch fundierte Erste Philosophie
1.4
Phänomenologie als egologische Selbstbesinnung
In den Logischen Untersuchungen, die den Durchbruch zu Husserls phänomenologischem Denken im eigentlichen Sinne markieren, findet man eine akribische Analyse der intentionalen Bewusstseinsstrukturen, ohne dass mit der späteren terminologischen Präzision vom »reinen Ich« die Rede wäre. Wo Husserl das Wort »Ich« dennoch verwendet, setzt er fast immer das Adjektiv »phänomenologisch« davor und verwendet es häufig in synonymen Ausdrücken wie »die Beziehung des Bewußtseins oder des Ich …«. 55 Diese Scheu ist zunächst dem Umstand geschuldet, dass er die möglichen Missdeutungen vermeiden will, die dem Wort »Ich« aus philosophiehistorischen Gründen anhaften. Weder soll dieser Ausdruck in objektivierender Weise als »Seelensubstanz« verstanden werden 56 noch im idealistischen Sinne als Synonym für die Selbstsetzung des Absoluten gelten. 57 Aber auch die mögliche Verbindung zum kantischen Verständnis des Ich im Sinne der reinen Apperzeption darf nicht einfach vorausgesetzt werden, sondern bedarf der ausdrücklichen phänomenologischen Erörterung. 58 Aus diesem Grunde spricht Husserl in den Logischen Untersuchungen zumeist in neutraler Form vom »Bewusstsein«, da dessen Strukturen (Bewusstseinsakt / Bewusstseinsinhalt / Bewusstseinsgegenstand) 59 zur Gänze einer funktional-deskriptiven Analyse zugänglich sind, ohne dass man damit wieder illegitime metaphysische Restbestände in den Bereich der Phänomenologie einschleppen würde. Die sich im Laufe der Zeit stellende Frage nach der Einheit des Bewusstseins in seinen beständig wechselnden Inhalten zwingt Husserl jedoch dazu, den Begriff des Ich doch wieder auf systematische Weise in sein Denken einzuführen und phänomenologisch zu rehabilitieren. 60 Dies ist vor allem der Tatsache geschuldet, dass man auf dem Boden der Logischen Untersuchungen, E. Husserl, LU II/1, § 12 (Hua XIX/1), 389. »Das phänomenologisch reduzierte Ich ist also nichts Eigenartiges, das über den mannigfachen Erlebnissen schwebte, sondern es ist einfach mit ihrer eigenen Verknüpfungseinheit identisch« (E. Husserl, LU II/1 [Hua XIX/1, 363 f.]). 57 Vgl. E. Husserl, »Philosophie als strenge Wissenschaft«, in: ders., Aufsätze und Vorträge (Hua XXV), 6 f. 58 Vgl. E. Husserl, LU II/1, § 8 (Hua XIX/1), 372–376; ders., Ideen I, § 57 (Hua III), 138; ders., Ding und Raum (Hua XVI), Den Haag, Nijhoff, 1973, 40. 59 Vgl. E. Husserl, LU II/1 (Hua XIX/1), 352–425. 60 Vgl. dazu E. Marbach, Das Problem des Ich in der Phänomenologie Husserls (Phaenomenologica 59), Den Haag, Nijhoff, 1974, 43. 55 56
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Das reine Ich als Möglichkeitsgrund von Welt, Personalität und Absolutem
die das empirische Ich als bloß summarische Gesamtheit seiner Erlebnisinhalte verstehen, nur in objektivierender Weise über das gegenstandsorientierte Bewusstsein reden kann, ohne so etwas wie Selbstbewusstsein thematisieren zu können. 61 Der dazu erforderliche Umschwung von der Dritte-Person-Perspektive zur Erste-PersonPerspektive erfolgt vor allem in den Ideen I, aber auch in anderen Texten, die nach den Logischen Untersuchungen entstanden sind und Zeugnis von Husserls Bemühen ablegen, die Subjektivität nicht nur unter erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten, sondern um ihrer selbst willen zu thematisieren. Phänomenologie wandelt sich damit von einer objektivierenden Analyse der eidetisch-universalen Strukturen von Bewusstsein überhaupt zu einer Selbstbesinnung, in deren Verlauf das transzendentale Ich sich selbst als Grund und Prinzip seines Weltbezugs erkennt. Husserls Ansatz wird nicht selten als Weiterentwicklung der Philosophie Descartes’ gedeutet, 62 zumal er selbst mehrfach in prominenter Weise auf den cartesianischen Ansatz verwiesen und den in ihm liegenden radikalen Neuanfang des Philosophierens betont hat. 63 Allerdings zeigt sich bei genauerem Hinsehen, dass sich die von Husserl entworfene Transzendentalphänomenologie unter mehr als einem Gesichtspunkt vom cartesianischen Philosophieverständnis und Methodenideal unterscheidet. Am deutlichsten wird dies an der Bedeutung dessen sichtbar, was mit dem Wort »Ich« jeweils gemeint ist. Im Rahmen der cartesianischen Meditationes ist das ego lediglich das reflexive, aktuale Selbstbewusstsein der geschaffenen, vernunftbegabten Seelensubstanz als geschaffener, aber keine empiriefreie Vgl. E. Husserl, LU II/1, § 2, § 4, § 8 (Hua XIX/1), 360. 363 f. 372–376 sowie dazu R. N. Smid, ›Mein reines Ich‹ und die Probleme der Subjektivität. Eine Studie zum Anfang der Phänomenologie Edmund Husserls, Köln 1978 (Diss.), 23 f. 27. 35; M. Egger, Bewußtseinstheorie ohne Ich-Prinzip? Die Auseinandersetzung zwischen Husserl und Natorp über Bewußtsein und Ich, Hamburg, Verlag Dr. Kovač, 2005, 28–30. 51. 62 Diese einseitig cartesianische Interpretation Husserls geht nicht zuletzt auf Heidegger zurück, der in seinen frühen Freiburger und Marburger Vorlesungen kaum eine Gelegenheit auslässt, sich von Husserls phänomenologischem Erkenntnisideal zu distanzieren, und dabei dessen Denken nicht selten in verzerrender Weise wiedergibt. Vgl. M. Heidegger, Einführung in die phänomenologische Forschung (GA 17), 266–290; ders., Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs (GA 20), 139. 63 Vgl. E. Husserl, Ideen I, § 31 (Hua III), 64; ders., Cartesianische Meditationen (Hua I), 3–6; ders., Krisis (Hua VI), 83 f.; ders., Erste Philosophie. Erster Teil (Hua VII), 8. 60–63; ders., Einleitung in die Philosophie (Hua XXXV), Boston / London, Kluwer, 2002, 52. 61
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Phänomenologie als egologisch fundierte Erste Philosophie
Subjektinstanz, die die Möglichkeit absolut gewisser, universalgültiger Erkenntnis aus sich selbst heraus begründen könnte. Husserl kritisiert an Descartes’ Konzeption des ego genau diese Vermischung von psychologischen und reinrationalen Aspekten, die es erforderlich macht, zur Letztbegründung absolut unbezweifelbarer, wahrer Erkenntnis letztlich doch wieder auf einen transzendenten, außerhalb des Bewusstseins existierenden Gott und damit auf eine phänomenologisch nicht ausweisbare Instanz zu rekurrieren. Dieser »theologische Psychologismus«, 64 wie Husserl ihn ausdrücklich nennt, krankt daran, dass er zu wenig und zugleich zu viel will: zu wenig, insofern er das Bewusstsein als solches auf das empirische Seelenleben des Faktums Mensch reduziert, das seinen zureichenden Grund nicht in sich selbst finden kann; 65 zu viel, insofern er zur lückenlosen Auslegung der Strukturen dieses empirisch-psychologisch verstandenen ego letztlich auf Gott zurückgreifen muss, obwohl die Verbindung zwischen Gott und dem endlichen Geist des Menschen schöpfungstheologisch-kausal gefasst wird (mens creata) und damit eine inhaltliche Vorannahme macht, die von einem rein philosophischen Standpunkt aus nicht gedeckt ist. 66 Husserl löst dieses Dilemma dadurch, dass er im Gegensatz zu Descartes von vornherein jede Kausalbetrachtung aus dem Bereich der als »Egologie« verstandenen Ersten Philosophie verbannt. Das von der Phänomenologie zu erforschende Bewusstseinsleben formt in sich eine geschlossene Sphäre, die in ihren Strukturen analysiert und gedeutet werden kann, ohne sie mit den psychophysischen Prozessen des menschlichen Individuums oder mit jedem anderen innerVgl. E. Husserl, Erste Philosophie. Erster Teil (Hua VII), 86; ders., Krisis (Hua VI), 80–83; ders., Einleitung in die Philosophie. Vorlesungen 1916–1920 (Hua Mat IX), Dordrecht, Springer, 2012, 316 f. 360. 65 Vgl. E. Husserl, Cartesianische Meditationen (Hua I), 63 f.; ders., »Phänomenologie und Psychologie«, in: ders., Aufsätze und Vorträge [1911–1921] (Hua XXV), 108 f. 66 Landgrebe vertritt die interessante These, dass die Isolation des cartesianischen ego cogito und sein Angewiesensein auf einen ihm äußerlichen Schöpfergott letztlich eine Konsequenz der von Thomas von Aquin vertretenen These sei, der zufolge der menschliche Intellekt in diesem Leben Gott prinzipiell nicht unmittelbar in sich selbst vorfinden und erkennen könne, sondern nur indirekt, nämlich im Umweg über die geschaffene Wirklichkeit. Ausgehend von einer solchen extrinsezistischen Auffassung der Transzendenz Gottes ist es dem menschlichen ego cogito nicht möglich, auf denkerischer Ebene in ein unmittelbares dialogisches Verhältnis zu Gott einzutreten (vgl. L. Landgrebe, Phänomenologie und Metaphysik, 184). 64
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Das reine Ich als Möglichkeitsgrund von Welt, Personalität und Absolutem
weltlichen bzw. überweltlichen Faktum in Verbindung zu bringen. Der Phänomenologie treibende Philosoph setzt damit zwar notwendigerweise am menschlichen Selbstbewusstsein an, das sich im Erleben selbst als Einheit erfährt, doch geht seine Absicht dahin, den überempirischen Grund dieser Funktionseinheit aus dem Ich selbst zu erschließen, ohne auf eine äußere, theologisch konnotierte Instanz zurückgreifen zu müssen. Daher unterscheidet sich die phänomenologische Bedeutung dessen, was mit »Ich« gemeint ist, deutlich von der Funktion, die dieser Begriff im cartesianischen Ansatz einnimmt. Husserl versteht das »reine Ego« nicht als jenen archimedischen Punkt unbezweifelbarer Gewissheit, den man nur einmal im Leben (semel in vita) freilegen muss, um das Gebäude der Wissenschaften auf ein solides Fundament zu stellen. 67 Das Ich ist bei Husserl keine punktuelle, inhaltsleere Instanz, 68 sondern vielmehr ein Feld, das seine möglichen intentionalen Gegenstände immer schon mitumfasst und sich darüber hinaus in zeitlicher Weise als »heraklitischer Fluss« 69 konstituiert. Nur aus diesem Grunde ist eine »Egologie« als phänomenologische Auslegung des reinen Bewusstseins möglich und auch notwendig, da sich der konkrete Inhalt dessen, was mit »Ich« jeweils gemeint ist, permanent ändert und zu einer kontinuierlichen »Bewusstseinsgeschichte« anreichert. 70 Über diese inhaltlichen Unterschiede hinaus verfolgt die phänomenologische Thematisierung des reinen Ich aber auch eine grundlegend andere Absicht als Descartes’ Meditationes: Husserl geht es nicht darum, die gewisse Erkenntnis innerweltlich-objektiver Wirklichkeit zu begründen, sondern vielmehr darum, die weltkonstituierende Leistung der transzendentalen Subjektivität als solcher zu enthüllen und zu analysieren. Die Phänomenologie wird demnach nicht als systematisches Fundament für die theoretische Absicherung der anderen Erkenntnisformen funktionaVgl. R. Descartes, Meditationes de prima philosophia I, AT VII, 17. »Im Gegensatz zu Descartes vertiefen wir uns in die Aufgabe der Freilegung des unendlichen Feldes transzendentaler Erfahrung« (E. Husserl, Cartesianische Meditationen [Hua I], 69; Hervorhebungen im Original). 69 E. Husserl, Die Idee der Phänomenologie (Hua II), 47. 70 E. Husserl, Ideen I, § 81 (Hua III), 196–199; ders., Die Idee der Phänomenologie (Hua II), 47. Vgl. dazu den Aufsatz d. Verf. »Das Spielfeld des Bewusstseins. Edmund Husserls Entwurf eines phänomenologischen Heraklitismus«, in: M. Kowalewicz / G. Scholtz / K. Acham (Hg.), Spiel. Facetten seiner Ideengeschichte, Münster, Mentis Verlag, 2013, 39–53. 67 68
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Phänomenologie als egologisch fundierte Erste Philosophie
lisiert, sondern versteht sich als eine radikal neue Form der Philosophie, deren thematische Einstellung zu der aller anderen Disziplinen inkommensurabel ist. In Descartes’ Philosophie findet man zwei Ansätze, die von ihm selbst nicht in systematischer Weise zusammengeführt werden: Einerseits thematisiert er den methodischen Anfang der Philosophie, wie er in den Regulae ad directionem ingenii dargelegt wird, und entwirft vor diesem Hintergrund das Projekt der mathesis universalis als rein formaler Universalwissenschaft; andererseits fragt er in den Meditationes de prima philosophia nach dem metaphysischen Ursprung von Bewusstsein und Wirklichkeit, was ihn zur Entdeckung des ego cogito und der im Ausgang davon erschlossenen Existenz Gottes bringt. Doch da der metaphysische Ansatz der Meditationes noch auf reales Sein verweist, bleibt er unselbständig und vom allgemeineren, weil rein formalen Ansatz der Regulae abhängig. 71 Husserl gelingt es hingegen, durch die phänomenologische Methode diese beiden Aspekte miteinander zu verschmelzen: Die durch die Epoché gewonnene Sphäre des reinen Bewusstseins ist sowohl der methodische Anfang des Philosophierens als auch jene absolute Wirklichkeit, die den Ursprung aller Welterfahrung bildet. Husserls Phänomenologie übersteigt daher die Unterscheidung zwischen der rein formalen Mathesis als cartesianischer Variante der metaphysica generalis und einer am realen Sein orientierten metaphysica specialis von Gott, Seele und Welt zugunsten einer Egologie, die das reine Ich als Ursprung aller möglichen apriorisch-formalen Gegenstandsbestimmungen wie alles realen Seinssinns zum Thema hat. 72
Vgl. G. Olivo, »L’évidence en règle. Descartes, Husserl et la question de la ›Mathesis universalis‹«, Les Études philosophiques 1–2 (1996), 189–221, hier 191. 193. 220. 72 Bereits in einem Text aus dem Jahr 1908 notiert Husserl: »So treiben wir mit alledem Metaphysik, und zwar allgemeine Metaphysik gegenüber der ›reinen Naturwissenschaft‹ als apriorischer Ontologie der Natur: die Reduktion des ὄν auf das Absolute, das Bewusstsein« (E. Husserl, Transzendentaler Idealismus. Texte aus dem Nachlass [Hua XXXVI], Dordrecht / Boston / London, Kluwer, 2003, 37; Hervorhebung im Original). Auch wenn Husserl hier noch von »Metaphysik« spricht, geht aus seiner Aussage doch hervor, dass er diesen Begriff nicht mehr in seiner traditionellen Bedeutung verwendet, sondern ihn bereits im Sinne der Ideen I versteht, nämlich als »Erste Philosophie«, die in der phänomenologischen Zurückführung alles nur möglichen Seinssinnes auf seinen konstitutiven Ursprung im reinen Bewusstsein besteht. 71
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Das reine Ich als Möglichkeitsgrund von Welt, Personalität und Absolutem
Da die Epoché nicht nur alle innerweltlichen oder überweltlichen Transzendenzen, sondern auch die stillschweigende Existenzsetzung anderer Mitsubjekte zunächst einmal ausschalten muss, erfährt das phänomenologisierende Bewusstsein eine radikale Vereinzelung. 73 Das Ergebnis dieses Methodenschritts ist nicht das individualpsychische Bewusstsein des Phänomenologen als konkreter, faktischer Person, da auch seine eigene empirische Personalität, sofern sie als Teil der Welt verstanden wird, der Ausschaltung verfällt. Als Gegenstand phänomenologischer Analyse bleibt daher lediglich die in der Perspektive der Ersten Person zugängliche Sphäre des Erlebens als solchen übrig, aber nicht, insofern es das Erleben dieser innerweltlichen Person hier ist, sondern insofern es die individuell-inhaltlich bestimmte Konkretion eines Bewusstseinsflusses darstellt, an dessen Invarianzstrukturen sich das Wesen des reinen Ich ablesen lässt. 74 Das solcherart transzendental modifizierte Ich ist weder die bloß additive Ganzheit seines Welterlebens noch ein Teil davon, sondern geht aller möglichen Logik vom Ganzen und den Teilen noch voraus und entzieht sich dadurch jeder möglichen Vergegenständlichung. 75 Die durch die Epoché herbeigeführte radikale Vereinzelung des phänomenologisierenden Bewusstseins führt daher nicht zur theoretischen Behauptung eines radikalen Solipsismus, 76 sondern hat vielmehr den Zweck, dem phänomenologisierenden Ich in Erinnerung zu rufen, dass es als unableitbarer Ursprung seiner eigenen weltkonstituierenden Leistungen für die Rechtfertigung der von ihm erhobenen theoretischen wie praktischen Geltungsansprüche auf keine Fremdsubjektivität – weder Mensch noch Gott – rekurrieren kann. Versteht sich das phänomenologisierende Bewusstsein in diesem konstitutiven Sinne, kann es von sich selbst mit Fug und Recht sagen: »Ich bin nicht 73 Vgl. E. Husserl, Ideen I, §§ 32–33 (Hua III), 67–74; ders., »Phänomenologie und Anthropologie«, in: ders., Aufsätze und Vorträge [1922–1937] (Hua XXVII), 171. 74 Vgl. E. Husserl, Die Idee der Phänomenologie (Hua II), 43–48 sowie E. Marbach, Das Problem des Ich in der Phänomenologie Husserls, 40–42. 75 Vgl. R. Winkler, »Husserl and Bergson on time and consciousness«, Analecta Husserliana 90 (2006), 93–115, hier 95. 76 Die von der phänomenologischen Epoché unterschiedene »solipsistische Reduktion« wird von Husserl an anderer Stelle eingeführt, wo es um die transzendentale Begründung von Intersubjektivitätserfahrung geht. Vgl. dazu E. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass [Dritter Teil: 1929–1935] (Hua XV), Den Haag, Nijhoff, 1973, 50–52; ders., Cartesianische Meditationen (Hua I), 121 f. sowie S. Overgaard, »Epoché and Solipsistic Reduction«, Husserl Studies 18 (2002), 209–222.
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Phänomenologie als egologisch fundierte Erste Philosophie
von dieser Welt«; ist es doch in der Tat kein innerweltliches Etwas, sondern im Gegenteil der unhintergehbare Ursprung, von dem aus der Bezug auf Welt überhaupt erst möglich wird. In diesem Sinne hat Husserls Transzendentalphänomenologie es also sehr wohl mit dem Absoluten zu tun, doch handelt es sich dabei nicht mehr um eine objektivierbare, als »seiend« im höchsten Sinne gedachte Form faktischer Existenz, sondern um dasjenige Absolute, als das sich das Bewusstsein selbst in seinem transzendentalen Fungieren erfährt. Anders, als der traditionelle Begriff der Meta-physik suggeriert, liegt das phänomenologische Unbedingte also gerade nicht jenseits des Außenhorizontes innerweltlicher Erscheinung, sondern ist der radikale Innenhorizont und das unvorgänglich Erste des Denkens selbst, sofern sich dieses weder in einer verfehlten Selbstobjektivierung als Teil der von ihm erkannten Weltwirklichkeit begreift noch sein eigenes Wesen durch die bloße Negation aller Dinglichkeit bestimmt. Auch wenn das reine Ich mit bestimmten Funktionen und Attributen ausgestattet wird, die in der klassischen Metaphysik Gott vorbehalten sind, bedeutet das doch nicht, dass Husserl damit den Boden der Transzendentalphänomenologie verlassen würde; spielen sich all diese Analysen doch innerhalb der Sphäre des reinen Bewusstseins ab, die auf keine andere Absolutheit rekurriert als auf diejenige, die sie mit unmittelbarer Evidenz in sich selbst vorfinden kann.
1.5
»Ohne Mittel« – der intuitive Grundcharakter des phänomenologischen Bewusstseins
Die Gründe für Husserls Abgrenzung vom cartesianischen Ansatz sind relativ leicht nachzuvollziehen, da sich Descartes mit seiner Vorstellung einer geschaffenen »Seelensubstanz« sowie den damit zusammenhängenden offenbarungstheologischen Implikationen noch auf dem Boden einer vorkritischen Metaphysik bewegt. Schwieriger wird die Positionsbestimmung gegenüber dem Ansatz Kants, insofern dieser die substantialistische Missdeutung der erkennenden Subjektivität ebenfalls kritisiert und durch seinen transzendentalphilosophischen Ansatz abgelöst hatte. Obwohl Husserl an einigen Stellen seiner Werke Kants Ansatz durchaus positiv erwähnt, 77 lässt er doch 77
Vgl. E. Husserl, LU I, § 2, § 13 (Hua XVIII), 22. 44–46; ders., LU II/1, § 14, § 8 (Hua
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Das reine Ich als Möglichkeitsgrund von Welt, Personalität und Absolutem
keinen Zweifel daran, dass auch dessen Konzeption der Subjektivität noch mit ungelösten Problemen behaftet ist. Diese betreffen vor allem die Unterscheidung zwischen dem empirischen Ich als psychologischem Subjekt und dem transzendentalphilosophischen Ich als logischem Subjekt, das als solches inhaltsleer ist und sich ganz auf seine Funktion als Synthesis der Apperzeption reduziert. 78 Ein solches Auseinanderfallen von psychologischem und logischem Ich kann letztlich nicht befriedigend erklären, wie so etwas wie ein einheitliches Selbstbewusstsein und eine Reflexion über die eigene Welterfahrung möglich ist. 79 Doch auch die von Kant vorgenommene Unterscheidung zwischen sinnlicher Anschauung und kategorialem Denken ist vom phänomenologischen Standpunkt aus nicht statthaft, da sie letztlich aus der stillschweigenden metaphysischen Vorannahme der wesenhaften »Endlichkeit« menschlich-rezeptiver Erkenntnis im Unterschied zur postulierten »Unendlichkeit« einer göttlich-produktiven Erkenntnis resultiert. Da Husserl diesen Unterschied unter methodologischen Gesichtspunkten einklammern muss und von der strukturellen Univozität des Bewusstseins ausgeht, kommt er zu einem anderen Vernunftbegriff, der die starren Dichotomien des kantischen Subjektverständnisses zu überwinden vermag, ohne deswegen den transzendentalphilosophischen Anspruch aufzugeben. Der wohl wesentlichste Unterschied besteht darin, dass Husserl das Vernunftbewusstsein nicht primär von seiner logisch-diskursiven Funktion her betrachtet, sondern es im grundlegenden Sinne als »Anschauung« versteht, die nicht nur sinnlicher Natur ist, sondern sich auch auf das Gebiet dessen erstreckt, was Kant als Apriori bezeichnet hatte. In den Logischen Untersuchungen führt Husserl aus: In Kants Denken spielen zwar die kategorialen (logischen) Funktionen eine große Rolle: aber er gelangt nicht zu der fundamentalen Erweiterung der XIX/1), 346. 372; ders., LU II/2, § 43 (Hua XIX/2), 665; ders., Ideen I, § 57 (Hua III), 138; ders., Ideen III, § 7 (Hua V), 30. 78 Vgl. I. Kant, KrV, A 106–128. 354–356; ders., Opus postumum IX, AA XXII, 89; E. Husserl, Ideen I, § 62 (Hua III), 148; ders., Erste Philosophie. Erster Teil (Hua VII), 199; D. Lohmar, »Eine Geschichte des Ich bei Husserl. Mit Bemerkungen zum Ur-Ich in Husserls späten Zeitmanuskripten«, in: M. Pfeifer / S. Rapic (Hg.), Das Selbst und sein Anderes. Festschrift für Klaus Erich Kaehler, Freiburg / München, Alber, 2009, 162–180, hier 166–170. 79 Vgl. I. Kant, KrV, B 408b–429b; A 848–851 / B 876–879; ders., Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, §§ 46–49, AA IV, 333–337.
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Phänomenologie als egologisch fundierte Erste Philosophie
Begriffe Wahrnehmung und Anschauung über das kategoriale Gebiet; und zwar deshalb nicht, weil er den großen Unterschied zwischen Intuition und Signifikation, in ihrer möglichen Sonderung und gewöhnlichen Verschmelzung, nicht würdigt. […] Kant gerät von vornherein in das Fahrwasser der metaphysischen Erkenntnistheorie dadurch, daß er auf die kritische »Rettung« von Mathematik, Naturwissenschaft und Metaphysik ausgeht, ehe er die Erkenntnis als solche, die Gesamtsphäre der Akte, in denen sich das vorlogische Objektivieren und das logische Denken vollzieht, einer aufklärenden Wesensanalyse und Kritik unterworfen und die primitiven logischen Begriffe und Gesetze auf ihren phänomenologischen Ursprung zurückgeführt hat. 80
Der Vorwurf, den man von Seiten der Phänomenologie an Kant richten kann, gilt also der Tatsache, dass er aufgrund ungeklärter erkenntnistheoretischer Prämissen die Kategorien des Verstandes als etwas statisch Bestehendes ansieht, das von der Sinnlichkeit getrennt ist, obwohl er sich sehr wohl dessen bewusst ist, dass die Annahme einer solchen Trennung ein Problem aufwirft, das im Rahmen der Vernunftkritik nicht zu lösen ist. 81 Husserls Gegenentwurf besteht darin, der Erfahrung als solcher bereits eine grundlegende Logizität zuzubilligen und die Kategorien in ihrer ausdrücklichen begrifflichen Formulierung und urteilslogischen Anwendung als sekundäres Produkt desselben Bewusstseins anzusehen, das auch als konstitutiver Ursprung der vorkategorialen Welterfahrung fungiert. Damit ergibt sich die Möglichkeit, die bei Kant aporetisch gebliebene Aufspaltung der Subjektivität in ein »psychologisches Ich« und ein »logisches Ich« zu überwinden und die Einheit des Bewusstseinslebens als Ergebnis einer Erzeugung zu deuten, die das Hervorgebrachte nicht nur aus sich entlässt, sondern ihm zugleich in bleibender Weise innewohnt und es in allen seinen Dimensionen durchdringt. Diese kontinuierliche Präsenz des konstitutiven Ursprungs an jedem Punkt des Bewusstseinslebens erlaubt es Husserl, sowohl mit Blick auf die Gegenstandserkenntnis als auch mit Blick auf die Selbsterkenntnis das Modell einer urteilslogisch vermittelten Rationalität durch eine intuitive Vernunftauffassung zu ersetzen, die das Singuläre und IndiviE. Husserl, LU II/2, § 66 (Hua XIX/2), 732. »Nur so viel scheint zur Einleitung, oder Vorerinnerung, nötig zu sein, daß es zwei Stämme der menschlichen Erkenntnis gebe, die vielleicht aus einer gemeinschaftlichen, aber uns unbekannten Wurzel entspringen, nämlich Sinnlichkeit und Verstand, durch deren ersteren uns Gegenstände gegeben, durch den zweiten aber gedacht werden« (I. Kant, KrV, B 29; Hervorhebungen im Original).
80 81
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Das reine Ich als Möglichkeitsgrund von Welt, Personalität und Absolutem
duelle immer schon auf das ihm vorausgehende Universale hin transparent werden lässt. 1.5.1
Die Wesensschau als Verweis auf eine Sphäre reiner Intelligibilität
Der von Husserl geprägte Begriff der phänomenologischen »Wesensschau« wurde schon früh von nicht wenigen seiner Zeitgenossen in einem pseudo-mystischen Sinne missverstanden, so als handele es sich dabei um eine mehr oder weniger esoterische Form der Erkenntnis, die den »Eingeweihten« vorbehalten sei. 82 Dabei geht es Husserl mitnichten darum, für die Phänomenologie eine vermeintlich übernatürliche Erkenntnisfähigkeit zu reklamieren, sondern vielmehr darum, die stillschweigende Gleichsetzung der einfachen, unmittelbaren Erkenntnis universaler Gedankeninhalte mit deren begrifflicher Signifikation in Frage zu stellen. Die kantische Kategorienlehre bewegt sich bereits auf dem letztgenannten Niveau, wo es um die urteilslogische Verknüpfung von begrifflich gefassten Universalstrukturen geht, doch überspringt sie damit in Husserls Augen das ursprünglichere Niveau einer intuitiven Erfassung universaler Inhalte, die von der Erfahrung individueller Wirklichkeit ausgeht, aber mit ihr nicht zusammenfällt. In den Logischen Untersuchungen spricht Husserl noch nicht von »Wesensschau«, sondern von »kategorialer Anschauung«, was von der Sache her aber dasselbe meint. 83 An die Stelle der kantischen Unterscheidung zwischen »Anschauung« und »Denken« tritt nun die Unterscheidung zwischen individueller Anschauung einerseits und Vgl. E. Husserl, »Phänomenologie und Psychologie«, in: ders., Aufsätze und Vorträge [1911–1921] (Hua XXV), 82–124, hier 110 f. In diesem Sinne ironisiert auch der junge Heidegger in seinen frühen Freiburger Vorlesungen über manche Studenten, die angesichts des Begriffs der »Wesensschau« offenbar tatsächlich die Erwartung hegten, dass man in Husserls Lehrveranstaltungen mystische Erlebnisse haben oder besondere Erleuchtungserfahrungen machen könne (vgl. dazu M. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie [1919/20] [GA 58], Frankfurt a. M., Klostermann, 1993, 19). Doch auch unabhängig von solchen extremen, esoterischen Missdeutungen war der Eindruck vorherrschend, dass die Phänomenologie zumindest einem methodenlosen Intuitionismus huldige (vgl. L. Landgrebe, Phänomenologie und Metaphysik, 74). 83 Vgl. K.-H. Lembeck, »Begründungsphilosophische Perspektiven: Husserl und Natorp über Anschauung«, Phänomenologische Forschungen (N.F.) 8 (2003), 97–108, hier 98 f. 82
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Phänomenologie als egologisch fundierte Erste Philosophie
universaler Anschauung bzw. Allgemeinheitsbewusstsein andererseits. Dabei muss die individuelle Anschauung nicht notwendigerweise aus einer realen sinnlichen Erfahrung stammen, sondern kann sich ebenso gut auch in einem Akt des Phantasierens einer singulär-konkreten Wirklichkeit realisieren. So ist es beispielsweise für die Gewinnung des allgemeinen Wesens der »Röte« gleichgültig, ob man von erfahrungsmäßig gegebenen oder nur imaginativ vorgestellten roten Gegenständen ausgeht. Bemerkenswert ist allerdings, dass Husserl den abstraktiven Prozess der Gewinnung des Universale namens »Röte« bzw. »die Farbe Rot als solche« noch nicht als diskursivverstandesmäßigen Vorgang im eigentlichen Sinne bezeichnet, sondern als einen intuitiven Akt, ein »Herausschauen«, 84 das die in jeder individuellen Rot-Wahrnehmung oder Rot-Vorstellung liegenden Wesensstrukturen der Farbe Rot (beispielsweise den Umstand, dass sie immer eine bestimmte Schattierung haben muss) unmittelbar erfasst. Zugleich mit der individuellen Instanz (der einzelne rot gefärbte Gegenstand, das einzelne Dreieck usw.) ist implizit immer schon die entsprechende »Idee« (der Röte als solcher, des Dreiecks als solchen usw.) mit angeschaut, auch wenn sie dabei nicht den primären Gegenstand des Erkenntnisaktes bildet. In der sechsten Logischen Untersuchung heißt es: Im Abstraktionsakte, der sich nicht etwa notwendig mittels einer Nennung vollziehen muß, ist uns das Allgemeine selbst gegeben; wir denken es nicht in bloß signifikativer Weise, wie im Falle des bloßen Verständnisses allgemeiner Namen, sondern wir erfassen es, wir erschauen es. Gewiß ist hier also die Rede von der Anschauung und, näher, von der Wahrnehmung des Allgemeinen eine wohlberechtigte. […] Das Rot, das Dreieck der bloßen Phantasie ist spezifisch dasselbe wie das Rot, das Dreieck in der Wahrnehmung. Das Allgemeinheitsbewußtsein erbaut sich auf Grund der Wahrnehmung und der konformen Einbildung gleich gut, und erbaut es sich überhaupt, so ist das Allgemeine, die Idee Rot, die Idee Dreieck, selbst erfaßt, es ist angeschaut in der einen und einzigen Weise, die keine Unterschiede zwischen Bild und Original zuläßt. 85
Die intuitive Gegebenheit des Allgemeinen in seinen individuellen Instanziierungen ist demnach vorsprachlicher und vorbegrifflicher Natur, so dass das Bewusstsein hier ohne diskursive Vermittlung erkennt. Vom »Denken« im kantischen Sinne könnte erst dann die Re84 85
Vgl. E. Husserl, Ideen I, § 2 (Hua III), 13. E. Husserl, LU II/2, § 52 (Hua XIX/2), 691 f. (Hervorhebungen im Original).
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de sein, wenn die jeweils geschauten Ideen mit bestimmten Begriffen bezeichnet und diese wiederum in Form eines logischen Urteils miteinander verknüpft würden. Doch dies wäre bereits eine Ebene, auf der sich das Bewusstsein von der ursprünglichen, unmittelbaren Gegebenheit der allgemeinen Ideen in statu nascendi entfernt und sie durch anschauungsferne Zeichen ersetzt hätte. So gesehen, wäre dieser Schritt nachträglich und somit in Husserl Sinne »aposteriorisch«, während das wahre Apriori im unmittelbaren Allgemeinheitsbewusstsein liegt. In den Logischen Untersuchungen ist mit Blick auf die Gewinnung der universalen Ideen noch von »Abstraktion« die Rede, was den Eindruck erweckt, dass das Individuelle – ganz gleich, ob erfahrungsmäßig oder nur in der Phantasie gegeben – den realen Primat gegenüber dem Allgemeinen besitzt. Doch in den Ideen I spricht Husserl im Zusammenhang mit der Wesensschau bzw. »Ideation« in einer Weise, die nahelegt, dass das Allgemeine dem Individuellen im realen Sinne vorangeht. Die Wahrnehmung individueller, kontingenter Gegenstände als individueller und kontingenter impliziert ja schon das Bewusstsein davon, dass es zum Wesen des betreffenden Dinges gehört, innerhalb gewisser Grenzen auch anders sein zu können, als es ist. Damit hat man das Niveau der Individualität als der absolut einmaligen haecceitas eines Dinges immer schon überschritten auf die Ebene des Wesens hin, das jenen harten Kern von Eigenschaften ausmacht, die einer bestimmten Sache notwendigerweise zugehören müssen. 86 Doch geht für Husserl auch im ontologischen Sinne das Wesen den Individuen, die das entsprechende Sosein in vereinzelter, beschränkter Weise an sich verwirklichen, voraus. Er bemerkt diesbezüglich: Das Eidos, das reine Wesen, kann sich intuitiv in Erfahrungsgegebenheiten, in solchen der Wahrnehmung, Erinnerung usw., exemplifizieren, ebensogut aber auch in bloßen Phantasiegegebenheiten. Demgemäß können wir, ein Wesen selbst und originär zu erfassen, von entsprechenden erfahrenden Anschauungen ausgehen, ebensowohl aber auch von nicht-erfahrenden, nicht-daseinerfassenden, vielmehr »bloß einbildenden« Anschauungen. […] Damit hängt wesentlich zusammen, Setzung und zunächst anschauende Erfassung von Wesen impliziert nicht das mindeste von Setzung irgendeines individuellen Daseins; reine Wesenswahrheiten enthalten nicht die mindeste Behauptung über Tatsachen, also ist auch aus ihnen allein nicht 86
Vgl. E. Husserl, Ideen I, § 2 (Hua III), 12 f.
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Phänomenologie als egologisch fundierte Erste Philosophie
die geringfügigste Tatsachenwahrheit zu erschließen. So wie jedes Tatsachen-denken, -aussagen zu seiner Begründung der Erfahrung bedarf […], so bedarf das Denken über reine Wesen – das ungemischte, nicht Tatsachen und Wesen verknüpfende – als begründende Unterlage der Wesenserschauung. 87
Dieser Passus ist insofern bemerkenswert, als Husserl davon spricht, dass sich das Wesen in den einzelnen wahrgenommenen oder imaginierten Individuen exemplifiziert, was bedeutet, dass die Bewegung hier vom Universalen zum Partikularen geht und nicht umgekehrt, wie es bei einer empiristischen Interpretation der Wesensschau als nachträglicher Abstraktion von Einzeldingen der Fall wäre. Darüber hinaus betont Husserl jedoch auch, dass die Sphäre der Wesen von der Sphäre faktischer Existenz vollkommen unabhängig ist und nicht etwa in dieser begründet liegt. Es ist also nicht so, dass die existierenden Einzeldinge das »eigentlich Seiende« wären, von dem aus man unter Umständen auch Universalbegriffe abstrahieren könnte, die keinerlei eigenständige ontologische Konsistenz, sondern nur eine sekundäre Form von Wirklichkeit besäßen. Vielmehr bildet die Sphäre reiner Wesen für Husserl einen autonomen Bereich apriorisch geltender, universaler Erkenntnisse, die nicht in realer Existenz und individuell-sinnlichen Anschauungen, sondern nur in unmittelbaruniversalen Wesensanschauungen fundiert sein müssen. Damit wird eine fundamentale Asymmetrie zwischen Wesen und Faktum erkennbar: Kein individuelles Ding kann existieren oder auch nur vorgestellt werden, ohne Träger gewisser Wesenseigenschaften zu sein, während umgekehrt die Sphäre der Wesen in keiner Weise auf individuelle Existenz verweist oder von dieser abhängt. Somit ist klar, dass es für Husserl eine Sphäre reiner Intelligibilität gibt, die gegenüber allem realen, faktischen Sein autonom ist, umgekehrt aber aller individuell erfahrbaren Wirklichkeit innewohnt und ihr die Grenzen ihres Soseins und ihrer möglichen Variierbarkeit vorgibt. Die Phänomenologie ist nun diejenige Wissenschaft, die genau diesen Bereich existenzfreier bzw. gegenüber möglicher Existenz und individueller Verwirklichung neutraler Wesensstrukturen zum Thema hat. Die Betonung des Primats unmittelbarer Anschauung universaler Wesenheiten gegenüber ihrer begrifflichen Bezeichnung und kategorialen Verknüpfung macht deutlich, dass der Unterschied zwischen der Erkenntnis individueller Wirklichkeit und der Erkennt87
E. Husserl, Ideen I, § 4 (Hua III), 16 f. (Hervorhebungen im Original).
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Das reine Ich als Möglichkeitsgrund von Welt, Personalität und Absolutem
nis allgemeiner Ideen nicht zwei verschiedenen »Vermögen« des Subjekts – einer individuell-intuitiven Sinnlichkeit und einem begrifflich-universalen Verstand – entspringt, sondern zwei verschiedenen Einstellungen ein und desselben Bewusstseins mit Bezug auf ein und denselben noematischen Gehalt. Sowohl das Individuelle als auch das Universale wird unmittelbar »angeschaut«, während die begrifflichkategoriale Fassung und sprachliche Artikulation des Erkannten in beiden Fällen lediglich ein sekundäres, vermitteltes Phänomen darstellt. Im Kontext von Husserls Phänomenologie stellt sich Wahrheit somit nicht in erster Linie als ein logisch-diskursiv vermittelter Prozess, sondern als ein unmittelbares Einssein des erkennenden Bewusstseins mit dem sich in vollkommener Evidenz selbstgebenden Erkannten dar. In diesem Zusammenhang verweist Husserl interessanterweise auf die scholastische Bestimmung der Wahrheit als adaequatio rei et intellectus, gibt ihr aber eine Deutung, die von der traditionellen Definition abweicht. Thomas von Aquin hatte ausdrücklich betont, dass die primäre und eigentliche Bedeutung von »Wahrheit« sich auf die Übereinstimmung zwischen einer vom Intellekt erzeugten logischen Urteilsverknüpfung und dem korrespondierenden komplexen Sachverhalt bezieht und nicht in erster Linie auf den Erkenntnisakt, der die Wesenheiten der einzelnen Dinge in schlichter Weise erfasst. 88 Husserl hingegen bezieht die adaequatio rei et intellectus im ursprünglichen Sinne auf jene bruchlose Synthesis zwischen intendierter Meinung und anschaulicher Erfüllung, die sich auf der vorsprachlichen Ebene des Bewusstseins vollzieht und jeder ausdrücklichen begrifflichen Fassung und propositionalen Verknüpfung vorangeht. 89 Das bedeutet nicht, dass im Bereich der Phänomenologie die sprachliche Artikulation der Erkenntnis keine Rolle spielte, wohl aber, dass die durch sprachliche Bedeutungsträger vermittelten universalen Inhalte als solche keinen anschaulichen Charakter mehr haben und daher nur insofern als Träger wahrer Erkenntnis fungieren können, als sie sich auf ihr intuitives Fundament zurückführen lassen, das letztlich die Sinnhaftigkeit dieser Sprachzeichen verbürgt.
[S]icut verum per prius invenitur in intellectu quam in rebus, ita etiam per prius invenitur in actu intellectus componentis et dividentis quam in actu intellectus quiditatem rerum formantis (Thomas von Aquin, Quaestiones disputatae de veritate, q. 1, a. 3 c). 89 Vgl. E. Husserl, LU II/2, §§ 36–37 (Hua XIX/2), 645–650. 88
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Phänomenologie als egologisch fundierte Erste Philosophie
Im Gegensatz zu allen anderen Wissenschaften, die bestrebt sind, ausgehend von ihren jeweiligen Gegenstandsbereichen Erkenntnisse zu gewinnen, die sich begrifflich-propositional und womöglich sogar in einer rein symbolischen Formelsprache fassen und deduktiv weiterentwickeln lassen, geht die Phänomenologie den umgekehrten Weg, der von der komplexen, begrifflich vermittelten Bedeutung zur inkomplexen, unmittelbar anschaulichen Evidenz zurückführt. Da das, was auf eidetischer Ebene angeschaut wird, den Charakter apriorisch-universaler Geltung hat, die in keiner Weise auf reale Existenz verweist, stellt sich die Phänomenologie damit als eine Wissenschaft dar, die es mit jenem Bereich intelligiblen Nichtseins zu tun hat, der jeder realen oder auch nur möglichen Wirklichkeit zugrunde liegt und ihr den Rahmen vorgibt, ohne dass der Übergang von der universalen Wesenheit zum individuellen Faktum sich aus dem Wesen selbst deduzieren ließe. 1.5.2
Die Möglichkeit einer Selbstanschauung des reinen Ich
Wirkt schon Husserls Lehre von einer unmittelbaren Schau universaler Ideengehalte ungewöhnlich, da sie der traditionellen Auffassung von der Endlichkeit und Sinnengebundenheit menschlicher Erkenntnis zu widersprechen scheint, so gilt dies erst recht mit Blick auf seine Konzeption der Selbstgegebenheit des reinen Ich als des Ursprungs aller individuellen wie universalen Anschauungen. Der Umstand, dass Husserl den Ichbegriff nicht von Anfang an verwendet, sondern ihn erst sukzessiv und nicht ohne Widersprüchlichkeiten und terminologische Schwankungen wieder in die Phänomenologie einführt, ist ein Indiz dafür, dass sich die Frage nach dem Modus der phänomenalen Selbstgegebenheit mit Blick auf das Ich als deutlich problematischer darstellt als mit Blick auf seine intentionalen Gegenstände, ganz gleich, ob diese nun individueller oder universaler Natur sind. Wenn der Begriff der Intentionalität besagt, dass das reine Bewusstsein immer schon über sich selbst hinaus ist, um sich auf Gegenstände zu beziehen, die ihm selbst nicht reell immanent sind, scheint daraus zu folgen, dass das Ichbewusstsein als solches nie unmittelbar gegeben ist, sondern nur nachträglich durch Reflexion erschlossen werden kann. Damit stünde man aber wieder vor der Schwierigkeit, dass das Ich sich selbst zu einem Gegenstand macht und damit nur ein wie immer beschaffenes Ich-Objekt, aber gerade nicht seine ichliche Subjektivität als solche erfasst. 231 https://doi.org/10.5771/9783495821633
Das reine Ich als Möglichkeitsgrund von Welt, Personalität und Absolutem
Husserls Grundthese, dass erst die Epoché das Bewusstsein aus seiner naturalisierenden, verweltlichten Selbstdeutung herauszureißen vermag, legt einerseits nahe, dass das reine Ich als solches eben nicht unmittelbar erfahrbar ist, sondern nur im Umweg über diesen expliziten phänomenologischen Methodenschritt zugänglich wird. Bei näherem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass es sich hier nicht um eine bloße Reflexion im üblichen Sinne handelt. Diese könnte ebenso gut auch in der natürlich-psychologischen Einstellung erfolgen, in der das Ich sich selbst und sein Bewusstsein noch als Teil der Welt interpretiert und in diesem Sinne zum Gegenstand expliziter Erörterungen macht. 90 In dem Moment, wo durch die Epoché die scheinbare Eigenständigkeit der Welt als des Inbegriffs aller dinglichen Wirklichkeit verschwindet, kann jedoch auch das Selbstbewusstsein des Ich nicht mehr als reflexives Vor-sich-Bringen eines zuvor im Hintergrund stehenden »Denkdings« gedeutet werden. An die Stelle der starren Subjekt-Objekt-Spaltung tritt bei Husserl die Einsicht in die wesenhafte Dynamik und Fluidität des intentionalen Bewusstseins, so dass die Selbstgegebenheit des Ich gerade nicht dessen Vergegenständlichung impliziert, sondern lediglich die Verlagerung des thematischen Interesses von den gegebenen noematischen Inhalten auf die Prozessualität des Bewusstseinsaktes, in dem sie gegeben sind. Anders als die Begriffe »Subjekt« und »Objekt« verweist die Rede vom »Bewusstseinserlebnis« auf ein aktuelles Vollzugs-Ich, das sich seiner selbst nicht als einer statischen »Seelensubstanz« oder eines Reflexionsgegenstandes, sondern als des Ursprungs immer neuer Weisen intentionaler Bezüge bewusst ist. Damit gelingt es Husserl, die beiden möglichen Extreme zu vermeiden, die in einer verdinglichenden Abspaltung des reinen Ich von seinen intentionalen Erlebnissen einerseits und in seiner funktionalen Reduktion auf die bloße transzendentallogische Einheit all seiner Erlebnisse andererseits bestünden: Vollziehe ich aber die phänomenologische ἐποχή, verfällt, wie die ganze Welt der natürlichen Thesis, so »Ich, der Mensch« der Ausschaltung, dann bleibt das reine Akterlebnis mit seinem eigenen Wesen zurück. Ich sehe aber auch […], daß andererseits kein Ausschalten die Form des cogito aufheben und das »reine« Subjekt des Aktes herausstreichen kann. […] Bei diesen eigentümlichen Verflochtenheiten mit allen »seinen« Erlebnissen ist doch das erlebende Ich nichts, was für sich genommen und zu einem 90
Vgl. E. Husserl, Ideen I, § 51 (Hua III), 119–121.
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Phänomenologie als egologisch fundierte Erste Philosophie
eigenen Untersuchungsobjekt gemacht werden könnte. […] Darum gibt es doch Anlaß zu einer Mannigfaltigkeit wichtiger Beschreibungen, eben hinsichtlich der besonderen Weisen, wie es in den jeweiligen Erlebnisarten oder Erlebnismodis erlebendes Ich ist. Dabei unterscheidet sich immerfort – trotz der notwendigen Aufeinanderbezogenheit – das Erlebnis selbst und das reine Ich des Erlebens. 91
Die primäre Selbstgegebenheit des reinen Ich ist daher nicht eine solche des reflexiven Bewussthabens eines von seinen intentionalen Vollzügen isolierten Subjekt-Objekts, sondern besteht vielmehr im unmittelbaren Bewusstsein von sich selbst als reiner Aktualität, die frei ist, die Weisen ihres intentionalen Bezogenseins und Erlebens jederzeit zu ändern. Gerade im Vollzug dieser Spontaneität und Freiheit ist sich das reine Ich somit der Tatsache bewusst, dass es mit der Summe dieser von ihm verwirklichten Weisen nicht identisch ist, sondern sie übersteigt. Im schauenden Gerichtetsein auf die wechselnden intentionalen Gehalte seines Bewusstseinslebens schaut es zugleich auch sich selbst an – nicht als unendliche, sich selbst setzende Ich-Substanz, sondern als die phänomenale Urtransparenz, in der alles andere erscheint und zum Gegenstand von intentionalen Bezugsweisen werden kann. 92 Die Selbstanschauung des reinen Ich ist also möglich aufgrund des prinzipiellen Überschusses des in jedem Bewusstseinsakt unmittelbar Gegebenen gegenüber dem ausdrücklich Thematisierten. So, wie in der thematischen Anschauung eines individuellen Gegenstandes immer schon dessen Wesensstrukturen unthematisch mitangeschaut sind, so braucht auch das reine Ich seine wesenhafte Aktualität und Spontaneität nicht ausdrücklich zu thematisieren, um von ihnen ein Vollzugsbewusstsein zu haben. Dieses unthematische Bei-sichSein des reinen Ich ist die Bedingung der Möglichkeit dafür, dass es sich im Rahmen der phänomenologischen Analysen ausdrücklich thematisieren kann, ohne in einen unendlichen Regress zu gelangen. In den Ideen II führt Husserl diesbezüglich aus: Zum Wesen jedes cogito gehört es generell, daß ein neues cogito von der Art, die wir »Ich-Reflexion« nennen, prinzipiell möglich ist, welches auf Grund des früheren, sich dabei phänomenologisch wandelnden, das reine Vgl. E. Husserl, Ideen I, § 80 (Hua III), 195 (Hervorhebungen im Original). Vgl. dazu S. Taguchi, Das Problem des ›Ur-Ich‹ bei Husserl. Die Frage nach der selbstverständlichen ›Nähe‹ des Selbst (Phaenomenologica 178), Dordrecht, Springer, 2006, 68 f. 73.
91 92
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Das reine Ich als Möglichkeitsgrund von Welt, Personalität und Absolutem
Subjekt desselben erfaßt. Somit gehört es, wie wir auch sagen können […], zum Wesen des reinen Ich, sich selbst als das, was es ist und wie es fungiert, erfassen und sich so zum Gegenstand machen zu können. […] Das reine Ich ist durch das reine Ich, das identische selbe, gegenständlich setzbar. Zum Wesen des reinen Ich gehört dabei die Möglichkeit einer originären Selbsterfassung, einer »Selbstwahrnehmung«, aber dann auch der entsprechenden Selbsterfassungsmodifikationen, also einer Selbst-Erinnerung, SelbstPhantasie u. dgl. […] Zu bemerken ist dabei, daß überall zwar das Vergegenständlichte und »ursprünglich« nicht Vergegenständlichte […] zu unterscheiden ist. Aber wie sehr sich damit eine phänomenologische Wandlung ausdrückt […]: so ist doch evident, dank weiterer Reflexionen höherer Stufe, daß das eine und andere reine Ich in Wahrheit ein und dasselbe ist, nur eben einmal gegeben, das andere Mal nicht gegeben, oder in höherer Reflexion einmal schlicht gegeben, das andere Mal in einer weiteren Mittelbarkeitsstufe gegeben. 93
Die ursprüngliche Selbstgegebenheit des reinen Ich ist demnach eine unmittelbare, die nicht durch Reflexion zustandekommt, sondern umgekehrt diese überhaupt erst ermöglicht. Ohne eine solche permanente primäre Selbsterfahrung 94 wäre eine Reflexion strenggenommen nicht durchführbar, da das reflektierende Ich sonst nie wissen könnte, ob das, worauf es reflektiert, überhaupt mit ihm selbst identisch ist oder nicht. Doch auch dort, wo der Phänomenologe dieses reine Ich ausdrücklich thematisiert und damit zum »Gegenstand« der Reflexion macht, stehen sich reflektierendes und reflektiertes Ich dennoch nicht in einer objektivierenden Spaltung gegenüber, sondern sind miteinander identisch, insofern sie nichts anderes sind als unterschiedliche Phasen derselben Bewusstseinsaktualität, die sich über ihre unterschiedlichen Erlebnisinhalte und Interessenshaltungen hinweg als identische durchhält. Diese Identität ist dabei nicht als punktuelles In-sich-Verharren zu verstehen, sondern vollzieht sich als das beständig neu aktualisierte Sich-Ausspannen auf intentionale Inhalte, im Wissen darum, dass diese immer nur unselbständiger Teil, nicht aber Ursprung des eigenen Erlebniszusammenhangs sind.
E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Zweites Buch: Die Konstitution der geistigen Welt, § 23 (im Folgenden abgekürzt als Ideen II; Hua IV), Den Haag, Nijhoff, 1952, 101 f. (Hervorhebungen im Original); vgl. dazu E. Marbach, Das Problem des Ich in der Phänomenologie Husserls, 207–211. 94 Vgl. E. Husserl, Zur phänomenologischen Reduktion. Texte aus dem Nachlass [1926–1935] (Hua XXXIV), Dordrecht, Springer, 2002, 212. 93
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Was die unmittelbare »Selbstanschauung« des reinen Ich von einer intellektuellen Anschauung oder gar Selbstsetzung im idealistischen Sinne unterscheidet, ist die Tatsache, dass das reine Ich sich zwar im jeweiligen Bewusstseinserlebnis als aktuell tätig erfährt, diese Aktualität aber nicht davor bewahren kann, durch das permanente Fortschreiten zu immer neuen Bewusstseinserlebnissen sogleich in den Modus der Inaktualität und Latenz zu versinken. Gerade weil das reine Ich kein abstrakter Punkt ist, sondern sich überhaupt nur als stets neue und anders motivierte intentionale Erstreckung auf wechselnde Bewusstseinsinhalte vollzieht, gehören auch die vergangenen, inaktuellen Phasen seines Erlebniszusammenhangs untrennbar zu ihm selbst dazu und bilden mit seinem jeweils aktuellen Gegenwartsbewusstsein ein bruchloses Kontinuum. 95 Die phänomenologische Erörterung des Selbstbewusstseins eröffnet daher keine Subjekt-Objekt-Dichotomie, 96 sondern bewegt sich lediglich auf der Subjektseite hin und her, um in den inaktuellen, abgeflossenen Phasen seines intentionalen Erlebens die eigene Aktualität im Modus des Vergangenseins anzuschauen. Die Selbstanschauung des reinen Ich in seiner »absoluten Gegebenheit« 97 bedeutet also keine absolute, unendliche Aktualität, sondern ist notwendigerweise mit dem Bewusstsein eines potentiell unendlichen, mehr oder weniger dunklen Horizontes von Inaktualität und Selbstentzogenheit verbunden, dessen vergangene Phasen zwar beliebig oft re-aktualisiert, aber nie mehr in den ursprünglichen Modus primär erlebter Aktualität überführt werden können.
