Forensische Erkenntnistheorie: Der Inferentielle Kontextualismus und die Funktion der kontextrelevanten Zweifel im Strafverfahren – Zugleich eine analytische Perspektive zur Sachverhaltsfeststellungsdogmatik [1 ed.] 9783428545551, 9783428145553

Die Beweiswürdigung stellt nach herrschender Meinung in der juristischen Literatur ein ›Geheimnis‹ des Tatrichters dar.

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Forensische Erkenntnistheorie: Der Inferentielle Kontextualismus und die Funktion der kontextrelevanten Zweifel im Strafverfahren – Zugleich eine analytische Perspektive zur Sachverhaltsfeststellungsdogmatik [1 ed.]
 9783428545551, 9783428145553

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Schriften zur Rechtstheorie Band 277

Forensische Erkenntnistheorie Der Inferentielle Kontextualismus und die Funktion der kontextrelevanten Zweifel im Strafverfahren – Zugleich eine analytische Perspektive zur Sachverhaltsfeststellungsdogmatik

Von Kyriakos N. Kotsoglou

Duncker & Humblot · Berlin

KYRIAKOS N. KOTSOGLOU

Forensische Erkenntnistheorie

Schriften zur Rechtstheorie Band 277

Forensische Erkenntnistheorie Der Inferentielle Kontextualismus und die Funktion der kontextrelevanten Zweifel im Strafverfahren - Zugleich eine analytische Perspektive zur Sachverhaltsfeststellungsdogmatik

Von Kyriakos N. Kotsoglou

Duncker & Humblot · Berlin

Der Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Frankfurt am Main hat diese Arbeit im Wintersemester 2013/2014 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2015 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Buch Bücher de GmbH, Birkach Printed in Germany ISSN 0582-0472 ISBN 978-3-428-14555-3 (Print) ISBN 978-3-428-54555-1 (E-Book) ISBN 978-3-428-84555-2 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Internet: http://www.duncker-humblot.de

Für meine Eltern Στους γονείς μου

[Niels Bohr:] Yes, listen, now it comes, now it comes … We put man back at the centre of the universe. Throughout history we keep finding ourselves displaced. We keep exiling ourselves to the periphery of things. First we turn ourselves into a mere adjunct of God’s unknowable purposes, tiny figures kneeling in the great cathedral of creation. And no sooner have we recovered ourselves in the Renaissance, no sooner has man be­ come, as Protagoras proclaimed him, the measure of all things, than we’re pushed aside again by the products of our own reasoning! We’re dwarfed again as physi­ cists build the great new cathedrals for us to wonder at – the laws of classical mechanics that predate us from the beginning of eternity, that will survive us to eternity’s end, that exist whether we exist or not. Until we come to the beginning of the twentieth century, and we’re suddenly forced to rise from our knees again. Michael Frayn, Copenhagen We shall not cease from exploration, and the end of all our exploring will be to arrive where we started and know the place for the first time. T. S. Eliot, Little Gidding

Vorwort Die vorliegende Arbeit ist im Dezember 2013 vom Fachbereich Rechts­ wissenschaft der Universität Frankfurt am Main als Dissertation angenom­ men worden. Die letzte Überarbeitungsphase des Manuskripts wurde Ende Juli 2012 abgeschlossen. Bis auf geringfügige Korrekturen und Ergänzungen habe ich von Änderungen des Textes abgesehen. Die bis dahin bzw. bis zur Disputation im Juli 2014 erschienene Literatur konnte nur bedingt einbezo­ gen werden. Prof. Dr. Dr. h. c. Ulfrid Neumann hat den Werdegang der Arbeit von An­ fang an verfolgt. Für seine ständige Bereitschaft zum Gedankenaustausch, die Veranstaltung seines Postgraduiertenkolloquiums, welches die diskursiven Ideale Frankfurts meisterhaft in die Tat umsetzt, sowie für die Erstellung des ersten Gutachtens möchte ich mich bei ihm herzlich bedanken. Prof. Dr. Klaus Günther möchte ich für die Erstellung des zweiten Gutachtens und sei­ ne hilfreichen Anmerkungen ebenfalls einen besonderen Dank aussprechen. Ganz herzlich bedanke ich mich bei Prof. Dr. Matthias Jestaedt, der mich an seinem Lehrstuhl an der Universität Freiburg aufgenommen und einen Rettungsschirm – um das Modewort einmal an einer passenden Stelle zu verwenden – aufgespannt hat. Er hat mich stets mit Rat und Tat unterstützt und mir großzügige Freiräume gewährt, die vor allem während der letzten Phase der Bearbeitung die Fertigstellung meiner Dissertation zunächst er­ möglicht haben. Für diese kreative Zeit bin ich – nicht zuletzt als ‚Frank­ furter Eindringling‘ bei ihm sowie bei seinen ‚Kelsenianern‘– sehr dankbar. Aus meiner Athener Zeit möchte ich Prof. Dr. Nikolaos Livos einen herz­ lichen Dank aussprechen. Ohne ihn hätte ich wohl die Welt der Rechtstheo­ rie und der Grundlagenforschung, die ja eine leistungsfähige (Strafprozess­ rechts-)Dogmatik erst einmal ermöglichen, nicht entdecken können. Das vage Gefühl eines Jura-Studenten, dass mit der Art und Weise wie wir Dogmatik betreiben etwas überhaupt nicht stimmt, wäre dann ein Gedanke geblieben, den man weder verstehen noch artikulieren kann. Mein älterer Doktorbruder Dr. Jorgos Giannoulis, hat dazu beigetragen, dass das sensible Gleichgewicht zwischen selbstbezogener Theorie einer­ seits und anwendbarer Theorie andererseits aufrechterhalten wird. Nicht zuletzt für die unzähligen Male, dass wir die Bibliothek des RuW-Gebäudes als Letzte verlassen haben (müssen), bedanke ich mich bei ihm von Herzen. Meinem Studienkollegen RA Konstantinos Patsalidis LL.M., bin ich für die

10 Vorwort

unzähligen Diskussionen und vor allem für seine Freundschaft ebenfalls zu herzlichem Dank verpflichtet. Einen großen Dank schulde ich auch dem Deutschen Akademischen Aus­ tauschdienst, der mir ein Forschungs- (2007) und ein Promotionsstipendium (2010–2011) gewährte. Eine juristische Arbeit, die einen begründungstheoretischen Ansatz umsetzt und sich als angewandte Erkenntnistheorie versteht, geht das Risiko des Dilet­ tantismus ein. Ich hatte das seltene Glück, mich von Anfang an mit Philoso­ phen auszutauschen, damit jenes Risiko handhabbar gemacht wird. Allen vo­ ran möchte ich mich herzlich bei Prof. Dr. Peter Baumann bedanken, der im­ mer bereit war, meine zahlreichen Fragen mit großer Geduld zu beantworten. Den Philosophen, mit denen ich mich im Laufe der letzten vier Jahre im Rahmen des Symposions der österreichischen Ludwig Wittgenstein Gesell­ schaft austauschen und von deren Verständnis der Philosophie Wittgensteins meine Arbeit am meisten profitieren konnte, gebührt ein besonderer Dank. Allen voran möchte ich mich bei Peter M. S. Hacker, Joachim Schulte, David Stern, Hans Sluga, Stewart Cohen, Jaakko Hintikka und Daniel MoyalSharrock (akademische Titel sind weggelassen) für kurze und meist lange Gespräche bedanken. Meinen ‚Halb-Kollegen‘ und Wittgenstein-Experten Alexandra Dias Fortes, Florian Franken, Sebastian Greve, Reza Hosseini, Maja Jaakson, Michal Ivan, Jon Keyzer, Daniel Sharp, Sarah Anna Szeltner (akademische Titel sind ebenfalls weggelassen), schulde ich ebenso einen großen Dank für intensive Gespräche. Sie haben mir geholfen, zu verstehen, was es heißt und vor allem, was es nicht heißt, eine Wittgensteinsche Per­ spektive einzunehmen sowie den Mut zu finden, aus den Notizen Ludwig Wittgensteins (die posthum als „Über Gewissheit“ veröffentlicht wurden und sein drittes Meisterwerk darstellen) im Anschluss an Michael Williams’ Systematisierungsarbeit einen juristischen Ansatz herauszudestillieren. Meinen Eltern, Anastasia-Maria und Nikolaos Kotsoglou, sowie meiner Schwester Maria-Christina Kotsoglou gebührt der größte Dank. Sie sind meine Helden, die anders als die Superhelden in den Comic-Büchern keine übermenschlichen Fähigkeiten brauchen, sondern ausgerechnet eine ureige­ ne menschliche Kraft einsetzen. Ihre Liebe hat es mir ermöglicht, meine Träume zu verwirklichen. Meine Frau, Katerina Skoufa, hat mich während der letzten zehn Jahre in all den Höhen und Tiefen, die vor allem eine Promotion nach sich zieht, begleitet und unterstützt. Sie durchblickt meinen (aristotelischen) Dämon, besser als ich selbst. Sie ist im wahrsten Sinne des Wortes der Grund für meine Eudämonie. Freiburg im Breisgau, Oktober 2014

Kyriakos N. Kotsoglou

Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Teil 1

Der Mythos des Gegebenen 

26

A. Der Wille zur Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 I. Find the Facts and the Law is Easy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 II. Erkenntnispessimismus oder gar Erkenntnisdepression? . . . . . . . . . . . . 30 III. Konstruktive und diagnostische Haltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 IV. Hoffnung auf Therapie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 B. Tracking: Der Wahrheit auf der Spur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 I. Ein fremdes Prinzip? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 II. Der antiphilosophische Affekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 III. Wozu braucht man Erkenntnistheorie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 C. Über plausible Missverständnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 I. Zwei Antagonistinnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 II. Der faktenkontingente Charakter unserer (Streit-)Kultur . . . . . . . . . . . . 44 1. Gibt es einen gemeinsamen Nenner? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 2. Epistemischer Zugang zur Welt und nicht Herstellung der Welt . . . 45 D. Das Aus(t)räumen eines ‚Mythos‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 I. Das Obama-Experiment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 II. Das menschliche Wahrnehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 1. Funktionalität des Wahrnehmens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 2. Die Selektivität unseres Wahrnehmens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 3. Das Flaschenhals-Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 4. Näheres zum neuronalen Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 5. Top-down- und Bottom-up-Prozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 III. Begriffsanwendung statt Wahr-Nehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 E. Erster Einwand: Wilfrid Sellars und der „Mythos des Gegebenen“ . . . . . . . 58 F. Zweiter Einwand: Die kognitive Intoleranz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 I. Die einzig richtige Beobachtung: „Sehen Sie sich selber an!“ . . . . . . . 60 II. „Catch me if you can“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 III. Das Video spricht zwar von alleine – Die Frage lautet freilich mit wem! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63

12 Inhaltsverzeichnis IV. Die entscheidungstheoretische Hybris . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 V. Zur juristischen Bescheidenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 VI. Personenbezogene Beweiswürdigung und Akzeptanz des Urteils . . . . . 66 G. Nochmals zur einzig richtigen Beobachtung: Die Ontologisierung der Be­ gründung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 I. Idealismus und Realismus. Tertium non datur? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 II. Nochmals zum plausiblen Missverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 H. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 Teil 2

Die Hauptprobleme der juristischen Wahrheitsdebatte 

76

A. Die Hypothek der Korrespondenztheorie der Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 I. Eine Korrespondenztheorie der Wahrheit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 II. Das Steinschleuder-Argument gegen die KW . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 B. Semantische Theorie der Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 I. Über formale Sprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 II. Void-for-Vagueness? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 III. Rechtssprache und Indeterminiertheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 1. Zur Vagheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 2. Zur Mehrdeutigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 3. Die unabgeschlossene „Rechtswirklichkeit“ und die Offenheit der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 4. „Zurück auf dem rauhen Boden“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 C. Fact-triers und Historiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 I. ‚Was‘-Fragen und ‚Wie‘-Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 II. ‚Entscheidungen treffen‘ im engeren und im weiteren Sinne . . . . . . . . 91 III. ‚Absence of Proof‘ und ‚Proof of Absence‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 IV. Ist das denn alles, was uns trennt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 V. Mikro- und Makro-Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 D. Der Primat der Erkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 I. Benötigen wir eine Wahrheitstheorie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 II. Das theologische Genom der materiellen Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . 97 1. Materielle Wahrheit und Jesus von Nazareth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 2. Wovon reden wir eigentlich? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 III. Ein Grabenkampf und die Stellung der Rechtswissenschaften . . . . . . . 103 E. Eine verfehlte Unterscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 F. Das Ziel des Strafverfahrens: Die Falle der Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 I. Bohre nicht nach Erdöl, wo es keines gibt! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 II. Die Situation des Ignoramus und die Situation des Wissenden . . . . . . 113

Inhaltsverzeichnis13 III. Duldungspflicht eines „Fehlurteils“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 IV. Die Handlungsanweisung des Ignoramus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 G. Das Problem der Fehlurteile und Fehlurteile als Problem . . . . . . . . . . . . . . 116 I. Über Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 II. Principle of total evidence: You should take account of everything you know . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 III. Fehlurteile in abstracto und Fehlverurteilungen in concreto . . . . . . . . . 121 H. Lässt sich die Wissenschaftlichkeit aufrechterhalten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Teil 3

Das System der freien Beweiswürdigung 

127

A. Zur vermeintlichen Verpflichtung von § 244 II StPO zur materiellen Wahr­ heit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 I. Die freie Beweiswürdigung als unsere epistemische Praxis . . . . . . . . . 128 II. Die Genese des legalen Beweissystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 III. Die Abschaffung der Folter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 IV. Das Flußbett verschiebt sich: Enttheologisierung der Wahrheit . . . . . . 136 B. Die Einführung der freien Beweiswürdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 I. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 II. Das System der freien Beweiswürdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 1. Der Common Sense . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 2. Conviction intime als geltendes System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 a) Strafverfahren in Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 b) Strafverfahren in den USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 III. Conviction ecrite mais pas raisonée! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 IV. § 267 Abs. 1 S. 2 StPO und der sogenannte Indizienbeweis . . . . . . . . . 148 C. § 267 als Sollvorschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 I. Conviction raisonée als verfassungskonforme Auslegung des § 267 Abs. 1 S. 1 StPO  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 II. Begründungspflicht als epistemische Verantwortlichkeit . . . . . . . . . . . . 154 III. Zu einer Theorie der epistemischen Verantwortlichkeit . . . . . . . . . . . . . 156 IV. Die doppelte Verlagerung: § 267 ← § 261 ← § 244 II . . . . . . . . . . . . . 157 Teil 4

Auf der Suche nach einer Rechtfertigungstheorie 

159

A. Der Primat der Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 B. Die Urteilsbegründung, eine Herkulesaufgabe? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 C. Das Agrippa-Trilemma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166

14 Inhaltsverzeichnis I. Fundamentalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 1. Die Vorannahme der „erkenntnistheoretischen Priorität“ . . . . . . . . . . 168 2. Zwei Einwände gegen den Erkenntnis-Fundamentalismus . . . . . . . . 169 II. Kohärentismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 III. Eine Zwischenbilanz. Fundhärentismus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 D. Moderne Skepsis: On the Slippery Slope to Scepticism . . . . . . . . . . . . . . . . 173 I. Das Prinzip des ausgeschlossenen Zweifels (PAZ) . . . . . . . . . . . . . . . . 173 II. Zwischen der Scylla (antiker) und der Charybdis (moderner) Skepsis  . 175 E. Der Epistemologische Kontextualismus: Ein Schmerzmittel gegen die Er­ kenntnis-Skepsis? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 I. Zunächst eine Antwort auf eine bekannte Frage . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 II. Das klingt nach Relativismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 III. Welcher Relativismus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 IV. Kultureller Relativismus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 V. Ist kultureller Relativismus ein sinnvoller Begriff? . . . . . . . . . . . . . . . . 183 F. Der I. II. III.

Epistemologische Kontextualismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 Semantischer Kontextualismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Fred Dretske und das Modell mit den „Relevanten Alternativen“ . . . . 187 DAVID LEWIS – Pssst … Manche Zweifel kann man bloß ignorie­ ren! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 IV. Keith DeRose – Jetzt weiß ich – jetzt aber nicht! . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 V. Semantischer Kontextualismus: Eine Bilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 1. Semantischer Kontextualismus und „ordinary language“ . . . . . . . . . 195 2. ‚Wissen‘ als indexikalischer Begriff? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 3. Der kontextualistische Wissensmechanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 4. Die Kontinuitätsthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 a) Der Ansatz der „hohen Standards“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 b) Der Ansatz der „scheinbaren Allgemeinheit“ . . . . . . . . . . . . . . . . 200 5. Standards erhöhen oder Thema wechseln? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202

G. Inferentieller Kontextualismus  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 I. Eine Wittgensteinsche Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 1. Theorielose Skepsis? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 2. Die Hypothek der anti-skeptischen Rechtfertigungsstrategien . . . . . . 206 3. Der erkenntnistheoretische Realismus als Voraussetzung des subs­ tantiellen Fundamentalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 II. Inferentieller Kontextualismus als Antidot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 1. Das skeptische Potenzial des cartesianischen Projekts . . . . . . . . . . . 209 2. Die Bewertung all unseres Wissens auf einmal . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 3. Der losgelöste Standpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 4. Die condicio humana Wittgensteins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 5. „Im Anfang war die Tat“  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 6. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215

Inhaltsverzeichnis15 H. Die theoretische Diagnose der antiken Skepsis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 I. Die Voraussetzung des Prior Grounding Requirement . . . . . . . . . . . . . . 216 II. Die Argumentatiosstruktur als ‚loaded dice‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 III. Der antike Skeptiker als kleines Kind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 IV. Das „Weltbild“ als rechtfertigungsstiftender Faktor . . . . . . . . . . . . . . . . 219 V. „Gewissheiten“ als Angeln des inferentiellen Kontexts . . . . . . . . . . . . . 220 VI. Ein Pyrrhussieg? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 VII. Die Default-and-Challenge Strategie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 1. Rechtstheorie als Wiege der Default-Logik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 2. Wie führt man einen Defeater ins Spiel ein? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 3. Die fünf kontextbestimmenden Parameter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 a) Intelligibilitätsbeschränkungen – Die Grenzen des Sprachspiels  . 228 b) Methodologische Notwendigkeiten – Die Grenzen des inferen­ tiellen Kontextes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 c) Dialektische Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 d) Ökonomische Faktoren – Die Wirtschaftlichkeit unserer episte­ mischen Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 e) Der fünfte kontextuelle Parameter: Ein externalistischer Bruch? . 231 4. Evidentielle Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 5. Zu einer Tyrannei des Wissens? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 6. Besteht der fünfte kontextuelle Parameter in der Rechtskräftigkeit? . 234 I. Vernünftigkeitsvorstellungen als Kompass . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 I. Beweis jenseits kontextrelevanter Zweifel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 II. Ein Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 III. Der inferentielle Kontext ist revisibel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 IV. SED als Objekt revisionsgerichtlicher Prüfung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 V. Kontext-Tief und Kontext-Hoch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 J. Über den Status des Inferentiellen Kontextualismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 K. Die Suche nach Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 Teil 5

Rechtliche Anwendungen 

246

Teil 6

Epistemic Engineering – Zur Präzisierung des inferentiellen Kontextes im Strafverfahren 

249

A. Der Kontext des Strafverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 B. Die Situation des Ignoramus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 I. Die Strafe als Januskopf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 II. Das Strafrecht dient zwei Zwecken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252

16 Inhaltsverzeichnis 1. Die Befriedungsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 2. Die Orientierungsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 3. Das Strafrecht dient zwei gegenläufigen Zwecken . . . . . . . . . . . . . . 256 a) Kontext-Smax . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 b) Kontext-Lmax . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 4. Das sensible Gleichgewicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 III. Liberale und autoritäre Regime: Die Instrumentalisierung des Straf­ rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 1. Sicherheitsorientierte Staaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 2. Freiheitsorientierte Staaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 3. Der kriminalpolitische trade-off . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 IV. Gesetzgebung und epistemische Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 C. Blackstone Revisited – Die Umsetzung der Kriminalpolitik  . . . . . . . . . . . . 266 I. Grundintuitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 II. Kognitive Täuschungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 III. Zweiseitiger Test . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 1. Modus: Möglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 2. Normale Distribution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 IV. Ein Strafverfahren – Wieviele IK? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 Teil 7

„Anastasia“ – Über das Geheimnis der Zarentocher und die therapeutische Diagnose des Streits zwischen objektiven und subjektiven Beweismaßlehren 

280

A. Hoch lebe das neue Beweiskriterium! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 I. Nochmals: Was ist eine therapeutische Diagnose? . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 II. Sollte uns diese Diagnose überraschen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 B. Die Beweismaßlehren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 I. Das Gespenst in der Maschine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 II. Die objektiven Beweismaßlehren  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 1. Der Ansatz Maassens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 2. Der Ansatz Benders . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 3. Der Ansatz Hoyers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 4. Ein Argumentum ad absurdum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 5. Über Ungewissheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 III. Subjektive Beweismaßlehren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 C. Was ist das Geheimnis des Anastasia-Falls? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 I. „Anastasia“ und der inferentielle Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 II. Überzeugung wovon? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299

Inhaltsverzeichnis17 Teil 8

Das Kühne-Problem und die inferentiellen Kontexte im Ermittlungsverfahren 

302

A. Das Kühne-Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 I. Tatverdacht als Hebel des Ermittlungsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 II. Über das übliche Schmerzmittel der Rechtsdogmatik . . . . . . . . . . . . . . 303 III. Der Objektivitätszwang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 B. Der Ansatz Kühnes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 I. Über metrisierbare Strukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 II. Tatverdacht und bzw. als epistemische Wahrscheinlichkeit . . . . . . . . . . 309 III. Ist der Gesetzgeber kontextualistisch gesinnt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 IV. Ermittlungsverfahren als Screening? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 C. Erster IK: Anfangsverdacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 I. Informationen als Ursache und Grund des Ermittlungsverfahrens . . . . 312 II. Dialektische Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 III. Nochmals über Default Rules . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 IV. Keine Defeater in SEDAV? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 V. Ökonomischer Parameter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 VI. Die Stigmatisierung des Verdächtigten als disutility . . . . . . . . . . . . . . . 316 D. Zweiter Kontext: Untersuchungshaft – (nur) ein IK? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 I. Der IK für den Erlass und der IK für die weitere Überprüfung der U-Haft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 1. Zur Präzisierung des zweiten inferentiellen Kontextes: IK1 der U-Haft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 2. IK2 der U-Haft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 II. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 E. Dritter inferentieller Kontext – Der „hinreichende Verdacht“ . . . . . . . . . . . . 323 I. Strafprozess als Bestrafung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 II. Über Gewissheit und Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 III. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350

Abkürzungsverzeichnis a. A. anderer Ansicht Abschn. Abschnitt Anw. Anwendung AT Allgemeiner Teil Aufl. Auflage Beil. Beilage BGB Bürgerliches Gesetzbuch BGBI. Bundesgesetzblatt BGHSt Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen BGHZ Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen BT Besonderer Teil BT-Drucks. Bundestags-Drucksache BVerwGE Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts CPO Civilprozeßordnung ders. derselbe dies. dieselbe Einl. Einleitung EK Epistemologischer Kontextualismus ER Erkenntnistheoretischer Realismus Fn. Fußnote FRE Federal Rule of Evidence GA Goltdammers Archiv für Strafrecht GG Grundgesetz grdl. grundlegend GVG Gerichtsverfassungsgesetz h. L. herrschende Lehre h. M. herrschende Meinung HRR Höchstrichterliche Rechtsprechung ibid. ibidem (ebenda) i. d. R. in der Regel i. Erg. im Ergebnis i. e. S. im engeren Sinne i. S. im Sinne

Abkürzungsverzeichnis19 i. w. S. im weiteren Sinne JBl. Juristische Blätter Kap. Kapitel Rolf Hannich (Hrsg.) Karlsruher Kommentar zur Strafprozess­ KK7–Bearbeiter ordnung, 7. Aufl., München: Beck, 2013 KW Korrespondenztheorie der Wahrheit LK12 Tiedemann u. a. (Hrsg.), Leipziger Kommentar zum Strafge­ setzbuch, 12. Aufl., Berlin, 2006 LR26 Erb u. a. (Hrsg.), Löwe-Rosenberg, Die Strafprozessordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, 26. Aufl. Berlin, 2007 MDR Monatsschrift für Deutsches Recht m. E. meines Erachtens Meyer-Goßner /  StPO Kommentar, 57. Aufl., Beck: München  Schmitt NK4 Kindhäuser / Neumann / Paeffgen (Hrsg.), Nomos Kommentar zum Strafgesetzbuch, 4. Aufl., Baden-Baden, 2013 OLGZ Entscheidungen der Oberlandesgerichte in Zivilsachen PAZ Prinzip des Ausgeschlossenen Zweifels PH Pyrrhonische Hypothyposen RGSt Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen RGZ Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen Rspr. Rechtsprechung SED Set of Epistemic Defeaters SK Semantischer Kontextualismus StGB Strafgesetzbuch StPO Strafprozessordnung StVG Straßenverkehrsgesetz ZPO Zivilprozessordnung

20 Abkürzungsverzeichnis Zur Zitierweise der Werke Ludwig Wittgensteins Mit Hilfe folgender Abkürzungen werde ich sowohl auf die Schriften / Notizen Witt­ gensteins als auch auf die Vorlesungsmitschriften seiner Schülerinnen / Schüler ver­ weisen. Alle Verweise beziehen sich – sofern es nicht anders vermerkt wird – auf die Wittgenstein-Werkausgabe (8 Bände, Frankfurt / Main: Suhrkamp). BB

PB PG PU PU II TB TLP ÜG

The Blue and Brown Books; Preliminary Studies for the „Philosophical Investigations“; Oxford, Blackwell 1958, 2. Aufl; verwiesen wird auf die Seitenzahlen. Philosophische Bemerkungen; verwiesen wird auf die Nummern der Bemerkungen. Philosophische Grammatik; verwiesen wird auf die Seitenzahlen. Philosophische Untersuchungen, Teil I; verwiesen wird auf die Nummern der Bemerkungen. Philosophische Untersuchungen, Teil II; verwiesen wird auf die Seiten­ zahlen der Werkausgabe. Tagebücher 1914–1916; verwiesen wird auf die Seitenzahlen. Tractatus logico-philosophicus (Logisch-philosophische Abhandlung); verwiesen wird auf die Satznummern. Über Gewißheit; verwiesen wird auf die Nummern der Bemerkungen.

Einleitung Jeder Kenner der juristischen Wahrheitsdebatte würde – wie ich meine – der These zustimmen, dass diese sich durch eine unliebsame Pattsituation kennzeichnen lässt. Umstritten ist freilich die Diagnose für diese negative Entwicklung. Meine Diagnose lautet: die Tatsache, dass sich materiale und prozessuale Wahrheitsmodelle gegenseitig entkräften, stellt nicht die Funk­ tion ihrer Äquipollenz (Isosthenie) dar, sondern ist das Ergebnis einer be­ grifflichen Verwirrung. Wir haben uns lange Zeit mit dem Begriff der ‚Wahrheit‘ auseinandergesetzt, obwohl wir dem Begriff ‚Erkenntnis‘ hätten nachgehen müssen. Denn die Sachverhaltsfeststellung ist ein Erkenntnisvor­ gang. Unser Problem ist nicht, welcher Inhalt oder Bedeutung ‚Wahrheit‘ zuzuschreiben wäre, sondern unter welchen Bedingungen ein Tatrichter Sachurteile fällen darf. Erkenntnis- bzw. rechtfertigungstheoretisch betrach­ tet handelt es sich dabei um die normativen Kriterien einer Wissenszu­ schreibung, nämlich um die Beantwortung der Frage, wann ein Tatrichter sich in einer derart starken epistemischen Position befindet, um einen Wis­ sensanspruch erheben zu dürfen. Durch Begriffsexplikation werde ich ver­ suchen, den Begriff ‚Begründung‘, scil. ein Charakteristikum des § 267 I Satz 1 StPO, einer grammatisch-logischen Analyse zu unterziehen. Dabei kommt man an einem uralten Problem nicht vorbei, nämlich an dem Agrip­ pa-Trilemma. Wie ist eine Begründung zu einem rationalen Ende zu brin­ gen? Welche Konsequenzen hat die Instabilität unseres ‚Wissens‘? Wie soll man auf die skeptische Herausforderung reagieren? Es ist nicht zu verkennen, dass bei dem Agrippa-Trilemma die ‚Wahrheit‘ beliebiger Aussagen nicht in Frage kommt. Denn es geht dabei nicht um die Übereinstimmung einer Aussage mit der vermeintlichen wahren Wirklich­ keit (wer soll diese Übereinstimmung garantieren?) oder das Erreichen eines Konsenses (unsere epistemische Praxis ist ganz und gar tatsachenorientiert). Trotzdem erweist sich der Wahrheitsbegriff als außergewöhnlich wider­ standsfähig bzw. von großen Teilen der juristischen Literatur unverzichtbar. Die Tatsache, dass ‚Wahrheitsfindung‘ als Voraussetzung der Gerechtigkeit angesehen wird, mag eine gute Erklärung dieses Phänomens aber noch keine Rechtfertigung dafür sein. Gegen die Verwendung des Begriffs ‚Wahrheit‘ sprechen herkömmlicher­ weise zwei Argumente. Das erste Argument betont, dass die tatrichterliche Tätigkeit – induktiv-logisch betrachtet – ein probabilistisches Vorgehen ist.

22 Einleitung

Und induktive Urteile sind faktenkontingent. Sie besagen nicht, dass es tatsächlich so ist, sondern dass es aller Wahrscheinlichkeit nach so ist (wo­ rin diese Wahrscheinlichkeit besteht, kann hier dahinstehen; vgl. Teil 6). Deswegen wird dabei auf die Inkaufnahme von Fehlurteilen (im ‚materiel­ len‘ Sinne) hingewiesen. Das zweite Argument ist ein rechtstheoretisches. Um dies besser zu er­ klären, muss man den wohl bedeutendsten Rechtstheoretiker, Hans Kelsen etwas ausführlicher zu Wort kommen lassen: „Nach der üblichen Darstellung eines normativen Syllogismus, dessen Ober- und Schlußsatz Rechtsnormen, und dessen Untersatz eine Aussage ist, wie (1) Wenn ein Mensch einen Diebstahl begangen hat, soll er ins Gefängnis gesetzt werden. (2) Maier hat einen Diebstahl begangen. (3) Also soll Maier ins Gefängnis gesetzt werden. folgt die Geltung der individuellen Norm (3) aus der Geltung der generellen Norm (1) und der Wahrheit der Aussage (2). Aber damit die individuelle Norm (3) gelte, muß die Aussage (2) gar nicht wahr sein, und die als Obersatz fungie­ rende generelle Norm lautet, korrekt formuliert, nicht: Wenn jemand Diebstahl begangen hat, soll er ins Gefängnis gesetzt werden, sondern: Wenn das zustän­ dige Gericht festgestellt hat, daß ein Mensch Diebstahl begangen hat, soll das Gericht eine individuelle Norm setzen, die vorschreibt, daß dieser Mensch ins Gefängnis gesetzt werden soll. Was wahr sein müßte, wenn es überhaupt einen solchen normativen Syllogismus gäbe, ist nicht die Aussage, daß Maier einen Diebstahl begangen hat, sondern die Aussage, daß das zuständige Gericht festge­ stellt hat, daß Maier einen Diebstahl begangen hat. Ob diese Feststellung wahr oder unwahr ist, ist für die Geltung der individuellen, durch das Gericht zu setzenden Norm gleichgültig.“1

Beide Argumente, laufen m. E. darauf hinaus, dass gerichtliche Urteile (im ‚materiellen‘ Sinne) wahrheitsindifferent seien. Daraus resultiert, dass der Begriff (materielle) ‚Wahrheit‘ als sinnvoll aufgefasst und vorausgesetzt wird. Die Widerstandsfähigkeit des wohl zentralen philosophischen Begriffs ist berechtigt. Nicht nur unsere Kultur (unsere Wissensethnologie) ist fak­ tenorientiert – uns interessiert, was wirklich passiert ist. Vielmehr sind Le­ gitimationsansprüche, wie Neumann mit großer Präzision anmerkt, untrenn­ bar mit Wahrheitsansprüchen verknüpft2 – ein Grund, der vielleicht unseren unbedingten Willen zu Wahrheit zu erklären vermag. Tatsache bleibt, dass der Tatrichter erst dann ein Urteil fällen kann, wenn er nach § 267 I Satz 1 StPO hinreichende Gründe anzugeben in der Lage 1  Kelsen

(1979), S. 195. Wahrheit im Recht, S. 7; ders. (2005), S. 373; siehe Ho (2008), S. 6: „Justice in a formal legal sense, is about treating people equally according to the law, and since law operates on facts, justice is contingent on factual truth.“ 2  Neumann,

Einleitung23

ist. Darauf zu verweisen, dass „wenn das Wahre das Begründete ist, dann ist der Grund nicht wahr, noch falsch“ (ÜG 205) wäre im Ergebnis richtig – Tatsache bleibt, dass es sich dabei um einen voreiligen Schluss handelt. Der Tatrichter begegnet den Problemen, denen jeder epistemische Agent ausgesetzt ist. Er vermag seine Begründungskette nicht zum Halt zu brin­ gen. Der Erkenntnis-Skeptiker gewinnt, weil alle drei Optionen, nämlich a) ein willkürlicher Abbruch, b) ein Regress ad infinitum und c) eine kreisläu­ fige Argumentation zu inakzeptablen Ergebnissen führen. Wir sind gezwun­ gen, sämtliche Wissensansprüche aufzugeben. Beliebigen Konstruktionen der Tatgerichte (wie etwa die prozessuale Denkfigur „Beweis jenseits ver­ nünftige Zweifel“ / „proof beyond a reasonable doubt“) fehlt jegliche er­ kenntnistheoretische Grundlage. Jedenfalls: der epistemische Agent strebt nach einem Wissensanspruch – nach einer vollkommenen Begründung sei­ ner Aussagen. Sieht man genauer hin, so versteht man, dass wir seit Jahrtausenden un­ sere gesamte Energie in die (Auf-)Lösung des Agrippa-Trilemmas investiert haben – nicht in die Definition von ‚Wahrheit‘. Und jegliche Sachverhalts­ feststellungsdogmatik befasst sich hauptsächlich just mit diesen kognitiven Wissenansprüchen. Ob ein Wissensanspruch, zugleich einen Anspruch auf Wahrheit darstelle, ist für die epistemische Tätigkeit bzw. Erkenntnistheorie irrelevant. ‚Wahrheit‘ ist, so die These meiner Arbeit, redundant – spätes­ tens dann, wenn wir unter Unsicherheit argumentieren. Und bei jedem ge­ richtlichen Verfahren argumentieren wir ja unter Unsicherheit. Irrelevant ist für unsere Zwecke auch der mögliche Sinn und Inhalt des Wahrheitsbegriffs. Wie ich im Laufe der Arbeit zeigen werde [siehe Teil 2, Abschn. B.], kön­ nen wir spätestens seit Alfred Tarski davon ausgehen, dass Wahrheit ein undefinierbares Konzept ist. Der Versuch, sie zu definieren, lässt sich mit guten Gründen als Eselei bezeichnen. Im Vordergrund soll und wird die Rechtfertigungsstruktur, die nicht nur unserer allgemeinen epistemischen Praxis, sondern vielmehr unserer ge­ richtlichen Praxis zugrunde liegt, stehen. Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass diese Strukturen präexistent wären. Wie im ersten und vierten Teil noch zu zeigen ist, haben sich die oben angedeuteten und bisher geläu­ figen Strukturen, nämlich fundamentalistische und kohärentistische Recht­ fertigungstheorien nicht als erfolgreiche Strategien gegen den Skeptizismus erwiesen. Die Erkenntnistheorie hat allerdings nicht ihr letztes Wort gesagt. Diesbezüglich und aus Gründen der Denkökonomie (vgl. Teil 1, Abschn. B.I.) werde ich die Rechtfertigungsstruktur, die die epistemischen Rechte und Pflichten des (zuständigen) Tatrichters vorschreibt, nach dem Bauplan eines m. E. vielversprechenden und leistungsfähigen Ansatzes der analyti­ schen Philosophie rekonstruieren, um anschließend eine effiziente Sachver­ haltsfeststellungsdogmatik auszuarbeiten.

24 Einleitung

Die sich aufdrängende Frage lautet, ob die der analytischen Philosophie verpflichtete Strafprozessrechtsdogmatik (die sich vor allem der Methode der Begriffsexplikation bedient) dazu in der Lage ist, einen erkenntnistheo­ retischen Ansatz für die gerichtliche Praxis fruchtbar zu machen. Denn der analytischen Methode wird oft der Vorwurf gemacht, sie sei „in die Defen­ sive geraten“: „Bloße Begriffsanalyse ist ausgereizt.“3 Sie habe sich selbst isoliert und sei nicht mehr in der Lage, die heutige Rechtspraxis zu befruch­ ten bzw. zu reglementieren. Es ist nicht hier der Ort darauf einzugehen, ob Begriffsexplikation, nämlich die Methode der analytischen Philosophie, et­ was mit den von Pawlik (m. E. zu Recht) kritisierten Ansätzen der Systemund Diskurstheorie zu tun hat. Wichtig scheint mir folgendes zu sein: Be­ griffsexplikation entfaltet erst dann Normativität, wenn wir uns nach Grün­ den richten (wollen) und unserer gerichtlichen Praxis das Gebot des ver­ nünftigen Handelns unterstellen. Von großen Teilen der Rechtswissenschaft wird das allerdings als Fehlinvestition betrachtet. Nicht ohne Grund bemän­ gelt Ulrich Haltern, dass „die Studierenden die Universität bestenfalls als Regelanwender und gute Handwerker“ verlassen.4 Pawlik hat also im Er­ gebnis Recht. Diese Situation signalisiert einen Appell „an das Innovative, Verblüffende und Provozierende“.5 Diese Arbeit versucht, dieser Herausfor­ derung gerecht zu werden. Dass sie nicht vollkommen innovativ, verblüf­ fend und provozierend sein kann, liegt auf der Hand. Ebenso klar ist mir allerdings, dass eine erkämpfte Pyrrhus-Niederlage in jeder Hinsicht besser ist als ein siegreiches Schattengefecht. Fest in unserem Bewusstsein hat sich die Meinung eingebürgert, dass das Strafprozessrecht im Grunde angewandtes Verfassungsrecht ist. Dies hat mit hoher Präzision kein Geringerer als Claus Roxin zum Ausdruck gebracht, als er das Strafverfahren mit dem Seismographen der Staatsverfassung paral­ lelisiert hat.6 Dabei geht es aber – wie so oft – nur um die eine Seite der Medaille. Die andere lautet: Das Herz des Strafverfahrens besteht aus der Hauptverhandlung und dem Beweisprozess. In diesem Sinne ist das Straf­ verfahren auch angewandte Erkenntnistheorie. Denn wir benötigen eine klare Vorstellung von Erkenntnis, Wahrheit und sonstigen Grundbegriffen der Philosophie, um als epistemische Agenten (und nicht als AbsprachenHändler, Historiker oder Luhmannsche „Kommunikationen“) den Standards der modernen Beweisanalyse gerecht zu werden. Es wäre also nicht über­ 3  Pawliks Kritik geht an dieser Stelle von einer Rezension aus (siehe FAZ von 05.01.2009, Bloße Begriffsanalyse ist ausgereizt. Rezension des Sammelbandes Brugger / Neumann / Kirste (Hrsg.), Rechtphilosophie im 21. Jh. Suhrkamp: Frank­ furt). 4  Haltern (2007), S. VII. 5  Pawlik, ibid. 6  Roxin / Schünemann (2012), § 2, Rn. 1.

Einleitung25

trieben das Strafverfahren als das Forschungslabor der Erkenntnistheorie zu bezeichnen. Darauf machen mehrere Philosophen aufmerksam – allen voran Ludwig Wittgenstein, dessen geistiges Kind, der inferentielle Kontextualis­ mus, den Hauptgegenstand dieser Arbeit bildet. Die vorliegende Arbeit versucht also, eine theoretisch fundierte Sachver­ haltsfeststellungsdogmatik auszuarbeiten. Sie beansprucht für sich als theore­ tisch fundiert wahrgenommen werden zu können, weil sie nichts anderes tut als die Rechtfertigungstheorie von Michael Williams auf das gerichtliche Verfahren anzuwenden. Diese Suche nach Theorizität soll allerdings nicht dazu führen, unser Forschungsobjekt, nämlich das positive Recht, aus den Augen zu verlieren. Theorizität kann mitnichten auf Kosten der Dogmatizität erlangt werden, denn ‚Wahrheit‘ ist nicht nur ein philosophischer Begriff so­ wie ‚Begründung‘ nicht nur ein Streitthema unter Erkenntnistheoretikern. Wahrheit (§ 244 II StPO), Überzeugung (§ 261 StPO) und nicht zuletzt Be­ gründung („Gründe“ i. S. des § 267 I Satz 1 StPO) sind zuvörderst Gesetzes­ merkmale, denen eine Hebelwirkung zukommt. Nur so kann eine theoretischfundierte Strafprozessrechtsdogmatik ihrem doppelten, janusköpfigen Cha­ rakter als praxisorientierter Dogmatik (d. i. Theorie) gerecht werden. Es wird also dem Erkenntnisvorgang bzw. dem Wissensanspruch des Tatrichters nachgegangen. Die Wahrheit, das „Schönste aller Güter“, bleibt nach wie vor transzendental bzw. sprachlich nicht definierbar. Wenn wir aber im Rahmen des jeweiligen Sprachspiels (inferentiellen Kontextes) re­ gelkonform spielen, dann kommen wir ihr immer ein Stück näher. Diese regelgeleitete Bewegung zu ihr hin, die Plato als ἂλη θεία, scil. als eine nie zu Ende zu bringende Wanderung bezeichnet hat, liefert uns selbstverständ­ lich kein endgültiges Kriterium für die ‚Wahrheit‘ unserer Aussagen. Wahre von falschen Aussagen bleiben heute noch, so wie Karneades dies uns vor zweieinhalb Jahrtausenden gezeigt hat, ununterscheidbar. Der Gedanke auf unsere ‚Brillengläser‘, durch welche wir die Welt betrachten, und auf die Perspektivität unseres Wissens zu verzichten (das ist das kartesische Wis­ sensprojekt) – weil sie uns angeblich eine objektive Betrachtung der Welt erschweren –, hat sich als ein aussichtsloses Unterfangen erwiesen. Ausge­ rechnet diese ‚Brillengläser‘, d. h. unsere Sprache mit ihren syntaktischen Strukturen, bilden den Parameter, welcher uns einen kognitiven, Sinnschaffenden Zugang zu einer von uns im kausalen Sinne unabhängigen aber durch unsere Begriffe artikulierten Welt ermöglicht. Sich Klarheit über un­ sere epistemische Praxis zu verschaffen und unsere Argumentationsstruktu­ ren an die verschiedensten Situationen anzupassen, würde uns ermöglichen Strafurteile zu fällen, die nicht nur formelle und materielle, sondern viel­ mehr epistemische (Rechts-)Kraft und Akzeptanz verdienen. Dieses Ziel ist zweifellos eine Pyrrhus-Niederlage wert.

Teil 1

Der Mythos des Gegebenen A. Der Wille zur Wahrheit Im Blickfeld dieser Dissertation liegt „das wertvollste aller Dinge“, nämlich der Begriff der Wahrheit: „ἀλήθεια δὴ πάντων μὲν ἀγαθῶν θεοῖς ἡγεῖται͵ πάντων δὲ ἀνθρώποις“1 – ein Grund, der vielleicht unseren unbe­ dingten Willen zur Wahrheit zu erklären vermag. Denn es ist der uralte Traum des Menschen, der Wahrheit immer einen Schritt näher zu kommen, ein Richtmaß zu besitzen und Redundanz aufzufinden, damit er die Welt eher als „Kosmos“, denn als „Chaos“ betrachten kann.2 Diese Fähigkeit, übrigens eines der Charakteristika unserer Intelligenz, erhöht wiederum un­ sere Überlebenschancen, indem uns eine Anpassung an die Bedingungen jener Umwelt ermöglicht wird. Wir können mit Fred Dretske festhalten, dass „animals have to know in order to survive. Those that don’t know get eaten.“3 Vielleicht gehört es deshalb nach Aristoteles4 freilich zu unserer Natur, nach Gründen zu fragen und zu suchen. Menschen sind, so Dewey, gezwun­ gen nach Sicherheit zu suchen.5 Das Streben nach Wissen und dadurch nach Wahrheit ist so konzipiert, konstitutiv zunächst für das bloße Überleben; mit Metaphysik oder Teleologie hat(te) es wenig zu tun. Das ist u. a. deshalb erwähnenswert, weil – historisch betrachtet – die erste Art, nach Gewissheit zu suchen und eine gewisse Stabilität zu erreichen, in dem Versuch bestand, 1  Platon, Nomoi, Fünftes Buch 730c, dt.: „Der Wahrheit nun kommt unter allen Gütern die oberste Stelle zu, bei Göttern ebenso wie bei Menschen.“ 2  So Hofstätter (1966), S. 239, 241. Man beachte, dass generell unter Intelligenz die Befähigung zur Auffindung von Redundanz verstanden wird. 3  Dretske (1989), S. 89; Wissen wird hier provisorisch als ein biologischer Impe­ rativ und der Mensch als „Tier betrachtet“, als ein primitives Wesen, dem man zwar Instinkt, „aber nicht Raisonnement zutraut“ (ÜG 475). Wittgenstein weist diesbezüg­ lich auf die etymologische Verwandtheit zwischen „wissen“ und „videre“ hin (ÜG 90); ausf. dazu bei Moyal-Sharrock (2004), S. 8 f. 4  „Πάντες ἄνθρωποι τοῦ εἰδέναι ὀρέγονται φύσει; dt.: „Alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen.“ Metaphysik I 21, 980a; Politika, 1253a7 ff., 1259b 28 ff. 5  Dewey (2001), S. 7.



A. Der Wille zur Wahrheit27

die „Mächte“, die angeblich uns Menschen umgaben und die über unser Schicksal entschieden, durch Bittgaben, Esoterik und nicht zuletzt durch Religionen gütig zu machen.6 Der andere Weg bestand darin, „Künste zu erfinden, um sich die Flamme „aus einem Feind zu Freund zu machen“.7 Der erste Weg führte zum Dogmatismus und unabänderlichen ‚Wahrheiten‘, die unser Pathos zu beruhigen schienen; der zweite Weg führte hingegen zu einem fallibilistischen Wissen (dessen Hauptmerkmal ist, dass es unbedingt ein offener Prozess bleiben soll) und dadurch zur Erkenntnisskepsis. Zwi­ schen der Scylla des Erkenntnisskeptizismus und der Charybdis des Dog­ matismus gilt es also hindurchzuschiffen.

I. Find the Facts and the Law is Easy Doch welcher Art ist der oben skizzierte Trieb? Wie kommt er über­ haupt zustande? Und wieso gilt er als ausgesprochen „unbedingt“?8 Vor allem: Unter welchen Bedingungen dürfen wir einen Anspruch auf Wahr­ heit erheben? Was sind etwa die normativen Standards für das Erlangen von Wissen? Diese Arbeit beinhaltet den Versuch, einen Ansatz der episte­ mischen Rechtfertigung zu präsentieren, der uns anzuzeigen vermag, wann unsere Meinungen als forensisches Wissen angesehen werden können bzw. wie stark die epistemische Position eines epistemischen Agenten sein soll, damit ihm Wissen zugeschrieben werden kann (auf die Bedeutung des Be­ griffs Wahrheitszuträglichkeit wird in diesem Kapitel näher eingegangen werden). Anlass dazu gibt uns die Problematik der forensischen Sachver­ haltsfeststellung. Die Diagnose zu der hier zu behandelnden Problematik möchte ich mit den Worten Nauckes vorab liefern: „man hat [im Recht] den Fall daher so zu nehmen, wie er geschildert ist […] Der Strafjurist muß sich früh darin üben, unwahrscheinlich klingende tatsächliche Ge­ schehnisse als geschehen betrachten zu können“.9 Vor allem in Zeiten der Minimalisierung der Grundlagenfächer sind aber die Juristen im Allgemei­ nen und die Strafjuristen insbesondere keineswegs darauf vorbereitet, sich mit dem Beweismaterial und dessen Analyse auseinanderzusetzen. Ausge­ rechnet das zentrale Problem der Strafrechtsanwendung, nämlich die Be­ 6  Ebd. 7  Ebd.

8  Hier wird die berühmte Stelle Nietzsches aufgegriffen (1986), 5. Buch, § 344): „Dieser unbedingte Wille zur Wahrheit: was ist er? Ist es der Wille, sich nicht täuschen zu lassen? Ist es der Wille, nicht zu täuschen?“ 9  Naucke (2002), S. 1, S. 12; sehr kritisch dazu Koch / Rußmann (1982), S. 271; B. Schmitt (1992), S. 77. Siehe auch Laudan (2006), Anderson / Twining (1991) S.  XX, 56 ff.; Roberts / Zuckermann (2004); ähnlich Peters (1974), S. 253, Bender (1981), S. 241; Bender / Nack / Treuer (2007), S. 135.

28

Teil 1: Der Mythos des Gegebenen

weisanalyse und Sachverhaltsfeststellung,10 befindet sich im Schatten ein­ dimensionaler, materiellrechtlicher Auseinandersetzungen. Es mag zwar berechtigt sein, dass man bei einer materiellrechtlichen Studie nicht nur erkenntnistheoretische, sondern auch beweisrechtliche und -analytische Probleme unkritisch außer Acht lässt. Es gibt ja gute Gründe dafür, dass man während des Studiums sich auf (strafrechts-)dogmatische Gesichts­ punkte konzentriert. Die Probleme fangen jedoch da an, wo man diese Vorgehensweise (das Ausblenden der Unsicherheitsgröße) auf die gericht­ liche Praxis überträgt. Denn es lässt sich nicht bezweifeln, dass (Straf-) Richter beweisrechtlichen und -analytischen Fragen hilflos gegenüber­ stehen.11 Hier geht es mir nicht darum, ob das Prozessrecht im Schatten des ma­ teriellen Rechts steht, sondern um die unbestrittene Tatsache, dass erkennt­ nistheoretische bzw. beweisanalytische Probleme für die Rechtswissen­ schaftler wenig interessant sind. Nicht größer ist das Interesse der Juristen für diesen Problembereich selbst nach dem Abschluss des juristischen Stu­ diums – sowohl in der Praxis als auch im Bereich der Forschung. Die epistemische Praxis scheint also die Juristen nicht allzu sehr zu bewegen. Die von mehreren Autoren diagnostizierte Überforderung der Strafjustiz durch deren traditionelles Tätigkeitsziel,12 nämlich die materielle Wahrheit, ist nach überwiegender Meinung weder therapierbar noch therapiebedürftig. In den Vordergrund rückt also nur die Quid-facti-Frage, die schnellstmög­ lich beantwortet werden soll. Spätestens seit Kant wird dennoch eine Frage von größerer Bedeutung gestellt: „Quid juris?“13 Das heißt: Worauf beruht die Berechtigung eines Tatrichters, sich selbst Wissen zuzuschreiben? Auf die Untersuchung dieser epistemischen Pflichten, denen nachgegangen wer­ den muss, damit man einen Wissensanspruch erheben darf, wird herkömm­ licherweise verzichtet. Denn die Beweiswürdigung könne und dürfe, so die wohl h. M., bis auf etliche Verstöße gegen die Gesetze einer elementaren Logik ein „Geheimnis des Tatrichters“ bleiben.14 Im Rahmen dieser Privat10  So beginnt etwa Langbein, Historical Foundations, S. 1168, einer der renom­ miertesten Rechtshistoriker, seinen Beitrag zu den Grundlagen des Beweisrechts: „The main work of a legal system is deciding matters of past fact.“ 11  So B. Schmitt (1992), S. 77. 12  Pars pro toto Schünemann (1988). 13  KrV B 116. 14  Kühne (1979), 620: „Warum aber ein Richter dem Zeugen A mehr glaubt als dem Zeugen B, warum er annimmt, die Tatwaffe habe der Angeklagte selbst, nicht aber ein ihm übel wollender Dritter in der Matratze versteckt, dies bleibt ein Ge­ heimnis des Richters und unanfechtbar, solange nach Gesetzen des Denkens und der wissenschaftlichen Erkenntnis die jeweils entschiedene Möglichkeit nicht ausge­ schlossen ist.“



A. Der Wille zur Wahrheit29

sprache könne also kein Richtigkeitsmaßstab aufgestellt oder angewendet werden. Anders allerdings als Schmerzen und Erlebnisse, die epistemisch privat sind, kann ein Wissensanspruch, der ggf. den eindringlichsten Ein­ griff in die Persönlichkeitssphäre des Angeklagten zur Folge hat, nur Teil einer regelgeleiteten, öffentlichen (weil kommunizierbaren) und daher ver­ ständlichen Sprache sein. Dies gebietet nicht nur der rechtsstaatliche Cha­ rakter unseres Strafverfahrens, sondern bereits unsere Wissensethnologie (unten Teil 1, Abschn. C.II.). Doch die Wahrheitsproblematik hält das abendländische Denken seit über zweieinhalb Jahrtausenden (fast) ununterbrochen in Atem. Es wäre nicht übertrieben zu sagen, dass wohl kein anderer Begriff dem menschlichen Geist so viele Impulse verliehen hat wie der Grundbegriff der Wahrheit – was uns übrigens zu erklären vermag, aus welchem Grund die Philosophie als Disziplin wesentlich auf die Frage nach Wahrheit abgestellt ist.15 Ohne Orientierung an der Wahrheit als epistemischem Ziel kann es auf die Dauer nur „τό τού κρείτονος συμφέρον“,16 Gewalt und Tyrannei geben.17 Ohne Wissensbehauptungen (knowledge claims) – die unseren erkenntnistheoreti­ schen Standards gerecht werden und somit einen Anspruch auf Wahrheit erheben (dürfen) – verfällt das Erkenntnisverfahren in nötigenden Deals,18 die die gerichtliche Praxis heute infizieren und die Wahrheit nicht nur als 15  Dilthey (1984), S. 12 f. weist zutreffend darauf hin, dass der Begriff „Philoso­ phie“, als Zusammensetzung der Wörter „φίλος“ und „σοφία“, zunächst im Sprach­ gebrauch von Herodot und Thukydides die Liebe zur Wahrheit und das Suchen nach bedeuteten. 16  Platon, Politeia, erstes Buch, 388c; dt.: das Recht des Stärkeren. 17  So Börsig-Hover (2006), S. 16. 18  Die Rede ist hier bewusst von Deal und nicht von „Verständigung“, so wie es im „Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren“ vom 29.07.2009 zum Ausdruck kommt. Es ist u. a. mit Gössel (2008), S. 530 festzuhalten, dass es mindestens berechtigt sei, wenn nicht sogar notwendig, Absprachen als Deal zu bezeichnen, womit eine klare Stellung eingenommen wird, nämlich dass Absprachen nichts anderes seien als ein unwürdiger „Handel mit Gerechtigkeit“. Des Weiteren ist die Rede von nötigenden Deals. Das bestreiten nicht einmal ihre Verfechter wie etwa Lüderssen (1996), S. 119. Der Autor gibt offen zu, dass Deals starke Momen­ te von Nötigung enthalten. Wie diese Nötigung abläuft, erklärt uns der Rechtshisto­ riker und große Kritiker des adversatorischen Systems John Langbein (1984), S. 224: „We threaten a criminal accused with an increased punishment if he elects his right to a jury trial and is thereafter convicted. [And then] we offer him a reduced pu­ nishment if he will confess and spare us the difficulty of adjudicating whether he is guilty“. Dass es sich bei diesem Strafrabatt schlichtweg um die andere Seite der Medaille handelt, erklärt uns Bernd Schünemann (2008), S. 567: „Wenn das guilty plea mit einer Reduzierung des Strafmaßes honoriert wird, bedeutet das, dass derje­ nige erheblich strenger bestraft wird, der von seinem Recht auf Durchführung des Strafverfahrens Gebrauch macht und um seine Unschuld kämpft“. Denn die Kehr­ seite der Strafmilderung ist die Strafschärfung, falls der Beschuldigte sein Recht auf

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Teil 1: Der Mythos des Gegebenen

etwas Uninteressantes, sondern vielmehr etwas Verhandlungsfähiges behan­ deln wollen. Bei diesem unwürdigen Handel – das wissen wir spätestens seit Nietzsche – verliert allmählich die unseren „Warenaustausch“ stützende Münze „ihr Bild“ und kommt nunmehr stark inflationiert als bloßes „Metall, nicht mehr als Münze, in Betracht.19 Unser Umgang mit dem Wahrheitsbegriff ist nicht nur aus philosophi­ scher / erkenntnistheoretischer bzw. praktischer Perspektive bedenklich. Wahr­ heits­ansprüche sind, wie Neumann anmerkt, untrennbar mit Legitimations­ ansprüchen verknüpft.20 Ein Verzicht darauf wäre für jeden Rechtstaat ein zu hoher Preis.21 Denn die Rechtsadressaten sind erst dann bereit, den Normen einer Rechtsordnung zu folgen, wenn sie mit guten Gründen davon ausgehen können, dass treffsichere Fallentscheidungen getroffen werden.22

II. Erkenntnispessimismus oder gar Erkenntnisdepression? Die Situation ist besorgniserregend. Es herrscht Erkenntnispessimismus. Der Weg zum Erlangen von Wissen und Wahrheit scheint versperrt zu sein. Unsere Bemühungen, so diese Auffassung, eine Theorie des Wissens aufzu­ stellen, die gegen den skeptischen Angriff gesichert ist, sollen für gescheitert erklärt werden. Wir sind durch die verblüffend einfache skeptische Argu­ mentation gezwungen der unliebsamen Konsequenz zuzustimmen, dass wir nichts wissen bzw. wissen können. Vorab erscheint eine Bemerkung gebo­ ten. Der Erkenntnisskeptiker bezweifelt nicht die Existenz der Außenwelt – wie es teilweise in der juristischen Literatur angenommen wird. Diese Be­ trachtung würde zu kurz greifen und wohl zu oberflächlich bleiben. Seine Strategie besteht in der Behauptung, dass unsere Gründe nie gut genug sind, um als Wissen gelten zu können. Bestritten wird dabei nicht die Wahrheit unserer Überzeugungen, sondern die Möglichkeit, sie hinreichend zu begründen.23 Es ist demzufolge der zweite normative Standard des Wissens ein faires Verfahren wahrnimmt. Ausführlich dazu Stübinger (2008); einführend und sehr kritisch dazu Roxin / Schünemann (2012), § 17, S. 93 ff. 19  Nietzsche, Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne (1873). Teil 1. 20  Neumann, Wahrheit im Recht, S. 7; ders. (2005), S. 373; siehe auch Ho (2008), S. 6: „Justice in a formal legal sense, is about treating people equally according to the law, and since law operates on facts, justice is contingent on factual truth.“ 21  Dazu Kühne (2010), Rn. 748. 22  Grundlegend dazu Nesson (1985). 23  Vgl. Neumann, Funktionale Wahrheit, S. 74. Ausführlich dazu Williams, Prob­ lems, S. 58  ff. Generell kann man unterscheiden zwischen wissensspezifischem Skeptizismus, demzufolge unsere Meinungen niemals gerechtfertigt genug sind, um als Wissen gelten zu können und radikalem Skeptizismus, demzufolge Meinungen überhaupt nicht gerechtfertigt werden können.



A. Der Wille zur Wahrheit31

(Rechtfertigung) und nicht der erste (Wahrheit), der uns daran hindert, uns selbst oder anderen Wissen zuzuschreiben. Darauf werde ich in Teil 4 aus­ führlich eingehen. Die Reaktion auf die skeptische Herausforderung vonsei­ ten der Erkenntnistheorie lässt sich nun in zwei Kategorien einordnen.24 Die Rede ist a) von der konstruktiven Haltung und b) von der diagnostischen Haltung (dazu gleich unten).

III. Konstruktive und diagnostische Haltung Bei der konstruktiven Entgegnung auf das Problem des Skeptizismus springt ihr defensiver Charakter ins Auge. Philosophen, die diese Haltung einnehmen, akzeptieren zunächst die skeptischen Argumente als prinzipiell sinnvoll und versuchen, sie zu widerlegen, indem sie erklären, auf welche Weise unbezweifelbares Wissen doch möglich wäre.25 Ausgerechnet auf die Tatsache, dass eine solche Widerlegung uns noch nicht gelungen ist, bezieht sich Kant, wenn er vom „Skandal der Philosophie“26 spricht, dem zufolge eine Wahrheit außerhalb des menschlichen Bewusstseins noch nicht erkenn­ bar sei – eine These, die 140 Jahre später Heidegger kritisiert, wenn er ausführt, dass der eigentliche Skandal der Philosophie darin besteht, dass eine Widerlegung immer wieder erwartet und verlangt werde.27 Es sieht nun so aus, dass Juristen implizit Heidegger zustimmen, indem sie aus dem Scheitern der konstruktiven Haltung einen voreiligen Schluss ziehen: Es lohne sich nicht, sich weiter mit dem erkenntnistheoretischen Problem zu befassen. Erkenntnispessimismus wird dabei zu Erkenntnis-Depression, die die Rechtspraxis und einen großen Teil der Literatur dazu verleitet, auf dem Altar eines beschleunigten Strafverfahrens und eines Geld und Arbeitszeit sparenden Handels mit Fakten geradezu dessen Rationalität zu opfern. Die Erkenntnistheorie, geschweige denn die Philosophie fängt allerdings weder mit Kant und Heidegger an, noch wird sie mit ihnen zu Ende gebracht.

24  Williams

(1991), S. XV, XVI; Willaschek (2000); Seide (2011). (2000), S. 165. 26  In seiner „Kritik der reinen Vernunft“, B XL, schreibt Kant: „[…] so bleibt es immer ein Skandal der Philosophie und allgemeinen Menschenvernunft, das Dasein außer uns […] bloß auf Glauben annehmen zu müssen und, wenn es jemandem einfällt es zu bezweifeln, ihm keinen genugthuenden Beweis entgegenstellen zu können.“ 27  Heidegger (2006), § 43. 25  Willaschek

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Teil 1: Der Mythos des Gegebenen

IV. Hoffnung auf Therapie? Eine sowohl in ihrem Ausgangspunkt als auch in ihrer Herangehensweise sehr verschiedene Strategie gegen die skeptische Herausforderung entwickelt die sog. diagnostische Haltung.28 Auch hier wird (vgl. Teil 4) der Versuch unternommen, eine Diagnose des skeptischen Problems zu liefern; denn die Philosophen, die diese Haltung einnehmen, versuchen den Erkenntnisskepti­ ker nicht frontal zu attackieren bzw. ihn endgültig zu widerlegen. Denn sie hegen den Verdacht, dass etwas eigentlich nicht stimmt, wenn wir einen all­ täglichen Wissensanspruch aufgeben müssen, nur weil wir nicht die Alterna­ tive ausschließen können z. B. ein „Gehirn im Tank“ zu sein. Der Skeptiker unterliege einem fundamentalen Fehler, wenn er von uns verlangt, generische Zweifel ausschließen zu können, damit wir Wissen erlangen können.29 Der diagnostisch-motivierte Erkenntnistheoretiker versucht den Schluss nahe zu legen, dass entweder der skeptische Zweifel auf Vorannahmen beruht, die wir keineswegs teilen können (theoretische Diagnose) oder dass es sich bei den skeptischen Argumenten um einen falschen Gebrauch unserer alltäglichen bzw. Fachbegriffe handelt. Er versucht dann, dieses begriffliche Missver­ ständnis aufzudecken (therapeutische Diagnose).30 Alles in allem: Eine kon­ struktive Haltung besteht in dem Versuch, eine überzeugende Antwort auf ein ihrem Theoriedesign nach echtes Problem zu liefern. Eine diagnostische Hal­ tung versucht hingegen, ein Problem aufzulösen, nämlich zu zeigen, dass es nach einer genaueren Betrachtung gar nicht bestehe und bloß auf einem Missverständnis beruhe.31 Nachgegangen wird dabei nicht dem Inhalt des skeptischen Zweifels, sondern dessen Berechtigung unsere Wissensansprü­ che in Zweifel zu ziehen und zwar ohne Gründe angeben zu sollen. Der Er­ kenntnisskeptiker wird in Rechenschaft gezogen, weil er alles bezweifeln möchte, ohne das Wort ‚weil‘ in den Mund zu nehmen. Im vierten Teil werde ich diese diagnostische Strategie präsentieren, um anschließend zeigen zu können, wie der skeptische Zweifel nicht die Hoffnungslosigkeit der Wahr­ heitssuche signalisiert, sondern eine herausfordernde Bewährungsprobe für unsere epistemische und vor allem unsere gerichtliche Praxis darstellt. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen wird also der Frage nachgegangen, was uns die moderne Erkenntnistheorie anzubieten hat. Vielleicht steckt in ihrem Köcher derjenige Pfeil, der die beinahe unverwundbar scheinende Po­ sition des Skeptikers treffen und so den Weg zur Wahrheitssuche öffnen kann. nur Williams, Problems; Annis, 1978. Williams (1991), Willaschek (2003), Seide (2011). 30  Begriffliche Verwirrungen sollen Wittgenstein nach als „Krankheiten“ (PU §§ 255, 193), die therapiebedürftig sind (PU 133) angesehen werden; hierzu siehe u. a. Willaschek (2003). 31  So Willaschek (2003), S. 288. 28  Vgl.

29  Siehe



B. Tracking: Der Wahrheit auf der Spur33

Fragen lässt sich nun nach den Gründen dieser Herangehensweise. Wa­ rum sollten wir uns der Erkenntnistheorie zuwenden? Sind etwa unsere Ansätze und Eigengesetzlichkeiten nicht ausreichend? Das möchte ich im folgenden Abschnitt beantworten.

B. Tracking: Der Wahrheit auf der Spur Hauptanliegen dieses Kapitels ist die Behandlung / der Nachweis der – merkwürdigerweise – fast von niemandem bestrittenen Auffassung, dass die forensische Wahrheitsdebatte, so wie sie seit Jahrzehnten geführt wird, auf durchaus instabilem und unfruchtbarem Boden heranwächst. Man könnte diesbezüglich einen Überblick über den Stand der entbrannten und nie wieder zur Ruhe gekommenen Diskussion anbieten. Anschließend könnte man die zwei Antagonistinnen, scil. die entgegensetzten Thesen über die materielle und prozessuale Wahrheitstheorie rekonstruieren, zusammenfassen und kri­ tisch betrachten. Man könnte jedenfalls an der Oberfläche bleiben oder – bes­ ser ausgedrückt – auf der Ebene einer Diskussion, die es m. E. nicht vermocht hat, Klarheit über die Hauptfragen dieser Problematik zu erlangen. Nichts davon will ich tun. Dementsprechend möchte ich auf eine langatmige Einfüh­ rung in den ohnehin bekannten Meinungsstand verzichten.32 Ausgangspunkt dieses Kapitels ist die Feststellung, dass die Vorgehens­ weise der h. M. in der Sachverhaltsfeststellungsdogmatik auf einer nicht überzeugenden Prämisse beruht – auf einem plausiblen Missverständnis. Wir beharren auf dieser Argumentationsstruktur und diesem dualistischen Modell, nämlich der Spaltung zwischen Sein und Schein,33 zwischen mate­ riellen und prozessualen Wahrheitstheorien – und wir wählen eine der zwei Optionen als den Ausweg aus diesem Labyrinth aus – weil dieses Schema sehr plausibel ist. Es ist uns aber trotzdem nicht gelungen, eine überzeugen­ de Antwort darauf zu finden, gerade weil es sich dabei um ein Missverständnis handelt.34 Darauf werde ich später eingehen (unten Teil 1, Abschn. G.II.). Des Weiteren ist die juristische Wahrheitsdebatte auch methodologi­ schen Zweifeln ausgesetzt; sie verstößt gegen ein methodologisches Prinzip, das ich im Anschluss an Sherilyn Roush „tracking“ nenne.35 Diesem Prinzip 32  Für den Stand der juristischen Diskussion und eine Darstellung der zahlreichen Auffassungen siehe Stamp (1998). 33  Wittgenstein soll einmal bemerkt haben, dass der Unterschied zwischen Sein und Schein etwas sei, was den wissenschaftlichen Betrachter an unserer Sprache am meisten befremde. Siehe Waismann (2005). 34  Vgl. Ernst (2002), S. 209 ff. 35  Roush (2005), S. 1: „What do you do if you want to know whether and when your package has been delivered? You buy tracking from the US Postal Service (or

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Teil 1: Der Mythos des Gegebenen

zufolge soll beispielsweise ein rationaler Agent, der einen Ausflug plant und sich nach dem Wetter erkundigen will, sich den ‚Experten‘ zuwenden und daher den Wetterbericht abrufen. Fühlt man sich krank, so soll er sich – vor allem in Zeiten der höchsten Spezialisierung – von einem Facharzt untersu­ chen lassen. Befragt man „statt des Physikers ein Orakel“, dann würden wir ihn für „primitiv“ halten (ÜG 609), da es zu unseren Sprachspielen dazu gehört nach ‚guten Gründen‘ zu suchen. Es ist zwar sein gutes Recht, statt professioneller Hilfe eine Kartenlegerin oder den ‚Weisen des Dorfes‘ hin­ zuziehen und um Hilfe zu bitten; rational wäre dies ganz und gar nicht. Die Frage nach der Zweckmäßigkeit dieser Vorgehensweise stellt Wittgenstein: „Ist es falsch, daß ich mich in meinem Handeln nach dem Satze der Physik rich­ te? Soll ich sagen, ich habe keinen guten Grund dazu?“ (ÜG 608)

damit er sie anschließend bejahend umformuliert: „Ist [es] nicht eben das, was wir einen ‚guten Grund‘ nennen?“ (ÜG 608)

Darüber hinaus ist schwer leugbar, dass wir einem Wahrsager, der etwa in den Eingeweiden eines Fisches das morgige Wetter ‚gelesen‘ hat, kein Wissen zuschreiben können, selbst wenn seine ‚Prognose‘ sich als zutref­ fend erweist.36 Denn es würde unseren Grundintuitionen zuwider laufen, wenn man (im Nachhinein) gesagt hätte: ‚Aber der Wahrsager hat ja richtig gelegen‘. Wir beharren darauf, dass hier etwas überhaupt nicht stimmt,37 da seine Gründe unserem Gute-Gründe-Verständnis nicht gerecht werden. Der propositionale Gehalt des tracking-Prinzips besteht also in einer eher simp­ len Handlungsanweisung: ‚frag die Experten‘. Das gilt – vor allem heutzu­ tage – sowohl für unser alltägliches Leben als auch für den interdisziplinä­ ren Diskurs. Auf den Bereich der rechtswissenschaftlichen Forschung übertragen, lautet dasselbe Prinzip: ‚wende dich der zuständigen Disziplin zu‘. Denn mir scheint äußerst problematisch zu sein, dass man zwischen UPS, or FedEx, or DHL). What do meteorologists do when they want to know where a storm system is and in what direction it is headed at what speed? They track it. In fact, in a handy Hurricane Preparation Guide available from Home Depot in regions bordering the Gulf of Mexico, you can ‚track like the pros‘ by listening for the latest storm position and strength from the National Hurricane Cen­ ter, and plotting the storm’s progress on a ‚Hurricane Tracking Map‘.“ Hier geht es mir nicht um den interessanten erkenntnistheoretischen Ansatz, die Roush im An­ schluss an R. Nozick entwickelt hat, sondern um das zugrunde liegende methodolo­ gische Prinzip. 36  Vgl. Ernst (2002), S. 18. 37  Ähnlich Ho (2008); S. 73: „A particular verdict may be correct even though it was produced by irrational reasoning. In such a case, one might say that no harm was done after all. But one should insist that something has gone wrong: the factfinder has failed to discharge her duty properly in not deliberating as she ought to do.“



B. Tracking: Der Wahrheit auf der Spur35

Ansätzen aus Disziplinen wie Erkenntnistheorie, Psychologie usw. (deren Progressivität geradezu bewundernswert ist) und selbstgenügsamen Eigen­ gesetzlichkeiten sich mit guten Gründen für das zweite entscheiden kann. Das bringt mit großer Präzision Pawlik zum Ausdruck: „Diese Konzeption beruht auf der Überzeugung, daß die Strafrechtsdogmatik von philosophi­ schen Prämissen ausgehen muß, wenn sie ihrem Anspruch auf Wissen­ schaftlichkeit gerecht werden will. Nicht zwischen einer ‚reinen‘, d.  h. selbstgenügsamen und einer ‚philosophischen‘ Straf[prozess]rechtsdogmatik hat der einzelne Wissenschaftler die Wahl, sondern nur zwischen mehr oder weniger überzeugenden Ausführungen der letzteren.“38 Dieser Auffassung, der man m. E. das tracking-Prinzip unproblematisch zugrunde legen könnte, wird die sog. ‚übliche Vorgehensweise‘ gegenübergestellt. Die ‚übliche Vorgehensweise‘,39 der zufolge Juristen schlichtweg „sich mit dem vorge­ fundenen Meinungsstand auseinandersetzen und anschließend eine eigene Meinung entwickeln“, hat m. E. nicht vieles für sich, was rechtsdogmatische Fragestellungen anbelangt.40 Sie ist jedoch fundamental falsch, wenn es sich um den Kern des Strafverfahrens, d. i. die Sachverhaltsfeststellung handelt. Denn dabei geht es um Begriffe wie Überzeugung (vgl. § 261 StPO), Wis­ sen, Begründung (vgl. § 267 I StPO) usw., die Untersuchungsobjekt der im Ergebnis Pawlik, Notstand, S. VII; Siehe auch Ho (2008) S. 2–4. etwa Amelung (2011), S. 595. Man bedenke, wozu diese übliche Praxis hinführt: Man hat jedes Mal die Gesamtheit der Literatur (∑L) in seinem Text mit­ einzubeziehen und ihr seine eigene Meinung (∑L + 1) hinzuzufügen – und das ad infinitum (∑L + L1 + … + Ln). Man gelangt dadurch schnell zu einem nicht offenen und selbstbezogenen Diskurs, dessen Chancen auf Progressivität deutlich sinken. Vor diesem Hintergrund der gutgeheißenen Selbstbezüglichkeit sollte es nicht überra­ schen, dass z. B. in der Habilitationsschrift Christian Jägers (siehe Jäger 2003) Standardwerke der angelsächsischen Literatur wie u. a. Anderson / Twining (1991) und Roberts / Zuckermann (2004) ihren Platz nicht finden. Bemerkenswert ist bei der Habilitation Jägers die völlige Abwesenheit ausgerechnet englischsprachiger Litera­ tur, deren Ausmaß zum Thema Beweisverbote bzw. Zulässigkeit von Beweismitteln unüberschaubar ist. 40  Kritisch dazu schon im Jahre 1914 Jellinek (1914), Allgemeine Staatslehre: S. 25 f. „Wer heute an die Untersuchung sozialer Grundprobleme geht, dem tritt sogleich der Mangel einer in die Tiefe dringenden Methodenlehre fühlbar entgegen […] Zu einer systematischen, umfassenden, alle Schwierigkeiten berührenden Logik der Sozialwissenschaften ist in ähnlicher Weise, wie es in neuerer Zeit mit Erfolg für die Naturwissenschaften geschehen ist, bisher kaum der Anfang gewesen […].“ S. 27: „Die alten, unsicheren Methoden oder vielmehr die alte Methodenlosigkeit genügen den Anforderungen der Gegenwart nicht mehr […] Deshalb muß heute jede Untersuchung über die staatlichen Grundphänomene mit Feststellung der methodo­ logischen Prinzipien auf Grund der Resultate der neueren erkenntnistheoretischen und logischen Forschungen beginnen. Erst dann besitzt man ein sicheres Werkzeug, sowohl um sich durch das Gestrüpp der früheren Literatur kritisch den Weg zu bahnen, als auch um zu selbstständiger fruchtbringender Forschung zu gelangen.“ 38  So 39  So

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Teil 1: Der Mythos des Gegebenen

Erkenntnistheorie sind. Wie Schlapp aus anderem Anlass anmerkt, ergibt es wenig Sinn, „dem Drang zu freier Assoziation“ nach[zu]geben“41 statt die Sachverhaltsfeststellungsdogmatik nach dem Bauplan eines leistungsfähigen Ansatzes in der Erkenntnistheorie zu rekonstruieren.

I. Ein fremdes Prinzip? Es sei unterstrichen, dass der propositionale Gehalt dieses methodologi­ schen Prinzips weder dem deutschen Gesetzgeber noch der höchstrichter­ lichen Rechtsprechung fremd ist. Zum einen hat das Bundesverfassungsge­ richt (Erster Senat) in seinem Beschluss vom 14. Februar 1973 eine Ratio­ nalitätsanforderung zum Ausdruck gebracht: Die Entscheidung des Richters müsse „auf rationaler Argumentation beruhen“.42 Dieses Gebot kann Diver­ ses bedeuten; eines wird darin jedenfalls deutlich, nämlich der Versuch, die Interdisziplinarität des Diskurses aufrechtzuerhalten. Was jeweils als rational zu bezeichnen ist, bleibt nicht nur offen, sondern auch disziplinabhängig. Des Weiteren können (im Umkehrschluss aus § 244 Abs. 3 S. 1 StPO) An­ träge auf Vernehmung eines Sachverständigen nicht abgelehnt werden, wenn die Analyse des Beweismaterials das Hinzuziehen eines Sachkundigen er­ fordert.43 Hier geht es mir nicht um den ‚schmalen Grat‘ zwischen zu hohen und zu niedrigen Anforderungen auf das Bestellen eines Sachverständigen, sondern um das zugrunde liegende tracking-Prinzip: da, wo der Tatrichter wegen der Kompliziertheit oder gar Komplexität der Themen sein eigenes Verständnis als gering oder jedenfalls unzureichend einschätzt, ist es gebo­ ten (weil rational) sich den jeweiligen Experten zuzuwenden. Um eine be­ rühmte Wittgensteinsche These zu paraphrasieren:44 Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man die Experten fragen. Denn auch im Strafverfahren suchen wir ständig bzw. ausschließlich nach ‚guten Grün­ den‘. Was man unter ‚guten Gründen‘ verstehen kann, hängt ebenfalls von der jeweiligen Disziplin ab. 41  Schlapp

(1989), S. 7. BVerfGE 34 269. 43  Nach § 244 Abs. 4 S. 1 kann ein Beweisantrag auf Vernehmung eines Sachver­ ständigen, soweit nichts anderes bestimmt ist, auch abgelehnt werden, wenn das Gericht selbst die erforderliche Sachkunde besitzt. Siehe dazu nur Kühne (2010), Rn. 856 ff.; vgl. § 701 FRE: „If scientific, technical, or other specialized knowledge will assist the trier of fact to understand the evidence or to determinate a fact in issue, a witness will assist the trier of fact to understand the evidence or to deter­ mine a fact in issue, a witness qualified as an expert by knowledge, skill, experi­ ence, training, or education, may testify thereto in the form of an opinion or other­ wise.“ Hierüber siehe ebenfalls Goldman (1999), 9. Kapitel. 44  Dabei geht es um den letzen Satz des Tractatus: TLP 7: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.“ 42  Vgl.



B. Tracking: Der Wahrheit auf der Spur37

II. Der antiphilosophische Affekt Trotz der oben beschriebenen Rationalitätsanforderung, die unausweich­ lich auf Interdependenz und Inter- bzw. Intradisziplinarität verweist, kann man von einer fast einmütig anti-wissenschaftlichen Haltung in den Rechts­ wissenschaften als deren Hauptmerkmal, ausgehen – ein Horn, in das eine Reihe von Autoren bläst. Mal ist die Rede von einem Konservatismus, der der Zerstörung der den Juristen bislang bekannten Welt entgegentrete,45 mal von einem antitheoretischen Affekt,46 der jede naturwissenschaftliche Me­ thode entschieden zu bekämpfen habe. Diese den intradisziplinären Diskurs fragmentierende Haltung mag berechtigt sein oder nicht, sofern sie das eine oder andere ‚Wesen des Rechts‘ anbelangt.47 Was unsere Problematik be­ trifft, trifft sie jedenfalls ins Leere; denn es handelt es sich hierbei um Beweisanalyse und die zugrunde liegende Erkenntnistheorie, anhand deren ein epistemischer Agent (induktiv-)logisch operieren und zu einem rational überprüfbaren Ergebnis kommen kann. Da nun der Tatrichter mit Grundbe­ griffen, wie Wahrheit, Wissen, Rechtfertigung und Überzeugung operiert, braucht er dafür ein theoretisch fundiertes Verständnis. Es wird im Folgen­ den gezeigt, dass ein auf dem Common Sense beruhendes, alltägliches Verständnis keineswegs hierzu ausreicht.

III. Wozu braucht man Erkenntnistheorie? Herrschend ist die Auffassung, die zunächst die Möglichkeit eines er­ kenntnistheoretischen Ansatzes bestreitet.48 Weßlau beteuert, dass „eine wissenschaftliche Lösung“ nicht vorliegt und „wohl auch nicht gefunden werden“ könnte. Davon abgesehen, dass in dieser Haltung Wissenschaft und Erkenntnistheorie / Philosophie unzulässigerweise vermengt werden,49 lässt es sich unschwer zeigen, dass diese Meinung mit erheblichen Schwierigkei­ ten zu kämpfen hat. Denn sie setzt stillschweigend voraus, dass man alle denkbaren Wege, jede therapeutische oder diagnostische Haltung in Bezug 45  Schlapp

(1989), S.  30 f. Jestaedt (2006), S.  3 f., m. w. N. 47  Wolf (1933), S. 29 f.: Der Autor plädiert dafür, dass die naturwissenschaftliche Methode im Strafrecht deshalb nicht bekämpft werden soll, weil an die Stelle exak­ ter Beobachtung und vorurteilsloser Beschreibung natürlicher Vorgänge und Ursa­ chen romantische Schwärmerei und metaphysische Dogmen treten sollten. Der Grund dafür sei, so Wolf, die Tatsache, dass sie „dem Wesen des Rechts“ wider­ spricht. 48  Weßlau (2008), S.  295 ff., m. w. N. 49  Zur Rolle und Aufgabe der Philosophie als Begriffsuntersuchung siehe Bennett /  Hacker (2010), S. 541 ff. 46  Vgl.

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Teil 1: Der Mythos des Gegebenen

auf das Problem des Skeptizismus, getestet und für unbefriedigend befunden hat. Das ist – soweit ersichtlich – der Rechtswissenschaft bisher nicht ge­ lungen.50 Die Juristen tun sich schwer damit, ihre Grenzen zu überschreiten.51 Denn sie seien es gewohnt, in allgemeingültigen Normen zu denken, und sehen sich der Beweisproblematik schutzlos ausgeliefert, sodass sie, so Peters, sich hauptsächlich auf ihren Instinkt und ihre Erfahrung verlassen.52 Die Juristen werden ferner sogar gewarnt, diese Grenzüberschreitung nicht zu wagen. Sie sollten sich, so Kunert,53 „davor hüten“ der Erkenntnistheorie exponiert zu werden. Das ist allerdings, wie bereits gezeigt, erst einmal aus methodologischen Gründen nicht überzeugend. Das Argument, dem zufolge man dadurch den (erkenntnistheoretischen) Teppich unter den Füßen seiner Wissenschaft wegzuziehen versuche, ist nicht schlüssig. Denn es ist auf der einen Seite bislang kein leistungsfähiger erkenntnistheoretischer Ansatz aufgestellt worden, der unserem Strafverfahren zugrunde läge. Auf der an­ deren Seite ist die Problematik der Beweiswürdigung – das wissen wir spätestens seit Bentham54 – nichts Anderes als das Problem des Wissens. Da die Beweiswürdigung das Herz des Strafverfahrens ist, sollten wir die Kunertsche Warnung eigentlich auf dem Kopf stellen. Diese Grenzüber­ schreitung, die das Theoriedefizit der Sachverhaltsfeststellung bei einem gerichtlichen Verfahren zu therapieren beansprucht, erscheint mehr denn je geboten. Nur so könnte man den ‚Triumphmarsch‘ von Phänomenen wie den Urteilsabsprachen eindämmen und ihnen einen leistungsfähigen er­ kenntnistheoretischen Ansatz gegenüberstellen.55 Pawlik hat bereits die rechtswissenschaftliche Community darauf auf­ merksam gemacht, dass dogmatische Stellungnahmen, die nicht auf allge­ meine Begründungsfiguren zurückgeführt werden, zu wackligen Ergebnissen führen.56 Das trifft durchaus zu. Der einzige Unterschied zu unserer Prob­ lematik besteht einfach darin, dass wir es ausgerechnet beim Problem der Wahrheit und der erkenntnistheoretischen Grundlagen mit diesen Begrün50  Eine angemessene Antwort auf diesen Forschungspessimismus wäre, um mit Philipps (1998), S. 263 zu sprechen, folgende: „Popper behüte!“ 51  Peters (1954), S. 478. 52  Peters (1954), S. 478. 53  Kunert (1979), S. 413; diese Meinung scheint auch Engisch (1963, S. 6) zu vertreten: „Jegliche andere philosophische Erörterung erkenntnistheoretischer […] Art lassen wir hier beiseite, so sehr wir die hier von verschiedenen Seiten am Wahr­ heitsbegriff einsetzenden Überlegungen als berechtigt und in die Tiefe dringend anerkennen.“ 54  Bentham (1825), S. 6. 55  Ähnlich argumentiert Nobili (2001), S. 1. 56  Pawlik, Notwehr, S. 262.



B. Tracking: Der Wahrheit auf der Spur39

dungsfiguren selbst zu tun haben! Denn die Statik der gesamten Beweiswür­ digung ist eine Funktion des Inhalts bzw. der Leistungsfähigkeit unserer erkenntnistheoretischen Grundbegriffe. Es leuchtet ja ein, dass eine theo­ riescheue Haltung diese Statik gefährdet. Es mag auf der anderen Seite durchaus der Fall sein, dass wir beim Philosophieren am Ende seufzend dahin gelangen, „wo man nur noch einen unartikulierten Laut ausstoßen möchte“ (PU 261). Eine Dissertation, die mit den erkenntnistheoretischen Fundamenten eines unserer umstrittensten Kulturphänomene, des Strafver­ fahrens, befasst, umfasst unweigerlich mehr Fragestellungen als sie je be­ antworten könnte. Davor sollte man allerdings nicht zurückschrecken. Herkömmlicherweise haben Autoren das Wahrheitsproblem als Eigenpro­ blem behandelt und zu lösen versucht. Um der Vorgehensweise von Er­ kenntnistheoretikern, an deren Ansätzen ich mich orientiere, gerecht zu werden, beanspruche ich hingegen das Problem der Wahrheit nicht zu lösen, aber es freilich zu verstehen.57 Die Tatsache nun, dass die gesamte Ge­ schichte der Philosophie als eine „chronicle of failure“ angesehen wird,58 ist freilich der Preis für ihre antidogmatische Haltung. Die Zielvorstellung, dem Strafverfahren eine theoretisch fundierte und leistungsfähige erkennt­ nistheoretische Grundlage zugrunde zu legen ist es jedoch Wert, eine Pyr­ rhusniederlage in Kauf zu nehmen als ein siegreiches Schattengefecht zu führen. Die Rationalität unserer epistemischen Praxis von Anfang an aufzu­ geben und kampflos zu kapitulieren wäre sicherlich keine gute Idee. Wie ich anhand der „Grundprobleme der Sachverhaltsfeststellungsdogma­ tik“ (vgl. Teil 2) zeigen möchte, wird die Wahrheitsdebatte von einigen Begriffsverwirrungen heimgesucht. Logisch-grammatische Unterschiede werden nicht beachtet, Verästelungen werden missachtet und Begriffe wer­ den inkohärent verwendet. Eine grundlegende Methode nun zur Beseitigung von Begriffsverwirrungen ist, so Bennett / Hacker, die sorgsame Überprüfung und Beschreibung des Wortgebrauchs – dessen, was „kompetente Sprecher, indem sie Worte richtig verwenden, sagen und nicht sagen“.59 Für die Klar­ stellung der Begriffe der Wahrheit, Rechtfertigung, Überzeugung – die Teile des Begriffsapparates der StPO ausmachen – wäre nicht ökonomisch eine eigenständige, isolierte Debatte zu führen. Man hätte in jenem Fall ‚das Rad neu erfinden‘ sollen. Stattdessen kann man sich des Theorienarsenals und der Systematik der Erkenntnistheorie bedienen. Das heißt allerdings 57  Vgl. Stroud (1984), S. 1: „My aim is not to solve the problem but to under­ stand it. I believe the problem has no solution.“ 58  Williams, Problems, S. 17: „Though the history of attempts to refute the skep­ tic strikes pessimists as a chronicle of failure, the basis of pessimism is not really inductive.“ 59  Bennett / Hacker (2010), S. 543.

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Teil 1: Der Mythos des Gegebenen

nicht, dass die Rechtswissenschaft sich Ansätze oder gar „Lösungen von außen“ aufdrängen lässt.60 Denn die angedeutete Verbindlichkeit ist logischbegrifflicher und nicht teleologischer Natur. Ansätze, sofern sie anschluss­ fähig sind, werden an das, worauf sie angewendet werden, angepasst und nicht à la carte oktroyiert. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass in den Rechtswissenschaften Fragen gestellt und beantwortet werden, die man – dem tracking-Prinzip folgend – der Erkenntnistheorie stellen soll. Denn in der Wissenschaft sowie im alltäglichen Leben ist nicht nur der Inhalt einer Frage (Was-Fragen), sondern auch die Person, die die jeweilige Frage beantwortet, von entschei­ dender Bedeutung. Die Erklärungsfähigkeit einer Antwort und zunächst die Ansprüche, die auf sie gestellt werden, sind eine Funktion der Zielgenauig­ keit der gestellten Frage. Von dieser methodologischen Grundthese können wir spätestens seit Galileo Galilei ausgehen,61 der statt auf den Himmel zu starren, das Glas des Fernrohrs unter die Lupe genommen hat, um auf die Himmelskörper und deren Eigenschaften schließen zu können.62 Weder Kepler noch sonst jemand war also in der Lage, die Ergebnisse Galileis in Frage zu stellen, solange er an seiner (überprüfbaren) Methode nichts be­ mängeln konnte. Die Akzeptierbarkeit der astronomischen Ergebnisse war also eine Funktion der eingesetzten Methode. Dieses methodologische De­ fizit – die Rede ist öfter von bewusster Naivität63 – der Rechtsdogmatik missachtet nun diesen wissenschaftshistorischen Topos. Bevor wir also einer Wissenstheorie nachgehen können, sind wir verpflichtet, uns Klarheit darü­ ber zu verschaffen, welche Methode wir einsetzen, d. h. welche Begrün­ dungsstruktur wir dem Strafverfahren zugrunde legen.

C. Über plausible Missverständnisse Eine Frage ist offen geblieben. Worum handelt es sich eigentlich bei diesem „plausiblen Missverständnis“ (siehe Teil 1, Abschn. A.II.), auf das die forensische Wahrheitsdebatte sub-doxastisch64 zurückgeführt wird? Die­ Neumann, Theorie, S. 386. die Methode von Galileo weist auch Kant hin, wenn er ausführt, dass wir von den Dingen nur dasjenige a priori erkennen, was wir selbst in sie legen. Siehe KrV BXII–BXIV, BXVI–XVIII. 62  Eingehend dazu De Padova (2009), S. 11; bekanntlich war es im Sommer 1609 Galileo Galilei gelungen, ein Fernrohr herzustellen, das innerhalb weniger Monate zu einem innovativen Forschungsinstrument perfektioniert wurde. 63  Eingehend dazu Stamp (1998), S. 38–43. 64  „Sub-doxastisch“ ist ein terminus technicus in der Erkenntnistheorie, der soviel wie „implizites Wissen“ bedeutet. Er heißt so, weil der jeweilige Sprecher nicht über explizite Begriffe und Rechtfertigungsregeln verfügt, um sein jeweiliges Urteil be­ 60  Vgl. 61  Auf



C. Über plausible Missverständnisse41

se Frage möchte ich im Folgenden beantworten. Auf den Wahrheitsbegriff wird eine ganze Reihe von strafprozessualen und rechtsphilosophischen Problemfeldern reduziert. Wir können jetzt unseren Blick auf einige Frage­ stellungen richten. Seit Jahren wird kontrovers diskutiert, ob u. a. § 244 Abs. 2 StPO sich zu dem Prinzip der materiellen Wahrheit bekennt, ob die materielle oder prozessuale Wahrheit das normative bzw. selbstverständliche Ziel des Strafverfahrens ist, ob die umfassende Kenntnis der Tat als histo­ rischen Geschehens und eine möglichst erschöpfende Einsicht in die Per­ sönlichkeit des Täters als ein der Gerechtigkeit verpflichtetes Prozessziel verstanden werden kann und ob letztlich die Erforschung der Wahrheit um jeden Preis erforscht werden müsse oder ob und inwiefern der Schutz des Angeklagten diese Erforschungspflicht konturiert bzw. einschränkt.

I. Zwei Antagonistinnen Aus dieser Debatte haben sich zwei Grundthesen herauskristallisiert. Es wird zwischen materieller und prozessualer Wahrheit unterschieden und über ihre Leistungsfähigkeit kontrovers diskutiert. Materielle Wahrheit wird teilweise negativ durch die Gegenüberstellung zur formellen Wahrheit des Zivilprozesses definiert;65 prozessuale Wahrheit wird wiederum als Distan­ zierung von der Idee der materiellen Wahrheit charakterisiert:66 eine zirku­ läre Argumentationsstruktur. Verfechter materieller Wahrheitstheorien plä­ dieren für eine ‚Wahrheit‘, die den archimedischen Punkt des Strafverfahrens gründen zu können. Betrachten wir zur Verdeutlichung zwei Beispiele: a) Selbst mancher kompetenter Nutzer der deutschen Sprache könnte nicht genau erklären, aus welchem Grund der Satz: „Das läuft unsere Intuition zuwider“ grammatikalisch falsch ist, obwohl man den Fehler erkennen und entsprechend korrigieren kann. b) Die Atemfunktion erfolgt reflexartig, aber wenn man darüber nachdenkt, wie Atmen eigentlich zustande kommt, dann wäre eine detaillierte Beschreibung nicht möglich: Wir verfügen nicht über die erforderlichen analytischen Begriffe wie z. B. Lungenlappen, Gasaustausch, Hauptbronchus oder Pneumozyten Typ I und II. Bei beiden Fällen fehlt es uns an den erforderlichen analytischen Begriffen. Hinsichtlich des ersten Beispiels bräuchte man den grammatischen Fehler nur mit Rückgriff auf ein explizites Syntax-Wissen zu erklären (eingehend Baumann (2006), S. 33; dazu Mulzer (2006), S. 123–125). Hinsichtlich des zweiten benötigte man Fachwissen der menschlichen Anatomie und Physiologie. Der Begriff der subdoxastischen Zustände hängt also mit einem vorwissenschaftlichen Verständnis zusammen, womit man zweifellos in seinem alltäglichen Leben auskommen kann; die Situation ändert sich dennoch drastisch, wenn man aktiv daran denken oder Gründe für seine Überzeu­ gung geben soll. 65  Ausf. dazu Stübinger (2008), S. 510 m. w. N.; vgl. dazu KK7–Fischer, Einl., Rn. 2. 66  Eine ausführliche Darstellung prozessualer Wahrheitsmodelle bietet Stamp (1998), S. 216–248 an; siehe auch Stübinger (2008), S. 538–551.

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Teil 1: Der Mythos des Gegebenen

bilden soll, und die man zu entdecken hat. Sie behaupten, dass das Straf­ verfahren dem materiellen Recht dient und auf die ontologische Wahrheit, als vorgegebene, vorsprachliche Entität abzielt:67 Da das materielle Straf­ recht nur bei „wirklichem Vorliegen der Tatbestandsmerkmale“ die Rechts­ folge Strafe vorsehe, solle dementsprechend dem Strafurteil das zugrunde gelegt werden, was „wirklich vorgefallen ist“. Betont wird, dass § 244 II StPO sich zum Prinzip der materiellen Wahrheit bekennt.68 Die Rede ist von der Korrespondenztheorie der Wahrheit (weiterhin: KW). Im Gegensatz dazu plädieren die Vertreter prozessualer Theorien dafür, das Programm der Wahrheit per se zu verabschieden und von einer prozessualen Wahrheit auszugehen, die man bloß herzustellen hat. Die materielle Wahrheit gebe es dieser Ansicht nach nicht; man sollte aufhören nach ihr zu suchen und sie durch Konsens, fairen Wettstreit oder das, was „ein kompetenter ju­ ristischer Akteur rechtfertigen kann“,69 zu ersetzen.70 Hauptmerkmal prozes­ sualer Wahrheitstheorien ist, dass sie nicht tatsachenorientiert sind. Obwohl nun in der Sache kein einheitliches Bild besteht, sodass die zahlreichen Ansätze auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden könnten, scheint noch am ehesten Übereinstimmung darüber zu herrschen: prozessuale Theorien distanzieren sich von der materiellen Wahrheit, von dem was wirklich geschehen ist:71 „Die materielle Wahrheit, die im Straf­ prozess ermittelt werden soll, gibt es nicht und von ihr sollen wir uns verabschieden“.72 Als interessant werden Satzäußerungen, die konsensfähig sind, angesehen. Kurzgefasst: Die einen versuchen, die Realität hinter den Phänomenen (materielle Wahrheit) zu erfassen, indem sie von der Annah­ me ausgehen, das Strafurteil soll daraufhin geprüft werden, ob es mit der Wirklichkeit übereinstimme; die anderen halten die Chancen eines solchen Unternehmens für verschwindend klein und sehen die „materielle Wahr­ heit“ als eine Chimäre an.73 Darüber hinaus verhält sich die Hartnäckig­ 67  Dabei handelt es sich im Prinzip um die alte Frage, ob die Sprache das Kleid bzw. Verkleidung unserer Gedanken ist oder ihr bildendes Organ. Einführend dazu: Gloy (2004) S. 200. Die Autorin bringt das Hauptargument auf den Punkt, indem sie ausführt, dass die Rede von einer sprachfreien Welt eine contradictio in adjecto sei. Aufschlussreich zu diesem Thema ist die Intelligenzforschung. Vgl. dazu Hofstätter (1966), S. 236. 68  Vgl. Stamp (1998), S. 17, m. w. N. 69  Mehr dazu bei Patterson (1999), S. 29. 70  Vgl. etwa Schünemann (1988), S. 481, wo die Rede von „Interaktion, Konsens und strikte[r] Neutralität“ ist, wodurch „die Chimäre der materiellen Wahrheit besei­ tigt werden soll“. 71  Ausführlich dazu Stamp (1998) S. 17 m. w. N. 72  Ausführlich und kritisch dazu Neumann, Funktionale Wahrheit, S. 74. 73  Schünemann (1988), S. 481.



C. Über plausible Missverständnisse43

keit, mit der dieses Dualmodell wiederholt wird, umgekehrt proportional zu dem Bemühen, die zwei Antagonistinnen mit Ansätzen der Philosophie zu verknüpfen / zu identifizieren. Ich bin der Auffassung, dass diese Debatte ausdiskutiert ist, ohne dass dabei jedoch klare Ergebnisse zum Vorschein gekommen sind. Denn der Kampf zwischen materiellen und prozessualen Wahrheitstheorien endet in einer für jeden Diskurs unliebsamen Pattsituation, da keine Partei ihre Nie­ derlage akzeptieren will und deren eigene ‚Stärken‘ bloß den immanenten Schwächen des jeweiligen Opponenten entnimmt. Zum einen sind die Ver­ treter materieller Wahrheitstheorien mit den unüberwindlichen Schwierig­ keiten konfrontiert, die von dem metaphysisch behafteten Modell der KW ausgehen.74 Verfechter prozessualer Wahrheitstheorien sind auf der anderen Seite auch mit einem unüberwindlichen Problem konfrontiert. Sie müssen eine schwierige Aufgabe lösen, nämlich zu zeigen, wie ein Strafurteil, das keinerlei Anspruch auf die Wirklichkeit (nämlich auf das, was passiert ist, sondern nur auf Rechtsrichtigkeit entscheidungsförmiger Aussage, Konsens oder Beachtung von Spielregeln) erhebt, legitimiert werden könnte. Worin besteht etwa unsere epistemische Praxis, wenn uns die (wirklichen) Hand­ lungen des Beschuldigten in der Vergangenheit nicht interessieren. Denn bei Gottesurteilen, bei der Folter als Geständniserzwingungsmittel, der Erlan­ gung voller Überzeugung oder der Anwendung Bayesscher (probabilisti­ scher) Netzwerke hat es sich immer – je nach unseren Rationalitätskonzep­ ten – um Wahrheitsindikatoren gehandelt. Pointiert: Der veritistische Charakter unseres Strafverfahrens hat sich bisher nie geändert. Die Herbeiführung des Rechtsfriedens als Ziel (oder eines der Ziele) des Strafverfahrens kann nur faktenkontingent sein. Krüger bemerkt in Bezug auf epistemische Wahrheitstheorien, auf welche implizit oder explizit sich alle juristische prozessuale Wahrheitstheorien berufen, dass das gemeinsame Verdienst jener Auffassungen, nämlich dass sie wichtige epistemische und argumentative Aspekte des Themas Wahrheit in den Vordergrund rücken (im Gegensatz zu realistischen Wahrheitstheorien, die solche Aspekte ausblen­ den), zugleich ihre notorische Schwäche markiert: „Sie sind nicht realistisch, d. h. sie werden der schwer ausrottbaren Intuition nicht gerecht, dass es von der Beschaffenheit des Gegenstandes abhänge, ob die Rede oder die Vor­ stellung wahr oder falsch ist“.75

74  Vgl.

etwa Stamp (1998), S. 38. (1995), S. 920.

75  Krüger

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Teil 1: Der Mythos des Gegebenen

II. Der faktenkontingente Charakter unserer (Streit-)Kultur Der oben angesprochene Unterschied zwischen verschiedenen Wissenseth­ nologien lässt sich spätestens dann verdeutlichen, wenn man sich vor Augen führt, dass in unserer Kultur – anders als im Kulturkreis z. B. der Inuit, bei welchen Gesangsduellen bzw. -wettbewerben eine disputative und soziale Konflikte lösende Funktion zukommt –76 Handlungen und vor allem Ent­ scheidungen i. e. S. tatsachenorientiert sind. Die Legitimität eines Strafurteils ist eine Funktion der sachlichen Richtigkeit bzw. des Vertrauens in die Beweisanalyse in einem Gerichtsverfahren und nicht Leistung des Verfah­ rens selbst.77 Die Abkopplung der (nur) durch Verfahren legitimierten Ge­ richtsurteile von dem Programm des materiellen Strafrechts wäre töricht. Die Auffassung, die sich von der Wahrheitsfindung verabschiedet und einen „fairen Verdachtsdialog“ in den Vordergrund rückt, hält vor allem deswegen der Kritik nicht stand, weil das daraus resultierende Urteil – der Regelung der StPO ungeachtet – schwer an sozialer Akzeptanz und dadurch an Legi­ timitation leiden würde.78 Nesson bemerkt, dass es sich um ein psychologi­ sches Bedürfnis handelt, das Strafurteil als eine faktische Behauptung zu betrachten: „When courts punish a defendant, we want to believe that he is in fact guilty of commiting the crime for which he stands convicted.“79 Vielmehr wird an mehreren Stellen in der StPO deutlich, dass das Gericht sich an Tatsachen orientieren soll. Nach § 244 Abs. 2 StPO: „Das Gericht hat zur Erforschung der Wahrheit die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweimittel zu erstrecken, die für die Entscheidung von Bedeutung sind.“ ‚Wahrheit‘ ist allerdings nicht ein Objekt oder gar eine Tatsache, die man entdecken, erforschen oder gar herstellen könnte. Wahr­ heit ist eine Eigenschaft von Aussagen.80 Darauf werde ich später eingehen. 1. Gibt es einen gemeinsamen Nenner? Versucht man die zwei Auffassungen auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, so wird man relativ schnell fündig. Die Diskussionsplattform, auf welche beide Theorien zurückgeführt werden können, ist der Begriff der 76  Zu diesem Thema vgl. die anthropologische von Eckert / Newmark (1980), S.  191 f.; Ho (2008) S. 3 f. m. w. N.; diesen fundamentalen Parameter unserer (Streit-) Kultur müssen sich m. E. Verfechter prozessualer Theorien klarmachen. 77  Ausführlich dazu Neumann, Gerechtigkeit, S. 72 f. 78  So Volk (1995), 412 f.; vgl. Arzt (1997), S. 11 f. 79  Nesson (1985), S. 1366. 80  Vgl. dazu Schulz (1992), S. 179–183.



C. Über plausible Missverständnisse45

„ontologischen Wirklichkeit“. Das, was wirklich passiert ist, ist das Ele­ ment, das die einen zu ‚entdecken‘ versuchen und die anderen als die Suche nach einem Phantom ansehen, um sich zügig davon zu verabschie­ den. Gelingt es uns allerdings zu zeigen, dass die Vorannahme der ontolo­ gischen Wirklichkeit (materielle Wahrheit) unhaltbar ist, dann hat man eine wichtige Entdeckung gemacht. Das, was die Materialisten als Vertreter der KW dem Strafurteil zugrunde legen wollen sowie der Schluss, den die Pro­ zessualisten aus dem Scheitern des materiellen Programms ziehen, scil. die Verabschiedung von dem Programm der Wahrheit insgesamt, sind Thesen, die auf einer problematischen Vorannahme fußen. Diese theoretisch aufge­ ladene Vorannahme ist nichts anderes als das Programm der Erfassung ei­ ner denkunabhängigen Realität, welches in der Geschichte der analytischen Philosophie als Mythos des Gegebenen (Myth of the Given) entlarvt wor­ den ist.81 Dieser Mythos besteht in der Annahme, dass es ‚da draußen‘ eine Welt gäbe, die der Mensch durch einen glasklaren kognitiven Apparat so zu erfassen habe wie sie ‚wirklich‘ ist. An die Stelle der Frage nach Wahrheitserforschung um jeden Preis (die übrigens der BGH negativ beantwortet)82 tritt die Feststellung, dass eine erga omnes gemeinsame Er­ fahrungsbasis (materielle Wahrheit) nicht möglich wäre, selbst wenn wir bereit wären, den höchsten Preis zu bezahlen. Denn die Forderung einer denkunabhängigen Erfassung der Realität verlangt mehr von uns, als wir Menschen in der Lage zu leisten sind, nämlich aus unserer Haut heraus­ zutreten und die Welt so zu betrachten, wie sie ‚wirklich‘ ist. Es wurde jedoch Zeit, dass man aufhört, von einer ‚wahren Wirklichkeit‘ auszuge­ hen, die man sich als transparent vorstellt und einfach – manchmal müh­ sam – herauszufinden braucht.83 Wie es im folgenden Abschnitt gezeigt wird, zieht dieses Desiderat die Konsequenz eines Blickes von Nirgendwo nach sich, der kein Blick mehr ist.84 2. Epistemischer Zugang zur Welt und nicht Herstellung der Welt Unsere Welt „ist die Gesamtheit von Tatsachen nicht von Dingen“ (TLP 1.1.) Das heißt, Menschen beziehen sich (epistemisch) auf kognitiv erfasste Tatsachen – nicht auf kognitionsunabhängige Dinge in der Welt. Es ist mit Willaschek festzuhalten, dass das eigentliche Problem der Philosophie nicht die kausale Unabhängigkeit der Welt von unserem Geist oder hingegen ihre 81  Sellars

(1963), S. 127–196. 14, 358 (365). 83  Vgl. Nijboer (1995), S. 10. 84  Ausf. dazu bei Nagel (1986). 82  BGHSt

46

Teil 1: Der Mythos des Gegebenen

Abhängigkeit ist. Problematisiert wird hingegen a) unser epistemischer Zu­ gang zur Welt, nämlich wie es uns eigentlich gelingt, Wissen über eine von unserem Geist unabhängige Welt (deren Erfassung aber von unseren Begrif­ fen abhängt) zu erlangen und b) welchen normativen Standards wir genügen müssen, um einen Wissensanspruch geltend machen zu dürfen.85 Denn unser Zugang zur Welt geschieht nicht durch ein angeblich glasklares Medium wie z. B. die Sprache, das Bewusstsein oder die Wahrnehmung.86 Die Ab­ hängigkeit der existierenden Welt von unserem Geist, nämlich das, worüber Idealisten und Realisten ununterbrochen streiten, ist begrifflicher und nicht kausaler Natur.87 Und Begriffe sind bekanntlich ein sprachbedingtes, kultur­ relatives Produkt. Der empirische Befund etwa, dass Männer die rote Farbe anders als Frauen wahrnehmen oder dass die politische Zugehörigkeit nicht nur unsere Stimme, sondern sogar unsere visuelle Wahrnehmung beeinflusst, sind nur zwei Beispiele für diese begriffliche Abhängigkeit. Dieser Proble­ matik wird im folgenden Abschnitt nachgegangen.

D. Das Aus(t)räumen eines ‚Mythos‘ Um zeigen zu können, wie der o. g. Mythos zu Fall gebracht wurde, werden hierbei drei verschiedene Argumente angebracht, und zwar aus dem Bereich der Psychologie, der Neurophysiologie und der analytischen Philo­ sophie. Diese Argumente sollen uns nicht zu der Annahme verleiten, dass sie sich überschneiden oder gar einander stützen. Denn eine wissenschaft­ liche Hypothese könnte nicht im Widerspruch zu einer philosophischen Begriffsexplikation stehen oder gar einen philosophischen Ansatz widerle­ 85  Willaschek

(2003), S. 1, 89 ff., 207 ff. dazu Gabriel, Skepsis, S. 121. 87  Das verfehlt m. E. Gössel (2000) S. 10, wenn er sich fragt: „Kann man aber schon damit die Subjektabhängigkeit der Gegenstände menschlicher Wahrnehmung als erwiesen ansehen? Nach meiner Überzeugung keineswegs“. Ähnlich S. 13: „Ob damit die Existenz denkunabhängiger Gegenstände der Erfahrungswelt mit eigenen Strukturen und Eigenschaften als nachgewiesen gelten kann oder nicht, mag dahin­ stehen. Es erscheint indessen vernünftig, von dieser Existenz auszugehen.“ Diesbe­ züglich beachte man, dass die Existenz der Welt weder von Skeptikern noch von Solipsisten umstritten ist. In Zweifel wird nur deren Erkennbarkeit gezogen. Diese Ansicht wäre, so Tomaschek (2001, S. 20) zu kurz, zu oberflächlich begriffen. Be­ stritten wird in keinem Fall die Existenz der Welt – dieses Thema kam nicht einmal bei der antiken Skepsis in Frage (siehe Striker (1974)) –, sondern die Möglichkeit einer vom Subjekte unabhängigen Wahrnehmung einer Realität per se. Kurz formu­ liert: Es gibt eine Welt, und das ist alles, was wir mit letztgültiger Sicherheit kennen wissen? Außerdem soll man zwischen erkenntnistheoretischem Solipsismus, demge­ mäß die Realität nicht erkennbar sei und ontologischem Solipsismus, demzufolge die Realität nicht existiere, unterscheiden. Mehr dazu Hanisch (2009), S. 54 f. 86  Mehr



D. Das Aus(t)räumen eines ‚Mythos‘47

gen oder bestätigen.88 Zunächst können wir dieser Problematik anhand eines sehr einflussreichen Experiments89 nachgehen. Es vermag m. E. zu erklären, weshalb propositionales Sehen (d. i. Sehen, dass p) begrifflicher Natur und dass selbst eine ‚einfache unmittelbare Beobachtung‘ theoriebeladen ist.

I. Das Obama-Experiment Herkömmlicherweise steht die Fragestellung im Mittelpunkt des Interes­ ses, welche Rolle äußere Merkmale wie die Hautfarbe bzw. Rasse eines Politikers, bewusst oder unbewusst (z. B. in puncto unbewusster Rassismus)90 als Einflussfaktor bei der Entscheidung des Wählers spielen. Beispielhaft ist der Nixon-Fall, wo der Präsidentschaftskandidat Richard Nixon bei einem Fernsehen-Duell auf eigenen Wunsch hin auf die Dienstleistung von Mas­ kenbildnern verzichtete und nach Meinung vieler Experten auch aus diesem Grund die Wahl verlor.91 Außerdem ist Zweck des AGG der Schutz von Bürgern, die aufgrund ihrer ethnischen Herkunft oder ihres äußeren Erschei­ nungsbildes, z. B. ihrer Hautfarbe, benachteiligt werden.92 Bei der im vori­ gen Abschnitt angedeuteten Studie haben Caruso et al. dieses Untersu­ chungsmuster auf dem Kopf gestellt und untersucht, nicht ob die Hautfarbe eines Politikers Wirkung auf unsere Meinung hat, sondern umgekehrt ob die politische Gesinnung bzw. Parteizugehörigkeit unsere visuelle Wahrneh­ mung beeinflusst.93 Den Probanden wurden u. a. drei Bilder eines gemischt­ rassigen Politikers (Barack Obama)94 gegeben; sie wurden anschließend gebeten, dasjenige Bild zu wählen, das sie für repräsentativ (naturgetreu) hielten. Dabei handelte es sich um ein naturalistisches und zwei nachgear­ beiteten Bilder (ein abgedunkeltes und ein aufgehelltes), sodass die abgebil­ dete Person bei einer Darstellung einen etwas helleren, bei der anderen einen dunkleren Hautfarbton hatte. Das Ergebnis war überraschend. Die Sympa­ thisanten des Kandidaten (Demokraten) hielten zu einem großen Teil (d. i. Bennett / Hacker (2010), S. 547–548. (2009); für einen kurzen Bericht siehe „Die Presse“, Printausgabe von 24.11.2009. 90  Mehr dazu siehe Kawakami / Dunn / Karmali / Dovidio (2009), S. 276 ff. 91  Mehr dazu: Christian Schicha, Alles nur Theater? Zum Medienspektakel bei Politikerauftritten. Im Internet abrufbar unter http: /  / www.ikoe.de / Politike.htm. Zu­ letzt abgerufen am 18.06.2013. 92  AGG ist eine Abkürzung von „Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz“. Siehe Art. 1 AGG; Zum Thema Hautfarbe als Anknüpfungspunkt: Däubler, in: Däubler /  Ambrosius / Bertzbach (2008) § 1 Rn. 35. 93  Caruso / Mead / Balcetis (2008), S. 20168 ff. 94  Der Vater des 44. US-amerikanischen Präsidenten ist farbig und seine Mutter weiß. 88  Vgl.

89  Caruso / Mead / Balcetis

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Teil 1: Der Mythos des Gegebenen

auf eine signifikante Weise) die leicht aufgehellten und seine politischen Gegner (Republikaner) die dunkleren Bilder für repräsentativ.95 Der Schluss liegt folglich auf der Hand: Politische Zugehörigkeit beein­ flusst die visuelle Repräsentationen eines Menschen, dessen Hautfarbe nicht eindeutig schwarz bzw. weiß ist. Pointiert: Ein gemischtfarbiger Politiker braucht also nicht seine Hautfarbe zu manipulieren, gerade weil dies seine politischen Anhänger und Gegner selbst tun: „partisans not only ‚darken‘ those with whom they disagree, but also ‚lighten‘ those with whom they agree“.96 Diese Studie vermag also die naive Vorstellung zu leugnen, der zufolge physikalische Sachverhalte, wie beispielsweise die Hautfarbe einer Person (die angeblich der unmittelbaren Beobachtung zugänglich sei) bloß wahr­ genommen werde. Arthur Kaufmann stellt in Bezug auf das Thema der rich­ terlichen Unabhängigkeit die heikle Frage, ob die Welt, in welcher der Rich­ ter lebt und zwar die gesellschaftliche, ökonomische, religiöse und kultu­relle Atmosphäre, die ihn umgibt, keinen Einfluß auf sein Denken, Meinen oder Weltanschauung habe.97 Dass es sich dabei um eine rhetorische Frage han­ delt, ergibt sich aus der Antwort Kaufmanns, der die Richtigkeit eines richterlichen Urteils davon abhängig macht, dass der Richter seine eigene Person erst einmal richtig begreifen kann.98 Anhand dieser Studie möchte ich die (rhetorische) Frage Kaufmanns um Einiges erweitern: Die Faktoren, die der Autor erwähnt, beeinflussen nicht nur die Weltanschauung des Rich­ ters, sondern bereits seine kognitiven Funktionen. Im Gegensatz zu einer weit verbreiteten Auffassung in der juristischen Literatur ist das Augen­ scheinsobjekt für alle Beobachter nicht gleich.99 Um mit Oscar Wilde zu sprechen: „the true mystery of the world is the visible, not the invisible“.100 Die Frage, die sich nun aufdrängt, lautet: Wie kommt denn die ‚Manipula­ tion‘ der wahrgenommenen Objekten zustande? Um dies zu beantworten, erscheint ein kurzer Exkurs in den Bereich der Neurophysiologie erforder­ lich.

II. Das menschliche Wahrnehmen So besorgniserregend es sein mag, dass aus einem epochemachenden Film wie Starwars eine Religion (Jediismus) mit zahlreichen Anhängern 95  Caruso / Mead / Balcetis

(2008), S. 20170 f. (2008), S. 20170. 97  Kaufmann (1975), S. 295. 98  Kaufmann (1975), S. 307. 99  Vgl. Janke (2009), S. 83 m. w. N. 100  Wilde (2011), Kap. 2, S. 29. 96  Caruso / Mead / Balcetis



D. Das Aus(t)räumen eines ‚Mythos‘49

entsprang,101 sollte man dennoch die Weisheit Meister Yodas’102 nicht ohne weiteres in Zweifel ziehen. Im folgenden Abschnitt wird einer seiner be­ rühmtesten Sprüche: Du darfst niemals vergessen: Deine Wahrnehmung bestimmt deine Realität

unter die Lupe genommen. Es wird darauf eingegangen, welche Gründe diese Behauptung untermauern können und was für Probleme und Konse­ quenzen der sie ablehnende naive Realismus mit sich bringt. Denn die Be­ funde der Neurophysiologie haben die von unserem Common Sense ge­ stützte These längst entschärft, dass menschliche Wahrnehmung – ähnlich wie ein Fotoapparat – spiegelbildlich naturgetreue Informationen über die Umwelt liefert.103 Es wird hier die These vertreten, dass es sich dabei nicht um Bildübertragung bzw. naturgetreue Informationen, denen das Subjekt angeblich passiv ausgesetzt ist, handelt; es geht außerdem nicht einmal um Informationen i. e. S., sondern um Daten.104 Denn Wahrnehmung ist kein passiver Vorgang, der bloß geschieht, sondern ein dynamischer Prozess: eine begrifflich artikulierte phänomenale Erfahrung; ein Angleichungsvor­ gang zwischen einströmenden Daten und schon bestehenden kognitiven Rahmenbedingungen. Darauf werde ich später eingehen. Die Physiologie der Wahrnehmung hat gegen die Annahme, die aus der Mühelosigkeit des Zustandekommens unserer Beobachtungen auf ihre Ein­ fachheit bzw. Unkompliziertheit schließt, große Zweifel laut werden lassen. Wir wissen heute, dass z.B bei der visuellen Wahrnehmung das Licht die Linse und den Glaskörper durchquert und auf die Netzhaut an der Rücksei­ te des Auges fällt.105 Doch in diesem Punkt, wobei das Auge als ein ge­ wöhnliches optisches Instrument begriffen wird, enden die Gemeinsamkeiten 101  Siehe

im Internet unter www.jedichurch.org. Zuletzt abgerufen am 01.10.2014. ist eine künstliche Figur aus dem Film „Star Wars“ (Meister des Alten Jedi-Ordens und führendes Mitglied im Hohen Rat der Jedi). 103  Nur in pathologischen Fällen, wenn höhere Hirnfunktionen gestört sind, kommt es gelegentlich zu dem Phänomen der „eidetischen Wahrnehmung“, nämlich einer nahezu fotografischen Erfassung komplexer visueller Szenen. Mehr dazu: Singer (2002), S. 80. 104  Da der Begriff der Information systematisch mehrdeutig und interdisziplinär ist, scheint hier eine terminologische Bemerkung geboten zu sein und zwar, dass Informationen von bloßen Daten durch ihren Sinngehalt zu unterscheiden sind. Von Sinn-vollen Informationen kann nämlich die Rede nur dann sein, wenn bedeutungs­ neutralen Daten in einem bestimmten Kontext eine inhaltliche Bedeutung zugemes­ sen wird und daher kann Information i. e. S. nur durch menschliche Interpretation von Daten entstehen. Da es Sinnesreizen, worauf unsere Sinnesrezeptoren reagieren, an semantischem und pragmatischem Zusammenhang mangelt, ist nun die Rede von Daten und erst in einer späteren Phase von Informationen i. e. S.; mehr dazu Jendrian / Weinmann (2010), S. 108; Dettmann (1999), S. 123 m. w. N. 105  Ausführlich dazu Anderson (2007), S. 50. 102  Yoda

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Teil 1: Der Mythos des Gegebenen

mit einem Fotoapparat. Im Gegenteil ist der Wahrnehmungsprozess als Resultat einer Vielzahl von Prozessen der Informationsverarbeitung, -selek­ tion usw., die in Bruchteilen von Sekunden automatisch und unbewusst ablaufen, äußerst komplex.106 1. Funktionalität des Wahrnehmens Zunächst kann man davon ausgehen, dass unsere Sinnesorgane und Hand­ lungsmöglichkeiten sich über Millionen Jahre, als Ergebnis eines evolutio­ nären Prozesses, durch zufällige Mutationen und Wettbewerb so entwickelt haben, dass primär ein Überleben in der jeweiligen ökologischen Nische möglich ist.107 Das legt den Schluss nahe, dass unser Wahrnehmen nicht daraufhin optimiert wurde, eine möglichst objektive Beurteilung der Welt zu liefern, sondern dem Überleben in einer komplexen Welt zu dienen.108 Die Wahrnehmungsergebnisse müssen dementsprechend funktional korrekt sein und diejenigen Informationen übermitteln, die für das Handeln signifikant sind, sodass unser Wahrnehmen nicht mehr als zweckfrei angesehen werden kann und stets auf eine Finalität hinweist.109 2. Die Selektivität unseres Wahrnehmens Durch künstliche Sensoren wissen wir, dass es ‚da draußen‘ mehr gibt, als wir wahrzunehmen in der Lage sind.110 Einer verbreiteten Auffassung zufolge ist dieses Phänomen auf unsere Endlichkeit als menschliche Wesen zurückzuführen. Mit dieser – metaphysisch behafteten – These lässt sich aber nicht besonders viel anfangen. Entscheidend sind hingegen dabei die jeweiligen ‚Möglichkeiten‘ der vorhandenen Wahrnehmungsorgane bzw. ihrer Rezeptoren111, die auf ein gewisses Biotop hin optimiert wurden. Beispielsweise benutzt Sehen das Licht als Trägerprozess und zwar einen kleinen Bruchteil der elektromagnetischen Strahlung, die einen breiten Be­ reich von ultra-kurzen γ-Strahlen (10–14 m) bis zu langwelligen Wechsel­ spannungsfeldern (Radiowellen = 108 m) umfasst. Der für uns sichtbare Teil liegt zwischen ultravioletten und infraroten Strahlen und umfasst nur einen kleinen Bereich dieser Wellenlängen zwischen etwa 380 nm bis 106  Siehe hierzu Becker-Carus (2004), S.  231 ff.; Knill / Kirsten / Yuille (2008), S. 1–21. 107  Guski (1996), S. 5 f.; Singer (2002), S. 78 f. 108  Singer (2002), S. 78. 109  Guski (1996), S. 5; Goldstein, S. 10. 110  Singer (2002), S. 34 ff. 111  Becker-Carus (2004), S. 89.



D. Das Aus(t)räumen eines ‚Mythos‘51

760 nm.112 Darauf hat in aller Deutlichkeit Nietzsche hingewiesen: „Wir sind in unserem Netze. Wir spinnen, und was wir auch dann fangen, wir können gar Nichts fangen, als was sich eben in unserem Netze fangen lässt“.113 Der fragmentarische Charakter unseres Wahrnehmens vermag al­ lerdings von alleine den aktiven Beitrag, den jeder Beobachter leistet, nicht wahrscheinlicher werden zu lassen. 3. Das Flaschenhals-Modell Der oben erwähnte aktive Beitrag des Beobachters lässt sich erst anhand des sogenannten Flaschenhals-Modells verdeutlichen. Psychologen haben diesbezüglich die These aufgestellt, dass es Engpässe (serial bottle-necks) bei der menschlichen Informationsverarbeitung gibt, wobei unsere kognitiven Prozesse selektieren müssen, welchen Teilinformationen Aufmerksamkeit ge­ widmet wird und welche ignoriert werden, gerade weil es schlichtweg unmög­ lich wäre, alle Sinnesreize parallel zu verarbeiten.114 Eine Hauptaufgabe bei der Informationsverarbeitung ist nämlich eine drastische Reduktion der in die kognitiven Systeme einfließenden Daten. In der juristischen Literatur ist be­ reits darauf hingewiesen worden,115 dass unser Nervensystem trotz der schier unvorstellbar großen Zahl von ca. 13 Milliarden Hirnzellen augenblicklich zusammenbrechen würde, wenn wir die Gesamtzahl der Sinnesreize auch be­ wusst wahrnähmen und sie verarbeiten müssten. Mit der Entstehung des Fla­ schenhalses wird also der von außen über die Sinnesorgane einfließende In­ formationsstrom (109 Bit / Sek) durch unbewusste Auswahl und Verarbeitung zunächst auf ein Millionstel der Menge (102 Bit / Sek) reduziert und dann durch Assoziationsvorgänge und Resonanz mit gehirneigenen Informationen erneut aufgestockt (107 Bit / Sek.).116 Dadurch werden die ankommenden ex­ ternen Daten erst einmal von irrelevantem Ballast entkleidet und dann durch im Gehirn vorhandene Informationen (unbewusst) ‚personalisiert‘, sodass ­neben den physiologischen auch kognitive Verarbeitungsprozesse in die Wahr­ 112  Guski

(2006), S. 60 f.; Goldstein S. 42; Kargl (1991), S.  59 ff. (1980), 110. 114  Anderson (2007), S. 90 f. 115  Bender / Nack / Treuer (2007), Rn. 21. 116  Vgl. etwa Becker-Carus (2004), S. 231: „Die maximale Informationsmenge aus den Rezeptoren der Sinnesorgane wird denn fast im Verhältnis 1:107 bis zum momentanen Bewusstseinsinhalt eingeschränkt, wobei diese Einschränkung und Ab­ straktion des Wesentlichen vornehmlich durch zwei Prozesse erfolgt: die selektive Aufmerksamkeit und die Invariantenbildung“. Aus der Kybernetik stammt zunächst der heute allgemein akzeptierte Ansatz, die Informationsmenge in Bit (von Binary Digit) zu messen, wobei 1 Bit die kleinste Informationsmenge ist. Für das Phäno­ men der selektiven Wahrnehmung siehe Singer (2002), S. 78–80. 113  Nietzsche

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Teil 1: Der Mythos des Gegebenen

nehmung mit eingehen.117 Das ins Bewusstsein gelangende Ergebnis des Wahrnehmens kann also eher als eine Konstruktion118 angesehen werden, eine Schöpfung des Gehirns, die darauf abzielt, aus einer abnormen Reizüberflu­ tung einen Sinn zu errechnen. Die Frage, die sich aufdrängt, lautet: Wie kommt eigentlich diese Konstruktion zustande? Wie ist es physiologisch über­ haupt möglich, dass ‚die Welt da draußen‘ in unseren Kopf hereinkommt?119 4. Näheres zum neuronalen Prozess Die sogenannten Nahreize (proximale Reize), die an den Rezeptorenober­ flächen eintreffen, enthalten keine bedeutungsvollen und verlässlichen Infor­ mationen über die Umwelt und ihre Objekte (Fernreize).120 Die Reizmuster, auf die unsere Sinnesrezeptoren reagieren, werden dann aufgenommen und durch einen photochemischen Prozess erst einmal in bioelektrische Signale (Transduktion) und dann in den Neuronen in Nervenimpulse (Spikes) umge­ wandelt.121 Bei dieser elektrischen Signalform handelt es sich um die einheit­ liche ‚Sprache‘ des Gehirns, die ermöglicht, dass die verschiedenen Sinnes­ systeme und die Verarbeitungsbahnen innerhalb desselben Systems unterein­ ander Signale ‚austauschen‘ und ‚verarbeiten‘ können.122 So wird die Kom­ plexität der wahrgenommenen Reize vernichtet und in Millionen von elektrischen Erregungen atomisiert. Durch diese Neutralisierung werden die Reize in neuronale Signale übersetzt und durch Neurotransmitter übermittelt, damit die verschiedenen Sinnessysteme und die Verarbeitungsbahnen inner­ halb desselben Sinnessystems untereinander Signale austauschen und verar­ beiten können, wobei die Reize ihre besondere Eigenart verlieren und keine Farbe, keine Gestalt und vor allem keinen sozialen Sinn haben.123 Bereits einer einfachen Farbwahrnehmung liegen also komplexe Verarbeitungspro­ zesse in den Nervenzellen-Netzwerken zugrunde, die den Sinnesrezeptoren nachgeschaltet sind.124 117  Becker-Carus

(2004), S. 88. den Radikalen Konstruktivismus anbelangt, möchte ich hier nur folgen­ des anmerken: Radikaler Konstruktivismus ist ja eine empirisch fundierte Theorie und steht vor der schwierigen Aufgabe, die Belege der Neurowissenschaften gleich­ zeitig realistisch und antirealistisch zu interpretieren. Ein wissenschaftlicher Ansatz wie der Radikale Konstruktivismus ist demnach gezwungen zu sein, die Existenz des empirischen Wissens, woraus er selbst entspringt, zu bezweifeln; ausf. dazu Dettmann (1999) S. 189 f. 119  Carus-Becker (2004), S. 88. 120  Roth (1994), S. 19. 121  Goldstein (2001), S. 10. 122  Brülisauer (2008), S. 236 f. 123  Brülisauer (2008), S. 236 f. 124  Brülisauer (2008), S. 237. 118  Was



D. Das Aus(t)räumen eines ‚Mythos‘53

Da die in den elektrischen Erregungszuständen enkodierte Botschaft der von der Außenwelt kommenden Reize keine spezifischen Qualitäten enthält, ist die physikalische Ursache – das im naiven Sinne des Wortes wahrge­ nommene Objekt – nicht darin enthalten.125 Der Übergang von den Reizen der Umwelt zu den subjektiv erlebten Wahrnehmungszuständen des Gehirns stellt also einen radikalen Bruch dar, bei welchem die Komplexität der Reize zuerst einmal ‚vernichtet‘ und in Millionen von elektrische Erregun­ gen atomisiert wird.126 Unsere Sinnesrezeptoren wandeln, so Roth, im Prozess der Transduktion die spezifischen Einwirkungen von physikalischen und chemischen Umweltereignissen in Nervenimpulse um, nämlich in die Sprache des Gehirns, wobei sie modalitätsspezifisch nicht voneinander zu unterscheiden sind – was von den Neurowissenschaftlern das Prinzip der „Neutralität des Neuronalen Codes“ genannt wird.127 Diese neuronale Ein­ heitssprache besteht aus elektrischen Impulsen, die man nach jeder elektri­ schen Entladung als ein ‚Klick-Geräusch‘ vernehmen kann, da die Signale, die dem Gehirn zugefügt werden, keinerlei Informationen wie blau, heiß, lecker, hell usw. geben, sondern nur ein ‚Klick-Klick‘ Geräusch erzeugt wird, was wiederum für das Gehirn bedeutungsneutral ist.128 Qualitäten wie Helligkeit, Farbe, Töne, Düfte usw. werden als in der Evolution entstandene Sprachelemente der Sinnessysteme angesehen.129 Es ist demzufolge nicht der Nahreiz, sondern der getroffene Nerv für die Qualität der Wahrnehmung entscheidend.130 Würde man in die Nähe einer Nervenfaser eine Mikroson­ de anbringen, dann könnte man nach jeder elektrischen Entladung ein ‚Klick‘-Geräusch vernehmen. Bei einer starken Erregung würde man eine schnellere Folge von ‚Klick-Klick‘-Geräuschen hören.131 Neuronen sind in eine (Salzwasser-)Lösung eingebettet, die reich an elek­ trisch geladenen Molekülen (Ionen) ist, die wiederum erst dann entstehen, wenn Moleküle Elektronen dazugewinnen oder verlieren.132 Ein Nervenim­ 125  Hanisch

(2009), S. 45–47. (2008), S. 237. 127  Roth (1994), S. 228. 128  Hanisch, (2009), S. 45 ff.; Guski (1996) S. 7; aus der juristischen Literatur Kargl (2001), S. 51 ff. 129  Brülisauer (2008), S. 237 f. 130  Guski (1996), S. 7. 131  Es wird berichtet, dass es möglich sei, mit feinsten Mikropipetten in das In­ nere einzelner Nervenfasern zu dringen und über elektrische Verstärker, die von einem nach Art und Größe bestimmten Reiz verursachte Erregung eines Neurons quantitativ zu bestimmen; eingehend dazu bei Brülisauer (2008). 132  Ein Neuron ist eine Zelle, die elektrische Aktivität akkumuliert und weiterlei­ tet. Das Gehirn selbst enthält etwa 10 Milliarden Neuronen, von denen jedes einzel­ ne etwa die Verarbeitungskapazität eines kleinen Computers hat. Im Inneren des Neurons gibt es einen Überschuss an negativen Ladungen gegenüber seinem Äuße­ 126  Brülisauer

54

Teil 1: Der Mythos des Gegebenen

puls wird nun durch das Einströmen von Natrium in die Faser und das Ausströmen von Kalium aus der Faser verursacht.133 Auslöser dieser Ströme sind Veränderungen der Permeabilität der Faser für Natrium und Kalium – unter Permeabilität ist die Durchlässigkeit der Membran für Moleküle zu verstehen. Bevor der Nervenimpuls auftritt, ist die Permeabilität der Mem­ bran für Natrium und Kalium gering; der Nervenimpuls setzt ein, wenn die Membran schlagartig für Natrium durchlässig wird, sodass diese Ionen in die Faser einströmen. Diese Schwelle (sie hält eine tausendstel Sekunde lang an) in der Faser erzeugt den Nervenimpuls, wobei die Anzahl von Nervenimpulsen, die pro Sekunde durch eine Nervenfaser laufen können (d. h. die das Axon pro Sekunde überträgt) die sogenannte Impulsfrequenz ist. Die Erregungszustände einer Nervenzelle können zwar die Intensität (rate of firing) kodieren; sie enthalten aber keine Information über die Natur der Erregungszustände.134 5. Top-down- und Bottom-up-Prozesse Die wahrgenommene Wirklichkeit wird also von unseren kognitiven Appa­ raten (re)konstruiert. Subjektive Faktoren, die man unter dem Namen kogni­ tive Rahmenbedingungen (contextual factors) auf einen gemeinsamen Nen­ ner bringen kann,135 wie z. B. Geschlecht,136 Rasse,137 Alter,138 Herkunfts­re­ gion,139 schulische Ausbildung bzw. juristische Fakultät, wo die Richter stu­ diert haben,140, politische / ideologische Variablen,141 Berufserfahrung,142 ren, der sich als –70 mV ausdrücken läßt. Die negative Ladung im Inneren des Neurons nennt man das Ruhepotential des Neurons, weil das Neuron diese Ladung hat, wenn es inaktiv ist. Mehr dazu Anderson (2007) S. 18. 133  Brülisauer (2008), S. 237. 134  Brülisauer (2008), S. 237 f. 135  So van Fraassen, (1980); die Rede ist auch von „Störfaktoren“, vgl. Freund (1987), S. 29 f. Ich finde die Wortwahl unpassend, da die kognitiven Rahmenbedin­ gungen das Wahrnehmen eben ermöglichen. „Gestört werden“ kann etwas, das es schon gibt, und eigentlich hätte nicht „gestört“ werden sollen. Wie Freund selbst ausführt, ist nicht nur die schlichte Wahrnehmung davon (von den „Störfaktoren“) abhängig, sondern auch ihre gedankliche Verarbeitung bis hin zur persönlichen Sicht der Dinge ist durch spezifische Besonderheiten einer Person mitbedingt. 136  Siehe u. a. Guthrie / Rachlinski / Wistrich (2007); Sisk / Heise / Morris (1998), 1451 f. 137  Sisk / Heise / Morris (1998), S. 1454 f. 138  Sisk / Heise / Morris (1998), S. 1459 f. 139  Sisk / Heise / Morris (1998), S. 1460 f. 140  Sisk / Heise / Morris (1998), S. 1463 f. 141  Sisk / Heise / Morris (1998), S. 1465 f. 142  Sisk / Heise / Morris (1998), S. 1470 f.



D. Das Aus(t)räumen eines ‚Mythos‘55

exo­gene Parameter wie der sog. Panel-Effekt,143 Erfahrung, usw., sind dieje­ nigen Parameter, die unser Wahrnehmen nicht nur beeinflussen, sondern erst einmal ermöglichen, indem aus dem einfließenden Datenstrom anhand der bestehenden kognitiven Parameter bedeutungsneutrale elektrische Erregun­ gen in sinnvolle Informationen transformiert werden. Ohne diese wäre unser Bild der Realität nicht einfach anders, sondern es hätte zunächst einmal nicht zustande kommen können. Beispielsweise wäre es ohne Vorwissen darüber, wie die Welt konstruiert ist bzw. nach welchen Kriterien Szenen zweckmäßi­ gerweise zu segmentieren sind, unmöglich, aus den zweidimensionalen Hel­ ligkeitsverteilungen, auf welche die Sehwelt in unseren Augen reduziert wird, irgendwelche Figuren zu extrahieren.144 Die kognitiven Einflüsse auf die Wahrnehmung bezeichnet man, im Unterschied zu Bottom-up-Prozessen, wo nur Reizmerkmale analysiert und verarbeitet werden, als Top-down-Prozesse. Zusätzlich zu den Reizinformationen, die uns über die Außenwelt informie­ ren (Bottom-up-Prozess) werden bei der Kognition auch Informationen höhe­ rer Verarbeitungsebenen, also Informationen ‚von oben‘ eingesetzt.145

III. Begriffsanwendung statt Wahr-Nehmung Der Exkurs in die mysteriöse Welt der Neurophysiologie läuft nun parallel mit der philosophischen Debatte, in welcher nicht mehr ernsthaft vertreten wird, dass es eine für alle Menschen gemeinsame Wahrnehmungs- bzw. Er­ fahrungsbasis oder eine theorieunabhängige Beobachtungssprache146 geben könnte. Die Grammatik, auf welcher diese Wahrnehmungsbasis beruht, näm­ 143  Sunstein / Schkade / Ellmann

(2004), S. 334 ff. (S. 337 ff.). (2002), S. 87; vgl. nur das Standard-Werk in der juristischen Literatur: Bender / Nack / Treuer (2007), Rn.  18 ff. 145  Dazu Anderson (2007); Guski (1996). 146  Monographisch dazu Adam (2002), S. 66; diese Unterscheidung geht auf die sog. Zwei-Schichten-Theorie zurück, die u. a. Rudolf Carnap vertreten und entwi­ ckelt hat (siehe Carnap (1958) und (1966); zur Einführung siehe Brülisauer (2008), S. 71 ff.) und derzufolge unser Vokabular in zwei Teile zerfällt: theoretische Ausdrü­ cke werden traditionellerweise Beobachtungssätzen gegenübergestellt. Demzufolge umfasst das theoretische Vokabular Prädikate für Eigenschaften von nicht beobacht­ baren Gegenständen (z. B. Radioaktivität) während Begriffe wie ‚schwarz‘, ‚Toma­ te‘, usw. als Beobachtungsbegriffe angesehen werden. Entsprechend ist die Rede von Beobachtungs- und theoretischem Vokabular. Die Beobachtungssprache, so Carnap (1958, S. 236), enthält nur eine elementare Logik und Sätze wie ‚dieses Ding ist hart / weiß / kalt‘ oder, wie man in Bezug auf die vorigen Ausführungen hinzufügen könnte, ‚diese Hautfarbe ist schwarz‘ bzw. ‚aus diesen drei Bildern halte ich die erste für repräsentativ‘. Der Ansatz konnte wie es einleuchtet der gegen ihn laut gewordenen Kritik nicht standhalten, da es erstens keine eindeutigen Kriterien gibt, wo wir die Trennlinie zwischen beobachtbaren und bloß theoretisch postulierten Dingen ziehen sollen und da zweitens alles andere als klar war, wie wir innerhalb 144  Singer

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Teil 1: Der Mythos des Gegebenen

lich die ‚natürliche‘ Zweiteilung unseres Vokabulars in theoretische (d. h. er­ läuterungsbedürftige) und empirische (d. h. selbsterläuternde) Sprache, ist nicht mehr haltbar. Umstritten ist freilich, ob die Theoriebeladenheit bzw. Theorieabhängigkeit unserer Wahrnehmungen stark oder schwach ist.147 Viele Philosophen sind nun der Meinung, dass jemand, der nicht weiß, was Milch oder ein Kühlschrank ist – d. h. jemand, der nicht über die ent­ sprechenden Begriffe verfügt – so lange er auch auf das Objekt starrt, es nie sehen kann. Die Wahrnehmung von A resultiert nicht in der Überzeu­ gung, dass A.148 In diesem Sinne war z. B. Wilhelm C. Röntgen der erste, der die nach ihm benannte „grüne Strahlung“ als begrifflich artikulierte Erfahrung gesehen hat, obwohl mehrere Forscher davon berichtet hatten, just weil er über die entsprechenden Begriffe verfügte.149 Darüber hinaus kann man auf einem Röntgenbild nicht ein Karzinom ‚entdecken‘, solange man nicht über den Begriff des Karzinoms verfügt. Ein Laie hat höchstens die Überzeugung, dass er irgendetwas sieht, aber nicht, dass es sich dabei um eine im Bewusstsein aufkommende Repräsentation als Informationsträ­ ger handelt. Ähnlich kann jemand nicht nach dem Nordpol suchen, solange man nicht weiß, was ein Pol ist: man läuft das Risiko, ein wie Winnie Puuh zu einer Expedition nach dem Ostpol aufzubrechen.150 Im Anschluss an zuvor angestellte Überlegungen kann man auf den „Mythos des Gegebenen“, der eine Spielart des Erkenntnis-Fundamentalismus ist, eingehen. Dafür sollte man den geistigen Vater dieser Bezeichnung, Wilfrid Sellars zum Wort kommen lassen: „To reject the Myth of the Given is to re­ ject the idea that the categorial structure of the world – if it has a categorial structure – imposes itself on the mind as a seal imposes itself on melted wax“.151 Diesbezüglich bemerkt Willaschek, dass der Inhalt gewöhnlicher Wahrnehmungen, zumindest wie erwachsene Menschen sie machen, weder rein begrifflich (top-down) noch völlig begriffsunabhängig (bottom-up) ist. Dabei handle es sich um eine Verbindung aus begrifflichen und phänomena­ len Elementen.152 Wahrnehmungen ohne Begriffe – das wissen wir spätestens seit Kant – sind blind, genauso wie Gedanken ohne Inhalt leer sind.153 Bei des Bereichs des Beobachtbaren „direkt“ und „indirekt beobachtbare Dinge“ unter­ scheiden könnten (Brülisauer (2008), S. 71 f.); vgl. Schlapp (1988), S. 82 ff. 147  Adam (2002), S. 66. 148  So Willaschek (2003), S. 266; Dettmann (1999), S. 135–137. 149  Dazu bereits Schlapp (1989), 17 f. 150  Bennett / Hacker (2010), S. 541 ff. 151  Sellars (1981), I § 45, S. 11 f. 152  Willaschek (2003), S. 278; Van Fraassen (1980), S. 14. 153  Kant AA IV: „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.“



D. Das Aus(t)räumen eines ‚Mythos‘57

dem menschlichen Wahrnehmen geht es also um einen Fall von Begriffsanwendung, wobei die Begriffe nicht aus einem für alle gemeinsamen BegriffsPool herausgenommen werden. Denn Begriffe sind ein kulturrelatives Pro­ dukt unseres Denkens. Das vermag m. E. zu erklären, aus welchem Grund das Konzept eines begriffs- bzw. kulturunabhängigen epistemischen Zugangs zur Wirklichkeit sinnlos wäre.154 Man kann hier ein Paar Beispiele anführen: Angehörige von Völkern, die mit zweidimensionalen Abbildungen von drei­ dimensionalen Gegenständen nicht vertraut sind, können die symbolisierten Tiefverhältnisse kaum erkennen; es ist auch wohl bekannt, dass u. a. ostasia­ tische Völker den akustischen Unterschied zwischen L und R nicht hören,155 da in ihren kognitiven Systemen die entsprechenden Strukturen (Neurosynap­ sen) nicht daraufhin optimiert worden sind. Ein letztes Beispiel dafür sind Pygmäen bzw. Einwohner dichter tropischer Urwälder Afrikas, die nicht über den Begriff Horizont und die entsprechende Erkenntnis verfügen, dass eben Objekte desto kleiner aussehen, je weiter weg sie sind.156 Wahrnehmen ohne Erkennen, so lässt die oben beschriebene These zu­ sammenfassen, kann nicht stattfinden.157 Man kann also erst dann begreifen, was man wahrnimmt, wenn man das Wahrgenommene in Aussagen mit Hilfe von Begriffen beschreiben kann158 und das je nach der Komplexität seiner die Kognition ermöglichenden Sprache. Die Begriffsabhängigkeit der Wahrnehmung lässt nun keinen unmittelbaren und kulturunabhängigen Zu­ gang zur Wirklichkeit zu.159 Die entgegengesetzte These, der zufolge einige Wahrnehmungsinhalte nicht begrifflich (theoriebeladen) artikuliert sind und daher eine gemeinsame Wahrnehmungsbasis ermöglichen, bringt die Konse­ quenz mit sich, dass uns in der Wahrnehmung etwas direkt ‚gegeben‘ ist, das man wahrnehmen könne, ohne über die entsprechenden Begriffe zu verfügen. Ausgerechnet diese Konsequenz haben Quine (Two Dogmas of Empiricism, 1951) als zweites Dogma des Empirismus und Sellars (Empi­ ricism and the Philosophy of Mind, 1956) als Mythos des Gegebenen (Myth of the given) heftig kritisiert. Stellt uns jemand die für manche provokative Frage: „Is There a Problem about Perception and Knowledge?“,160 so lautet die Antwort „Nein“, aber nur, solange man die oben dargestellten Resultate, 154  Willaschek (2003), S. 284; dieser These stimmt der sog. Feigenblattrealismus zu, demzufolge irgendetwas von uns unabhängig existiert, nicht aber etwas Be­ stimmtes, durch Theorien Beschreibbares. Mehr dazu Dettmann (1999), S. 224. 155  Guski (1996), S. 6. 156  Turnbull (1962), S. 222 ff.; vgl. auch Gilbert (2008), S. 180 m. w. N. 157  Goldstein (2008), S. 11. 158  Tetens (2006), S. 44. 159  Willaschek (2003), S. 285–287. 160  Dicker (1978), S. 165–176.

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Teil 1: Der Mythos des Gegebenen

ohne unbedingt aus diesem Grund naturalisierte Erkenntnistheorie betreiben zu müssen, nicht außer Acht lässt. Im Lichte dieser Überlegungen lassen sich z. B. die Ausführungen Gössels, demzufolge man die Subjektabhängigkeit makroskopischer Gegenstän­ de in Raum und Zeit keineswegs als erwiesen angesehen werden könne, weder als richtig noch als falsch, sondern als eine unumstrittene These erweisen,161 die uns eigentlich nicht weiter beschäftigen sollte.162 Interes­ sant ist nicht mehr die Frage nach der (Un-)Abhängigkeit der Welt von unserem Geist, sondern die epistemische Zugänglichkeit einer (im kausalen Sinne) denkunabhängigen Wirklichkeit.163 Wir haben bisher gesehen, wie unser Wahrnehmen nicht mit einem Fotoapparat verglichen werden kann. Das ist vor allem deshalb von zentraler Bedeutung, weil die Vorstellung zurückzuweisen, so Sellars, dass sich die kategoriale Struktur der Welt dem Geist so aufprägt, wie ein Siegel einem Stück heißen Wachses ein Bild aufprägt, den „Mythos des Gegebenen“ zurückzuweisen heißt. Darauf wird im nächsten Abschnitt anhand von zwei Einwänden eingegangen.164

E. Erster Einwand: Wilfrid Sellars und der „Mythos des Gegebenen“ Obwohl die dem „Mythos des Gegebenen“ zugrunde liegende Idee sich öfters bei Autoren, die anti-fundamentalistische Kritik üben, findet, ist Wil­ frid Sellars – einem der wichtigsten analytischen Philosophen des zwanzigs­ ten Jahrhunderts – gelungen, die Kritik gegen die „Givenness“ auf den Punkt zu bringen: „Many things have been said to be ‚given‘: contents, material objects, universals, propositions, real connections, first principles, even givenness it self […]. If, however, I begin my argument with an attack on sense datum theories, it is only as a first step in a general critique of the entire framework of givenness.“165 Die Grundidee des „Mythos des Gege­ benen“ besteht also darin, dass es sog. basale Meinungen gibt. Hauptmerk­ mal dieser basalen Meinungen ist ihr positiver epistemischer Status, der nicht auf andere Meinungen zurückgehe oder durch sie gerechtfertigt wer­ den könne, sondern durch unmittelbar beobachtete und selbsterläuternde 161  Gössel (2000), S. 10; dabei handelt es sich um die so genannte „primitive realistische Intuition“, derzufolge die Welt objektiv ist und zwar in dem Sinne, dass die Dinge sind, wie sie sind, unabhängig davon, was wir von ihnen glauben. Aus­ führlich dazu Williams (1996), S. 144 f. 162  Vgl. Hassemer (1990), S. 83. 163  Willaschek (2003), S. 1, S. 207 f., insb. S. 266 ff. 164  Sellars (1981), S. 3–90. 165  Sellars (1997); zitiert nach Seide (2011), S. 45.



E. Erster Einwand: Wilfrid Sellars und der „Mythos des Gegebenen“ 59

Sachverhalte oder direktes Begreifen entstehe. Diese Sachverhalte seien insofern selbsterläuternd, da sie keiner weiteren Rechtfertigung bedürfen.166 Wir können allerdings mit Sellars167 festhalten, dass Wahrnehmungswissen (observational knowledge) als kausale Basis unserer Überzeugungen eine Sache ist, Wahrnehmungswissen als epistemische Basis eine andere.168 Wahrnehmung – verstanden als kausaler Vorgang – bringt zwar phänome­ nale Zustände hervor; diese Sinnesdaten sind jedoch nur die Ursache, nicht der Grund für eine Beobachtung.169 Diese Differenzierung stellt uns also vor folgendes Dilemma. Entweder betrachten wir unsere Beobachtungen (observational knowledge) als Zustände mit semantischem Informationsgehalt und somit als Bausteine unserer epistemischen Praxis, die andere hö­ herstufige Beobachtungen oder Überzeugungen rechtfertigen können, aber zugleich selbst gerechtfertigt werden müssen; oder wir betrachten sie als Zustände mit rein phänomenalem Informationsgehalt, die nicht begrün­ dungsbedürftig aber auch nicht begründungsfähig sind.170 Ausgerechnet dieses Merkmal macht die sog. ‚unmittelbar beobachteten physikalischen Sachverhalte‘ zu ungeeigneten Kandidaten für unsere episte­ mische Praxis. Jeder Versuch, ein Urteil anhand von Beobachtungen mit rein phänomenalem Informationsgehalt zu begründen, sieht sich heftiger Kritik ausgesetzt. Salopp formuliert: Hat ein Tatrichter keine epistemische Pflicht, einen ‚unmittelbar beobachteten Sachverhalt‘ zu begründen – da letzterer angeblich als etwas in der Welt Gegebenes selbsterläuternd wäre – so hat er auch kein epistemisches Recht, diese Beobachtung in seiner Ur­ teilsbegründung zu benutzen. Das Gebäude der Argumentationskette würde somit krachend einstürzen. Demzufolge lohnt es sich, sich vor Augen zu führen, dass die Rechtfertigung bzw. Urteilsbegründung eine epistemische Praxis darstellt. Versucht man, anhand von phänomenalen Erfahrungen eine Überzeugung zu rechtfertigen, so hat man die Konsequenz zu akzeptieren, dass Beobach­ tungen begrifflich artikuliert (theoriebeladen) sind. Geht man hingegen da­ von aus, dass physikalische Sachverhalte, die angeblich der unmittelbaren Beobachtung zugänglich sind, eine gemeinsame und für alle verfügbare Wahrnehmungsbasis schaffen, dann erklärt man auch implizit, dass man diese physikalischen Sachverhalte als für alle Menschen selbstevident an­ sieht und daher als die einzig richtige Beobachtung! Sind nämlich Wahrneh­ mung und Kognition der physikalischen Welt völlig unterworfen, so soll die dazu Seide (2011), S.  47 f. m. w. N. (1963), S. 127 f. 168  Dettmann (1999), S. 137. 169  Willaschek (2003), S. 264. 170  Dettmann (1999), S. 137. 166  Ausführlich 167  Sellars

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Teil 1: Der Mythos des Gegebenen

Rede von einer (einzig) richtigen und von abweichenden falschen Beobach­ tungen sein. Selbst dann könnte man jedoch nicht befriedigend erklären – solange man nicht bereit wäre, einen Kategorienfehler zu begehen – wie Sachverhalte, die der unmittelbaren Beobachtung zugänglich seien und keine propositionale Struktur haben, Überzeugungen, die hingegen eine propositionale Struktur haben, in der Lage zu begründen wären.171 Ins Pro­ zessrechtliche übersetzt: Ein Tatrichter kann nicht einfach auf eine Abbil­ dung verweisen, um sein Urteil zu begründen. Geht er von der Annahme aus, dass dieses Wahrnehmungswissen selbsterläuternd sei, so ist er antifun­ damentalistischer Kritik gegen den Mythos des Gegebenen ausgesetzt.

F. Zweiter Einwand: Die kognitive Intoleranz Es wurde bisher gezeigt, dass es aus systematischen Gründen inkonse­ quent wäre, implizit von einer kausalen Konzeption des Wissens auszuge­ hen, solange man die Begründung eines Urteils für unabdingbaren Teil der gerichtlich-epistemischen Praxis hält. Wie üblich kann man nicht beides haben: einerseits basale Überzeugungen, die selbstevident sind und keine Rechtfertigung benötigen und andererseits mentale Zustände wie z. B. Über­ zeugungen, die argumentativ auf diesen basalen Wahrnehmungen beruhen. Man wird diesbezüglich mit dem Domino-Effekt konfrontiert.172 Aus diesem Grund begehen Autoren, die diese Meinung explizit oder implizit teilen, einen Kategorienfehler, da sie phänomenale Zustände mit einem privilegier­ ten epistemischen Status mit der Rechtfertigungspflicht der Tatrichter in Einklang bringen wollen. Neben den unüberwindlichen Problemen, mit de­ nen diese Herangehensweise konfrontiert wird, wird ihr ein weiterer Ein­ wand hinzugefügt, den ich anhand eines Beispiels aus der gerichtlichen Praxis näher erläutern möchte.

I. Die einzig richtige Beobachtung: „Sehen Sie sich selber an!“ Der US Supreme Court173 hat in einem berühmt gewordenen Urteil zum ersten Mal in seiner Geschichte sog. facta bruta (brute sense impressions) benutzt, um ein Urteil zu begründen; und das, obwohl ein Mitglied (Justice Stevens)174 des Gerichts dissentiert hat (8 zu 1 Entscheidung). Auf der Baumann (2006), S. 210. Baumann (2006), S. 210. 173  Scott v. Harris, 550 US (2007). 174  Scott v. Harris, 550 US (2007), Justice Stevens, Dissenting Opinion. 171  Vgl. 172  Vgl.



F. Zweiter Einwand: Die kognitive Intoleranz61

Webseite des US-Supreme Courts wurde nämlich eine Videoaufnahme aus einer polizeilichen Verfolgung hochgeladen. Sodann hat das Gericht die Adressaten bzw. Leser des Urteils dazu aufgerufen, sich das Video anzuse­ hen, um über den Sachverhalt und seine richtige Beurteilung Einsicht zu gewinnen: We are happy to allow the videotape to speak for itself.175

Das bedeutet praktisch, dass das Gericht (Mehrheit) weder sich dazu verpflichtet gesehen hat, das gefällte Urteil zu begründen noch sich mit der Argumentation Justice Stevens’ auseinanderzusetzen. Das hat nun das USSupreme Court anscheinend im festen Glauben daran getan, dass die Video­ aufzeichnung selbst einen Grund für die Einsicht in ihre Wahrheit liefere und dass jede vernünftige Person, die sich mit diesem Thema und dem Videomaterial auseinandersetzen würde, aus der „einzig möglichen Beob­ achtung“ zu demselben (einzig richtigen) Schluss gelangen würde, wie der US-Supreme Court. So wie es Justice Breyer formuliert hat: „I suggest that the interested reader take advantage of the link in the courts opinion and watch it. Having done so, I do not believe a reasonable jury could, in this instance, find that officer Timothy Scott acted in violation of the Constitution.“176 Warum war es aber – von beweisanalytischen Gesichtspunkten abgese­ hen – maßgebend, ob das, was man letztendlich in dieser Videoaufzeichnung sehen konnte, eindeutig und unmissverständlich sei? Ich werde jetzt versu­ chen, ohne allzu sehr ins Detail zu gehen, das zu beantworten. Der zugrun­ de liegende Sachverhalt war ein sog. „genuine issue of material fact“,177 wo ein Urteil in einem abgekürzten Verfahren und ohne Jury gefällt werden kann (Summary Judgment). „Summary Judgments“178 sind Urteile, die nur dann ohne Beteiligung einer Jury ergehen, wenn Tatsachen zwischen den Parteien nicht strittig sind oder das Vorliegen der von einer Partei vorgetra­ genen Tatsachen in Anbetracht der angebotenen Beweise so unwahrschein­ lich ist, dass (irgend)eine Jury bei angemessener Beweiswürdigung nicht für diese Partei entscheiden würde.179 Summary Judgments setzen m. a. W. eine einzig richtige Beobachtung voraus.

175  Justice

Scalia, Majority Opinion, S. 5. US 2007, Justice Breyer, Concurring Opinion. 177  Scott v. Harris, 550 US 2007, S. 5. 178  Vgl. United States v. Diebold, Inc., 369 U. S. 654, 655 (1962), (per curiam). 179  Einführend dazu Hay (2008), Rn. 194. 176  550

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Teil 1: Der Mythos des Gegebenen

II. „Catch me if you can“ Betrachten wir den diesem Urteil zugrunde liegenden Fall näher. Gegen 23 Uhr auf einer vierspurigen Autobahn eines Vororts von Atlanta hielt die Polizei einen PKW-Fahrer an, um ihn einer Routinekontrolle zu unterzie­ hen. Victor Harris missachtete allerdings das Signal, raste bei der Polizei­ kontrolle davon und flüchtete mit bis zu 90 Meilen pro Stunde. Der Polizist Timothy Scott schloss sich mit seiner Streife der Autojagd an, ohne Details über den Grund der Polizeiverfolgung zu wissen. Er war der Meinung, dass Harris das Leben von anderen Fußgängern und Verkehrsteilnehmern gefähr­ dete und entschloss sich, neun Minuten nachdem die Polizeiverfolgung an­ gefangen hatte, dessen Wagen zu rammen, obwohl er zu einem sog. PITManöver (Precision Intervention Technique) nicht ermächtigt war.180 Als Folge davon verlor Harris die Kontrolle über seinen Wagen und prallte gegen einen Baum, was wiederum zu einer Explosion und seiner schweren Verletzung (Tetraplegie) führte. Harris reichte anschließend eine Klage gegen Scott ein und machte den Anspruch geltend, dass es sich bei der Anwendung von Gewalt um eine unangemessene Festnahme (unreasonable seizure) gemäß dem 4. Zusatzar­ tikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten handelte. In der letzten Instanz hatte der US-Supreme Court u. a. also zu entscheiden, ob der Tennesse v. Garner-Fall als Präzedenz auf diesen Sachverhalt Auswirkung haben soll181 und zwar ob die Anwendung tödlicher Gewalt durch die Tatsache gerecht­ fertigt werden könnte, dass die verfolgte Person eine erhebliche Gefahr für den Polizisten oder andere Personen darstelle. Der US-Supreme Court sah darin tatsächlich einen Präzedenzfall, und gewährte kraft des stare decisis Prinzips Scott als Polizeibeamten die sog. eingeschränkte Immunität (quali­ fied immunity),182 die generell Polizeibeamten vor Rechtsprozessen schützt, es sei denn sie haben zweifellos gegen „clearly established law“ verstoßen. 180  Der Polizist hatte erstens nicht die entsprechende Ausbildung bekommen, um ein PIT-Manöver durchzuführen und zweitens fuhr er nach seiner Einschätzung selbst zu schnell. Vgl. Harris v. Coweta County, 433 F.3d 807 (11th Cir. 2005). 181  Tennessee v. Garner 471 US 1 (1985). 182  Bivens v. Six Unknown Named Agents, 403 U.S. 388 (1971); Siehe auch Harlow v. Fitzgerald, 457 US US 800 (1982), wo „qualified immunity“ so definiert wurde: „[It] is designed to shield government officials from actions, insofar as their conduct does not violate clearly established statutory or constitutional rights of which a reasonable person would have known.“ Darüber hinaus gewährt Art. 8 Abs. 1 Europol-Immunitätsprotokoll den Mitgliedern der Organe und dem Personal Europols Immunität – unbeschadet von Art. 32 Europol-Übereinkommen – von jeg­ licher Gerichtsbarkeit hinsichtlich der von ihnen in Ausübung ihres Amtes vorge­ nommenen mündlichen und schriftlichen Äußerungen sowie ihrer Handlungen; vgl dazu: Günther M. (2006), S.  172 ff., m. w. N.



F. Zweiter Einwand: Die kognitive Intoleranz63

III. Das Video spricht zwar von alleine – Die Frage lautet freilich mit wem! Das Revisionsgericht führte hierbei eine eigene Augenscheineinnahme durch. Es hob das Urteil des Tatgerichts auf und forderte die Adressaten dazu auf, sich selbst die Videoaufzeichnung anzusehen.183 Der Aufforderung des US Supreme Courts („see for yourself“) kamen drei US-amerikanischen Jura-Professoren nach,184 indem Sie eine umfangreiche empirische For­ schung durchführten, bei welcher sie 1350 US-amerikanischen Bürgern mit verschiedenem kulturellem, ideologischem und ethnischem Hintergrund das Video der Verfolgung zeigten. Das Ziel der Untersuchung war es, die Mei­ nung der Probanden unter die Lupe zu nehmen und zwar der Frage nach­ zugehen, ob jeder zu demselben Ergebnis kommen würde, nämlich dass Harris‘ Fahrverhalten eindeutig das Leben anderer Menschen in erheblichem Maße gefährdete. Die Ergebnisse der Untersuchung stellten eigentlich keine Überraschung dar. Die Mehrheit der befragten teilte die Meinung des Ge­ richts. Das Problem bestand aber darin, dass es identifizierbare Menschen­ gruppen gab (also keine einzelnen Individuen), denen zufolge die Sache anders lag. Menschen, die etwa zu Minderheiten gehörten, Afro-amerikaner, Bürger die sich als liberal oder Demokraten kennzeichneten, Kleinverdiener usw. tendierten dazu, den aufgezeichneten Sachverhalt auf eine Art und Weise zu interpretieren, die für den Kläger günstiger war. Die Videoauf­ zeichnung „spricht“ also tatsächlich von alleine.185 Der informationelle Gehalt ihrer Aussagen hängt jedoch davon ab, mit wem sie redet, weil un­ sere Kognition von kognitiven Rahmenbedingungen abhängig ist. Dieses Phänomen thematisieren auch Kahan / Hoffmann / Braman, wobei die Rede von wertgeladener Kognition (value motivated cognition) ist.186 Diese Art von ‚Abhängigkeit‘ missachtet der US-Supreme Court, weil seine eigene Vorgehensweise von der falschen Prämisse ausgeht, dass die Wahrnehmung von ‚p‘ (Besitz phänomenaler Informationen) und der Wahrnehmung, dass ‚p‘, identisch sind.187 Es wurde allerdings gezeigt, dass nicht-propositionale Wahrnehmungen (z. B. die Hautfarbe von Barack Obama) von epistemi­ schen oder doxastischen Phänomenen strikt zu unterscheiden sind. Denn erst im Fall von Informationen, die auf einer Syntax beruhen und unter Begriffe gebracht werden, liegt eine Wahrnehmung mit semantischem Ge­ halt: ‚ein Sehen, dass‘. Anders formuliert: der US-Supreme Court wird zu 183  Zur Problematik der Möglichkeit einer revisionsrichterlichen Inaugenschein­ nahme siehe BGHSt 22 289; 29 22. 184  Kahan / Hoffman / Braman (2009); vgl. Slobogin (2009). 185  Kahan / Hoffman / Braman (2009), S. 903. 186  Kahan / Hoffman / Braman (2009), S. 895. 187  Dettmann (1999), S. 128.

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Teil 1: Der Mythos des Gegebenen

dem Fehlschluss verleitet, dass die kausale Genese einer Überzeugung (hier: die Videoaufzeichnung) mit ihrer Rechtfertigung („see for yourself“) iden­ tisch seien. Die Rechtfertigung und die kausale Genese von Überzeugungen sind allerdings zwei zu unterscheidende Aspekte im Kontext der Analyse von Beobachtungen bzw. Überzeugungen.188 Zusammenfassend: Die Mehrheit der Mitglieder des US-Supreme Courts in Scott v. Harris hätten sich klar machen müssen, dass es sich um einen Gemeinplatz der modernen Philosophie handelt, dass Dinge in abstracto und Videoaufzeichnungen in concreto weder sich selbst beschreiben noch selbst­ erläuternd sind, sondern dass wir sie beschreiben. Denn wir integrieren uns selbst in die Welt in dem Moment, wenn wir sie zu erkennen und zu ver­ stehen versuchen. Indem wir das tun, hängt die jeweilige Beschreibung von unseren kognitiven Rahmenbedingungen, unserem Kulturkreis und unseren pragmatischen Interessen ab.189 Einen Topos der Philosophie außer Acht zu lassen ist bereits ein schwerwiegender Verstoß gegen die gerichtlich-episte­ mische Praxis, vor allem aber dann, wenn man zu Ergebnissen gelangt, mit denen man sich im selben Atemzug implizit zur kognitiven Intoleranz be­ kennt.

IV. Die entscheidungstheoretische Hybris Da die Mehrheit der Richter davon ausging, dass jeder andere zu demsel­ ben Schluss wie sie, gelangen würde bzw. musste, legen Kahan / Hoff­ mann / Braman dem US-Supreme Court einen schweren Vorwurf zur Last, der „entscheidungstheoretische Hybris“ lautet.190 Klar ging es um einen dem Beobachter unmittelbar zugänglichen Sachverhalt (Zeugenaussagen und ihre Glaubwürdigkeit kamen hierbei nicht in Frage), nichtsdestotrotz sind die Richter von einem „naiven Realismus“191 ausgegangen und das, obwohl ausgerechnet ein Mitglied des Gerichts und nicht bloß eine dritte hypothetische Person – die freilich hätte anders denken können – Anlass dazu geben sollte, die „Selbstverständlichkeit“ ihrer Beobachtungen in Zweifel zu ziehen.192 Nach den Autoren der o. g. Studie besteht die Hybris der Mitglieder des US-Supreme Courts in der sog. kognitiven Intoleranz.193 Im folgenden Abschnitt möchte ich zeigen, aus welchen Gründen der naive Dettmann (1999), S. 131. Realismusdebatte, S. 9 ff. 190  Kahan / Hoffman / Braman (2009), S. 842. 191  Naiver oder klassischer Realismus ist eine erkenntnistheoretische Position, der zufolge die Dinge so sind, wie sie uns erscheinen. 192  Kahan / Hoffman / Braman (2009), S. 895. 193  Kahan / Hoffman / Braman (2009), S. 896. 188  So

189  Willaschek,



F. Zweiter Einwand: Die kognitive Intoleranz65

Realismus als das trojanische Pferd der „one right answer“-Theorie angese­ hen werden kann und soll und welche Konsequenzen für die Akzeptanz eines Urteils zu ziehen sind.

V. Zur juristischen Bescheidenheit Der propositionale Gehalt der kognitiven Intoleranz kann m. E. genauso befriedigend durch sein Gegenteil verständlich gemacht werden. Kognitiver Intoleranz ist nämlich nicht ein konturenloser Relativismus, sondern die Kategorie der richterlichen Bescheidenheit (judicial humility) gegenüberzu­ stellen.194 Wie gelangt man jedoch zu diesem Schluss? Versuchen wir diese Problematik näher zu betrachten. Ein Hauptmerkmal der kognitiven Intole­ ranz ist die Auffassung, dass es eine für uns alle gemeinsame Erfahrungs­ basis und damit (nur) eine einzig richtige Beobachtung geben kann – der oben diskutierte „Mythos des Gegebenen“. Erst der Begriff der juristischen Bescheidenheit allerdings vermag uns verständlich zu machen, dass diese These eigentlich nicht als problematisch, sondern als eine alltägliche Trivia­ lität betrachtet werden sollte. Dazu muss man freilich die Perspektive wech­ seln! Die Tatsache, dass ein epistemischer Agent eine Entscheidung dann und nur dann trifft, wenn er sich aufgrund seines Informationsstandes in einer epistemisch so starken Position – die im vierten Teil näher zu be­ schreiben ist – befindet, damit er einen Wissensanspruch erheben kann, soll keineswegs heißen, dass jeder andere Agent dieselbe Entscheidung treffen würde – geschweige denn müsste. Eine getroffene Entscheidung ist zwei­ felsohne die einzig richtige für ihn, aber – das ist genauso selbstverständ­ lich – nicht die einzig richtige für alle anderen. Wie bereits gezeigt, hängen nicht nur die Schlüsse, die man aus Informationen zieht, sondern bereits diese Informationen selbst, die auf eine persönliche, wertmotivierte und auf kognitive Parameter zurückzuführende Weise aus Daten rekonstruiert wer­ den, von den contextual factors jedes einzelnen Beobachters ab.195 Dement­ sprechend dürfen wir erwarten, dass Agenten mit verschiedenem kognitivem bzw. kulturellem Hintergrund nicht unbedingt die gleiche Beobachtung machen werden. Jeder Richter muss sich zwar entscheiden, welchen Sach­ verhalt er seinem Urteil zugrunde legen wird, das soll aber keineswegs bedeuten, dass er auch verlangen kann, dass jeder andere seine Meinung Kahan / Hoffman / Braman (2009), S. 897. nur L. Schulz (2001); über das sog. swamping of priors vgl. Sober (2008), 25: „This is what Bayesians mean when they refer to the swamping of priors. Two agents can begin with different prior probabilities, but if they both up­ date by using a sufficiently large data set, their posterior probabilities will be very close; the difference in priors has washed out.“ 194  Vgl. 195  Vgl.

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Teil 1: Der Mythos des Gegebenen

teilt, damit sie als richtig gelten kann. Der Tatrichter kann sich freilich durchaus dessen bewusst sein, dass möglicherweise andere epistemische Agenten den Sachverhalt anders wahrnehmen und zu einem abweichenden Ergebnis gelangen können.196 Diese Art von juristischer Bescheidenheit besteht im Grunde in der Vergegenwärtigung der Kognition als eines dyna­ mischen Prozesses. Ein Tatrichter braucht selbstverständlich nicht die Frage zu stellen, ob er seinen eigenen Augen nicht glauben sollte, so wie Justice Scalia sich gefragt hat. Es ist jedoch ein logischer Sprung und daher ein schwerwiegender erkenntnistheoretischer Fehler, davon auszugehen, dass jeder andere Tatrichter die Welt bzw. einen Sachverhalt auf eine ähnliche Weise wahrnehmen wird – sodass jede abweichende Beobachtung notwen­ digerweise falsch sein müsste. Denn ein epistemischer Agent hat immer darüber zu reflektieren, dass die phänomenalen Erscheinungen mit seinen kognitiven Rahmenbedingungen zusammenhängen und dass die wahrge­ nommene Realität letztendlich seine Realität und die Realität seines Kultur­ kreises ist. Grund dafür ist, dass die „unmittelbar beobachteten Sachverhal­ te“ ebenso wie komplexere Erscheinungen (z.B soziale Konstruktionen wie „eindeutig gefährlich“ oder „in erheblichem Ausmaß“) wertmotiviert sind.

VI. Personenbezogene Beweiswürdigung und Akzeptanz des Urteils Die oben gewonnene Einsicht findet zuvörderst in der Rechtspraxis An­ wendung. Herkömmlicherweise wird ausgeführt, dass die Würdigung der Beweise eine ureigene Aufgabe des Tatrichters darstellt.197 Das Bundesver­ fassungsgericht (BVerfG NJW 88 477) hat dies expliziert, indem es betont, dass von Bedeutung nicht die Zweifel sind, die der Richter nach Meinung des Angeklagten hätte hegen sollen, sondern seine eigenen. Hat der Tatrich­ ter den Angeklagten trotz des Bestehens vernünftiger Zweifel verurteilt, dann ist dieses Urteil fehlerhaft; seine Feststellungen können dann und nur dann mit der Sachbeschwerde angegriffen werden,198 wenn sie auf Erwä­ gungen beruhen, die entweder mit Denkgesetzen nicht übereinstimmen oder widersprüchlich sind usw. Darüber hinaus widerlegt die rechtliche Institu­ tion der Rechtskraft nicht, sondern eher bestätigt sie die Bindung eines Urteils an denjenigen Agenten, der es gefällt hat: sie versieht ein nicht mehr auf etliche Fehler hin zu überprüfendes Urteil mit einem erga omnes-Gel­ tungsanspruch. Einzelne Bürger bzw. Minderheiten eines Rechtsstaates, selbst wenn sie manche „facta bruta“ anders wahrnehmen bzw. beurteilen dazu Neumann (2010). etwa Sarstedt / Hamm (1998), S. VII. 198  BGH NStZ 1981 S. 296. 196  Ausführlich 197  So



G. Zur richtigen Beobachtung: Die Ontologisierung der Begründung67

würden, sind verpflichtet, die Geltung eines Urteils anzuerkennen. Die Ak­ zeptanz einer für den Tatrichter selbst (einzig) richtigen Entscheidung kann also nicht darauf reduziert werden, dass jeder andere zu diesem Ergebnis gelangen würde. Es sei denn, man wäre der Auffassung, der Richter bei Tat- oder auch bei Rechtsfragen deduktiv logisch operiere, sodass eine Kon­ klusion aus ihren Prämissen deduktiv-logisch, nämlich mit Notwendigkeit, abgeleitet werde. Da wäre mit Wittgenstein festzuhalten: „Es käme mir lächerlich vor, die Existenz Napoleons bezweifeln zu wollen; aber wenn Einer die Existenz der Erde vor 150 Jahren bezweifelte, wäre ich vielleicht eher bereit aufzuhorchen, denn nun bezweifelt er unser ganzes System der Evi­ denz. Es kommt mir nicht vor, als sei dies System sicherer als eine Sicherheit in ihm.“ (ÜG 185)

Wittgenstein will uns darauf aufmerksam machen, dass wir in bestimmten Situationen einen Kommunikationszusammenbruch erleiden, da unser Op­ ponent Thesen vertritt, die wir keineswegs einem rationalen Diskurs zugrun­ de legen können. Behauptet man also, dass der Informationsgehalt der Konklusion (Strafurteil) vollständig in den Prämissen enthalten sei und mit Notwendigkeit daraus abgeleitet wird, „so geben wir ihm alles andere zu“ (ÜG 1).

G. Nochmals zur einzig richtigen Beobachtung: Die Ontologisierung der Begründung Wir kommen jetzt zu einem Zwischenfazit: Das eigentliche Problem der einzig richtigen Beobachtung ist nicht deren propositionaler Gehalt, z. B. der Inhalt der Videoaufzeichnung, sondern die fehlende Begründung. Die Vorgehensweise „see for yourself“ scheitert nicht an dem angeblich wahren oder falschen propositionalen Gehalt einer Beobachtung, sondern daran, dass ein Agent von der naiven Annahme ausgeht, dass die Selbstverständ­ lichkeit eines Sachverhalts dessen Begründung als überflüssig erscheinen lässt. Jener Agent geht von der Annahme einer einzig richtigen Beobachtung aus, indem er seinen kognitiven Vorgang – und damit seine eigene Begrün­ dung – ontologisiert. Die Annahme einer ontologisierten Kognition, einer erga omnes verbindlichen Beobachtung wurde allerdings als ein Mythos entlarvt. Wie Wittgenstein es auf den Punkt gebracht hat: „Daß es mir – oder Allen – so scheint, daraus folgt nicht, daß es so ist.“ (ÜG 2)

Die Vorgehensweise von Justice Scalia oder der nach § 267 I Satz 3 StPO (bloße) Verweis auf Abbildungen, die sich bei den Akten befinden, setzt stillschweigend voraus, dass manche phänomenale Erscheinungen selbster­ läuternd seien bzw. nicht anders begrifflich artikuliert werden können, so­ dass sie keiner Rechtfertigung bedürfen. Ins Blickfeld rückt also auch der

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Teil 1: Der Mythos des Gegebenen

Augenscheinbeweis, womit der Tatrichter sich der h. M. nach einen unver­ mittelten Eindruck vom darin verkörperten Erklärungsinhalt machen könne. Der Augenscheinbeweis als Gegenstand des sachlichen Beweises sei, so Herold, „objektiv, er wertet nicht, er lügt nicht, sein Erinnerungsvermögen lässt nicht nach, er widerspricht nicht, wie wir dies alles in seinem Gegen­ teil vom Menschen kennen“.199 Diese Regelung erscheint nun vor allem deshalb problematisch, weil auf den Informationsgehalt einer Abbildung hingewiesen werden kann200 („see for yourself“), dieser Informationsgehalt hängt allerdings von dem Betrachter ab. Indem verschiedene Menschen und kulturelle Gruppen sich anders – aufgrund der Verschiedenheit des jeweili­ gen Begriffsapparates – auf die Welt epistemisch beziehen, rückt der nor­ mative Standard der Rechtfertigung in den Vordergrund. Aussagen wie „see for yourself“ oder „selbsterläuternde physikalische Sachverhalte“ sind we­ gen ihrer problematischen erkenntnistheoretischen Voraussetzungen unhalt­ bar. Urteile sowie die ihnen zugrunde liegenden Beobachtungen, leiden an einem Legitimationsdefizit, sofern die Agenten das Wort „weil“ nicht in den Mund nehmen.201 Sie versagen darin, Menschen oder Menschengruppen mit abweichenden Überzeugungen davon zu überzeugen, dass ein begründetes (und nicht ein „einzig wahres“ Urteil) gefällt worden ist. Und obwohl Men­ schen oder Gruppen, die einen Sachverhalt anders wahrnehmen würden, ggf. einer anderen Meinung sind, sollen sie wiederum und vor allem im Rahmen eines pluralistischen Sprachspiels das Urteil akzeptieren.202

I. Idealismus und Realismus. Tertium non datur? Die Wahrheitsdebatte in der juristischen Literatur hat uns also vor ein pseudo-Dilemma gestellt: entweder versuchen wir, die materielle Wahrheit zu entdecken, sodass das Strafurteil mit der ‚wahren Wirklichkeit‘ korres­ 199  Herold

(1980), S. 183. § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO kann auf Abbildungen, die sich bei den Akten befinden, [nur] wegen der Einzelheiten verwiesen werden. Die Vorschrift verfolgt den Zweck, so die Begründung des Gesetzgebers, die schriftliche Urteilsgründe zu verein­ fachen und das Schreibwerk des Tatrichters zu verringern, indem durch die Verwei­ sung die etwaige Abbildung als Ganzes Bestandteil der Urteilsgründe wird: Damit werde das allgemeine Verweisungsverbot auf eine Weise eingeschränkt, die die Ver­ ständlichkeit der Urteilsgründe, nicht lockere. Begr. BT Drucks. 8, 976, S. 24 f. 201  Nesson (1985), S. 1358 f. 202  Versucht man das Dworkin’sche Modell so zu plausibilisieren, indem man betont, dass es sich dabei freilich um ein regulatives Prinzip oder eine hilfreiche Idee handelt, die „uns als Messlatte diene“ (so Wacks (2009), S. 147) und an der man die Leistung der Richter messen könne, dann drängt sich die Frage auf, ob es in der Tat eine hilfreiche Idee ist, Richter an solchen metaphysischen Maßstäben zu messen. 200  Nach



G. Zur richtigen Beobachtung: Die Ontologisierung der Begründung69

pondiert (materielle Wahrheitstheorien), oder wir verabschieden uns von dem Programm der Wahrheit, die als ‚Chimäre‘ angesehen werden solle. Mit anderen Worten: Entweder ermitteln wir die Wahrheit oder konzentrie­ ren uns auf die Herstellung konsensfähiger Urteile, die keinerlei Anspruch auf das erheben, was tatsächlich passiert ist. Dieses Dilemma wird nun auf die Spaltung zwischen Sein und Schein, zwischen Realismus und Antirea­ lismus zurückgeführt.203 Gemeinsamer Nenner dieses Streits ist die ver­ meintliche Abhängigkeit der Welt von unserem Denken. Indem allerdings gezeigt wurde, dass unsere Wahrnehmung nicht einer physikalischen Welt vorbehaltlos ausgeliefert wird, sondern einen dynamischen Vorgang darstellt, erweist sich auch das Streitobjekt zwischen Realismus und Antirealismus, zwischen materiellen und prozessualen Wahrheitstheorien als eine alltäg­ liche Trivialität. Die Wurzel des Problems, scil. der Erkenntnis-Realismus und mit ihm die antirealistischen Thesen, wurde entkräftet.204 Wittgenstein bemerkt in seinen Philosophischen Untersuchungen (PU 402b): „Denn so sehen ja die Streitigkeiten zwischen Idealisten, Solipsisten und Realisten aus. Die Einen greifen die normale Ausdrucksform an, so als griffen sie Behaup­ tungen an; die Andern verteidigen sie, als konstatierten sie Tatsachen, die jeder vernünftige Mensch anerkennt.“

Wenn wir jedoch mit der Welt des ‚wirklichen Seins‘ fertig geworden sind, so drängt sich die Frage auf, was aus der Welt des Scheins und den epistemischen Wahrheitstheorien werden soll? Die Antwort liefert uns Nietzsche: wenn der Begriff einer ontologischen Wahrheit sich als Mythos erweist, dann nimmt er auch die scheinbare Welt mit ins Grab: „Die wahre Welt haben wir abgeschafft: welche Welt blieb übrig? Die scheinbare vielleicht? […] Aber nein! Mit der wahren Welt haben wir auch die scheinbare abgeschafft!“205

Gelingt es uns, anhand der oben angeführten Gründe zu zeigen, dass das eigentliche Problem die begriffliche und nicht die kausale Abhängigkeit der Welt von unserem Geist ist, so vermögen wir es, besser zu verstehen, aus 203  Eine Bemerkung dazu. Zunächst einmal setzt sich die Philosophie spätestens seit Berkeley mit einer Frage auseinander und zwar, ob die uns vertraute Wirklich­ keit von unserem Denken und Erkennen unabhängig ist. Auf diese Frage geben die Realisten, wie die h. M. treffend bemerkt, eine positive Antwort. Soweit so gut. Eine negative Antwort geben dennoch nicht (nur) die Konstruktivisten (wie in der juris­ tischen Literatur öfters betont wird), sondern die (idealistischen) Anti-Realisten in ihren verschiedensten Erscheinungen, vom Idealismus über eben den radikalen Kon­ struktivismus und Relativismus bis zum Verifikationismus. Will man also den Über­ blick der philosophischen Debatte nicht aus den Augen verlieren, sollte man auf eine solche Vereinfachung verzichten. 204  Willaschek (2003), S. 7–38, S. 89 ff. 205  Nietzsche (2008), VI 3, 75.

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Teil 1: Der Mythos des Gegebenen

welchem Grund unsere Wissensansprüche unbedingt auf die Begriffe (diese stellen gleichzeitig die Grenzen der Welt dar, über welche wir sinngemäß reden dürfen) unserer Gemeinschaft verwiesen werden, deren Grenzen wir nicht transzendieren können – um etwa die Welt von einem absoluten Au­ ßerhalb heraus zu betrachten. Das wäre ein Blick von Nirgendwo, da jeder Versuch, die Grenzen unserer Gemeinschaft zu verlassen sie nur ver­ schiebt.206 Damit sind wir bei der Suche nach einer leistungsfähigen erkenntnis­ theoretischen Grundlage. Was wir brauchen ist nicht ein neues Verständnis der Wahrheit, die man angeblich entweder erforschen und darstellen oder herstellen solle, sondern einen leistungsfähigen erkenntnistheoretischen An­ satz, der unser alltägliches Wissen vor dem skeptischen Angriff sichern kann, ohne dabei in Erkenntnis-Dogmatismus zu verfallen. Ein solcher Ansatz ist weder dem Realismus noch dem Idealismus verpflichtet. Dabei soll es sich um eine Theorie der epistemischen Verantwortlichkeit handeln, die uns erklärt, wie wir zu berechtigten Wissensansprüchen gelangen kön­ nen (vgl. Teil 4). Eine solche Theorie, die die analytische Perspektive zur Sachverhaltsfeststellungsdogmatik ausmacht, vermeidet einerseits notorische Schwächen realistischer Theorien, wie die Postulierung von ‚universalen Angeln‘ (gemeinsame Erfahrungsbasis) oder das Ausblenden sämtlicher ar­ gumentativer Aspekte. Sie vermeidet andererseits die Achillesferse epistemi­ scher Wahrheitstheorien, nämlich die Überbetonung derselben Aspekte. Im Rahmen dieser Arbeit wird die Rede von faktenkontigenten Überzeugungen sein, die kein ‚Kriterium‘ der Wahrheit darstellen. Im Gegenteil handelt es sich dabei um berechtigte oder nicht Wissensansprüche. Wahrheit kommt in diesem Sinne – wenn überhaupt – nur die Funktion einer Eigenschaft von Aussagen zu. Eine Verabschiedung von der Wahrheit bzw. der Suche nach ihr wegen eines plausiblen Missverständnisses würde dem etwaigen Entschluss ähneln, den Rechtsstaat wegen einer nicht vertretbaren Normauslegung abzuschaf­ fen. Dies mag wiederum erklären, aus welchem Grund wir das Gefühl nicht loswerden konnten, dass ein Strafurteil nur dann legitimiert sein kann, wenn wir einen Anspruch auf das erheben können, was tatsächlich passiert ist. In dieser Arbeit bin ich also auf der Suche nach einem erkenntnistheoretischen Ansatz, dessen Wissenskonzeption es uns erlaubt bzw. ermöglicht, uns selbst und anderen Wissen abzusprechen und zuzuschreiben und damit ei­ nen Wissensanspruch zu erheben.

206  Gabriel,

Skepsis, S. 120.



G. Zur richtigen Beobachtung: Die Ontologisierung der Begründung71

II. Nochmals zum plausiblen Missverständnis Worin besteht aber das oben angesprochene plausible Missverständnis? Dies erklärt uns Wittgenstein (ÜG 191): „Wenn nun alles für eine Hypothese, nichts gegen sie spricht – ist sie dann gewiß wahr? Man kann sie so bezeichnen. – Aber stimmt sie gewiß mit der Wirklichkeit, den Tatsachen, überein? – Mit dieser Frage bewegst du dich schon im Kreise.“

Man stellt also eine unsinnige Frage, wenn man mehr verlangt als eine Aussage, die als wahr angesehen wird, da „alles für sie spricht und nichts dagegen“. Und diese Frage stellt die h. M. in der juristischen Literatur. Man liest bei Gössel:207 „Die Frage, die jeder Tatrichter also beantworten muß, lautet: ist es wahr, daß der Angeklagte jenen Sachverhalt verwirklicht hat, der ihm mit der Anklage vorgeworfen wird, und das heißt: hat sich jener Sachverhalt als geschichtliches Ereignis tatsächlich so ereignet, wie es dem Angeklagten vorgeworfen wird oder – so – nicht?“208 In diesem Sinne kann uns nicht überraschen, dass immer wieder betont wird, dass das Recht die Rechtsfolgen an bestimmte Tatsachen und nicht an deren Nachweis knüp­ fe.209 Denn Art. 20 Abs. 3 GG bindet, so Gössel, die staatliche Machtaus­ übung an Recht und Gerechtigkeit.210 Der Tatrichter habe die Wahrheit zu erforschen, weil anders ein gerechtes nicht möglich erscheine. Damit werden die Probleme zu Tage gefördert, die das Fehlen einer er­ kenntnistheoretischen Grundlage auslöst. Die begriffliche Verwirrung, von der die h. M. heimgesucht worden ist, wird nicht einfach durch einen Verweis auf die Einheit normativer Erkenntnis und auf die Gesamtheit der Rechtsord­ nung beseitigt. Die Autoren, die ein ‚wirklich wahres, mit den Tatsachen kor­ respondierendes‘ Strafurteil verlangen, verkennen nicht, dass nicht die Wirk­ lichkeit, sondern die ‚volle Überzeugung‘ des Richters als Beweiskriterium dient. Den Anhängern der KW ist klar, dass 244 II i. V. mit § § 261, 267 I StPO auszulegen ist und dass der Tatrichter ein Urteil unter Unsicherheit fällt. Das Problem liegt auch hier tiefer. Widerspruchsvoll ist nicht nur das Verständnis von Wahrheit, sondern die zugrunde liegende Erkenntnistheorie, die das Verhältnis zwischen erkennendem Subjekt und Welt arrangiert. Gös­ sel, von dem dieser Gedankengang ausging, konstatiert, dass die Leugnung einer „subjektunabhängigen Realität, einer subjektunabhängigen Wahrheit“ mit dem deutschen Strafverfahrensrecht nicht zu vereinbaren sei.211 Es wurde allerdings mit – wie ich meine – hinreichenden Gründen gezeigt, dass das 207  Gössel

(2000), S. 8. ist die nach § 264 Abs. 1 StPO in der Anklage bezeichnete Tat. 209  Stamp (1998), S. 195, m. w. N. 210  Gössel (2000), S. 8. 211  Gössel (2000), S. 8. 208  Gemeint

72

Teil 1: Der Mythos des Gegebenen

Problem nicht die Abhängigkeit oder die Unabhängigkeit der Welt von dem erkennenden Subjekt ist, sondern der epistemische Zugang eines Subjekts zu ihr. Die Abhängigkeit ist begrifflicher, nicht kausaler Natur. Um nur ein paar Beispiele zu nennen: Zusätzlich zu den Ergebnissen der kognitiven Psychologie wissen wir beispielsweise – spätestens seit dem berühmten Michelson-Experiment –, dass die Zunahme der Masse mit der Geschwindigkeit sowohl das Modell Einsteins als auch dasjenige von Lo­ rentz und Poincaré bestätigt.212 Die Verschiebung der Linien des Sonnen­ spektrums kann sowohl durch Druck als auch durch anomale Dispersion erklärt werden.213 Alle drei Theorien sind gleichwertige Alternativen.214 Die Frage, welches Bild, welche Theorie mit den Tatsachen korrespondiert, zeigt, dass derjenige, der diese Frage stellt, das Problem der Erkenntnis nicht verstanden hat. Ausschlaggebend ist hier nicht, welche Theorie sich als die einzig richtige und ohne Gegenspieler durchsetzen könnte, sondern welche Theorie über die größte heuristische Kraft verfügt, Beobachtungen, die wiederum theoriebeladen sind, zu erklären. Zweites Beispiel: das Gen OPN1LW verhilft Männern und Frauen zu einem differenzierten Sehvermö­ gen der roten Farbe.215 Da es also keinen archimedischen Punkt gibt, eine phänomenale Erscheinung oder einen Begriffsapparat von anderen konkur­ rierenden vorzuziehen, kommen Denkkategorien wie richtig oder falsch auch hier nicht in Frage. Dass es sich dabei um einen schwerwiegenden erkenntnistheoretischen Fehler handeln würde, hat mit Präzision, die ihres­ gleichen sucht, Nietzsche zum Ausdruck gebracht: „die Ähnlichseherei und Gleichmacherei ist das Merkmal schwacher Augen.“216

Die Idee einer gemeinsamen, erga omnes zur Geltung kommenden Erfah­ rungsbasis wurde als metaphysisch entkräftet. Und die h. M. macht sich eines metaphysischen Grenzüberschritts schuldig, wenn sie die epistemi­ schen Grenzen des Erkenntnisvorgangs des Tatrichters transzendiert. Alles in allem: Geht man von der These aus, dass Wahrnehmungsinhalte nicht begrifflich artikuliert seien, unterliegt man einem erkenntnistheoretischen Irrtum, da man nicht erkennt, dass unser mentaler Zugang zur Welt erst durch unser begriffliches Instrumentarium ermöglicht wird. Thomas Nagel dazu Giulini (2004), S. 38 ff. dazu bei Fischer (1984), S. 153 ff., hierzu: S. 155. 214  Dies verneint konkludenterweise Zippelius (2005), S. 18 f., wenn er anmerkt: „Rechtsfindung ist eben kein reiner Erkenntnisprozess, der in vollem Umfang durch objektive Kriterien im Voraus festgelegt wäre“; vgl. Neumann (2005), S. 383: „Die Entscheidung einer umstrittenen Rechtsfrage vollzieht sich nicht im Wege eines reinen Erkenntnisaktes.“ 215  Verrelli / Tishkoff (2004), S. 363–375. 216  Nietzsche (1986), Rn. 228. 212  Eingehend 213  Mehr



G. Zur richtigen Beobachtung: Die Ontologisierung der Begründung73

betrachtet den Versuch, die subjektiven Parameter auszuschalten, als einen genuinen philosophischen Irrtum.217 Die realistische These, die von unmit­ telbar beobachteten Sachverhalten ausgeht, die angeblich in vollem Umfang durch objektive Kriterien festgelegt seien, führt unausweichlich zur Akzep­ tanz einer einzig richtigen Beobachtung wie z. B. ‚(nur) diese Wahrnehmung oder (nur) jene phänomenale Erscheinung ist richtig‘. Indem nun etwa ein Tatrichter bloß eine Videoaufzeichnung hochlädt oder nur auf Abbildungen verweist, untergräbt er die Akzeptanz seines Urteils, da es sich dabei um ‚facta bruta‘ handelt, die noch keine propositionale Struktur besitzen. Jeder epistemische Agent wird sie möglicherweise differenziert wahrnehmen (= rekonstruieren). Die Frage, wie der Tatrichter selbst das Videomaterial kognitiv erfasst hat, bleibt in diesem Fall unbeantwortet. Von autoritären Regimen abgesehen, liegen da, wo Meinungsvielfalt denkbar ist, Begründungen sehr nahe.218 Bloß auf Abbildungen oder Video­ aufzeichnungen zu verweisen ist unschlüssig, weil dadurch der Dynamik kognitiver Funktionen kaum Rechnung getragen wird. Das Erfordernis, dass ein Sachurteil mit den Tatsachen korrespondieren muss, zieht die Konse­ quenz der Ontologisierung der Begründung nach sich. Daraus resultiert die Folge einer einzig richtigen Beobachtung.219 Die Kritik am Mythos des 217  Nagel

(1992), S. 11. (2010), S. 1. 219  Ferner handelt es sich bei dem Postulat einer erga omnes einzig richtigen Ent­ scheidung um eine nicht zu vernachlässigende Voraussetzung: Das Erreichen eines (all)umfassenden Konsenses über moralische, politische und sonstige kognitive Para­ meter. Denn nur in autoritären Regimen sind abweichende Einstellungen weder üblich noch theoretisch denkbar (siehe auch Huber (1983), S. 34 ff.). In pluralistischen Ge­ sellschaften wird hingegen Abstand von der Vorstellung einer objektiven und meistens politisch motivierten ‚Wahrheit‘ genommen. Merkwürdigerweise gehört Dworkin zu den Hauptverfechtern einer Gesellschaft mit liberalem Charakter (siehe nur Dworkin (1985), S. 181 ff.; aus der sekundären Literatur siehe Romanus (2004)). Nach Dworkin setzt Liberalismus primär Moral-Neutralität seitens des Staates voraus: „[The] Government must be neutral on what might be called the question of good life“. (Dworkin (1985), S. 191 f.) Die Diversität der Moralvorstellungen in einer Gesell­ schaft erfordert, dass eine Regierung, so Dworkin, nicht irgendwelche unter mehreren Konzeptionen gutheißt, da dies eine ungleiche Behandlung von Menschen wäre. Das, womit anscheinend Dworkin nicht gerechnet hatte, ist die Tatsache, dass die Mei­ nungsverschiedenheit oder kognitive Parameter wie z. B. die politische Zugehörigkeit selbst Auswirkungen auf unsere Kognition haben. Es mag ja sein, dass Dworkin sich hierbei mit rechtstheoretischen bzw. rechtsphilosophischen Fragestellungen auseinan­ dersetzt; doch dabei vergisst er bzw. blendet er aus, dass Urteile gefällt werden, indem Normen geradezu auf Sachverhalte angewendet werden und in diesem Sinne kann man erkenntnistheoretische Gesichtspunkte nicht so leicht außer Acht lassen. Die steil asymmetrische Diskrepanz zwischen moralisch-politischem Liberalismus und kogni­ tiver Intoleranz zu überbrücken wäre eine ‚Herkulesaufgabe‘, auch wenn ausgerech­ net dieses Argument gegen Dworkin an Leistungsfähigkeit wesentlich verliert. 218  Betz

74

Teil 1: Der Mythos des Gegebenen

Gegebenen verhilft uns zu einem besseren Verständnis der ‚Falle der Wahr­ heit‘. Da wir gute Gründe haben, von der These auszugehen, dass unsere Wahrnehmungen samt unserer Auffassungen begrifflich artikuliert sind und von unseren kognitiven Parametern wie Geschlecht, Rasse, politischer Zu­ gehörigkeit etc. abhängen, erscheint die These plausibel zu sein, dass Be­ griffe als Produkt menschlicher Kreativität von Kultur zu Kultur verschieden sind. Das spricht jedoch nicht für eine konturenlose, jede Kommunikations­ möglichkeit lahmlegende Relativität unseres Wissens, sondern bringt ein wesentliches Merkmal unserer kognitiven Prozesse auf den Punkt: ihre Perspektivität. Denn ausgerechnet die hier skizzierten kognitiven Parameter ermöglichen uns anhand ihrer syntaktischen Strukturen der jeweiligen Spra­ che einen epistemischen Zugang zu einer begrifflich erfassten Welt. Dieser Zugang wäre blind, solange er nicht epistemisch ist; und er wäre leer, so­ lange er sich auf eine reale Welt bezieht, die unser Wissen transzendiert. Von der Wahrheit einer Aussage – unter Wahrheit verstehe ich nach wie vor eine Eigenschaft von Aussagen – auf deren Übereinstimmung mit der ontologischen Wirklichkeit (Dinge) zu schließen, ist ein kleiner Schritt, aber ein schwerwiegender erkenntnistheoretischer Fehler: ein plausibles Missverständnis.

H. Fazit Ich habe bisher versucht, auf eine in der juristischen Literatur wenig beachtete, aber folgenschwere Vorannahme, nämlich die des Mythos des Gegebenen, aufmerksam zu machen. Folgenschwer ist diese Vorannahme nicht nur, weil es sich dabei um einen der zentralen Topoi der analytischen Philosophie des 20. Jh. handelt, sondern vielmehr, weil die juristische De­ batte zur Sachverhaltsfeststellungsdogmatik diesem Mythos Angriffsfläche bietet. Sowohl materielle als auch prozessuale Wahrheitstheorien drehen sich um die Möglichkeit der Erfassung einer denkunabhängigen Realität. Die Diskussion hat ergeben (darin besteht die hier gelieferte theoretische Diagnose), dass diese Vorannahme nach näherer Untersuchung der Kritik nicht standhält. Strittig ist nicht die kausale Abhängigkeit der Welt von unserem Geist, sondern die Frage, in welchem begrifflichen Zusammenhang sie zueinander stehen, nämlich wie es zustande kommt, dass phänomenale Erfahrungen begrifflich artikultiert werden und nicht zuletzt wie das Zusam­ menspiel von bottom-up und top-down kognitiven Prozessen sinnvollerwei­ se aufgefasst werden kann. Aus der metaphysischen Wahrheitsproblematik heraus (Existenz der Wahrheit oder gar Existenz der Welt), von welcher die juristische Debatte ausgegangen ist, entpuppt sich das erkenntnistheoretische Problem des Skeptizismus, nämlich wie unsere Meinungen sich begründen lassen. Bevor dieser Frage nachgegangen wird, möchte ich auf offen geblie­



H. Fazit75

bene Probleme der juristischen Wahrheitsdebatte eingehen. Daraus lassen sich, wie ich meine, wichtige Erkenntnisse gewinnen. Diese Problemberei­ che, die ich „Hauptprobleme der juristischen Wahrheitsdebatte“ nennen möchte, lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: (1) Ist die KW für den Bereich der Tatsachenfeststellung überzeugend? Lässt sich so eine Theorie i.  e.  S. aufrechterhalten? (unten Teil 2, ­Abschn.  A.) (2) Wie lässt sich der Umgang der Juristen mit der semantischen Theorie Tarksis bewerten? Was ist insbesondere der zentrale Punkt dieser Theo­ rie, an welchem die juristische Wahrheitsdebatte vorbei gegangen ist? (unten Teil 2, Abschn. B.) (3) Lassen sich Historiker und Tatrichter miteinander vergleichen? Was für verwertbare Schlüsse können wir durch diesen Vergleich ziehen? (unten Teil 2, Abschn. C.) (4) Was bedeutet es für unsere Fragestellung, dass der Erkenntnis der Pri­ mat zukommt? Ist unser Wahrheitsbegriff eine theologische Kategorie? (unten Teil 2, Abschn. D.) (5) Welche zentrale Unterscheidung hat die juristische Wahrheitsdebatte verfehlt? Wie schwerwiegend sind die Folgen jener Verfehlung für die Stringenz der jeweiligen Argumentation? (unten Teil 2, Abschn. E.) (6) Was ist das nach h. M. Ziel des Strafverfahrens? Lässt sich dieses Ziel als zirkulär erweisen? Wie fundamental ist für eine Sachverhaltsfeststel­ lungsdogmatik die Unterscheidung zwischen der Situation des Wissen­ den und der Situation des Ignoramus? (unten Teil 2, Abschn. F.) (7) Wie verhält sich die Größe der Unsicherheit zu dem Gehalt des Begriffs des Fehlurteils? Ist der Begriff „Fehlurteil“ überhaupt als sinnvoll anzu­ sehen? (unten Teil 2, Abschn. G.) (8) Abschließend drängt sich die Frage auf, wie es um die Wissenschaft­ lichkeit der juristischen Wahrheitsdebatte bestellt ist. Lässt sich das Prädikat wissenschaftlich aufrechterhalten? (unten Teil 2, Abschn. H.)

Teil 2

Die Hauptprobleme der juristischen Wahrheitsdebatte A. Die Hypothek der Korrespondenztheorie der Wahrheit Nicht nur zur Logik, sondern auch zur KW lässt sich unser Verhältnis wohl am besten als „Hassliebe“ beschreiben.1 Trotz ihrer unüberwindlichen Probleme und der schweren metaphysischen Hypothek, die die KW trägt, hält die herrschende Meinung hartnäckig an dieser Theorie fest. Denn dabei gehe es um die „naheliegende, sozusagen natürliche Auffassung von Wahrheit“:2 Das Strafurteil ist der h. M. zufolge genau dann wahr, wenn der festgestellte Sachverhalt p mit der Wirklichkeit übereinstimmt: p ist genau dann, wenn p

– was es uns wiederum ermögliche, durch einen Vergleich mit den Fakten das Strafurteil als richtig oder falsch zu bewerten. Die Sache liegt allerdings ganz anders. Der Wahrheitsbegriff ist nicht eine Trivialität, für welche un­ sere „natürliche Auffassung“ ausreichen würde, sondern das wohl zentrale philosophische Problem. Und bekanntlich werden Fehler in der Philosophie durch die Ansicht verursacht, dass das, was für alltägliche Begriffe gilt, auch auf außergewöhnliche Wörter wie Wahrheit, Wissen etc. angewandt wird. Die KW trägt, wie schon angedeutet, eine schwere Hypothek. Sie geht von zwei scharf zu unterscheidenden Sphären aus, der res cogitans und der res extensa, deren Differenz anschließend ausgeglichen werden muss. Da wir aber als menschliche Wesen immer an die eine Seite gebunden bleiben, sind die Vertreter der KW auf ein tertium comparationis angewiesen, näm­ lich ein übergeordnetes Prinzip, das die Vermittlung beider Sphären zu ge­ währen in der Lage wäre.3 Die schon längst festgestellten unüberwindlichen Schwierigkeiten, die die KW uns bereitet, sind den Juristen bekannt. En­ gisch vertritt sogar die Auffassung, dass wir dem sprachüblichen Gebrauch Joerden (2010), S. 1. und wohl kritisch so Neumann, Wahrheit im Recht, S. 14 ff.; ausführlich zum Thema Gloy (2004), S. 92 ff. 3  Gloy (2004). S. 69, 95. 1  So

2  Zusammenfassend



A. Die Hypothek der Korrespondenztheorie der Wahrheit77

der Wahrheit zuliebe jegliche andere philosophische Erörterung beiseitelas­ sen sollten, „so sehr wir die hier von verschiedenen Seiten am Wahrheits­ begriff einsetzenden Überlegungen als berechtigt und in die Tiefe dringend anerkennen“.4 Diesbezüglich betont Volk, dass ein Verständnis von Wahrheit als Übereinstimmung wissenschaftstheoretisch gesehen der beklagenswert naive Versuch sei, eine Korrespondenztheorie der Wahrheit zu etablieren.5 Generell herrscht Einigkeit darüber, dass materielle Wahrheit das erklärte, aber anerkanntermaßen unerreichbare Ziel der Sachverhaltsfeststellung im Strafverfahren ist.6 Die Rede ist öfters von „Annäherung“, „eher Richtpunkt als Ziel“ und nicht von Übereinstimmung.7 Käßer betont, dass als Endziel des Strafverfahrens nur ein „annähernd wahres Urteil“ angesehen werden kann – was einer Preisgabe des korrespondenztheoretischen Modells entspricht.8 So­ bald man etwa von „as close an approximation of the truth as possible“9 re­ det, hört man auf, dem Strafverfahren die KW zugrunde zu legen. Die Frage, die sich aufdrängt, betrifft die Gründe für diesen problemati­ schen Umgang mit der Wahrheit. Liegt es etwa an der Sache selbst oder an uns? Wenn das zweite der Fall sein sollte, dann hängt es wahrscheinlich mit der Frage zusammen, die Nietzsche hypothetisch stellt: „Vorausgesetzt, dass die Wahrheit ein Weib ist, ist der Verdacht nicht gegründet, dass alle Philosophen, sofern sie Dogmatiker waren, sich schlecht auf Weiber verstan­ den“?10 – eine Idee mehrmals in Nietzsches Werk vorkommt. Angenommen, dass sowohl die Rechtswissenschaft als auch die Literatur zur Wahrheitsde­ batte einigermaßen – trotz der positiven gesellschaftlichen Entwicklungen im Bereich der Gleichberechtigung von Mann und Frau – männerdominiert sind, so könnte das eine plausible Erklärung sein. Solange man jedoch nicht gute Gründe dafür sieht, sich mit Wahrheit als geschlechtsspezifischem Problem auseinanderzusetzen, und daher einer der im Markt der Philosophie zahlreichen feministischen Erkenntnistheorien11 nachzugehen, sollte man den Geschlechtsparameter ausblenden. 4  Engisch,

Wahrheit, S.  5 f. (1980), S. 7. 6  Freund (1987), S. 1 f., 153 m. w. N. 7  Ausf. dazu bei Freund (1987), S. 1. 8  Käßer (1974), S. 29. 9  So Morgan (1948) S. 184 f.; kritisch dazu Ho (2008), S. 66. 10  So beginnt Nietzsches „Jenseits von Gut und Böse“; vgl. dazu SchönherrMann (2008), S. 35. 11  Siehe nur den Eintrag „Feminist Epistemology and Philosophy of Science“ in der Stanford Encyclopedia of Philosphy. Letzter Stand: 2011.03.16; aus diesem An­ lass möchte ich betonen, dass in dieser grammatischen Konstruktion Ausdrücke wie „er“, „der Tatrichter“, „der Jurist“ usw. sich nicht nur auf Männer‚ sondern auf Menschen beider Geschlechter beziehen. 5  Volk

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Teil 2: Die Hauptprobleme der juristischen Wahrheitsdebatte

Hier wird die Meinung vertreten, dass der problematische Umgang mit der KW – die Tatsache nämlich, dass sie keiner ernsthaft vertritt – an deren Theoriedesign liegt. Denn man mag einwenden, dass der h. M. in der juris­ tischen Literatur nicht um das Kriterium der Wahrheit, sondern um deren Inhalt geht.12 Aus diesem Grund werde ich mich im Folgenden mit dem Inhalt der Korrespondenztheorie der Wahrheit auseinandersetzen.

I. Eine Korrespondenztheorie der Wahrheit? Herkömmlicherweise wird in der juristischen Literatur angemerkt, dass die naheliegendste und dem Common Sense entsprechende Auffassung von Wahrheit auf das Verhältnis einer Aussage zu der Wirklichkeit abstellt. „Wer korrepondenztheoretische Wahrheitsbegriffe ablehnt, entzieht damit jeglicher Forschung die Grundlage“.13 Dabei handelt es sich um die sog. klassische Theorie der Wahrheit, die für Jahrtausende das philosophische Terrain be­ herrschte und den Ausgangspunkt für die meisten Philosophen bildete: „Die Namenserklärung der Wahrheit, dass sie nämlich die Übereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstande sei, wird hier geschenkt und vorausge­ setzt“, schreibt Kant in seiner „Kritik der reinen Vernunft“.14 Ihre Grundidee findet sich schon bei Aristoteles: „Zu sagen, dass das, was ist, nicht ist, oder das, was nicht ist, ist, ist falsch; hingegen, dass das was ist, ist, oder das, was nicht ist, nicht ist, ist wahr“.15 Daraus lässt sich allerdings nicht ohne weite­ res schließen, dass es bei Aristoteles um eine Wahrheitstheorie (i. e. S.) ging.16 Jene These wird von der Tatsache gestützt, dass mehrere Jahre früher (u. a.) Platon in seinem Dialog Kratylos dieselbe Auffassung erwähnt, deren Ge­ brauch verbreitet zu sein schien: „Wo es dem Sinne nach heißt: eine Rede [λόγος] ist wahr, wenn sie das Seiende so sagt, wie es ist, dagegen falsch, wenn sie das Seiende so sagt, wie es nicht ist.“17 Es hat sich also in der An­ tike zwar um Korrespondenz, aber nicht im Sinne einer Theorie gehandelt. Die Korrespondenztheorie der Wahrheit in ihrer klassischen Formulierung geht hingegen auf einen Theologen zurück und zwar auf Thomas von Aquin (alias Doctor Angelicus), der in seinen „Quaestiones Disputatae de Veritate“ Wahrheit als adeaquatio rei et intellectus, als „Angleichung von Sache und zum kriteriologischen Problem bei Gloy (2004), S. 41–66. Gössel (2008), S. 514. 14  Kant 1781 / 88: A 58 / B 82. 15  Aristoteles, Metaphysica, 1011b26 f. 16  Vgl. Stübinger (2008), S. 512. 17  Ähnlich bei Kratylos, 385b7 f.: „Und nicht wahr, die von den Dingen aussagt was sie sind ist wahr, die aber was sie nicht sind, ist falsch“; vgl. dazu Eckl (2002), S. 14. 12  Mehr 13  So



A. Die Hypothek der Korrespondenztheorie der Wahrheit79

Intellekt aneinander“, definiert.18 Tatsachen seien demzufolge die Wahrma­ cher von Propositionen bzw. Überzeugungen, die als Wahrheitsträger gelten. Wie schon gewendet scheint die Selbstverständlichkeit der KW, die unser Alltagsverständnis am besten zu treffen scheine, da aufzuhören, wo man an­ fängt, sich theoretisch anspruchsvoll mit ihr auseinanderzusetzen. Bei genau­ em Zusehen erweist sich, so Krüger, die klassische Auffassung „als ober­ flächlich, ja bis in begriffliche Tiefen hinein brüchig“.19 Die KW wirft so schwerwiegende Probleme auf, dass man sogar trotz ihrer Bekanntheit und Verbreitung gute Gründe sehen kann, sie zu verwerfen.20 Das allgemeine Verständnis – dem die KW gerecht werde – ist so vage und unpräzise, dass sich bei intensiverem Studium damit nichts anfangen lässt.21 Dass zwischen „Selbstverständlichkeit“ und Unverständlichkeit der KW nur ein kleiner Schritt ist, bringt Ho auf den Punkt: „The statement that it is true that A killed B is perfectly intelligible as an assertion that, in reality, A did kill B; but how is the court to see that A really did kill B? It can scarcely be suggested that verification of correspondence be a general condition for accepting something as a fact“.22 Von der Kritik von Seiten der Redundanztheorie abgesehen, scheint also die KW nur da anwendbar zu sein, wo wir bereits wissen, was der Fall ist – nämlich wenn wir ohne Unsicherheit argumentieren. Die Kor­ respondenz reduziert sich also auf eine wohl überflüssige Wiederholung einer Satzäußerung,23 die als solche keiner bestreiten würde. KW scheint, wenn überhaupt, erst im Nachhinein sinnvoll zu sein, nämlich wenn wir die „Posi­ tion des Wissenden“ einnehmen. Das bringt uns jedoch in einem Erkenntnis­ verfahren, wo Tatrichter unter Unsicherheit argumentieren und kontingente Urteile fällen, nicht weiter. Darauf werde ich später eingehen. Im Folgenden möchte ich dem Argumentencluster gegen die KW noch ein Argument beifügen, das trotz der schwerwiegenden Konsequenzen, die sich daraus ableiten lassen – soweit ersichtlich – in der juristischen Litera­ tur kaum Beachtung gefunden hat. Es handelt sich dabei um die These, dass man Wahrheitswerte nicht als etwas in der Welt ansehen kann und dass es unbegründet wäre, eine Überzeugung direkt mit der Welt zu vergleichen. Darauf hat eine Reihe von Philosophen aufmerksam gemacht.24

18  Thomas

von Aquin (1986), S. 14; mehr dazu Gloy (2004) S. 92 ff. (1995), S. 919. 20  Baumann (2006), S. 156. 21  Aus der unüberschaubaren Literatur siehe stellvertretend Gloy (2004), S. 93; vgl. Grundmann, (2008), S. 62 ff. 22  Ho (2008), S. 57. 23  Siehe Davidson (1996), S. 265. 24  Eingehend dazu bei Baumann (2006), S. 161, m. w. N. 19  Krüger

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Teil 2: Die Hauptprobleme der juristischen Wahrheitsdebatte

II. Das Steinschleuder-Argument gegen die KW Die unüberwindlichen Probleme, die die KW aufwirft, können am Bei­ spiel des sog. Steinschleuder-Arguments (Slingshot-Argument) gezeigt werden, das erstmal von Church entwickelt wurde25 und dem zufolge alle wahren Sätzen nur einer großen Tatsache korrespondieren, nämlich „DEM WAHREN“ (THE TRUE). Ich orientiere mich an der originalen Version dieses Arguments, so wie es sich bei Church26 findet, und an der Argumen­ tationsstruktur Baumanns.27 Betrachten wir das Steinschleuder-Argument näher und fangen wir mit einem leicht modifizierten Beispiel an. Bekannt­ lich ist der Bundesgerichtshof (BGH) das oberste deutsche Gericht auf dem Gebiet der ordentlichen Gerichtsbarkeit. I. d. S. ist der Satz Der BGH ist das oberste deutsche Gericht auf dem Gebiet der ordentlichen Ge­ richtsbarkeit (1)

wahr. Der KW zufolge bezieht er sich auf folgende Tatsache: Die Tatsache, dass der BGH das oberste deutsche Gericht auf dem Gebiet der ordentlichen Gerichtsbarkeit ist (T – 1)

Es ist auch bekannt, dass der BGH fünf Strafsenate hat. Folgendes ist also auch wahr: Das oberste deutsche Gericht auf dem Gebiet der ordentlichen Gerichtsbarkeit = das Gericht, das fünf Strafsenate hat.

Man sieht, dass die Ausdrücke links und rechts des Gleichheits-Zeichens dieselbe Extension28 haben und da (1) der sog. Extensionalitäts-Bedingung29 genügt, können wir in (1) den Ausdruck „das oberste deutsche Gericht“ durch den Ausdruck „das Gericht, das fünf Strafsenate hat“ ersetzen, ohne dass sich dadurch an der Extension von (1) etwas ändert. Der daraus resul­ tierende wahre Satz: 25  Church (1956); vgl. Anderson A. (2006) zum „Alonzo Church“; monogra­ phisch dazu Mutombo, (1998).Verschiedene Varianten des „slingshot-Arguments“ sind von mehreren Autoren vorgetragen. Siehe nur Gödel (1986), S. 119 ff.; Quine (1960), S.  197 f. 26  Church (1956), S. 24–25; siehe auch Baumann (2006), S. 159; vgl. Grundmann (2008), 68. 27  Baumann (2006), S. 159–162. 28  Die Extension eines Begriffes ist die Menge aller Referenten, also aller Ge­ genstände, auf die der Begriff sich bezieht oder die unter ihn fallen; vgl. Grundmann, (2008), S. 586; laut herkömmlicher aber umstrittener Auffassung ist Exten­sion der Wahrheitswert einer Aussage; vgl. Frege (1892), S. 33 f., S. 40 f. 29  Die Extensionalitäts-Bedingung besagt, dass sich, wenn man einen Teilaus­ druck eines Satzes durch einen anderen Teilausdruck mit gleicher Extension ersetzt, der Satz, der sich daraus ergibt, auf dieselbe Tatsache bezieht wie der ursprüngliche Satz.



A. Die Hypothek der Korrespondenztheorie der Wahrheit81 Der BGH ist das Gericht, das fünf Strafsenate hat (2)

bezieht sich also auf dieselbe Tatsache wie (1), nämlich auf (T – 1). Nun lässt sich (2) umformulieren in: Die Anzahl der Strafsenate des BGH ist fünf (3).

Der Satz (3) ist auch zweifellos wahr. Da keine Situation vorstellbar ist, in der (2) und (3) verschiedene Wahrheitswerte haben, sagen wir, dass (2) und (3) extensionsgleich sind. Soweit so gut. Betrachten wir schließlich noch eine wahre Aussage: Eine Basketballmannschaft besteht regelgemäß aus fünf Feldspielern. Es gilt also: Die Anzahl der Feldspieler bei einer Basketballmannschaft ist fünf (4)

Aus (3) und (4) ergibt sich: Die Anzahl der Feldspielern bei einer Basketballmannschaft = die Anzahl der Strafsenate des BGH (5)

Die Ausdrücke links und rechts des Gleichheits-Zeichens haben wieder dieselbe Extension und da hier die Extensionalitäts-Bedingung erfüllt ist, können wir in (3) den Ausdruck „die Anzahl der Strafsenate des BGH“ durch den Ausdruck „die Anzahl der Feldspielern bei einer B-M“ ersetzen, ohne dass sich dadurch an der Extension von (3) etwas ändert.30 Der daraus resultierende wahre Satz (Die Anzahl der Feldspielern bei einer B-M ist fünf) bezieht sich also auf dieselbe Tatsache wie (3) und damit auf dieselbe Tatsache wie (1) und (2): nämlich auf T – 1, obwohl er und T – 1 nichts miteinander zu tun haben. Der Schluss, dass (1) und (4) extensionsgleich sind und sich auf eine und dieselbe Tatsache beziehen, lässt sich verallge­ meinern. So gelangen wir zu einem absurden Resultat, und zwar, dass alle wahren Sätze extensional äquivalent sind und sich auf eine allumfassende Tatsache [The True] beziehen bzw. DAS WAHRE als Referenz haben. Man könnte hier einwenden, dass dies inakzeptabel zu sein scheint. Denn es ist mit unserer Konzeption von Tatsachen nicht vereinbar, der zufolge es eine Vielzahl davon gibt.31 Ausgerechnet dies ist die große Zerstörungs­ kraft dieses Arguments, das sich durch den Namen Steinschleuder treffend charakterisieren lässt. Denn bei dem Steinschleuder-Argument handelt es sich um eine reductio ad absurdum. Die Schlussfolgerung, zu der wir ge­ führt werden, ist aus dem folgenden Grund nicht haltbar. Sätze sind intensional,32 Tatsachen aber nicht. Man kann Wahrheitswerte nicht als et­ 30  Baumann

(2006), S. 160. (2006), S. 161. 32  Obwohl es umstritten ist, was Intension bedeutet, können wir hier davon aus­ gehen, dass Intension eines Begriffs der Sinn des Begriffes ist; eingehend dazu Grundmann (2008), S. 586 f. 31  Baumann

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Teil 2: Die Hauptprobleme der juristischen Wahrheitsdebatte

was in der Welt ansehen.33 Man kann also wahre Sätze nicht direkt mit der Welt vergleichen. Der Wahrheitsbegriff der KW, der, so die herrschende Meinung „für weite Bereiche der richterlichen Tatsachenfeststellung, wie auch unserer Alltagsorientierung, überzeugend und vollkommen ausrei­ chend“ ist,34 scheint aus noch einem anderen Grund nicht nur dem Common Sense nicht entsprechend, sondern vielmehr inkonsistent zu sein.

B. Semantische Theorie der Wahrheit Es gibt also gewichtige Gründe, das Programm der KW, der zufolge die res cogitans und die res extensa vermittelt werden sollen, als gescheitert zu er­ klären. Die Idee, dass wir durch ein glasklares Medium wie das Bewusstsein oder die Sprache zu „wahren“ Auffassungen geleitet werden, die angeblich der Wirklichkeit korrespondieren, hat sich als bloße Metaphysik erwiesen. Denn unsere Sprache, die die sinnergebenden Grenzen unserer Welt signali­ siert, ist alles andere als glasklar. Ganz im Gegenteil, wir können seit dem Linguistic Turn davon ausgehen, dass die Grenzen unserer Sprache, nämlich unseres Begriffs- und Wörterapparats, zugleich die Grenzen der Welt sind, über welche wir sinngemäß reden können: „Was jenseits der Grenze liegt, wird einfach Unsinn sein“ (TLP, Vorwort).35 Auf die sprachanalytische Wen­ de und ihre Konsequenzen für die moderne Rechtsphilosophie kann hier nicht näher eingegangen werden. Gute Gründe sprechen auf der anderen Sei­ te dafür, dass ausgerechnet die jeweilige Sprache derjenige Parameter ist, der dem Denken des Individuums den Weg bahnt und nicht einfach ein abbilden­ des Werkzeug für ein sprachunabhängiges Denken darstellt.36 Unser Denken, so lehrt uns seit jeher die Intelligenzforschung, wird „im Wesentlichen durch den Erwerb der Sprache programmiert“.37 In ihr finden wir die kategorialen Möglichkeiten, „um Sachverhalte aus ihrer Je-Einmaligkeit herauszuheben, zu generalisieren, und damit für die Auffindung sehr komplexer Wenn-DannRelationen gebrauchsfähig zu machen“.38 Die vorherigen Ausführungen über die wertmotivierte Kognition und die Rolle, die etliche kognitive Parameter (wie unsere politische Zugehörigkeit) 33  Baumann

(2006), S. 161. dazu Neumann, Wahrheit im Recht, S. 25, m. w. N. 35  Erwähnenswert ist, dass die Bedeutung der Auffassung der „Grenzen der Sprache“ für den späten Wittgenstein kaum geringer ist als den Wittgenstein des Tractatus; vgl. Hintikka / Hintikka (1990), S. 37. 36  Ausführlich zu den Ergebnisses der modernen amerikanischen Linguistik Werlen (2002), S.  219 ff., m. w. N. 37  Hofstätter, (1966), S. 229. 38  So Hofstätter (1966), S. 236. 34  Ausf.



B. Semantische Theorie der Wahrheit83

z. B. bei der visuellen Wahrnehmung spielen, ebnen der Verständlichkeit von Ansätzen wie Whorfs Hypothese den Weg. Nach Whorf „we are thus introduced to a new principle of relativity, which holds that all observers are not led by the same physical evidence to the same picture of the uni­ verse, unless their linguistic backgrounds are similar, or in some way be calibrated“.39 Ist es allerdings irgendwie feststellbar, dass Kulturen anhand einer verschiedenen Grammatik zu typisch verschiedenen Beobachtungen und Bewertungen äußerlich ähnlicher Beobachtungen geführt werden? An­ ders formuliert: Lässt sich das Prinzip der sprachlichen Relativität überhaupt überprüfen? Ich kann hierbei nur eine Antwortskizze liefern. Stellvertretend beschränke ich mich auf die Studie von R. W. Brown und E. H. Lennen­ berg; dort wurde gezeigt, dass etwa das Fehlen einer Distinktion sprach­ licher Art zu einer „Lücke“ in der Wahrnehmung führt: Ureinwohner des amerikanischen Kontinents, die für „gelb“ und „orange“, so wie wir diese Farben kennen, nur über einen Begriff verfügen, können signifikant oft bei einem Stimuli-Test zwischen beiden Farben nicht unterscheiden.40 Diesem Verständnis der Sprache als universellem Medium wird die wohl wichtigste Wahrheitstheorie der Gegenwart gerecht, da sie sich des Instru­ mentariums der modernen Sprachphilosophie bedient. Eine Wahrheitsdefini­ tion solle nicht auf die Welt, sondern auf eine Sprache relativiert werden. Tarski41 entwickelt in seiner Dissertation die sog. semantische Theorie der Wahrheit, die manche Probleme der Korrespondenztheorie vermeidet, da sie ganz ohne die Begriffe „Korrespondenz“ und „Tatsache“ auskommt.42 Im folgenden Abschnitt möchte ich mich auf einen ganz speziellen Punkt kon­ zentrieren, der in der juristischen Literatur noch nicht hinreichend erläutert worden ist. Tarksis Theorie kann als die am meisten diskutierte unter den Wahrheits­ theorien des 20. Jahrhunderts bezeichnet werden. Von großem Interesse ist dieser Ansatz wegen seiner Leistungsfähigkeit, semantische Paradoxien wie z. B. die Lügner-Paradoxie zu vermeiden, die bereits in der Antike bekannt wurde und Philosophen Kopfzerbrechen bereitet hat. Dabei ging es um die Lösung des Problems, das etwa folgende Sätze auslösen: 39  Whorf

(1940); siehe Werlen (2002), S. 20. (1954), S. 454–462. 41  Tarski hat seine Theorie erstmals 1933 in seiner Doktorarbeit präsentiert, die kurze Zeit später [1935] in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Der Wahrheits­ begriff in den formalisierten Sprachen“ erschien. Ausführlich dazu Gloy (2004), S. 164; als primäre Literatur bietet sich die englische Version: The Semantic Con­ ception of Truth and the Foundations of Semantics“ an. 42  Siehe Anderson A. (2006), S.  124–128; Gloy (2004), S. 145  ff.; Baumann (2006), S.  162 ff. 40  Brown / Lenneberg

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Teil 2: Die Hauptprobleme der juristischen Wahrheitsdebatte

Dieser Satz ist falsch [A = A ist falsch] (1)

oder etwas dieses Satzpaar43 Der folgende Satz ist wahr Der vorhergehende Satz ist falsch

Von der Antike an war klar geworden, dass jede natürliche Sprache die Möglichkeit der oben skizzierten Paradoxien enthält, d. h. Sätze, die sich selbst widerlegen. Denn sie führen unausweichlich zu einem logischen Wider­ spruch, wo eine Aussage ihren eigenen propositionalen Gehalt dementiert. Tarski liefert uns eine plausible Diagnose, indem er ausführt, dass die Inkon­ sistenz jeder natürlichen Sprache daran liegt, dass jede Sprache semantisch geschlossen ist. Jede Sprache enthält also die Maschinerie, um ihre eigene Semantik herzustellen. Diese Eigenschaft lässt selbstwidersprechende Aussa­ gen wie des berühmten „Lügners aus Kreta“ zu. Tarksi bietet uns zu diesem Problem eine Lösung, deren Radikalität uns an Alexander den Großen erin­ nert, der den Gordischen Knoten freilich mit einem Schwerthieb durchge­ schnitten hat. Der Wahrheitsbegriff könne nach Tarski für natürliche Spra­ chen, wie das Deutsche, Englische etc. nicht definiert werden. Damit bean­ sprucht Tarski ein Jahrtausende dauerndes Paradox durch die Unterscheidung zwischen Objekt- und Meta-Sprache zu lösen. Das Problem bestehe schon darin, dass Objekt-Sprachen ihre eigene Meta-Sprache enthalten, wie es am Beispiel der Lügner-Paradoxie (Liar Antinomy) deutlich werden kann. Anders formuliert: Der Satz (1) ist selbstbezüglich, da er als Prädikat in der Objekt­ sprache die Wahrheit eines Satzes dieser Objektsprache hat44 und daher lässt er jene Paradoxie zu. Dieses Phänomen macht natürliche Sprachen unter logi­ schem Blickwinkel inkonsistent. Wahrheitswerte können, wie uns Tarski er­ klärt, nur die Sätze einer formalen Sprache (Meta-Sprache) tragen.45 Anders als in natürlichen Sprachen kann also in Meta-Sprachen die Gefahr semanti­ scher Paradoxien, die zu Widersprüchen führen können, gebannt werden.46 Grund dafür ist die Tatsache, dass der Wahrheitsbegriff für eine natürliche Sprache nur in einer von ihr verschiedenen Meta-Sprache definiert werden kann.

I. Über formale Sprachen Kann der Wahrheitswert von Sätzen nur für formale Sprachen definiert werden, so müssen wir ihren Hauptmerkmalen auf dem Grund gehen, um am Ende in Hinblick auf die juristische Sprache eine Bilanz zu ziehen. 43  Baumann

(2006), S. 165. (1998), S. 69 f. 45  Tarski (1944). 46  Vgl. Naumann (1993), S. 413 f. 44  Mutombo



B. Semantische Theorie der Wahrheit85

Unter formaler Sprache versteht man eine Sprache, in der jeder Ausdruck explizit und eindeutig zu definieren ist: „Der Satz, das Wort, von dem die Logik handelt, soll etwas Reines und Scharfgeschnittenes sein“ (PU 105). Eine – in diesem Sinne – formale Sprache beschreibt Russell: „In a logically perfect language the words in a proposition would correspond one by one with the components of the corresponding fact, with the exception of such words as ‚or‘, ‚not‘, ‚if‘, ‚then‘, which have a different function. In a logically perfect language, there will be one word and no more for every simple object, and everything that is not simple will be expressed by a combination of words, by a combination derived, of course, from the words for the simple things that enter in, one word for each simple component.“47

Zentrale Bedeutung wird also hier einem Prinzip beigemessen, das Logiker Kontextinvarianzprinzip nennen: „Die Ausdrücke, die in Sätzen vorkommen, insbesondere die Eigenschaftswörter und Eigennamen, beziehen sich überall, wo sie vorkommen, auf dasselbe; d. h., das, worauf sie sich beziehen, variiert nicht mit dem (sprachlichen oder außersprachlichen) Kontext, in dem die Ausdrücke verwendet werden“.48 Hauptzweck dieses Prinzips ist die mehr­ deutige Verwendung der Ausdrücke, mit denen wir logisch operieren, um je­ den Preis auszuschließen.49 Das Prinzip bezieht sich ferner auf die Annahme, dass für die Untersuchung logischer Folgerung garantiert sein sollte, dass die Sätze bei ihrer Verwendung eine gewisse Stabilität in ihren Wahrheitswerten besitzen: „The truth values need not be known, but they must be stable.“50 Die Determiniertheit der verwendeten Begriffe verleiht also formalen Spra­ chen wie der Logik und der Mathematik die erforderliche Konsistenz.