1.6
Die »Urzeugung« des inneren Zeitbewusstseins als Durchbruch zur absoluten Subjektivität
Der besonders geartete, weder auf cartesianische noch auf kantianische oder idealistische Denkschemata zu reduzierende Charakter von Husserls Egologie wird spätestens in dem Moment sichtbar, wo Vgl. E. Husserl, Ideen II, § 22 (Hua IV), 99 f. Mit Blick auf diese häufig an die Adresse Husserls gerichtete Kritik vgl. D. Zahavi, »Husserl und das Problem des vor-reflexiven Selbstbewußtseins«, in: H. Hüni / P. Trawny (Hg.), Die erscheinende Welt. Festschrift für Klaus Held, Berlin, Duncker & Humblot, 2002, 697–724, hier 698–700 sowie ders., »Brentano und Husserl on self-awareness«, Les Études phénoménologiques 27/28 (1998), 127–168, hier 151. 97 Vgl. E. Husserl, Ideen II, § 22, § 24 (Hua IV), 97. 105. 95 96
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Das reine Ich als Möglichkeitsgrund von Welt, Personalität und Absolutem
er in den Ideen I ausdrücklich der Auffassung widerspricht, das transzendentale Absolute des »reinen Ich« stelle in phänomenologischer Hinsicht das tiefste Niveau dar, zu dem man gelangen könne. In einem ersten Schritt gilt es zu erkennen, dass alles, was man gemeinhin als »Sein« oder »Seiendes« bezeichnet, nur eine relative Wirklichkeit darstellt, die von der absoluten, nichtseienden Wirklichkeit namens »reines Bewusstsein« abhängt. Doch in einem zweiten Schritt erweist sich auch das durch die Epoché gewonnene reine ego nicht als das radikal Erste, sondern als das konstitutive Ergebnis eines noch ursprünglicheren, vorichlichen Geschehens. Im § 81 der Ideen I schreibt Husserl: Das transzendentale »Absolute«, das wir uns durch die Reduktionen herauspräpariert haben, ist in Wahrheit nicht das Letzte, es ist etwas, das sich selbst in einem gewissen tiefliegenden und völlig eigenartigen Sinn konstituiert und seine Urquelle in einem letzten und wahrhaft Absoluten hat. […] Jedes wirkliche Erlebnis […] ist notwendig ein dauerndes; und mit dieser Dauer ordnet es sich einem endlosen Kontinuum von Dauern ein – einem erfüllten Kontinuum. Es hat notwendig einen allseitig unendlichen erfüllten Zeithorizont. Das sagt zugleich: es gehört einem unendlichen »Erlebnisstrom« an. Jedes einzelne Erlebnis kann, wie anfangen, so enden und damit seine Dauer abschließen, z. B. ein Erlebnis der Freude. Aber der Erlebnisstrom kann nicht anfangen und enden. Jedes Erlebnis, als zeitliches Sein, ist Erlebnis seines reinen Ich. 98
Aus der Verwendung der Begriffe »Urquelle« und »Strom« geht hervor, dass Husserl das reine Ich gerade nicht als unerschütterliches Fundament phänomenologischer Letztbegründung versteht, sondern es als sekundäres Konstitutionsprodukt einer noch ursprünglicheren Bewusstseinsebene deutet, die nichts anderes ist als eine quellende, sprudelnde Dynamik. Diese bildet von sich aus bereits ein in beiden Richtungen unendliches Kontinuum und bedarf daher – anders als bei Descartes – keiner äußeren, göttlichen Instanz, um in jedem Moment ihrer Existenz im Dasein gehalten zu werden. 99 Insofern Husserl das Bewusstsein nicht als Aufeinanderfolge punktuell isolierter cogitativer Jetztmomente versteht, sondern als eine vorichliche Lebendigkeit, die ein reines Ich als Subjektpol ihrer ständig wechselnden intentioE. Husserl, Ideen I, § 81 (Hua III), 198 (Hervorhebungen im Original). Vgl. E. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie [Ergänzungsband: Texte aus dem Nachlass 1934–1937] (Hua XXIX), Dordrecht / Boston / London, Kluwer, 1993, 338.
98 99
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nalen Erlebnisse in sich trägt, aber ihrerseits von keiner anderen Ursache abhängt, wird deutlich, dass seine Egologie letztlich in einer »Vivologie« fundiert ist. Seine Erste Philosophie ist somit keine Metaphysik des Seins und in letzter Instanz auch keine Metaphysik des Ich als eines statisch bestehenden Subjekts, sondern eine Metaphysik des Flusses, der jeder sich als identisch konstituierenden Instanz subjektiver wie objektiver Natur vorausgeht: Der Erlebnisstrom, der mein, des »Denkenden«, Erlebnisstrom ist, mag er in noch so weitem Umfang unbegriffen, nach den abgelaufenen und künftigen Stromgebieten unbekannt sein, sowie ich auf das strömende Leben in seiner wirklichen Gegenwart hinblicke und es rein als es selbst nehme und mich selbst dabei als das reine Subjekt dieses Lebens fasse […] sage ich schlechthin und notwendig: Ich bin, dieses mein Leben ist, Ich lebe: cogito.100
Husserl beschränkt seine Deutung von Lebendigkeit also nicht auf den psychologisch-bewusstseinstheoretischen Begriff des Erlebnisses, sondern sieht die Erlebnisse im Sinne einzelner intentionaler Bewusstseinsakte immer schon eingebettet in einen umfassenden Lebenszusammenhang, dessen Evidenz der des ego cogito vorausgeht und diese bedingt. Das reine Ich ist also nicht die durch die Epoché gewonnene Abstraktion der Subjektseite eines innerweltlich verstandenen »empirischen Seelenlebens«, sondern umgekehrt verdankt sich das ausdrückliche thematische Ich-Bewusstsein der Polarisierung und Fixierung eines unselbständigen Moments innerhalb des transzendentalen Lebensstroms, der sowohl jeder innerweltlichen Gegenständlichkeit als auch jeder konstituierten Subjektivität vorgelagert ist. 101 Anders als der cartesianisch meditierende Philosoph sagt das reine Ich bei Husserl also nicht cogito, ergo sum bzw. sum cogitans, sondern cogito quia vivo bzw. cogito vivens. Das phänomenologische Absolute ist demnach quellendes Leben, das von Zeit zu Zeit die Form eines klaren, expliziten Ich-Bewusstseins annehmen kann, aber nicht von diesem abhängt, um als Ursprung seines Weltbezugs zu fungieren. 102 E. Husserl, Ideen I, § 46 (Hua III), 106 (Hervorhebung im Original). Zu dieser aller Subjekt-Objekt-Dualität vorgelagerten Form des phänomenologischen Selbstbewusstseins vgl. D. Zahavi, »Husserl und das Problem des vor-reflexiven Selbstbewußtseins«, 706. 720. 102 Vgl. E. Husserl, Ideen II, § 26 (Hua IV), 107. James G. Hart äußert die Vermutung, Husserl habe das Bild der »Quelle« von Goethe übernommen, doch scheint es plau100 101
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Das reine Ich als Möglichkeitsgrund von Welt, Personalität und Absolutem
Auch wenn Husserl vor dem Hintergrund der Epoché jeden Verweis auf eine kausal verstandene, durch einen transzendenten Gott bewirkte Schöpfung der Welt ausklammern muss, so stellt sich diese Frage doch in gewandelter Weise im Zusammenhang mit seinen Analysen des dynamisch-produktiven Charakters des reinen Bewusstseins. Da es im phänomenologischen Kontext keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen menschlicher und göttlicher Erkenntnis mehr gibt, der sich am Grad der Rezeptivität bzw. Produktivität des jeweiligen Intellekts festmachen ließe, kann die Frage nach dem Ursprung der Welt zunächst nur von einer bewusstseinsimmanenten Perspektive heraus gestellt werden. Dabei gilt es einerseits den Eindruck zu vermeiden, dass das Bewusstsein seine Gegenstände in einem absolut-idealistischen Sinne »setzt« oder »schafft«, andererseits aber auch der Auffassung vorzubeugen, die Welt als geregelter, strukturierter Erscheinungszusammenhang besitze ein bewusstseinsunabhängiges Sein von unbekannter, allenfalls göttlicher, aber jedenfalls außerhalb des Menschen liegender Provenienz. Husserls Betonung der intentionalen, in der Dualität von Noesis und Noema verbleibenden Struktur des Bewusstseins verhindert den radikal idealistischen Schluss, dass die erlebte Welt im reellen Sinne ein »Teil« des erlebenden Ich ist. Alles, was dem Ich in seinem Erlebnisstrom gegeben ist, kann ihm nur im Modus intentionaler Transzendenz immanent sein. Da es vom Standpunkt der Phänomenologie aus aber auch keine reale Trennung zwischen dem reinen Bewusstsein und den ihm gegenständlich erscheinenden Phänomenen geben kann, setzt die fundamentale Nichtidentität von Ich und Welt ihrerseits voraus, dass das Bewusstsein die Möglichkeit eines solchen intentionalen Abstandes aus sich selbst heraus erzeugt. Letztlich zielen die phänomenologischen Analysen also auf den nichtempirischen Ursprung jener Konstitutionsleistung ab, die innerhalb des Erlebenszusammenhangs die irreduzible intentionale Polarität zwischen den Bewusstseinsakten und ihren Inhalten aufspannt und deren stets wechselnde Mannigfaltigkeiten zu gegenständlichen Einheiten gerinnen lässt. Der Begriff des »Erlebnisstroms«, »Bewusstseinsstroms« bzw. »heraklitischen Flusses« impliziert zunächst ein wesenhaft zeitliches sibler, dass sich hier der Einfluss Eckharts geltend macht. Vgl. J. G. Hart, »A Précis of an Husserlian Philosophical Theology«, in: S. W. Laycock / ders. (Hg.), Essays in Phenomenological Theology, Albany, State University of New York Press, 1986, 89– 168, hier 150 Anm. 84.
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Phänomenologie als egologisch fundierte Erste Philosophie
Geschehen, das nicht ein einzelnes innerzeitliches Ereignis darstellt, sondern die sich permanent ereignende Form möglicher Innerzeitlichkeit überhaupt ist. In einem ersten Schritt unterscheidet Husserl die bewusstseinsimmanente Zeitlichkeit von der objektiven Zeit der innerweltlichen, messbaren Prozesse. Ein solcher objektiver Zeitbegriff kann ja nur deshalb gebildet werden, weil sich die Naturvorgänge als dem Bewusstsein gegebene Erscheinungen in einer festen, nicht umkehrbaren Ordnung darstellen und ihre jeweiligen Zustände im Rahmen eines Messvorgangs von einem übergeordneten Niveau aus zueinander in Beziehung gesetzt werden können. Nur weil die einzelnen Zeitmomente t1 und t2, die der Naturwissenschaftler misst, ihre relative Stellung zueinander nicht verändern und auch nicht miteinander verschmelzen, sondern ihre Abfolge und ihren zeitlichen Abstand voneinander behalten, kann er sie, auch nachdem sie bereits vergangen sind, in seiner primären, retentionalen Erinnerung zu bestimmten Phasen eines beobachteten physikalischen oder chemischen Prozesses in Beziehung setzen und die jeweiligen Veränderungen (Ortsstelle eines bewegten Körpers im Raum, Ablaufphasen einer chemischen Reaktion etc.) gemäß dem Vorher oder Nachher quantitativ bestimmen. All dies setzt voraus, dass das Bewusstsein als solches eine zeitliche Ordnungsstruktur hat, die der möglichen Wahrnehmung äußerer zeitlicher Prozesse vorausgeht und diese bedingt. 103 Im Unterschied zu Kant bestimmt Husserl diese immanente Zeitlichkeit allerdings nicht nur als »reine Form der sinnlichen Anschauung«, 104 sondern als das produktive Urgeschehen des transzendentalen Bewusstseins als solchen. Daher spricht er weniger von einer »Form« als vielmehr von einem »Fluss«, in dem sich nicht nur die sinnliche Wahrnehmung, sondern die Konstitution von jeder Art von Bewusstseinsinhalten sowie die des reinen Ich selbst vollziehen. Das Vordringen zu dieser tiefsten Bewusstseinsebene ist deshalb von derart zentraler Bedeutung, weil man sich hier auf einem vorichlichen Niveau befindet, auf dem nicht nur die traditionelle philosophische Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt unterlaufen wird, sondern ebenso auch die phänomenologische Unterscheidung zwischen transzendentalem Ich und Welt, Noesis und Noema, Konsti103 Vgl. E. Husserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, §§ 1–2, § 33 (Hua X), Den Haag, Nijhoff, 1966, 4–10. 71 f. 104 I. Kant, KrV, A 31–32 / B 46–48.
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Das reine Ich als Möglichkeitsgrund von Welt, Personalität und Absolutem
tuierendem und Konstituiertem. Dabei gilt es zu beachten, dass das innere Zeitbewusstsein nicht das in die Subjektivität hineinprojizierte Äquivalent einer objektiv-verräumlichten Zeitachse ist: während in dieser alle Zeitmomente gleichermaßen gegeben sind, ist im erlebten Zeitfluss nur der jeweilige Jetztmoment aktuell, wohingegen alle vergangenen Jetztmomente in einer sich immer weiter vom aktuellen Gegenwartsbewusstsein entfernenden Inaktualität versinken. Die Tatsache, dass das Bewusstsein unaufhörlich zu immer neuen Jetztmomenten weiterdrängt, erscheint dabei als ein nicht weiter zu begründendes Urphänomen, das als das phänomenologische Gegenstück zum Schöpfungsgedanken im Sinne absoluter Entstehung gedeutet werden kann. Husserl betrachtet den »heraklitischen Fluss« der immanenten Zeitlichkeit nicht nur in seiner konstituierten Form, also als Einheit einer longitudinalen Bewusstseinskontinuität, 105 sondern arbeitet sich gleichsam »gegen den Strom« bis zur Quelle vor. Diese »ist« strenggenommen nichts anderes als die sich immer wieder aufs neue ereignende Nichtidentität des Ursprungs-Jetzt mit den aus ihm entspringenden Jetztmomenten. Husserl schreibt: Der erscheinende Vorgang hat immerfort die identischen absoluten Zeitwerte. Indem er sich nach dem abgelaufenen Stück immer weiter in die Vergangenheit zurückschiebt, schiebt er sich mit seinen absoluten Zeitstellen und damit mit seiner ganzen Zeitstrecke in die Vergangenheit […]. Andererseits quillt zugleich in dem lebendigen Quellpunkt des Seins, des Jetzt, immer neues Ursein auf, in Relation zu dem der Abstand der zum Vorgang gehörigen Zeitpunkte vom jeweiligen Jetzt sich stetig vergrößert, somit die Erscheinung des Zurücksinkens, Sich-entfernens erwächst. 106
Der urphänomenale Vorgang der Selbstzeitigung des Bewusstseins ist demnach der Ursprung von Sein, der im Sinne einer phänomenologischen creatio continua permanent produktiv ist. Allerdings ist dieses Geschehen nicht mehr die Leistung des transzendentalen Ich in seiner cogitativen Bewusstheit, sondern der Ort, an dem ein nichtichliches Absolutes erfahren wird, das sich in anonymer Weise vollzieht, ohne dass man noch von »jemandes« Vollzug reden könnte. Aufgrund dessen stößt Husserl bei dem Versuch, den Ursprung als 105 »So geht also durch den Fluß eine Längsintentionalität, die im Lauf des Flusses in stetiger Deckungseinheit mit sich selbst ist« (E. Husserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, § 39 [Hua X], 81). 106 E. Husserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, § 31 (Hua X), 69.
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Phänomenologie als egologisch fundierte Erste Philosophie
Ursprung zu thematisieren, an die Grenzen der Sprache, da sich jede diskursive Erörterung bereits im Medium der konstituierten Zeit vollzieht. Die Selbstkonstitution des Flusses als solchen hingegen ist eine Wirklichkeit, die das phänomenologisierende Bewusstsein nur noch als absolute erleben und erfassen, aber nicht mehr in ihrer Absolutheit weiter begründen bzw. sprachlich artikulieren kann. Husserl bemerkt dazu: Dieser Fluß ist etwas, das wir nach dem Konstituierten so nennen, aber es ist nichts zeitlich »Objektives«. Es ist die absolute Subjektivität und hat die absoluten Eigenschaften eines im Bilde als »Fluß« zu Bezeichnenden, in einem Aktualitätspunkt, Urquellpunkt, »Jetzt« Entspringenden usw. Im Aktualitätserlebnis haben wir den Urquellpunkt und eine Kontinuität von Nachhallmomenten. Für all das fehlen uns die Namen. 107
Damit trifft Husserl eine bedeutsame Unterscheidung zwischen »Ich« und »Subjektivität«. Der Fluss ist insofern vorichlicher Natur, als er jene sich permanent neu generierende Erlebniskontinuität bildet, in der das transzendentale Ich in stets wechselnden Weisen auf noematische Inhalte und Gegenstände ausgerichtet ist. Die Bezeichnung der »absoluten Subjektivität« deutet demgegenüber darauf hin, dass diese Zeitigung kein objektiver Vorgang ist, sondern jene intelligible Urproduktivität, die im phänomenologischen Sinne causa sui ist und die allgemeine Form jedes ichlichen Bewusstseins aus sich entlässt, ohne mit dem aus ihm Hervorgehenden je zusammenzufallen: Diese präphänomenale, präimmanente Zeitlichkeit konstituiert sich intentional als Form des zeitkonstituierenden Bewußtseins und in ihm selbst. Der Fluß des immanenten zeitkonstituierenden Bewußtseins ist nicht nur, sondern so merkwürdig und doch verständlich geartet ist er, daß in ihm notwendig eine Selbsterscheinung des Flusses bestehen und daher der Fluß selbst notwendig im Fließen erfaßbar sein muß. Die Selbsterscheinung des Flusses fordert nicht einen zweiten Fluß, sondern als Phänomen konstituiert er sich in sich selbst. 108
Angesichts des »Urquellpunktes« dieses Flusses zeigt sich die wesenhafte Dialektik des phänomenologischen Zeitbegriffs: einerseits spricht Husserl davon, dass jeder Jetztmoment unablässig durch einen neuen verdrängt wird, so dass sich ein ununterbrochenes KonE. Husserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, § 36 (Hua X), 75 (Hervorhebungen im Original). 108 E. Husserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, § 39 (Hua X), 83 (Hervorhebung im Original). 107
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tinuum immanenter Zeitlichkeit bildet. Andererseits sind auch hier wieder zwei Konstitutionsniveaus zu unterscheiden. So gibt es einmal das relative »Jetzt«, das als konstituierter Randpunkt einer bestimmten Zeitstrecke mit konkreten Inhalten fungiert und immer weiter in die Vergangenheit absinkt, 109 und das absolute, zeitkonstituierende »Jetzt«, das als Urquellpunkt des Bewusstseinsstroms den in diesem strömend konstituierten Jetztmomenten vorgelagert bleibt und nicht reell in sie eingeht. Diese schöpferische Spontaneität des urquellenden Bewusstseins, die nicht die Phänomene als solche, wohl aber die dynamische Form ihres Erscheinens beständig aus sich entlässt, kann ihrerseits nie in die Vergangenheit sinken und »abfließen« wie die relativen, konstituierten Jetztmomente, sondern steht. Der Urquellpunkt des Bewusstseinsflusses ist daher selbst nicht zeitlich, sondern ein nunc stans, das den Strom der immanenten Zeit aus sich entlässt, ohne in der immanenten Zeitlichkeit des Hervorgebrachten aufzugehen. 110 In den Beilagen zur Vorlesung über die Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins vertieft Husserl die Einsicht in den lebendigen Charakter des immanenten Bewusstseinsstroms und greift dabei auf ein Vokabular zurück, das in überraschender Weise an Eckharts Terminologie der intellektuellen Zeugung erinnert. Dabei beschränkt er sich zunächst auf die Analyse des Verhältnisses zwischen der vom Bewusstsein selbst erzeugten Form des zeitlichen Flusses der Erscheinungen und den konkreten Inhalten, die ihm in diesem Erlebnisstrom gegeben sind. Husserl führt dazu aus: Die Urimpression ist der absolute Anfang dieser Erzeugung, der Urquell, das, woraus alles andere stetig sich erzeugt. Sie selber aber wird nicht erzeugt, sie entsteht nicht als Erzeugtes, sondern durch genesis spontanea, sie ist Urzeugung. Sie erwächst nicht (sie hat keinen Keim), sie ist Urschöpfung. Heißt es: stetig bildet sich an das Jetzt, das sich zum Nicht-Jetzt modifiziert, ein neues Jetzt an, oder es erzeugt, es entspringt urplötzlich eine Quelle, so sind das Bilder. Es kann nur gesagt werden: Bewußtsein ist nichts ohne Impression. Wo etwas dauert, da geht a über in xa', xa' in yx'a'' usw. Die Erzeugung des Bewußtseins aber geht nur von a zu a', von xa' zu yx'a''; dagegen das a, x, y ist nichts Bewußtseins-Erzeugtes, es ist das Urgezeugte, E. Husserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, § 32 (Hua X), 70. Vgl. E. Husserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, § 36 (Hua X), 73 f. sowie dazu K. Held, Lebendige Gegenwart. Die Frage nach der Seinsweise des transzendentalen Ich bei Edmund Husserl, entwickelt am Leitfaden der Zeitproblematik (Phaenomenologica 23), Den Haag, Nijhoff, 1966, 124. 109 110
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das »Neue«, das bewußtseinsfremd Gewordene, Empfangene, gegenüber dem durch eigene Bewußtseinsspontaneität Erzeugten. Die Eigentümlichkeit dieser Bewußtseinsspontaneität aber ist, daß sie nur Urgezeugtes zum Wachstum, zur Entfaltung bringt, aber nichts »Neues« schafft. 111
Einerseits ist das Bewusstsein also insofern der Ursprung objektiver Gegenständlichkeiten, als sich diese nur in der teleologischen Synthese unterschiedlicher, diachron aufeinanderfolgender Bewusstseinsinhalte konstituieren können und diese diachrone Aufeinanderfolge wiederum nur in der vom Bewusstsein selbst erzeugten Zeitlichkeit stattfinden kann. 112 Heterogen und vom Bewusstsein nicht selbst zu produzieren ist das in der lebendigen Jetztaktualität Gegebene hingegen unter seinem materialen, hyletischen Gesichtspunkt. Die impressionalen Inhalte, die vom Bewusstsein in jedem Moment erlebt werden, sind in ihrer inhaltlichen Konkretion nicht von ihm selbst erzeugt, sondern werden, wie Husserl ausdrücklich sagt, »empfangen«. Auch auf der Ebene der absoluten Subjektivität des Bewusstseinsflusses gibt es daher keine reine Aktivität, sondern ein untrennbares Zusammenwirken von Produktivität und Rezeptivität, von Zeugen und Empfangen. 113 Wohl spricht Husserl mit Blick auf den Moment der Urimpression eines Inhalts, der in einem aktuellen Jetztmoment jeweils in das Wahrnehmungsfeld des Bewusstseins tritt, von einer »Urzeugung« bzw. genesis spontanea. Das bedeutet jedoch nicht, dass dieser konkrete hyletische Inhalt im Bewusstsein selbst seinen Ursprung nimmt, sondern vielmehr, dass er als eine ihm nicht reell immanente Transzendenz in es »hineingezeugt« wird. Was das Bewusstsein selbst erzeugen kann, ist nur die Form der Zeitlichkeit, in der sich der empfangene Inhalt über eine bestimmte Dauer hinweg immer wieder neu »fortzeugt«, aber nicht der konkrete Gehalt der Urimpression als solcher. Auch wenn das Bewusstsein als konstitutiver Ursprung seiner Welterfahrung angesehen werden muss, da es die Ordnungsformen hervorbringt, durch die sich ihm seine Erlebnisinhalte als strukturierte GegenstandseinE. Husserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, Beilage I (Hua X), 100. 112 Vgl. E. Husserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, §§ 34–38 (Hua X), 73–79 sowie L. Landgrebe, Phänomenologie und Metaphysik, 128. 113 Vgl. dazu J. B. Brough, »Notes on the Absolute Time-Constituting Flow«, in: D. Lohmar / I. Yamaguchi (Hg.), On Time. New Contributions to the Husserlian Phenomenology of Time (Phaenomenologica 197), Dordrecht, Springer, 2010, 21–49, hier 40 f. 111
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heiten darbieten, ist es dennoch nicht der Schöpfer seiner Welterfahrung als qualitativ-inhaltlich bestimmter. Damit zeichnet sich bereits ein Verweis darauf ab, dass die Analyse der Weltkonstitution nicht allein aus der Innenperspektive des transzendental vereinzelten reinen Bewusstseins durchgeführt werden kann, sondern auf ein »Außen« verweist, das nicht weltlicher Natur ist, sondern als absolut-subjektives Korrelat der hyletischen Aspekte der Welterfahrung angesehen werden muss. In den ergänzenden Texten zu Husserls Vorlesungen Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins findet sich ein äußerst interessanter Passus, in dem er ausdrücklich den Bogen von der Analyse der »absoluten Subjektivität« des Bewusstseinsflusses zur Frage des göttlichen Bewusstseins schlägt: Gottes unendliches Bewußtsein umfaßt alle Zeit »zugleich«. Dieses unendliche Bewußtsein ist unzeitlich. Jedem Zeitpunkt entspricht die Gruppe seines Jetzt. Diese Gruppen sind geordnet durch die stetige Apperzeptionsweise. Für ihn hfür Gotti gibt es kein Vergangen, Gegenwärtig und Künftig. Aber hauchi für ihn gibt es relativ zu jedem Punkt ein Vergangen, Gegenwärtig, Künftig. Die Zeit ist die Form des unendlichen Bewußtseins, als unendliche, adäquate Wahrnehmungsreihe. […] Das göttliche Bewußtsein ist das ideale Korrelat der objektiven Zeit und der objektiven Welt und Weltentwicklung. 114
Interessanterweise hält Husserl auch hier daran fest, dass sich selbst für das unendliche göttliche Bewusstsein die relative Position von Zeitstellen als etwas absolut Gegebenes darstellt. Es unterscheidet sich von dem einzelnen transzendentalen Bewusstsein nur insofern, als es nicht das Abfließen der Bewusstseinsmomente als solches erfährt, sondern jede nur denkbare Zeitstelle im Modus des absoluten Jetzt gegenwärtig hat. Doch aus ebendiesem Grunde stellt Husserl nicht die »Zeitlichkeit« des individuellen, transzendentalen Bewusstseins der »Ewigkeit« Gottes gegenüber, sondern begreift die Zeit als die Form des absoluten Bewusstseins selbst. Was Gott auszeichnet, ist also gerade nicht seine Außerzeitlichkeit, sondern seine radikale Innerzeitlichkeit und Allzeitlichkeit, d. h. seine absolute, nicht vergehende Präsenz in jedem Jetztmoment, der für die transzendentalen Einzelbewusstseine sogleich von der Aktualität in die Inaktualität versinkt. Was Gottes Bewusstsein von dem des Menschen unterschei114 E. Husserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, Text Nr. 15 (Hua X), 175.
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det, ist also nicht der Unterschied zwischen geistiger Produktivität und Rezeptivität – schließlich spricht Husserl auch mit Blick auf Gott von dessen »unendlicher adäquater Wahrnehmungsreihe«, was eine Hinnahme perzeptiver Inhalte impliziert –, sondern das Ausmaß des Erlebnisfeldes originärer Zeitlichkeit: Während der einzelne heraklitische Bewusstseinsfluss immer nur den jeweiligen Jetztmoment als urquellendes Jetzt erleben kann, besteht Gottes absolutes Bewusstsein darin, jeden beliebigen Jetztmoment als originäres Jetzt und permanente Urschöpfung zu erleben, und erweist sich somit als geistige sphaera infinita, deren temporaler Mittelpunkt überall und deren Vergangenheits- und Zukunftsperipherie nirgendwo ist. 115 Das bedeutet, dass er die ideale Einheitsform aller Einzelbewusstseine darstellt und zugleich den hyletischen Gehalt der Welterfahrung so ordnet, dass alle vereinzelten transzendentalen Bewusstseinszentren nicht nur als vereinzelte in die Welt hineinfungieren können, sondern dabei auch die Erfahrung machen, dass sie eine für alle Mitsubjekte zugängliche, objektive Wirklichkeit konstituieren. Damit zeichnet sich bereits die Einsicht ab, dass die transzendentale Phänomenologie, die den Philosophen zunächst in die absolute Vereinzelung und geistige Armut der Epoché geführt hatte, letztlich zur Erkenntnis einer apriorischen Intersubjektivität führt, deren ideales Koordinationszentrum Gott ist. Da aber transzendentales Bewusstsein als solches auf seiner tiefsten Konstitutionsstufe immer nur als lebendige Spontaneität gedacht werden kann, die ihren eigenen Erlebnisstrom zeitigt, kann der Bezug von Mensch und Gott nur als Lebensgemeinschaft gedeutet werden, die sich innerhalb der Zeit aller Bewusstseine verwirklicht, ohne selbst der Zeitlichkeit unterworfen zu sein. Husserls Beharren auf der untrennbaren Einheit zwischen der zeitlichen μορφή (morphê) des Bewusstseinslebens und seiner material-qualitativen ὕλη (hylê) sowie die Deutung ihrer 115 Klaus Held macht darauf aufmerksam, dass das »Absolute« des sich selbst konstituierenden Zeitflusses bei Husserl noch nicht die Bedeutung eines göttlichen Bewusstseins hat (vgl. K. Held, Lebendige Gegenwart, 68–70). Dies ist zweifellos richtig, doch nimmt Husserl diese Form des urkonstituierend selbstgegebenen Absoluten zum Ausgangspunkt, um in einem zweiten Schritt das schlechthin Absolute im Sinne eines phänomenologischen Gottesbegriffs zu thematisieren. Held selbst deutet dies auch an, wenn er im Schlusskapitel seines Buches einräumt, dass Gott, wenn er denn der Grund der anonym bleibenden, zeitlich strukturierten »Selbstentzweiung« des transzendentalen Ich sein sollte, »darin in der Weise einer verborgenen Mitgegenwart wirksam« sei (ebd., 183).
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Ursprungseinheit in der Terminologie von »Zeugen« und »Empfangen« bereitet dabei einer Intersubjektivitätsauffassung den Boden, die ganz selbstverständlich den Aspekt biologischer Organizität und Leiblichkeit miteinschließt. Dementsprechend kann auch das Leben des absoluten, göttlichen Bewusstseins nicht jenseits der Welt angesiedelt sein, sondern verwirklicht sich in einer notwendigen inneren Beziehung zu den menschlichen Vernunftwesen und ihrer transzendentalen, leiblich-intersubjektiv vermittelten Lebensgemeinschaft.
2.
Die egologisch-monadologische Vergemeinschaftung von Mensch und Gott
Es wird häufig die These vertreten, dass Husserls phänomenologische Erörterung der Gottesfrage von keinem anderen Philosophen mehr beeinflusst worden ist als von Leibniz. 116 Auch wenn es zweifellos zutrifft, dass Husserl im Zusammenhang mit seiner geschichtsphilosophischen Erörterung der Beziehung von Gott, Welt und Vernunftmenschheit häufig auf den Begriff der Monade rekurriert, ist die ursprüngliche Prägung seines phänomenologischen Gottesverständnisses doch eher eckhartianischer als leibnizscher Natur. Die Unterschiede zwischen den beiden Ansätzen werden vor allem an drei Aspekten deutlich, die das jeweilige Gottes- und Menschenbild betreffen. Leibniz zufolge geht das endliche monadische Bewusstsein in Form permanenter »Ausblitzungen« (effulgurations) aus der unendlichen göttlichen Zentralmonade hervor, 117 was eine einseitige ontologische Abhängigkeit des Menschen von Gott impliziert, die letztlich noch Ausdruck der traditionellen biblischen Schöpfungstheologie ist. 116 Vgl. dazu etwa A. Ales Bello, Edmund Husserl: Pensare Dio – Credere in Dio, Padova, Messaggero di Sant’Antonio – Editrice, 2005, 65; S. Strasser, »Der Gott des Monadenalls. Gedanken zum Gottesproblem in der Spätphilosophie Husserls«, Perspektiven der Philosophie 4 (1978), 361–377; M. Vergani, »La lecture husserlienne de Leibniz et l’idée de ›monadologie‹«, Les Études philosophiques 67 (2004), 535–552. James G. Hart nennt als weitere mögliche Quellen für Husserls teleologisches Gottesverständnis außer Leibniz noch Fichte und Brentano sowie in geringerem Maße Aristoteles; vgl. J. G. Hart, »I, We, and God: Ingredients of Husserl’s Theory of Community«, in: S. Ijsseling (Hg.), Husserl-Ausgabe und Husserl-Forschung (Phaenomenologica 115), Dordrecht, Kluwer, 1990, 125–149, hier 125. 117 Vgl. G. W. Leibniz, Monadologie, § 47, in: ders., Die philosophischen Schriften (ed. C. I. Gerhardt), Bd. 6, Hildesheim, Olms, 1965, 614.
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Demgegenüber vertritt Meister Eckhart die These, dass weder Gott noch der Mensch unabhängig voneinander begriffen und erst nachträglich zueinander in Beziehung gesetzt werden können, sondern sich von vornherein in einem unauflöslichen, reziproken Bezugszusammenhang befinden, der nicht von außen an das reine Bewusstsein herangetragen wird, sondern zu seinem Wesen gehört. Darüber hinaus kennt Eckhart keine hierarchische Abstufung zwischen dem göttlichen Geist und der Vernunftseele des Menschen, sondern spricht betont von einer univoken »Gleichheit« zwischen beiden, die das ontologische Gefälle zwischen Urbild und Abbild aufhebt. 118 Der zweite Unterschied zwischen Leibniz’ und Eckharts Denkansätzen betrifft das Verhältnis Gottes zur materiellen Wirklichkeit: In der leibnizschen Monadologie verfügen nur die endlichen Monaden über einen ihnen zugeordneten organischen Leib, während die absolute, unendliche Monade Gottes rein geistiger Natur ist. 119 Demgegenüber thematisiert Eckhart Gott gerade nicht unter dem Gesichtspunkt seiner überweltlichen Transzendenz, sondern unter dem Aspekt seiner radikalen Immanenz und betrachtet die Menschheit als ganze sowie die Wirklichkeit insgesamt als Ort einer universal verstandenen Inkarnation des göttlichen Logos. Und drittens stellt Eckhart mit Blick auf den Menschen den Unterschied zwischen dem ungeschaffenen Ich und der empirischen, innerweltlichen Person in einer Weise heraus, für die es in Leibniz’ Monadologie kein Äquivalent gibt. Wohl sind die Monaden, insofern sie metaphysische Einheiten sind, als solche unsterblich, aber das gilt nicht nur für Vernunftwesen, sondern ebenso für tierische oder pflanzliche Monaden, und auch dort, wo Leibniz die spezifisch menschlichen Vernunftmonaden erörtert, 120 spricht er über ihr Ichbewusstsein in der Dritte-Person-Perspektive, ohne das Ich als solches in seinem Differenzverhältnis zur menschlichen Personalität zu thematisieren. 121 Auch wenn Husserl mit Blick auf den Gedanken einer von innen heraus gesteuerten teleologischen Entwicklung jeder einzelnen Monade sowie einer universalen teleologischen Ordnung der Welt und Vgl. Eckhart, Pr. 69, DW III 176,4–177,5. Vgl. G. W. Leibniz, Monadologie, § 72, in: ders., Die philosophischen Schriften (ed. Gerhardt), Bd. 6, 619. 120 Vgl. G. W. Leibniz, Monadologie, §§ 73–77, in: ders., Die philosophischen Schriften (ed. Gerhardt), Bd. 6, 619 f. 121 Vgl. G. W. Leibniz, Monadologie, § 30, in: ders., Die philosophischen Schriften (ed. Gerhardt), Bd. 6, 612. 118 119
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der Menschheitsgeschichte Leibniz nahesteht, zeigen die anderen Aspekte seines ego-theologischen Ansatzes doch eine weit größere Affinität zu Meister Eckharts Grundentwurf. 122 So ersetzt auch Husserl die Vorstellung einer einseitigen Abhängigkeit des Menschen von Gott durch den Gedanken einer untrennbaren reziproken Korrelation zwischen dem Bewusstsein Gottes und dem transzendentalen Bewusstsein des Menschen. Des Weiteren betont Husserl wesentlich stärker die Rolle der Leiblichkeit bei der Konstitution menschlicher Intersubjektivität und zieht letztlich auch Gott in die Immanenz der Geschichte der Menschheit, die sich innerhalb der Welt entfaltet, hinein. Und schließlich analysiert Husserl das Verhältnis zwischen dem reinen Ich als transzendentalem Ursprung der Welt und dem personalen Ich-Menschen als Teil der innerweltlichen Wirklichkeit in einer Weise, die zentrale Motive von Eckharts Anthropologie und bisweilen sogar die von ihm verwendete Begrifflichkeit übernimmt. Auch in Husserls phänomenologischer Betrachtung geht es, wie sich zeigen wird, um die Überschreitung des einzelnen menschlichen Individuums auf einen Begriff der »Menschheit« hin, der kein bloßes logisches Universale darstellt, sondern eine ausgeprägt ethisch-axiologische, ja geradezu soteriologische Bedeutung annimmt.
2.1
2.1.1
Jenseits von »Heinrich und Konrad« – die phänomenologische Verhältnisbestimmung von reinem Ich und innerweltlicher Person Die transzendentale Vergemeinschaftung in der Weltkonstitution
Der grundlegende Schritt alles phänomenologischen Philosophierens, wie ihn Husserl in den Ideen I darlegt, besteht darin, durch die Epoché
122 Eigenartigerweise wird Eckhart in der umfänglichen Monographie, die James G. Hart der husserlschen Sozialphilosophie gewidmet hat, nur ein einziges Mal erwähnt, und zwar im Zusammenhang mit der Tatsache, dass er die interpersonalen Bezüge der klassischen Trinitätslehre durch den Begriff der »Gottheit« unterläuft (vgl. J. G. Hart, The Person and the Common Life. Studies in a Husserlian Social Ethics [Phaenomenologica 126], Dordrecht / Boston / London, Kluwer, 1992, 430). Die Frage, ob Eckhart womöglich einen direkten Einfluss auf Husserls Konzeption des Verhältnisses von empirischer Person, reinem Ich und überpersonalem Einheitsgrund gehabt hat, bleibt hingegen unerörtert.
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nicht nur die gegenständlich gegebene Welt, sondern auch die je eigene Person als Teil des innerweltlichen Erscheinungszusammenhangs einzuklammern. Da Husserl das reine Ich nicht als bloße transzendentallogische Einheitsfunktion, sondern als produktiven, lebendigen Ursprung aller möglichen Welterfahrung deutet, stellt sich jedoch die Frage, ob, und wenn ja, wie vor diesem Hintergrund ein positives phänomenologisches Verständnis von Personalität gewonnen werden kann. In jedem Falle ist klar, dass hinsichtlich des Grades an phänomenologischer Ursprünglichkeit das reine Ich als absolute Wirklichkeit und konstitutiver Urquell aller intentionalen Bezüge den Primat gegenüber der relativen Wirklichkeit der realen, empirischen Person mitsamt ihrem individuellen Seelenleben besitzt. Dennoch begnügt sich Husserl nicht damit, den Aspekt der Personalität bei seinen phänomenologischen Analysen einfach als naturalistisches Residuum einzuklammern, sondern ist bestrebt, ihn vom Boden einer egologischen Betrachtung aus wiederzugewinnen, allerdings in einer gewandelten Form. Das reine Ich ist demnach nicht der abstrakte Restbestand eines anthropologisch-ethisch konkretisierten Personbegriffs, sondern vielmehr speist sich der phänomenologische Sonderstatus von menschlichen Personen gegenüber anderen animalischen Lebewesen daraus, dass ihre Leiblichkeit der Ort ist, an dem die absolute Wirklichkeit des reinen Ich durchbricht und sich innerweltlich bekundet. In den Ideen I erwähnt Husserl an einer Stelle bereits die Selbstwahrnehmung des reinen Ich als reales, menschliches Subjekt innerhalb des Weltzusammenhangs, thematisiert dieses Phänomen jedoch in erster Linie mit Blick auf die Beziehung des transzendentalen Bewusstseins zum innerweltlichen Naturzusammenhang insgesamt: Eine eigenartige Auffassungs- bzw. Erfahrungsart, eine eigene Art der »Apperzeption« vollzieht die Leistung dieser sogenannten »Anknüpfung«, dieser Realisierung des Bewußtseins. Worin immer diese Apperzeption besteht, welche besondere Art der Ausweisung sie fordern mag: soviel ist ganz offenbar, daß das Bewußtsein selbst in diesen apperzeptiven Verflechtungen bzw. in dieser psychophysischen Beziehung auf Körperliches nichts von seinem eigenen Wesen einbüßt, nichts seinem Wesen Fremdes in sich aufnehmen kann; was ja ein Widersinn wäre. […] Und doch ist es zu einem Anderen geworden, zu einem Bestandstück der Natur. […] In dieser eigenartigen Auffassung konstituiert sich eine eigenartige Transzendenz: es erscheint nun eine Bewußtseinszuständlichkeit eines identischen realen Menschensubjektes, das in ihr seine individuellen realen Eigenschaften be-
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kundet und nun – als diese Einheit sich in Zuständen bekundender Eigenschaften – bewußt ist als einig mit dem erscheinenden Leibe. 123
Die psychophysische Leiblichkeit ist demnach nicht das schlechthin »Andere« des reinen Bewusstseins, sondern dessen innerweltliche Erscheinung, die zu ihm in anderer Weise transzendent ist als die innerweltlichen Gegenstände der Natur, die nicht integraler Bestandteil seines organischen Leibes sind. Gleichwohl bestimmt Husserl diese auf den eigenen Körper bezogene Apperzeption als »Anknüpfung«, was zu suggerieren scheint, dass das ausdrückliche Herstellen dieser Beziehung ein sekundärer Schritt ist, den das reine Ich nur unter der Bedingung vollziehen muss, dass es sich als Teil der natürlichen Welt verstehen will, ohne dass dieser doppelte Status als Ursprung und Bestandteil der ihm erscheinenden Welt als apriorische Notwendigkeit erschiene. Auch die Formulierung, dass das Bewusstsein durch seine apperzeptive Beziehung auf den ihm eigenen Körper zu einem »Bestandstück der Natur« wird, ist insofern missverständlich, als man daraus schließen könnte, dass der menschliche Leib sich dem Zusammenhang der innerweltlichen Wirklichkeit bruchlos einfügt wie ein »Ding« unter anderen. Dieser Mangel an Präzision hinsichtlich des phänomenologischen Status der Leiblichkeit ist darauf zurückzuführen, dass Husserl in den Ideen I vom Standpunkt des transzendental vereinzelten Bewusstseins aus argumentiert, das aus seiner eigenen Innenperspektive die vermittelnde Stellung, die seine beseelte Leiblichkeit zwischen seinem reinen Bewusstsein einerseits und der ihm objektiv erscheinenden Welt andererseits einnimmt, nicht als solche wahrnehmen kann. 124 In dem Maße, wie die Intersubjektivitätsproblematik für Husserl an Bedeutung gewinnt, deutet er hingegen die Verleiblichung nicht als eine von außen zum reinen Bewusstsein hinzutretende Verknüpfung, sondern als einen Prozess, der seinen Ursprung in der inneren Spontaneität des reinen Ich selbst hat und auch den Leibkörper insgesamt zu einem Anderen gegenüber der dinglichen Natur macht. 125 E. Husserl, Ideen I, § 53 (Hua III), 131 (Hervorhebungen im Original). »Das solipsistische Subjekt könnte zwar eine objektive Natur sich gegenüber haben, aber es könnte nicht sich selbst als ein Glied der Natur auffassen, sich nicht als psychophysisches Subjekt, als animal, apperzipieren, so wie es auf intersubjektiver Erfahrungsstufe geschieht« (E. Husserl, Ideen II, § 18 [Hua IV], 90; Hervorhebung im Original). 125 Vgl. E. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Erster Teil (Hua XIII), 68. 123 124
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Unter dieser Voraussetzung bedeutet die Anwendung der Epoché auf die konkrete Person und ihr Seelenleben nicht deren Verdrängung aus dem Themenbereich der transzendentalen Phänomenologie, sondern hat den umgekehrten Effekt, das im Bewusstseinsstrom untrennbar verflochtene Zusammenwirken von leiblich vermittelten Wahrnehmungen, innerseelischen Erlebniszuständen und der weltkonstituierenden Leistung des reinen Bewusstseins als ganzes aus dem Kontext einer naturkausalen Deutung herauszuheben und von der produktiven Spontaneität des reinen Ich her zu deuten. 126 Auch der Bereich der Seele im psychologischen Sinne, den Husserl in einem ersten Schritt vom reinen Bewusstsein scharf abgegrenzt hatte, 127 wird auf diese Weise zu einer phänomenalen Sphäre, die kein an sich seiendes »Naturding« mehr ist, sondern an der überseienden, absoluten Wirklichkeit des Ich, das sich durch sie manifestiert, teilhat. 128 Diese »De-naturalisierung« erstreckt sich auch auf den Leib, der – anders als bei Descartes – aus der Innenperspektive des ihm jeweils zugeordneten reinen Ich keine homogene res extensa ist, sondern als das sichtbare Medium und Organ der intentionalen Erstreckung des Bewusstseins auf eine von ihm verschiedene Welt fungiert. 129 Als ichlich durchdrungener ist der belebte menschliche Leib somit ebenfalls in dieser Welt, aber nicht von dieser Welt, sofern man darunter die rein materielle, räumlich erstreckte Wirklichkeit versteht. In den Ideen II erläutert Husserl: Der Geist muß, um objektiv erfahrbar sein zu können, Beseelung eines objektiven Leibes sein […], während umgekehrt die objektive Erfahrbarkeit eines räumlichen Phantoms oder eines materiellen Dinges keine Beseelung fordert. […] Der Leib ist nicht nur überhaupt ein Ding, sondern Ausdruck des Geistes, und er ist zugleich Organ des Geistes. Und ehe wir hier in tiefere Erörterungen eingehen, erkennen wir schon, daß alles eigentlich »Subjektive«, Ichliche, auf der geistigen Seite (der im Leib zum Ausdruck kommenden) liegt, während der Leib nur um dieser Beseelung willen »ich-
Vgl. E. Husserl, Ideen II, § 20 (Hua IV), 92 f. Vgl. E. Husserl, Ideen I, § 54 (Hua III), 133. 128 Vgl. E. Husserl, Ideen II, § 32 (Hua IV), 132. 129 »Der äußere Raum ist homogen, nur stellt er sich in verschiedener Weise orientiert dar. Dazu gehört die freie Beweglichkeit im Sinn der Geometrie. Aber der Leib und sein Leibesraum durchbricht die Homogenität« (E. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Erster Teil [Hua XIII], 239; Hervorhebung im Original). 126 127
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Das reine Ich als Möglichkeitsgrund von Welt, Personalität und Absolutem
lich« heißt, bzw. seine Zustände und Beschaffenheiten »meine«, des Ich, Beschaffenheiten subjektive heißen. 130
Daraus ergibt sich, dass auch die je eigene psychophysische Leiblichkeit kein bloßes »Naturding« ist, das dem reinen Ich getrennt gegenüberstünde. Auch wenn die Epoché zunächst alle mit faktischer Personalität, Animalität etc. verbundenen Selbstzuschreibungen des Subjekts außer Geltung setzt, trifft dieses doch in der Immanenzsphäre seines Bewusstseins auf Phänomene, die mit der sensomotorischen Struktur seines Leibkörpers untrennbar verknüpft sind (z. B. Tastwahrnehmungen, seine eigene kinästhetische Bewegung im Raum usw.). 131 Das reine Ich der Phänomenologie ist demnach auch mit Blick auf die materielle Wirklichkeit nie solipsistisch eingekapselt, als müsste es erst nachträglich einen Weg »hinaus« finden, sondern es wird durch die innerhalb der Epoché vorgenommene Analyse seiner Bewusstseinsinhalte der Tatsache inne, dass es dank seiner psychophysischen Leiblichkeit immer schon in die materielle Welt hineinagiert und sich dadurch als spontaner, lebendiger Ursprung bekundet. 132 Dennoch besteht auch zwischen dem »reinen Ich« in seiner transzendentalen Ursprünglichkeit und dem »realen Ich« bzw. »Menschen-Ich« als leibseelisch konkretisierter, organischer Einheit ein asymmetrischer Fundierungszusammenhang, der nicht real-ontologischer, sondern konstitutiver Natur ist. Diese Hierarchisierung liegt darin begründet, dass sich das reine Ich unmittelbar als absolute, eigenschaftslose Einheit erfährt, während sein Leib-Seele-Komplex als relative Einheit einer Mannigfaltigkeit begriffen werden muss, die einerseits um den absoluten Bezugspunkt des reinen Ich herum zentriert ist, diesen andererseits aber auch auf die Sphäre der Intersubjektivität hin öffnet: Im übrigen sind die realen Ich, sowie die Realitäten überhaupt, bloße intentionale Einheiten. Während die reinen Ich aus der originären Gegebenheit jedes cogito, in dem sie fungieren, originär und in absoluter Selbstheit zu entnehmen sind und somit, wie die Daten des reinen Bewußtseins selbst, in der Sphäre der immanenten phänomenologischen Zeit, keiner Konstitution E. Husserl, Ideen II, § 21 (Hua IV), 96 (Hervorhebung im Original). Vgl. E. Husserl, Cartesianische Meditationen, § 44 (Hua I), 128–130. 132 Husserls Betonung der Tatsache, dass das reine Ich sich nur »bekundet«, aber prinzipiell nie erscheint (vgl. E. Husserl, Ideen II [Hua IV], 323) wirkt wie ein direktes Echo der eckhartschen Definition: »Ich ist die Bezeugung eines Seienden« (daz wort ›ich‹ […] ist ein bewîsunge eines ›istes‹ [Eckhart, Pr. 77, DW III 339,5–6]). 130 131
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Die egologisch-monadologische Vergemeinschaftung von Mensch und Gott
durch »Mannigfaltigkeiten« fähig und bedürftig sind, verhält es sich mit den realen Ich und mit all den Realitäten umgekehrt. Und sie sind konstituierte Einheiten nicht nur mit Beziehung auf ein reines Ich und einen Bewußtseinsstrom mit seinen Erscheinungsmannigfaltigkeiten, sondern mit Beziehung auf ein intersubjektives Bewußtsein, d. i. auf eine offene Mannigfaltigkeit von monadisch voneinander gesonderten reinen Ich […]. 133
Der vom reinen Ich konstituierte Ich-Mensch mit seiner seelischen Sphäre und der dazugehörigen Leiblichkeit ist somit nicht identisch mit der naturhaft-empirisch verstandenen Individualität der je eigenen Person, die durch die Epoché mit Recht eingeklammert worden war. Die als »reales innerweltliches Sein« missdeutete Personalität verfällt insofern zu Recht der Epoché, als sie zu dem Trugschluss verleitet, auch das dazugehörige Bewusstsein sei nichts anderes als ein Epiphänomen und Teil des homogenen, innerweltlich-naturalen Erfahrungszusammenhangs. Doch in dem Moment, wo sich das reine Ich gegenüber der Welt als gänzlich andersartige, absolute Wirklichkeit erkannt hat, erfährt auch die je eigene leibseelische Realität eine grundlegende Umdeutung; ist sie doch nun nicht mehr ein sich dem Naturzusammenhang bruchlos eingefügendes, psychophysisch vereinzeltes »Dies und das«, sondern der innerhalb des Raumes antreffbare, doch selbst nicht räumliche Ort, der das reine Ich auf den Universalzusammenhang gleichartiger alter egos hin öffnet und es für diese erfahrbar macht. 134 Während das reine Ich als absolute Einheit nur für sich selbst unmittelbar evident ist, stellt der Ich-Mensch die Einheit des Bewusstseins dar, sofern sich diese für andere erscheinungshaft bekundet. Bei alledem gilt es der irrtümlichen Schlussfolgerung vorzubeugen, dass das reine Ich und die Seele wie zwei voneinander real unterschiedene oder gar getrennte Entitäten vorlägen: Unter normalen Umständen thematisiert das transzendentale Bewusstsein nicht den Wesensunterschied zwischen dem reinen Ich als nichtphänomenalisierbarer Einheit und der Seele als in die Mannigfaltigkeit des Leibes phänomenal hineinagierender Einheit, sondern hält die beiden Aspekte in fungierender Ununterschiedenheit zusammen. Doch auch in dem Moment, wo es über diesen Wirkzusammenhang ausdrücklich reflektiert, verläuft die Grenze nicht etwa zwischen dem reinen Ich und dem seelisch-leiblichen Komplex der innerweltlichen Person, 133 134
E. Husserl, Ideen II, § 28 (Hua IV), 110 f. (Hervorhebungen im Original). Vgl. E. Husserl, Ideen II, § 14 (Hua IV), 32 f.
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Das reine Ich als Möglichkeitsgrund von Welt, Personalität und Absolutem
sondern vielmehr zwischen der rein geistigen, ichlich-seelischen Einheit einerseits und der Vielheit der phänomenal erscheinenden, beseelten Leiblichkeit andererseits. In den Ideen III findet sich ein bemerkenswerter Passus, in dem Husserl die ursprüngliche Einheit zwischen dem reinen Ich als cogitativer Subjektivität und der Seele als Organisationsprinzip des Ich-Menschen herausstellt: Das seelische Subjekt, obschon abstraktiv unterscheidbar von der Seele als seinem Fundament, verschmilzt in der gewöhnlichen Geistesauffassung mit ihr in eins. (Wie schon aus dem zuletzt Gesagten hervorgeht: wenn wir vom geistigen Ich des Menschen sprechen im Gegensatz zum Leib, so scheiden wir das Ganze des Ich in und mit seinem Seelengrunde ab; fassen wir den Leib mit, so haben wir den ganzen Menschen: Ich, der Mensch, zu dem mein Menschenleib gehört). 135
Die Rede vom »Seelengrund« ist deshalb so auffallend, weil dieser Begriff einen für Eckharts Anthropologie zentralen Terminus darstellt, der den ungeschaffenen Einheitsgrund des Menschen im Unterschied zu den vielfachen, an die Leiblichkeit gebundenen Seelenkräften vegetativer und sinnlicher Art bezeichnet. Aus dem obengenannten Zitat geht hervor, dass auch für Husserl der »Seelengrund« kein empirisches, in den Leib hineinagierendes Vermögen ist, sondern an der Geistigkeit des reinen Ich sowie an seiner nichtphänomenalen Einheit teilhat. Auch vom phänomenologischen Standpunkt aus geht die Seele, insofern sie Lebensprinzip eines organischen Leibes ist, demnach nicht zur Gänze in ihren vielfältigen Funktionen auf, sondern entspringt einem unteilbaren Urprinzip, das nicht innerweltlich-»seiender«, sondern rein geistiger, »überseiender« Natur ist. Obwohl Husserl mit Blick auf das transzendental vereinzelte reine Bewusstsein und dessen Beziehung auf intentionale Gegenstände individueller wie universaler Art den Primat der unmittelbaren Anschauung gegenüber allen vermittelnden Formen der Erkenntnis verteidigt, lehnt er jeden Gedanken einer unmittelbaren, rein geistigen Anschauung anderer menschlicher Ich-Instanzen doch nachdrücklich ab. Die durch die Epoché freigelegte Absolutheit des reinen Ich als des unveräußerlich eigenen, unmittelbar selbstgegebenen Ursprungs seiner gesamten Welterfahrung ist zugleich auch der
135
E. Husserl, Ideen III, Beilage 1, § 4 (Hua V), 117 (Hervorhebung d. Verf.).
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Grund dafür, dass es hinsichtlich der Erkenntnis anderer Ich-Subjekte keiner direkten Anschauung fähig ist, sondern dazu der Vermittlung der psychophysischen Leiblichkeit bedarf. Darin zeigt sich eine wesenhafte Begrenzung des reinen Ich, die auf die Notwendigkeit einer intersubjektiven Vergemeinschaftung verweist: Gerade weil das transzendentale Bewusstsein sowohl die intentionalen Inhalte, die seiner Selbstkonstitution als verleiblichter Ich-Mensch entstammen, als auch die Inhalte seines objektiven Welterlebens immer in monadischer Zentriertheit auf das je eigene, reine Ich erlebt, kann es die Art und Weise, in der andere reine Ich für sich selbst als ebenso absolute Ursprünge ihres jeweiligen Welterlebens fungieren, gerade nicht mehr unmittelbar anschaulich erkennen. 136 In dem Maße, wie das reine Ich als »absolute Wirklichkeit« in seiner radikalen Andersartigkeit gegenüber der ihm erscheinenden Welt erkannt wird, bedarf es gerade jener innerhalb der Welt erscheinenden, aber nicht auf innerweltliche Gegenständlichkeit reduzierbaren Wirklichkeit namens »belebter Leib«, um zu anderen Ichzentren in Verbindung treten zu können. In den Cartesianischen Meditationen betont Husserl die ausgezeichnete Stellung des je eigenen Leibes als des absoluten »Nullpunktes« aller Weltbezüge und Weltwahrnehmung und unterscheidet dementsprechend zwischen der von den objektivierenden Naturwissenschaften erforschten »bloßen Natur«, die in der Tat durch die Epoché ausgeblendet wird, und der »eigenheitlichen Natur«, die in besonderer Weise auf die leibseelische Selbstwahrnehmung bezogen ist. 137 Deutlicher als zuvor wird nun sichtbar, dass die transzendentale Leistung der Weltkonstitution gar nicht möglich wäre ohne die »Selbstverweltlichung« des reinen Ich als menschlicher Person innerhalb der Welt: Indem ich als dieses ego die für mich seiende Welt (als Korrelat) konstituiert habe und fortgehend weiter konstituiere, habe ich unter dem Titel Ich im gewöhnlichen Sinne des menschlich-personalen Ich innerhalb der gesamten konstituierten Welt eine verweltlichende Selbstapperzeption in entsprechenden konstitutiven Synthesen vollzogen und halte sie in beständiger Fortgeltung und Fortbildung. Alles transzendental mir als diesem letzten
136 Vgl. E. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Erster Teil (Hua XIII), 116. 137 Vgl. E. Husserl, Cartesianische Meditationen, § 44 (Hua I), 127–130.
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Das reine Ich als Möglichkeitsgrund von Welt, Personalität und Absolutem
ego Eigenheitliche tritt vermöge dieser Verweltlichung in meine Seele als Psychisches ein. 138
Die leibseelische Dimension der Egoität ist demnach das Resultat einer vom reinen Ich selbst vollzogenen »Verweltlichung«, die zugleich die Konstitution der Welt insgesamt ermöglicht. In dem Moment, wo das reine ego aus sich selbst ausgeht und sich als erscheinende Person konstituiert, ist ihm auch die Welt als von ihm konstituierter Ordnungszusammenhang gegeben. Trotz – oder vielmehr gerade wegen – der transzendentalen Vereinzelung, die das durch die Epoché modifizierte empirische Bewusstsein erfährt, mündet die Auslegung des reinen Ich bei Husserl daher nicht in einen Solipsismus, sondern eröffnet vielmehr die Möglichkeit einer nicht nur empirisch, sondern apriorisch verankerten Form der Intersubjektivität. 139 Diese Beziehung zwischen einem reinen ego und seinem alter ego liegt darin begründet, dass auch in der modifizierten Grundhaltung der Epoché die Leiblichkeit des Mitmenschen nicht als ein innerweltlicher Naturgegenstand unter anderen erfahren wird, sondern als Ort, an dem sich ein dem unseren wesensgleiches und dennoch in raumzeitlicher Faktizität vereinzeltes Bewusstseinszentrum manifestiert. 140 Dessen Spontaneität wird von Husserl nicht primär an der Fähigkeit, »ich« zu sagen, festgemacht, sondern über eine analogisierende Extrapolation der Funktionseinheit zwischen unserer Bewusstseinssphäre und unserem je eigenen Leib erschlossen. So, wie wir uns nicht nur als reines Bewusstsein erfahren, sondern als ein Lebewesen, dessen Leibkörper mit Wahrnehmungsfeldern und kinästhetischer Spontaneität ausgestattet ist, so nehmen wir in den innerweltlich begegnenden Leibkörpern der anderen Mitsubjekte unmittelbar, wenn auch nicht in anschaulich ausweisbarer Weise, Ichzentren wahr, die dem unseren funktionsgleich sind. Auf der ursprünglichsten Ebene beruht die Erfahrung von Intersubjektivität somit auf vorsprachlicher Einfühlung und noch nicht auf kommunikativer Interaktion. Gerade deswegen erweist sich die Beziehung auf andere alter egos jedoch als
E. Husserl, Cartesianische Meditationen, § 45 (Hua I), 130 (Hervorhebungen im Original). 139 Für Landgrebe ist diese Einsicht in das ursprüngliche, immanente Angerufensein des reinen Ich durch ein alter ego und das sich darin bekundende Absolute ein Indiz dafür, dass Husserls Subjektauffassung weit stärker von Augustinus geprägt ist als die Descartes’ (vgl. L. Landgrebe, Phänomenologie und Metaphysik, 181. 195). 140 Vgl. E. Husserl, Cartesianische Meditationen, §§ 44–54 (Hua I), 135–149. 138
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ein nicht akzidenteller, sondern zum Wesen des welterfahrenden Bewusstseins notwendig dazugehörender Grundzug. Obwohl Husserl unmissverständlich darlegt, dass das reine Ich von den Bewusstseinsströmen der anderen Ich-Instanzen prinzipiell keine unmittelbare, selbstgebende Anschauung haben kann, 141 betont er doch, dass das im transzendentalen Sinne erste intentionale Korrelat des reinen Ichbewusstseins nicht ein innerweltlicher Gegenstand ist, sondern die anderen alter egos, die gleichfalls in konstitutiver Weise auf die objektive, natürliche Welt bezogen sind: Monaden, für sich selbst genau so seiend, wie ich für mich bin; dann aber auch in Gemeinschaft, also […] in Verbindung mit mir, als konkretes ego, als Monade. Zwar sind sie reell von der meinen getrennt, sofern keine reelle Verbindung von ihren Erlebnissen zu meinen Erlebnissen und so überhaupt von ihrem Eigenwesentlichen zu dem meinen überführt. […] Andererseits ist diese ursprüngliche Gemeinschaft nicht ein Nichts. Ist jede Monade reell eine absolut abgeschlossene Einheit, so ist das irreale, intentionale Hineinreichen der Anderen in meine Primordialität nicht irreal im Sinne eines bloßen Hineingeträumtseins, eines Vorstellig-seins nach Art einer bloßen Phantasie. Seiendes ist mit Seiendem in intentionaler Gemeinschaft. Es ist eine prinzipiell eigenartige Verbundenheit, eine wirkliche Gemeinschaft, und eben die, die das Sein einer Welt, einer Menschen- und Sachenwelt transzendental möglich macht. 142
Bei dieser Verbindung zwischen ego und alter ego handelt es sich also nicht um eine lediglich faktisch existierende, innerweltliche Gemeinschaft zwischen menschlichen Individuen, sondern um eine apriorische Bezogenheit des reinen Ich auf analog fungierende Fremdsubjektivitäten, deren gemeinsame Konstitutionsleistung die Welt als Erscheinungshorizont dinglicher Natur überhaupt erst zustande bringt. Diese Gemeinschaft aller reinen Ich-Subjekte besteht nicht in einer wechselseitigen kausalen Beeinflussung, sondern in einem intentionalen und insofern »irrealen« Netz aus rein geistigen Korrelationen. Diese apriorische Gemeinschaft reiner Ichzentren erweist sich als der kollektive Ursprung der objektiv zugänglichen, nicht-ichlichen Weltwirklichkeit, so dass man durchaus sagen kann, dass die apriorische, »überseiende« Gemeinschaft aller reinen Ichzentren in phänomenologischer Hinsicht die Welt erschafft – nicht hinsichtlich
141 142
Vgl. E. Husserl, Cartesianische Meditationen, § 50 (Hua I), 139. E. Husserl, Cartesianische Meditationen, § 56 (Hua I), 157.
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ihrer hyletisch-materialen Vorgegebenheit, sondern mit Blick auf ihre Erfahrbarkeit als geordneter Erscheinungszusammenhang: Absolute gesprochen ist nur das ego und sein Leben, und ist dieses »verbunden« mit dem anderen ego in seinem Leben, und hergestellt ist diese Verbindung mittels der zu beiden Ich gehörigen Naturkonstitutionen. […] Das An-sich der Natur hat also in dieser intentionalen Identität ihren Sinn. Absolute gesprochen, gibt es nichts anderes als Geist, und es gibt keine andere Verbindung als geistige. 143
Die Überschreitung der Eigensphäre des transzendental vereinzelten ego auf ein universales Menschentum hin erfolgt also nicht durch begriffliche Abstraktion und Universalisierung der individuellen Selbsterfahrung als Ich-Mensch, sondern durch die vorbegriffliche Erfahrung von Fremdsubjektivitäten in Form von psychophysisch verweltlichten alter egos. Auf der untersten, elementarsten Stufe der phänomenologischen Betrachtung ist die »Menschheit« bei Husserl daher überhaupt kein Begriff, sondern eine konkret verleiblichte, apriorisch korrelationale Erscheinungs-, Erfahrungs- und Handlungsgemeinschaft, deren erstes gemeinsames Werk die Konstitution einer für alle erfahrbaren, naturhaften und sich doch nicht auf bloße Materialität reduzierenden, sondern immer schon geistig überformten Welt ist. Im Zusammenhang mit der transzendentalen Universalität der in allen Ichzentren wirksamen geistigen Leistung greift Husserl an einer Stelle interessanterweise auf einen Begriff aus der aristotelischen Intellektlehre zurück, denn er schreibt: Leiblichkeit ist Bedingung der Möglichkeit einer Passivität im Subjekte, durch die sich eine intersubjektive Welt passiv konstituieren und sich aktiv beherrschen lassen kann. Aber der intellectus agens, der den seelischen Untergrund in seiner Gesetzmäßigkeit, also auch in seiner physiologischen Gebundenheit voraussetzt, ist nicht selbst physiologisch zu fassen. Andererseits ist auch der intellectus agens mit daseiend mit dem Naturleib, eingeordnet der objektiven Natur. Warum nennen wir ihn nicht selbst Natur, warum sagen wir, er stehe über der Natur, er sei der Welt eingeordnet und sei doch Subjekt der Welt? 144
In der aristotelisch-scholastischen Intellekttheorie ist der intellectus agens jenes aktive Prinzip, das der abstraktiven, universalisierenden E. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Erster Teil (Hua XIII), 232 (Hervorhebungen im Original). 144 E. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Zweiter Teil (Hua XIV), 73 (Hervorhebungen im Original). 143
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Die egologisch-monadologische Vergemeinschaftung von Mensch und Gott
Tätigkeit der Vernunfterkenntnis zugrunde liegt. 145 Vor dem Hintergrund gewisser nicht ganz eindeutiger Aussagen aus Aristoteles’ De anima, die dem Intellekt einen »getrennten« Status gegenüber den übrigen Seelenteilen bescheinigen, 146 hatte sich im Laufe der mittelalterlichen Averroismusdebatte die Auffassung herausgebildet, der intellectus agens stelle nicht nur in funktionaler, sondern auch in ontologischer Hinsicht ein überpersönliches Prinzip dar, das sich mit allen menschlichen Vernunftwesen verbinde, ohne selbst individuiert zu sein. Diesen Standpunkt scheint sich auch Husserl in dem oben angeführten Zitat zu eigen zu machen, denn er sieht die einzelnen Subjekte, die durch ihre Leiblichkeit voneinander unterschieden sind, offenbar geeint in einer überindividuellen, in die Welt eingreifenden geistigen Aktivität. Allerdings bleibt damit noch die Frage offen, ob sich die Einheit aller einzelnen Subjekte nur im Bereich des bewussten, vernunftgesteuerten In-die-Welt-Hineinagierens realisieren kann oder ob dieses Geeintsein im Handeln nicht vielmehr aus einem ursprünglicheren, aller aktiven Konstitution vorangehenden und sie ermöglichenden Grund entspringt, der sich allem direkten »Machen« und »Tun« entzieht und auf vorbewusste Weise immer schon am Werk ist. 2.1.2
Die transzendentale Ursprungseinheit im Ur-Ich
Im Rahmen von Husserls Intersubjektivitätsanalysen wird die Individualität des einzelnen Ich-Menschen zum einen durch die transzendentale Vergesellschaftung mit anderen alter egos zum Zweck einer noematisch-intentional erscheinenden »Welt für alle« überschritten. Angesichts des Ursprungscharakters des reinen Bewusstseins widmet sich Husserl zum anderen aber auch der Frage, ob sich nicht auch ausgehend von der Subjektseite dieser intentionalen Beziehung ein Einheitsgrund gewinnen lässt, der die Vielzahl der innerweltlich erscheinenden Ich-Menschen mitsamt der in ihrem konkreten Welterleben konstituierten Bewusstseinsinhalte übersteigt und zusammenhält, ohne ihre Singularität als solche aufzuheben. Die Frage nach Einheit und Vielheit des Ich stellt deshalb ein bedeutsames Problem dar, weil »Ich« kein kategorialer Artbegriff ist, der eine mehr Vgl. Aristoteles, De anima III 5, 430 a 10–25; Thomas von Aquin, Summa theologiae I, q. 79, a. 3 ad 3. 146 Vgl. Aristoteles, De anima III 4, 429 a 10–429 b 5; ebd. III 5, 430 a 17–23. 145
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Das reine Ich als Möglichkeitsgrund von Welt, Personalität und Absolutem
oder weniger große Anzahl numerisch verschiedener Individuen in sich enthielte. 147 Eine so verstandene Individuation von Wesen derselben Spezies erfolgt ja stets durch akzidentelle Eigenschaften, während das reine Ich als solches ohne Eigenschaften ist. Andererseits hebt auch die Freilegung seines Charakters als absolute, überempirische Einheit nicht die Asymmetrie des Weltbezuges auf, die in der monadischen Zentriertheit aller Inhalte seines Bewusstseinslebens auf das »absolute Hier« seiner Eigensphäre besteht. Insofern ist das reine Ich als solches trotz seiner transzendentalen Reinheit noch in einer Weise singularisiert, die andere, funktionsgleiche Ich neben ihm zulässt. Auch wenn Husserl die These der transzendentalen Individuation des zu jedem Ich-Menschen gehörenden reinen Ich nicht aufgibt, entwickelt er im Laufe der Zeit doch den Gedanken einer Ursprungseinheit aller reinen Ich, die sich aus deren rein dynamischfungierender Natur ergibt und von ihm interessanterweise in der Begrifflichkeit der »Geburt« gefasst wird: Jedes empirische Ich fängt als Ur-Ich an, also jedes völlig identisch bis auf die ihm vorgegebene Hyle und die Art ihrer Verteilung in der immanenten Zeit. Danach entwickelt sich jedes Ur-Ich anders als jedes andere. Empirisch gesprochen, jedes animal ist hineingeboren in eine Welt, und zwar in der Weise, dass es diese Welt in Form seiner Umwelt vorfindet, und so sehr jedes Ich bei der Ichgeburt identisch dasselbe ist (als Ich) wie jedes andere, so wird es notwendig zum individuellen animalischen Ich rein durch die Entwicklung in der ihm und keinem andern vorgegebenen Umgebung. […] es fängt das Ur-Ich hani, das, wie gesagt, gar keine bestimmten Anlagen hat […], sondern nur die für alle Ich identische Ur-Ich-Struktur oder das urichliche Wesen. 148
Mit Blick auf die ichlich-leibseelische Doppelstruktur des Menschen hat man es daher mit zwei Arten von Geburt zu tun: Die »Ichgeburt« bezeichnet jenen anfänglichen Moment, in dem das Ur-Ich als konstitutiver Ursprung des Welterlebens erstmals in inhaltsloser Dynamik – »ohne Eigenschaften« – durchbricht. In diesem anfänglichen Moment sind alle Menschen demnach absolut gleich, da ihr Ich hier in rein potentieller Funktionalität vorliegt. Insofern aber gleich im 147 Vgl. dazu S. Taguchi, »Individuation und Ichgemeinschaft. Das Problem der Vielheit der ichlichen Individuen bei Husserl«, in: D. Carr / C. Lotz (Hg.), Subjektivität – Verantwortung – Wahrheit. Neue Aspekte der Phänomenologie Edmund Husserls, Frankfurt a. M. [u. a.], P. Lang, 2002, 57–73, hier 58–63. 148 E. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Erster Teil (Hua XIII), 407 f. (Hervorhebung im Original).
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Die egologisch-monadologische Vergemeinschaftung von Mensch und Gott
Anschluss daran jedem reinen Ich im Rahmen seiner Weltkonstitution andere hyletische Inhalte gegeben sind, erfolgt eine »zweite Geburt« als animalisches, individuell von allen anderen unterschiedenes Menschen-Ich, das sich aufgrund seiner psychophysischen Verfasstheit zu den Leibkörpern anderer Subjekte in einem phänomenalen »Außereinander« befindet. In der geistigen Geburt des Ur-Ich sind demnach alle Menschen eins, während sie ihrer leibseelisch-innerweltlichen Geburt nach voneinander unterschieden sind. Mit Blick auf den phänomenologischen Status dieser absolut originären Ich-Instanz ist Husserls Position nicht ganz eindeutig: Seine Formulierung, dass das Ur-Ich für alle Menschen »identisch dasselbe« ist, scheint darauf hinzudeuten, dass es sich um einen realen Einheitsgrund handelt, der im strengen Sinne ein singulare tantum darstellt und auch der transzendental notwendigen Unterscheidung von ego und alter ego noch vorausgeht. Demgegenüber legt die Rede von der »für alle Ich identische[n] Ur-Ich-Struktur« den Schluss nahe, dass das Ur-Ich den absoluten Anfang jedes einzelnen Bewusstseins als eines transzendental individuierten markiert, der von den absoluten Anfängen der anderen Bewusstseine lediglich in qualitativer Hinsicht ununterscheidbar ist, ohne eine absolute Singularität zu bezeichnen, die keinerlei Vervielfältigung oder Deklination zulässt. In der Tat lassen sich bei Husserl sowohl Textstellen finden, in denen das Ur-Ich lediglich eine strukturelle Identität bezeichnet, als auch andere Passagen, die darauf hindeuten, dass es sich um eine real existierende, überindividuelle Instanz handelt, die das reine Ich »in« sich selbst vorfindet und die es doch nicht mit »sich« selbst identifizieren kann, solange es sich noch in einer transzendentalen Korrelation zu einem alter ego begreift. 149 So gesehen, ist die Rede von einem »Ur-Ich« irreführend, wenn mit »Ich« ein konkreter Jemand gemeint sein sollte; vielmehr handelt es sich um den unhintergehbaren Ursprung jeder nur möglichen Ichkonkretion, der den okkasionellen Beschränkungen aller vereinzelten transzendentalen Subjekte noch vorgelagert ist. 150 Darin deutet sich bereits der Gedanke eines überempiri149 Vgl. E. Husserl, Bernauer Manuskripte über das Zeitbewusstsein [1917/18] (Hua XXXIII), Dordrecht / Boston / London, Kluwer, 2001, 174–188; ders., Zur phänomenologischen Reduktion (Hua XXXIV), 300; ders., Krisis (Hua VI), 187–193 sowie dazu D. Lohmar, »Eine Geschichte des Ich bei Husserl. Mit Bemerkungen zum Ur-Ich in Husserls späten Zeitmanuskripten«, 177 f. und S. Taguchi, Das Problem des ›Ur-Ich‹ bei Husserl, 119. 130. 150 Vgl. J. G. Hart, »A Précis of an Husserlian Philosophical Theology«, 94 f.
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Das reine Ich als Möglichkeitsgrund von Welt, Personalität und Absolutem
schen Einheitsgrundes an, der nicht nur die leibseelische Vielheit jeder einzelnen Person zusammenhält, sondern auch der transzendental-individuierenden Bestimmtheit aller reinen Bewusstseinsströme vorausgeht und sie übersteigt. Der Umstand, dass Husserl in diesem Zusammenhang von einer »Geburt« spricht, ist ein Hinweis darauf, dass auch die Einheit der Menschheit als ganzer nicht in einem abstrakten obersten Prinzip verankert sein kann, sondern durch einen transzendental-generativen Zusammenhang zu einer Einheit höherer Ordnung verbunden werden muss. Bisweilen kleidet Husserl seine Ausführungen zu diesem Thema in eine Sprache, die den vereinenden Urgrund aller Ich-Zentren als »Leben« deutet, in dessen Kontinuum sich erst die diskreten Einheiten der einzelnen Ich herausbilden: Ist immer schon das Ich, das lebt, wach gewesen, geht Wachheit voran, und wenn wir Geburt als Neuauftreten eines Ich fassen und dann notwendig eines schlafenden oder wachen und jedenfalls wach werdenden Lebens – ist da anzunehmen, dass dem anfangenden Schlaf (wenn Schlaf Anfang sein soll des anfangenden Ich) gleichwohl Wachheit vorangegangen sein muss, etwa in der Weise, dass Anfangen (Geborenwerden) eines Ich als generatives Anfangen und dann als Verzweigung in einem einzigen Leben ist mit verschiedenen Ichpolen und dem urgenerativen Vorkommnis des »Werdens« von Ichpolen als Lebenszentren, die ihrerseits notwendig schon vorher fungierende Zentren voraussetzen in infinitum? 151
Das Paradox des absoluten Anfangens eines Ich besteht darin, dass der originäre Anfang eines Ichsubjekts zu einer bestimmten Zeit nur gedacht werden kann, wenn die Zeitlichkeit des Bewusstseins, in dem ein solches Entstehen gedacht wird, schon vor diesem Ereignis bestand. Der Bewusstseinsstrom als solcher hat daher weder Anfang noch Ende, sondern ist in beiden Richtungen unbegrenzt. Da nun aber de facto einzelne Ich-Instanzen geboren werden, kann das nur bedeuten, dass sie immanente Ausdifferenzierungen und polarisierte Konkretionen eines Lebens sind, das als solches ein singulare tantum darstellt. Unter dieser Voraussetzung kann man im eigentlichen Sinne nicht sagen, dass die Ichsubjekte lebendig sind, sondern vielmehr, dass das absolute, transzendentale Leben sich auf vielfache Weise »ichtet«, ausdifferenziert und konkretisiert. Angesichts des eben zitierten Passus stellt sich aber auch die Frage, ob das als absolute Singularität verstandene Ur-Ich bzw. Urle151
E. Husserl, Zur phänomenologischen Reduktion (Hua XXXIV), 470 f.
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Die egologisch-monadologische Vergemeinschaftung von Mensch und Gott
ben seinerseits auf ein All-Ich bzw. Allbewusstsein verweist, das nicht in der bloßen Summe aller Einzelbewusstseine besteht, sondern trotz seiner Immanenz in allen Subjektzentren doch seine Einzigkeit wahrt und zwischen ihnen zugleich doch einen Einheitszusammenhang stiftet, der sich nicht in einer funktionalen Vergemeinschaftung zum Zweck der objektiven Weltkonstitution erschöpft. In seinen Analysen zur Intersubjektivität kommt Husserl an einigen Stellen darauf zu sprechen, wie man sich vom phänomenologischen Standpunkt aus ein solches Allbewusstsein denken müsste, nämlich so, dass es die jeweilige Ich-Zentriertheit der einzelnen Bewusstseinsströme übersteigt, ohne doch ihre Pluralität und Unterschiedenheit aufzuheben. In diesem Falle müsste das Allbewusstsein alle anderen Einzelbewusstseine mitsamt ihren konkreten Inhalten in sich tragen, ohne sie in einem bewusstseinstheoretischen ἄπειρον (apeiron) aufgehen zu lassen. 152 An einigen Stellen spricht Husserl ausdrücklich von einem solchen All-Ich als dem »göttlichen« Bewusstsein, doch ist er bei der Formulierung direkter theologischer Schlussfolgerungen zurückhaltend, da ihm daran gelegen ist, diese Fragestellung aus einer konsequent phänomenologischen – und das heißt bewusstseinsimmanenten – Perspektive heraus zu entwickeln. Aus diesem Grund wirken seine Analysen zu diesem Thema vorsichtig und tastend und verbleiben oft in Frageform: Ist ein Ich denkbar, das alle Ich übergreift, das alles und jedes, was zeitlich konstituiert ist, in einem Leben umspannt, also auch alle Gebilde aller Ich, alle Ich selbst, sofern sie für sich selbst konstituiert sind? Ein Ich, das die in allen endlichen Ich gemeinsam konstituierte Natur und Welt mit den Augen aller dieser Ich erfährt, alle ihre Gedanken als ihre Gedanken in sich hat, in alle ichlich hineinwirkt – die Natur und Welt im Sinn der »Idee des Guten« »schafft« … ?! 153
Auch wenn Husserl an dieser Stelle nicht ausdrücklich von Gott oder dem Göttlichen spricht, ist doch ersichtlich, dass ein solches All-Ich zum einen als »Leben« und zum anderen als »schaffend« verstanden werden muss, wobei diese Schöpfertätigkeit sich nicht auf die Welt im 152 Vgl. E. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Erster Teil (Hua XIII), 8 f. 19; ders., Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Zweiter Teil (Hua XIV), 300. 153 E. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Zweiter Teil (Hua XIV), 302. Vgl. auch ders., Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Erster Teil (Hua XIII), 9.
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Das reine Ich als Möglichkeitsgrund von Welt, Personalität und Absolutem
natürlich-objektiven Sinne bezieht, sondern auf die Welt, insofern sie den Ort der Verwirklichung der ethischen Idee des Guten bildet. Damit deutet sich bereits ein wichtiger Grundzug von Husserls philosophischem Gottesverständnis an, nämlich die Einsicht, dass Gott nicht vom bloßen Faktum der physischen Welt, sondern von einem bestimmten Wie der Welterfahrung und des menschlichen Lebens in der Welt her zu denken ist.
2.2
»Wäre ich nicht, so wäre auch Gott nicht« – das reine Ich als notwendiges Faktum
Husserls Bemerkungen zum absoluten Bewusstsein Gottes im Zusammenhang mit seinen Zeitanalysen gehen bereits über den Ansatz der Ideen I hinaus, der den Gottesbegriff lediglich auf konstruktive Weise als erkenntnistheoretische Limesidee eingeführt und ihn somit auf einseitige Weise vom menschlichen Bewusstsein abhängig gemacht hatte. Seine Bezeichnung des göttlichen Bewusstseins als des »ideale[n] Korrelat[es] der objektiven Zeit« 154 lässt erkennbar werden, dass es hier nicht nur um eine gedachte, sondern um eine wirkliche göttliche Instanz geht, die sich nicht auf einen bloßen Gedankeninhalt des transzendentalen Bewusstseins reduziert, sondern ihm in gewisser Weise transzendent sein muss. Dennoch bedeutet dies keine Rückkehr zur traditionellen biblischen oder auch aristotelischmetaphysischen Vorstellung eines souveränen, schlechthin außerhalb der Weltwirklichkeit angesiedelten Gottes, sondern Husserl hält auch hier an der grundsätzlichen Abhängigkeit aller Wirklichkeit vom reinen Bewusstsein fest, so dass Gott nicht in einer statisch-substantialistischen, sondern nur in einer dynamisch-relationalen Hinsicht gedacht werden kann. Husserls Auffassung von der unmittelbaren Urevidenz des ego, in der sich eine erste Form des Absoluten bekundet, wirkt wie das phänomenologische Gegenstück zu Meister Eckharts These, dass die Wirklichkeit Gottes als des absoluten, überweltlichen Intellekts im Ichbewusstsein des Menschen immer schon mitevident wird, so dass sich ein ausdrücklicher Gottesbeweis im traditionellen Sinne erübrigt. Ein Unterschied besteht allerdings darin, dass das reine ego 154 E. Husserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, Text Nr. 15 (Hua X), 175.
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Die egologisch-monadologische Vergemeinschaftung von Mensch und Gott
bei Husserl zunächst nicht mit Gott identifiziert wird, sondern mit der jeweiligen Ich-Instanz in der durch die Epoché herbeigeführten Entweltlichung und transzendentalen Vereinzelung. Die unmittelbare Selbstanschauung des Ich bezieht sich auf die Art und Weise seines Gegebenseins innerhalb der Epoché, so dass jeder Verweis auf faktische Existenz damit ausgeklammert scheint. Allerdings kommt Husserl schon relativ frühzeitig zu der Einsicht, dass die Epoché lediglich die kontingente Faktizität innerweltlicher Phänomene und des in der Welt vorkommenden Ich-Menschen ausschaltet, nicht aber jede Form von Faktizität schlechthin. In den Ideen I bricht sich diese Einsicht bereits Bahn, allerdings in einer Begrifflichkeit, die zwischen Empirie und Transzendentalität oszilliert und es an der nötigen Klarheit fehlen lässt: Der Thesis der Welt, die eine »zufällige« ist, steht also gegenüber die Thesis meines reinen Ich und Ichlebens, die eine »notwendige«, schlechthin zweifellose ist. Alles leibhaft gegebene Dingliche kann trotz dieser leibhaften Gegebenheit auch nicht sein, kein leibhaft gegebenes Erlebnis kann auch nicht sein: das ist das Wesensgesetz, das diese Notwendigkeit und jene Zufälligkeit definiert. […] Im Wesen eines reinen Ich überhaupt und eines reinen Erlebnisses überhaupt gründet die ideale Möglichkeit einer Reflexion, die den Wesenscharakter einer evident unaufheblichen Daseinsthesis hat. 155
Und in einer direkt anschließenden Fußnote präzisiert Husserl: Es handelt sich also um einen ganz ausgezeichneten Fall der empirischen Notwendigkeiten, die im § 6 am Schlusse des zweiten Absatzes, S. 19 f. der Abh., erwähnt sind. 156
Die Rede von der notwendigen Daseinsthesis des reinen Ich im Unterschied zur bloß zufälligen Daseinsthesis der Welt ist insofern missverständlich, als die Formulierung den Eindruck erwecken könnte, dass »Dasein« in beiden Fällen dieselbe Bedeutung hat, was angesichts des abgründigen Sinnunterschiedes zwischen transzendentalem Bewusstsein und weltlichen Phänomenen natürlich nicht der Fall sein kann. Noch gravierender ist jedoch, dass Husserl in der Anmerkung von einer »empirischen Notwendigkeit« redet, so als handele es sich um eine erfahrungsmäßig vorgefundene, innerweltliche Tatsache, die theoretisch auch anders sein könnte. In späteren Texten 155 156
E. Husserl, Ideen I, § 46 (Hua III), 108 f. (Hervorhebungen im Original). E. Husserl, Ideen I, § 46 (Hua III), 109 Anm. 1 (Hervorhebungen im Original).
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Das reine Ich als Möglichkeitsgrund von Welt, Personalität und Absolutem
formuliert er diesen Sachverhalt terminologisch präziser, so dass klar wird, dass mit »Dasein« bzw. »Existenz« nicht der Seinsmodus innerweltlicher Dinge gemeint ist, sondern eine gänzlich andere Art von notwendiger Wirklichkeit. Husserl hatte die Phänomenologie zunächst als »eidetische Wissenschaft« definiert, also als eine Wissenschaft, die nicht bloße Tatsachen und deren faktische Gesetzmäßigkeiten, sondern ausschließlich Wesensstrukturen erforscht. 157 Im Falle der Phänomenologie geht es um die Wesensstrukturen, die jedem konkreten, individuellen Bewusstseinsleben zugrundeliegen und sich an ihm ablesen lassen. So gesehen, hat die Phänomenologie das Eidos »reines transzendentales Bewusstsein« zu ihrem Gegenstand. Allerdings gelangt Husserl zu der Einsicht, dass im Falle des »Ich« in seiner performativen Aktualität ein Sonderfall bezüglich des Verhältnisses von Eidos und Faktum vorliegt. Die Wesensstruktur der Egoität ist ihrem möglichen Sein oder Nichtsein gegenüber nicht indifferent, sondern schließt vielmehr die aktuale Verwirklichung des Eidos ego notwendigerweise mit ein: Ich habe also die apodiktische Evidenz als Urevidenz des Ich-bin, und bin als Subjekt eines zweiseitigen Lebens, das nach seinem Wirklichsein (Existenz) absolut notwendig ist, nach seinem Sosein anders sein könnte derart, daß das System der Anders-Möglichkeiten ein abgeschlossenes unendliches ist. […] Ich bin, der ich bin. Aber ich könnte doch anders sein. Es ist ein bloßes Faktum, zufällig, daß ich bin der oder so, wie ich bin. […] Ich (und jedes Ich) kann sich denken, daß kein anderes Ich sei, aber kein Ich kann sich denken, daß es selbst nicht sei. Nur denken kann es sich, daß es anders sein könnte, als es faktisch ist. Immer bin ich aber nur zufällig nach meinem Sosein, nicht aber nach meinem Sein schlechthin. […] Bin ich so ein absolutes, undurchstreichbares Faktum, so fragt es sich nun, wie weit das reicht. 158
Der Versuch, das reine Bewusstsein in kohärenter Weise als nichtexistent zu denken, führt in einen performativen Widerspruch, so dass man es hier in der Tat mit einer direkten Parallele zum ontologischen Gottesbeweis zu tun hat. Dies klingt in der Aussage »Ich bin, der ich bin« bereits implizit an und wird von Husserl an anderer Stelle sogar unumwunden ausgesprochen: E. Husserl, Ideen I, §§ 7–8 (Hua III), 21–23. E. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Zweiter Teil (Hua XIV), 154 f. (Hervorhebung im Original); vgl. auch ders., Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Dritter Teil (Hua XV), 385. 157 158
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Die egologisch-monadologische Vergemeinschaftung von Mensch und Gott
Ein einzelnes Ego und All und das Ego als einzelnes eines solchen Alles, gedacht als All dieses allgemeinen Wesens (das das Ego von seiner Stelle aus variierend entwirft), hat die Eigenheit, daß es in apodiktischer Notwendigkeit existieren muß – mit der Essenz ist notwendig die Existenz gegeben – wie im ontologischen Beweis. 159
Im Vergleich zum klassischen ontologischen Argument lassen sich allerdings zwei Unterschiede ausmachen: Bei Husserl ist der Erweis der »notwendigen Existenz« nicht Sache einer objektivierenden Begriffsanalyse der in Frage stehenden Sache (in diesem Falle des Eidos ego), sondern erfolgt in der unmittelbaren Selbsterfahrung des Denkens in seinem akthaften Vollzugscharakter. Darüber hinaus liegt in Husserls Argumentation eine bedeutsame Umkehrung im Verhältnis zwischen Wesen und Sein: Im Falle des Gottesbeweises lautet die Argumentation dahingehend, dass Gottes Wesen (essentia) alle nur denkbaren positiven Eigenschaften (Allwissenheit, Allmacht, Güte, Unsterblichkeit usw.) in unendlich hohem Maße enthält und dass die absolute Größe seiner Wesensvollkommenheit notwendigerweise auch sein Sein (existentia) einschließen muss. 160 Husserl geht mit Blick auf das reine ego jedoch den umgekehrten Weg, da er ihm nur mit Blick auf das schiere »Dass« seiner Existenz den Charakter absoluter Notwendigkeit zubilligt, nicht aber mit Blick auf seine inhaltliche Bestimmtheit bzw. sein Sosein, das auch anders sein könnte, als es ist. Darin liegt eine qualitative Beschränkung der Absolutheit des einzelnen Ich, in der sich erneut die Notwendigkeit einer intersubjektiven Bezogenheit auf andere Ich-Instanzen abzeichnet. In den Ideen I hatte Husserl sich noch darauf beschränkt, Gott als eine vom reinen Bewusstsein konstruierte Idee zu betrachten, die lediglich in erkenntnistheoretischer Hinsicht von Relevanz ist. Die Einsicht in die besonders geartete transzendentale Faktizität des reinen ego führt ihn allerdings dazu, im weiteren Verlauf seiner Denkentwicklung auch den Gottesbegriff nicht mehr nur als eine eidetische Struktur, sondern als Verweis auf eine reale Wirklichkeit zu verstehen, die dem Bewusstsein in einem phänomenologisch ausweisbaren Sinne »transzendent« ist. Doch auch unter dieser VorausE. Husserl, Krisis [Ergänzungsband] (Hua XXIX), 89. Vgl. Anselm von Canterbury, Proslogion, cap. 2–5, in: Opera omnia (ed. F. S. Schmitt), Bd. 1, Seckau / Roma / Edinburgh, 21984, 101–104; Thomas von Aquin, Summa theologiae I, q. 2, a. 1 c; ders., Summa contra Gentiles I, cap. 10–11; R. Descartes, Meditationes de prima philosophia V, AT VII, 265–277; G. W. Leibniz, Monadologie, § 45, in: ders., Die philosophischen Schriften (ed. Gerhardt), Bd. 6, 614. 159 160
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Das reine Ich als Möglichkeitsgrund von Welt, Personalität und Absolutem
setzung bleibt das Ich nicht nur die unabdingbare Prämisse für das phänomenale Gegebensein von Welt, sondern auch die Grundbedingung dafür, dass man in sinnvoller Weise Gott das Sein zusprechen kann. In Formale und transzendentale Logik erläutert Husserl: Die Bewußtseinsbeziehung auf eine Welt, das ist nicht eine mir von einem zufällig von außen her es so bestimmenden Gott oder von der im voraus zufällig seienden Welt her und einer ihr zugehörigen kausalen Gesetzlichkeit auferlegte Tatsache. Das subjektive Apriori ist es, das dem Sein von Gott und Welt und allem und jedem für mich, den Denkenden, vorangeht. Auch Gott ist, was er ist, aus meiner eigenen Bewußtseinsleistung, auch hier darf ich aus Angst vor einer vermeintlichen Blasphemie nicht wegsehen, sondern muß das Problem sehen. Auch hier wird wohl, wie hinsichtlich des Alterego, Bewußtseinsleistung nicht besagen, daß ich diese höchste Transzendenz erfinde und mache. 161
Dieses Zitat ist insofern bemerkenswert, als in ihm zwei Motive auftauchen, die auch in Eckharts Intellekttheorie entfaltet werden: Zum einen betont Husserl, dass die intentionale Beziehung des transzendentalen Bewusstseins auf eine Welt unabdingbar zu seinem Wesen gehört und keine »zufällige« – man könnte auch sagen: akzidentelle – Zutat ist, die dem Bewusstsein durch einen natürlichen oder übernatürlichen Eingriff in wirkursächlicher Weise von außen eingepflanzt worden wäre. So gesehen, ist für Husserl das ichliche Bewusstsein ebenfalls »reine Substanz ohne Eigenschaften«. Darüber hinaus betont er aber auch, dass das Bewusstsein des Menschen nicht etwa in einseitiger Weise von Gott als dem Schöpfer abhängt, sondern dass umgekehrt Gott nur in dem Maße »Sein« besitzt, wie er sich in einer Beziehung zum Bewusstsein des Menschen befindet. Damit meint Husserl aber gerade nicht, dass Gott nur ein Produkt des Denkens wäre wie eine bloße Fiktion oder ein Phantasiegebilde. Die Analogie, die er an dieser Stelle mit der Beziehung zu einem menschlichen alter ego herstellt, besagt vielmehr, dass der Bezug eines Ich zu einer göttlichen Fremdsubjektivität in keinem Falle mit dem Bezug auf einen intentionalen Gegenstand zu vergleichen ist. Gott ist nicht einfach ein figmentum des menschlichen Geistes, und doch kann man ihm im Rahmen von Husserls Transzendentalphänomenologie kein Sein zusprechen, das vom Bewusstsein des Menschen schlechthin unabhängig wäre. 161 E. Husserl, Formale und transzendentale Logik (Hua XVII), Den Haag, Nijhoff, 1974, 257 f. (Hervorhebung im Original).
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Das Korrelationsapriori kommt also nicht nur zwischen dem transzendentalen Bewusstsein und der Welt zum Tragen, sondern ebenso auch für die Beziehung zwischen Subjektzentren, ganz gleich, ob göttlicher oder menschlicher Natur. Darin zeigt sich einmal mehr die Univozität von Husserls Bewusstseinsbegriff, da er selbst Gott kein absolutes, souveränes In-sich-Sein zubilligt, sondern ihn von seiner Relation zum reinen Ich des Menschen abhängig macht. Diese Abhängigkeit ist allerdings nichtkausaler Natur, da jede Vorstellung von Gott als einem »Produkt« des menschlichen Denkens sich bestenfalls auf den inhaltlich so oder anders bestimmten Gottesbegriff – also einen »gedachten Gott« als noematischen Inhalt – beziehen könnte, nicht aber auf Gott, insofern er als ichliches Subjektzentrum der Ursprung seiner eigenen Erste-Person-Perspektive ist. 162 Husserls Rede von der »Bewusstseinsleistung«, die nötig ist, um Gott Sein zusprechen zu können, besagt daher nicht, dass der Mensch sich Gott nach seinem eigenen, beschränkten Bild und Gleichnis entwirft. Vielmehr ist damit gemeint, dass das transzendentale Bewusstsein des Menschen nur deswegen fähig ist, zu einem als reines Ichbewusstsein existierenden Gott in Beziehung zu treten, weil es aufgrund seiner eigenen bildlosen Spontaneität und Ursprunghaftigkeit immer schon aus sich selbst herausgetreten ist und auch andere, ihm selbst »äußerliche« Ursprungsinstanzen als Analoga seiner selbst zu erkennen vermag, mit denen es auf apriorische Weise verbunden ist. Allerdings thematisiert Husserl hier die Beziehung des reinen Bewusstseins auf eine wirklich existierende göttliche Subjektivität noch als transzendentalphänomenologische Möglichkeit, ohne die Beziehung zu einem göttlichen Ich mit der gleichen apodiktischen Notwendigkeit zu behaupten wie die Faktizität des je eigenen reinen Ich. Nur so viel ist klar: wenn man im Rahmen der Phänomenologie von Gott reden will, kann man ihn nicht anders begreifen als eine Instanz, die gleichfalls Egoität besitzt und diese nur in ihrer Beziehung zum transzendentalen Ich im Menschen Wirklichkeit werden lassen kann. Das Erfordernis einer solchen Vergemeinschaftung Gottes mit der menschlichen Subjektivität lässt sich daraus erklären, dass
162 Insofern trifft die Kritik Jean-Luc Marions an Husserls »idolatrischer« Gottesvorstellung allenfalls auf den Ansatz der Ideen I zu, der Gott auf eine bloße »Idee« reduziert, nicht aber auf seine späteren Versuche, Gott von dessen eigener ichlicher Ursprunghaftigkeit und Lebendigkeit her zu denken (vgl. J.-L. Marion, Dieu sans l’être, Paris, Presses Universitaires de France, 1991, 50 f. Anm. 12).
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Das reine Ich als Möglichkeitsgrund von Welt, Personalität und Absolutem
Husserl eine trinitarische Struktur des göttlichen Bewusstseins – und damit eine Gott bereits immanente Form von Intersubjektivität – nicht in Betracht zieht. Wenn Bewusstsein als solches gar nicht sein kann, ohne wesenhaft auf andere Subjektzentren bezogen zu sein, kann auch das göttliche Bewusstsein, wenn es als in sich einfaches gedacht wird, nur in dem Maße Wirklichkeit beanspruchen, wie es sich in einer reziproken Korrelation zum transzendentalen Ich des Menschen befindet.
2.3
Husserls hermeneutische Metaphysik der Geschichte
Husserls Konzeption der Intersubjektivität als jener nichtkausalen, apriorisch-korrelationalen Verbindung aller ichlichen Bewusstseinszentren, aus deren gemeinsamer Konstitutionsleistung die »seiende« Welt als geistig durchdrungene entspringt, ist die genaue phänomenologische Entsprechung zu jener überfließenden Dynamik des innertrinitarisch vergemeinschafteten Lebens, die bei Meister Eckhart als der Ursprung der Weltschöpfung fungiert. Doch während Eckhart alle Vernunftwesen – Menschen, Engel und Gott – bereits in der überzeitlichen und übergeschichtlichen Spontaneität ihres Ich auf vollkommene Weise intersubjektiv verbunden sieht, schlägt Husserl bezüglich des Zustandekommens dieser besonders gearteten Gemeinschaft einen anderen Weg ein. Dies ist dem Umstand geschuldet, dass er, anders als Meister Eckhart, nicht direkt von Gott als der Ur- und Höchstform des reinen Ich ausgehen kann, sondern seinen Gottesbegriff ausgehend von der Sphäre der Bewusstseinsimmanenz, genauer gesagt: aus dem transzendentalen Koordinationsgrund der Pluralität innerweltlich-menschlicher Subjekte heraus erschließen muss. Der Aspekt der Wirkursächlichkeit bleibt dabei auch in Husserls Modell der Intersubjektivität ausgeklammert, da die geistige Sphäre der reinen Ichzentren nicht Teil, sondern Ursprung der Welt ist und folglich nicht nach den Kategorien der von ihr konstituierten dinglichen Wirklichkeit gedeutet werden kann. 163 Insofern ist die apriorische Vergemeinschaftung der transzendentalen egos bereits das phänome-
163 »In der Sphäre der eigentlichen ›Humanität‹ ist psychophysische Kausalität etwas völlig Irrelevantes« (E. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Erster Teil [Hua XIII], 96).
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nologisch verstandene Absolute, das hinsichtlich seiner weltkonstituierenden Leistung autark ist und keines Gottes bedarf: Danach sind allein die ego’s in ihrer kommunikativen Aufeinanderbezogenheit absolut seiend. Sie sind in ihrer Gemeinschaft die absoluten Träger der Welt, deren Sein ein Für-sie-sein und Für-sie-konstituiert-sein ist. Sie sind als absolute ego’s nicht Teile der Welt, sie sind nicht Substanzen im Sinne von empirischen »Realitäten« – d. i. eben Glieder der Welt, Substrate »realer« Eigenschaften, die ihr wahres Sein in der Welt haben. Sie sind das Absolute, hsie sind die Subjektivitäti, ohne deren kogitatives Leben, das durch und durch ein im weitesten Wortsinne erkennendes Konstituieren ist, alle realen Substanzen nicht wären. 164
Die Absolutheit der intersubjektiv vergemeinschafteten transzendentalen Bewusstseine bezieht sich darauf, dass ihr Zusammenwirken zugleich notwendig und hinreichend ist, um eine objektive Welt als geordneten Erscheinungszusammenhang von Dingsubstanzen zu konstituieren. Insofern braucht man auf dieser Stufe der Betrachtung noch keinen phänomenologischen Gottesbegriff zu bemühen, sondern kann auf der Ebene der intersubjektiven Verflechtung der reinen Ichzentren verbleiben. Ein wichtiger Unterschied im Vergleich zum ego-theologischen Ansatz Meister Eckharts ergibt sich jedoch daraus, dass Husserl sich nicht darauf beschränkt, seine Analysen des Bewusstseinslebens allein an der »reinen Form« – phänomenologisch gesprochen: dem Eidos – festzumachen. In dem Moment, wo er den konstitutiven Zusammenhang von Ich und Welt als lebendige Genese von Sinnstrukturen betrachtet, gehört die Zielursächlichkeit unabdingbar mit zur Struktur des transzendentalen Bewusstseins, da sich dieses nur insofern auf Gegenstände beziehen kann, als es die ihm im Ablauf der bewusstseinsimmanenten Zeitlichkeit gegebenen Inhalte zu teleologischen Einheiten formt. 165 Im Unterschied zu Meister Eckhart macht Husserl seine Analysen des reinen Ich – sowohl in Bezug auf den Menschen als auch in Bezug auf Gott – nicht primär am äußerlich wahrnehmbaren Akt des »Ich«-Sagens fest, sondern am vorsprachlich-intuitiven Ichbewusstsein, das in einer transzendentalphänomenologischen Reflexion das eigene Fungieren als konstitutiven Ursprung der Welt erkennt. Dass Sprache als solche einen manifestativen, phänomenomenalisie164 E. Husserl, Erste Philosophie. Zweiter Teil: Theorie der phänomenologischen Reduktion (Hua VIII), Den Haag, Nijhoff, 1965, 505 (Hervorhebungen im Original). 165 Vgl. E. Husserl, Ideen I, § 44, § 81 (Hua III), 100–104. 196–199.
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Das reine Ich als Möglichkeitsgrund von Welt, Personalität und Absolutem
renden Charakter haben könnte, kommt in Husserls Überlegungen nur am Rande vor. Dieser Umstand erklärt sich daraus, dass unter dem Gesichtspunkt der phänomenologischen Epoché die natürliche Sprache als Mittel der äußeren, intersubjektiven Kommunikation bereits auf eine Form der faktischen, weltlichen Bewusstseinstranszendenz verweist, deren Existenzsetzung zunächst eingeklammert werden muss. 166 Darüber hinaus sieht Husserl aufgrund des wesentlich intuitionistischen, am schauenden Erfassen orientierten Charakters der phänomenologischen Methode die Verbindung der Erkenntnis zur Sprache als eine eher äußerliche an. Nicht das Sprechen in seiner situativen Lebendigkeit ist für ihn unter phänomenologischen Gesichtspunkten von Belang, sondern allenfalls die Schrift, da diese – im Gegensatz zum gesprochenen Wort – eine diachrone, generationenübergreifende Tradierung von konstitutiven Vernunftleistungen ermöglicht. Doch auch dann noch versteht Husserl darunter nicht primär die Verschriftlichung gesprochener Äußerungen, sondern die gar nicht auf Verbalisierung angelegten, rein strukturellen Zeichensysteme der Logik und Mathematik. 167 Aus diesem Grund findet sich bei Husserl kein direktes Pendant zu Eckharts transzendental-grammatikalischer Analyse des Wortes »ich« (ego) mitsamt seinen metaphysischen Implikationen, da diese wesentlich mit dem Aktcharakter des »Ich«-Sagens zusammenhängen. Die ursprüngliche Beziehung zwischen ego und alter ego ist bei ihm weit stärker durch die psychophysische Leiblichkeit der Mitmenschen vermittelt als durch die äußere Manifestation ihrer Intellektnatur durch ein gesprochenes oder geschriebenes verbum. Bemerkenswerterweise scheint Husserls dies sogar für ein göttliches Bewusstsein anzunehmen, denn er postuliert in einer hypothetischen 166 Vgl. E. Husserl, Krisis (Hua VI), 98; ders., Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Dritter Teil (Hua XV), 224 f. Zur Problematik der natürlichen Sprache und der fehlenden »transzendentalen Sprache« vgl. G. van Kerckhoven, Mundanisierung und Individuation bei E. Husserl und E. Fink. Die VI. Cartesianische Meditation und ihr »Einsatz«, Würzburg, Königshausen & Neumann, 2003, 387–411. 456 f. 167 Vgl. E. Husserl, Krisis (Hua VI), 368–377. Aus dem bei Husserl erkennbaren Primat der Schrift gegenüber dem gesprochenen Wort lässt sich schließen, dass er die von Derrida kritisierte »phonozentrische« Ausrichtung der abendländischen Philosophie nicht teilt. Vgl. dazu den Aufsatz d. Verf. »Zeichen der Vernunft. Cusanische Motive in Derridas Interpretation des Verhältnisses von Schriftlichkeit und Sinngenese in Husserl: L’Origine de la géométrie«, Coincidentia 5/1 (2014), 7–29 sowie R. Bruzina, »Language in lifeworld-phenomenology: the ›Origin of geometry‹«, Philosophy today 40 (1996), 91–102.