II. Void-for-Vagueness? Die Frage, ob die Rechtsssprache im (formal-)logischen Sinne als eindeu­ tig bzw. präzise und daher als formale Sprache angesehen werden kann, wird im deutschsprachigen Raum meistens negativ beantwortet.51 Selbst Autoren, die für die Verwendung formaler Sprachen im Recht plädieren,52 üben Kritik an den Schwächen einer rein natürlich-sprachlichen Herange­ 47  Russell

(1972), S. 25. Kontextinvarianzprinzip ist eines der drei Prinzipien logischer Analyse (Kontextinvarianzprinzip, Prinzip der Wahrheitsfunktionalität, Prinzip der Extensio­ nalität), anhand derer man eine natürliche Sprache soweit betrachten kann, als in ihr diese Prinzipien nicht verletzt werden. Ausführlich dazu Bühler (1997) S. 41. 49  Bühler (1997), S. 41. 50  Quine (1992), S. 78. 51  Vgl. vor allem die umfassende Arbeit von Christensen / Kudlich (2001), S.  93 ff. 52  Stellvertretend möchte ich hier Hofmann (2005), S. 289 ff. erwähnen. 48  Das

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Teil 2: Die Hauptprobleme der juristischen Wahrheitsdebatte

hensweise bei der Verwendung numerisch-formaler Methoden, etwa bei der Strafzumessung. Dieser Kritik ist m. E. prinzipiell zuzustimmen. Dadurch werden allerdings die Hauptmerkmale einer (juristischen) Sprache, nämlich die Offenheit und Vagheit, nicht in Frage gestellt.53 Anders als im angel­ sächsischen gibt es im deutschsprachigen Raum einen weitgehenden Kon­ sens gegen eine Void-for-vagueness-Doktrin – eine Idee die wir von Frege kennen. Nach Frege soll die Definition eines Begriffs vollständig sein: „sie muss für jeden Gegenstand unzweideutig bestimmen, ob er unter den Be­ griff falle […] oder nicht. Es darf also keinen Gegenstand geben, für den es nach der Definition zweifelhaft bliebe, ob er unter den Begriff fiele“.54 Ein solcher Anspruch kann nur unter extremen Idealisierungen verwirklicht werden.55 Der Grund, dass man Begriffe nicht reduktiv definieren kann, ist nicht, dass wir diese Bedeutung nicht finden können, sondern dass es so eine Bedeutung schlichtweg nicht gibt.56 Wittgenstein hält den Versuch, unsere Sprache von ihrer Indeterminiertheit (als Begriffscluster, das aus drei Komponenten besteht: a) Vagheit (vagueness) b) Mehrdeutigkeit (ambigui­ ty) und c) Offenheit / Bestreitbarkeit (contestability))57 zu befreien, als eine sehr einseitige Betrachtung unserer Sprache. Denn die Welt kann uns nicht lehren, die Wörter auf eine bestimmte Weise zu verwenden;58 natürliche Sprachen und die mit ihnen verflochtenen Tätigkeiten bzw. Kulturen sind, so Kober, flexibel,59 da unsere Sprachspiele sich mit der Zeit ändern und mit ihnen ändern sich die Bedeutungen unserer Wörter (ÜG 65, 256).

III. Rechtssprache und Indeterminiertheit Im Folgenden möchte ich die Rechtsprache auf die oben aufgezählten Merkmale einer indeterminierten Sprache hin prüfen. 1. Zur Vagheit Nach herrschender Meinung ist die Sprache des Rechtslebens nicht Fach­ sprache, sondern fachlich geprägter Teil einer an die Allgemeinheit gewende­ etwa Waldron (1994). S. 509 ff. (1903), § 56. 55  Vgl. nur Putnam (2004), S. 23. 56  (TBB 19): „We are unable clearly to circumscribe the concepts we use; not because we don’t know their real definition, but because there is no real ‚definition‘ to them.“ 57  Dazu Waldron (1994), S. 512 ff. 58  Gabriel, Skepsis, S. 112. 59  Kober (1993), S. 39. 53  Vgl.

54  Frege



B. Semantische Theorie der Wahrheit87

ten oder in ihren Inhalten zumindest der Allgemeinheit vermittelbaren Spra­ che.60 Die Rechtssprache, anders als die Sprache bestimmter Fachgruppen (deren Vokabular in der Gemeinsprache kaum benutzt wird) ist auf Allge­ meinverständlichkeit angelegt,61 weil jeder vom Recht betroffen ist. Damit befindet sich die juristische Sprache im Spannungsfeld zwischen Vagheit auf der einen Seite und Bestimmtheit auf der anderen Seite. Um balancieren zu können, hat die Rechtssprache eine „künstlerische“ Leistung zu liefern.62 Die erforderliche Verbindlichkeit einer rechtlichen Regel setzt Bestimmtheit vo­ raus, nämlich eine besondere Deutlichkeit und Disziplin des Sprechens.63 Nur dadurch ergibt etwa der Verbotsirrtum (§ 17 StGB) und der Grundsatz „ignorantia legis non excusat“ überhaupt einen Sinn.64 Denn die Adressaten müssen sich nach den Anforderungen (Ge- und Verbote) richten können.65 Dieses Desiderat vermag allerdings ein Hauptmerkmal der natürlichen Spra­ che, deren Semantik sich die Rechtssprache bedient, nicht in Frage zu stellen. 2. Zur Mehrdeutigkeit Der Argumentation halber möchte ich von der These ausgehen, dass die Rechtssprache nicht mit Mehrdeutigkeit behaftet ist und dass die Rechtsbe­ griffe in verschiedenen Kontexten keine variierenden Bedeutungen aufwei­ sen.66 Um diese These zu widerlegen, benötigen wir also ein einfaches Beispiel mit einem Rechtsbegriff, dem zu einem gegebenen Zeitpunkt t1 in verschiedenen Kontexten verschiedene Bedeutung zukommt. Sucht man nach einem solchen Begriff, dann wird man relativ schnell fündig. Betrach­ ten wir nun folgendes Beispiel: − Prämisse 1: Nach § 22 Abs. 1 Satz 1 StVO sind die Ladung einschließ­ lich Geräte zur Ladungssicherung sowie Ladeeinrichtungen so zu verstau­ en und zu sichern, dass sie selbst bei Vollbremsung oder plötzlicher Ausweichbewegung nicht verrutschen, umfallen, hin- und herrollen, he­ rabfallen oder vermeidbaren Lärm erzeugen können. − Prämisse 2: Nach § 232 Abs. 2 StPO findet aufgrund einer Ladung durch öffentliche Bekanntmachung die Hauptverhandlung ohne den Angeklag­ ten nicht statt. Kirchhof (1987), S. 22; Günther / Speer (1979), S. 20 ff. hierzu S. 32 f. (1979), S. 33. 62  Aus der unüberschaubaren juristischen Literatur siehe nur Kargl (2010) S. 849 f.; hierzu: S. 852; Hassemer (1990), S. 175 f. 63  Kirchhof (1987), S. 14. 64  Ausführlich dazu Keedy (1908) S. 75 ff. 65  Sachs, in: Sachs, Grundgesetz, 5. Aufl., § 20 Abs. 3 Rn. 126. 66  Siehe Gloy (2004), S. 22. 60  So

61  Günther / Speer

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− Conclusio: Der Begriff „Ladung“ ist also mehrdeutig, da seine Intension sich mit dem Kontext ändert. So kann gezeigt werden, dass beispielsweise dem im Gesetzestext auftre­ tenden Begriff „Ladung“ je nach dem Kontext eine andere Bedeutung zu­ kommt. Mal handelt es sich um die Ladung eines LKW und mal um die La­ dung eines Angeklagten. In Betracht auf die o. g. Ausführungen erscheint diese Mehrdeutigkeit des Begriffs als völlig akzeptabel, da sie dem Sprach­ verständnis des „native speakers“ gerecht wird. Des Weiteren gibt es ja denk­ bare Situationen, wobei die Aussage „Die Ladung ist fehlerhaft“ einen ande­ ren Wahrheitswert hat, falls z. B. die Ladung des Angeklagten A prozessord­ nungsgemäß entstanden ist, aber die Ladung des LKW B die Verkehrssicher­ heit gefährdet. Diese Mehrdeutigkeit, die das Kontextinvarianprinzip verletzt, vermag also die Rechtssprache als formale Sprache zu diskreditieren. 3. Die unabgeschlossene „Rechtswirklichkeit“ und die Offenheit der Sprache Es kann davon ausgegangen werden, dass ein System von Begriffen, deren Inhalt von vornherein bestimmt wäre, nicht dem Ideal der Gerechtig­ keit dienen würde, weil es angesichts immer neuer gesellschaftlicher Gegen­ stände und Datenkonstellationen nicht anpassungsfähig wäre.67 Semantische Elastizität ermöglicht es dem Recht, Schritt zu halten mit dem Entwick­ lungsstand der wichtigen gesellschaftlichen Regelungsbereiche bzw. nicht wesentlich dahinter zurückzufallen. In diesem Sinne hält allein die Porosi­ tät68 der Rechtsbegriffe das Recht am Leben.69 Der Traum von Regelstren­ ge und Ableitung, ist – um mit Hassemer zu sprechen – endgültig ausge­ träumt.70 Wendet man ein, die juristische Sprache solle bestimmt sein, dann ist es darauf hinzuweisen, dass eine nicht offene bzw. entwicklungsfähige Sprache gleichsam zum Aussterben verurteilt wäre.71 Das Gebot der Be­ stimmtheit des Gesetzes darf daher – darin stimmen Literatur und Recht­ sprechung überein – nicht übersteigert werden, da sonst die Gesetze zu starr und kasuistisch würden und der Vielgestaltigkeit des Lebens, dem Wandel der Verhältnisse oder der Besonderheit des Einzelfalles nicht mehr gerecht werden könnten.72 Wie Russell anmerkt: „Actual languages are not logically 67  Karamagiolis

(2002), S. 37; Hassemer (1990), S. 182. kann man m.  E. den Begriff „open texture“ übersetzen. Hart (1961), S. 120–132. 69  Stübinger (2008), S. 445; Hassemer (1990), S. 182 f. 70  Hassemer, Methodenlehre, S. 244. 71  Stübinger (2008), S. 445. 72  Otto (2004), S. 45. 68  So



C. Fact-triers und Historiker89

perfect in this sense, and they cannot possibly be, if they are to serve the purposes of daily life“.73 4. „Zurück auf dem rauhen Boden“74 Die Bedingungen für eine formalisierte Sprache, denen zufolge jeder Ausdruck explizit und eindeutig definiert ist, werden von natürlichen Spra­ chen nicht erfüllt. Die juristische Sprache erweist sich, mit guten Gründen, als natürliche Sprache, die vage, offen und mehrdeutig ist. Einer in formallogischer Hinsicht konsistenten Rechtssprache würde im Wittgensteinschen Sinne die Reibung fehlen, welche unseren „Bedarf an Vagheit“75 zu befrie­ digen vermag. „Wir sind aufs Glatteis geraten, wo die Reibung fehlt, also die Bedingungen in gewissem Sinne ideal sind, aber wir eben deshalb auch nicht gehen können. Wir wollen gehen; dann brauchen wir die Reibung. Zurück auf den rauhen Boden!“ (PU 107)

Kurzgefasst: Die Rechtssprache enthält mit guten Gründen eine Maschi­ nerie für die Herstellung ihrer eigenen Semantik. Dadurch kann sie sich an diverse soziale Entwicklungen anpassen. Da nun die Rechtssprache weder eindeutig und präzise, nämlich formalisiert ist, noch eine eigene MetaSprache enthält, kann auch der Wahrheitsbegriff für sie nicht definiert werden. Es wurde gezeigt, dass es sich bei dem Modell Tarskis um eine interessante, aber kaum anwendbare Theorie handelt, da sie nicht für natür­ liche Sprachen (wie das Deutsche, dessen Teil die Rechtssprache ist) kon­ zipiert ist.76

C. Fact-triers und Historiker Nach einem bekannten und wohl zutreffenden Bonmot gibt es keine einzi­ ge historische Deutung oder Erklärung, die zwei oder gar mehrere Historiker teilen. Über ein Thema herrscht allerdings weitgehender Konsens: Was His­ toriker können, können nur Historiker.77 Dieses Monopol versuchen die Ju­ risten in Zweifel zu ziehen, um vielleicht, wie Stübinger treffend anmerkt,78 73  Russell

(1972), S. 25. 107, letzter Satz. 75  So Hassemer (1990) S. 110. 76  Mehr dazu Baumann (2006), S.  169; vgl. Neumann, Wahrheit im Recht, S.  23 f. 77  Pohlig (2008), S. 25. 78  Ausführlich zu dem Thema und mit zahlreichen Nachweisen Stübinger (2008), S. 528; siehe auch Nobili (2001), S. 39–40; Hassemer (2009), S. 837. 74  PU

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Teil 2: Die Hauptprobleme der juristischen Wahrheitsdebatte

ein wenig von der Reputation dieser Disziplin abfärben zu können. Laut einer wohl herrschenden Auffassung verhält sich der Jurist im Grunde nicht anders als der Historiker, wenn er Beweise erhebt und würdigt, um dahinter zu kom­ men, wie sich etwas zugetragen habe.79 Die richterliche Sachverhaltserfor­ schung wird folglich als „Sonderfall der Arbeitsweise des Historikers“80 und der Richter als Geschichtsforscher bezeichnet.

I. ‚Was‘-Fragen und ‚Wie‘-Fragen Die vonseiten der Geschichtswissenschaftler mehrfach betonte Verschie­ denheit der Tätigkeiten von Richtern und Historikern kann auf die Tatsache zurückgeführt werden, dass Historiker nicht nur ‚Was‘-Fragen, sondern auch oder gar ausschließlich ‚Wie‘- und „Warum‘-Fragen zu beantworten ha­ ben.81 Anders formuliert: Selbst wenn es darum geht, ob ein Ereignis überhaupt stattgefunden hat – etwa Luthers Thesenanschlag –, steckt jeden­ falls dahinter die Frage, welche Konsequenzen für die kausale Erklärung des zeitlich nach dem umstrittenen Ereignis liegenden Geschehens der Nachweis des Geschehen-Seins oder Nicht-Geschehen-Seins eigentlich hat.82 Darüber hinaus wird dem Beschränken der Sachverhaltsfeststellung durch das Programm des materiellen Strafrechts der breite Blickwinkel der Historiographie gegenübergestellt. 79  Grundlegend dazu Engisch, Wahrheit, S. 6; Paulus (1992), S.  689, 700 m. w. N.; Freund (1987), S. 19: „Der Richter hat bei der ‚Feststellung‘ des objektiven wie des subjektiven Tatbestandes eine vergangene Wirklichkeit zu erforschen. Seine Tätigkeit ist insofern der des Historikers nahe verwandt.“ Siehe aber Freunds (1987) Erläuterung auf S. 19, Fn. 26 und auf S. 152: „Der Richter ist nun einmal weder in der Lage, die materielle Wahrheit zu finden, noch dürfte er dies, wenn er könnte; er ist aber auch kein Historiker, der sich nur um ein in der Vergangenheit liegendes Geschehen zu kümmern hätte …“ Stock (1954), S. 433: „Ein gerechtes Straferken­ nen kann zustande kommen nur, wenn die materielle Wahrheit mit voller historischer Exaktheit festgestellt worden ist.“ Stamp (1998), S. 70. Der Autorin erscheint „der Vergleich der Wahrheitsermittlung des Gerichts mit der des Historikers in verschie­ dener Hinsicht passend“; vgl. aber S. 70, 83; ablehnend B. Schmitt (1992), S. 176. Aus der angelsächsischen Literatur siehe Roberts / Zuckermann (2004): „[…] In this regard, forensic fact finding is no different to any other historical inquiry“; Laudan (2006), S.  64 f. 80  Rödig (1973), S. 241. 81  Interessanterweise bringt das Goethe (Aus Kunst und Alterthum. 5. Bd. 2. Heft 1825) auf den Punkt: „Die Pflicht des Historikers ist zwiefach: erst gegen sich selbst, dann gegen den Leser. Bei sich selbst muß er genau prüfen, was wohl ge­ schehen sein könnte, und um des Lesers willen muß er festsetzen, was geschehen sei. Wie er mit sich selbst handelt, mag er mit seinen Collegen ausmachen; das Publicum muß aber nicht ins Geheimniß hineinsehen, wie wenig in der Geschichte als entschieden ausgemacht kann angesprochen werden.“ 82  Faber (1972), S. 71.



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Historiker sind mit ihrem in der Öffentlichkeit verzerrten und von der Metaphorik eines Gerichts geprägten Bild vertraut, wobei Historiker als „Richter der Vergangenheit“ dargestellt werden.83 Diese Parallelisierung wird jedoch mit Nachdruck abgelehnt und für systematisch irreführend ge­ halten. Zwar verkennt keiner, dass die Geschichtswissenschaft der Erfor­ schung der Vergangenheit dient und die Ermittlung von Tatsachen ihre zentrale Aufgabe ausmacht,84 so wie es Aufgabe des Tatrichters ist, die Rekonstruktion der historischen Tatsache zu verfolgen. Tatrichter und His­ toriker scheinen auf den ersten Blick ähnlich vorzugehen. Ihre Tätigkeit ist auf die Erforschung vergangener Sachverhalte gerichtet. Doch hier hören die Gemeinsamkeiten der beiden Berufsgruppen auf.85

II. ‚Entscheidungen treffen‘ im engeren und im weiteren Sinne Betrachten wir etwas näher die geschichtswissenschaftliche Praxis. Die Aufgabe der Historiker ist zum einen die Verifikation von Tatsachen (die Prüfung der Tatsächlichkeit einer Hypothese) und zum anderen deren Interpretation86 im Rahmen des historischen Kontextes. Dies macht uns ver­ ständlich, weshalb die Vorgehensweise des Historikers wesentlich anders ist als die des (Straf-)Richters. Denn die Ermittlung von Tatsachen im Strafver­ fahren ist immer auf ein Urteil hin orientiert.87 Hierhin besteht der erste grundlegende Unterschied. Der Tatrichter hat eine Entscheidung i. e. S. zu treffen: Mangels ausreichender Beweise muss er den Angeklagten freispre­ chen. Kann also der Tatrichter trotz Ausnutzung der vorhandenen Beweis­ mittel die Überzeugung von einem bestimmten Geschehensablauf nicht ge­ winnen, so darf er nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung dem Angeklagten keine ungünstige Entscheidung zugrunde legen.88 Für den Historiker hingegen wäre das (vorläufige) Urteil, dass seine Hypothese noch nicht mit guten Gründen untermauert (verifiziert) ist, ein durchaus akzepta­ bles Erkenntnisresultat.89 In diesem Sinne hat der Historiker sich für nichts zu entscheiden.90 Denn bei der Geschichtswissenschaft – anders als bei den Rechtswissenschaften und vor allem dem Gebiet der Beweisanalyse – han­ 83  Kühberger / Sedmak

(2008), S. 95. (2008), S. 17. 85  Kühberger / Sedmak (2008), S. 95. 86  Dazu Selin (2008), S. 36 f. 87  Vgl. etwa Jabloner (2005), S. 118. 88  So die weichenstellende Entscheidung des BGHSt 10, 208. 89  Vgl. dazu Mitsopoulos (1990), S. 342. 90  Siehe auch Stübinger (2008), S.  527 f. m. w. N. 84  Sellin

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delt es sich nicht um eine Entscheidungstheorie. Das Interesse der Historiker besteht im Gegenteil darin, eine Hypothese zu überprüfen und eventuell als verifiziert anzunehmen. Gelingt ihnen das nicht, so können sie freilich wei­ ter suchen. Versteht man also die historische Forschung als eine über meh­ rere Jahre hinweg sich erstreckende Tätigkeit, kontrastiert das Recht mit der Dringlichkeit der Entscheidung. Nach Selin ist die Geschichtswissenschaft eine kollektive Anstrengung, die einem offenen Diskurs ähnelt, wo jedes Plädoyer das andere ablöst.91 Ausgerechnet dieser Parameter wäre für die Strafjustiz und ihre wichtigste Institution, die Rechtskraft, vernichtend.

III. ‚Absence of Proof‘ und ‚Proof of Absence‘ Der zweite Unterschied ergibt sich aus dem ersten. Der Tatrichter hat eine strukturell betrachtet einfache Frage zu beantworten. Ist er nicht binnen angemessener Frist von der Schuld des Angeklagten überzeugt, so muss er ihn freisprechen: „Absence of proof“ ist in diesem Sinne „a proof of absence“. Die Unschuldsvermutung (Art. 6 II EMRK) entfaltet hier ihre Nor­ mativität, indem sie der Nicht-Verurteilung den Freispruch gleichsetzt. Dem strafverfahrensrechtlichen, steil asymmetrischen Beweiskriterium wird die Symmetrie des Bestätigungsgrades einer historischen Hypothese gegenüber­ gestellt. Krauß hat darauf hingewiesen,92 dass im Strafprozess nicht Wahr­ heit festgestellt (jedenfalls nicht so wie sie der Historiker versteht), sondern dass entschieden wird. Nimmt nun der Historiker die Hypothese als wahr an, trifft er trotzdem keine Entscheidung i. e. S. Sind im Gegenteil die vor­ handenen Indizien etwa nicht schlüssig genug, so ist er trotzdem nicht verpflichtet, die Hypothese zu verwerfen. In einem fiktiven Szenario hätte ein Strafrichter Adolf Hitler freisprechen müssen, falls er u. a. von dessen Kenntnisnahme in Bezug auf die Vernichtung von europäischen Juden – und zwar binnen angemessener Frist – nicht hinreichend überzeugt wäre.93 Der Historiker kann freilich ohne zeitliche Begrenzung nach neuem Material suchen, das diese Hypothese stützt: Absence of proof heißt hier keineswegs proof of absence. Dass der Beweis hier symmetrisch ist, heißt, dass eine Hypothese als gut und weniger gut begründet gelten kann.94 Während sich Historiker bei der Verifizierung des Urteils enthalten dürfen, sind die Tat­ 91  Sellin

(2008), S. 30. Krauß (1975), S. 66. Damit beantwortet Krauß selbst die rhetorische Frage, die er stellt, ob etwa der Jurist die Feststellung „historischer“ und „objekti­ ver“ Wahrheit so schlecht betreibe, oder es ihm bei der Tatsachenfeststellung um etwas ganz anderes als die aristotelische „adaequatio rei et intellectus“ gehe. 93  Siehe Kühberger / Sedmak, (2008), S. 147 f. 94  Zum Aufstieg quantifizierender und statistischer Methoden in den Geschichts­ wissenschaften, siehe Lengwiler (2011) S. 159. 92  Siehe



C. Fact-triers und Historiker93

richter verpflichtet, binnen angemessener Zeit ein Urteil zu fällen. Im Straf­ prozess ist es gewiß, dass eine Entscheidung gefällt wird. Die einzige Frage lautet, ob es ein verurteilendes oder freisprechendes Urteil sein wird.

IV. Ist das denn alles, was uns trennt? Doch die Unterschiede enden nicht mit der Einsicht, dass der Historiker eine Hypothese überprüft, während der Tatrichter ein Urteil fällt. Denn die Verifikation einer Tatsache ist keineswegs das Hauptziel des Historikers. Geschichtswissenschaftler streben danach, „das Geschehen zu interpretieren und historische Urteile wachsender Allgemeinheit abzugeben“.95 Historiker sind nämlich nicht primär an Tatsachen interessiert, sondern sie verknüpfen diese zu Geschichten, um etwas zu erklären und geschichtlichen Erschei­ nungen eine bestimmte Bedeutung zuzusprechen. Salopp formuliert: Das historische Urteil ist eine Aussage über die Bedeutung eines geschichtlichen Phänomens. Nach einer klassischen Formulierung erzählen Historiker fort­ gesetzt Geschichten, indem Tatsachen in einen historischen Kontext gerückt werden und einen bestimmten Stellenwert erhalten.96 Ein Faktum bzw. eine historische Tatsache per se ist unbedeutend, es sei denn, sie wird im Lichte einer bestimmten Interpretation in ihrem historischen Kontext eigebettet. Die Aussage beispielsweise „Karl Marx war ein politischer Schriftsteller des 19. Jahrhunderts“, trifft zwar zu, verschweigt aber ihre eigentliche Bedeu­ tung. Die Erstürmung der Bastille durch eine Volksmenge war an sich kein wichtiges Ereignis, weil – so wird es berichtet – man im Gebäude keine politischen Gefangenen, sondern nur geistesgestörte und fünf übrige Insas­ sen fand, die eher als gemeine Verbrecher angesehen werden müssen.97 Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass sie eine politische Zäsur signalisiert.

V. Mikro- und Makro-Perspektive Bezüglich der obigen Ausführungen lässt sich zweierlei bemerken. Erstens wird der historische Standpunkt als Makro-Perspektive angesehen und zwar als wissenschaftliche Erklärung historischer Wirklichkeiten, die „groß­ tenteils überpersonal sind und die Gründe für geschichtliche Entwicklungen nicht in einzelnen Personen suchen“.98 Aufgabe des Historikers ist z. B., der Frage nach dem Phänomen der Pädophilie in der katholischen Kirche nachzugehen, während die Aufgabe des Tatrichters darin besteht, ein Urteil 95  Jabloner

(2005), S. 117. (2008) S.  27 m. w. N. 97  Sellin (2008), S. 23, S. 36 f. 98  Jabloner (2005), S. 120 m. w. N. 96  Sellin

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Teil 2: Die Hauptprobleme der juristischen Wahrheitsdebatte

zu fällen und zwar ob ein Pfarrer S ein Kind A gem. §§ 176, 176b StGB sexuell missbraucht hat (Mikro-Perspektive).99 Diese Einsicht verweist auf den zweiten Unterschied. Man stellt ohne Schwierigkeit fest, dass die Auf­ gabe der Historiker nicht darin besteht, eine gerechte Entscheidung zu treffen, sondern es mit der Erstellung einer Erzählung und der sinnvollen und angemessenen Deutung derselben zu tun hat.100 Da den Historikern rechtliche Vorgaben (wie etwa die materiell- oder prozessualrechtlichen Normen) fehlen, kann ihr (historisches) Urteil nur ein moralisches sein. Die daraus resultierende soziale Verantwortung wird nach Kühberger / Sedmak mit Bezug auf einen Wertekatalog geprüft. Und die moralische Herausfor­ derung an Historiker bestehe eben in der Wahl und Rechtfertigung des moralischen Maßstabs.101 (Straf-)Richter müssen auf der anderen Seite ein Urteil fällen, das an rechtliche Vorgaben und das Legalitätsprinzip gebunden ist. Der Erkenntnisvorgang im Strafverfahren wird normativ erheblich be­ grenzt. Dieser streng artikulierte Rahmen ist in der Geschichtswissenschaft offensichtlich nicht zu finden. Die moralischen Werte, die der Historiker sich selbst aussuchen muß, sowie der unbegrenzte Raum, der ihm zur Ver­ fügung steht, sollen aber nicht heißen, dass der historische Nachweis un­ möglich ist. Hingewiesen wird im Gegensatz zu der tatrichterlichen Sach­ verhaltsfeststellung auf die Wissenschaftlichkeit der historischen Methode, auf ihren Charakter als offener Prozess. Selin führt aus: „Jede Generation versteht die Dinge nicht einfach anders als die vorherige, sondern dringt immer tiefer in die Phänomene ein“.102 Während also die Geschichte immer wieder neu geschrieben wird bzw. werden soll, macht der Gesetzgeber etwa die Zulässigkeit des Wiederaufnahmeverfahrens und die Durchbrechung der Rechtskraft eines Urteils erst auf die strengen Voraussetzungen des § 359 StPO abhängig. Es wurde gezeigt, dass der Vergleich zwischen der Tätigkeit des Histori­ kers und derjenigen des Tatrichters schwerwiegenden Zweifeln ausgesetzt ist. Die Richtigkeit der Aussage „Was Historiker können, können nur His­ toriker“ kann hier dahinstehen. Fest steht jedenfalls, dass was auch immer Historiker können, die Tatrichter sowieso nicht dürfen.

Müller P. (2008) S. 131 f.; Faber (1972), S.  45 ff. (2008), S. 96. 101  Kühberger / Sedmak (2008), S. 97. 102  Sellin (2008), S. 30. Nota bene: Die Offenheit der Methode bei der Sachver­ haltsfeststellung ist nicht mit deren Wissenschaftlichkeit zu verwechseln. 99  Siehe

100  Kühberger / Sedmak



D. Der Primat der Erkenntnis95

D. Der Primat der Erkenntnis Bekanntlich sind verschiedene Wahrheitsbegriffe im Gebrauch.103 Doch die Antwort auf die Frage, was für den Juristen „seine Wahrheit“104 bedeu­ tet, wäre m. E. unangemessen aufwendig und deshalb unnötig. Erstens ist der Begriff der Wahrheit philosophischer105 und nicht juristischer Natur und aus diesem Grund sind die Ansätze und Fragestellungen der Philosophie richtungweisend,106 wenn nicht verbindlich. Zweitens ist sowohl unser all­ täglicher als auch der Wahrheitsbegriff der philosophischen Tradition durch­ aus kein eindeutiger und fachgebundener, sondern ein vieldeutiger, disziplin­ übergreifender Begriff, der nicht mit der Disziplin, sondern mit der jeweili­ gen Erkenntnistheorie wechselt.107 Anders ausgedrückt: der Begriff der Wahrheit ist auf unser jeweiliges Wissensverständnis angewiesen. Nach Gloy entspricht der Fülle der Theorien über Erkenntnis „Zug um Zug die Zahl der Wahrheitsbegriffe“ und aus diesem Grund lässt die Diversität der Wahrheitsbegriffe das Faktum der Erkenntnis, scil. „den aktuellen Erkennt­ nisvollzug, untangiert“. „Erkenntnis, wo immer sie auftritt, tritt mit dem Anspruch auf Wahrheit auf, Begriff und Theorie der Wahrheit mögen sein, welche sie wollen“.108 Das vermag uns verständlich zu machen, aus wel­ chem Grund der Begriff der Erkenntnis, auf welcher die jüngere analytische Erkenntnistheorie fast ihre gesamte Energie investiert hat,109 auf Kosten des Wahrheitsbegriffs in den Vordergrund rücken soll. Die Frage danach, was unsere Wahrheit bedeutet verweist zunächst auf die Fragestellung nach dem Wesen der Wahrheit und dabei handelt es sich um etwas grundsätzlich Ver­ schiedenes, nämlich die Frage nach der Metaphysik und Ontologie der Wahrheit.110 Es wäre also, wie ich meine, müßig, uns direkt mit dem Begriff der Wahrheit auseinanderzusetzen, da der eventuelle Gewinn – selbst wenn es uns gelungen wäre, sich über eine von mehreren Wahrheitstheorien zu einigen – eher gering wäre. Nicht zuletzt wäre eine solche Antwort für 103  Es geht mir hier nicht um die Mehrdeutigkeit des Wortes „wahr“ (z. B. eine wahre Geschichte, eine wahre Freundschaft etc.). 104  Dieses Desiderat stellt Paulus (1992), S. 687: „Der – theoretisch über oder / und praktisch im Prozeß arbeitende – Jurist muß wissen, was seine Wahrheit bedeutet.“ 105  In Bezug auf die Frage nach dem Charakter des Wahrheitsbegriffs siehe u. a. Grundmann (2008), S. 33: „Der Begriff der Wahrheit ist streng genommen kein erkenntnistheoretischer Begriff.“ In diesem Sinne ist die These Löffelmanns (2008), S. 103, dem zufolge Wahrheit ein erkenntnistheoretischer Begriff sei, unzutreffend. 106  Vgl. Paulus (1992), S. 687. 107  So Gloy (2004), S. 67. 108  Beide Zitate: Gloy (2004), S. 67. 109  Grundmann (2002), S. 118, m. w. N. 110  Börsig-Hover (2006), S. 16.

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Teil 2: Die Hauptprobleme der juristischen Wahrheitsdebatte

unsere erkenntnistheoretischen Bemühungen und die Frage nach dem Be­ griff bzw. Inhalt des richterlichen Wissens nicht besonders informativ bzw. hilfreich.111

I. Benötigen wir eine Wahrheitstheorie?112 Aus dem Primat der Erkenntnis folgt der zweite Gesichtspunkt, den die juristische Debatte nicht ausreichend zum Objekt ihrer Untersuchungen gemacht hat; die Tatsache nämlich, dass Wahrheit sich auf Gewissheit redu­ ziert. Mit Descartes fängt der Transformationsprozess der Wahrheit an, nach dem Wissen den Ausschluss jedes Zweifels voraussetzt.113 Da damit die Negation jedes Zweifels zum normativen Standard der Wahrheit wird, kön­ nen wir als wahr nur das akzeptieren, was gegen etliche ins Spiel gebrach­ te Zweifel gesichert ist, so weit hergeholt sie auch sein mögen. Gegen die Auffassung, die für eine jeweilige Erkenntnistheorie eine Wahrheitstheorie für unabdingbar hält, sind jedoch nicht zu vernachlässigende Zweifel laut geworden. Es wird mit guten Gründen bestritten, dass Erkenntnistheoretiker eine Wahrheitstheorie benötigen.114 Das liegt nicht daran, dass Wahrheit ein philosophisches und nicht ein erkenntnistheoretisches Konzept sein soll und auch nicht daran, dass es uns noch nicht gelungen ist, uns begriffliche Klar­ heit über diesen Grundbegriff zu verschaffen. Der Grund ist im Gegenteil, dass – wie Tarksi gezeigt hat (vgl. Teil 2, Abschn. B.II.) – Wahrheit ein undefinierbares Konzept ist.115 Ähnlicherweise sieht Davidson den Versuch, Wahrheit zu definieren, als Eselei („Folly“) an.116 Das heißt aber noch lan­ ge nicht, dass es zwecklos wäre, dieses Konzept in Zusammenhang mit anderen erkenntnistheoretischen Begriffen wie Glauben, Wissen und Recht­ fertigung zu bringen. Die Konsequenz liegt nun auf der Hand. Was für Erkenntnistheoretiker gilt, gilt mutatis mutandis auch für epistemische Agenten wie die Tatrich­ ter. Der Wahrheitsbegriff ist nicht uninteressant, sondern irrelevant. In die­ sem Sinne wird er als redundant behandelt bzw. als Eigenschaft von Aus­ sagen. Die juristische Diskussion dreht sich also um den Grundbegriff der Wahrheit, welcher, so pflegt man zu betonen, der Tatrichter verpflichtet J. Schulz (1992), S. 174 ff. beziehe ich mich auf den m. E. sehr wichtigen Aufsatz Michael Williams (1986) „Do We (Epistemologists) Need a Theory of Truth?“, wo der Autor im Prin­ zip für eine Redundanztheorie der Wahrheit plädiert. 113  Vgl. dazu Colman, (2008), S. 199. Siehe auch zu diesem Thema Stübinger (2008), S.  512 f. 114  Williams (1986), S. 241. 115  So Davidson (1996), S. 265. 116  So Davidson (1996), S. 265 et passim. 111  Vgl.

112  Hier



D. Der Primat der Erkenntnis97

ist. Doch der oben gezeichnete Transformationsprozess macht uns ver­ ständlich, weshalb die Verortung der Diskussion in den Bereich der freien Beweiswürdigung als plausibel erscheint. Damit kann man u. a. verstehen, weshalb Probleme der strafprozessualen Wahrheit gemeinhin nicht im Rahmen des § 244 II StPO erörtert werden, nämlich der einzigen Rege­ ­ lung die den Wahrheitsbegriff enthält, sondern im Rahmen der freien Beweiswürdigung,117 d. i. im § 261 StPO, die wohl wichtigste und in ihren Grundlagen und Auswirkungen schwierigste Vorschrift unseres Strafverfah­ rensrechts.118 Damit scheint die ständige höchstrichterliche Rechtspre­ chung, die verlangt, dass der Tatrichter seiner Sachentscheidung das zu­ grunde legt, wovon er voll überzeugt ist, nicht mehr einer erkenntnistheo­ retischen Grundlage zu entbehren.119 Wir hätten also schon längst – darauf deutet ungebrochen die Rechtsprechung hin – unseren Blick auf den Er­ kenntnisakt des Tatrichters richten sollen. Der Einspruch, dass man da­ durch „jeglicher Forschung die Grundlage entziehe, wenn er korrespon­ denztheoretische Wahrheitsbegriffe ablehnt“,120 erweist sich als unberech­ tigt, egal ob wir von der KW ausgehen oder nicht. Juristen, „die wissen wollen, was ihre Wahrheit bedeutet“, werden also nicht auf § 244 II StPO, sondern auf § 261 StPO verwiesen. Damit wird außerdem die Wahrheit ihrem Ruf gerecht, flüchtig zu sein.121

II. Das theologische Genom der materiellen Wahrheit Dem hartnäckigen Beharren auf diese ontologischer Natur Frage nach dem Wesen der Wahrheit liegt m. E. das Erbgut des Strafprozesses zugrun­ de, dessen genetische Identität sich in der Suche nach der ‚materiellen Wahrheit‘ widerspiegelt. Ich möchte hier den Schluss nahelegen, dass dieses Beharren sowie der daraus ergebende ‚klassische‘ Wahrheitsbegriff als Kor­ respondenz wegen der notwendigen Verpflichtung zu einem ‚höheren We­ sen‘ – das angeblich die Übereinstimmung zwischen Wirklichkeit und Aussage festzustellen vermöchte – untrennbar mit einer uferlosen und reli­ giös überformten Debatte verbunden ist und sich auf die oben angedeutete ‚genetische Prädisposition‘ zurückführen lässt.122 Um dieses ‚Erbgut‘ ent­ Frage wird von Stamp (1998), S. 157, gestellt. Hassemer (1990), S. 112. 119  BGHSt 10 208. 120  Gössel (2008), S. 514. 121  Vgl. Lewis (1996), S. 549 ff. (S. 550). 122  So bereits Ignor (2002), S. 30. Der Autor bemerkt: „Die Schwierigkeiten des Beweisrechts wurden in der frühen Neuzeit dadurch dramatisch zugespitzt, dass das Prinzip der materiellen Wahrheit, die Verpflichtung, die Wahre Schuld oder Un­ schuld herausfinden zu müssen, religiös überformt war.“ 117  Diese 118  Vgl.

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Teil 2: Die Hauptprobleme der juristischen Wahrheitsdebatte

schlüsseln zu können, wird ein kurzer Exkurs in die Strafrechtsgeschichte unternommen. Es gilt als unumstritten, dass als Erfinder bzw. Initiator der Inquisition Papst Innozenz III (1198–1216) angesehen werden kann und als Anlass die von ihm betriebene Kirchenreform.123 Es ist nämlich die „inquisitio“ [inqui­ rere = erforschen] ein Spezifikum des Ermittlungsgrundsatzes (§§ 155 II, 244 II StPO), wonach der Strafrichter selbstständig die Beweismittel herbei­ zuführen und die Wahrheit zu erforschen hat.124 Hauptanliegen der oben genannten Reform war der Versuch, die Kirche, deren Bild durch Skandale und Korruption angeschlagen war, von Grund auf zu reformieren.125 Das Kirchenrecht seinerzeit war vom Akkusationsprozess tief geprägt und das Vorgehen gegen korrupte Geistliche setzte bekanntlich eine private Anklage voraus. Es wird berichtet, dass sich selten ein Kläger fand, der sich den Risiken eines solchen Prozesses aussetzen mochte. Denn ihm drohten bei Misslingen des Überführungsbeweises selbst Sanktionen, insofern Kleriker mittels des „Reinigungseids“ ihre Unschuld zu bezeugen vermochten.126 Auf dem Vierten Laterankonzil im Jahre 1215, der bis dahin größten Zu­ sammenkunft kirchlicher Würdenträger in der Geschichte des Abendlandes, wurde das Dekretale „Qualiter er Quando“ vom 26. Februar 1206 in das Kirchenrecht aufgenommen.127 Dieser Strafverfahrenstyp galt nach Salas als dasjenige Instrument (wohl das mächstigste), das die Inquisition im religiö­ sen Reich brauchte, damit die Kirche ihre Herrschaft in der mittelalterlichen Gesellschaft sichern konnte.128 Ignor vermutet mit guten Gründen, dass dieses Dekretale „die tiefste Wur­ zel des Inquisitionsprozesses, seine Keimzelle bildet“.129 Das ‚Genom‘ des Inquisitionsprozesses, als Typus des Strafverfahrens, der seit dem 16. Jahr­ hundert das Strafverfahrensrecht in Deutschland prägt, geht teilweise histo­ 123  Siehe Baldauf (2004) S. 65; Ignor (2002) S. 47–50. Es wird berichtet, dass einer der ersten, die den neuen Prozesstyp aufgriffen, Friedrich der II (1194–1250) war und dass er neben den „klassischen“ Akkusationsverfahren in besonderen Fällen ein von Amts wegen durchzuführendes Untersuchungsverfahren institutionalisierte. 124  Nach ganz h. M. werde das „Prinzip der materiellen Wahrheitserforschung“ auch als Inquisitionsprinzip bezeichnet. Siehe nur Meyer-Goßner, § 155 II, Rn. 2. 125  Baldauf (2004) S. 65. 126  Jerouschek, Herausbildung, S. 335. 127  Ausführlich dazu Ignor (2004) S. 49 ff. 128  Salas (2005) S. 135; Schmidt (1995). Der Autor betont in seinem richtungs­ weisenden Werk (§ 127), dass die Bibel und zwar besonders das Alte Testament der religiösen Rechts- und Staatsauffassung ihre ausgedehnte Berücksichtigung als ver­ bindliche Quelle des Rechts verdanken und dass sich kein irdischer Richter mit göttlichen Weisungen in Widerspruch setzen dürfte. 129  Ignor (2002), S. 49.



D. Der Primat der Erkenntnis99

risch direkt oder indirekt auf das Kirchenrecht und die einschlägigen kirch­ lichen Institutionen zurück. Erst da sind die drei Elemente dieses Verfah­ renstyps erstmals konsequent zusammengeführt: das Offizialprinzip, der Untersuchungsgrundsatz und vor allem das m. E. wichtigste, nämlich die ­ Verknüpfung mit dem Prinzip der materiellen Wahrheit:130 so zu erfindung der warheyt dinstlich ist (Art. 8 CCC).131 Das liefert uns eine gute Erklärung dafür, aus welchem Grund es im Strafverfahren darum ginge bzw. gehen soll­ te, „wahre Schuld oder Unschuld“ des Verdächtigen herauszufinden. Es ist hier mit Salas festzuhalten, dass das Hauptziel des processus inquisitorius, wobei der Strafrichter und nicht die Parteien eine zentrale Rolle spielt, die Erforschung einer sog. ‚ontologischen, materiellen Wahrheit‘ war, nämlich einer absoluten Gewissheit über das historische Geschehen.132 Daraus resul­ tiert, dass die Gewissheit und die „materielle Wahrheit“ so, wie sie in dem Inquisitionsprozess verstanden werden, nicht einfach mit dem historischen Makel eines Theologie- bzw. Metaphysikverdachts behaftet sind.133 Stattdes­ sen sind sie, ähnlich wie das damalige Recht in das religiöse Weltbild einge­ bunden war, als originär theologische Kategorien zu begreifen.134 Metaphy­ sische Annahmen hatten auf der anderen Seite ‚wahre‘ Urteile zu sein. Da in dem religiösen Glauben der propositionale Gehalt der Gewissheit nicht bloß wahr, sondern notwendig wahr sein muss, hätten wir mit dem alethischen Modus der Notwendigkeit operieren sollen, immer wenn die Rede von ‚ma­ terieller Wahrheit‘ ist. Gerichtsurteile mussten notwendig wahr sein. Von Kontingenz konnte nicht die Rede sein. Nach katholischer Lehre ist außer­ dem der Glaubensakt zwar ein Verstandesakt, aber so einer, zu welchem der Verstand nicht logisch durch Evidenz genötigt wird, sondern ein Kraftakt. Die Unfehlbarkeit des religiösen Glaubensakts sei ein Ding an sich, das uns als solches kognitiv nicht zugänglich sein kann.135 ‚Wahr‘ war im Mittelalter allein die göttliche Heilsordnung und alles, was mit ihr im Einklang stand.136 Ignor (2002), S. 17 f. Art 8 CCC. Item so die missethat eyner todtstraff halben kündtlich, oder aber deßhalb redlich anzeygung, wie dauon vor berürt ist, erfunden wirdt, So soll es der peinlichen frag vnd aller erkundigung halben, so zu erfindung der warheyt dinstlich ist, auch mit rechtfertigung auff das thetters bekennen, gehalten werden, wie klerlich hernach von den jehnen die auff ankleger einbracht werden, geschriben vnd geordnet ist; vgl. Ignor (2002), S. 17. 132  Salas (2005), S. 138. 133  Näher dazu Stübinger (2008), S. 573. 134  Khebel (2009), S. 319; Schild (1980), S. 65. 135  So Khebel (2009), S. 328. 136  Gössel (2000), S. 7; diesbezüglich sollte man sich vor Augen führen, dass laut Artikel 102 der Carolina Sinn und Zweck der Strafe die Versöhnung Gottes sei. (Art. 102 „[Von beichten und vermanen, nach der verurtheylung]: Item nach der verurtheylumg des armen zum todt, soll man jm anderweyde beichten lassen, auch 130  So

131  Nach

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Teil 2: Die Hauptprobleme der juristischen Wahrheitsdebatte

Dabei handelte es sich um unfehlbares Wissen, insofern man nicht nach Gründen fragte oder suchte bzw. keine Begründungspflicht hatte. Zwar ha­ ben sich diese aus heutiger Sicht primitiven Gesellschaften, bei welchen „das Recht als Wille einer außerstaatlichen übernatürlichen Natur, als Befehl Gottes betrachtet“137 wurde, entwickelt und sind einem Ent-theologisie­ rungsprozess ausgesetzt worden. Denn im Rahmen des reformierten Straf­ prozesses wurde das strafrechtliche Unrecht nicht länger in der Sünde gegen Gott, sondern in der Verletzung des „Gesellschaftsvertrags“ gesehen.138 Das gleiche gilt jedoch nicht für unser Wahrheitsverständnis, das von religiösen Elementen noch nicht befreit werden konnte. Anders ausgedrückt: Während unser strafrechtliches Denken säkularisiert wurde, blieb unser strafprozess­ rechtliches Denken metaphysisch verhaftet. Solange wir diesem Problem nicht auf den Grund gehen und die erkenntnistheoretischen Grundlagen des Strafverfahrens nicht erneut definieren, werden wir mit einem Wahrheitsbe­ griff theologischer Herkunft operieren müssen. 1. Materielle Wahrheit und Jesus von Nazareth Es soll dementsprechend nicht wunder nehmen, dass in der rechtswissen­ schaftlichen Literatur139 das Thema der Wahrheit in Zusammenhang mit Jesus von Nazareth gebracht wird. Da findet sich u. a. die Auffassung, dass „der prominenteste, dem diese Frage je gestellt worden sein soll und dem wohl ein ganz bewusster Verzicht auf eine Beantwortung unterstellt werden muss“, Jesus von Nazareth war.140 Stübinger merkt an, dass dies vor allem deshalb schade ist, weil Jesus die Antwort mit in sein Reich genommen habe, „das bekanntlich nicht von dieser Welt ist“ (Joh. 18 36).141 Damit ist, so Stübinger, einer der aussichtsreichsten Kandidaten entgangen, „dem man eine letztgültige Klärung tatsächlich zugetraut hätte. Wer wenn nicht der Mensch gewordene Gott sollte verbindlich sagen können, was Wahrheit eigentlich ist?“142 Diese Bemerkung verwundert, weil sie nur teilweise zu­ zum wenigsten eynem priester oder zwem am außfüren, oder außschleyffen bei jm sein, die jm zu der lieb gottes, rechtem glauben vnd vertrawen zu Gott vmd dem verdienst Christi vnsers seligmachers, auch zu berewung seiner sünd vermanen, Man mag jm auch mm dem fürem für gericht vmd außfürem zum todt stettigs eym Cru­ cifix fürtragen.“ 137  Kelsen (2008), S. 191; Ignor (2002), S. 74. 138  Ignor (2002) S. 27. 139  Vgl. Stübinger, (2008) S.  391 ff. m. w. N.; Stamp, S. 247. 140  Stübinger, (2008) S. 391. 141  Stübinger (2008) S. 391; ähnlich Stamp (1998), S. 29 m. w. N.; Dreier (1996), S. 580. 142  Stübinger (2008), S. 391.



D. Der Primat der Erkenntnis101

trifft. Bei einer vorsichtige(re)n Überprüfung der Fundstelle wird deutlich, dass ein weiterer Satz aus dem Johannes‘ Evangelium nicht zitiert wird, der Stübingers Argument zu enkräften vermag. Denn laut diesem Evangelium wird deutlich gemacht, dass Jesus von Nazareth der erste ‚Prominente‘ ge­ wesen sein soll, der etwa das Schweigerecht während seines Strafprozesses vor dem Pontius Pilatus wahrgenommen hat, um etwa sich selbst nicht zu belasten. Eine Antwort auf die Frage, die der römische Präfekt als rheto­ risch behandeln zu dürfen glaubte, hat sich Jesus von Nazareth eigentlich nicht verweigert. Laut dem von Johannes überlieferten Evangelium lehrt er: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich.“ Johannes 14, 6 (EU)143

Traut man also Jesus von Nazareth eine letztgültige Antwort zu, so wird man schnell fündig. Die prima veritas im Sinne des Thomas von Aquin144 sei nämlich Jesus selbst, weil „so viele Verheißungen Gottes es auch gibt, sie sind durch ihn zum Ja geworden“ (2. Korinther 1,20). Hält man also Jesus für den aussichtsreichsten Kandidaten (bzw. kompetenten Sprecher), eine Antwort zu liefern, so erklärt man sich implizit bereit, seine Antwort als bindend anzunehmen. 2. Wovon reden wir eigentlich? Bei der (Jesus-selbst-ist-die-)Wahrheit, von welcher hier die Rede ist, handelt es sich allerdings nicht um eine Sache der Historie bzw. irgendeiner Wissenschaft, sondern um eine Sache der Metaphysik.145 Die Wahrheit, die laut der Bibel Jesus selbst als Gottessohn verkörpert, ist nicht nur metaphy­ sischer, sondern geradezu moralischer Natur, da man für das Christentum erst dann in der Wahrheit lebt, wenn man sich an christliche Gebote hält, nämlich wenn man moralisch handelt.146 Die Wahrheit Gottes, so wird aus­ geführt, ist für den Glaubenden durch das lumen fidei vermittelt, das in der Wortoffenbarung für den Menschen eine inhaltliche Bestimmtheit erfährt147 143  Gr.: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich.“ 144  Vgl. dazu Mayer (2002), S. 9. 145  So Mayer (2002), S. 12. 146  Näher dazu Mayer (2002), S. 12; siehe auch Kelsen (1971): „Pilate asked. ‚What is Truth?‘ The Roman procurator did not expect, and Jesus did not give an answer to this question; for to give testimony for truth was not the essence of his divine mission as the Messianic King. He was born to give testimony for justice, the justice to be realized in the Kingdom of God […] Thus, behind the question of Pilate, ‚What is Truth?‘ arises, another still more important question, the eternal question of mankind: What is Justice?“ 147  Mayer (2002), S. 14.

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Teil 2: Die Hauptprobleme der juristischen Wahrheitsdebatte

und als Richtschnur für ein im religiösen Sinne moralisches Leben dient. Die Anhänger einer Religion haben freilich die Gültigkeit moralischer Nor­ men anzuerkennen und sich daran zu halten. Dann werden sie, so Johannes (8, 32), die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird sie wiederum befrei­ en. Ähnliches gilt für die Gewissheit, die daraus resultiert. Der höchste Grad der Gewissheit beruhe nicht auf Evidenz oder Gründen, die für bzw. gegen eine Hypothese sprechen, sondern sei ein Kraftakt. Denn das, was den Glaubenswahrheiten an innerer Evidenz gebricht, müsse „durch die Autorität dessen, der sie offenbart hat, ersetzt und folglich durch den Willen kompensiert werden, sich intellektuell zu unterwerfen.“148 Auf der anderen Seite schließe die absolute Transzendenz Gottes jede Möglichkeit aus, ihn mit irgendeinem menschlichen Begriff zu identifizie­ ren, denn kein Wort oder Gedanke der Menschen sei in der Lage, zu erfas­ sen und zu begreifen, was Gott ist.149 Gott und seine Wahrheit sind in diesem Sinne das absolute Geheimnis!150 Gründe, die für die Unerfassbar­ keit der Wahrheit sprechen (wenn man sie so betrachtet), und die daraus resultierende Unmöglichkeit der Erkenntnis, finden sich außerdem schon in den „heiligen Schriften“: „Es ist der Geist der Wahrheit, den die Welt nicht empfangen kann, weil sie ihn nicht sieht und nicht kennt. Ihr aber kennt ihn, weil er bei euch bleibt und in euch sein wird.“ (Joh 14, 17 EU)

Hinter den Kulissen der (materiellen) Wahrheitsproblematik versteckt sich also die religiös motivierte Suche nach Moral und Gerechtigkeit. In­ dem wir aber die Fragestellungen verwechseln, gelingt es uns nicht, uns mindestens über die Wahrheitsproblematik Klarheit zu verschaffen. Die Suche ‚nach dem Wesen der Wahrheit‘ führt uns zu materieller Wahrheit und diese wiederum zu Metaphysik. Zwei Bemerkungen erscheinen mir geboten zu sein. Erstens: Von dem religiösen Glauben und der materiellen Wahrheit ausgehend gelangt man nicht zum Erkenntnisskeptizismus, wie oft behauptet wird, sondern zum Dogmatismus. Zweitens wird dabei eine andere condicio humana vorausgesetzt: die des ‚gefallenen Menschen‘, dessen Erkenntnispotenzial nach christlicher Anthropologie folgendes ist: Die konstitutive Beschränktheit des menschlichen Erkenntnisvermögens, die post lapsum enstanden sei.151 Die berühmte Formulierung des Reichs­ gerichts (RGSt 61 202 (206)), demzufolge ein absolut sicheres Wissen der menschlichen Erkenntnis bei ihrer Unvollkommenheit überhaupt verschlos­ 148  Knebel

(2009), S.  318 f. (1974), S. 11. 150  So Tomaschek (2001), S. 13. 151  Spoerhase (2009), S. 270. 149  Meyerndorff



D. Der Primat der Erkenntnis103

sen sei,152 ergibt genau dann Sinn, wenn wir uns auf eine theologische condicio beziehen und den Menschen mit einem höheren Wesen verglei­ chen, dessen Wahrnehmung unbegrenzt (vollkommen) sei. Die Formulie­ rung „irdische Suche nach Wahrheit“153 ergibt wenig Sinn, weil es sinn­ vollerweise nur eine solche geben kann. Bei einer ‚außerirdischen‘ oder metaphysischen Suche handelt es sich um ‚Forschungs‘gebiete einer ande­ ren Disziplin.

III. Ein Grabenkampf und die Stellung der Rechtswissenschaften Sowohl die Theologie als auch die Wissenschaften glauben fest an ihre ‚Wahrheiten‘. Die einen glauben an eine ‚offenbarte‘, unabänderliche Wahr­ heit, die ‚heiligen Schriften‘ entspringt; die anderen glauben nur an der Offenheit der wissenschaftlichen Prozesse, die wissenschaftliche Sätze auf­ zustellen und zu überprüfen erlauben. Einzige Autorität hier ist die Wahr­ heit, die zu erfassen keiner endgültig beanspruchen darf. Dieser Prozess hat prinzipiell kein Ende: „Wer eines Tages beschließt, die wissenschaftlichen Sätze nicht weiter zu überprüfen, sondern sie etwa als endgültig verifiziert zu betrachten, der tritt aus dem Spiel aus.“154 Es gelingt uns hier, die Gründe des Scheiterns der Wahrheitsproblematik besser nachzuvollziehen. Das theologische Genom des Strafverfahrens, die Suche nach ‚materieller Wahrheit‘ als propositionaler Gehalt des Ermitt­ lungsgrundsatzes erweist sich als fruchtbarer Boden für die KW, die in der heutigen Form auf Thomas von Aquin zurückgeht und die in Harmonie mit ihrem geistigen Vater eine metaphysische Analyse der Wahrheit offeriert. Von diesem Dogmatismus soll jedoch explizit Abstand genommen werden. Vielleicht hatte Karl Marx Recht, als er betonte, dass am Anfang aller Kri­ tik die Kritik der Religion steht.155 Das Konzept einer materiellen Wahrheit und die ihm zugrunde liegende KW scheitern allem voran an ihrem meta­ physischen Charakter. Da die westliche, wissenschaftlich-technische Zivili­ sation die Metaphysik und ihre großen Themen wie z. B. Gott als letzte 152  Daran anknüpfend der BGHSt 10 208 (209): „Denn im Bereich der vom Tat­ richter zu würdigenden Tatsachen ist der menschlichen Ereknntnis bei ihrer Unvoll­ kommenheit ein absolut sicheres Wissen über den Tathergang, demgegenüber ande­ re Möglichkeiten seines Ablaufs unter allen Umständen ausscheiden müßten, ver­ schlossen.“ 153  Arzt (1997), S. 10; Stamp (1998), S. 53. 154  Popper (1994), S. 30. 155  K. Marx, Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEW 1, S. 378. Abrufbar unter: http: /  / www.mlwerke.de / me / me01 / me01_378.htm.

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Teil 2: Die Hauptprobleme der juristischen Wahrheitsdebatte

Ursache des gesamten Universums sowie die Zweckmäßigkeit der Welt,156 wiederholt herausgefordert und abgeschwächt hat, wurde es Zeit, uns end­ gültig von metaphysischen Annahmen, die die Menschen zum Mystizismus drängen, zu verabschieden.

E. Eine verfehlte Unterscheidung Das Augenmerk der Rechtswissenschaft hat bisher hauptsächlich auf zwei Wahrheitstheorien gelegen, nämlich der Korrespondenz- und der Diskurs­ theorie der Wahrheit.157 Dadurch wird m. E. die unsystematische Behand­ lung der philosophischen Probleme, die die Sachverhaltsfeststellung betref­ fen, zu Tage gebracht. Denn weder ist die KW die einzige realistische, d. h. nicht-epistemische Wahrheitstheorie noch stellt die Diskurstheorie die einzi­ ge Antagonistin bei den epistemischen Wahrheitstheorien dar. Zu den epis­ temischen Wahrheitstheorien gehören u. a. die Theorie der rationalen Akzep­ tierbarkeit, die Kohärenztheorie,158 die pragmatische Theorie etc.159 Es gibt nämlich bei beiden Grundkategorien mehrere Konkurrentinnen, gegen die sich beide Ansätze erwehren sollen, sodass deren Leistungsfähigkeit nicht von vornherein beurteilt werden könnte. Eine Behandlung jedes einzelnen Ansatzes würde den hier gesetzten Rahmen sprengen. Mir geht es hier nur um eine m. E. falsche Unterscheidung, deren Folgen verheerend für die Kohärenz der juristischen Argumentation zu sein scheinen. So selbstver­ ständlich die Bemerkung Stamps sein mag,160 der zufolge es nicht begrün­ dungsbedürftig ist, dass es im Strafverfahren um die Ermittlung der Wahr­ heit geht, lässt sie sich dennoch nicht aufrecht erhalten. Denn es ist alles andere als geklärt, ob es dabei um Wahrheit im Sinne von epistemischen oder nicht-epistemischen Wahrheitstheorien gehen soll. Bei der KW und der Diskurstheorie, um welche die juristische Debatte kreist, handelt es sich nicht einfach um verschiedene Wahrheitstheorien, sondern um verschiedene Kategorien von Ansätzen. Im Folgenden möchte ich erklären, welcher Ka­ 156  Mehr dazu bei Tetens (2006), S. 19. Nach Kant können wir uns nur dann als autonome vernünftige Personen begreifen, wenn wir an vier grundlegenden meta­ physischen Annahmen festhalten dürfen: an der Annahme, dass der Mensch einen freien Willen hat; an der Annahme, dass Gott die letzte Ursache des gesamten Uni­ versums ist; an der Annahme, dass der Mensch eine unsterbliche Seele hat und an der Annahme, dass die Welt sinnvoll eingerichtet und auf den Menschen zugeschnit­ ten ist. 157  Ähnlich Poscher (2003), S. 201. 158  Nota bene: als Theorie der Wahrheit und nicht als Theorie der Rechtfertigung. 159  Siehe Baumann (2006), S. 173 ff., Gloy (2004), S. 168 (da werden sie „sub­ jektimmanente Wahrheitstheorien“ genannt). 160  Stamp (1998), S. 13.



E. Eine verfehlte Unterscheidung105

tegorienfehler begangen wird, wenn diese grundlegende Unterscheidung außer Acht gelassen wird. Ordnet man die verschiedenen Wahrheitstheorien nach systematischen Gesichtspunkten, so kann man sie in epistemische und nicht-epistemische (oder realistische) Wahrheitstheorien unterteilen.161 Im Unterschied zu den Deflationisten, denen zufolge sich über Wahrheit nichts Substantielles aus­ sagen lässt,162 betrachten die Anhänger sowohl nicht-epistemischer als auch epistemischer Wahrheitstheorien die Wahrheit als einen inhaltsreichen Be­ griff.163 Realistischen Wahrheitstheorien zufolge wird die Wahrheit meta­ physisch ausbuchstabiert.164 Eine Überzeugung sei genau dann wahr, wenn sie mit einem Wahrmacher in der Welt korrespondiert. Die praktische Konsequenz besteht darin, dass nach dieser Auffassung Wahrheit als radikal nicht-epistemisch betrachtet wird. Eine Aussage soll wahr oder falsch sein und zwar völlig unabhängig davon, ob und wie wir dies feststellen (kön­ nen). Zu betonen sei, dass Wahrmacher nur Dinge in der Welt sein können. Das unüberwindliche Problem besteht jedoch schon darin, dass wir uns auf Tatsachen nur epistemisch beziehen können. Es wird von uns ständig ver­ langt, Gründe anzugeben. Bei den nicht-epistemischen Theorien gibt es al­ lerdings nichts zu rechtfertigen, weil die Wahrheit (so wie jeder metaphysi­ scher Begriff) uns kognitiv nicht zugänglich ist.165 Dies macht uns in sys­ tematischer Hinsicht verständlich, weshalb die Gleichschaltung beider Seiten ein übermenschliche kognitive Fähigkeiten besitzendes tertium comparationis voraussetzt, in dem res extensa und res cogitans zu vermitteln sind.166 161  Davidson (1990); zu betonen sei, dass nach Davidson beide Kategorien unbe­ friedigend sind. Epistemische Wahrheitstheorien seien unhaltbar („untenable“) und realistische letztlich unverständlich („ultimately unintelligible“); eingehend dazu Grundmann (2008), S. 42 ff. 162  Die Redundanztheorie wurde erstmals 1927 von F.P. Ramsey (1927) aufge­ stellt. Die Hauptthese besteht in der Behauptung, dass das Wahrheitsproblem eigent­ lich ein Pseudoproblem sei und dass Wahrheit sich allein durch das Zitattilgungs­ schema definieren lässt. Zur ausgewogenen Kritik Davidson (1996), S. 265 ff. und Davidson (1990) S. 284. Der Autor fragt sich: „How plausible are these various deflationary theories of truth? If we restrict the redundancy theory to occurrences of ‚true‘ as part of a truth-functional sentential connective (as in ‚It is true that snow is white‘, then it is not clear that such uses play only a small role in our talk of truth; this cannot be the whole story.“ Siehe auch Baumann (2006), S. 170–172; Grundmann (2008), S. 56 ff.; Gloy (2004), S. 160–167; Poscher (2003), S. 200–215. 163  Ernst (2010), S. 53. 164  Grundmann (2008), S. 62. 165  Unter Metaphysik versteht Kant diejenige philosophische Disziplin, die es mit nicht in der Erfahrung gegebenen Gegenständen zu tun hat, bzw. mit Begriffen, denen keine sinnliche Erfahrung entspricht (KrV B XIX). Mehr dazu: Disse (2007), S. 217. 166  In diesem Zusammenhang ist nicht irrelevant, dass der Gesetzgeber mit so einem Wesen, das allmächtig und allwissend sein soll, vertraut ist. § 64 I StPO

106

Teil 2: Die Hauptprobleme der juristischen Wahrheitsdebatte

Es ist also ein Kategorienfehler, von der KW auszugehen und gleichzeitig die Rechtfertigungspflicht des Tatrichters für ein sine qua non-Element ei­ nes Rechtsstaates zu erklären. Metaphysisch ausbuchstabierte Wahrheit (im Sinne der KW) und Begründung bzw. Rechtfertigungspflicht gehören nicht zusammen. Den Umkehrschluss daraus zu ziehen scheint auf den ersten Blick tri­vial zu sein. Operiert man innerhalb dieses Begriffsschemas und geht man ent­ weder von einer epistemischen oder von einer realistischen Wahrheitstheo­ rie aus, dann ist man auf die Hauptmerkmale der jeweiligen Ansätze an­ gewiesen. Gehen wir also von einer realistischen Wahrheitstheorie aus, so wie die h. M. von der KW, dann haben wir die Wahrheit als einen meta­ physischen Begriff zu betrachten, der uns kognitiv nicht zugänglich ist. Denn bei metaphysischen Begriffen wird jedwede Rechtfertigungspflicht ausgeblendet, gerade weil es da nichts zu rechtfertigen gibt. Williams merkt an, dass wie auch immer (materielle) Wahrheit weiter zu erläutern ist, sie nicht durch irgendwelche epistemischen Begriffe erläutert werden darf.167 Es leuchtet also auf den zweiten Blick ein, dass die Folgen dieser Auswahl keineswegs unwichtig sind. Verfechter der KW sollen die Größe der Rechtfertigung aus dem Begriffsapparat materieller Wahrheitstheorien ausblenden. Denn jeder Erkenntnis-Realist ist dazu verpflichtet, Wahrheit unabhängig von epistemischen Bedingungen zu betrachten.168 Die juristi­ sche Literatur wird also mit einem m. E. unauflösbaren Widerspruch kon­ frontiert. Man muss eine plausible Erklärung liefern, wie die KW (als re­ alistische Wahrheitstheorie) und die Rechtfertigungspflicht der Tatrichter in Einklang gebracht werden können. Gegen diese Auffassung könnte einge­ wandt werden, dass auch bei der KW oder sonst einer nicht-epistemischen Wahrheitstheorie eine Überzeugung ebenfalls gerechtfertigt sein könnte. Z. B.: „A ist in seiner Überzeugung gerechtfertigt, dass ein Tisch im Raum steht.“ Dem A Wissen abzusprechen würde nämlich unserer Grundintuition über Wissen zuwiderlaufen. statuiert: „Der Eid mit religiöser Beteuerung wird in der Weise geleistet, dass der Richter an den Zeugen die Worte richtet „Sie schwören bei Gott dem Allmächtigen und Allwissenden, dass Sie die reine Wahrheit gesagt und nichts verschwiegen ha­ ben“. Wie deklaratorisch, suggestiv oder Ähnliches diese Vorschrift sein mag, sie hilft dem Richter kaum, diese Korrespondenz selbst festzustellen. Got mag die Kor­ respondenz bestätigen oder ablehnen. Das sei jedenfalls für uns unerforschlich und daher uninteressant. Es scheint also aus einem weiteren Grund klar zu sein, dass der programmatische Anspruch der KW sich schwerlich bzw. kaum einlösen lässt. Die Betonung Franks (1931), S. 233–267, dass Richter (nur) Menschen sind, ist in die­ sem Kontext ganz und gar nicht trivial. 167  Williams (1996), S. 146; Williams fügt hinzu, dass solche Vorgehensweisen „die Objektivität der Welt kompomittieren“. 168  Williams (1996), S. 146.



E. Eine verfehlte Unterscheidung107

Diesbezüglich können wir zwischen Rechtfertigung i. e. S. und Rechtferti­ gung i. w. S. unterscheiden. In einem weiteren Sinne kann eine Überzeugung auch dann gerechtfertigt sein, wenn die Rechtfertigung der Person selbst nicht kognitiv zugänglich ist, z. B. wenn die Überzeugung auf angemessene Weise kausal entstanden oder auf verlässliche Weise (z. B. durch ein zuver­ lässiges Verfahren) erworben worden ist.169 Dabei bildet die kausale Theorie des Wissens den Ausgangspunkt. Dementsprechend kann man externalisti­ sche Konzeptionen von internalistischen unterscheiden, denen zufolge kog­ nitive Zugänglichkeit ein normativer Standard der Rechtfertigung i. w. S. ist.170 Für Internalisten ist es allerdings nicht hinreichend, dass eine Über­ zeugung auf irgendeine Weise einfach ‚gerechtfertigt ist‘. Denn der episte­ mische Agent (die Person, die die Überzeugung hat) hat nicht nur epistemi­ sche Rechte, sondern auch epistemische Pflichten. Er muss selbst aktiv Gründe für seine Überzeugung anführen bzw. anführen können. Und es ist ausgerechnet die Rechtfertigungspflicht (die Pflicht, aktiv Gründe anzuge­ ben) die von Rechtsprechung und Literatur betont und erfordert wird.171 Geht man also von einer nicht-epistemischen Theorie aus, und dazu zählt auch die KW, dann bleibt der normative Standard der Rechtfertigung i. e. S. unerfüllt. Damit ist man freilich der anti-realistischen Kritik ausgesetzt, die den zugrunde liegenden erkenntnistheoretischen Rahmen (Erkenntnisrealis­ mus) betrifft. Geht man aber von einer KW aus und versucht, auf eine 169  Baumann

(2006), S. 179. (2001), S. 29–33. 171  Man stellt relativ schnell fest, dass die deutsche höchstrichterliche Rechtspre­ chung unter Rechtfertigung eher die internalistische Konzeption versteht, d. i. die Rechtfertigung im engeren Sinne. Urteilsaufhebungen durch Revisionsgerichte wegen mangelhafter Beweiswürdigung im tatrichterlichen Urteil gehören seit langem zum Alltag der Strafjustiz (siehe Wagner (1994), S. 259). Und das obwohl der Wortlaut des § 267 Abs. 1 StPO den Tatrichter nicht verpflichtet eine Beweiswürdigung vorzuneh­ men: Er ist nur verpflichtet, „die für erwiesen erachteten Tatsachen anzugeben, in denen die gesetzlichen Merkmale der Straftat gefunden werden“. Darauf werde ich später eingehen. Vorab lässt sich bemerken, dass die Tatsache, dass unsere Rechtspre­ chung konsequent für eine Begründungspflicht spricht, folgenden Schluss zulässt: Man kann gerechtfertigterweise ihr unterstellen, dass sie sich von der Wahrheit als nicht-epistemischem Begriff distanziert hat. Rechtfertigung wird nicht nur für ein Tatbestandsspezifikum der §§ 261, 267 StPO, sondern für eine notwendige Bedin­ gung jeder Entscheidung gehalten. Dies kann z. a. befriedigend erklären, weshalb die Notwendigkeit der Begründung gänzlich von der Anfechtbarkeit eines Strafurteils abzusehen ist und nicht anfechtbare gerichtliche Entscheidungen begründet werden müssen (so Wagner (1994), S. 272; siehe auch BVerfGE 49, 67; 55, 205). Last but not least kann diese Bisoziation uns befriedigend erklären, weshalb wir – trotz des Wort­ lauts des § 267 StPO das Gefühl nicht loswerden konnten, dass die Begründungs­ pflicht weit über ein gesetzliches Sollen hinausgeht: Die diesen Urteilsaufhebungen zugrunde liegende Rechtfertigungspflicht wäre mit einem korrespondenztheore­ tisch / erkenntnis-realistisch gefaßten Wahrheitsbegriff unvereinbar. 170  Kompa

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Teil 2: Die Hauptprobleme der juristischen Wahrheitsdebatte

systematisch betrachtet unerklärliche Weise seinen jeweiligen Wahrheitsan­ spruch zu „rechtfertigen“, indem man Gründe für seine Überzeugung an­ führt, so macht man sich einer begrifflichen Inkonsistenz schuldig. Auf der anderen Seite steht die Grundidee epistemischer Wahrheitstheo­ rien, Wahrheit auf die eine oder andere Weise auf Rechtfertigung zu redu­ zieren. Eine Überzeugung sei genau dann wahr, wenn sie etwa unter opti­ malen Bedingungen gerechtfertigt ist. Epistemische Wahrheitstheorien pointieren also, dass Wahrheit in bestimmter Weise nur von unserem Er­ kenntnisvermögen abhängig, d. h. uns kognitiv zugänglich sei. Beide, sowohl epistemische als auch realistische Wahrheitstheorien, sind m. E. unbefriedigend. Nach Davidson sind beide Theorien nicht haltbar: „while no doubt answering to powerful intuitions, [both views] are funda­ mentally mistaken […] Epistemic theories reduce reality to so much less than we believe there is. Realist theories, on the other hand, seem to throw in doubt not only our knowledge of what is ‚evidence-transcedent‘, but all the rest of what we think we know, for such theories deny that what is true is conceptually connected in any way to what we believe.“172 An dieser weichenstellenden Unterscheidung zwischen epistemischen und nicht-episte­ mischen Wahrheitstheorien kann allerdings, solange man die Unterscheidung für sinnvoll hält, eine Strafprozessrechtslehre nicht vorbeigehen, die ihre Rationalität nicht aufgeben will. Diese Arbeit stellt kein Plädoyer für epistemische Wahrheitstheorien dar. Wahrheitsauffassungen, die die KW zu ersetzen beanspruchen, wie die Theo­ rie der idealen Verifizierbarkeit, die Diskurs- oder letztendlich die Kohärenz­ theorie, leiden an starken Idealisierungen (wie z. B. der Konsens unter den idealen Bedingungen eines völlig herrschaftsfreien Diskurses), und sind ihrerseits heftiger Kritik ausgesetzt.173 Denn ihr wesentlicher Vorteil, dass sie eben das Thema der Begründung unserer Meinungen thematisieren, weist auch auf ihre Achillesferse hin, nämlich die Überbetonung der episte­ mischen Aspekte der Wahrheit, die die Objektivität unseres Wissens zu opfern scheint.174 Die oben skizzierte Schwäche von epistemischen Wahr­ heitstheorien sowie die unüberwindlichen Schwierigkeiten der einem meta­ physischen Realismus175 verpflichteten KW stellen uns das Desiderat eines 172  Davidson

(1990), S. 298 f. Grundmann (2010), S. 44 ff., Baumann (2006), S. 173 f.; kritisch auch Poscher (2003), S. 205 ff. Auf eine detaillierte Analyse der epistemischen Wahrheits­ theorien möchte ich hier verzichten. 174  Williams (1996), S. 150 f. 175  Dem metaphysischen Realismus zufolge sind die Dinge, wie sie sind, und zwar dessen ungeachtet, was wir von ihnen glauben oder unter bestimmten Bedin­ gungen von ihnen glauben würden. Siehe Williams (1996), S. 145. 173  Siehe



F. Das Ziel des Strafverfahrens: Die Falle der Wahrheit109

erkenntnistheoretischen Modells – eines davon ist der Inferentielle Kontex­ tualismus (vgl. Teil 4). Es wird also zum Thema Wahrheitstheorien keine Stellung bezogen; mir ging es nur um die Inkonsistenz der juristischen Argumentation in puncto Wahrheit, wobei man kombiniert, was nicht kombiniert werden kann bzw. darf.

F. Das Ziel des Strafverfahrens: Die Falle der Wahrheit Die m. E. unüberwindlichen Probleme, die das Beharren auf dem Pro­ gramm der materiellen Wahrheit auslöst, treten vor allem dann zu Tage, wenn man sich die sog. „Hauptfrage“ der Hauptverhandlung vergegenwär­ tigt. Sie lautet: „Wann ist die Schuld bewiesen?“ Anhand welches objektiven Kriteriums darf der Tatrichter davon ausgehen, dass der Angeklagte sich tatsächlich strafbar gemacht hat? Historisch betrachtet handelt es sich dabei um die seit der Entstehung des Inquisitionsprozesses und der zugleich zu beobachtenden Theologisierung des Strafrechts zentrale Frage des Beweis­ rechts.176 § 293 StPO in seiner ursprünglichen Fassung schrieb vor: „Die Hauptfrage beginnt mit den Worten: Ist der Angeklagte schuldig?“ Die Lage hat sich trotz der Gesetzesänderung nicht wesentlich geändert. B. Schmidt vertritt die Auffassung, dass „die Ermittlung des wahren Sach­ verhaltes“ das zentrale Anliegen des Strafprozesses ist.177 Bei dem Strafpro­ zess geht es nach Stamp bloß darum, zu ermitteln, was wirklich geschehen ist.178 Voraussetzung nun für ein richtiges Beurteilen der Beweise und damit für ein gerechtes Urteil sei das korrekte Feststellen des Sachverhalts.179 Führt man sich vor Augen, dass die im § 244 II StPO explizit zum Aus­ druck kommende Wahrheitserforschungspflicht als Korrespondenz mit einer ontologischen Wirklichkeit verstanden wird, so soll es nicht wunder neh­ men, dass die Frage, die dem Tatrichter gestellt werden müsse, folgende ist: ‚Ist der Angeklagte wirklich der Täter einer verfolgbaren und zurechenbaren Straftat?‘ Hier drängt sich die Frage nach den Gründen auf, aus denen aus­ gerechnet diese plausible Frage problematisch ist und in unser Blickfeld Ignor (2002), S. 29. Schmidt (1992), S. 177. Anschließend räumt der Autor ein, dass absolute Wahrheit in dem Sinne einer völligen Übereinstimmung des tatsächlichen Gesche­ hens und des rekonstruierten Sachverhalts angesichts unserer begrenzten Erkenntnis­ möglichkeiten nie vollends zu erreichen sei. Der Widerspruch liegt auf der Hand. BVerfGE 57, 275. 178  Stamp (1998), S. 49. 179  B. Schmidt (1992), S. 176. 176  So 177  B.

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Teil 2: Die Hauptprobleme der juristischen Wahrheitsdebatte

geraten soll. Gibt es dafür etwa einen anderen Kandidaten oder salopp formuliert: Weshalb ist die zentrale Frage des Strafverfahrens ihrer Selbst­ verständlichkeit zum Opfer gefallen? Dies möchte ich anhand der sogenann­ ten „komplexen Art von Aufgabe“ des Strafverfahrens erklären.

I. Bohre nicht nach Erdöl, wo es keines gibt! Betrachten wir die nach h. M. doppelte Aufgabe des Strafprozessrechts genauer. Roxin und Schünemann erklären in dem wohl einflussreichsten Lehrbuch für das Strafverfahrensrecht die Aufgabe des Strafverfahrens:180 Sie sei komplexer Art und bestehe aus folgenden drei Forderungen, die für ein rechtsstaatlich verfasstes Gemeinwesen gleichermaßen bedeutsam sind: a) Schutz des Unschuldigen b) Verurteilung des Schuldigen und c) die aller Willkür entrückte Justizformigkeit des Verfahrens und die Rechtsbeständig­ keit der Entscheidung. Hierin liege eine „klare und gleichsam selbstverständ­ liche“181 Handlungsanweisung an den Tatrichter, die der zugrunde liegenden Wahrheitstheorie (KW) gerecht zu werden vermag. Der Tatrichter solle sich daran orientieren, ob der Vorwurf stimmt, ob der Angeklagte es gewesen ist. Setzt man diese Handlungsanweisung konsequent um, so ergeben sich da­ raus zwei Handlungsanweisungen an den Tatrichter: (1)  tue A: verurteile den Schuldigen; (2)  tue B: sprich den Unschuldigen frei. Dabei geht es, wie Neumann treffend anmerkt, um die vergeltende Ge­ rechtigkeit: „Schuld und Schuldlosigkeit werden jeweils nach den Maßstä­ ben des materiellen Strafrechts beurteilt“.182 Das Strafverfahrensrecht werde damit als Vorbedingung und Instrument der Umsetzung des Geltungsan­ spruchs des materiellen Strafrechts.183 Die Aufgabe des Strafverfahrensrechts bestehe also darin, die materielle Wahrheit über die Tat herauszufinden und die Bedingungen für ein gerech­ tes Urteil zu schaffen.184 Das heißt, man solle die Richtigkeit des Urteils 180  Roxin / Schünemann

(2009), S. 2 ff. (1998), S. 219. 182  Neumann, Gerechtigkeit, S. 53. 183  Kühne, (2010), Rn. 1. 184  Darüber hinaus ist der Ansatz nicht neu. Ihn können wir jedenfalls bis auf die Constitutio Criminalis Carolina zurückverfolgen. Im Art. 6 CCC war vorgeschrieben, dass es bei der Untersuchung darum ging, herauszufinden, ob die Straftat („misse­ that“) tatsächlich verübt wurde und ob der Verdächtige tatsächlich der Missetäter ist. Dieser Vorschrift lag wiederum eine Passage in der Bibel zugrunde: „Wer Schuldige freispricht und wer Unschuldige verurteilt, beide sind dem Herrn ein Gräuel“ (Buch der Sprichwörter 17, 15). 181  Stamp



F. Das Ziel des Strafverfahrens: Die Falle der Wahrheit111

daraufhin prüfen, ob sie mit der Wirklichkeit korrespondiert.185 Ferner wird von Roxin und Schünemann hervorgehoben, dass das isoliert betrachtete Prozessziel der materiellen Richtigkeit (d. h. Übereinstimmung des Strafur­ teils mit der Wirklichkeit) zwei gegenläufige Tendenzen in sich berge und dass Schuld und Unschuld vielmehr im Laufe des Prozesses ermittelt wer­ den sollen.186 Modifiziert man den oben gezeichneten Handlungsanweisun­ genkomplex entsprechend, indem man berücksichtigt, dass es beim Strafver­ fahren um einen Angeklagten geht, der noch nicht verurteilt ist und kraft der Unschuldsvermutung als Unschuldiger behandelt werden soll, kann man ihn folgendermaßen umschreiben: –  tue A: verurteile den Täter; –  tue B: sprich den Nicht-Täter frei. Ich möchte hier im Anschluss an Kühne die These begründen, dass der Versuch, den Geltungsanspruch des materiellen Strafrechts umzusetzen, ei­ gentlich auf einem Interpretationsfehler beruht.187 Die Handlungsanweisung an den Tatrichter, so wie sie die h. M. versteht, ist zirkulär, weil sie ihren propositionalen Gehalt (nämlich den Wahrheitswert des Sachverhalts „p“, der dem Angeklagten angehängt wird) als bekannt voraussetzt. Diese Zirku­ larität, die übrigens unter Umständen als logischer Fehler bei der Beweis­ würdigung einen Revisionsgrund darstellen kann,188 betrifft hier das Herz des Strafverfahrens. Das oben genannte Schema kann man so umschreiben: –  Der Tatrichter glaubt, dass p, weil p. –  Der Tatrichter glaubt, dass nicht-p, weil nicht-p. Der Satz p ist wie es einleuchtet der propositionale Gehalt der Überzeu­ gung189 und ist auf die Wirklichkeit angewiesen: –  Der propositionale Gehalt der Anklage ist p, immer wenn p. –  Der propositionale Gehalt der Anklage ist nicht-p, immer wenn nicht-p. Es sei unterstrichen, dass nach der KW unter Wahrheit die Beziehung zwischen dem propositionalen Gehalt einer Aussage (res) und demjenigen 185  Diese Auffassung knüpft teilweise an die Rechtsprechung des BGH (BGHSt 18, 274 (275)) an: „Da nur der wirklich Schuldige Strafe verwirkt [prüf mal bitte, ob das Wort so stimmt; kann Strafrechtsjargon sein, aber im allgemeinen Sprachge­ brauch heißt „verwirken“ das Gegenteil], muss straflos ausgehen, wessen Schuld nicht zweifelsfrei feststeht und wer daher möglicherweise unschuldig ist“. 186  Roxin / Schünemann, (2009), Rn. 5. 187  Kühne (2010) Rn. 1. 188  BGHSt 6, 70 (72); BGHSt19 33 (34). 189  Das Verb „glauben“ stellt hier einen mentalen Zustand dar, dessen sprachli­ cher Ausdruck typischerweise ein Behauptungssatz ist. Ausführlich dazu Willascheck (2003), S.  214 f.

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Teil 2: Die Hauptprobleme der juristischen Wahrheitsdebatte

Satz verstanden werden soll, der einen mentalen Zustand zum Ausdruck bringt (intellectus). Doch das unüberwindliche Problem ist die Tatsache, dass wir bereits wissen müssten, welchen Wahrheitswert der propositionale Gehalt einer Überzeugung hat, um sagen zu können, welche Tatsache sie gegebenfalls wahr und welche sie falsch machen würde.190 Mit anderen Worten: wir müssten bereits wissen, was wirklich der Fall ist – davon hängt ja der Wahrheitswert unserer Überzeugung ab –, um den Tatrichter anweisen zu können, welchen Täter er zu verurteilen und welchen Nicht-Täter er freizusprechen hat. Kriterium eines Strafurteils ist jedenfalls nicht die „wah­ re Wirklichkeit“, sondern die Überzeugung eines Tatrichters. Im Sinne die­ ser Arbeit ist jenes nicht der (kaum feststellbare) Wahrheitswert des propo­ sitionalen Gehalts einer Aussage, sondern die tatrichterliche Überzeugung.191 Die Probleme sind also zweierlei Art. Die Sachverhaltsfeststellung ist erstens nach wie vor eine ureigene Aufgabe des Tatrichters – nicht unsere. Es leuchtet zweitens ein, dass der Tatrichter nicht bereits weiß, was der Fall ist. Die klassische (platonische) Definition des Wissens als „gerechtfertigte wahre Meinung“ ist nicht auf kontingente Fälle wie historische Tatsachen anwendbar.192 Wahrheit ist erst dann eine Bedingung forensischen Wissens, wenn wir die Größe der Unsicherheit ausblenden. Daraus ergibt sich, dass die sog. „doppelte Aufgabe“ den propositionalen Gehalt von Überzeugun­ gen unter Rekurs auf deren Weltbezug erläutert. Der Tatrichter müsse die Täter verurteilen und die rechtstreuen Bürger freisprechen. Kriterium der Richtigkeit eines Urteils ist also nach h. M. die Wirklichkeit selbst. Doch diese Erläuterung setzt den propositionalen Gehalt der Anklage bereits als bekannt voraus.193 Das Gebot, den Schuldigen zu verurteilen und den Un­ schuldigen freizusprechen ist nicht nachvollziehbar, weil es nicht bekannt ist, wer schuldig und wer unschuldig ist. Wie Williams anmerkt „ ‚Hold true beliefs‘ is as useful a piece of advice as ‚To win score more goals than the other side‘. Quite, but how? Lacking a hot line to Nature’s mysteries, we choose theories for their epistemic virtues.“194 Ins Forensische übersetzt: Ein Angeklagter wird nicht verurteilt, weil er schuldig ist. Ganz im Gegen­ teil wird er als schuldig behandelt, weil er prozessordnungsgemäß verurteilt worden ist bzw. weil der Tatrichter in der Lage war, hinreichende Gründe anzugeben.

190  Willaschek

(2003), S. 231. etwa BGH NStZ 88, 236. 192  Vgl. Ernst (2002), S. 18 f. 193  Dazu Willasheck (2003), S. 231. 194  Williams (2001), S. 239. 191  Vgl.



F. Das Ziel des Strafverfahrens: Die Falle der Wahrheit113

II. Die Situation des Ignoramus und die Situation des Wissenden Die Frage, die sich aufdrängt, lautet: Worin besteht denn der oben ange­ deutete Interpetationsfehler, der zu diesem circulus vitiosus und daher zur Verwirrung führt? Die Antwort möchte ich vorab liefern. Diesen Fehler begehen wir, weil wir unsere Untersuchung wechseln, ohne zugleich eine neue (epistemische) Position einzunehmen. In der Erkenntnistheorie unter­ scheidet man zwischen der Situation des Wissenden und der Situation des Ignoramus.195 Die eine Kategorie (Situation des Wissenden) bezieht sich auf Situationen, in welchen ein epistemischer Agent, der anderen Wissen zuund abspricht (Wissenszuschreiber), bereits über Wissen verfügt. Dabei besitzen wir schon die erforderlichen Informationen und fragen aus diversen Gründen, ob noch andere unser Wissen teilen oder ob sie berechtigt sind, eine Wissensbehauptung zu machen. Die zweite Kategorie betrifft die Wis­ senszuschreiber, die nach glaubwürdigen Informanten oder relevantem Be­ weismaterial suchen, um Informationen über etwas zu erlangen, weil sie nicht über dieses Wissen verfügen (Situation des Ignoramus).196 Im Strafverfahren interpretieren wir also den Geltungsanspruch des mate­ riellen Strafrechts falsch, weil wir es unterlassen, eine neue Position einzu­ nehmen, nämlich die des Ignoramus. Dabei versäumen wir, die Größe der Unsicherheit miteinzubeziehen. Es trifft zwar durchaus zu, dass Täter und Opfer die Akteure im strafrechtlichen Fall sind und „die Wirklichkeit“ re­ präsentieren, mit der es das Strafrecht zu tun hat.197 Da liegt unser Augen­ merk hauptsächlich auf den strafrechtsdogmatischen Problemen der Geset­ zesauslegung. Dennoch begehen wir einen – erkenntnistheoretisch betrach­ tet – fatalen Irrtum, wenn wir das gleiche im Strafverfahren tun und der ‚Welt‘ des Erkenntnisverfahrens die Kontingenz entziehen. Unsere Akteure sind nicht der Täter (nämlich jeder, der ein Verbrechen begangen hat) und das Opfer (nämlich jeder, der einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist), sondern der Angeklagte und das mutmaßliche Opfer. Was nun die Hauptak­ teure gemacht oder nicht gemacht haben, nämlich der propositionale Gehalt der Anklage, ist nicht bekannt. Kommt berechtigterweise dem Leser eines strafrechtlichen Sachverhalts die Rolle des ‚Erzählers‘ zu, der als ein ‚Kno­ wer‘ einen Sachverhalt schildert und ihn anhand dogmatischer Kriterien rechtlich beurteilt, so wird dem Tatrichter die Rolle eines epistemischen Agenten zugeordnet, der unter Unsicherheit operiert. Der Tatrichter fällt 195  Ausführlich dazu Ernst (2002), S. 82 ff. und (2012); Hanfling Oswald (1985), S. 40–56. 196  Dazu Ernst (2012), S. 307 ff. 197  So Hassemer (1990), S. 19. Anführungszeichen nicht im Original.

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Teil 2: Die Hauptprobleme der juristischen Wahrheitsdebatte

nicht dann ein Urteil, wenn der Angeklagte ein Verbrechen begangen hat, sondern wenn das Beweismaterial diesen induktiven Schluss zulässt. Er nimmt nicht die Position des Wissenden, sondern die Position des Ignoramus ein. Ähnlich unterscheidet Goldman zwischen epistemischer und meta­ physischer Vorgehensweise: „It is important to distinguish between meta­ physically easy and epistemologically easy cases. If all the material facts of a case are ‚given‘ metaphysically speaking, it may be straightforward how it ought to be classified. But this does not mean that it is epistemologically easy to determine what those facts are.“198

III. Duldungspflicht eines „Fehlurteils“? Die Verwechslung beider Rollen (scil. zwischen der Situation des Wissen­ den und des Ignoramus) wird u. a. am Beispiel der Notwehrproblematik gegen die sogenannten „Fehlurteile“ sichtbar. Nach herrschender Meinung ist es unbegründet, dass sich ein Verurteilter gegen ein „Fehlurteil“ wehren darf.199 Notwehrmaßnahmen gegen (rechtswidrige Angriffe durch) Fehlur­ teile seien allerdings zulässig, denn die „zu Unrecht verhängte Strafhaft für den Unschuldigen“ reiche nicht, eine für den Betroffenen evidente und nicht hinnehmbare notwehrauslösende Rechtswidrigkeit zu begründen.200 Der Begriff „Fehlurteil“ wird hierbei für sinnvoll gehalten. Die Probleme, die dieser Begriff auslöst, werden erst mit der Minder­ meinung sichtbar.201 Spendel vertritt die Auffassung, dass die Bejahung der Duldungspflicht eine Verkehrung des Rechts ist und zu einer Perversion führt: „Denn es ist ‚verkehrt‘, mehr die Sicherheit des Beamten, der das Fehlurteil vollstreckt und damit Unrecht verwirklicht, als die Sicherheit des Bürgers, der unschuldig verurteilt und in seinem Recht verletzt wird, im Auge zu haben.“202 Diese Ansicht ist ein gutes Beispiel dafür, wie man fälschlicherweise die Position des Wissenden einnimmt und zwar da, wo­ bei man unter Unsicherheit hätte argumentieren müssen. Spendel nimmt diesbezüglich die Position des Wissenden ein, indem er von der Unschuld des Verurteilten ausgeht; der Richter befindet sich allerdings in einer streng zu unterscheidenden Situation (Position des Ignoramus) und fällt ein Urteil aufgrund seines Informationsstands – nicht aufgrund der vermeint­ lichen ‚wahren Wirklichkeit‘. Angeklagte werden nicht verurteilt, weil sie 198  Goldman

(1999), S. 278. nur NK4–Kindhäuser, § 32, Rn. 73. 200  NK4–Kindhäuser, § 32, Rn. 73. 201  LK11–Spendel, § 32 Rn. 111 ff. 202  LK11–Spendel, § 32 Rn. 111. 199  Vgl.



F. Das Ziel des Strafverfahrens: Die Falle der Wahrheit115

faktisch schuldig sind; ganz im Gegenteil wird ein kognitiver Anspruch erhoben, dass sie faktisch schuldig sind, weil sie eines Verbrechens über­ führt wurden. Die Auffassung Spendels führt praktisch zur Selbstauflösung der Straf­ rechtspflege und zur Aufgabe der Durchsetzungsfähigkeit des Strafrechts­ systems. Denn es ist davon auszugehen, dass nahezu jeder Verurteilte das­ selbe behaupten und seine Unschuld kategorisch bzw. mit Anwendung von Gewalt konstatieren werde. Selbstverständlich wird der Wissende in der Lage sein zu wissen, wer was gemacht bzw. nicht gemacht hat; der Straf­ richter allerdings nicht. Gewähren wir dem (im Sinne Spendels) „rechtswid­ rig“ Verurteilten ein Recht auf Notwehr, dann ist es durchaus denkbar, dass er immer wieder neu anhand des belastenden Beweismaterials von einem Strafrichter verurteilt werden wird und sich dagegen wehren darf – und das ad infinitum. Dem Problem der „Fehlurteile“ wird im Folgenden nachge­ gangen (unten Teil 2, Abschn. G.).

IV. Die Handlungsanweisung des Ignoramus Die „komplexer Art doppelte Aufgabe des Strafverfahrens“ ist also nicht nur zirkulär, sondern geradezu inhaltsleer. Denn der Tatrichter weiß nicht, wer was ist bzw. wer was gemacht hat.203 An der Stelle der zwei Variablen (Täter, Nicht-Täter) tritt bei der Handlungsanweisung des Richters ihr straf­ prozessuales Pendant, scil. der Begriff des Angeklagten als funktionsäquiva­ lenter, gemeinsamer Nenner beider Handlungsanweisungen. Die Handlungs­ anweisung an den Tatrichter kann man also folgendermaßen umschreiben: − tue A: verurteile den Angeklagten, nur wenn du dich in einer hinreichend starken epistemischen Position befindest; − tue B: sprich den Angeklagten frei, wenn du dich nicht in einer hinrei­ chend starken epistemischen Position befindest. Eine ähnliche Vorgehensweise darf man der höchstrichterlichen Recht­ sprechung zugrunde legen. Nach ständiger Rechtsprechung ist es für die Verurteilung notwendig aber auch genügend, dass der Sachverhalt für den Tatrichter zweifelsfrei feststeht,204 wo die persönliche Gewissheit des Tat­ richters allein entscheidend sei: 203  Darauf weist Kindhäuser (1988), S. 290 f. hin: „Dass es dem Gericht gelingt, die Wahrheit herauszufinden, ist durchaus möglich und wohl auch regelmäßig der Fall. Problematisch ist jedoch, dass das Gericht nicht wissen kann, ob es die Wahr­ heit herausgefunden hat.“ 204  BGH GA 1954, S. 152.

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Teil 2: Die Hauptprobleme der juristischen Wahrheitsdebatte

− tue A: verurteile den Angeklagten, wenn Du von seiner Schuld hinrei­ chend überzeugt bist; − tue B, sprich den Angeklagten frei, wenn Du von seiner Schuld nicht hinreichend überzeugt bist. Die Umformulierung des Handlungsanweisungskomplexes signalisiert zugleich eine Verlagerung des Weltbezugs von außen nach innen. Der Tat­ richter braucht nicht mehr nach einer objektiven Wahrheit zu suchen, weil sie sich als ein Mythos erwiesen hat. Samt dieser „örtlichen“ Verlagerung führt man gleichzeitig einen Rollenwechsel durch. Der Tatrichter ist nicht mehr der überforderte Historiker, der vergebens nach der materiellen Wahr­ heit sucht; er wird vielmehr als epistemischer Agent erkenntnistheoretisch aufgefasst, der immer dann eine Entscheidung trifft, wenn er epistemisch dazu berechtigt ist bzw. seinen epistemischen Pflichten nachgekommen ist. Darunter verstehe ich, dass man sich in einer epistemisch starken Position befindet, in der man gute Gründe für eine Entscheidung anführen kann. Darauf werde ich im vierten Teil eingehen.

G. Das Problem der Fehlurteile und Fehlurteile als Problem Das letzte von den Hauptproblemen einer realistischen Wahrheitstheorie, das ich hier behandeln möchte, ist das sog. Problem der Fehlurteile bei der Sachverhaltsfeststellung.205 Dieser Problembereich ist m. E. vor allem des­ halb interessant, weil – wie bereits angedeutet – am Beispiel der Fehlver­ urteilungen die unüberwindlichen Probleme, die das Beharren auf dem Modell der (materiellen) Wahrheit und der KW auslöst, zu Tage treten und zwar mit nicht zu vernachlässigenden Folgen. Seit langem hat sich aus dieser Debatte die Dogmatik herauskristallisiert, dass Fehlurteile in einem Strafverfahrenssystem vorprogrammiert sind.206 Ich möchte dafür argumen­ tieren, dass es sich hierbei eigentlich um ein Scheinproblem handelt. Im Grunde genommen ist ausgerechnet das korrespondenztheoretische Modell diejenige Determinante, die (unausweichlich) zu diesem Problem führt. Sehen wir von einem metaphysischen Realismus ab, löst sich das Problem auf. Wird ein Strafurteil als „wahr“ genau dann charakterisiert, wenn es mit der ontologischen Wirklichkeit korrespondiert, dann wird es manchmal – und immer im Nachhinein – anhand von neu erlangten Informationen (etwa im Rahmen der Wiederaufnahme eines durch ein rechtskräftiges Urteil ab­ geschlossenen Verfahrens) als Fehlurteil qualifiziert, weil das gefällte Straf­ 205  Eingehend

dazu Stamp (1998), S. 109. dazu Freund (1987), S. 1 ff.

206  Monographisch



G. Das Problem der Fehlurteile und Fehlurteile als Problem117

urteil nicht mit dem neuen Bild der Realität übereinstimmt. Es handelt sich dabei um Fälle, in denen etwa die Täterschaft eines anderen festgestellt wurde, oder um Fälle, in denen sich ein Beweismittel (Zeugnis, Gutachten) als eindeutig falsch erweist oder sich zweifelsfreies Alibi ergeben hat. Das im Rahmen einer Wiederaufnahme als Fehlurteil entlarvte und aufzuheben­ de rechtskräftige (Fehl-)Urteil verfehle die Wirklichkeit, die jedenfalls – dies bestreitet keiner der Autoren, die sich mit der Problematik befassen – nicht erkennbar sei. Das heißt, dass nicht ausgeschlossen werden kann, dass selbst das neue richtige Urteil sich wiederum als Fehlentscheidung erweisen könn­ te und das ad infinitum.

I. Über Entscheidungen Menschen zeichnen sich dadurch aus, dass sie Entscheidungen treffen können bzw. müssen. Allein der Mensch vermag, so Goethe, das Unmög­ liche: „Er unterscheidet, wählet und richtet.“207 Neben routinierten Ent­ scheidungen mit nicht ernstzunehmenden Folgen sind u. a. auch solche zu treffen, welche einen massiven Eingriff in grundrechtlich verbürgte Rechts­ positionen bedeuten. Wir sind jedoch, so Freund, darin „fehlbar“ und die bewusste Inkaufnahme der Verurteilung „unschuldiger Menschen“ bedürfe deswegen einer „Legitimation“.208 Doch die Annahme, dass Irren mensch­ lich und Justiz bloß ein Menschenwerk ist sowie die Auffassung, dass wir Entscheidungen treffen, die sich anhand von neu erlangten Informationen als falsch erweisen (weil die angeblich ontologische Wirklichkeit verfehlt war), erweist sich auf den zweiten Blick als eine alltägliche Trivialität. Das Problem besteht schon darin, dass diese einkalkulierte und schon vom Ansatz her bewusste Inkaufnahme der Verurteilung Unschuldiger – die üb­ rigens die Rationalität und Akzeptierbarkeit unserer gerichtlichen Praxis massiv untergräbt – auf eine problematische erkenntnistheoretische Grund­ lage, nämlich auf eine metaphysische Annahme verweist. Um eine meta­ physische Annahme handelt es sich ausgerechnet bei der u. a. von Freund verwendeten „materiellen Wahrheit“, mit der unsere Feststellungen korres­ pondieren müssten.209 Die entscheidende Frage lautet m. E., wodurch ge­ währleistet werden kann, dass das ein Fehlurteil korrigierende neue Straf­ urteil wiederum kein Fehlurteil ist. Wer, wenn nicht ein tertium compara­ tionis, scil. ein Wesen mit dem Status Gottes könnte etwa ausschließen, 207  Johann Wolfgang von Goethe, Das Göttliche, in: Großherzogin Sophie von Sachsen (Hrsg.), Goethes Werke, Abt. 1, Bd. 2, 1888, S. 83 f. 208  Freund (1987), S. 1. 209  Freund (1987, S. 1 f.) betont aber, dass er „lediglich aus Gründen der begriff­ lichen Klarheit“ und nur als „Ausgangspunkt“ die KW seiner Untersuchung zugrun­ de gelegt werde.

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Teil 2: Die Hauptprobleme der juristischen Wahrheitsdebatte

dass prinzipiell neue Informationen auftauchen (können), die möglicher­ weise das neue Strafurteil entkräften und das alte Strafurteil rehabilitieren? Die Dogmatik der Fehlurteile liefert keine Antwort auf die Frage der Leis­ tungsfähigkeit der KW, sondern verschiebt sie lediglich. Nicht ohne Grund geht Freund (dem ich im Ergebnis zustimme) von der KW aus, um sich am Ende mit dem „Zurückbleiben hinter dem Ideal der absolut sicheren Erfassung der materiellen Wahrheit“ und dem „einkalkulierten Risiko eines Fehlurteils“210 auseinanderzusetzen. Auf die Fehlverurteilungsdogmatik kann die Antwort zweierlei sein. Ers­ tens könnte man die Rechtsprechung des BGH aufgreifen, der die tatsäch­ liche Schuld nicht von der angeblich wahren Wirklichkeit, sondern von der vollen Überzeugung des Tatrichters abhängig macht (BGHSt 10 208). Diese Auffassung wird von zwei Thesen gestützt: Zunächst ist es eines der Haupt­ charakteristika von Überzeugungen, dass sie (im materiellen Sinne) falsch sein können.211 Das kann man allerdings erst dann beurteilen, wenn man die Position des Wissenden einnimmt. Der Preis dafür wäre, dass man dadurch die Debatte der Sachverhaltsfeststellung (Argumentation unter Unsicherheit) verlassen müsste. Zudem schließt Handeln die Größe der Kontingenz ein. Das Treffen von Entscheidungen wäre in diesem Sinne überflüssig, wenn wir bereits wüssten, was der Fall ist. Damit wir wissen können, was der Fall ist, hätten wir die Wirklichkeit auf eine nicht kognitive Weise erkennen sollen, damit ein Vergleich zwischen beiden sinnvoll wäre. Dadurch gelan­ gen wir zur Metaphysik. Die Behauptung, dass man (im materiellen Sinne) „falsche Entscheidungen“ trifft, ist trivial. Sie hat denselben Status wie die These, dass man die Vergangenheit nicht ändern kann. Sie trifft auf dem ersten Blick zu, ergibt aber bei näherer Prüfung keinen Sinn.212 Denn Kon­ tingenz ist ein systemimmanentes Spezifikum unserer epistemischen Pra­ xis.213 Als Schwäche kann sie ebenso wenig betrachtet werden, wie die Sterblichkeit in Bezug auf das Phänomen des Lebens. Sie gehört einfach dazu. Eine ähnliche (und klare) Stellung bezieht der BGH: „Der Begriff der Überzeugung schließt die Möglichkeit eines anderen, auch gegenteiligen Sachverhaltes nicht aus; vielmehr gehört es gerade zu ihrem Wesen, daß sie sehr häufig dem objektiv möglichen Zweifel ausgesetzt bleibt.“214 Versuchen 210  Freund

(1987), S. 1 f. dazu bei Willascheck (2003), S. 214. 212  Sie ergibt keinen Sinn, weil sie nicht bipolar ist; sie kann nämlich nicht so­ wohl wahr als auch falsch sein. 213  Es sei denn, man ist als Opponent bereit, unserer epistemischen Praxis den induktiven Charakter abzuerkennen. In diesem Fall erleidet ein Proponent einen communication breakdown, da diese These auf Vorannahmen beruht, die wir keines­ wegs teilen können. 214  BGHSt 10 208 (209). 211  Mehr



G. Das Problem der Fehlurteile und Fehlurteile als Problem119

wir auf der anderen Seite, diesen Satz philosophisch zu formulieren oder sogar zu begründen, dann stolpern wir in metaphysische Begriffe wie ‚on­ tologische Wirklichkeit‘ bzw. ‚materielle Wahrheit‘, ‚korrekte (wahre) Wie­ dergabe von wahren Tatsachen‘ usw. Damit bewegt man sich in Kreis, weil mit ‚korrekter Wiedergabe von Tatsachen‘ nur die materielle Wahrheit ge­ meint sein kann.215 Man verwendet eine Erklärung von Übereinstimmung, die schon ein Verständnis von Wahrheit voraussetzt. Der BGH hat also Recht, wenn er die Voraussetzungen (hinreichende Überzeugung) stellt, damit ein Tatrichter einen Wissensanspruch erheben bzw. ein Urteil fällen darf. Entscheidungstheoretisch betrachtet wird damit erklärt, dass die Rich­ tigkeit einer Entscheidung eine Funktion des Informationsstands des episte­ mischen Agenten darstellt (P). Im folgenden Abschnitt werde ich versuchen, der ständigen Rechtspre­ chung des BGH ein wissenschaftstheoretisches Prinzip zugrunde zu legen und der These (P) eine weitere Prämisse (P1) hinzuzufügen.

II. Principle of total evidence: You should take account of everything you know Die Tatsache, dass wir öfters aufgrund von neu erlangten Informationen bzw. Erkenntnissen feststellen, dass die „Wirklichkeit“ eigentlich anders war z. B.: a1) ich hätte nicht nach Hause zurückkehren sollen, die Schlüssel fürs Auto sind doch in meiner Hosentasche oder b1) das Strafurteil war falsch. Im Rahmen der Wiederaufnahme hat es sich ergeben, dass der Verurteilte nicht der Täter ist sowie die Tatsache, dass wir induktivlogisch berechtigt sind, zumindest von einem Fallibilismus auszugehen, indem selbst unser neues Wissen wiederum anhand von neuen Informationen widerlegt werden kann: a2) diese sind aber nicht die Schlüssel für mein Auto, sondern für dasjenige meiner Frau oder b2) der Verurteilte ist doch der Täter. Das bei der Wiederaufnahme herbei­ geführte entlastende Beweismaterial war gefälscht. soll nicht heißen, dass unsere Entscheidungen allein aus diesem Grund falsch sind und als Fehlurteile angesehen werden müssen. Die einzige sinn­ 215  Mehr

dazu bei Baumann (2006), S. 156.

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Teil 2: Die Hauptprobleme der juristischen Wahrheitsdebatte

volle Frage ist m. E. folgende: War der epistemische Agent berechtigt, einen Wissensanspruch zu erheben? Der Größe der Unsicherheit (die wir mitein­ beziehen sollen, wenn wir nicht strafrechtliche Klausuren ablegen, sondern das Beweismaterial analysieren und induktiv-logisch operieren) soll der Parameter Zeit (t1) hinzugefügt werden. Es sei unterstrichen, dass eine der zentralen Debatten der gegenwärtigen Erkenntnistheorie, die Frage nach den Wahrheitsbedingungen von Wissensaussagen der folgenden Form betrifft:216 „S weiß, dass p zu t1.“

Der Informationsstand eines Agenten soll immer in Verbindung mit dem Zeitpunkt t1 betrachtet werden. Unter t1 versteht man einen bestimmten Zeitpunkt, an dem eine Entscheidung getroffen wird. Das heißt die Richtig­ keit einer Entscheidung ist nicht einfach eine Funktion des Informations­ stands des epistemischen Agenten (P), sondern eine Funktion des Informa­ tionsstands des epistemischen Agenten zum Zeitpunkt t1. Wittgenstein merkt diesbezüglich an: „Gäbe es ein Verbum mit der Bedeutung ‚fälschlich glauben‘, so hätte das keine sinnvolle erste Person im Indikativ des Präsens.“ (PU II X)

Das Miteinbeziehen des Zeitparameters vermag uns zu erklären, weshalb es uns kontraintuitiv erschien, dass ein Tatrichter wegen Informationen, die zum Zeitpunkt des Fällens der Entscheidung (d. h. des Strafurteils) nicht vorhanden waren, zu Rechenschaft gezogen werden muss. Denn es wäre falsch, so Wittgenstein, zu sagen, dass die „Hypothese ‚dies sei ein Stück Papier‘, durch spätere Erfahrung bestätigt oder entkräftet würde“ (ÜG 60). Der oben skizzierten Auffassung kann man das sog. „principle of total evidence“217 zugrunde legen, das Rudolf Carnap 1950 im Anschluss an Keynes vorgeschlagen hat: „in the application of inductive logic to a given knowledge situation, the total evidence available must be taken as basis for determining the degree of confirmation“. Dieses induktiv-logische Prinzip fordert einen epistemischen Agenten auf, jede Information miteinzubezie­ hen, über welche er zum Zeitpunkt t1 verfügt.218 Im Umkehrschluss darf man alle Informationen, die zum Zeitpunkt t1 nicht vorhanden waren bzw. nicht vorhanden hätten gewesen sein müssen, außer Acht lassen.219 Die augenscheinliche Trivialität dieses Umkehrschlusses löst sich rasch auf, sobald wir uns klarmachen, dass die zum Zeitpunkt t1 nicht vorhandenen Informationen den Richtigkeitsstatus eines gefällten Urteils und der entspre­ u. a. Brendel (2007), S. 11–28, hierzu S. 11 f. Carnap (1950), S. 211–213; mehr dazu Douven (2005), S.  209 f. m. w. N. 218  Sober (2008), S. 41–42; Hacking (2001), S. 184. 219  In diesem Sinne kann man die Überschrift dieses Abschnitts leicht modifizie­ ren: „You must take into account only all the information you have.“ 216  Vgl. 217  Vgl.



G. Das Problem der Fehlurteile und Fehlurteile als Problem121

chenden Wissenszuschreibung nicht beeinflussen. Ein Strafurteil ist – ent­ scheidungstheoretisch betrachtet – nur auf die zu t1 vorhandenen Informa­ tio­nen hin zu prüfen. Dieses theoretische Prinzip ist uns weder neu noch im Ergebnis fremd. Nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung hat § 261 StPO (Schöpfung der Überzeugung aus dem Inbegriff der Verhand­ lung) zwei Konsequenzen:220 Erstens hat der Tatrichter alles, was ordnungs­ gemäß in die dem Urteil zugrundeliegende Hauptverhandlung eingeführt worden ist, zu berücksichtigen221 – diese Pflicht entspricht dem o. g. „prin­ ciple of total evidence“. Zweitens hat er – im Umkehrschluss – nur das zu benutzen, was ordnungsgemäß in die dem Urteil zugrundeliegende Haupt­ verhandlung eingeführt worden ist (man darf hierbei inhaltliche Trivialität nicht mit logischer Trivialität verwechseln). Der Tatrichter darf also etwa sein privates Wissen nicht zum Gegenstand seiner Beweiswürdigung ma­ chen222 – auch die zweite Konsequenz wird von dem „principle of total evidence“ normiert. Das aufgrund einer Wiederaufnahme aufgehobenes Urteil ist demzufolge nicht unbedingt ein ‚Fehlurteil‘, da der Informationsstand zu t1 ein anderer und möglicherweise kontradiktorischer ist als derjenige zu t2. Außerdem können nach § 359 Nr. 5 StPO Tatsachen oder Beweismittel eine Wiederauf­ nahme genau dann begründen, wenn sie neu sind. Neu sind nun nach stän­ diger Rechtsprechung alle Tatsachen oder Beweismittel, die das erkennende Gericht bei Erlass der angefochtenen Entscheidung nicht berücksichtigt hat.223 Darauf weisen auch prozessuale Wahrheitstheorien hin. Paulus be­ merkt, dass ein Strafurteil eben nicht auf ontologischer Wirklichkeit, son­ dern auf Rechtsrichtigkeit entscheidungsförmiger Aussage zu begründen sei.224 Ähnlich argumentiert Wagner, wenn er schreibt,225 dass ein tatrich­ terliches Urteil trotz materieller Unrichtigkeit begründet und daher irrevisi­ bel sein könne.

III. Fehlurteile in abstracto und Fehlverurteilungen in concreto Hier kann ein Zwischenfazit gezogen werden: In Anbetracht des total-evidence-Prinzips verstehen wir, weshalb (rückblickend) ein Informationsstand LR26–Sander, § 261 Rn. 14. § 261 Rn. 14 m. w. N.; vgl. etwa BGH NJW 2002, 1963 f. 222  LR26–Sander, § 261 Rn. 14. 223  Vgl. dazu Meyer-Goßner / Schmitt, § 359, Rn. 30 m. w. N.; BVerfG StV 2003, 2005. 224  Paulus (1992), S. 704. 225  Wagner (1994), S. 297 f. 220  Dazu

221  LR26–Sander,

122

Teil 2: Die Hauptprobleme der juristischen Wahrheitsdebatte

zu t2 das aufgrund des Informationsstandes zu t1 gefällte Urteil eines Tatrich­ ters nicht als Fehlurteil erweisen lässt. Diesbezüglich soll man zwischen Legitimierung einer Fehlverurteilung und Legitimierung des Fehlverurtei­ ­ lungsrisikos unterscheiden,226 d. i. zwischen Fehlurteilen in abstracto und Fehlurteilen in concreto. Ein Fehlurteil im materiellen Sinne (Fehlurteil in abstracto) zu legitimieren, setzt voraus, dass man ein Urteil fällt, das auf Infor­ma­tio­nen beruht, die später entkräftet werden oder dem Informations­ stand eines anderen Agenten nach als widerlegt gelten. Der Tatrichter fällt allerdings ein Urteil aufgrund seines Informationsstands. Spricht der Infor­ mationsstand zu t1 eindeutig für die Schuld des Angeklagten, dann trifft man ein Fehlurteil in concreto nur, falls man den Angeklagten freispricht. Hier würde übrigens ein klarer Fall von Rechtsbeugung vorliegen. Bei der Frage, ob nun der Angeklagte tatsächlich unschuldig und ob ein Strafurteil ein Fehl­ urteil in abstracto sei (da es mit den Tatsachen nicht korrespondiert) handelt es sich um eine nicht-epistemische und in diesem Sinne ontologische Frage. Kriterium eines Urteils ist nicht die ontologische Wirklichkeit (materielle Wahrheit), sondern der Informationsstand eines Tatrichters. Sein Urteil soll dementsprechend nicht auf diese wie auch immer aufgefasste ontologische Wirklichkeit, sondern auf seinen Informationsstand hin geprüft werden. Dar­ aus resultiert u. a., dass ein zu t1 gefälltes Urteil als richtig zu bewerten ist, auch wenn es sich zu t2 erweist, dass das Beweismaterial gefälscht war. Induktiv-logisch betrachtet kann die Rede nur vom Risiko eines Fehlur­ teils sein.227 Von Fehlurteilen in concreto, die entgegen dem Informations­ stand des epistemischen Agenten gefällt werden zu reden und nicht von Rechtsbeugung (nach § 339 StGB), hat sich auch hier als sinnlos erwiesen. Übrig bleibt im Rahmen solcher Überlegungen nicht die Gewissheit, dass man Fehlurteile getroffen hat (das ist ein Hauptmerkmal und nicht eine Schwäche unseres Überzeugungsbegriffs), sondern die Beurteilung, dass man epistemisch richtig und den normativen Beweiswürdigungsstandards genügend argumentiert hat, indem man der jeweiligen Höhe der Rechtferti­ gung gerecht geworden ist. Auf diese Weise braucht man nicht schon von Ansatz her ein gewisses Quantum an Fehlurteilen einzukalkulieren, die die Akzeptanz unserer (so betrachtet: ineffektiven) gerichtlichen Praxis untergraben. Man kann hinge­ gen von Gerichtsurteilen ausgehen, deren Argumentation überprüfbar ist, sodass dem Bürger in westlichen Staaten ein faires Verfahren gewährleistet werden kann. Sonst sollte man im Tenor einräumen, dass es vielleicht auch anders sein könnte und dass ein übergeordnetes Prinzip, ein tertium compa226  Vgl.