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Die egologisch-monadologische Vergemeinschaftung von Mensch und Gott
Überlegung, dass selbst »der absolute Geist zum Zweck der Wechselverständigung auch einen Leib haben« 168 müsste. Nicht ein göttliches Wesen als in sich existierendes, wohl aber ein göttliches Wesen als mit den Menschen in Kontakt tretendes bedarf demnach einer materiell fundierten Leiblichkeit, um sich innerhalb der Welt manifestieren zu können. Diese Grundeinsicht ist von zentraler Bedeutung für Husserls Entwicklung einer philosophischen Theologie: Wenn so etwas wie »Offenbarung« in phänomenologischer Weise gedacht werden soll, muss sie in erster Linie an der leiblich vermittelten Interaktion reiner Ich-Instanzen festgemacht werden und erst in sekundärer Form an religiösen Textzeugnissen oder anderen sprachlich vermittelten Formen intersubjektiver Kommunikation. Dies hat zur Folge, dass Husserl zwar nicht seinen formalen Gottesbegriff als solchen, wohl aber die Wirklichkeit Gottes ebenfalls nicht an der sprachlichen Ich-Äußerung eines Einzelsubjektes bzw. an den Gott zugeschriebenen Ich-Aussagen eines Textes wie der Hl. Schrift festmachen kann, sondern sie aus der transzendentalen Intersubjektivität menschlicher Bewusstseinszentren heraus entwickeln muss, auch wenn sie sich nicht auf deren Gemeinschaft im bloß summarischweltimmanenten Sinne reduziert. 169 Husserls Entwurf einer reinen Phänomenologie als egologisch begründeter Erster Philosophie hatte anfänglich darin bestanden, die klassisch-metaphysische Frage nach dem »Seienden als solchem« einzuklammern und die Bedeutung dessen, was »Sein« heißt, von der absoluten Wirklichkeit des reinen Bewusstseins her neu zu deuten. In dem Maße, wie sich das ego selbst jedoch nicht nur als eidetische Struktur, sondern als apodiktisch notwendiges Faktum erweist, ist auch der Weg frei zu einer phänomenologisch orientierten Neuinterpretation der Metaphysik, die nunmehr als Zweite Philosophie die absolute phänomenologische Wissenschaft vom faktischen Sein darstellt. 170 Im Unterschied zur aristotelisch-scholastischen Metaphysik bezieht sich die Bedeutung von »Sein« nun aber in erster Linie auf die nicht wegzudenkende transzendentale Faktizität des reinen Bewusstseins und erst in zweiter Linie auf die von der intersubjektiven GeE. Husserl, Ideen II, § 18 (Hua IV), 85. Vgl. E. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Dritter Teil (Hua XV), 381. 610. 170 Vgl. E. Husserl, Vorlesungen über Ethik und Wertlehre [1908–1914] (Hua XXVIII), 182. 226; ders., Erste Philosophie. Erster Teil (Hua VII), 187 f. Anm. 1; ders., Phänomenologische Psychologie (Hua IX), Den Haag, Nijhoff, 1962, 298 f. 168 169
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Das reine Ich als Möglichkeitsgrund von Welt, Personalität und Absolutem
meinschaft aller reinen Ich konstituierte faktische Welt der Natursubstanzen. 171 Vom Standpunkt der Phänomenologie aus betrachtet die Metaphysik also nicht nur, wie die in apriorischer Reinheit begründete Erste Philosophie, die transzendentale Subjektivität und ihre Strukturen als den konstitutiven Ursprung der Möglichkeit von so etwas wie Welt und Weltbezug überhaupt; vielmehr geht es ihr um die Beziehung des reinen Bewusstseins auf die faktisch existierende Welt und die darin notwendigerweise mitimplizierte Pluralität von transzendentalen Bewusstseinszentren. Entscheidend ist dabei jedoch, dass das relative Faktum der existierenden Welt aus dem absoluten Faktum der transzendentalen Intersubjektivität entspringt, nicht umgekehrt. 172 Die Rückkehr zu einer egologisch fundierten Metaphysik erfolgt daher nicht primär über eine wie immer geartete, statisch verstandene Gegenstandssphäre, heiße diese »Seiendes«, »Seele«, »Welt« oder »Gott«, sondern über das Phänomen der Geschichte, das nicht aus dem Zusammenhang der Naturdinge, sondern aus der in zeitlicher Sukzession gegebenen Verflechtung von vernünftigen Bewusstseinszentren entsteht und somit im phänomenologischen Sinne eine Form absolut-faktischen Seins bildet. 173 Nicht als oberflächliche, an einzelnen Personen oder Ereignissen festgemachte »Historie« ist das geschichtliche Sein absolut, sondern nur in seiner philosophischen Tiefendimension, d. h. als Entwicklung des Menschheitsbewusstseins insgesamt als generationenübergreifender Tradition aus transzendentalen Vernunftleistungen. Dieser Ansatz einer »Metaphysik des geschichtlichen Seins« ist deshalb so bemerkenswert, weil Husserl damit seine anfängliche kategorische Abgrenzung der Phänomenologie gegenüber jeder Art von Geschichtsbetrachtung nicht nur aufgibt, sondern sie geradezu in ihr Gegenteil verkehrt. Galt ihm vordem die geschichtliche Perspektive als Synonym für einen historistischen Relativismus, der in klarem Widerspruch zum phänomenologischen 171 »Diese Innerlichkeit des Füreinanderseins ist die ›metaphysische‹ Urtatsache, es ist ein Ineinander des Absoluten« (E. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Dritter Teil [Hua XV], 366). 172 Vgl. E. Husserl, Grenzprobleme der Phänomenologie (Hua XLII), 164. 173 Vgl. E. Husserl, Erste Philosophie. Zweiter Teil (Hua VIII), 506 sowie L. Landgrebe, »Meditation über Husserls Wort ›Die Geschichte ist das große Faktum des absoluten Seins‹«, Tijdschrift voor Filosofie 36 (1974), 107–126; ders., »Die Phänomenologie als transzendentale Theorie der Geschichte«, in: E. W. Orth (Hg.), Phänomenologie und Praxis, Freiburg / München, Alber, 1976, 17–47.
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Streben nach der Erkenntnis universaler, überkontingenter Wahrheiten steht, 174 so kann Husserl im weiteren Verlauf seiner Denkentwicklung die Geschichte wieder phänomenologisch rehabilitieren, insofern die Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit sich selbst als eine nicht nur faktische, sondern absolut notwendige Struktur des transzendentalen Bewusstseins erwiesen hat. In dem Maße, wie es in dieser Geschichtsbetrachtung nicht mehr um einzelne, innerweltlich konstatierbare Fakten geht, sondern um das apodiktische Faktum des Bewusstseinslebens in seiner teleologischen Entwicklungsstruktur, können auch die von der klassischen Metaphysik betrachteten Wirklichkeitsbereiche – Welt, Seele, Gott – in diese transzendental gedeutete Geschichte integriert und in dynamisch-relationaler Weise aufeinander bezogen werden. 175 Die phänomenologische Metaphysik im Sinne Husserls hängt also nach wie vor an der überweltlichen Wirklichkeit des reinen Ich. Da dieses aber in seiner monadisch-inhaltlichen Konkretion den Gesamtzusammenhang seiner teilweise unbewussten Motivationen und Habitualitäten nie gänzlich zu überblicken vermag, ist es sich selbst nie in vollkommener Transparenz gegeben. Aufgrund seiner wesenhaft zeitlich-geschichtlichen Struktur ist das transzendentale Leben des Bewusstseins darüber hinaus auch nie ein abgeschlossener Untersuchungsgegenstand, sondern bedarf einer permanenten Selbstauslegung, die auch und gerade die Unmöglichkeit des Lebens, sich selbst reflektierend zur Gänze zu erfassen, zum Thema macht: Aber diese Selbstauslegung des Lebens und im Besonderen des Welt erfahrenden Lebens ist nicht eine bloße Auseinanderlegung, Analyse einer fertig-festen Sache. Leben ist, was es ist, als intentionale Leistung und immer neue Leistung, und schon dass es das ist, ist eine Auslegung, die nicht eigentliche Analyse ist. Und ebenso, Leben ist, wo es immer zur Fassung kommt, schon Fortleben, das Leben hinter sich wie neben sich hat, aber
174 Vgl. E. Husserl, »Philosophie als strenge Wissenschaft«, in: ders., Aufsätze und Vorträge (Hua XXV), 7 f. 41–47. László Tengelyi kommt diesbezüglich zu dem Schluss, dass Husserl die traditionelle Dreigliederung der metaphysica specialis – Ich, Welt und Gott – durch eine vierfache Unterteilung – Ichsubjekt, Welthabe, intentionales Ineinander und Geschichtlichkeit – ersetzt habe (vgl. L. Tengelyi, Welt und Unendlichkeit. Zum Problem phänomenologischer Metaphysik, Freiburg / München, Alber, 2014, 186 f.). 175 »Vollkommenes phänomenologisches Selbstverständnis beschließt Welt- und Gottesverständnis, Verständnis des menschlichen Gesamtsinnes in der Geschichtlichkeit« (E. Husserl, Krisis [Ergänzungsband] [Hua XXIX], 136).
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Das reine Ich als Möglichkeitsgrund von Welt, Personalität und Absolutem
nicht in einer bloß naturalen Äußerlichkeit, vielmehr in der Innerlichkeit einer intentionalen Tradition. Leben ist durch und durch, können wir auch sagen, historisch. 176
In diesem Sinne hat die auf die Faktizität und Geschichtlichkeit ausgerichtete phänomenologische Metaphysik einen grundlegend hermeneutischen Charakter. Der Unterschied zur herkömmlichen Texthermeneutik besteht allerdings darin, dass das »Gewebe« möglicher Sinnzusammenhänge dem Ausleger nicht gegenübersteht, sondern unveräußerlicher Teil seiner eigenen Bewusstseinsgeschichte bzw. der Bewusstseinsgeschichte der Menschheit insgesamt ist. Der Begriff der »Auslegung« lässt erkennbar werden, dass Husserl hier auf alle traditionellen metaphysischen Letztbegründungsansprüche verzichtet, da das transzendentale Bewusstseinsleben sich zwar als beständig leistendes und insofern nicht wegdenkbares erfährt, diese konstitutive Leistung aber nicht auf ihren Ursprung, sondern nur auf ihre mögliche teleologische Entwicklungsrichtung hin zu untersuchen vermag. 177 Das Woraufhin der transzendentalen Leistung des Bewusstseinslebens, die sich in Form von Kultur, Wissenschaft und Menschheitsgeschichte insgesamt veräußerlicht, kann der Phänomenologe sehr wohl bestimmen, nicht aber das Woher des Faktums des Bewusstseins als solchen, das den abgründigen Ursprung aller teleologischen Produktionen bildet. 178 Die phänomenologisch-egologische Wissenschaft vom reinen Bewusstsein lebt somit aus der unüberwindbaren Differenz zwischen ihrer eigenen Auslegungstätigkeit und deren Hervorgehen aus einem Lebenszusammenhang, dessen selbstkonstituierende Leistung sie immer schon vorfindet, in ihren letzten Ursprüngen aber nicht aufhellen kann. Damit findet sich bei Husserl letztlich doch ein Äquivalent zu dem, was bei Eckhart der Aspekt der positiven Schriftoffenbarung ist: An die Stelle der Hermeneutik der Bibel als eines historischen Text176 E. Husserl, Natur und Geist (Hua XXXII), Dordrecht / Boston / London, Kluwer, 2001, 147 (Hervorhebungen im Original). 177 Damit steht Husserl eindeutig außerhalb der klassischen, onto-theologischen Metaphysiktradition, die Gott als »erste Ursache« und Von-Woher des faktischen Seins betrachtet. Vgl. L. Tengelyi, Welt und Unendlichkeit, 187 sowie K.-H. Lembeck, »›Faktum Geschichte‹ und die Grenzen phänomenologischer Geschichtsphilosophie«, Husserl Studies 4 (1987), 209–224, hier 218–223. 178 Vgl. dazu den Aufsatz d. Verf. »Die Krise der europäischen Kultur und der phänomenologische Nihilismus. Grenzfiguren der Rationalität bei Cohen, Natorp und Husserl«, Zeitschrift für philosophische Forschung 66 (2012), 566–582.
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Die egologisch-monadologische Vergemeinschaftung von Mensch und Gott
dokumentes tritt die »Hermeneutik des Bewusstseinslebens« 179 als Auslegung des Sinnzusammenhangs der Menschheitsgeschichte, die – so wie die in der Bibel berichteten Ereignisse – gleichfalls nicht als oberflächliche Ansammlung neutral-objektiver Fakten zu verstehen ist, sondern als Ort, an dem sich das im Sinne eines phänomenologischen Gottesbegriffs verstandene Absolute bekundet und eine besonders geartete Form universaler menschlicher Gemeinschaft stiftet. Die auf ihren transzendentalen Tiefensinn hin betrachtete Menschheitsgeschichte als ganze wird damit zu einem Text, dessen Bedeutung es mit phänomenologischen Mitteln zu entschlüsseln, auszulegen und mit Blick auf die daraus folgenden theoretischen wie praktischen Konsequenzen zu interpretieren gilt.
2.4
Die ethisch-axiologische Dimension des reinen Ich als Grundbedingung wahrer Humanität
Husserls Einsicht in den transzendental-geschichtlichen Charakter des Bewusstseins erschöpft sich nicht in einer retrospektiven Betrachtung der Vergangenheit als Vergangenheit, sondern interpretiert die vergangenen geschichtlichen Epochen im Licht eines Menschheitsideals, das erst noch verwirklicht werden muss und daher eine wesentlich prospektiv-zukunftsorientierte Dimension besitzt. In dem Moment, wo der Aspekt der zeitlichen Entwicklung zum Wesen des transzendentalen Bewusstseins notwendigerweise dazugehört, ist die überempirische Natur des reinen Ich, für sich genommen, jedoch kein ausreichender Garant mehr dafür, dass diese Entwicklung ihr eigentliches Ziel auch erreicht. Dies betrifft in diesem Falle nicht so sehr die Ebene der Konstitution einzelner innerweltlicher Gegenstände als vielmehr die Entwicklung des reinen Ich selbst in seiner transzendentalen Bewusstseinsgeschichte. Gerade weil sich das reine ego in einem permanenten Prozess der lebendigen Selbstkonstitution befindet, ist nicht mehr von vornherein garantiert, dass die inhaltliche Konkretion seiner faktischen Entwicklung mit dem gesollten Telos dessen, was »Menschsein« bedeutet, zur Deckung kommt. Insofern alle Ichzentren auf apriorische Weise miteinander verbunden sind und in intentionaler Weise aufeinander einwirken, bedarf es daher einer überge179 E. Husserl, »Phänomenologie und Anthropologie«, in: ders., Aufsätze und Vorträge (Hua XXVII), 177.
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Das reine Ich als Möglichkeitsgrund von Welt, Personalität und Absolutem
ordneten Instanz, die dafür sorgt, dass die universale Resultante aller Willens- und Streberichtungen der einzelnen Subjekte keine destruktiven Folgen hat. Dies ist zunächst Sache des Staates, der innerhalb von Husserls Phänomenologie der sozialen Systeme und Strukturen allerdings keine konstitutive, sondern lediglich eine regulative Funktion innehat. So ist er nicht in sich das letzte und höchste Ziel vernunftgemäßer Gemeinschaftsbildung, sondern hat lediglich den Zweck, dem teleologischen Streben der einzelnen Vernunftmonaden wie auch der Monadengemeinschaft insgesamt gewisse rechtliche Grenzen zu setzen. 180 Dies geschieht jeweils innerhalb eines bestimmten »Staatsvolkes«, das eine durch gemeinsame Abstammung, Sprache und Tradition verbundene Teilmenschheit darstellt und ein begrenztes geographisches Territorium bewohnt. 181 Aufgrund dieser wesenhaften Beschränkungen stellt der Staat im Rahmen von Husserls Phänomenologie – anders als etwa bei Hegel – keine metaphysische Größe sui generis dar, der eine Absolutheitsbedeutung zukäme, sondern er ist lediglich ein Epiphänomen und kritisches Korrektiv des innerweltlichen Menschseins in seiner faktischen Endlichkeit. Was eine universale Menschheitsgemeinschaft im positiven Sinne sein soll, kann hingegen nicht auf der Ebene von politischen Strukturen verwirklicht werden, sondern bedarf einer anderen, überstaatlichen Form intersubjektiver Vergemeinschaftung. Damit das »reine Ich« sich als das »wahre Ich« verwirklichen kann, müssen gewisse Grundbedingungen erfüllt sein, die nicht mehr mit der Konstitution einer gegenständlich-objektiven Welt und auch nicht mit deren politisch-rechtlicher Organisation, sondern mit der Verwirklichung einer ethisch geprägten Vernunftmenschheit zusammenhängen. Diese gründet allerdings weder mittelbar noch unmittelbar auf den beschränkten, innerweltlichen Formen menschlicher Sozialität (Familie, Verein, Volk, Staat etc.), sondern verläuft gleichsam quer zu diesen und übersteigt sie in einer nicht nur quantitativ-
180 Vgl. E. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Erster Teil (Hua XIII), 106. 181 Vgl. E. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Erster Teil (Hua XIII), 109; ders., Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Dritter Teil (Hua XV), 57 sowie dazu K. Schuhmann, Husserls Staatsphilosophie, Freiburg / München, Alber, 1988, 32. 44 f.
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Die egologisch-monadologische Vergemeinschaftung von Mensch und Gott
extensiven, sondern qualitativen Weise. 182 Husserl gründet das Zustandekommen einer solchen universalen Menschheitsgemeinschaft auf einen besonders gearteten Begriff der Liebe, der nicht gefühlsmäßig-affektiv zu verstehen ist, sondern dem reinen Ich im Anderen gilt und sich mit der Verwirklichung von dessen wahrem Wesen identifiziert. Im Gegensatz zur negativ-begrenzenden Funktion des Rechts besitzt die im ethischen Sinne verstandene Liebe immer schon einen positiv-konstitutiven, auf die Menschheit als ganze abzielenden Aspekt: Wir denken hier natürlich an die unendliche Liebe Christi zu allen Menschen und an die allgemeine Menschenliebe, die der Christ in sich wecken muss und ohne die er kein wahrer Christ sein kann. […] Der Freund ist betrübt, wenn der Freund von seinem »wahren Selbst« abfällt. Der Christ, der Feindesliebe übt, liebt nicht das Böse im Feind, und das böse Tun ist nicht das, was er in seinem Willen billigt. In jeder menschlichen Seele liegt – das ist der Glaube – ein Beruf, ein Keim, der selbsttätig zu entfalten ist, zum Guten. In jeder liegt beschlossen ein ideales Ich, das »wahre« Ich der Person, das sich nur in dem »guten« Handeln verwirklicht. 183
In diesem Sinne gilt die Liebe also nicht der faktischen Person als solcher in ihrem konkreten »Dies und das«, sondern dem in ihr liegenden Kern des »wahren Ich«, das alle kategorialen Bestimmtheiten des jeweiligen Individuums prinzipiell übersteigt. Wo sich diese Art von Liebe nur temporär zwischen einzelnen Personen verwirklicht, ist sie von der Gesinnung her zwar schon universal, insofern die Haltung dem konkreten Mitmenschen gegenüber zugleich immer auch schon auf die Menschheit als ganze abzielt, doch begründet sie damit noch keine universale Einheit im realen Sinne. Das ist erst der Fall auf der Ebene der »Liebesgemeinschaft«, die die gesamte Menschheit zu einer gemeinschaftlichen Personalität höherer Ordnung zusammenschließt. 184 So, wie sich das reine Ich des ethischen Gelingens seiner transzendentalen Entwicklungsgeschichte nicht von vornherein ge182 Vgl. E. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Dritter Teil (Hua XV), 54–69. 183 E. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Zweiter Teil (Hua XIV), 174. 184 Vgl. E. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Zweiter Teil (Hua XIV), 175. Vgl. dazu auch N. C. Petrillo, Die immanente Selbstüberschreitung der Egologie in der Phänomenologie Edmund Husserls, Würzburg, Ergon Verlag, 2009, 257–265 sowie P. Buckley, »Husserl’s rational Liebesgemeinschaft«, Research in phenomenology 26 (1996), 116–129.
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Das reine Ich als Möglichkeitsgrund von Welt, Personalität und Absolutem
wiss sein kann, so ist auch die »Menschheit« als leibseelisch phänomenalisierte Gemeinschaft aller ichlichen Bewusstseinszentren noch nicht gleichbedeutend mit der Verwirklichung der »echten Humanität« bzw. der »Idee des Menschen«. Da sich das, was der Mensch sein soll, nicht aus dem ableiten lässt, was auf der Ebene der konkreten menschlichen Wirklichkeit de facto der Fall ist, muss Husserl das Telos des »wahren« Menschseins aus einer Grenzwertbetrachtung dessen ableiten, was das Ideal personaler Existenz als solcher von der Existenz des Ich-Menschen als psychophysischer Realität unterscheidet. Als faktisch innerhalb der Welt existierender und erfahrbarer ist der Mensch Teil eines geschlossenen Systems, das durch die Positivität seiner konkreten, individuierenden Eigenschaften – sein »Dies und das« – begrenzt ist. 185 Als transzendentales Ich hingegen ist er Teil eines übergeordneten Ordnungszusammenhangs, der das System des ich-menschlichen Seins zwar als eine Untermenge in sich enthält, es aber zugleich auf die offen-unendliche Ordnung ethischer Vollkommenheit hin öffnet: Gehen wir hier bis an die ideale Grenze, mathematisch gesprochen an den »Limes«, so hebt sich von einem relativen Vollkommenheitsideal ein absolutes ab. Es ist nichts anderes als das Ideal absoluter personaler Vollkommenheit […], bzw. es ist das Ideal einer Person, als Subjektes aller im Sinne absoluter Vernunft gesteigerten persönlichen Vermögen – einer Person, die, wenn wir sie zugleich als allkönnende oder allmächtige dächten, alle göttlichen Attribute hätte. Jedenfalls können wir bis auf diese (außerrationale) Differenz sagen: Der absolute Limes, der über alle Endlichkeit hinausliegende Pol, auf den hin alles echt humane Streben gerichtet ist, ist die Gottesidee. Sie selbst ist das »echte und wahre Ich«, das, wie noch zu zeigen sein wird, jeder ethische Mensch in sich trägt, das er unendlich ersehnt und liebt und von dem er sich immerzu unendlich fern weiß. 186 185 »Es hebt sich das universal leistende ego in seinem leistenden universalen Leben, als worin Welt überhaupt und Ich als Mensch Leistungsgebilde ist, von dem Gebilde Ich-Mensch ab. Aber in der Kontrastierung heißt es doch Ich, ich bin derselbe als ego und als menschliche Person. Und doch wieder, ich bin nicht derselbe, weil mein menschliches Ich-bin ein Titel für ein geschlossenes System von Aussagen der Positivität ist, und das transzendentale ego ein Titel für ein ganz anderes System, worin nur als ein Teil all die Aussagen der Positivität und das Seinssubstrat derselben, das menschliche personale Ich mit seinen Eigenschaften, in der Sinnänderung der Anführungszeichen vorkommen« (E. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Dritter Teil [Hua XV], 540 f.). 186 E. Husserl, »Fünf Aufsätze über Erneuerung«, in: ders., Aufsätze und Vorträge [1922–1937] (Hua XXVII), Dordrecht / Boston / London, Kluwer, 1989, 3–43, hier
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Das erste phänomenologische Absolute, als das sich das einzelne reine Ich in seiner apodiktischen Gegebenheit erfährt, ist somit nicht identisch mit jener Form von Absolutheit, die den im ethischen Menschen bereits angelegten und zugleich doch unendlich fernen Limes all seines theoretischen wie praktischen Strebens bildet. Diese Nichtidentität des reinen ego mit sich selbst liegt darin begründet, dass Husserl das Ziel der ichlichen Entwicklungsdynamik in einer Unendlichkeit verortet, die kein geschlossen-universales Noema mehr darstellt und daher grundsätzlich niemals adäquat gegeben sein kann. Wo es sich nur um rein formale Arten von Universalität wie etwa mathematische Entitäten (z. B. Zahlenmengen) handelt, ist die Leistung des transzendental singularisierten, reinen Bewusstseinslebens ausreichend, um deren Unendlichkeit in adäquater Weise denkerisch handhaben und insofern »verwirklichen« zu können. Wo es hingegen um die Wirklichkeit des Ideals der absoluten personalen Vollkommenheit geht, stoßen die Möglichkeiten des durch die Epoché vereinzelten Bewusstseins, aber auch der endlichen, begrenzten Formen menschlicher Sozialität an ihre Grenzen. 187 Der Grund dafür liegt darin, dass die inhaltliche Bestimmtheit dieses ethischen Telos vom Eidos »transzendentale Vernunft als solche« in ihrer abschattungsfreien, aktualen Unendlichkeit her gedacht wird. Nun ist Husserls Subjektverständnis auch im Bereich der praktischen Vernunft, in dem sich die wahre Personalität konstituiert, wesentlich von der intentionalen Dualität von Noesis (Bewusstseinsakt) und Noema (Bewusstseinsinhalt) bestimmt. 188 Die akthafte 33 f. (Hervorhebungen im Original). Erstaunlicherweise ist dies ein Aspekt von Husserls Denken, der in László Tengelyis Analysen zum Begriff der Unendlichkeit in Husserls Denken praktisch keine Beachtung findet. Tengelyi konzentriert sich vornehmlich auf Husserls Verständnis von Unendlichkeit als einer nicht bloß quantitativ-transfiniten, sondern qualitativ-intensiven Größe, die für die innerweltliche Dingerfahrung grundlegend ist, geht dabei aber nicht auf den spezifisch theologischen Aspekt dieser Problematik ein, wie er sich im Zusammenhang von Husserls Analysen zur asymptotisch-unendlichen Teleologie der intersubjektiven Bewusstseinsgeschichte darstellt. Vgl. L. Tengelyi, Welt und Unendlichkeit, 507–541. 187 »Ich isoliert in meiner Endlichkeit kann in der Erkenntnis der Unendlichkeiten nicht weit kommen. Philosophie ist Aufgabe der unendlichen Erkenntnis in der Unendlichkeit der Menschheit« (E. Husserl, »Brief an Gustav Albrecht vom 26. 11. 1934«, in: ders., Briefwechsel, Bd. 9: Familienbriefe [Hua Dok III/9], 110). 188 Zu dem von Husserl postulierten Parallelismus zwischen Logik und Ethik und der damit verbundenen Interpretation der Intentionalstruktur des Wertens und Wollens vgl. E. Husserl, Vorlesungen über Ethik und Wertlehre [1908–1914] (Hua XXVIII),
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Das reine Ich als Möglichkeitsgrund von Welt, Personalität und Absolutem
Spontaneität, die in jedem Einzel-Ich aufbricht, ist als solche zwar auch schon im phänomenologischen Sinne absolut zu nennen, doch muss das Absolute auf beiden Seiten des Intentionalitätsbezuges, also auch auf der des intentionalen Gegenstandes, verwirklicht werden. Da das Noema »reine transzendentale Vernunft in absoluter theoretischer wie praktischer Vollkommenheit« jedoch kein definitorisch begrenzter Inhalt, sondern Synonym unendlicher Aktualität ist, kann es von keinem einzelnen, sich in seinen diversen Potentialitäten und Habitualitäten zeitlich entfaltenden Bewusstseinszentrum zur adäquaten Selbstgegebenheit gebracht werden und verlangt deshalb nach der asymptotischen Verwirklichung in einer die gesamte Menschheit umfassenden, intersubjektiven Vernunftgeschichte. In dem oben erwähnten Zitat bringt Husserl den Gottesbegriff ausdrücklich ins Spiel, um das unendliche Telos absolut vollkommener Personalität zum Ausdruck zu bringen, das allem ethischen Streben des Menschen zugrunde liegt. Insofern verfügt er also sehr wohl über ein personales Gottesverständnis, 189 wenngleich es den Anschein hat, dass sich dieses nie adäquat verwirklicht, sondern dem individuellen Bewusstsein nur als Idee und unendliche Aufgabe vorschwebt. Diese Zurückhaltung hinsichtlich einer innerweltlich-personalen Konkretion dieses Ideals vollkommenen Menschseins ist dem Umstand geschuldet, dass Husserl unter phänomenologischen Gesichtspunkten nicht einfach von der christlichen Lehre der Menschwerdung Gottes in der Person Jesu Christi ausgehen kann, da er damit eine inhaltliche Vorannahme in die Phänomenologie einschleppen würde, die keiner unmittelbaren Einlösung durch selbstgebende Anschauung innerhalb der Epoché fähig ist. 190 Der Aspekt der Inkarna36–69; ders., Einleitung in die Ethik. Vorlesungen Sommersemester 1920 und 1924 (Hua XXXVII), Dordrecht / Boston / London, Kluwer, 2004, 103–124. 189 Aus diesem Grund ist die Aussage von Emmanuel Housset zu nuancieren, dass Gott bei Husserl stets nur Idee, aber nie Person sei (vgl. E. Housset, Husserl et l’idée de Dieu, 172). Auch wenn Husserl Gott in seinen Frühschriften als bloßen Grenzbegriff und Limesidee bezeichnet, gelangt er im Laufe der Zeit doch dahin, ihn als vollkommene Personalität und schließlich als Wirklichkeitsgrund des menschlichpersonalen Bewusstseins zu denken. 190 In Husserls Schriften finden sich einige verstreute Hinweise auf sein phänomenologisches Verständnis der Person Jesu Christi, die den Schluss erlauben, dass er ihn nicht als Gottmenschen im traditionell-theologischen Sinne interpretiert. Auf der Grundlage der Evangelientexte erscheint er Husserl als eine »unbestimmt legendarisch« bleibende Gestalt, die nur in ethischer Hinsicht als »Verkörperung der reinsten Menschengüte«, »ideale[r] Mensch[]« und »Verkörperung einer reinen Idee« von Re-
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tion der absoluten Vernunft kommt bei Husserl dennoch ins Spiel, aber gleichsam »von unten«, 191 d. h. ausgehend von der transzendental-geschichtlichen Vergemeinschaftung der Menschen, die er nicht nur als diachrone Entwicklung individueller Subjekte und auch nicht nur als sprachlich vermittelte Kommunikationsgemeinschaft, 192 sondern als lebendige, organische Einheit höherer Ordnung begreift. In einem Text aus den Manuskripten Zur Phänomenologie der Intersubjektivität formuliert Husserl: Die überpersonale Subjektivität, die Einheit der fortlebenden und fortwirkenden Menschheit, gleicht einem physischen Organismus in seinem Bau aus Zellen, dem wir auch Einheit eines Lebens im Stoffwechsel etc. zuschreiben. […] Die organische Einheit der Menschheit erhält sich im Hineingeborenwerden neuer Einzelmenschen und Wegsterben anderer […]. Mit dem Titel »Leib für ein psychisches, und speziell personales Subjekt« kommt zudem ein neuer Begriff von Organismus hhinzui, wie auch nun zu überlegen ist, daß, wie der Einzelmensch Geist eines Leibes ist […], auch der »Mensch im großen« so etwas wie Leiblichkeit hat und eine physische Umwelt als eine Welt leiblich vermittelter Wirkungen. Der Mensch im großen, die Menschheit als historische Realität, […] hat eine Geistigkeit als real einheitliche, von Leiblichkeit getragene einheitliche Seele, etwas von einheitlicher Ichzentrierung oder heini Analogon davon, eine Einheit gemeingeistigen Seelenlebens, durch die einzelnen Subjekte hindurchlebend […]. 193
Die als innergeschichtliche Einheit betrachtete Menschheit erscheint somit nicht nur als ein Organismus höherer Ordnung, sondern als eine übergeordnete Form von Personalität, deren seelische Sphäre mehr ist als die bloße Summe der Einzelseelen und deren Geist sich nicht auf eine nur äußere Addition der einzelnen Ichzentren beschränkt, sondern diese übersteigt und zugleich durch sie hindurchlevanz ist (vgl. E. Husserl, »Formale Typen der Kultur in der Menschheitsentwicklung«, Beilage IV, in: ders., Aufsätze und Vorträge [1922–1937] [Hua XXVII], 100 f.). 191 In einem Brief an Dietrich Mahnke aus dem Jahr 1926 schreibt Husserl: »Im 2. Teil des Semesters mußte ich mein Kolleg neu gestalten, es handelte sich um die letzten Fundamente einer systematischen Phänomenologie der Weltkonstitution (von unten auf zeigen, wie Gott die Welt in ewigem Schaffen schafft)« (E. Husserl, »Brief an Mahnke vom 21. 2. 1926«, in: ders., Briefwechsel, Bd. 3: Die Göttinger Schule [Hua Dok III/3], 453 f.). 192 Vgl. E. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Zweiter Teil (Hua XIV), 201. 193 E. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Zweiter Teil (Hua XIV), 205 f.
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Das reine Ich als Möglichkeitsgrund von Welt, Personalität und Absolutem
wirkt. In der als personale Konkretion verstandenen Menschheit sind somit alle Menschen im wahrsten Sinne des Wortes »ein Leib und ein Geist«, nur dass Husserl die ethische Vollendung der menschlichen Natur nicht an einem historischen Individuum im Besonderen (in diesem Falle Jesus Christus) festmacht, sondern sie in horizontaler Richtung in das Entwicklungsmedium der Menschheitsgeschichte insgesamt hineinprojiziert. 194 Da jede Einzelperson, die Teil dieser übergeordneten organischen Einheit namens »Menschheit als ganze« ist, aber nach wie vor über ein in ihr liegenden reines Ich mitsamt der dazugehörigen Spontaneität und Freiheit verfügt, steht nicht von vornherein fest, ob die Gesamtrichtung der Menschheitsentwicklung auf das »seinsollende« Telos einer universal-ethischen Liebesgemeinschaft hinweist oder auf eine verkehrte, weil an naturalistisch-objektivistischen Kategorien orientierte Form des Menschseins – eine bloße »Tatsachenmenschheit«. 195 Auch wenn die transzendentale »Geburt« bzw. urquellende Genese des einzelnen Ich den Ursprung der bewusstseinsimmanenten Zeitlichkeit bildet und somit selbst oberhalb der Zeit geschieht, verlangt die Verwirklichung des gesamtmenschheitlichen Ideals vollkommener Personalität nach einer zeitlich-geschichtlichen Entwicklung, an der die einzelnen Vernunftwesen gleichermaßen beteiligt sind, ohne das angestrebte Ziel jemals zur Gänze erreichen zu können. Eine graduelle Zunahme der Vernunftgemäßheit menschlicher Existenz ist dennoch möglich, da nicht alle theoretischen wie praktischen Konstitutionsleistungen in jeder Epoche wieder ganz von neuem erbracht werden müssen, sondern sich in Form einer geistigen »Generativität« über die Zeit hinweg fortpflanzen und anreichern. 196 194 James G. Hart kommt zu dem Schluss, dass für Husserl sowohl Messianismus als auch Christologie lediglich Chiffren für das Ideal des Menschentums sind (vgl. J. G. Hart, The Person and the Common Life, 434). Diese Einschätzung ist nachvollziehbar, wenn man sich den starken ethischen Fokus von Husserls Religionsverständnis vor Augen hält. Allerdings könnte man aber auch ebenso gut zu dem Schluss kommen, dass der Begriff des »Menschentums« von Husserl nie nur empirisch-universal gefasst wird, sondern Träger einer soteriologischen Bedeutung ist, die außerphilosophischer, religiöser Provenienz ist. 195 »Bloße Tatsachenwissenschaften machen bloße Tatsachenmenschen« (E. Husserl, Krisis [Hua VI], 4). 196 Während der Begriff der »Genese« sich auf die zeitlich strukturierte Entwicklung des einzelnen transzendentalen Bewusstseins und die »Sedimentierung« seiner individuellen Konstitutionsleistungen bezieht, verwendet Husserl den Begriff der »Generativität« dort, wo es um die Sedimentierung und Weitertradierung von Vernunft-
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Das phänomenologische Vernunftideal ist also durchaus einer historisch-kulturellen Inkarnation fähig und auch bedürftig, doch bedeutet das nicht schon, dass jede beliebige faktisch bestehende Kultur bzw. jeder beliebige Bereich innerhalb einer jeweils gegebenen Kultur diesem Ideal wahren Menschseins in gleich hohem Maße konform wäre. Dieses kritische Caveat ist allerdings nicht in einem kulturhegemonialen Sinne zu verstehen, so als wäre in Husserls Augen die europäische Kultursphäre in sich schon vernunftgemäßer als die anderen, 197 sondern es hat einen operativen Charakter, der auch mit Blick auf die Geschichte Europas selbst zur Anwendung kommt: So kritisiert Husserl die Entwicklung, die die europäische Kultur im Laufe der Neuzeit genommen hat, nachdrücklich als »sündhafte Entartung« und Abirrung von ihrem ursprünglichen Telos, die nur durch Zuwendung zum »Heilsquell« der als Phänomenologie neubegründeten Philosophie grundlegend korrigiert und wieder auf den rechten Weg gelenkt werden kann. 198 Das zu verwirklichende Ideal reiner transzendentaler Vernunft ist also gerade nicht gleichbedeutend mit dem seit Beginn der Neuzeit beherrschend gewordenen Paradigma der mathematisch-naturwissenschaftlichen Rationalität mitsamt der in ihrem Gefolge entwickelten Technik – kurz gesagt: der »europäischen Zivilisation« des 19. Jahrhunderts –, sondern steht zu dieser wie auch zu allen anderen Formen einer gegenüber den eigenen Grenzen und Einseitigkeiten blinden Kultur in kritischer Distanz. Insofern zum Menschsein die Weitertradierung überindividueller Vernunftleistungen theoretischer wie praktischer Art wesensleistungen in einem intersubjektiv-gesamtgeschichtlichen Kontext geht (vgl. dazu A. Steinbock, »Generativity and generative phenomenology«, Husserl Studies 12 [1995], 55–79, hier 59 f.). 197 Anstatt die faktische europäische Kultur seiner Zeit philosophisch-ideologisch zu verklären, sieht Husserl gerade in ihr den deutlichsten und verhängnisvollsten Ausdruck jener naturalistischen Subjektvergessenheit, die für die von ihm konstatierte »Krise« des Menschentums verantwortlich ist. Vgl. dazu K.-H. Lembeck, Gegenstand Geschichte. Geschichtswissenschaftstheorie in Husserls Phänomenologie (Phaenomenologica 111), Dordrecht / Boston / London, Kluwer, 1988, 35; P. Janssen, Geschichte und Lebenswelt. Ein Beitrag zur Diskussion von Husserls Spätwerk (Phaenomenologica 35), Den Haag, Nijhoff, 1970, 29; E. W. Orth, »Einheit und Vielheit der Kulturen in der Sicht Edmund Husserls und Ernst Cassirers«, in: C. Jamme / O. Pöggeler (Hg.), Phänomenologie im Widerstreit. Zum 50. Todestag Edmund Husserls, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 1989, 332–251. 198 Vgl. E. Husserl, »Fünf Aufsätze über Erneuerung«, Beilage I; Beilage X, in: ders., Aufsätze und Vorträge [1922–1937] (Hua XXVII), 95. 125.
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Das reine Ich als Möglichkeitsgrund von Welt, Personalität und Absolutem
mäßig dazugehört, ist Kultur als solche ein unabdingbarer Bestandteil menschlicher Existenz, nicht aber notwendigerweise »dieses oder jenes« kulturelle Einzelphänomen. Das bedeutet, dass sich innerhalb der historisch-menschheitlichen Inkarnation reiner transzendentaler Vernunft noch einmal eine Differenz auftut, die auf dem prinzipiellen Überschuss der generativen Dynamik des Ichbewusstseins gegenüber all seinen innerweltlich phänomenalisierbaren Objektivierungen beruht. So, wie sich die vom transzendentalen Einzelbewusstsein teleologisch konstituierten Gegenstände und habitualisierten Haltungen in seine Bewusstseinsgeschichte einfügen, ohne deren beständige Selbstproduktion je auszuschöpfen, so kann auch innerhalb der Bewusstseinsgeschichte der Menschheit als ganzer jede konkrete, begrenzte Selbstobjektivierung in Form kultureller oder politischer Gebilde sowie jede sedimentierte Teiltradition zu jeder beliebigen Zeit vom Standpunkt der als permanente Selbst(neu)schöpfung verstandenen transzendentalen Vernunft auf ihre Legitimität hin befragt und gegebenenfalls im Sinne einer höheren Konformität mit dem ethischen Ideal des Menschseins verändert werden. Die Idee der »wahren« Menschheitskultur ist somit nicht einfach mit der europäischen Kultur als historisch-faktischem Phänomen identisch, sondern verwirklicht sich zunächst einmal nur dort, wo sich das einzelne Ich seiner überweltlichen Natur bewusst wird und sich als solches ausdrücklich thematisiert – d. h. im Bereich der von Husserl entwickelten Transzendentalphänomenologie. Diese erscheint einerseits – von außen betrachtet – als ein relatives, begrenztes Teilphänomen der europäischen Philosophietradition, 199 hat andererseits jedoch – aus der phänomenologischen Innenperspektive – eine durchaus universale, letztlich auf die Selbsttransformation der ganzen Menschheit abzielende Bedeutung. Damit stellt sich die Frage, worauf sich die normative Kraft der phänomenologischen Philosophie gründet und in welchem Verhältnis die Philosophen zum Rest der Gesellschaft stehen müssen, wenn ihre Tätigkeit eine nicht nur innerakademische, sondern universale Relevanz haben soll.
199 »Wie alles Transzendentale hat sie [d. h. die Phänomenologie, M. R.] ihre Verweltlichung und tritt in der Welt als transzendentale Phänomenologie historisch-faktisch, in der faktischen Gegenwart des 20. Jahrhunderts usw. auf« (E. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Dritter Teil [Hua XV], 161).
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2.5
Transzendentale »Verblendungsgeschichte« und phänomenologische »Heilsgeschichte«
Angesichts des Pathos, mit dem Husserl die radikale Neuheit der von ihm begründeten Phänomenologie gegenüber allen bisherigen Formen des Philosophierens vertritt, ist seinen Ausführungen ein gewisses prophetisches Sendungsbewusstsein nicht abzusprechen. 200 Das bedeutet jedoch nicht, dass er seiner individuellen Person als solcher eine besondere Bedeutung zumessen würde 201 oder gar bestrebt wäre, der Kaste der berufsmäßigen Philosophen insgesamt eine elitäre Sonderrolle innerhalb der Gesellschaft im innerweltlichen, politisch-kulturellen Sinne zuzuerkennen. Im Gegenteil: seine Betrachtung der Philosophiegeschichte ist über weite Strecken hin eine Kritik an den immer wieder neu unternommenen und letztlich doch verfehlten Anläufen, dem eigentlichen Telos der Menschheitsentwicklung, dem Ideal reiner transzendentaler Vernunft, zum Durchbruch zu verhelfen. Bei Aristoteles erkennt Husserl den ersten Versuch, eine Wissenschaft von der Subjektivität zu entwickeln, die allerdings noch auf einer psychologisch-naturphilosophischen Ebene verbleibt und daher nicht zum Wesen des Bewusstseins als Bewusstsein vordringt. 202 Ein nennenswerter Neuansatz in dieser Richtung erfolgt erst bei Descartes, der das Ich als solches zum archimedischen Dreh- und Angelpunkt seiner philosophischen Neubegründung erhebt, dabei aber das in dieser Entdeckung liegende Potential aufgrund undurchschauter psychologisch-naturalistischer Restbestände in seiner Konzeption des ego nicht auszuschöpfen vermag. Folglich diagnostiziert Husserl bei zahlreichen anderen neuzeitlichen Philosophen, vor allem den englischen Empiristen, einen Rückfall in eine »verweltlichte« Missdeutung der Subjektivität im Zeichen eines naiven Sensualismus und Psychologismus. 203 Leibniz billigt er zwar die grundsätzlich richtige Einsicht in die immaterielle Natur des Bewusstseins und dessen Fähigkeit zur direkten »Ideenschau« zu, bescheinigt ihm dafür aber, mit der konkreten Ausgestaltung seiner Monadologie noch gewissen meVgl. E. Husserl, Erste Philosophie. Zweiter Teil (Hua VIII), 11. 17. »Doch lassen wir das (für den reinen, unbeteiligten Zuschauer der Epoche) höchst wundersame Phänomen deutscher Gegenwart und in ihr das armselige philosophische Kriechtier Ehdmundi Hhusserli in Ruhe« (E. Husserl, Grenzprobleme der Phänomenologie [Hua XLII], 228). 202 Vgl. E. Husserl, Erste Philosophie. Erster Teil (Hua VII), 52 f. 203 Vgl. E. Husserl, Erste Philosophie. Erster Teil (Hua VII), 78–182. 200 201
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Das reine Ich als Möglichkeitsgrund von Welt, Personalität und Absolutem
taphysischen Denkfiguren verhaftet geblieben zu sein. 204 Selbst Kants transzendentalphilosophische Kritik des naiv-dogmatischen Rationalismus wie des empiristischen Skeptizismus bleibt in Husserls Augen noch hinter den selbstgesetzten Ansprüchen zurück, da sie die Vorgaben der damaligen Naturwissenschaft – vor allem mit Blick auf den Begriff der Kausalität – fraglos übernimmt und die Möglichkeit einer Beziehung der Erkenntnis auf Gegenstände einfach voraussetzt, ohne den Konstitutionsprozess von Gegenständlichkeit als solcher zu problematisieren. 205 Angesichts dieses Befundes erscheint die Philosophiegeschichte also mitnichten als triumphale, über die einzelnen Epochen hinweg zu immer höheren Vollkommenheitsstufen fortschreitende Selbstentfaltung der absoluten Vernunft, sondern als Geschichte eines beständigen Scheiterns, in der das eigentlich Gewollte und Gesollte immer wieder dunkel erahnt und angestrebt wird, ohne je die ihm angemessene Einlösung zu finden. Dieses Misslingen ist dabei aber nicht nur von innerphilosophischer Bedeutung, sondern hat weitreichende anthropologische Konsequenzen, da eine naturalistische oder anderweitige Missdeutung der Subjektivität auch zu einem falschen Selbstverständnis des Menschen als eines Vernunftwesens im ethisch-existenziellen Sinne führt. Aus diesem Grunde kleidet Husserl seine Diagnose der sich durch die gesamte Philosophiegeschichte ziehenden subjekttheoretischen Rückschläge in eine Terminologie, die weniger einen philosophisch-wissenschaftstheoretischen als vielmehr einen theologisch-religiösen Charakter besitzt: Metaphysik als eine verwandelte Phänomenologie […] soll Wissenschaft als eine bloße Technik verständlich machen und zugleich die rein wissenschaftliche Weltanschauung (die, wie man meint, dann eo ipso naturwissenschaftlich sein müsste) als Abfall des Menschen von seiner echten Existenz entwerten. 206
Und an anderer Stelle formuliert er noch deutlicher: Jeder einzelne Mensch unterliegt einer absoluten Norm. […] Ferner, ein naiv reflexionsloses Dahinleben führt zur Sünde. Der Mensch als Mensch ist mit der Erbsünde behaftet, sie gehört zur Wesensform des Menschen. Als Mensch ist er Subjekt der Selbstreflexion, und zwar Stellungnahme zu
204 205 206
Vgl. E. Husserl, Erste Philosophie. Erster Teil (Hua VII), 182–199. Vgl. E. Husserl, Erste Philosophie. Erster Teil (Hua VII), 224–229. E. Husserl, Grenzprobleme der Phänomenologie (Hua XLII), 235.
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Die egologisch-monadologische Vergemeinschaftung von Mensch und Gott
sich selbst, wertender und praktischer, Subjekt eines »Gewissens«, und als das steht er unter einer absoluten Wertnorm. Er soll in jedem Fall nach bestem Wissen und Gewissen sich praktisch entscheiden, er soll nicht nach Neigung passiv sich treiben lassen, soll frei wollen und sich dann frei für das Gute entscheiden, für das, was er erkennend (wenn auch vielleicht irrend) für das Gute erkennt. Nur dann kann er ein »guter Mensch« sein. 207
Die auf dem Boden eines angemessenen, über sich selbst Rechenschaft ablegenden Vernunftverständnisses durchgeführte Reflexion ist somit notwendig, um nicht in »Sünde« zu verfallen, die in diesem Zusammenhang weniger als Verstoß gegen Gott denn vielmehr als Abfall vom eigenen wahren Menschsein zu verstehen ist. Insofern die Phänomenologie dem Philosophietreibenden dazu verhilft, sich nicht nur, wie bei Kant, unter ethisch-praktischen Gesichtspunkten als freies, intelligibles Subjekt zu begreifen, sondern sich auch im Bereich der theoretischen Erkenntnis als konstitutiver Ursprung der Welt zu verstehen, 208 kommt der Phänomenologie eine Rolle zu, die man geradezu als »heilsbedeutsam« bezeichnen könnte; befähigt sie den Menschen doch dazu, auch zu den objektiven Wissenschaften und deren vermeintlicher Deutungshoheit mit Blick auf das Verhältnis des Menschen zur Naturwirklichkeit nochmals kritisch auf Distanz zu gehen. Die Verwirklichung des wahren Menschseins ist für Husserl keine Option unter anderen, die man sich zu eigen machen könnte oder auch nicht, sondern hat den Charakter eines absolut Seinsollenden, das gleichwohl nur durch einen grundlegenden Akt der Freiheit des reinen Ich im Menschen verwirklicht werden kann. Dabei liegt das, was das »wahre Selbst« des Menschen ausmacht, immer schon in ihm, ohne ihm unmittelbar als solches bewusst und 207 E. Husserl, »Fünf Aufsätze über Erneuerung«, in: ders., Aufsätze und Vorträge [1922–1937] (Hua XXVII), 44. 208 In der Vorlesung Erste Philosophie übt Husserl harsche Kritik an der Philosophie der Aufklärung, die den Menschen in einen unnötigen Dualismus von Natur und Freiheit hineingestellt habe: »Das ist der Grundgedanke der ›Aufklärung‹ […]; statt dem Menschen die Pforten echter Freiheit weit zu öffnen und ihr Machtmittel beizustellen, scheint sie ihn selbst in einen unfreien Tatsachenkomplex zu verwandeln und einer sinnlosen Weltmaschinerie als Teilmaschine einzuordnen. Statt ihm wissenschaftliche ›Anweisungen zu einem seligen Leben‹ zu geben, statt ihm die in tiefsten Gefühlsevidenzen geborgene religiöse Wahrheit der Gotteskindschaft und eines Gottesreiches in eine wissenschaftliche Wahrheit zu verwandeln und die Wege eines echt humanen Lebens mit dem lumen naturale der theoretischen Vernunft zu erleuchten, macht sie aus Natur und Freiheit eine unverständliche Antinomie« (E. Husserl, Erste Philosophie. Zweiter Teil [Hua VIII], 230 f.).
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Das reine Ich als Möglichkeitsgrund von Welt, Personalität und Absolutem
zugänglich zu sein. Vielmehr ist es zunächst verdeckt und unthematisch und muss erst durch den bewussten Vollzug der transzendentalen Reduktion freigelegt werden: Die transzendentale Subjektivität ist in der menschlichen Weltlichkeit nicht vorgegeben und doch in ihr »verhüllt«, sofern der Mensch, der, sich selbst und die Welt »wissend« und in diesem Wissen für sich Mensch seiend, transzendentale Reduktion vollziehen und seine Weltlichkeit durchbrechen kann. Sozusagen eine transzendentale Verblendung ist die Weltlichkeit, die ihm vor der phänomenologischen Reduktion, als an den Horizont der Vorgegebenheit Gebundenen, das Transzendentale notwendig unzugänglich macht, aber auch ihm jede mögliche Ahnung davon verschließt. 209
Demnach ist der naturalistische Verblendungszusammenhang, in dem der Mensch zunächst befangen ist, derart undurchdringlich, dass er sich ohne äußere Hilfe daraus nicht zu befreien vermag. An dieser Stelle kommen nun die berufsmäßigen Philosophen ins Spiel. In einer berühmt gewordenen Formulierung bezeichnet Husserl die Phänomenologen als »Funktionäre der Menschheit«, 210 was einen entscheidenden Hinweis auf die Rolle gibt, die dem Philosophen im Rahmen seiner Sozialphilosophie zukommt. Der Begriff des »Funktionärs« ist hier nicht in dem Sinne zu verstehen, als würde die Aufgabe der transzendentalen Selbstbewusstwerdung von der gesamten Menschheit in stellvertretender Weise an die kleine Gruppe der berufsmäßigen Philosophen delegiert, denen somit eine permanente Sonderstellung in der Gesellschaft zukäme. 211 Die Funktion des Phänomenologen ist aber auch von der des »Philosophenkönigs« im platonischen Sinne klar unterschieden, da die philosophierende Gemeinschaft menschlicher Vernunftmonaden sich mit keiner real exis209 E. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Dritter Teil (Hua XV), 389 (Hervorhebung im Original). 210 E. Husserl, Krisis (Hua VI), 15. 211 Anders, als James G. Hart dies darstellt (vgl. J. G. Hart, »I, We, and God«, 143), begründet die Sonderstellung der Philosophen bei Husserl keinen dauerhaft separaten Stand, sondern ist nur provisorisch-operativer Natur. Die Philosophen sind lediglich die Werkzeuge einer transzendentalen Umwandlung der Menschheit als ganzer, in deren Verlauf ihre besonders geartete Stellung sich selbst aufhebt: »Die Philosophen sind die berufenen Repräsentanten des Geistes der Vernunft, das geistige Organ, in dem die Gemeinschaft ursprünglich und fortdauernd zum Bewußtsein ihrer wahren Bestimmung (ihres wahren Selbst) kommt, und das berufene Organ für die Fortpflanzung dieses Bewußtseins in die Kreise der ›Laien‹« (E. Husserl, »Fünf Aufsätze über Erneuerung«, in: ders., Aufsätze und Vorträge [1922–1937] [Hua XXVII], 54; Hervorhebung d. Verf.).
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Die egologisch-monadologische Vergemeinschaftung von Mensch und Gott
tierenden Institution identifizieren und sich von keiner vereinnahmen lassen darf, sondern quer zu allen anderen endlichen Konfigurationen politischer wie kultureller Art steht und sie auf das Unendliche hin übersteigt. Die Tätigkeit des Phänomenologen richtet sich vielmehr an das einzelne ichliche Vernunftbewusstsein, um es aus seiner transzendentalen Verblendung zu wecken, ihm den überweltlichen Charakter des in ihm liegenden reinen Ich zu enthüllen und es in den unüberschreitbaren Universalhorizont der Menschheit als ganzer hineinzustellen. Die phänomenologischen Philosophen haben somit keine herrschende, sondern eine dienende Funktion, insofern sie lediglich in zeitlicher Hinsicht die ersten sind, die zu einem Selbstbewusstsein vorgedrungen sind, das grundsätzlich allen Menschen zu eigen sein kann und ihnen durch phänomenologische Anleitung im Laufe der Zeit auch tatsächlich zu eigen werden soll. 212 Die solcherart angestrebte »transzendentale Liebesgemeinschaft«, von der Husserl spricht, kann somit nicht mit innerweltlichen Mitteln herbeigezwungen werden, sondern verdankt sich dem freien Entschluss einzelner Menschen, sich nicht mehr als Teil der Welt bzw. als Mitglieder endlicher Ordnungs- und Regelsysteme zu verstehen, sondern als überweltliche Ichzentren und Teilnehmer an einem gemeinschaftlichen Streben, dessen Telos im Unendlichen liegt. Die Philosophen können hierfür nur Vorbilder sein und ihre Mitmenschen dazu anleiten, das reine Ich in sich freizulegen und ihm entsprechend zu leben, ohne dass damit jedoch ein politischer oder gesellschaftlicher Machtanspruch verbunden wäre. 213 Gerade weil es in Husserls Verständnis der Gesamtmenschheit als universaler Liebesgemeinschaft letztlich um eine Form von nichtphänomenalisierbarer Unendlichkeit geht, bestünde die Gefahr eines Abgleitens ins Totalitäre, wenn diese Gemeinschaft nicht auf der Ebene einer ideal-intentionalen Verknüpfung einzelner reiner Ich verbliebe, sondern dieser Gemeinschaft einen innerweltlich-realen, institutionellen Ausdruck verschaffen wollte. Der Begriff der »Enthüllung« von etwas vormals Verborgenem ist dabei insofern bedeutsam, als er das deutsche Äquivalent zum lateinischen Terminus revelatio darstellt, der auch für die »Offenbarung« im religiösen Sinne benutzt wird. Folgerichtig spricht Husserl in der Krisis-Schrift von der Philosophie als »historische[r] 212 213
Vgl. K. Schuhmann, Husserls Staatsphilosophie, 164 f. Vgl. K. Schuhmann, Husserls Staatsphilosophie, 164 f.
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Das reine Ich als Möglichkeitsgrund von Welt, Personalität und Absolutem
Bewegung der Offenbarung der universalen, dem Menschentum als solchem ›eingeborenen‹ Vernunft«. 214 Die Phänomenologen haben also kein grundsätzliches Privileg gegenüber den Nichtphilosophen, sondern sind mit der Aufgabe betraut, alle Menschen zur Erkenntnis des immer schon in ihnen liegenden transzendentalen ego zu führen und sie dadurch zu befähigen, alle endlichen, bedingten Konfigurationen innerweltlicher Sozialitäten und Gemeinschaftsformen auf den unendlich offenen Horizont der »Menschheit als ganzer« hin zu übersteigen. 215 Insofern diese transzendentale Monadengemeinschaft nicht einfach synchron gegeben ist, sondern sich beständig im Werden befindet und das ihr eigene Telos der reinen transzendentalen Vernunft nie adäquat, sondern immer nur näherungsweise verwirklichen kann, wohnt ihr grundsätzlich eine Transzendenz inne, die nicht auf eine transphysische »Hinterwelt« verweist, sondern auf einen prinzipiellen Überschuss des Leistungssinnes reiner Allsubjektivität gegenüber der Summe aller faktisch existierenden, transzendentalen Ichsubjekte. 216 Folgerichtig verweist Husserl dort, wo er noch eine Brücke zur aristotelischen Metaphysik zu schlagen versucht, nicht mehr auf deren ontologische Definition als Wissenschaft vom »Seienden als solchem«, sondern allein auf ihre theologische Dimension, die zugleich den Grundgedanken einer Teleologie der Welt im Allgemeinen und aller Vernunftwesen im Besonderen beinhaltet. 217 Von diesem teleologischen Ansatz des phänomenologischen Vernunftverständnisses her gibt es zwar keine göttliche »Offenbarung« im engeren Sinne des Wortes, sehr wohl jedoch so etwas wie ein philosophisch thematisierbares Offenbarwerden des Absoluten, das in der graduellen Bewusstwerdung und sukzessiven Verwirklichung des Ideals reiner, transzendentaler Vernunft besteht. In dem Maße, E. Husserl, Krisis (Hua VI), 13 f. »Es besondern sich Gemeinschaften und Gemeinschaftsumwelten bis hinauf zu einer europäischen oder irdischen Menschheit, die doch noch nicht die Idee der Menschheit im universalsten Sinne erfüllt, sofern hier ein Wesensbegriff vom Menschen in Frage ist, der es offen lässt, ob nicht noch außerhalb der Erde Menschen als Mitträger unserer Welt leben, Menschen, die, sowie sie in faktische Verständnisbeziehungen zu uns treten, alsbald zur Mitkonstitution der Welt berufen und befähigt wären« (E. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Dritter Teil [Hua XV], 163). 216 Vgl. E. Husserl, Grenzprobleme der Phänomenologie (Hua XLII), 164. 167 f. 217 »Aristotelische Metaphysik als universale Teleologie. Sein Begriff der Theologie« (E. Husserl, Grenzprobleme der Phänomenologie [Hua XLII], 253). 214 215
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Die egologisch-monadologische Vergemeinschaftung von Mensch und Gott
wie diese Vernunft nicht als bloßes Erkenntnisvermögen, sondern als beständige Selbstproduktion und lebendige Spontaneität verstanden wird, ist sie in sich zugleich auch der Ursprung alles ethischen Wirkens und begründet damit die Möglichkeit einer idealen Form menschlicher Vernunftgemeinschaft, die das phänomenologische Äquivalent zum »Reich Gottes auf Erden« darstellt. 218 Während Meister Eckhart die heilsgeschichtlichen Texte der Bibel so deutet, dass aus ihnen die überzeitliche Gemeinschaft aller »ich«-sagenden Vernunftwesen hervorgeht, verlangt bei Husserl der aus den Strukturen des reinen Ich abgeleitete Begriff einer Vernunftmenschheit nach einer innerzeitlichen teleologischen Entwicklung, in deren Verlauf die Philosophiegeschichte selbst zur Heilsgeschichte wird.
2.6
Vernunft und Glückseligkeit: Leben als Teilhabe am absoluten Logos
In Husserls Deutung des »wahren Menschseins« kommt das Göttliche zunächst als Idee schlechthin vollkommener Personalität ins Spiel, die dem ethischen Streben des Menschen eine ins Unendliche gehende Dynamik verleiht. Auf dieser Ebene könnte man Husserls Gottesbegriff noch mit dem kantischen Verständnis Gottes als regulativer Idee auf eine Stufe stellen, 219 da es sich hierbei immer noch um einen Limesbegriff handelt, der als anzustrebender dem Bewusstsein in gewisser Weise zwar innewohnt, aber nie in den Modus unmittelbarer Selbstgegebenheit zu überführen ist. Doch neben diesem ethisch gewendeten Gottesverständnis findet sich bei Husserl noch ein anderer Ansatz, der das Göttliche im Sinne einer realen Immanenz des Wirkens im einzelnen ego bzw. der Gemeinschaft aller reinen Ich-Subjekte deutet und diese akthafte Präsenz nicht nur auf den Bereich des praktischen Handels beschränkt, sondern sie auf die Vernunft als solche ausweitet. 220 In seinen Nachlassmanuskripten mit Vgl. E. Husserl, Aufsätze und Vorträge [1922–1937] (Hua XXVII), 118–122. So auch die Deutung bei J. G. Hart, »I, We, and God«, 128. 220 Wie Dorion Cairns berichtet, war Husserl der Überzeugung, dass man mit Blick auf Gottes Verhältnis zur Welt im eigentlichen Sinne weder sagen könne, er sei »in« der Welt noch »außer« ihr, da »Innen« und »Außen« noch mundane Begriffe seien. Als Prinzip des Guten müsse Gott aber wesenhaft weltlich gedacht werden, wenn auch nicht im Sinne einer dinglichen Immanenz (vgl. D. Cairns, Conversations with Husserl and Fink, 46 f.). 218 219
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Das reine Ich als Möglichkeitsgrund von Welt, Personalität und Absolutem
dem Titel Zur phänomenologischen Reduktion vollzieht Husserl erstmals in dieser Deutlichkeit die Identifikation des reinen Ich mit dem Göttlichen, das nun nicht mehr nur als Idee, sondern als Wirklichkeit im vollen Sinne des Wortes verstanden wird: Die Ichpole die Gottesstätte. Gott lebt in den Gotteskindern. Jeder echte Vernunftakt ist ein Gottesakt. […] Es ist ein absolutes Leben und es ist ein Leben der Endlichkeit im Einzelnen und in der Zeit. Und in ihm wirkt als das allein endgültige Wirksame und in allem Wirken Wirkende der »Ewige«, die Gottheit, gegen die hin alles ihm eingeborene Egologische hinlebt. Jedes Einzel-Ich ein Strahl der Gottheit, aber auch jede Gemeinschaft in »Entfernung« von der Gottheit. 221
In diesen Sätzen ist der Anklang an Meister Eckhart unverkennbar, da Husserl hier – im Gegensatz zu den Ideen I – auch schon das durch die Epoché transzendental vereinzelte Ich als Ort der Verwirklichung des phänomenologisch verstandenen Gottes (»Strahl der Gottheit«) anerkennt. Darüber hinaus definiert er die Beziehung des Einzel-Ich zum Göttlichen in einer Terminologie, die ein Echo des eckhartschen Gottesgeburtsgedankens in seiner wesenhaften Reziprozität darstellt: Gott lebt nicht nur in den menschlichen Ichzentren, sondern diese werden wiederum in ihm »eingeboren« und sind somit Teil seines Lebenszusammenhangs. Als Durchbruchspunkt des reinen Bewusstseins in seiner wesenhaften Aktualität ist somit auch das einzelne Ich schon göttlicher Natur. Auch der Umstand, dass Husserl Gott nicht als »unendliche Substanz« oder »das Sein schlechthin«, sondern als »Wirken« und »Leben« charakterisiert, ist eine unverkennbare Reminiszenz an Eckharts Gottesverständnis. 222 Doch ist dieses »Leben der Gottheit«, das im einzelnen reinen Ich durchbricht, noch nicht ausreichend, um die Fülle der göttlichen Wirklichkeit auszuschöpfen. Das phänomenologische Verständnis der Wirklichkeit Gottes ergibt sich nicht schon allein aus dem apodiktischen Faktum des einzelnen ego als Stätte des göttlichen Lebens, sondern aus dem Zusammenspiel zwischen der geschichtlich-teleologischen Dynamik der Pluralität ichlicher Bewusstseinszentren und dem von ihnen angestrebten, doch nie vollkommen adäquat zu verwirklichenden transzendentalen Vernunftideal. So gesehen, »ist« Gott bei Husserl nie in vollendeter Form gegeben, sondern befindet sich zugleich auch im »Werden«, sofern er nicht nur in den reinen Ichpolen durchbricht, sondern sich in deren 221 222
E. Husserl, Zur phänomenologischen Reduktion (Hua XXXIV), 27. Vgl. Eckhart, Pr. 6, DW I 109,10–110,7.
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Die egologisch-monadologische Vergemeinschaftung von Mensch und Gott
monadologisch-verleiblichter, innerzeitlicher Existenz konkretisiert und so in der Menschheit als ganzer sukzessiv inkarniert. 223 Diese Immanenz des Göttlichen ist der Grund dafür, dass der asymptotisch zu verringernde, aber nie gänzlich zu eliminierende Ausstand bei der Umsetzung des ethischen Ideals absoluter personaler Vollkommenheit dennoch keinen Hiatus aufreißt, der nur unter der Voraussetzung eines postmortalen, jenseitig verstandenen »ewigen Lebens« zu schließen wäre. In seinen 1917 gehaltenen Vorlesungen über »Fichtes Menschheitsideal« skizziert Husserl die Entwicklung des Verhältnisses von Moralität und Religion bei Fichte, das von einer einfachen Identifikation Gottes mit der sittlichen Weltordnung zu einer differenzierteren Sicht fortschreitet, die religiöses Leben als »Leben in Gott« definiert. In beiden Fällen hat man es dabei mit einem Denken des Göttlichen in der Immanenz zu tun, nur dass im ersten Fall die »Unsterblichkeit« des Ich in der Unendlichkeit seiner sittlichen Aufgabe besteht, deren beseelende Zweckidee mit Gott gleichgesetzt wird, 224 während im zweiten Fall Gott dem Ich unmittelbar innewohnt, so dass sie einen einzigen Lebenszusammenhang bilden. Interessanterweise schlägt Husserl an dieser Stelle eine Brücke zwischen Fichtes Denken und der mystischen Tradition, denn er schreibt: Gott ist ihm [d. h. Fichte, M. R.] jetzt das ewige, unveränderliche, einige Sein, das sich im Ich offenbart. Und darin liegt: Es offenbart sich in der unendlichen Folge von Tathandlungen, in denen sich die physische und geistige Welt als Phänomen konstituiert. Es offenbart sich, das sagt wieder, 223 Auffallenderweise deutet Husserls Schüler Dietrich Mahnke Eckharts Gott als einen »Gott im Werden«, obwohl Eckhart selbst Gott eher als eine Wirkmacht versteht, die im Sinne einer allzeitlichen Präsenz innerhalb der Geschichte gegenwärtig ist, ohne jedoch in deren Verlauf einen Zuwachs an Realität zu erfahren. In Mahnkes stark leibnizianisch-monadologischer Eckhart-Deutung klingen zahlreiche Motive an, die sich in fast unveränderter Form dann auch bei Husserl finden: »So kann man es mit Meister Eckehart das Werden Gottes nennen, wenn die Elemente der leblosen Natur zu Organismen zusammentreten, wenn die Tiere zu immer klarerem Selbstbewußtsein gelangen, wenn die einzelnen Menschengeister sich im Gemeinschaftsleben zu einem höheren Gesamtbewußtsein vereinigen, wenn aus den Gliedern eines Volkes der gemeinsame Volksgeist, aus den Völkern der Erde im Ringen der staatlichen und geistigen Geschichte der Menschheitswille erwächst« (D. Mahnke, Eine neue Monadologie [Kantstudien, Ergänzungshefte 39], Berlin, Reuther & Reichard, 1917, 44 f.). 224 Vgl. E. Husserl, »Fichtes Menschheitsideal«, in: ders., Aufsätze und Vorträge [1911–1921] (Hua XXV), 267–295, hier 277 f. 281.
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Das reine Ich als Möglichkeitsgrund von Welt, Personalität und Absolutem
es reflektiert sich, es schafft sich ein Abbild, nämlich in Form des Bewußtseins, ein Abbild, das andererseits doch nichts von Gott selbst Getrenntes ist. In dieser Folge von Reflexionen, von Bewußtseinsakten soll sich aber das göttliche Sein, und notwendigerweise, gleichsam verdecken, und die Gradualität dieser Verdeckung, die im Neuplatonismus ihr Analogon hat in der Stufenfolge der Gottentfremdung, in der Stufenfolge von Licht und Finsternis, ich sage, die Gradualität dieser Verdeckung ist so gedacht, daß in den höheren Stufen der im Bewußtsein Gott verhüllende Schatten immer durchsichtiger wird, bis auf der höchsten Stufe das vollkommene GottSchauen und damit Mit-Gott-eins-Sein erreicht ist. (Es ist die reversio oder deificatio der Mystik.) 225
Wie Husserl selbst ganz richtig bemerkt, klingen in diesem Passus gleich mehrere Themen an, die Fichte auf den ersten Blick mit der Tradition des Neuplatonismus und der Mystik verbinden und die sich, so kann man hinzufügen, ebenso auch bei Meister Eckhart wiederfinden lassen. Das gilt vor allem für den besonders gearteten Charakter des ichlichen Bewusstseins, das sich aufgrund seiner als Selbsterkenntnis verstandenen, prozessualen Abbildhaftigkeit in einem gewissen Gegenüber zu Gott befindet, ohne doch von ihm getrennt zu sein. In dem Maße, wie das Bewusstsein Gott jedoch mittels der Reflexion – also durch vergegenständlichende Denkakte – zu erkennen versucht, bleibt er ihm gerade verborgen, da er grundsätzlich nicht auf mittelbare Weise erkannt, sondern nur unmittelbar geschaut werden kann. Das Ich muss sich daher der vermittelnden Barrieren des Reflexionsdenkens entledigen, um in der Reinheit der eigenen Bewusstseinsaktualität Gott erfassen und mit ihm eins sein zu können. Der Umstand, dass Husserl hier ausdrücklich die Termini der reversio (Rückkehr) und deificatio (Vergöttlichung) verwendet, ist der Beweis dafür, dass er direkt von der mystischen Tradition beeinflusst ist und Fichte daher in einer Perspektive liest, die über dessen philosophisch-religiöses Selbstverständnis hinausgeht. So erwähnt Fichte in dem von Husserl behandelten Text (Die Bestimmung des Menschen) die Mystik überhaupt nicht und verwendet diesen Begriff in seinen anderen Schriften vor allem im Zusammenhang mit der Fremdwahrnehmung seiner Philosophie des Absoluten, während er selbst strikt daran festhält, dass sein Denken ausschließlich spekulativer Natur ist und keinesfalls auf mystischen 225 E. Husserl, »Fichtes Menschheitsideal«, in: ders., Aufsätze und Vorträge [1911– 1921] (Hua XXV), 283 (Hervorhebungen im Original).
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Die egologisch-monadologische Vergemeinschaftung von Mensch und Gott
Intuitionen und Erlebnissen beruht. 226 Aber auch in sachlicher Hinsicht gibt es zwischen seiner Philosophie und der klassischen Mystik bedeutsame Unterschiede. Erstens hält Fichte trotz der scheinbaren mystischen Anklänge in vielen seiner Schriften stets daran fest, dass eine vollkommene Einheit mit Gott für den Menschen weder im Diesseits noch im Jenseits erreichbar ist. Der Mensch kann sich im Bereich des sittlichen Handelns zwar in infinitesimaler Weise Gott annähern, so dass man sagen kann, dass Gott in ihm wirkt, doch ist diese Immanenz des Göttlichen auf die aktive Selbsttätigkeit des Willensaktes beschränkt und begründet kein reales Einssein im existenziellen Sinne. 227 Demgegenüber betont die klassische Mystik, dass das Einswerden mit Gott gerade nicht durch eigenes Tun herbeigeführt werden kann, sondern die Grundhaltung der Passivität und des »Geschehenlassens« voraussetzt. 228 Zweitens führt bei Fichte das »absolute Wissen« im Bereich der theoretischen Erkenntnis nicht zu einer Abstoßung der niedrigeren Stufen des relativen Wissens, sondern dieses hat trotz seines approximativen, bildhaften Charakters eine bleibende vermittelnde Funktion. 229 In der Mystik setzt die Einheit mit Gott dagegen das Lassen von allen vermittelnden, geschöpflichen Bildern und Vorstellungen voraus, so dass der Mensch nur in dem Maße Gott erkennen kann, wie er die Erkenntnis der endlichen Wirklichkeit überstiegen und hinter sich gelassen hat. Und schließlich kommt es bei Fichte nie zu einer univoken Korrelation des ichlichen Lebens in Gott und im Menschen, sondern letzterer ist sich in der Anschauung der Beziehung Gottes zu ihm zugleich auch der eigenen 226 Den ausdrücklichen Brückenschlag zwischen seinem eigenen Denken und der mystischen Tradition vollzieht Fichte in Die Anweisung zum seligen Leben, doch auch dann verwendet er den Begriff des »Mystizismus« eher im Zusammenhang mit den Anwürfen, die von außen an seine Philosophie herangetragen werden, als für die Charakterisierung dessen, was seinen eigenen philosophischen Ansatz und die damit verbundene Vorstellung einer verinnerlichten Religion ausmachen sollte (vgl. J. G. Fichte, Die Anweisung zum seligen Leben [Gesamtausgabe, Bd. I/9], Stuttgart / Bad Cannstatt, Frommann-Holzboog, 1995, 49. 75–77. 113). 227 Vgl. J. G. Fichte, Die Bestimmung des Menschen (Gesamtausgabe, Bd. I/6), Stuttgart / Bad Cannstatt, Frommann-Holzboog, 1981, 279 f. 285. 291. 296 sowie dazu K. Ceming, Mystik und Ethik bei Meister Eckhart und Johann Gottlieb Fichte, 196– 198. 228 Vgl. A. M. Haas, Gottleiden – Gottlieben. Zur volkssprachlichen Mystik im Mittelalter, Frankfurt a. M., Insel Verlag, 1989. 229 Vgl. J. G. Fichte, Die Bestimmung des Menschen (Gesamtausgabe, Bd. I/6), 250– 252 sowie dazu W. Ritzel, Fichtes Religionsphilosophie, Stuttgart, Kohlhammer, 1956, 170 f.
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Das reine Ich als Möglichkeitsgrund von Welt, Personalität und Absolutem
Endlichkeit bewusst. 230 Die Gottebenbildlichkeit ist im einzelnen Ich daher in qualitativer Hinsicht nie vollkommen verwirklicht, sondern erreicht im Verlauf der Menschheitsgeschichte lediglich einen immer höheren quantitativen Verwirklichungsgrad, insofern ständig neue Individuen hinzukommen, deren endliche Iche eine Teilerscheinung des absoluten Ich darstellen. 231 Husserl geht über Fichtes Gottesverständnis hinaus, 232 insofern er sich den klassisch-mystischen und auch von Eckhart häufig verwendeten Begriff der Vergöttlichung zu eigen macht, diesen aber ausdrücklich nicht in »prometheischer« 233 Weise ausschließlich mit der aktiven Selbstsetzung und Tathandlung des Subjekts verknüpft. 234 Die Immanenz des Göttlichen beschränkt sich unter phänomenologischen Gesichtspunkten weder auf den Bereich des ethischen Wirkens noch auf den der ausdrücklichen theoretischen Denktätigkeit, sondern ist auch schon im Leben des Bewusstseins als solchen auf unmittelbare Weise am Werk. Die Präsenz Gottes zeigt sich dabei nicht erst auf der obersten Stufe des »absoluten Wissens« – in husserlschen Termini: der vollbewussten, innerhalb der Epoché vollzogenen Selbstthematisierung des reinen ego –, sondern auch schon auf dem elementaren Niveau der sinnlichen Bewusstseinsinhalte, sofern diese nicht als chaotisches Gewühl erscheinen, sondern sich durch passive Synthesis bereits als gegenständlich konstituierte Ordnung präsenVgl. J. G. Fichte, Die Bestimmung des Menschen (Gesamtausgabe, Bd. I/6), 298. Vgl. J. Drechsler, Fichtes Lehre vom Bild, Stuttgart, Kohlhammer, 1955, 360 f. 232 Insofern scheint die Einschätzung von James G. Hart zu weit zu gehen, der von einer »Koinzidenz« zwischen Husserls und Fichtes Gottesvorstellungen spricht (vgl. J. G. Hart, »Husserl and Fichte: With special regard to Husserl’s lectures on ›Fichte’s ideal of humanity‹«, Husserl Studies 12 [1995], 135–163, hier 151 f.). Eher hat man den Eindruck, dass Husserl die Texte Fichtes bereits durch die Brille des neuplatonisch-mystischen Denkens liest und ihm daher eine Konzeption der Einheit mit Gott zuschreibt, die über das von Fichte Gemeinte hinausgeht. 233 Zu dieser Charakterisierung vgl. J. G. Hart, The Person and the Common Life, 51. Auch Emmanuel Housset deutet Husserls Gottesbegriff von der dem reinen Ich obliegenden »unendlichen Aufgabe der Weltkonstitution« her (vgl. E. Housset, Husserl et l’idée de Dieu, 16), klammert dabei aber die andere Dimension Gottes aus, die sich auf der tiefsten, vorichlichen Ebene des Bewusstseins als »urquellendes Leben« manifestiert. 234 »Der eben abgeleitete Glaube ist aber auch der Glaube ganz und vollständig. Jene lebendige und wirkende moralische Ordnung ist selbst Gott; wir bedürfen keines anderen Gottes, und können keinen andern fassen« (J. G. Fichte, Über den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung [Gesamtausgabe, Bd. I/5], Stuttgart / Bad Cannstatt, Frommann-Holzboog, 1977, 354). 230 231
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Die egologisch-monadologische Vergemeinschaftung von Mensch und Gott
tieren. Interessanterweise rekurriert Husserl mit Blick auf diese dem Bewusstsein auf allen seinen Konstitutionsstufen immer schon innewohnende Ordnungskraft auf den Begriff des »Logos«, denn er schreibt: So erforsche ich als transzendentales ego meinen eigenen Logos, in eins den meiner Welt und meiner Andern. So schaffe ich mir eine Norm, eine völlig konkrete für alle Beurteilung der faktischen Welt, meiner Beurteilung zunächst bzw. der mir in mir sich bekundenden und ausweisenden transzendentalen Genossen, welche für mich als transzendentale Mitträger der Welt, unserer Welt, fungieren. […] Die transzendentale Subjektivität ego erkennt sich selbst als Subjekt ihrer Vermögen und eben damit ihre Mitego’s als die eben derselben Vermögen. Sie erkennt ihrer aller eingeborenen Vermögen, als Vermögenskorrelate des transzendentalen Logos. 235
Der Begriff »Logos«, wie Husserl ihn hier verwendet, ist somit nicht einfach mit der Transzendentalität des einzelnen ego identisch, sondern bezeichnet jene intelligible Strukturierbarkeit des Bewusstseinslebens wie auch der Wirklichkeit insgesamt, die eine konstitutive Beziehung zwischen ego und Welt wie auch die intersubjektive Vergemeinschaftung der transzendentalen Ich-Subjekte überhaupt erst ermöglicht. Dass ichliche und gegenständlich gegebene Wirklichkeit derart koordiniert sind, ist ein Faktum, das das transzendentale ego nur konstatieren, aber nicht aus sich selbst heraus begründen kann. Insofern bereitet diese Definition des »Logos« bereits den Boden für eine phänomenologische Gotteslehre im eigentlichen Sinne, die das Göttliche allerdings nicht nur als rein geistige, intelligible Struktur begreift, sondern es in einer notwendigen inneren Beziehung zu leibseelischem, organischen Leben sieht: Liegt nun in dem Überspannenden der Einheit das Ich des All-Bewusstseins? Natürlich müsste das so sein. […] Für sein Wollen, für sein »Ich« ist der ganze Monadengehalt bloß Mittel, und das Ziel sind die absoluten Werte und die Entwicklung auf sie hin. […] Es ist unendliches Leben, unendliche Liebe, unendlicher Wille; sein unendliches Leben ist nur eine einzige Tätigkeit; und da es unendliche Erfüllung ist, hist esi unendliches Glück. […] Gott ist überall. Gottes Leben lebt in allem Leben. Gott als Wille zum Guten ist letzte Wirklichkeit, erhält letzte Realisation, wenn eben das Gute ist. […] In allem Edlen und Guten, das ich in mir realisiere, bin ich also realisierter Gott, erfüllter Gotteswille […]. Er ist der absolute Logos, die 235 E. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Dritter Teil (Hua XV), 160 f.
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Das reine Ich als Möglichkeitsgrund von Welt, Personalität und Absolutem
absolute Wahrheit im vollen und ganzen Sinn […] [und] zugleich die Idee eines durch alle Endlichkeiten und Faktizitäten hindurch waltenden Lebens, das durch alles faktische Leben hindurch unendliche ideale Verwirklichung absolut vollkommenen Lebens ist. 236
Das leibnizsche Motiv der von Gott umgriffenen und koordinierten Monadengemeinschaft ist auch hier noch präsent; allerdings kommen mit der Definition Gottes als des »absoluten Lebens in allem Leben« und des »absoluten Logos« Termini ins Spiel, die sich nicht auf Leibniz zurückführen lassen, sondern vielmehr auf Eckharts Lehre von der universal-inkarnatorischen Präsenz des göttlichen Logos im Ichbewusstsein des Menschen wie auch in der gesamten Natur verweisen. Entscheidend hierfür ist Husserls Bestimmung Gottes als des »Alls der Wahrheit«, 237 das nicht als statische intelligible Struktur außerhalb der menschlichen Subjekte existiert, sondern durch graduell fortschreitende Vernunfterkenntnis in ihnen das Bewusstsein dafür erweckt, dass das Ziel der Menschheit »reines Gottmenschentum« 238 ist. Wo sich das einzelne transzendentale Bewusstsein der Immanenz des Logos in ihm innewird, geschieht dies daher nicht in Form einer strukturell-universalen Betrachtung der absoluten Wahrheit im abstrakten Sinne, sondern vielmehr in Form einer bewusstseinsimmanenten, ichlich-personalen Begegnung: Und wo immer Gott das bewusste Ziel ist, das evident gewordene, ist Gott selbst in Offenbarungsbeziehung zum einzelnen Ich; das Gotteskind ist erfüllt von der Liebe zum Absoluten, zu Gott; und Gott ist mit ihm und in ihm in direkter Ich-Du-Berührung. Diese Berührung und Einigkeit hat Stufen. Die höchste histi der reine Glaube, in dem das einzelne Ich sich selbst ganz hingegeben hat und nichts anderes will, als Gott wohl gefallen, d. i. rein den Gottesruf erfüllen. […] Die personale Auffassung histi unvermeidlich. Das ideale absolute Ich ist als Korrelat zum idealen absoluten System der Wahrheit (aller Formen) ein Identisches gegenüber allen empirischen Einzel-Ich, ein Seiendes, Gültiges, Absolutes, das sie in sich aufnehmen, das sich in ihnen offenbart als das ewige Über-Sein personaler Form, das sich in allen empirischen Ich »abschattet«, aber eigentlich nur, sofern sie schon freie Ich sind, die dem absoluten Sollen zuhören. 239
236 237 238 239
E. Husserl, Grenzprobleme der Phänomenologie (Hua XLII), 168. 250 f. E. Husserl, Grenzprobleme der Phänomenologie (Hua XLII), 174. E. Husserl, Grenzprobleme der Phänomenologie (Hua XLII), 176. E. Husserl, Grenzprobleme der Phänomenologie (Hua XLII), 177.
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Die egologisch-monadologische Vergemeinschaftung von Mensch und Gott
Das göttliche All-Ich ist demnach nicht mit der Summe aller einzelnen Ichbewusstseine identisch, sondern stellt eine ichliche Instanz dar, die dem menschlichen Ich nicht in anonymer Form, sondern in einer intersubjektiv-relationalen Weise innewohnt. Der Ausdruck »Über-Sein« verweist dabei auf den geistigen, nicht-ontischen Charakter des absoluten Ich, doch ist Husserl bestrebt, deutlich zu machen, dass es sich bei der Immanenz des Göttlichen im menschlichen Bewusstsein nicht um die gedankliche Immanenz einer bloßen Idee handelt, wie dies in seinen Ausführungen zur ethisch-teleologischen Rolle Gottes noch der Fall gewesen war. Der Grund für diese phänomenologische Überschreitung eines nur als Idee gedachten Gottes liegt darin, dass der Bereich der Ideen im phänomenologischen Sinne durch eidetische Variation beliebig abgewandelt werden kann, so dass ein solcherart gedachtes Göttliches für die faktische Welt und die in ihr befindliche Gemeinschaft der faktischen egos keine absolute Bedeutung haben könnte. Da es Husserl an dieser Stelle aber nicht um die für die transzendentale Phänomenologie charakteristische Möglichkeit des freien Umfingierens und den Spielraum der gedanklichen Abwandlung geht, 240 sondern um die Wahrheit im absoluten Sinne, muss auch die mögliche Pluralität von Gottesideen reduziert werden auf den einen Gott und einen Logos, dessen Wesen – wie das des reinen Ich im Menschen – gegenüber seiner realen Verwirklichung nicht indifferent ist, sondern diese in unbedingter Weise fordert: Es gibt unendlich viele mögliche Welten als anschauliche Abwandlungen der jeweilig für uns geltenden. […] Letztlich aber zeigt sich, dass nur eine einzige, die faktische Welt denkbar ist als Welt der Wahrheit – sowie nur ein Logos der Wahrheit, nur ein Gott, der eine Idee ist, die ontologisch Einzigkeit in sich trägt, ein Wesen, das nicht Eidos ist, sondern hein Wesen, dasi als Wesen in der absoluten Wahrheit, als Wesen in keiner Relativität von Situationen, in keiner Horizonthaftigkeit hstehti, sondern als alles wahrhaft Seiende in absoluter Wahrheit in sich tragendes Wesen in absoluter Notwendigkeit einzig ist und Wirklichkeit ist – Wirklichkeit im Sinn der alle Wirklichkeit jedes relativen, jedes endlichen Sinnes tragenden, begründend ermöglichenden Überwirklichkeit. 241 240 »So kann man denn wirklich, wenn man paradoxe Reden liebt, sagen und, wenn man den vieldeutigen Sinn wohl versteht, in strikter Wahrheit sagen, daß die ›Fiktion‹ das Lebenselement der Phänomenologie, wie aller eidetischen Wissenschaft, ausmacht, daß Fiktion die Quelle ist, aus der die Erkenntnis der ›ewigen Wahrheiten‹ ihre Nahrung zieht« (E. Husserl, Ideen I, § 70 [Hua III], 163; Hervorhebung im Original). 241 E. Husserl, Grenzprobleme der Phänomenologie (Hua XLII), 251.
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Das reine Ich als Möglichkeitsgrund von Welt, Personalität und Absolutem
Damit schließt sich der Kreis der phänomenologischen Thematisierung des Gottesgedankens: Von der absoluten Wirklichkeit des reinen ego, das die Idee Gottes lediglich als konstruktive Limesidee theoretischer Vernunft entwirft, gelangt man zunächst zu einem Gott, der mehr als »nur gedacht« ist, aber sein Sein – ähnlich einem menschlichen alter ego – nur aus der intersubjektiven Beziehung zum transzendentalen Ich des Menschen schöpfen kann. In einem weiteren Schritt erscheint Gott als Korrelat der objektiven Zeit, in der sich die Menschheitsgeschichte entfaltet, und auf diese Weise als idealer Koordinationsgrund der Entwicklung, in der die Gesamtheit der Vernunftmonaden auf das nur infinitesimal anzustrebende, aber nie zu erreichende Telos einer universalen, ethisch-praktischen Liebesgemeinschaft hinstrebt. Und schließlich ist Gott als absoluter Logos und »überwirkliches« Ich diejenige Instanz, die jedem einzelnen transzendentalen Bewusstsein in intersubjektiver Relationalität innewohnt, zugleich aber auch alles wahrhaft Seiende in sich trägt und zum Teil seines eigenen Lebenszusammenhangs macht. Damit wird letztlich klar, dass das so verstandene Göttliche auch im phänomenologisierenden Bewusstsein immer schon am Werk war, ohne als solches thematisiert werden zu müssen. Die absolute Wirklichkeit des einzelnen transzendentalen Bewusstseins gegenüber der ihm intentional erscheinenden Welt wird damit keinesfalls depotenziert oder aufgehoben. Ein entscheidender Unterschied zum göttlichen Allbewusstsein besteht allerdings darin, dass dieses die Welt als ganze in ethischer Abschattungsfreiheit in sich trägt und die in ihr enthaltene scheinbare Irrationalität des Faktischen unter dem Gesichtspunkt einer unendlichen Sinnkonstitution auf den darin wirkenden, absoluten Logos hin zu durchschauen vermag. In diesem Sinne braucht das einzelne reine Ich das Göttliche nicht zur Gänze durch seine eigenen theoretischen Erkenntnisakte und praktischen Tathandlungen zu verwirklichen, sondern kann in transzendentaler Gelassenheit darauf vertrauen, dass all seine Bemühungen um eine vernunftgemäßere und ethisch vollkommenere Welt getragen und umgriffen sind von der in ihm und in der Welt als ganzer immer schon lebendigen Gegenwart des göttlichen Logos. 242 Damit wird die 242 Auch James G. Hart verweist darauf, dass man Husserls Beibehaltung des Elementes der Passivität und Vorgegebenheit gegenüber dem Handeln und der aktiven Konstitution als eine Form der »Gelassenheit« bezeichnen könne. Mit Blick auf Husserls Staunen gegenüber dem Faktum der teleologischen Strukturiertheit und Logoshaftig-
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»Besser wäre ein Lebemeister denn tausend Lesemeister«
Bedeutung des ethischen Wirkens keineswegs entwertet; wohl aber macht Husserl durch seine Deutung des reinen Ich als der »Gottesstätte« im Menschen deutlich, dass im originären Sinne nicht unser Tätigsein Gott konstituiert, sondern dass jedes Wirken, das auf das wahre Menschsein im universalen Sinne abzielt, aus der apriorischen Immanenz Gottes im reinen Ich des Menschen entspringt und diese innerweltlich erfahrbar macht.
3.
3.1
»Besser wäre ein Lebemeister denn tausend Lesemeister« – die Stellung der Phänomenologie zwischen theoretischer Wissenschaft und lebensweltlicher Praxis Der »Baum der Erkenntnis« als »Baum des Lebens«
Am Beginn seiner phänomenologischen Denkentwicklung hatte Husserl in seinem Bestreben, einen radikalen philosophischen Neuanfang zu machen, die transzendentale Phänomenologie in aller Schärfe von sämtlichen anderen Wissenschaften abgegrenzt und die ihr zugrundeliegende Haltung für prinzipiell inkommensurabel mit der naiven Weltorientiertheit aller anderen Disziplinen erklärt. Dementsprechend hatten sich seine Analysen zunächst auf den Bereich des reinen Bewusstseins konzentriert und den Bezug auf so etwas wie Welt unter rein formal-eidetischen Gesichtspunkten thematisiert. Auch in späteren Jahren verwendet Husserl noch den Begriff der »universalen, apriorischen Ontologie« 243 bzw. der »formale[n] Ontologie möglicher Welt«, 244 die der Lehre von den universalen faktischen Strukturen der Welt noch vorausgeht. Diese rein formale Lehre von möglicher Gegenständlichkeit überhaupt begründet sich jedoch nicht aus sich selbst heraus, sondern ist von einer »transzendentalen keit des Bewusstseins und der Welt vertritt er allerdings die Auffassung, dass Husserl damit keine verehrungsvolle Hinwendung zum »inneren Licht« im Sinne der Mystiker gemeint habe, sondern verweist als mögliche Quelle für die Idee des immanenten göttlichen Logos stattdessen auf Natorp (vgl. J. G. Hart, »A Précis of an Husserlian Philosophical Theology«, 143–145. 152). Allerdings zitiert dieser in dem bereits erwähnten Buch Deutscher Weltberuf ausgiebig Meister Eckhart, so dass die Provenienz der von Husserl entwickelten Ego-Theologie letztlich doch eher eckhartscher als genuin natorpscher Natur ist. 243 Vgl. E. Husserl, Natur und Geist (Hua XXXII), 215. 244 Vgl. E. Husserl, Formale und transzendentale Logik (Hua XVII), 277.
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Das reine Ich als Möglichkeitsgrund von Welt, Personalität und Absolutem
Logik«, d. h. einer phänomenologischen Aufhellung des Konstitutionszusammenhangs zwischen dem reinen Bewusstsein und jedem nur möglichen Gegenstandshorizont abhängig. 245 In Husserls Frühphase ist die von ihm entworfene, absolut urwissenschaftliche Phänomenologie daher wesentlich Ideenwissenschaft, deren Gültigkeit vom realen Sein oder Nichtsein der betrachteten Gegenstände unabhängig ist und die den Bereich des faktischen Seins sowie der darauf bezogenen Metaphysik als eine Untermenge umfasst: Es ist klar, daß wir Philosophie als Wissenschaft vom Absoluten teilen müssen erstens in reine Philosophie oder apriorische Philosophie: Sie umfasst einen Komplex von Prinzipienlehren, von reinen oder rationalen Disziplinen […], reine Wesenslehre des Geistes […] zuletzt und zuhöchst die rein teleologische Seinslehre und die reine Gotteslehre – auch die letztere als eine apriorische Disziplin, von einer Idee und nicht von einer Wirklichkeit handelnd. Fürs zweite hätten wir die Metaphysik als absolute Wissenschaft der faktischen Wirklichkeit, durchaus gegründet in den rein philosophischen Disziplinen, die ihr natürlich nicht Seinsprämissen, aber Prinzipien der Begründung und der Sinnesaufklärung, reine Normen und Ideale geben. 246
In dem Maße, wie Husserl mit Blick auf die »notwendige Wirklichkeit« des reinen Ich den ausschließlich eidetischen, faktizitätsfreien Charakter der Phänomenologie nicht durchzuhalten vermag, erweist sich auch das im Sinne eines statischen Fundierungszusammenhangs gedachte Verhältnis zwischen der reinen, apriorischen Philosophie (»Erste Philosophie«) und der Metaphysik des faktischen Seins (»Zweite Philosophie«) als problematisch. Das ego ist aufgrund seiner urmodalen, nicht durchzustreichenden Wirklichkeitsweise 247 der Verbindungspunkt zwischen der rein apriorisch-strukturellen Wissenschaft vom Absoluten und dessen aposteriorisch-faktizitätsbezogenem Gegenstück. 248 Gerade aufgrund dieser Tatsache kann das ego Vgl. E. Husserl, Formale und transzendentale Logik (Hua XVII), 273–283. E. Husserl, Vorlesungen über Ethik und Wertlehre (Hua XXVIII), 182. 247 Vgl. E. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Dritter Teil (Hua XV), 343. 248 Insofern muss man nicht zwingend mit László Tengelyi folgern, dass durch Husserls Entdeckung von so etwas wie phänomenologisch undurchstreichbaren »Urtatsachen« seine Unterscheidung zwischen einer transzendentalphänomenologischen Ersten Philosophie und einer Metaphysik der Faktizität als Zweiter Philosophie zusammenbricht (vgl. dazu L. Tengelyi, Welt und Unendlichkeit, 184). Das zunächst unverbunden scheinende Nebeneinander dieser beiden Wissenschaften wird lediglich auf der Subjektseite im urmodalen Faktum des reinen ego zusammengeführt und 245 246
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»Besser wäre ein Lebemeister denn tausend Lesemeister«
selbst weder innerhalb der einen noch innerhalb der anderen Wissenschaft erschöpfend erörtert werden, sondern verlangt aufgrund seines spontanen, dynamischen Charakters nach einer noch ursprünglicheren Wissenschaftsform, die buchstäblich als »Lebensphilosophie« definiert werden kann. Diese ist allerdings weder im biologistischvitalistischen noch im geisteswissenschaftlichen, psychologisch-historischen Sinne zu verstehen, sondern bezieht sich auf die transzendentale Bedeutung von »Leben« als der untrennbaren Einheit zwischen der beständig quellenden Selbstproduktion des Bewusstseins und der Fülle seiner ihm gegebenen intentionalen Inhalte. 249 Daher zielt diese »wissenschaftliche Lebensphilosophie« 250 gerade nicht darauf ab, das Leben als das schlechthin Andere der wissenschaftlichen Vernunft zu erweisen, sondern ist vielmehr bestrebt, alle Wissenschaften als organische Teile eines Baumes zu deuten, der seine Wurzeln in der von Husserl auf egologische Weise neubestimmten Ersten Philosophie findet: Aber alle Einzelwissenschaften werden nur Organe, wenn auch wesentlich einheitliche, lebendige Zweige an dem einen Baum der Universalwissenschaft sein. Dieser einheitliche Baum wächst aber heraus aus einem universalen Fundament, alle Wissenschaften sind in ihm verwurzelt. Das sagt: Vor der Universalwissenschaft, der in Spezialwissenschaften verzweigten Philosophie, steht als ihre Grundschicht eine »Erste Philosophie«, eine universale, fundamentale Forschung, die all das befasst, was vor den positiven Wissenschaften, vor allen positiven Theorien erforscht werden kann. Diese Erste Philosophie ist dann natürlich der ursprüngliche Boden für die radikale Klärung aller Voraussetzungen, Grundlagen der positiven Wissenschaften. 251
Der Vergleich des Gesamtzusammenhangs aller Wissenschaften mit einem Baum stellt eine bewusste Anknüpfung an Descartes’ Verwendung derselben Analogie in seiner Lettre-Préface des Principes de la philosophie dar. 252 Im Unterschied zu Descartes wurzelt dieser lebendige Zusammenhang der Erkenntnis bei Husserl aber nicht in einer eingewurzelt, ohne dass die Unterscheidung der beiden Betrachtungsebenen auf der Objektseite eliminiert würde. 249 Vgl. dazu den Aufsatz d. Verf. »Zwischen transzendentaler Genese und faktischer Existenz. Konfigurationen des Lebensbegriffs bei Natorp, Husserl und Heidegger«, Husserl Studies 28 (2012), 61–80. 250 E. Husserl, Natur und Geist (Hua XXXII), 241. 251 Vgl. E. Husserl, Natur und Geist (Hua XXXII), 18 (Hervorhebungen im Original). 252 Vgl. R. Descartes, Lettre-Préface des Principes de la philosophie, AT IX/2, 14.
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Das reine Ich als Möglichkeitsgrund von Welt, Personalität und Absolutem
Metaphysik des endlichen, geschaffenen ego cogito, das seinerseits von einem Schöpfergott abhängig ist, sondern in einer noch ursprünglicheren Ersten Philosophie, die sowohl die Idee Gottes als auch die Wirklichkeit Gottes nur aus ihrer Korrelation zum reinen Ich zu denken vermag. 253 Gerade weil dieses reine Ich zugleich aber auch als sich beständig neu produzierendes, transzendentales Leben verstanden wird, fließt der daraus resultierende Lebensstrom immer schon durch die verschiedenen Einzelwissenschaften und die ihnen eigenen Bereiche hindurch. Während bei Meister Eckhart alle einzelwissenschaftliche Erkenntnis aus der einen »Ader« der vollkommenen Selbsterkenntnis des göttlichen Ich erfließt, hängen für Husserl alle wissenschaftlichen Disziplinen letztlich an der urquellenden Lebendigkeit des ichlichen Bewusstseins und den verschiedenen Thematisierungsweisen seiner innerweltlichen Selbstobjektivation. Aus diesem Grund kann er sogar so weit gehen, die Gesamtheit der Wissenschaften nicht nur als zusammenhängendes, systematisches Ganzes im allgemeinen Sinne, sondern ausdrücklich als »Leib« zu charakterisieren: Der Philosoph steht vor der Frage der Systematik und systematischen Verwirklichung der Einzelwissenschaft, aber auch nicht minder vor der Frage der Verwirklichung der universalen Wissenschaft – der Frage, inwiefern die Welt, das All der Wirklichkeit, ein Thema für ein Erkenntnissystem ist, das in totaler Vollständigkeit und systematisch aussagte, was sie ist, […] inwiefern sie ein universales und totales Gebiet ist, mit einer Wissenschaft, die sich in einzelne Wissenschaften systematisch gliedert, sie dann nicht alswie eine Summe zusammenhangloser Einzelheiten in sich faßt, sondern gleichsam ein Erkenntnisleib ist, der sie alle als funktionierende Einzelglieder in seinem einheitlichen Leben in sich trägt. Hinsichtlich der Forschung: daß sie notwendig eine Einheit systematischer Forschung ist, die aus inneren Gründen sich aus der Einheit eines Urbodens, eines gemeinsamen Wurzelbodens vielfältig verzweigt, während die Zweige immer doch unselbständige Teile in der ursprünglichen Einheit bleiben. 254
253 Wie Landgrebe betont, zielt Husserls Transzendentalphänomenologie also nicht darauf ab, die Metaphysik als solche zu verwerfen, sondern stellt sich vielmehr die Aufgabe, in der absoluten Subjektivität jene Instanz freizulegen, in der die Identität von »Denken« und »Sein«, die den Spielraum der Metaphysik seit Parmenides bildet, ihren Ursprung hat (vgl. L. Landgrebe, Phänomenologie und Metaphysik, 149. 189). 254 E. Husserl, Erste Philosophie. Zweiter Teil (Hua VIII), 340 (Hervorhebungen im Original).
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»Besser wäre ein Lebemeister denn tausend Lesemeister«
Die Rede von einem »Erkenntnisleib« ist dabei keine pittoreske Metapher, sondern hat eine tieferliegende systematische Bedeutung: So, wie das reine Ich, das sich als Ich-Mensch verweltlicht, eine psychophysische Leibstruktur hat, durch die es die Welt konstituiert, so bildet auch die Gesamtheit der Wissenschaften, die in demselben reinen Ich wurzeln und den verschiedenen Interessensrichtungen seiner auf Welt hin ausgerichteten Intentionalität entspringen, notwendigerweise eine organische Struktur, die man nur als Leiblichkeit bezeichnen kann. Die Gesamtheit der Wissenschaften steht dem erkennenden Ich daher nicht gegenüber wie ein abstraktes Ordnungsschema von Disziplinen, sondern wie ein alter ego seiner selbst und seines Weltverhältnisses im Modus des Begriffenseins. Aus ebendiesem Grunde ist die Wissenschafts- und Philosophiegeschichte kein Phänomen, dessen Entwicklung für das Selbstverständnis des Menschseins irrelevant wäre, sondern hat unmittelbare Konsequenzen für den Begriff von Humanität, der in einer Epoche jeweils prägend ist. 255 Einerseits ist für Husserl die transzendentale Phänomenologie also buchstäblich – in direkter Übernahme der berühmten Formulierung aus der Maria-Martha-Perikope des Lukasevangeliums (Lk 10,42) – das unum necessarium, das Eine, das nottut, um allen anderen Wissenschaften ihr bislang noch fehlendes und auch von der traditionellen Metaphysik nicht bereitgestelltes Fundament zu verschaffen. 256 Andererseits hatte sich im Rahmen der Analysen der teleologischen Grundorientierung des Bewusstseins auch herausgestellt, dass das apodiktische Faktum des ego kein neutrales Sein verkörpert, sondern auf ein ethisch-praktisch motiviertes Sollen verweist, das nur im Rahmen einer idealen Vergemeinschaftung menschlicher Vernunftmonaden umgesetzt werden kann. Wenngleich die Transzendentalphänomenologie also nach wie vor notwendig bleibt, um den besonders gearteten, überweltlichen Charakter des reinen Ich zu enthüllen, so ist sie doch nicht hinreichend, um die lebendige Fülle seines faktischen Weltbezuges zu artikulieren. Aus diesem Grund schlägt der anfänglich rein theoretische, betrachtend-intuitive Charakter der Vgl. E. Husserl, Krisis (Hua VI), 1–14. »Gewiß, für uns, die wir schon eine transzendentale Philosophie phänomenologischen Stiles als das unum necessarium für die Ermöglichung letztzureichender Erkenntnis und letztwissenschaftlicher Wissenschaft einsehen, ist keine unserer Wissenschaften, heiße sie nun exakte Mathematik und Naturwissenschaft oder methodisch noch so anerkennenswerte Geisteswissenschaft, Wissenschaft solchen letzten Sinnes« (E. Husserl, Erste Philosophie. Erster Teil [Hua VII], 186). 255 256
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Das reine Ich als Möglichkeitsgrund von Welt, Personalität und Absolutem
Phänomenologie in sein Gegenteil um und führt zu einer radikalen Depotenzierung und sich selbst vollbringenden Radikalisierung des phänomenologischen Projekts insgesamt.