Erb (2002), S. 77 f. (1987), spricht auch von „Fehlverurteilungsrisiko“, S. 64.

227  Freund



H. Lässt sich die Wissenschaftlichkeit aufrechterhalten?123

rationis, Gott oder Allah es besser wisse. Es ist kein Zufall, dass muslimi­ sche Richter am Ende des Prozesses sagen: „Ich habe dich nach meinem besten Wissen und Gewissen verurteilt. Allah weiß es besser“.228

H. Lässt sich die Wissenschaftlichkeit aufrechterhalten? Die bisher behandelten Hauptprobleme deuten darauf hin, dass die Dis­ kussion über die richtige Wahrheit(-stheorie) und nicht über die dem Straf­ verfahren zugrunde liegende Erkenntnistheorie zum einen auf tönernen Fü­ ßen steht und zum anderen unsystematisch geführt wird. Einerseits sind wir mit unüberwindlichen Problemen konfrontiert, die die KW auslöst – eine Wahrheitstheorie, die merkwürdigerweise diejenigen, die sie dem Beweis­ prozess zugrunde legen, nicht auch ernsthaft vertreten.229 Andererseits de­ klarieren die Juristen ihre Unwilligkeit, sich mit den Ansätzen der Erkennt­ nistheorie auseinanderzusetzen. Ich habe hier zu zeigen versucht, dass diese Probleme sich aus der fehlenden Systematizität der Sachverhaltsfeststel­ lungsdogmatik ergeben und auf ein Methodendefizit verweisen. Im weiteren Verlauf dieser Arbeit werde ich zu zeigen versuchen, dass für unsere erkenntnistheoretischen Probleme und epistemische Praxis, d. h. Entscheidungen zu fällen und Wissen zu- oder abzusprechen, der Begriff von Wissen und nicht derjenige der Wahrheit von zentraler Bedeutung ist. Es bedarf keiner Hervorhebung, dass die Beweiswürdigung ein Erkennt­ nisakt ist. In diesem Kapitel wurde der Schluss nahe gelegt, dass es we­ nig Sinn ergibt, sich direkt mit dem Begriff der Wahrheit auseinanderzu­ setzen. Es trifft zwar durchaus zu, dass die Suche nach ihr der Grundstein aller Philosophie ist; das heißt aber noch lange nicht, dass es sinnvoll wäre, eine endgültige Antwort darauf zu verlangen, d. h. sie zu definieren. Denn die Wahrheitsfrage ist, so Neumann, als essentialistisch diskreditiert worden.230 228  Obwohl zu konstatieren ist, dass dieser Tenor auf den Informationsstand als Kriterium des richterlichen Urteils verweist, kann man spätestens nach der Aufklä­ rung Konzeptionen wie Götter usw. ausblenden, solange man rational argumentieren will. 229  Zu diesem Schluss gelangt m. E. auch Ignor (2002), S. 29, wenn er anmerkt, dass die Geschichte der Strafrechtswissenschaft größtenteils aus Versuchen bestehe, objektive Maßstäbe dafür aufzustellen, wann der Richter im Einzelfall die Schuld als erwiesen annehmen darf: „Das Verwunderliche an dieser Geschichte ist die Hart­ näckigkeit, mit der viele Strafjuristen das versucht haben, obwohl sie sich sicher fühlen, damit so etwas wie die Quadratur des Kreises anzustreben.“ 230  So Neumann, Wahrheit im Recht, S. 8 f.

124

Teil 2: Die Hauptprobleme der juristischen Wahrheitsdebatte

Es ist also Zeit, einen anderen Weg einzuschlagen und sich nicht mit dem Grundbegriff der Wahrheit bzw. der Welt da draußen zu befassen, sondern mit unserem epistemischen Zugang zu ihr. Ins Blickfeld wird somit der Begriff des Wissens geraten. Die bisher behandelten Probleme sind aus einem weiteren Grund besorg­ niserregend. Diesbezüglich möchte ich den wissenschaftstheoretischen An­ satz Paul Thagards ins Spiel bringen. In seinem einflussreichen Aufsatz „Why Astrology is a Pseudoscience“ stellt der Autor im Jahre 1978 – im Umkehrschluss – zwei Kriterien der Wissenschaftlichkeit auf:231 A theory or discipline which purports to be scientific is pseudoscientific if and only if: 1.  it has been less progressive than alternative theories over a long period of time, and faces many unsolved problems; but 2. the community of practitioners makes little attempt to develop the theory to­ wards solutions of the problems, shows no concern for attempts to evaluate the theory in relations to others, and is selective in considering confirmations and disconfirmations.

Diesen Ansatz finde ich besonders aufschlussreich, weil die Frage nach der Wissenschaftlichkeit einer Disziplin dynamisch behandelt wird. Mit einbezogen wird nämlich unsere Haltung, indem zur Frage nach dem Beste­ hen mehrerer ungelöster Probleme (erstes Kriterium) eine weitere hinzu­ kommen soll: Wie wir darauf reagieren und unsere (zumindest allgemein anerkannten) Defizite auszuarbeiten und befriedigend zu lösen versuchen. Die Frage z. B., die uns ununterbrochen beschäftigt, ob die Rechtswissen­ schaft tatsächlich eine Wissenschaft ist,232 verliert wegen ihres faktischen Charakters wesentlich an diagnostischem Potenzial. Thagard erinnert uns daran, dass das Prädikat der Wissenschaftlichkeit eher mit der Erfüllung bestimmter Kriterien zusammenhängt als mit der passiven Wahrnehmung einer Situation oder einer kategorialen Trennung zwischen Wissenschaft und Handwerk. Dementsprechend kann nicht ein für alle Mal festgestellt wer­ den, ob die Sachverhaltsfeststellungsdogmatik keine oder doch eine Wissen­ schaft ist. Das kann ihr nur zugeschrieben werden, indem gezeigt wird, dass Juristen sich an bestimmte Normen der wissenschaftlichen community hal­ ten, methodisch stringent arbeiten und vor allem Ansätze von Nachbarwis­ senschaften wie Psychologie, Entscheidungstheorie etc. aufgreifen und für die juristische Praxis fruchtbar machen. Die wichtigste Frage soll demnach lauten, welche (mehr oder weniger stringenten) Methoden man einsetzt, um zu einem rationalen und überprüfbaren Ergebnis zu kommen; welche Posi­ 231  Thagard

(1978), S. 227 f.; mehr dazu: Seide (2011) S. 197 ff. dazu Neumann, Theorie, S. 385.

232  Ausführlich



H. Lässt sich die Wissenschaftlichkeit aufrechterhalten?125

tion eine wissenschaftliche Gemeinschaft mithin einnimmt. Wir sind näm­ lich diejenigen, die Wissenschaft betreiben und höhere oder niedrigere Standards ansetzen. Wie Seide anmerkt,233 „stellt [es] in Hinsicht auf die Wissenschaftlichkeit einer Theorie offenbar ein Problem dar, wenn die Ver­ treter dieser Theorie im Angesicht drückender Probleme diese schlicht ig­ norieren und keinen Versuch unternehmen, die Theorie durch Modifikatio­ nen zu verbessern.“ Gemessen nun an diesen Kriterien besteht m. E. die Rechtsdogmatik zur Sachverhaltsfeststellungproblematik die Wissenschaftlichkeitsprüfung nicht. Der Grund dafür ist nicht die Tatsache, dass wir uns bisher keine Klarheit über unsere Hauptfragen haben verschaffen können (1. Kriterium). Das ist für Thagard ein ganz zentraler Punkt:234 „We should not brand a nonpro­ gressive discipline as pseudoscientific unless it is being maintained against more progressive alternatives.“ Eine Disziplin kann nach Thagard nicht per se als Pseudowissenschaft gekennzeichnet werden. Erforderlich für das Ab­ sprechen von Wissenschaftlichkeit ist das Bestehen eines anderen Ansatzes, der vergleichsweise bessere Ergebnisse liefert und fortschrittlich ist. Astro­ logen dürfen z. B. als Pseudowissenschaftler erst seit der Entstehung der Psychologie im 19. Jahrhundert bezeichnet werden.235 Die Pseudowissen­ schaftlichkeit eines Ansatzes wird also an der Progressivität eines anderen (konkurrierenden) Ansatzes gemessen. Der Grund, aus dem die Rechtsdog­ matik bei der Wissenschaftlichkeitsprüfung durchfällt, ist demzufolge die irritierendeweise kaum bestrittene Tatsache, dass die community der Juristen in krassem Missverhältnis zum Fortschritt in Fachgebieten wie Beweisana­ lyse, Erkenntnis- und Wahrscheinlichkeitstheorie sich kaum bemüht hat, just diese Ergebnisse für die Jurisprudenz und die gerichtliche Praxis fruchtbar zu machen. Die Pseudowissenschaftlichkeit der Sachverhaltsfeststellungsdogmatik lässt sich m. E. eindeutig am Beispiel der Beweiswürdigung veranschaulichen. M. Huber bemerkt im Jahre 1983, dass es erstaunlich ist, wie wenig sich die juristische Literatur bemüht, Ergebnisse etwa der Zeugenpsychologie zu rezipieren.236 Dass die Situation sich seitdem – von Monographien abgese­ hen – kaum geändert hat, mag man skandalös finden. Ob freilich irritierend oder skandalös ist nach Thagard wenig interessant. Die bescheidenen Ergeb­ nisse der juristischen Literatur werden dadurch relevant, weil das zweite Kriterium Thagards nicht erfüllt wird. Der Anspruch auf Wissenschaftlich­ keit scheitert primär an unserer Fragmentierung des wissenschaftlichen 233  Seide

(2011), S. 199. (1978), S. 228. 235  Thagard (1978), S. 229. 236  M. Huber (1983), S. 104–106. 234  Thagard

126

Teil 2: Die Hauptprobleme der juristischen Wahrheitsdebatte

Diskurses. Alles in allem finde ich unsere Haltung diskussionswürdig. In Bezug auf diese Frage ist Neumann zuzustimmen, dass es sich dabei wegen der Allgemeinheit der Frage um ein „Scheinproblem“ handelt.237 Eine Theo­ rie, die sich seit längerem in einem statischen Zustand befindet und deren Vertreter den Versuch, die offenen Probleme zu lösen, aufgegeben haben, lässt sich, so Seide, irgendwann nur noch um den Preis der Unwissenschaft­ lichkeit aufrecht erhalten.238

237  Neumann,

Theorie, S.  386 m. w. N. (2011), S. 199. Siehe auch Pawlik (2007), S. 494 f.; der Autor weist auf die Gefahr hin, dass die deutsche Strafrechtsdogmatik, die ihre Wissenschaftlichkeit preisgibt, viel mehr als ihren Ruhm zu verlieren habe. Auf dem Spiel stehe gerade­ zu das rechtsstaatliche Erbe. 238  Seide

Teil 3

Das System der freien Beweiswürdigung A. Zur vermeintlichen Verpflichtung von § 244 II StPO zur materiellen Wahrheit Gezeigt wurde in den ersten beiden Kapiteln, dass es sich bei dem Be­ griff der materiellen Wahrheit um ein metaphysisch behaftetes Konzept handelt. Fragt man, ob die als wahr akzeptierten Aussagen mit den Tatsa­ chen korrespondieren, transzendiert man die epistemischen Grenzen seines Erkenntnisvorganges. Hervorzuheben ist auch der begriffliche Befund, dass Wahrheit (vgl. § 244 II StPO) und materielle Wahrheit nicht ein und dassel­ be sind. Daraus ergibt sich der Schluss, dass folgende Autoren – um ein paar Beispiele herauszugreifen – nicht hinreichend zwischen der Norm § 244 Abs. 2 StPO und der (Sachverhaltsfeststellungs-)Dogmatik derselben Norm differenzieren: a) „Die StPO will also die Ermittlung des wahren Sachverhalts in hohem Maße insbesondere dadurch gewährleisten, dass das Strafverfahren als ein vom Prinzip der materiellen Wahrheitserforschung beherrschter Amtsprozess ausgestaltet ist, in dem das Gericht von Amts wegen zur Erforschung der Wahrheit verpflichtet ist.“1 b)  „Das u. a. in den § 244 Abs. 2, 261 StPO zum Ausdruck kommende allgemein anerkannte Verfahrensziel der materiellen Wahrheitsfindung, d. h. der objektiven Feststellung des dem Urteilsspruch nach dem normativen Programm zugrunde zu legenden Sachverhalts ist mit der überkommenen Prozeßstruktur […] uner­reich­ bar.“2

Das Postulat der materiellen Wahrheit wird hier unzulässigerweise in § 244 Abs. 2 StPO hineingelesen. Dort wird freilich die Amtsaufklärungs­ pflicht des Gerichts begründet, der zufolge die Beweisaufnahme prozessord­ nungsgemäß auf alle Tatsachen und Beweismittel erstreckt werden soll. § 244 Abs. 2 StPO hebt die Geltung der das gesamte Strafverfahren beherr­ 1  KK6–Pfeiffer / Hannich, Einl. Rn.  7 – Hervorhebung von mir; ähnlich bei KK7–Fischer, Einl. Rn. 12: „Im deutschen Strafprozess gilt der Ermittlungsgrundsatz (Untersuchungsmaxime), der auch als Prinzip der materiellen Wahrheit oder als In­ struktionsprinzip bezeichnet wird.“ 2  Schünemann (1988), S. 474 – Hervorhebung von mir.

128

Teil 3: Das System der freien Beweiswürdigung

schenden Instruktionsmaxime besonders hervor.3 Von einer Bekennung zu einer besonderen Wahrheitstheorie kann nicht die Rede sein. Die jeweilige Erkenntnistheorie hat also die Amtsaufklärungspflicht zu reglementieren und ist keineswegs auf ein Postulat der strafprozessrecht­ lichen Dogmatik angewiesen. Zu normieren ist der epistemische Vorgang des Tatrichters, der nach § 261 StPO nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung über das Ergebnis der Beweis­ aufnahme zu entscheiden hat. Diese Freiheit beschränkt sich allerdings nur insofern, als der Tatrichter dabei nicht an gesetzliche Beweisregeln gebun­ den ist. Über den Inhalt der freien Beweiswürdigung, nämlich das epistemi­ sche Procedere schweigt die Dogmatik. Der Richter habe, so die ständige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (vgl. BGHSt 29 18), nur seinem Gewissen verantwortlich ohne Willkür zu prüfen, ob er an sich mögliche Zweifel überwinden kann oder nicht. Wie er das machen kann und soll, was für Rechtfertigungsstrukturen seiner Beweiswürdigung zugrunde liegen, steht allerdings noch nicht fest. Was wir brauchen, sind also normative Angaben, die die Zuschreibung von Wissen bzw. die Richtigkeit von Wis­ sensansprüchen regeln. Solche Angaben liefert eine Begründungstheorie, die sich nicht damit befasst, Beweisvorgänge zu beschreiben (als ob unsere epistemische Praxis ein empirisches Phänomen wäre), sondern beansprucht, die in §§ 244 II, 261, 267 I Satz 1 StPO vorgeschriebene freie Beweiswür­ digung des Tatrichters zu normieren. Eine Begründungstheorie ist in diesem Sinne zugleich eine Dogmatik, die einen Ausschnitt der Rechtsordnung systematisiert – eine Sachverhaltsfeststellungsdogmatik.

I. Die freie Beweiswürdigung als unsere epistemische Praxis Aus diesem Grund ist es sinnvoll, zunächst dem System der freien Be­ weiswürdigung als forensischer Erscheinung unserer epistemischen Praxis nachzugehen, dem wiederum ein eng gefasster historischer Exkurs voraus gehen soll. Es ist nicht aus den Augen zu verlieren, dass Beweisrechts­ geschichte und -verständnis im Grunde Kulturgeschichte und -verständnis sind;4 der propositionale Gehalt des jeweils geltenden Systems kann erst dann verständlich gemacht werden, wenn man ihn dynamisch behandelt und 3  LR26–Becker,

§ 244, Rn. 1. Schmoeckel (2000), S. 4 f. Der Autor weist an dieser Stelle auf die Wechselbeziehung zwischen Beweisrecht und kulturellem Hintergrund hin: „So wie gesellschaftliche Überzeugungen in das Beweisrecht hineinfließen, so gewährt dieses Rechtsgebiet umgekehrt auch Einblick in das kulturelle Vorverständnis, aus dem es sich speist.“ 4  Ähnlich



A. Zur vermeintlichen Verpflichtung von § 244 II StPO129

man sich, so Jerouschek, vergegenwärtigt, wogegen sich ein Grundsatz richtet.5 Gesetzgebungsgeschichtlich erweist sich nun das System der frei­ en Beweiswürdigung als Kind der französischen Revolution – einer Zäsur in jeder Hinsicht in der jüngeren europäischen Geschichte und Entwicklung. Eine genauere Betrachtung dieses Systems kann nur im Zusammenhang mit dem Zeitgeist der Aufklärung erfolgen, deren Programm zur Abschaffung des legalen Beweissystems und der Einführung des Schwurgerichts als Zei­ chen der Volkssouveränität geführt hat. Historisch betrachtet kann von einem breiten Spektrum von Methoden zur Sachverhaltsfeststellung ausgegangen werden, die von einer gesetzlich vollkommen geregelten Beweisanalyse über Mischmodelle bis zu Systemen der freien und nicht überprüfbaren tatrichterlichen Überzeugung reichen.6 Vereinfachend und wohl polarisierend wird dem System der legalen Be­ weise das System der freien Beweiswürdigung gegenübergestellt.7 Stich­ wortartig formuliert kennzeichnet sich ein legales Beweissystem durch ver­ bindliche Regeln, die die (jeweiligen) Beweismittel und deren exakte Infe­ renzkraft bestimmen. Gesetzlich vorgeschriebene Beweimittel erbrachten wiederum (wenn man sich das Beispiel der Constitutio Criminalis Carolina vor Augen führt) entweder einen vollen Beweis oder rechtfertigten – dies­ mal als Indizien – eine weitere Untersuchung. Das System der freien ­Beweiswürdigung ermächtigt hingegen den Tatrichter, a) die Relevanz, b) die Glaubwürdigkeit und c) die Inferenzkraft der Beweismittel selbst zu ermitteln.8

II. Die Genese des legalen Beweissystems Am 27. Juli 1532 wurde im Rechtssaal zu Regensburg ein Reichsabschied verkündet, scil. eine Zusammenfassung der Beschlüsse des Reichstages, der in diesem Jahr zusammengetreten war.9 Zu diesen Beschlüssen gehörte auch die Hals- oder Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. alias Carolina, wie man sie in Abkürzung ihres lateinischen Namens nannte.10 Die Caroli­ 5  Jerouschek,

Beweiswürdigung, S. 497. nur Langbein (1984), S. 215–225. 7  Einführend dazu Dedes (1992), S.  11; ausführlich dazu Shapiro (1991), S.  174 ff.; B. Schmitt (1992), S. 81–171. 8  Hierbei handelt es sich um die drei Säulen jeglicher Beweisanalyse; siehe Kadane / Schum (1996), S. 48 ff., Schum (1994), S. 11 ff., insb. 207 ff. 9  Zu der historischen Entstehung und Entwicklung der Carolina Ignor, (2002), S.  4 ff., Baldauf (2004), 83 ff. 10  Die Carolina war im Wesentlichen eine Nachbildung der wenige Jahre zuvor geschaffenen Constitutio Criminalis Bambergensis von 1507. Die „Bambergensis“ galt lange Zeit als das Werk eines einzelnen Mannes, des Johann v. Schwarzberg. 6  Siehe

130

Teil 3: Das System der freien Beweiswürdigung

na war als Kind der Reichsreform des ausgehenden 15. und beginnenden 16. Jh. eine fortschrittliche Reaktion auf das weitgehende Fehlen gesetzlich vorgeschriebener straf- und strafverfahrensrechtlicher Kriterien. Den Tat­ richtern standen die schon damals als irrational erachteten Wahrheitserfor­ schungmittel wie die Wasser- und Feuerprobe (die sogenannten Gottes­ urteile)11 zur Verfügung. Diese Methoden öffneten der Willkür Tür und Tor und ermöglichten eine unberechenbare Strafjustiz,12 wo man nach Belieben Menschen zum Tode verurteilen und hinrichten durfte.13 Die Carolina sig­ nalisierte aus zwei Gründen den Bruch mit dem alten deutschen Strafver­ fahren.14 Erstens hat sie feste Richtlinien aufgestellt, deren einziger Zweck die Ausschaltung der richterlichen Willkür war und zweitens hat sie die Kriminalitätseindämmung als ureigene Staatsaufgabe konzipiert. Die Reak­ tion auf ein Verbrechen war nicht mehr dem Verletzten oder seinen Ange­ hörigen überlassen. Von der Problematik ihres Rechtscharakters abgesehen, ist die Debatte, ob es sich dabei um Prozessrecht oder materielles Strafrecht gehandelt hat,15 dem Einwand des hindsight bias ausgesetzt, wo man älteren Institutionen moderne Prädikate zukommen lässt.16 Aus diesem Grund kann man heute nicht ernsthaft die These bestreiten, dass die Carolina [1532–1864] als Mut­ Ausführlich hierzu Ignor, S. 44 f.; für die rechtsgeschichtliche Bedeutung dieses Gesetzes in Bezug auf die Entwicklung einer einheitlichen deutschen Rechtspflege siehe Schmidt (1995), § 122 f. Zu betonen sei, dass das Gesetz auch ins Lateinische, die in dieser Zeit gelehrte Juristensprache, übersetzt wurde und erhielt dann die Bezeichnung: Constitutio Criminalis Carolina. 11  Ausführlich dazu Schild (1980), S. 20 f. Eines der Gottesurteile war beispiels­ weise die „Bißprobe“, wo man ein Stück Brot oder Käse unzerkaut hinunterschlu­ cken mußte, um seine Unschuld zu beweisen. Schild berichtet auch von Gottesurtei­ len bei Hexenprozessen (S. 24), wie die „Paternosterprobe“, wo das Steckenbleiben bei der 6. oder 7. Bitte des aufzusagenden Vaterunsers, als Indiz der Schuld betrach­ tet wurde oder die „Tränenprobe“, die auf der Hypothese fußte, dass nur das rechte Auge der Hexe exakt drei Tränen vergießen konnte. 12  Baldauf (2004), S. 85; Langbein (2005), S.  10 ff. 13  Kroeschell / Cordes / Nehlsen (2008), S. 293. 14  Siehe Baldauf (2004), S. 9, 60 f. 15  Kroeschell / Cordes / Nehlsen (2008); Ignor (2002), S. 43 m.  w. N.; nach h. M. war die Carolina in erster Linie ein Strafverfahrensgesetz, also eine Strafprozessord­ nung, die allerdings materielle Strafvorschriften enthielt. Darin finden sich neben Regelungen des „endlichen rechtstages“ zahlreiche Vorschriften über die Verbre­ chenstatbestände und ihre Bestrafung (Art. 4–176 CCC), sowie Vorschriften zum Versuch und Zurechnungsfähigkeit [Art. 177–179], die man heute dem allgemeinen Teil eines Strafgesetzbuches zuordnen würde. 16  So auch Schild (1980), S. 8: „Es wäre eine (Selbst-)Täuschung zu glauben: „Die Vergangenheit war im besten Fall vergleichbar, aber nicht unserer unserer Ge­ genwart gleich.“



A. Zur vermeintlichen Verpflichtung von § 244 II StPO131

ter des Inquisitionsprozesses in Deutschland gelten kann, obwohl ihr als Reichsgesetz eine subsidiäre Rolle in Bezug auf die vorrangigen Landes­ rechte zukam. Den Katalysator der Carolina bildeten zweifellos die Beweisregeln. Das Aussprechen einer Verurteilung wurde, wie es einleuchtet, vom Vorliegen bestimmter, gesetzlich vorgeschriebener Beweismittel abhängig gemacht. Denn die Einzelgerechtigkeit ließ sich, so glaubte man damals, nur durch präzise Beweisnormen gewährleisten.17 Als Dreh- und Angelpunkt des Strafverfahrens dienten Art. 22 CCC im Zusammenhang mit Art. 67 CCC, die die Inferenzkraft der Beweismittel von vornherein festlegten. Ein Beschuldigter durfte nur dann zu einer „pein­ lichen Strafe“ verurteilt werden, wenn er entweder die Tatbestandsmerkma­ le („Haupttatsachen“) gestand18 oder seine Täterschaft von zwei etwa glaubwürdigen Zeugen („guthen Zeugen“)19 aus eigener Wahrnehmung (also nicht bloß vom Hörensagen) bekundet wurde: „zweier oder mehrerer guthen Zeugen, die von eynem waren wissen sagen“. Stellt man die Frage nach den genetischen Gründen der erforderlichen Anzahl der Zeugen, so liegt es na­ he, dass es sich dabei um eine Vorschrift religiöser Herkunft handelt. Im Alten Testament finden sich öfters Zeugenregeln wie: „Auf zweier oder dreier Zeugen Mund soll sterben, wer des Todes wert ist; aber auf eines Zeugen soll er nicht sterben“ (Deuteronomium 17, 6).20 Hassemer merkt an, dass die strengen Beweisregeln der Carolina die Sachverhaltsfeststellung mit Anforderungen begleiteten, die den Gedanken an eine Checkliste nahelegten:21 wie viele Zeugen vorhanden sind bzw. welcher Qualität sie sind, damit zu dem jeweils nächsten Abschnitt des dazu B. Schmitt (1992), S. 78. statt v. a. Jerouschek (1990), S. 793. 19  Die Carolina präzisiert weiter den Begriff „guthe Zeugen“, indem sie einige Kriterien dafür vorschreibt. Siehe hierzu Baldauf, S. 91 f.; die allgemeine Vorstel­ lung, dass angeblich freilich zwei Zeugen eine plena probatio machten, ist unzutref­ fend. Die Zeugen dürften denn keinen „schlechten Leumund“ haben und auch sonst mit „keiner rechtmäßigen Ursache zu verwerfen sein (Art. 66 CCC). Waren sie ferner dem Gericht unbekannt, so muss derjenige, der die Zeugen stellt, ihre Unbe­ scholtenheit und Redlichkeit auf Verlangen der Gegenpartei „stattlich fürbringen“, also wohl glaubhaft machen. Unbeachtlich ist auch das Zeugnis vom Hörensagen [Art. 65 CCC]. „Boshaftes“ falsches Zeugnis wird nach dem Talionsprinzip bestraft, nämlich mit der Strafe, zu der der Unschuldige durch das Zeugnis gebracht werden sollte (Art. 68 CCC) und belohnte Zeugen sind unzulässig und selbst zu strafen (Art. 64 CCC). 20  Vgl. Mose 19, 15: „Durch zweier oder dreier Zeugen Mund, soll jede Sache bestätigt werden.“ 21  Hassemer (1990), S. 113; mehr dazu Rüping / Jerouschek (2007), Rn. 107. 17  Mehr

18  Siehe

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Teil 3: Das System der freien Beweiswürdigung

Verfahrens vorangeschritten werden kann22 – eine bloße Beweismittelarith­ metik. Als (legale) Beweismittel kamen also, sofern der Angeklagte nicht auf frischer Tat ertappt wurde, nur das Geständnis des Angeklagten oder die übereinstimmenden und dadurch glaubwürdigen Zeugen in Betracht. Darin bestand die sog. plena probatio (Vollbeweis), wie man dies in der Carolina lesen kann. Die Aussage nur eines Tatzeugen stellte dagegen nur einen halben Beweis dar („eyn halb beweisung“). Waren die zwei Tatzeugen nicht vorhanden, dann gab es nur zwei Alternativen: a) die „semiplena probatio“ (Halbbeweis) oder b) das Geständnis durch Folter zu erzwingen. Denn im Falle zweier Wahrnehmungszeugen war zur Verurteilung des Beschuldigten das Geständnis nicht erforderlich. Da solche Zeugen freilich nur selten zur Verfügung standen und da nach h. M. aus verschiedenen Regelungen der Carolina sich ergibt, dass dem Zeu­ genbeweis eine eher subsidiäre Bedeutung beigemessen wurde, wurde dem Geständnis und der zu seiner Erzwingung erforderlichen Folter ein hoher Stellenwert zugesprochen.23 Man denke, dass eine Straflosstellung eines In­ quisiten trotz subjektiver Schuldüberzeugung des Richters und schwerwie­ gender belastender Indizien, die nach freier Beweiswürdigung eine Verurtei­ lung aller Wahrscheinlichkeit nach gerechtfertigt hätten,24 damals unerträg­ lich erschien.25 Wollte man also in Anbetracht der überspannten Anforderun­ gen an die poena ordinaria die Effektivität der Strafjustiz nicht auf null reduzieren, war man gezwungen die Tortur als die effektivere Lösung einzu­ setzen. Überraschend war noch die Tatsache, dass weder das Ermittlungsver­ fahren der Carolina im allgemeinen noch das Verfahren bis zur eventuellen Anwendung der Folter im Besonderen detailliert geregelt waren.26 Die Ent­ scheidung nach der Art und Intensität der Folter, ob „vil, offt oder wenig, hart oder linder“ war gem. Art. 58 CCC der „ermessung eyns guthen, vernünffti­ gen Richters“ überlassen.27 An Erfindungsideen hat es den damaligen Ermitt­ lern jedenfalls nicht gemangelt. Die Anwendung der Folter war auf der ande­ ren Seite nicht voraussetzungslos und wurde vom Vorliegen bestimmter „In­ dizien“ für die Täterschaft des Verdächtigen abhängig gemacht. Diesbezüg­ 22  So auch Shapiro (1991), S. 3: „The judge in most criminal cases was essen­ tially an accountant who totaled the proof fractions.“ 23  Ignor, (2002) S. 62; Jerouschek, Beweiswürdigung, S. 498; Baldauf (2004) S. 11 f. betont, dass Folter nicht als Strafe, sondern als Mittel zur Erforschung der Wahrheit in einem Kriminalverfahren angesehen wurde. Aus diesem Grund hieß die „Folterkammer“ im Regensburger Rathaus Fragstatt, da der Verdächtige hier schlicht befragt wurde! 24  Radbruch (1975), S. 52. 25  So Jerouschek, Beweiswürdigung, S. 501. 26  Ignor (2002), S. 60. 27  Vgl. Baldauf, (2004), S. 91, 165.



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lich spricht man von der Indizienlehre der Carolina, wo eine Reihe von Kautelen für den Angeklagten angeordnet wurden, um der Willkür entgegen­ zuwirken.28 Zitiert werden nur einige davon: a) Die Folter durfte nur ange­ wandt werden, wenn geeignete Indizien gegen den Angeklagten sprachen (Art. 20 CCC: „redlich anzeygung“), die für die einzelnen Verbrechenstatbe­ stände gesondert beispielhaft angeführt wurden. Dies betraf etwa den heimli­ chen Mord: „Der Verdächtige muss zur Mordzeit in verdächtiger Weise mit blutigen Kleidern oder Waffen gesehen werden sein, oder die Habe des Er­ mordeten genommen, verkauft, weggegeben haben oder noch bei sich führen (Art. 33 CCC).29 b) Die Indizien mussten ihrerseits mit zwei guten Zeugen bewiesen werden, es sei denn, die Tat selbst wurde bereits durch einen guten Zeugen bewiesen. Dieser Halbbeweis machte dann zugleich ein für die Folter ausreichendes Indiz aus (Art. 23 CCC). c) Die Anwendung der Folter entge­ gen den Vorschriften der Carolina machte den Richter selbst strafbar (Art. 61 CCC). Weitere Vorschriften, die möglicherweise noch heute als innovativ gelten würden, dienten der Einschränkung der Gewaltanwendung und der Herauspressung falscher Geständnisse. Das Geständnis des Angeklagten war beispielsweise gem. Art. 58 nur dann verwertbar, wenn es nach der Folter abgelegt wurde, während ein Geständnis, das während der Folter abgelegt wurde, nicht angenommen oder protokolliert werden durfte. Dem Geständnis war außerdem nach Art. 60 CCC nicht ohne weitere Inferenzkraft beizumes­ sen, es sei denn, es enthielt Einzelheiten, die nur der Täter kennen konnte.

III. Die Abschaffung der Folter Auf die Gründe, die zur Abschaffung der Folter geführt haben, kann hier nicht näher eingegangen werden.30 Folgendes sei allerdings unterstrichen. Eine entscheidende Rolle bei dieser Entwicklung haben Zweckmäßigkeits­ bedenken und ein neues Verständnis von Wahrheit gespielt. Zunächst sollte man die Rolle aufklärerischer Ideen nicht unterschätzen.31 Eine ganze Baldauf (2004), S. 165. Jerouschek, Beweiswürdigung, S. 498; siehe auch Art. 33 CCC; „Item so der verdacht vnnd beklagt des mordts halber vmb die selbig zeit, als der mordt geschehen verdechtlicher weiß, mit blutigen kleydern, oder waffen gesehen worden, Oder ob er des ermordten habe, genommen,verkaufft, vergeben oder noch pei jm hett, das ist für eyn redlich anzeygen anzunemen vnd peinlich frage zugebrauchen, er kündte dann solchen verdacht mit glaublicher anzeyge oder beweisung ableynen, daß soll vor aller peinlicher frag gehort werden.“ 30  Ausführlich dazu Eb. Schmidt (1995), § 210; J. Schulz (2007), S. 233; zu betonen sei, dass Friedrich II. die Folter mit der Kabinettsordre vom 3. Juni 1740 erst zurückgedrängt und dann abgeschafft hat. 31  Eine Übersicht bietet Schmoeckel (2000), S. 14 ff. 28  Vgl.

29  Hierzu

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Reihe von Autoren und Philosophen hat die rohe Anwendung von Gewalt scharf kritisiert. Allen voran hat es Voltaire auf den Punkt gebracht: „Mal­ heur à une nation qui, étant depuis longtemps civilisée, est encore conduite par d’anciens usages [la torture] atroces!“32 Bahnbrechend und besonders einflussreich war auch das kriminalpolitische Manifest Beccarias „Dei de­ litti e delle pene“, das in alle Kultursprachen übersetzt wurde und, wie Eb. Schmidt ausführt, die kriminalpolitischen Reformgedanken der französi­ schen Aufklärung zum geistigen Gemeingut der zivilisierten Welt zu machen vermochte.33 Beccaria bezeichnete die Folter lakonisch und mit hoher Präzision als „Grausamkeit, die bei den meisten Nationen durch Gewohn­ heit geheiligt wird“.34 Die Kritik von Seiten der Denker dieser Zeit wurde allerdings durch kriminalpolitische Argumente über die Zweckmäßigkeit der Folter ent­ schärft: „Folter, so grausam sie sein mochten, sind wegen ihrer Zweckmä­ ßigkeit unabdingbar, da sie zu der Entdeckung und Überführung der ‚Schuldigen‘ und damit zur Rettung des Staates geführt haben“35 – so je­ denfalls hätte eine Rechtfertigung der Folterpraxis lauten können. Den wichtigsten Beitrag in Richtung der Abschaffung der Folter hat ein anderes Argument geleistet, das eine eher systemimmanente Kritik der damaligen Praxis geübt hat und welchem selbst Friedrich der Große zugestimmt haben soll: Folter war untauglich zur Wahrheitsfindung, da sie „une affaire de tempérament“ war.36 Der einzige Unterschied zwischen der Folter und den Proben mit Feuer und kochendem Wasser bestand nach Beccaria darin, dass der Ausgang der ersteren vom Willen des Beschuldigten abzuhängen schien, der der letzteren von einem rein physischen Faktum, sodass „ein Mathematiker weit eher als ein Richter das Problem lösen mag“.37 Unter 32  Siehe den Eintrag „Torture“, in: Voltaire, dictionnaire philosophique. Im In­ ternet abrufbar unter http: /  / www.voltaire-integral.com / 20 / torture.htm. 33  Eb. Schmidt (1995), § 209; Glaser [Beccaria (1851), S. XIIIf.] berichtet im Vorwort der ins Deutsche übersetzten, 1851 erschienenen Auflage, dass Beccaria aus Furcht vor der Inquisition seinen Namen geheim gehalten hat. Da aber die Schrift bald große Resonanz fand, wurde der Verfasser veranlasst, sich zu nennen. Kritisch zu der Bedeutung, die dem Werk Beccarias beigemessen wird und mit Nachweisen, die gegen die Originalität und wissenschaftliche Redlichkeit Beccarias sprechen siehe Ambos (2010), S. 504 f., S. 511–513. 34  Beccaria, 12. Kapitel; siehe auch Vormbaum (2007) S. 305–317. 35  Vgl. Ignor (2002), S. 164. 36  So auch Beccaria (1851), 12. Kapitel; mehr dazu Langbein (1984), S. 221 f.; Friedrich dem Großen wird von der deutschen Historiographie eine Vorbildrolle u. a. für die Entwicklung des aufgeklärten Absolutismus zugeschrieben. So Schmoeckel (2000), S.  12 f. m. w. N., S.  19–49. 37  Beccaria (1851), 12. Kapitel; die Argumente Beccarias gegen die Folter sys­ tematisiert Ambos (2010), S. 513–514: (1) Die Folter stelle eine vorweggenommene



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Verwendung moderner Terminologie könnte man sagen, dass Folter kein guter Test war, weil das anzuwendende Mittel jedes Diagnostizierungspo­ tential zwischen Täterschaft und Nichttäterschaft eliminierte. Denn beide, Täter und Nichttäter, mußten gestehen, sodass dieses Geständnis nicht als wahrheitszuträglich betrachtet werden konnte. Während der peinlichen Be­ fragung konnte es dem Peiniger bekanntlich gelingen, nach Belieben jede Aussage aus dem Angeklagten herauszupressen.38 Die Tortur, könnte man sagen, hatte wegen der vielen – im Nachhinein festgestellten – false-posi­ tives eine sehr geringe Teststärke: „zu viele Unschuldige wurden in Mitlei­ denschaft gezogen, zu viele Schuldige entgingen der notwendigen Be­ strafung“.39 Die Foltern scheiterten also nicht (nur) wegen ihrer grausamen Natur, sondern eher wegen ihrer Nutzlosigkeit. Abschließend analysierte Beccaria nahezu spieltheoretisch eine Entscheidungssituation, um den Schluss der immanenten Ungerechtigkeit der Tortur nahe zu legen.40 Die Anwendung der Folter könne nämlich zu zwei Aktionsmengen, wie wir heute sagen würden, führen: Geständnis und Nichtgeständnis. Der Unschul­ dige verliere, so Beccaria, bei beiden Ergebnissen, weil er entweder nur gefoltert oder gefoltert und verurteilt werde. Falls der Schuldige gesteht und verurteilt wird, so erhalte er nur, was ihm ohnehin gebühre. Gestehe er nicht und werde deshalb freigesprochen, so habe er zwar die Folter erdul­ det, diese sei aber eine geringere als die eigentlich verwirkte Strafe. Er habe also – anders als der Unschuldige – eine Gewinnchance.41 Der Un­ schuldige befinde sich also in einer viel schlechteren Lage, da er alle Ent­ scheidungskonstellationen gegen sich hat. Damit wird die Auffassung, der zufolge der damaligen Kriminalpolitik aufklärerische Motive unterstellt Strafe und zugleich Verletzung der Unschuldsvermutung dar. (2) Die Folter verletze das Selbstbelastungsverbot. (3) Die Folter sei „schändlicher Prüfstein der Wahrheit“ und irrational. (4) Die Folter privilegiere den Schuldigen gegenüber dem Unschul­ digen. (5) Die Folter vernichte – wie der Gottesbeweis – die Willensfreiheit. (6) Die Folter produziere damit zugleich Unwahrheit, denn das Geständnis ist nicht Aus­ druck der Wahrheitsliebe des Gefolterten, sondern Folge der Pein und seines Wun­ sches, ihr zu entkommen. (7) Die Anwendung von Folter zur Reinigung von Ehrlosigkeit sei „lächerlich“, weil damit neue Ehrlosigkeit hervorgebracht würde, nämlich die des Folteropfers. (8) Die Folter erweise sich als Würdeverletzung, wie sie nur gegenüber Nicht-Personen vorkomme. (9) Ist die Folter schon ungeeignet zur Fest­ stellung der Tat des Gefolterten, so könnten noch weniger andere Taten und / oder Beteiligte entdeckt werden. 38  So Baldauf (2004), S. 44. 39  Ignor (2002), S. 164; Langbein (1984), S. 221 betont, dass „of course we now know that these safeguards never proved adequate to overcome the basic flaw in the law of torture: Torture tests the capacity of an accused to endure pain, rather than his veracity“. 40  Siehe Beccaria, 12. Kapitel; dazu auch J. Schulz (2007), S. 235 f. 41  J. Schulz (2007), S. 235.

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wurden, bezweifelt.42 Nicht ein Humanitäts-Pathos, sondern eher pragmati­ sche Gründe haben dazu beigetragen, auf die Folter als Wahrheitserzwin­ gungsmittel zu verzichten.43

IV. Das Flußbett verschiebt sich: Enttheologisierung der Wahrheit Mit der Abschaffung der Folter hat sich allmählich ein neues Weltbild herauskristallisiert, wo „nicht nur der Sand“, „der bald hier, bald dort wegund angeschwemmt wird“, sondern auch „das harte Gestein“ sich verscho­ ben hat (ÜG 99). Dieses „harte Gestein“, von dem Wittgenstein spricht und das fester Teil eines theologischen Weltbilds war, bestand in dem Glauben an die Unfehlbarkeit der katholisch-dogmatischen Lehre44 und der Hoff­ nung, Gott werde dem Unschuldigen die Kraft verleihen, die Qualen der Folter ohne Geständnis zu überstehen.45 Denn es darf heute keinem Zweifel unterliegen, dass die Carolina das Geständnis einer Garantie gleichsetzte, dass der Verurteilte tatsächlich der Täter war.46 Die Folter war bloß der Preis, den man für die Entdeckung der objektiven Wahrheit bezahlen sollte. Das sollte übrigens nicht wundernehmen, wenn man sich vor Augen führt, dass Menschen sich für ihre eigene objektive und meistens religiöse Wahr­ heit selbst geopfert haben.47 Dem Geständnis kam somit die Rolle eines unfehlbaren medium eruendae veritatis zu.48 Dies vermag uns zu verdeutli­ chen, aus welchem Grund selbst ein durch zwei Zeugen überführter Ange­ klagter zusätzlich hätte gestehen sollen.49 Trotz des Vorhandenseins zweier Wahrnehmungszeugen schrieb die Carolina im Art. 69 vor, das Gericht müsse sich gleichwohl um das Geständnis bemühen, damit die Versöhnung Gottes erbracht werden kann.50 Der Weltbildwechsel liefert uns also eine plausible Erklärung, wie man sich von der Folter verabschieden konnte, obwohl das Geständnis praktisch davon abhängig gemacht worden war. 42  Eb.

Schmidt (1995), § 208. Ignor (2002), S. 163 f. 44  Siehe Baldauf (2004), S. 94. 45  Baldauf (2004), S. 69. 46  Vgl. dazu Ignor (2002), S. 67. 47  Christliche und islamische Gläubige bzw. Kämpfer sind ein eklatantes Bei­ spiel dafür; so Schönherr-Mann (2008), S. 35; ähnlich Stübinger (2008), S. 392. 48  So Ignor (2002) S. 64. Siehe auch Kramer (2007), S.  131 f. 49  Vgl. Art 69 CCC. Ignor (2002), S. 73 vermutet, „daß dies letztlich die Ver­ söhnung Gottes mit dem Täter war, die Vergebung seiner mit der Straftat begange­ nen Sünde, die ihrerseits das Bekennen und Bereuen dieser Sünde voraussetzte.“ 50  Ignor (2002), S. 73. 43  So



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Der zweite Grund, der zur Abschaffung der Folter geführt hat, war dem­ zufolge ein neues erkenntnistheoretisches Konzept und ein daraus resultie­ rendes, neues Kriterium des praktischen Handelns, das sich rasch verbrei­ tete.51 Wie bereits gezeigt, wurde von dem (erfolterten) Geständnis, das angeblich die materielle Wahrheit widerspiegelte, deutlich Abstand genom­ men.52 Als Katalysator für diese Entwicklung diente die allmähliche Ent­ theologisierung des Begriffs des Glaubens. Einen wichtigen Beitrag dazu haben, so Shapiro, protestantische Theologen und Naturalisten in England geleistet, die auf den Dualismus zwischen infallibler Wahrheit und einfa­ cher Meinung verzichten wollten.53 Die ersten betrachteten das römischkatholische Dogma der Infallibilität (päpstliches Unfehlbarkeitsdogma) kri­ tisch und erklärten die Beantwortung der Frage nach den Chancen eines neuen Wissenskonzepts – das dem skeptischen Angriff nicht ausgeliefert wäre, ohne aber in Fundamentalismus zu verfallen – zu ihrem Programm.54 Sie haben den katholischen Standpunkt abgelehnt, demzufolge die Glau­ bensartikel wie Trinität, Inkarnation etc. infallibel und nicht auf Evidenz reduzierbar sind, und eine Mittelstraße zwischen absoluter Gewissheit ei­ nerseits und einfacher (und nicht ernstzunehmender) Meinung andererseits aufzustellen versucht.55 Ihr Hauptanliegen war die Frage, ob religiöse The­ sen (Wahrheiten) wie die Existenz Gottes und sonstige kirchliche Dogmen einer kritischen Überprüfung standhalten könnten, obwohl man sie nicht als infallibel und notwendig wahr betrachtet hatte. Naturalisten haben auf der anderen Seite ebenfalls versucht, wahrheitsfähige Hypothesen über Na­ turphänomene aufzustellen, die überzeugungs- und leistungsfähig seien, ohne auf simple mathematische Axiome reduziert werden zu müssen. Trotz der verschiedenen Fragestellungen und Methoden haben sich aus dieser Debatte drei neue Kategorien der Gewissheit herauskristallisiert: a) Ge­ wissheit der Naturphänomene (physical truth), die aus Daten und Experi­ menten resultiert, b) mathematische Gewissheit, die aus Axiomen und Grundthesen der Mathematik logisch ableitbar ist und c) moralische Ge­ wissheit (certitudo moralis), die sich aus Aussagen und Hörensagen ergibt und mit unserem alltäglichen Leben zusammenhängt. Anders formuliert: Die Gewissheit, dass ein Dreieck eine Winkelsumme von 180 Grad hat, stellt im Grunde ein aliud – eine andere Art von Gewissheit – dar, als die Behauptung „Cicero hat existiert“, die von dem alethischen Modus her auf einer Wahrscheinlichkeit beruht. dazu Shapiro (1991), mit zahlreichen Nachweisen. (2004), S. 209. 53  Shapiro (1991), S. 7 ff.; Shapiro (1983), Kapitel V. 54  Shapiro (1991), S. 7. 55  Ebd. 51  Monographisch 52  Baldauf

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Teil 3: Das System der freien Beweiswürdigung

Die oben skizzierte Kontextualisierung diverser Gewissheitsformen brachte eine neue Herangehensweise zu Tage. Immer wenn die Rede von einem Sachverhalt war, der nicht einen Anspruch auf den höchsten Grad (gemeint ist die höchste Art) von Gewissheit erheben konnte, sondern nur auf eine für menschliche, praktische Zwecke moralische Gewissheit (moral certainty), dann hieß es, dass die zwei oder mehrere Arten von Gewisshei­ ten miteinander nicht vergleichbar waren. Es handelte sich dabei um alia. Und weil die Wahrheit dieser Sachverhalte als kontingent anzusehen war (das heißt sie ließ die Möglichkeit offen, dass es „auch anders sein könnte“)56 würden vernünftige Menschen ihr zustimmen,57 da sie sich in ihrem Alltag an moralischer – und nicht an anderen Arten von – Gewissheit orientieren. Shapiro ist der Auffassung, dass dies die Geburtsstunde der „moralischen Gewißheit“ war.58 Beide Gruppen, protestantische Theologen und Naturalisten, sind zu dem Schluss gekommen, dass Menschen, die ihre Sinne und ihren Verstand einsetzen, Schlüsse ziehen können, die lediglich gegen vernünftige Zweifel bestehen können müssen. Wissen war nunmehr nicht nur den Propositionen der Mathematik und der formalen Logik vorbe­ halten, da die strikte Dichotomisierung zwischen „knowledge“ und „mere opinion“ dadurch aufgehoben und durch ein Kontinuum ersetzt wurde. Am unteren Ende dieses Kontinuums lag die einfache Meinung und am oberen Ende die neue Form des Wissens. Darunter war nicht eine absolute, sondern eine moralische Gewissheit zu verstehen59 – eine Denkfigur, die sich heu­ te in der höchstrichterlichen Rechtsprechung des BGH und des US Supreme Courts wiederspiegelt.60 Auf diese moralische Gewissheit bezieht sich Beccaria, wenn er sagt, dass nur denjenigen die Transformation der Wahr­ heit in Wahrscheinlichkeit nicht paradox erscheinen werde, die der hohen Wahrscheinlichkeit moralische Gewissheit gleichsetzen.61 Dabei handelt es sich um diejenige Art von Gewissheit, die erforderlich sei, „um einen Men­ schen für schuldig zu erklären“ und die keine andere ist, „als wie sie jeden Menschen zu den wichtigsten Akten seines Lebens bestimmen könnte“.62 Diese Idee entging der Aufmerksamkeit von Denkern im deutschsprachi­ gen Raum nicht. Wir würden, so Gmelin, „weder in bürgerlichen noch 56  Aristoteles,

Ethika Nikomacheia 5 110. (1991), S. 7 f. 58  Vgl. Case v. Louisiana, 498 U.S. 39 (1990). 59  Vgl. Shapiro (1983), S. 163–193; Shapiro (1991), S. 4 f. 60  Vgl nur VICTOR v. NEBRASKA, U.S. (1994): „At the same time absolute or mathematical certainty is not required. You may be convinced of the truth of a fact beyond a reasonable doubt and yet be fully aware that possibly you may be mistaken.“ Vgl. BGH GA 54 152. 61  Beccaria (1851), 7. Kapitel. 62  Ebd. 57  Shapiro



B. Die Einführung der freien Beweiswürdigung139

peinlichen Sachen jemals ein Urtheil fällen können, wenn wir mathemati­ sche Gewis[s]heit forderten, denn auch eine Million von zeugen bringt keine solche Gewissheit hervor; wir können uns der Notwendigkeit nicht entheben, den Richter nach lauter Wahrscheinlichkeit handeln zu lassen“.63 Den Menschen war also gelungen, sich Klarheit darüber zu verschaffen, dass man die objektive Wahrheit einer Tat – das, was sich wirklich ereignet hat – auf eine nicht-kognitive Weise nicht feststellen könnte, egal wie hohe Anforderungen an den Beweis gestellt wären.64 Im Zentrum des Interesses stand, wie schon angedeutet, weder ein neues und schon gar nicht ein ontologisches Verständnis von Wahrheit, sondern eine erkenntnistheoretisch motivierte Herangehensweise. Mit der Formel ‚Wahrheit ist im Grunde Wahrscheinlichkeit‘ war nicht gemeint, dass Wahr­ scheinlichkeit die Wahrheit ersetzen solle. Ganz im Gegenteil: für unsere praktischen Zwecke und insbesondere für einen der wichtigsten Vorgänge des Lebens (wie das Strafverfahren) operieren wir anhand des alethischen Modus der Wahrscheinlichkeit. Man hat also angefangen nachzuvollziehen, dass wir unseren alltäglichen Wissensbegriff nicht losgelöst von allen prak­ tischen Zwängen konzipieren können und dass eine Begründung nicht auf­ grund gewisser Sätze erfolgen kann, die uns als selbsterläuternd einleuchten. Nach Wittgenstein: „Die Begründung aber, die Rechtfertigung der Evidenz kommt zu einem Ende; das Ende aber ist nicht, daß uns gewisse Sätze unmittelbar als wahr einleuchten, also eine Art Sehen unsrerseits, sondern unser Handeln, welches am Grunde des Sprachspiels liegt.“ (ÜG 204)

B. Die Einführung der freien Beweiswürdigung Wäre die o. g. Folterabschaffung ersatzlos geblieben, so hätte sie die Strafrechtsanwendung und dadurch die Kriminalitätseindämmung gefähr­ det.65 Mit der Abschaffung der Folter hat nämlich das einzige Mittel ge­ fehlt, um ein Geständnis als regina probationum zu erzwingen – was wie ein Dominostein die praktisch bedeutsamste Hauptvoraussetzung einer Strafe wegfallen ließ: ohne Tortur kein Geständnis und ohne Geständnis keine poena ordinaria. Aufgrund der Tatsache, dass das Geständnis für ein unfehlbares Wahr­ heitskriterium und die Folter für ein geeignetes Mittel zu seiner Erzwingung gehalten wurden, entstand eine nahezu nicht überbrückbare Lücke. Woran 63  Gmelin

(1786), S. 415 f.; zitiert nach Ignor (2002), S. 617, Fn. 98. Ignor (2002), S. 166 f. 65  Vgl. Ignor (2002), S. 166. 64  Vgl.

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sollte man sein Handeln orientieren und wovon war ein Strafurteil abhängig zu machen? Ignor führt aus, dass man den Syllogismus, der die Antwort darauf lieferte, folgendermaßen rekonstruieren könnte:66 Man hatte einer­ seits immer betont, dass Indizien im Sinne der Carolina nur eine Wahr­ scheinlichkeit begründen können und ausschließlich dazu dienten, die An­ wendung geringerer oder höherer Foltergrade zu rechtfertigen. Zunächst ging man davon aus, dass Wahrheit im Grunde nur hohe Wahrscheinlichkeit ist. Führt man die beiden Sätze zusammen, dann ergibt ein neues Bild, wobei man aufgrund von Indizien, nämlich Beweismaterial, das nicht auf ein Geständnis oder zwei gute Zeugen abstellte, den Angeklagten berechtig­ terweise verurteilen könnte. Da war nicht die objektive Gewissheit, so wie sie die Carolina als gesollte Überzeugung im Fall der gesetzlichen Voraus­ setzungen konzipierte, sondern die subjektive Gewissheit, d. i. die freie Überzeugung, von Bedeutung. Dieser Schritt führte praktisch zur Preisgabe der gesetzlichen Beweisregel.67

I. Zwischenergebnis Das Zwischenfazit, das man hier ziehen kann, liegt auf der Hand. Einer der Hauptgründe, aus denen die gesetzlichen Beweisregeln abgeschafft wurden, war die Feststellung, dass weder ein Geständnis noch zwei oder 1000 Tatzeugen die Wahrheit eines Sachverhalts gewähren konnten. Man hat begonnen, sich Klarheit darüber zu verschaffen, dass die legalen Be­ weismittel keine Wahrheitskriterien darstellten, sondern lediglich Gründe (Indizien), die wir als wahrheitszuträglich (truth-conducive) ansehen dür­ fen. Wahrheitszuträglichkeit verleiht ihnen ihre Eigenschaft als Indikatoren, da sie nämlich die Wahrheit einer Proposition und der entsprechenden Meinung bzw. Überzeugung indizieren. Dieser Operatorenwechsel (Kontin­ genz statt Notwendigkeit) hat nicht zu einer Verabschiedung von dem Pro­ gramm der Wahrheit schlechthin geführt, sondern zu dem Desiderat nach Aufstellen einer Erkenntnistheorie, die erstens den Wahrheitsbegriff nicht metaphysisch ausbuchstabiert und zweitens zwischen Skepsis und Dogma­ tismus ausbalancieren kann.

II. Das System der freien Beweiswürdigung Als Antipode zur anhand gesetzlich vorgeschriebener Kriterien gesollten Überzeugung lässt sich das sog. System der freien Beweiswürdigung verste­ 66  Ignor 67  Ignor

(2002), S. 166 f. (2002), S. 167.



B. Die Einführung der freien Beweiswürdigung141

hen.68 Herkömmlicherweise wird zwischen zwei Systemen der freien Be­ weiswürdigung unterschieden: conviction intime und conviction raisonée. Während die Tatrichter beim System der conviction intime keinen epistemi­ schen Pflichten nachzugehen hatten, nämlich keinerlei Rechenschaft abzule­ gen brauchten, aus welchem Grund sie sich so und nicht anders entschieden hatten, sind die (in den meisten Fällen Berufsrichter beim System der conviction raisonée verpflichtet, ihr gefälltes Urteil mit Gründen zu verse­ hen (Begründungspflicht). Die freie richterliche Überzeugungsbildung, die bisher nur in der Unabhängigkeit von gesetzlichen Beweisregeln bestand, wurde bei den Berufsrichtern durch die Pflicht zur Urteilsbegründung er­ gänzt, wodurch eben die conviction intime zu conviction raisonée erhoben wurde.69 Wie bereits geschildert, war das Institut der freien Beweiswürdigung dem mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Rechtsdenken weitgehend fremd.70 Überzeugungsbildung war in diesem Stadium noch kein intrapsychischer Vorgang und resultierte, wie das Wort auch von seiner Ausgangsbedeutung her meint (Über-Zeugung) aus dem Aufbieten der zahlenmäßig stärkeren Zeugenbataillone.71 Zurückverfolgen lässt sich das System der freien Be­ weiswürdigung auf die in Frankreich im Zeitalter der Aufklärung entwickel­ te Auffassung von der conviction intime, die bereits 1791 zur Abschaffung der gesetzlichen Beweisregeln im französischen Strafprozess führte. Sachsen war der erste Partikularstaat, der 1838 auf jede Beweisregel zur Bestim­ mung des Indizienbeweises verzichtet und die Tatrichter nur auf ihre Über­ zeugung verwiesen hat72 – einige Jahre später wurde in Preußen dasselbe Prinzip durch das Gesetz vom 17. Juli 1846 eingeführt. Art. 19 jenes Geset­ zes schrieb vor, dass „der erkennende Richter ohne an normierte Beweis­ würdigungsregeln gebunden zu sein, fortan nach genauer Prüfung aller Beweise für die Anklage und Verteidigung nach seiner freien, aus dem In­ begriff der vor ihm erfolgten Verhandlung geschöpften Überzeugung zu entscheiden hatte“. Es liegt auf der Hand, dass diese Vorschrift als Schab­ 68  Vgl. aber Langbein (1984), S. 222: „The nineteenth century European states adopted the standard that had been in force in England since the Middle Ages: in­ time conviction.“ 69  Vormbaum (2011), S. 106. 70  Jerouschek, Herausbildung, S. 344. 71  Jerouschek, Herausbildung, S. 345. 72  Siehe hierzu Zopfs (1999), S. 223; Jerouschek, Beweiswürdigung, S.  496; Küper (1984), S. 32; Jerouschek, Beweiswürdigung, bemerkt auf S. 502 treffend, dass der Umschwung zur Anwendung der freien Beweiswürdigung erst nach einer Jahrzehnte währenden Phase des Experimentierens, etwa im Sinne der Einführung negativer Beweistheorien, in Verbindung mit freier Beweiswürdigung vollzogen werden konnte, weil die Tatrichter trotz der Abschaffung das alte Beweissystem anwendeten.

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lone für den größten Teil der nach 1848 erlassenen partikularen Strafpro­ zessgesetze gedient hat und inhaltlich fast unverändert (als § 261 StPO) in die Reichsstrafprozessordnung eingegangen ist.73 1. Der Common Sense Zentrale Rolle für das neue System der freien Beweiswürdigung kommt dem Begriff der conviction intime zu, der in Frankreich nur für die Ge­ schworenen eingeführt wurde. Da waren die Geschworenen von den nicht leicht handhabbaren Beweisregeln befreit und sollten ausschließlich ihrem Wahrheitsinstinkt folgen, um aufgrund dieses Totaleindrucks ein Urteil zu fällen.74 Im nachrevolutionärem französischen Strafprozess bestand also das Hauptanliegen der Beweisaufnahme darin, den Geschworenen die Bil­ dung einer inneren Überzeugung zu ermöglichen, woraus dann Verurteilung oder Freispruch resultierte.75 Das Gesetz, so hieß es im Gesetzestext, ver­ langt von dem Geschworenen keinerlei Rechenschaft über die Art der Über­ zeugungsbildung und schreibt ihnen keine Regeln vor, nach denen sie einen Beweis als genügend oder ungenügend zu betrachten hätten. Die Geschwo­ renen sollen ohne Bindung an feste Beweisregeln nur reflektieren, etwa im Rahmen eines inneren Monologs, ob sie von der Schuld des Angeklagten überzeugt waren.76 Es war also nicht gefordert, diese Überzeugung münd­ lich oder schriftlich zu rechtfertigen, um darzustellen, auf welche Weise sie zu jenem Schluss gekommen sind. Erfordert war nur eine moralische Ge­ wissheit. Repräsentativ sind die Ausführungen Beccarias: „Es gibt einen sehr nützlichen allgemeinen Lehrsatz, um die Gewißheit einer Tatsache zu berechnen“.77 Dabei handelt es sich um die sogenannte „moralische Gewiß­ heit“, die lediglich eine Wahrscheinlichkeit darstellt, und die jeden Men­ schen bei den wichtigsten Vorgängen des Lebens bestimmt. Die einzige Frage, die den Geschworenen gestellt wurde, lautete: Cette seule question, qui renferme tout la mesure de leur devois: Avez vous une intime conviction?78 73  Küper

(1984), S. 32 f. Vormbaum (2009), S. 105, m. w. N.; die beiden Elemente Wahrheitsins­ tinkt und totaler Eindruck spiegeln sich noch heute im Wortlaut des § 261 StPO wider: „Über das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung.“ 75  Jerouschek, Beweiswürdigung, S. 495; vgl. Zopfs (1999), S. 201 f. 76  So Hassemer (1990), S. 113. 77  Beccaria (1851), 7. Kap. 78  So auch Art. 353 CPP: Avant que la cour d’assises se retire, le président donne lecture de l’instruction suivante, qui est, en outre, affichée en gros caractères, dans le lieu le plus apparent de la chambre des délibérations: „Sous réserve de l’exigence 74  Siehe



B. Die Einführung der freien Beweiswürdigung143

Die Jury hatte in diesem Sinne epistemische Rechte (scil. von der Schuld eines Angeklagten überzeugt zu sein) aber keinerlei epistemische Pflichten (etwa das gefällte Urteil zu begründen), da sie nichts anderes als das Ur­ teil schuldete. Diese innere Überzeugung war demzufolge nicht erläute­ rungsbedürftig. Nicht aus den Augen zu verlieren ist die Tatsache, dass die conviction intime als Sache des Gefühls bzw. Totaleindruck wegen ihres holistischen Charakters auch nicht überprüfbar war bzw. ist. Denn dem Rechtsbegriff der conviction intime lag, wie schon angedeutet, der Grund­ begriff des gesunden Menschenverstands79 zu Grunde, der eine sehr lange Geschichte hinter sich hat.80 Common Sense – so wie sein französisches Pendant (bon sens bzw. sens commun) – geht vermutlich auf den lateini­ schen Terminus sensus communis zurück, der wiederum eine Übersetzung des aristotelischen Begriffs κοινή αἲσθησις war.81 Nehring berichtet, dass dieser Begriff sowohl während des gesamten 18. Jahrhunderts in England und Schottland als auch in Frankreich sehr verbreitet war.82 Descartes misst ihm eine ebenfalls zentrale Rolle zu, indem er den „bon sens“ als die „bestverteilte Sache der Welt“ betrachtet.83 Was sind aber die Haupt­ merkmale des Common Sense, der die gesamte Dogmatik des Systems der freien Beweiswürdigung zu untermauern vermochte? Die Rede ist von ei­ nem intrinsischen Wert der Menschen, von einer sog. göttlichen Gabe na­ türlicher Intelligenz bei rationalen Geschöpfen, allen voran bei Menschen.84 Beccaria merkt diesbezüglich an, dass zur Beurteilung eines Ergebnisses nichts anderes nötig ist „als einfacher, gesunder Menschenverstand, der weit seltener trügt, als das Wissen des Richters, welcher daran gewöhnt ist, Schuldige finden zu wollen“.85 Erwähnenswert ist auch, dass der Common de motivation de la décision, la loi ne demande pas compte à chacun des juges et jurés composant la cour d’assises des moyens par lesquels ils se sont convaincus, elle ne leur prescrit pas de règles desquelles ils doivent faire particulièrement dé­ pendre la plénitude et la suffisance d’une preuve; elle leur prescrit de s’interroger eux-mêmes dans le silence et le recueillement et de chercher, dans la sincérité de leur conscience, quelle impression ont faite, sur leur raison, les preuves rapportées contre l’accusé, et les moyens de sa défense. La loi ne leur fait que cette seule question, qui renferme toute la mesure de leurs devoirs: ‚Avez-vous une intime conviction?‘ “ 79  Eingedeutscht weiterhin als Common Sense. 80  Eingehend dazu Nehring (2010), S. 31 f. 81  Transliteriert: koine aisthisis, Aristoteles, Über die Seele, 425a–426b. 82  Nehring (2010), S. 35. 83  „Le bon sens est la chose du monde la mieux partagée; car chacun pense en être si bien pourvu que ceux même qui sont les plus difficiles à contenter en toute autre chose n’ont point coutume d’en désirer plus qu’ils en ont.“ 84  Nehring (2010), S. 21. Der Autor betont aber, dass der gesunde Menschenver­ stand nur erwachsenen Menschen zugesprochen wird. 85  Beccaria (1851), 7. Kapitel.

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Teil 3: Das System der freien Beweiswürdigung

Sense für nicht erlernbar gehalten wird. Diese Ansicht wurde m. E. durch Laplace zugespitzt. Er schreibt: „Man ersieht aus diesem Essai, daß die Wahrscheinlichkeitstheorie im Grunde nur der der Berechnung unterworfe­ ne gesunde Menschenverstand ist; sie lehrt das mit Genauigkeit abschät­ zen, was ein gerader Verstand mit einer Art Instinkt fühlt, ohne daß er sich oft davon Rechenschaft geben kann“.86 Diese inhärente und nicht näher zu erläuternde Gabe vermag es, so diese Auffassung, relativ schnell praktische Probleme zu lösen und Entscheidungen zu treffen (heute wäre die Rede von Faustregeln bzw. Urteilsheuristiken). Gleichzeitig sollte man nach Nehring den Common Sense von dem höheren Verstand unterscheiden, da dessen Elemente, wie z. B. theoretische Erklärungen und wissenschaftliche Beweise mit unserer intuitiven Verstandeskraft nicht vereinbar wären.87 Das, was den Common Sense im wörtlichen Sinne überlebenswichtig macht, nämlich seine „Adhocness“, ist zugleich der Grund, aus dem er so schlecht abschneidet, wenn es auf abstraktes Denken oder tiefere Reflexion ankommt. Ein Akteur, der intuitiv aufgrund seines Common Sense Ent­ scheidungen trifft, wäre überfordert, falls er die Gründe für sein Urteil anzugeben hätte. Begründung bzw. Begründungspflicht und Common Sen­ se schließen einander aus. Küper merkt an, dass die Überzeugungsbildung als einfacher Denkvorgang lediglich den natürlichen juristisch unbeein­ flussten gesunden Menschenverstand des Laien voraussetzt und einer Füh­ rung durch ein wissenschaftliches System oder positives Gesetz weder be­ darf noch zugänglich ist.88 Diese Gegenüberstellung bringt nun die große Schwäche des Common Sense und – was uns hier interessiert – des Sys­ tems der conviction intime zu Tage. 2. Conviction intime als geltendes System Der denkbare Schluss, dass es sich bei der ersten Kategorie der Beweis­ systeme (conviction intime) um ein historisches und vom Fortschritt über­ holtes Phänomen handele, wäre nicht nur voreilig, sondern unzutreffend. Auf eine rechtsvergleichende Analyse ausländischer Beweissysteme möchte ich hier verzichten. Die Aufmerksamkeit wird stellvertretend auf einige wesentlichen Elemente des französischen und US-amerikanischen Systems gerichtet und zwar auf die Abwesenheit der Darstellungs- bzw. Begrün­ dungspflicht bei der Tatsachenfeststellung. Denn es handelt sich dabei um den m. E. auffälligsten Unterschied zwischen den zwei Grundkategorien von Rechtssystemen, dass erstens Strafurteile im angelsächsischen Rechtsbereich 86  Laplace

(1932), S. 170. (2010), S. 23. 88  Küper (1984), S. 28. 87  Nehring



B. Die Einführung der freien Beweiswürdigung145

immer de novo geprüft werden und zweitens Gerichten höherer Instanz eine inhaltliche Kontrolle des Urteils nicht ermöglicht wird.89 a) Strafverfahren in Frankreich Das französische Strafverfahren ist durch den Code Procédure Penal (CPP) geregelt90 und dabei herrscht grundsätzlich das Instruktionsprinzip. Aus den Art. 353, 427 I2, 536 CPP ergibt sich die Freiheit der Beweiswür­ digung durch das Gericht, welches aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung sein Urteil zu treffen hat.91 Gem. Art. 427 Abs. 1 sind Strafsachen, sofern gesetzlich nichts anderes bestimmt ist, jeder Form des Beweises zugänglich. Die Bewertung der Beweismittel hat der Richter nach seiner inneren Über­ zeugung vorzunehmen (Art. 427 S. 1. CPP): „Hors les cas où la loi en dispose autrement, les infractions peuvent être établies par tout mode de preuve et le juge décide d’après son intime conviction.“

Obwohl die Zusammensetzung des Geschworenengerichts (cour d’assi­ ses92), das für Straftaten zuständig ist, die mit einer schweren Freiheitsstra­ fe zu ahnden sind, je nach Instanz variiert, besteht die Grundzusammenset­ zung gem. Art. 296 CPP aus einem Vorsitzenden (président des assises), zwei Beisitzern (assesseurs) und neun Schöffen (jurés) in erster Instanz bzw. zwölf in zweiter Instanz.93 Die Strafurteile des cour d’assises werden weder in Bezug auf die Beweiswürdigung noch in Bezug auf die rechtliche Bewertung begründet. Den Geschworenen wird freilich ein Fragenkatalog mit den straftatrelevanten Umständen, die der Vorsitzende gem. Art. 348 89  Langbein, Historical Foundations, S. 1195, Fn. 31 redet von „no more striking contrast […] than the difference in attitude toward the question of subjecting deter­ minations of fact to review“. 90  Mehr zu diesem Thema bei Kühne, (2010), Rn. 1206  ff.; ausführlich dazu Pfefferkorn (2006). 91  Kühne (2010), Rn. 1232. 92  Jedes andere Gericht hat allerdings seine Erwägungen im Urteil darzulegen und zu begründen, um eventuelle Widersprüche oder fehlerhafte Erwägungen einer Kontrolle zugänglich zu machen. Dabei handelt es sich also a) um das allgemeine Strafgericht (tribunal correctionnel) dessen sachliche Zuständigkeit sich gem. Art. 381 CPP hauptsächlich auf Vergehen erstreckt und in der Regel sich gem. Art. 398 Abs. 1 aus drei Berufsrichtern zusammensetzt, b) den Einzelrichter (juge unique), der für bestimmte Sachverhalte gem. Art. 398 Abs. 3 zuständig ist, sofern die gesetzlich vorgesehene Höchststrafe fünf Jahre nicht überschreitet und c) das Berufungsgericht (cour d’appel), das für Übertretungen und Vergehen zuständig ist, sofern es als Berufungsgericht angerufen wird. Die Berufungskammer setzt sich gem. Art. 510 Abs. 1 aus drei Berufsrichtern zusammen. Ausführlich dazu siehe Pfefferkorn (2006) S. 29 f., 190 ff. 93  Pfefferkorn (2006), S. 31.

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Teil 3: Das System der freien Beweiswürdigung

CPP für entscheidungsrelevant hält, gestellt und darauf müssen die Ge­ schworenen einfach mit „Ja“ oder „Nein“ antworten.94 An dem auf dem Common Sense beruhenden geheimnnisvollen und unausprechbaren psychi­ schen Vorgang, der als innere Gewissheit (conviction intime) betrachtet wird, hat sich also seit der Französischen Revolution wenig geändert. b) Strafverfahren in den USA Was das US-amerikanische Strafverfahren anbelangt, muss man im Auge behalten, dass es sich strukturell um ein anderes Modell handelt als das kontinental-europäische. Denn die Hauptverhandlung wird in zwei Phasen unterteilt: das Schuldfeststellungs- und das Strafzumessungsverfahren.95 Statistisch gesehen findet die Hauptverhandlung zur Schuldfeststellung nur in einem Teil (schätzungsweise in zehn Prozent der Fälle) statt, da zwischen dem Verteidiger und dem Staatsanwalt sehr häufig ein guilty plea verabredet wird. Der Angeklagte tritt selten der Anklage entgegen;96 um mit Langbein zu sprechen: „A criminal jury trial is about as rare as a Rembrandt or a hippopotamus. You can find one, but you have to look hard“.97 Falls kein Deal erfolgt, ist der Schuldspruch gemäß angloamerikanischer Tradition allein Sache der Jury.98 Ursprünglich setzte ein Schuldspruch die Einstim­ migkeit der Jury sowohl bei Schuldspruch als auch bei Freispruch voraus.99 Dennoch reicht in der Praxis eine Entscheidung 10 zu 2 ebenfalls aus. Er­ forderlich ist für den Schuldnachweis, dass die Jury nur die vernünftigen Zweifel ausräumen kann.100 Der Common Sense spielt, wie es einleuchtet, auch hier eine zentrale Rolle. Die Jury bekommt für die Beweiswürdigung folgende Anweisung:101 94  Pfefferkorn

(2006), S. 215–217. Damaška (1978), S. 829 ff.; Schmid (1986), S. 76. 96  Damaška (1978), S. 837. 97  Langbein (1984), S. 224. 98  Vgl. Thayer (1890), S. 147 ff. 99  Siehe Schmid (1986), S. 75. Siehe hierzu die richtungweisende Entscheidung Apodaca v. Oregon 406, U.S. 404 (1972). Einstimmigkeit ist immer bei einer aus sechs Personen zusammengesetzten Jury gefordert, siehe Hay, (1995) S. 273. Ur­ sprünglich setzten sowohl Schuldspruch als auch Freispruch die Einstimmigkeit der zwölfköpfigen Jury voraus. Von Bedeutung ist die Einstimmigkeit jedoch für den Freispruch, weil nur diese ein erneutes Verfahren mit einer anderen Jury verhindert. Siehe Damaška (1973), S. 536–537. 100  Vgl. nur In re Winship, 397 U.S. 358, S. 363 f. (1970). 101  Vgl. PATTERN CRIMINAL JURY INSTRUCTIONS Prepared by Committee on Pattern Criminal Jury Instructions District Judges Association, Sixth Circuit Up­ dated as of June 10, 2011. 95  Siehe



B. Die Einführung der freien Beweiswürdigung147 „You should use your common sense in weighing the evidence. Consider it in light of your everyday experience with people and events, and give it whatever weight you believe it deserves. If your experience tells you that certain evidence reasonably leads to a conclusion, you are free to reach that conclusion.“

Ferner braucht die Jury nicht das jeweilige Strafurteil mit Gründen zu versehen (conviction without corroboration). Aus diesem Grund sollte man unter „instruction“ eher einen nicht bindenden Ratschlag (advice) bzw. eine Form von schwacher Kontrolle des Urteils verstehen.102 Anfechtbar ist die Entscheidung nur dann, wenn der vorsitzende Richter überspannte Anforde­ rungen an den Beweis gestellt hat,103 es sei denn, es handelt sich um einen harmless error. Das ist nur dann der Fall, wenn das Urteil trotz dieser Gesetzesverletzung (beyond a reasonable doubt) nicht anders ausgefallen wäre.104 Aus deutscher Perspektive kann hier die Rede von relativen Revi­ sionsgründen und Heilung von Verfahrensfehlern nach § 337 I StPO sein.105

III. Conviction ecrite mais pas raisonée! Nach § 19 Abs. 2 S. 3 des o. g. preußischen Gesetzes war der Tatrichter verpflichtet, die Gründe, die ihn dabei geleitet hatten, „in dem Urteile anzugeben“.106 Die geltende Strafprozessordnung folgt an dieser Stelle dem preußischen Gesetzgeber und dem System der conviction raisonée nicht. Entsprechend lautet § 267 I Satz 1 StPO in seiner heutigen Fassung: „Wird der Angeklagte verurteilt, so müssen die Urteilsgründe die für erwiesen erachteten Tatsachen angeben, in denen die gesetzlichen Merkmale der Straftat gefunden werden.“ Aus dem Wortlaut des Gesetzes folgt allerdings 102  Mehr dazu bei Ho (2008), S. 40 f. m. w. N.: „Advice is a weak form of con­ trol: unlike an order, it calls for reflection rather than strict obedience; it serves to guide reasoning as opposed to regulating it; it is suggestive or cautionary, and, however strongly worded, is not obligatory.“ 103  Siehe z. B. Cage v. Louisiana 498 US 39 (1990). Dort wurde das Strafurteil aufgehoben, da dem Gericht zufolge die Definition der vernünftigen Zweifel gegen den vierten Verfassungszusatz verstoßen hat. Vernünftige Zweifel wurden als „one creating a grave uncertainty and an actual substantial doubt“ präzisiert. 104  Siehe Cage v. Louisiana, 498 U.S. 39; vgl. Sullivan v. Louisiana 508 US 275, 1993; ausführlich dazu Chapman v. California, 386 U.S. 18 (1967). 105  Vgl. Kühne (2010), Rn. 1081; BGH NStZ 1986 130, BGHSt 8, 155 (158). 106  Der zweite Absatz hatte folgenden Wortlaut: „Dagegen treten die bisherigen positiven Regeln über die Wirkungen der Beweise außer Anwendung. Der erkennen­ de Richter hat fortan nach genauer Prüfung aller Beweise, für die Anklage und Vertheidigung, nach seiner freien aus dem Inbegriff der vor ihm erfolgten Verhand­ lungen geschöpften Überzeugung zu entscheiden: ob der Angeklagte schuldig, oder nicht schuldig, oder ob derselbe von der Anklage zu entbinden sei. Er ist aber ver­ pflichtet, die Gründe welche ihm dabei geleitet haben, in dem Urtheile anzugeben.“

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Teil 3: Das System der freien Beweiswürdigung

das Fehlen einer gesetzlichen Pflicht, die Beweiswürdigung in den Urteils­ gründen darzustellen. Angegeben werden müssen nur die erwiesenen Tatsa­ chen. Das heißt der Richter verkündet zwar sein Urteil schriftlich, ist aller­ dings nicht verpflichtet darzulegen, aus welchem Grund er diese von ande­ ren gleichfalls verhandelten Tatsachen als erwiesen ansieht.107 Insofern tut der Tatrichter nichts anderes als die praemissa minor möglichst präzise zu schildern. Von conviction raisonée kann allerdings, solange es auf den Wortlaut des Gesetzes ankommt, nicht die Rede sein.

IV. § 267 Abs. 1 S. 2 StPO und der sogenannte Indizienbeweis Hier wird der Vorschrift § 267 StPO näher nachgegangen. Bei § 267 Abs. 1 Satz 2 wird statuiert: „soweit der Beweis aus anderen Tatsachen gefolgert wird, sollen auch diese Tatsachen angegeben werden“. Eine Anga­ be der Beweismittel ist nach h. M. nur beim Indizienbeweis erforderlich, da die Indizienkette, die zum Ergebnis der Annahme bestimmter Tatsachen geführt hat, lückenlos dargestellt werden kann. Die Verknüpfung der Indizi­ en könne so vom zuständigen Revisionsgericht auf ihre Stimmigkeit nach logischen und wissenschaftlichen Gesetzen, sowie nach Sätzen allgemeiner Lebenserfahrung überprüft werden.108 Aber auch beim „Indizienbeweis“ fordert das Gesetz keine Ausführungen über die Beweiswürdigung der so­ genannten „mittelbaren Tatsachen“.109 Nur beim „Indizienbeweis“ sollen, so die h. M., – nicht müssen – die „Indiztatsachen“ angeführt werden. Nach der Formulierung des § 267 I Satz 2 StPO handelt es sich dabei um eine bloße „Sollvorschrift“, deren Nichtbefolgung kein Mangel sei, der das Revisions­ gericht zur Aufhebung des Urteils berechtige. § 267 Abs. 1 StPO, wie Küh­ ne treffend anmerkt, ist die Begründungspflicht für den wesentlichen Punkt der Beweiswürdigung sehr gering.110 Die Unterscheidung des Gesetzgebers zwischen Indizienbeweis und Nichtindizienbeweis bzw. normalem Beweis bringt m. E. ans Licht, wie nachhaltig die Jahrhunderte währende Anwendung des legalen Beweissys­ tems und wie robust die diesem System zugrunde liegende Idee ist, dass nämlich nur aufgrund einiger Beweismittel („Beweise“) ein Angeklagter überführt werden könne. Charakteristisch ist die Entscheidung des OLG Hamm (NJW 1972 91 f.), in der zwischen „Indiztatsachen“ und „Beweisan­ zeichen“ unterschieden wird. Ähnlich unterscheidet Eisenberg zwischen 107  Kühne

(2010), Rn. 1000. 285 (286). 109  Kühne (2010), Rn. 1000. 110  Kühne (2010), Rn. 1000. 108  BGHSt25



B. Die Einführung der freien Beweiswürdigung149

„Beweiswürdigung“111 und „Indizienbeweis“112, worauf die Grundsätze der Beweiswürdigung in besonderem Maße angewendet werden müssten.113 Die beweisbedürftigen Tatsachen lassen sich, so Eisenberg, in Haupttatsachen, Indizien und Hilfstatsachen unterscheiden.114 Indem er jedoch einräumt, dass dabei es sich „um den Grad der Beweiserheblichkeit, nicht etwa die Verlässlichkeit des Beweises“ handele, stellt die oben unternommene Unter­ scheidung in Frage. Betrachtet man die Indizien als „mittelbar beweiserheb­ liche Tatsachen“ (= circumstancial evidence), verfehlt man eine Unterschei­ dung, die im Bereich der Beweisanalyse nicht mehr zu bezweifeln ist.115 Im Anschluss an die beweisanalytische Tradition Wigmores unterscheidet man zwischen unmittelbarem (direct evidence) und mittelbarem (circumstancial evidence) Beweismaterial. Unmittelbares Beweismaterial vermag ein ent­ scheidungserhebliches Tatbestandsmerkmal nachzuweisen, wenn man es als hinreichend glaubwürdig ansieht.116 Mittelbares Beweismaterial vermag es allerdings nicht, ein Tatbestandsmerkmal nachzuweisen, selbst wenn man es für vollkommen glaubwürdig hält. Es wird „mittelbar“ genannt, da es keine tatbestandsmerkmalrelevante Inferenzkraft entfaltet. Der Unterschied zur traditionellen deutschen Beweisrechtslehre besteht also darin, dass es sich sowohl bei „direct“ als auch bei „circumstancial evidence“ um Indizien handelt, die eines der penultimate probanda bzw. probandum mehr oder weniger wahrscheinlich werden lassen. Selbst wenn der Angeklagte ein Geständnis ablegt, muss zuerst die Analyse ergeben, dass es sich um ein glaubhaftes Geständnis handelt. Generell werden Indizien dabei auf drei Merkmale hin geprüft: Relevanz (relevance), Glaubwürdigkeit (credibility) und Inferenzkraft (probative force).117 Zustimmend führen Bender / Nack /  Treuer aus, man bezeichne in der Alltagssprache als „Indizienprozess“ Be­ weisführungen mit Sachbeweisen und Zeugen, die die Tat nicht unmittelbar wahrgenommen haben.118 Richtig sei indes, dass jede Beweisführung vor Gericht nur einen mittelbaren Beweis darstellt.119 111  Eisenberg

(2008), Rn. 97. (2008), Rn. 101. 113  Anders aber LR26–Sander, § 261, Rn. 60 f.; dort wird der Indizienbeweis nicht als qualitativ andere Art dargelegt: „Vom direkten Beweis unterscheidet er sich al­ lein dadurch, dass er lediglich mehr Schlüsse als dieser erfordert.“ 114  Eisenberg (2008), Rn. 8. 115  Siehe nur Anderson / Twining (1991); Schum (1994). 116  Siehe auch § 410 Evidence code of California: „As used in this chapter, ‚di­ rect evidence‘ means evidence that directly proves a fact, without an inference or presumption, and which in itself, if true, conclusively establishes that fact.“ 117  Vgl. Kadane / Schum (1996), S. 52. 118  Bender / Nach / Treuer (2007), Rn. 577. 119  Vgl. Holland v. United States, 348 U.S. 121, S. 139–140 (1954): „Circumstan­ cial evidence is no different intrinsically than direct evidence.“ 112  Eisenberg

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Teil 3: Das System der freien Beweiswürdigung

Das Urteil des Tatrichters ist unbestritten ein induktiver Schluss von dem Beweismaterial auf ein Probandum hin.120 Induktive Schlüsse sind probabi­ listische Urteile, die sowohl eine Hypothese (H) als auch deren Gegenhy­ pothese (¬H) wahrscheinlicher bzw. unwahrscheinlicher machen. Ein Fin­ gerabdruck, so das klassische Beispiel, den der Richter an der am Tatort gefundenen Mordwaffe wahrnimmt, ist ein Indiz dafür, eine Person der Mörder sei aber gleichzeitig ein (Gegen-)Indiz für das Gegenteil. Sonst wäre die Rede nicht von Indizien, sondern von strikt-kausalen Bedingungen. Es spricht jedoch einiges dafür, dass man keine vollständige Inferenzkraft anzunehmen braucht bzw. annehmen kann. Man hat am Ende zwei einander ausschließende Hypothesen abzuwägen und anhand ihrer „Likelihood Ra­ tio“ (LR) eine Entscheidung zu treffen.121 Aus den obigen Ausführungen folgt, dass der zweite Satz des § 267 I StPO alle Beweismittel betrifft. Immer noch ergibt sich aber keine Begründungspflicht. Auch beim „Indi­ zienbeweis“ im Sinne des Gesetzgebers fordert § 267 I StPO keine Aus­ führungen über die Beweiswürdigung der Indizien.

C. § 267 als Sollvorschrift § 267 StPO wird – grammatisch ausgelegt – als eine reine Ordnungsvor­ schrift erachtet, da der Wortlaut des § 267 StPO den Tatrichter überhaupt nicht verpflichtet, im Urteil eine Beweiswürdigung vorzunehmen und zu erklären, aus welchem Grund er zu diesem und nicht zu jenem anderen Schluss gekommen ist. In einer seiner ersten Entscheidungen bringt dies der BGH explizit zum Ausdruck: „Der Strafrichter ist verfahrensrechtlich nicht verpflichtet, die für seine Überzeugungsbildung verwerteten Beweisanzei­ chen im Urteil anzuführen. Die Verletzung der Ordnungsvorschrift des § 267 Abs. 1 Satz 2 StPO kann die Revision nicht begründen.“122 Die Be­ weiswürdigung bleibe so ein „Geheimnis“ des Richters123 und sie solle nach der vermeintlichen Vorstellung des historischen Gesetzgebers von der Revi­ sionskontrolle gänzlich ausgenommen sein. In diesem Sinne unterscheidet sich das System der Beweiswürdigung im Grunde nicht von seinem Anta­ gonisten. An die Stelle gesetzlicher Vorschriften tritt der Common Sense. Beide sind für induktiv-logisches Denken unzuverlässig bzw. unzureichend. Die praktisch zu ziehende Konsequenz lautet, dass der Strafrichter nicht verfahrensrechtlich verpflichtet ist, die für seine Überzeugungsbildung be­ dazu bei Kadane / Schum (1996), S. 71 ff. (1996), S. 124 f. 122  BGHSt 12 311 (315). 123  So Kühne (1979), S. 620. 120  Eingehend

121  Kadane / Schum



C. § 267 als Sollvorschrift151

deutsamen Beweisanzeichen, Zwischenschritte bzw. Zwischenschlüsse im Urteil anzuführen. Das Fehlen der Beweiswürdigung stelle keinen sachlichrechtlichen Urteilsmangel dar124 und eine Verletzung des § 267 Abs. 1 Satz 2 StPO als Ordnungsvorschrift könne nicht die Revision begründen.125 Damit hatte aber das Revisionsgericht nicht auf die Nachprüfung eines an­ gefochtenen Urteils verzichtet. Die Beweisgründe des Tatrichters, sofern sie im Urteil dargelegt worden sind, müssen vom Revisionsgericht überprüft werden126. Der BGH erläutert weiter (BGHSt 12 315): „Denn wenn das Gericht jene Tatsachen im Urteil angibt, so ist auch dieser Teil der Urteils­ gründe nach allgemeinen revisionsrechtlichen Verfahrensgrundsätzen da­ raufhin zu überprüfen, ob die vom Tatrichter gezogenen Schlussfolgerungen denkgesetzlich möglich sind und mit den Erfahrungen des täglichen Lebens sowie den Ergebnissen der Wissenschaft im Einklang stehen.“127 Es ist bemerkenswert, so Wagner,128 dass die Tatgerichte nach der Veröf­ fentlichung dieser Entscheidung sich nicht jeder Beweiswürdigung in ihren Urteilen enthalten haben. So hätten sie jedes Risiko vermeiden können, dass ihre Urteile wegen fehlerhafter Beweiswürdigung aufgehoben werden. Es lässt sich also fragen, weshalb die Tatgerichte sich für verpflichtet halten, die erhobenen Beweise im Urteil zu würdigen. Die Antwort kann auf zwei­ erlei Weise erfolgen, entweder unter Bezugnahme auf verfassungsrechtliche Gründe oder (zusätzlich) mithilfe erkenntnistheoretischer Gründe. Tatsache ist, dass erstens in der Praxis jedes Urteil eine Beweiswürdigung enthält und zweitens Urteilsaufhebungen durch die Revisionsgerichte wegen mangelhaf­ ter Beweiswürdigung seit langem zum Alltag der Strafjustiz gehören.129 Die Rechtsprechung der Revisionsgerichte hat aus § 261 StPO die Pflicht zur vollständigen, über die Anforderungen des § 267 I Satz 1 StPO hinausge­ henden Beweiswürdigung entwickelt,130 sodass die Entscheidung des BGH (St 12 311) als überholt anzusehen ist. Denn es gibt zahlreiche Entscheidun­ gen, die auf die Verpflichtung des Tatrichters zur Beweiswürdigung hinwei­ sen.131 Das Tatgericht hat anzugeben, welche Tatsachen es als festgestellt ansieht.132 Es hat weiter – für das Revisionsgericht nachprüfbar – den Weg, der zu diesen Feststellungen geführt hat, im Rahmen einer Beweiswürdi­ dazu Wagner (1994), S. 270. (1994), S. 270. 126  So OLG Hamm, NJW 1992, 916 – Hervorhebung von mir. 127  BGHSt 6, 70, 72; BGH 19 33, 34. 128  Wagner (1994), S. 271. 129  Wagner (1994), S. 49. 130  Kühne (2010), Rn. 1001. 131  Wagner (1994), S. 272 f. 132  BGH NStZ 90, 448 (449). 124  Ausführlich 125  Wagner

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Teil 3: Das System der freien Beweiswürdigung

gung darzulegen.133 Kommt der Tatrichter seiner Rechtfertigungspflicht nicht nach, unterliegt das Urteil mangels Feststellung des genauen Schuld­ umfangs der Aufhebung.134 Im Falle einer (aus irgendwelchen Kriterien) fehlerhaften Urteilsbegründung, die – davon wird ausgegangen – den Er­ kenntnisvorgang bei der Beweisanalyse wiedergibt, liegt ein Verstoß gegen § 267 I Satz 1 StPO vor. Der Tatrichter hat ferner alle aus dem Urteil er­ sichtlichen Umstände, die Schlüsse zugunsten oder zuungunsten des Ange­ klagten ermöglichen, in den Gründen zu erörtern.135 Damit stellt die Recht­ sprechung erheblich höhere Anforderungen an die Beweiswürdigung als das Minimalprogramm des § 267 I Satz 1 StPO.

I. Conviction raisonée als verfassungskonforme Auslegung des § 267 Abs. 1 S. 1 StPO Trotz des Wortlauts des Gesetzes (§ 267 I Satz 1 StPO) gilt wie geschil­ dert diese Regelung als verfehlt. Rechtsprechung und Literatur sind sich inzwischen darüber einig, dass im Urteil eine Gesamtwürdigung aller in der Hauptverhandlung erhobenen Beweismittel vorzunehmen ist136 – im Sinne dieser Arbeit: eine Beweisanalyse. Aus verfassungsrechtlicher Sicht kom­ men nun zwei Kandidaten in Betracht, wo man diese Begründungspflicht ansiedeln könne, nämlich Art. 103 und 20 GG. Das Bundesverfassungsge­ richt führt diesbezüglich aus, Art. 103 habe zum Inhalt, dass der betroffene Bürger vom Gericht gehört werden müsse und deshalb sei das Gericht verpflichtet, das Vorbringen eines Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und bei seiner Entscheidung in Erwägung zu ziehen.137 Wagner wendet ein, dass damit noch nicht unbedingt gesagt worden ist, dass aus der Sicht des Ver­ fassungsrechts die schriftliche Begründung der gerichtlichen Entscheidung auf die Einlassung des Angeklagten eingehen muss.138 Nach dem BVerfG ist es ein rechtsstaatlicher Grundsatz, dass ein Staatsbürger, in dessen Rech­ te eingegriffen wird, Anspruch darauf habe, die Gründe dafür zu erfahren, und zwar entweder mündlich oder schriftlich.139 Dadurch wird auf die Tat­ gerichte Druck ausgeübt, in ihren Urteilen eine genaue Beweiswürdigung vorzunehmen, indem das Absehen von einer Begründung als verfassungs­ auch Kühne (2010), Rn. 999. NStZ 1982, 128. 135  BGHSt 25, 285. 136  BGH MDR 1974 548, BGH NStZ 1985 114, BGHSt 25 285, BGH NStZ 1982, 128; 1990, 448; BGH NJW 1980, 2423. 137  BVerfGE 40 103. 138  Wagner (1994), S. 274. 139  BVerfGE 40 103. 133  Siehe 134  BGH



C. § 267 als Sollvorschrift153

widrig erscheint. Auch bei Hinzuziehung eines Sachverständigen sind die Tatrichter verpflichtet, die wesentlichen Grundlagen, auf denen die Schluss­ folgerungen aufbauen und die Art dieser Folgerungen wenigstens insoweit im Urteil mitzuteilen, als dies zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung seiner gedanklichen Schlüssigkeit im Revisionsrechtszug erfor­ derlich ist. Der Richter solle sich dem Sachverständigen nicht einfach an­ schließen.140 Darüber hinaus werden im Schrifttum zahlreiche Argumente für die Be­ gründungspflicht angeführt:141 Die Urteilsbegründung solle den Beteiligten zeigen, dass Recht gesprochen worden ist; sie versetze außerdem den An­ fechtungsberechtigten in die Lage, eine sachgerechte Entscheidung über die Einlegung von Rechtsmitteln zu fällen und ermögliche zudem der jeweils höheren Instanz, das Urteil nachzuprüfen. Nicht zuletzt gewährleiste sie durch klare Beschreibung der Tat das „ne bis in idem“ Art 103 II GG. An anderer Stelle ist von den „drei Funktionen“ der richterlichen Beweiswürdi­ gung die Rede.142 Nach Gollwitzer ist eine Urteilsbegründung nötig erstens, um den Lebenssachverhalt zu umreißen, über den entschieden wurde (Defi­ nitionsfunktion), zweitens, um als Grundlage für die Nachprüfung des Ur­ teils durch ein übergeordnetes Gericht zu dienen (Kontrollfunktion) und drittens wegen des späteren Rückgriffs anderer Stellen auf das rechtskräfti­ ge Urteil (Informationsfunktion), denn ohne schriftlich festgehaltene Gründe wäre der Urteilstenor allein nicht genügend aussagekräftig. Für ausschlaggebend halte ich die Akzentuierung des liberalen Charak­ ters eines Staates und der Begründungspflicht, die daraus folgt. Denn von autoritären Regimen abgesehen liegen da, wo Meinungsvielfalt denkbar oder sogar erwünscht ist, Begründungen sehr nahe.143 Zugespitzt gespro­ chen dürfen nur Entscheidungen getroffen werden, die auch begründet werden können.144 Die Rechtsprechung verlangt deshalb über § 267 I Satz 1 StPO hinaus eine erschöpfende Beweiswürdigung. Ein bloßer Ver­ weis auf die Autorität oder die Intelligenz des Agenten sind auf der ande­ ren Seite mit einem liberalen Rechtssystem schwer vereinbar. Das vermag m. E. am besten zu erklären, aus welchem Grund eine unklare oder lücken­ hafte Beweiswürdigung ein Strafurteil nach ständiger Rechtsprechung revi­ sibel macht.145

140  BGHSt7

238.

141  Roxin / Schünemann 142  LR26–Stuckenberg, 143  Betz

(2009), § 50 Rn. 4 ff. § 267, Rn. 1.

(2010), S. 1. (2005), S. 383. 145  Siehe u. a. BGH JR 2007 127. 144  Neumann

154

Teil 3: Das System der freien Beweiswürdigung

II. Begründungspflicht als epistemische Verantwortlichkeit Soviel zur Begründungspflicht als verfassungskonformer Auslegung der einschlägigen Vorschriften der StPO. Hierbei geht es mir nicht um die Be­ gründungspflicht als Revisionsoktroi oder verfassungrechtliche Korrektur einer prozessualen Sollvorschrift. Mich interessiert die Urteilsbegründung als epistemische Pflicht des Tatrichters. Letzterem ist vom Rechtssystem zur Bewahrung der Rechtsordnung und des Rechtsfriedens ein rechtspolitisch und -staatlich facettenreiches epistemisches Recht anvertraut: eine Wissens­ behauptung (knowledge claim) über die Schuld eines Angeklagten, die die Freiheitsentziehung als schwersten Eingriff in dessen Grundrechte mit sich bringt. Die Begründung ist eine jedenfalls insoweit unabdingbare Bedingung des Gerichtsurteils, als wir uns von der These verabschieden müssen, dass Wahrheit als radikal metaphysischer Begriff zu behandeln sei. Sieht man also die Dinge vom Standpunkt der Erkenntnistheorie aus, so ist ebenso unbestreitbar, dass die Rechtfertigung ausgerechnet eines der Elemente ist, die eine Entscheidung über die Schuld des Angeklagten anhand des Beweis­ materials erst einmal ermöglichen.146 Ohne Rechtfertigung kann, wie ich im vierten Teil zeigen werde, zunächst einmal gar keine Entscheidung i. e. S. zustande kommen, eine Entscheidung auch nicht, die ggf. rechtskräftig wer­ den könnte – falls Rechtsmittel nicht eingelegt werden (§ 267 IV StPO). Um eine bekannte Formulierung in der Philosophie aufzugreifen: Die Be­ gründung ist das logische Gerüst und nicht die Verkleidung des (Straf-) Urteils. Denn Begründung ist eine notwendige Bedingung eines Wissensan­ spruchs.147 Erforderlich ist also eine Begründungstheorie, die uns erklärt, wie dieses Gerüst aufzubauen ist. Denn die Argumentation des Tatrichters ist auf die Stabilität dieses Gerüsts angewiesen.148 Im vierten Teil wird die These erläutert, dass die gegebenenfalls gewon­ nene Überzeugung über die tatsächliche Schuld des Angeklagten (Wissens­ zuschreibung) seitens des Tatrichters von dem Standard der Rechtfertigung (dem inferentiellen Kontext) abhängt, d. i. von der Höhe der Anforderungen an den Beweis. Geht man davon aus, dass der Tatrichter seine irgendwie Brüggermann (1971), S. 106–152. These stellt u. a. die etablierte Meinung in Frage, der zufolge der Tat­ richter seine gewonnene Überzeugung am Ende einfach zu begründen habe, nur damit diese Begründung sodann von einem anderen Erkenntnissubjekt (Revisionsge­ richt) an intersubjektiv gültigen Maßstäben von Richtigkeit gemessen werde; vgl. Wesslau (2008), S. 299. 148  Dementsprechend sind die im Einklang mit dem Grundgesetz zu stellenden Anforderungen von der Frage der Ermöglichung der Nachprüfung der getroffenen Entscheidung völlig unabhängig; vgl. BGH StV 1984, 188; BGH NStZ 1998 475. 146  Vgl.

147  Diese



C. § 267 als Sollvorschrift155

gewonnene Überzeugung am Ende rechtfertigen muss, dann öffnen wir (bei dem Beweiswürdigungsprozess) nicht nur der Willkür und bloßer Intuition Tür und Tor, sondern nehmen den Aphorismus der „legal realists“ in Kauf, dass „opinions are post-facto rationalizations of results dictated by judicial ideology“.149 Im Gegensatz zum berühmten Mathematiker Carl Friedrich Gauß, der einem akademischen Bonmot zufolge einmal gesagt haben soll: „Die Lö­ sung hatte ich schon – ich musste nur die Wege entdecken, auf denen ich zu ihr gelangt war“, kann ein Tatrichter erst dann ein Urteil fällen, wenn er Gründe dafür angeben kann. Bereits Platon hat darauf hingewiesen, dass eine Meinung erst dann gerechtfertigt ist, wenn sie auf Gründen beruht (logon didonai).150 Anders als geniale Mathematiker sollen epistemische Agenten sich mit dem Beweismaterial auseinandersetzen, ohne ihrem Com­ mon Sense blindlings zu vertrauen. Geht man von der These aus, die Recht­ fertigung sei eine Bedingung des Wissens, so hat man zunächst seinen epistemischen Pflichten nachzukommen. Das tut man, indem man den Standards der Rechtfertigung gerecht wird und anschließend den Prozess der epistemischen Rechtfertigung (ggf. schriftlich) rekonstruiert. Ein Ver­ zicht darauf könnte in einem liberalen Rechtssystem nicht vertreten werden. Das Strafurteil würde im Fall einer nicht erforderlichen Begründung einer Offenbarung ähneln, der man folgen soll. Mit einem Strafurteil, das an Rationalität gebunden ist, hat es nichts zu tun. Da wo Recht angewandt wird und Lebenssachverhalte gestaltet oder die persönliche Freiheit entzo­ gen wird, scheint die Rechtfertigung unabdingbar zu sein, damit auch Recht gesprochen werden kann. Die Warum-Frage, der Anfang aller Wissenschaft, wird zunächst an das menschliche Verhalten gerichtet. Der Angeklagte hat einen Anspruch darauf, das Warum eines belastenden Urteils vollständig und zureichend zu erfahren. Denn es gehört zum Konzept der epistemischen Verantwortlichkeit dazu, dass der Agent Gründe angibt, die einen Indikator dafür darstellen, dass das Urteil zutrifft.151 Rechtfertigung kann also nicht nur als ein Tatbestandsspezifikum der §§ 261, 267 StPO, sondern als eine notwendige Bedingung jeder Entschei­ dung i. e. S. angesehen werden. Dies kann u. a. befriedigend erklären, wes­ halb die Notwendigkeit der Begründung als unabhängig von der Anfecht­ barkeit eines Strafurteils anzusehen ist. Es ist Wagner zuzustimmen, dass 149  Ausführlich zum Stand der Debatte in den USA Sisk / Heise / Morris (1998); Cross, Frank, Political Science and the New Legal Realism: A Case of Unfortunate Interdisciplinary Ignorance, 92 Nw. U. L. Rev. 251, 299 (1997); dazu Schünemann (1982), S. 126; kritisch dazu Wagner (1994), S. 280. 150  Platon, Politeia VII 510c. 151  Seide (2011), S. 13.

156

Teil 3: Das System der freien Beweiswürdigung

niemand auf die Idee käme, etwa für Revisionsurteile zu postulieren, sie bedürfen mangels Anfechtbarkeit keiner Begründung.152 Ein Beschluss bei­ spielsweise des Bundesgerichtshofs „der mit Gründen nicht versehen ist“ verletze laut dem Bundesverfassungsgericht das Grundrecht des Beschwer­ deführers aus Art. 3 Abs. 1 GG.153 Nicht zuletzt kann diese Vorannahme uns befriedigend erklären, weshalb wir – trotz des Wortlauts des § 267 I Satz 1 StPO und des BGHSt12 311 ff. Urteils – uns des Eindrucks nicht erwehren konnten, dass es sich dabei erstens dabei um den „Ausdruck eines überhol­ ten Rechtsverständnisses“154 gehandelt hat und zweitens die Begründungs­ pflicht weit über ein gesetzliches Sollen hinausgeht. Wie Wittgenstein betont „wäre [es] nicht genug zu versichern, man wisse, was dort und dort vorgeht, und zwar ohne Gründe anzugeben, die andere davon überzeugen, ich sei in der Lage, es zu wissen“.155 Die Frage nach der auf den ersten Blick merkwürdigen Selbstverpflich­ tung der Tatrichter, ihre Urteile zu begründen (obwohl die Gefahr einer Urteilsaufhebung steigt, je intensiver man sein Urteil zu begründen ver­ sucht) vermag nur die dadurch zu Tage tretende epistemische Praxis zu beantworten. Denn es gehört zu unserm Sprachspiel dazu, nach Gründen zu fragen und zu suchen. Erst die Angabe von (guten) Gründen begründet die Wahrheitszuträglichkeit unserer Meinungen. Versucht man nun das Sprach­ spiel selbst zu hinterfragen, so soll man in Erwägung ziehen, dass ein Sprachspiel weder begründet noch vernünftig (oder unvernünftig) ist. „Es steht da – wie unser Leben“ (ÜG 559).

III. Zu einer Theorie der epistemischen Verantwortlichkeit Die Tatsache, dass die Rechtsprechung konsequent für eine über die ­ esetzliche Sollensvorschrift § 267 I Satz 1 StPO hinausgehende Begrün­ g dungspflicht plädiert, lässt in Anbetracht voriger Überlegungen u. a. folgen­ den Schluss zu: Man kann ihr gerechtfertigterweise unterstellen, dass sie implizit von der Wahrheit als realistischem Begriff Abstand nimmt. Dennoch sollte uns die Inbezugsetzung argumentativer und epistemischer Aspekte der Wahrheit (Variablen, die bei realistischen Wahrheitstheorien keine Rolle spielen [dürfen]) nicht dazu verleiten, dass das Pendel von der metaphysisch ausbuchstabierten Wahrheit zunächst in das entgegengesetzte Extrem aus­ schlägt. Das wäre der Fall, wenn der Wahrheitswert einer Aussage aus­ schließlich eine argumentative Funktion wäre und nicht von der Beschaffen­ 152  Wagner

(1994), S. 275 f. BVerfGE 49, 67; 55, 205 f. 154  Huber (1993), Rn. 62. 155  ÜG 438. 153  So



C. § 267 als Sollvorschrift157

heit der Welt abhinge: auf epistemische Wahrheitstheorien soll ebenfalls verzichtet werden. Der Inferentielle Kontextualismus, den ich im folgenden Teil präsentieren möchte, kombiniert epistemische und nicht-epistemische Züge. Er hat vor allem mit der Struktur unserer Rechtfertigung (structure of justification) zu tun, die nunmehr im Vordergrund rückt – diesmal nicht als Kriterium der Wahrheit, sondern als normativer Standard eines Wissensan­ spruchs. Dabei fällt die zweite Verlagerung des Wahrheitsbegriffs ins Auge.

IV. Die doppelte Verlagerung: § 267 ← § 261 ← § 244 II Strafurteile werden – wie bereits gezeigt – auf die Sachrüge hin geprüft und ggf. aufgehoben. Liegt eine mangelhafte Beweiswürdigung vor, ver­ stößt das Urteil gegen § 267 Abs. 1 StPO. Eine Gesetzesverletzung i. S. v. § 337 StPO wird damit begründet. Dies weist auf die zweite Verlagerung des Wahrheitsbegriffs hin. Nachdem wir gesehen haben, weshalb veritas zur certitudo wird und wie wir vom § 244 Abs. 2 StPO, wo der Begriff „Wahr­ heit“ explizit erwähnt wird, zum § 261 StPO gelangen, wird nun nachge­ zeichnet, wie wir auf der Suche nach Wahrheit beim § 267 StPO enden. Die durch den Zwang zur schriftlichen Urteilsbegründung entstandenen episte­ mischen Pflichten des Tatrichters wirken auf die Beweisanalyse und die Urteilsberatung zurück.156 Was wir im § 244 Abs. 2 suchten, finden wir jetzt im § 267 Abs. 1 Satz 1 StPO. Mit anderen Worten, nach dem Gesetzeswort­ laut (§ 244 Abs. 2 Satz 2 StPO) sind Gegenstand der Beweisaufnahme Tatsachen.157 Und obwohl der Begriff ‚Tatsache‘ eine Art von Unwiderleg­ lichkeit suggeriert, sind als Tatsachen Propositionen anzunehmen, von wel­ chen wir ‚hinreichend überzeugt‘ sind. Was jeweils als hinreichend gilt, hängt wiederum von der Struktur der Rechtfertigung ab. Letztere schreibt vor, welche Ansprüche bzw. Anforderungen an den Beweis zu stellen sind. Unter „Überzeugung“ (§ 261 StPO) ist also nicht eine nicht kommunizier­ bare innere Stellungnahme, ein Geheimnis des Richters zu verstehen, son­ dern ein analytischer, überprüfbarer Vorgang. Die Überzeugung des Richters (als Beweiskriterium) stellt auch eine Funktion der Begründung bzw. der zugrunde liegenden Rechtfertigungs­ struktur dar. Da bisher eine Theorie der epistemischen Rechtfertigung aus­ geblieben ist,158 wird die Revision im Bereich der Sachrüge mit einem Lotteriespiel verglichen, dessen Erfolg eher mit Zufall als mit einer nach­ Wagner (1994), S. 278. § 244 Rn. 5. 158  Vgl. dazu etwa LR26–Becker, § 244 Rn. 47: „In der Rechtsprechung findet sich keine einheitliche Beschreibung der Anforderungen, denen der Tatrichter genü­ gen muss, um das an ihn gerichtete Gebot umfassender Sachaufklärung zu erfüllen.“ 156  Vgl.

157  LR26–Becker,

158

Teil 3: Das System der freien Beweiswürdigung

vollziehbaren und abschätzbaren regelgeleiteten Praxis zusammenhängt.159 Denn der Tatrichter bekommt keine Handlungsanweisung darüber, welchen epistemischen Pflichten er nachzugehen hat, welchen Anforderungen das schriftliche Urteil genügen soll, wann sie als überspannt anzusehen sind oder ob man alle Alternativen ausschließen soll und wenn nicht, welche und mit welcher Berechtigung man legitimerweise ignorieren kann. Tatrichter suchen also nach Wahrheit; und obwohl die kommentierende Literatur da­ rauf hinweist, dass die volle persönliche Überzeugung des Tatrichters einen „Erkenntnisakt“ darstellt, welcher Resultat einer „vorangegangenen rationa­ len Würdigung der Beweisergebnisse auf Grund logischer Schlussfolgerun­ gen“ ist,160 fehlt uns der Kompass, d. i. ein erkenntnistheoretischer Ansatz.

159  So

Wagner (1994), S. 261; Hamm (1987), S. 266. § 261 Rn. 2.

160  LR26–Sander,

Teil 4

Auf der Suche nach einer Rechtfertigungstheorie A. Der Primat der Rechtfertigung Nachdem gezeigt wurde (vgl. Teil 2), dass der Umgang der Sachverhalts­ feststellungdogmatik mit den Grundbegriffen von Wahrheit und Erkenntnis problematisch ist, soll jetzt Ausschau nach Ansätzen in der Erkenntnistheo­ rie gehalten werden. Gesucht wird nach einer überzeugenden Antwort auf die Frage nach den normativen Kriterien eines Strafurteils, die dem foren­ sischen Wissen Stabilität verleihen können. Das Bereitstellen einer leis­ tungsfähigen erkenntnistheoretischen Struktur beansprucht, eine theoretisch fundierte Erklärung zu liefern, welchen epistemischen Pflichten ein Tatrich­ ter nachzugehen hat und wie stark seine epistemische Position sein soll, um einen Wissensanspruch zu erheben. Im folgenden Kapitel geht es mir also um eine Auseinandersetzung mit dem, was man „applied epistemology“ zu nennen pflegt. Und so wie sich Ingenieure keine Gedanken über die Grundlagen der Geometrie machen, wenn sie eine Brücke entwerfen, so bin ich auch Nutzer, nicht Erkenntnis­ theoretiker,1 und versuche, einen m. E. vielversprechenden erkenntnistheore­ tischen Ansatz für unsere gerichtlich-epistemische Praxis fruchtbar zu ma­ chen. Außerdem wäre nicht übertrieben zu betonen, dass der Gerichtssaal einen der beliebtesten Topoi erkenntnistheoretischer Ansätze ausmacht. Genauer gesagt, die erkenntnistheoretische Literatur wimmelt von solchen Beispielen.2 Dieses Interesse von Seiten der Erkenntnistheorie möchte ich hier aufgreifen und weiterentwickeln, indem ich den Schluss nahe lege, dass die epistemische Praxis des Tatrichters, wenn sie rational und nicht mög­ lichst rasch anhand von verfahrensbeendenden bzw. verfahrensabschaffen­ den Deals vollzogen wird, sich sogar als noch interessanter bzw. komplexer erweist als die Erkenntnistheoretiker bisher vermutet haben. Die Begründungspflicht des Tatrichters wurde bisher von der Literatur als Revisionsoktroi behandelt, der die Überprüfung des Urteils ermöglicht. Es 1  Vgl. Bovens / Hartmann (2003); Nobili (2001), S. 1 betont, dass es Aufgabe des Prozessualisten sei, dafür zu sorgen, dass die Rechtspraxis sich wissenschaft­liche und philosophische Ergebnisse aneignet. 2  Vgl. ÜG 8, 335, 416, 441, 453, 485, 500, 557, 604.