3.2
»Maria und Martha« – die Rehabilitierung der Lebenswelt als immanente Vollendung der Phänomenologie
Zur Zeit der Ideen I war Husserls Bestreben, die Autarkie des reinen Ich zu erweisen, derart stark ausgeprägt gewesen, dass er dessen Beziehung auf so etwas wie »Welt« für nicht unbedingt notwendig erklärt hatte. So hatte er die These vertreten, dass das reine ego auch bei einer hypothetischen »Weltvernichtung« zwar in seinen intentionalen Gehalten modifiziert, aber nicht in seinem Wesenskern verändert würde. 257 In der Spätphase seines Denkens setzt sich bei Husserl jedoch die Einsicht durch, dass lediglich die einzelnen innerweltlichen Gegenstände modifiziert oder eliminiert werden können, nicht aber die Welt als solche im Sinne des intentionalen Gesamthorizontes des konstitutiven Bewusstseinslebens. 258 Das bedeutet, dass das reine Ich nicht in seiner immanenten Selbstproduktion aufgeht, sondern sich gleich wesenhaft auch auf die intentionale Äußerlichkeit namens »Welt« bezieht. Unbeschadet der nach wie vor bestehenden Asymmetrie des Konstitutionsverhältnisses zwischen Ich und Welt ist demnach der Korrelationszusammenhang in beiden Richtungen unauflöslich: Die Welt als Gesamthorizont der Phänomenalität hängt zur Gänze am intentional strukturierten, reinen Bewusstsein, doch kann auch umgekehrt immanentes Bewusstseinsleben prinzipiell nicht ohne die intentionale Selbstüberschreitung auf welthafte Transzendenz hin gedacht werden. Diese Neubewertung ist darauf zurückzuführen, dass »Welt« nicht mehr nur als Synonym für den rein formalen noematischen Horizont namens »Gegenständlichkeit überhaupt« fungiert, sondern jenen Boden ursprünglicher Vertrautheit bezeichnet, der jeder ausdrücklich-thematischen Einstellung auf Gegenstände vorausgeht und sie bedingt. 259 Vgl. E. Husserl, Ideen I, § 46, § 49, § 54 (Hua III), 106–110. 114 f. 132–134. Vgl. E. Husserl, Die Lebenswelt. Auslegungen der vorgegebenen Welt und ihrer Konstitution. Texte aus dem Nachlass [1916–1937] (Hua XXXIX), Dordrecht, Springer, 2008, 19–22. 259 Vgl. E. Husserl, Die Lebenswelt (Hua XXXIX), 243–258 sowie dazu L. Landgrebe, Phänomenologie und Metaphysik,130. 257 258
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»Besser wäre ein Lebemeister denn tausend Lesemeister«
Vor diesem Hintergrund ändert sich auch die Bewertung der Phänomenologie selbst als einer Wissenschaft, die durch eine grundlegende Einstellungsänderung des Bewusstseins gegenüber der ihm erscheinenden Welt zustande kommt. In der Vorlesung Erste Philosophie betont Husserl zwar nach wie vor, dass die Epoché aus der »Weltverlorenheit« der »Weltkindschaft« befreit und durch die Freilegung des reinen Bewusstseinslebens die phänomenologische Kindschaft »im Reich des reinen Geistes« begründet, 260 doch räumt er zugleich auch ein, dass die phänomenologische Einstellung im Vergleich zur vorreflexiven Welthingabe »unnatürlich« 261 ist, insofern sie alles vermeintlich Selbstverständliche auf den Prüfstand stellen und dem reinen Ich seine prinzipielle Andersartigkeit gegenüber dem Naturzusammenhang begreifbar machen muss. Die Notwendigkeit der phänomenologischen Reduktion wird von Husserl nach wie vor nicht bestritten, doch fügt er nunmehr hinzu, dass auch das Philosophieren in der transzendentalen Grundhaltung seinerseits eine Form von Naivität darstellen kann, nämlich sofern es vollzogen wird, ohne sich über die letzthinnige Motivation der phänomenologischen Epoché Rechenschaft abzulegen. 262 Um dieser Gefahr einer »transzendentalen Naivität« 263 vorzubeugen, ist es daher erforderlich, in einem zweiten Schritt auch die scheinbare Selbstverständlichkeit der als Wissenschaft etablierten Transzendentalphänomenologie zu hinterfragen und ihre Geltungsansprüche einzuklammern. Diese Relativierung der Phänomenologie als solcher ist letztlich der Einsicht geschuldet, dass sie die immer schon am Werk befindliche weltkonstituierende Leistung des transzendentalen Bewusstseins lediglich aufhellt, dabei selbst aber nicht konstitutiv tätig ist. So gesehen, ist sie – trotz ihrer einzigartigen Stellung als absolute Wissenschaft vom reinen Bewusstsein – ein unselbständiges Phänomen, das nur auf der Grundlage des natürlichen Weltverhältnisses und Weltbewusstseins existieren kann. 264 Die Einsicht in die wesenhaft teleoVgl. E. Husserl, Erste Philosophie. Zweiter Teil (Hua VIII), 123. Vgl. E. Husserl, Erste Philosophie. Zweiter Teil (Hua VIII), 121; ders., Zur phänomenologischen Reduktion (Hua XXXIV), 323. 262 Diese Aussage zeigt deutlich, dass Husserl seine frühere Position, der zufolge die Phänomenologie die Motivation der von ihr geübten Ausschaltung der Erfahrungswelt nicht zu begründen brauche, revidiert hat (vgl. E. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Erster Teil [Hua XIII], 156 f.). 263 Vgl. E. Husserl, Erste Philosophie. Zweiter Teil (Hua VIII), 170 f. 264 »Beachten müssen wir aber noch, dass wir, als Weltkinder lebend und so uns selbst 260 261
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logische und apriorisch intersubjektive Grundstruktur des Bewusstseins bringt Husserl dazu, die Bedeutung der Phänomenologie als Wissenschaft neu zu interpretieren und die vorwissenschaftliche (und d. h. auch vorphänomenologische) Lebenswelt als das in sich Erste und den eigentlichen und primären Aktionshorizont der konstitutiven Subjektivität anzusetzen. 265 Erschien zunächst das unreflektierte Hineinleben in eine wie selbstverständlich als existierend angenommene Welt als eine Form der selbstvergessenen »Verfallenheit« des transzendentalen Bewusstseins, aus der es durch die Epoché herausgerissen werden musste, so erweist sich nunmehr die Epoché mitsamt der durch sie bewirkten Einstellungsänderung als eine Anomalie, da sie der natürlichen Teleologie des Bewusstseinslebens zuwiderläuft, die auf die allgemein zugängliche »Welt für alle« ausgerichtet ist. Die von der Phänomenologie verwendeten Grundbegriffe – »Eidos«, »Intentionalität«, »Noesis«, »Noema«, »Urquellpunkt des Bewusstseinsstroms« usw. – zeichnen sich dadurch aus, dass die von ihnen bezeichneten Gegenstände nicht in bleibender, intersubjektiv zugänglicher Weise konstituiert sind, sondern nur so lange gegeben sind, wie sie vom phänomenologisierenden Bewusstsein thematisiert werden. Sie sind in diesem Sinne keine bleibenden Produkte konstitutiver Leistung, sondern verdanken sich einer bestimmten Umlenkung der Interessensrichtung innerhalb des konstitutiven Weltbewusstseins und haben insofern keine eigenständige ontologische Konsistenz: Sehen wir näher zu, so ist für niemanden, auch für den Phänomenologen nicht, die immanente Sphäre wirklich gegenständlich konstituiert. […] Aber davon zunächst abgesehen, in der Immanenz liegt kein Telos für das Leben des Ich. Der Psychologe und Erkenntnistheoretiker allein hat Interesse an der Immanenz, aber auch er kommt eigentlich nicht dazu, die einzelnen Erlebnisse und den Erlebnisstrom im Ganzen als Seinsfeld kennenzuerst vorfindend, in keiner anderen Weise (und selbst das ist wesensmäßig einzusehen) zu einer apriorischen Bewusstseinslehre kommen können, es sei denn eben vom Faktum her; dass wir ferner nie anders zu einer transzendentalen Weltbetrachtung kommen können als von einer Welt der natürlichen Erfahrung, einer psychophysischen (natürlich auch geisteswissenschaftlichen) Bewusstseinsgegebenheit, so dass immer der Weg zur transzendentalen Phänomenologie über eine apriorische Psychologie genommen werden kann, und dann in einer ähnlichen am Apriori zu vollziehenden Epoché, wie wir sie vom natürlichen Bewusstsein her vollziehen« (E. Husserl, Zur phänomenologischen Reduktion [Hua XXXIV], 8; Hervorhebung im Original). 265 Vgl. E. Husserl, Erste Philosophie. Zweiter Teil (Hua VIII), 475 f. sowie ders., Krisis (Hua VI), 127.
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zulernen und individuell gegenständlich zu bestimmen und zu fixieren. […] Die Welt, die mundanen Gegenständlichkeiten sind konstitutiv aus einer ursprünglichen Erwerbung; ursprünglich erworben sind sie in Kenntnisnahmen, durch die sie bleibender Besitz sind. […] Demgegenüber: Eine immanente »Welt« ist nicht in dieser Art konstituiert, zunächst nicht die »Welt« des Bewusstseinsstromes als meines egologischen. […] Erst in einer sehr hoch entwickelten Menschheitsgenesis tritt die Psychologie und Phänomenologie auf, macht das Bewusstseinsleben und das rein Subjektive, das Transzendentale, zum universalen Thema. 266
Die Absolutheit der durch die Epoché freigelegten Sphäre der Immanenz, die Husserl in den Ideen I beschworen hatte, um die Autonomie der Phänomenologie gegenüber den anderen Wissenschaften zu begründen, ist zugleich auch der Grund dafür, dass diese Sphäre nunmehr nur noch als uneigentliches Thema des originären Bewusstseinsinteresses und als »Welt« in Anführungszeichen erscheint. Auch die Einsicht, dass die Phänomenologie als Wissenschaft vom reinen Bewusstsein aus historischer Perspektive erst sehr spät innerhalb der Menschheitsgeschichte auftritt, gilt Husserl nunmehr als ein Indiz dafür, dass die ihr zugrunde liegende Haltung nicht diejenige sein kann, die für das vorphänomenologische Weltverhalten maßgeblich ist. Die »Weltverfallenheit« des in der natürlichen Einstellung befindlichen Bewusstseins erscheint nun nicht mehr als primär negatives Phänomen, sondern als Ausdruck der auch vom phänomenologischen Standpunkt aus als »normal« – d. h. wesenhaft – erkannten Grundausrichtung ichlichen Lebens, das notwendigerweise auf die Welt hin gravitiert. Deren Zwecksinn besteht wiederum nicht in erster Linie darin, Gegenstand theoretischer Erkenntnis zu sein, sondern als Universalhorizont für das soziale Miteinander und das ethischpraktische Handeln der Menschen zu dienen. 267 Die theoretische Erkenntnisaktivität wird damit keineswegs illegitim, doch erscheint sie nunmehr lediglich als »Zweig des allgemeinen praktischen Lebens«. 268 Ihre Sinnhaftigkeit erschöpft sich folglich nicht in sich selbst, sondern zielt letztlich darauf ab, durch denkerische Selbstbesinnung die außerphilosophische Lebenspraxis im Sinne einer fortschreitenden Ethisierung und Humanisierung positiv zu beeinflussen. 266 267 268
E. Husserl, Die Lebenswelt (Hua XXXIX), 20–22 (Hervorhebung im Original). Vgl. E. Husserl, Die Lebenswelt (Hua XXXIX), 311–324. E. Husserl, Erste Philosophie. Zweiter Teil (Hua VIII), 203.
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Diese geänderte Deutung des Verhältnisses von theoretischer Erkenntnis und praktischem Handeln ist jedoch mehr als eine bloße Umkehrung der Hierarchie zwischen zwei ansonsten unverändert bleibenden Einstellungsweisen. Vielmehr deutet Husserl das Paradigma der visuellen Wahrnehmung in einer radikal neuen Weise – und zwar nicht mehr als ein kontemplativ-betrachtendes »Hinnehmen« des Gegebenen, sondern als »Urpraxis«. Diese Interpretation ist insofern ungewöhnlich, als sie die traditionelle philosophische Auffassung von der besonderen »Geistigkeit« des Sehens 269 und die daraus folgende Analogisierung von sinnlicher und intellektueller Anschauung in einem entscheidenden Punkt korrigiert. Husserls Neuinterpretation der Wahrnehmung als »Praxis« ist letztlich die Konsequenz seiner Phänomenologie der Leiblichkeit. Schon auf der Ebene der Sinnlichkeit gibt es kein »einfaches« Anschauen, so als schwebten die wahrnehmenden Augen gleichsam im luftleeren Raum, sondern vielmehr setzt auch die schlichte Dingauffassung schon einen Komplex aus Wahrnehmungen voraus, an deren Zustandekommen nicht nur die Augen beteiligt sind, sondern der ganze Leib: Man kann doch die Beschreibung der Natur als Einheit der Erscheinungen nicht entbehren. Dabei bedeutet aber Erscheinung und Erscheinungssystem selbst wieder eine Urpraxis, die nicht Dinge, die schon »da« sind, umgestaltet nach Zwecken, sondern ihre hervorhebende Konstitution verwirklicht: Ich muss wahrnehmungsmäßig tätig sein, um Dinge kennenzulernen. […] Der Wahrnehmungsmodus der optimalen Leibhaftigkeit muss jede reale Praxis fundieren. Also geht die Praxis des Wahrnehmens immer vorher. Aber was ist das: Praxis des Wahrnehmens? – Mir persönlich ist jedes Ding, das ich erfahre, jeweils hetwasi in den »subjektiven« Modis Erfahrenes: Das Wahrgenommene ist Ding von der Seite, Ding in der Ferne und in der Ferne von der Seite, oder Ding in der Nähe. Diese »Erscheinungen« hsindi in Beziehung zu mir und meiner subjektiven Leiblichkeit mit ihrem besonderen subjektiven Wie. Im Wandel dabei Identifizierung desselben Dinges, dessen eigene Merkmale bald hervortreten, bald verschwinden. Die Praxis ist einerseits eine leibliche Praxis, die die subjektiven Augenbewegungen, Tastbewegungen etc. tätig verwirklicht oder wandelt und »dadurch« die korrelativen Dingerscheinungen (Ding von der Seite etc.) ablaufen lässt, in denen die Bestimmungen des Dinges selbst in Vollkommenheitsstufen sichtlich werden. 270
269
Vgl. Aristoteles, De anima II 7, 418 a 26–419 a 25; ders., Metaphysik I 1, 980 a 21–
27. 270
E. Husserl, Die Lebenswelt (Hua XXXIX), 383 (Hervorhebungen im Original).
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Schon die Phänomenalität der Wahrnehmungsdinge ist damit nichts, was das erkennende Subjekt in einer vollkommen passiven Haltung »schlichter Hinnahme« erkennen könnte; vielmehr sind die für die Dingkonstitution erforderlichen Wahrnehmungsreihen, die den betreffenden Gegenstand in »Abschattungen«, d. h. von verschiedenen Seiten und aus unterschiedlicher Entfernung zeigen, das Ergebnis einer aktiven, leiblich-kinästhetisch vermittelten Positionsänderung des wahrnehmenden Subjekts. Die Spontaneität des Sich-Bewegens und Sich-Orientierens in der Welt ist demnach die Grundbedingung jeder Wahrnehmung, auch mit Blick auf den vermeintlich rein rezeptiven Sehsinn. Allerdings bestimmt Husserl diese ursprüngliche Aktivität des Subjekts nicht als »Poiesis«, sondern als »Praxis«, d. h. nicht als eine Hervorbringung im Modus des Produzierens, sondern als ein tätiges Sich-Verhalten, bei dem das Ergebnis der Handlung nicht in transitiver Weise außerhalb des Subjektes liegt, sondern auf den Handelnden selbst zurückwirkt. Erstaunlicherweise sieht Husserl den Urmodus der Praxis nicht nur im Bereich der sinnlichen Wahrnehmung am Werk, sondern auch bei Intentionalitäten höherer Stufe, die in den Bereich der geistigen Erkenntnis verweisen: Sprachliche Praxis, Praxis der Erzeugung objektiver Wahrheiten, eine Urteilspraxis, die auf ideale Gebilde geht in Bezug auf Reales und zunächst auf Verkörperlichungen des Idealen. Also der Titel »Erkenntnis«: Das sind Formen der Praxis, die aufgrund der beständig erfahrenen Natur (als intersubjektiv zugänglicher, erfahrbarer), intentionale Gebilde schafft als Idealitäten, die, auf Natur intentional bezogen, »Erkenntnisse« für sie sind und die durch die naturalen Verkörperungen intersubjektiv zugänglich werden (Mitteilung). […] Oder eine Praxis wirtschaftlicher Nützlichkeiten, die Dinge zu solcher realen Gestalt umformt, dass sie jederzeit in einer weiter dann zu knüpfenden, offenen möglichen Praxis nützlich werden können – etwa als Werkzeuge. 271
Auch im Bereich der geistigen Erkenntnis betont Husserl nun stärker als früher den Aspekt der komplexen, logisch-sprachlichen Verknüpfung gegenüber der als simplex apprehensio verstandenen Wesensschau. Doch deutet er die dafür erforderliche Aktivität des erkennenden Subjekts als eine Form der »Erzeugung«, die nicht einfach nur die idealen Gedankeninhalte als solche miteinander verbindet, sondern im Zusammenhang mit der Wahrheitsfrage den logischen Gehalt der hervorgebrachten Urteilsverknüpfungen innerhalb der Wirklich271
E. Husserl, Die Lebenswelt (Hua XXXIX), 382 f. (Hervorhebungen im Original).
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keit in »verkörperter« Form wiederfinden muss. Nicht der Logos des reinen Denkens allein kann mehr die Wahrheit verbürgen, sondern nur der Logos, der zugleich als intelligible Struktur der materiellen Wirklichkeit innewohnt und als solcher sprachlich manifestiert werden kann. Letztlich setzt also für den späten Husserl jede sinnlich-wahrnehmungshafte wie auch jede theoretisch-wissenschaftliche Erkenntnis ein ursprüngliches praktisches Weltverhältnis des erkennenden Subjekts voraus. Der Primat der Weltorientierung kann deshalb vom phänomenologischen Standpunkt aus zugegeben werden, weil »Welt« nun nicht mehr gleichbedeutend ist mit einer neutral-objektiv verstandenen »Natur«. Die von Husserl in den Mittelpunkt gestellte »Lebenswelt« ist zwar eine vorphänomenologische Welt, die aber gerade nicht mit der von bloßen Dingkategorien bestimmten, homogen gedachten Welt der mathematischen Naturwissenschaften identisch ist. Als gemeinsamer Handlungshorizont für alle Vernunftsubjekte ist die Welt immer schon eine konkrete »Umwelt«, d. h. eine wesenhaft menschliche, mit Wertprädikaten und geschichtlich sedimentierten Sinnstiftungen ausgestattete Sphäre. Das bedeutet, dass das teleologische Fungieren auf eine solcherart humanisierte Welt hin zu keiner naturalistischen Selbstmissdeutung der menschlichen Subjekte führen kann, solange diese nicht die originären, humanisierenden Qualitäten der ihnen begegnenden Welt explizit abbauen, um eine abstraktiv gewonnene »bloße Natur« übrigzubehalten und sich von dieser her auszulegen. 272 Die von Husserl in Form einer »phänomenologischen Metaphysik« beschriebene Teleologie der Vernunftmonaden zielt somit nicht nur auf eine immer adäquatere Verwirklichung des Ideals evidenter, theoretischer Erkenntnis ab, sondern auch und vor allem auf eine ethisch-praktische Gestaltung des menschlichen Lebens und Zusammenlebens nach den Grundsätzen reiner transzendentaler Vernunft. Diese Einsicht verlangt vom Phänomenologen eine Abkehr von der Meinung, er verkörpere in sich schon das höchstmögliche Ideal vernünftigen Menschentums. Als Wissenschaftler muss er sich vielmehr eingestehen, dass die von ihm praktizierte Epoché als Durchgangsstadium zwar unverzichtbar ist, um der transzendentalen Konstitutionsleistung des reinen Bewusstseins innezuwerden, dass der eigentliche und primäre Gegenstand dieses leistenden Lebens jedoch nicht 272
Vgl. E. Husserl, Die Lebenswelt (Hua XXXIX), 311–314.
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die von der Phänomenologie thematisierten Quasi-Gegenstände sind, die der Beschreibung der Strukturen des reinen Bewusstseins dienen, sondern vielmehr die beständig existierenden Gegenstände der äußeren Welt. Daher muss er sich gleichsam in einer Epoché zweiter Ordnung noch der Verabsolutierung seiner Identität als transzendentalphänomenologischer Wissenschaftler entäußern, um das Leben und die darin erfahrene »Welt für alle« in ihrer transzendental nicht aufzulösenden Vorgegebenheit zu erkennen und sie als den eigentlichen Ursprung seiner phänomenologisierenden Tätigkeit zu begreifen. Man hat es also mit einem performativen Paradox zu tun, insofern die transzendentale Phänomenologie als theoretische, schauend-hinnehmende Form der Erkenntnis sehr wohl nötig ist, um der Tatsache innezuwerden, dass nicht die phänomenologisch-intuitive Grundhaltung, sondern das tätig-praktische Hinleben auf eine als faktisch seiend angesetzte, spezifisch menschliche Welt die »eigentliche«, keiner Rechtfertigung bedürfende Haltung des Bewusstseins ist. Doch auch dann handelt es sich bei diesem lebensweltlichen menschlichen Handeln nicht um eine naturale, nach außen gerichtete Kausalität, sondern um ein intentionales, ichliches Wirken, 273 das Teil der schöpferischen Selbstwerdung und Selbstverwirklichung des absoluten göttlichen Bewusstseins ist. 274 Während alle anderen Wissenschaften in der einen oder anderen Weise abstrakt sind, ist die Phänomenologie letztlich die allerkonkreteste Wissenschaft, 275 da sie die Lebenswelt in ihrer vorwissenschaftlichen Gestalt thematisiert – nicht, um sie in eine abstrakte Begrifflichkeit zu überführen, sondern um mit wissenschaftlichen Mitteln ihren absoluten Primat vor jeder Art von Wissenschaft – inklusive der Phänomenologie – zu verteidigen. Auch wenn der Phänomenologe mit seinem freien Entschluss zum Vollzug der Epoché einen Akt Vgl. E. Husserl, Die Lebenswelt (Hua XXXIX), 688. »Man spricht von einem ordnenden und schöpferischen Nous oder Gott; und das Bild eines übermenschlichen und doch menschenartig vorgestellten Geistes schwebt vor und dient als Analogon für das Erschaute, ohne dass man tiefer eindränge und die Möglichkeit eines so gedachten Gottes prüfte. […] diese analogisierende Apperzeption […] kann ihren Wert haben oder vielmehr ihre Wahrheit. Aber nur soweit sie Ausdruck einer erschauten Einheit ist und der Teleologieerfahrung, aber nicht soweit sie überschüssige Elemente enthält, die dem Sinn der Erfahrung schließlich widersprechen und sich nie ausweisen können« (E. Husserl, Die Lebenswelt [Hua XXXIX], 421). 275 So Husserls Deutung seines phänomenologischen Projekts in D. Cairns, Conversations with Husserl and Fink, 46. 273 274
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der Selbstschöpfung vollzieht und in diesem Sinne causa sui ist, 276 kann er doch zugleich nicht beanspruchen, mit Blick auf den Zwecksinn seines Tuns ein absolutes finis sui zu sein. In diesem Sinne verlangt Husserls Phänomenologie von dem, der sie betreibt, nicht nur die einmalige existenzielle Entscheidung zur radikalen Einstellungsänderung in der Epoché, sondern darüber hinaus den immer neu einzuübenden Verzicht auf die daraus vermeintlich erwachsenden theoretischen Herrschaftsansprüche. So, wie die Phänomenologie an verschiedenen Stellen innerhalb der Lebenswelt anhand bestimmter Fragestellungen aufbricht, 277 so muss sie sich letztlich wieder in diesen ursprünglichen Sinnzusammenhang einordnen und ihre wissenschaftliche Motivation aus dem gesamtmenschheitlichen Ziel einer ethischen Gestaltung des Lebens und Handelns in dieser Welt begründen. Letztlich kann der Phänomenologe also nur in dem Maße legitimerweise als transzendentalphilosophischer »Lesemeister« fungieren, wie er um die »lebemeisterliche« Dimension seines Tuns weiß und bereit ist, von der fälschlichen Verabsolutierung seiner wissenschaftlichen Aktivität zu lassen, um im radikalen Sinne geistig arm zu werden.
3.3
Die phänomenologische Bedeutung der Offenbarungsreligion
Trotz seines Vorhabens, die phänomenologische Behandlung der Gottesfrage ausschließlich vom Boden der natürlichen, philosophischen Vernunft aus anzugehen, muss sich Husserl vor dem Hintergrund seiner Analysen des wesenhaft geschichtlich-traditionalen Charaktes des transzendentalen Bewusstseins doch auch die Frage nach der phänomenologischen Bedeutung der historischen Offenbarungsreligion in neuer Weise stellen. Wohl betont er auch noch in den spät entstandenen Manuskripten zur »Lebenswelt«, dass der wissenschaftlich-philosophische Weg zu Gott ein atheistischer sei, der nicht auf historischer Offenbarung, sondern auf der Idee eines unbedingten Menschentums beruhe. 278 Gleichwohl ist aber auch erkennbar, dass Husserl die historische Religion nicht einfach als das schlechthin AnVgl. E. Husserl, Erste Philosophie. Zweiter Teil (Hua VIII), 19. Vgl. I. Kern, »Die drei Wege zur transzendental-phänomenologischen Reduktion in der Philosophie Edmund Husserls«, Tijdschrift voor filosofie 24 (1962), 303–349. 278 Vgl. E. Husserl, Die Lebenswelt (Hua XXXIX), 167. 276 277
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dere der Phänomenologie betrachtet, sondern beide als theoretischpraktische Ausprägungsformen des Geistes ansieht, die idealerweise im Laufe eines asymptotischen Prozesses miteinander konvergieren sollten. An einzelnen Stellen von Husserls Schriften wird eine gewisse begriffliche Osmose zwischen phänomenologischer Philosophie und biblischem Offenbarungsglauben erkennbar, etwa mit Blick auf einen Passus aus der Lebenswelt, der betont, dass die Verwiesenheit des reinen Ich auf Mitsubjekte keine nachträgliche Hinzufügung darstellt, sondern in der Struktur des reinen Ich selbst angelegt ist. Husserl schreibt diesbezüglich mit unüberhörbarem Anklang an Ex 3,14 bzw. an die Grundstrukturen der christlichen Trinitätstheologie: »Ich bin, der ich bin, aber als Ich seiend, trage ich Andere als für mich seiende in mir und somit als von mir, der ich bin, untrennbar«. 279 Diese Übernahme einzelner biblischer Formulierungen – wie auch die bereits erwähnte Verwendung des unum necessarium aus dem Lukasevangelium (Lk 10,42) – führt zwar nicht zu einer systematischen phänomenologischen Auseinandersetzung mit dem Text der Hl. Schrift, doch lässt sich beobachten, dass Husserl im Laufe der Zeit von einer rein äußerlich-phänomenologischen Betrachtung der biblischen Offenbarungsreligion als ausschließlich regulativer Instanz 280 zu einer Deutung übergeht, die der traditionellen religiösen Praxis sogar in gewisser Hinsicht einen Vorzug gegenüber der philosophischen Vernunfterkenntnis zubilligt. 281 In dem unveröffentlicht gebliebenen Aufsatz mit dem Titel »Formale Typen der Kultur in der Menschheitsentwicklung« geht Husserl der Frage nach dem Verhältnis von Religion und Kultur nach. Er unterscheidet dabei die »natürlich gewachsene« Religion, die auf einem mythologischen Fundament ruht und das gesamte GemeinschaftsE. Husserl, Die Lebenswelt (Hua XXXIX), 94. In einem Text aus dem Jahr 1910 bewertet Husserl die Kirche – ähnlich wie den Staat – lediglich als eine regulative Größe, d. h. eine Rechtsgemeinschaft, die das Verhalten des Menschen gegenüber Gott, den irdischen Repräsentanten Gottes sowie den Mitmenschen in bestimmter Weise normiert. Vgl. E. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Erster Teil, Beilage XIX (Hua XIII), 106 f. 281 Emmanuel Housset kommt zu der Einschätzung, dass Husserls Auffassung von der Rolle der Philosophen als »archontischer Monaden« dem christlichen Glauben zuwiderlaufe (vgl. E. Housset, Husserl et l’idée de Dieu, 207). An Husserls Spätphilosophie wird jedoch erkennbar, dass die besondere Stellung der Philosophen innerhalb der Gesamtmenschheit nur funktionaler Natur ist und daher zu den Geltungsansprüchen religiöser Leitgestalten (wie z. B. den Propheten des Alten Testaments bzw. der Person Christi) nicht wirklich in Konkurrenz treten kann. 279 280
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leben der Menschen prägt, vom Phänomen der »gestifteten Religion«. Im erstgenannten Falle – Husserl verweist auf das Beispiel der babylonischen Hochkultur – sind Religion und Kultur deckungsgleich, so dass keine kritische Infragestellung des einen Lebensbereichs durch den anderen stattfinden kann. 282 Die Religion greift dabei vor allem in ethisch-praktischer Weise in das Alltagsleben ein und normiert das gesellschaftliche Miteinander unter Verweis auf eine oder mehrere Gottheiten. Es ist offenkundig, dass in Husserls Augen eine solche monolithische Konzeption von Kultur nicht dem phänomenologischen Ideal entspricht, da die in ihr enthaltenen Sinnstiftungen in einer blinden Form von Traditionalität weitergegeben und übernommen werden, ohne auf ihre Legitimität hin befragt werden zu können. Interessanterweise ist auch das Judentum für Husserl anfangs eine solche »naive« Form von Religion, die das verpflichtende Moment der in der Hl. Schrift enthaltenen göttlichen Gebote unreflektiert voraussetzt und somit in einer inneren Unfreiheit verharrt. 283 Erst die tiefgehende Erschütterung der religiös-nationalen Identität, wie sie durch die Erfahrung des babylonischen Exils erfolgt, löst die bis dahin fraglose Identifizierung von Religion und staatlichgesellschaftlichen Strukturen auf und führt zu einer Individualisierung und Ethisierung des Gottesbezugs. 284 Das bedeutet, dass der Gläubige nunmehr seiner Religion gegenüber frei Stellung beziehen kann und dadurch in die Lage versetzt wird, deren mögliche Fehlformen und Fehlentwicklungen zu kritisieren und durch adäquatere Modelle der Gottesbeziehung zu ersetzen. 285 Letztlich ist für Husserl die Religion daher keine Sache des Gefühls, sondern zielt idealerweise auf eine Erkenntnis im Modus der theoretisch-praktischen Evidenz ab: Das heilsbedürftige Individuum und Volksglied besinnt sich von neuem über sein und seines Volkes Verhältnis zu seinem Gott. Wirksam kann dabei in besonderem Maße auch werden die zu jeder normal fortschreitenden kulturellen Entwicklung gehörige Vergeistigung der religiösen VorstellunVgl. E. Husserl, »Formale Typen der Kultur in der Menschheitsentwicklung«, in: ders., Aufsätze und Vorträge [1922–1937] (Hua XXVII), 60–63. 283 Vgl. E. Husserl, »Formale Typen der Kultur in der Menschheitsentwicklung«, in: ders., Aufsätze und Vorträge [1922–1937] (Hua XXVII), 63. 284 Vgl. E. Husserl, »Formale Typen der Kultur in der Menschheitsentwicklung«, in: ders., Aufsätze und Vorträge [1922–1937] (Hua XXVII), 64. 285 Vgl. E. Husserl, »Formale Typen der Kultur in der Menschheitsentwicklung«, in: ders., Aufsätze und Vorträge [1922–1937] (Hua XXVII), 66. 282
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gen […]. Im Gesamtgehalt der Religion wächst so ein immer reicherer Kern von intuitiv verstehbaren, von einer lichtvollen Evidenz durchleuchteten Wertgehalten, umkleidet von einer irrationalen Faktizität; ungeschieden gehen intuitive Einsicht und Irrationales zur Einheit des Glaubens zusammen. In immer höherem Maß gewinnt für den sich höherentwickelnden Menschen dieser rationale Kern mit seiner einsichtigen normativen Notwendigkeit im Glaubensinhalt den Hauptton und wird zur tragenden Kraft des ganzen Glaubens. 286
So gesehen, kann der Glaube nicht dauerhaft auf seinem unreflektierten Anfangsniveau verharren, sondern verlangt nach immer größerer Vergeistigung und vernunftgemäßer Durchdringung. Wohl wird der »irrationale Rest« der Faktizität des Glaubens – Husserl denkt hier vermutlich an die konkrete Kultpraxis und andere religiöse Riten und Traditionen – dadurch nicht völlig eliminiert, doch verschiebt sich der Hauptakzent im Laufe der Zeit immer mehr zugunsten des rational nachvollziehbaren und evident zu machenden Gehaltes der Religion. Den paradigmatischen Gegensatz zu den mythisch-vorkritischen Religionsformen bilden für Husserl daher die Offenbarungsreligionen, die sich einem ausdrücklichen historischen Stiftungsgeschehen verdanken und damit in sich schon den Aspekt der Freiheit, des Neubeginns und der kritischen Stellungnahme gegenüber individuell wie kollektiv habitualisierten Verhaltensweisen verkörpern. 287 Im Christentum sieht er diesen Grundgestus des Bruches mit dem Bisherigen am deutlichsten angelegt, und zwar nicht erst zu einem späteren historischen Zeitpunkt, sondern bereits im ursprünglichen Stiftungsmoment. In Husserls Augen richtet sich Jesu Predigt gar nicht mehr an die jüdische Staatsnation, sondern an das heilsbedürftige menschliche Individuum, um es aus seiner verfehlten, sündhaften Existenzweise herauszureißen, ihm eine echte Bekehrung zu ermöglichen und zugleich damit die Grenzen aller endlichen menschlichen Sozialitäten auf den Horizont der gesamten Menschheit hin aufzubrechen. 288 Zugleich damit vollzieht sich aber auch eine Verinnerlichung der Gottesauffassung selbst, die über den von außen her erfolgenden ethischen Anruf zur Umkehr hinausgeht und die 286 E. Husserl, »Formale Typen der Kultur in der Menschheitsentwicklung«, in: ders., Aufsätze und Vorträge [1922–1937] (Hua XXVII), 64 f. 287 Vgl. E. Husserl, »Formale Typen der Kultur in der Menschheitsentwicklung«, Beilage V, in: ders., Aufsätze und Vorträge [1922–1937] (Hua XXVII), 103. 288 Vgl. E. Husserl, »Formale Typen der Kultur in der Menschheitsentwicklung«, in: ders., Aufsätze und Vorträge [1922–1937] (Hua XXVII), 65–68.
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Vorstellung einer extrinsisch an den Menschen ergehenden Offenbarung durch ein unmittelbares Einheitsbewusstsein ersetzt: Die einheitliche Intuition erhält hier den Charakter einer Einheit ursprünglicher religiöser Erfahrung, also auch einer ursprünglich erlebten Beziehung zu Gott, in der sich das Subjekt dieser Intuition nicht als von einem äußerlich gegenüberstehenden Gott angesprochen und zum Träger einer mitteilenden Offenbarung bestimmt, sondern, als ihn in sich erschauend, mit ihm ursprünglich eins weiß, also sich selbst als Verkörperung des göttlichen Lichtes selbst und so als Mittler der Verkündigung göttlichen Wesens aus einem ihm selbst eingelegten Gehalt göttlichen Wesens. 289
Durch diese Erkenntnis der Präsenz des Göttlichen im eigenen Inneren befindet sich der Christ nicht mehr in der Haltung eines bloßen Adressaten der Verkündigung, der lediglich »an« Christus als den Mittler glaubt, sondern wird sich vielmehr der Tatsache bewusst, dass er kraft der Einheit mit dem göttlichen Wesen selbst zum Mittler Gottes geworden ist. Christus ist somit nicht mehr primär der Gegenstand des Glaubens, sondern verkörpert nur in exemplarischer Weise eine Form des Mittlertums, die grundsätzlich allen Menschen zu eigen sein kann. Eigentümlicherweise stellt Husserl es so dar, als sei dieser Prozess der Bewusstwerdung einer Immanenz des göttlichen Wesens in jedem Menschen und die daraus folgende Universalisierung des Mittlertums typisch für das Christentum als solches, obwohl dieser Gedanke der klassischen dogmatischen Lehre von der einzigen Mittlerschaft Christi offenkundig widerspricht. Bei dieser Universalisierung christologischer Grundstrukturen handelt es sich ganz offenbar um einen Gedanken aus der mystischen Tradition, der insbesondere von Meister Eckhart nicht nur in geistlicher Hinsicht vertreten, sondern auch in philosophisch-theologischer Hinsicht theoretisiert wird. 290 Interessant ist Husserls Übernahme mystischer Denkstrukturen vor allem deshalb, weil die Grundorientierung der von ihm geschilderten existenziellen Wandlung unter religiösen Vorzeichen – von der äußerlichen Vermittlung zum persönlichen, transformativen Innewerden der im Ich schon angelegten Wirklichkeit – in formaler Hinsicht genau mit jener radikalen Einstellungsänderung übereinstimmt, die der Phänomenologe im Rahmen seiner wissenschaft289 E. Husserl, »Formale Typen der Kultur in der Menschheitsentwicklung«, in: ders., Aufsätze und Vorträge [1922–1937] (Hua XXVII), 65. 290 Vgl. Eckhart, In Ioh. n. 117, LW III 101,14–102,11.
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lichen Tätigkeit vollziehen muss. Vor diesem Hintergrund kann Husserl der Offenbarungsreligion und der darauf aufbauenden Theologie einen positiven phänomenologischen Sinn abgewinnen, sofern sie eine authentische Form von Tradition stiften. Deren Echtheit und Legitimität bemisst sich daran, ob sie letztlich auf ursprünglichen Evidenzerlebnissen beruht, 291 die dazu angetan sind, den Menschen aus seinem sündhaften »Abfall von sich selbst« herauszureißen und ihn zur wahren Selbstwerdung als freies Vernunftwesen und Mitglied der teleologischen Gemeinschaft aller Vernunftmonaden hinzuführen. 292 In diesem Sinne steht die Offenbarungsreligion nicht per se in Gegensatz zur philosophischen Vernunft, sondern kann sich als Verbündete der Phänomenologie erweisen, insofern sie im Ausgang von der historischen Faktizität dieselbe Idee jener universalen intersubjektiven Vergemeinschaftung aller Menschen entwickelt, zu der die Transzendentalphänomenologie in unhistorischer Weise auf dem Weg der denkerischen Selbstbesinnung kommt. 293 Dabei zieht im religiösen Kontext die Idee des einen Gottes als notwendige Korrelatidee den Gedanken der einen Menschheit und der einen Welt nach sich, während die Philosophie den Gedanken der Einheit der Welt und der Menschheit zunächst auf »atheistische« Weise entwickelt, um ihre Korrelation im Rahmen einer teleologischen Geschichtsbetrachtung letztlich im Begriff des einen Gottes zusammenzuführen. 294 Während Husserl in der Frühphase seines Denkens das Verhältnis von Religion und philosophischem Vernunftdenken als eine Beziehung denkt, die vor allem in eine Richtung verläuft – nämlich von der Philosophie zur Religion, um deren Glaubensinhalte kritischVgl. E. Husserl, Grenzprobleme der Phänomenologie (Hua XLII), 178. Vgl. E. Husserl, Grenzprobleme der Phänomenologie (Hua XLII), 214. 293 Vgl. E. Husserl, Die Lebenswelt (Hua XXXIX), 166 f. 294 »Der eine Gott, Gott schlechthin, ist das Korrelat des Menschen schlechthin, d. h. hier, eines jeden wirklichen oder erdenklichen Menschen, und wieder das Korrelat der Welt, die die eine und einzige ist, sich, in welchen Umwelten immer, für Menschen darstellend. Die universal-menschliche religiöse Forderung ist also nichts anderes als die Forderung jener absolut universalen religiösen Ethik, der Ethik jener Humanität, die alle Völker, irdische und Marsvölker, transzendiert: vermöge der Einzigkeit Gottes« (E. Husserl, Die Lebenswelt [Hua XXXIX], 165 f.; Hervorhebungen im Original). Die Nähe dieses Ansatzes zur Religionsphilosophie Hermann Cohens ist offenkundig, da dieser ebenfalls die Entstehung der Idee der einen Menschheit als Konsequenz der im Judentum erstmals formulierten Lehre des einen Gottes ansieht (vgl. H. Cohen, Ethik des reinen Willens, 52; ders., Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, Wiesbaden, Marix Verlag, 2008, 296–333). 291 292
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rational zu klären –, kommt er in späteren Jahren zu dem Schluss, dass die traditionellen Formen des religiösen Lebens unter Umständen sogar einen Vorzug gegenüber der Philosophie besitzen. Die Aufwertung des ursprünglich als »irrational« eingestuften, nicht in vernünftige Evidenzen überführbaren Restes von Religion ist die unmittelbare Konsequenz von Husserls Einsicht in die unhintergehbare Vorgegebenheit der Lebenswelt, die jeder bewussten Vernunftaktivität und jeder einzelnen Stellungnahme bzw. kritischen Einstellungsänderung innerhalb der Welt immer schon vorausgeht. In dem Maße, wie sich die Einsicht Bahn bricht, dass nicht die Erkenntnis theoretischer Evidenzen als solche das letzte Endziel menschlicher Existenz innerhalb der Welt ist, sondern die Verwirklichung des ethischen Ideals des wahren Menschentums, wird ersichtlich, dass die traditionelle Religion in einem entscheidenden Punkt der Philosophie überlegen ist: Innerhalb der religiösen Grundhaltung ist die Verknüpfung zwischen theoretischer Erkenntnis und ethischer Praxis von vornherein wesentlich enger gestaltet als im Bereich des philosophischen Vernunftdenkens. Die Glaubensunterweisung erschöpft sich ja nicht in einer neutralen Schilderung von Fakten über Gottes Wesen und sein Verhältnis zum Menschen sowie zur Wirklichkeit insgesamt, sondern besitzt von vornherein eine existenzielle, auf die grundlegende Transformation des eigenen Lebens und Handelns abzielende Dimension. Unter diesem Gesichtspunkt kommt Husserl zu dem Schluss, dass es nicht unbedingt nötig und unter Umständen auch gar nicht immer möglich ist, die Traditionsformen, aus denen man lebt, zur Gänze auf die originären Urevidenzen zurückverfolgen zu können. Vielmehr gibt es durchaus legitime Formen von institutionell tradierten und somit nur mittelbar gegebenen Evidenzen und Wahrheiten, denen man vertrauen und von denen man das eigene Leben bestimmen lassen darf, ohne das opake Gewebe aus historisch sedimentierter Faktizität bis ins Letzte transparent machen zu können: Wie in der Sphäre der Religion: Auch da gibt es Leitung. […] Die Leitung kann also darin bestehen, dass ich, nachdem ich bis zu einer gewissen Grenze schon folgen konnte und die überlegene religiöse und moralische Tiefe anerkennen musste, auch darüber hinaus mich bescheide und verehrungsvoll beuge und danach strebe, auch in dem noch Unerschöpften und Unverstandenen erschöpfendes Verständnis zu gewinnen, und mich durch die Präsumption der Wahrheit also leiten lasse. Sie kann auch darin bestehen, dass ich vorläufig innerlich zustimme und somit jene Assension als Übernahme der Überzeugung vollziehe, die ich hinsichtlich naturwissenschaftli-
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cher Dinge, Theorien, vollziehe, die ich nicht selbst nachprüfen kann und vielleicht nie werde nachprüfen können. Auch in religiös-ethischer Beziehung können Dinge für mich zu hoch liegen, und ich hkanni sie doch, innerlich gläubig, bestimmend werden lassen. Der Glaube macht nicht nur selig, er ist auch gefordert; er erhöht, obschon es nicht ursprünglich eingesehener, sondern nur indirekt als vernünftig bewusster Glaube ist. 295
In diesem Passus entfaltet Husserl einen Gedanken, der dem von ihm formulierten Grundprinzip phänomenologischer Forschung – nämlich der notwendigen Rückführung aller vermittelten Bewusstseinsund Erkenntnisformen auf unmittelbare, selbstgebende Anschauung – zu widersprechen scheint. Doch gelangt Husserl dahin, in bestimmten Fällen eine solche mittelbare Wahrheitserkenntnis als legitim und eventuell sogar notwendig anzuerkennen, sofern die Durchführung einer restlosen Evidentmachung in praktischer Hinsicht nicht geleistet werden kann. Interessanterweise verweist er in diesem Zusammenhang auf den Bereich der Naturwissenschaften, denn deren allgemein als »gesichert« angesehene Erkenntnisse sind aufgrund der zunehmenden Komplexität wissenschaftlicher Theorien in vielen Fällen für die meisten Menschen auch nur im Modus mittelbarer Erkenntnis gegeben, während es einigen wenigen Spezialisten vorbehalten bleibt, die dazugehörigen theoretischen Evidenzen im Modus selbstgebender Anschauung nachvollziehen zu können. Dennoch tendieren die Menschen dazu, im Bereich der Naturwissenschaften ganz selbstverständlich den »Eingeweihten« zu vertrauen und den von ihnen vorgetragenen Theorien Glauben zu schenken, ohne sich je durch aktuellen Nachvollzug der entsprechenden theoretischen Gedankengänge von deren Richtigkeit persönlich überzeugen zu können. Im Bereich des religiösen Glaubens gilt nun für Husserl dasselbe Prinzip: Wohl kann man versuchen, das, was an den Glaubenslehren dunkel und unverständlich scheint, durch denkerische Anstrengung aufzuhellen und gedanklich zu durchdringen, während man die entsprechende religiöse Praxis weiterhin vollzieht. Man kann aber auch auf eine solche vernunftgemäße Einholung des Glaubens verzichten und die eigene Lebensführung doch davon prägen lassen. Ein solches Vorgehen mag im ersten Augenblick unkritisch und insofern bedenklich wirken, doch ist es keineswegs so, dass einem solchen Sich-leitenLassen jedes Kriterium der Legimität fehlte: Wie Husserl ausdrück295 E. Husserl, Grenzprobleme der Phänomenologie (Hua XLII), 275 f. (Hervorhebungen im Original).
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lich betont, ist es das positive Vorbild anderer durch den Glauben maßgeblich geprägter Menschen, das die vertrauensvolle Haltung des einfachen Gläubigen gegenüber der Kirche rechtfertigt: Wer aber als einfacher Mensch die überragende Kraft derjenigen, die in der Kirche selig geworden sind, und die überragende Kraft edler Seelsorger und Kirchenlehrer erfahren hat, wird sich rechtmäßig ihrer Leitung anvertrauen und wird die »heilige Mutter Kirche« als zur Seligkeit leitende Autorität vernünftig anerkennen müssen. Nur ein solches Verhalten kann er verantworten. Und inwiefern ich meine andersartige Schätzung in positiver und negativer Richtung zugleich ihm gegenüber zur Geltung bringen darf, das ist wieder eine Frage meiner Selbstverantwortlichkeit, die keineswegs leichthin im Sinn der »Aufklärung« entschieden ist. 296
Diese letzte Aussage ist ein erstaunliches Zugeständnis Husserls an die Interessen und Belange der rudes, d. h. all derjenigen Menschen, die in der Haltung des einfachen Glaubens verharren, ohne ihn philosophisch-theologisch reflektieren zu können. Auch wenn diese Personen aus Mangel an Zeit oder intellektueller Begabung zu einer denkerischen Einholung der ursprünglichen Glaubensevidenzen nicht fähig sind, besteht doch kein Grund dazu, vom philosophischen Standpunkt aus auf sie herabzuschauen und ihre Glaubensgewissheit als unreflektierte Verfallenheit an eine uneigentliche Existenzweise zu brandmarken. Das Element der intersubjektiven Bewährung von Wahrheit kommt nämlich auch hier ins Spiel, wenngleich in der traditionell-religiösen Form der »Gemeinschaft der Heiligen«. Auch wenn die theologischen Grundaussagen nicht immer auf geistiger Ebene mit- und nachvollzogen werden können, so bieten doch die großen Gestalten der jeweiligen Glaubenstradition eine inkarnierte und insofern unmittelbar anschauliche Form der Evidenz religiöser Wahrheit. 297 Unter diesem Gesichtspunkt kommt Husserl zu einer überraschend positiven Bewertung der institutionellen Seite der Kirche, da eine sichtbare Organisationsform von Religion am ehesten dazu angetan ist, der Einübung ethisch-moralischer Normen einen intersubjektiven Vollzugsrahmen zu bieten: E. Husserl, Grenzprobleme der Phänomenologie (Hua XLII), 276 (Hervorhebungen im Original). 297 »Einheit der Sozialität ›Kirche‹ und der kirchlichen ›Kultur‹ in ihrer kontinuierlichen Fortentwicklung – in der Kontinuität eine Fortentwicklung der religiösen Erfahrung, die als kontinuierliche eine Kontinuität der Bewährung ist, Bewährung durch fortgeschrittene Gottesseligkeit« (E. Husserl, Grenzprobleme der Phänomenologie [Hua XLII], 262). 296
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Was gibt der idealen Kirche Autorität? Denken wir uns zur Naturwissenschaft gehörig eine Behörde, die ihren Zweck darin hätte, die naturwissenschaftliche Erkenntnis zu verwerten und ihre Anwendung nutzbar zu machen. Hätten wir also nicht zu denken eine theoretische Religionswissenschaft, eine Wissenschaft von den göttlichen Dingen, eine Theologie, und als Organisation ihrer Praxis eine Kirche, welche, den verschiedenen Stufen der Individualitäten entsprechend, für sie auf Grund der Theologie praktisch-religiös sorgt, ihnen stufenweise das entsprechende Maß religiöser Einsichten vermittelt: in der niedersten Stufe aus bloßer Anschauung heraus, in höherer Stufe unter Heranziehung theologischer Theorie; dabei pädagogisch praktisch erzieht, haufi der niederen Stufe durch Symbole und Bilder das fühlbar macht und hsoi Mittel demütiger Verehrung hdesseni schafft, das auf höherer Stufe in theoretische Einsicht ausgemünzt und da im höheren Sinn praktisch leitend werden kann? 298
Der Vorzug der kirchlich organisierten Religion gegenüber der Philosophie besteht folglich darin, dass sie denjenigen, die nicht – oder noch nicht – zu einer gedanklichen Durchdringung der Glaubenswahrheiten fähig sind, für die konkrete Umsetzung der aus diesen Wahrheiten folgenden Handlungsnormen praktische Schematismen bietet, deren Durchführbarkeit nicht von einer zuvor persönlich erworbenen theoretischen Evidenz abhängig ist. Insofern Husserls philosophischer Gottesbegriff eine eminent ethisch-praktische Funktion besitzt, kann er der traditionellen Religiosität in diesem Punkt einen grundsätzlichen Vorsprung zugestehen, denn diese beginnt bei der Glaubenspraxis, die in weiterer Folge theoretisch reflektiert und durchdrungen werden kann, aber nicht muss. Demgegenüber fängt der philosophische Weg zu einem vernunftgemäß begründeten universalethischen Menschentum mit den theoretischen Bemühungen der Transzendentalphänomenologie an, die jedoch über keinen konkreten innerweltlichen Ort verfügt, an dem die Umsetzung der daraus folgenden praktischen Konsequenzen in pädagogisch geeigneter Weise eingeübt werden könnte. Gerade aufgrund ihres rein geistigen, ideell-intentionalen Charakters fällt es der Gemeinschaft der philosophischen Vernunftmonaden deutlich schwerer als der historisch-institutionell verankerten Offenbarungsreligion, sich für ihre Ideen und Gedanken nicht nur in theoretischer Weise Gehör zu verschaffen, sondern die Menschen konkret zu einer bestimmten Lebensführung anzuleiten. 298 E. Husserl, Grenzprobleme der Phänomenologie (Hua XLII), 276 f. (Hervorhebungen im Original).
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Aus diesem Grunde kommt Husserl zu der Einsicht, dass historische Religion grundsätzlich nicht in Philosophie »aufgehoben« werden kann und dies auch gar nicht soll, da sich diese beiden Formen einer existenziellen Grundhaltung im Angesicht des Absoluten nur unter der Bedingung ihrer innerweltlichen Unterschiedenheit gegenseitig klären, korrigieren und ergänzen können. Allerdings sieht er sie unter dem Gesichtspunkt einer historischen Entwicklung idealerweise in einer Annäherung begriffen, deren Konvergenzpunkt im Unendlichen liegt: Eine autonome Philosophie, wie es die aristotelische war und wie sie eine ewige Forderung bleibt, kommt notwendig zu einer philosophischen Teleologie und Theologie – als inkonfessioneller Weg zu Gott. Aber eine solche Philosophie, indem sie Rechenschaft gibt von hderi Notwendigkeit der Welt als Welt mit und für Menschen und damit des menschlichen Daseins in einer historisch sich gestaltenden Religion, muss auch Rechenschaft dafür abgeben, wie heinei historisch konkrete Religion die zeitliche Gestalt der Religion sub specie aeternitatis ist und hdiesei in ihrer ewigen Notwendigkeit in sich trägt. Es bedarf daher einer philosophischen Theologie eines zweiten Sinnes, einer auf dem Boden der Konfession stehenden. Hier ist autonome Philosophie das Werkzeug, um verständlich und einsichtig zu machen, warum der zeitlich gewordene, mit Vorstellungen der historischen Situation und in der Sprache einer Zeit sich mitteilende Glaube sich rechtmäßig als absolute Wahrheit ausgeben könne und das auch trotz des Wandels der religiösen Formen von Interpretationen, auch von philosophischen Interpretationen. […] Im Unendlichen decken sich Philosophie (die immer konkreter werdende) und Theologie, die immer philosophischer werdende. 299
Anstatt wie Heidegger die konfessionell geprägte Philosophie als »hölzernes Eisen« und theologische wie philosophische Fehlentwicklung zu schmähen, 300 sieht Husserl sie sogar als ein Erfordernis an, um begreiflich machen zu können, dass religiöse Glaubensinhalte ungeachtet ihrer konkreten historischen Gestalt eine überhistorische, unbedingte Bedeutung haben können. Ebenso betrachtet er aber auch die Entwicklung einer nichtkonfessionellen philosophischen Theologie weder als entbehrliche Zutat noch gar als verhängnisvolle Abirrung auf dem Weg zu einer streng wissenschaftlichen Philosophie, sondern erklärt eine solche begrifflich-apriorisch verfahrende GottesE. Husserl, Grenzprobleme der Phänomenologie (Hua XLII), 259 f. Vgl. M. Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens (GA 60), 104 f.; ders., Einführung in die Metaphysik (GA 40), Frankfurt a. M., Klostermann, 1983, 8 f.
299 300
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lehre auch vom innerphilosophischen Standpunkt aus für notwendig. Letztlich darf diese aber nicht auf der Ebene der Begrifflichkeit stehenbleiben, sondern muss sich konkretisieren, so wie umgekehrt der Offenbarungsglaube mitsamt der aus ihm entspringenden Theologie einer Klärung und Reinigung der ihm eigenen Faktizität und Historizität durch philosophische Reflexion bedarf. Letztlich ist der ideale Fluchtpunkt dieser wechselseitigen Osmose von philosophischer Gotteslehre und philosophisch reflektierter Offenbarungstheologie eine Gestalt des Logos, die gleichermaßen universale Vernunft wie universale inkarnatorische Präsenz innerhalb der faktischen Menschheitsgeschichte ist. Dennoch ist damit kein absolutes, selbstsetzendes Wissen verbunden, da auch das als All-Ich verstandene göttliche Bewusstsein mit Blick auf die sinnlichen Gehalte seiner Welterkenntnis die Erfahrung einer Vorgegebenheit macht, die sich nicht in selbstsetzende Produktivität auflösen lässt. 301 Die Herkunft der hyletischen Aspekte der Welterfahrung ist somit etwas, das unter phänomenologischen Voraussetzungen nicht auf eine prima causa zurückgeführt werden kann, sondern selbst für Gott letztlich ein Rätsel bleibt. Auch wenn Husserl mit Blick auf die Person Christi nie direkt von der »Menschwerdung Gottes« im eminenten Sinne spricht, beinhaltet seine Deutung des Verhältnisses von Gott und Welt doch ein Äquivalent zur neutestamentlichen Vorstellung der Kenose: Der absolute Logos unterwirft sich der Vorgegebenheit der sinnlichen Wirklichkeit, um ihr Woraufhin im Sinne der Wahrheit und des Guten zu leiten, ohne sie dabei mit Blick auf ihr materiales Von-Woher als oberste ἀρχή (arché) beherrschen zu wollen.
3.4
Die bildlose Intentionalität der religiösen Einstellung
Es ist ein ebenso bekanntes wie bedenkenswertes Faktum, dass nicht wenige prominente Vertreter der phänomenologischen Bewegung – Max Scheler, Martin Heidegger, Edith Stein, Gerda Walther und Hedwig Conrad-Martius, um nur die wichtigsten zu nennen – sich intensiv mit religionsphänomenologischen bzw. religionsphilosophi301 »Descartes hat nicht in Rechnung gezogen, dass alle ›Sinnlichkeit‹, also alle ursprüngliche Evidenz von der Welt als sinnliche Erfahrungsevidenz wesenmäßig präsumtiv ist, dass also Weltgegebenheit wesensmäßig Vorurteil ist (auch für Gott), und dass keine Theorie daran etwas ändern kann« (E. Husserl, Grenzprobleme der Phänomenologie [Hua XLII], 152).