160

Teil 4: Auf der Suche nach einer Rechtfertigungstheorie

reicht also nicht, dass man sich in einem bestimmten Zustand befindet, den man „bloß fühlen aber nicht beschreiben kann“, so wie es Beccaria ausführ­ te.3 Der richterliche Erkenntnisvorgang kann nicht auf ein Bewusstseins­ phänomen reduziert werden, das sich im inneren und unerforschlichen Be­ reich reiner Subjektivität erschöpft.4 Die Wissensbehauptung des Tatrichters kann ja nicht aus einer – im Rahmen einer Nabelschau – „conditio“ resul­ tieren, so wie Judge Thayer in seiner epochemachenden Definition der Denkfigur „proof beyond a reasonable doubt“ an die Jury ausgeführt hat:5 „What is reasonable doubt? It is a term often used, probably pretty well under­ stood, but not easily defined. It is not mere possible doubt; because everything relating to human affairs, and depending on moral evidence, is open to some possible or imaginary doubt. It is that state of the case, which, after the entire comparison and consideration of all the evidence, leaves the minds of jurors in that condition that they cannot say they feel an abiding conviction to a moral certainty, of the truth of the charge.“

Die gerichtliche Praxis verlangt vielmehr, dass der Tatrichter auch etwas tut.6 Rechtfertigungsstiftende Faktoren müssen also dem Subjekt kognitiv zugänglich sein, damit sie als Urteilsgründe angegeben werden können. Ein Verweis auf ein vages Gefühl von Überzeugtsein genügt heutigen Rationa­ litätsmaßstäben nicht. In diesem Sinne hat der epistemische Agent nicht nur Rechte (gerechtfertigt sein, an etwas zu glauben), sondern auch epistemische Pflichten, nämlich diejenigen Gründe anzugeben, auf welchen seine Über­ zeugung beruht. Zu wissen heißt Wittgenstein zufolge oft, die richtigen Gründe für seine Aussage zu haben (ÜG 18). Der Tatrichter hat nach § 267 I Satz 1 StPO – verfassungskonform ausgelegt – die Gründe für seine Über­ zeugung anzugeben, d. h. die Zwischenschlüsse und Erfahrungssätze, die er eingesetzt hat, darzustellen. Diese fundamentale Entscheidung, die unser Rechtssystem getroffen hat, stellt zugleich ein Desiderat dar. Erforderlich ist eine stabile Rechtfertigungsstruktur, auf Grund deren ein Tatrichter operie­ ren und seiner Rechtfertigungspflicht nachkommen wird. Darauf wird später eingegangen. Seit der Antike wird Wissen als begründete wahre Meinung definiert.7 Da die Suche nach (mit Wissen gleichzusetzender) Gewissheit immer das Bemü­ hen war, das bloße Meinen zu überschreiten, wurde angenommen, dass der 3  Beccaria

(1851), Kap. 14. (2001), S. 7. 5  Commonwealth v. Webster, 59 Mass. 295, 320 (1850), in: People v. Strong, 30 Cal. 151–155 (1866), wurde diese Anweisung vom California Supreme Court als „probably the most satisfactory definition ever given to the words ‚reasonable doubt‘ in any case known to criminal jurisprudence“ bezeichnet. 6  Baumann (2006), S. 179. 7  Platon, Theaitetos 201c8 ff.; Menon 97e, 98a; Symposion 202a. 4  Nobili



A. Der Primat der Rechtfertigung161

Unterschied zwischen Wissen [ἐπιστήμη] und Glauben [δόξα] darin besteht, was für Rechtfertigungsstandards für das Wissen jeweils erforderlich sind. Die epistemische Richtigkeit ist also ein zweiteiliger Standard, der neben Wahrheit auch Rechtfertigung verlangt.8 Der Grund für diese Bisoziation liegt nach Willaschek darin, dass wir nur aufgrund des Rechtfertigungs­ aspekts in der Lage sind, diesen Standard überhaupt anzuwenden und dieser Standard unsere Überzeugungen nur aufgrund des Wahrheitsaspekts mit einer denkunabhängigen aber begrifflich artikulierten Wirklichkeit verbindet.9 Eines der Hauptziele unserer epistemischen Tätigkeit sei dem zufolge, über wahre Meinungen zu verfügen und falsche Meinungen zu vermeiden.10 Wir wollen z. B. nur dann medikamentös behandelt werden, wenn wir tat­ sächlich krank sind; des Weiteren wollen wir nur dann „das Gebäude (und zwar dringend!) verlassen“, wenn es tatsächlich in Flammen steht und empfinden einen im Nachhinein als false-positive (Alarm ohne Feuer) er­ wiesenen Feueralarm als Zeitverschwendung. Nicht zuletzt wollen wir die­ jenigen Angeklagten verurteilen, die tatsächlich eine Straftat begangen ha­ ben. Wie aber gezeigt wurde (vgl. Teil 2, Abschn. G.), ist die Handlungs­ anweisung „verurteile die (wirklich) Schuldigen“ zirkulär, weil sie ihren propositionalen Gehalt voraussetzt. Kriterium für unser Handeln ist nicht die Wirklichkeit, sondern jeweils hinreichende Gründe. Mit anderen Worten behandeln wir Aussagen als handlungsleitend (d. i. als wahr), weil die ein­ schlägige Wissensbehauptung und -zuschreibung berechtigt ist. Das bedeutet selbst wenn wir Wahrheit als einen nicht redundanten Begriff ansehen, ist es der Fall, dass Wahrheit Wissen voraussetzt – nicht umgekehrt. Es ist also nicht der Fall, dass wir irgendetwas wissen, weil es wahr ist. Es wird hingegen als wahr angesehen, weil wir es wissen. Es gibt also gute Gründe dafür, dass wir uns mit dem zweiten Teil der klassischen Definition des Wissens beschäftigen: „Während die Wahrheit unserer Überzeugungen allein davon abhängt, was in Wirklichkeit der Fall ist und insofern unserem Einfluss entzogen ist, liegt die Rechtfertigung unserer Überzeugungen in unserer Hand.“11 Während unserer bisherigen Auseinandersetzung mit dem Erkenntnisrealismus ist der Schluss nahe ge­ legt worden, dass wir keinen empirischen Zusammenhang zwischen den Bedingungen, unter denen wir Meinungen als gerechtfertigt betrachten, und Bedingungen, unter denen sie wahr sind, nachweisen können. Voraussetzung dafür wäre, so Williams,12 dass es einen Weg gibt, Tatsachen zu erfassen, 8  Willaschek

(2003), S. 262. (2003), S. 262. 10  Annis (1978), S. 213. 11  Willaschek (2003), S. 246. 12  Williams (1996), S. 146. 9  Willaschek

162

Teil 4: Auf der Suche nach einer Rechtfertigungstheorie

der nicht davon abhängt, welche Meinungen wir gerade für glaubwürdig halten. Epistemische Rechtfertigung dient zwar dazu, zwischen wahren und falschen Meinungen zu unterscheiden, aber es scheint doch sinnlos zu sein, Wahrheit als rechtfertigungsabhängig zu betrachten.13 Sobald wir die Posi­ tion des Ignoramus einnehmen und unter Unsicherheit argumentieren, kön­ nen wir nicht sinnvollerweise über Wahrheit als normatives Kriterium für (forensisches) Wissen reden.

B. Die Urteilsbegründung, eine Herkulesaufgabe? Tatrichter sind als epistemische Agenten erst dann berechtigt, ein Urteil zu fällen, wenn hinreichende Gründe dafür angegeben werden können. Die­ se Rechtfertigungspflicht führt uns unausweichlich zu dem Agrippa-Trilem­ ma und anschließend zur agrippinischen Skepsis. Darauf wird im nächsten Abschnitt eingegangen. Des Weiteren wird nach ganz herrschender Meinung eine in sich geschlossene Darstellung der vom erkennenden Gericht zur Urteilsgrundlage gemachten Feststellungen verlangt:14 bei der Urteilsbe­ gründung müsse der vom Gericht auf Grund der Hauptverhandlung für er­ wiesen erachtete Sachhergang in einer geschlossenen Darstellung geschildert werden.15 Das Geschlosseinheitsgebot, das die tatrichterliche Begründung vor Zweifeln schützen soll, führt uns zu dem sog. Problem der Geschlos­ senheit des Wissens unter logischer (oder gewusster) Implikation (closure principle) und anschließend zur modernen (cartesianischen) Skepsis. Um seine Begründungspflicht zu erfüllen, soll der Tatrichter also einen Zwei­ frontenkrieg führen: zum einen gegen die (antike) agrippinische Skepsis, die ein Konstruktionsproblem unseres (die Statik sämtlicher Wissensansprü­ che gefährdenden) Wissensbegriffs offenlegt und zum anderen gegen die (moderne) cartesianische Skepsis, die ausgerechnet das Geschlossenheitsge­ bot als einen unmöglich zu erfüllenden Anspruch darstellt. Auf den ersten Blick scheint es keinen Ausweg aus diesem Labyrinth zu geben. Der Über­ gang aus dem System der conviction intime, in welchem der Tatrichter keinerlei epistemische Pflichten hat, zu demjenigen der conviction raisonnée zeigt, dass der Tatrichter aus erkenntnistheoretischer Perspektive keine Rechte mehr hat. Denn Tatrichter haben epistemische Pflichten, denen sie – zumindest auf den ersten Blick – nicht nachgehen können. Der oben angesprochenen „Geschlossenheit der Begründung“ verleiht der BGH (VRS 5 606) eine gemäßigte Form. Zwar müssen sich die Urteilsgrün­ de mit allen festgestellten Tatsachen auseinandersetzen, wenn diese unter 13  Willaschek

(2003), S. 262 ff. 22, 59 f.; vgl. dazu LR26–Stuckenberg, § 267, Rn. 11. 15  LR26–Stuckenberg, § 267, Rn. 11 m. w. N. 14  BGHSt



B. Die Urteilsbegründung, eine Herkulesaufgabe?163

irgendeinem Gesichtspunkt entscheidungserheblich sein können.16 Das so gezeichnete Ausschöpfungsgebot wird indes insofern relativiert, als die Zweifel, die ein Strafurteil zu verhindern vermögen, nur diejenigen seien, denen das Prädikat der Vernünftigkeit zugesprochen wird.17 Nach ständiger Rechtsprechung muss zwar der Richter sich mit allen wesentlichen, für und gegen den Angeklagten sprechenden Umständen auseinandersetzen.18 Das soll aber nicht heißen, dass der Tatrichter jede die Schuld ausschließende oder entkräftende Alternative auszuräumen habe. Denn es genügt, so die Rechtsprechung, ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Si­ cherheit, „demgegenüber vernünftige Zweifel [gemeint ist: nicht alle] nicht mehr aufkommen“.19 Nach der berühmten Formulierung des dritten Zivil­ senats des BGH („Anastasia-Fall“, BGHZ 53, 255; ähnlich BGHSt 10 207 (208)) setzt das Gesetz nicht eine von allen Zweifeln freie Überzeugung voraus; „der Richter dürfe und müsse sich mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen, der den Zweifeln Schweigen gebietet ohne sie völlig auszuschließen“. Anders formuliert ha­ ben Zweifel, die realer Anknüpfungspunkte entbehren, außer Acht zu blei­ ben.20 Bloß theoretische Zweifel an der Schuld bleiben also nach ständiger Rechtsprechung unberücksichtigt. Daraus ergibt sich, dass Zweifel, die der Tatrichter für unvernünftig hält, keine Wirkung auf das Strafurteil haben. Die Einschränkung der Menge der Zweifel, die auf das Strafurteil Aus­ wirkungen haben dürfen, stellt hierbei eine Funktion der Schwere der Fol­ gen dar, die ihre Berücksichtigung hätte. Nach wohl h. M. dürfen zu hohe (überspannte) Anforderungen an das Zustandekommen der richterlichen Überzeugung nicht gestellt werden, da sie eine Verurteilung verunmöglichen würden.21 Dieser Gedankengang geht übrigens auf die Rechtsprechung des Reichsgerichts (RGSt 61 202, 206) zurück. Dort unterlag das angefochtene Urteil des Tatgerichts durchgreifenden Bedenken, da die Strafkammer zwar den dringendsten Verdacht einer Amtsunterschlagung hegte, aber die „sehr fernliegende Möglichkeit nicht für absolut ausgeschlossen hielt“. „Wollte man eine Sicherheit so hohen Grades verlangen, so wäre eine Rechtspre­ chung so gut wie unmöglich.“22 Daran anknüpfend bekräftigt der BGH, dass im Fall eines Freispruchs auf Sachrüge zu berücksichtigen sei, ob ggf. LR26–Sander, § 261, Rn. 59; vgl. BGH NJW 1980 2423; GA 1974 61. 51 127; 66 164; BGH NJW 1951 83; NJW 1951 325; 1967 360; 1967 1643; vgl. dazu LR26–Sander, § 261, Rn. 8, m. w. N. 18  BGH NJW 88, 3273. 19  Meyer-Goßner / Schmitt, § 261, Rn. 2 m. w. N. 20  BGH NStZ 1985, 15. 21  KK7–Ott, § 261, Rn. 4 m. w. N.; BGH MDR 1980, 948; Meyer-Goßner / Schmitt, § 261, Rn. 41. 22  RGSt 61 202, 206. 16  Dazu

17  RGSt

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Teil 4: Auf der Suche nach einer Rechtfertigungstheorie

der Tatrichter überspannte Anforderungen an die für Verurteilung erforder­ liche Gewissheit gestellt hat.23 Die Thematisierung der Gefahr einer wegen der überspannten Anforde­ rungen nicht mehr leistungsfähigen Rechtspflege verweist (nicht nur) auf den ersten Blick auf eine folgenorientierte Begründung, die als solche nicht besonders informativ ist. Folgenberücksichtigung statt blinder Normenbefol­ gung ist per se keine schlechte (oder gute) Idee, jedenfalls solange man die Notwendigkeit einer leistungsfähigen Strafjustiz anerkennt, die die Krimina­ lität einzudämmen in der Lage ist. Man liest bei der ständigen Rechtspre­ chung des Bundesgerichtshofes (BGH NJW 51 83), dass der erkennende Richter sich nicht auf die „Unmöglichkeit einer absoluten Wahrheitserkennt­ nis zurückziehen soll“, solange er die Gerechtigkeit nicht Schaden nehmen lasse, indem er ihre Leistungsfähigkeit auf null reduziert. Freund konstatiert die Notwendigkeit, die erkenntnistheoretisch begründeten Zweifel außer Acht zu lassen.24 Das Strafrecht könne seine weithin akzeptierte Funktion der Gewährleistung elementarer Bedingungen menschlichen Zusammenle­ bens nicht aufgeben; es gebe eine Entscheidungsnorm, die den Richter an­ weist, den rein erkenntnistheoretischen Zweifel unberücksichtigt zu lassen.25 Die sich aufdrängende Frage betrifft die Legitimation dieser Einschrän­ kung auf die vernünftigen Zweifel. Wie kommt die Entschärfung der objektiv möglichen Zweifel zustande und wodurch könnte sie rechtsdogmatisch und erkenntnistheoretisch begründet werden? Woran werden die Folgen einer nicht leistungsfähigen Strafjustiz gemessen? Und wo ist die Grenze zwischen schwerwiegenden und nicht in Kauf zu nehmenden Folgen? Und nicht zu­ letzt, was sollte man unter vernünftigen Zweifeln verstehen? Wie weit darf die folgenorientierte Argumentation eingreifen, damit sie auf der abstrakten Ebene der Ausarbeitung der pragmatischen Bedingungen, die eine Sachver­ haltsfeststellung ermöglichen, bleibt und nicht in eine ökonomische Analyse des Rechts verfällt? Vor allem aber, wie kann man diesen folgenorientierten Gedankengang mit der Rechtsprechung des BVerfG im Einklang bringen,26 23  BGHSt 10 208; BGH MDR 78, 806; Meyer-Goßner, § 261, Rn. 41; vgl. US Supreme Court: Cage v. Louisiana 498 U.S. 39 (1990). 24  Freund (1987), S. 74; dabei handelt es sich m. E. nicht um einen „erkenntnis­ theoretisch begründeten Zweifel“, sondern um eine skeptische Argumentation, die ganz im Gegenteil die strukturelle Schwäche unserer Erkenntnistheorie und damit unseres Wissensbegriffs offenlegt. 25  Freund (1987), S. 74. 26  Siehe etwa BVerfG, Urt. vom 15.02.2006 – 1 BvR 357 / 05, NJW 2006; hätte das Bundesverfassungsgericht zu dieser Problematik konsequent argumentiert, dann hätte es einen Strafspruch immer dann verbieten müssen, wenn nicht alle, sogar die „sehr fernliegenden“ Zweifel ausgeschlossen wären – da dies gegen die Menschen­ würde des Angeklagten verstoßen würde. Denn die schwerwiegenden Folgen einer



B. Die Urteilsbegründung, eine Herkulesaufgabe?165

dem zufolge die Menschenwürde als folgenindifferent konzipiert und behan­ delt werden müsse?27 Weitere Versuche, eine Grenze zu ziehen zwischen vernünftigen (und daher entscheidungsrelevanten) und unvernünftigen Zweifeln, die man nicht berücksichtigen sollte, vermögen den Vorwurf der Zirkularität nicht zu ent­ kräften. Arzt vertritt die Auffassung, dass die Denkfigur des Beweises jen­ seits vernünftiger Zweifel (proof beyond a reasonable doubt) durch die Annahme zu erklären ist, dass ein unvernünftiger Zweifel als unerheblich anzusehen sei, da der Nachweis „beyond a reasonable doubt“ geglückt ist.28 Damit lässt man allerdings zu, dass wesentliche Teile des Explanan­ dum (vernünftige Zweifel) in ihrer negativen Form in das Explanans hin­ einfließen. Auffallend ist ferner die Tatsache, dass in krassem Widerspruch zu der angelsächsischen Debatte über die inhaltliche Bestimmung des Be­ griffs ‚vernünftig‘ im deutschsprachigen Raum wenig darüber diskutiert wird.29 Die Rechtsprechung beschränkt sich lediglich auf die Erklärung, dass Zweifel, die realer Anknüpfungspunkte entbehren, außer Acht zu blei­ ben haben.30 Die bisherigen Verweise auf die für die soziale Sicherheit fatalen Folgen, die die Anhebung der Rechtfertigungsstandards hätten, können uns nicht voranbringen. Bislang fehlt dieser folgenorientierten Argumentation eine tragfähige Grundlage. Diese Problematik weist allerdings nicht darauf hin, dass Folgenorientierung uninteressant für die gerichtliche und epistemische Praxis ist, sondern auf die Tatsache, dass sie erkenntnistheoretisch begrün­ det werden soll. Der Möglichkeit, die Folgen einer Entscheidung in die Argumentationsstruktur miteinzubeziehen, werden wir nunmehr Aufmerk­ samkeit schenken: „Wir müssen vielmehr die Rolle der Entscheidung für und gegen einen Satz be­ trachten“ (ÜG 198).

auf Null reduzierten Leistungsfähigkeit der Strafjustiz und der daraus resultierenden Risiken der dem Verbrechen ausgelieferten Gesellschaft sollten – ähnlich wie die Folgen eines Flugzeugs, das in ein Hochhaus oder Atomkraftwerk einschlägt und wegen der Unantastbarkeit der Menschenwürde der unbeteiligten Passagiere nicht abgeschossen werden darf –für die Rechtsprechung und allen voran für das BVerfG kein zulässiges bzw. relevantes Argument sein. 27  Zur Problematik der Menschenwürde siehe etwa Neumann (1998). 28  Arzt (1997), S. 8. 29  Einführend dazu Mulrine (1997) mit zahlreichen Nachweisen. 30  BGH NStZ 1985, 15.

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Teil 4: Auf der Suche nach einer Rechtfertigungstheorie

C. Das Agrippa-Trilemma Regress, assumption, circulating: call this unpalatable menu of options „Agrippa’s Trilemma“. Michael Williams

Wird man herausgefordert, sein (forensisches) Wissen zu rechtfertigen, dann hat man auf das sogenannte Agrippa-Trilemma zu reagieren,31 näm­ lich das nach Meinung mehrerer Autoren am meisten intuitive und durch­ greifende skeptische Argument in der Geschichte der Philosophie.32 Agrip­ pa war ein pyrrhonischer Skeptiker. Ausgangspunkt seines Ansatzes war die klassische (sogenannte Standard-)Wissensanalyse als begründete wahre Meinung.33 Agrippas Strategie bestand freilich darin, einen epistemischen Agenten dazu aufzufordern, die Menge der Gründe [W] anzugeben, die dessen Überzeugung [Ü] zu rechtfertigen vermögen. Die einzige Beschrän­ kung bestand darin, dass man Gründe [G] anzuführen hat, die von der Überzeugung Ü verschieden sind, denn nichts darf ein Grund für sich selbst sein:34

Ü ← Wi ← Wi – 1 ← Wi – 2 ← Wi – 3 ← … ← G0

Von der Struktur her können in Bezug auf die Rechtfertigung nur drei Alternativen in Betracht gezogen werden (Sextus Empiricus, Grundriss der Pyrrhonischen Skepsis, I, 164 ff.):35 a) Man führt immer neue Gründe an und nimmt damit den unendlichen Regress in Kauf, wo jeder „Rechtfertiger“ selbst gerechtfertigt werden muss und zwar ad Infinitum [∞]:

Ü ← Wi ← Wi – 1 ← Wi – 2 ← Wi – 3 ← … ← Wi – ∞

b) Der unliebsamen Konsequenz eines infiniten Regresses kann der episte­ mische Agent nur durch den Abbruch des Regresses an irgendeiner Stelle, nämlich durch eine dogmatische Annahme, entgehen. Dabei han­ 31  Das Agrippa-Trilemma hat sich im deutschen Raum – im Anschluss an Hans Albert – teilweise mit dem Namen Münchhausen-Trilemma eingebürgert. Siehe nur Albert (1991). Hier verwende ich die Originalbezeichnung. 32  Siehe nur Williams (1991), S. 60. 33  Menon, 97e–98a. 34  Dazu Kober (1993); Baumann (2006), S. 205 f.; Ernst (2002). „W“ steht für eine Wissensbehauptung; „Ü“ steht für eine Überzeugung. 35  Eingehend dazu bei Baumann (2006), S. 206 ff.; Williams (2001) S. 58 ff.



C. Das Agrippa-Trilemma167

delt es sich um ein Fundament [F] dieser Rechtfertigungskette, nämlich einen Regress-Stopper: Ü ← Wi ← Wi – 1 ← Wi – 2 ← Wi – 3 ← … ← F

c) Die letzte Alternative lautet: Man greift auf etwas zurück, das man schon behauptet hat und so argumentiert man im Zirkel. Da man min­ destens einen der Gründe in der Argumentationskette zweimal angibt, erleidet die Begründung einen argumentativen Kurzschluss Ü ← Wi ← Wi – 1 ← Wi – 2 ← Wi – 3 ← … ← Wi – 1

Jede der oben skizzierten Entgegnungen auf die agrippische Herausforde­ rung führt zu inakzeptablen Ergebnissen. Regress ad infinitum ist keine realisierbare Lösung; ein willkürlicher Abbruch der Argumentationskette könnte vor allem in liberalen Gesellschaften nicht akzeptiert werden;36 ein Zirkelschluss verstößt gegen unsere Grundintuitionen über das, was eine Begründung ausmacht. Der epistemische Agent kann also seine Überzeu­ gung, dass p, eigentlich nicht rechtfertigen und dadurch kann er auch nicht wissen, dass p.37 Er – so wie wir alle – soll auf sämtliche Wissensansprüche verzichten. Bei dem Agrippa-Trilemma handelt es sich also um die übliche Vorgehensweise bei der Analyse des Wissens, die zu dem kontraintuitiven sowie unabwendbaren Ergebnis führt, dass (irgend)eine Meinung niemals hinreichend begründet sein kann. Als Reaktion auf das Agrippa-Trilemma gelten heute in der Philosophie drei verschiedene Strategien, mit denen ich mich jetzt befassen werde.

I. Fundamentalismus Anhänger diverser fundamentalistischer Theorien der Rechtfertigung zie­ hen die zweite Alternative des Agrippa-Trilemmas in Betracht und bezwei­ feln, dass jeder Abbruch der Rechtfertigungskette willkürlich wäre. Von zentraler Bedeutung ist die Auffassung, der zufolge die Prämissen für die Rechtfertigung einer Basismeinung, der die Rolle des Fundaments zuge­ schrieben wird, nicht empirische Meinungen umfassen müssen, sondern kognitive Zustände elementarer Art, welche selbst keine Rechtfertigung benötigen.38 Bei dem Fundamentalismus handelt es sich um die klassische Williams (2001), S. 59. (2002), S. 21. 38  Vgl. Seide (2011), S. 32 ff. 36  So

37  Ernst

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Teil 4: Auf der Suche nach einer Rechtfertigungstheorie

Position, die eigentlich bis ins ausgehende 19. Jh. unangefochten akzeptiert wurde.39 Schon bei Aristoteles findet sich die Ansicht, dass unser Wissen auf der Kenntnis unmittelbar einleuchtender Prämissen beruht (Analytica Posteriora 71b). Als Gründervater des modernen Fundamentalismus gilt heute Descartes, dessen cogito-Argument als der berühmteste Basis-Satz angesehen wird. Bei Fundamentalisten ist vor allem die Notwendigkeit ei­ nes letzten und nicht hinterfragbaren Grundes ausschlaggebend, da wir da­ vor gewarnt werden, dass sonst wegen des Domino-Effekts der Rechtferti­ gung entweder jeder Begründungsversuch in einen unendlichen Regress verfallen oder (auch) unser Wissensgebäude einstürzen würde. 1. Die Vorannahme der „erkenntnistheoretischen Priorität“ Schlick hat in seinem klassischen Aufsatz zum Ausdruck gebracht, dass Wahrnehmungs- bzw. Beobachtungssätze sich „irgendwie“ auf die Wirklich­ keit beziehen; sie charakterisiert „eine Art von Berührung mit der Wirklich­ keit“.40 Der Vielzahl der fundamentalistischen Ansätze kann man ein ge­ meinsames Element entnehmen, nämlich dass jedes Mal eine Menge von empirischen Propositionen postuliert wird, die die Rolle des Regress-Stop­ pers spielen. Da ihnen ein gewisser positiver Grad von Rechtfertigung zu­ kommt, wird die Rechtfertigungskette durch diese sog. basalen Meinungen zu Halt gebracht.41 Fundamente sind, so Williams, „intrinsically credible“.42 Daraus ist eine klare Konsequenz für die Struktur der Rechtfertigung, so wie sie der Fundamentalist konzipiert, zu ziehen: Manche Mei­nungs­arten (e. g. Beobachtungssätze) seien wegen ihres intrinsischen Wertes basal, wäh­ rend andere auf die ersten inferentiell zurückgreifen, weil sie Rechtfertigung benötigen.43 Dieses Hauptmerkmal fundamentalistischer Ansätze verleiht der Begründungsstruktur einen asymmetrischen Charakter. Die sog. Doktrin der Erkenntnistheoretischen Priorität besteht, wie schon angedeutet, darin, Meinungen in erkenntnistheoretische Klassen zu unterteilen, die hierarchisch anzuordnen seien.44 Unser gesamtes Wissen sei demzufolge ein hierarchisch gestuftes Gebäude von gerechtfertigten Meinungen, das auf einem Funda­ dazu bei Grundmann (2008), S. 278 ff.; Baumann (2006), S. 207 ff. (1934), insb. S. 87 ff. 41  Vgl. Seide (2011), S. 33 ff. 42  Williams (2001), S. 82. 43  Williams (1991), S. 89 ff. 44  Williams (1996) S. 169; Juristen sind mit der Grundidee des strukturellen Fundamentalismus und mit diesem hierarchischen Konzept gut vertraut. Als Aufgabe der „Stufenbaulehre“ bezeichnet es Adolf Merkl, das logische Verhältnis der einzel­ nen differenzierten Rechtserscheinungen zu bestimmen. Mehr dazu Behrend (1977), S.  13 ff. 39  Mehr

40  Schlick



C. Das Agrippa-Trilemma169

ment (fundamentum inconcussum) ruht, während alle nicht basalen Über­ zeugungen nur insofern gerechtfertigt seien, als sie auf kürzerem oder län­ gerem Weg aus basalen Überzeugungen inferentiell abgeleitet werden kön­ nen.45 Überzeugungen höherer Stufen erfahren ihre Rechtfertigung durch Überzeugungen tieferer Stufen, nämlich von basalen Meinungen, wie z. B. Sinnesdaten, dem Common Sense etc. 2. Zwei Einwände gegen den Erkenntnis-Fundamentalismus Im ersten Teil habe ich mich mit der Annahme auseinandergesetzt, dass es da draußen eine erga omnes verbindliche Erfahrungsbasis (materielle Wahrheit) gebe, die auf ihre Entdeckung wartet. Die Kritik an dem Mythos des Gegebenen richtete sich grundsätzlich gegen den hier noch zu erörtern­ den strukturellen Fundamentalismus. Hier möchte ich mich nochmals auf einige Gesichtspunkte konzentrieren. Überzeugungen, die als Gründe angegeben werden, müssen eine proposi­ tionale Struktur haben. Nur so können sie als Gründe verwendet werden, die einerseits Aussagen begründen und andererseits von anderen Aussagen begründet werden. Nur so können diese Aussagen als Gründe in eine Be­ gründungsstruktur eingebettet werden. Phänomenale Informationen (z. B. Objekte, Dinge an sich oder gar die Welt da draußen) besitzen allerdings eine solche Struktur nicht und können nicht in einer Rechtfertigungskette (space of reasons)46 eingebettet werden. Die Wahrnehmung von etwas ist eine Sache; die Wahrnehmung, dass etwas der Fall ist (etwa eine bestimm­ te Farbe oder ein Teilchenbeschleuniger), nämlich der Besitz semantischer Informationen47 allerdings eine ganz andere.48 Objekte sind also die condicio sine qua non für unsere Wahrnehmung. Was sie keineswegs sind, ist die condicio per quam. Dettmann erklärt, dass „die Rechtfertigung und die kausale Genese von Überzeugungen zwei zu unterscheidende Aspekte im Kontext der Analyse von Überzeugungen“ sind.49 Eine noch nicht begrifflich artikulierte Wahrnehmung phänomenaler Zu­ stände vermag es also nicht, die Rolle des Regress-Stoppers zu spielen. Denn entweder hat sie keine propositionale Struktur und kann (als bloß sensorische Information) andere Überzeugungen höherer Stufen nicht be­ gründen. Oder sie besitzt eine propositionale Struktur (sie ist nämlich 45  Grundmann

(2008), S. 279. siehe nur Sellars (1963), S. 169. 47  Mehr dazu Dettmann (1999), S. 130 f. 48  Mehr dazu Willaschek (2003), S. 264. 49  Dettmann (1999), S. 131. 46  Dazu

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Teil 4: Auf der Suche nach einer Rechtfertigungstheorie

sprachlich aufgefasst) und muss selbst begründet werden. Fundamentalisten müssten also eine Erklärung liefern, wie eine empirische Aussage (etwa ein Beobachtungssatz) uns inferentiell dazu ermächtigen könnte, im gleichen Atemzug Überzeugungen höherer Stufen auf sie zurückzuführen (Beobach­ tungssätze als epistemische Basis), ohne dabei ihren Charakter als selbst­ rechtfertigende Aussage (Beobachtungssätze als kausale Basis) einzubüßen. Die fundamentalistische Theorie der Rechtfertigung ist schweren Zweifeln ausgesetzt.

II. Kohärentismus Der im vorherigen Abschnitt nachgezeichneten linearen und eindimensio­ nalen Konzeption von Rechtfertigung steht die holistische, zweidimensiona­ le Rechtfertigungsstruktur gegenüber. Kohärentisten zufolge besteht die Rechtfertigung einer einzelnen Überzeugung in der Mitgliedschaft in einem System von Überzeugungen, dessen einzelne Überzeugungen untereinander verknüpft sind und sich gegenseitig stützen.50 Das bedeutet wiederum zweierlei: während die Rechtfertigungsstruktur nach Fundamentalisten asymmetrisch ist und aus Meinungen verschiedener Klassen besteht (auf­ grund ihres unterschiedlichen intrinsischen Wertes etwa von Beobachtungs­ sätzen), vertreten die Kohärentisten die Auffassung, dass die Rechtferti­ gungsstruktur symmetrisch ist, da allen Auffassungen der gleiche Wert zu­ kommt. „What distinguishes a coherence theory of truth is simply the claim that nothing can count as a reason for holding a belief except another belief.“51 Das heißt für den Kohärenztheoretiker ist nicht der Inhalt (Beob­ achtungssatz oder nicht), sondern lediglich die Stellung einer Überzeugung innerhalb eines Überzeugungsnetzes informativ. Eine Überzeugung sei erst dann gerechtfertigt, wenn sie mit anderen Überzeugungen, die sie umgeben, logisch konsistent ist. Während Anhänger des Rechtfertigungsfundamenta­ lismus sich eher für die Architektur des Wissens interessieren, rückt bei Kohärenztheoretikern die Untersuchung von dessen Ökologie in den Fokus, nämlich der Symbiose einer Überzeugung mit anderen in einer kohärenten Nische.52 Kohärentisten zufolge ist also eine Überzeugung genau dann gerechtfertigt, wenn sie in ein System von Überzeugungen eingebettet wird, innerhalb dessen alle Überzeugungen in Rechtfertigungsbeziehung zueinan­ der stehen. Jede Überzeugung beruht dann auf der Konsistenz dieses Netz­ werkes und trägt gleichzeitig zu seiner Konsistenz bei. Nach Grundmann ist ein System von Überzeugungen genau dann kohärent, wenn die in ihm dazu Baumann (2006), S. 212–215. (1986), S. 156. 52  So Williams (2001), S. 82. 50  Einführend 51  Davidson



C. Das Agrippa-Trilemma171

enthaltenen Überzeugungen konsistent sind und sich gegenseitig stützen.53 Die Informationsmenge etwa, dass ein Millionär einen Porsche fährt, wird als kohärenter bezeichnet als die Information, dass ein Obdachloser densel­ ben Wagen fährt. Könnte man also die fundamentalistische Konzeption von Rechtfertigung mit dem sog. Stufenbau einer Rechtsordnung parallelisieren, so hätte man sich den Kohärentismus als eine Rechtsordnung vorzustellen, in der etwa der Weisung eines Verkehrspolizisten und dem Grundrecht auf informatio­ nelle Selbstbestimmung der gleiche Status zukommt. Der Kohärentismus lässt sich i. d. S. nicht als Konstrukt mit pyramidischer Form, sondern als ein umfassendes flaches Netz von Überzeugungen beschreiben. Der Kohärenz­ theoretiker nimmt von der Idee eines Fundaments unseres Wissens von der Welt Abstand und behauptet, dass es eigentlich keine schlechte Idee ist, einen Grund [Wi] mehrmals anzugeben.54 Damit wird die dritte Alternative des Agrippa-Trilemmas [Zirkularität] als unproblematisch in Zweifel gezo­ gen. Der Kohärentismus hängt historisch mit dem sog. Wiener Kreis und Au­ toren wie Otto Neurath und Carl Gustav Hempel zusammen. Auf den ersten geht die berühmteste Formulierung der Grundidee des Kohärentismus zu­ rück: „Wie Schiffer sind wir, die ihr Schiff auf offener See umbauen müssen, ohne es jemals in einem Dock zerlegen und aus besten Bestandteilen neu errichten zu können.“55

Gegen das oben skizzierte holistische Konzept von Rechtfertigung ist sofort Kritik laut geworden. Bereits Schlick hat den sogenannten Isolationseinwand zum Ausdruck gebracht: „Wer es ernst meint mit der Kohärenz als alleinigem Kriterium der Wahrheit, muss beliebig erdichtete Märchen für ebenso wahr halten wie einen historischen Bericht oder Sätze in einem Lehrbuch der Chemie, wenn nur die Märchen so gut erfunden sind, dass nirgends ein Widerspruch auftritt.“56 In diesem Sinne sind Wahnsysteme wie die sog. „Flacherdetheorie“ oder die Holocaustleugnung anzunehmen, wo jede noch so abwegige Überzeugung in ein passendes System ebenfalls abwegiger Überzeugungen eingebettet wird.57 Genauer gesagt kann es un­ endlich viele abweichende und inkompatible Meinungssysteme geben, die in gleichem Maß kohärent sind. Wir können aber keineswegs zwischen zwei 53  Grundmann

(2008), S. 590. nur Bonjour (1988). 55  Neurath (1932), S. 204–214. 56  Schlick (1934), S. 86. 57  Schlick (1934); Grundmann (2008), S. 324 ff. 54  Siehe

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Teil 4: Auf der Suche nach einer Rechtfertigungstheorie

oder mehreren Meinungssystemen unterscheiden, weil der Kohärenzgrad einer plausiblen Menge von Überzeugungen genauso groß sein kann wie derjenige eines Wahnsystems.58 Der Kohärentist ist deswegen gezwungen, seine Grundvoraussetzung, dass alle Überzeugungen den gleichen epistemi­ schen Status haben, zu modifizieren und einige fundamentalistisch anmuten­ de Annahmen zu teilen, indem manchen Überzeugungen (wie z. B.: die Erde ist im Rahmen der euklidischen Geometrie kugelförmig) ein privile­ gierter Status zugeordnet wird.59 Der Preis, den Kohärenztheoretiker nun bezahlen, um den Isolationseinwand auszuräumen, ist in eine Variante von Fundamentalismus zu verfallen.60 Der zweite Einwand richtet unseren Blick auf die ungeheure Komplexität eines solchen Konzepts. Grundmann merkt an,61 dass eine solche Aufgabe nicht zu bewältigen ist, da die Kohärenzprüfung eines Systems von etwa 100 verschiedenen Aussagen (man denke nur an einen Strafprozess im Be­ reich der Wirtschaftskriminalität), eine Wahrheitstafel mit 2100 möglichen Kombinationen erfordert. Um untersuchen zu können, ob es mindestens eine Zeile mit Wahrheitseinträgen für alle Überzeugungen geben kann, be­ nötigten wir eine ungeheuer große Rechenkapazität.

III. Eine Zwischenbilanz. Fundhärentismus? Fundamentalismus und Kohärentismus stellen die beiden bisher an­ spruchsvollsten Versuche einer konstruktiven Entgegnung (vgl. Teil 1, ­Abschn. A.II.) auf den Skeptizismus dar. Alles in allem steht der Fundamen­ talist vor einer unmöglichen Aufgabe, deren beiden Verzweigungen zu einer erkenntnistheoretischen Sackgasse führen; der Kohärentist kommt auf der anderen Seite ohne fundamentalistische Annahmen nicht aus. Was George Orwell bzgl. des Gleichheitsprinzips bei Tieren geschrieben hat,62 gilt auch für den epistemischen Status von Überzeugungen. Alle Überzeugungen sind gleich; manche sind aber gleicher. Die unüberwindlichen Schwierigkeiten beider Ansätze haben viele Erkenntnistheoretiker dazu geführt, den Erfolgs­ aufsichten eines Mischmodells (Fundhärentismus) nachzugehen. Dabei handelt es sich um ein Modell, das Züge fundamentalistischer und kohären­ tistischer Konzeptionen von Rechtfertigung kombiniert, ohne dass bisher die Rede von klaren Ergebnissen sein kann.63 Bonjour (1985), S. 103. (2006), S. 214 f. 60  Williams (2001), S. 268 ff. 61  Grundmann (2008), S. 318 f. 62  Orwell (1996), 10. Kap. 63  Vgl. Grundmann, (2008), S. 324. 58  Vgl.

59  Baumann



D. Moderne Skepsis: On the Slippery Slope to Scepticism173

Der Misserfolg beider Ansätze bedeutet, dass ein epistemischer Agent seiner Begründungspflicht nicht befriedigend nachgehen kann. Ein Wissens­ anspruch wäre folglich nicht berechtigt. Aus diesem Grund erscheint es zumindest sinnvoll, einem relativ neuen und vielversprechenden Ansatz nachzugehen, der beansprucht, eine Antwort auf das Agrippa-Trilemma zu liefern. Im Folgenden werde ich eine ausführliche Darstellung der wichtigs­ ten kontextualistischen Ansätze präsentieren und ihre Leistungsfähigkeit beurteilen, eine Antwort auf den Erkenntnis-Skeptiker zu liefern.

D. Moderne Skepsis: On the Slippery Slope to Scepticism Das Scheitern einer konstruktiven Entgegnung auf den Skeptizismus zwingt uns dazu, der unliebsamen Konsequenz zuzustimmen, dass der Tat­ richter sowie jeder andere epistemische Agent seinen epistemischen Pflich­ ten nachzugehen nicht in der Lage ist und daher all seine Wissensansprüche aufgeben soll. Wir gelangen zu agrippinischer Skepsis, indem wir versuchen, unsere Meinungen zu begründen. Doch die Probleme enden nicht hier; die Rede war allerdings von einem Zweifrontenkrieg. Der zweite Themenkom­ plex, der hier behandelt wird, betrifft die moderne (cartesianische) Skepsis und das Problem der Geschlossenheit des Wissens unter logischer Implika­ tion (closure principle). Bemerkenswerterweise wirft – wie üblich – die moderne Skepsis Probleme auf, die nicht nur von bloß theoretischem bzw. praxisfernem Interesse sind. Nach ständiger Rechtsprechung ist es für das Verständnis des Urteils unerlässlich, dass der Tatrichter den festgestellten Sachverhalt in einer geschlossenen Darstellung, erschöpfend würdigt.64

I. Das Prinzip des ausgeschlossenen Zweifels (PAZ) Die moderne Skepsis stützt sich vor allem auf eine invariantistische Kon­ zeption des Wissens. Wissen sei als der Ausschluss aller denkbaren Irrtums­ möglichkeiten zu verstehen. Des Weiteren versteht man unter Wissen einen definitionsgemäß absoluten, irrtumsimmunen Begriff, der anders als die Überzeugung nicht abstufbar ist.65 Man kann nicht etwas stark oder weniger stark wissen. Man weiß genau dann, dass p, wenn man in der Lage ist, alle Zweifelsmöglichkeiten auszuschließen. „Ich weiß das“ heißt, so Wittgenstein „Ich bin darin unfehlbar“ (ÜG 17). Wie ist allerdings diese allumfassende Menge der denkbaren Alternativen, die berechtigterweise ins Spiel gebracht 64  Für

Nachweise siehe bei LR26–Stuckenberg, § 261 Rn. 11 f., 34. dazu Prichard (1967), S. 60 ff.

65  Einführend

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Teil 4: Auf der Suche nach einer Rechtfertigungstheorie

werden, näher zu bestimmen? Heißt etwa ‚alle‘ wirklich alle? Lewis erklärt uns, dass wir freilich unsere Fantasie frei laufen lassen sollen; wir werden dann zu dem Schluss kommen, dass die Menge der denkbaren Alternativen unbegrenzt ist: „CIA plots, hallucinogens in the tap water, conspiracies to deceive, old Nick himself“.66 Wie können allerdings solche zu weit hergehol­ ten Irrtumsmöglichkeiten unser Wissen verunmöglichen? Die Antwort fällt relativ einfach. Die merkwürdigen oder gar abwegigen Defeater des Skepti­ kers machen laut Williams die skeptische Argumentation weder inkohärent noch unmöglich. Skeptische Argumente erscheinen intuitiv einleuchtend. Sie liegen zwar faktisch sehr fern aber epistemisch sehr nahe.67 Diese Paradoxie möchte ich anhand des sogenannten PAZ (Prinzip des ausgeschlossenen Zweifels) erklären.68 Betrachten wir dieses Prinzip und gehen wir von einer alltäglichen Proposition aus, nämlich einem sog. Mooreschen Satz p, sodass wir behaupten können, dass wir über Wissen verfügen: Ich weiß, dass ich zwei Hände habe [p]. [Prämisse 1]

Suchen wir uns nun eine abwegige Irrtumsmöglichkeit aus, eine soge­ nannte skeptische Hypothese, wie z. B., dass wir Gehirne im Tank sind Wir sind Gehirne im Tank [q]. [Prämisse 2]

Es steht nun fest, dass diese zwei Propositionen sich gegenseitig aus­ schließen. Die Proposition „ich habe zwei Hände“ impliziert logisch die Proposition „ich bin kein körperloses Gehirn in einem Tank mit Nährflüs­ sigkeit“. Denn für Wissen ist erforderlich, dass die Wahrheit der fraglichen Proposition „X weiß, dass p“ mit unseren Gründen kovariiert.69 Das heißt, unser Beweismaterial, d. i. unsere Evidenzen für p, müssen epistemisch stark genug sein, um alle epistemische Welten ausschließen zu können, in denen p nicht gilt. Genauer gesagt, damit man epistemisch berechtigt ist zu behaupten, dass p, muss man Gründe angeben, dass nicht q. Es steht jedoch auch fest, dass wir nicht ausschließen können, dass wir Gehirne im Tank sind. Der moderne Skeptiker behauptet also nicht, dass wir tatsächlich kör­ perlose Gehirne im Tank sind, sondern dass wir diese Denkmöglichkeit nicht ausschließen können. Und solange wir das nicht tun, müssen wir auf alle Wissensansprüche verzichten. Die skeptische Argumentation erweist sich als einleuchtend. Führen wir jetzt die zwei Prämissen zusammen: Ich weiß, dass p [Wp]. Ich weiß auch, dass aus p nicht-q folgt [W(p→ ¬q)]. Ich weiß aber nicht, dass nicht-q [¬W¬q]. [Prämisse 3] 66  Lewis

(1996), S. 549. (2003), S. 978. 68  Ausführlich dazu Willaschek (2003), S. 178 ff.; ders. (2000), S. 151 ff. 69  Grundmann, Grenzen, S. 997. 67  Williams



D. Moderne Skepsis: On the Slippery Slope to Scepticism175

Genau wie bei dem Agrippa-Trilemma gelangen wir hier erst zur Skepsis, wenn wir versuchen, diese Paradoxie aufzulösen: P3 – Ich weiß nicht, dass ¬q. P4 – Wenn ich nicht weiß, dass ¬q, dann weiß ich auch nicht, dass p. Konklusion – Ich weiß nicht, dass p.

Skeptische Zweifel sind zwar nicht widerlegbar, nicht präzise formuliert, sind manchmal nicht empirisch überprüfbar, aber sie sind immer noch alter­ native Möglichkeiten, die ausgeschlossen werden sollen.70 Damit stellen wir fest, dass unser Scheitern bei der Widerlegung skeptischer Hypothesen uns das Erlangen von Wissen ausschließt.

II. Zwischen der Scylla (antiker) und der Charybdis (moderner) Skepsis Der Erkenntnis-Skeptiker behauptet wie oben gezeigt nicht, dass wir Gehirne im Tank sind, sondern dass wir diese Alternative nicht ausschließen können. Damit weist er auf die schon erwähnte strukturelle Schwäche un­ seres Wissensbegriffs hin. Anders formuliert braucht der Skeptiker nicht nachzuweisen, dass seine Hypothesen zutreffen, sondern dass unsere Mei­ nungen kein Wissen darstellen, da sie den skeptischen Rechtfertigungsstan­ dards nicht genügen. Extreme Maßstäbe für Wissen zwingen uns dazu, un­ sere Wissensansprüche aufzugeben. Skeptische Strategien sind vor allem deshalb einleuchtend, weil der Skeptiker uns anscheinend intuitive Argu­ mente vorstellt, die dennoch unausweichlich zu inakzeptablen Ergebnissen führen.71 Im Rahmen solcher Überlegungen kann man etwa besser verste­ hen, aus welchem Grund es, seit Philosophie betrieben wird, auch den skeptischen Zweifel gegen sie gibt. Man sollte sich jedoch diese Auseinan­ dersetzung nicht als einen Grabenkampf vorstellen, sondern vielmehr als eine osmotische Prozedur. Nach Williams ist der Skeptiker als jemand zu verstehen, der bestimmte, sehr allgemeine Fragen über menschliches Wissen stellen möchte.72 Generische (skeptische) Zweifel wie die Irrtumsmöglich­ keit, dass wir körperlose Gehirne im Tank sein könnten, versuchen nicht, unsere Aufmerksamkeit auf eine versteckte Realität zu lenken. Ihr Ziel ist hingegen, uns zu einer Strukturanalyse unseres Wissensbegriffs zu bewegen. Im Anschluss an diese Überlegungen wird der Frage nachgegangen, wes­ halb wir berechtigt sind, anzunehmen, dass wir überhaupt irgendetwas über Lewis (1996), S. 551 ff. Contextualism, S. 4: „Briefly, scepticism is a problem because the sceptic presents us with apparently intuitive arguments for wholly unacceptable conclusions.“ 72  Williams (1999), S. 21 f. 70  Siehe

71  Williams,

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Teil 4: Auf der Suche nach einer Rechtfertigungstheorie

die Außenwelt wissen können, z. B. dass der Angeklagte mit Zueignungsab­ sicht eine fremde bewegliche Sache weggenommen hat.

E. Der Epistemologische Kontextualismus: Ein Schmerzmittel gegen die Erkenntnis-Skepsis? Wie im ersten Teil angemerkt (Abschn. A.IV.), handelt es bei den An­ sätzen des Fundamentalismus und Kohärentismus um die sog. konstruktive Haltung73 bzw. Reaktion auf die skeptische Herausforderung: generische Zweifel (skeptische Irrtumsmöglichkeiten) werden für sinnvoll gehalten. Da wird lediglich versucht, den Skeptizismus unter Rekurs auf stabiles Wissen zu widerlegen. In dem Scheitern aller Versuche, dies zu tun, be­ steht nach Kant der berühmte „Skandal der Philosophie“ (KrV B XL). Der dritte Weg, der eingeschlagen wird, ist eine relativ neue Position, die in der Philosophie viel und kontrovers diskutiert wird. Es wird beansprucht, dass der Rechtfertigungskontextualismus – besser als seine Antagonisten – erkenntnistheoretische Paradoxien wie das Problem des Skeptizismus auf­ zulösen in der Lage ist. Der erkenntnistheoretische Kontextualismus,74 nämlich die These, dass unsere Wissenszuschreibungen von kontextuellen Parametern abhängen, beansprucht, eine diagnostische Entgegnung auf den Skeptizismus zu liefern und den Schluss nahezulegen, dass „der Skandal der Philosophie eigentlich darin besteht, dass eine Widerlegung immer wieder erwartet und verlangt werde“.75 Diese Diagnose versucht, auf die fehlende Berechtigung des Skeptikers Fragen über unser alltägliches Wis­ sen zu stellen, hinzuweisen und zu zeigen: a) dass in der Argumentation des Skeptikers etwas überhaupt nicht stimmt, wenn er verlangt, dass wir sämtliche Wissensansprüche aufgeben müssen, nur weil wir nicht auszu­ schließen in der Lage sind, dass wir keine Gehirne im Tank sind und b) dass der Skeptiker einen naheliegenden Fehler begeht: Er glaubt, dass Wissen generell unmöglich ist, weil er Erkenntnistheorie betreibt. Richtig ist vielmehr, dass er freilich entdeckt hat, dass Wissen zwar unmöglich ist, aber nur während man Erkenntnistheorie betreibt.76 Es ist also das Betrei­ ben von Erkenntnistheorie und nicht das bloße Erwähnen abwegiger Irr­ tumsmöglichkeiten in einem alltäglichen Kontext, das diese als relevant erscheinen lässt.77 Williams (1991), S. XV. gehört sowohl der Semantische Kontextualismus (SK) als auch der In­ ferentielle Kontextualismus (IK). 75  Heidegger (2006), § 43. 76  Williams (1999), S. 3 f. 77  Williams (1999), S. 3 f. 73  So

74  Dazu



E. Der Epistemologische Kontextualismus177

Diesbezüglich wird den zwei Hauptvertretern kontextualistischer Ansätze nachgegangen: a) dem Semantischen Kontextualismus (David Lewis, Stewart Cohen, Keith DeRose), demzufolge „Wissen“ ein indexikalischer Ausdruck ist, der je nach Kontext unterschiedliche Anwendungsbedingungen erfüllt. Das skeptische Problem ist aus Sicht der Anhänger des Semantischen Kon­ textualismus eine Folge unserer Unfähigkeit, sich Klarheit über die In­ dexikalität unserer epistemischen Zuschreibungen und des Begriffs „Wissen“ zu verschaffen. Die skeptische Bedrohung könne nicht, was unser alltägliches und wissenschaftliches Wissen betrifft, ernst genom­ men werden. Denn sie ähnele der Einsicht, dass es eigentlich keinen Arzt in Berlin gebe, wenn man darunter nur diejenigen versteht, die innerhalb von wenigen Minuten jede x-beliebige Krankheit heilen kön­ nen.78 b) dem Inferentiellen Kontextualismus (Ludwig Wittgenstein, David Annis, Michael Williams)79, dem zufolge kontextuelle Parameter nicht nur auf die Struktur der Rechtfertigung (structure of justification) zurückwirken, sondern vielmehr eine Proposition in Absehung von sämtlichen Kontext­ faktoren überhaupt keinen erkenntnistheoretischen Status mehr besitze.80 Das eigentliche Problem, welches dem Skeptizismus seine Plausibilität verleiht, ist, so Williams, nicht der Erkenntnisrealismus, sondern der Erkenntnistheoretische Realismus (epistemological realism = ER). Da­ runter versteht er den naiven Realismus bezüglich der Untersuchungsob­ jekte der Erkenntnistheorie. Dem ER zufolge wird manchen Arten von Meinungen (meistens Sinneswahrnehmungen) wegen ihres privilegierten Status, der ihnen inhärent sei, Priorität zugesprochen. Zwischen ihnen Beispiel stammt von Stroud (1984), S. 40 f. diesen Autoren kann Karl R. Popper mitgerechnet werden (siehe Objekti­ ve Erkenntnis, 4. Aufl., S. 79 ff.) demzufolge Gewissheit ein Grenzbegriff sei und die für unsere praktischen Zwecke hinreichende Gewissheit, nicht nur von dem In­ formationsstand des Subjekts, sondern auch von pragmatischen Faktoren abhänge, die Popper „Situation“ nennt: „Mit den Händen in den Taschen bin ich recht ‚si­ cher‘, dass ich fünf Finger an jeder Hand habe; sollte aber das Leben meines besten Freundes von der Wahrheit dieser Behauptung abhängen, so nehme ich vielleicht (ja, ich glaube, ich müßte es) meine Hände aus den Taschen, um ‚doppelt‘ sicherzuge­ hen, dass ich nicht einen Finger durch ein Wunder verloren habe.“ Das ist vor allem deshalb interessant, weil Popper zufolge kontextuelle Faktoren, wie die Signifikanz des Gewußten (was auf dem Spiel steht), Einfluss darauf nehmen, welche Alterna­ tiven auszuschließen seien: Selbst die sogenannten Moore’schen Sätze, wie z. B.: „Ich habe zwei Hände“ verlieren nach Popper ihren epistemischen Status, wenn ein Irrtum besonders gravierende Folgen, wie das Leben eines Menschen und zwar eines Freundes, hätte. 80  Seide (2011), S. 214. 78  Das 79  Zu

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sollen naturbedingte, objektive Rechtfertigungsbeziehungen bestehen: „Our beliefs therefore fall into natural epistemological kinds, standing in natural relations of epistemological priority“.81 Darauf werde ich später eingehen. Im Folgenden möchte ich, wie es in der erkenntnistheoreti­ schen Debatte üblich ist, die Kernidee beider Versionen des erkenntnis­ theoretischen Kontextualismus anhand eines Beispiels erläutern:82 Variante 1 Philipp ist ein erfahrener Meteorologe. Es ist Freitagnachmittag und er arbeitet an der Wettervorhersage für die nächsten zwei Tage. Darüber hinaus hat er seit Wochen einen Ausflug ins Freie über das Wochenende geplant. Die verfügbaren Daten, wie z. B. die Art der Wolken, die Windgeschwindigkeit, die Messungen etc., lassen darauf schließen, dass das Wetter am Samstag schlecht sein wird: regnerisch und stellenweise stürmisch. Philipp ruft seine Frau an, um ihr mitzu­ teilen, dass sie den vorgeplanten Ausflug leider verschieben müssen. Er weiß, dass es am nächsten Tag regnen wird. Keine Minute später berichtet er, zuge­ schaltet aus dem Wetterstudio, dass die verfügbaren Daten eine sichere Progno­ se nicht zulassen. Er weiß nicht, ob es regnerisch sein wird. Variante 2 Philipp, der erfahrene Meteorologe des ersten Beispiels, hat einen Sohn, der an chronischer Pneumonie (Lungenentzündung) leidet; während eines Gewitters nass zu werden, könnte für ihn tödlich enden. Es ist Freitagnachmittag und Philipp arbeitet an der Wettervorhersage für die nächsten zwei Tage. Er ruft seine Frau an und sagt, dass sie noch keinen Ausflug übers Wochenende planen können, da er nicht weiß, ob es ein Gewitter geben wird. Keine Minute später, berichtet er, zugeschaltet aus dem Wetterstudio, dass die Menschen vorsichtig sein sollen: Er weiß, dass es am Wochenende ein Gewitter geben wird.

Philipps Mitarbeiterin, Ariadne, ist wegen der scheinbar widersprüchli­ chen Angaben ihres Chefs beunruhigt und macht sich nicht nur über dessen fachliche Kompetenz, sondern auch über seine psychische Gesundheit Sor­ gen. Denn Philipp verstricke sich selbst in einem performativen Wider­ spruch. Auf den ersten Blick sollte man vielleicht ihr sogar Recht geben: das alles klingt absurd. Ariadne, so wie wir, geht von einer grundlegenden Prämisse aus, dass es sich, spätestens seit Aristoteles um ein fundamentales logisches Prinzip handelt, dass ein Satz nicht zugleich wahr und falsch sein kann – der Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch wird in Frage gestellt.83 81  Williams,

Problems, S. 192. Baumann (2006), S. 78 f. 83  Gr.: „τὸ γὰρ αὐτὸ ἅμα ὑπάρχειν τε καὶ μὴ ὑπάρχειν ἀδύνατον τῷ αὐτῷ καὶ κατὰ τὸ αὐτό (καὶ ὅσα ἄλλα προσδιορισαίμεθ‘ ἄν, ἔστω προσδιωρισμένα πρὸς τὰς λογικὰς δυσχερείας).“ Dt.: Daß nämlich dasselbe demselben in derselben Beziehung (und dazu mögen noch die anderen näheren Bestimmungen hinzugefügt sein, mit denen wir logischen Einwürfen ausweichen) unmöglich zugleich zukommen und nicht zukommen kann. Das ist das sicherste unter allen Prinzipien (Aristoteles, Me­ 82  Vgl.



E. Der Epistemologische Kontextualismus179

In den Berichten Philipps scheint ja ein essentieller Widerspruch zu beste­ hen. Es kann nicht der Fall sein, dass eine bestimmte Überzeugung eines Subjekts P zu einem Zeitpunkt t1 einmal als Wissen und das andere Mal als kein Fall von Wissen bewertet werden kann und dass beide Aussagen wahr sein können. Wie ist das Ganze allerdings erkenntnistheoretisch zu beurtei­ len? Handelt es sich dabei um eine kuriose Argumentationspraxis, die jeder Rationalität entbehrt oder vielleicht doch um etwas Anderes? Die Vorge­ hensweise Philipps irritiert uns vor allem deshalb, weil wir erst dann von einer Person sagen, sie weiß, dass dieses oder jenes der Fall ist, wenn wir damit glauben, eine objektive und von uns unabhängig bestehende Tatsache wiederzugeben.84 Dem Epistemologischen Kontextualismus zufolge können wir allerdings davon ausgehen, dass Philipp nicht nur als zuverlässiger Fachmann und liebevoller Vater, sondern auch als rationaler epistemischer Agent angese­ hen werden kann und soll. Der erkenntnistheoretische Ansatz, der Phillips Argumentation zugrunde liegt, scheint der epistemischen Situation seiner eigenen und unserer Alltagspraxis so wie der Variabilität der Maßstäbe und der Struktur konkreter Rechtfertigung gerecht zu werden. Die Standards, denen Philipps professionelle Wetterberichte genügen müssen, um als Wis­ sen gelten zu können, sind mal anspruchsvoller (vgl. Variante 1) mal nicht (vgl. Variante 2) als die Standards, denen seine privaten Wetterberichte ihrerseits genügen müssen: Wissen kommt und geht – je nach dem Recht­ fertigungskontext, in dem sein Wetterbericht eingebettet wird. Philipps Aussagen sind ja nicht widersprüchlich, weil zwischen den zwei Telefona­ ten ein stillschweigender Kontextwechsel stattgefunden hat. Dennoch: Wie ist das überhaupt möglich? Welcher Mechanismus setzt die oben skizzierte Kontextverschiebung, auf der die Kontextsensibilität unseres Wissens be­ ruht, in Gang?

I. Zunächst eine Antwort auf eine bekannte Frage Es sei unterstrichen, dass die oben genannte ‚Paradoxie‘, die dem Grund­ gedanken des erkenntnistheoretischen Kontextualismus entspringt, schon im taphysik, Buch IV, Kapitel 3, 1005b). Siehe Williamson (2005), S. 91: „Apparently, if P then ‚P‘ is true and ‚Not P‘ false, so she is right and he is wrong; if not P then ‚P‘ is false and ‚Not P‘ true, so he is right and she is wrong. In both cases, there is an asymmetry between the two parties. Since P or not P (by the law of excluded middle), there is indeed an asymmetry between them, one way or the other. Yet the two parties may strike a neutral observer as on a par, equally intelligent, informed, perceptive and alert. Relativists about truth strive to dissolve the unpleasant asym­ metry: ‚P‘ is true for her; ‚Not P‘ is true for him.“ 84  So Baumann (2001), S. 72.

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Rahmen der rechtsphilosophischen Debatte thematisiert worden ist.85 Es wurde bereits auf die auf den ersten Blick widersprüchlichen Antworten eines jeweiligen Jura-Professors aufmerksam gemacht, der bei einer Straf­ rechtslehrertagung die Theorie der positiven General-Prävention als Utopie zurückgewiesen, sie aber bei einer juristischen Staatsprüfung als vertretbar und bei der Korrektur von Klausuren als die Theorie mit den besten Argu­ menten auf ihrer Seite akzeptiert hat. Eine befriedigende Erklärung über den dahinter steckenden Maßstabverschiebungsmechanismus, geschweige denn eine Rechtfertigung blieb dennoch aus. Der epistemologische Kontextualismus beansprucht nun eine befriedigen­ de Erklärung zu liefern, weshalb u. a. das, was bei einer studentischen Haus­ arbeit als begründet und richtig anzusehen ist, bei einer juristischen Staats­ prüfung wegen der Verschiedenheit der Standards für Rechtfertigung nicht einmal ernst genommen werden kann; er beschreibt die Sachlage so, dass jeder Untersuchungskontext eine verschiedene Menge von Irrtumsmöglich­ keiten (epistemic defeaters) und zu berücksichtigenden Alternativen mit sich bringt, sodass samt des erkenntnistheoretischen Kontextes auch die Wissens­ standards linear ab- oder zunehmen, indem just diese Alternativenmenge er­ weitert oder eingeschränkt wird und zwar ohne dass wir unsere Wahrheitsbzw. Richtigkeitsansprüche aufgeben müssen. Daraus ergibt sich, dass der Wahrheitswert der Proposition „X weiß dass p zu t1“ mit dem Kontext vari­ iert. Philipp oder der Jura-Professor der oben angeführten Beispiele leisten unter kontextualistischem Blickwinkel eine methodengerechte Arbeit.

II. Das klingt nach Relativismus Bevor dem Wissensstandardverschiebungsmechanismus, der dem Kontex­ tualismus zugrunde liegt, nachgegangen werden kann, soll ein Vorwurf an­ gesprochen werden, der von mehreren Autoren gegen kontextualistische Ansätze erhoben wird.86 „Relativism is much in the air“,87 gesteht Williams ein: Betrachtet man Philipp als Familienvater, dann sollte man ihm Wissen zusprechen. Betrachtet man ihn hingegen als Fachmann, sollte man ihm 85  Siehe nur Neumann, Wahrheit im Recht, S. 12: „Aber der Richter, der noch am Vortag als Revisionsrichter in einer dezidierten Entscheidung den Mordtatbe­ stand als eigenständiges Delikt im Verhältnis zum Totschlag eingestuft und die ab­ weichende Auffassung der Wissenschaft schlicht für falsch erklärt hat, wird bei einer juristischen Staatsprüfung am Folgetag die Gegenauffassung als zumindest vertretbar bewerten […]. Entsprechend wird der Professor, der noch am Vorabend in einem wissenschaftlichen Aufsatz die strenge Schuldtheorie als Irrweg gegeißelt hat, sie bei der Korrektur von Klausuren als vertretbar akzeptieren.“ 86  Siehe nur Grundmann (2003b), S. 1007. 87  Williams, Problems, S. 220.



E. Der Epistemologische Kontextualismus181

Wissen absprechen. Diese epistemische Praxis läuft unserer Intuition zuwi­ der, derzufolge Wissen irrtumsimmun und absolut sein soll.88 Einerseits ist Wissen von Skeptizismus bedroht und die Lösung, die die Kontextualisten vorschlagen, scheint unausweichlich zu Fallibilität und Relativismus hinzu­ führen: „We are caught between the rock of fallibilism and the whirpool of scepticism.“89 Denn es scheint nur ein kleiner Schritt nicht nur zum Kon­ textualismus, sondern auch zum Erkenntnis-Relativismus zu sein, wenn di­ alektische Faktoren und die soziale Gruppe (scil. kontextuelle Faktoren) die jeweilige Wissenszuschreibung mitbestimmen. Unser Wissensbegriff werde dadurch dessen Allgemeingültigkeit entkleidet. Es kann nicht sein, so der Einwand, dass wir in einem alltäglichen Kontext wissen, dass 1 + 1 = 2, und dass unser Wissen in einem anspruchsvolleren Kontext sich auflöst. Wir wissen ja, dass in jedem Kontext 1 + 1 = 2. Bestreitet man diese grundle­ gende Tatsache, dann scheint man der Willkür Tür und Tor zu öffnen und eine anything-goes-Wissenstheorie zu vertreten. Erga omnes bzw. allge­ meingültiges Wissen scheine dadurch auf eine jede soziale Interaktion ver­ hindernde individuelle Angelegenheit reduziert worden zu sein.

III. Welcher Relativismus? Der Relativismus-Einwand hat das Potenzial, den Epistemologischen Kontextualismus bereits im Keim zu ersticken. Ein schrankenloser Relati­ vismus wäre zugegebenermaßen ein sehr hoher Preis für eine Entgegnung auf den Skeptizismus. Doch die Kontextualisten haben noch nicht ihr letztes Wort gesprochen. Sie geben zwar zu, dass man wahrheitsgemäß behauptet, man wisse, 0 + 1 = 1. Dabei handelt es sich ja um eine alltägliche und wohl triviale Gewissheit. Deswegen entwickeln sie eine Strategie, die sehr plau­ sible Argumente auf ihrer Seite hat: unsere epistemische Praxis wird kon­ textualisiert, indem betont wird, dass zwar 1 + 1 = 2, aber nur, wenn wir uns in einem alltäglichen Kontext befinden und nur, wenn wir etwa im Dezi­ malsystem operieren.90 Betont wird, dass mathematische Wahrheiten axio­ matisch – nicht: objektiv sind. Die Wissenszuschreibung hängt von dem Untersuchungskontext ab: Man weiß zwar, dass 2 × 2 = 4, immer wenn man sich in einem alltäglichen Kontext befindet. Ein Metzger wären zumindest verblüfft, wenn man diesen Kalkül bestreiten würde: „Ich kann mich nicht darin irren, dass 12 × 12 = 144 ist“ (ÜG 651) betont Wittgenstein. Behauptet auf der anderen Seite ein Mathematikstudent im Rahmen eines Seminars zur Peano-Arithmetik, er nur Price (1967), S. 41 f. (1996), S. 550. 90  Falls wir im Dualsystem operieren, dann gilt 01 + 01 = 10. 88  Vgl.

89  Lewis

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wisse, dass 2 × 2 = 4, dann wird er mit Sicherheit die Prüfung nicht beste­ hen. Denn die jeweiligen Standards für Rechtfertigung sind verschieden.91 Der Relativismus-Vorwurf ist entschärft (nicht: widerlegt) worden, weil die jeweiligen Communities (Metzger, Mathematikstudenten, Philosophen usw.) einander anerkennen. Genauso wie Philipp können die epistemischen Agenten von Kontext zu Kontext pendeln; ein Kontextwechsel, der ggf. höhere Anforderungen mit sich bringt, ist per se noch lange kein Relativis­ mus. Das kann m. E. am besten am Beispiel der Erde verdeutlicht werden, die, wie wir alle wissen, eine Kugel ist. Selbst ein Geometer (etwa im Kontext der Riemannschen-Geometrie) würde das prinzipiell nicht in Frage stellen. Damit kommt man bspw. zu der sogenannten flat earth society,92 scil. zu den Menschen, die glauben, dass die Erde flach ist. Dabei handelt es sich jedoch um einen wesentlichen Unterschied: Die flat earth society ist nicht ein Teil unserer Gemeinschaft und wenn man sich in dem FlacheErde-Kontext befindet, betreibt man nach unseren Kriterien keine Wissen­ schaft bzw. keine akzeptable epistemische Praxis mehr: von Einem, der so etwas behauptet, „würden wir uns geistig sehr entfernt fühlen“ (ÜG 108). Eigentlich können wir den jeweiligen Anhänger der flat earth society nicht einmal sprachlich verstehen (ÜG 155, 157, 515). Es leuchtet also ein, dass man zwischen den Kontexten unserer Commu­ nity und dem Flache-Erde-Kontext nicht hin und her pendeln kann. Kober merkt diesbezüglich an, dass falls ein Mitglied eines sog. primitiven Stam­ mes im Amazonas-Gebiet anzweifeln würde, die Erde sei eine Kugel, dies auf sein von unserem verschiedenes Weltbild zurückzuführen ist. Das gilt aber nicht für Mitglieder unserer Kultur, etwa für Anhänger der flat earth society.93 Ein Beispiel aus unserer gerichtlichen Praxis kann hier angeführt werden. Verträge über esoterische, mystische oder sonst abergläubisch an­ gesehene Leistungen beschäftigen immer wieder die Gerichte. Der BGH sieht die Leistung einer Lebensberatung z.  B. mittels Kartenlegens als schlichtweg unmöglich an, da der Astrologie die Zuverlässigkeit ihrer Me­ thoden abgesprochen wird.94 91  Vgl.

TLP 6.241: „So lautet der Beweis des Satzes 2 × 2 = 4: (Ων)μ’x = Ων × μ’x Def. Ω2 × 2’x = (Ω2)2’x = (Ω2)1 + 1’x = Ω2’Ω2’x = Ω1 + 1’Ω1 + 1’x = (Ω’Ω)’(Ω’Ω)’x = Ω’Ω’Ω’Ω’x = Ω1 + 1 + 1 + 1’x = Ω4’x.“ Es liegt nun auf der Hand, dass diese Beweisführung um Einiges anspruchsvoller ist, als die bloße Behauptung 2 × 2 = 4. 92  Im Internet abrufbar unter: http: /  / theflatearthsociety.org, zuletzt abgerufen am 09.09.2014. 93  Kober (1993), S. 135. 94  BGH, Urteil v. 13.1.2011 – III ZR 87 / 10 (OLG Stuttgart) = JZ 2011, 631 f.



E. Der Epistemologische Kontextualismus183

IV. Kultureller Relativismus? Im Anbetracht voriger Überlegungen können wir zwischen zwei Spielar­ ten des Relativismus unterscheiden: dem individuellen und dem kulturel­ len.95 Der große Anlass zu Missverständnissen besteht m. E. darin, dass all diejenigen, die den Relativismus-Vorwurf erheben, sich diese folgenschwere Grenzziehung nicht vor Augen führen. Die Idee einer objektiven Wahrheit wird von Kultur-Relativisten verworfen, weil es bisher unmöglich (oder eher: unnötig) schien zu erklären, wie man neutrale, von kognitiven Para­ metern befreite und kulturunabhängige Methoden einsetzen kann, um zu einer erga omnes verbindlichen Sicht der Welt gelangen zu können. Wie Williams anmerkt: „Relativists are suspicious of objective truth because they are suspicious of objective justification, not the other way round.“96 Wir sind jetzt allerdings aufgrund der im ersten Teil dargestellten Ergebnis­ se empirischer Untersuchungen und der Aufdeckung des Mythos des Gege­ benen von Seiten der analytischen Philosophie, weniger feindlich diesem gezähmten,97 kulturellen Relativismus gegenübergestellt.98

V. Ist kultureller Relativismus ein sinnvoller Begriff? Das eigentliche Problem liegt m. E. tiefer als eine bloße Entschärfung der Relativismus-Einwände. Verschafft man sich Klarheit darüber, dass ge­ gen das Konzept der Sprache als bloßer Verkleidung unserer Gedanken gute Gründe sprechen, vermag man nicht einzusehen, wie samt der illuso­ rischen Idee einer verbindlichen Erfahrungsbasis die begriffliche Struktur und Vorwurfsberechtigung des Relativismus nicht einfach nicht zusammen­ bricht. Der empirische Befund, dass kognitive Parameter zunächst einmal unsere Wahrnehmung beeinflussen, ist nichts anderes als eine Trivialität, die uns nicht länger beschäftigen sollte – es sei denn, man wäre bereit, einem von mehreren Weltbildern den Vorrang einzuräumen. Zu unserem Zugang zur Welt gehört dazu, dass es von unseren kognitiven Parametern abhängt, welches Bild wir von einer denkunabhängigen Realität bekom­ men werden; Begriffe sind ein kulturrelatives Produkt. Das spricht nicht für die Relativität, sondern für die Parallelität, das Nebeneinander (das laut Nietzsche „Perspektivistische“) der Weltbilder: „Es giebt vielerlei Au­ 95  Williams,

Problems, S. 220. Problems, S. 220. 97  Williamson (2005), S. 91. 98  Vgl. Williams, Problems, S. 220: „Relativism, however much it has been as­ sociated with cultural anthropology, results more from epistemological preconcep­ tions than from anthropological data.“ 96  Williams,

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gen … und folglich giebt es vielerlei Wahrheiten und folglich giebt es keine Wahrheit.“99 Sonst wären wir gezwungen, nicht nur das, was wir als gerecht, sondern auch das, was wir als wahr bezeichnen, dem Recht des Stärkeren anheim­ zustellen.100 Angenommen, wir wären bereit, unsere wahren Sätze zu onto­ logisieren und zu behaupten, dass sie objektiv wahr sind, dann wären wir dazu verleitet, jede abweichende Beobachtung bzw. Meinung als objektiv falsch zu verwerfen. Und von da aus ist nur ein kleiner Schritt bis zur Legitimation von allerlei kulturellen oder sonstigen Eingriffen, um abwei­ chende Weltbilder auf das ‚richtige‘ Gleis zu lenken und Menschen zu un­ serem Weltbild zu bekehren. Wahrheit würde dann nicht nur eine moralische Funktion übernehmen, sondern vielmehr wäre Wahrheit bzw. das Weltbild einer Kultur instrumentalisiert und aufgezwungen – eine Wahrheit, die selbst moralisiert. Eine ontologisierte Wahrheit (in diesem Sinne: eine ma­ terielle Wahrheit) ist schlichtweg eine Ausrede, „ein Wort für den Willen zur Macht“.101 Geht man hingegen von der Gleichwertigkeit aller Weltbilder aus – es gibt ja keine realistischen Gründe, die Welt so oder anders zu betrachten, z. B. die Farbe des Blutes als Rot1 oder Rot2 (dazu Teil 1, Abschn. D.I) wahrzunehmen – dann kann nur die Rede von kultureller Wahrnehmungsdiversität (und nicht von kulturellem Relativismus) sinnvoll sein: „Daß es mir – oder Allen – so scheint, daraus folgt nicht, daß es so ist.“ (ÜG 2) Diese Weltbildertoleranz bzw. kognitive Bescheidenheit bringt m. E. Wittgenstein in seinem vieldiskutierten König-Beispiel (ÜG 92, 132, 298) zum Ausdruck: „Menschen haben geurteilt, ein König könne Regen machen; wir sagen, dies widerspräche aller Erfahrung.“ (ÜG 132) „Und wenn Moore und dieser König zusammenkämen und diskutierten, könnte Moore wirklich seinen Glauben als den richtigen erweisen?“ (ÜG 92)

F. Der Epistemologische Kontextualismus Der erste Ansatz, bei dem der Begriff „epistemologischer Kontextualis­ mus“ [EK] zum Ausdruck gebracht wurde, geht auf das Jahr 1978 und den bahnbrechenden Aufsatz David Annis’ „A Contextualist Theory of Episte­ mic Justification“ zurück,102 obwohl als Gründerväter des Kontextualismus der späte Wittgenstein und J. L. Austin gelten. Während der letzten Jahr­ 99  Nietzsche,

KSA 11, S. 498. dazu bei Pitkin (1972), Kap. VIII. 101  Nietzsche, KSA 12, S. 385. 102  Annis (1978), S. 213–219. 100  Ausführlich



F. Der Epistemologische Kontextualismus185

zehnte hat die Anzahl der Ansätze deutlich zugenommen und die Literatur ist unüberschaubar geworden.103 Obwohl nun kontextualistische Ansätze eine in groben Zügen ähnliche Idee aufgreifen – dass nämlich die Standards für Wissen (d. i.: begründete Überzeugung) von kontextuellen Faktoren ab­ hängen und dass ein Agent eine von Situation zu Situation neu sich bestim­ mende Menge von Irrtumsmöglichkeiten (epistemic defeaters) auszuschlie­ ßen habe, um Wissen zu erlangen,104 sollte man nicht von der Theorie des Kontextualismus reden, sondern zwischen zwei grundsätzlich verschiedenen Optionen unterscheiden, die wiederum abweichende Diagnosen der skepti­ schen Paradoxie liefern: einerseits dem Semantischen [SK] und andererseits dem Inferentiellen Kontextualismus [IK]. Was verbirgt sich aber hinter diesen Etiketten, und vor allem, wovon nimmt der EK deutlich Abstand?

I. Semantischer Kontextualismus Das Agglomerat, dem hier nachgegangen wird, ist der sogenannte Zu­ schreibungs- oder Semantische Kontextualismus, der eine Welle anti-skepti­ scher Euphorie hervorgebracht hat und den Anspruch erhebt, unserem Wissensbegriff die in hohem Ausmaß gewollte Stabilität zu verleihen. Nach Ansicht vieler Philosophen ist der SK ins Zentrum des Interesses gerückt und zur zentralen Position der modernen Erkenntnistheorie avanciert.105 An der Debatte, die entfacht worden ist und nie zur Ruhe zu kommen scheint, nehmen einige der wichtigsten Vertreter der modernen analytischen Philo­ sophie wie Fred Dretske, David Lewis, Steward Cohen, Keith DeRose teil. Die o. g. Hauptvertreter des SK haben eigene Ansätze entwickelt und eine große Anzahl von Erkenntnistheoretiker dazu bewegt, eine Stellung dafür oder dagegen zu beziehen. Hervorzuheben sei, dass der SK sich eher mit der modernen (cartesianischen) Skepsis beschäftigt, indem er zu zeigen versucht, aus welchem Grund die skeptischen Hypothesen kein Hindernis für alltägliches Wissen darstellen.106 103  Nach Baumann (2005), S. 229, war vor einigen Jahren die Antwort auf die Frage „was man von Kontextualismus hält“ folgende: „Es kommt darauf an, was man unter Rechtfertigung versteht.“ Heute sei die Antwort auf dieselbe Frage: „Es kommt darauf an, was man unter Kontextualismus versteht.“ 104  Einführend siehe Kompa (2001) S. 49 ff., 101; bei Williams (2003), S. 974 ist die Rede von grundsätzlich zwei Auffassungen, die sämtliche erkenntnistheoretische Kontextualisten teilen: a) Die Standards für die korrekte Zuschreibung von Wissen sind auf die eine oder andere Weise nicht festgelegt, sondern variabel und b) der wichtigste Unterschied besteht bezüglich des Kontextes, wo philosophisch über Wis­ sen reflektiert wird; vgl. Baumann (2005). 105  Siehe Brendel (2007) S. 14 m. w. N. 106  Williams, Contextualism, S. 8.

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Teil 4: Auf der Suche nach einer Rechtfertigungstheorie

Konstitutiv für den Semantischen Kontextualismus ist eine semantische These:107 Die Äußerung „A weiß, dass p zum Zeitpunkt t1“ sei genau dann wahr, wenn A sich in einer derart starken epistemisch Position befindet, um den kontextuell relevanten Rechtfertigungsstandard M zu erfüllen. Der Grund dafür ist die Semantik des Begriffs „wissen“. Er wird nämlich inde­ xikalisch aufgefasst. Indexikalische Begriffe sind in die Erkenntnistheorie aus dem Forschungs­ bereich der Sprachwissenschaften eingeführt worden und gelten als Fachbe­ griff der Sprachphilosophie.108 Sie zeichnen sich dadurch aus, dass ihre Referenz nicht konstant ist, sondern vom Kontext der Äußerung mitbestimmt wird.109 Indexikalische (z. B. „flach“) sowie deiktische Begriffe (z. B. „ich“) beziehen sich immer auf einen Sprecher oder auf eine Situation und sind demzufolge kontextabhängig. Die Referenz der Aussage „ich bin hier seit einer Woche“ hängt also davon ab, wer spricht, wo man sich befindet und zu welchem Zeitpunkt man sich äußert. Kontextualisten behaupten nun, dass das epistemische Vokabular kontext­ sensitiv ist und unser Ausdruck für „wissen“ Indexikalität aufweist, sodass seine Bedeutung vom Kontext abhängt. So wie die Referenz von „groß“ in Aussagen wie „mein Hund ist groß“ und „dieser Basketballspieler ist groß“ variabel sei, weil wir in jeweiligem Kontext etwas anderes unter „groß“ verstehen, sei auch der Ausdruck „wissen“ kontextempfindlich, da wir in verschiedenen Kontexten Verschiedenes verstehen. Zu betonen ist, dass nicht Wissen selbst, sondern unser Ausdruck für „Wissen“ kontextempfind­ lich sei. Dabei handelt es sich also um eine These über die Bedeutung von „Wissen“ und nicht über die Sache selbst, weil wir nach dem SK verschie­ dene Objekte meinen, wenn wir das Wort „wissen“ verwenden. Unser Wis­ sen selbst, auf das wir jedes Mal referieren, sei nicht kontextabhängig.110 Führen wir ein Beispiel an: Die Bedeutung von ‚wissen‘ in dem Satz „Meine Oma weiß, dass es morgen regnen wird“ ist kontextualistisch be­ trachtet nicht dieselbe wie in der Aussage: „Der Meteorologe weiß, dass es morgen regnen wird“, weil in jedem Fall andere Irrtumsmöglichkeiten ins Spiel gebracht werden bzw. mehr oder weniger Zweifel legitimerweise ig­ noriert werden können. Anders formuliert: Die Bedeutung der Aussage „A weiß, dass B die Tankstelle überfallen hat“ variiert mit dem Kontext, in dem letztere erhoben wird. Eine Zeugin vor Gericht meint damit etwas anderes als die Tankstelle-Angestellte, die mit ihrem Mann telefoniert (Zeugin und 107  Grundmann,

Grenzen, S. 995. Thema „new linguistic turn“ siehe Ludlow (2005) S. 11 ff. 109  Näher dazu Grundmann (2008), S. 162 ff. 110  Für die Erläuterung dieses Problems bin ich Peter Baumann zu großem Dank verpflichtet. 108  Zum



F. Der Epistemologische Kontextualismus187

Angestellte können prinzipiell dieselbe Person sein). Ähnlich wie „flach“ zu sein heißt, einem kontextuell relevanten Flachheits-Standard zu genügen, so heißt etwas „wissen“, einem kontextuell relevanten Wissensstandard zu genügen.

II. Fred Dretske und das Modell mit den „Relevanten Alternativen“ Fred Dretske, der wohl prominenteste Vertreter der Theorie mit den Re­ levanten Alternativen, schließt sich Peter Unger an, dem zufolge die engli­ sche (sowie jede andere) Sprache absolute bzw. Grenzbegriffe (limit / abso­ lute terms) enthält.111 Vertreten wird nämlich eine invariantistische Konzep­ tion, wo für Begriffe wie „flach“ und „leer“ Absolutheit verlangt wird: „Any bumps or irregularities, however small and insignificant they may be (from a practical point of view), mean that the surface on which they occur is not really flat.“112 Dretske geht von der These Ungers aus, dass es abso­ lute Begriffe (absolute concepts) gebe, sodass sie nahezu nie auf Objekte oder Personen angewandt werden,113 denn es gebe z. B. nichts im Univer­ sum, dem das Prädikat (absolut) „flach“ zugeordnet werden kann.114 Da jedes Objekt Unebenheiten aufweist, können wir nie wahrheitsgemäß sagen: „Dieses Objekt ist flach.“ Nach Unger gehört Gewissheit auch dazu, da wir keineswegs absolute Gewissheit erreichen können. Und da Wissen Gewiss­ heit voraussetzt, gelangen wir unausweichlich zur Skepsis.115 Dretske hält zwar die Ungersche These für richtig, er fügt aber hinzu, dass daraus nicht unbedingt folgt, es gebe nichts flaches in der Welt, nur weil es (unter dem Mikroskop) Unebenheiten aufweist. Denn das, was man unter „Unebenheit“ versteht, variiert mit dem Kontext. Demzufolge liegt kein Widerspruch darin, wenn der Sportwagenfahrer wahrheitsgemäß sagt: „Ich fahre morgen nicht hin; die Straßen von A bis B sind nicht flach.“

und der Geländerwagenfahrer wahrheitsgemäß sagt, „Ich fahre morgen hin; die Straßen von A bis B sind flach.“

Dementsprechend ist das, was als „flach“ zählt, eine Frage, die von Situa­ tion zu Situation verschieden beantwortet wird, da die ‚absoluten Grenzbe­ 111  Unger

(1975), S. 47; skizzenhaft dazu DeRose (1992); Kompa (2001). (1981), S. 366. 113  Unger (1971); Dretske (1981). Unger verwendet den Begriff „absolute terms“. 114  Unger (1971), S. 204: „To say that something os flat is no different from saying that it is absolutely, or perfectly flat […] Thus, something which is flat is not at all bumpy, and not at all curved.“ 115  Unger (1971), S. 216. 112  Dretske

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Teil 4: Auf der Suche nach einer Rechtfertigungstheorie

griffe‘ einen relationalen Charakter haben; sie sind nämlich relational abso­ lut.116 D. h. relationale absolute Begriffe ermöglichen uns, wahrheitsgemäß zu behaupten, dass eine Straße genau dann flach ist, wenn sie keine kon­ textrelevanten Unebenheiten aufweist. Mit Bezug auf ein und dieselbe Sache (hier eine Straße) und denselben Zeitpunkt, lässt sich wahrer Weise sagen: „Die Straße ist flach“ und in ebenfalls wahrer Weise: „Die Straße ist nicht flach“, was nur möglich ist, wenn unterschiedliche Maßstäbe für Flachheit im Spiel sind.117 Je nach Kontext werden verschiedene Unebenheitskriterien verwendet. Nach Dretske liegt auf der Hand, dass „Wissen“ auch zu den sog. relatio­ nalen absoluten Begriffen gehört und genauso funktioniert wie „Flachheit“: Bei Wissenzuschreibungen passiert dasselbe wie bei der Bezeichnung eines Gegenstandes als „flach“.118 Obwohl Tatsachenwissen (factual knowledge) nicht abstufbar sei und es sinnlos wäre zu behaupten, dass A etwas besser weiß als B, müsse ein Subjekt, um zu wissen, dass p, nicht jede denkbare Alternative zu p ausschließen, sondern nur die jeweils relevanten Alternati­ ven.119 Was man unter „Wissen“ versteht, nämlich was als relevante Alter­ native gelten soll, hänge vom Zuschreibungskontext ab. Die Frage, die sich aufdrängt, betrifft die Unterscheidung der relevanten von irrelevanten Alter­ nativen, denn es gibt dafür keinerlei eindeutige Kriterien. Die Semantik von „Wissen“ gibt uns keine Auskunft darüber, welche Alternativen in den je­ weiligen Umständen relevant sind und welche nicht. Die Schwierigkeit, diese Grauzone zu konturieren, bezeichnet Grundmann als Problem der Unterbestimmtheit.120 Dretske versucht nun, diese Grauzone näher zu be­ trachten. Dabei spielen soziale wie pragmatische Faktoren, wie etwa die Verfügbarkeit von Gegenbelegen, die Interessen von Sprecher und Zuhörer, oder das, was auf dem Spiel steht, eine Rolle. Diese Parameter bestimmen nicht, ob etwas gewusst wird, sondern ob es vernünftig ist zu behaupten, dass jemand etwas weiß.121 Dretskse gibt offen zu, dass dieser Gedanken­ gang problematisch ist; dennoch merkt er an, dass die vorher erwähnten kontextuellen Parameter die Relativität dieser Unterscheidung bezüglich der Absolutheit des Wissensbegriffs absorbieren.122 So gelingt einem Vertreter 116  Dretske (1981), S. 367: „What I propose to do is to use what I have called relationally absolute concepts as a model for understanding knowledge.“ 117  Grundmann (2008), S. 150 f. 118  Dretske (1981), S. 367: „This makes knowledge an absolute concept but the restriction to relevant alternatives makes it, like empty and flat, applicable to this epistemically bumpy world we live in.“ 119  Dretske (1981), S. 363. 120  Grundmann (2008), S. 149 ff. 121  Dretske (1981), S. 367; kritisch dazu Kompa (2001), S. 65 ff. 122  Dretske (1981), S. 367.



F. Der Epistemologische Kontextualismus189

des Ansatzes mit den Relevanten Alternativen die Geschlossenheit des Wis­ sens beizubehalten, ohne den skeptischen Hypothesen ausgeliefert zu sein, indem er sie als irrelevant ansieht:

W [¬SH] W [¬SH] →W [O] W [O]

Führen wir ein Beispiel an:123 Ein erfahrener Vogelbeobachter sieht an einem See in Wisconsin eine Gadwall-Ente, die an ihrer charakteristischen Zeichnung zu erkennen ist. Der Vogelbeobachter weiß, dass er eine Gadwall-Ente gesehen hat. Neben ihm sitzt allerdings ein Ornithologe, der ge­ hört hat, dass einige Sibirische Seetaucher, die von den Gadwall-Enten kaum unterscheidbar sind, in diese Gegend gezogen sind. Nach Dretske hängt die Frage nach der Zugehörigkeit der Alternative zu der Menge der Relevanten Alternativen, die man auszuschließen hat (Dretske nennt das „Relevancy Set“), davon ab, ob es sich dabei um ein Gerücht oder eine „tatsächliche Möglichkeit“ handelt. Gerüchte oder zu weit hergeholte Irr­ tumsmöglichkeiten vermögen die Vogelbeobachter ihres Wissens nicht zu berauben: „they realize that if they don’t, they are on the slippery slope to skepticism, with nothing left to hang onto“.124 Angenommen, dass Sibiri­ sche Seetaucher wegen einer unüberwindlichen geographischen Barriere nicht nach Wisconsin ziehen könnten, dann ist diese Alternative als irrele­ vant anzusehen. Nach Dretske wird eine Alternative dadurch relevant, dass sie tatsächlich als Möglichkeit in der bestehenden Situation existiert.125 Zusammenfassend hat man dieser Theorie zufolge nur gewisse relevante Alternativen auszuschließen, deren Menge von Situation zu Situation in Abhängigkeit von kontextuellen Faktoren variieren kann. Grund dafür sei die Tatsache, dass es keine eindeutigen Regeln gebe, die uns a priori Aus­ kunft darüber bieten, unter welchen Konventionen wir das Wort „Wissen“ benutzen können.

III. DAVID LEWIS – Pssst … Manche Zweifel kann man bloß ignorieren! Einen Meilenstein auf dem Weg des Semantischen Kontextualismus bil­ det der Ansatz, den David Lewis – nach Meinung vieler einer der wichtigs­ ten analytischen Philosophen der zweiten Hälfte des 20. Jh. – im Anschluss 123  Dretske

(1981), S. 370 f.; Kompa (2001), S. 65 ff. (1981), S. 369. 125  Dretske (1981), S. 377. 124  Dretske

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Teil 4: Auf der Suche nach einer Rechtfertigungstheorie

an die Theorie mit den RA 1979 vorgeschlagen und 1996 weiterentwickelt hat.126 Lewis geht der Semantik des Quantifikators „alle“ nach und vertritt die Auffassung, dass es in einigen konversationellen Kontexten Zweifel bzw. Irrtumsmöglichkeiten gibt, die wir legitimerweise („properly“) ignorie­ ren können. Dies ist, so Lewis,127 der einzige Ausweg, um zwischen Skep­ tizismus und Fallibilismus hindurchschiffen zu können. Denn es darf nur dann von „Wissen“ die Rede sein, wenn es irrtumsimmun (infallible) ist. Betrachten wir zunächst den Lewis’schen Ansatz näher. Er hält die Kon­ textabhängigkeit des Wissens für plausibel. Denn das Merkmal, das spätes­ tens seit Platon eine einfache Meinung von Wissen unterscheidet, ist die Rechtfertigung. Die Auffassung, dass „Wissen“ vom Kontext abhängt, inso­ fern die Rechtfertigung von kontextuellen Faktoren abhängt, hat vieles für sich. Doch Lewis bestreitet die Richtigkeit dieser Auffassung, da er glaubt, Rechtfertigung sei weder notwendig noch hinreichend für Wissen.128 Er stellt anhand von acht Regeln eine externalistische Wissenstheorie auf. Die­ se Theorie könne uns helfen, den Allquantor zu präzisieren. Das Wort „alle“ können wir mal in strengerem, mal in alltäglichem Sinne lesen. Mithilfe des kontextualistisch aufgefaßten Allquantors können wir darüber entscheiden, welche Zweifel legitimerweise ignoriert werden können. Da eine detaillier­ te Darstellung dieser Regeln den Rahmen dieser Arbeit sprengt, möchte ich mich auf wenige Punkte beschränken. Nach Lewis sollte man also, um sicheres, stabiles Wissen zu haben, „al­ le“ Zweifel ausräumen. Was man unter „alle“ verstehen soll, variiert aller­ dings. Je nach konversationellem Kontext erweitert oder verengt sich die Menge der Fehler-Möglichkeiten, die jeweils im Spiel sind. Je nach konver­ sationeller Situation können wir zwischen mehr oder weniger anspruchsvol­ len Kontexten hin und her pendeln.129 Sagt etwa ein Universitätsprofessor: „Alle Studenten haben die Klausur bestanden“, werden – kontextualistisch betrachtet – nur die Studenten seiner Vorlesung gemeint und nicht alle Stu­ denten auf der Welt. Steht auf der anderen Seite viel auf dem Spiel, sollte man mehr Zweifel ausschließen können als in einem alltäglichen Kontext. Hätte ein Irrtum besonders gravierende Folgen, z. B. bei einer Gerichtsver­ handlung, dann, so Lewis, sollte man mehrere Zweifel ausräumen: „How high is ‚sufficiently high‘? That may depend on how much is at stake […] The jurors know that the accused is guilty only if his guilt has been proved 126  Lewis (1979), S. 339–359; ders. (1996), S. 549–567. Für eine zusammenfas­ sende Darstellung und Kritik siehe Williams, Problems, S. 159 ff.; Kompa, 2001, S.  71 ff. 127  Lewis (1996), S. 550. 128  Lewis (1996), S. 550 f., 556; vgl. Williams, Contextualism, S. 12. 129  Williams, Contextualism, S. 11.



F. Der Epistemologische Kontextualismus191

beyond reasonable doubt.“130 Die Alternative allerdings, dass z. B. nicht der Angeklagte, sondern ein ausgebildeter Hund selbst den Abzug abgedrückt hat, darf man selbst vor einem Strafgericht legitimerweise ignorieren, so fatal die Folgen eines Fehlers sein mögen.131 Lewis’ Idee ist einleuchtend. Die Semantik des Allquantors beruht auf einem Mechanismus, der die Maßstäbe für Wissen anhebt und absenkt. Doch eine Anomalie des Ansatzes springt ins Auge: Bei einer Gerichtsver­ handlung – was uns besonders interessiert – werde, so Lewis, die Semantik von „alle“ durch „alle vernünftigen“ Möglichkeiten präzisiert. Es liegt aber auf der Hand, dass der Begriff „vernünftig“ (reasonable) wiederum kon­ textabhängig ist. Was uns vernünftig oder unvernünftig erscheint, ändert sich mit der Zeit sowie mit dem konversationellen Kontext; i. d. S. ist „ver­ nünftig“ ein situationsspezifischer und kulturabhängiger Begriff. Lewis scheint hier einen kontextabhängigen mit einem anderen kontextabhängigen Begriff zu ersetzen. Ich möchte im Rahmen dieser skizzenhaften Darstellung nur der letzten von acht Regeln, der Regel der Aufmerksamkeit (rule of attention), nachge­ hen. Lewis merkt an, wenn wir sagen, dass eine Möglichkeit korrekterwei­ se ignoriert wird, so heißt das nicht, dass wir sie hätten ignorieren können.132 Das heißt die bloße Erwähnung einer Möglichkeit bzw. einer skeptischen Hypothese macht sie epistemisch relevant. Lenkt jemand unsere Aufmerk­ samkeit auf eine „entlegene“ (Lewis nennt sie: „off-the wall“) Hypothese, dann dürfen wir sie nicht mehr ignorieren: Unser Wissen verschwindet. Das veranlasst Lewis, Wissen als flüchtig (elusive) zu bezeichnen. Wissen kommt und geht: „That is how knowledge is elusive. Examine it, and straightway it vanishes“.133 Lewis steht also vor einer schwierigen Aufgabe. Die bloße Erwähnung der Möglichkeiten, die man vorher ignoriert bzw. nicht berücksichtigt hat, bringt die unliebsame Konsequenz mit sich, dass Wissen verschwindet. Aus diesem Grund schlägt Lewis folgende interessan­ te (sowie unterhaltsame) Definition vor: „Eine Person weiß genau dann, dass p, wenn ihr Beweismaterial alle Möglichkei­ ten ausschließt, in denen non-p, – Psst! – ausgenommen die Möglichkeiten, die wir legitimerweise ignorieren.“

Den zweiten Teil der Definition, sollte man, so Lewis, sotto voce und vor vorgehaltener Hand aussprechen, damit der Skeptiker nicht darauf aufmerk­ sam gemacht wird. Unsere Stimme jedoch, so leise sie sein mag, vermag 130  Lewis

(1996), (1996), 132  Lewis (1996), 133  Lewis (1996), 131  Lewis

S. 556. S. 556. S. 559. S. 560.

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Teil 4: Auf der Suche nach einer Rechtfertigungstheorie

die daraus resultierende Asymmetrie nicht zu verhindern. Während die sonstigen sieben Regeln ein Wissen nach Belieben erschweren, sorgt die achte Regel dafür, dass Wissen nach Belieben verschwindet. Die bloße Er­ wähnung einer Irrtumsmöglichkeit sorgt dafür, dass das Wissen einer Person verschwindet.134 Ein Tatrichter ist nach Lewis als epistemischer Agent ei­ nem jeweiligen phantasievollen Rechtsanwalt schutzlos ausgeliefert. Diese Asymmetrie135 zwischen Wissenserlangung und Wissensverlust, zwischen Rechtfertigungsgründen und Irrtumsmöglichkeiten, die nur deshalb relevant werden, da wir sie erwähnen, ist keine befriedigende Diagnose der skepti­ schen Paradoxie.

IV. Keith DeRose – Jetzt weiß ich – jetzt aber nicht! Der dritte kontextualistische Ansatz, dem im Rahmen dieser Darstellung nachgegangen wird, ist der sog. Zuschreiber-Kontextualismus, der von Ste­ wart Cohen und Keith DeRose entwickelt wurde.136 Fangen wir direkt mit einem Beispiel an:137 K will mit seiner Frau F am Freitagnachmittag ihre Gehaltsschecks bei der Bank vorbeibringen. In der Bank ist jedoch viel los und sie überlegen, ob sie die Schecks stattdessen am nächsten Tag (Samstag) einzahlen sollen. K erinnert sich, zwei Wochen zuvor am Samstag auf der Bank gewesen zu sein. – Variante 1 Wenn es keine Rolle spielt, ob die Schecks am Freitag oder danach eingezahlt werden, dann weiß K, dass die Bank Samstag früh geöffnet hat. F schreibt ihm wissen darüber zu. (Diesen Zuschreiber-Kontext nennt DeRose Know-Low.) – Variante 2 Die Gehaltsschecks müssen unbedingt vor Montag auf dem Konto deponiert sein, da sonst andere Schecks platzen, die mangels Zahlung nicht eingelöst 134  Williams,

Contextualism, S. 15. Contextualism, S. 15 spricht von „a striking asymmetry“. 136  Grundlegend Cohen (1987); DeRose (1992); Cohen (1999). 137  DeRose (1992), S. 913; siehe auch Kompa (2001), S. 88 ff. Ein ähnliches Bei­ spiel führt Cohen (1999) an: „M. und J. befinden sich auf dem Flughafen von L.A. Sie fragen sich, ob ihr Flug in Chicago zwischenlandet. Unabhängig davon stellt ein anderer Passagier dem S. dieselbe Frage. S. liest den Reiseplan und antwortet: ‚Ja, ich weiß es.‘ Wenn nicht viel auf dem Spiel steht, schreiben M. und J. dem S. über seine Behauptung Wissen zu. Sollten sie aber einen sehr wichtigen Termin in Chi­ cago haben, dann sind mehrere Alternativen auszuschließen, wie z. B., dass der Reiseplan nicht aktualisiert oder der Flug nicht geändert ist.“ Dieses Beispiel ähnelt sehr den Überlegungen Wittgensteins ÜG 444: „ ‚Der Zug geht um 2 Uhr. Prüf zur Sicherheit noch einmal nach‘ oder ‚Der Zug geht um 2 Uhr. Ich habe gerade in einem neuen Fahrplan nachgeschaut.‘ Man kann auch hinzufügen ‚Ich bin in solchen Sachen verläßlich.‘ Die Nützlichkeit solcher Zusätze ist offenbar.“ 135  Williams,



F. Der Epistemologische Kontextualismus193 werden können. In diesem Fall weiß K nicht, dass die Bank Samstag früh ge­ öffnet hat. F schreibt ihm nicht Wissen darüber zu.138 (Diesen ZuschreiberKontext nennt DeRose Know-High.)

DeRose geht also der Semantik des „Wissens“ nach und behauptet, dass wir im ersten Fall Wissen-Low haben, da wir uns in einem normalen, all­ täglichen Kontext befinden; beim zweiten Fall handele es sich um WissenHigh, da der Zuschreiber (F) mehrere Alternativen bzw. Irrtumsmöglichkei­ ten in Erwägung bringen solle, die das Wissenssubjekt (K) auszuschließen hat. Anhand dieses Beispiels versucht DeRose zu veranschaulichen, dass der Wahrheitswert einer Wissenszuschreibung nicht nur Subjektfaktoren (subject factors), nämlich die Gesamtheit der Gründe des Subjekts, nämlich seine epistemische Position, sondern auch von Zuschreiberfaktoren (attributor factors) bestimmt werden.139 DeRoses Ansatz zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass in die kon­ textualistische Gleichung auf eine explizite Weise noch ein Parameter mit­ einbezogen und akzentuiert wird, d. i. der Einfluss, den der Wissenszu­ schreiber, meistens eine dritte Person, auf den Wahrheitswert der Wissenzu­ schreibung nimmt, indem auch Zuschreiber-Faktoren und nicht nur Wissens­ subjekt-Faktoren eine besondere Rolle spielen.140 Zwei Parameter sollen bestimmen, ob wir jemandem Wissen über eine Aussage p zuschreiben können: (a) die tatsächliche Stärke der epistemischen Position von A hinsichtlich p, und (b) die erforderliche Stärke der epistemischen Position von A hinsichtlich p. DeRose unterscheidet zwischen Subjekt- und Zuschreiberfaktoren und betont, dass nicht nur Faktoren des Subjekt-Kontextes, sondern auch bzw. vielmehr Faktoren des Zuschreiberkontextes für den Wahrheitswert der Wis­ senszuschreibung relevant sind. Die Zuschreiberfaktoren legen die erforder­ liche epistemische Stärke (E) fest, der das Wissenssubjekt und seine tatsäch­ liche epistemische Stärke (T) gerecht werden müsse, damit wir ihm Wissen zuschreiben. Der erste Parameter (tatsächliche Stärke) wird durch gewisse 138  DeRose zufolge gibt es nicht nur diese beiden Kontexten (Know-high (stakes situation) und Know-low (stakes situation)), nämlich einen philosophischen und ei­ nen alltäglichen Kontext, sondern ein breites, kontinuierliches Spektrum von Kon­ texten. Siehe DeRose (2009), S. 26. 139  DeRose (1992), S. 921: „So attributor factors affect the truth values of know­ ledge attributions in a different way than do subject factors: attributor factors wor­ king in such a way that they affect the content of the attribution, but subject factors in a different way that does not affect its content.“ Vgl. Kompa (2001), S. 86 ff. 140  DeRose (1992), S. 921.

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Teil 4: Auf der Suche nach einer Rechtfertigungstheorie

Faktoren der epistemischen Situation des Subjekts bestimmt (Subjektfaktoren), der zweite (erforderliche Stärke) durch gewisse Faktoren der Situation des Zuschreibers (Zuschreiberfaktoren).141 Wissen kommt somit im Rahmen dieser Theorie zustande als Ergebnis einer Ungleichung zwischen der erfor­ derlichen Stärke der epistemischen Position und ihrer tatsächlichen Stär­ ke.142 Wie DeRose ausführt: „Attributor factors set a certain standard the putative subject of knowledge must live up to in order to make the knowledge attribution true: They affect how good an epistemic position the putative knower must be in to count as knowing. They thereby affect the truth conditions and the content or meaning of the attribution. Subject factors, on the other band, determine whether or not the putative subject lives up to the standards that have been set, and thereby can affect the truth value of the attribution without affecting its content: They affect how good an epistemic position the putative knower actually is in.“143

Eine Wissenszuschreibung sei also ein Zusammenspiel von normativen und deskriptiven Parametern. Die Zuschreibungsfaktoren entscheiden darü­ ber, wie viele Alternativen im Spiel zugelassen werden (sollen); sie setzen also den Wissensstandard. Die Subjektfaktoren beschreiben die tatsächliche epistemische Situation des Agenten, nämlich wie viele kontextrelevante Alternativen er auszuräumen in der Lage ist. Schematisch betrachtet:144 Im Fall A, wo K die Alternativen, die F ins Gespräch einführt, ausschließen kann, schreiben wir K Wissen darüber zu: E1 < T

Im Fall B, wo K die Alternativen, die F ins Gespräch einführt, nicht ausschließen kann, können wir ihm kein Wissen darüber zuschreiben. Die tatsächliche Stärke von K’s epistemischer Position erfülle nicht die Stan­ dards der epistemischen Stärke, die erforderlich sei E1 > T



Wir dürfen K Wissen nicht zuschreiben. Diese Ungleichung macht uns verständlich, weshalb der Wahrheitswert einer Wissenszuschreibung kraft einer jeweiligen erforderlichen epistemi­ schen Stärke (E) variieren kann, selbst wenn die tatsächliche Stärke (T) des epistemischen Agenten konstant bleibt. Wissen sei im Auge des Betrachters. 141  DeRose

(1992), S. 921 ff. Kompa (2001), S. 89 f. 143  DeRose (1992), S. 921 – Hervorhebungen von mir. 144  Ausführlich dazu Kompa (2001), S. 86 ff. 142  So



F. Der Epistemologische Kontextualismus195

V. Semantischer Kontextualismus: Eine Bilanz Fassen wir nun anhand eines Beispiels die bisher skizzierten Ansätze zusammen. Teresa geht mir ihrem Sohn Lorenz in den Zoo. Vor dem Zebragehege, das an der einschlägigen Informationstafel zu erkennen ist, fragt Lorenz, wie diese schwarz-weiß gestreiften Tiere heißen. Teresa erwidert, dass diese Tiere Zebras heißen. (i)  Teresa weiß, dass die Tiere im Gehege Zebras sind.

Ein daneben stehender Zoobesucher zieht allerdings eine Alternative in Erwägung. Es habe neulich mehrere Betrugsfälle gegeben, wo – wegen der hohen Kosten – Zebras durch angemalte Maultiere ersetzt worden seien. Teresa ist nicht in der epistemischen Lage, diese Alternative durch Eviden­ zen auszuschließen und ist gezwungen, ihren Wissensanspruch aufzugeben. (ii)  Teresa weiß nicht, dass die Tiere im Gehege Zebras sind.

Schematisch dargestellt:145 (1) a.  W(T, z, t1) ^ W (T, [z → ¬ aR ], t1 → W (T, ¬aR, t1) b. ¬ W (T, ¬ aR, t1) c.  W (T, z, t1)

Da die drei Propositionen a, b, c, inkonsistent sind, können wir Teresa nicht Wissen darüber zuschreiben. 1. Semantischer Kontextualismus und „ordinary language“ Die Hauptrichtung des Semantischen Kontextualismus, die die oben skiz­ zierten Ansätze ausmachen, liefert eine auf den ersten Blick einleuchtende Diagnose der skeptischen Paradoxie, die in der Annahme besteht, dass das skeptische Problem sich semantisch in dem Moment auflöse, wenn man sich Klarheit darüber verschafft, dass das Verb „wissen“ indexikalisch ist und demnach ähnlich wie „flach“ oder „leer“ verwendet wird und dass dessen semantischer Gehalt explizit oder implizit von konversationellen Faktoren beeinflusst wird.146 Der SK liefert demzufolge eine „therapeuti­ 145  Wissen wird mit W symbolisiert. Die Variable z steht für Zebras und aR für angemaltes Maultier; vgl. Stei (2008). 146  Stanley (2004), S. 119: „According to it, the force of the sceptical paradoxes is due to the presence of unrecognized context-sensitivity in the language […] It is because knowledge-attributions are context-sensitive that we are fooled by sceptics

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Teil 4: Auf der Suche nach einer Rechtfertigungstheorie

sche Diagnose“, da er dafür plädiert, dass Skeptizismus nichts mehr als ein Problem der Sprache ist und bloß auf einem Missverständnis beruht.147 Dieses Missverständnis bestehe in der Behauptung, dass wir bisher versagt haben, den indexikalischen Charakter unseres Verbs ‚wissen‘ zu durch­ schauen.148 Der Skeptizismus wird vom Standpunkt des SK aus auf eine Binsenweisheit reduziert, nämlich auf die These, dass wir – gemessen an extrem hohen Maßstäben – kein Wissen über die Welt haben können.149 Die Referenz von ‚Wissen‘ in einem alltäglichen Kontext ist mit dessen Refe­ renz in einem anspruchsvolleren oder gar philosophischen Kontext nicht identisch, ohne dass dadurch ein Widerspruch entstehe: Eine Wissens­ zuschreibung drücke in verschiedenen Kontexten unterschiedliche Proposi­ tionen aus und erhalte dementsprechend unterschiedliche Wahrheitswerte. Gegen diese Auffassung sind zwei Hauptargumente laut geworden, die im Folgenden näher erläutert werden. 2. ‚Wissen‘ als indexikalischer Begriff? SK scheint eine scheinbar plausible Idee aufzugreifen, dass nämlich unser Begriff für ‚Wissen‘ eine versteckte syntaktische Variable enthält, die als kontextdeterminant fungiere. Z. B. besteht es kein Widerspruch darin, wenn wir sagen:150 „auf Sizilien gibt es mehrere Mörder und mehrere Arbeitslose“,

da die kontext-bestimmenden Faktoren für die Denotation von „mehrere“ nicht ein für alle Mal festgelegt worden sind. Es liegt ja auf der Hand dass die Anzahl der Mörder auf Sizilien nur ein Bruchteil der Arbeitslosen aus­ macht. Wie stichhaltig ist aber die These, dass das Verb ‚Wissen‘ sich wie ein graduierbares Adjektiv verhält? Stanley151 stellt die beanspruchte Indexikalität des Wissens auf den Prüf­ stand und merkt an, dass ‚Wissen‘ zwei linguistische Tests bestehen soll, damit wir es als graduierbaren Begriff betrachten können:152 Erstens sollte ein graduierbarer Begriff ähnlich wie graduierbare Adjek­ tive Modifikatoren zulassen, anhand deren man veranschaulichen kann, dass into thinking that even in non-sceptical circumstances, many of our knowledge at­ tributions are false.“ 147  Williams (1991) S. xvii. 148  Grundmann, Grenzen, S. 1000. 149  Kritisch äußernd Grundmann, Grenzen, S. 1000. 150  Stanley (2004), S. 134. 151  Stanley (2004), S. 134. 152  Vgl. Brendel (2007).



F. Der Epistemologische Kontextualismus197

ein Merkmal bei einem Objekt stärker oder schwächer ausgeprägt ist als bei einem anderen:153 (2)

a.  Diese Wiese ist flach. b.  Die andere Wiese ist sehr flach. c.  Uwe ist groß. d.  Uwe ist wirklich groß.

Zweitens ist zu erwarten, dass graduierbare Ausdrücke mit komparativen Konzepten zusammenhängen, die es uns ermöglichen, verschiedene Ausdrü­ cke auf einen gemeinsamen Nenner (Rangskala) zu bringen und einem Vergleich zu unterziehen: (3)

a.  Diese Wiese ist flacher als die andere. b.  Uwe ist wirklich groß aber Andreas ist größer.

Da allerdings ‚Wissen‘ sich untypisch für einen indexikalischen Begriff verhält und eigentlich nicht im Einklang mit unserer Sprachpraxis steht, scheitert es an diesen Tests: es gibt zahlreiche und nicht zu ignorierende linguistische Belege, die gegen den SK sprechen: „If the semantics of ‚know‘ did involve scales, it would be mystery why there wouldn’t be a comparative form of ‚know‘ available to exploit the scale“.154 Erstens kön­ nen wir bei Wissensaussagen, im Unterschied zu indexikalischen Adjektiven wie „groß“ oder „flach“, keine komparativen Ausdrücke bilden. Folgende Wissenzuschreibungen (4)

a.  Teresa weiß es jetzt besser als vorher. b.  Uwe weiß es besser als seine Kollegen.

klingen seltsam. Zweitens ergibt es keinen Sinn, wenn man sagt: (5)

a.  Ich weiß es sehr. b.  Ich weiß es wirklich.

da diese Modifikatoren zu sprachlich inakzeptablen Aussagen führen kön­ nen.155 Der Begriff des „Wissens“ ist also nicht graduierbar und es klingt ja fremd, wenn man sagt: „A weiß es besser als ich“ oder „Ich weiß, dass ich 153  Die folgenden Beispiele führt Stanley an (2004), S. 124; zur Problematik der Skalenarten siehe Bortz (2005), S 17 ff. 154  Stanley (2004), S. 125 f. 155  So Brendel (2007), S. 19 f.

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Jurist bin mehr als ich weiß, dass ich ein Mensch bin“. Vor allem empfin­ den wir die Lösung des semantischen Kontextualismus als paradox, da er behauptet, dass wir uns ständig über die Bedeutung des Wortes „Wissen“ irren. 3. Der kontextualistische Wissensmechanismus Bevor dem Ansatz des Inferentiellen Kontextualismus nachgegangen wird, möchte ich auf einen letzten Gesichtspunkt des SK eingehen, über den sich generell die zwei kontextualistischen Ansätze einig sind. Beide stim­ men darin überein, dass unser alltägliches (etwa: Ich weiß, wie ich heiße), gerichtliches (etwa: Der Richter weiß, dass der Angeklagte es war) und wissenschaftliches Wissen (etwa: Rauchen ist gesundheitsschädlich) bei je­ der Spielart des Kontextualismus hinreichend geschützt werden. Wir dürfen in unserer alltäglichen epistemischen Praxis anderen Wissen zuschreiben und einen Anspruch auf Wahrheit erheben, da die skeptischen Hypothesen es nicht vermögen, unser Wissen – bis auf den Kontext der Erkenntnisthe­ orie – zu unterminieren. Doch der Ansatz, den wir aufgreifen und auf das gerichtliche Erkenntnisverfahren anwenden, soll derjenige sein, der eine plausiblere Antwort auf den Skeptiker ermöglicht und dementsprechend ein größeres diagnostisches Potenzial hat. Es ist mit Williams festzuhalten, dass verschiedene Ansätzen des SK folgende Punkte gemein haben:156 a) Unsere epistemische Praxis beinhaltet Mechanismen, die die Wissenszuschrei­ bungsmaßstäbe anheben und absenken. b) Das Heben oder Senken dieser Maßstäbe besteht in einer Erweiterung (expan­ sion) oder Begrenzung (contraction) der Irrtumsmöglichkeiten, die im Spiel sind. c) Die Maßstäbe werden durch Veränderungen im konversationellen Kontext an­ gehoben und abgesenkt, insbesondere in Abhängigkeit davon, welche Behaup­ tung gemacht wurde und / oder welche Fehlermöglichkeiten (defeaters) ins Spiel gebracht werden.

Diese Gesichtspunkte sind einleuchtend und mit dem Inferentiellen Kon­ textualismus zumindest verträglich. Die Standards für korrekte Zuschreibung von hinreichend begründeter Überzeugung sind variabel und hängen von dem Kontext ab, nämlich von dem Umfang der Menge von Defeater, die ins Spiel gebracht werden. Führen wir ein Beispiel an: A macht sich auf dem Weg zum Hauptbahn­ hof und fragt den Kioskbetreiber in seiner Gegend, wie spät es ist. Der 156  Williams,

Contextualism, S. 2.