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schen Fragen auseinandergesetzt haben. 302 Ebenso bedenkenswert ist allerdings der Umstand, dass Husserl diesen Versuchen seiner Schüler ausgesprochen kritisch gegenüberstand. 303 Für diese ablehnende Haltung war weniger die religiöse Thematik als solche ausschlaggebend als vielmehr der Umstand, dass die Auseinandersetzung mit diesen Fragen nicht mehr vom Boden der Transzendentalphänomenologie aus geführt wurde, sondern ausgehend vom innerweltlich »naiv« vorgefundenen Faktum des Religiösen bzw. von explizit metaphysischen Prämissen. Damit wurde die Möglichkeit vertan, sich in einer neuen und weit bezwingenderen Weise mit der Gottesfrage und dem Phänomen der Religion auseinanderzusetzen, nämlich auf dem Wege einer strikt innerhalb der Epoché verbleibenden Analyse derjenigen Bewusstseinsstrukturen, die sowohl dem Göttlichen als auch der religiösen Grundhaltung des Menschen einen apriorisch notwendigen Ort zuweisen. Im Gegensatz zu seinen Schülern war Husserl selbst geduldig genug, die existenzielle Spannung auszuhalten, die sich zwischen der ursprünglichen religiösen Motivation seines Philosophierens und der vorerst fehlenden Möglichkeit, diese in systematisch kohärenter Weise phänomenologisch zu thematisieren, auftat. Diese gedankliche Disziplin behielt er in einem derart hohen Maße bei, dass er dort, wo andere Philosophen aufgrund der Lektüre der Ideen I den Eindruck bekommen hatten, er hege in diesem Werk unmittelbar metaphysische Absichten, dieser Fehlinterpretation energisch entgegentrat. 304 Somit ist es nicht überraschend, dass er erst relativ spät dahin 302 Vgl. M. Scheler, Vom Ewigen im Menschen, Leipzig, Verlag der Neue Geist, 1921; M. Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens (GA 60); E. Stein, Endliches und ewiges Sein: Versuch eines Aufstiegs zum Sinn des Seins (Gesamtausgabe, Bd. 11/12), Freiburg, Herder, 2006; dies., Erkenntnis und Glaube (Gesamtausgabe, Bd. 15), Freiburg, Herder, 1993; G. Walther, Zur Phänomenologie der Mystik, Halle, Niemeyer, 1923; H. Conrad-Martius, Metaphysische Gespräche, Halle, Niemeyer, 1921, 115–241. 303 Vgl. E. Husserl, »Brief an Daniel Feuling vom 30. 03. 1933«, in: ders., Briefwechsel, Bd. 7: Wissenschaftlerkorrespondenz (Hua Dok III/7), Dordrecht / Boston / London, Kluwer, 1994, 87–90, hier 88 f. 304 »Zu dem Grundlegenden, zur Elementargrammatik sozusagen des Transzendentalen gehört nicht Welt, Weltschöpfer, ›Sinn‹ (teleologischer Sinn) der Welt. Aber ich meine, daß der Weg der transzendentalen Phänomenologie der einzig mögliche ist, um wissenschaftlich zu allen höchsten und letzten Fragen zu kommen, also auch zur Frage des ›Weltsinnes‹. Für den genauen Kenner meiner Versuche ist es auch klar, in welche Richtung eine strenge Wissenschaft ›von unten‹ her weist – sicher nicht in die einer Entgöttlichung und Naturalisierung der Welt und am Ende auf eine geistlose und verabsolutierte psychophysische Natur, also nicht auf das, was Sie wohl unter
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gelangte, die Gottesfrage sowie das konkrete Phänomen der Religion nicht nur als Idee und bloße Möglichkeit, sondern als für die Phänomenologie unmittelbar relevantes Thema anzugehen. Auch wenn Husserl bis in seine letzten Lebensjahre hinein mit der Analyse konkreter religiöser Praktiken und Rituale eher zurückhaltend ist, gibt es doch vereinzelt Passagen, in denen er religionsspezifische Haltungen und Grundvollzüge einer phänomenologischen Betrachtung unterzieht. In Grenzprobleme der Phänomenologie findet sich ein kurzer, doch umso bemerkenswerterer Text, in dem er auf die Problematik des »Gottesbildes« zu sprechen kommt und in diesem Zusammenhang auch das spezifisch religiöse Phänomen des Gebetes erörtert: Im wirklich innigen Gebet, dem echten, ist das betende Ich nicht nach außen, sondern nach innen gerichtet. Alle kultischen Bilder sind Bilder, und doch wiederum nicht Bilder; denn schon wenn Gott als »Vater« weltlich, real, mit der Struktur eines wirklichen Vaters vorstellig gemacht wird, ist Gott nicht mehr als Gott vorstellig. Ein Bild aber muss mit dem Abgebildeten echte Analogie haben, Identität einer Wesensform. Es ist natürlich ein großes Problem – dessen Lösung zum Abschluss der Philosophie gehört –, verständlich zu machen, was für heinei »Symbolisierung« in den religiösen Symbolen statthat und, wenn dazu Verähnlichung gehört, in welcher Richtung sie statthat. Jedes Bild Gottes dirigiert den Blick äußerlich; die wirkliche aktuelle Beziehung zu Gott ist aber eine innerliche, die Inneneinstellung des Gebets. 305
Diese Ausführungen bringen das Grundproblem aller phänomenologischen Betrachtung des religiösen Bewusstseins auf den Punkt: Wenn die Phänomenologie stets davon ausgeht, dass sich das Bewusstsein in intentionaler Weise auf bestimmte noematische Inhalte oder Gegenstände bezieht, Gott aber im radikalen Sinne als bildlos und ungegenständlich gedacht werden muss, stellt sich die Frage, ob man sich im Gebet überhaupt noch sinnvollerweise »an« ihn wenden kann. Husserl betont mit erstaunlichem Nachdruck, dass jede konkrete, begrenzte Vorstellung, die man sich von Gott machen kann, in diesem Sinne gerade nicht mehr Vorstellung von Gott ist, sondern lediglich ein analoges Symbol, das Gottes Wesen nicht wirklich trifft. dem Titel ›moderne Wissenschaft‹ meinen« (Edmund Husserl, »Brief an Paul Feldkeller vom 25. 05. 1925«, in: ders., Briefwechsel, Bd. 6: Philosophenbriefe [Hua Dok III/6], Dordrecht / Boston / London, Kluwer, 1994, 99). 305 E. Husserl, Grenzprobleme der Phänomenologie (Hua XLII), 246.
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Diese husserlsche Variante der negativen Theologie läuft aber nicht darauf hinaus, lediglich den Objektpol der Intentionalstruktur leer zu lassen bzw. jede Form noematischer Gegenständlichkeit zu destruieren, um nur noch den ungegenständlichen noematischen Außenhorizont übrigzubehalten. Vielmehr soll die Einsicht in die Bildlosigkeit und Ungegenständlichkeit Gottes dazu führen, dass sich die Richtung der Intentionalität umkehrt und statt auf eine äußere Instanz auf das eigene Innere gerichtet ist. Hier findet das Ich aber auch keine »inneren Gegenstände« vor, sondern einen völlig ungeformten Leerhorizont. 306 Das Gebet ist nun für Husserl diejenige Haltung, in der man auf diesen inneren Horizont der Unbestimmtheit bewusst ausgerichtet ist, ohne ihn in der einen oder anderen Weise konkretisieren zu wollen. Letztlich erweist sich dieser Innenhorizont ohne etwas darin Erscheinendes aber nicht als ein Minimum der Phänomenalität, sondern schlägt um in den Universalhorizont der apriorischen inneren Gemeinschaft mit allen Menschen und mit Gott: Die Innenrichtung der Religion bzw. des Betenden als des Gott-suchendFindenden und der betenden Gemeinschaft als in eins so tuend, also in Gemeinschaft mit Gott in Gemeinschaft, besagt, wie schon diese Worte zeigen, nicht Richtung in das Innen als mein Privates. Diese Innenrichtung ist parallel mit der phänomenologischen Innenrichtung, bei welcher durch mein Innen hindurch der Weg geht in alle Anderen (als Innen-Andere, nicht als äußerliche Menschen, als raumzeitlich reale) und dadurch erst auf die Welt und auf eigenes und fremdes Menschendasein. 307
Mit dem »Innen« der Gebetshaltung ist also gerade nicht die relative, reale Immanenz der eigenen Individualseele gemeint, sondern die absolute Immanenz des transzendentalen Bewusstseins, die aufgrund der apriorischen Verbindung des reinen Ich mit sämtlichen anderen alter egos zugleich aber auch das radikale Außen egologischer Selbstüberschreitung bildet. 308 Die von Husserl postulierte Parallelität zwischen der betenden Grundhaltung und der des phänomenologischen Vgl. E. Husserl, Grenzprobleme der Phänomenologie (Hua XLII), 246. E. Husserl, Grenzprobleme der Phänomenologie (Hua XLII), 247. 308 Emmanuel Housset kommt mit Blick auf Husserls religionsphilosophischen Ansatz zu dem Schluss: »La clôture égologique rend impensable toute description de l’expérience religieuse comme extase de la conscience« (E. Housset, Husserl et l’idée de Dieu, 89). Diese Aussage ist mit Blick auf den Ansatz der Ideen I wohl zutreffend, doch macht das obige Zitat deutlich, dass Husserl in späteren Jahren sehr wohl den Gedanken einer intersubjektiv-ekstatischen Selbstüberschreitung des religiösen Bewusstseins entwickelt hat. 306 307
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Philosophierens ist dabei von besonderem Interesse, weil sie deutlich macht, dass der Gläubige, wenngleich mit anderen Mitteln, zu derselben Erkenntnis gelangt wie der Transzendentalphänomenologe, nämlich dass nur über ein richtig geordnetes inneres Verhältnis zur Menschheit insgesamt und zu Gott als ihrem absoluten Einheitskorrelat ein adäquates Verhältnis zur Welt und zu konkreten Mitmenschen gewonnen werden kann. So verstanden, ist religiöse Praxis gerade keine »Privatsache«, sondern eine eminent öffentliche Angelegenheit, insofern die ihr zugrunde liegende Horizontintentionalität darauf abzielt, die Verengungen eines empirischen Individualbewusstseins bzw. beschränkten Gruppenbewusstseins durch die Ausrichtung auf eine offen-unendliche Form universaler Intersubjektivität zu überwinden. So gesehen, können nicht nur die Philosophen, sondern auch gläubige Personen »Funktionäre der Menschheit« sein, und zwar in dem Maße, wie ihr Gebet Gott nicht zu einem äußeren Gegenstand der Andacht macht und von ihm »etwas Bestimmtes« erbittet, sondern vielmehr die eigene innere Grundhaltung dahingehend verändert, dass das Zentrum der eigenen Innerlichkeit zugleich immer auch schon die unendlich ferne Peripherie der gesamten Menschheit mit umspannt. Religion begründet für Husserl also gerade keine kultur- oder gruppenbezogene Sonderidentität, sondern hat die Aufgabe, solche Partikularismen aufzubrechen und – wenngleich mit anderen Mitteln – im Einzelnen dasselbe Universalitätsbewusstsein zu wecken, das die Philosophie durch begrifflich vermittelte Selbstbesinnung zu erreichen versucht. Wie schon bei Eckhart, so zeigt sich demnach auch bei Husserl die Stärke des Geistes durch ein besonders geartetes Nach-innenWirken, dessen Reichweite gleichwohl unendlich größer ist als die einer naturkausalen Expansion nach außen. Darüber hinaus ist die von Husserl skizzierte Dialektik des Umschlags von »Innen« nach »Außen« in der Haltung des Gebets wie auch in der des phänomenologischen Denkens deshalb so bemerkenswert, weil sie sich von jenen Ansätzen innerhalb der neueren Phänomenologie abhebt, die das phänomenologische Absolute in der reinen Innerlichkeit der Selbstaffektion verorten. 309 Letztlich ist aber genau die vermeintliche EntVgl. M. Henry, L’essence de la manifestation (2 Bd.), Paris, Presses Universitaires de France, 1963, 81–90. 573–862; ders., C’est Moi la Vérité. Pour une philosophie du Christianisme, Paris, Seuil, 1996, 46–70. 90–119; R. Kühn, Studien zum Lebens- und Phänomenbegriff, Cuxhaven, Junghans, 1994, 204–261.
309
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gegensetzung von Innen und Außen, von »Immanenz« und »Transzendenz« noch ein Residuum jenes metaphysischen Denkens, das die Bereiche der Wirklichkeit in einem räumlichen oder quasi-räumlichen Außereinander betrachtet, anstatt sie als Differentiale einer Bewegungskurve zu deuten, deren Verlauf sich aus der jeweiligen Richtung des thematischen Fokus innerhalb ein und derselben Intentionalitätsstruktur des Bewusstseins ergibt. In diesem Sinne ist das reine Ich in seiner transzendentalen Struktur immer schon weiter »draußen«, als es durch die faktische Begegnung mit anderen Menschen oder Dingen je sein könnte; verkörpern diese doch nur einzelne, begrenzte Verwirklichungen einer Andersheit, denen auf der Wesensebene ein unendlicher Horizont egologischer Selbsttranszendenz gegenübersteht. Das transzendentale Bewusstsein ist in der spezifischen Haltung des Gebetes wie des phänomenologischen Denkens also genau in dem Maße es selbst, wie es auf nichts »Besonderes« mehr eingestellt ist, sondern reine Offenheit geworden ist, die sich weder von Gott noch vom Nächsten noch von sich selbst ein Bild zu machen versucht. In diesem Sinne hört auch die Phänomenologie auf, eine gesonderte Tätigkeit innerhalb des Weltzusammenhangs zu sein, und mündet wieder ein in die reine Transparenz des Erscheinens, in der sich das Bewusstsein immer schon befand.
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IV. Resümee und Ausblick
1.
Phänomenologie und/oder Metaphysik?
Es ist allgemein bekannt, dass die Entwicklung, die das phänomenologische Denken bei Husserls Schülern und philosophischen Nachfahren genommen hat, weniger in einer Fortführung des ursprünglich von ihm entworfenen Projekts bestand als vielmehr in einem mehr oder weniger ausgeprägten »kreativen Verrat« gegenüber dem Methodenprinzip der Epoché und der damit einhergehenden Beschränkung auf die Sphäre der Bewusstseinsimmanenz. Ganz gleich, ob dieser »Abfall« vom phänomenologischen Methodenideal, wie etwa bei Heidegger, die Form einer Rückkehr zur Faktizität des Daseins in seiner wesenhaften Endlichkeit annimmt oder, wie in gewissen Strömungen der neueren französischen Phänomenologie, zu einer unverhohlenen Wiederaneignung offenbarungstheologischer Denkfiguren in phänomenologischem Gewande führt – in beiden Fällen wird die Problematik des Göttlichen und die damit verbundene Frage nach dem Verhältnis von Philosophie und Theologie in einer Weise vereindeutigt, die dem von Husserl selbst eingeschlagenen Weg widerspricht bzw. an seinem Modell einer ego-theologisch begründeten Metaphysik der geschichtlichen Faktizität einfach vorbeigeht. Der Grund für diese weitgehende Nichtbeachtung liegt darin, dass Husserl scheinbar ganz selbstverständlich noch der traditionellen Onto-theologie zugerechnet wird, die den Vertretern der unterschiedlichen nachmetaphysischen Denkrichtungen als endgültig überwunden gilt. Dabei bleibt der Umstand unberücksichtigt, dass diese Einschätzung Husserls auf einer unkritischen Perpetuierung des heideggerschen Narrativs beruht, das den Begründer der Phänomenologie auf das Klischee des »letzten Cartesianers« und klassischen Subjektphilosophen reduziert, ohne der ungeheuren Komplexität seines Denkens gerecht zu werden, vor allem aber, ohne seine erbarmungslos selbstkritische Grundhaltung zur Kenntnis zu neh333 https://doi.org/10.5771/9783495821633
Resümee und Ausblick
men, die ihn bis zu seinem Lebensende dazu bewogen hatte, seine philosophischen Positionen einer ständigen Überprüfung, Erweiterung und Berichtigung zu unterziehen. So richtig es ist, dass sich Husserl in seiner Frühphase auf die bereits bestehenden subjekttheoretischen Ansätze cartesianischer, kantischer oder neukantianischer Provenienz bezieht und sein eigenes Denken in Auseinandersetzung mit diesen Positionen entwickelt, so wenig reduziert sich seine egologisch fundierte Phänomenologie auf eine bloße Spielart der klassischen Transzendentalphilosophie oder Metaphysik. Diese ungerechtfertigte Einordnung Husserls in das von Heidegger entworfene Schema der Philosophiegeschichte resultiert aus der stillschweigenden Gleichsetzung jeder Art von Bewusstseinsphilosophie mit einem objektivierenden Denkansatz, der sowohl die innerweltliche Wirklichkeit als auch den möglichen Bereich des Göttlichen nach dem Schema bloßer Vorstellungen konzipiert, deren Begrenzungen das Vorgestellte handhabbar und beherrschbar machen. Doch trifft dies auf Husserls Egologie keineswegs zu, da er das reine Ich nicht mehr als statische Denksubstanz, sondern als Durchbruch eines vorichlichen Grundes versteht, dessen sich das Ich als konstituiertes gerade nicht bemächtigen kann, sondern aus dem es entspringt, ohne dieses Ursprungsgeschehen in Form einer Begründung adäquat einholen zu können. Insofern ist Husserls Gottesdenken, wie es sich in seiner mittleren und späten Phase darstellt, keineswegs eine Ausprägung onto-theologischer »Idolatrie«, sondern vielmehr ein neuer Ansatz, der sich weder auf bestehende metaphysische Grundmodelle reduziert noch die bisherige philosophische Tradition zugunsten eines »anderen Anfangs« des Denkens im Sinne Heideggers abstößt. Versucht man, den Grundansatz phänomenologischen Philosophierens in traditioneller Begrifflichkeit zu charakterisieren, so wird deutlich, dass man es nicht mit einer »Ontologie« im herkömmlichen Sinne zu tun hat, sondern mit einer »Henologie«, die all das, was Anspruch auf Wirklichkeit erhebt, von jener Einheit her deutet, als die sich das Bewusstsein selbst erfährt und als die es mit Blick auf seine Welterfahrung fungiert, ohne den Grund für diese von ihm gewirkte teleologische Synthese in sich selbst finden zu können. Im Bereich der Phänomenologie ist der henologische Ansatz daher nicht automatisch gleichbedeutend mit der theologisierenden Denkfigur des Einen oberhalb des Seins, 1 sondern entfaltet sich innerhalb des 1
Vgl. dazu L. Couloubaritsis, »Ontologies et hénologies contemporaines«, in: Y. C.
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Phänomenologie und/oder Metaphysik?
Bereichs der Immanenz mit Blick auf das Wie des Gegebenseins der Bewusstseinsinhalte – nicht als »seiende« Dinge, die auf ein »oberstes Seiendes« bzw. das »Sein selbst« verweisen, sondern als ontologisch indifferente noematische Gegebenheiten, die das diachrone Erlebniskontinuum eines monadologisch fungierenden Bewusstseins bilden. Die Phänomenologie denkt daher nicht mehr primär in den Kategorien von »Sein« und »Seiendem«, sondern von »Einheit« und »Vielheit«, selbst dort, wo die betreffenden Autoren glauben, das metaphysische Denken als solches und damit erst recht das Modell einer Einheitsmetaphysik hinter sich gelassen zu haben. 2 Die vor allem in Frankreich teilweise sehr lebhaft und nicht selten auch polemisch geführte Debatte um die »theologische Wende« der Phänomenologie zeichnet sich sowohl bei deren Vertretern als auch bei deren Kritikern durch eine einseitige Zuspitzung der Perspektive aus: Die Befürworter vertreten – gegen Husserl – die Legitimität, wenn nicht gar die Notwendigkeit einer maximalistisch konzipierten Phänomenologie, die den unhintergehbaren Methodenschritt der phänomenologischen Epoché sowie die damit einhergehende Verpflichtung auf ein Ausgehen von der Bewusstseinsimmanenz entweder schlichtweg fallengelassen hat oder durch weitergehende Reduktionen bzw. Gegenreduktionen aufgehoben zu haben glaubt. Die Folge davon ist, wie im Fall von Michel Henry, ein Zusammenfall von Phänomenologie und (idealistischer) Metaphysik oder, wie im Fall von Jean-Luc Marion, eine Überwindung der ausschließlich onto-theologisch gedeuteten Metaphysik zugunsten einer Phänomenologie der »Gabe« (donation), die in expliziter Anlehnung an das biblische Gottesverständnis sowie das Denken der griechischen Kirchenväter das Paradigma des Seins durch das des Guten, das jenseits des Seins liegt, zu überwinden sucht. 3
Zarka / B. Pinchard (Hg.), Y a-t-il une histoire de la métaphysique?, Paris, Presses Universitaires de France, 2005, 303–341, hier 303. 307. 309. 325–327. 2 So könnte man etwa Sartres Verständnis des An-sich-Seins (en-soi), das mit sich selbst absolut identisch und differenzlos ist, mit dem Einen bei Plotin vergleichen; vgl. dazu M. Haar, La philosophie française entre phénoménologie et métaphysique, Paris, Presses Universitaires de France, 1999, 38. Auch Derridas Verständnis der différance originaire als jenes Ursprungs, aus dem alle Differenzen hervorgehen, ließe sich letztlich noch als henologische Denkfigur deuten; vgl. L. Couloubaritsis, »Ontologies et hénologies contemporaines«, 308. 3 Vgl. M. Henry, C’est Moi la Vérité; ders., Incarnation: une philosophie de la chair, Paris, Éditions du Seuil, 2000; J.-L. Marion, Dieu sans l’être, 93. 112 f. 120 f. 126. 149.
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Resümee und Ausblick
Bezeichnenderweise erwähnt Marion im Zusammenhang mit seiner Kritik des traditionellen aristotelisch-scholastischen Gottesdenkens auch den berühmten Passus aus Ex 3,14 (»Ich bin, der ich bin«), thematisiert mit Blick auf dessen scholastische Rezeption aber nur die von Thomas von Aquin favorisierte ontologische Deutungsvariante (»Ich bin der, der IST«), ohne auf den eckhartschen Ansatz einzugehen, der nicht das »Sein«, sondern das dynamisch-intelligible »Nichtsein« des Ich in den Mittelpunkt stellt. 4 Philosophische Theologie ist nach Marions Auffassung per se Onto-theologie, 5 deren Einseitigkeiten nur dadurch überwunden werden können, dass man das Paradigma der metaphysischen Gotteslehre durch das einer biblischchristlichen Offenbarungstheologie ersetzt, die Gott nicht mehr vom Begriff des Seins, sondern von dem der Liebe her denkt. Dadurch wird Marions Entwurf einer nachmetaphysischen Gottesrede in einseitiger Weise auf bestimmte religiöse Prämissen festgelegt, die als solche nicht von einem immanent-phänomenologischen Boden aus erschlossen werden können und somit unter philosophischen Gesichtspunkten keine argumentative Stringenz in strengen Wortsinn besitzen. Das Paradigma des biblischen Gottesverständnisses wird dem der klassischen Metaphysik lediglich in thetischer Form entgegengesetzt, ohne dass in überzeugender Weise nachgewiesen würde, warum das onto-theologische Denken angeblich nur in dieser Weise überwunden werden kann. Doch auch diejenigen Philosophen, die eine kritische Sicht auf die offenkundige Theologisierung der neueren Phänomenologie verVgl. dazu M. Haar, La philosophie française entre phénoménologie et métaphysique, 122. 141. 4 »Même quand les Pères grecs s’appuient sur Exode 3,14 pour déterminer catégoriquement par exemple la divinité du Verbe, et qu’ils l’invoquent pour définir un nom pour Dieu jamais ils n’infèrent par là que ce nom, o ôn, puisse définir l’essence même de Dieu comme tel; et, précisément parce que o ôn revient au Fils, il ne saurait déterminer en aucune manière la divinité trine, qui donc excède l’être. […] Bref, à supposer qu’Exode 3,14 délivre un des noms divins, il faudrait encore déterminer s’il s’agit du premier« (J.-L. Marion, Dieu sans l’être, 110 f.). Dass Meister Eckhart Gott gerade nicht mehr in klassisch-metaphysischen Kategorien denkt, sondern im Ausgang von Ex 3,14 eine Kritik der Onto-theologie formuliert, scheint Marion dabei entgangen zu sein (vgl. E. Zum Brunn et al., Maître Eckhart à Paris. Une critique médiévale de l’ontothéologie, Paris, Presses Universitaires de France, 1984). 5 »Le discours théiologique sur ›Dieu‹, ou sur tout autre étant par excellence, relève de la philosophie, et plus précisément de l’onto-théo-logie qui en caractérise la tournure métaphysique« (J.-L. Marion, Dieu sans l’être, 97).
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Phänomenologie und/oder Metaphysik?
treten, verharren letztlich oft in demselben Denkschema. So setzen sie der direkten Indienstnahme der Phänomenologie zu offenbarungstheologischen Zwecken ein Denken der Endlichkeit entgegen, das zwar die Grenzen der phänomenologischen Methode im Sinne Husserls respektiert, sich dafür aber mit Blick auf die Gottesfrage einer extremen Zurückhaltung befleißigt. 6 Auch wenn dieser Ansatz das unbestreitbare Verdienst besitzt, eine illegitime Vermischung von Offenbarungstheologie und Philosophie zu vermeiden und den Phänomenologen in Erinnerung zu rufen, dass Husserls methodischer Anspruch auch durch die von Heidegger geübte Kritik mitnichten obsolet geworden ist, hat sie dafür mit dem umgekehrten Problem zu kämpfen, sich vom Boden der Philosophie aus entweder gar nicht mehr oder nur unter großen Schwierigkeiten mit der Gottesfrage und dem damit zusammenhängenden Phänomen der historischen Offenbarungsreligion auseinandersetzen zu können. Folglich wird diese Thematik entweder ganz ausgespart, oder aber das Göttliche wird, ähnlich wie in Heideggers seinsgeschichtlichem Ereignisdenken, in einer innerweltlich-mythisierenden Weise entworfen, die sich vom biblisch-christlichen Gottesverständnis ausdrücklich abgrenzt. 7 Und auch bei László Tengelyi, der Husserls Ansatz ausdrücklich als eine »Metaphysik ohne Ontotheologie« anerkennt, bleibt die Problematik der Gottesfrage offen bzw. wird an die unmittelbar offenbarungstheologisch beeinflussten Ansätze von Emmanuel Levinas, Michel Henry, Jean-Luc Marion oder Jean-Louis Chrétien weiterverwiesen. 8 Gegenüber all diesen neueren phänomenologischen Entwürfen zeichnet sich Husserls Ansatz dadurch aus, dass er auch in seiner 6 Vgl. D. Janicaud, Le tournant théologique de la phénoménologie française, Paris, Éditions de l’Éclat, 1991, 85–89; ders., La phénoménologie éclatée, Paris, Éditions de l’Éclat, 1998. 7 »[…] je voudrais ici éclaircir, à propos de cette Mesure du Monde que nomment Terre et Ciel, Divins et Mortels, la parenté secrète de la parole heideggérienne (die Sage) et de la parole platonicienne (Muthos). Si l’être en effet est véritablement ce qu’il est, l’éloignement du monde grec et du monde occidental, aux bornes extrêmes de l’Histoire, peut en réalité rapprocher Heidegger de Platon: tous deux évoquent la libre étendue, l’ouverture d’une simple clairière où le cadre du monde rassemble ses quatre régions en son unité d’étoile« (J.-F. Mattéi, L’ordre du monde: Platon – Nietzsche – Heidegger, Paris, Presses Universitaires de France, 1989, 187 [Hervorhebungen im Original]; vgl. auch ebd., 188–207 sowie die Ausführungen über Heideggers »Eschatologie des Seins« [eschatologie de l’être] in: M. Haar, Le chant de la terre. Heidegger et les assises de l’histoire de l’être, Paris, Éditions de l’Herne, 1985, 154–158). 8 Vgl. L. Tengelyi, Welt und Unendlichkeit, 549–556, vor allem 555.
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Resümee und Ausblick
mittleren und späten Phase, in der die Gottesfrage ausdrücklich eine positive innerphänomenologische Erörterung erfährt, nie so weit geht, die Phänomenologie als das absolut Andere der klassischen Metaphysik zu konzipieren und ihr eine unmittelbar offenbarungstheologische Ausrichtung zu geben. Wohl verliert die aristotelische Wissenschaft vom »Seienden als solchem« den Rang der Ersten Philosophie, doch anstatt sie einfach abzustoßen oder für überwunden zu erklären, gibt ihr Husserl mit seinem egologischen Ansatz ein ursprünglicheres »Nicht-Fundament«, das sie in die Schwebe versetzt und sie in ihrer wesenhaften Kontingenz und Frag-würdigkeit erkennbar werden lässt. Doch handelt es sich dabei nicht um eine bloße Verschiebung der klassischen metaphysischen Herrschaftsansprüche auf ein tieferes und elementareres Niveau, sondern um eine grundlegende Verwandlung der denkerischen Grundhaltung als solcher. Das reine Ich ist keineswegs ein autonomes »Tribunal«, das über die Legitimität der Erscheinungshaftigkeit aller Phänomene, inklusive Gottes, befinden würde, 9 sondern vielmehr ein Ort, an dem das Absolute durchbricht und sich manifestiert, ohne dass dieser Durchbruch als solcher zum Gegenstand einer vom Ich aktiv zu leistenden Konstitution werden könnte oder einer rückfragenden Begründung zugänglich wäre. Gerade die Unergründlichkeit des »Faktums der Vernunft«, die sich im reinen Ich und seiner Selbsterfahrung zeigt, eröffnet den Weg zu einem Gottesdenken, das die Grenzen der klassischen Onto-theologie überschritten hat, ohne sich mit den maximalistischen, offenbarungstheologisch geprägten Ansätzen der neueren Phänomenologie zu identifizieren. Interessanterweise wird diese eigenständige Ausrichtung des Husserlschen Gottesdenkens ausgerechnet von einem jener Vertreter der zeitgenössischen französischen Philosophie am klarsten gesehen, der den »atheistischen« Grundcharakter der phänomenologischen Methode am stärksten betont, nämlich Jocelyn Benoist. 10 In Husserls So die Einschätzung bei J.-L. Marion, »Le phénomène saturé«, in: J.-F. Courtine (Hg.), Phénoménologie et théologie, Paris, Éditions Criterion, 1992, 79–128, hier 87– 89. 10 »Les textes théologiques de Husserl sont rares, disséminés dans les manuscrits de recherche inédits, imprécis et peu convaincants. Dans les œuvres publiées, l’athéisme méthodologique de la phénoménologie se présente comme autosuffisant et on ne voit pas ce qui pourrait l’arracher à son centre égologique« (J. Benoist, »Husserl: au-delà de l’onto-théologie?«, Les Études philosophiques 4 [1991], 433–458, hier 434; vgl. auch ebd., 458). 9
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Phänomenologie und/oder Metaphysik?
Verständnis ist Gott keine »gesättigte Erscheinung«, deren überkategoriale Gegebenheitsfülle uns blenden und überwältigen würde, sondern die Unscheinbarkeit der phänomenalen Offenheit selbst, die den Raum der Intentionalität aufspannt, ohne mit einem seiner Strukturmomente bzw. mit deren bloßer Summe zusammenzufallen. 11 Insofern reduziert er sich auch nicht auf die universale Teleologie der Vernunftmonaden, deren prinzipielle Offenheit und Unabschließbarkeit eine bewusstseinsimmanent erfahrbare Form der Transzendenz darstellt, 12 sondern ist bereits im reinen Ich als solchem erfahrbar, ohne eine ausdrückliche Thematisierung der darin erkennbar werdenden Absolutheit zu erzwingen. Die Einsicht in die Relativität dessen, was das onto-theologische Denken als »seiende Wirklichkeit« bezeichnet, zieht zwar den Primat der Egologie vor der Metaphysik nach sich, doch bleibt der Grundcharakter des reinen Ich als Durchbruchsort des göttlichen Wirkens zunächst anonym und »hält an sich«, bis er in einem freien Akt der Innewerdung ausdrücklich bewusstgemacht wird. Die Andersheit und Transzendenz des Göttlichen manifestiert sich demnach nicht durch Phänomene, die von außen an das reine Ich herantreten und ihm die Grenzen seiner konstitutiven Macht vor Augen führen, sondern in der Unabschließbarkeit jenes Verinnerlichungsprozesses, in dem das reine Ich seiner Nichtidentität mit dem verleiblichten Ich-Menschen innewird und gerade dadurch dessen singularisierende Begrenzungen auf die unendliche Gemeinschaft aller Ich-Zentren hin zu übersteigen vermag. Das Verhältnis von Phänomenologie und Metaphysik ist und bleibt daher bei Husserl deutlich komplexer, als es in den neueren Ansätzen der französischsprachigen wie deutschsprachigen Phänomenologie im Allgemeinen der Fall ist. Weder ersetzt er den Begriff des Seins einfachhin durch den des Guten bzw. der »Gabe«, noch reduziert er den Ort der Verwirklichung zwischenmenschlicher bzw. menschlich-göttlicher Intersubjektivität auf die Dimension der empirisch-innerweltlichen Leiblichkeit. Wohl ist der Leib der ausgezeichnete Ort innerhalb der Welt, an dem sich ein selbst nicht welthaftes Ich bekundet, doch löst Husserl die Beziehung zwischen reinem Ich und Ich-Mensch nicht einfach zugunsten des letzteren auf, sondern bleibt dabei, dass die eigentliche Vergemeinschaftung der Menschen Vgl. M. Heesch, »Religionsphilosophische Aspekte im Denken Husserls«, Theologie und Philosophie 72 [1997], 77–90, hier 84. 12 Vgl. J. Benoist, »Husserl: au-delà de l’onto-théologie?«, 437. 11
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Resümee und Ausblick
untereinander sowie mit Gott schon auf der apriorischen Ebene der reinen Ichpole geschieht, auch wenn sie sich anschließend mittels der Leiblichkeit innerhalb der »Welt für alle« phänomenalisieren und realisieren muss. Sein ego-theologisches Denken überwindet die Schemata der klassischen Onto-theologie nicht zugunsten einer blendenden Überfülle phänomenaler Gegebenheit, sondern in der Gegenrichtung, d. h. durch eine radikale »Armut des Denkens«, die sowohl vom eigenen personalen Menschsein als auch von Gott alle Attribute abstreift, um nichts übrigzubehalten als das nackte Ich bzw. die nackte Gottheit.
2.
Phänomenologische Enthüllung und/oder theologische Offenbarung?
Mit Blick auf das Verhältnis zwischen philosophischer Theologie und Offenbarungstheologie stellt sich Husserls Ansatz ebenfalls deutlich nuancierter dar, als dies bei den Vertretern einer theologisierenden Phänomenologie gemeinhin der Fall ist. Diese Differenzierung ergibt sich aus der von ihm getroffenen Unterscheidung zwischen dem reinen Ich als inhaltslosem Durchbruchspunkt des Absoluten und der Monade als innerweltlich-geschichtlich konkretisierter Subjektivität. Mit Blick auf die Absolutheit des reinen Ich und deren Bewusstwerdung durch die phänomenologische Epoché spricht Husserl von »Enthüllung«. Dieser Ausdruck deutet darauf hin, dass dem philosophierenden Bewusstsein dadurch etwas offenkundig wird, was ihm vorher verborgen war. Doch unterscheidet er diese Form eines philosophisch vermittelten Offenbarwerdens von etwas zuvor Latentem deutlich vom Phänomen der historischen Offenbarung und der auf sie aufbauenden Theologie. Ersteres betrifft die Bewusstwerdung des reinen Durchbruchscharakters und der konstitutiven Dynamik des Ich, die auf unthematische Weise immer schon in ihm am Werk waren; letzteres entfaltet sich im Bereich des geschichtlich-intersubjektiven Welt- und Lebenszusammenhangs, der inhaltlich konkretisiert und von einer unaufhebbaren Faktizität und Kontingenz gekennzeichnet ist. Auch wenn Husserl die Notwendigkeit betont, die geoffenbarte Religion mitsamt der sich aus ihr entwickelnden Theologie durch philosophische Reflexion zu reinigen und in immer höherem Maße vernunftkonform zu machen, kommt es doch nie zu einer einfachen 340 https://doi.org/10.5771/9783495821633
Phänomenologische Enthüllung und/oder theologische Offenbarung?
Identifikation ihrer Anliegen und Methoden mit denen der Philosophie. Der Konvergenzpunkt von philosophischer Theologie und Offenbarungstheologie liegt im Unendlichen, kann gerade deswegen aber unter innerweltlichen Bedingungen nie erreicht werden, so dass der Phänomenologe sich den direkten Sprung in das Paradigma des biblisch-christlichen Glaubens versagen muss. Wohl kann und soll er das, was ihm in diesem Bereich phänomenal entgegentritt, thematisieren, zu verstehen suchen und in ein philosophisches Register »übersetzen«, doch kann er die Glaubensinhalte als solche nicht zu unmittelbaren inhaltlichen Voraussetzungen einer philosophischen Theologie machen. Der »Gott der Philosophen« im Sinne Husserls manifestiert sich nicht in triumphaler phänomenaler Fülle, sondern verbirgt sich in der Unscheinbarkeit, die das reine Ich für sich selbst ist, und entzieht sich durch seine Eigenschaftslosigkeit auch dort, wo er ausdrücklich als solcher thematisiert wird, jeder denkerischen Vergegenständlichung wie auch jeder unmittelbaren Indienstnahme durch die Offenbarungstheologie. Aus diesem Grunde kann man durchaus auch mit Blick auf Gott das phänomenologische Korrelationsapriori in Geltung belassen, ohne dass dies auf eine objektivierende Unterwerfung Gottes unter das menschliche Denken hinausliefe. 13 Das »Leben des Ich«, in dessen grundloser Ursprunghaftigkeit sich das Absolute manifestiert, wird von Husserl nicht intentional anvisiert, 14 sondern als subjekthafter Durchbruch betrachtet, in dem sich das reine Ich Gottes bekundet, In der Regel wird die Frage nach Gott bzw. der Religion als der Punkt angesehen, an dem das phänomenologische Korrelationsapriori an seine Grenzen stößt: »La première question directrice qui avait soutenu le choix de ce thème (énoncée de manière encore provisoire et insuffisante) pourrait se formuler ainsi: est-ce que la phénoménologie peut, d’une manière spécifique, c’est-à-dire à la hauteur de sa possibilité – s’il y va encore de sa possibilité – traiter de la religion? […] Notre question initiale peut alors se reformuler plus rigoureusement en ces termes: y a-t-il un ordre de phénomènes, un type d’apparition et une ›guise‹ déterminée de l’apparaître susceptibles de remettre en question ou en crise cet a priori corrélationnel?« (J.-F. Courtine, »Introduction«, in: ders. [Hg.], Phénoménologie et théologie, 9 f.). Husserls Gottesdenken beweist jedoch, dass diese Gleichsetzung von apriorischer Korrelationalität und konstitutiver Vergegenständlichung nicht zwingend ist. 14 »Maintenant, si la vie se dérobe dans le principe au voir de l’intentionnalité, c’est à un échec complet que doit se heurter la méthode phénoménologique pour autant qu’elle prétend se fonder sur un tel voir pris pour ›ce qu’il y a d’ultime‹« (M. Henry, Incarnation, 105). Diese Kritik Michel Henrys an den angeblichen Grenzen der Husserlschen Phänomenologie trifft von der Sache her nicht wirklich zu, denn es gelingt Husserl sehr wohl, das »Leben« im absoluten Sinne (und das damit verbundene phi13
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Resümee und Ausblick
ohne mit dem einzelnen reinen Ich zusammenzufallen. Die Differenz von ego und alter ego bleibt auch mit Blick auf Gott erhalten, selbst wenn man anerkennt, dass das absolute Ich Gottes sich wesenhaft in intersubjektiver Korrelation zum reinen Ich des Menschen verwirklicht und sich in der leibseelischen Monadengemeinschaft der Gesamtmenschheit inkarniert. Gerade weil Husserl Gott nicht mehr als noematischen Vorstellungsinhalt, sondern als All-Ich begreift, kann er eine apriorische Korrelation von Gott und Mensch vertreten, ohne in onto-theologische Denkmuster zu verfallen, die Gott auf das Maß des menschlich Vorstellbaren reduzieren. In dem Maße, wie das transzendental vereinzelte reine Ich nicht identisch ist mit dem IchMenschen und sich daher schon von seinem eigenen transzendentalen Fungieren kein Bild mehr machen kann, läuft es auch nicht Gefahr, einen als absolutes Ich verstandenen Gott zu idolatrisieren. Ist sich das einzelne Subjekt eines als All-Ich verstandenen Gottes bewusst, so hat es nicht »etwas« vor sich, sondern eine unendliche Steigerung jener ursprunghaften Abgründigkeit, die es schon in sich selbst lediglich vorfindet, ohne sie mit Blick auf ihr Warum erklären oder gar vorstellig machen zu können. Insofern könnte man Husserls Variante des philosophischen Gottesdenkens als eine Form der negativen Theologie bezeichnen, in der Gott allerdings nicht nur konkrete, beschränkte Attribute abgesprochen werden, sondern auch das reine Sein als solches im Sinne des Gegenstandsbereichs der formalen Ontologie und damit auch jedes logische Substrat für eine begrenzt-negierende Aussage. Seine Nichthaftigkeit wird nicht durch die sukzessive Negation einzelner Prädikate erfahren, sondern manifestiert sich in unmittelbarer Weise durch das radikale, unendliche Nichtsein des reinen Ich, das von sich selbst nichts aussagen kann, sondern im Ich-Sagen wie auch in jeder anderen sprachlichen oder nichtsprachlichen Form seines Weltverhaltens nur das schiere Dass seiner nichtphänomenalen Ursprunghaftigkeit zu erkennen gibt. Husserls Ansatz destruiert daher nicht nur die auf Gott bezogenen Vorstellungsbilder der klassischen Onto-theologie, sondern beugt auch möglichen Idolatrien eines rein innerweltlich verstandenen Menschseins vor. Auch wenn der Begriff der »Menschheit« bei ihm vor allem in ethischer Hinsicht eine herausragende systematische Rolle spielt, ist diese doch nicht gleichbedeulosophische Gottesverständnis) zu thematisieren, ohne es auf einen intentionalen Gegenstand zu reduzieren.
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Phänomenologische Enthüllung und/oder theologische Offenbarung?
tend mit der innerweltlich phänomenalisierbaren, leibseelischen Dimension des Menschseins, sondern hängt am Sonderstatus des reinen Ich, das sich im konkreten Ich-Menschen verweltlicht, ohne in dieser Erscheinungshaftigkeit aufzugehen. Letztlich kann sich der Mensch als Vernunftwesen daher nicht nur von Gott, sondern auch von sich selbst kein Bildnis machen, sondern erfährt bei jedem Versuch einer vergegenständlichenden Selbstauslegung die prinzipielle Unmöglichkeit, das performative Nichts seines Ich in Form einer sprachlich artikulierten Position oder Negation adäquat zu fassen oder es zu bestimmten konkreten Phänomenen der Negativität in Beziehung zu setzen. »Ursprünglicher als die Endlichkeit des Daseins ist die Nichtigkeit des reinen Ich in ihm«, könnte man vom Standpunkt der Husserlschen Phänomenologie mit Blick auf Heideggers Daseinsanalytik sagen, 15 denn diese präsentiert sich immer noch als Fundamentalontologie, die das Dasein als ein – wenngleich besonders beschaffenes – Seiendes betrachtet und durch die Betonung seiner Endlichkeit auch sein ursprüngliches Betroffensein von den unterschiedlichen Manifestationsformen des Nichts und der Negativität (Sein zum Tode, Angst, Langeweile usw.) letztlich verendlicht. Demgegenüber ist in Husserls Phänomenologie das reine Ich gerade kein fundamentum inconcussum mehr, sondern erfährt sich aufgrund seiner Überweltlichkeit in einer absoluten, durch keine Sterblichkeit zu begrenzenden Weise als radikales Nichts aller Phänomenalität. Folglich hat der philosophische Gott im Sinne Husserls auch nicht die Aufgabe, dem reinen Ich innerhalb einer irdisch konkretisierten »Weltgegend« einen Ort anzuweisen, an dem es in heimatlicher Weise wohnen kann, sondern ist selbst das Synonym radikaler Unbehaustheit und Nichthaftigkeit, die sich weigert, zum Beziehungspol eines endlichen Gegenübers von »Sterblichen« und »Göttlichen« zu werden. 16 Die apriorische Korrelationalität des absoluten göttlichen Ich und der Ichzentren der Menschen ist ein Geflecht von konstitutiven Abgründen, deren jeder das eigene Nichtsein durch die Bezogenheit auf unendlich viele alter egos nicht nur nicht kompensiert, sondern vielmehr ins Unendliche gesteigert findet. Gerade 15 Vgl. M. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik (GA 3), Frankfurt a. M., Klostermann, 1991, 229: »Ursprünglicher als der Mensch ist die Endlichkeit des Daseins in ihm«. 16 Vgl. M. Heidegger, Beiträge zur Philosophie [Vom Ereignis] (GA 65), 256. 310– 312. 405–417; ders., »Das Ding«, in: ders., Vorträge und Aufsätze, Stuttgart, Neske, 7 1994, 157–179, hier 171.
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Resümee und Ausblick
weil Gott im Rahmen eines ego-theologischen Ansatzes keine wie immer bestimmbaren Eigenschaften mehr hat, sondern als absolute Einheit in allem wirkt, kann Husserl den philosophischen Gottesbegriff auch nicht, wie dies Heidegger tut, in bewusster Abgrenzung zu dem bisherigen Paradigma des biblisch-christlichen Gottesverständnisses konzipieren, sondern weiß sich dazu angehalten, auch die historische Offenbarungsreligion als innerweltlichen Durchbruchsort des ichlichen Einen zu verstehen und als solchen zu thematisieren.
3.
Phänomenologie und/oder Mystik?
Die Deutung von Husserls Phänomenologie vor dem Hintergrund seiner Rezeption von Meister Eckharts philosophisch-theologischem Ansatz hat deutlich werden lassen, dass der Einfluss der eckhartschen Intellektmystik nicht erst in seiner Spätphase zum Tragen kommt, sondern sich schon wesentlich früher abzeichnet. Das Motiv der unmittelbaren, vorbegrifflichen Anschauung universaler, intelligibler Inhalte legt davon ebenso Zeugnis ab wie die klare Unterscheidung von reinem Ich und innerweltlicher Person, die keine nur theoretische Valenz besitzt, sondern im Vollzug des Phänomenologisierens zu einer transzendental-existenziellen Lebensform wird, die das philosophische Äquivalent zur eckhartschen »Gelassenheit« und »Abgeschiedenheit« darstellt. Auch wenn Husserl erst relativ spät dahin gelangt, Gottes Wirken unmittelbar in der Immanenz des reinen Ich am Werk zu sehen, besitzt seine Transzendentalphänomenologie doch von vornherein eine Ausrichtung, die sich von den übrigen transzendentalphilosophischen Ansätzen seiner Zeit deutlich abhebt; geht es ihm doch nicht um eine Sicherung wahrer Erkenntnis mit Blick auf den wissenschaftlich vermittelten Weltzugang – um »dieses oder jenes Wahre« –, sondern um die primäre Wahrheit des vorwissenschaftlichen Weltverhaltens, die grundsätzlich jedem Menschen unmittelbar zugänglich und für sein Selbstverständnis von zentraler Bedeutung ist. Husserls Phänomenologie zielt nicht darauf ab, einzelne Wahrheiten über etwas zu gewinnen, sondern das ursprüngliche Wahrheitsgeschehen freizulegen, das sich in jedem menschlichen Subjekt als die permanente produktive Differenz zwischen seinem reinen Ich und seiner innerweltlich-personalen Erscheinung ereignet. In diesem Sinne geht es auch ihm um eine »Erleuchtung« – nicht im 344 https://doi.org/10.5771/9783495821633
Phänomenologie und/oder Mystik?
Sinne einer besonderen, übernatürlichen Eingebung, sondern um den Aufweis der Intentionalität als jenes lichten Bereiches phänomenaler Offenbarkeit, in den alle Dinge eintreten müssen, um als »seiend« bezeichnet werden zu können. 17 In dem Maße, wie die in dieser Wahrheit liegende Absolutheit einer unmittelbaren Anschauung zugänglich ist, kann man seinem Denken in der Tat einen mystischen Grundzug bescheinigen, ohne deswegen den für die Phänomenologie konstitutiven Vernunftanspruch aufgeben zu müssen; handelt es sich doch nicht um besonders geartete, übernatürliche Einzelanschauungen, sondern um die unmittelbare Einsicht in jene konstitutive Überweltlichkeit des Ich, die jedem einzelnen Erkenntnisakt vorangeht und ihn bedingt. So, wie Meister Eckhart den Zuhörern seiner Predigten keine besonderen mystischen Erlebnisse verheißt, sondern ihnen den in ihrem Leben als ganzem wirkenden ichlichen Einheitsgrund bewusst zu machen sucht, so entwickelt auch Husserl keine irrationalistische »Lebensphilosophie«, die den Verengungen der neukantianischen Transzendentalphilosophie lediglich in konträrer Weise entgegengesetzt wäre, sondern ist bestrebt, den sich permanent aufs neue vollziehenden, überzeitlichen Durchbruch des reinen Bewusstseins als »Geburt« und damit als Leben in ursprünglicher, weil nie vergehender Form zu deuten. Unter diesem Gesichtspunkt mutet es seltsam an, dass auch im deutschsprachigen Raum mit Blick auf die phänomenologisch geprägte Tradition der Religionsphilosophie, wie sie sich vor allem in Freiburg entwickelt hat, die Hinwendung zu Meister Eckhart als ein Spezifikum der nach-husserlschen Phänomenologie eines Martin Heidegger und Bernhard Welte gilt. 18 Wohl wird in diesem Zusammenhang auch Husserls Ansatz einer phänomenologischen Behandlung der Gottesfrage thematisiert, 19 doch bleibt seine Rezeption des eckhartschen Denkens dabei unerwähnt. Der Grund dafür mag nicht zuletzt darin liegen, dass der Einfluss Eckharts sich bei Husserl weniger in einer ausdrücklichen Beschäftigung mit religionsphilosophiVgl. L. Landgrebe, Phänomenologie und Metaphysik, 198. Vgl. S. Loos, »Freiburg – Keimzelle der philosophischen Religionsphänomenologie. Von Edmund Husserl über Martin Heidegger, Bernhard Welte und Heinrich Rombach zu Klaus Hemmerle«, in: G. Bausenhart / M. Böhnke / D. Lorenz (Hg.), Phänomenologie und Theologie im Gespräch. Impulse von Bernhard Welte und Klaus Hemmerle, Freiburg, Herder, 2013, 15–73, hier 53 f. 19 Vgl. S. Loos, »Freiburg – Keimzelle der philosophischen Religionsphänomenologie«, 27–41. 17 18
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Resümee und Ausblick
schen Fragestellungen zeigt als vielmehr – zumeist unthematisch – den Grundentwurf seiner Phänomenologie insgesamt durchzieht. Doch darin zeigt sich gerade eine Epoché höherer Ordnung, insofern Husserl darauf verzichtet, den absoluten Stimulus seines Philosophierens ausdrücklich zu nennen und dadurch sein eigenes Denken womöglich auf einen religionsphilosophischen Ansatz unter anderen zu verengen. Gerade dadurch erweist sich jedoch seine besondere Nähe zu Meister Eckhart, da dieser seinen eigenen philosophisch-theologisch-existenziellen Grundentwurf nirgendwo als »Mystik« bezeichnet und auch sonst nichts Außergewöhnliches für sich in Anspruch nimmt, sondern in seinem Denken lediglich die erscheinende Wirklichkeit in alle Richtungen ausschreitet, um sie an jedem Punkt auf ihren Ursprung hin transparent zu machen. Ebenso wird auch bei Husserl die intellektmystische Dimension seines Denkens nicht auf inhaltlicher Ebene zum ausdrücklichen Gegenstand einer religionsphilosophischen Erörterung, sondern zeigt sich implizit im Wie seiner denkerischen Grundhaltung sowie in der Art und Weise, in der er das Verhältnis von Ich und Welt bestimmt. Die radikale Verschiedenheit des Sinnes, die sich zwischen Bewusstsein und Wirklichkeit auftut, hat mitnichten nur eine erkenntnistheoretische Bedeutung, sondern zielt auf eine grundlegende Verwandlung des menschlichen Selbstverständnisses im ethischexistenziellen Sinne ab: In dem Maße, wie sich schon im vorwissenschaftlichen und vorphilosophischen Bewusstsein des Ich-Menschen eine Ursprunghaftigkeit bekundet, die das Paradigma von »Sein« und »Seiendem« grundsätzlich übersteigt, wird nicht nur das intersubjektive Miteinander von aller Vergegenständlichung und Verzweckung befreit, sondern auch der Bezug zur Welt: Insofern diese nicht mehr primär als Gesamtheit aller Dinge, sondern als intentionaler Handlungs- und Begegnungshorizont aller Ichzentren fungiert, partizipiert sie an deren »Nichtsein« und stellt sich damit als reine Offenheit dar, die aller einschränkenden Bestimmtheit wie auch aller einzelwissenschaftlichen Objektivierung vorausgeht. Auf den ersten Blick ähnelt Husserls Ansatz damit der von Heidegger entwickelten Deutung des phänomenologischen Weltbegriffs als ursprünglicher »Offenheit«, die selbst nichts Seiendes ist, sondern die Begegnung des Daseins mit anderem Dasein, mit den Dingen bzw. dem Göttlichen ermöglicht. 20 Der entscheidende Unterschied besteht 20
Vgl. M. Heidegger, »Das Ding«, in: ders., Vorträge und Aufsätze, 170–175.
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Phänomenologie und/oder Mystik?
jedoch darin, dass Heidegger von einer »offenen Mitte« innerhalb des »Gevierts der Welt« spricht und diese Geviertstruktur als wesentlich endlich begreift. Husserl hingegen deutet den Ort der Begegnung des reinen Ich mit den Dingen sowie mit anderen Mitsubjekten einerseits und mit Gott andererseits als äußeren bzw. inneren »Horizont« und gibt diesem dadurch eine unendliche Offenheit, die es dem Ich verwehrt, sich innerhalb des Weltzusammenhangs dauerhaft zur Ruhe zu setzen. Das Nichtsein des reinen Ich wie auch das Nichtsein Gottes, der in Form einer überzeitlichen Geburt im einzelnen Ich durchbricht, ist ein Nichts des »Wirkens«, das im Hervorbringen beständig über sich selbst hinausdrängt und daher nie zu statischer Substantialität gerinnen kann. Wo Heideggers Deutung der eckhartschen »Gelassenheit« das Dasein von allen Herrschaftsansprüchen gegenüber den Gegenständen befreien will, um es in der offenen Mitte der Welt zu versammeln und bei den Dingen verweilen zu lassen, bringt Husserls Phänomenologie das Ich dazu, von allen begrenzten, innerweltlichen Stätten und Dingzusammenhängen zu lassen, um in der Ungeschütztheit der ihm aufgetragenen Unendlichkeit Wohnung zu nehmen.
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Namensregister
Adorno, T. W. 201 Aertsen, J. A. 54, 88, 116, 178 Albert, K. 15 Albertus Magnus 59, 98, 177 Albrecht, G. 198, 281 Ales Bello, A. 246 Almond, I. 16 Anaxagoras 107 Anselm von Canterbury 267 Aristoteles, aristotelisch 23, 34, 37– 38, 54, 57, 59–61, 63–65, 67–68, 76, 79–80, 88, 98, 104–109, 111, 113, 115, 119, 121–122, 125–128, 147–149, 152, 159–160, 162, 164– 168, 174–175, 177–180, 188, 199, 205–206, 208–209, 246, 258–259, 264, 273, 287, 292, 312, 326, 336, 338 Augustinus, augustinisch 42, 83–84, 138, 148–149, 176, 178, 180, 182 Averroes, averroistisch 54–56, 86–87, 101–102, 108–109, 167 Avicenna, avicennisch 108–109, 111– 113, 138 Baeza, R. 16 Balthasar, H.-U. von 25 Benoist, J. 338–339 Bergmann, E. 30 Bermon, E. 42 Bernhart, J. 30 Biard, J. 35 Božovič, M. 43 Boehm, R. 27 Boethius von Dacien 59, 167
Boethius, A. M. S. 32, 179 Bongiovanni, S. 16, 37 Boulnois, O. 110 Brentano, F. 235, 246 Broekman, J. M. 191 Brough, J. B. 243 Bruzina, R. 272 Buber, M. 15 Buckley, P. 279 Busche, H. 64 Cairns, D. 29, 31, 293, 315 Cantor, G. 197 Caputo, J. D. 16 Cassirer, E. 194 Casteigt, J. 145 Ceming, K. 146, 297 Ceylerette, J. 35 Chrétien, J.-L. 337 Chrysippos 121, 178 Clarembald von Arras 179 Cohen, H. 20–21, 194, 321 Conrad-Martius, H. 327–328 Couloubaritsis, L. 334–335 Courtine, J.-F. 38, 108, 110, 210, 338, 341 Darwin, C. 22, 56 Degenhardt, I. 18 Denifle, H. 29, 358 Depraz, N. 16, 19, 31 Derrida, J. 16, 272, 335 Descartes, R. 33, 41–48, 88, 121, 191, 201, 209–210, 212–213, 216, 218– 221, 223, 235–237, 251, 267, 287, 305, 327, 334
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Namensregister Dietrich von Freiberg 34, 59–60, 66, 86–87, 106 Drechsler, J. 298 Ebrecht, A. 56 Edel, G. 194 Egger, M. 218 Engelhardt, D. von 23, 78 Euklid 57, 196 Feldkeller, P. 329 Feuling, D. 328 Fichte, J. G. 246, 295–298 Fink, E. 54 Flasch, K. 34, 60, 84, 86–87, 167, 175 Frietsch, U. 23 Gadamer, H.-G. 15 Gerlach, H.-M. 197 Goethe, J. W. von 237 Goudriaan, A. 45–46 Gregor der Große 163 Greisch, J. 103 Grotz, S. 78, 120 Haar, M. 335–337 Haas, A. M. 88, 297 Halfwassen, J. 34, 150–151 Happ, H. 175 Hart, J. G. 100, 237–238, 246, 248, 261, 284, 290, 293, 298, 302–303 Heesch, M. 339 Hegel, G. W. F. 15 Heidegger, M. 15–16, 18, 27, 32, 35, 39, 41–42, 103, 115, 147, 201, 208, 218, 226, 326–328, 333–334, 337, 343–347 Heidelberger, M. 30, 195 Heimsoeth, H. 34 Held, K. 242, 245 Helmholtz, H. 23, 195 Hemmerle, K. 345 Hennemann, G. 34 Henry, M. 16, 74, 331, 335, 337, 341 Hilbert, D. 196 Hoffmann, E. 30 Honnefelder, L. 38, 111
Housset, E. 216, 282, 298, 317, 330 Hugo von St. Viktor 163 Husserl, E. 15–37, 39–42, 47–48, 53– 57, 133, 136, 191, 193, 197–296, 298–331, 333–335, 337–347 Imbach, R. 60, 66, 71, 110 Janicaud, D. 337 Jansen, P. 285 Jesus Christus 148, 160, 164, 166, 173, 183, 187–189, 191, 279, 282, 284, 317, 320, 327 Joël, K. 30 Johannes (Apostel) 166 Johannes Duns Scotus 110–111, 116 Kant, I. 20, 22, 24, 33, 41, 43, 49–52, 86, 135, 146, 191, 194–195, 206, 216–217, 223–227, 239, 288–289, 293, 334 Kern, I. 216, 316 Kern, U. 88 Kobusch, T. 125, 162 Koyré, A. 34 Kühn, R. 74, 100, 331 Landauer, G. 30 Landgrebe, L. 51, 53, 219, 226, 243, 256, 274, 306, 308, 345 Laoureux, S. 100 Largier, N. 66, 140 Lavaud, L. 16 Lavelle, L. 15 Lehmann, E. 30 Leibniz, G. W. 209, 246–248, 267, 287, 295, 300 Lembeck, K.-H. 226, 276, 285 Leo XIII. (Papst) 199 Leser, H. 30 Levinas, E. 337 Libera, A. de 55, 59, 74–75 Lo, L.-C. 215 Lohmar, D. 224, 243, 261 Loos, S. 345 Löser, F. 168 Lossky, V. 63
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Namensregister Mahnke, D. 27, 152, 283, 295 Maier, A. 34 Marbach, E. 217, 222, 234 Maria von Bethanien 162, 166, 168– 170, 172–174, 307–308 Marion, J.-L. 212, 269, 335–338 Martha von Bethanien 162, 166, 168, 170–174, 307–308 Mattéi, J.-F. 337 McGinn, B. 25 Meessen, Y. 16, 29 Mehlis, G. 30 Meister Eckhart 15–18, 25, 27–30, 32–37, 39–40, 42, 47–48, 53–54, 57, 60–63, 65–77, 79–85, 88–104, 106– 107, 111–125, 127–161, 168–174, 176–191, 193, 202, 247–248, 252, 270–271, 276, 293–298, 303, 306, 320, 331, 344–346 Metzger, A. 198 Mieth, D. 32, 146, 149, 162–163, 167 Mojsisch, B. 34, 59, 86–87, 122–123, 139 Moran, D. 17 Moses 183 Natorp, P. 28, 36, 194, 303 Newheiser, D. 16 Nietzsche, F. 56 Nikolaus von Kues 27, 30 Ochsner, H. 28 Olivo, G. 221 Orth, E. W. 274, 285 Ottmann, H. 149 Otto, R. 24 Overgaard, S. 222 Paimann, R. 50 Paracelsus 23 Parmenides 306 Paulus (Apostel) 168–171 Petrillo, N. C. 279 Petrus (Apostel) 166 Platon, platonisch 98, 337 Plotin 27, 335 Porphyrios 121
Raimundus Lullus 121 Reaidy, J. 16 Reale, G. 105 Renz, U. 194 Richard von St. Viktor 32 Rickert, H. 194, 196 Riehl, A. 195 Riemann, B. 58, 196 Roesner, M. 16, 41, 53, 88, 104, 119, 147, 159, 168, 220, 272, 276, 305 Rombach, H. 345 Sartre, J.-P. 335 Scheler, M. 327–328 Schlette, H. R. 98 Schmidt, W. 52 Scholz, G. 194 Schuhmann, K. 27, 278, 291 Schwartländer, J. 50 Schweitzer, A. 30 Shaw, C. D. 15 Siger von Brabant 59 Smid, R. N. 218 Speer, A. 54, 88, 178 Spengler, O. 56 Stein, E. 327–328 Steinbock, A. 285 Strasser, S. 246 Strumiello, G. 16 Sturlese, L. 60, 167 Taguchi, S. 233, 260–261 Tapp, C. 197 Tengelyi, L. 275–276, 281, 304, 337 Thiel, C. 196 Thomas von Aquin 22–23, 38–39, 60, 70, 77–79, 93, 98, 110, 116, 148– 149, 164–169, 230, 259, 267, 336 Tugendhat, E. 96–97 Tyradellis, D. 197 van Kerckhoven, G. 272 Vannier, M.-A. 54 Vergani, M. 246 Vinco, R. 131 Vongehr, T. 31
371 https://doi.org/10.5771/9783495821633
Namensregister Walter, P. 23 Walther, G. 30, 327–328 Wehrli-Johns, M. 174 Welte, B. 28, 88, 345 Wendel, S. 150 Wenzel, U. 34 Wiegand, O. K. 197 Wieland, G. 148, 177
Windelband, W. 194 Winkler, R. 222 Wirmer, D. 55 Wolz-Gottwald, E. 32, 35 Zahavi, D. 235, 237 Zimmermann, A. 38, 47, 109–111 Zum Brunn, E. 336
372 https://doi.org/10.5771/9783495821633
Sachregister
Abgeschiedenheit, abgeschieden 17, 40–41, 53, 99, 102–103, 146, 184 Aktualität, aktuell 26, 86, 102, 232– 235, 240–241, 243–244, 266, 282, 294, 296, 323, 329 Akzidens, akzidentell 60–66, 68, 72– 73, 77–78, 81, 91, 97–99, 105–106, 123, 139, 150, 188–189, 212, 257, 260, 268 All-Ich, Allbewusstsein 215, 263, 299, 301–302, 327, 342 alter ego 74, 147, 253, 256–259, 261, 268, 272, 302, 307, 330, 342– 343 Altes Testament, siehe auch Bibel 183, 317 Analogie, analog 43, 70, 98, 110, 205, 256–257, 268–269, 283, 296, 305, 312, 315, 329 Anschauung, anschaulich 20–21, 24– 25, 31, 33, 50, 112, 131, 133, 135– 136, 144, 155, 165, 168, 170–171, 196, 199, 206–207, 214, 223–231, 233, 235, 239, 254–257, 265, 271, 282, 297, 301, 307, 312, 315, 319– 320, 323–325, 344–345 Anthropologie, anthropologisch 37, 49–50, 53–57, 87, 97, 148–149, 151, 181, 222, 248–249, 254, 277, 288 Antike, antik 55, 162–163, 165, 178, 196 Aposteriori, aposteriorisch 49, 113, 135, 194, 228, 304 Apperzeption, apperzeptiv 50–51, 95, 217, 224, 244, 249–250, 255, 315 Apriori, apriorisch 43, 49, 67, 69, 72,
79–81, 85–86, 108, 113, 123, 133, 136, 150, 157, 182, 194–195, 198, 201, 209–210, 221, 224, 228–229, 231, 245, 250, 256–258, 268–270, 274, 277, 303–304, 310, 326, 328, 330, 340–343 Armut –, geistige 17, 86, 92–93, 201–202, 245, 340 –, materielle 93 Ästhetik, ästhetisch 200 Atheismus, atheistisch 43, 208, 216, 316, 321, 338 Aufklärung 34, 167, 289 Beschauung, Betrachtung, siehe Kontemplation, Theorie Bewusstsein, bewusst 17, 37, 39–43, 46, 48–52, 56–57, 73, 76, 79, 85–88, 92, 94–96, 102–104, 116, 137–139, 144–145, 172, 191, 194, 201–204, 209–225, 227–228, 230–257, 259– 277, 280–282, 284, 286–287, 289– 292, 294, 296, 298–311, 314–316, 320, 322–323, 327–335, 339–340, 342, 344–346 Bewusstseinsstrom, Bewusstseinsfluss 144, 213–215, 220, 222, 236– 245, 251, 253, 262, 306, 310–311 Bibel, biblisch 35, 38, 44, 71, 81, 109, 119–120, 123, 128, 148, 155, 164, 183, 199, 205, 246, 264, 273, 276– 277, 293, 317, 335–337, 341, 344 Biologie, biologisch 55–56, 98, 157– 158, 160–161, 186, 195, 246 Biologismus, biologistisch 56–57, 305
373 https://doi.org/10.5771/9783495821633
Sachregister Chemie, chemisch 239 Christentum, christlich 24–26, 52, 55, 93, 148, 162–164, 166–167, 279, 282, 317, 319–320, 336–337, 341, 344 Christologie, christologisch 156, 187, 190, 284, 320 Ding, dinglich 17, 21, 44–45, 51, 53, 59–60, 62–70, 72, 74, 77, 79–81, 83–87, 92–96, 103, 105, 107–108, 110, 112–113, 115–118, 126–137, 143, 146–148, 152–154, 159, 161, 164, 166, 171–172, 175, 179–180, 182, 189–191, 206, 210, 212–214, 223, 228–230, 232, 250–252, 257, 265–266, 270–271, 274, 281, 293, 312–314, 323, 325, 332, 335, 345– 347 Dreifaltigkeit, dreifaltig, siehe Trinität, trinitarisch Egologie, egologisch 39–41, 46–47, 57, 96, 108, 120, 124–126, 143–145, 150, 178, 190–191, 193, 217, 219– 221, 235, 237, 246, 249, 273–274, 276, 279, 294, 305, 311, 330, 332, 334, 338–339 Eidos, eidetisch 31, 63–64, 214, 218, 228, 231, 266–267, 271, 273, 281, 301, 304 Einheit, Eines, siehe auch Henologie 24–25, 37, 40, 48–49, 51–54, 57, 66, 72, 75, 80, 82–83, 86–87, 90, 92, 96–97, 100–102, 104, 113, 120–121, 134, 136, 142, 144, 150–152, 154– 155, 161, 174, 177, 182, 184–186, 217, 220, 224–225, 232, 238, 240, 245, 247–250, 252–254, 257, 259– 263, 271, 279, 283–284, 297–299, 305–306, 312, 315, 319–321, 331, 334–335, 344–345 Ekstase, ekstatisch 24–25, 168–171, 174, 330 Empirie, empirisch 17, 38, 49–50, 54– 55, 57, 59, 69–70, 81, 86–88, 94–95, 97, 101, 103, 105, 125, 130, 133–
136, 145–147, 150, 155, 181–182, 186, 189, 194–195, 198, 202–204, 213, 218–219, 222, 224, 229, 237, 247–249, 253–254, 256, 260, 265, 271, 284, 287–288, 300, 331, 339 Endlichkeit, endlich 42–46, 69, 76, 88, 97, 119, 128, 136, 155, 181, 191, 216, 219, 231, 246–247, 263, 278, 280–281, 291–292, 294, 297–298, 300–301, 306, 319, 328, 333, 337, 343, 347 Entrückung, siehe Ekstase Epoché 17, 40–41, 201–204, 208, 211–215, 221–222, 232, 236–238, 245, 248, 251–256, 265, 272, 281– 282, 290, 294, 298, 309–311, 314– 316, 328, 333, 335, 340, 346 Erkenntnistheorie, erkenntnistheoretisch 69, 106, 191, 193–194, 196– 198, 200, 202, 205–206, 211, 216, 218, 225, 264, 267, 310, 346 Erscheinung, siehe Phänomen, phänomenal Erste Philosophie 27, 37–39, 41, 46– 47, 57, 69, 104–105, 107–108, 111, 118–120, 122–126, 130, 144–145, 174–175, 178, 190, 197, 205–208, 218–219, 221, 224, 237, 271, 273– 274, 287–289, 304–307, 309–311, 316, 338 Eschatologie, eschatologisch 155, 183–184, 186–192, 337 Ethik, ethisch 47, 51, 57, 83, 112, 119, 121, 123, 138, 144–149, 155, 157, 160–161, 163, 171, 174–179, 181– 182, 184, 189, 191, 198–200, 215, 248–249, 264, 277–282, 284, 286, 288–289, 293, 295, 298, 301–303, 307, 311, 314, 316, 318–319, 321– 322, 324–325, 342, 346 Ewigkeit, ewig, siehe auch Überzeitlichkeit 36, 43, 55, 76–77, 79, 82, 89, 91, 94, 117, 141–142, 153, 170, 173, 179, 184, 188, 200, 244, 283, 294–295, 300–301, 326, 328
374 https://doi.org/10.5771/9783495821633
Sachregister Faktizität 42, 51, 53, 183, 256, 265, 267, 269, 273, 276, 300, 304, 319, 321–322, 327, 333, 340 Faktum, faktisch 43, 50, 59, 62, 85, 103, 108–109, 125, 133, 150, 179, 181–182, 186, 189, 191, 194–195, 198–199, 201, 203–205, 209, 214, 219–220, 222–223, 229, 231, 252, 257, 264–266, 272–280, 285–286, 292, 294, 299–305, 307, 310, 315, 322, 327–328, 332, 338 Formalobjekt 104, 106 Freiheit, frei, siehe auch Spontaneität, spontan 26, 37–38, 41, 51, 53, 57, 77, 85, 91, 94–95, 97, 101, 103, 109, 112, 117, 119, 146, 148, 175, 185, 203, 233, 251, 284, 289–291, 300– 301, 309, 315, 318–319, 321, 339, 346–347 Gebet 163, 329–332 Geburt, siehe auch Zeugung 90–91, 141–142, 185, 260–262, 284, 345, 347 Geist, geistig 26, 32–33, 36, 43–45, 56, 63, 67–70, 72, 74, 78, 80–85, 93, 101–103, 105, 118–119, 122, 126, 132, 137, 142, 145, 150–154, 164– 166, 169–170, 254, 258, 284, 290, 295, 315 Geistesgeschichte, geistesgeschichtlich 21–23, 26, 28, 35–36 Geisteswissenschaft, geisteswissenschaftlich 193–194, 200, 305, 307, 310 geistlich, siehe auch Religion, religiös 32, 36, 149, 163, 170, 173, 180, 320 Gelassenheit, gelassen 16–18, 302, 344, 347 Gemeinschaft, Sozialität 17, 145, 147–149, 160, 180–181, 183, 187, 189–191, 257, 270–271, 273–274, 277–278, 280–281, 290–295, 301, 317, 321, 324–325, 330, 339 Generativität, generativ 108, 122, 262, 272, 274, 284, 286
Genese, genetisch 121, 141, 195, 242– 243, 271, 284 Geschichte, geschichtlich 19, 27–28, 34, 37, 41, 53, 98, 120, 147, 183, 199, 203, 209, 220, 248, 274–277, 279, 281–286, 288, 291, 294–295, 298, 302, 305, 311, 314, 316, 319, 321–322, 325–327, 333, 337, 340, 344 Geschichtsphilosophie, geschichtsphilosophisch 36, 246, 276 Glückseligkeit, glückselig, siehe auch visio beatifica 139, 164, 167, 175, 177, 293, 324 Gott, göttlich 17, 24–26, 37–38, 40, 43–46, 52, 54–55, 60–61, 69–86, 88–89, 91–100, 103, 110–111, 113– 118, 120, 123–125, 128, 131, 136– 139, 142–145, 147–151, 154–174, 176, 178–191, 197–199, 207–208, 212, 215–216, 219, 221–224, 236, 238, 244–248, 263–265, 267–275, 277, 280, 282, 289, 292–303, 306, 315–316, 318–322, 325–332, 334– 345, 347 Gottebenbildlichkeit 44, 185, 298 Gottesbeweis 44, 131, 197, 264, 266– 267 Gottesgeburt 294 Gotteskindschaft 91, 159, 289, 294, 300 Gottheit 16, 75, 82, 97, 144, 184–187, 248, 294, 340 Gottmensch 282, 300 Gutheit, Gutes 25, 112–113, 117, 121, 132, 134, 148, 158, 178, 180, 184– 185, 263–264, 279, 289, 293, 299, 327, 335, 339 Habitualisierung, habituell 31, 275, 282, 286, 319 Heiliger Geist 124, 173, 184–185 Heilsgeschichte, heilsgeschichtlich 183, 287, 293 Hermeneutik, hermeneutisch 33, 270, 276–277
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Sachregister Historie, historisch, siehe Geschichte, geschichtlich Historismus, historistisch 194, 274 Hl. Schrift, siehe Bibel Humanität, siehe auch Menschheit, Menschentum 270, 277, 280, 298, 307, 311, 314, 321 Ich, ego, siehe auch Subjekt, Bewusstsein 18–19, 21, 37, 39–51, 53–54, 57, 59, 71–77, 79–86, 88, 92–103, 106–108, 117–120, 124–125, 132, 139–140, 142–147, 150–155, 157– 158, 160–161, 171–172, 178, 181, 186, 190–191, 193, 204, 214, 217– 225, 231–241, 245, 247–275, 277– 281, 283–284, 286–287, 289, 291– 304, 306–312, 315, 317, 320, 329– 330, 332–334, 336, 338–347 Idee 25–26, 31, 44–45, 52, 117–118, 127–128, 132–133, 135, 179–180, 182, 184, 199–200, 206, 216, 227– 228, 230–231, 263–264, 267, 269, 280, 282, 286–287, 292–295, 300– 304, 306, 316, 321, 325, 329 Idolatrie, idolatrisch 269, 334, 342 Immanenz, immanent 41–42, 67, 70– 71, 74–78, 89, 93, 98, 102–103, 105, 107, 126–127, 129–130, 132, 143, 146–147, 149, 151–152, 160, 174– 175, 211–212, 231, 238–243, 247– 248, 252, 256, 260, 262–263, 270– 271, 273, 284, 293, 295, 297–298, 300–301, 303, 308, 310–311, 320, 330, 332–333, 335–336, 339, 344 immateriell 63, 89, 105–106, 123, 126, 208, 287 Inaktualität, inaktuell 235, 240, 244 Individualismus 25 Individualität 37, 54, 59, 91, 95, 100– 101, 145, 147, 188–189, 228, 253, 259, 318, 325 Individuation 51, 53, 87, 90, 99, 134, 147, 189, 191, 215, 259–262, 272, 280 Individuum, individuell 17, 24, 31, 37, 46, 49, 53–57, 84, 87–90, 94–97,
99–102, 121, 133–134, 145–147, 149–151, 157–160, 168–169, 177, 179, 181–184, 186–189, 195, 203, 214–215, 219, 222, 226–231, 233, 244, 248–249, 254, 257–258, 260– 261, 266, 279, 282–284, 287, 298, 311, 318–319, 330–331 Inkarnation, inkarnatorisch 92, 183, 190–191, 247, 282–283, 285–286, 300, 327 Intellekt, intellektuell 24–25, 31–34, 36, 40, 55–56, 59–63, 66, 68–69, 71–72, 74, 79–81, 83–88, 92, 96– 102, 106–108, 112–120, 123–125, 128–130, 132–133, 139–140, 142, 146–147, 150–154, 157–158, 161, 164, 167, 171, 174–177, 182, 186, 190, 219, 230, 235, 238, 242, 258– 259, 264, 272, 312, 324, 344, 346 Intellekttheorie, intellekttheoretisch 18, 55, 57, 59, 69, 77, 86–87, 103, 126, 128, 147, 190, 258, 268 intelligibel 64, 67–70, 81, 85, 103, 107–108, 112, 115, 117–118, 125, 130–133, 135, 146, 154, 165, 174, 179, 231, 241, 289, 299–300, 314, 336, 344 Intentionalität, intentional 21, 43, 64, 67–68, 73–75, 80, 85, 90, 93, 108, 125, 130, 132, 145, 150–151, 153–154, 204, 209–213, 215–217, 220, 231–235, 237–238, 240–241, 249, 251–252, 254–255, 257–259, 268, 275–277, 281–282, 291, 302, 305, 307–308, 310, 313, 315, 325, 327, 329–332, 339, 341–342, 345– 346 Intersubjektivität, intersubjektiv 50– 51, 72–74, 78–80, 82, 85, 97, 145, 149–150, 157, 161, 183, 187, 189, 191, 215, 222, 245–246, 248, 250, 252–253, 255–256, 258–259, 263, 267, 270–274, 278, 281–282, 285, 299, 301–302, 310, 313, 321, 324, 330–331, 339–340, 342, 346 Intuition, intuitiv, siehe Anschauung, anschaulich
376 https://doi.org/10.5771/9783495821633
Sachregister Intuitionismus, intuitionistisch 226, 272 Irrationalismus, irrational 22, 25, 31, 302, 319, 322, 345 Judentum, jüdisch 318–319, 321 Kategorien, kategorial 17, 19–21, 24, 50, 60, 65–66, 68, 73, 76, 85–86, 92, 106, 108, 113, 134–137, 209, 224– 226, 229–230, 259, 270, 274, 279, 284, 314, 335–336 Kausalität, kausal, siehe auch Ursache 34, 38, 44, 47, 56, 68, 70, 81, 85, 88, 95, 102–103, 108, 126–127, 130–132, 147–148, 213–215, 219, 238, 251, 257, 268–270, 288, 315, 331 Kinästhese, kinästhetisch 252, 256, 313 Kirche, kirchlich 23, 26, 83, 148, 160, 317, 324–325 Kirchenväter, siehe Patristik, patristisch Konstitution, konstitutiv 34, 47–48, 66, 74, 86, 107–108, 119, 125, 135– 136, 139, 141, 144–145, 157, 177, 196, 204, 211, 215, 221–222, 225, 236, 238–239, 241–245, 248–249, 252, 255–261, 263, 270–272, 274, 276–279, 283–284, 288–289, 292, 298–299, 302, 304, 308–314, 338– 341, 343, 345 Kontemplation, kontemplativ 27, 38, 84–85, 103, 106–108, 110, 112, 115, 122–123, 127–129, 131, 133, 144, 146, 162–169, 171–175, 177, 179– 180, 182, 201, 205, 209, 213–214, 249, 274–276, 300, 304, 307, 312 Korrelation, korrelational 21, 49, 51, 70, 79, 81, 90, 93, 207, 212, 244, 248, 255, 257–258, 261, 264, 270, 297, 299–300, 302, 306, 308, 312, 321, 331, 341–342 Korrelationsapriori 269, 341–343 Kosmologie, kosmologisch 56, 79, 96, 106, 109, 175, 200
Krise der Wissenschaften, Krisis 35, 193, 196–197, 200, 285, 291 Kultur, kulturell 25–26, 30, 194, 198, 202–203, 209, 276, 283, 285–287, 291, 317–320, 324, 331 Kulturkampf 18 Leben, lebendig 36–37, 48–50, 54, 57, 59, 73–76, 85, 89, 93, 97–98, 117, 120–122, 124–125, 127, 129, 132, 138, 141–142, 145–150, 153, 155– 156, 159–176, 178, 184–191, 198, 200, 204–205, 216, 219–220, 236– 237, 240, 242–243, 245–246, 249, 252, 254, 258, 262–264, 266, 269– 272, 275–277, 280, 283, 289, 291– 295, 297–303, 305–307, 309–311, 314–316, 318, 322–323, 325, 340, 345 Lebensform 162–163, 167–169, 174– 175, 344 Lebensphilosophie, lebensphilosophisch 35, 305, 345 Lebenswelt, lebensweltlich 33, 36, 303, 308, 310, 314–316, 322 Leib, leiblich 37, 50, 89–91, 95, 97– 99, 101–102, 138, 140–141, 150, 157, 160–161, 169, 184, 186–191, 246–256, 259, 261–262, 272–273, 280, 283–284, 299, 307, 312–313, 339–340, 342–343 Liebe 75, 79, 95, 101, 155–156, 158– 159, 161, 180–181, 183–185, 279, 299–300, 336 Liebesgemeinschaft 190–191, 279, 284, 291, 302 Logik, logisch 17, 19–21, 49–50, 52, 65, 82, 91, 119–121, 136, 145, 156, 178–179, 195, 197–198, 200, 222, 224–225, 228, 230, 248, 272, 281, 304, 313, 342 Logizismus, logizistisch 197 Logos 76, 91, 99, 125, 128, 157–158, 174, 190, 247, 299–303, 314, 327 Materialobjekt 104 Materie, materiell 56, 63, 67, 76, 87,
377 https://doi.org/10.5771/9783495821633
Sachregister 89–90, 98, 105, 109, 123, 127, 134– 135, 153, 155, 182, 208–210, 213, 243, 245, 247, 251–252, 258, 273, 314, 327 Mathematik, mathematisch 19–20, 27, 34, 36, 43, 80, 104, 115, 178, 194–198, 203, 225, 272, 280–281, 285, 307, 314 mathesis universalis 209–210, 221 Mechanik 46 Meditation 42, 163, 237 Medizin 23, 46 Mensch, menschlich 17, 21, 26, 35, 37–38, 43–45, 47–57, 59–60, 63, 65–66, 69, 80–92, 94, 96–103, 105, 111–112, 115–118, 125, 130, 133, 135–136, 139, 144–153, 155–167, 169, 171, 174–191, 194–195, 198, 204–205, 214–216, 219–220, 222, 224–225, 231–232, 238, 244–261, 264–265, 268–273, 275, 277–286, 288–297, 300–303, 307, 311, 314– 315, 317–326, 328, 330–332, 339– 344, 346 Menschentum, siehe auch Humanität, Menschheit 53, 258, 284–285, 292, 314, 316, 322, 325 Menschheit, siehe auch Humanität, Menschentum 25–26, 36, 91, 144– 145, 156, 159–160, 176, 182–184, 187–190, 246–248, 258, 262, 274, 276–284, 286–287, 290–293, 295, 298, 300, 302, 311, 316–317, 319, 321, 327, 331, 342 Menschwerdung, siehe Inkarnation, inkarnatorisch Metaphysik, metaphysisch 17–18, 20, 33–34, 36–40, 42, 46, 49, 57, 61, 63–65, 68, 70, 72, 74, 86, 89, 104– 116, 118–120, 122–130, 144, 147, 162, 168, 175, 177–179, 189, 193– 194, 197, 199–200, 202, 205–209, 215, 217, 221, 223–225, 237, 247, 264, 270, 272–276, 278, 288, 292, 304, 306–307, 314, 328, 332–339 Methode, methodisch 15, 19–20, 31, 33, 40, 42, 46–47, 57, 86, 103–104,
107, 119, 121–122, 134, 169–170, 175, 193–194, 196–197, 199, 201– 202, 204, 207–208, 210, 218, 221– 222, 224, 226, 232, 272, 307, 333, 335, 337–338, 341 Mittelalter, mittelalterlich 15, 21, 25– 27, 33–34, 57, 86, 89, 108, 149, 174, 178, 191, 199, 259 Monade, monadologisch 75, 80, 148, 152, 181, 190, 246–247, 253, 255, 257, 260, 267, 275, 278, 287, 290, 292, 295, 299–300, 302, 307, 314, 317, 321, 325, 335, 339–340, 342 Moral, moralisch 46, 49–52, 122, 125, 177, 295, 298, 322, 324 Mystik, mystisch 15–16, 18, 21–32, 35–36, 88, 96–97, 125, 146, 150, 160, 174, 205, 226, 295–298, 303, 320, 328, 344–346 nachmetaphysisch, postmetaphysisch 17–18, 57, 333, 336 Natur, menschliche 48–49, 90–91, 97, 150, 154, 157–158, 188–189, 195, 284 Natur, natürlich 34, 38, 44, 47, 56–57, 59–60, 65–70, 72, 76–78, 81, 84–87, 91, 95–97, 102, 104–109, 114–116, 119, 123, 125–127, 130–132, 142, 147–148, 153–154, 161, 164, 169, 171, 190, 195, 204, 215, 221, 232, 239, 249–253, 255–258, 263, 272, 274, 276–277, 286–287, 289, 294– 295, 300, 309–317, 328, 331 Naturalismus, naturalistisch 54, 56, 146, 194, 198, 204, 249, 284–285, 287–288, 290, 314 Naturphilosophie, naturphilosophisch 30, 34, 98, 103, 115, 119, 122–123, 127, 160, 175, 200, 206, 287 Naturwissenschaft, naturwissenschaftlich 19, 23, 34, 36, 51, 98, 162, 193–195, 197, 200, 221, 225, 239, 255, 285, 288, 307, 314, 323, 325
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Sachregister Negativität, negativ 31, 106, 140, 145, 159, 205, 279, 311, 324, 343 Neues Testament, siehe auch Bibel 183, 198 Neukantianismus, neukantianisch 19–20, 24, 194, 202, 211, 334, 345 Neuplatonismus, neuplatonisch 27, 80, 98, 149, 151, 162, 296, 298 Neuscholastik, neuscholastisch 21, 23, 199–200 Neuzeit, neuzeitlich 16, 33–34, 43, 56, 86, 88, 106, 135, 147, 191, 285, 287 Nichtseiendes 61–67, 84–85, 211 Nichtsein, Nichts 18, 21, 41, 57, 61, 63–64, 69, 81, 98, 110, 113, 128, 131–132, 205, 213–214, 231, 257, 266, 304, 336, 342–343, 346–347 Noema, noematisch 210, 230, 232, 238–239, 241, 259, 269, 281–282, 308, 310, 329–330, 335, 342 Noesis, noetisch 57, 63–64, 128, 238– 239, 281 Objekt, objektiv 40, 50–53, 73, 88, 90–91, 102, 116–117, 121, 124, 144, 199–200, 203–204, 210, 212–213, 217–218, 220, 223, 225, 231–235, 237, 239–241, 243–245, 250–251, 255, 257–258, 263–264, 267, 271, 277–278, 284, 286, 289, 302, 305– 306, 313–314, 330, 334, 341, 346 Objektivismus, objektivistisch 21, 33, 66 Objektivität 213 Offenbarung 38, 81, 86, 104, 111, 116, 119, 122–123, 149, 164, 177, 192–193, 199, 223, 273, 276, 291– 292, 295, 300, 316–317, 319–321, 325, 327, 333, 336–338, 340–341, 344 Onto-theologie, onto-theologisch 17–18, 39, 41, 57, 108, 110, 115, 147, 208, 276, 333–340, 342 Ontologie, ontologisch 20, 38–40, 45–47, 57, 59–61, 63, 65–67, 69–71, 77, 81, 85, 87, 96, 98, 105, 109, 111,
119, 139, 146, 189–191, 200, 202– 203, 208–210, 215–216, 221, 228– 229, 246–247, 252, 259, 266–267, 292, 301, 303, 310, 334–336, 342– 343 Organismus, organisch 53, 56, 120– 121, 141–142, 160, 189, 247, 250, 252, 254, 283–284, 295, 299, 305, 307 Ort, örtlich 37, 40, 57, 76, 99, 146– 147, 150, 153–154, 157, 163, 183, 185, 189, 240, 247, 249, 253, 256, 264, 277, 294, 325, 328, 338–339, 343, 347 Patristik, patristisch 162, 335 Person, Personalität 37, 40–41, 48– 55, 57, 59, 69, 71, 74–77, 79, 81, 87– 97, 99–103, 125, 139, 145–147, 150–153, 155–156, 158–161, 164, 170, 175, 178–179, 182, 185–189, 191, 193, 198, 202–203, 213–214, 218, 222, 247–249, 251–253, 255– 256, 259, 262, 269, 274, 279–284, 287, 293, 295, 300, 312, 317, 320, 323–325, 327, 331, 340, 344 Phänomen, phänomenal 19–21, 26, 41, 49–50, 52–54, 56, 67, 76, 95–99, 103, 126, 130–133, 141, 146, 150, 152, 171, 184, 191, 199, 203, 206– 207, 210, 212–214, 216, 223, 230– 231, 233, 238–242, 249–259, 261, 265, 268, 271–272, 274, 278, 280, 283, 286–288, 295, 298, 302, 307– 309, 311–313, 318, 328–330, 332, 337–341, 343–346 Phänomenologie, phänomenologisch 15, 17–24, 27, 30–33, 35–36, 40– 41, 47, 51, 54–55, 57, 95, 103, 107, 133, 136, 191, 193, 197, 199–211, 213–226, 229–246, 248–252, 254– 255, 257–258, 260–264, 266–283, 285–294, 298–304, 307–312, 314– 318, 321, 323–341, 343–347 Philosophie, philosophisch 15, 17–20, 22–24, 27, 32–42, 44, 46–50, 53–57, 71–72, 80, 86, 88, 96, 98, 104, 106,
379 https://doi.org/10.5771/9783495821633
Sachregister 115, 119–120, 122, 125, 134–135, 144–145, 148–149, 155, 162, 164, 166–168, 174–179, 190–191, 193– 195, 197–203, 205–210, 218–219, 221, 223–224, 239, 248, 264, 272, 274, 281, 285–289, 291–292, 296– 297, 303–305, 307, 309, 312, 316– 317, 320–322, 324–329, 331, 333– 334, 336–338, 340–344, 346 Philosophiegeschichte, philosophiegeschichtlich 18, 37, 41–42, 199, 287–288, 293, 307, 334 Physik, physikalisch 34, 39, 56, 104– 106, 109, 112, 121, 126–127, 153, 178, 203, 208, 239 Physiologie, physiologisch 56, 195, 258 Politik, politisch 148–149, 162–163, 177–182, 278, 286–287, 291 Postmoderne, postmodern 17–18, 57 Potentialität, potentiell 64, 154, 168, 171, 235, 260, 282, 287 Praxis, praktisch 29, 49–50, 53, 122, 138, 148–149, 162, 174, 177–180, 182–183, 190, 194, 198, 222, 277, 281–282, 284–285, 289, 293, 302– 303, 311–314, 317, 322–323, 325, 329, 331 Prinzip, siehe auch Ursprung, Ursache 19–20, 37–38, 40, 46, 65, 70, 72–73, 79, 81, 97–99, 104–106, 118–119, 121–122, 124, 126–130, 133, 135, 138–140, 143, 151, 160, 162, 165, 168, 174, 182, 187, 195, 205, 207–209, 213, 218, 254, 258– 259, 262, 293, 304, 323, 333 Psyche, psychisch, siehe Seele, seelisch Psychologie, psychologisch 20–21, 46, 49, 194–196, 200, 206, 219, 224–226, 232, 237, 251, 273, 287, 305, 310–311 Psychologismus, psychologistisch 18, 56–57, 195, 197–198, 219, 287 Quelle, Quellpunkt, siehe auch Ursprung, Prinzip 86, 119, 142–145,
180, 191, 236–237, 240–242, 245, 249, 284 ratio inferior, niedere Vernunft 135– 139 ratio superior, höhere Vernunft 135, 137–139 Rationalität, rational, siehe auch Vernunft, Verstand 17–18, 20, 29, 31, 46, 49, 55, 147, 194, 200, 219, 225, 280, 285, 288, 304, 319, 322 Raum, räumlich 21, 63–64, 74, 76– 77, 84, 100, 132, 135, 147, 154, 158, 175, 191, 209, 213, 239–240, 251–253, 256, 312, 330, 332, 339, 345 Reduktion, phänomenologische, siehe Epoché Reich Gottes 148–149, 183, 289, 293 Relation, relational 59, 64–65, 67–68, 70, 72–74, 78, 107, 129, 145, 185, 240, 269, 302 Religion, religiös 22, 25, 30, 33, 35– 36, 42, 52, 74, 120, 148, 163, 169, 174, 198–199, 202, 204, 207, 273, 284, 288–289, 291, 295–297, 316– 331, 336–337, 340–341, 344 Religionsphilosophie, religionsphilosophisch 36, 297, 321, 328, 330, 339, 345–346 Religionswissenschaft 325 Scholastik, scholastisch 17–18, 20– 21, 33–34, 36, 47, 59–60, 86, 109, 111, 148, 164, 167, 174, 191, 199, 205, 230, 258, 273, 336 Schöpfung 17, 38, 43, 69, 74, 76–78, 80–81, 93, 99, 108–109, 128, 144, 147, 182, 219, 238, 240, 242, 245– 246, 270, 286, 316 Seele, seelisch 21, 37, 43, 45–46, 50, 53–56, 62–68, 82, 84–85, 87, 89–90, 92, 95–99, 101–102, 117, 127, 137– 141, 143, 145, 149–150, 153–155, 157, 169, 171, 184–191, 194–195, 215, 217–219, 221–223, 232, 237, 247, 249–256, 258, 260–262, 270,
380 https://doi.org/10.5771/9783495821633
Sachregister 272, 274–275, 279–280, 283, 295, 299, 307, 328, 342–343 Seelengrund 95, 141–144, 150, 186– 187, 254 Seelenvermögen 49, 51, 53, 55, 84, 86, 90, 95–96, 116–117, 135, 137– 138, 140–142, 153, 185–186, 194, 206, 254, 299 Seelsorge 167, 176, 324 Seiendes 37–40, 42, 44, 57, 60–68, 70–71, 77, 84, 87–88, 98, 104, 106– 117, 122–126, 128–132, 134, 152, 200, 205, 207–209, 211, 229, 236, 252, 257, 273–274, 292, 300–302, 335, 338, 343, 346 Sein, esse 18, 21, 25, 42–44, 46, 51– 52, 57, 59–62, 65–75, 77, 81–82, 84–85, 87, 89–90, 94–98, 100, 102– 103, 105–110, 112–119, 122–124, 126–133, 137, 141, 146–147, 150– 152, 157–158, 182, 185, 187–188, 198, 201, 203–205, 207–209, 211– 214, 221, 229, 236–238, 240, 253, 257, 266–269, 271, 273–274, 276, 280, 289, 294–296, 302, 304, 307, 310, 334–337, 339, 342 Selbstbewusstsein, Ichbewusstsein 41–42, 46–47, 51, 53, 73, 79, 81, 86, 88, 96, 118, 204, 218, 220, 224, 231–232, 235, 237, 247, 257, 264, 269, 271, 286, 290–291, 295, 300– 301 Sensualismus, sensualistisch 287 Sinnlichkeit, sinnlich 21, 24–25, 49, 51, 112–113, 126, 131, 135–137, 153, 165, 169, 224–225, 227, 229– 230, 239, 254, 298, 312–314, 327 Skeptizismus, skeptisch 18, 22, 196, 288 sphaera infinita, siehe auch sphaera intelligibilis 84, 157, 245 sphaera intelligibilis 27, 70, 84–85, 151, 154 Spontaneität, spontan 48, 51, 53, 72, 88, 94, 97, 99, 101, 103, 117, 120, 125, 138, 144, 146–148, 155, 159– 160, 174–175, 178, 190, 233, 242–
243, 245, 250–252, 256, 269–270, 282, 284, 293, 305, 313 Sprache, sprachlich, siehe auch Logik, logisch 17, 40, 50, 95, 144, 199, 227, 230–231, 241, 256, 262, 271– 273, 278, 283, 313–314, 326, 342– 343 Stoizismus, stoisch 121, 178 Subjekt, subjektiv, siehe auch Ich, Bewusstsein 17–19, 21, 33, 37, 40– 43, 46, 49–51, 55–56, 66, 79–80, 86, 90, 101, 121, 145–146, 150, 153– 154, 161, 179, 190–191, 199, 212, 214–216, 219, 222, 224, 230, 232– 237, 239, 244–245, 249–252, 254– 259, 261–263, 266, 268–270, 273, 275, 278, 280–281, 283, 285, 288– 289, 292–293, 298–300, 304, 311– 314, 317, 320, 333–334, 341–342, 344, 347 Subjektivismus, subjektivistisch 22, 25 Subjektivität 17, 37, 42, 46, 52, 54– 56, 69, 88, 106, 147, 153, 182, 193– 194, 201, 204, 210–211, 214, 218, 220, 222–225, 231, 235, 237, 240– 241, 243–244, 257–258, 268–269, 271, 274, 283, 287–288, 290, 292, 299, 306, 310, 340 Substanz, Substantialität 39, 50–51, 56, 60–61, 63–65, 68–70, 72–73, 77, 80–81, 83, 86, 97–100, 104–107, 110, 115–116, 118–120, 123, 126– 127, 129, 146–147, 151, 188–189, 191, 199, 212–213, 217–218, 223, 232–233, 264, 268, 271, 274, 294, 334, 347 Sünde, sündhaft 145, 285, 288–289, 319, 321 Synthese, synthetisch 51, 66, 72, 120, 136, 224, 230, 243, 255, 298, 334 System, systematisch 19, 22, 28, 33, 37–38, 47–50, 58, 64–65, 68–69, 71, 106, 108, 120, 151, 192, 196, 199, 206, 217, 220–221, 272, 283, 291, 306–307, 312, 317, 328, 342
381 https://doi.org/10.5771/9783495821633
Sachregister Teleologie, teleologisch 49, 105, 126, 182, 243, 246–247, 271, 275–276, 278, 281, 286, 292–294, 301–302, 304, 307, 310, 314–315, 321, 326, 328, 334, 339 Telos, siehe auch Ursache, Zielursache 161, 182, 277, 280–282, 284– 285, 287, 291–292, 302, 310 Theologie –, negative 17, 143, 330, 342 –, philosophische 38, 108, 115, 177– 178, 199, 207, 273, 326–327, 336, 340–341 Theologie, theologisch 17–18, 26, 33, 35–36, 38–39, 52–53, 55, 60, 80, 86, 89, 96, 108–109, 111, 115, 118–119, 122–124, 144, 149, 155, 167–168, 174–177, 179, 181, 184, 190, 192– 193, 198, 200, 207–208, 214, 216, 219–220, 223, 246, 248, 263, 271, 281–282, 288, 292, 303, 317, 320– 321, 324–327, 333–338, 340–341, 344, 346 Theorie, theoretisch 20–21, 32, 35– 36, 47–50, 52–53, 59, 80, 86, 102, 115–116, 121–122, 145, 149, 162, 164, 166, 168, 176, 178–179, 182– 183, 190, 194, 197–199, 201, 209, 216, 220, 222, 265, 277, 281–282, 284–285, 289, 297–298, 302–303, 305, 307, 311–312, 314–318, 320, 322–323, 325, 327, 344 Tradition, traditionell, siehe auch Geschichte, Habitualisierung 24, 27–28, 33, 35, 37, 42, 47, 52, 55–57, 60, 68, 86, 106, 115, 125, 130–131, 143–144, 147, 168, 174, 193–194, 199–201, 205, 208–209, 215, 221, 223, 230–231, 239, 246, 264, 274– 276, 278, 282, 286, 295–297, 307, 312, 316–322, 324–325, 333–334, 336, 345 Transzendentalien 77, 134 Transzendentalität, transzendental 17–19, 33, 47, 49–52, 54, 74, 76, 86, 89, 106, 108, 111–113, 120, 134, 138, 141–142, 144, 150, 160, 171,
174–175, 179, 182, 186, 191, 195, 201–202, 206, 211, 214–216, 218, 220, 222–224, 232, 236–237, 239– 241, 244–246, 248–262, 264–277, 279–288, 290–292, 294, 299–307, 309–311, 314–316, 321, 325, 328, 330–332, 334, 342, 344–345 Transzendenz, transzendent 76, 80, 82, 93, 96, 130, 146, 171–175, 184, 202, 214, 219, 222, 238, 243, 247, 249–250, 264, 268, 272, 292, 308, 332, 339 Trinität, trinitarisch 52, 72, 74, 76– 78, 80, 82, 85, 91–93, 97, 124–125, 144, 149, 151, 179, 184–185, 189, 191, 248, 270, 317 Überzeitlichkeit, überzeitlich, siehe auch Ewigkeit, ewig 80, 91–92, 95, 99, 127–129, 136, 140, 149, 183– 184, 195–196, 270, 293, 345, 347 Unendlichkeit, unendlich 27, 34, 45, 49, 84, 126, 151–152, 154–155, 158, 181, 191, 216, 220, 233, 235–236, 244, 246–247, 266–267, 275–276, 279–282, 291–293, 295, 299, 301– 302, 304, 326, 331–332, 337, 339, 341–343, 347 Ur-Ich 259–262 Ursache –, Formalursache, causa formalis 105, 112, 126–127, 129 –, Materialursache, causa materialis 105, 112, 126–127, 129 –, Wirkursache, causa efficiens 34, 38, 42–43, 47, 59, 62, 70, 75, 78, 88, 102–103, 105, 112, 114, 126–127, 129, 132, 146–147, 190, 268, 270 –, Zielursache, causa finalis 102, 105, 109, 112, 126–127, 129, 146, 271 Ursache, siehe auch Kausalität, kausal 34, 38, 60, 62, 65, 70, 81, 94, 96, 104–105, 110, 112–115, 118, 126– 127, 129, 139, 147, 177, 206, 237, 276 Ursprung, ursprunghaft, siehe auch Prinzip, Ursache 20, 37, 40–41, 47,
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Sachregister 51, 53, 60, 62, 64, 66, 68–72, 74, 78, 80, 82, 85–86, 90–91, 94, 99, 102–103, 107–108, 113–114, 117– 122, 124–125, 127–129, 132, 134– 142, 144–148, 151, 154–155, 158– 159, 164, 172, 175, 182–183, 190, 200, 205–207, 210, 221–223, 225– 226, 228, 230–232, 234–238, 240– 241, 243, 246, 248–250, 252, 254– 257, 259–261, 269–272, 274, 276, 284–285, 289–290, 293, 305–306, 308, 311, 313–316, 319–321, 323– 324, 327–328, 334–335, 338, 341– 346 Vergöttlichung, deificatio 296, 298 Vernunft, vernünftig, siehe auch ratio superior 18–26, 31, 36–38, 44, 49, 51–52, 55–57, 59, 61, 63–64, 67–68, 79, 81, 86, 88, 98–102, 111, 116, 120, 123–125, 131, 135–137, 139– 148, 150, 154, 157, 160–162, 169– 175, 177–178, 181–183, 185, 189– 190, 195, 205–206, 215–216, 218, 224–225, 246–247, 259, 270, 272, 274, 278, 280–294, 300, 302, 305, 307, 314, 316–317, 319, 321–325, 327, 338–340, 343, 345 Verstand, siehe auch ratio inferior 20–21, 24, 49, 51, 114, 135–136, 225 Verzückung, siehe Ekstase visio beatifica, Gottesschau 116, 164– 165, 167–169 vita activa, tätiges Leben, siehe auch Lebensform 32, 162–164, 166, 168, 171, 174 vita contemplativa, betrachtendes Leben, siehe auch Lebensform 32, 162–164, 166–168, 174 Vitalismus, vitalistisch 18, 305 Wahrheit, wahr 20, 23, 32, 42–43, 54, 61, 64, 83, 94, 108, 112–113, 117, 119, 122–124, 133–135, 137, 142, 165–167, 176, 183, 196, 198, 200– 201, 207, 228–230, 234, 236, 275,
289, 300–301, 313–315, 322–327, 344–345 Weisheit, sapientia 29, 61, 107, 110, 177, 179–180, 185 Welt, weltlich 21, 32, 37, 40–43, 47– 48, 50–54, 57, 59, 67–70, 74–86, 89–90, 93–100, 102–103, 105–109, 112, 119, 122, 124–126, 129–132, 136–140, 142–143, 145–155, 157, 161, 163, 165, 171–173, 175, 178– 179, 181–183, 190–191, 193–194, 201–205, 209–214, 218, 220–225, 232, 237–239, 243–261, 263–266, 268–275, 277–278, 280–283, 286– 287, 289–293, 295, 298–299, 301– 303, 306–311, 313–316, 321–322, 325–332, 334, 337, 339–344, 346– 347 Weltkindschaft, Weltverfallenheit 103, 204–205, 309, 311 Weltseele 98 Weltverhalten 47–48, 57, 102, 190, 194, 205, 307, 309, 311, 342, 344 Wesensschau 31, 134, 226, 228–229, 313 Wille, willentlich 25, 43, 77–78, 97, 114, 124, 159, 278–279, 295, 297, 299–300 Wirken 73–74, 112, 129, 146, 160– 161, 171–172, 174–175, 185, 191, 293–294, 298, 303, 315, 331, 339, 344, 347 Wirklichkeit, wirklich 17–21, 32–34, 37–42, 44–46, 48–49, 55–57, 59– 62, 65–69, 72, 74, 76–78, 80–81, 83, 85–86, 91, 93–97, 101, 103–107, 109–116, 120–122, 124–127, 130– 136, 139, 142, 146–147, 151–156, 160, 162, 165, 170, 175, 178, 181– 183, 188–191, 193, 195–197, 201, 203–204, 206, 208–209, 211–213, 215–216, 219–221, 223, 226–229, 231–233, 236–237, 241, 245–253, 255, 257, 264, 266–267, 269–270, 273, 275, 277–282, 284–286, 289, 292, 294, 297–302, 304, 306, 310,
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Sachregister 312, 314–315, 320–322, 327, 329, 332, 334, 339, 342, 346 Wissenschaft, wissenschaftlich 15, 20–22, 27, 29, 32, 35–37, 39, 43, 46–48, 53–54, 56, 104–113, 115, 120–124, 126, 144, 162, 164–165, 167–168, 175–179, 193–198, 200– 211, 213–214, 220–221, 229, 231, 266, 273, 276, 284, 287–289, 292, 301, 303–307, 309–311, 314–316, 321, 323, 326, 328–329, 338, 344, 346 Wissenschaftsarchitektonik 104, 106, 208 Wissenschaftstheorie, wissenschaftstheoretisch 19, 47, 120–121, 193, 195, 288
Zahl, zählen 66, 87, 195, 197, 260, 281 Zeit, zeitlich 43, 66, 76–77, 79, 82, 84, 90, 94, 100, 135–136, 140–144, 147, 153, 172, 183, 191, 199, 209, 220, 236–245, 252, 256, 260, 262–264, 271, 274–275, 277, 282, 284, 286, 291, 294, 302, 319, 326, 330 Zeitbewusstsein 235, 240, 242, 244 Zeitigung, zeitigen 140, 241, 245 Zeugung, Erzeugung –, biologische 129–130, 153 –, geistige 68, 73, 75–76, 80, 99, 108, 114–116, 130, 132–133, 154, 191, 225, 230, 235, 238, 242–243, 246, 313 Zweite Philosophie 125, 197, 208, 273, 304
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