F. Der Epistemologische Kontextualismus199

Kioskbetreiber schaut auf seine Uhr und sagt: „Es ist halb zwei.“ Dem oben skizzierten Wissensmechanismus zufolge können wir vier oder gar mehrere konversationelle Kontexte unterscheiden.157 Normaler Kontext: Die Reise ist nicht wichtig und die S-Bahn fährt alle 20 Mi­ nuten. Der defeater, dass die Uhr falsch gehe, ist kontextirrelevant. Diesen Zwei­ fel dürfen wir legitimerweise ignorieren. Wir schreiben dem Kioskbetreiber Wissen zu. Wahrscheinlicher Kontext: Die (Dienst-)Reise ist wichtig. Derselbe defeater wird als relevant angesehen. A muss danach fragen, ob der Kioskbetreiber die Alterna­ tive ausschließen kann, dass die Uhr falsch gehe. Wir können dem Kioskbetreiber Wissen noch nicht zuschreiben. Abwegiger Kontext: Von der Reise hängt das Leben eines Menschen ab. A fragt, ob vielleicht eine nicht angekündigte Zeitumstellung stattgefunden habe. Wir können dem Kioskbetreiber Wissen nicht zuschreiben. Hyperabwegiger Kontext: A ist ein engagierter Philosophiestudent und fragt den Kioskbetreiber, ob er weiß, dass er kein Gehirn im Tank ist. Der Kioskbetreiber antwortet (voller Geduld), dass er so eine entlegene Möglichkeit prinzipiell nicht ausschließen kann. Wir können ihm Wissen prinzipiell nicht zuschreiben.158

4. Die Kontinuitätsthese Der SK geht von der Annahme aus, dass es zwischen diesen oben ge­ zeichneten konversationellen Kontexten eine Kontinuität gibt. Wir können die Wissensstandards bis zum Maximum hinaufschreiben und entlang des Spektrums, das von einem normalen bis hin zum hyperabwegigen Kontext reicht, die entsprechenden Defeater ins Spiel bringen. Der einzige Unter­ schied zwischen alltäglichen und philosophischen Zweifeln sei dabei eine Sache des Grades. Williams führt allerdings aus, dass der SK eine einfache Skala von Wissensstandards aufstellt, die von „lax“ bis „streng“ reicht und dass, je weiter „entlegen“ die Defeater sind, desto höher die Maßstäbe für Wissen sind.159 Philosophische Reflexion erzeugt dementsprechend einen Kontext, in dem die Wissensstandards bis zum Maximum aufsteigen, sodass Wissen sich als unausfüllbar herausstellt. Man darf sich entlang dieser Ska­ la die Wissensstandards nach Belieben aussuchen. Der Inferentielle Kontex­ tualismus bestreitet dies. Dieser Punkt hängt nun mit der Problematik zu­ sammen, was es eigentlich heißt, Erkenntnistheorie zu betreiben – eine 157  Vgl. Williams (2003), S. 988; Willaschek, Kontext, S. 158 f. Williams unter­ scheidet zwischen wahrscheinlichem, abwegigem, sehr abwegigem und hyperabwe­ gigem Kontext. Mein eigenes Beispiel ist etwas modifiziert. 158  Seine Antwort würde, wie Willaschek, Kontext, S. 161, treffend anmerkt, in Wirklichkeit weniger höflich ausfallen. 159  Williams, Contextualism, S. 21.

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Teil 4: Auf der Suche nach einer Rechtfertigungstheorie

These, die nach Williams den tiefsten Graben im kontextualistischen Lager ausmacht.160 a) Der Ansatz der „hohen Standards“ Wie vorher skizziert wurde, behauptet der SK, dass es alltägliche und anspruchsvollere (wissenschaftliche) Kontexte gibt, in denen die Maßstäbe für Wissen erfüllbar sind und wir uns korrekterweise Wissen zuschreiben können. Es gebe allerdings noch anspruchsvollere (abwegige) Kontexte, wo die Maßstäbe für Wissen ins Extrem hochgeschraubt werden. Der Kontex­ tenkomplex lasse im Prinzip wegen der postulierten Kontinuität zwischen den verschiedenen konversationellen Konstellationen beliebige Graduierun­ gen zu.161 Der SK behauptet nun, das skeptische Paradoxon (auf-)gelöst zu haben, indem er den skeptischen Kontext, in welchem die entlegensten Irrtumsmöglichkeiten ins Spiel gebracht werden dürfen, zur Ausnahme er­ klärt. Das Problem besteht allerdings darin, dass die Erklärung dieser Aus­ nahme nicht bloß eine Ergänzung der Diagnose des Skeptizismus, sondern selbst diese Diagnose ist:162 Wir haben niemals Wissen. Der Krypto-Vor­ schlag von Seiten des SK, die skeptischen Hypothesen im Alltag oder in wissenschaftlichen Kontexten zu ignorieren oder skeptische Möglichkeiten nur sotto voce zu erwähnen, vermag unser Wissen nicht vor einer Untermi­ nierung zu bewahren. Denn der Erkenntnis-Skeptiker geht nicht von der Annahme aus, dass es sich bei seinen Hypothesen schlichtweg um beson­ ders strenge philosophische Standards handele, denen unser Wissen nicht genüge. Die destruktive Wirkung seiner Argumentation besteht im Gegenteil in der These, dass er im Rahmen philosophischer Reflexion eine Hürde für Wissen entdeckt hat, die in allen Kontexten präsent sind, ob alltäglich oder nicht.163 Die postulierte Kontinuität der konversationellen Kontexte infiziert samt des philosophischen alle alltäglichen (den gerichtlichen Kontext einge­ schlossen) und wissenschaftlichen Kontexte. Der SK vermag den Skeptizis­ mus nicht zu entschärfen. b) Der Ansatz der „scheinbaren Allgemeinheit“ In Anbetracht der Probleme, die der SK nur unbefriedigend löst, lässt sich erneut fragen, was es eigentlich heißt, Erkenntnistheorie zu betreiben. Dass die Beantwortung dieser Frage den Rahmen dieser Arbeit eindeutig sprengt, 160  Willliams

(2003), S. 973. Grnezen, S. 995. 162  Williams, Contextualism, S.  19 f.; Grundmann, Grenzen, S. 1000. 163  So Williams (2003), S. 982. 161  Grundmann,



F. Der Epistemologische Kontextualismus201

kann weder überraschen noch uns davor abschrecken, verschiedene Strate­ gien zu skizzieren. Eine davon ist der Ansatz der „scheinbaren Allgemein­ heit“ (SA). SA verfolgt eine alternative Strategie, in dem die Prämisse, von welcher der hohe-Standards-Ansatz (HS) ausgeht, für falsch erklärt wird. Stroud beschreibt dies folgendermaßen: „In der Philosophie seien wir nicht an irgendeinem beschränkten Wissen über die Welt interessiert (weder da­ ran, welches Wissen dieser Art wir haben, noch daran, wie wir zu ihm ge­ langt sind), sondern vielmehr am Wissen über die Welt als solchem. „In fact we seek a more inclusive description of all our ways of knowing that would explain our knowledge in general.“164 Der Skeptiker stellt nun Fragen, die zwar in ihrer Formulierung präzise wie sachlich, aber nichtsdestoweniger sehr abstrakt sind. Der Skeptizismus ist, so verstanden, ein tödlicher Pfeil ohne Zielobjekt. Im Fokus des Skeptikers liegt nicht der jeweilige Proposi­ tionsgehalt unseres Wissens (etwa ob die Aussage „A hat B vergewaltigt“ zutrifft), sondern unser Wissen per se. Wir gelangen zu dem Schluss (und damit zu einem tieferen Verständnis des Skeptizismus), dass der Skeptiker sich nicht etwa für angemalte Maul­ tiere, die von Zebras ununterscheidbar seien, oder für Gehirne in Nährlö­ sung interessiert. Er versucht, uns dazu zu bewegen, eine allgemeine (gene­ rische) Antwort auf den Inhalt des Begriffs „Wissen“ zu geben. Stroud bringt diese Unterscheidung auf den Punkt, indem er für falsch erklärt, die Perspektive einer philosophischen Untersuchung des menschli­ chen Wissens zu bezweifeln: „[…] what we seek in epistemology […] is not just anything we can find about how we know things. We try to under­ stand human knowledge in general, and to do so in a certain special way.“165 Daraus lässt sich schließen, dass wir und der Skeptiker aneinander vorbei­ geredet haben. Williams merkt an, dass wir den Skeptiker als jemanden verstehen können, der sehr allgemeine Fragen über menschliches Wissen stellen möchte, wie beispielsweise was es generell heißt, irgendetwas über die Welt zu wissen, oder berechtigt zu sein, einen Wissensanspruch zu er­ heben.166 Erkenntnis-Skeptiker beschäftigen sich philosophisch mit ‚Wissen‘, wie Chemiker sich mit chemischen Substanzen befassen. Die Einsicht, dass wir 164  Stroud

(2000), S. 101. (2000), S. 100. 166  Williams, Contextualism, S. 21 f.; siehe Stroud (2000), S. 100, 101: „What we seek in the philosophical theory of knowledge is an account that is completely gen­ eral in several respects. We want to understand how any knowledge at all is possible – how anything we currently accept amounts to knowledge. Or, less ambitiously, we want to understand with complete generality how we come to know anything at all in a certain specified domain.“ 165  Stroud

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im Kontext der Philosophie kein Wissen haben können und dass der Skep­ tiker Recht hat, sollte uns nicht überraschen, wie es uns auch nicht beunru­ higt, dass eine große Entdeckung im Bereich der Biologie trotzdem nicht beansprucht, eine endgültige Antwort geliefert zu haben.167 5. Standards erhöhen oder Thema wechseln? Ein Hauptmerkmal der Erkenntnistheorie, der Disziplin also, die haupt­ sächlich das skeptische Paradoxon zu lösen versucht, ist nicht einfach die sehr abstrakte Ebene der Fragestellungen, sondern die Tatsache, dass sie von allerlei praktischen Zwängen abgekoppelt werden soll. Den Erkenntnis­ theoretikern geht es nicht um die Heilwirkung bestimmter Wirkstoffe, his­ torische Ereignisse oder die Sachverhaltsaufklärung bestimmter Straftaten, d. h. nicht um den propositionalen Gehalt unserer Wissensansprüche, son­ dern um unser Wissen selbst. Der Eigencharakter des Betreibens von Er­ kenntnistheorie besteht allerdings nicht in der Erwähnung von zu weit hergeholten Irrtumsmöglichkeiten, die angeblich automatisch relevant wer­ den: „Es ist das Betreiben von Erkenntnistheorie diejenige Tatsache, die skeptische Hypothesen als relevant erscheinen lässt.“168 Dieselben Hypothe­ sen sind nämlich nicht generell gültig und vermögen nicht, unser alltäg­ liches Wissen zu untergraben. Der Skeptiker, der in einem nicht philosophi­ schen Kontext willkürlich hyperabwegige Defeater ins Spiel bringt, vermag nicht einmal verstanden zu werden. Der Strafverteidiger, der in einem Strafverfahren das Ausschließen von hyperabwegigen Alternativen bean­ tragt, trägt nicht zu einem anspruchsvolleren Erkenntnisverfahren bei. Ent­ sprechende Beweisanträge müssen vom Gericht abgelehnt werden.169 Denn skeptische Hypothesen können nur im Rahmen eines erkenntnistheoretischen Kolloquiums sinnvoll erwähnt werden. So lässt sich allerdings verdeut­ lichen, weshalb es zwischen philosophischen und sonstigen Kontexten kei­ neswegs Kontinuität geben kann. Der Ansatz der SA wird dadurch unserer Grundintuition gerecht, dass es sich dabei um alia und nicht comparativa handelt. Denn der Skeptiker tut mehr als die Standards der Rechtfertigung und damit die Standards für Wissen bis zum Maximum zu erhöhen, wenn er ein gewissenhafteres Herangehen an unsere empirische Forschung ver­ 167  Stroud (2000), S. 102 merkt an: „One way I can know that my neighbour is at home is by seeing her car in front of her house, where she parks it when and only when is at home […] That is a perfectly good explanation of how I know that fact about one of the things around me. [But it] could not answer the the philosophical question as to how I know anything about any objects around me at all.“ – Hervorhebungen von mir. 168  Williams, Contextualism, S. 21. 169  Vgl. Willaschek, Kontext, S. 162.



G. Inferentieller Kontextualismus203

langt: Er wechselt das Thema.170 Erst wenn wir uns klarmachen, dass der experimentelle Physiker, der an der Existenz seiner Forschungsapparate zweifelt, keineswegs methodisch stringenter vorgeht als seine Kollegen, gelingt es uns, die Kontinuität zwischen unserer epistemischen Praxis und einer erkenntnistheoretischen Untersuchung zu durchbrechen. Es ist eine Sache, so Williams,171 ein Experiment unter immer strenger kontrollierten Bedingungen durchzuführen, indem man sich z. B. ein extrem hohes Signi­ fikanzniveau (etwa 5σ) aussucht. Es ist allerdings eine völlig andere Sache, generische Widerlegungsgründe zuzulassen. Diese Differenzierung hat Witt­ genstein zum Ausdruck gebracht: „Es wäre, als sollte jemand nach einem Gegenstand im Zimmer suchen; er öffnet eine Lade und sieht ihn nicht darin; da schließt er sie wieder, wartet und öffnet sie wieder, um zu sehen, ob er jetzt nicht etwa darin sei, und so fährt er fort. Er hat noch nicht suchen gelernt. Und so hat jener Schüler noch nicht fragen gelernt. Nicht das Spiel gelernt, das wir ihn lehren wollen.“ (ÜG 315)

Deutlicher an einer anderen Stelle: „Wenn ich experimentiere, so zweifle ich nicht an der Existenz des Apparates, den ich vor den Augen habe. Ich habe eine Menge Zweifel, aber nicht den. Wenn ich eine Rechnung mache, so glaube ich, ohne Zweifel, daß sich die Ziffern auf dem Papier nicht von selbst vertauschen, auch vertraue ich fortwährend meinem Ge­ dächtnis und vertraue ihm unbedingt. Es ist hier dieselbe Sicherheit wie, daß ich nie auf dem Mond war.“172 (ÜG 337)

Aus diesen zwei Stellen lässt sich der Schluss ziehen, dass ein Historiker, der an die Existenz des Universums vor 10.000 Jahren zweifelt oder ein Richter, der „abwegige“, „nebelhafte“173 Alternativen ausschließen will, ist schlichtweg jemand, der nicht verstanden hat, was es heißt, historische Forschung zu betreiben und der die bisherige Forschung in einer völlig anderen Art von Untersuchung aufgehen lässt: die der Erkenntnistheorie.174 Er hat, um mit Wittgenstein zu reden, unser Sprachspiel noch nicht gelernt und ähnelt einem Kind, dem wir unser Weltbild beibringen sollen.

G. Inferentieller Kontextualismus Der SK scheitert zuvörderst an dem Versuch, einerseits das menschliche ‚Wissen‘ philosophisch zu verstehen und andererseits alltägliche und philo­ sophische Kontexte einheitlich – etwa als Teile eines Kontinuums – zu 170  Williams

(2003), S. 988. Contextualism, S. 22. 172  Vgl. ÜG 111, 250. 173  Vgl. dazu etwa RG, JW 1929 S. 864, RGSt 61 202. 174  Williams, Contextualism, S. 22. 171  Williams,

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betrachten. Es wurde gezeigt, dass die Auffassung, der zufolge der konver­ sationelle Kontext linear zunehme und wir dadurch die Standards der Recht­ fertigung bis zum Maximum erhöhen könnten, einer genaueren Prüfung nicht standhalten kann. Dies würde nämlich zu dem absurden Ergebnis führen, dass ein Physiker, der „an die Existenz seines experimentellen Ap­ parates zweifelt“ (ÜG 337), eine stringentere Untersuchung durchführe, als seine Kollegen, die sich im Labor an die konventionellen Forschungsregeln ihrer scientific community halten. Wittgenstein verweist uns damit auf die endlichen Regeln unseres Sprachspiels und warnt uns, dass wir sie nicht transzedieren können, da es ins diskursive Aus führen würde.175 Denn was jenseits der Grenze unseres universellen Mediums, nämlich der Sprache, liegt, ist einfach Unsinn (TLP, Vorwort). Die Argumente des Skeptikers scheinen primär Verständnisfragen aufzuwerfen: „Wie, wenn ein Mensch sich nicht erinnern könnte, ob er immer fünf Finger oder zwei Hände gehabt hat? Würden wir ihn verstehen? Könnten wir sicher sein, daß wir ihn verstehen?“176 (ÜG 157)

Als Gründerväter des Inferentiellen Kontextualismus gelten der späte Ludwig Wittgenstein, David Annis und Michael Williams.177 Alle drei Au­ toren scheinen sich darüber einig zu sein, dass der epistemische Agent nicht auf a priori gültige (wahrheitsgarantierende) Regeln angewiesen ist, die angeblich eine endgültige Gewissheit zu garantieren vermögen, sondern auf die jeweiligen Regeln deren Gemeinschaft. Wissen siedle sich an unseren sozialen Praktiken und Normen an. Es ist, um mit Annis zu sprechen, „naturalized“.178 Der IK ist eine Art vom ‚substantiellen Kontextualismus‘ (vgl. Abschn. F.). Denn inferentielle Kontextualisten behaupten, dass das, was vom Kontext abhängt, nicht die Bedeutung unseres Ausdrucks für ‚Wissen‘ ist. Mit dem Kontext variiere die Begründungsbedürftigkeit bzw. Begründungsstruktur unserer Überzeugungen. Der inferentielle Charakter des Kontextualismus besteht also darin, dass die epistemischen Eigenschaf­ ten unserer Aussagen selbst kontextvariabel sind. Ob eine Aussage episte­ misch privilegiert (d. h. nicht begründungsbedürftig ist) oder nicht, hängt von dem inferentiellen Kontext ab, in welchem sie eingebettet wird.179 Nicht nur das: Aussagen haben außerhalb eines Kontexts, in dem und nach Gabriel, Skepsis, S. 120 ff. redet absichtlich von „Menschen“ und nicht von Kindern, denen man erst ein Weltbild beibringen muss. 177  Es liegt auf der Hand, dass die Ansätze von David Annis und Michael Williams, wie sie selbst betonen, auf Wittgenstein und seine Notizen, die als „Über Gewißheit“ herausgegeben würden, zurückgehen. 178  Annis (1978). 179  Grundmann (2008), S. 326. 175  Dazu

176  Wittgenstein



G. Inferentieller Kontextualismus205

dessen Regeln sie artikuliert werden, gar keinen epistemischen Status. Der Ausgangspunkt einer Rechtfertigungskette samt der Basalität der Überzeu­ gungen, die nicht ihrerseits begründet werden müssen, variiert also mit dem inferentiellen Kontext, nämlich mit unseren praktischen Interessen, pragma­ tischen Gründen und den Konventionen unserer Gemeinschaft. „Was feststeht, tut dies nicht, weil es an sich offenbar oder einleuchtend ist, son­ dern es wird von dem, was darum herumliegt, festgehalten.“ (ÜG 144)

I. Eine Wittgensteinsche Perspektive Im Rahmen dieser Untersuchung möchte ich auf den o. g. Ansatz einge­ hen, indem ich die m. E. vielversprechende kontextualistische (Rechtferti­ gungs-)Theorie von Michael Williams präsentiere, die wiederum eine Witt­ gensteinsche Perspektive darstellt. An mehreren Stellen und vor allem in seinem einflussreichen Buch „Unnatural Doubts“ versucht Williams auf eine neuartige Weise, deren Hauptzüge teilweise bereits anhand der Strate­ gie der „Scheinbaren Allgemeinheit“ erklärt wurden, den Skeptizismus zu entschärfen. Williams ist mit der therapeutischen Diagnose des Skeptizis­ mus nicht zufrieden. Der Versuch, dem Skeptiker nachzuweisen, dass seine Argumentation und deren destruktive Wirkung auf einem falschen Ge­ brauch alltäglicher Begriffe, nämlich auf einem bloßen Missverständnis beruhen, darf als gescheitert angesehen werden.180 Williams konstatiert, dass wir zwar den Skeptiker verstehen können. Denn die skeptische Argu­ mentation, so radikal und tiefgreifend sie sein mag, ist einleuchtend. Sie liegt zwar faktisch sehr fern, aber epistemisch sehr nahe. Wir können tat­ sächlich nicht alle Alternativen ausschließen; dadurch gelangen wir unaus­ weichlich zur Skepsis.181 Der Vorwurf, dass der Skeptiker sich einer be­ grifflichen Inkohärenz schuldig mache, da das skeptische Paradoxon sich semantisch auflöse, hat nach Williams nicht viel für sich.182 Wie Grund­ mann anmerkt, verdichtet sich deshalb der Verdacht, dass die kontextualis­ tische (therapeutische) Diagnose die Tiefendimension des Problems des Skeptizismus nicht einmal berührt.183

180  Williams (1991), S. xiv; ausführlicher in ders., Problems, S. 146 ff.: „Therapeutic diagnosis treats sceptical problems as pseudo-problems generated by misuses or misunderstandings of language. On this approach, sceptical claims and arguments do not really make sense.“ 181  Williams, Problems, S. 160. 182  Ausführlich Seide (2011), S. 109. 183  Grundmann, Grenzen, S. 1000; Williams, Contextualism, S. 22, betont ähn­ lich, dass der SK ein oberflächlicher Kontextualismus ist und mit tiefergehenden Formen des Skeptizismus nicht fertig werden kann.

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Teil 4: Auf der Suche nach einer Rechtfertigungstheorie

1. Theorielose Skepsis? Williams vertritt die Meinung, dass die sogenannte theoretische Diagnose des Skeptizismus ein besserer Kandidat für die Auflösung des Skeptizismus wäre. Während er davor warnt, dass man nicht trennscharf zwischen beiden Diagnosen unterscheiden kann,184 definiert er seine eigene Diagnose als die Aufdeckung der theoretischen Voraussetzungen und Vorannahmen der skep­ tischen Argumente, die wir keineswegs akzeptieren können, sobald wir uns Klarheit über sie verschaffen. Die theoretische Diagnose stellt nicht die Plau­ sibilität, sondern die Intelligibilität der antiken und modernen Skepsis in Fra­ ge und bezweifelt, dass sie natürlicherweise einleuchtend und nicht theore­ tisch geladen sind. 2. Die Hypothek der anti-skeptischen Rechtfertigungsstrategien Eine der Vorannahmen des Skeptizismus, die wir aufdecken sollen, da­ mit wir eine theoretische Diagnose liefern können, ist der von Williams eingeführte Terminus des erkenntnistheoretischen Realismus (ER). Um eine verständnisvolle Analyse dieses Begriffs leisten zu können, hält Williams die Unterscheidung zwischen formalem und substantiellem Fundamentalis­ mus für unabdingbar.185 Während der formale Fundamentalismus nur als ein Beitrag zu einem Wissenskonzept verstanden werden kann, dem zufol­ ge Rechtfertigung nur dank solchen Meinungen bzw. Urteilen zu einem Ende kommt, die selbsterläuternd sind und keiner Rechtfertigung bedürfen, ist der substantielle Fundamentalismus ein eigenständiges Wissenskon­ zept.186 Während also der Rechtfertigungsfundamentalismus als anti-skep­ tische Strategie angesichts dieser begrifflichen Differenzierung als formaler Fundamentalismus anzusehen sei, behauptet Williams, den Grund angeben zu können, weshalb sowohl der Fundamentalismus als auch der Kohären­ tismus als Rechtfertigungstheorien zum Scheitern verurteilt sind.187 Beide 184  Williams (1991), S. xvii: „The distinction between therapeutic and theoretical diagnosis is no more clear-cut than that between constructive and diagnostic strate­ gies, and perhaps less so.“ Ders., Problems, S. 146: „I do not want to ride the dis­ tinction between therapeutic and theoretical diagnosis too hard. It may turn out that the sceptic’s presuppositions extend into the theory of meaning. If they do, a theo­ retical diagnosis of the sceptic’s presuppositions may encourage second thoughts about how well we understand everything he says.“ 185  Williams (1991), S. 114 f.; vgl. Seide (2011), S. 110 ff. 186  Williams (1991), S. 114: „Substantive foundationalism is a theory of know­ ledge, whereas formal foundationalism is only (a contribution to) a theory of the concept of knowledge.“ 187  Williams (1991), S. xvi f.: „doomed to fail“.



G. Inferentieller Kontextualismus207

Ansätze seien nämlich mit einer Hypothek belastet: dem substantiellen Fundamentalismus. 3. Der erkenntnistheoretische Realismus als Voraussetzung des substantiellen Fundamentalismus Dem substantiellen Fundamentalismus zufolge kommt allen Meinungen bzw. Überzeugungen ein intrinsischer erkenntnistheoretischer Status zu, der sich daraus ableitet, was für Rolle die Überzeugungen bei dem jeweiligen Rechtfertigungsprozess spielen dürfen.188 Ob diesen Meinungen eine basale Rolle in der Rechtfertigungsstruktur zugewiesen wird oder nicht, hänge von der erkenntnistheoretischen Priorität mancher Meinungen gegenüber ande­ ren Meinungen ab.189 Anhand dieses intrinsischen Wertes lassen sich unsere Meinungen in bestimmte Klassen gliedern, zwischen denen objektive Rela­ tionen bestehen.190 Manche Überzeugungsarten bringen die Rechtfertigung zu Ende, weil sie basal seien, während andere inferentiell auf die ersten zurückgreifen, weil sie Rechtfertigung erfordern. Zum Beispiel haben Sin­ neswahrnehmungen natürlicherweise wegen ihres ein für alle Mal festgeleg­ ten epistemischen Status erkenntnistheoretische Priorität anderen Meinungen gegenüber – Das ist nach Williams einer der Eckpfeiler des cartesianischen Projekts. Darin besteht, so Williams, die Hypothek des ER, den der substantielle Fundamentalismus voraussetzt.191 Ausgerechnet diese Hypothek führt uns wegen ihrer stillschweigenden Voraussetzung, dass nämlich alle unsere Mei­ nungen durch Sinneseindrücke gerechtfertigt werden müssen, zur Skepsis. Dabei gehe es allerdings nicht um einen Realismus bezüglich der Existenz einer geistesunabhängigen Außenwelt, sondern um einen naiven ErkenntnisRealismus, was die Untersuchungsobjekte der Erkenntnistheorie und unserer epistemischen Praxis insgesamt anbelangt. Das sind die Kategorien der Überzeugung, Rechtfertigung etc.192 Wir haben aber gar keinen qualifizier­ ten Grund, von der Annahme auszugehen, dass eine jeweilige Überzeugung einen gewissen bzw. permanenten (intrinsischen) Status hat, dass sie näm­ lich aus ontologischen Gründen epistemisch privilegiert ist oder Rechtferti­ gung erfordert. Denn wir sind diejenigen, die nicht nur Meinungen haben, sondern auch Rechtfertigungsnormen und -strukturen zwischen Meinungen 188  Williams

(1991), S. 115. (2011), S. 111. 190  Williams (1991), S. 115; ders., Problems, S. 193; Seide (2011), S. 211. 191  Williams (1991), S. 115: „By contrast substantive foundationalism presuppo­ ses epistemological realism.“ 192  Williams (1991), S. 108; ders., Problems, S. 193. 189  Seide

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Teil 4: Auf der Suche nach einer Rechtfertigungstheorie

aufstellen. Das bringt Williams besonders deutlich auf den Punkt: „Norms, including epistemic norms, are standards that we set, not standards imposed on us by the ‚nature of epistemic justification‘.“193 Die Idee, dass es natür­ liche Fakten gebe, die den Status oder die zugrunde liegende Struktur etwa einer Meinung, einer Elfmeterentscheidung im Fußball oder eines Strafur­ teils bestimmen, ist absurd. Weder der propositionale Gehalt einer Aussage (oder einer Norm) noch die Rechtfertigungsstrukturen, auf welchen der je­ weilige epistemische Agent operieren wird, sind „naturgemäß“ zu bestim­ men. Denn es gibt keinerlei natürliche Fakten, die den Status einer Meinung und die bestehenden Strukturen zwischen verschiedenen Meinungen festle­ gen. Das lässt sich erst mithilfe des jeweiligen Sprachspiels festlegen. Die Verschiedenheit der epistemischen Bewertung ist für Wittgenstein ein we­ sentliches Merkmal unserer epistemischen Praxis: „Denn wenn Moore sagt ‚Ich weiß, daß das … ist‘, möchte ich antworten: ‚Du weißt gar nichts!‘ Und doch würde ich das dem nicht antworten, der ohne philo­ sophische Absicht so spricht. Ich fühle also (ob mit Recht?), daß diese zwei Verschiedenes sagen wollen.“ (ÜG 407)

Was z. B. Menschen in ihrem Alltag oder etwa Katholiken für gewiss halten, kann von einer wissenschaftlichen Disziplin nicht einmal ernst ge­ nommen werden. Was der Repetitor im Audimax als vertretbares Argument präsentiert, kann von derselben Person bei einer wissenschaftlichen Tagung als wacklige These polemisiert werden. „Ja, ich glaube, daß jeder Mensch zwei menschliche Eltern hat; aber die Katholi­ ken glauben, daß Jesus nur eine menschliche Mutter hatte.“ (ÜG 239) „Die Aussage z. B., jemand sei ohne Eltern auf die Welt gekommen, würde dort [im Gerichtssaal] nie in Erwägung gezogen werden.“ (ÜG 335)

II. Inferentieller Kontextualismus als Antidot Ein Heilmittel gegen die Starrheit des erkenntnistheoretischen Fundamen­ talismus sowie der Objektivität bei Rechtfertigungsbeziehungen ist ein kontextualistisches Konzept, dem zufolge Meinungsarten wie z. B. Sinnes­ eindrücke – je nach Umständen – mal als basal, mal als rechtfertigungsbe­ dürftig angesehen werden können. Wann dies der Fall ist, hängt von dem inferentiellen Kontext ab, nämlich von der jeweiligen Situation, von prag­ matischen Interessen, von der Wichtigkeit des Probandum etc. Man kann nämlich nicht ohne weiteres verlangen, dass ein Gesprächspartner sich seine politische Zugehörigkeit vor Augen führt, nämlich ob er liberal oder kon­ servativ ist (vgl. Teil 1, Abschn. D.I.), bevor er sagen darf, was für eine 193  Williams,

Problems, S. 170.



G. Inferentieller Kontextualismus209

Farbe ein Objekt hat. Es gibt allerdings Konstellationen, z. B. bei einer Täteridentifizierung, wo diese Korrelation doch als sinnvoll anzusehen ist. Erst in Anbetracht kontextueller Faktoren können wir demzufolge festlegen, welche Rolle einer Meinung(sart) zugeschrieben wird. Williams betont, dass hierbei mit einem Missverständnis aufzuräumen ist: Der IK vertritt nicht einfach die These, dass der epistemische Status einer Meinung von kontex­ tuellen Faktoren beeinflusst wird, sondern dass sie in Absehung von sämt­ lichen Kontextfaktoren gar keinen Status mehr besitzt.194 Darauf wird später eingegangen. 1. Das skeptische Potenzial des cartesianischen Projekts Williams versucht, den Schluss nahe zu legen, dass die moderne Skepsis den ER unbegründet voraussetzen muss, damit wir uns veranlasst sehen, sämtliche Wissensansprüche aufzugeben, wenn wir nicht ausschließen kön­ nen, dass wir träumen oder halluzinieren. Erweist sich diese Vorannahme als unhaltbar, so verliere das cartesianische Projekt deutlich an destruktiver Kraft.195 Wo wird allerdings der Hebel angesetzt? Was ist die Angriffsflä­ che, die die moderne Skepsis bietet? Diese Frage lässt sich anhand von vier zentralen Konzepten des cartesianischen Projekts beantworten: „Assessment, totality, detachment, objectivity.“196 Damit schließt sich Williams Stroud an, der in seinem einflussreichen Buch „The Significance of Philosophical Scepticism“ das cartesianische Projekt so charakterisiert: „The traditional Cartesian examination aims at an assessment of all our knowledge of the world all at once, and it takes the form of a judgment on that knowledge made from what looks like a detached ‚external‘ position.“197 Diesen vier Konzepten (Bewertung, Totalität, Loslösung, Objektivität) widmen sich folgende Gedanken.198

194  Williams (1991), S. 119: „To adopt contextualism, however, is not just to hold that the epistemic status of a given proposition is liable to shift with situational, disciplinary and other contexually variable factors: it is to hold that, independently of all such influences, a proposition has no epistemic status whatsoever.“ Vgl. Seide (2011), S. 124. 195  Vgl. Seide (2011), S. 128 f. 196  Williams (1991), S. 22: „All four elements in the traditional epistemological project will be recognizable to anyone who has been concerned with scepticism.“ 197  Stroud (1984), Kap. 6 („Naturalized Epistemology“), S. 209 ff. hierzu: S. 209; vgl. Williams (1991), S. 22. 198  Für eine ausführliche Auseinandersetzung siehe Seide (2011), S. 113.

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Teil 4: Auf der Suche nach einer Rechtfertigungstheorie

2. Die Bewertung all unseres Wissens auf einmal Die Infragestellung der Gesamtheit unseres Wissens stellt nach Williams eine charakteristische und totalitäre Bedingung (totality condition) für eine skeptische bzw. erkenntnistheoretische Untersuchung von Seiten des carte­ sianischen Projekts dar. Denn der Skeptiker interessiert sich nicht für ein­ zelne Wissenszuschreibungen, ob wir beispielsweise wissen, dass A seine Frau B umgebracht habe, sondern für sämtliche Wissensansprüche auf einmal.199 Und ausgerechnet im Rahmen des cartesianischen Projekts kommt unserer Sinneswahrnehmung eine zentrale Funktion zu:200 „Alles nämlich, was ich bisher am ehesten für wahr gehalten habe, verdanke ich den Sinnen oder der Vermittlung der Sinne.“201 Dem Zweifeln an der Verlässlichkeit der Sinne, etwa durch die Möglichkeit eines Traums oder sonst welcher zu weit hergeholten Hypothese, wird eine tiefgreifende Skepsis bezüglich des durch die Sinne gewonnenen Wissens gleichgesetzt. Dieser Schlussfolgerung aus basalen Sinneseindrücken auf andere Meinungsarten, die uns erst einmal ermöglicht, das Wissen als eigenständige Kategorie unserer Untersuchungen zu machen, liegt nun der ER zugrunde. Williams bestreitet mit Nachdruck, dass Wissen als eigenständige Kate­ gorie sich für eine sinnvolle Untersuchung anbietet. Zum einen sei es äu­ ßerst schwer zu leugnen, dass wir nicht eine einzige Sicht der Welt, sondern endlos viele haben.202 Die Ansicht zum anderen, dass alle unsere Meinungen auf unsere Sinne zurückgeführt werden, hält Williams für genauso wenig spektakulär wie die These, dass Diamanten aus Südafrika importiert wer­ den.203 Uns interessiert nicht die Ursache (condicio sine qua non), sondern der Grund (condicio per quam) für unsere Wahrnehmung. Interessanter als die „Quid-facti“- ist die „Quid-juris“-Frage, nämlich die Klärung dessen, was uns berechtigt, irgendetwas zu glauben. Auch aus diesem Grund hält Williams den Gesamtheitsanspruch des cartesianischen Projekts für proble­ matisch. Anknüpfend an Wittgenstein erklärt Williams, dass unser Untersu­ chungsobjekt immer eine Funktion dessen darstellt, was wir im Rahmen derselben Untersuchung nicht in Frage stellen.204 Diesen rudimentären Charakter unserer Untersuchungen hat Wittgenstein mithilfe eines suggesti­ ven Beispiels zum Ausdruck gebracht: 199  Williams

(1991), S. 23; vgl. Seide S. 119. dazu bei Seide (2011), S. 115 ff. 201  Descartes (2004), S. 31 f. 202  Williams (1991), S. 104. 203  Williams, Problems, S. 168. 204  Williams, Problems, S. 160: „What we are looking into is a function of what we are leaving alone.“ 200  Ausf.



G. Inferentieller Kontextualismus211 „Wenn ich Einen im Schach matt zu setzen suche, kann ich nicht zweifeln, ob die Figuren nicht etwa von selbst ihre Stellungen wechseln und zugleich mein Ge­ dächtnis mir einen Streich spielt, daß ich’s nicht merke.“ (ÜG 346)

Was nun für Schachspieler gilt, wird mutatis mutandis auf philosophische oder empirische Untersuchungen angewendet. Jedes Mal brauchen wir eini­ ge näher zu präzisierende Angeln, damit wir überhaupt die Möglichkeit haben können, sinnvolle Fragen zu stellen. Der mögliche Vorwurf, dass diese Angeln einen Diskurs begrenzen, vermag, so wenig zu überraschen bzw. uns zu beunruhigen, wie die Aussage, dass das Flussbett den Fluss einschränke und nicht zusammenhalte. „D. h. die Fragen, die wir stellen, und unsre Zweifel beruhen darauf, daß gewisse Sätze vom Zweifel ausgenommen sind, gleichsam die Angeln, in welchen jene sich bewegen.“ (ÜG 341)

Diese These kommt mehrmals in „Über Gewißheit“ vor; betont wird, dass es uns nicht gelingen würde, irgendetwas bezweifeln zu können, wenn wir alles auf einmal bezweifeln möchten: „Wer an allem zweifeln wollte, der würde auch nicht bis zum Zweifel kommen. Das Spiel des Zweifelns selbst setzt schon die Gewißheit voraus.“ (ÜG 115) „Jedes einzelne dieser Fakten könnten wir bezweifeln, aber alle können wir nicht bezweifeln.“ (ÜG 232)

Dennoch heißt das nicht, dass es sich dabei um unabänderliche Wahrheiten handelt, die überhaupt nicht bezweifelt werden können oder dürfen, sondern um einen variierbaren Nexus von Überzeugungen, der uns zu einer geziel­ ten Untersuchung verhilft.205 Was jeweils als Angel und was als Variable bei einem Sprachspiel angesehen wird, ist interessens- und somit kontext­ abhängig. 3. Der losgelöste Standpunkt Der Skeptiker fordert uns auf, die Welt und unser Wissen von einem losgelösten Standpunkt aus zu betrachten. Er zieht die Alternative in Be­ tracht, ob wir tatsächlich wissen, dass wir z. B. zwei Hände haben oder ob der Angeklagte einer globalen Verschwörung zum Opfer gefallen sei. Für eine Entgegnung darauf müssten wir alle unsere gewöhnlichen Meinungen über die Welt beiseiteschieben.206 Das wäre jedoch ein Schritt ins Leere. 205  Siehe ÜG 225: „Das, woran ich festhalte, ist nicht ein Satz, sondern ein Nest von Sätzen.“ 206  Williams (1988), S. 426; dazu Seide (2011), S. 124. Vgl. Nagel (1986), S. 119: „Wir haben aus uns herauszutreten und die Welt unabhängig von einem Standpunkt, der in ihr liegt, zu begreifen. Da es freilich unmöglich ist, seine Eigensperspektive restlos zu verlassen, ohne aufzuhören zu sein, sollten wir dem Veranschaulichungs­

212

Teil 4: Auf der Suche nach einer Rechtfertigungstheorie

Man verbessert einen Diskurs nicht, indem man alles auf einmal in Zweifel zieht, sondern verlässt ihn.207 Das Hochschrauben der Rechtfertigungsstan­ dards bis zum Maximum macht nicht nur das Ergebnis einer Untersuchung, sondern macht sie selbst zunichte.208 Die Menge der vom Zweifel ausge­ schlossenen Annahmen bezeichnet Williams als pragmatische Notwendig­ keiten (practical limitations), die nicht nur den inferentiellen Kontext be­ stimmen, sondern uns erst einmal die Möglichkeit einer Untersuchung schlechthin bieten.209 Ein Blick von einem losgelösten Standpunkt wäre nicht ein besserer (weil: objektiver) Blick, sondern ein Blick von Nirgend­ wo. Der Skeptiker glaubt etwas Radikales über unser Wissenskonzept ent­ deckt zu haben: dass es überhaupt nichts begründet werden kann. Wir können aber davon ausgehen, dass der Skeptiker sich eigentlich im mentalen Rauschzustand befindet. Seine generischen Zweifel führen zu einem Verlust des Untersuchungsobjekts. Alles, was der Skeptiker behauptet, kann nicht als intelligibel bezeichnet werden, es sei denn, wir lassen es zu – etwa in einem erkenntnistheoretischen Kontext. Dies betont Wittgenstein in seinem berühmt gewordenen Garten-Beispiel: „Ich sitze mit einem Philosophen im Garten; er sagt zu wiederholten Malen ‚Ich weiß, daß das ein Baum ist‘, wobei er auf einen Baum in unsrer Nähe zeigt. Ein Dritter kommt daher und hört das, und ich sage ihm: ‚Dieser Mensch ist nicht verrückt: Wir philosophieren nur‘.“ (ÜG 467)

Damit meint Wittgenstein, dass man nicht höhere bzw. anspruchsvollere Anforderungen an einen Diskurs stellt, wenn man alles bezweifelt. Wir er­ leiden hingegen einen communication breakdown, weil wir uns nicht sicher sein können, ob wir den Skeptiker überhaupt sprachlich verstehen (siehe auch ÜG 526–530): „Kannst du dich darin irren, daß diese Farbe auf Deutsch ‚grün‘ heißt? Meine Antwort darauf kann nur ‚Nein‘ sein. Sagte ich ‚Ja, – denn eine Verblendung ist immer möglich‘, so hieße das gar nichts.“ (ÜG 624)

4. Die condicio humana Wittgensteins Wir können, so merkt Wittgenstein (ÜG 317) an, die Grenzen unserer Gemeinschaft keineswegs verlassen, um die Welt von einem objektiven mittel des Aus-sich-Heraustretens eher eine andere Deutung zukommen lassen: wir haben uns immer weniger auf gewisse individuelle Momente unserer Eigenperspek­ tive und in zunehmendem Maße auf etwas anderes, etwas weniger Individuelles zu stützen, das gleichermaßen ein Teil von uns ist.“ 207  Williams (1988), S. 426: „After all, detachment cannot be a step into the void.“ 208  So Seide (2011), S. 126. 209  Williams (1988), S. 427.



G. Inferentieller Kontextualismus213

Punkt zu betrachten. Denn Wissen ist kein Ding, sondern vielmehr ein Pro­ zess, der sich nur durch dessen Dynamik manifestiert. Jeder Versuch, die Grenzen der Gemeinschaft zu überwinden, um Wissen von außen beobach­ ten zu können, verschiebt sie in Wahrheit nur.210 Wittgenstein stellt uns, so Gabriel, eine andere condicio humana vor, als diejenige Platons, wo man die Höhle Platons verlassen könne.211 Die Begriffe, über welche unsere Gemeinschaft verfügt, machen zugleich unseren Wissenshorizont aus. Wir können diesen Horizont zwar erweitern, aber wir können nie ins Jenseits gelangen. Auf die Endlichkeit unserer Sprachspiele und Konventionen, die nach Annis soziale Rechtfertigungsnormen (actual social practices) jedwe­ der Gruppe darstellen,212 verweist uns der inferentielle Kontextualismus. Die Versöhnung mit unserer Endlichkeit ist zugleich die Inkaufnahme der Tatsache, dass es keinen letzten Grund, kein fundamentum inconcussum gibt, auf welches wir uns verlassen könnten. Wittgenstein nimmt interessan­ terweise den Richter als Beispiel, um diese Versöhnung auszudrücken: (ÜG 607) „Der Richter könnte ja sagen: ‚Das ist die Wahrheit – soweit ein Mensch sie erkennen kann.‘ “213 Der Tatrichter braucht also trotz der Fal­ libilität seines Wissens nicht dem Skeptiker zuzustimmen. 5. „Im Anfang war die Tat“ Bei der Behauptung des Skeptikers, dass wir über kein sicheres Hand­ lungskriterium verfügen, weil wir niemals absolut sicher sein können, dass etwas der Fall ist, handelt es sich keineswegs um eine naturgemäß einleuch­ 210  Gabriel,

Skepsis, S. 120. Höhlengleichnis hat sich als Anlass zu vielen Missverständnissen erwie­ sen, da die umstrittene etymologische Analyse des Begriffs ‚Wahrheit‘ als ‚Unver­ borgenheit‘, darauf zurückzuführen sei. Neben den starken Einwänden gegen diese etymologischen Analyse (mehr dazu bei Gloy (2004)) hat Heidegger selbst sich von seiner These verabschiedet. Kurz vor seinem Tod hat er in einem Vortrag (Heide­ gger, 1969), S. 77 f.), eine Selbstkorrektur vorgenommen: „Die Frage nach der alet­ heia, nach der Unverborgenheit als solcher ist nicht die Frage nach der Wahrheit. Darum war es nicht sachgemäß und demzufolge irreführend, die Aletheia im Sinne der Lichtung Wahrheit zu nennen […] Der natürliche Begriff von Wahrheit meint nicht Unverborgenheit, auch nicht in der Philosophie der Griechen […] Auch die Behauptung von einem Wesenswandel der Wahrheit, d. h. von der Unverborgenheit zur Richtigkeit, ist nicht haltbar. Stattdessen ist zu sagen: Die Aletheia, als Lichtung von Anwesen und Gegenwärtigung im Denken und Sagen, gelangt sogleich in den Hinblick auf ‚ὁμοίωσις‘ und adaequatio, d. h. In den Hinblick auf Angleichung im Sinne der Übereinstimmung von Verstehen und Anwesenden.“ 212  Annis (1978). 213  Vgl. RGSt 15, 338: „Wer die Schranken des menschlichen Erkennens erfaßt hat, wird nie annehmen, daß er in dem Sinne zweifellos von der Existenz eines Vorgangs überzeugt sein dürfte, daß ein Irrtum absolut ausgeschlossen wäre.“ 211  Das

214

Teil 4: Auf der Suche nach einer Rechtfertigungstheorie

tende bzw. frei von Vorannahmen Aussage. Ganz im Gegenteil beruht jene These auf der Vorannahme, dass wir stets nach unseren (auf Gründen beru­ henden) Überzeugungen handeln sollen. Wittgenstein bestreitet dies zwar nicht; er betont allerdings im gleichen Atemzug, dass unser Wissen wiede­ rum von unseren praktischen Interessen und pragmatischen Gründen ab­ hängt. In diesem Sinne ist es zwar richtig, dass wir nach unserer Über­ zeugung handeln. Gleichzeitig trifft aber auch zu, dass die erforderliche Gewissheit, von welcher die Ausführung einer Handlung abhängt, mit handlungsgeleiteten, kontextuellen Faktoren variiert. Unsere Rechtferti­ gungsstruktur und die Alternativen (defeaters), die auszuschließen sind, richten sich nach unserem jeweiligen Ziel: „The objections one must meet and whether or not they are met are relative to certain goals.“214 Versteht man unsere epistemische Praxis als eine unendliche Aufgabe oder als idea­ len Diskurs, kontrapunktiert das Recht mit der Dringlichkeit eines Urteils. Der inferentielle Kontextualismus bringt demzufolge den finalistischen Charakter unserer epistemischen bzw. gerichtlichen Praxis zu Tage. Das Ergebnis eines Beweisprozesses ist aus den Prämissen (mit Notwen­ digkeit) nur dann abzuleiten, wenn wir deduktiv-logisch operieren. Der Grund dafür ist, dass die Prämissen schon den Schluss enthalten. Deduktivlogisches Schließen ist ja ein tautologisches Verfahren. Wenn wir hingegen induktiv-logisch operieren, sind wir nie berechtigt, von einer solchen Not­ wendigkeit zu sprechen. ‚Kein Problem!‘ würde Wittgenstein erwidern. „Im Anfang war die Tat“ (ÜG 402); damit wird nicht nur vom biblischen, son­ dern auch vom philosophischen Dogma Abstand genommen.215 Unsere epistemische Praxis und unsere Zielvorstellungen werden nach Wittgenstein nicht von einem bloßen theoretischen Interesse motiviert, sondern vielmehr von der Notwendigkeit des Handelns. Unsere Rede erhält erst durch unsere „übrigen Handlungen ihren Sinn“ (ÜG 229) und es sind kontextuelle Fak­ toren, die die Wechselbeziehung zwischen Gründen und Handlungen ermög­ lichen: „Die Begründung aber, die Rechtfertigung der Evidenz kommt zu einem Ende; – das Ende aber ist nicht, daß uns gewisse Sätze unmittelbar als wahr einleuchten, also eine Art Sehen unsrerseits, sondern unser Handeln, welches am Grunde des Sprachspiels liegt.“ (ÜG 204)

Der Skeptiker versteht den philosophischen Kontext als eine von prakti­ schen Zwängen befreite Form des alltäglichen Kontextes: ohne situations­ bezogene Interessen oder Überlegungen bezüglich verfügbarer Ressourcen etc.216 Dies erklärt uns ausgerechnet den radikalen, ja kategorischen Unter­ 214  Annis

(1978), S. 213. (2004), S. 6. 216  Seide (2011), S. 123 m. w. N. 215  Moyal-Sharrock



H. Die theoretische Diagnose der antiken Skepsis215

schied zwischen alltäglichen und philosophischen Untersuchungen. Die Vorannahme des losgelösten Standpunktes manifestiert die Unnatürlichkeit der skeptischen Zweifel und legt den Schluss nahe: „Dieser Zweifel gehört nicht zu den Zweifeln unsers Spiels.“ (ÜG 317)

6. Zwischenfazit Durch die Aufdeckung der theoretischen Vorannahmen des cartesianischen Projekts über eine gesamte Bewertung eines objektiven Wissens auf einmal und zwar von einem losgelösten Standpunkt aus gelingt es Williams, die Unnatürlichkeit der skeptischen Zweifel zu Tage zu fördern. Objektives Wissen (visio absoluta) ist vor allem deshalb ein Oxymoron, da es ein Standpunkt zu sein beansprucht, ohne einer zu sein. Wie bereits gezeigt es gibt keine standpunktlose epistemische Praxis, genauso wie es keine theo­ rieunabhängige Sprache geben kann. Diese objektive (weil vom Standpunkt losgelöste) Sicht der Dinge setzt ein tertium comparationis voraus, einen Gottesstandpunkt, der angeblich die Korrespondenz zwischen Aussage und Wirklichkeit zu garantieren vermag. Mit diesen Annahmen verlassen wir aber das wissenschaftliche und philosophische Sprachspiel, da wir in unse­ rer Begründung metaphysische Elemente einschließen, die eine rationale Argumentation nicht schultern darf. Dies wäre, so Wittgenstein, als ob man „vor dem Nichts stünde“ (ÜG 370).

H. Die theoretische Diagnose der antiken Skepsis Die theoretische Diagnose der skeptischen Paradoxie hat sich bislang nur auf die moderne Skepsis beschränkt. Die agrippinische Skepsis stellt, ohne auf skeptischen Szenarien zu basieren, die historisch erste Gefahrenquelle für unsere alltäglichen Wissenszuschreibungen dar. Angesichts der Tatsache, dass sich bisher keine der drei möglichen Strategien (1. das Begründungs­ verfahren willkürlich beenden 2. bis ins Unendliche gehen oder 3. in einen Zirkel landen) gegen die agrippinische Herausforderung als befriedigend erwiesen hat, gelangen wir zur Skepsis und sind gezwungen, unsere Wis­ sensansprüche aufzugeben. Der antike Skeptiker beansprucht, eine beunru­ higende Entdeckung gemacht zu haben: ein Gendefekt unseres Wissenskon­ zepts, der sich in dem Moment sichtbar macht, wenn wir unsere Meinung mit Gründen zu untermauern versuchen.

216

Teil 4: Auf der Suche nach einer Rechtfertigungstheorie

I. Die Voraussetzung des Prior Grounding Requirement Williams vertritt die Meinung, dass die Preisgabe sämtlicher Wissensan­ sprüche wegen der agrippinischen Herausforderung ein voreiliger Schluss wäre; er versucht, im Anschluss an Wittgenstein diejenigen Vorannahmen aufzudecken, auf welchen der argumentative Erfolg der antiken Skepsis be­ ruht. Seinen Ausgangspunkt bei dieser Diagnose bildet die auffallende Asym­ metrie zwischen Proponenten und Opponenten. Sieht man sich die Rechtfer­ tigungsstruktur des fiktiven Dialogs zwischen jemandem an, der Gründe an­ zugeben versucht, und jemandem, der – ohne selbst Gründe angeben zu müs­ sen – alles in Zweifel ziehen darf, so springt sofort ins Auge, dass die die epistemischen Rechte des Proponenten in krassem Widerspruch zu dessen epistemischen Pflichten stehen.217 Das heißt der epistemische Agent ist ver­ pflichtet, jedes Mal seine Überzeugung mit neuen Gründen zu versehen. Da der Proponent allerdings früher oder später seinen epistemischen Pflichten nicht befriedigend nachzukommen in der Lage sein wird, gelangt er zur Skepsis. Er hat also gar keine epistemischen Rechte. Dem Agrippas Trilem­ ma liegen, so Williams, stillschweigend zwei Vorannahmen zugrunde:218 a)  der Opponent darf jedes Mal einen Wissensanspruch in Frage stellen, und b)  ohne selbst Gründe anzugeben.

Ausgerechnet die Gültigkeit dieser zwei oben skizzierten Vorannahmen führt dazu, dass der jeweilige Proponent jede Überzeugung mit je neuen Gründen versehen muss. Ein Opponent ist dieser Argumentationsstruktur zu­ folge berechtigt, ständig alles zu bezweifeln, indem er bloß fragt „Woher weißt du das?“, „Wieso glaubst du das?“. Diese voraussetzungs- und schran­ kenlose Berechtigung nennt Williams „Prior Grounding Requirement“ (PGR).

II. Die Argumentatiosstruktur als ‚loaded dice‘ Williams zeigt, dass die oben gezeichnete steile Asymmetrie zwischen epistemischen Rechten und Pflichten des Proponenten (claimant) auf einer anderen, spiegelverkehrten und ebenfalls steilen Asymmetrie basiere: dieje­ nige zwischen den epistemischen Rechten und Pflichten des Opponenten (challenger). „The Prior Grounding Requirement [PGR] generates a vicious regress of justification by enforcing a gross asymmetry in the justificational responsibilities of claimants and challengers.“219 Der Opponent ist demnach immer berechtigt, eine Aussage A1 in Frage zu stellen, indem er unbegrün­ 217  Williams,

Problems, S. 151. Problems, S. 147 ff.; vgl. Seide (2011), S. 130 f. 219  Williams, Problems, S. 151. 218  Williams,



H. Die theoretische Diagnose der antiken Skepsis217

dete bzw. bloße Einsprüche (naked challenges“) einlegt. Die Angabe von Gründen seitens eines Proponenten löst automatisch die Frage: „Warum glaubst du das?“ aus. Schematisch dargestellt: – – – – – – – – – – – – –

A1 Das bezweifle ich. Woher weißt du das? Wi Das bezweifle ich. Woher weißt du das? Wi – 1 Das bezweifle ich. Woher weißt du das? Wi – 2 Das bezweifle ich. Woher weißt du das? Wi – 3 Das bezweifle ich. Woher weißt du das? Wi – … Das bezweifle ich. Woher weißt du das? Ich weiß es nicht. Daher muss ich meinen Wissensanspruch aufgeben.

Daraus ergibt sich der Schluss, dass durch die wiederholte Infragestellung einer Meinung selbst ein bestens informierter Proponent in eine epistemi­ sche Sackgasse gelangt, sodass der Opponent immer gewinnt bzw. gewinnen muss. Der Proponent lässt sich auf ein Sprachspiel ein, in welchem er gar keine Chance hat, seine Überzeugung hinreichend zu begründen. Der Grund dafür liegt an der Struktur des Sprachspiels, nämlich an den Regeln, nach denen wir das Sprachspiel der Begründung regelkonform spielen. Die Re­ geln des Sprachspiels der Begründung sind bei Agrippa so gestaltet, dass die Rede eher von einem manipulierten Würfel (loaded dice) als von einem fairen Sprachspiel sein kann.

III. Der antike Skeptiker als kleines Kind Williams führt aus, dass die epistemischen Rechte, die inflationär dem jeweiligen Opponenten eingeräumt werden (PGR), die entscheidende theo­ retische Vorannahme des antiken Skeptizismus ausmachen. Gerade deswe­ gen habe es sich als unmöglich erwiesen, dem Trilemma Agrippas zu ent­ gehen. Das Problem lag tiefer als unsere scheinbare Unfähigkeit, eine je­ weilige Aussage mit guten Gründen zu versehen. Sobald wir uns von dem PGR befreien, muss allerdings auch der jeweilige Opponent Gründe ange­ ben, um einen Wissensanspruch hinterfragen zu können. „Naked challenges“ können nicht ins Sprachspiel eingeführt werden und der Skeptiker genießt diese im Prinzip prozessuale Asymmetrie nicht mehr.220 Die Frage „Woher 220  Williams, Problems, S. 150: „If we reject the Prior Grounding Requirement, however, the sceptic loses this right. Entitlement to enter a challenge must itself be

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Teil 4: Auf der Suche nach einer Rechtfertigungstheorie

weißt du das?“ wird irgendwann mit den Fragen „Was meinst du?“ oder „Wie hast du das dir vorgestellt?“ entkräftet. Williams schließt sich damit Wittgenstein an, der in aller Deutlichkeit den agrippinischen Skeptiker als „Kind“ bezeichnet hat – ein Kind, das uns irritierenderweise zwecklose Fragen stellt. Wittgenstein führt eines seiner suggestiven Beispiele an, um zeigen zu können, dass das ständige Hinterfragen, ohne dabei Gründe anzu­ geben, in einem Sprachspiel unzulässig ist: „Ein Schüler und ein Lehrer. Der Schüler läßt sich nichts erklären, denn er unter­ bricht (den Lehrer) fortwährend mit Zweifeln, z. B. an der Existenz der Dinge, der Bedeutung der Wörter, etc. Der Lehrer sagt: ‚Unterbrich nicht mehr und tu, was ich dir sage; deine Zweifel haben jetzt noch gar keinen Sinn.‘ “ (ÜG 310)

Dem Lehrer des o. g. Beispiels ist Recht zu geben, weil er empfindet, dass es sich bei den Fragen seines Schülers um keine berechtigten Fragen handele (vgl. ÜG 315). Ein Opponent darf nur dann eine Meinung bezwei­ feln, wenn er bestimmte Gründe anzugeben in der Lage ist. Nach Wittgenstein ist von entscheidender Bedeutung für ein Sprachspiel, dass von einem Opponenten eine Argumentationslast geschultert werden soll. Nur ein mit Gründen untermauerter Zweifel darf ins Sprachspiel eingeführt werden.221 Der Skeptiker führt also unzulässige Fragen (Zweifel) ins Sprachspiel ein, die keine sinnvollen epistemischen Züge innerhalb einer Praxis, sondern (jedenfalls bei Erwachsenen) einen Fall geistiger Gestörtheit darstellen (ÜG 72–74).222 Seine epistemischen Züge dienen nicht unserer oder irgendeiner Untersuchung, sondern entfalten bloß eine desktruktive Wirkung. Wittgen­ stein macht uns darauf aufmerksam, dass wir nicht nur „alles Urteilen“ (ÜG 494), sondern vielmehr jedwede Kommunikationsmöglichkeit aufgeben müssen, wenn wir blindlings und auf einmal alles hinterfragen.223 „Zum Zweifeln braucht man Gründe“ (ÜG 122, paraphrasiert). Darin besteht auch der zentrale Gesichtspunkt der theoretischen Diagnose Williams, der das earned by finding specific reasons for questioning either the truth of the target belief or the claimant’s entitlement to hold it, which means that naked challenges are out of order.“ 221  Siehe ÜG 458: „Man zweifelt aus bestimmten Gründen. Es handelt sich darum: Wie wird der Zweifel ins Sprachspiel eingeführt?“ Siehe auch ÜG 459: „Wenn der Kaufmann jeden seiner Äpfel ohne Grund untersuchen wollte, um da recht sicherzu­ gehen, warum muß er (dann) nicht die Untersuchung untersuchen? Und kann man nun hier von Glauben reden (ich meine, im Sinne von religiösem Glauben, nicht von Ver­ mutung)? Alle psychologischen Wörter führen hier nur von der Hauptsache ab.“ 222  Vgl. Kober (1993), S. 148. 223  Treffend dazu Stübinger (2008), S. 522: „Die Nichtsnutzigkeit einer lediglich vagen und allgemeinen Skepsis verdient indes nicht einmal den Namen eines echten Zweifels. Eine ganz unbestimmte Negierung einer subjektiv verspürten Gewissheit ist demnach kein prouktiver Zweifel, weil er keine bestimmbare Alternative anbieten kann.“



H. Die theoretische Diagnose der antiken Skepsis219

PGR für unzulässig erklärt. Der skeptischen Herausforderung kann man also folgendermaßen mit Hilfe seiner ‚Default and Challenge‘ Strategie entgegnen:224 – – – – – – – – – – – –

A1 Das bezweifle ich. Woher weißt du das? Wi Das bezweifle ich. Woher weißt du das? Wi – 1 Das bezweifle ich. Woher weißt du das? Wi – 2 Das bezweifle ich. Woher weißt du das? Wi – 3 Das bezweifle ich. Woher weißt du das? W-i… Was meinst du damit? Gib mir die Gründe zum Zweifeln an.225

Indem wir den jeweiligen Opponenten verpflichten, nicht nur bloße Ein­ sprüche einzulegen, sondern erst dann eine Aussage zu bezweifeln, wenn er auch Gründe angeben kann, strukturieren wir das Sprachspiel der Begrün­ dung um. Durch die Erweiterung der Argumentationsstruktur um die letzte Prämisse (d. i. das Recht, einen unbegründeten Zweifel außer Acht zu las­ sen) entsteht eine (gerechtere) Symmetrie zwischen Proponenten und Oppo­ nenten, zwischen epistemischen Rechten und Pflichten der jeweiligen Dis­ kursteilnehmer (ÜG 438). Die Infragestellung einer Wissensbehauptung seitens des Opponenten obliegt einer Argumentationslast, die geschultert werden soll, damit ins Sprachspiel Zweifel eingeführt werden dürfen.

IV. Das „Weltbild“ als rechtfertigungsstiftender Faktor Sieht man sich die Rechtfertigungsstruktur des modifizierten Sprachspiels an, so drängt sich die Frage auf, wie weit diese Struktur reichen darf, näm­ lich was für Wissensbehauptungen der Opponent zulässigerweise (d. i. mit Gründen) in Frage stellen darf. Denn einer der Gründe, aus denen der SK keine befriedigende Diagnose des Skeptizismus liefert, war die These, dass der Skeptiker eigentlich das Thema wechselt, wenn er das Rechtfertigungs­ niveau bis zum Maximum erhöht. Diesen Gesichtspunkt diskutiert Wittgen­ stein besonders lebhaft an mehreren Stellen: 224  Williams,

Problems, S. 153–157. 24: „[…] Wer aber so fragt, der übersieht, daß der Zweifel an einer Existenz nur in einem Sprachspiel wirkt. Daß man also erst fragen müsse: Wie sähe so ein Zweifel aus? und es nicht so ohne weiteres versteht.“ 225  ÜG

220

Teil 4: Auf der Suche nach einer Rechtfertigungstheorie

„Ein Grund läßt sich nur innerhalb eines Spiels angeben. Die Kette der Gründe kommt zu einem Ende und zwar an der Grenze des Spiels.“ (PG S. 97) „Es gibt freilich Rechtfertigung; aber die Rechtfertigung hat ein Ende.“ (ÜG 192) „Die Begründung aber, die Rechtfertigung der Evidenz kommt zu einem Ende.“ (ÜG 204 – vgl. ÜG 85, 110, 164, 192, 204, 563)

Von welchem „Ende“ sprechen wir allerdings? Wäre das nicht eine Spiel­ art des Fundamentalismus und demzufolge ein willkürlicher Abbruch des Rechtfertigungsverfahrens? Wittgenstein bestreitet dies.

V. „Gewissheiten“ als Angeln des inferentiellen Kontexts Nach Wittgenstein kommt der Rechtfertigungsprozess zu einem Ende, indem ein Proponent auf ein bestimmtes Weltbild rekurriert (vgl. ÜG 167). Das ist der Fall, wenn er Gründe angibt, die sich an der Grenze des Sprach­ spiels befinden. Diese Art von Gründen stellen für Wittgenstein „Gewiss­ heiten“ (G) dar, aus welchen ein gewisses Weltbild besteht.226 So suggestiv der Begriff des Weltbilds sein mag, sollte man vorsichtig damit umgehen. Kober führt aus, dass ein Weltbild aus einem Konglomerat unterschiedlicher Praktiken oder Sprachspiele besteht, die ineinander übergreifen und sich kreuzen.227 Die Proposition: „Die Erde ist rund“ ist ein gutes Beispiel des Weltbilds der Moderne genauso wie die Proposition „Die Erde ist flach“ einen Teil des mittelalterlichen Weltbilds ausmachte. Die Kette der Gründe gelangt demzufolge an ein Ende bei G, das für eine normative Kraft entfal­ tende epistemische Gewissheit steht.228 Ü ← Wi ← Wi – 1 ← Wi – 2 ← Wi – 3 ← Wi  – 4 ← G

Das Besondere daran ist, dass solche Gewissheiten wie z. B. „Ich habe zwei Hände“, „Ich habe zwei Eltern“ oder „die Erde ist rund“ innerhalb eines Sprachspiels und damit eines alltäglichen (nicht-philosophischen Kon­ texts) weder einer Rechtfertigung bedürfen noch in Zweifel gezogen werden können. An Gewissheiten innerhalb eines Sprachspiels zu zweifeln stellt einen unzulässigen epistemischen Zug dar. Das Bezweifeln dieser Gewiss­ heiten erhöht nicht die Rechtfertigungsstandards, sondern führt ins diskur­ sive Aus (ÜG 72–76). Der Grund dafür ist, dass es sich bei diesen Gewiss­ heiten um die Angeln des Sprachspiels und damit um die Voraussetzungen sinnvoller Kommunikation handelt. Jeder, der diese Angeln bestreitet, macht Kober (1993). (1993), S. 150–153. 228  Kober (1993), S. 140. 226  Dazu

227  Kober



H. Die theoretische Diagnose der antiken Skepsis221

eine Debatte nicht besser bzw. anspruchsvoller, sondern verlässt sie. Man wechselt das Thema. Denn die o. g. Gewissheiten konstituieren das Spiel. Erst mithilfe solcher Gweißheiten sind wir imstande, zwischen begründeten und unbegründeten Aussagen überhaupt zu differenzieren. „D. h. es gehört zur Logik unsrer wissenschaftlichen Untersuchungen, daß Gewis­ ses in der Tat nicht angezweifelt wird.“ (ÜG 342) „Es ist aber damit nicht so, daß wir eben nicht alles untersuchen können und uns daher notgedrungen mit der Annahme zufriedenstellen müssen. Wenn ich will, daß die Türe sich drehe, müssen die Angeln feststehen.“ (ÜG 343)

Wittgenstein geht in den §§ ÜG 341–343 der Mechanik eines Diskurses nach und erklärt, dass genauso wie eine Tür sich erst aufgrund der Angeln drehen kann, auch ein Sprachspiel epistemische Normen (Gewissheiten) erfordert. Es seien gerade diese epistemischen Normen (Gewissheiten), die einen tragfähigen Diskurs kreieren.229 Die einen inferentiellen Kontext kons­tituierenden epistemischen Gewissheiten sind Rationalitätskriterien, auf die Wissensbehauptungen zurückgeführt und die als wahr oder nicht wahr betrachtet werden. Folgende Wissensbehauptung einer Zeugin: „Mein Ehe­ mann hat mir meinen Unterarm gebrochen“ mag zutreffen oder nicht. Vo­ rausgesetzt wird jedenfalls, dass Menschen Hände haben, dass Knochen durch Druck von außen quer verlaufend brechen, dass Knochenbrüche heilen können etc. Fängt etwa der Verteidiger des Ehemanns an zu bezweifeln, ob wir das alles wissen, dann werden die epistemischen Gewissheiten (Angeln) des inferentiellen Kontextes des Strafverfahrens thematisiert; damit wird der inferentielle Kontext gewechselt, indem diese Angeln in den Vordergrund gerückt werden. Denn dabei handelt es sich um einen unzulässigen Zug im Rahmen jenes Sprachspiels (= IK), wenn epistemischen Normen, aus wel­ chen unser Weltbild besteht, bezweifelt werden. Das Wort Weltbild „dient insofern einer Beschreibung des beobachtbaren Phänomens, dass Menschen einer Kultur Überzeugungen teilen, die sie selbst nicht weiter überprüft haben, die ihnen aber (gleichsam zur Beruhi­ gung) andere Tätigkeiten, Berichte, Diskurse etc. verständlich machen.“230 Eine zweidimensionale Landkarte wird uns demzufolge nicht fremd erschei­ nen, obwohl ‚normale‘ Menschen die Ansicht teilen, dass die Erde kugel­ förmig ist. Keiner von uns hat dies selbst überprüft, so wie keiner von uns 229  Ausführlich dazu Kober (1997), insb. auf S. 367: „Evidently, the constitutive rules of a game cannot be discussed within the very game they constitute, since calling in question a constitutive rule of a game is definitely not a move within that game. It would be absurd if the competitors in the finals of the world chess cham­ pionship engaged during a game in a discussion of whether or not the rule of cast­ ling should be accepted; this may happen, but it would not be part of the game.“ 230  Kober (1993), S. 153.

222

Teil 4: Auf der Suche nach einer Rechtfertigungstheorie

einen Schädel geöffnet hat, um prüfen zu können, ob darin ein Gehirn steckt (ÜG 4, 118, 207). Trotzdem gehen wir in unserer täglichen epistemi­ schen Praxis davon aus, und zwar ohne uns diese Angeln zu vergegenwär­ tigen. Dass jeder Mensch ein Gehirn hat, „haben wir als Kinder gelernt“ (ÜG 621). Diese Informationen sind extern für normale epistemische Agen­ ten – sie sind ihnen kognitiv nicht zugänglich – aber intern für unsere Gemeinschaft. Das heißt wir sind nicht nur als Kinder, sondern auch und mehr noch als Erwachsene auf Informationen und Wissen anderer angewiesen. Die Tatsa­ che, dass die sog. Gewissheiten (die uns erst einmal ermöglichen, sinntra­ gende Diskussionen und Untersuchungen durchzuführen, ohne etwa unsere eigene oder die Existenz unserer Apparate beweisen zu müssen) im Rahmen eines jeweiligen Sprachspiels nicht in Zweifel gezogen werden dürfen, heißt noch lange nicht dass sie überhaupt nicht bezweifelt werden können. Epis­ temisch privilegierten Aussagen wird die Funktion eines Axioms und nicht einer offenbarten, unabänderlichen und nicht zu hinterfragenden Wahrheit zugewiesen. Was in einem inferentiellen Kontext als epistemisch privilegiert angesehen wird, wird in einem anderen selbst untersucht. Epistemische Privilegierung ist keine feste Eigenschaft von Aussagen oder gar Rechtfer­ tigungsstrukturen, sondern eine Komponente, deren Modifizierung in unserer Macht liegt.

VI. Ein Pyrrhussieg? Die Wittgensteinsche Perspektive berechtigt uns, den allumfassenden und die Möglichkeit sämtlicher Wissensansprüche in Frage stellenden Skeptizis­ mus zu durchbrechen, indem wir ihn kontextualisieren und entschärfen, ohne ihn aber ganz zu leugnen.231 Dementsprechend handelt es sich dabei um eine Einschränkung und nicht Widerlegung des Skeptizismus. Dies ver­ mag uns zu erklären, weshalb wir das Gefühl nicht loswerden konnten, dass ein Anwalt etwas Unsinniges sagt, wenn er einen Wissensanspruch mit dem bloßen Hinweis zurückweist, der Zeuge könne die Alternative einer globa­ len Täuschung nicht ausschließen und derselbe Anwalt etwa in einem er­ kenntnistheoretischen Seminar ebenso etwas Unsinniges sagt, wenn er be­ hauptet, man könne doch die Alternative einer globalen Täuschung aus­ schließen.232 Man fragt sich, was das Unterscheidungskriterium zwischen dem Inferen­ tiellen Kontextualismus und dem (klassischen) Fundamentalismus ist. Denn 231  So

Grundmann (2008), S. 329. Kontext, 163.

232  Willaschek,



H. Die theoretische Diagnose der antiken Skepsis223

es ist nur ein kleiner Schritt vom IK, der als gezähmter Fundamentalismus bezeichnet werden darf, bis zur Preisgabe der These, dass es tatsächlich gar keine festen Fundamente für unsere Erkenntnis und unsere Rechtfertigungs­ strukturen gebe. Wittgenstein erkennt diese Gefahr und konstatiert an meh­ reren Stellen, dass Sprachspiele einem ununterbrochenen kulturellen Wandel unterworfen sind. „Wenn sich die Sprachspiele ändern, ändern sich die Begriffe, und mit den Be­ griffen die Bedeutungen der Wörter.“ (ÜG 65) „Du mußt bedenken, daß das Sprachspiel sozusagen etwas Unvorhersehbares ist. Ich meine: Es ist nicht begründet. Nicht vernünftig (oder unvernünftig). Es steht da – wie unser Leben.“ (ÜG 559) „Und der Begriff des Wissens ist mit dem des Sprachspiels verkoppelt.“ (ÜG 560)

Eines der von Wittgenstein am häufigsten verwendeten Beispiele ist das­ jenige der Mondlandung.233 Die Aussage: „Jemand ist auf dem Mond gewe­ sen“ konnte damals weder als wahr noch als falsch betrachtet werden, weil sie, so Wittgenstein, unseren Grundanschauungen widersprach. Die Aussage, dass keiner auf dem Mond gewesen sein kann, war in Zeiten Wittgensteins eine der epistemischen Gewissheiten, die man weder in Zweifel ziehen noch sinnvollererweise behaupten konnte. Doch innerhalb weniger Jahrzehnte hat sich das geändert! Wittgenstein parallelisiert auf eine besonders suggestive Weise die epistemischen Gewissheiten mit dem Flussbett und betont, dass selbst (ÜG 97) „das Flußbett der Gedanken sich verschieben kann“. „Ja, das Ufer jenes Flusses besteht zum Teil aus hartem Gestein, das keiner oder einer unmerkbaren Änderung unterliegt, und teils aus Sand, der bald hier, bald dort weg und angeschwemmt wird.“ (ÜG 99)

Damit wird der historische Wandel als Veränderung eines Sprachspiels uminterpretiert, womit unser Wissen bzw. unsere Wissenszuschreibungen verkoppelt sind. Dabei handelt es sich allerdings nicht um einen vermeint­ lich frustrierenden Fallibilismus, sondern um die Kategorie des Erkenntnis­ fortschritts. Letzterer wird erst dadurch ermöglicht, dass epistemische Agenten anhand epistemischer Normen (Gewissheiten), die selbstverständ­ lich historischem Wandel unterliegen, operieren können, um Wissen zu- und absprechen zu können. Die Tatsache, dass die Angeln eines Sprachspiels die Rolle der Fundamente unserer epistemischen Praxis spielen, heißt nicht, dass sie als unerschütterliche Fundamente (unabänderliche Wahrheiten) an­ gesehen werden dürfen.234 Wittgenstein modifiziert damit den Bauplan des sog. Fundhärentismus (vgl. Abschn. C.III.). Er erklärt, dass Gewissheiten (epistemische Normen) 233  Vgl.

ÜG 106, 171, 226, 238, 264–269, 286, 327, 332, 337–8, 661 f. dazu Moyal-Sharock (2004), Kap. 4–7.

234  Monographisch

224

Teil 4: Auf der Suche nach einer Rechtfertigungstheorie

propositionale Aussagen rechtfertigen können und zwar ohne selbst eine propositionale Struktur zu besitzen. Für eine Gewissheit gilt ebenfalls: „Sie ist kein Etwas, aber auch nicht ein Nichts! Das Ergebnis war nur, daß ein Nichts die gleichen Dienste täte wie ein Etwas, worüber sich nichts aussagen läßt. Wir verwarfen nur die Grammatik, die sich uns hier aufdrängen will.“ (PU 304)

Unter „Grammatik“ ist hier just die Komponente einer „erkenntnistheore­ tischen Priorität“ zu verstehen, von welcher vorher die Rede war, und die beiden Strategien gegen den antiken Skeptizismus zugrunde liegt. MoyalSharock führt diesbezüglich aus:235 „What Wittgenstein is doing is correc­ ting that picture. He is not saying that the picture is all wrong; but that its depiction of basic beliefs is wrong. He therefore retains the traditional structural metaphors (foundation and coherence) and replaces the basic structural components with nonpropositional items.“ Im 1. Teil dieser Arbeit wurde allerdings betont, dass zwischen Propositionen mit propositionaler Struktur und Objekten oder Aussagen ohne propositionale Struktur gar kei­ ne inferentielle Verbindung bestehen kann. Das wäre auch hier der Fall gewesen, wenn ‚Gewissheiten‘ epistemischer Natur wären. Das sind sie aber nicht. Sie sind epistemische Normen, die das jeweilige Sprachspiel konstituieren und uns das Urteilen über Aussagen epistemischer Natur er­ möglichen. Ihr normativer Charakter verleiht ihnen die Eigenschaft, als Regress-Stoppers fungieren zu können. „Die Sätze, die dies Weltbild beschreiben, könnten zu einer Art Mythologie gehö­ ren. Und ihre Rolle ist ähnlich der von Spielregeln, und das Spiel kann man auch rein praktisch, ohne ausgesprochene Regeln lernen.“ (ÜG 95)

Die Rechtfertigung hat also ein Ende (vgl. ÜG 192). Und dieses Ende ist nicht eine unabänderliche Eigenschaft der Welt, sondern ein funktional zu bestimmende Angel-Proposition. Man braucht manches vorm Zweifel zu schützen, um „experimentieren zu können“ (ÜG 337), nämlich um einen Erkenntnisfortschritt anzustreben. Was nun in einem Fall als unzulässiger Zweifel angesehen wird, wird in einem anderen Fall doch bezweifelt. Be­ trachten wir das Gerichtssaal-Beispiel Wittgensteins näher: „Das Verfahren in einem Gerichtssaal beruht darauf, daß Umstände Aussagen eine gewisse Wahrhscheinlichkeit geben. Die Aussage z. B., jemand sei ohne Eltern auf die Welt gekommen, würde dort nie in Erwägung gezogen werden.“ (ÜG 335) „In einem Gerichtssaal würde die Aussage eines Physikers, daß Wasser bei ca. 100 °C koche, unbedingt als Wahrheit angenommen.“ (ÜG 604 – vgl. ÜG 555, 567, 613)

235  Moyal-Sharock

(2004), S. 78.



H. Die theoretische Diagnose der antiken Skepsis225

VII. Die Default-and-Challenge Strategie Im Anschluss an das Konzept des inferentiellen Kontextualismus Witt­ gensteins stellt Williams sein Rechtfertigungsmodell auf, das er Default and Challenge nennt.236 Im Folgenden geht es mir um die Darstellung der we­ sentlichen Merkmale, insb. der (fünf) kontextbestimmenden Faktoren dieses Modells. Gezeigt wurde, dass die steile Asymmetrie zwischen den epistemi­ schen Rechten von Proponenten und Opponenten einen guten Grund dar­ stellt, die Prior-Grounding-Requirement-Strategie zu verwerfen – und damit den antiken (agrippischen) Skeptizismus zu entschärfen. Worin besteht al­ lerdings der propositionale Gehalt der hier zu plausibilisierenden alternati­ ven Strategie? Um das erklären zu können, muss zunächst die von Williams aufgegriffene Default-Logik zusammengefasst werden. 1. Rechtstheorie als Wiege der Default-Logik Es ist erwähnenswert, dass als Gründervater der Default-Logik H. L. A. Hart gilt, der 1949 mit seinem weichenstellenden Paper „The Ascription of Responsibility and Rights“ die Aufmerksamkeit der juristischen – und wie es sich erwiesen hat – der philosophischen und wissenschaftlichen Commu­ nity auf die Funktion der Konjunktion „unless“ (dt. es sei denn) gelenkt hat – ein Terminus, der übrigens in fast jeder natürlichen Sprache zu finden ist.237 Hart wies auf ein besonderes Merkmal juristischer Konzepte hin: die Funktion der „Defeater“, die die anfechtbare Struktur einer Aussage bzw. Norm sichtbar zu machen vermögen. Die geniale Einsicht H. L. A Harts, dass nämlich unsere „ordinary langua­ ge“ Konjunktionen enthält, die anfechtbare, d. i. widerlegliche Strukturen darstellen, hat der Logik, und vor allem der Künstliche-Intelligenzforschung wichtige Impulse gegeben, neue Wege für die Repräsentation menschlichen Wissens zu finden. Von der einschlägigen Literatur hierzu sei insbesondere das Paper Raymond Reiters „A Logic for Default Reasoning“ erwähnt.238 Reiter merkt an, dass wir unter Umständen berechtigt sind, von dem Regel­ fall auszugehen, ohne bejahen zu müssen, dass die Alternative nicht der Fall ist. Defaul-Logik239 formalisiert also das Ziehen von Schlüssen ohne Bele­ 236  Für frühere Ansätze der Form „Default and Challenge“ siehe Williams, Prob­ lems, S. 157, Anm. 2. 237  Hart (1949), S. 171–194. 238  Reiter (1980), S. 81 ff. 239  Man ist sowohl im Alltag als auch im Bereich der Forschung mit der deduk­ tiven Logik bestens vertraut: Angenommen, alle Elefanten sind grau und Dumbo ist ebenfalls als Elefant zu qualifizieren ist, dann ist Dumbo mit Notwendigkeit grau.

226

Teil 4: Auf der Suche nach einer Rechtfertigungstheorie

ge, wenn Gegenbelege nicht vorhanden sind. Unter bestimmten Bedingun­ gen, d. h. wenn minimale Kriterien erfüllt werden, kann also der Regelfall bejaht werden, es sei denn, bestimmte Bedingungen, die die Zuschreibung anfechten, liegen vor. Wenn wir beispielsweise wissen, dass Tweety ein Vogel ist, dann dürfen wir daraus schließen, dass Tweety fliegen kann. Man beachte, dass wir nicht über Wissen darüber verfügen können, ob Tweety fliegen kann. Wissen verfügen wir nur über die Default-Bedingung, dass Tweety ein Vogel ist, und dass dies mit der Information kompatibel ist, dass Vögel generell fliegen können. Wir lassen also zu, dass Tweety by default fliegen kann.240 Formal repräsentiert:

Vogel (T ) : Mfliegen (T ) Fliegen (T )

Diese Formel besagt, dass, wenn Tweety (T) ein Vogel ist und es konsis­ tent (M) ist zu glauben, dass Vögel fliegen können, dann sind wir in der Annahme epistemisch berechtigt, dass Tweety fliegen kann. Man beachte, dass hier das minimale Kriterium, das erfüllt werden soll, (nur) die Eigen­ schaft eines Vogels ist. Dies fundiert die Default-Annahme, dass Vögel fliegen können. Das heißt allerdings nicht, dass diese Annahme unwiderleg­ bar ist. Wir können hier der Einfachheit halber von einer Defeater-Menge mit geringer Kardinalität ausgehen, in welcher die einzig zulässigen Zweifel (defeaters) folgende sind Σdefeaters: {Strauß, Pinguin} (x). Pinguin  (T)    ⊃¬Fliegen  (T) ⊃¬Fliegen  (T) (x). Strauß  (T)    

Diese zwei formalen Aussagen besagen, dass unsere Default-Annahme im­ mer dann widerlegt wird, wenn wir Wissen über das Vorhandensein dieser zwei Defeater verfügen. Williams greift nun diese Default-Struktur auf und behauptet, dass es bei jedem inferentiellen Kontext eine gewisse Menge von Aussagen gibt, über welche man nicht explizite oder implizite Gründe ange­ Ähnlich (so wird in juristischen Kreisen argumentiert) solle A bestraft werden, weil A ein Mörder ist und Mörder laut § 211 StGB bestraft werden sollen. Unsere Welt ist allerdings auf eine radikale Weise komplexer als die Welt, in welcher wir befrie­ digend deduktiv-logisch operieren könnten. Denn unser alltägliches und wissen­ schaftliches Wissen geht weit über die in den Prämissen und der Konklusion einer deduktiv-logischen Maschinerie schon enthaltenen Informationen hinaus. Im Gegen­ satz zu konklusiven Gründen, die wahrheitserhaltend sind, argumentieren wir mithil­ fe nicht-konklusiver, d. i. nicht-monotoner Gründe. Für unsere alltäglichen oder wissenschaftlichen Zwecke operieren wir somit induktiv-logisch. 240  Reiter (1980, S. 82): „What is required is somehow to allow Tweety to fly by default.“



H. Die theoretische Diagnose der antiken Skepsis227

ben soll, damit eine Aussage als gerechtfertigt gilt. Denn diese Aussagen sind mit einer Default-Berechtigung (entitlement) versehen worden. Sie sind „jus­ tified by default“.241 Die Einigelung mancher Überzeugungen mit einer De­ fault-Berechtigung entspricht nach Williams der tatsächlichen epistemischen Praxis einer Gemeinschaft, in welcher nicht immer Gründe für alles erforder­ lich sind.242 Ferner befreie sie uns nicht von der Aufgabe, unsere Überzeu­ gungen ggf. mit Gründen zu untermauern, falls jemand diese epistemischprivilegierte Aussagen mit Gründen bezweifelt.243 2. Wie führt man einen Defeater ins Spiel ein? Die Default-Berechtigung einer für einen bestimmten inferentiellen Kon­ text basalen Überzeugung (WBasal) tritt immer dann zurück, wenn der Oppo­ nent entweder Gründe angibt, die der Überzeugung widersprechen, oder wir die Standards für Rechtfertigung erhöhen, indem wir in einen anspruchsvol­ leren IK übergehen: „Entitlement to enter a challenge must itself be earned by finding specific reasons for questioning either the truth of the target or the claimant’s entitlement to hold it, which means that naked challenges are out of order.“244 Ein epistemischer Agent ist also nicht mehr gerechtfertigt, von einer mit einer Default-Berechtigung versehenen Annahme auszugehen, wenn kontextrelevante Einwände erhoben werden oder wir den Kontext wechseln. Das, was im Normallfall (by default) als basal gilt, muss in jenem Fall mit Gründen untermauert werden. Tut dies der epistemische Agent nicht, dann ist er verpflichtet, die Überzeugung aufzugeben. Die vorläufig mit einer Default-Berechtigung geschützte Überzeugung ist argumentativ nicht mehr haltbar. Ein konkreteres und praxisbezogenes Beispiel wäre dasjenige, wo A einen entgegenkommenden Menschen B beschimpft. In einem normalen IK schreiben wir dieser Person Verantwortung zu. In einem anspruchsvolleren IK allerdings kommen mehrere Defeater ins Spiel, wie z. B. der Fall eines Tourette-Syndroms.245 Bevor wir die Alternative des 241  Williams,

Problems, S. 152 et passim. Problems, S. 170 f.: „In saying that epistemic norms are standards we set, I am not supposing that we ever got together to set them. As I have already argued, the constraints that govern particular forms of inquiry exist, in the first in­ stance, implicitly practice rather than explicitly as precepts. But we can make them (partially) explicit should the need arise; and if it seems like a good idea, we can modify them.“ 243  Vgl. Seide (2011), S. 133. 244  Williams, Problems, S. 151. 245  Das Tourette-Syndrom ist eine neurologisch-psychiatrische Krankheit, die das Nervensystem betrifft. Erscheinungsmerkmal dieses Syndroms sind die sind sog. Tics. Der Gebrauch von Schimpfwörtern gehört öfters zu diesen Tics. Einführend dazu: http: /  / www.tourettesyndrom.net. Zuletzt abgerufen am 09.09.2014. 242  Williams,

228

Teil 4: Auf der Suche nach einer Rechtfertigungstheorie

Tourette-Syndroms ausschließen können, sind wir – in manchen Kontex­ ten – nicht berechtigt, A für verantwortlich zu halten. 3. Die fünf kontextbestimmenden Parameter Bisher sind wir der Problematik nachgegangen, dass es in jedem inferen­ tiellen Kontext eine Aussagenmenge (Set of Epistemic Defeaters oder SED) gibt, die uns darüber informiert, welche Überzeugungen als basal und wel­ che Zweifel als kontextrelevant angesehen werden sollen. Diese Menge wird je nach dem IK erweitert oder eingeschränkt. Ein epistemischer Agent braucht also nur diejenigen Zweifel auszuräumen, die in dem jeweiligen inferentiellen Kontext, in welchem er operiert, relevant sind. Williams schlägt fünf Parameter vor, die uns helfen, die Kardinalität der SED zu präzisieren. a) Intelligibilitätsbeschränkungen – Die Grenzen des Sprachspiels Zunächst nennt Williams die Intelligibilitätsbeschränkungen.246 In jedem nicht-philosophischen Diskurs sollen wir manche Überzeugungen nicht nur mit einer Default-Berechtigung versehen, sondern sie vielmehr als unbe­ zweifelbar ansehen bzw. als (epistemische) Angeln unseres Sprachspiels behandeln. Beispielsweise verliert der Zweifel an die Existenz des Ge­ richtssaals bei einem Strafverfahren nach und nach seinen Sinn (ÜG 56). Diese Gedanken greift Williams auf, wenn er betont, dass Irrtumsmöglich­ keiten ab einem Punkt in Unsinn verfallen.247 Er erwähnt das Beispiel eines Menschen, der zögert, die einfachsten mathematischen Rechnungen durchzuführen. Dabei geht es nicht um jemanden, der Rechenfehler ver­ meidet, sondern um jemanden, der nichts von Mathematik hält. Diese Per­ son ist nicht methodisch stringenter als ihre Kollegen, sondern – im Sinne Wittgensteins – geisteskrank. Denn man kann nicht an manchen Sätzen zweifeln, „ohne alles Urteilen aufzugeben“ (ÜG 494). Intelligibilitätsbe­ schränkungen ermöglichen es uns, sinnvolle Fragen zu stellen. Sie sind nicht Oktroi eines Erkenntnis-Dogmatismus, sondern Katalysatoren des Er­ kenntnisfortschritts.248

246  Williams, Problems, S. 159 f.; Seide (2011), S. 135 übersetzt („intelligibity or semantic constraints“) als „Verständlichkeitsbeschränkungen“. 247  Williams, Problems, S. 160: „At some point, ‚mistakes‘ shade off into unin­ telligibility.“ 248  So Williams, Problems, S. 161.



H. Die theoretische Diagnose der antiken Skepsis229

b) Methodologische Notwendigkeiten – Die Grenzen des inferentiellen Kontextes Eng mit dem ersten kontextbestimmenden Faktor sind die sog. methodolo­ gischen Beschränkungen verbunden.249 Hierbei geht es aber nicht um Ver­ ständlichkeitsbedingungen, sondern um eine vom Zweifel ausgenommene Menge von Annahmen, die uns ermöglichen, einer jeweiligen Untersuchung eine bestimmte Richtung zu geben und uns auf gewisse Fragestellungen zu konzentrieren: „What we are looking into is a function of what we are leav­ ing alone.“250 Fängt etwa ein Biologe an, sich mit den technischen Bedingun­ gen des experimentellen Apparates zu beschäftigen, dann betreibt er nicht mehr Molekularforschung, sondern Industriemechanik. Das heißt: Die Men­ ge der Annahmen, die vom Zweifel ausgeschlossen werden, bestimmen zu­ gleich die sog. „logic of inquiry“. Stellt man sie in Frage, so gibt man seine vorher festgelegte Fragestellung auf. Man wechselt das Thema. c) Dialektische Faktoren Die dritte Art von kontexbestimmenden Faktoren stellen die sog. dialek­ tischen Faktoren dar. Innerhalb einer Untersuchung, nämlich innerhalb eines inferentiellen Kontextes wird der peer-community die Möglichkeit einge­ räumt, je nach pragmatischen Interessen, Zweckmäßigkeiten etc. gewisse Annahmen und Überzeugungen mit einer Default-Berechtigung zu versehen, sodass man erstens nicht explizit oder implizit Gründe anzuführen hat, um von dieser Annahme auszugehen und man sie erst dann bestreiten kann, wenn man Gegengründe (defeaters) ins Spiel bringt.251 d) Ökonomische Faktoren – Die Wirtschaftlichkeit unserer epistemischen Praxis Bisher haben wir gesehen, weshalb verschiedene soziale Gruppen bzw. Gemeinschaften und damit verschiedene inferentielle Kontexte eine und dieselbe Überzeugung mal als rechtfertigungsbedürftig mal als defaultbe­ rechtigt ansehen. Was in einem Fall gut genug ist, ist im anderen nicht ernst zu nehmen. Wir haben bisher also den Mechanismus beschrieben, demge­ mäß der inferentielle Kontext linear zunimmt, wenn die Anforderungen an den Beweis höher sind bzw. wenn das, was auf dem Spiel steht, relativ wichtig ist. Die Frage, die sich nun aufdrängt, lautet: Warum schließen wir 249  Williams,

Problems, S. 160. Problems, S. 160. 251  Williams, Problems, S. 161. 250  Williams,

230

Teil 4: Auf der Suche nach einer Rechtfertigungstheorie

innerhalb einer Untersuchung nicht alle kontextrelevanten Zweifel, nämlich diejenigen Alternativen, die wir in einem anspruchsvolleren Kontext hätten ausschließen müssen, aus? Warum schließt der sachbearbeitende Staatsan­ walt bei der Einleitung des Ermittlungsverfahrens nicht alle Alternativen aus, die für den Tatrichter relevant sind, vorausgesetzt das gesamte Beweis­ material sei vorhanden? Der Mechanismus, anhand dessen wir Alternativen Relevanz zu- oder absprechen, ist klar. Eine Menge von Alternativen (SED) wird erweitert oder eingeschränkt. Wir wissen ja, wie wir uns entlang der Kontext-Skala bewegen können. Wir wissen aber noch nicht, aus welchem Grund dies der Fall sein soll. Was setzt etwa diesen Mechanismus in Gang? Der Grund dafür ist nach Williams die Wirtschaftlichkeit unserer episte­ mischen Praxis.252 Hervorzuheben sei, dass der ökonomische Parameter nicht bzw. zumindest nicht direkt mit Geldwert, -gewinn oder -verlust, zu­ sammenhängt. D. h. unsere epistemischen Ziele und die Frage, ob eine Al­ ternative auszuschließen ist, kann nicht rein rechnerisch behandelt werden. Alles, was uns wichtig ist, kann und soll als Gewinn und alles, was wir vermeiden wollen, als Verlust angesehen werden.253 Diesen Gedanken liegt ein Prinzip zugrunde und zwar dasjenige der Denkökonomie. Man zielt darauf ab, ein gewisses Ergebnis mit dem möglichst geringen Aufwand zustande zu bringen. Mehrere Wochen für einen möglichst präzisen Wetter­ bericht zuzubringen ist genauso unangemessen, wenn es sich um einen kurzen Ausflug handelt, wie bloß in den Himmel zuschauen, wenn davon die Verkehrssicherheit der gesamten Luftfahrt abhängt. Bei Wittgenstein ist sogar von Fahrlässigkeit die Rede: „Ich werde eine Multiplikation zur Sicherheit vielleicht zweimal rechnen, viel­ leicht sie von einem Andern nachrechnen lassen. Aber werde ich sie zwanzigmal nachrechnen oder sie von zwanzig Leuten nachrechnen lassen? Und ist das eine gewisse Fahrlässigkeit? Wäre die Sicherheit bei zwanzigfacher Nachprüfung wirk­ lich größer?!“ (ÜG 77)

Wenden wir jetzt diesen Syllogismus auf das Beispiel der gerichtlichen Praxis an. Es wäre genauso fahrlässig, wenn der Tatrichter anhand nur einer Strafanzeige den Angeklagten verurteilt, wie es fahrlässig wäre, wenn der 252  Williams,

Problems, S. 161. Problems, S. 161: „Of course, in referring to ‚economic‘ factors I do not have in mind only monetary or material considerations. Anything we value is a benefit and anything we would rather avoid is a cost.“ Vgl. Bender (1981), S. 252: „Unter ‚Kosten‘ darf man sich hier nicht nur die materiellen Verluste der beteiligten Parteien und die volkswirtschaftlichen Kosten der Gesellschaft vorstellen. Man muß auch die ‚sozialen Kosten‘ in Betracht ziehen, z. B. die Rechtunsicherheit, ja Rechtverdrossenheit, die beim Einzelnen und in der Gesellschaft entstehen, wenn zu viele Urteile ergehen, die – vom tatsächlichen Geschehen her betrachtet – nicht gerechtfertigt sind.“ 253  Williams,



H. Die theoretische Diagnose der antiken Skepsis231

sachbearbeitende Staatsanwalt das Ermittlungsverfahren nicht einleitet, weil auf seinem Tisch nur eine Strafanzeige liegt. Der Unterschied ist, dass in einem Fall die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens und im anderen die Bestrafung des Angeklagten auf dem Spiel steht. Die Dringlichkeit der Entscheidung und die Gewichtigkeit der zu erwartenden Folgen beeinflus­ sen die Menge der Defeater, die jedes Mal ins Spiel gebracht werden. e) Der fünfte kontextuelle Parameter: Ein externalistischer Bruch? Die ersten vier kontextuellen Parameter, die Williams ausgearbeitet hat, betreffen die epistemische Lage, in der sich ein epistemischer Agent (was uns interessiert: ein Tatrichter) befindet, nämlich die persönliche Rechtferti­ gungskompenente der epistemischen Verantwortung.254 Sie erklären uns, wie wir unsere epistemischen Pflichten erst einmal präzisieren und ihnen dann nachkommen müssen, um Wissen zuschreiben zu können. Das gelingt uns, indem wir uns eines erkenntnistheoretischen Mechanismus bedienen, der es uns ermöglicht, Alternativen, die ins Spiel kommen, das Prädikat der Kontext­ relevanz zu- oder abzusprechen. Dementsprechend gehen wir von der Annah­ me aus, die ersten vier kontextuellen Parameter können auf einen internalis­ tischen gemeinsamen Nenner gebracht werden, den Williams persönliche Rechtfertigung (personal justification) nennt.255 Da es allerdings für Wissen nicht hinreichend ist, dass alle Defeater ausgeräumt werden, wird den oben aufgelisteten vier personenbezogenen Gründen von Williams ein externalisti­ scher Parameter hinzugefügt. Denn Wissen ist ex definitio etwas Objektives und gilt erga omnes. Das heißt anhand der ersten vier Gründe haben wir die für jeweilige praktische Zwecke hinreichende Gewissheit. Wissen und Si­ cherheit gehören jedoch zu verschiedenen Kategorien (ÜG 308). Wittgen­ stein betont an mehreren Stellen (vgl. ÜG 174, 230, 245, 440), dass Gewiss­ heit bzw. Sicherheit etwas Persönliches darstelle, während Wissen einen all­ gemeinen Charakter habe. Der persönlichen Gewissheit (vgl. ÜG 174) wird der verbindliche Charakter des Wissens gegenübergestellt: „Subjektiv ist die Gewißheit, aber nicht das Wissen. Wenn ich mir also sage ‚Ich weiß, daß ich zwei Hände habe‘, und das soll nicht nur meine subjektive Gewiß­ heit zum Ausdruck bringen, so muß ich mich davon überzeugen können, daß ich recht habe.“ (ÜG 245)

Eine Frage drängt sich auf: Was trennt (subjektive) Gewissheit und (ob­ jektivem) Wissen voneinander? Wie kommt es zustande, dass Wissen und Gewissheit verschiedene Kategorien bilden?256 Seide (2011), S. 136. Problems, S. 161 f. 256  Vgl. ÜG 308: „ ‚Wissen‘ und ‚Sicherheit‘ gehören zu verschiedenen Kategorien.“ 254  Siehe

255  Williams,

232

Teil 4: Auf der Suche nach einer Rechtfertigungstheorie

4. Evidentielle Rechtfertigung Den Sprung von der (persönlichen) Gewissheit zum Wissen hin machen wir anhand eines externalistischen Parameters im Rahmen der evidentiellen Rechtfertigung.257 Unsere Gründe, die die kontextrelevanten Zweifel aus­ räumen, müssen als intersubjektiv gute Gründe angesehen werden können (adequately grounded).258 Bisher haben wir uns mit den kontextuellen Para­ metern 1 bis 4, worin die personale Rechtfertigung (personal justification) besteht, beschäftigt.259 Es wurde gezeigt, dass die ersten vier kontextuellen Parameter die epistemische Verantwortlichkeit des Agenten betreffen. Der zweite Aspekt der Rechtfertigung, nämlich die evidentielle Rechtfertigung (evidential justification), führt in den inferentiellen Kontext einen externa­ listischen Parameter ein, den Williams „situational factor“ nennt.260 Diesem zufolge hängt die Adäquatheit der Rechtfertigung nicht von dem epistemi­ schen Agenten selbst ab. Um Wissen zu erlangen, brauchen wir „adequate­ ly grounded belief“.261 Dieser externalistische Parameter unterscheidet die für praktische Zwecke hinreichende Gewissheit von der Kategorie des Wissens. Beansprucht z. B. ein Tatrichter, dass sein Urteil von dem Adressaten und von der Gemeinschaft anerkannt wird, indem er einen Wissensanspruch erhebt, so ist er zugleich verpflichtet, sich an soziale Rechtfertigungsnormen zu halten. Williams bringt es auf den Punkt: „This is because, in claiming knowledge, we commit ourselves to the objective well-groundedness of our beliefs.“262 Daraus ergibt sich der Schluss, dass im Rahmen des Inferentiel­ len Kontextualismus eine Meinung, um als Wissen zu gelten, nicht nur auf personaler Rechtfertigung (scil. auf den ersten vier kontextuellen Parame­ tern), sondern auch auf objektiv adäquaten Gründen beruhen muss.263 Das Verfahren, im Zuge dessen die Meinung zustande gekommen ist, muss als zuverlässig gelten. Experimentelle Bedingungen, ein prozessordnungsgemäß geführtes Erkenntnisverfahren und sonstige externe und dem Subjekt nicht kognitiv zugängliche Parameter, die Williams situational factors nennt, stellen eine condicio des Wissens dar. Dies macht unseren Wissensanspruch von anderen überprüfbar, ob Peers, Community oder eben das Berufungs­ gericht oder der Bundesgerichtshof, insofern immer die Möglichkeit besteht, 257  Williams,

Problems, S. 162; Seide (2011), S. 131. Problems, S. 162. 259  Williams, Problems, S. 50 f., 161 ff. 260  Williams, Problems, S. 162; Seide (2011), S. 131 f. 261  Williams, Problems, S. 161. 262  Williams, Problems, S. 162. 263  Seide (2011), S. 136. 258  Williams,



H. Die theoretische Diagnose der antiken Skepsis233

dass Alternativen, die tatsächlich kontextrelevant waren, übersehen wurden und umgekehrt. Das heißt: ob der Wissensanspruch eines epistemischen Agenten auf objektiv adäquaten Gründen beruht, kann der Agent selbst nicht beurteilen. So wird erreicht, dass nicht nur der Einzelne sich auf sei­ ne Community, sondern auch die Community sich auf die Wissensansprüche des Einzelnen verlassen kann, insbesondere dann, wenn das wichtigste Gut eines Bürgers auf dem Spiel steht: seine persönliche Freiheit. Den Grund dafür erklärt mit unvergleichlicher Präzision Wittgenstein: „Unser Wissen bildet ein großes System. Und nur in diesem System hat das Ein­ zelne den Wert, den wir ihm beilegen. Einer Argumentation wird Überzeugungs­ kraft beigemessen, indem sie in einem größeren System, einem Sprachspiel, ein­ gebettet wird.“ (ÜG 410)

5. Zu einer Tyrannei des Wissens? Im Anschluss an die vorherigen Überlegungen verstehen wir, weshalb der Begriff des Wissens seinen sozialen Charakter entfaltet und erga omnes gelten soll. Die Verbindlichkeit des Wissens weist allerdings nicht auf sei­ nen tyrannischen Charakter, sondern auf unser Vertrauen zueinander hin, das Vertrauen einer Community, deren Mitglieder Begriffe teilen, indem sie sich einer gemeinsamen Sprache bedienen und sich aufeinander verlassen.264 „Wir sind dessen ganz sicher, heißt nicht nur, daß jeder Einzelne dessen gewiß ist, sondern, daß wir zu einer Gemeinschaft gehören, die durch die Wissenschaft und Erziehung verbunden ist.“ (ÜG 298)

Als Einwand gegen diese anti-reduktionistische Strategie kann unterstellt werden, dass wir dann gezwungen wären zu bezweifeln, dass wir etwa ein Gehirn im Schädel haben, dass Sport die Gesundheit fördert oder Rauchen Krebs auslöst etc. All das wissen wir – und zwar ohne dass wir uns je selbst ein Bild verschafft haben. Denn dabei handelt es sich um Informationen, die wir nicht selbst zu bestätigen in der Lage sind selbst zu bestätigen bzw. binnen angemessener Zeit bestätigen zu konnen. Die bloße Verneinung einer wissenschaftlichen Aussage, ohne Gründe anzugeben, mag uns natürlich von unserer Community ausgrenzen. Wendet man ein, dass diese Beispiele eigentlich trivial sind, dann sollte man sich überlegen, dass auch in einem Ermittlungs- oder Strafverfahren die epistemischen Agenten sich auf Infor­ mationen anderer verlassen, auf Zeugenaussagen, Ermittlungsprotokolle, Expertengutachten usw. Der soziale Charakter unserer Sprache ist untrenn­ bar mit dem sozialen Charakter unseres Wissens verwoben. 264  Für eine detaillierte Einführung zur Problematik siehe Baumann (2006), S. 277–283.

234

Teil 4: Auf der Suche nach einer Rechtfertigungstheorie

6. Besteht der fünfte kontextuelle Parameter in der Rechtskräftigkeit? Oben wurde gezeigt, weshalb anhand nur eines externen Parameters der Schritt von hinreichender Gewissheit zum Wissen machbar ist. Führen wir ein Beispiel an: Ein Tatrichter erhebt einen Wissensanspruch jedes Mal, wenn er sich in einer derart starken epistemischen Lage befindet (Wissens­ selbstzuschreibung). Das Revisionsgericht bestätigt u. a. diesen Wissensan­ spruch, indem es ihm Wissen erga omnes zuschreibt (Wissensfremdzu­ schreibung). Ausgerechnet diese Wissensfremdzuschreibung des zuständigen Revisionsgerichts – falls gegen das Urteil Rechtsmittel eingelegt werden – nennen wir Rechtskraft. Das jeweilige Revisionsgericht bestätigt gegebenen­ falls, dass die Community u. a. die Vernünftigkeitsvorstellungen des Tatrich­ ters teilt und dass dessen Gründe „gute Gründe“ (adequate grounds) sind. Diese Trennlinie, die den Erkenntnisvorgang normativ beendet,265 behan­ deln wir als ein epistemisch legitimes Ende der Wahrheitssuche. Darüber hi­ naus vermag die Möglichkeit einer Wiederaufnahme die Gültigkeit der Rechtskraft ebensowenig in Zweifel zu ziehen wie (oder gerade deswegen) der fallibilistische Charakter unseres Wissens die Gültigkeit unserer Wissens­ zuschreibungen zu relativieren vermag. Beispielsweise sollen die Bürger – trotz der Fallibilität forensischen Wissens – ihre epistemischen Aussagen auf die Strafurteile einrichten. Der wegen Mordes rechtskräftig verurteilte A muss als Mörder behandelt werden, egal ob er die ihm vorgeworfene Tat begangen hat oder nicht. Der freigesprochene A muss ebenso als solcher be­ handelt werden, da die einzige Möglichkeit, ihm eine Straftat zur Last zu le­ gen, nicht zu einer Verurteilung hingeführt hat. Diesen externalistischen As­ pekt eines erga omnes geltenden Wissens teilt der deutsche (Straf-)Gesetzge­ ber, indem er u. a. gerichtliche Urteile – mit Ausnahme einer zulässigen Wie­ deraufnahme – mit diesem externalistischen Parameter der Situationsfaktoren versieht; letztere legen fest, dass ein Verfahren zur Wissensgewinnung in ei­ nem bestimmten Kontext als zuverlässig gilt oder nicht.266 Ein gerichtliches Verfahren gilt natürlich für den Gesetzgeber als (epistemisch) zuverlässig, sodass die Bürger sämtliche rechtskräftigen Wissensansprüche, die von den Tatrichtern erhoben worden sind, teilen oder mindestens respektieren sollen. Im Vordergrund dieser Überlegungen wird verständlich, weshalb § 190 S. 1 StGB das Gericht eines Beleidigungsprozesses an ein verurteilendes Erkennt­ nis wegen der behaupteten / verbreiteten (Straf-)Tat bindet.267 Gleichgültig, 265  Statt

vieler anderer siehe Arzt (1997), S. 10 f.; vgl. Neumann, Gerechtigkeit,

266  Seide

(2011), S. 136. NK4–Zaczyk § 190, Rn. 1–4.

S. 56.

267  Dazu



I. Vernünftigkeitsvorstellungen als Kompass235

ob ein Bürger über einen anderen oder einen dem Strafurteil widersprechen­ den Informationsgehalt verfügt, macht er sich der Beleidigung strafbar, wenn seine ehrenrührigen Äußerungen einen Menschen betreffen, der bezüglich des behaupteten Vorwurfs rechtskräftig freigesprochen worden ist (§ 190 S. 2 StGB).268

I. Vernünftigkeitsvorstellungen als Kompass Durch die in mehreren Rechtssystemen herrschende prozessuale Denkfi­ gur des „Beweises jenseits vernünftiger Zweifel“ (proof beyond a reasona­ ble doubt) sind die Tatrichter nun explizit auf Vernünftigkeitsvorstellungen der Gemeinschaft angewiesen. Der Erste Senat des Bundesverfassungsge­ richts macht in seinem Beschluß vom 14. Februar 1973 das Urteil und die Wissenszuschreibungen des Tatrichters davon abhängig, ob deren Begrün­ dung einem externen Parameter gerecht wird269 – was hier als fünfter kon­ textueller Parameter (gute Gründe) bezeichnet wurde. „Der Richter muß sich dabei von Willkür freihalten; seine Entscheidung muß auf rationaler Argumentation beruhen“. Auf der anderen Seite ist zu erwarten, dass das, was eine Gemeinschaft für vernünftig hält, von einer jeweils anderen strikt abgelehnt wird: „Ja, ich glaube, daß jeder Mensch zwei menschliche Eltern hat; aber die Katholi­ ken glauben, daß Jesus nur eine menschliche Mutter hatte.“ (ÜG 239)

Die Gemeinschaft der Astrologen lehnt unsere epistemischen Normen strikt ab, genauso wie etwa ein Tatrichter mit Astrologie nichts anfangen kann und darf: „Die Aussage z. B., jemand sei ohne Eltern auf die Welt gekommen, würde in einem Gerichtssaal nie in Erwägung gezogen werden.“ (ÜG 33)

Das, was als vernünftig gilt, variiert also mit der Zeit, mit der Gemein­ schaft und nicht zuletzt mit dem inferentiellen Kontext innerhalb derselben Gemeinschaft. Das, was z. B. vor dem 11.09.2001 als unwahrscheinlich und bestenfalls als Filmszenario abgestempelt werden würde, dass nämlich 19 Attentäter vier Flugzeuge entführen und u. a. in die „Twin Towers“ jagen würden, ist heute ein stets annehmbares Szenario. Auf der anderen Seite war das, was der breiten Öffentlichkeit (= alltäglicher inferentieller Kontext) als unvernünftig schien, für die Militärexperten (= inferentieller Kontext der Experten) eine ernstzunehmende Bedrohung, auf welche sie vorbereitet waren. Was im Irak für eine verdächtige Aktentasche gehalten wird von welcher man wegbleiben sollte, ist in Frankfurt am Main vermutlich etwas, 268  Eine

Ausnahme bildet aber § 192 StGB. 34 269.

269  BVerfGE

236

Teil 4: Auf der Suche nach einer Rechtfertigungstheorie

das ein hektischer Anwalt in der U-Bahn vergessen hat, und das man folg­ lich im Fundbüro abzugeben hat. Was von einem Polizisten als wertvolles und prozessual verwertbares Indiz einer Straftat betrachtet wird, wird von einem anständigen Bürger kaum wahrgenommen. Was für die Einleitung des Ermittlungsverfahrens gut genug ist, ist für eine Verurteilung nicht hin­ reichend. Diesen Wandel hat mit großer Präzision Wittgenstein zum Aus­ druck gebracht. Er stellt fest, dass einige basale Selbstverständlichkeiten historischem Wandel unterliegen, dass Menschen „dies und jenes für gewiss gehalten haben, was sich später unserer Meinung nach für falsch erwiesen hat“ (ÜG 599). Darüber hinaus ist unsere Vorstellung von Vernunft einem ständigen Revisionsprozess unterworfen. Das soll aber nicht heißen, dass unser Wissen einen vorübergehenden Charakter habe, sondern dass es prin­ zipiell ein offener Prozess bleiben soll. Unsere Sprachspiele sind dem his­ torischen Wandel unterworfen. Sie ändern sich und zusammen mit ihnen unser Wissen (ÜG 56, 336, 650).

I. Beweis jenseits kontextrelevanter Zweifel Das Vernünftigkeitsgebot ist allerdings nichts anderes als eine bloße Ziel­ richtung. Die Handlungsanweisung an den Richter: „sei vernünftig“ bzw. „halte dich an Rationalitätsnormen“ ist per se nicht aussagekräftig. Sie äh­ nelt der Handlungsanweisung „verurteile die Täter und sprich die rechts­ treuen Bürger frei“. Man weiß, was man tun soll, aber man weiß nicht, wie man dieses epistemische Ziel erreichen kann. Solche Aussagen ähneln „vagen Anweisungen“ wie „tue das Gute“, „meide das Böse“. Ihre Verbind­ lichkeit steht, so Hassemer, „unter der Bedingung, daß sie inhaltsleer und somit folgenlos sind“.270 Bedingung eines Wissensanspruchs und damit ei­ nes (Gerichts-)Urteils ist nicht die Wirklichkeit, sondern die hinreichende Rechtfertigung. Dem Inferentiellen Kontextualismus gelingt es, uns eine leistungsfähigere Denkfigur, den Beweis jenseits kontextrelevanter Zweifel, bereitzustellen, nicht weil das Prädikat ‚vernünftig‘ ersetzt, sondern weil es durch Begriffs­ explikation erklärt und analytisch betrachtet wird. Der IK gewährt uns Einsicht in die Mechanik einer rationalen epistemischen Praxis und hilft uns, diverse Situationen (Kontexte) rechtfertigungstheoretisch zu formalisie­ ren. An die Stelle des herkömmlichen Beweiskriteriums und der Handlungs­ anweisung „schließe nur die vernünftigen Zweifel aus“ tritt das Theorie­ design des IK samt dessen Bedienungsanweisung. Default-Logik, epistemi­ sche Privilegierung, Defeater und kontextuelle Parameter helfen uns, die 270  Hassemer

(1988), S. 186.



I. Vernünftigkeitsvorstellungen als Kompass237

Menge der kontextrelevanten Zweifel (Set of Epistemic Defeaters) festzule­ gen. Die Kardinalität der SED wird darüber entscheiden, welche Zweifel in einem jeweiligen Sprachspiel bzw. inferentiellen Kontext zugelassen werden und welche ignoriert werden dürfen. Die strafprozessusale Formel der kontextrelevanten Zweifel bleibt da­ durch situationsflexibel: ein ‚lernendes Prinzip‘. Diese Eigenschaft erlaubt ihr, nicht nur deren Inhalt, sondern vielmehr deren Struktur den jeweiligen neuen Gegebenheiten271 der Gesellschaft oder der konkreten Situation anzu­ passen. Es gilt auch hier, was Hassemer über die Rechtsbegriffe angemerkt hat: „Das Leben ist unerschöpflich, es produziert immer neue Daten und Datenkonstellationen und überrascht sogar die Futurologen.“272 Eine nicht flexible (invariable) erkenntnistheoretische Struktur würde ebenso wie Rechtsbegriffe, die sich nicht mehr neuen Anforderungen anpassen können,273 gleichsam absterben. Es ist nun den Diskursteilnehmern eines einzelnen inferentiellen Kontextes überlassen, Defaultregeln festzulegen und Alternativen für irrelevant zu halten, die nicht nur in concreto, sondern generell gelten. Eine allgemein geltende Definition von ‚vernünftige Zweifel‘ muss aus semantischen und erkenntnistheoretischen Gründen als Chimäre angesehen werden. Die große Schwäche dieser prozessualen Denkfigur war nicht, dass sie falsch, sondern dass sie unpräzise war.274 Denn Vernünftigkeit als Kri­ terium war nicht die Antwort auf unsere Probleme, sondern lediglich der Wegweiser zu denselben. Wir gewinnen einen Einblick in die Semantik des Begriffs ‚vernünftig‘, indem wir uns Klarheit über dessen Funktion ver­ schaffen. Zweifel bzw. Alternativen dürfen ignoriert werden, nicht weil sie unvernünftig, sondern weil sie nicht Teil des jeweiligen SED sind. Entscheidend ist also nur, ob ein Zweifel kontextrelevant oder -irrelevant ist. Das Prädikat vernünftig verhält sich zu dem Set of Epistemic Defeaters genauso wie sich das Prädikat gesund zu einer ärztlichen Diagnose verhält. Beide machen die Phänomenologie einer (Struktur-)Analyse aus. Sowohl das Wort ‚vernünftig‘ als auch das Wort ‚gesund‘ vermag man zu erklären, indem man auf einen analytischen Vorgang verweist. Ein Zweifel ist mit anderen Worten als unvernünftig anzusehen, da er nicht kontextrelevant bzw. nicht Mitglied eines jeweiligen SED ist – nicht umgekehrt.

aus anderem Anlass Karamagiolis (2002), S. 37. (1990), S. 182. 273  Stübinger (2008), S. 445. 274  Ausführlich dazu Kotsoglou, Epistemic Engineer, S. 275 ff. m. w. N. 271  So

272  Hassemer

238

Teil 4: Auf der Suche nach einer Rechtfertigungstheorie

II. Ein Zwischenfazit Ein Tatrichter darf dem BGH zufolge von seiner Überzeugung immer dann ausgehen, wenn letzterer zwingende Gesetze der Logik, feststehende Erkenntnisse der Wissenschaft oder dem Zweifel enthobene Tatsachen der Lebenserfahrung nicht widersprechen (BGHSt 29 18). Das Revisionsgericht macht also bei der Überprüfung der tatrichterlichen Überzeugung die glei­ che Arbeit wie bei der Überprüfung der Verhältnismäßigkeit von staatlichen Eingriffen in die Privatsphäre: es räumt einen sehr breiten Spielraum ein und macht bloß auf die externen Grenzen aufmerksam. Das Thema der Verhältnismäßigkeit möchte ich hier ausblenden. Was aber die tatrichterliche Beweiswürdigung angeht, ergibt sich ein radikales Problem, das ich hier nur am Rande der Diskussion erwähnen kann. Nach h. M. muss der Beweis mit lückenlosen, nachvollziehbar logischen Argumenten geführt werden.275 Die Rede ist zuweilen von einem logischen Kalkül. Dass wir bei der Beweis­ würdigung induktiv-logisch operieren, ist m. E. ausdiskutiert worden. Das trifft allerdings nicht auf die Konsequenzen zu, die diese Realisierung mit sich bringt. Denn nicht-deduktive Schlüsse liefern nur gute (scil. nicht zwingende) Gründe – was Williams „adequately grounded beliefs“ nennt: die Konklusion kann trotz wahrer Prämissen falsch sein. Korrekte, im Sinne der Rechtsprechung nachvollziehbare induktions-logische Argumente kön­ nen eine falsche Konklusion haben, so stark sie sein mögen. Indem man aber sagt, dass die Sachverhaltsfeststellung ein induktiver Schluss ist, ist man verpflichtet sich, sich an die Regeln der Gemeinschaft zu halten, näm­ lich an die epistemischen Normen von verschiedenen Gruppen, Rechtferti­ gungspraktiken und Vernünftigkeitsvorstellungen sowie an die Axiome und Gesetze der Wahrscheinlichkeitstheorie für die Revidierung der epistemi­ schen Wahrscheinlichkeit – im Rahmen eines vorher festgelegten Set of Epistemic Defeaters. In ihm wird angegeben, welche Defeater ins Spiel kommen dürfen. Diese Regeln sind also in concreto die Regeln der Gemein­ schaft. Nicht nur die externen Grenzen, sondern auch der Inhalt der Beweis­ würdigung, nämlich wie man seine Meinung anhand von neuen Informa­ tionen revidieren kann, ist zu thematisieren und anschließend zu prüfen. Die Beweiswürdigung ist in der Tat eine ureigene Aufgabe des Tatrich­ ters, wie von der h. M. ununterbrochen betont wird. Mit oder ohne Hilfe probabilistischer Netzwerke und sonstiger Hilfsmittel hat der Tatrichter ei­ genmächtig das Beweismaterial zu würdigen. Sein Urteil ist zwar persön­ lich; er kann aber das Rechtfertigungsspiel nicht allein, sondern nur mit seinen Mitmenschen spielen. Genauso wie er sich auf eine verständliche Weise ausdrücken soll (gemeinsame Sprache), soll er auch bei seinem Urteil 275  Meyer-Goßner / Schmitt,

§ 261 Rn. 2A m. w. N.



I. Vernünftigkeitsvorstellungen als Kompass239

gemeinsamen Begründungsregeln gerecht werden. Denn Wissen ist sozial verankert.276 Dies verwechselt aber der BGH, wenn er in einem weichen­ stellenden Beschluss betont, dass der Tatrichter nur seinem Gewissen ver­ antwortlich ohne Willkür zu prüfen hat, ob er an sich mögliche Zweifel überwinden und sich von einem bestimmten Sachverhalt überzeugen kann (vgl. ÜG 298).277 Beweiswürdigung und Tatsachenfeststellung sind also keine bloße ‚Gewissensfrage‘, die dem Tatrichter privat ist. So wie das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 34, 269 (287)) selbst betont, ist der Tatrichter bei seiner Begründung auf die Regeln der Gemeinschaft angewie­ sen. Alles andere wäre eine unverständliche Privatsprache. Urteile, die ein Geheimnis des Tatrichters bleiben oder Tatrichter, die das Wort „weil“ nicht in den Mund nehmen, sind unserer Wissensethnologie und unserer Rechts­ kultur fremd.

III. Der inferentielle Kontext ist revisibel So interessant und folgerichtig der Ansatz des Inferentiellen Kontextua­ lismus sein mag, sollte man sich über ihn nicht täuschen. Im Auge zu be­ halten ist, dass die Juristen hartnäckigerweise mehr Wert auf die Überprüf­ barkeit der rechtlichen Aussagen legen, als auf einen in erkenntnistheoreti­ scher Hinsicht leistungsfähigen epistemischen Hintergrund.278 Es besteht weithin Einigkeit darüber, dass ein Strafurteil anfechtbar ist, wenn das Tatgericht überspannte Anforderungen an die für eine Verurteilung erforderliche Gewissheit gestellt hat.279 Nach ganz herrschender Meinung dürfen keine zu hohen Anforderungen an das Zustandekommen der richter­ lichen Überzeugung gestellt werden.280 Solche Aufhebungen durch die Re­ visionsgerichte, die übrigens seit langem zum Alltag der Strafjustiz gehören (vgl. Teil 3), erfolgen nach h. M. auf die Sachrüge hin.281 Die Rechtspre­ 276  Gabriel,

Skepsis, S. 160. 29 18. 278  Zu welchen absurden Ergebnissen diese Hartnäckigkeit zu führen vermag, zeigt uns das Beispiel der Resonanz der Theorie der einzig richtigen Entscheidung. Trotz der vernichtenden Kritik an ihr sie an Boden, nicht weil sie, so Neumann, Warhheit im Recht, S. 14 f., „gegenüber der These von einer Mehrzahl vertretbarer Entscheidungen die besseren erkenntnistheoretischen Argumente auf ihrer Seite hät­ te“, sondern weil sie scheinbar der Überprüfung behördlicher und gerichtlicher Entscheidungen durch die Justiz Tür und Tor öffnet. Die Frage nach der Kontrollier­ barkeit des epistemischen Kontexts, so wie ihn die Tatrichter festgelegt haben, er­ scheint also aus mehreren Gründen von zentraler Bedeutung. 279  BGH MDR 1980, 948; dazu Jerouschek, Beweiswürdigung, S. 511. 280  Vgl. KK7–Ott, § 261 Rn. 4. 281  Wagner (1994), S. 259. 277  BGHSt

240

Teil 4: Auf der Suche nach einer Rechtfertigungstheorie

chung zum Thema ist nicht neu und geht sogar auf das Reichsgericht (RGSt 61 206) zurück: „Mit dieser Beurteilung der Sachlage stellt die Strafkammer rechtsirrig zu hohe Anforderungen an die Gewinnung einer zur Verurteilung ausreichenden richterlichen Überzeugung.“ Zentrale Bedeutung für die hier zu behandelnde Problematik kommt einem Beschluss des dritten Zivilsenats des BGH zu, der auch von der strafrechtlichen Rechtsprechung fast wörtlich übernommen worden ist. Bei dem BGHZ 53 245 handelt es sich um den berühmten Fall „Anastasia“ (vgl. Teil 7), bei welcher die Revision gerügt hatte, dass das angefochtene Urteil bei Anwendung der allgemeinen Verfah­ rensgrundsätze der Zivilprozessordnung die Beweisanforderungen zum Nachteil der Klägerin überspannt hat. Ein Gericht darf nach dem Revisions­ urteil keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen und keine unumstöß­ liche Gewissheit bei der Prüfung verlangen. Ähnlich argumentiert der USamerikanische Supreme Court, wenn er mithilfe der harmless error-Doktrin überspannte Anforderungen auf den Beweis untersagt: „Any jury instruction defining reasonable doubt that suggests an improperly high degree of doubt for acquittal or an improperly low degree of certainty for conviction, of­ fends Due Process.“ (Victory v. Nebraska 511 US 1 (1994))

IV. SED als Objekt revisionsgerichtlicher Prüfung Bisher wurde gezeigt, dass der Tatrichter anhand von vier kontextuellen Parametern die Menge der Defeater festsetzen soll, die ins Spiel gebracht werden. Damit wird bekanntgegeben, welche Zweifel von dem Tatrichter als kontextrelevant angesehen und welche Alternative berechtigterweise igno­ riert werden dürfen. Wir kommen zu dem Schluss, dass der Tatrichter mit­ hilfe der SED nichts Anderes tut als die Höhe der Anforderungen auf den Beweis zu festzulegen: wie viele Defeater (kontextrelevante Zweifel) im Erkenntnisverfahren zugelassen werden. Es liegt nun auf der Hand, dass das SED einer revisionsgerichtlicher Überprüfung unterworfen wird. Dem Be­ weiskriterium des Bundesgerichtshofes, nämlich „der für das praktische Leben brauchbare Grad von Gewissheit, der den Zweifeln Schweigen gebie­ tet, ohne sie völlig auszuschließen“ (siehe nur BGHZ 53, 245, 256), kann reibungslos der Inferentielle Kontextualismus zugrunde gelegt werden. Die revisionsgerichtliche Prüfung, ob die Anforderungen an den Beweis zu hoch (oder auch zu niedrig) seien, entspricht der revisionsgerichtlichen Prüfung, ob die Kardinalität des SED angemessen ist. Zwischenfazit: Nach ständiger Rechtsprechung ist ein Strafurteil immer dann anfechtbar, wenn das Tatgericht überspannte Anforderungen an die für eine Verurteilung erforderliche Gewissheit gestellt hat. Daraus lässt sich die Aussage entnehmen, dass ein Strafurteil, dem ein zu beschränktes oder zu an­ spruchsvolles Set of Epistemic Defeaters zugrunde liegt, ebenso anfechtbar ist.



I. Vernünftigkeitsvorstellungen als Kompass241

V. Kontext-Tief und Kontext-Hoch Rechtsprechung und Literatur haben sich bisher nur mit dem Fall ausei­ nandergesetzt, bei dem das Tatgericht zu hohe Anforderungen auf den Be­ weis gestellt hat. Denkbar ist allerdings auch das Gegenteil, nämlich der Fall, bei dem das Tatgericht den Rechtfertigungsstandard sehr niedrig setzt und seinem Urteil ein sehr beschränktes SED zugrunde gelegt hat. Im ersten Fall werden Defeater ins Spiel gebracht und Zweifel für kon­ textrelevant angesehen, die dem Revisionsgericht zufolge als irrelevant hätten angesehen werden sollen. Diese Konstellation nenne ich KontextTief. Das Urteil ist immer dann aufzuheben, wenn die Menge der kontext­ relevanten Zweifel (dem Revisionsgericht nach) nicht hinreichend umfas­ send war. Das SED enthält weniger Defeater, als dies der Fall sein sollte. Die fehlerhafte Kardinalität des SED führt zur Aufhebung des Urteils. SEDRevisionsgericht >> SEDTatgericht

Die zweite mögliche und in der Praxis wohl häufiger vorkommende Kon­ stellation ist diejenige, bei der das Tatgericht mehrere Defeater ins Spiel zulässt und mehrere Zweifel als kontextrelevant ansieht. Diese Konstellation nenne ich Kontext-Hoch. Das Urteil ist immer dann aufzuheben, wenn die Menge der kontextrelevanten Zweifel (aus der Sicht des Revisionsgerichts) umfangreicher ist, als dies der Fall sein sollte, nämlich wenn das Tagericht überspannte Anforderungen an den Beweis stellt. Die fehlerhafte Kardinali­ tät des SED führt ebenfalls zur Aufhebung des Urteils.282 SEDRevisionsgericht >> SEDTatgericht

Mithilfe der wie oben zu präzisierenden kontextsensiblen Rechtferti­ gungstruktur und des jeweiligen SED sind wir also im Stande, auf eine intersubjektiv überprüfbare Weise über die Anforderungen an die tatrichter­ liche Überzeugung zu reden. Es geht bei der Beweiswürdigung nicht mehr um „vernünftige Zweifel“ als Phänomenologie, sondern um den Inferentiel­ len Kontext als analytischen Vorgang. Im Jahre 1986 hat Freund bemängelt, dass die prozessuale Denkfigur der „überspannten Anforderungen“ inhaltlich konturlos ist.283 Freund hat selbstverständlich Recht. Das Problem war nicht nur, dass die Beweiswürdigung als eine bloße Gewissensfrage behandelt worden ist. Trotz des Bestehens einer Begründungspflicht hat die Sachver­ 282  Beide

Revisionsarten erfolgen auf die Sachrüge hin. (1986), S. 7.

283  Freund

242

Teil 4: Auf der Suche nach einer Rechtfertigungstheorie

haltsfeststellungdogmatik bzw. die gerichtliche Praxis die Verpflichtung ei­ ner nachvollziehbaren Argumentation nie eingelöst. Wie Schünemann an­ merkt, prüfen „die Revisionsgerichte deshalb nur die Fähigkeit des Urteils­ verfassers nach, ein Sachurteil lege artis zu begründen bzw. (im pejorativen Fachjargon) das Urteil ‚revisionssicher zu nageln‘, so daß eine erfolgreiche Darstellungsrüge […] eher für die Personalakte des Urteilsverfassers als für die Richtigkeit des Urteils ein wichtiges Datum darstellt.“284 Wir kehren zurück zu dem Schluss, dass die Beweiswürdigung als Geheimnis des Tat­ richters angesehen wird (vgl. Teil 1, Abschn. A.I). Der Grund, aus dem ein Mensch verurteilt wird und möglicherweise seine Freiheit verliert, kann nicht erklärt werden. Die Beweiswürdigung ähnelt damit einem „Phänomen in einem geistigen Theater“,285 das nur dem Tatrichter zugänglich ist. Sie ist in diesem Sinne epistemisch privat. Der Inferentielle Kontextualismus bietet sowohl dem Tatgericht als auch dem Revisionsgericht eine verständliche Diskursplattform. Das Revisionsge­ richt prüft die Beweiswürdigung des Gerichts nicht einfach auf die (vage Formel der) Höhe der Anforderungen, sondern auf die Kardinalität des SED hin. Waren alle epistemisch privilegierte Aussagen „offenkundig“ i. S. v. § 244 Abs. 3 StPO? Hat der Tatrichter mit guten Gründen alle kontextrele­ vanten Zweifel ausgeräumt? Sind Beweisanträge, die kontextrelevante Zweifel ins Spiel bringen würden, abgelehnt worden? Hat der Tatrichter den Angeklagten freigesprochen, weil er Zweifel nicht ausschließen konnte, die dem Revisionsgericht nach als kontextirrelevant hätten angesehen werden sollen? Das sind nur einige der Fragen, über die wir erst durch das Modell des IK sinnvollerweise reden können.

J. Über den Status des Inferentiellen Kontextualismus Eine Frage, die bisher nicht problematisiert wurde, betrifft den philoso­ phischen Status des Inferentiellen Kontextualismus. Heftig umstritten ist, ob Wittgenstein eine Erkenntnistheorie anbietet oder ob seine Notizen, die wir als dessen drittes Meisterwerk („Über Gewißheit“) kennen, selbst eine skep­ tische Position begründen. Hier kann nicht darauf eingegangen werden. Folgendes ist allerdings zu betonen. Zwar hat Sluga Recht, wenn er sagt, dass diese Debatte bestenfalls einen didaktischen Wert hat.286 Nichtsdesto­ weniger kann die Verortung des Wissenskonzepts Wittgensteins uns helfen, sich einen Überblick über dessen Werk zu verschaffen. 284  Schünemann

(1982), S. 126. Glock (1996), S. 285. 286  Sluga (2005), S. 117. 285  So



J. Über den Status des Inferentiellen Kontextualismus243

Öfters wird die These vertreten, dass Wittgenstein, ähnlich wie die Pyr­ rhoniker, von der These ausging, Wissen über die Welt bestehe nur in Re­ lation auf ein „Bezugssystem“ (siehe PU 83, vgl. PH 1.39). Dieser These zufolge erlangen wir Wissen, das zwar Gültigkeit hat, aber nur in Relation auf die Regeln eines Sprachspiels, d. i. eines inferentiellen Kontextes. Wis­ sen stellt eine Funktion seines umgebenden Sprachspiels dar. Die Außenwelt ist nur die Ursache, aber keineswegs der Grund für unser Wissen. Außer­ halb des Kontextes haben Aussagen bzw. Wissensansprüche und -zuschrei­ bungen nicht nur einen ungültigen Status; sie haben gar keinen epistemi­ schen Status. Wittgenstein und daran anschließend Williams machen uns auf die Rolle der Grenzen unserer epistemischen Praxis aufmerksam. Diese Grenzen begrenzen nicht, sondern ermöglichen unser Wissen – ähnlich wie das Flussbett den Fluss unterhält und nicht dessen „freie Bewegung“ be­ schränkt. Der dabei unternommenen Versöhnung mit der Endlichkeit unseres Wissens liegt ein anderes, entmythologisiertes Verständnis des Begriffs der Endlichkeit zugrunde. Endlich ist unser Wissen nicht in Bezug auf ein un­ endliches, göttliches Wissen, sondern in Relation zu den (kulturspezifischen) Grenzen unserer Sprache und damit unserer erkennbaren Welt. Die Grenz­ überschreitung, die Ontologisierung unserer Sprachspiele und letztendlich die Frage, ob unsere wahren Aussagen, unser Wissen real bzw. wirklich wahr sind (ÜG 105), sind nichts anderes als eine Verhexung unseres Ver­ standes durch die Sprache. Wir werden also durch die Vereinfachung einer komplexen Sprache verhext, immer wenn wir uns fragen, ob der Verurteilte wirklich ein Verbrechen begangen hat. Die Relationierung des menschlichen Wissens erinnert uns an den Tropos der Relativität bei der pyrrhonischen Skepsis. So betrachtet ist Wittgenstein selbst ein pyrrhonischer Skeptiker. „The Pyrrhonian skeptic freely participates in common epistemic practices, draw­ ing on all the practical distinctions embodied in them. These practices are often fallible. Often this fallibility doesn’t matter, since the price of being wrong is not high. When the cost of error becomes excessive, the skeptic, like others, may seek ways to improve these practices so that the chances of error are reduced. Pictured this way, the skeptic is rather like Hume’s moderate skeptic […]: cautious, agree­ able, and sane.“287

Daraus ergibt sich die Einsicht, dass der Inferentielle Kontextualist sowie der antike Skeptiker (ob die beiden ein und dasselbe sind, kann hier dahin­ stehen) sich nicht durch ein „kognitives Delirium“288 auszeichnen, wo ge­ nerische Zweifel ins Spiel gebracht werden. Wittgenstein verwirft die Idee einer absoluten Rechtfertigung und betont, dass sinnvolles Miteinander287  Fogelin 288  Mehr

(1994), S. 88. dazu bei Gabriel, Skepsis, 118.

244

Teil 4: Auf der Suche nach einer Rechtfertigungstheorie

Reden und Argumentieren nur in dem „Space of Reasons“ stattfinden kann. Er stellt uns den Mechanismus bereit, unsere epistemische Tätigkeit an die Wichtigkeit dessen, was auf dem Spiel steht, anzupassen. Er bewegt uns dazu, ‚epistemic engineers‘ zu werden, damit wir nicht nur über die Phäno­ menologie des Wissens, sondern vielmehr über die Mechanik der Erkennt­ nistätigkeit und Wissenserzeugung reden können. Denn eine leistungsfähige epistemische Tätigkeit ist imstande, nicht nur die Welt, sondern die ihr zugrunde liegenden Strukturen zu problematisieren. Die Einsicht, dass diese Fragen sich nicht allgemeingültig beantworten lassen, soll aber nicht heißen, dass wir der Willkür Tür und Tor offen las­ sen. Der Verzicht auf allgemeingültige Prinzipien (d. i. das Forschungspro­ gramm des epistemologischen Kontextualismus insgesamt) ermöglicht uns, inferentielle Kontexte zu de- und rekontextualisieren. Eine Erkenntnistheo­ rie, die beansprucht, unsere epistemische Praxis zu leiten, damit wir ständig neues Wissen erwerben, sollte selbst eine vor Erkenntnis-Dogmatismus schützende und offene Struktur haben: „Recontextualization can go on indefinitely. But this is the open-endness of in­ quiry, not a vicious regress of justification.“289

K. Die Suche nach Wahrheit Die Erkenntnistheorie des späten Wittgensteins im oben erläuterten Sinne sowie der Ansatz Michael Williams‘ ebnen uns allen und insb. dem Tatrich­ ter einen neuen, dritten Weg jenseits des Erkenntnis-Realismus und -Idea­ lismus bzw. von materiellen und prozessualen Wahrheitstheorien. Zwischen einem metaphysischen Realismus, dem zufolge eine Aussage wahr ist, wenn sie wahr ist (ohne dass dies uns kognitiv zugänglich sein kann) und einem Antirealismus, der hauptsächlich von Anhängern der Diskurstheorie vertre­ ten wird, demzufolge Wahrheit auf konsensfähige Aussagen (als ihr Kriteri­ um) reduziert werden soll, sticht die Theorie der epistemischen Verantwort­ lichkeit hervor, die Züge beider Theorien kombiniert. Der Inferentielle Kontextualismus ermöglicht uns, epistemisch zu operie­ ren, ohne die Wahrheit von irgendeinem Kriterium abhängig zu machen, sondern sie als redundant zu behandeln. Denn dabei handelt es sich um einen erkenntnis- bzw. rechtfertigungstheoretischen Ansatz, nicht um eine Wahrheitstheorie. Der Verzicht auf a priori gültige Kriterien und damit auf eine invariable Rechtfertigungsstruktur lässt es zu, unsere Sprachspiele (in­ ferentiellen Kontexte) zu de- und rekontextualisieren. Denn der Begriff des Wissens ist mit dem des Sprachspiels verknüpft (ÜG 560) und die Sprach­ 289  Williams,

Problems, S. 227.



K. Die Suche nach Wahrheit245

spiele ändern sich mit der Zeit (ÜG 65, 560). Unser Wissensprozess ent­ puppt sich also als eine selbstkorrigierende Methode kontrollierter Wahr­ heitssuche, eine Erforschung der Realität, die, so Quine, zwar fehlbar und korrigierbar, aber keinem überwissenschaftlichen Tribunal verantwortlich ist.290 Die Versöhnung mit der Fehlbarkeit des Wissens und letztendlich mit dem Gedanken, dass die Wissenschaft sowie die gerichtliche Praxis keine Menge endgültig erkannter Wahrheiten darstellen, wird damit zum Ausdruck gebracht. Das garantiert wiederum, dass die Suche nach Wahrheit kein En­ de haben kann – was uns an eine äußerst interessante Stelle im Platons Dialog Kratylos erinnert. Dort wird dem Begriff „ἀλήθεια“ (Wahrheit) eine etymologische Analyse zugrunde gelegt.291 Platon definiert dort die Wahr­ heit, als eine leidenschaftliche (θεία) Suche (ἄλη) nach einem „Telos“, als eine unendliche Wanderung. Die Wahrheit steht nach Platon zwischen den Begriffen „suchen“ (μαίομαι) und „Lüge“ (ψεύδος), bei welchem der Be­ griff „μαίομαι“ auf die „leidenschaftliche Suche“ nach dem „schönsten Namen der Wirklichkeit“ hinweist. Im Gegensatz dazu steht „ψεύδος“ für die Selbsttäuschung und bewegt sich in die entgegengesetzte Richtung.292 Vielleicht ist dies die „Natur“ unseres „Wahrheitsbegriffs“, dass sie – so wie alle unsere Grundbegriffe – flüchtig (elusive) ist. Dadurch wird außerdem Platon dem Erkenntnis-Skeptizismus seines Lehrers gerecht, der in der Fal­ libilität unseres Wissens besteht. Das ist aber kein Grund, unsere Suche aufzugeben.

290  Quine

(1984), S. 94. Kratylos, 421 a–c: „ἡ δ’ ἀλήθεια, καὶ τοῦτο τοῖς ἄλλοις ἔοικε [συγκεκροτῆσθαι], ἡ γὰρ θεία τοῦ ὄντος φορὰ ἔοικε προσειρῆσθαι τούτῳ τῷ ῥήματι, τῇ ἀληθείᾳ, ὡς θεία οὖσα ἄλη. τὸ δὲ ψεῦδος τοὐναντίον τῇ φορᾷ.“ dt.: „SOKRA­ TES: […] Die Wahrheit, Aletheia, aber ist eben wie die übrigen auch zusammenge­ zogen, so daß das göttliche ungetrübte in der Bewegung des Seienden, ‚theia ale‘, angedeutet wird durch diesen Namen, Wahrheit nämlich als heitere Währung.“ Für die Übersetzung siehe http: /  / www.opera-platonis.de / Kratylos.html., zuletzt abgeru­ fen am 09.09.2014. 292  So Jeanniêre, (1994), S. 90 ff. 291  Platon,

Teil 5

Rechtliche Anwendungen In Teil 4, Abschn. G wurde der Frage nachgegangen, ob der Inferentielle Kontextualismus sich als erfolgreiche anti-skeptische Rechtfertigungsstrate­ gie erweisen kann. Gezeigt wurde, dass wir manche scheinbar plausible Vorannahmen des Skeptikers, auf welchen dessen durchaus destruktive Wirkung beruht, keineswegs teilen können. Indem der erkenntnistheoreti­ sche Realismus, nämlich die These, der zufolge zwischen unseren Meinun­ gen objektive Beziehungen (wegen des postulierten intrinsischen Wertes mancher von ihnen) bestehen, als eine unhaltbare These entlarvt wurde, ist es uns gelungen, eine theoretische Diagnose des Skeptizismus zu liefern. Unter Absehung sämtlicher kontextueller Faktoren haben Aussagen gar kei­ nen epistemischen Status. Diese Einsicht vermag, das Problem des Erkennt­ nis-Skeptizismus aufzulösen. Anhand der im vierten Kapitel beschriebenen kontextuellen Parameter können wir die jeweilige Rechtfertigungsstruktur modellieren und die Men­ ge der Defeater festlegen, die zulässigerweise ins Spiel gebracht werden: das Set of Epistemic Defeaters (SED). An die Stelle des Beweiskriteriums der vernünftigen Zweifel trat das SED ein, nämlich die Menge der jeweils kontextrelevanten Zweifel, die ein epistemischer Agent ausschließen oder legitimerweise ignorieren kann. Was in einem inferentiellen Kontext nicht einmal in Betracht kommt, muss man in einem anderen, anspruchsvolle(re)n IK durch Evidenzen widerlegen. Überzeugungen büßen ihren ggf. privile­ gierten epistemischen Status ein, sobald sie in einen anspruchsvolleren Kontext hineingestellt werden. Vor diesem Hintergrund ist leicht nachvoll­ ziehbar, aus welchem Grund der strafprozessualen Denkfigur des „Beweises jenseits vernünftiger Zweifel“ (proof beyond a reasonable doubt) nur eine wegweisende Funktion zukommen kann. Es erschien uns mit guten Gründen unmöglich, den Begriff „vernünftig“ zu konturieren geschweige denn zu definieren. Gezeigt wurde, dass der Rechtsprechung sowohl des deutschen Bundes­ gerichtshofes als auch des US-amerikanischen Supreme Courts reibungslos die Rechtfertigungstheorie Michael Williams zugrunde gelegt werden kann. Unsere bisherige theorielose gerichtliche Praxis entpuppt sich als eine durchaus vertretbare epistemische Praxis. Wir haben epistemisches Glück gehabt. Denn es ist immer betont worden, dass ein Tatrichter nicht alle,



Teil 5: Rechtliche Anwendungen247

sondern (nur) die vernünftigen Alternativen auszuschließen hat, um berech­ tigt zu sein, einen Anspruch auf Wissen zu erheben. Im Rahmen des Infe­ rentiellen Kontextualismus und einer nicht ein für alle Mal festgelegten Rechtfertigungsstruktur leuchtet uns dieser Gedanke ein. Was in jedem Fall für vernünftig gehalten wird, hängt von kontextuellen Parametern ab, wie der Wichtigkeit dessen, was auf dem Spiel steht, den konversationellen Normen, Wirtschaftlichkeitserwägungen usw. Die in beiden Kontinenten bzw. Rechtssystemen dominierende strafprozessuale Denkfigur des proof beyond a reasonable doubt / Beweis jenseits vernünftiger Zweifel war dem­ zufolge nicht das trojanische Pferd der Theorie, wie man meinen könnte, sondern das Oktroi einer pragmatisch fundierten Erkenntnistheorie, die die (sprachlichen) Grenzen dieser Welt nicht zu transzendieren versucht, um sie von einem objektiven Standpunkt aus betrachten zu können. Dieser Blick­ winkel wäre bloß ein Blick von nirgendwo. Denn der blinde Fleck, den der cartesianische Skeptiker bemängelt hat und aus welchem auf die Unmög­ lichkeit eines objektiven Wissens geschlossen wurde, ist der epistemische Zugang (vgl. Teil 1) zur Welt, d. i. die einzige Weise, sich informationell auf eine bedeutungsneutrale Außenwelt zu beziehen. Der cartesianische Skepti­ zismus hat sich als eine harmlose Lektion über die Endlichkeit unseres Wissens erwiesen.1 Man verobjektiviert eine Debatte (unbewusst) nicht, wenn man sie von außen und auf einmal in ihrer Gesamtheit untersuchen will; man verlässt sie lediglich. Eine Rechtfertigungstheorie, die normativ vorschreibt, welche epistemi­ schen Rechte und Pflichten man hat (nämlich was für Argumentationsstruk­ tur seiner Beweisanalyse zugrunde liegen soll) und insb. was für Zweifel (defeater) jeweils als kontextrelevant gelten, muss sich nicht nur in den juristischen Diskurs einfügen lassen bzw. in der Praxis umgesetzt werden können. Sie konstituiert vielmehr die epistemische Praxis eines gerichtli­ chen (Erkenntnis-)Verfahrens. Vor diesem Hintergrund wird im folgenden Kapitel angewandte Erkenntnistheorie (applied epistemology) betrieben. Die Rechtfertigungstheorie von Michael Williams wird in drei rechtlichen An­ wendungen demonstriert werden. Erstens (unten Teil 6) wird der Problematik des inferentiellen Kontexts im Hauptverfahren nachgegangen. Ich werde zeigen, dass der Umfang des SED in einem Strafverfahren eine ureigene Aufgabe der Rechtspolitik dar­ stellt. Die Antwort auf die Frage, wie viele Alternativen ein Tatrichter auszuschließen hat, um einen Wissensanspruch erheben zu können, hängt nicht von erkenntnistheoretischen Erwägungen ab, sondern von dem (für jede Gesellschaft anders zu bestimmenden) trade-off zwischen den kriminal­ politischen Koordinaten von Freiheit und Sicherheit. Da diese Größen sich 1  Gabriel,

Skepsis, S. 195.

248

Teil 5: Rechtliche Anwendungen

umgekehrt proportional verhalten, soll jedes Rechtssystem sich einen Schnittpunkt aussuchen und in diesem dualen Kräftefeld ein sensibles Gleichgewicht zwischen Freiheit und Sicherheit herstellen. Der inferentielle Kontextualismus hat freilich diese kriminalpolitische Entscheidung durch eine entsprechende Rechtfertigungsstruktur umzusetzen – in diesem Sinne wird ‚epistemic engineering‘ betrieben. Zweitens wird der Versuch unternommen, eine therapeutische Diagnose des Streits zwischen subjektiven und objektiven Beweismaßlehren zu liefern (unten Teil 7). Es wird gezeigt, dass die Debatte auf einem inkohärenten Gebrauch des Begriffs der Wahrscheinlichkeit beruht. Durch Begriffsexpli­ kation wird den objektiven Beweismaßlehren (erneut) eine Absage erteilt, da die Voraussetzungen für den Gebrauch des aleatorischen (objektiven) Wahrscheinlichkeitsbegriffs nicht erfüllt werden (können). Anschließend wird der Schluss nahe gelegt, dass die Rechtsprechung des Bundesgerichts­ hofs, der zufolge nicht alle, sondern nur die „vernünftigen“ Zweifel ausge­ räumt werden müssen, kontextualistisch aufgefasst werden kann. Bei der dritten und letzten Anwendung (unten Teil 8) setze ich mich mit dem Problem der Unterscheidung verschiedener Erscheinungen des Tatver­ dachts auseinander. Es soll gezeigt werden, dass der Begriff der Wahr­ scheinlichkeit als Unterscheidungskriterium schwerwiegenden Zweifeln ausgesetzt ist. Mithilfe von fünf kontextuellen Parametern werde ich versu­ chen, die in der Strafprozessordnung vorkommenden Verdachtsformen (ein­ facher, dringender und hinreichender Verdacht) als inferentielle Kontexte zu formalisieren. Das (von mir so titulierte) Kühne-Problem wird kontextualis­ tisch gelöst.

Teil 6

Epistemic Engineering – Zur Präzisierung des inferentiellen Kontextes im Strafverfahren A. Der Kontext des Strafverfahrens Einer der wichtigsten kontextuellen Parameter, der auf unsere Rechtferti­ gungsstruktur zurückwirkt, ist die Wichtigkeit dessen, was jeweils auf dem Spiel steht (utilities). Da die epistemischen Agenten nicht deduktiv-, son­ dern induktivlogisch operieren und die Konklusion nicht in den Prämissen schon enthalten ist, müssen wir die Wichtigkeit unseres probandum, d. i. die Frage, wie gravierend die Folgen einer Fehlentscheidung-in-abstracto wären (vgl. Teil 2, Abschn. G.), mitberücksichtigen. Die Beantwortung dieser Fra­ ge hat allerdings mit einer erkenntnistheoretischen Untersuchung wenig zu tun. Dabei handelt es sich um eine kriminalpolitische Entscheidung. Auf das Strafverfahren angewendet setzt die Präzisierung eines allgemeinen inferen­ tiellen Kontextes die Vergegenwärtigung des rechtspolitischen Rahmens und die Abwägung zwischen verschiedenen kriminalpolitischen Zwecken vo­ raus.1 Erst im Hinblick auf den rechtspolitischen Rahmen vermag man sich Klarheit darüber zu verschaffen, wie gravierend – wenn überhaupt – es beispielsweise wäre, rechtstreue Bürger verurteilen zu lassen. Man kommt ohne ein relativ klares Bild über die Identität eines Rechtssystems, in dem eine der umstrittensten politischen und rechtlichen Institutionen2 unserer Kultur eingebettet und in Gang gesetzt wird nicht weiter: „Was feststeht, tut dies nicht, weil es an sich offenbar oder einleuchtend ist, son­ dern es wird von dem, was darum herumliegt, festgehalten.“ (ÜG 144)

Die Rede ist hier von den Koordinaten der Kriminalpolitik und des Nor­ mensystems, welches sie umsetzt. Denn jede Diskussion, die im strafrecht­ lichen Diskurs lebhaft geführt wird, ob zu den Grenzen des modernen Straf­ rechts oder zu dessen Legitimation, zur Zulässigkeit der Rasterfahndung 1  Ähnlich aus anderem Anlass Jakobs (1995), S. 844 ff., insb. S. 846. Der Autor merkt an, dass es nicht denkbar sei, Gesellschaft und Strafrecht auseinanderzureißen: „Das Strafrecht stellt eine sehr aussagekräftige Visitenkarte der Gesellschaft dar, wie sich umgekehrt aus anderen Teilen der Gesellschaft einigermaßen verläßlich auf das Strafrecht schließen läßt.“ 2  Vgl. Salas (2005), S. IX.

250

Teil 6: Präzisierung des inferentiellen Kontextes im Strafverfahren

o. Ä., wird von einer begrifflichen Bedingung abhängig gemacht. Jegliche strafrechtsrelevante Problematik lässt sich erst in Bezug auf diese zwei Koor­ dinaten beschreiben und verstehen: Sicherheit und Freiheit. Erst das Konzept des Tauziehens zwischen zwei voneinander nicht unabhängigen Variablen er­ möglicht es,3 dass wir uns Klarheit darüber verschaffen, wie unser Strafrecht sich im politischen Spektrum positioniert, und zwar ohne auf indexikalische Begriffe wie „hier“ und „jetzt“ oder Tautologien rekurrieren zu müssen. Demnach werden wir erst dann dem Charakter des Strafrechts als angewand­ tem Verfassungsrecht gerecht, wenn wir eine Erklärung dafür liefern, wie sich eine dogmatische Lösung auf die Variablen von Sicherheit und Freiheit bezieht. Erst das Erfassen der Grammatik des Strafrechts ermöglicht es uns, sinngemäß darüber und effektiv miteinander zu reden. Bezieht man eine Stel­ lung etwa über den Sinn und die Zweckmäßigkeit der Bestrafung der unter­ lassenen Hilfeleistung, ohne dabei seine These auf der Plattform jenes Koor­ dinatensystems anzusiedeln, sind wir nicht mal in der Lage, seiner Argumen­ tation zu folgen. Auf die konstitutive Funktion der Grammatik für unsere Kommunikation macht uns Wittgenstein aufmerksam: „Wenn ein Löwe sprechen könnte, wir könnten ihn nicht verstehen.“ (PU II 568)

Uns würden seine grammatischen Regeln fehlen. Im Rahmen dieser An­ wendung möchte ich zeigen, wie der jeweilige politische Charakter des Strafrechts, nämlich der Punkt P = (S, F) beweisrechtlich umzusetzen ist.4

B. Die Situation des Ignoramus Ferner wurde bereits dargelegt (vgl. Teil 2), dass es sich bei der sog. komplexen Art doppelter Aufgabe des Strafverfahrens, die nach h. M. in dem (Schutz des Unschuldigen und der Bestrafung des Schuldigen) besteht, um einen ‚Interpretationsfehler‘ bei der Umsetzung des kriminalpolitischen Programms handelt. Denn die Tatrichter nehmen im Strafverfahren die Position des Ignoramus ein, und können – anders als bei der Behandlung von Problemen des materiellen Strafrechts – beweisanalytische und beweisrecht­ liche Probleme nicht ausblenden, sondern haben ganz im Gegenteil Ent­ scheidungen unter Unsicherheit zu treffen. Sobald wir bei dem Strafverfah­ ren sind und probabilistisch operieren, kann die Rede nur von Angeklagten sein, die ggf. für schuldig gehalten und verurteilt werden. Letzteres ist nicht der Preis, sondern die logische Folgerung, die wir ziehen, solange wir uns von der Position des Wissenden verabschieden.5 3  Bei einem cartesianischen Koordinatensystem verhalten sich zwei oder meh­ rere Variablen unabhängig voneinander. 4  S steht für Sicherheit und F für Freiheit. 5  Ähnlich bei Ho (2008), S. 173 ff.



B. Die Situation des Ignoramus251

I. Die Strafe als Januskopf Erst vom Standpunkt des Ignoramus aus betrachtet kann man nachvoll­ ziehen, dass ausgerechnet im Spannungsfeld des Strafverfahrens das Inte­ resse des Staates am Eingriff in die verfassungsrechtlich geschützte Persön­ lichkeitssphäre des Bürgers und der Schutz eben dieser Sphäre sich gegen­ läufig bewegen und verändern.6 Dasselbe Verhältnis vermag aus einem weiteren Grund die Ambivalenz der öffentlichen Gewalt zutage zu fördern, deren Speerspitze zweifellos die freiheitsentziehende und stigmatisierende Strafe darstellt. Ambivalent ist die öffentliche Gewalt nicht nur, weil sie zu stetiger Expansion neigt (da sie nämlich just das gefährdet, was sie eigent­ lich zu schützen verpflichtet ist, nämlich den Rechtsfrieden),7 sondern vor allem deswegen, weil sie faktenkontingent ist.8 Angeklagte werden nur dann verurteilt, wenn der Tatrichter sich in einer derart starken epistemischen Position befindet, um die kontextrelevanten Zweifel auszuschließen. Die sich aufdrängende Frage lautet: Welche Alter­ nativen sind für das Strafverfahren relevant? Welche Defeater dürfen gegen die Anwendung der Strafe eingesetzt werden? Der Inferentielle Kontextua­ lismus erklärt uns nur, wie und worauf wir die Struktur unserer Rechtferti­ gung aufbauen sollen, um sie einerseits gegen den erkenntnisskeptischen Zweifel zu sichern und andererseits vor dem Mythos des Gegebenen schüt­ zen zu können. Dabei handelt es sich um die externen Grenzen unserer epistemischen Praxis. Wie viele Defeater allerdings jeweils ins Spiel kom­ men, wie viele bzw. was für Zweifel legitimerweise ignoriert werden kön­ nen, nämlich wie die internen Grenzen derselben Praxis laufen, lässt sich weder von vornherein festlegen noch der Erkenntnistheorie oder den Recht­ fertigungsstrukturen des Inferentiellen Kontextualismus entnehmen. Dafür sollten wir erneut unsere Betrachtungsweise wechseln und die Position des Wissenden einnehmen. Denn erst die Koordinaten der Kriminalpolitik kön­ nen uns darüber informieren, wie weit unsere Rechtfertigungsstruktur reicht. Wenn der Erkenntnistheorie – bildlich gesprochen – die Rolle des Bauinge­ nieurs für die Urteilsbegründung zuzuschreiben wäre, so wäre für die staat­ liche Kriminalpolitik die Rolle des Architekten passend. Genauer gesagt wird der Kriminalpolitik und dem Strafverfahrenssystem innerhalb des Spektrums unserer epistemischen Praxis (dessen Untermaßverbot der My­ thos des Gegebenen und dessen Übermaßverbot die skeptischen Zweifel sind) ein breiter Spielraum für Anforderungen an den Beweis eingeräumt. Die Entscheidung über die Kardinalität der SED ist eine ureigene Aufgabe 6  Kühne

(1979), S. 617. (2008), S. 14 f. 8  Goldman (1999), S. 278. 7  Depenheuer

252

Teil 6: Präzisierung des inferentiellen Kontextes im Strafverfahren

der Kriminalpolitik. In diesem Sinne ist nicht nur Strafgesetzgebung, son­ dern auch die Bestimmung des inferentiellen Kontextes keine schlichte Abbildung natur- oder verfassungsrechtlicher Grundsätze.9

II. Das Strafrecht dient zwei Zwecken Die Ambivalenz der Strafe erinnert uns daran, dass in jedem Rechtsstaat davon ausgegangen werden kann und soll, dass diejenigen, die eine rechts­ widrige und zurechenbare Straftat begangen haben, verurteilt werden dürfen. Erforderlich also ist ein epistemischer Mechanismus, der mit Treffsicherheit zwischen Tätern und Nicht-Tätern unterscheiden kann.10 Bei dem rechtsstaat­ lichen Gebot, dass nur Täter bestraft und rechtstreue Bürger geschützt wer­ den sollen, handelt es sich um die zwei Seiten derselben Medaille, der Mono­ polisierung der Gewalt durch den Staat. Denn die Geschichte des modernen Staates ist die Geschichte der Überwindung unkontrollierter politischer Ge­ walt durch die Zuweisung eines beliebigen Rationalitätsanforderungen oblie­ genden Gewaltmonopols an dem Staat.11 Eine private Vergeltung kann nicht mehr als Bestrafung, sondern nur als Rache empfunden werden.12 In dem Normenspiel des modernen Staates entspricht dem Zug der Monopolisierung der öffentlichen Gewalt ein Gegenzug von elementarer Bedeutung: das Si­ cherheitsversprechen des Staates an die Bürger: ein Versprechen der rationa­ len Strafanwendung.13 Aus diesen Zügen im Rahmen des kriminalpolitischen Spiels resultieren die zwei teleologischen Aufgaben einer Kriminalpolitik: a) die Eindämmung der Kriminalität und Bestrafung der Täter strafwürdiger Handlungen und b) der Schutz der rechtstreuen Bürger.14 Die inhaltliche Be­ NK4–Hassemer / Neumann, vor § 1 Rn. 86. (1999), S. 278: „It is important to distinguish between metaphysi­ cally easy and epistemologically easy cases. If all the material facts of a case are ‚given‘, metaphysically speaking, it may be straightforward how it ought to be clas­ sified. But this does not mean that it is epistemologically easy to determine what those facts are. In particular it may not be easy for the legal trier of fact to make this determination. Witnesses to the crucial material facts may no longer be alive, or what witnesses there are may be disposed to hide or distort the facts. So meta­ physically easy cases may be epistemologically hard to decide.“ 11  Depenheuer (2008), S. 14 f. 12  Pawlik, Notwehr, S. 285. 13  Grundlegend dazu Isensee (1983), S. 33 ff.; aus der angelsächsischen Literatur siehe nur Roberts / Zuckerman (2004), S. 17: „… at the same time public confidence in the administration of criminal justice also depends on the state’s ability to provide citizens with adequate protection from criminal wrongdoing and to bring offenders to justice.“ 14  Ähnlich Roberts / Zuckerman (2004), S.  17: „In the modern democratic ­Rechtsstaat – the political community characterized by its adherence to the Rule of 9  Dazu

10  Goldman



B. Die Situation des Ignoramus253

stimmung und Beurteilung der Erfüllung dieser Aufgaben wird an den Koor­ dinaten ‚Sicherheit‘ und ‚Freiheit‘ gemessen. 1. Die Befriedungsfunktion Unverzichtbar und aus einem Rechtsstaat nicht wegzudenken ist das Strafrecht wegen seiner Befriedungsfunktion.15 So umstritten die Veranke­ rung eines Rechts auf Sicherheit in der Verfassung sein mag, wird hier dennoch davon ausgegangen, dass die Funktionstüchtigkeit der Strafrechts­ pflege ein Element des Rechtsstaates ist.16 Nach dem Bundesverfassungsge­ richt stellen die Sicherheit des Staates sowie die von ihm gewährleistete Sicherheit der Bevölkerung Verfassungswerte dar. Sie sollen mit anderen Grundrechten in gleichem Rang stehen und als unverzichtbar betrachtet werden, da die Institution des Staats von ihnen die eigentliche und letzte Rechtfertigung herleitet.17 Da der Staat seine Sicherheitsaufgabe nicht nur durch den bloßen Erlass von Gesetzen, sondern erst durch ihren wirksamen Vollzug erfüllt,18 besteht dieselbe Funktion in der Eindämmung der Krimi­ nalität, als erfolgreiche Umsetzung des materiellen Programms der straf­ rechtlichen Gesetze.19 Daraus resultiert nämlich die Pflicht des Staates, die Grundrechte nicht nur zu achten, sondern auch sich fördernd und schützend vor sie zu stellen und sie vor rechtswidrigen Eingriffen zu bewahren.20 Dieser Staat wird nicht als Leviathan, sondern als Partner gegen die Risiken einer komplexen Welt konzipiert und empfunden.21 Die Achtung der Grundrechte und deren positiver Schutz durch Kriminalisierung sozialschäd­ lichen Verhaltens, die positive und negative Leseart des Konzepts der Si­ cherheit vor dem und just durch den Staat, bilden nach Isensee ein integra­ les Ganzes: das Grundrecht auf Sicherheit.22 Damit werde Sicherheit von Law – it is essential that the state and its agents themselves obey the law and re­ spect the legal limits of their authority, as opposed to cynically exploiting partisan laws to coerce others whilst themselves flouting the law’s demands.“ 15  Pars pro toto Hellmann (2006), S. 1, Rn. 2 ff. 16  Vgl. BVerfGE 33, 367 (383); 44, 353 (374); 74, 257 (262). 17  BVerfGE 49, 24. 18  Isensee (1983), S. 21. 19  Neumann, Gerechtigkeit, S. 52 f., betont, dass Gerechtigkeit, die in der Her­ beiführung einer gerechten Entscheidung bestehe, das staatliche Recht als Richtmaß habe: In diesem Sinne sei das Ziel der gerechten Entscheidung mit der Verwirkli­ chung des materiellen Strafrechts praktisch identisch. 20  Isensee (1983), S. 27. 21  Näher Jakobs (1995); Hassemer (2002). 22  Isensee (1983), S. 33; der Autor leitet aus der Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpflichten der staatlichen Gewalt ein im Grundgesetz verankertes Grundrecht auf Sicherheit, ab; vgl. Hassemer, Sicherheit, S. 17: „Die Herstellung von Sicherheit

254

Teil 6: Präzisierung des inferentiellen Kontextes im Strafverfahren

einem „bloßen Reflex polizeilichen Handelns“ zu einem Recht aufgewertet; ein Grundrecht, dessen Sicherung vom Staat gefördert werden solle.23 Das Strafrechtssystem garantiert uns, dass möglichst jedes strafwürdige Handeln verfolgt und angemessen bestraft wird. Das Strafverfahren wird demzufolge in Gang gesetzt, um auf eine Straftat auf eine institutionelle Wei­ se zu reagieren, d. h. die Tat aufzuklären und den staatlichen Strafanspruch durchzusetzen.24 Mit der Befriedungsfunktion des Strafrechts hängt u. a. der Befriedungseffekt der Strafe zusammen, der sich dann einstellt, wenn das allgemeine Rechtsbewusstsein sich aufgrund der Sanktion des Rechtsbruchs beruhigt und den Konflikt mit dem Täter als erledigt ansieht.25 2. Die Orientierungsfunktion Die Umsetzung des Rechts auf Sicherheit und die Pflicht einer funktions­ tüchtigen Strafrechtspflege, die die Kriminalität zu bekämpfen in der Lage ist, kann allerdings die Verbindungen des Strafrechts mit materiellrechtli­ chen Zielbestimmungen wie der positiven Generalprävention nicht verleug­ nen.26 Hassemer merkt an, dass die klassische Aufgabenbestimmung für sich betrachtet an unserem Verständnis von einem modernen Strafrecht nicht vorbeikommen kann.27 Das Strafrecht bloß auf die Bestrafung von Straftaten zu reduzieren wäre selbstreferentiell. Erst die Zuweisung der Rolle eines Agenten der bürgerlichen Sicherheit vermag die staatliche Re­ aktion auf ein Verbrechen als strafendes Tun zu erfassen und das Strafrecht zu legitimieren. Das heißt unverzichtbar ist das moderne Strafrecht zusätz­ lich auch wegen seiner Orientierungsfunktion. Denn der Pfeil des Strafrechts richtet sich nicht nur auf die Vergangenheit; gleichzeitig und wohl haupt­ sächlich ist das Strafrecht zukunftsorientiert.28 Da das materielle Recht als ultima ratio zum Rechtsgüterschutz betrachtet wird, werden die Rechtsgüter primär nicht durch Sanktionsnormen (etwa die Vorschriften des StGB) ge­ schützt, sondern durch ein System von Verhaltensnormen, durch Ge- und durch Strafrecht ist nichts weiter als eine vernünftige Aufgabe in Zeiten, die durch Großrisiken, Zukunftsangst, Verbrechensfurcht und Kontrollbedürfnisse gekenn­ zeichnet sind.“ m. w. N.; näher dazu Hassemer (2002) S. 10 f. 23  Jakobs (1995), S. 857. 24  Ranft (2005), Rn. 4. 25  Roxin (2006), § 3 Rn. 27. 26  Eine Behandlung des einschlägigen Problembereichs würde den Rahmen der hiesigen Arbeit sprengen. Auf eine Diskussion über die Funktion der Strafe wird deswegen hier verzichtet. 27  Hassemer, Sicherheit, S. 11. 28  Freund (2009), S. 3 f.



B. Die Situation des Ignoramus255

Verbote.29 Hier darf davon ausgegangen werden, dass unmittelbares Rechts­ gut einer Sanktionsnorm die Erhaltung der Geltungskraft von Verhaltensnor­ men ist, die wiederum Rechtsgüter wie Leben, Eigentum usw. schützen. Anhand ähnlicher Verhaltensnormen (wie z. B.: Du sollst nicht töten) ver­ pflichtet uns die Strafrechtsordnung zu einem bestimmten Verhalten.30 Das Phänomen der Verhaltenssteuerung, das Engisch mit großer Präzision als „Richtschnur für unser Verhalten“ bezeichnet hat,31 zielt darauf ab, unsere sozialen Kontakte nicht zu einem unkalkulierbarem Risiko werden zu las­ sen.32 Planbar werden unsere sozialen Kontakte erst dann, wenn die Andro­ hung und Anwendung der Strafe als schärfste staatliche Reaktion auf das Verbrechen die Rechtstreue der Bevölkerung stärkt,33 indem den Rechtsad­ ressaten verdeutlicht wird, dass kriminelle Handlungsmuster keine attraktive Alternative zum sozial erwünschten Verhalten darstellen.34 Diese Einübung in die Normanerkennung erinnert uns ständig daran, dass es sich lohnt, unser Verhalten auf die Ge- und Verbote der jeweiligen Rechtsordnung zu orientieren. Diesbezüglich können wir mit Depenheuer festhalten, dass ein Rechts­ staat auf Bürger angewiesen ist, die nicht nur seine freiheitlichen, demokra­ tischen, rechts- und sozialstaatlichen Leistungen in Anspruch nehmen, son­ dern auch mindestens bereit sind, ihr Verhalten an rechtliche Normen frei­ willig anzupassen.35 Dieser selbstmotivierte Gehorsam ist allerdings nicht bedingungslos, sondern steht unter einem Vorbehalt: Diese Wechselbezie­ hung darf nicht von Seiten des Staates enttäuscht werden, indem der eine oder andere Bürger trotz seines von Normen gesteuerten Verhaltens bestraft wird. Dass keiner, der sich an diese Normen hält, wegen eines Verbrechens, das er niemals begangen hat, verurteilt wird, ist eine notwendige Vorausset­ zung der präventiven Funktion der Strafe. Gerechtigkeit oder jedenfalls deren retributiver Aspekt besteht darin, dass das Strafverfahren möglichst akkurat ist. „Just Deserts“ ist als Konzept auf ein Beweiskriterium angewie­ 29  Freund

(2009), S. 34. (2004), S. 5, Rn. 23; aus der angelsächsischen Literatur siehe u. a. Nesson (1985), S. 1358–1360, insb. S. 1359: „A primary goal of the legal system is to en­ courage and enable citizens to assimilate legal rules into their behavior. Through trials, society seeks not only to discover the truth about a past event, but also to forge a link between crime and punishment, between wrong and liability. Society attempts, through the judgments of its courts, to project a behavioral message that will influence individuals’ conduct.“ Vgl. Ho (2008), 58 f. 31  Engisch (1963), S. 3. 32  So Jakobs, (1993), S. 6, Rn. 4 ff. 33  Hellmann (2006), S. 2. 34  Dölling (1990), S. 11. 35  Depenheuer (2008), S. 9. 30  Otto

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Teil 6: Präzisierung des inferentiellen Kontextes im Strafverfahren

sen, dessen Teststärke befriedigend zwischen Tätern und rechtstreuen Bür­ gern differenzieren kann.36 Der nüchterne Fahrer kann nicht etwa wegen Trunkenheit am Lenker bestraft werden; ähnlich werden die Erwartungen des friedlichen Demonstranten enttäuscht, falls er aufgrund von falschen Zeugenaussagen als vermummter Störer verurteilt wird. Nach Dworkin er­ leiden diese Bürger einen moralischen Schaden (moral harm), der im Rah­ men eines Rechtsstaates nicht tolerabel ist.37 Ein solches False-positiveStrafurteil würde die pragmatische Bedingung der Orientierungsfunktion des Strafrechts, seine akkurate Anwendung durch die Bestrafung der im mate­ riell-rechtlichen Sinne Schuldigen und Schutz der Unschuldigen, in Zweifel ziehen. Straftheoretiker machen darauf aufmerksam, dass es ein Hauptmerk­ mal jeglicher Art von liberaler Politik ist, dass nur diejenigen Menschen zur Rechenschaft gezogen werden, die eine Straftat begangen haben.38 Andern­ falls wäre schwer zu leugnen, dass Bürger als Rechtsadressaten kaum bereit wären, sich an Normen zu halten, solange dies keine hinreichende Bedin­ gung darstellen würde, nicht verfolgt und bestraft zu werden. 3. Das Strafrecht dient zwei gegenläufigen Zwecken Alles in allem kommen dem Strafrecht zwei für einen Rechtsstaat identi­ tätsstiftende Funktionen zu: die Befriedungs- und die Orientierungsfunktion. Den Aufgaben, die diesen Funktionen entsprechen (Schutz der Bürger von ungerechtfertigten Strafen und Bestrafung der rechtswidrigen Taten), wird eine hohe Plausibilität zugeschrieben, da keiner bereit wäre, sie für sich genommen als Ziele einer modernen Kriminalpolitik zu bestreiten. Sogar von der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ (Art. 3) werden Frei­ heit und Sicherheit kumulativ gefordert: „Jeder Mensch hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person.“39 Dieses Schema gerät aller­ dings sehr schnell ins Wanken, sobald man anfängt, es systematisch zu betrachten. Der Grund ist, dass dem Strafrecht eine doppelte Aufgabe zuge­ wiesen wird; dabei handelt es sich allerdings um eine Pflichtenkollision.40 etwa Moore (1997), Kap. 2–4. (1985), S. 92. 38  Duff (2001), S. 9 ff. 39  Noch deutlicher die EU-Grundrechtscharta im Art. 6: „Jeder Mensch hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit.“ 40  Vgl. Roberts / Zuckerman (2004), S. 17: „In demanding both effective convic­ tion of the guilty and solicitous protection of the innocent from wrongful conviction and high standards of moral integrity, public confidence is a stern taskmaster with exacting, and potentially contradictory, expectations of the administration of justice.“ Hassemer, Sicherheit, S. 23 spricht von dem Druck, „einerseits Sicherheit herzustel­ len und andererseits gleichwohl seinen Garantien zu bewahren“. 36  Vgl.

37  Dworkin,



B. Die Situation des Ignoramus257

Der Bürger hofft auf Unmögliches, wenn er vom Staat absolute Freiheit und gleichzeitig absolute Sicherheit erwartet, da die eine Funktion sich nur auf Kosten der anderen verwirklichen lässt, betont Isensee.41 Wie bereits darge­ legt, ist die Kriminalpolitik ein nicht-cartesianisches Koordinatensystem: Alle Entscheidungen, die sich auf eine Funktion beziehen oder gar deren Überbetonung haben Auswirkungen auf die jeweils andere. In Anbetracht dieser Funktionenkollision gilt es, eine Balance zu etablieren. a) Kontext-Smax Versucht man das Verbrechen effektiv zu bekämpfen und das Ziel der Kriminalitätseindämmung beweisrechtlich umzusetzen, so stellt man schnell fest, dass die Anforderungen an die ein Strafurteil ermöglichende Beweis­ würdigung nicht besonders hoch sein können. So setzt man den IK niedrig genug an, damit der epistemische Agent nicht vielen epistemischen Pflichten nachzugehen hat. Je niedriger der IK festgelegt wird, desto mehr Angeklag­ te werden verurteilt und wiederum weniger Verbrecher werden der Strafe entgehen können. Damit bleibt aber die zweite Funktion des Strafrechts unerfüllt. Ein nicht anspruchsvolles Beweiskriterium führt nämlich dazu, dass mehrere Angeklagte – unter ihnen auch diejenigen, die kein Verbrechen begangen haben – verurteilt werden. Die Rechtstreue der Bürger wird da­ durch in toto enttäuscht, weil rechtmäßiges Verhalten keine hinreichende Bedingung dafür ist, nicht bestraft zu werden. Die Verwirklichung der Kri­ minalitätseindämmung führt zum Verzicht auf die Orientierungsfunktion, wobei der Staat den status negativus seiner Bürger nicht abzuschirmen vermag: Sicherheit ohne Freiheit ist eine blinde Strafanwendungsmaschinerie. Diese Konstellation nenne ich Kontext-Smax. b) Kontext-Lmax Wird der zweiten strafrechtlichen Funktion Vorrang eingeräumt, so rückt der Schutz der Unschuldigen im Vordergrund. Sind demgemäß die Anforde­ rungen an den Beweis einer Straftat übermäßig hoch, um das Risiko einer Fehlverurteilung zu eliminieren, etwa wenn wir „irgendwie vorstellbare“, „in nebelhafter Ferne“ (RG, JW 1929 S. 864, RGSt 61 202) liegende Mög­ lichkeiten berücksichtigen, so ist der Preis besonders hoch. Aus dem Willen eines Strafrechtssystems, den Bürgern Sicherheit vor (im materiellrechtli­ chen Sinne) ungerechtfertigten Strafen zu gewähren, resultiert unausweich­ 41  Isensee

(1983), S. 1.

258

Teil 6: Präzisierung des inferentiellen Kontextes im Strafverfahren

lich die Einbuße an Sicherheit. Die Überbetonung der Orientierungsfunktion resultiert in einem Verzicht auf die Befriedungsfunktion und den Schutz des status positivus der Bürger. Das Recht auf Sicherheit wird dadurch ent­ täuscht: Freiheit ohne Sicherheit ist ein leeres Wort. Diese Konstellation nenne ich Kontext-Lmax. Das Strafrecht dient also zwei gegenläufigen Zwecken: a) dem Schutz der Gesellschaft durch die Anwendung und Vollstreckung von Strafen, was zu einem niedrigen Beweiskriterium führt und b) dem Schutz des Angeklagten, was zu einem anspruchsvollen Beweiskriterium führt. Bei beiden Konstel­ lationen (Kontext-Smax, Kontext-Lmax) haben wir ein nicht akzeptables Er­ gebnis, solange wir keinen Verzicht auf eine der Funktionen des Strafrechts in Kauf nehmen wollen. 4. Das sensible Gleichgewicht In der Literatur gilt es als unumstritten, dass weder die absolute Sicher­ heit noch die absolute Freiheit Ziele eines Rechtsstaates sein können.42 Der Grund dafür ist, dass die Überbetonung der einen Funktion das gesamte Strafrechtssystem samt der jeweils anderen Funktion zu Fall bringt. Die Kriminalpolitik birgt folglich zwei gegenläufige Tendenzen in sich und das Strafrecht kann jede seiner beiden Funktionen nur auf Kosten der jeweils anderen erfüllen.43 Die Konsequenz dieser endogenen Wechselbeziehung ist, dass je mehr wir uns dagegen absichern wollen, rechtstreue Bürger nicht verurteilen zu lassen, das Risiko desto größer wird, dass Straftäter der Stra­ fe entgehen und umgekehrt. In diesem Sinne erscheint eine Metapher hilf­ reich zu sein. Der inferentielle Kontext, nämlich die Menge der Defeater, die die Kriminalpolitik zulässt, sowie die daraus resultierenden Anforderun­ gen an den Wissensanspruch eines Tatrichters, ähneln dem biologischen Abwehrsystem höherer Lebewesen: Bei einer schwachen oder gar fehlenden Immunantwort wird der Körper gegen Krankheitserreger nicht hinreichend verteidigt. Bei einer überschießenden, hyperaktiven Immunreaktion wird allerdings samt Viren und Eindringlingen körpereigenes Gewebe zerstört. Die Kriminalpolitik ist daher pragmatisch gezwungen, bei dem Aufbau der Rechtfertigungsstruktur, innerhalb derer die Tatrichter operieren, eine heikle Balance aufrechtzuerhalten und zwischen der Scylla der Einbuße an effek­ dazu Bitzilekis (2011), S. 5. Konstellation behandelt implizit auch das BVerfG die Rede (BVerfG NJW 2004, 3408), wenn es darauf verweist, dass „vor allem in mehrpoligen Grund­ rechtverhältnissen sensible Abwägungen zwischen verschiedenen subjektiven Rechtspositionen“ erforderlich seien, „die bei einer Änderung der Subjekte des Rechtsstreits oder durch eine Änderung der tatsächlichen oder rechtlichen Verhält­ nisse im Ergebnis anders ausfallen könne“. 42  Ausführlich 43  Diese



B. Die Situation des Ignoramus259

tiver Verbrechensbekämpfung und sozialer Ordnung, d. h. dem Verzicht auf die Befriedungsfunktion und der Charybdis des mangelhaften Schutzes rechtstreuer Bürger, d. h. dem Verzicht auf die Orientierungsfunktion hin­ durchzuschiffen. Der Staat gibt sich, so Isensee, nicht nur dann Preis, wenn er die Freiheit unterdrückt, sondern auch, wenn er die Freiheit der Bürger vorenthält.44 Ob nun eine Kriminalpolitik freiheits- oder sicherheitsorientiert sein wird, ob nämlich die oben beschriebene Kollision eher zu Lasten oder zu Gunsten der rechtstreuen Bürger gelöst werden soll, ist ureigener Gegenstand einer kriminalpolitischen Abwägung und Gesetzesgestaltung. Diese These bedarf einer Erklärung. Dem Tracking-Prinzip folgend, wendet sich die Strafpro­ zessrechtsdogmatik der Erkenntnistheorie zu, um eine Antwort auf die Frage zu bekommen, wann die Anklage als bewiesen gelten darf. Der Infe­ rentielle Kontextualismus, als erkenntnistheoretischer Ansatz, weist diese Frage allerdings zurück. Denn inferentielle Kontextualisten sehen die Utili­ ties, die jede normative Disziplin miteinbezieht, als einen wichtigen Para­ meter unserer epistemischen Praxis an. Sie stellen uns zwar die inferentiel­ le Rechtfertigungsstruktur für die Beweiswürdigung bereit. Sie verweisen uns allerdings auf ihre fehlende Zuständigkeit, was die Kardinalität des SED, nämlich der Menge der kontextrelevanten Alternativen betrifft. Ob ein inferentieller Kontext mehr oder weniger anspruchsvoll sein wird, wird nicht im Rahmen einer erkenntnistheoretischen Untersuchung entschieden. Die Weigerung, diese Frage zu beantworten, unterscheidet den epistemolo­ gischen Kontextualismus von dem Invariantismus. Indem der Kontextualis­ mus auf den jeweiligen inferentiellen Kontext verweist, weigert er sich, uns eine inhaltliche Antwort zu liefern; innerhalb der Grenzen des epistemischen Spektrums entscheidet sich jede Community selbst, wie viele Defeater ins Spiel kommen, damit ein Wissensanspruch ermöglicht wird. Der IK kann uns nicht anbieten, was Juristen von ihm erwarteten. Da also die Kriminalpolitik im Prinzip kriminalpolitisches Handeln ist und dem Gesetzgeber ein erheblicher Entscheidungsspielraum zur Verfü­ gung steht, wäre jeder Versuch, das oben beschriebene Equilibrium ein für alle Mal, nämlich situationsunabhängig festzulegen, von vornherein zum Scheitern verurteilt. Nicht bessere Chancen hätten wir, wenn wir das Phä­ nomen der Kriminalität als Ganzes betrachten und für jedes Verbrechen und jeden Versuch, die Tat aufzuklären, eine einzige Menge (SED) von Defeater verlangen würden. Denn es ist schwer zu leugnen, dass wir mit guten Grün­ den einer Bagatelle anders als einem Mordvorwurf nachgehen. Die Chancen stehen etwas besser, wenn wir versuchen, die Gründe dieses Scheiterns aufzuklären. In diesem Punkt finde ich zum einen den Gedankengang Ja­ 44  Isensee

(1983), S. 60.

260

Teil 6: Präzisierung des inferentiellen Kontextes im Strafverfahren

kobs zum Thema „Inhalt und Aufgabe der staatlichen Strafe“ hilfreich und möchte ihn analog hierzu verwenden.45 Jakobs beginnt sein klassisches Lehrbuch mit der Erklärung, dass eine Antwort auf die Frage, welcher In­ halt bzw. welche Aufgabe der Strafe als staatlicher Sanktion zukommt, sich nicht unabhängig von der Verständigung über den Sinn der Ordnung, in der es bestraft wird, ausmachen lässt. Bei einem Staat ohne existentielle Prob­ leme wird z. B. mehr Wert auf den präventiven Charakter der Strafe gelegt, während bei einem in akuter Gefahr sich befindenden Staat eine kurzfristi­ ge Ineffektivität der Strafe nicht in Kauf genommen werden könnte. Der Staat, der seine Stabilität durch massiven Bruch seiner Normen gefährdet sieht, bündelt dann all seine Kräfte zur Abwehr einer existentiellen Bedro­ hung und suspendiert, so Depenheuer, ganz oder teilweise das Recht der Normallage, indem nach Art. 115a GG der Verteidigungsfall ausgerufen wird.46 Dem Staat geht es hierbei um alles oder nichts. Weniger dramatisch, aber strukturell ähnlich ist die Abwägung eines Strafrechtssystems bei der Festlegung des inferentiellen Kontextes für ver­ schiedene Kategorien von Straftaten anhand von fünf kontextuellen Parame­ tern. Das Faktum unserer gerichtlichen Praxis, dass a) einerseits niemand auf die Idee käme, einen Psychiater hinzuziehen, um die Zurechnungsfähig­ keit des Angeklagten bei einer Bagatelle zu begutachten und b) dass ande­ rerseits niemand auf die Idee käme, keinen Psychiater hinzuziehen, wenn bei einem Mordprozess die Freiheit einer Person auf dem Spiel steht, wird nunmehr in neuem Licht dargestellt. Der Inferentielle Kontextualismus legt den frappierenden Schluss nahe, dass diese gerichtliche Praxis zunächst eine akzeptable epistemische Praxis sein kann und dass man, ohne Radika­ les zu ändern, unserer gerichtlichen Praxis den IK zugrunde legen kann. Das Verdienst ist nur, dass wir dieses Faktum, dass eine von Situation zu Situation neu zu bestimmende Menge von Alternativen in Betracht kommt, einer detaillierten Kontrolle unterwerfen können. So können wir nicht nur die Was-Frage (Quid facti?), sondern die noch wichtigere Warum-Frage (Quid juris?) beantworten. 45  Jakobs (1993), S. 5, Rn. 1  ff.; ähnlich Hassemer / Neumann (2010), Rn. 86: „Insbesondere die Einsichten in die Zweckmäßigkeit der Strafwürdigkeitsbestim­ mung begründen für den Strafgesetzgeber das Recht, […] Inhalt und Umfang der Strafnormen zeitgerecht und wirkungsvoll zu gestalten: einerseits etwa bei hoher Bedrohungsintensität vergleichsweise deutlich zu reagieren und – bei Motivierbar­ keit der Betroffenen – auf das Konzept der Abschreckung zu setzen, andererseits bei geeigneten Verhaltenstypen und in günstigen Zeiten die Möglichkeit einer Entkrimi­ nalisierung durchzusetzen, den Strafrichter im Rahmen des verfassungsrechtlichen Erlaubten und justizpolitisch Erträglichen mit den Möglichkeiten einer Milderung vor allem im Rechtsfolgenbereich auszustatten […].“ 46  Depenheuer (2008), S. 44 f.



B. Die Situation des Ignoramus261

III. Liberale und autoritäre Regime: Die Instrumentalisierung des Strafrechts Wir kommen also zu dem Zwischenschluss, dass jede Rechtsordnung die Wie-viele-Defeater-kommen-ins-Spiel-Frage anders beantworten kann und soll und zwar uneinheitlich, sodass wir nicht über die epistemischen Pflich­ ten, denen ein Tatrichter nachzugehen hat, reden können. Je nach der Schwere des Verbrechens und der damit zusammenhängenden angedrohten Strafe fällt auch die Antwort anders aus. Das Geflecht verschiedener Ver­ brechenskategorien hierfür zu erschließen würde eine Umstrukturierung dieser Arbeit erfordern. Darauf möchte ich verzichten. Im Gegenteil möch­ te ich eine kategoriale Trennung zwischen liberalen und autoritären Rechts­ ordnungen nahelegen, indem ich zeige, wo der Bifurkationspunkt des poli­ tischen Spektrums liegt. 1. Sicherheitsorientierte Staaten Wird mehr Wert auf die innere Sicherheit gelegt, so soll das Strafrecht als Kampfinstrument aufgerüstet und die Befriedungsfunktion auf Kosten der Orientierungsfunktion erfüllt werden. Für ein autoritäres Regime gilt mehr oder weniger das, was Lenin deklariert haben soll:47 „Which is better, to put in prison several tens or hundreds of instigators, guilty or innocent, or to lose thousands of workers and army men. The first is better.“ Noch ein aufschlussreiches Beispiel ist m. E. die Haltung eines im Prinzip libera­ len Staates, nämlich der USA, während des zweiten Weltkriegs den USamerikanischen Bürgern japanischer Abstammung gegenüber. Die Staatsre­ gierung der USA hatte 1942 die sog. Executive Order 9066 erlassen, kraft deren circa 120.000 US-Bürger japanischer Herkunft die Westküste verlas­ sen und in Konzentrationslagern (internment camps) untergebracht werden mussten. Der US Supreme Court hat anschließend in einem höchst umstrit­ tenen Urteil die Verfassungsmäßigkeit dieser Anweisung bekräftigt.48 Sieht man davon ab, dass entlastendes Beweismaterial von der Regierung (Soli­ citor General Charles Fahy) systematisch unterdrückt wurde und dass Men­ schen nur wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe – was u. a. ein logischer Fehler ist – abgeschoben wurden, kristallisiert sich eine anti­ liberale Politik in Zeiten des Krieges heraus. Ein einfacher Verdacht, der aus der ethnischen Herkunft resultiert, vermag eine De-facto-Bestrafung herbeizuführen. Die Menge der kontextrelevanten Alternativen war hier äußerst beschränkt. Dies zeigt uns, dass in Zeiten von Umbrüchen das Straf­ 47  Zitiert

nach Damaska (1991); Roberts / Zuckerman (2004), S. 354. v. United States 323, US 214 (1944).

48  Korematsu

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Teil 6: Präzisierung des inferentiellen Kontextes im Strafverfahren

recht auf eine deutlichere Weise instrumentalisiert wird – was aber nicht bedeutet, dass dem Strafrecht ständig, d. h. auch in friedlichen Zeiten, eine ähnliche Funktion zugewiesen wird. 2. Freiheitsorientierte Staaten In einem liberalen Staat wird dem Schutz der Rechte des Individuums Vorrang eingeräumt.49 Die Orientierungsfunktion und ihre pragmatische Voraussetzung, der Schutz der rechtstreuen Bürger, werden auf Kosten der Verbrechensbekämpfung erfüllt. Die Verurteilung eines Bürgers, der kein Verbrechen begangen hat, wird, gemessen an einer deontologischen Moral­ theorie, als ein besonders gravierendes Übel empfunden. Dworkin merkt an,50 dass es nicht nur Situationen gibt, in denen ein Fehler auf der einen Seite ebenso schwerwiegend wie ein Fehler auf der anderen Seite gewichtet werde und der Staat bloß einen mittleren Kurs ansteuern solle; es gibt auch jene Situationen, in denen der Preis eines Irrtums besonders hoch ist. Ex­ plizit wird auf das Strafverfahren als ein charakteristisches Beispiel hinge­ wiesen: Irrt sich die Strafjustiz zugunsten des Individuums und spricht einen Täter frei, dann bezahlt sie etwas mehr an gesellschaftlicher Effizienz, als sie normalerweise bezahlen müsste. Denn einen Anspruch auf eine vollstän­ dige Kriminalitätseindämmung hat jede liberale Gesellschaft schon längst aufgegeben. Wenn sich die Strafjustiz jedoch zuungunsten des Individuums irrt, dann wird ihm eine Beleidigung (moral harm) zugefügt, deren Vermei­ dung ihrer eigenen Berechnung zufolge „einen großen Teil dieser Münze wert ist“. Diesen Grundgedanken bringt der US Supreme Court zum Aus­ druck: „In every criminal case, society recognizes that it is far worse to convict an innocent man than to let a guilty man go free.“51 Diese steil asymmetrische Gewichtung zwischen dem Schutz der Gesellschaft und dem Schutz des Individuums vor unberechtigten Strafen, nämlich der Verzicht eher auf die Befriedungs- als auf die Orientierungsfunktion, bringt eindeutig zum Ausdruck, dass es eines der fundamentalen Prinzipien unseres Strafver­ fahrens ist, das Risiko zu minimieren, dass einem rechtstreuen Bürger eine Strafe auferlegt wird.52 Es liegt allerdings auf der Hand, dass es sich dabei Roberts / Zuckerman (2004), S. 329 ff.; Dworkin (1985). (1984), S. 327. 51  In Re Winship 397 US 358 1970, Harlan J. concurring. 52  Roberts / Zuckerman (2004), S. 17 f., halten dies für eines von fünf fundamen­ talen Prinzipien des Beweisrechts im Strafverfahren. Diese sind: „a) factual accu­ racy, b) the principle of protecting the innocent from wrongful conviction, c) the principle of liberty or minimum state intervention, d) the principle of humane treat­ ment and e) the principle of maintaining high standards of propriety in the criminal process.“ 49  Grundlegend 50  Dworkin



B. Die Situation des Ignoramus263

nur um die eine Seite der Medaille handelt. Das Risiko zu minimieren heißt es noch lange nicht, es völlig auszuschließen. 3. Der kriminalpolitische trade-off Indem oben gezeigt wurde, dass die Funktionen des Strafrechts nicht unab­ hängig voneinander, sondern nur auf Kosten der jeweils anderen zu erfüllen sind, wird die Kriminalpolitik vor eine strukturelle politische Grundentschei­ dung gestellt:53 ob sie die Verbrechensbekämpfung oder die Orientierungs­ funktion für wichtiger hält und in welchem Ausmaß dies der Fall ist. Diese Entscheidung signalisiert die politische (liberale oder autoritäre) Richtung einer Kriminalpolitik. Darin liegt der Bifurkationspunkt eines Rechtssystems, der Punkt, an dem die Identität eines Staates sich ändert. Die Frage, die sich aufdrängt, ist wie diese Grundentscheidung beweisanalytisch bzw. rechtferti­ gungstheoretisch umzusetzen ist. In Teil 4 dieser Arbeit wurde dargelegt, dass der inferentielle Kontext weder eine ureigene Aufgabe des Tatrichters ist noch einen Ad-hoc-Charakter hat. Was in einer Community als gewiss anzu­ sehen ist, was in jedem Kontext als rational gilt, ist eine Sache der Gesell­ schaft (vgl. ÜG 298) und auf jeden ähnlichen Fall anwendbar. Der inferen­ tielle Kontext ist in diesem Sinne generalisierbar und daher revisionsrechtlich überprüfbar: Er regelt nicht nur den Einzelfall, sondern gilt generell. Der IK hat nun die Aufgabe, die jeweilige kriminalpolitische Entschei­ dung über eine bestimmte Balance der beiden sich überschneidenden Funk­ tionen umzusetzen.54 Es sei unterstrichen, dass wir pragmatisch aufgefordert sind, ein sensibles Gleichgewicht herzustellen. Der IK stellt eine Stellung­ nahme zu der Frage dar, in welchem Ausmaß eine Kriminalpolitik das Ri­ siko in Kauf nimmt, dass es unter den Verurteilten auch Bürger geben wird, die im materiellrechtlichen Sinne kein Verbrechen begangen haben. Die Funktion des Beweiskriteriums als ein „device for allocating the risk of error“, nämlich als einen Risikoverteilungsmechanismus hat der US Su­ preme Court zum Ausdruck gebracht: „The reasonable doubt standard plays a vital role in the American scheme of criminal procedure. It is a prime instrument for reducing the risk of convictions resting of factual error.“55 53  Ähnlich Roberts / Zuckerman (2004), S. 355: „Governments confront structurally identical choices and dilemmas. In order to guarantee a high level of personal auton­ omy and security to its citizens, for example, governments and citizens alike must accept some risk of wrongful conviction, given the practical constraints of human fallibility in decision-making and limited knowledge of what goes on in the world.“ 54  Roberts / Zuckerman (2004), S. 329 nennen es „techniques of risk allocation“. 55  In Re Winship 397 US 358, 363 (1970); dazu Roberts / Zuckermann (2004), S. 327.

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Teil 6: Präzisierung des inferentiellen Kontextes im Strafverfahren

In dem Moment, wenn wir das oben skizzierte Risiko thematisieren, sind wir auch von einem Phantom befreit, das wohl sehr lange die Beweisana­ lyse und das Strafprozessrecht schlechthin verfolgt hat: dasjenige der Ver­ urteilungen von Unschuldigen. Ein Übel theologischer Natur, das in dieser Form auf die Bibel (Sprüche 17:15, EU) zurückgeht: „Wer Schuldige frei­ spricht und wer Unschuldige verurteilt, beide sind dem Herrn ein Gräuel.“ Es ist diesbezüglich mit Judge Learned Hand festzuhalten:56 „Our proce­ dure has been always haunted by the ghost of the innocent man convicted. It is an unreal dream.“ Einen „Unschuldigen“ würden wir verurteilen, wenn wir unserem Informationsstand zufolge sicher wären, dass er kein Verbre­ chen begangen hat und trotzdem anders entschieden hätten. Präziser gesagt, einen Angeklagten würden wir rechtswidrig verurteilen, wenn wir uns als Tatrichter nicht in einer hinreichend starken epistemischen Position befän­ den, um einen Wissensanspruch zu erheben. Da aber keiner eine derart unsinnige Entscheidung treffen würde (dies wäre kein Fehlurteil gewesen, sondern ein klarer Fall von Rechtsbeugung gem. § 339 StGB)57 ist von einer Risikoverteilung die Rede. Diese ureigene Aufgabe der Kriminalpoli­ tik, die den politischen Charakter der Staates widerspiegelt, vermag der IK umzusetzen; deswegen stellt der beliebige inferentielle Kontext als Beweis­ kriterium einen Risiko- bzw. Sozialkostenverteilungsmechanismus dar. Es ist zwar unumstritten, dass der Schutz der rechtstreuen Bürger ein funda­ mentales Prinzip des Beweisrechts darstellt, aber dieses Desiderat lässt sich nur durch jeweils hohe Anforderungen an den Beweis erreichen: „The standard of proof influences the relative frequency of these two types of erroneous outcomes […]. The reasonable doubt standard seeks to assure that er­ roneous acquittals of the guilty will be far more common than convictions of the innocent.“58

Darüber hinaus handelt es sich bei der Inkaufnahme irgendeines Fehlur­ teilsrisikos nicht um einen konsequentialistischen Bruch in einem deontolo­ gischen System,59 das angeblich die Verurteilung von Unschuldigen verbie­ tet: Im Strafverfahren argumentieren wir, anders als die Moralphilosophen, unter Unsicherheit. So wie aus anderem Anlass Neumann ausführt,60 geht es hier schlichtweg um den Versuch, krasse und „kontraintuitive Ergebnis­ se“ zu vermeiden. Die flexible Handhabung betrifft hier die beiden straf­ rechtlichen Funktionen, die sich umgekehrt proportional verändern, damit 56  U.S. v.

Garsson, 291 F. 646 (649), S.D.N.Y 1923. ist der Fall, wenn der Richter bewusst ein falsches Urteil fällt. Die Falschheit seines Urteils wird allerdings nicht an einer naiv vorgestellten Realität, sondern an seinem Informationsstand gemessen. 58  In Re Winship 397 US 358, 363 (1970), Harlan J., concurring. 59  Vgl. Roberts / Zuckerman (2004), S. 359. 60  NK4–Neumann, § 34 Rn. 6. 57  Das



B. Die Situation des Ignoramus265

wir krasse und „kontraintuitive Ergebnisse“ vermeiden. Dies betrifft etwa eine besonders effektive Verbrechensbekämpfung auf Kosten der Orientie­ rungsfunktion oder das Eliminieren des Risikos einer Fehlverurteilung, das jedoch die Gesellschaft schutzlos dem Verbrechen ausliefert. Folgenindiffe­ rente Erwartungen gegenüber der Befriedungsfunktion könnten dem Wunsch nach Schutz der rechtstreuen Bürger und Steuerwirkung der Strafe im Wege stehen und umgekehrt. Ein defekter Beweismechanismus würde vieles mehr gefährden, als man sich auf den ersten Blick vorstellt.

IV. Gesetzgebung und epistemische Praxis Die oben beschriebene Mechanik wird über zwei Kanäle ermöglicht. Die eine Option, die dem Strafgesetzgeber zur Disposition steht, ist die Erleich­ terung des Nachweises der Strafbarkeit etwa durch Einführung abstrakter Gefährdungsdelikte (vgl. § 264 StGB).61 Die andere Option wird durch die Außerkraftsetzung von Defeater, die sonst vom Nachweis schwerer Verbre­ chen nicht wegzudenken sind. Ein klassisches Beispiel dafür ist die Baga­ tellkriminalität. Dort wird besonders klar, dass der vierte kontextuelle Para­ meter (ökonomischer Faktor) eine besondere Rolle spielt. Solange wir un­ vermindert gegen Bagatelldelikte strafrechtlich vorgehen wollen, sind wir gezwungen, die Rechtfertigungsstruktur umzubauen und auf aufwendige Defeater, wie z. B. das Hinzuziehen von Sachverständigen, generell zu ver­ zichten. Dem unternommenen kriminalpolitischen trade-off liegt ein er­ kenntnistheoretischer zugrunde. Wenn wir handeln wollen (beispielweise um die Bagatellkriminalität zu bekämpfen) dann müssen wir – im Rahmen der pragmatischen Bedingungen des Rechtssystems – die Rechtfertigungsstruk­ tur für die Sachverhaltsfeststellung so gestalten und erklären, wann die Begründung zu einem Ende kommt. „Die Begründung aber, die Rechtfertigung der Evidenz kommt zu einem Ende; – das Ende aber ist nicht, daß uns gewisse Sätze unmittelbar als wahr einleuchten, also eine Art Sehen unsrerseits, sondern unser Handeln, welches am Grunde des Sprachspiels liegt.“ (ÜG 204)

Der IK ermöglicht uns, das Risiko so minimieren oder zu erhöhen, indem eine jeweils von Situation zu Situation neu zu bestimmende Menge von Alternativen festgelegt wird, je nach dem, was auf dem Spiel steht. Obwohl nun der Begriff der Tatsache eine Unwiderlegbarkeit beinhaltet, sind Tatsa­ chen doch nichts anderes als Überzeugungen, mit denen der Agent einer ‚Structure of Justification‘ gerecht wird und nur die kontextrelevanten Zweifel auszuschließen hat. In einem besonders anspruchsvollen inferen­ tiellen Kontext wie dem wissenschaftlichen oder dem des Strafverfahrens in 61  Siehe

dazu nur Jakobs (1985).

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Teil 6: Präzisierung des inferentiellen Kontextes im Strafverfahren

einem liberalen Staat wird ein hoher Aufwand in Kauf genommen, um et­ was für bewiesen zu halten. Das Beweiskriterium ist bei diesen Fällen steil asymmetrisch, da eine liberale Gesellschaft bereit ist, auf Kosten einer ef­ fektiven Kriminalitätseindämmung das Risiko zu eliminieren, dass rechts­ treue Bürger verurteilt werden. In einem „Kneipen-Kontext“, in dem der Sache leichtfertig nachgegangen wird, sind fast alle Aussagen wahr und von geringer Bedeutung. Im Bereich der Bagatellkriminalität nehmen wir bei­ spielsweise ein höheres Risiko in Kauf, indem Zweifel, die z. B. bei einem Mordprozess relevant wären, hier als kontext-irrelevant ansehen.

C. Blackstone Revisited – Die Umsetzung der Kriminalpolitik Fassen wir nun den ersten Teil zusammen: A1 – Wissen liegt im Auge des Betrachters: Ein epistemischer Agent fällt ein (Straf-)Urteil, dessen Richtigkeit an seinem Informationsstand zum Zeit­ punkt t1 gemessen wird. Wir schreiben ihm Wissen zu, wenn er seinen epistemischen Pflichten gerecht wird und sich aufgrund der jeweiligen Rechtfertigungsstruktur in einer hinreichend starken epistemischen Position befindet, um all die Defeater, d. i. die kontextrelevanten Alternativen auszu­ schließen bzw. die kontextirrelevanten Zweifel legitimerweise zu ignorieren. Der Wahrheitswert der Wissenszuschreibung: S weiß, dass P zum Zeitpunkt t1

lässt sich nicht an einer metaphysisch erfassten Realität, sondern an der Erfüllung der jeweiligen epistemischen Pflichten bewerten. Fragt man sich, ob der verurteilte Peter Müller tatsächlich die ihm vorgeworfene Tat began­ gen hat, dann bewegt man sich im Kreis (ÜG 191) und verlangt eine jeden Kontext überschreitende Antwort, die – wie jede invariantistische Wissens­ konzeption – dem skeptischen Angriff schutzlos ausgeliefert ist. Es gilt: derjenige, der wirklich wissen will, kann am Ende gar nichts wissen. A2: Der epistemische Agent fällt entweder ein verurteilendes Urteil, falls er sich in einer in Bezug auf den zuvor festgelegten inferentiellen Kontext epistemisch starken Position befindet, oder ein freisprechendes Urteil, falls er seinen epistemischen Pflichten nicht nachkommen kann. Es wird hier davon ausgegangen, dass das Risiko, das eine liberale Rechtsordnung in Kauf nimmt, nämlich dass rechtstreue Bürger verurteilt werden, sich erwar­ tungsgemäß realisieren wird. Die Rede ist vom Fehlurteilsrisiko, nämlich von Fehlurteilen in abstracto. Von Fehlurteilen oder Fehlverurteilungen in concreto kann nicht die Rede sein, da wir auf eine nichtepistemische Weise nicht wissen könnten, wer was gemacht hat. Eine mit vollkommener Treff­



C. Blackstone Revisited – Die Umsetzung der Kriminalpolitik267

sicherheit erfolgende Unterscheidung zwischen Tätern und Nicht-Tätern gehört in den Bereich der Metaphysik, wo man die Größe der Unsicherheit ausblendet. Man muss diesbezüglich immer im Auge behalten, dass wir im Strafverfahren die Position des Ignoramus einnehmen. A3.1 – Kriminalpolitik als Taskmaster: Bei dem inferentiellen Kontext des Strafverfahrens handelt es sich um eine Stellungnahme der Kriminal­ politik (einer jeweiligen Rechtsordnung) zu der Frage, in welchem Aus­ maß auf jede der beiden Funktionen, nämlich Befriedungs- und Orientierungsfunk­tion, eher verzichtet wird. Jede Rechtsordnung wird – je nach aufgrund rechtlicher Werte erfolgender Gewichtung der sozialen Kos­ ten – diese Fragestellung anders beantworten, die jede denkbare Entschei­ dung nach sich zieht. Es wird verdeutlicht, dass der inferentielle Kontext aufgrund von kriminalpolitischen Kriterien gewählt wird. Die Erkenntnis­ theorie ermöglicht es uns, durch den Mechanismus der Erweiterung oder der Beschränkung der Menge der kontextrelevanten Alternativen, diese Entscheidung beweisanalytisch umzusetzen. Die Umsetzung der Befrie­ dungsfunktion des Strafrechts führt uns dazu, den inferentiellen Kontext niedrig anzusetzen, um eine effektive Kriminalitätseindämmung zu ge­ währleisten. Die Umsetzung der Orientierungsfunktion führt uns dazu, dem epistemischen Agenten eine umfangreichere Rechtfertigungsstruktur zu­ grunde zu legen, damit wir das Risiko minimieren, dass rechtstreue Bürger verurteilt werden. A3.2 – Der trade-off: Diese zwei Funktionen verändern sich gegenläufig. Je stärker ein Strafrechtssystem sich dagegen absichern will, einen rechts­ treuen Bürger zu verurteilen, desto mehr sind die Gesellschaft und die rechtsschutzbedürftigen Rechtsgüter dem Verbrechen ausgesetzt. Umgekehrt: Je effektiver wir das Verbrechen bekämpfen wollen, desto größer wird das Risiko, dass rechtstreue Bürger wegen des niedrigen inferentiellen Kontex­ tes verurteilt werden. Wollen wir etwas an Rechtssicherheit gewinnen, sind wir gezwungen, den Anspruch auf Verbrechensbekämpfung einigermaßen zu relativieren. Wollen wir hingegen eine effizientere Verbrechensbekämpfung, dann sind wir gezwungen, ein größeres Fehlverurteilungsrisiko in Kauf zu nehmen. A3.3: Das Strafrechtssystem befindet sich im Notstand, weil beide Funk­ tionen im desselben Ausmaß nicht umzusetzen sind. Zu starke Erwartungen der Erfüllung der einen Funktion stehen den Voraussetzungen für die Erfül­ lung der jeweils anderen im Wege. A4 – Das sensible Gleichgewicht: Das Beweiskriterium ist bei einer libe­ ralen (ähnlich wie bei einer autoritären) Rechtsordnung steil asymmetrisch. Wir setzen den inferentiellen Kontext hoch genug, um das Risiko der Ver­ urteilung eines rechtstreuen Bürgers gering zu halten, aber doch nicht sehr

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Teil 6: Präzisierung des inferentiellen Kontextes im Strafverfahren

hoch, sodass der epistemische Agent eine reelle Chance haben kann, seinen epistemischen Pflichten nachkommen zu können. Dieser Beweismechanis­ mus stellt einen Gleichgewichtspunkt her, der für jede Rechtsgesellschaft repräsentativ ist, je nachdem, wie die sozialen Kosten einer unvollkomme­ nen Kriminalitätseindämmung bzw. des eingeschränkten Schutzes rechts­ treuer Bürger abgewogen und anschließend verteilt werden. Der inferentiel­ le Kontext ist kriminalpolitisch betrachtet ein Sozialkostenverteilungsme­ chanismus. A5 – Was verschiebt sich? Der Parameter, der sich bei einem Kontext­ wechsel verschiebt, ist nicht der Grad der Überzeugung, sondern die Menge der kontextrelevanten Alternativen, die ausgeschlossen werden müssen bzw. die Menge der kontextrelevanten Zweifel, die legitimerweise ignoriert wer­ den können.62

I. Grundintuitionen Diesen Überlegungen können wir drei Thesen entnehmen, die unsere Grundintuitionen (GI) für die Funktion des Beweiskriteriums zum Ausdruck bringen. GI1a: Setzen wir den inferentiellen Kontext besonders hoch an (KontextSmax), dann lässt sich a) das Risiko, dass ein rechtstreuer Bürger verurteilt wird, minimieren und b) das Risiko, dass eine Straftat uns unbestraft ent­ geht, maximieren. GI1b: Setzen wir den inferentiellen Kontext besonders niedrig an (Kon­ text-Lmax), dann lässt sich a) das Risiko, dass ein rechtstreuer Bürger verur­ teilt wird, maximieren und b) das Risiko, dass eine Straftat uns unbestraft entgeht, minimieren. GI1c: Bringen wir die beiden Sätze auf einen gemeinsamen Nenner: Da, wo das Risiko für eine Kategorie seinen Maximalwert erreicht, erreicht das jeweils andere seinen Minimalwert. GI2: Eine Kriminalpolitik, die beide Risiken nicht undifferenziert betrach­ tet und das Risiko des Freispruchs eines Täters als genauso unliebsam wie die Verurteilung eines rechtstreuen Bürgers empfindet, setzt den inferentiel­ len Kontext genau in der Mitte (Kontext-Mittel): Die Sozialkostenverteilung ist symmetrisch. GI3: Die Sozialkostenverteilung ist bei einer liberalen sowie bei einer autoritären Kriminalpolitik steil asymmetrisch. Der inferentielle Kontext wird – für den Fall einer liberalen Kriminalpolitik – so angesetzt, dass die 62  Dazu

unten Teil 4; ausführlich dazu Kotsoglou, Epistemic Engineer, S. 275 ff.



C. Blackstone Revisited – Die Umsetzung der Kriminalpolitik269

Sozialkosten der unbestraften Kriminalität relativ gering gehalten werden, damit der Rechtsfrieden nicht stark gefährdet wird, aber nicht übermäßig gering, sodass rechtstreue Bürger ebenfalls geschützt werden.

II. Kognitive Täuschungen Dass man mit Intuitionen oder gar Grundintuitionen besonders vorsichtig umgehen soll, wissen wir seit den 1970er-Jahren und der empirischen For­ schung von Amos Tversky und Daniel Kahnemann über die sog. „heuristics and biases“.63 Diesem Ansatz zufolge begehen Agenten, die eine Entschei­ dung unter Unsicherheit treffen sollen, schwere und systematische Fehler, die wir vorhersehen können. Indem wir Faustregeln (Urteilsheuristiken) einsetzen, um Entscheidungen über komplexe Sachverhalte zu treffen, bege­ hen wir vorhersehbare Fehler, weil unsere Entscheidung weniger rational ist, als wir erwartet hätten. Aus diesem Grund halte ich es für erforderlich, dass jede unserer drei Grundintuitionen über das Strafverfahren und den inferentiellen Kontext einer rationalen Überprüfung unterliegt.

III. Zweiseitiger Test Um zeigen zu können, dass unsere GI sich bewähren und einer rationalen Überprüfung unterliegen können, werde ich das sog. Standard-Modell aufgreifen,64 anhand dessen und seiner graphischen Abbildung wir untersu­ chen können, in welcher Beziehung das Risiko, einen Täter unbestraft zu lassen und das Risiko, einen rechtstreuen Bürger verurteilen zu lassen, zu­ einander stehen. Zu bemerken ist, dass diese Risiken nicht mit der Menge der kontextrelevanten Alternativen zu verwechselt werden sollten. Mit einer Modifikation65 werde ich graphisch darstellen, wie dieser trade-off zwischen den zwei Polen der Kriminalpolitik die Topologie des Strafrechts beein­ flusst. 1. Modus: Möglichkeit Der Tatrichter fällt entweder ein verurteilendes oder ein freisprechendes Urteil. Aus der Perspektive des Wissenden kann die Rede davon sein, dass der Angeklagte entweder eine Straftat begangen hat oder nicht. Neben den beiden im materiellrechtlichen Sinne richtigen Entscheidungen können zwei dazu Kahnemann (1999). DeKay (1996); Laudan (2006), Meyerson (2002); Bortz (2005). 65  Dazu Kotsoglou, Epistemic Engineer, S. 275 ff. 63  Grundlegend 64  Siehe

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Teil 6: Präzisierung des inferentiellen Kontextes im Strafverfahren

fehlerhafte Entscheidungen getroffen werden (Fehlurteile in concreto). Die­ se Einsicht führt uns zu vier möglichen Alternativen:66 a)  Verurteilung eines Täters, b)  Freispruch eines rechtstreuen Bürgers, c)  Verurteilung eines rechtstreuen Bürgers und d)  Freispruch eines Täters. Schematisch lassen sich die vier möglichen Alternativen folgendermaßen darstellen (Tabelle 1) Tabelle 1 [Ω]

Situation des Ignoramus (Strafurteil)

Freisprechendes →

Verurteilendes →

Situation des Wissenden (Sachverhalt) Rechtstreuer Bürger

Täter

materiell-richtiges Urteil (b)

Fehlurteil (d)

Fehlurteil (c)

materiell-richtiges Urteil (a)

Nennen wir jetzt die Alternativen a und b „richtige Entscheidungen“ und zwar die Alternative a ein correct positive- und die Alternative b ein correct negative-Ergebnis. Nennen wir die Alternativen c und d „Fehlur­ teile in concreto“ und zwar die Variante c ein false positive- und die Va­ riante d ein false negative-Ergebnis. Für c werden wir den Namen α-Fehler (transkr.: alpha-Fehler) und für d den Namen β-Fehler (transkr.: beta-Feh­ ler) verwenden. Daraus ergibt sich die Menge aller Ereignisse, die bei einem Strafurteil zu erwarten sind. So wird der Ereignisraum Ω (transkr.: Omega) genannt. Nach dieser graphischen Darstellung würden wir mit Sicherheit einen α-Fehler begehen, wenn wir bereits wüssten, dass der Angeklagte die Straf­ tat nicht begangen hat und wir uns trotzdem für einen Schuldspruch ent­ schieden hätten. Niemand würde allerdings eine solche unsinnige und zir­ kuläre Entscheidung treffen. Deswegen können wir sinnvollerweise nur von dem Risiko reden, α- und β-Fehler zu begehen. Aus diesem Grund stellt das Fehlurteilsrisiko (nämlich die Wahrscheinlichkeit eines α- und β-Fehlers) den empirischen Blickhorizont einer Kriminalpolitik dar, wie die Rechtfer­ tigung den Blickhorizont des epistemischen Agenten und der Wissenszu­ schreiber darstellt. Der Tatrichter fällt weder materiell richtige noch mate­ 66  DeKaye

(1996), S 102; Meyerson (2002), S. 42.



C. Blackstone Revisited – Die Umsetzung der Kriminalpolitik271

riell falsche Urteile. Denn diese Begriffe transzedieren die Inferenzkraft des Beweismaterials und die daraus resultierende tatrichterliche Überzeugung. Kriterium eines Strafurteils ist (nach BGHSt 10 208 ff.) die Überzeugung des Richters und nicht die „Wirklichkeit“. Auf eine sinnvolle Weise können wir nur von dem α- und β-Fehler-Niveau sprechen, d. h. von dem Risiko, α- und β-Fehler zu begehen. Die Richtigkeit eines Urteils wird also nicht an der Wirklichkeit gemessen, sondern an der jeweiligen Rechtfertigungs­ struktur. Tabelle 2 [Ω] Strafurteil

Angeklagter Freispruch

Verurteilung

Wie groß das jeweilige Risiko sein darf, einen α- oder β-Fehler zu bege­ hen, wird von der Kriminalpolitik entschieden. Damit wird die Höhe der Anforderungen an den Beweis zusammenhängen, nämlich der Umfang der Menge der kontextrelevanten Alternativen. Um diesen Vorgang (epistemic engineering) visualisieren zu können, werde ich den statistischen Begriff der normalen Distribution verwenden. 2. Normale Distribution Da der Tatrichter entweder ein verurteilendes oder ein freisprechendes Urteil treffen kann, ergeben sich aus der Entscheidungssituation des Straf­ verfahrens zwei mögliche Ergebnisse: Bestrafung oder Freispruch: 0 oder 1 (siehe Tabelle 2). Interessiert uns also die Fragestellung, inwiefern sich die Anforderungen, die wir an den Beweis stellen, auf das Risiko eines α- oder β-Fehlers auswirken, so wollen wir diese Risikoverteilung – ähnlich wie in jeder Situation, in der Ereignisse in zwei Alternativen auftreten – als Bino­ mialverteilung behandeln.67 Binomialverteilungen können uns in der Statis­ tik darüber informieren, mit welcher Wahrscheinlichkeit wir bestimmte Häufigkeiten eines alternativen Ereignisses A oder ¬A bei n Beobachtungen erwarten können.68 Bei Entscheidungssituationen mit nur zwei Ergebnissen erhalten wir allgemein bei relativ großen Stichproben (n > 30) eine Normalverteilung des Fehlurteilsrisikos für α- und β-Fehler. Das heißt eine Bino­ mialverteilung kann unter Umständen durch eine Normalverteilung approxi­ miert werden. 67  Bortz 68  Bortz

(2005), S. 65 f. (2005), S. 65 ff.

272

Teil 6: Präzisierung des inferentiellen Kontextes im Strafverfahren

Obwohl es allerdings nicht sinnvoll wäre, empirisch nachvollziehbaren kontextuellen Wirkungsmechanismen auf die Spur kommen zu wollen, kön­ nen wir axiomatisch davon ausgehen, dass a) wir bei verschiedenen Anforderungen an den Beweis eine symmetrische Verteilung erhalten, die einen glockenförmigen Verlauf (Gauß’sche Kur­ ve) hat und sich der horizontalen Achse asymptotisch nähert, und dass b) α- oder β-Fehler-Risiken sich gegenläufig verändern.69 Dies entspricht unserer GI1c. Die schematische Abbildung der α- oder β-Fehler-Risiken lässt sich wie folgend darstellen:

Abbildung 1

Zur Erläuterung der Abbildung 1: Erwähnenswert ist, dass der präzise Verlauf der sich überschneidenden Kurven nicht von Bedeutung ist. Wie Laudan anmerkt: „The point of these figures is not to set the SoP [Standard of Proof] but to provide a vivid sense of the relations between the location of the SoP and the distribution of the sorts of errors likely to occur.“70 Die 69  Bortz

(2005), S. 73. (2006), S. 68.

70  Laudan



C. Blackstone Revisited – Die Umsetzung der Kriminalpolitik273

horizontale Achse [x, x’] stellt die Höhe der Anforderungen (SED) an den Beweis dar. Die vertikale Achse [y, y’] besagt, wie hoch das Risiko sein wird, dass wir einen α-Fehler (siehe den Verlauf der roten Kurve) oder ei­ nen β-Fehler (siehe den Verlauf der blauen Kurve) begehen. Es wird veranschaulicht, dass mit kleiner werdendem IK das Risiko eines β-Fehlers sinkt, aber gleichzeitig das Risiko eines α-Fehlers steigt.71 Dies entspricht unserer Grundintuition GI1a. Umgekehrt sinkt mit größer werden­ dem IK das Risiko eines α-Fehlers. Gleichzeitig steigt das Risiko eines β-Fehlers. Dies entspricht unserer Grundintuition GI1b: „Higher standards of proof lead to more erroneous acquittals and fewer erroneous convictions, all else being equal.“72

Betrachten wir das genauer:

Abbildung 2

71  Zu betonen ist auch, dass diese zwei Kurven sich nicht nur gegenläufig ver­ ändern, sondern auch exklusiv sind. Da Situationen, in denen wir nicht unter Unsi­ cherheit entscheiden, nicht denkbar sind, kommen nur diejenigen Teile der zwei Verteilungen in Betracht, die sich überschneiden (d. i. die Addition der roten und blauen Fläche). 72  DeKay (1996), S. 97.

274

Teil 6: Präzisierung des inferentiellen Kontextes im Strafverfahren

Abbildung 3

Es wird anhand der Abbildungen 2 und 3 verdeutlicht, dass wir jedes Mal, wenn wir das eine Risiko minimieren,73 das jeweils andere maximie­ ren. Wie Koussoulis treffend anmerkt: „Je höher die beweismäßigen Anfor­ derungen, desto mehr beschränkt sich der Anwendungs- und Wirkungsbe­ reich der ‚materiellen‘ Rechtsnorm und umgekehrt.“74 Um Koussoulis‘ Ar­ gumentation zu ergänzen: Je niedriger die beweismäßigen Anforderungen, desto mehr erweitert sich der Anwendungs- und Wirkungsbereich der mate­ riellen Rechtsnorm. Dieser Befund entspricht unserer Grundintuition GI1c. Er gewährt uns Einblick in den Mechanismus der Sachverhaltsfeststellung und die Funktion des sog. Beweismaßes. Konzentrieren wir uns also auf eine Funktion des Strafrechts, dann sind wir nicht in der Lage, zuverlässige Aussagen über die Erfüllung der jeweils anderen zu machen. Ob diese Funktion erfüllt wird oder nicht, lässt sich anhand unserer epistemischen Praxis nicht angeben. Die Erfüllung der je­ weils anderen Funktion hängt vom Zufall ab und unsere Aussagen über die 73  Präzise numerische Angaben spielen keine entscheidende Rolle. Sie dienen nur der Verständlichkeit der Ausführungen. 74  Koussoulis (2000), S. 278.



C. Blackstone Revisited – Die Umsetzung der Kriminalpolitik275

vernachlässigte Funktion sind in diesem Sinne nicht wahrheitszuträglich (truth conducive). An die Stelle unserer Begründung, die die Wahrheit einer Auffassung wahrscheinlicher macht, tritt ein exogener Parameter: Inwiefern eine von beiden Funktionen erfüllt wird, ist ein bloßes Zufallsergebnis. Beide Situationen, so wie sie sich auf Abbildungen 2 und 3 darstellen las­ sen, sind nicht akzeptabel. Ein Staat, der seine Bürger terrorisiert, um die Kriminalität folgenindifferent einzudämmen sowie ein Staat, der passiv zu­ schaut, wie die Gesellschaft der Kriminalität ausgeliefert wird (da etwa die Inkaufnahme eines Fehlurteilrisikos die Menschenwürde verletzen würde) sind keine ernstzunehmende Alternativen. Eine Alternative wäre, den IK genau in der Mitte anzusetzen.

Abbildung 4

Da, wo die Kurven sich treffen, ist das Risiko eines α- und β-Fehlers gleich groß. Wie bereits gezeigt, wäre aus der Sicht einer liberalen Rechts­ ordnung die Verurteilung eines rechtstreuen Bürgers eine unliebsame Situa­ tion. Eine liberale Rechtsordnung empfindet die Realisierung des α-Risikos als gravierender. Dies hat Justice Harlan auf den Punkt gebracht: „We do not view the social disutility of convicting an innocent man as equivalent to the disutility of acquitting someone who is guilty.“75 Justice Harlan fährt 75  In

Re Winship (1970), Harlan concurring.

276

Teil 6: Präzisierung des inferentiellen Kontextes im Strafverfahren

fort und erklärt, dass die Interessen des Angeklagten als Individuum die Interessen der Gesellschaft transzendieren.76 Aus diesem Grund ist diese Rechtsordnung bereit, teilweise auf die Befriedungsfunktion zu verzichten, um das Risiko eines β-Fehlers zu minimieren. Wir kommen zu dem Schluss, dass der IK einer liberalen Rechtsordnung weder der Kontext-Smax (oder Lmax) noch der Kontext-MITTEL sein kann. Eine liberale Kriminalpolitik wird generell den IK folgendermaßen ansetzen:

Abbildung 5

Die rote Fläche besagt, wie groß das α-Fehler-Risiko im Vergleich zum β-Fehler-Risiko ist. Fest steht, je weiter rechts wir uns bewegen, desto klei­ ner wird die rote und entsprechend größer die blaue Fläche, die uns anzeigt, wie hoch das β-Fehler-Risiko ist. Sowohl bei einer liberalen als auch bei einer autoritären Rechtsordnung entstehen sog. Blackstone-Verhältnisse. Je weiter nach rechts oder links wir uns bewegen und entsprechend den IK ansetzen, desto asymmetrischer wird das α-Fehler / β-Fehler-Verhältnis 76  In Re Winship (1970), Harlan concurring. S. 372: „There is always in litiga­ tion a margin of error, representing error in factfinding, which both parties must take into account. Where one party has at stake an interest of transcending value as a criminal defendant his liberty, this margin of error is reduced as to him by the process of placing on the other party the burden of persuading the factfinder at the conclusion of the trial of his guilt beyond a reasonable doubt.“



C. Blackstone Revisited – Die Umsetzung der Kriminalpolitik277

Abbildung 6

(Blackstone ratio). In der Hand der politischen Macht liegt nur, welcher Fehlertyp auf Kosten des jeweils anderen minimiert werden soll. Gleichzei­ tig wird allerdings verdeutlicht, dass einer der berühmtesten Sprüche des Beweisrechts nur auf den ersten Blick zutrifft: „[I]t is better that ten guilty persons escape [punishment] than that one innocent suffer.“77

Es wäre erstens pseudopräzise, dieses Verhältnis zu beziffern. Es liegt zweitens auf der Hand und es lässt sich klar aus der schematischen Darstel­ lung schließen, dass es bei dieser kriminalpolitischen Grundentscheidung nicht um eine Exklusion in dem Sinne geht, dass ein verurteilter rechtstreuer Bürger / mehrere unbestrafte Täter,

sondern um eine Konjunktion, nämlich ein verurteilter rechtstreuer Bürger / mehrere unbestrafte Täter.

Für eine liberale Gesellschaft gilt spätestens seit Platon:78 „Ich wollte wohl keines von beiden; müßte ich aber eines von beiden unrecht tun oder unrecht leiden, so würde ich vorziehn lieber unrecht zu leiden als unrecht zu tun.“ 77  William Blackstone, Commentaries on the Laws of England, 4. Buch, 27. Kapitel, S. 358. 78  Plato, Gorgias 469b–c.1–2; „Εἰ ἀναγκαίον εἲη ἀδικεῖν ᾒ ἀδικεῖσθαι ἑλοίμην ἄν μάλλον ἀδικεῖσθαι ἤ ἀδικεῖν.“ (Übersetzung Schleiermacher)

278

Teil 6: Präzisierung des inferentiellen Kontextes im Strafverfahren

Das heißt: β-Fehler-Risiko » α-Fehler-Risiko. Da allerdings überspannte Beweisanforderungen (siehe Tabelle 3.) unaus­ weichlich zum Verzicht auf die Befriedungsfunktion des Strafrechts führen – eine Situation, die das Individuum nicht effektiver schützt, sondern just diesen Schutz aufhebt –, wird das Risiko eines α-Fehlers in Kauf genom­ men. Diese Inkaufnahme begrenzt eigentlich die Freiheit des Bürgers nicht, sondern ermöglicht sie. Diese kriminalpolitische Entscheidung signalisiert damit exakt den Preis, den eine Rechtsordnung um ihrer Selbsterhaltung willen zu zahlen bereit ist. Der politische Charakter einer Kriminal­politik und deren Stellung innerhalb des nicht-cartesianischen Koordinatensystems lassen sich als liberal bezeichnen, aber nicht nicht trotz, sondern gerade wegen dieser Inkaufnahme. Auch Bürger sind verpflichtet, dieses Risiko als Folge ihres Bürger-Status zu billigen.79 Indem dieses spezifische Risiko in Kauf genommen wird, entsteht, wie bereits dargelegt, ein asymmetrisch größeres β-Fehler-Risiko. Bei beiden Risiken handelt es sich folglich um die zwei Seiten einer Medaille. Ihre Beziehung ist, anders als Blackstone und die an ihn anknüpfende h. M. behauptet, epiphänomenal.

IV. Ein Strafverfahren – Wieviele IK? Straftaten und die Folgen, die ihre Bestrafung bewirken, sind ein äußerst facettenreiches Phänomen. Wo die Grenze zu ziehen bzw. wo der IK anzu­ setzen ist, entzieht sich einer allgemeinen Antwort; solange wir nicht bereit sind, Bagatellen und Delikte, die mit langjähriger oder gar lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft werden, einheitlich zu behandeln, verhindern die verschiedenen utilities jedwede sinnvolle erkenntistheoretische Diskussion zu dieser Problematik. Folgendes sei jedoch zu bemerken: In der juristi­ schen Literatur herrscht die Meinung, dass man die Anforderungen an den Beweis einerseits (etwa bei Bagatellen) erleichtern80 und andererseits (etwa bei den „Capital Cases“)81 verschärfen sollte. Pragmatisch betrachtet ist es schwer zu leugnen, dass eine Freiheitsstrafe auf einen anderen IK als eine Geldstrafe verweist – nämlich auf eine um­ fangreichere Menge von auszuschließenden Alternativen. Ist nun diese Ausdifferenzierung für eine Kriminalpolitik wegen der stigmatisierenden Wirkung der Strafe als solche schwer zu akzeptieren, dann wird sie vor folgendes Dilemma gestellt, jedenfalls insofern sie den Zusammenbruch des Strafverfahrenssystems nicht billigen könnte: a) massenhafte Entkriminali­ aus anderem Anlass Depenheuer (2008), S. 66 f. etwa Arzt (1996), S. 10. 81  Dazu Sand / Rose (2003), m. w. N. 79  So

80  Vgl.



C. Blackstone Revisited – Die Umsetzung der Kriminalpolitik279

sierung oder b) Bereitstellung der erforderlichen Mittel, damit die Strafjus­ tiz jedem Verbrechen mit gleicher Akribie nachgeht – was aus erkenntnis­ theoretischer Sicht der Ausblendung des ökonomischen kontextuellen Para­ meters gleichkommt. Da die zweite Alternative unsere epistemische sowie unsere gerichtliche Praxis missachten würde,82 wäre es auch sinnvoll, dass der (liberale) Gesetzgeber die Herabsenkung des inferentiellen Kontextes und die daraus resultierenden sozialen Kosten für beliebige rechtstreue Bür­ ger, die wegen des nicht anspruchsvollen IK verurteilt werden, (endlich) ernst nimmt. Nur in jenem Fall wäre es m. E. zulässig, dass der Bauinge­ nieur (Erkenntnistheoretiker) den Architekten (Kriminalpolitiker) auf die mangelnde Statik eines – als solches proklamierten – liberalen Gebäudes aufmerksam macht. Darauf hat schon im Jahre 1755 Benjamin Franklin hingewiesen:83 „Those who would give up essential Liberty, to purchase a little temporary Safe­ ty, deserve neither Liberty nor Safety.“

82  Man ruft ja keine Wetterprognose ab, wenn es um einen kleinen Spaziergang geht; es ist allerdings nicht einmal vorstellbar, dass man es nicht tut, wenn man an Lungenentzündung leidet und die Alternative eines Gewitters lebensgefährlich wäre. 83  Benjamin Franklin (1963), Pennsylvania Assembly: Reply to the Governor, November 11, 1755. The Papers of Benjamin Franklin, ed. Leonard W. Labaree, Vol. 6, S. 242.

Teil 7

„Anastasia“ – Über das Geheimnis der Zarentocher und die therapeutische Diagnose des Streits zwischen objektiven und subjektiven Beweismaßlehren A. Hoch lebe das neue Beweiskriterium! Der Exkurs in die Erkenntnistheorie hat uns gezeigt, dass das Strafverfahren(-srecht) nicht nur als „Prüfstein des Rechtsstaates“1 oder „Seismograph des Staatsverfassung“,2 sondern vielmehr als Labor der Erkenntnistheorie zu betrachten ist. Der inferentielle Kontextualismus bean­ sprucht nicht nur, eine befriedigende Diagnose der skeptischen Paradoxie zu liefern; im selben Atemzug wird unserer epistemischen Praxis – innerhalb derer die gerichtliche Praxis, namentlich unser gerichtliches Erkenntnisver­ fahren, einen wichtigen Teil ausmacht – ein normatives Konzept zugrunde gelegt. Der epistemische Agent braucht durch Evidenzen (nur) diejenigen Zweifel auszuräumen, die in dem jeweiligen inferentiellen Kontext relevant sind. Dadurch wird festgelegt, welchen epistemischen Pflichten der Tatrich­ ter nachzukommen hat, um einen Wissensanspruch zu erheben und den Angeklagten zu verurteilen. Angenommen, der IK liefert uns eine leistungsfähige rechtfertigungs­ theoretische Basis für unseren Beweisprozess und damit wohl den heiligen Graal der Prozessrechtsdogmatik der letzten Jahrzehnte, nämlich ein Beweiskriterium, so drängt sich in aller Schärfe folgende Frage auf: Wen fordert der Kontextualist heraus bzw. welcher Ansatz soll ersetzt werden? Salopp formuliert: Welche strafprozessrechtliche Dogmatik verliert ihren Stammplatz zugunsten der Rechtfertigungstheorie von Michael Williams? Müssen wir ferner Gründe anführen, die für den hier skizzierten Ansatz und gegen die traditionelle Dogmatik sprechen, oder ist eine Kritik der her­ kömmlichen juristischen Herangehensweise zum Thema des Beweises bzw. Beweiskriteriums erforderlich? Dieser Problematik widmen sich folgende Überlegungen.

1  So 2  So

Kühne (1979), S. 617. Roxin (1998), § 2 Rn. 1.



A. Hoch lebe das neue Beweiskriterium!281

I. Nochmals: Was ist eine therapeutische Diagnose? Im 4. Teil wurde zwischen therapeutischer und theoretischer Diagnose der skeptischen Paradoxie unterschieden. Die erste Art der Diagnose (Semanti­ scher Kontextualismus) besagt, dass die scheinbar destruktive Wirkung der skeptischen Hypothesen auf einem falschen Gebrauch alltäglicher Begriffe beruht. Der Skeptiker mache sich eines begrifflichen Missbrauchs schuldig, aus welchem eine Diskrepanz zwischen Gesagtem und Gemeintem resul­ tiert. Philosophische Streitpunkte werden also als Pseudoprobleme diagnos­ tiziert und behandelt. Auf der anderen Seite besteht die theoretische Diag­ nose (der Inferentielle Kontextualismus als Wittgensteinsche Perspektive) in der Behauptung, dass die skeptische Paradoxie als ein ernstzunehmendes Problem behandelt werden soll.3 Während in Bezug auf Skeptizismus die vonseiten des Inferentiellen Kontextualismus gelieferte theoretische Diagno­ se als die Theorie mit den besseren Argumenten auf ihrer Seite angesehen wird, scheint mir deren Methodologie auf die hier zu behandelnde Proble­ matik nicht übertragbar zu sein. Der Begriff der Wahrscheinlichkeit, um den die Beweismaßdebatte kreist, kann keineswegs als falsche Vorannahme an­ gesehen werden, die aufgedeckt werden sollte. Denn es ist schwer zu leug­ nen, dass eine Sachverhaltsfeststellungsdogmatik ohne den wichtigsten alethischen Modus (Kontingenz) auskommen könnte: „Probability is the ­ very guide of life.“4 Anders als im vierten Kapitel handelt es sich hierbei nicht um einen in­ kohärenten, philosophischen Gebrauch alltäglicher Begriffe. Ganz im Ge­ genteil bedienen sich Teile der juristischen Literatur entscheidungstheoreti­ scher Begriffe, ohne besonders auf Theorieinhalte, Vorbedingungen, Ein­ schränkungen sowie auf ihren Anwendungsbereich zu achten. Schwab sieht darin den Grund für die Uneinheitlichkeit in der juristischen Literatur.5 Begriffe wie „Überzeugung“, „Wahrheit“ und „Wahrscheinlichkeit“ seien zwar Rechtsbegriffe; sie seien aber nicht nur Rechtsbegriffe. „Sie sind auch philosophische, psychologische und naturwissenschaftliche Begriffe. Unsere Bemühungen sollen sich daher darauf konzentrieren, diese Begriffe für die Verwendung im juristischen Bereich einheitlich auszulegen.“6 Dieser Abschnitt will zeigen, dass die juristische Debatte über die richti­ ge Beweismaßlehre von einer Begriffsverwirrung heimgesucht worden ist. Dementsprechend soll hier der Versuch unternommen werden, das Problem Williams, Problems, S. 253. Ausspruch geht auf den englischen Bischof Joseph Butler (1692–1752)

3  Zusammenfassend 4  Dieser

zurück. 5  Schwab (1988), S. 462. 6  Ebd.

282

Teil 7: „Anastasia“ – Über das Geheimnis der Zarentochter

begrifflich zu lösen und die entstandene „Verhexung“7 zu beseitigen, nämlich eine therapeutische Diagnose zu liefern. Wittgenstein betrachtet begriffliche Verwirrungen als „Krankheiten“ (PU 255, 593), die therapiebe­ dürftig sind.8 Und so wie die (analytische) Philosophie seit Wittgenstein (PG S. 115) zuallererst eine Begriffsuntersuchung sein soll, die sich nicht mit Fragen der empirischen Wahrheit oder Falschheit, sondern mit den Ka­ tegorien von Sinn und Unsinn auseinandersetzt,9 will ich hier die oben angedeutete „Krankheit“ der Sachverhaltsfeststellungsdogmatik diagnosti­ zieren und durch eine sorgsame Überprüfung des Wortgebrauchs des Be­ griffs „Wahrscheinlichkeit“ beseitigen.

II. Sollte uns diese Diagnose überraschen? Dass die Frage nach dem Beweismaß als Pseudoproblem anzusehen ist und dass man sie auflösen kann, indem man zeigt, dass das o. g. Problem in (der sprachlichen) Wirklichkeit gar nicht besteht und bloß auf einem teilweise beabsichtigten Missverständnis beruht, ist im Grunde keine neue These. Soweit ersichtlich, haben bisher einige Autoren implizit oder explizit auf das Problem der begrifflichen Verwirrung hingewiesen und eine Be­ griffsexplikation angeregt. Auf die Erforderlichkeit einer (in unserer Termi­ nologie) therapeutischen Behandlung der juristischen Debatte zu diesem Thema, und zwar durch Klärung der Grundbegriffe der Entscheidungstheo­ rie, macht uns zunächst Nell aufmerksam. Der Autor merkt in seiner Bay­ reuther Dissertation an, dass an den entstandenen Missverständnissen die Autoren, die den Wahrscheinlichkeitsbegriff für die Diskussion um Beweis­ würdigung, Beweismaß und Beweislast nutzbar machen wollen, „nicht ganz unschuldig“ sind.10 Schwab bläst ins gleiche Horn. Er betont, dass die Rechtsprechung der deutschen Gerichte, insbesondere die höchstrichterliche Rechtsprechung des Reichsgerichts und des Bundesgerichtshofs eine dog­ matisch grundierte Auseinandersetzung mit dieser Frage vermissen lässt, sodass es „oft in der Rechtsprechung an einer Klärung der Begriffe, die in der Beweismaßfrage eine Rolle spielen“, nämlich der Begriffe „Wahrschein­ lichkeit“, „Wahrheit“ und „Überzeugung“, fehlt.11 7  PU 109, letzter Satz: „Die Philosophie ist ein Kampf gegen die Verhexung unsres Verstandes durch die Mittel unserer Sprache.“ 8  Ausführlich dazu Kober (1993), S. 29 ff. 9  Bennett / Hacker (2010), S. 541. 10  Siehe Nell (1983), S. 100  f.; ähnlich Gräns (2002), S. 168: „Begriffe wie ‚Überzeugung‘, ‚Wahrheit‘ und ‚Wahrscheinlichkeit‘ haben mehrere Erklärungen und Definitionen durch verschiedene Rechtswissenschaftler und die Rechtspraxis erhalten.“ Neulich Brinkmann (2005), S. 11 f. 11  Schwab (1988), S. 451.



B. Die Beweismaßlehren283

B. Die Beweismaßlehren Die Beweismaßproblematik im Straf- sowie in gerichtlichen Prozessen insgesamt ist m. E. trotz der fast unüberschaubaren Literatur und des Inte­ resses, das dieses Thema während der letzten Jahrzehnte des 20. Jh. erweckt hatte, unbefriedigend behandelt. Obwohl die veröffentlichte Rechtsprechung und Literatur zu den beweisrechtlichen Fragen und insbesondere des Be­ weismaßes (Beweiskriterium) ein gewaltiges Ausmaß erreicht haben,12 war es uns trotzdem nicht gelungen, uns Klarheit darüber zu verschaffen, unter welchen Bedingungen der Tatrichter berechtigt ist, den Angeklagten zu verurteilen. Versucht man einen Überblick der entbrannten und nie zur Ruhe gekommenen Debatte zu bieten, ist man, so Leipold,13 von vornhe­rein zum Scheitern verurteilt. Obwohl die Thematik als ausdiskutiert angesehen werden kann, könnte die These, dass keine klaren Ergebnisse gewonnen wurden, schwerlich bestritten werden. In der Literatur lassen sich zwei Theorienkonglomerate unterscheiden: objektive und subjektive Beweismaßlehren.14 Neben weiteren Gesichtspunk­ ten, über welche keine Einigkeit besteht, springt der Begriff der Wahr­ scheinlichkeit ins Auge. Die einen gehen von einem „objektiven“, empiri­ schen Wahrscheinlichkeitsbegriff aus, während die anderen das Konzept der Wahrscheinlichkeit per se zurückweisen und „subjektive“ Elemente bei richterlichen Entscheidungen hervorheben. Einerseits greifen die Vertreter objektiver Beweismaßlehren die sog. aleatorische Wahrscheinlichkeit auf, ohne dazu wegen der sehr spezifischen Voraussetzungen dieses Begriffs berechtigt zu sein. Ihre Opponenten lehnen den Begriff „Wahrscheinlich­ keit“ schlechthin ab und plädieren für eine „volle Überzeugung“ des Tat­ richters. Sie verkennen allerdings, dass die (volle) Überzeugung eines epis­ temischen Agenten sich als epistemische Wahrscheinlichkeit (epistemic probability) ausdrücken lässt. Ich möchte hier zeigen, dass die Kontrahenten sich im Kreis bewegen. Denn die einschlägige Debatte hat die Charakteris­ tika einer sog. Pattsituation.15 Das ist in der Tat beunruhigend; die Debatte über den wohl zentralen Begriff in der Entscheidungstheorie wird zu einem für jeden theoretischen Diskurs unerträglichen Stillstand gebracht, wo jede 12  So Leipold (1985), S. 5; siehe Brinkmann (2005) für einen Gesamtüberblick über die Literatur. 13  Leipold (1985), S. 5. 14  Zusammenfassend siehe Kindhäuser (1988); Schwab (1988). 15  So beschreibt Sober (2008), S. 2 f., die Pattsituation: „Both sides have dug in well; they have their standard arguments, which they lob like grenades across the noman’s-land that divides the two armies. The arguments have become familiar and so have the responses. Neither side views the situation as a stalemate, since each regards its own arguments as compelling.“

284

Teil 7: „Anastasia“ – Über das Geheimnis der Zarentochter

Seite, da keinerlei neue Argumente ins Spiel gebracht werden, auf ihrer eigene These beharrt: „And yet the warfare continues.“16 Bevor ich die vorher angekündigte Begriffsklärung unternehme, möchte ich kurz auf die „Tabellen“ der Debatte eingehen.

I. Das Gespenst in der Maschine Bringt man die verschiedenen Beweismaßlehren auf einen gemeinsamen Nenner, so hat man mit einem der in der Geschichte der Philosophie bekann­ testen Begriffsapparate bzw. Dualismus zu operieren, nämlich dem Begriffs­ paar objektiv und subjektiv. Es ist zunächst mit Popper festzuhalten, dass die­ se Begriffe zu jenen philosophischen Ausdrücken gehören, die durch wider­ spruchsvollen Gebrauch und durch unentschiedene, oft uferlose Diskussionen stark belastet sind.17 Nach Heisenberg sind die beiden Begriffe zwar notwen­ dig voneinander zu trennen. Das ändere aber nichts an der Tatsache, dass die Lage des Schnittes von der Betrachtungsweise abhängt und – legitimerwei­ se – bis zu einem gewissen Grad willkürlich gewählt werden kann.18 Bei dem auf Descartes und seine Trennung zwischen res extensa und res cogitans zu­ rückgehenden und bis heute wirksamen Dualismus geht es nach Ryle um den Kategorienfehler κατ’ἐξοχήν, weil man dem Geist, der vom physischen Kör­ per verschieden gedacht wird, psychologische Prädikate zuschreibt.19 Nach Ryle wird demzufolge die philosophische Debatte von einem Mythos heim­ gesucht, demjenigen eines ghost in the machine. Es scheint also keine gute Idee zu sein, sich dieser Begrifflichkeiten zu bedienen. Mit guten Gründen merkt Rüthers an, „subjektiv“ und „objektiv“ seien falsche und irreführende Etiketten.20 Denn man hat den halben Weg zu einer regelgeleiteten Untersu­ chung schon hinter sich, wenn man dem Gebrauch und der Bedeutung der Begriffe nachgeht, derer man sich bedient; lässt man sich in ein (Sprach-) Spiel ein, ohne sich um die Klarheit seiner Darstellungsformen gekümmert zu haben, so hat man kaum Chancen, das Spiel zu bestreiten. Man wird durch die Sprache „verhext“ (vgl. PU 109).

II. Die objektiven Beweismaßlehren Zunächst erscheint eine Bemerkung erforderlich. Unter objektiven Be­ weismaßlehren verstehe ich hier nicht diejenigen Ansätze, die meistens in 16  Sober

(2008), S. 2. (1994), S. 18. 18  Heisenberg (1996), S. 108. 19  Vgl. nur Ryle (1988). 20  Rüthers (2011) S. 865 ff. 17  Popper



B. Die Beweismaßlehren285

totalitären Regimen als Beweis die Feststellung der „objektiven Wahrheit“ fordern, wie uns politisch-historisch die Beispiele aus der DDR bzw. der Sowjetunion gelehrt haben.21 Bei „objektiven Beweismaßlehren“, die auf die US-amerikanische Doktrin „preponderance of evidence“22 sowie das spätere schwedische „Överviktsprinzip“23 zurückgehen, kommt im Gegen­ teil dem Begriff der objektiven Wahrscheinlichkeit als einem Eigenbegriff der Dogmatik eine zentrale Funktion zu.24 Ihr Hauptmerkmal ist der Ver­ such, von einem empirischen Wahrscheinlichkeitsbegriff auszugehen und das subjektive Merkmal der Überzeugung zurückzudrängen.25 Greger merkt an, dass die objektive Beweismaßtheorie „zweifellos etwas Bestechendes an sich hat. Die Ausschaltung subjektiver Einflüsse, die Vorausbestimmbarkeit, Diskutierbarkeit und Nachprüfbarkeit der Beweiswürdigung sind Vorzüge, die es verständlich machen, daß sich in der Literatur die Stimmen derer mehren, die diese Lehre vertreten oder ihr zumindest näherzutreten geneigt sind.“26 Vertreter der objektiven Beweismaßlehre bedienen sich für die Ermittlung der Wahrscheinlichkeit einer m. E. auf ein elementares Niveau vereinfachten Berechnungsmethode der Form p(x) = x / y. Ferner wird behauptet, dass die Probleme des Beweiskriteriums im gerichtlichen Erkenntnisverfahren auf den mathematisch-statistischen Wahrscheinlichkeitsbeweis zurückzuführen sind, da letzterer als etwas intersubjektiv Überprüfbares und daher Objekti­ ves angesehen wird.27 1. Der Ansatz Maassens Die objektive Beweismaßlehre lässt sich am besten anhand der Ansätze Maassens, Benders und Hoyers präsentieren.28 Maassen geht in seiner Bon­ ner Dissertation von der Annahme aus, dass jede Rechtsordnung bestimmen müsse, „welche Anforderungen an den Beweis der Tatbestandsmerkmale der Rechtsnormen im Prozeß zu stellen sind“.29 Als Beweismaß versteht er das Greger (1978), M. Huber (1983), S. 38. dazu bei Roberts / Zuckermann (2004); vgl. Redmayne (1999); Ho (2008); Kotsoglou, Epistemic Engineer, S. 279 ff. 23  Vgl. dazu nur Ekelöf (1962); Bolding (1960). 24  Vgl. Kegel (1967), S. 321 ff. 25  Für einen kurzen, aber sehr aufschlussreichen Überblick siehe Schwab (1988), S. 452; Kindhäuser (1988), S. 290 ff. 26  Greger (1978), S. 101. 27  Vgl. etwa Maassen (1975). 28  Maassen (1975), S. 5 ff.; Bender (1981); Hoyer (1993). 29  Maassen (1975), S. 1. 21  Vgl.

22  Grundlegend

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Teil 7: „Anastasia“ – Über das Geheimnis der Zarentochter

zum Beweis erforderliche Maß des Beweises. Im Anschluss an die US-ame­ rikanische Jurisprudenz und Ansätze der Entscheidungstheorie30 will er den Begriff der (aleatorischen) Wahrscheinlichkeit und denjenigen der „Kosten von fehlerhaften Tatsachenfeststellungen“ für die kontinentaleuropäische ju­ ristische Tatsachenfeststellung fruchtbar machen. Er greift den Begriff der Wahrscheinlichkeit in seiner klassischen Form auf und vertritt die These, dass dieser auf der sog. Häufigkeitstheorie der Wahrscheinlichkeit beruhende Begriff „ohne weiteres auch auf die juristische Tatsachenfeststellung anwend­ bar“ ist.31 Betrachten wir diesen Ansatz genauer. Maassen geht von dem Schulbeispiel des Münzwurfs aus. Werfen wir – so wird argumentiert – eine Münze sehr oft in die Luft, so ermitteln wir die relative Häufigkeit jedes Er­ eignisses sowie deren Grenzwert.32 „Dieser Grenzwert ist dann auch die Wahrscheinlichkeit des Ereignisses Kopf bzw. Zahl für einen einzigen Wurf.“33 Nachdem nun Maassen das aufgegriffene mathematische Modell präsentiert hat, konstatiert er, dass der numerische Wahrscheinlichkeitswert im Hinblick auf ähnliche Fälle der Vergangenheit „angenähert bestimmt wer­ den“ kann.34 Durch den „statistischen Charakter“ seines Erfahrungswissens vermöge nun der Richter, bestimmte Geschehensabläufe als unwahrschein­ lich, überwiegend wahrscheinlich oder fast sicher einzustufen.35 Das Beweis­ maß stelle dann eine Funktion des Grades der Wahrscheinlichkeit dar, der zum Beweis erforderlich sei.36 Dieser Grad werde wiederum maßgeblich von der Optimierung der sozialen Kosten fehlerhafter Tatsachenfeststellungen festgelegt.37 2. Der Ansatz Benders Ähnlich geht Bender der Wahrscheinlichkeitsproblematik nach.38 Der Autor will eine „Selbstverständlichkeit“ in der h. L. und Rechtsprechung in 30  Dabei handelt es sich hauptsächlich um das Werk des Philosophen Mark Kaplan; vgl. Maassen (1975), S.  5 ff. m. w. N. 31  Maassen (1975), S. 6. 32  Maassen (1975), S. 5 f. 33  Maassen (1975), S. 6. 34  Maassen (1975), S. 6. Der Autor gibt allerdings zu, dass weder die Zahl ähnlicher Fälle noch die Zahl der Fälle, in denen der interessierende Geschehensab­ lauf in der Vergangenheit aufgetreten ist, numerisch exakt bekannt ist. Er fügt hinzu: „Dies ist aber weder ein Argument gegen die Anwendbarkeit der Häufigkeitstheorie der Wahrscheinlichkeit auf die juristische Tatsachenfeststellung noch gegen die grundsätzliche numerische Schätzbarkeit von qualitativen Wahrscheinlichkeiten.“ 35  Maassen (1975), S. 6. 36  Maassen (1975), S. 19. 37  Maassen (1975), S. 7. 38  Bender (1981), S. 250.



B. Die Beweismaßlehren287

Zweifel ziehen und zwar die Auffassung, dass die „persönliche Gewißheit“ des Richters, welchem die richterliche Tatsachenfeststellung „überlassen bleibt“, als Entscheidungsgrundlage fungieren kann.39 In seinem Aufsatz, in dem übrigens wichtige Aspekte des epistemic engineering im Sinne die­ ser Arbeit beleuchtet werden,40 versucht Bender der „Scheu, ein präzises Beweismaß für die geforderte subjektive Wahrscheinlichkeit, festzulegen“ entgegenzuwirken.41 Er erkennt an, dass die subjektive Wahrscheinlichkeit „auf die wir bei der Gesamtwürdigung der Beweisaufnahme notgedrungen zurückgreifen müssen“42 zwar nicht in gleicher Weise messbar wie die ­objektive Wahrscheinlichkeit sei. Man könne sie allerdings, so Bender, mit­ tels Prüfroutinen quasi messbar machen.43 Eine solche Prüfroutine besteht nach dem Autor darin, dass der Richter sich vorstellt, der ihm vorliegende und in seinen Details einmalige Fall würde sich tausendmal genauso ereig­ nen, wie ihn die Beweisaufnahme tatsächlich ergeben hat. „Sodann könnte sich der Richter fragen, in wie vielen dieser tausend gedachten Fälle mit jeweils den gleichen Indiztatsachen es denkbar wäre, dass der Tatbestand, auf den alle festgestellten Indizien hinweisen, trotzdem nicht verwirklicht wurde.“44 Beispielsweise nehmen wir an, dass der Tod eines Kindes 1000mal wiederholbar sei. Danach müssen wir nach Bender untersuchen, in wie vielen dieser 1000 Fälle ein anderer als der Angeklagte in Frage käme.45 Um jedenfalls diese Prüfroutine bewerkstelligen zu können, schlägt er fol­ gende Abstufung des Beweismaßes vor:46 (1)  Die (2)  Die (3)  Die (4)  Die

Überzeugung von der Wahrheit hohe Wahrscheinlichkeit überwiegende Wahrscheinlichkeit geringe Wahrscheinlichkeit

> > > >

99,8 %. 75 %. 50 %. 25 %.

Bevor ich auf die generische Struktur der objektiven Beweismaßlehren eingehe, ist hier folgende Bemerkung geboten. Bender liefert damit das Musterbeispiel einer petitio principii, indem er das voraussetzt, was er erst zu beweisen hätte. Er bewegt sich im Kreis, weil er postuliert, der Richter 39  Bender

(1981), S. 247. (1981), S. 251–256. Bender beschreibt mit Präzision das trade-offPhänomen (ausf. dazu bei Teil 6) als Ergebnis des anzusetzenden Beweiskriteriums („Beweismaßes“). 41  Bender (1981), S. 250. 42  Bender (1981), S. 250. 43  Bender (1981), S. 250 f. 44  Bender (1981), S. 251. 45  Kritisch dazu Kindhäuser (1988), S. 292 f.; der Autor spricht von der Wert­ losigkeit dieser Methode. 46  Bender (1981), S. 258; der Autor fügt aber hinzu, dass eine „vertretbare Ab­ stufung auch nur drei oder fünf bzw. mehr Stufen aufweisen“ könnte. 40  Bender

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Teil 7: „Anastasia“ – Über das Geheimnis der Zarentochter

solle sich fragen, in wie vielen Fällen – seiner Erfahrung nach – ein Tatbe­ stand sich so und so ereigne, um anschließend selbst darauf eine Antwort zu geben. Die Ermittlung einer numerischen Wahrscheinlichkeit kann aller­ dings nicht eine Funktion eines nicht kontrollierbaren Verfahrens darstellen. Es mag sein, dass es ein kleiner Schritt von „Messbarkeit“ zu „QuasiMessbarkeit“ (im Sinne Benders) ist. Es ist allerdings ein großer logischer Sprung von einem wissenschaftlichen Experiment unter kontrollierbaren Bedingungen zu einem Gedankenexperiment.47 3. Der Ansatz Hoyers Hoyer greift in seinem einflussreichen48 Aufsatz49 das Dualschema vom status positivus und negativus des Bürgers auf.50 Er konstatiert, dass der Staat das potentielle Opfer in dessen status negativus schützt, indem er bestimmte Vergehen unter Strafe stellt. Die Strafandrohung und Bestrafung eines Angeklagten stelle nun einen Eingriff in dessen status negativus dar.51 Dann geht Hoyer von einer auf den ersten Blick irrelevanten Prämisse aus. Er erinnert uns daran, dass bei fehlender Garantenstellung die Maximalstra­ fe für ein Vergehen lebenslang, während für das entsprechende Unterlassen dagegen nur ein Jahr Freiheitsentzug beträgt. Nach Hoyer lassen sich diese Strafen mit Hilfe der Aussetzungsvorschriften zueinander in Relation set­ zen: „Eine einjährige Freiheitsstrafe soll nach § 57 Abs. 1 StGB unter be­ stimmten Voraussetzungen nach acht Monaten zur Bewährung ausgesetzt werden, während eine lebenslange Freiheitsstrafe nach § 57 a Abs. 1 StGB unter denselben Voraussetzungen nach 15 Jahren“.52 Ohne uns darüber aufzuklären, entlang welcher Skala wir bei der Strafzumessung schwanken, schließt Hoyer daraus, dass sich ein Verhältnis von 1:22,5 ergibt: „d. h. es wiegt um das 22,5fache schwerer, wenn der status negativus infolge einer Begehung beeinträchtigt wird, als wenn der status positivus infolge einer Unterlassung ungewahrt bleibt.“53 Soviel zur ersten Prämisse. Hoyer behauptet dann in einem etwa artistisch anmutenden Argumenta­ tionssprung, dass das Freiheitsinteresse potentieller Täter und das Schutzin­ 47  Dass es sich hier außerdem um einen Kategorienfehler handelt, räumt Bender (1981), S. 250 implizit selbst ein, indem er betont, dass jeder Fall, der einem Tat­ richter vorliegt, einmalig sei. 48  Vgl. etwa KK7–Ott, § 261, Rn. 4. 49  Hoyer (1993). 50  Hoyer (1993), S. 539. 51  Hoyer (1993), S. 539. 52  Hoyer (1993), S. 541. 53  Hoyer (1993), S. 541.



B. Die Beweismaßlehren289

teresse potentieller Opfer ebenfalls im Verhältnis 22,5:1 steht. „Das Frei­ heitsinteresse (FI) potentieller Täter überwiegt das Schutzinteresse (SI) po­ tentieller Opfer damit ebenfalls im Verhältnis 22,5:1.“54 Dieser ‚Befund‘ ermöglicht es Hoyer, eine aus dem Jahre 1785 von Mar­ quis de Condorcet vorgeschlagene Formel aufzugreifen, mithilfe derer man die erforderliche „Schuldwahrscheinlichkeit“ ermitteln kann. Damit man also das überwiegende Freiheitsinteresse des Angeklagten überwinden kann, müsse die Schuldwahrscheinlichkeit 0,9574 betragen.55 Da allerdings eine Zahl mit 4 Dezimalstellen nicht leicht handhabbar wäre, rundet sie Hoyer ab und reduziert sie auf zwei: „Der Verdachtsgrad muß c. a. 96 Prozent betragen, damit verurteilt werden darf, während 95 Prozent dazu noch nicht hinreichen.“ Von der Merkwürdigkeit einer solchen präzisen (weil numeri­ schen) Angabe abgesehen, kann man die Frage stellen, ob solche numeri­ sche Verhältnisse für jede Gesellschaft und in jeder Zeit gelten sollen.56 Ich meine nein, Denn die Dynamik der strafrechtlichen Koordinaten (Frei­ heit, Sicherheit) ist kultur- und kontextabhängig. Jedenfalls könnten wir, so Hoyer, aufgrund dieser Verhältnisse den erfor­ derlichen Schuldwahrscheinlichkeitsgrad ermitteln. Dieser solle ca. 96 Pro­ zent betragen, damit ein Tatrichter den Angeklagten verurteilen darf. Hoyer kommt also zum folgenden Schluss: Wenn in einer unendlichen Folge von Konstellationen, denen stets die gleichen Indizien vorkommen, die Schuld­ wahrscheinlichkeit objektiv hoch sei (z. B. 96 Prozent), dann kommen min­ destens 96 Schuldige auf vier Verdächtige.57 Ich finde dieses Ergebnis nicht überzeugend. Dass unser Wissen fallibel und unsere Entscheidungen möglicherweise die Wirklichkeit verfehlen (Fehlurteile in abstracto), ist eine Trivialität. Kontingenz gehört einfach zu unserer epistemischen Praxis dazu. Die vage Vermutung, dass manche un­ serer Entscheidungen falsch sein könnten, ist eine Sache. Die Gewissheit allerdings, dass manche unserer Entscheidungen falsch sind, ist eine davon sehr verschiedene Sache. Hoyer billigt nicht nur das erste (Kontingenz des Wissens), sondern auch das zweite (fehlerhafte Methode). Er nimmt Fehl­ urteile in concreto in Kauf. Problematisch ist auch die Argumentationsstrategie Hoyers. Denn man erleidet einen communication breakdown, weil man nicht versteht, was der Autor eigentlich unter Prämissen und Schlussfolgerung versteht und wie er 54  Hoyer

(1993), S. 541. (1993), S. 541; es geht dabei um folgende Berechnung: p = FI / FI + SI = 22,5 / 23,5 = 0,9574. 56  Sehr kritisch dazu Neumann (2011) m. w. N.; vgl. Kap. 3, Anwendung 1. 57  Sehr kritisch dazu Neumann (2005), S. 380, Fn. 24. 55  Hoyer

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etwa aus dem Strafrahmen für Tun und Unterlassen und der Bewährungs­ aussetzungsfrist auf das Beweismaß schließt. 4. Ein Argumentum ad absurdum Im Folgenden wird gezeigt, worin der Kategorienfehler bei den oben skizzierten Ansätzen besteht. Angenommen, man ist berechtigt, das Verhält­ nis der Rechtswissenschaft zur Logik als Hassliebe zu bezeichnen,58 so würde man auch der These nicht widersprechen, dass es sich eigentlich nur um Hass handelt, was deren Verhältnis zur Statistik betrifft. Es ist mehr als ein Jahrhundert vorbei, seit der US-amerikanische Verfassungsrichter Oliver Wendel Holmes voraussagte, dass von den zukünftigen Juristen das statisti­ sche Denken kaum wegzudenken sein werde.59 Doch das Merkmal, das die Rechtswissenschaft wohl charakterisiert, ist die früher angesprochene anti­ wissenschaftliche, genauer: antinaturwissenschaftliche Haltung (vgl. Teil 1, Abschn. C.II.). Diese Haltung mag richtig oder nicht sein. Was unsere Problematik betrifft, trifft sie jedenfalls ins Leere; denn es handelt sich hier um Beweisanalyse und nicht um das eine oder andere „Wesen des Rechts“.60 Und obwohl ferner die Kognitive Psychologie experimentell bewiesen hat, dass Menschen schwere und systematische Fehler begehen (cognitive fallacies), wenn sie unter Unsicherheit argumentieren und die Rede gar von ei­ nem mathematischen Analphabetentum61 ist, lehnen es die Juristen hartnä­ ckig ab, das statistische Denken als Teil der juristischen Kultur und vor allem des Studiums zu inkorporieren. Nicht ohne Grund betonen Koch und Rüßmann, dass das Studium der Statistik dringend empfohlen ist.62 Die Ausrede kommt jedoch blitzartig: „Der normale Berufs- oder Laienrichter wäre überfordert, mathematische Erhebungen anzustellen oder sie auch nur – wenn sie von einem Sachverständigen präsentiert würden – angemessen zu würdigen.“63 Die Kompliziertheit probabilistischer und statistischer Mo­ 58  Joerden

(2010), S. 1. (1897), S. 457 ff.: „For the rational study of the law the blackletter man may be the man of the present, but the man of the future is the man of statis­ tics and the master of economics.“ 60  Wolf (1933), S. 29 f. 61  Paulos (1990). 62  Koch / Rüßmann (1982), S. 332. 63  So Henning (2002), S. 234, in Bezug auf das Werk der Beweisanalytiker Josef Kadane und David Schum, A Probabilistic Analysis of the Sacco and Vanzetti Evidence. Da werden einem breiteren Publikum die bayesianischen Netzwerke im Dienste der Beweisanalyse präsentiert. Hervorzuheben sei, dass David Schum als einer der führenden Beweisanalytiker der Wigmoreschen Schule anerkannt worden ist. 59  Holmes



B. Die Beweismaßlehren291

delle in Kombination mit unserer jeden Anspruch auf Rationalität vernich­ tenden „Langeweile“, wie Walter Bär treffend bemerkt,64 führen uns dazu, den wissenschaftlichen Charakter unserer Beweisanalyse-Methoden aufzu­ geben und kampflos zu kapitulieren. Bei dem Problem der Aussagekräftigkeit numerischer (aleatorischer) Wahrscheinlichkeiten, nämlich der Anwendbarkeit statistischer Daten auf den Einzelfall handelt es sich m. E. um einen Fall begrifflicher Verwirrung. Schwab hat es in einem fast mahnenden Ton deutlich auf dem Punkt ge­ bracht, wenn er verlangt, dass die Juristen und insbesondere die Vertreter der objektiven Beweismaßlehre den Umstand anerkennen und ihm Rech­ nung tragen müssen, dass es bei einem gerichtlichen Prozess immer um den Einzelfall geht und dass relative Häufigkeiten keinen Schluss darauf zulas­ sen.65 Denn vor allem betonen die Statistiker, dass die Anwendung einer Wahrscheinlichkeit auf den Einzelfall keinen Sinn ergibt, insofern kein Er­ eignis denkbar wäre, dem z. B. die aleatorische Wahrscheinlichkeit 1 / 6 zu­ geordnet werden könne. Von Mises, einer der Gründerväter der modernen Wahrscheinlichkeitstheorie, hält die Aussage, die Wahrscheinlichkeit bei dem nächsten Wurf eine x Zahl zu werfen, betrage 1 / 6, für sinnlos.66 David Lucy geht einen Schritt weiter und bezeichnet diese Vorgehensweise als „lächerlich“: „An idea of a frequency being attached to an outcome for a single event is ridiculous as the outcome of interest either happens or does not happen.“67 Dem Anspruch auf „Eigenrationalität“ von Seiten der Juris­ ten erteilen die Statistiker eine klare Absage. Worauf beruht allerdings dieses problematische Verhältnis? 5. Über Ungewissheit Sowohl der Philosophie als auch den einzelnen Wissenschaftsdisziplinen ist relativ früh klar geworden, dass Phänomene, die mit Unsicherheit gela­ den sind, nicht einheitlich behandelt werden können. Ein Kalkül, das uns einen axiomatisierten Apparat bereitstellt, mit dessen Hilfe wir die Komple­ xität stochastischer Phänomene befriedigend erfassen, könnte nicht auf Entscheidungssituationen angewendet werden, in denen die Unsicherheit nur auf den Informationsstand des epistemischen Agenten zurückzuführen ist. Deswegen gibt es eine kategoriale Trennung zwischen aleatorischen (aleatory) und epistemischen (epistemic) Wahrscheinlichkeiten, sodass jeder 64  Bär

(1996), S. 42. (1988), S. 454 – Hervorhebung von mir. 66  Von Mises, (1972), S. 78 ff. 67  Lucy (2006), S. 5. 65  Schwab

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Teil 7: „Anastasia“ – Über das Geheimnis der Zarentochter

Problembereich sich verschiedener mathematischer Modelle bedient.68 Alea­ torische Wahrscheinlichkeiten (aleatory probability) sind dem klassischen Wahrscheinlichkeitskonzept nach besonders anziehend. Denn sie sind wegen ihres numerischen Charakters intersubjektiv überprüfbar und werden dem­ entsprechend als objektive Wahrscheinlichkeiten bezeichnet.69 Sie bedienen sich eines besonders mächtigen und leistungsfähigen (weil axiomatisierten) Apparatus für die Bekämpfung der Unsicherheit, die physikalischen Phäno­ menen inhärent bzw. nicht reduzierbar ist.70 Folge dieser Vorgehensweise sind die besonders strengen Bedingungen, die für die Ermittlung jener Wahrscheinlichkeit als inhärenten Phänomens gestellt werden. Generell kann die aleatory probability erst dann ermittelt werden, wenn die Rede von einem Zufallsexperiment sein darf. Unter einem Zufallsexperiment ver­ steht man einen beliebig oft wiederholbaren Vorgang, der nach einer ganz bestimmten Vorschrift ausgeführt wird und dessen Ergebnis vom Zufall abhängt, d. h. nicht im Voraus eindeutig bestimmt werden kann.71 Im Rah­ men eines unter diesen Bedingungen durchgeführten Experiments kann man eine aleatorische (objektive i. S. der objektiven Beweismaßlehren) Wahr­ scheinlichkeit ermitteln. Statistisch gesprochen benötigt man eine Zuord­ nung von Zahlen zu Objekten oder Ereignissen, die auf einer homomorphen Abbildung eines empirischen Relativs in einem numerischen Relativ be­ ruht.72 Wir können erst dann die aleatorische Wahrscheinlichkeit eines Er­ eignisses ermitteln, wenn eine metrisierbare Struktur vorhanden ist, auf deren Grundlage eine Homomorphiefunktion definiert werden kann. Damit können wir einem Objekt On einen Zahlenwert Zn  ϵ  R zuordnen.73 Diesbe­ züglich müssen wir zunächst Auskunft darüber geben, was für eine Skala (Ordinal-, Intervall-, Kardinalskala usw.) diese Abbildungsfunktion samt des empirischen und numerischen Relativs darstellt. Das heißt wir können erst dann die empirisch orientierte Wahrscheinlich­ keit ermitteln, wenn eine metrisierbare Struktur vorhanden ist, und a) „n“, die Anzahl der Durchführungen eines Experiments hinreichend groß ist und b) das Experiment unter stets gleichen Bedingungen wiederholt werden kann. Es leuchtet allerdings ein, dass diese Bedingungen selten gegeben bzw. im Bereich der Sachverhaltsfeststellung im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens nicht vorfindbar sind.74 Historische Ereignisse sind nicht replizier­ 68  Kramosil

(2001); Helton (1997). (2007). 70  Kramosil (2001), S. xiv. 71  Bortz (2005), S. 50. 72  Bortz (2005), S. 17. 73  Eingehend dazu v. Kutschera (1972), S. 72 f. 74  Laux (2007), S. 125; Schlapp (1989), S. 16; vgl. etwa BGH StV 1998, 473. 69  Laux



B. Die Beweismaßlehren293

bar.75 Das gerichtliche Erkenntnisverfahren beschäftigt sich im Gegensatz zu den Naturwissenschaften mit einzelnen Ereignissen in der Vergangenheit, deren Hauptmerkmale die Einmaligkeit und Unwiederbringlichkeit sind.76 Die einzige Weise, den Einzelfall probabilistisch zu begreifen ist als ge­ dankliches Konzept (product of mind).77 Darauf werde ich später eingehen. Jetzt möchte ich diese oben skizzierte These mithilfe einer abgeänderten Form des sog. Gate-Crasher-Falls begründen.78 Wir nehmen an, dass laut einer zuverlässigen Studie 97 % der Jura-Studentinnen fleißig sind. Der hier kritisierten Auffassung zufolge lässt diese Statistik den Schluss zu, dass u. a. Petra Meier (= Einzelfall), Jura-Studentin (= Referenzklasse) im 2. Fach­ semester, fleißig ist – der Argumentation halber nehmen wir an, dass Fleiß ein zweistelliges Prädikat ist. Es wird hier gezeigt, wieso diese Aussage durchgreifenden Einwänden ausgesetzt ist. Wenn wir nämlich ohne weite­ res, d. h. ohne individualisierte, fallspezifische Indizien, jeder Studentin Fleiß zuordnen, werden wir ad absurdum geführt. Um das zu zeigen, gehe ich zunächst auf die deduktive Variante ein: 1. Alle Jura-Studentinnen sind fleißig. 2. Petra Meier ist Jura-Studentin. ------ ∀ x (Jx → Fx), Jp: Fp -----3. Petra Meier ist fleißig (1, 2).

Gehen wir nun auf die induktive Variante ein, wo wir mit dem probabi­ listischen Pendant des Modus Ponens (Prob-MP) operieren:79 1. 97 % der Jura-Studentinnen sind fleißig. 2. Petra Meier ist Jura-Studentin. ------ Pr1 (yǀx) ist hoch, x: Pr2 (y) ist hoch -----3. Die Wahrscheinlichkeit, dass Petra Meier fleißig ist, liegt bei 97 % (1, 2). 4. Das Beweiskriterium [BK] liegt bei 95 %. ------ Pr2 > BK -----5. Petra Meier ist fleißig (3, 4). 75  Deutlich in diese Richtung Freund (1987), S. 19: „Das singuläre Ereignis, um dessen ‚Feststellung‘ es geht, kann nicht als Element einer Klasse, die eine Vielzahl unabhängiger Wiederholungen umfaßt, begriffen werden, sondern sein Ge­ gebensein muß individuell begründet werden.“ 76  Jerouschek, Beweiswürdigung, S. 493 ff. 77  Lucy (2006), S. 13; siehe auch Nell (1983), S. 35: „Die eigentliche subjekti­ ve Wahrscheinlichkeitstheorie versteht dagegen Wahrscheinlichkeit nicht als subjek­ tive Entsprechung (Schätzung, Wahrnehmung) einer objektiven Größe, sondern als eine Größe, die ausschließlich als subjektive existiert: Sie interpretiert Wahrschein­ lichkeit ‚als Grad des Glaubens‘ an den Eintritt eines Ereignisses oder an die Wahr­ heit einer Aussage.“ 78  Siehe nur Cohen (1991), S. 74 ff.; siehe auch Kotsoglou, Shonubi, S. 241 ff. 79  Siehe Sober (2002), S. 65–80.

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Das, was allerdings für Petra Meier gilt, gilt ebenso für jede andere JuraStudentin: S1, S2, …, Sn – 1, Sn. Das Prädikat „Fleiß“ soll jeder Studentin, jedem Mitglied der Referenzgruppe ‚Jura-Studentinnen im 2. Fachsemester‘ (100 %) und nicht nur einem Teil (97 %) von ihnen zugeschrieben werden. Das ist jedoch absurd, da dieses Ergebnis unseren statistischen Daten, denen zufolge ausgerechnet (nur) 97 % der Studentinnen fleißig sind, zuwider läuft. Wir haben gerade einen logischen Fehler begangen und das jeweilige Urteil wäre ggf. aufzuheben.80 Sonst hätten wir Fehlurteile in concreto von vornherein miteinkalkulieren und die Legitimation unserer Rechtspflege selbst untergraben müssen. Denn Statistiken enthalten nichts anderes als eine Häufigkeitsverteilung: z. B. p(A) → 0,9 und p(¬A) → 0,1. Was im Einzelfall gilt, (A oder ¬A) ist aufgrund dieser Verteilung kaum entscheid­ bar, weil die statistischen Daten (noch) nicht individualisiert sind. Ganz im Gegenteil sind sie gruppenbezogen (group-mediated). Das heißt sie liefern uns Informationen für eine Person Pn (Pn ist eine statistische und nicht eine reale Größe) indirekt durch ihre Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Zur Unsi­ cherheit über die Zuverlässigkeit der Methode bei der Gewinnung dieser Daten (z. B. korrekte Auswahl der Befragten, α- und β-Fehler-Niveau usw.) kommt eine weitere hinzu, die die Anwendbarkeit der Daten auf die im Fokus liegende Person PPM (PPM ist hingegen eine durchaus reale Person) betrifft. Statistische Daten weisen mit anderen Worten auf das Mögliche hin; entschieden wird allerdings anhand eines anderen aletheischen Modus, nämlich des Kontingenten.81 Der empirisch-statistische (aleatory) Wahrscheinlichkeitsbegriff bringt uns also von allein nicht weiter, weil ihm jeder Bezug zum Einzelfall fehlt. Es ist uns verständlich gemacht worden, dass wir in einem gerichtlichen Verfahren andere Zielvorstellungen haben als anhand eines wirkungsmäch­ tigen (weil axiomatisierten) Kalküls einen Wahrscheinlichkeitswert zu er­ mitteln. Historische Vorgänge sind nicht replizierbar: „There is no universe of events of Kennedy shootings, in which we can count the number of times that Oswald was the culprit and the number of times that Kennedy was shot by somebody else.“82 Uns interessiert der Einzelfall und dafür sind statis­ tische Daten nicht informativ. Die objektive Beweismaßlehre wird dement­ sprechend vor ein Dilemma gestellt, dessen beide Optionen ausgesprochen ungünstig sind: entweder um den Preis ihrer Rationalität auf ihrer bisherigen 80  BGHSt6,

70 (72), BGHSt 19 33 f. alethischen (Wahrheits-)Modi lassen sich in drei Kategorien einteilen: Notwendigkeit, Möglichkeit und Kontingenz. Mehr dazu bei von Wright (1977), S.  1 ff. 82  Oaksford / Chater (2007), S. 9. 81  Die



B. Die Beweismaßlehren295

Vorgehensweise zu beharren, oder die klare Absage von Seiten der Statistik bzw. die strengen Bedingungen für die Ermittlung einer aleatorischen Wahr­ scheinlichkeit zu relativieren und damit elementare methodologische Prinzi­ pien zu verletzen. In beiden Fällen provinzialisiert sich die Sachverhaltsfest­ stellungdogmatik und hört freiwillig auf, eine Theorie zu sein, die an den wissenschaftlichen Diskurs angeschlossen zu bleiben beansprucht. Die objektive Beweismaßlehre erweist sich als eine problematische The­ se, die auf tönernen Füßen steht. Ein Anspruch auf die Aufwertung zu einer begründeten Theorie kann nicht erhoben werden. Darin besteht die sog. therapeutische Diagnose.

III. Subjektive Beweismaßlehren Diese oben skizzierte Entwicklung zieht einen Domino-Effekt nach sich. Scheidet der erste Teil des Streits zwischen Subjektivisten und Objektivisten aus, so erweist sich im gleichen Atemzug auch das andere als eine Trivialität. Denn die Urteile des Zivil- und Strafsenats des BGH, durch die die subjek­ tive Beweismaßtheorie ihre Formulierung erhielt und die gänzlich auf die persönliche Überzeugung des Richters von der Wahrheit abstellen, machen nichts anderes als den Wortlaut des Gesetzes (§ 286 Abs. 1 ZPO, 261 StPO) zu wiederholen.83 Der 3. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat bei dem berühmten Anastasia-Fall (BGHZ 53, 245 (256))84 – daran sowohl in der Sache als auch in der Terminologie anschließend der 2. Strafsenat (BGHSt 10, 208) –betont, dass Entscheidungsgrundlage die Überzeugung von der Wahrheit, d. h. die persönliche Gewissheit des Richters vom Vorhandensein eines rechtsrelevanten Tatbestandes, ist. Der BGH setzt sich m. E. bei bei­ den Urteilen, die den Kernpunkt der sog. „subjektivistischen Beweiswürdi­ 83  § 286 Abs. 1 ZPO: „Das Gericht hat unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlungen und des Ergebnisses einer etwaigen Beweisaufnahme nach freier Überzeugung zu entscheiden, ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder für nicht wahr zu erachten sei. In dem Urteil sind die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind.“ § 261 StPO: „Über das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung.“ 84  Anastasia (die Klägerin) behauptete das einzige überlebende Kind von Zar Nikolaus II. zu sein und machte gegen die Beklagte Ansprüche auf Herausgabe der Erbschaft geltend. Sowohl das Landgericht als auch das Oberlandesgericht wiesen die Klage ab, weil die Beweise nicht zum Nachweis der Erbenstellung ausgereicht hätten. Anastasia rügte mit ihrer Revision, dass die Tatgerichte überspannte Anfor­ derungen an den Beweis gestellt hatten. Der BGH (BGHZ 53, 245 f.) kam in diesem weichenstellenden Urteil zu dem Schluss, dass es nach dem Gesetz auf die Über­ zeugung des Richters von der Wahrheit ankomme und eine Wahrscheinlichkeit der behaupteten Tatsache nicht genüge.

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gungs­theorie“85 bilden und worin die Grundzüge der subjektiven Beweis­ maßlehre zu finden sind, nicht mit der Problematik verschiedener Arten von Wahrscheinlichkeit auseinander. Das ergibt sich sogar aus dem Text des Urteils des 3. Zivilsenats (BGHZ 53, 245): „Denn der Tatrichter hat nicht einen mehr oder weniger hohen Grad von Wahr­ scheinlichkeit festzustellen, sondern zu entscheiden, ob er die Überzeugung von der Wahrheit erlangt hat. Diese persönliche Gewißheit ist für die Entscheidung notwendig, und allein der Tatrichter hat ohne Bindung an gesetzliche Beweisre­ geln und nur seinem Gewissen unterworfen die Entscheidung zu treffen, ob er die an sich möglichen Zweifel überwinden und sich von einem bestimmten Sachver­ halt überzeugen kann.“

Ähnlich argumentiert der 2. Strafsenat (BGHSt 10, 209): „Freie Beweiswürdigung bedeutet, daß es für die Beantwortung der Schuldfrage allein darauf ankommt, ob der Tatrichter die Überzeugung von einem bestimmten Sachverhalt erlangt hat oder nicht; diese persönliche Gewißheit ist für die Verur­ teilung notwendig, aber auch genügend.“

C. Was ist das Geheimnis des Anastasia-Falls? Dass der Tatrichter von der Schuld des Angeklagten überzeugt sein muss, um eine für ihn ungünstige Entscheidung zu treffen, wird bereits im Gesetz vorgeschrieben. Dabei handelt es sich um das Hauptmerkmal des Systems der ohne Bindung an gesetzliche Regeln freien Beweiswürdigung. Dies war allerdings nicht das große Verdienst dieser Urteile. Bei dem „AnastasiaFall“ (3. Zivilsenat) und dem darauf anknüpfenden Urteil des 2. Strafsenats handelte es sich – wie ich meine – grundsätzlich um eine Entscheidung über die Höhe der Anforderungen an die ein Strafurteil ermöglichende Beweis­ würdigung: „Das Gesetz setzt nicht eine von allen Zweifeln freie Überzeugung voraus; der Richter dürfe und müsse sich mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewißheit begnügen, der den Zweifeln Schweigen gebietet ohne sie völlig auszuschließen.“86

Ähnlich urteilte der 2. Strafsenat (BGHSt 10, 209): „Der Begriff der Überzeugung schließt die Möglichkeit eines anderen, auch ge­ genteiligen Sachverhaltes nicht aus; vielmehr gehört es gerade zu ihrem Wesen, daß sie sehr häufig dem objek tiv möglichen Zweifel ausgesetzt bleibt.“

Damit knüpft der BGH an die Rechtsprechung des Reichgerichts an (RGSt 61, 202 ff.): 85  So

Herdeggen (1992), S. 531. 53, 255.

86  BGHZ



C. Was ist das Geheimnis des Anastasia-Falls?297 „Es dürfte nicht zu hohe Anforderungen an die Gewinnung einer zur Verurteilung ausreichenden richterlichen Überzeugung gestellt werden.“

Darüber hinaus tritt bei dem Strafsenat an die Stelle des „für das prakti­ schen Leben brauchbaren Gewißheitsgrades“ das „ausreichende Maß an Sicherheit, demgegenüber vernünftige Zweifel nicht mehr laut werden können.“ (NJW 1951, 122)

I. „Anastasia“ und der inferentielle Kontext Wenn die Ergebnisse des Teils 4 richtig sind (davon darf ich hier ausge­ hen), dann wollten beide Senate des Bundesgerichtshofes nicht darauf hi­ naus, eine Trivialität zu betonen bzw. den Wortlaut des Gesetzes zu wieder­ holen. Der höchstrichterlichen Rechtsprechung ging es nicht darum, dass die persönliche Gewissheit des Richters eine notwendige und hinreichende Voraussetzung eines Strafurteils ist, wie die Literatur ihnen unterstellt. Ziel war hingegen, implizit den inferentiellen Kontext im Sinne dieser Arbeit, nämlich die Menge der kontextrelevanten Zweifel festzulegen. In diesen Urteilen wird m. E. deutlich zum Ausdruck gebracht, dass nicht alle Zweifel in Betracht kommen dürfen und können, generische Zweifel ein­ geschlossen. Denn bei dem gerichtlichen Verfahren handelt es sich um einen nicht-philosophischen (= alltäglichen) Kontext und daher sollen wir skepti­ sche bzw. unbegründete Alternativen als irrelevant betrachten sowie Zweifel legitimerweise ignorieren. Entsprechende Beweisanträge werden zulässiger­ weise abgelehnt. Dass wir aus rechtfertigungstheoretischer Perspektive das­ selbe auch tun dürfen, bekommen wir erst durch die Rechtfertigungstheorie Williams‘ begründet, mit deren Hilfe wir dem gerichtlichen Verfahren einen leistungsfähigen erkenntnistheoretischen Ansatz zugrunde legen. Auf die Pra­ xis der Gerichte, wonach nämlich Beweisanforderungen je nach der Bedeu­ tung der Sache unterschiedlich sein werden, hat die Literatur längst hinge­ wiesen.87 Der inferentielle Kontextualismus vermag es freilich, über die Phä­ nomenologie der strafprozessualen Denkfigur des Beweises jenseits vernünf­ tiger Zweifel hinaus zu gehen und den zugrunde liegenden Mechanismus zu beschreiben. Gezeigt wird nämlich nicht einfach, dass die Beweisanforderun­ gen erhöht oder erleichtert werden können – das ist längst bekannt. Der Er­ kenntniswert des Inferentiellen Kontextualismus besteht in der analytischen Betrachtung einer längst etablierten gerichtlichen Praxis. Gezeigt wird also auch, wie es der Strafjustiz gelingt, den inferentiellen Kontext zu wechseln. Wie oben gezeigt, wäre es nicht intelligibel (u. Teil 4) im Rahmen eines nicht philosophischen Kontextes zu weit hergeholte Zweifel zu berücksichti­ 87  Greger

(1978), S. 121.

298

Teil 7: „Anastasia“ – Über das Geheimnis der Zarentochter

gen. Den Skeptiker, der an der Existenz der Erde oder physikalischen Geset­ zen zweifelt, würden wir nicht einmal sprachlich verstehen (ÜG 157). Die Kritik Leipolds88 an der Rechtsprechung des BGH, nämlich dass es „ein Un­ ding“ sei, einerseits Gewissheit zu verlangen, im selben Atemzug aber zu betonen, es brauche nicht jeder Zweifel ausgeräumt worden zu sein, „weil Gewißheit mit Zweifeln ein Widerspruch in sich wäre“, trifft ins Leere.89 Die invariantistische Konzeption von Rechtfertigung, der Leipold implizit folgt, ist wegen der Kontinuität zwischen alltäglichem und philosophischem Kon­ text der radikalen Skepsis ausgesetzt. Die Standards für Rechtfertigung ins Maximum hochzuschrauben ermöglicht uns kaum, eine anspruchsvollere De­ batte zu führen oder ein besseres Ergebnis (d. h. eine sicherere Überzeugung) zu liefern. Skeptische Zweifel sind nur unter besonderen Umständen sinnvoll – jedenfalls nicht im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens. Nicht nur gene­ rische (skeptische) Zweifel können unter Umständen ignoriert werden. Die Antwort auf die Frage, wie viele Defeater (Zweifel) das jeweilige SED um­ fassen wird, nämlich was jeweils ausgeschlossen werden muss, damit ein Tat­richter einen Wissensanspruch erheben darf, wird von jeder Rechtsord­ nung, von jedem Rechtssystem unterschiedlich beantwortet. Das Verdienst des Inferentiellen Kontextualismus und der von ihm gelie­ ferten theoretischen Diagnose des Erkenntnis-Skeptizismus besteht in der Erklärung, dass es zwar ein Unding ist, Gewissheit zu verlangen, ohne alle Zweifel ausräumen zu wollen und zu können, aber nur dann, wenn die in Betracht kommenden Zweifel kontextrelevant sind. Ein Tatrichter, der den Angeklagten freispricht, weil er überspannte Anforderungen an die Beweis­ würdigung stellt und daher generische, fernliegende bzw. „irgendwie vorstellbare, in nebelhafter Ferne liegende Möglichkeiten“ (dazu schon RG JW 1929, S. 864) nicht ausschließen kann, ist nicht ein methodisch sorgfältige­ rer Agent, sondern jemand, der die gerichtliche Untersuchung mit einer philosophischen wechselt. Ein markantes Beispiel dafür bildet das Urteil, das vom Reichsgericht aufgehoben wurde (RGSt 61, 202). Dort erachtete die Strafkammer, nachdem das Schöffengericht den Angeklagten wegen Unterschlagung verurteilt hatte, den Beweis „nicht für geführt“, sondern „hielt es für immerhin möglich, daß das [unterschlagene] Geld auf andere Weise, ohne eine strafbare Handlung des Angeklagten abhanden gekommen sein könne“.90 Zwar bestand der „dringendste Verdacht“, dass der Ange­ klagte „die Gelder unterschlagen habe, dennoch aber sei die ‚allerdings sehr fernliegende Möglichkeit nicht absolut ausgeschlossen‘ “.91 Das Reichsge­ 88  Leipold

(1985), S. 9. (1985), S. 9. 90  RGSt 61 202 (202 f.). 91  RGSt 61 202 (204 f.). 89  Leipold



C. Was ist das Geheimnis des Anastasia-Falls?299

richt hob das Urteil auf, da das Tatgericht „rechtsirrig zu hohe Anforderun­ gen an die Gewinnung einer zur Verurteilung ausreichenden richterlichen Überzeugung“.92 Das Reichsgericht betonte, dass eine Gewissheit so ho­ hen Grades eine Rechtsprechung verunmöglichen würde.93 „Wie es allge­ mein im Verkehr ist, so muß auch der Richter sich mit einem so hohen Grade von Wahrscheinlichkeit begnügen, wie er bei möglichst erschöpfender und gewissenhafter Anwendung der vorhandenen Mittel der Erkenntnis entsteht“.94 Ähnlich sind die US-amerikanischen Strafgerichte gegen Ende des 18. Jh. (siehe „Boston Massacre Trials“) vorgegangen, als von der ursprünglichen any doubts-Formel Abschied genommen wurde, der zufolge die Jury jeden Zweifel, jede denkmögliche Alternative auszuschließen hatte, um den Ange­ klagten verurteilen zu dürfen.95 Das war die Geburtsstunde der strafprozes­ sualen Denkfigur des „proof beyond a reasonable doubt“.

II. Überzeugung wovon? Ich möchte jetzt noch auf die graduelle Auffassung von Überzeugungen eingehen.96 Schwab merkt an, dass mit dem Begriff der bloßen Überzeu­ gung das Kriterium für die richterliche Sachverhaltsfeststellung noch nicht ausreichend umschrieben ist.97 Es komme darauf an, wovon der Richter überzeugt sein muss: von der Wahrheit oder von der Wahrscheinlichkeit einer tatsächlichen Behauptung. Die Stellungnahmen zum selben Thema gehen weit auseinander. Greger, um nur ein Beispiel zu nennen, lehnt jeg­ liche Relation zwischen Wahrscheinlichkeit und Überzeugung kategorisch ab: „Wahrscheinlichkeit kann nicht an Überzeugung grenzen und Überzeu­ gung kann keine Grade haben.“98 Der Autor ist sogar der Meinung, dass es sich bei dem Ausdruck des BGH (RzW 1958, 20) „minderer Grad der Überzeugung“ wohl um einen lapsus linguae handelt. Kindhäuser vertritt die gegenteilige Auffassung: Die Tatsache, dass eine Person in unterschied­ lichem Maße an den Eintritt von Ereignissen oder die Wahrheit von Hypo­ thesen glauben kann, sei schwerlich zu bestreiten.99 Er fügt allerdings hinzu, 92  RGSt

61 202 (205). 61 202 (205). 94  RGSt 61 202 (205). 95  Ausführlich zu diesem Thema Morano (1975), S. 507–528, m. w. N. 96  Eine Einführung zu der Problematik bietet Baumann (2006), S. 87  ff.; aus­ führlich dazu F. Huber (2009). 97  Schwab (1988), S. 457. 98  Greger (1978), S. 20. 99  Kindhäuser, (1988), S. 294. 93  RGSt

300

Teil 7: „Anastasia“ – Über das Geheimnis der Zarentochter

dass nicht nur der objektive, sondern auch der subjektive Wahrscheinlich­ keitsbegriff eine zweckgebundene wissenschaftstheoretische Begriffsschöp­ fung ist, wobei beide mit dem (rechtsrelevanten) umgangssprachlichen Be­ griff ‚wahrscheinlich‘ „wenig oder gar nichts zu tun haben“.100 Das mag auf einer deskriptiven Ebene zutreffend sein. Der Gebrauch des Begriffs ‚Wahr­ scheinlichkeit‘ sowie die Methoden für die Bekämpfung der Unsicherheit, die Juristen aufgreifen, mögen mit den Methoden der scientific community wenig oder gar nichts zu tun haben. Die Frage, die sich aufdrängt, betrifft nun die Bewertung dieser Fragmentierung des wissenschaftlichen Diskurses. Dürfen Juristen einen entscheidungstheoretischen Begriff abweichend ge­ brauchen und ggf. missbrauchen? Wäre dies rational? Es ist außerdem da­ rauf hinzuweisen, dass Rationalität nicht einfach eine Eigenschaft einer säkularen Gesellschaft, sondern in concreto ein regulatives Prinzip ist, das das BVerfG in aller Deutlichkeit konstatiert hat (BVerfGE 34 269). Was unter ‚rational‘ zu verstehen ist, bleibt mit guten Gründen offen, denn Ra­ tionalitätsmaßstäbe ändern sich mit der Zeit und mit dem Forschungsobjekt. Die Rechtspraxis und -theorie sind auf die jeweiligen Ansätze der einschlä­ gigen Disziplinen angewiesen, worin der propositionale Gehalt des TrackingPrinzips besteht. In diesem Sinne lässt sich das oben gestellte Problem so umformulieren: Es geht nicht darum, ob der Wahrscheinlichkeitsbegriff der Juristen mit demjenigen der scientific community etwas oder gar nichts zu tun hat, sondern vielmehr darum, ob er damit etwas haben soll. Dass Letzteres der Fall ist, impliziert das Forschungsprogramm, das Da­ niel Kahnemann und Amos Tversky initiiert haben.101 Ihr Hauptdeterminant war die Hypothese, dass Menschen unabhängig von Intelligenz und Bildung gegen elementare Regeln der Wahrscheinlichkeitsrechnung verstoßen, wenn sie Entscheidungen unter Unsicherheit treffen. Daraus resultiert, dass unsere Entscheidungen und Prognosen systematisch von entscheidungstheoretischen Rationalitätsmaßstäben abweichen. Just diese Abweichung wird als Irratio­ nalität thematisiert. Ein Tatrichter, der seinen Glaubensgrad anders ansetzt als in einem axiomatisierten Modell wie etwa die Bayes’sche Erkenntnis­ theorie102 oder das Dempster-Shafer Modell103 vorgeben, so macht er sich einer subrationalen Argumentation schuldig.104 Die empirische Forschung 100  Kindhäuser

(1988), S. 295. dazu Schweizer (2005). 102  Vgl. nur Kadane / Schum (1996). 103  Vgl. nur Kramosil (2001). 104  Es handelt sich um eine äußerst verbreitete Idealisierung in der Philosophie wie auch in vielen Sozialwissenschaften, dass man die Überzeugungen eines Agen­ ten mit Hilfe von epistemischen Wahrscheinlichkeiten repräsentiert. Das soll aber nicht heißen, dass der Grad des Glaubens ordinal zu bestimmen ist, d. h. man soll nicht angeben, für wie wahrscheinlich man ein Ereignis hält, sondern nur, um wie 101  Eingehend



C. Was ist das Geheimnis des Anastasia-Falls?301

zu den sog. heuristics and biases, die von Menschen eingesetzt werden, damit Entscheidungen unter Unsicherheit gefällt werden, zeigt, dass just das Treffen jener Entscheidungen irrational ist. Dass epistemische Agenten (inkl. Tatrichter) irren, ist trivial und bedarf keiner besonderen Erwähnung. Dass wir imstande sind, Redundanzen aufzuzeigen und Fehler auf bestimmte Urteilsheuristiken (sog. kognitive Täuschungen) zurückzuführen, ist der besondere Erkenntniswert der Verhaltensforschung von Kahnemann und Tversky.105 Im Auge zu behalten ist die Diagnose, dass unser Umgang mit epistemischen Wahrscheinlichkeiten als irrational angesehen wird. Die Schlüsse, die wir ziehen und die Entscheidungen, die wir fällen, beruhen auf einer intuitiven Vorgehensweise, die uns zu Fehlern führt, die wir sonst hätten vermeiden können und sollen. Denn die Ergebnisse einer Wahr­ scheinlichkeitsermittlung laufen öfters unserer Intuition zuwider. Obwohl also diese Heuristiken im Alltag hilfreich sind, führen sie uns zu schweren und systematischen Fehlern, wenn wir unter Unsicherheit argumentieren.106 Und vor allem da, wo die Freiheit eines Bürgers auf dem Spiel steht und der Tatrichter die Position des Ignoramus einnimmt (nämlich unter Unsi­ cherheit argumentiert), stimmt etwas nicht, wenn die Tatrichter sich ausge­ rechnet bei Zeugenaussagewürdigung, Strafzumessung und Beweisanalyse im Allgemeinen irrationaler Methoden bedienen.107 Ausgerechnet wegen der kognitiven Täuschungen – die übrigens robuste Phänomene sind und Laien sowie Experten genauso betreffen – und der schweren und systema­ tischen Fehler im Umgang mit Unsicherheit (bei der Würdigung des Be­ weismaterials) sollen unser Wahrscheinlichkeitsbegriff sowie unsere Metho­ den für die Bekämpfung der Unsicherheit auf die Ansätze der Entschei­ dungstheorie angewiesen sein. Der divergierende Gebrauch eines wissenschaftlichen Begriffs von Seiten der Juristen macht sich einer begrifflichen Inkohärenz schuldig. Darin be­ steht auch der Propositionsgehalt der hier gelieferten therapeutischen Dia­ gnose.

viel wahrscheinlicher man eine Hypothese im Vergleich zu ihrer Gegenhypothese hält (LR); siehe nur Kadane / Schum (1996), S. 116–158. 105  Einführend dazu Fiedler (1993), S. 7 ff. 106  Einführend dazu bei Schweizer (2005). 107  Siehe nur Guthrie / Rachlinski / Wistrich (2007).

Teil 8

Das Kühne-Problem und die inferentiellen Kontexte im Ermittlungsverfahren A. Das Kühne-Problem Im Rahmen dieser dritten und letzten Anwendung der Rechtfertigungs­ theorie von M. Williams möchte ich mich mit einem weiteren kniffligen strafprozessrechtlichen Problem auseinandersetzen, der Unterscheidung zwischen verschiedenen Erscheinungen des Tatverdachts. Hierüber darf man wohl ohne Übertreibung sagen, dass der Begriff des Verdachts die ‚Achil­ lesferse‘ der Strafprozessrechtsdogmatik zu sein scheint. Obwohl die Lite­ ratur sich in den letzten Jahren in stärkerem Ausmaß (teilweise monogra­ fisch) mit der einschlägigen Problematik befasst und jeder Autor die Bedeu­ tung des Begriffs hervorhebt, sind viele grundlegende Fragen um ihn offen geblieben.1 Denn man spricht ohne Gewinn an Klarheit von der Grenzzie­ hung zwischen verschiedenen Phänotypen des Rechtsbegriffs ‚Verdacht‘. Etliche Kriterien und Ansätze sind m. E. wenig erhellend, da sie rudimentär sind und sich nicht auf eine zugrunde liegende Theorie zurückführen lassen. Kühne, dessen Untersuchung als locus classicus für die Tatverdachtsdogma­ tik angesehen wird, sieht seinen eigenen Ansatz als fehlgeschlagen an, weil – wie der Autor selbst betont – sein Versuch, einerseits eine Definition und andererseits eine funktional kohärente und daher befriedigende Grenzzie­ hung zwischen den in der StPO vorkommenden Verdachtsformen zu liefern, zu bescheidenen Ergebnissen geführt hat.2 Kühne betrachtet seinen rich­ tungweisenden Ansatz als einen Versuch, auf andere Strafrechtler anregend zu wirken, indem die Letzteren zukünftig auf die nicht befriedigend erörter­ ten Einzelfragen eingehen. Damit wird ein Forschungsprogramm eröffnet und ein Desiderat angezeigt. Dieser Abschnitt verfolgt das Ziel, diese An­ regung – freilich ein paar Jahrzehnte später – aufzugreifen und eventuell eine Forschungslücke zu schließen. Im Folgenden werde ich an das Problem, das ich aufgrund vorheriger Überlegungen ehrenhalber als das Kühne-Problem betiteln möchte, kontextualistisch herangehen und die fünf kontextuel­ 1  Hierzu siehe nur Kühne (1979), Lohner (1994), Ebert (2000), L. Schulz (2001), Fincke (1983). 2  Kühne (1979), S. 617.



A. Das Kühne-Problem303

len Parameter des IK für jede Phase des Ermittlungsverfahrens näher präzi­ sieren. Es leuchtet ein, dass ich Hans-Heiner Kühne auch aus diesem Grund diesen Ansatz widmen möchte.

I. Tatverdacht als Hebel des Ermittlungsverfahrens Der Mehrwert einer (leistungsfähigen) Tatverdachtsdogmatik resultiert unmittelbar aus der Funktion des Tatverdachts als Katalysator des Strafver­ fahrens.3 Denn der Tatverdacht ist das zeitlich und inhaltlich primäre Krite­ rium für die Entscheidung über die Zulässigkeit von Ermittlungsmaßnah­ men.4 Jedes Strafverfahren wird von einem Verdacht geprägt, der die Ein­ leitung und Fortsetzung eines Ermittlungsverfahrens erst ermöglicht. Es ist also der Tatverdacht in seinen verschiedenen Erscheinungen diejenige Rechtsfigur, die das Strafverfahren in Gang setzt. Ihm wird vonseiten der Strafprozessordnung insofern eine Hebelfunktion zugeschrieben, als an zahlreichen Stellen im Vor- und Zwischenverfahren der Gesetzgeber die Zulässigkeit prozessualer Maßnahmen von der Begründung (einer besonde­ ren Erscheinung) des Tatverdachts abhängig macht. Der Anfangsverdacht wird von Tatsachen gekennzeichnet, die darauf schließen lassen, dass eine Straftat begangen wurde. Dem Legalitätsprinzip zufolge müssen (nur) die­ jenigen verfolgt werden, für deren Strafbarkeit und Verfolgbarkeit nach § 152 Abs. 2 StPO zureichende Anhaltspunkte vorliegen. Des Weiteren lässt § 112 Abs. 1 StPO die Verhängung von U-Haft nur beim Vorliegen eines dringenden Tatverdachts zu. Ferner wird das Hauptverfahren nach § 203 StPO nur eröffnet, wenn das Gericht den Angeschuldigten für hinreichend verdächtig einer Straftat hält. Das Ermittlungsverfahren setzt also mit dem Anfangsverdacht ein und schließt mit der Entscheidung, ob die Ermittlun­ gen genügenden Anlass zur Erhebung der öffentlichen Klage nach § 170 Abs. 1 StPO bieten, ab.

II. Über das übliche Schmerzmittel der Rechtsdogmatik Angenommen, dass die Hebelfunktion des Tatverdachts eine genauere Prü­ fung rechtfertigt und fordert,5 erschwert sie dessen Polymorphismus, denn in der StPO werden verschiedene Verdachtsbegriffe als Voraussetzungen für Zwangsmaßnahmen verwendet. Die h. M. in der Tatverdachtsdogmatik be­ hauptet jedenfalls in der Aussage, jede phänomenologische Spielart des Ver­ 3  Bei manchen Autoren ist die Rede sogar vom zentralen Begriff des Strafver­ fahrens; dazu Zabel (2014), S. 340 m. w. N. 4  Kühne (1979), S. 618. 5  Kühne (1979), S. 618.

304

Teil 8: Die inferentiellen Kontexte im Ermittlungsverfahren

dachts enthalte letztendlich die eine oder andere Wahrscheinlichkeits­aussage,6 eine Lösung für das Problem des „Verdachtsmanagements“7 gefunden zu haben. Diverse Verdachtserscheinungen können und sollen auf einen gemein­ samen Nenner gebracht werden, nämlich auf den Begriff der Wahrscheinlich­ keit. Denn (um stichwortartig ein Paar Formeln der Tatverdachtsdogmatik ins Spiel zu bringen), liegen nach h. M. zureichende Anhaltspunkte und damit ein Anfangsverdacht genau dann vor, wenn eine geringe Wahrscheinlichkeit für die Täterschaft spricht; dessen Schwelle sei von Rechts wegen sehr niedrig angesetzt.8 Dringender Tatverdacht bestehe, wenn die Wahrscheinlichkeit (dass der Beschuldigte Täter oder Teilnehmer einer verfolgbaren Straftat ist) groß bzw. größer ist, als für die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens nötig;9 die Wahrscheinlichkeit nun, dass Rechtfertigungs-, Schuld- oder Strafausschließungsgründe vorliegen, beseitige ihn.10 Bei der Prüfung des dringenden Tatverdachts habe der Richter ein auf den Stand der Ermittlungen zum Zeitpunkt der Haftentscheidung bezogenes Wahrscheinlichkeitsurteil da­ hingehend abzugeben, ob der Verfolgte sich schuldig gemacht hat.11 Ferner bestehe ein hinreichender Verdacht bei vorläufiger Tatbewertung in der Wahr­ scheinlichkeit der späteren Verurteilung.12 Daraus lässt sich ableiten, dass der Tatverdacht erst dann vorliegt, wenn eine jeweils hinreichend große Wahrscheinlichkeit besteht, dass der Be­ schuldigte sich schuldig gemacht hat. Grundsätzlich einig ist man sich heute, dass man Eingriffsschwere und Verdachtsschwere (Wahrscheinlich­ keitsgrad) in ein reziprokes Verhältnis zueinander setzen kann. Wir können jetzt zu einem Zwischenergebnis kommen. Das übliche Schmerzmittel der Rechtsdogmatik wird auch hier verabreicht und eingesetzt. An die Stelle der Suche nach dem ‚Verdachtsbegriff‘ soll die Suche nach dem Begriff von ‚Wahrscheinlichkeit‘ treten und auf diesen Problembereich sollte man noch einmal die Aufmerksamkeit richten. Es sieht danach aus, dass das Geheim­ nis des Anastasia-Falls (Teil 7) und die Unklarheit über den Wahrscheinlich­ 6  Roxin / Schünemann (2009), § 24 Rn. 1. Des Weiteren ist es äußerst umstrit­ ten, ob der Verdacht eine „Prognose“, eine „Diagnose“, oder eine „retrospektive Prognose“ darstellt. Entscheidungstheoretisch geht es dabei um eine sog. Entschei­ dung unter Unsicherheit. Mehr dazu bei Laux (2007), S. 23. Vgl. Kühne (2010), Rn. 957. Dem Autor zufolge ist jede gerichtliche Entscheidung eine „Entscheidung unter Ungewissheit.“ 7  Begriff bei Zabel (2014), S. 340. 8  KK7–Diemer, §  152, Rn. 7; LR26–Beulke, § 152 Rn. 21; vgl. etwa BVerfG NStZ 2004, 447 f.; BVerfG StV 2010, 665 ff. 9  KK7–Graf, § 112, Rn. 4 ff. (7) m. w. N. aus der Rechtsprechung. 10  Meyer-Goßner / Schmitt, § 52. Aufl., § 112 Rn. 5. m.  w. N.; KK7–Graf, § 112, Rn. 4. 11  BGH NStZ 1981, 94. 12  BGHSt 23, 304; 54, 275, 281; BGH StV 2001, 579, 580.



B. Der Ansatz Kühnes305

keitsbegriff sowie die unternommene Beseitigung der zugrunde liegenden Begriffsverwirrung, deren sich die zwei Kontrahenten (Vertreter subjektiven und objektiven Beweismaßlehren) schuldig gemacht haben, uns noch einmal nützlich erscheinen werden.

III. Der Objektivitätszwang Der oben angesprochene Polymorphismus des mehrmals in der StPO vorkommenden „Verdachts“ scheint die Literatur verunsichert zu haben. Fincke merkt diesbezüglich an, dass die Literatur nicht müde wird, nach einem objektiven oder wenigstens objektivierbaren Verdachtsbegriff zu su­ chen.13 Fincke versäumt zwar nicht zu betonen, dass die Präzisierung der minima für jede Verdachtserscheinung unmöglich wäre. Deswegen sei man geneigt, neben vagen quantitativen Angaben nach Regelbeispielen vorzuge­ hen. Man beharre auf dem Konzept einer Metrisierung des Verdachts, indem man eine möglichst numerische Festlegung nach dem Grad als das Idealziel fordert.14 Der Tatverdacht wird sogar als quantitativer Begriff erklärt, der – ganz abgesehen von dem Problem der Quantifizierbarkeit – als solcher zu konzipieren sei.15 Im Folgenden möchte ich zeigen, dass dieser Objektivie­ rungsversuch nur pseudopräzise sein kann.16 Zu diesem Zwecke wollen wir den Ansatz Kühnes näher betrachten.

B. Der Ansatz Kühnes Kühne geht in seinem Aufsatz aus dem Jahre 1979 von der strukturellen Ähnlichkeit zwischen dem Verdacht und der für eine Verurteilung erforder­ lichen Gewissheit aus. „Die Problemlage ist grundsätzlich nicht anders als bei der Sachverhaltswürdigung des Gerichts zum Zwecke der Urteilsfin­ dung, § 261 StPO.“17 Den Unterschied sieht Kühne freilich darin, dass das Gesetz selbst mit dem Begriff des Verdachts ein im Verhältnis zu § 261 StPO gemindertes Wahrscheinlichkeitserfordernis einführe.18 Damit wird 13  Fincke (1983) S. 923. Diese Tendenz erreicht m. E. ihren Höhepunkt mit der Habilitationsschrift von L. Schulz (2001) und der These, dass die Entscheidung über den Verdacht als die einzig richtige Entscheidung ergehe. 14  Fincke (1983), S. 931. 15  Fincke (1983), S. 924. 16  Vgl. Roberts / Zuckerman (2004), S. 353. 17  Kühne (1979), S. 619. 18  Kühne (1979), S. 620. Über den Verdacht hinaus kann ein Richter, Schöffe oder Urkundsbeamter gemäß §§ 24 Abs. 1, 31 Abs. 1 StPO von einem Verfahrens­ beteiligten sowohl bei Vorliegen eines Ausschließungsgrundes (§§ 22, 23 StPO) als

306

Teil 8: Die inferentiellen Kontexte im Ermittlungsverfahren

eine Parallele zwischen voller Überzeugung und Glaubhaftmachung (ZPO) als Kategorien des Zivilprozess(recht)s gezogen. Es gebe also nicht nur zwischen verschiedenen Kategorien des Verdachts qualitative Unterschiede, sondern auch zwischen dem „Verdacht“ als Verdachtsformencluster und der für eine Verurteilung hinreichenden Überzeugung. Jedenfalls sei der Unter­ schied „nur quantitativer Natur“.19 Daraus ergibt sich der Schluss, dass die Zielvorgabe Kühnes diejenige ist, die (verschiedenen) Tatverdachtsbegriffe auf dieselbe Grundlage zurückzuführen und komparative Ähnlichkeitsrela­ tionen zwischen ihnen herzustellen. Des Weiteren diagnostiziert Kühne die Scheu vor exakt analytischem Umgang mit dem Begriff der Wahrscheinlich­ keit als Ursache für die „auffällige argumentative Abstinenz bei der Defini­ tion von Verdacht“.20 Aus diesem Grund versucht der Autor, einen Ansatz zu präsentieren, der erstens diese Scheu überwindet und zweitens rational mit dem Begriff der Wahrscheinlichkeit umgeht. Zentrale Bedeutung misst Kühne dem Zahlenbereich der reellen Zahlen von 0 bis 1 bei.21 In diesem Rahmen seien alle Verdachtserscheinungen so wie die Gewissheit nach § 261 StPO zu metrisieren. Die Wahrscheinlichkeit (p) erreicht nach Kühne ihren maximalen Wert 1, wenn man absolut sicher ist, dass der propositionale Gehalt von p zutrifft. Der Wert 0,5 beschreibe dann die Situation des non liquet, wo eine Hypothese und ihre Gegenhypo­ these gleichwahrscheinlich seien. Das ermögliche es uns, wichtige Schlüsse zu ziehen: a) der einfache Verdacht habe einen Minimalwert, der weit unter 0,5 liege b) der dringende Verdacht, wovon der einfache Verdacht negativ auszugrenzen sei, solle größer als 0,5 sein c) der hinreichende Verdacht solle erstens größer als 0,5 sein und unterscheide sich vom dringenden Verdacht nur durch seine Position am Ende des Ermitt­ lungsverfahrens. Die beiden prozessualen Figuren seien aber probabilistisch gleich zu behandeln. auch wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden. Dabei genügt die Glaubhaftmachung des Ablehnungsgrundes (§ 26 Abs. 2 StPO), d. h. die behaupteten Tat­ sachen müssen der h. M. nach nicht zur vollen Überzeugung des Gerichts bewiesen werden, sondern es reiche aus, dass durch die beigebrachten Beweismittel in einem hinreichendem Maße die Wahrscheinlichkeit ihrer Richtigkeit dargetan wird. (BGH NStZ 1991, 144) Glaubhaftmachung, so wird behauptet, sei ein geringerer Grad der Beweisführung, etwas weniger. Ein (Voll-)Beweis sei hingegen eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit, die volle richterliche Überzeugung von der Richtig­ keit der behaupteten Tatsachen werde nicht gefordert; BVerfGE 38, 39; Ausführlich dazu siehe Scherer (1996). 19  Kühne (1979), S. 619; vgl. Meyer-Goßner, § 152 Rn. 4. 20  Kühne (1979), S. 618 f. 21  Kühne (1979) S. 622.



B. Der Ansatz Kühnes307

Zusammenfassend läßt sich folgendes Schema darstellen einfacher Verdacht > 0,5 > dringender / hinreichender Verdacht > volle Überzeu­ gung > 1

Daraus ergibt sich der Schluss, dass Kühnes Modell leicht von der herr­ schenden Meinung abweicht, der zufolge die Intensität von Ermittlungsein­ griffen der Intensität (Rangfolge) des Verdachts entspreche:22 Der bloße Verdacht des § 160 Abs. 1 StPO als unterste Verdachtsgrenze verlange da­ nach weniger Wahrscheinlichkeit als der durch bestimmte Tatsachen begrün­ dete Verdacht des § 100a Abs. 1 StPO, und letzterer verlange weniger als der dringende Tatverdacht des § 112 Abs. 1 StPO. Mit dem dringenden Tatverdacht setze die Verhaftung als schwerwiegender Eingriff in das Grundrecht der persönlichen Freiheit einen stärkeren Verdachtsgrad voraus, als es für die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens erforderlich wäre.23 Es wäre unangemessen, diesem Ansatz nachzugehen, jedenfalls solange der Autor selbst ihn als unbefriedigend sieht. Eine Bemerkung scheint mir al­ lerdings notwendig zu sein.

I. Über metrisierbare Strukturen Früher wurde gezeigt, dass man sich des Konzepts der aleatorischen Wahrscheinlichkeit erst dann bedienen darf, wenn zwei (verbindliche) Kri­ terien erfüllt werden können: a) die Durchführung eines Experiments unter stets gleichen Bedingungen, b) ein hinreichend großes n (Anzahl der Expe­ rimentsdurchführung). Wir dürfen also nur dann mächtige mathematische Apparate anwenden – um etwa unsere Sehnsucht nach Objektivität zu be­ ruhigen – wenn wir replizierbaren Vorgängen auf dem Grund gehen (kön­ nen). Historische Ereignisse sind allerdings nicht replizierbar (vgl. Teil 7, Abschn. B.II.4.). Die „Quasireihe“ (d.  i. die Grundform komparativer Begriffe),24 die Kühne aufstellt oder die vagen quantitativen Angaben, die uns nach Fincke helfen, ohne den Idealfall einer Metrisierung des Ver­ dachtsgrades auszukommen, sind pseudopräzise. Wir machen uns damit ei­ ner begrifflichen Inkohärenz schuldig. Worin besteht aber der oben angesprochene Begriffsmissbrauch? Kühne geht m. E. von folgender Grundannahme aus: Die Strafprozessordnung ent­ halte klassifikatorische Begriffe, die die grundsätzlichen Phänotypen des Verdachts ausmachen (Anfangs-, dringender und hinreichender Verdacht) 22  Peters (1985), S.  355; Roxin / Schünemann (2009) §  112 der / Nack / Treuer (2007), Rn. 549–550; vgl. Hassemer (1984), S. 41. 23  OLG Köln StV 1991, 304. 24  Grundlegend dazu v. Kutschera (1972), S. 20 ff.

Rn.  6;

Ben-

308

Teil 8: Die inferentiellen Kontexte im Ermittlungsverfahren

und die nicht unbedingt in besonderen Relationen zueinander stehen. Die zweite Prämisse, die zu dieser Annahme hinzuzufügen sei, betrifft die Grundintuition über die Tatverdachtsdogmatik, der zufolge die Intensität von Ermittlungseingriffen der Intensität des Verdachts entspreche:25 je schärfer die prozessuale Zwangsmaßnahme, desto stärker solle der Ver­ dachtsgrad auch sein. Das Problem besteht allerdings schon darin, dass wir mithilfe klassifikatorischer Begriffe dem Tatverdacht nicht in mehr oder minder großem Maße eine Eigenschaft wie dem x-Verdachtsgrad zusprechen können: die Begründung eines Verdachts ist eine Ja-Nein-Angelegenheit, die uns feinere Unterscheidungen wie in dem Fall von komparativen oder gar metrischen Begriffen nicht ermöglicht. Um dieser Problematik entgegenzuwirken, versucht Kühne, mithilfe des metrischen Begriffs der aleatorischen Wahrscheinlichkeit (ohne jedoch auf den Kalkül für deren Ermittlung einzugehen) klassifikatorische Begriffe einzuführen, die in klaren und (das Wichtigste) von der Praxis nachvollzieh­ baren Relationen zueinander stehen:

P(AV) < P(DV) ≤ P(HV)26

Der Vorteil, den dieser Ansatz zu bringen scheint, liegt auf der Hand: über­ prüfbares richterliches und zuvörderst ermittlungsbeamtliches Vorgehen. Die Einführung metrischer Begriffe ermöglicht, wie früher betont, die Anwen­ dung mathematischer Apparate, die übrigens die empirische Forschung beflü­ gelt und mit fortschreitendem Tempo vorangebracht hat. Ausgerechnet darin liegt allerdings das unüberwindliche Problem. Metrische Begriffe sind – ohne ins Detail zu gehen – auf metrisierbare Strukturen angewiesen, aufgrund de­ ren man im Wesentlichen eine Funktion m(x) angibt, die auf M definierbar ist und M in die Menge R der reellen Zahlen abbildet.27 Dabei sollte man sich vor Augen führen, dass der Anwendungsbereich solcher Methoden für die Zu­ ordnung reeller Zahlen die empirische Forschung und Größen wie z. B. Ge­ wicht, Temperatur, Windgeschwindigkeit etc. ist. Der jeweilige Glaubensgrad, nämlich sämtliche Erscheinungen des Tatverdachts, gehören allerdings nicht dazu. Man sollte zwischen Ungleichsrelationen im Rahmen eines und dessel­ ben inferentiellen Kontextes (z. B. der Jura-Student X hat bessere Noten als sein Kommilitone Y) und solchen im Rahmen verschiedener Kontexte (z. B.: der Jura-Student X hat bessere Noten als der Abiturient Y) unterscheiden. 25  Kühne (1979), S.  618; Roxin / Schünemann (2009) §  112 Rn.  6; Bender / Nack / Treuer (2007), Rn. 549–550; Vgl. Hassemer (1984), S. 41. 26  „P“ steht für Wahrscheinlichkeit (probability); „AV“ steht für Anfangsver­ dacht, „DV“ für dringender Verdacht und „HV“ für hinreichender Verdacht. 27  v. Kutschera (1972), S. 26; dazu Schlapp (1989).



B. Der Ansatz Kühnes309

II. Tatverdacht und bzw. als epistemische Wahrscheinlichkeit In der Literatur besteht grundsätzlich Einigkeit darüber, dass es sich so­ wohl bei dem Tatverdacht als auch bei der richterlichen Überzeugung nach § 261 StPO, um eine Entscheidung unter Unsicherheit handelt.28 Die Tatsa­ che, dass die Kriterien für die Anwendung aleatorischer Wahrscheinlichkei­ ten und klassischer Wahrscheinlichkeitskonzepte nicht erfüllt werden, ist kein Grund, sich von dem Wahrscheinlichkeitskonzept schlechthin zu ver­ abschieden. Denn es ist unsere schwer zu leugnende Intuition, dass Über­ zeugung eine Sache des Grades ist:29 Es wäre also einleuchtend zu sagen, dass für die Begründung jeder Erscheinungsform des Verdachts eine allmäh­ lich höhere likelihood ratio (LR) (wenn wir Modelle Bayes’scher Erkennt­ nistheorie aufgreifen) oder ein höherer Glaubensgrad (bel) (wenn wir etwa das Dempster-Shafer Modell anwenden)30 erforderlich wäre. Wir können ja eine Skala aufstellen, wo für die Einleitung jeder (jeweils nächsten) Ermitt­ lungsmaßnahme eine hinreichend große LR oder bel(x) benötigen. Dies wäre allerdings ein vorschneller Schluss. Denn man stößt m. E. auf das Problem der Inkommensurabilität zwischen verschiedenen epistemischen Wahrscheinlichkeiten, die sich aus einem verschiedenen Kalkül ergeben. Da induktive (probabilistische) Schlüsse wie z. B. der Verdacht oder die Über­ zeugung im Prinzip nichts anderes sind als aufgrund von neu erlangten Informationen revidierte Intuitionen, sind sie per se nicht überprüfbar. Wir gehen zwar davon aus, dass mehrere Agenten, die das Beweismaterial rati­ onal würdigen, zu nicht weit voneinander abweichenden Ergebnissen (Wahrscheinlichkeitswerten) kommen – ein Phänomen, das man „swamping of priors“ (gemeint sind „prior probabilities“) zu nennen pflegt;31 das Ergebnis einer probabilistischen Analyse soll man allerdings in Kauf neh­ men, solange man an der Methode der Revidierung der ursprünglichen In­ tuitionen oder gar der (falls sie vorhanden sind) base rates nichts bemängeln kann. Was uns interessiert ist, dass epistemische Wahrscheinlichkeiten nur dann vergleichbar sind, wenn zwei epistemische Agenten (oder gar dersel­ be) die gleichen Variablen verwenden, nämlich wenn sie an dem gleichen Sprachspiel bzw. inferentiellen Kontext teilnehmen. Solange wir für ver­ schiedene inferentielle Kontexte ein divergierendes SED haben, sind auch die Wissensansprüche und damit die Zuschreibungen des Tatverdachts mit­ 28  Kühne (1979), S. 619; Fincke (1983), S. 927: „Der Verdachtsgrad ist von der Indizien- und damit von der Ermittlungsgrundlage zwar abhängig.“ 29  Einführend dazu Baumann (2006), S. 125. 30  Vgl. Kramosil (2001). 31  Sober (2008), S. 25: „Two agents can begin with different prior probabilities, but if they both update by using a sufficiently large data set, their posterior proba­ bilities will be very close; the difference in priors has washed out.“

310

Teil 8: Die inferentiellen Kontexte im Ermittlungsverfahren

einander nicht vergleichbar. Verdachtserscheinungen miteinander stellen alia und nicht comparativa dar.32

III. Ist der Gesetzgeber kontextualistisch gesinnt? Es liegt nun auf der Hand, dass epistemische Agenten (Staatsanwalt, Tatrichter) in mehreren Stadien des Ermittlungs- oder Hauptverfahrens mehr oder weniger Beweismittel vor sich haben und analysieren. Die Frage, die sich aufdrängt und für den Inferentiellen Kontextualismus relevant ist, lau­ tet: Haben etwa die oben angesprochenen epistemischen Agenten verschie­ denen epistemischen Pflichten nachzukommen? Anders gewendet: gibt es für jeden inferentiellen Kontext bzw. jede Phase des Strafverfahrens eine gesetzlich oder rechtsdogmatisch geregelte, mehr oder weniger umfassende Alternativenmenge (SED), die der bearbeitende Staatsanwalt oder das für die Eröffnung des Hauptverfahrens zuständige Gericht auszuschließen hat? Ich meine ja. Schauen wir uns ein paar Beispiele an: Der Staatsanwalt ist zum Einschreiten wegen einer verfolgbaren Straftat verpflichtet, wenn ein Tatverdacht vorhanden ist (§ 152 Abs. 2 StPO). Sogar ein Haftbefehl nach §§ 114 StPO, 104 Abs. 2, 3 und Art. 104 Abs. 3 GG darf angeordnet wer­ den, bevor der Verdächtige vernommen wird und die Möglichkeit hat, sich zu verteidigen, indem er Defeater (Alibis, Strafausschließungsgründe etc.) ins Spiel bringt. Darüber hinaus beschließt das Gericht nach § 203 StPO die Eröffnung des Hauptverfahrens erst dann, wenn dem Angeschuldigten die Anklageschrift mitgeteilt worden ist, damit er zu Wort kommen bzw. ent­ sprechende Beweisanträge stellen kann. Nach ständiger Rechtsprechung muss für die Eröffnung des Hauptverfahrens eine Straftat des Angeschuldig­ ten einschließlich der Rechtswidrigkeit und der Schuld (§ 20 StGB) genü­ gender Beweis vorliegen.33 U.a. sind in dieser Phase Beweisverwertungs­ verbote und Strafverfolgungshindernisse zu berücksichtigen.34 Wir kommen also zu dem Schluss, dass z. B. der das Ermittlungsverfah­ ren einleitende Staatsanwalt und das das Hauptverfahren eröffnende Gericht von Amts wegen verschiedenen epistemischen Pflichten nachkommen müs­ sen: ein für jedes Stadium des Strafverfahrens anders zu formulierendes Set of Epistemic Defeaters. Alles, was bei der Einleitung des Ermittlungsverfah­ rens außer Acht bleibt, z. B. ein Strafaufhebungsgrund, ein Strafverfolgungs­ hindernis oder gar ein Alibi, ist für die nächsten Stadien des Strafverfahrens und die inferentiellen Kontexte im Sinne dieser Arbeit zu berücksichtigen, bei Ho (2008), Kap. 4. § 203 Rn. 2. 34  Meyer-Goßner / Schmitt, § 203 Rn. 2. m. w. N. aus der Rechtsprechung. 32  Ähnlich

33  Meyer-Goßner / Schmitt,

B. Der Ansatz Kühnes311



d. h. kontextrelevant. Was sich ändert ist also nicht der Grad der Wahr­ scheinlichkeit bzw. der Grad des Glaubens (Verdachtsgrad), sondern die Menge der kontextrelevanten Zweifel, die der epistemische Agent jeweils durch seine Evidenzen auszuschließen hat oder legitimerweise ignorieren kann.

IV. Ermittlungsverfahren als Screening? Im Anschluss an die vorherigen Überlegungen ergibt sich der Schluss, dass die StPO in der Tat Tatverdacht und Tatschwere für Kriterien hält, anhand derer die Zulässigkeit strafprozessualer (Zwangs-)Maßnahmen ge­ messen und zugelassen werden, wie Kühne treffend anmerkt.35 Der Ge­ setzgeber scheint allerdings doch kontextualistisch gesinnt zu sein, weil er die Zulässigkeit verschiedener Maßnahmen von einem mal einfacheren mal anspruchsvolleren SED abhängig macht. Der Wissensanspruch, dass der Verdächtige sich schuldig gemacht hat, büßt seinen epistemischen Status samt dessen normativer Kraft ein, sobald er in den jeweils nächsten (und anspruchsvolleren) Kontext eingebettet wird. Beispielsweise verliert der aufgrund einer Strafanzeige oder eines anonymen Telefonats epistemisch berechtigte (Anfangs-)Verdacht seinen positiven Status, sobald wir ihn in den inferentiellen Kontext des ‚hinreichenden Verdachts‘ hineinstellen. Dort kommen – wie früher gezeigt – mehrere Defeater in Frage. Der Grund dafür ist die Tatsache, dass die StPO das Niveau der Überprüfung allmählich steigert, indem in jeder Phase des Verfahrens ein neues sensibles Gleichge­ wicht zwischen den zwei Koordinaten der Kriminalpolitik: Sicherheit und Freiheit (L, S) hergestellt wird. Früher (unten Teil 6) wurde gezeigt, wie der Inferentielle Kontextualist als Wissensingenieur die etwaige kriminalpolitische Entscheidung umzuset­ zen in der Lage ist. Den jeweiligen epistemischen Agenten wird ermöglicht, sich Klarheit darüber zu verschaffen, dass es Alternativen bzw. Zweifel gibt, die man in bestimmen IK legitimerweise ignorieren kann und andere, wofür man (wegen deren default-Berechtigung) keine Gründe anzugeben braucht. Entscheidend für die Festlegung der jeweiligen Rechtfertigungsstruktur ist u. a. in concreto zu präzisieren, was auf dem Spiel steht, wie gravierend die Folgen einer Fehlentscheidung wären. Erst danach lassen sich die Grenzen zwischen relevanten und irrelevanten Alternativen bzw. zwischen Zweifeln, die man legitimerweise ignorieren kann oder nicht, ziehen. Jeder Versuch, einen allumfassenden Kontext zu konzipieren, ist, wie es auf der Hand liegt, von vornherein zum Scheitern verurteilt und man sollte der Versuchung 35  Kühne

(1979), S. 617.

312

Teil 8: Die inferentiellen Kontexte im Ermittlungsverfahren

widerstehen, dieser Frage nachzugehen. Es ist aber keine gute Idee, ganz am Anfang zu kapitulieren. Man kann immerhin die Situation des Anfangs­ verdachts näher betrachten, um wichtige Erkenntnisse zu gewinnen.

C. Erster IK: Anfangsverdacht Generell wird der Verdacht als Schutzwall vor staatlichen Übergriffen bezeichnet, der „überschritten werden muss, um die (Zwangs-)Instrumente prozessualer Ermittlungen auszulösen“.36 Dieses suggestive Bild des An­ fangsverdachts als die behördliche Befugnis zum Einschreiten begrenzende firewall verleitet uns zu der Annahme, dass die StPO hohe Anforderungen an die Einleitung des Ermittlungsverfahrens stellt. Es mag zutreffen, dass der Anfangsverdacht gegen eine Person die Voraussetzung für die Inkulpation ist37 und dass dadurch die StPO dem Beschuldigten bestimmte Rech­ te (vgl. §§ 136, 136a StPO) einräumt; prozessuale Rechte, die aus der In­ kulpation erfolgen, weisen allerdings noch lange nicht auf die zu stellenden Anforderungen auf die Rechtfertigungsstandards für die Begründung des Tatverdachts. Denn diesen „Wall“ kann man jedenfalls in der Praxis relativ einfach hochklettern und überwinden, insofern die Vorschrift des § 152 Abs. 2 StPO die Staatsanwaltschaft zum Einschreiten wegen einer verfolg­ baren Straftat verpflichtet, wenn „zureichende Anhaltspunkte“ vorhanden sind. Das ist nach h. M. erst dann der Fall, wenn die o. g. Anhaltspunktes nach kriminalistischer Erfahrung möglich erscheinen lassen, dass eine ver­ folgbare Straftat begangen worden ist:38 diese Kenntnisnahme von Infor­ mationen, aus denen geschlossen werden kann, dass möglicherweise eine Straftat begangen worden ist, stellt das auslösende Moment für das Ermitt­ lungsverfahren dar.39 Zusammenfassend: §§ 152 Abs. 2, 160 Abs. 1, 163 Abs. 1 StPO verpflichten die Staatsanwaltschaft und die Polizei zur Erfor­ schung des Sachverhalts, wenn sie von dem Verdacht einer Straftat Kenntnis erlangen.

I. Informationen als Ursache und Grund des Ermittlungsverfahrens Die Tatsache, dass die oben skizzierte Informationserlangung die Ursache und damit die rechtliche Basis für das Vorgehen der Staatsanwaltschaft und 36  Kühne

(2010), Rn. 321. (2010), Rn. 347. 38  BVerfG NStZ, 1982, 430. 39  Vgl. nur Kühne (2010), Rn. 314. 37  Kühne



C. Erster IK: Anfangsverdacht313

die Einleitung des Ermittlungsverfahrens darstellt, kann nicht damit ver­ wechselt werden, dass der Grund dafür nicht die Informationserlangung (conditio sine qua non), sondern die Informationsbewertung (condicio per quam) ist.40 Damit nun die Beamten einen Anfangsverdacht entstehen las­ sen, reichen schon geringe Anhaltspunkte für Straftaten.41 Das zeigt, dass das Beweiskriterium und das SED im Sinne dieser Arbeit (ähnlich wie in der Hauptverhandlung eines liberalen Staates) zwar steil asymmetrisch sind – diesmal allerdings zuungunsten des Beschuldigten. Die StPO und vor al­ lem die Tatverdachtsdogmatik stellt hier ein sensibles Gleichgewicht, wo mehr Wert auf (die Koordinate der) Sicherheit als auf Freiheit gelegt wird. Diesen Gesichtspunkt bringt Kühne auf den Begriff: „Schon geringe An­ haltspunkte […] müssen die Polizei interessieren, weil nie ganz auszuschlie­ ßen ist, ob nicht massive Delikte entdeckt werden könnten.“42 Zwei Spiel­ arten von kontextuellen Parametern werden hier in Betracht gezogen: dia­ lektische und ökonomische Faktoren.

II. Dialektische Faktoren Von Bedeutung ist vor allem die Tatsache, dass die Mehrzahl der Ermitt­ lungsverfahren auf Veranlassung von Privatpersonen durch Strafanzeigen bzw. Strafanträge in Gang kommt. Obwohl jede eigene Beobachtung eines Verfolgungsbeamten zur Eröffnung eines Ermittlungsverfahrens verpflichtet, wird im Bereich der allgemeinen Kriminalität polizeiliches Eingreifen in circa 95 % der Fälle durch private Anzeigen angestoßen, deren „bloß passi­ ve Wahrnehmung“ ein starkes Indiz sein kann.43 Das heißt die Festlegung des inferentiellen Kontextes muss dieser Tatsache Rechnung tragen. Die schwer zu leugnende Annahme, dass der Anzeigeerstatter Rechtfertigungs-, Schuld-, Strafausschließungsgründe oder gar Alibi (die den Tatverdacht beseitigen) nicht berücksichtigt bzw. miteinbezieht oder jedenfalls aus sei­ nem Blickwinkel betrachtet, liegt auf der Hand. Kühne betrachtet dies als die typische Ausgangssituation der Ermittlungsbehörden, „welche notwendig durch ein überwiegendes Nichtwissen gekennzeichnet ist“.44 Daraus und aus der niedrigen Schwelle der ein Ermittlungsverfahren auslösenden Infor­ mationen (geringe Anhaltspunkte) ergibt sich, dass die einen Anfangsver­ weist explizit Kühne (2010) Rn. 314 f., 316 f., hin. (2010), Rn. 316. 42  Kühne (2010), Rn. 314. 43  Hierzu siehe Koch (2005), S. 943; Fincke (1984), S. 927; vgl. Kühne (2010), Rn. 314 m. w. N.: „Nach übereinstimmenden Bekundungen von Polizeipraktikern wie einzelnen empirischen Studien machen private Anzeigen regelmäßig mehr als 90 % aus.“ 44  Kühne (2010), Rn. 317. 40  Darauf 41  Kühne

314

Teil 8: Die inferentiellen Kontexte im Ermittlungsverfahren

dacht hervorrufende Anzeige freilich nicht widersprüchliche, ziemlich un­ wahrscheinliche, außerhalb der „Realität“ stehende Sachverhaltsschilderun­ gen enthalten soll. Darüber hinaus können m. E. Strafanzeigen eines (den Ermittlungsbehörden schon bekannten) Querulanten keinen Verdacht aus­ lösen, weil es an der Glaubwürdigkeit des Anzeigeerstatters fehlt.45 Was bedeutet allerdings diese Vorgehensweise für die epistemische Bewertung des Hauptmittels für das Entstehen eines Anfangsverdachts?

III. Nochmals über Default Rules Die gerichtliche Praxis, der zufolge eine bloße Strafanzeige das straf­ rechtliche Vorgehen auslösen kann, bedeutet ins Erkenntnisstheoretische übersetzt, dass wir die Strafanzeige mit einer Default-Berechtigung verse­ hen, sodass der epistemische Agent in diesem Stadium der Untersuchung nicht Gründe anzuführen braucht, die für den propositionalen Gehalt des geschilderten Sachverhalts sprechen. Wie Williams betont: „Given a certain direction of inquiry, various possible defeaters may or may not be in play. Sometimes, claims may face standing objections, in which case they will not enjoy default status. But default status can be lost as new problems arise.“46 Gemäß dieser Default-Berechtigung ist der sachbearbeitende Staatsanwalt S unter normalen Umständen epistemisch gerechtfertigt, den propositionalen Gehalt (p) der Strafanzeige von B anzunehmen – und zwar ohne nach Gründen, die für p sprechen, zu suchen.47 Die oben beschriebe­ ne Default-Berechtigung ist eine „Verzugs-Regel“, da sie uns dazu veran­ lasst, eine Aussage für wahr zu halten, wenn es keinen besonderen Grund (Widerlegungsgrund) gibt, sie zu bezweifeln, anstatt einen „Rechtfertiger“ zu brauchen. Der bearbeitende Staatsanwalt soll m. E. auch aus normativen Gründen (Art. 1 Abs. 1 GG) davon ausgehen, dass dem Anzeigeerstatter Glaubwürdigkeit zu schenken ist, wenn man dafür keine offensichtlichen Gegenindizien sieht. Die Glaubwürdigkeit des Bürgers bzw. Anzeigeerstat­ ters kann hier als besonderer Aspekt der Menschenwürde angesehen werden, die sich immerhin durch normative Offenheit auszeichnet und konkretisie­ rungsbedürftig ist.48 45  Ähnlich bei LR26-Beulke, § 152 Rn. 24: „Keine zureichenden Anhaltspunkte liegen allerdings dann vor, wenn die verdachtsbegründenden Umstände offensicht­ lich haltlos oder unrichtig sind, was beispielsweise bei Mitteilungen von bekannten Querulanten der Fall sein kann.“ 46  Williams, Problems, S. 161. 47  Siehe auch: Stanford Encyclopedia of Philosophy, Epistemological Problems of Testimony. Im internet unter: http: /  / plato.stanford.edu / entries / testimony-epis­ prob / ; zuletzt abgerufen am 09.09.2014; siehe auch Bach (1984), S. 37–58. 48  Vgl. Höfling, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 5. Aufl., Art. 1. Abs. 1, Rn. 8 ff.



C. Erster IK: Anfangsverdacht315

Die oben angesprochene Problematik vermag m. E. folgendes Beispiel zu verdeutlichen: Die Strafanzeige, bei der etwa der Anzeigeerstatter schildert, dass X ihn beschimpft hat, bietet unter nornalen Umständen zureichende Anhaltspunkte für die Einleitung des Ermittlungsverfahrens. Die Alternative etwa, dass die Person, die den Anzeigeerstatter beschimpft hat, unter Tou­ rette-Syndrom leidet, wird in diesem inferentiellen Kontext des Anfangsver­ dachts (mit einer sehr beschränkten SED) als kontextirrelevant betrachtet.

IV. Keine Defeater in SEDAV? Der privilegierte epistemische Status einer Strafanzeige kann allerdings nicht in Blindheit verfallen, wo jede Strafanzeige entgegenzunehmen ist. Pragmatische Einschränkungen und im Sinne dieser Arbeit Intelligibilitätsbe­ dingungen werden hier in Betracht gezogen. Denn die Ermittlungsbehörden haben auch dem Grundsatz der Ermittlungsökonomie (als pragmatischer Be­ dingung einer betriebsfähigen Strafrechtspflege) gerecht zu werden und ihre Kräfte (und Arbeitsstunden) nicht in „unbedeutenden und letztlich vorausseh­ bar erfolglosen Aktionen“ zu vergeuden.49 Welche Defeater kommen also in Betracht? Welche Alternativen führen dazu, dass die epistemisch privilegierte Strafanzeige ihre rechtfertigende Kraft verliert? Ohne Anspruch auf Vollstän­ digkeit scheint es mir plausibel, dem Set of Epistemic Defeaters zweierlei Widerlegungsgründe hinzuzufügen: a) der Anzeigeerstatter ist ein der Staats­ anwaltschaft und den Ermittlungsbehörden bekannter Querulant und b) der geschilderte Sachverhalt ist äußerst unglaubwürdig bzw. unwahrscheinlich oder offenkundig unzutreffend. Diese zwei Defeater schließen nicht das Ein­ leiten eines Ermittlungsverfahrens aus, sondern nur das Versehen einer Straf­ anzeige mit einer Default-Berechtigung aus. In diesem Fall muss der Anzei­ geerstatter selbst weitere Gründe (Evidenzen) anführen, die den propositiona­ len Gehalt einer verfolgbaren Straftat wahrscheinlicher werden lassen. Falls er das nicht tut, dann ist der Antrag gem. § 174 StPO zu verwerfen. Das Ermittlungsverfahren gegen den Verdächtigen ist somit gem. § 152 Abs. 2 StPO immer einzuleiten, wenn der Staatsanwalt keinen Defeater darin sieht, z. B. dass der Anzeigeerstatter Querulant oder der geschilderte Sachverhalt äußerst unglaubhaft ist. Der Staatsanwalt braucht keine weitere Alternativen auszuschließen, außer derjenigen des SEDAV. Mit der „passi­ ven“ Kenntnisnahme der Strafanzeige bzw. des Strafantrags gewinnt er die für die hier bestehenden praktischen Zwecke (die Einleitung des Ermitt­ lungsverfahrens) erforderliche Gewissheit. All die anderen Zweifel, die ihm in den Sinn kommen oder nicht, darf er zulässigerweise ignorieren. 49  Kühne

(2010), Rn. 317.

316

Teil 8: Die inferentiellen Kontexte im Ermittlungsverfahren

Der epistemische Vorgang des Agenten hat folgende Form (für P: Straf­ anzeige, D: Defeater, C: Begründung des Anfangsverdachts: P:D C

(6)

(Diese Formel soll man folgendermaßen lesen: Wenn P mit einer DefaultBerechtigung versehen worden ist und wir keine Gründe für D angeben können, dann sind wir berechtigt, von C auszugehen.) Zusammenfassend: Da ich im IKAV generell nur zwei Defeater (D1→ Querulant, D2 → äußerst unplausibler Sachverhalt) als kontextrelevant anse­ he, wird (6) so umformuliert: Für SEDAV → ( D1 ˅ D2)  



P : D1 Ú D2 C

V. Ökonomischer Parameter Für den IK des Anfangsverdachts scheint mir der vierte kontextuelle Parameter (ökonomische Faktoren) auch eine Rolle zu spielen. Es sei noch­ mals darauf hingewiesen, dass der ökonomische Parameter nicht mit Ver­ fahrenskosten zu tun hat, sondern mit disutilities, nämlich mit der Beant­ wortung der Frage, wie gravierend die Folgen einer (aus der Perspektive des Wissenden) Fehlentscheidung wären: „If we gain a lot by being right and lose little by being wrong, it is reasonable to take a relaxed attitude to justificational standards.“50 Was gewinnen wir also durch die Bejahung des Tatverdachts und der Inkulpation? Die Antwort lautet: Die Möglichkeit, gegen den nunmehr mit den in der StPO vorgeschriebenen Rechten bewaff­ neten Verdächtigten vorzugehen und Beweismittel zu sammeln und zu si­ chern, die außerdem die Hauptverhandlung in nicht korrigierbarer Weise prägen.51 Damit wird der erste Schritt getan, um die Befriedungsfunktion des Strafrechts zu erfüllen. Die laxen Standards am Anfang des Verfahrens haben, wie schon angedeutet, mit dem sicherheitsorientierten Gleichgewicht zwischen den zwei Koordinaten der deutschen Kriminalpolitik zu tun.

VI. Die Stigmatisierung des Verdächtigten als disutility Zweifel sind in der Literatur über die Folgen der Einleitung eines Ermitt­ lungsverfahrens laut geworden. Harmlose Ermittlungsmaßnahmen, so das 50  Williams, 51  So

Problems, S. 161. Kühne (2010), Rn. 31.



D. Zweiter Kontext: Untersuchungshaft – (nur) ein IK? 317

Argument, können für den betroffenen Bürger gravierende Folgen haben.52 Der Verdächtige werde – vor allem in kleinen Gegenden, wo „jeder jeden kennt“ – unwiederbringlich stigmatisiert. Denn Vorurteile sind, anders als der Verdacht, nicht eine Sache des Grades. Das trifft durchaus zu. Der bearbei­ tende Staatsanwalt kann ja all dies mithilfe kontextueller Parameter ausarbei­ ten, um epistemisch zu operieren und eine Entscheidung zu treffen, ob z. B. eine nackte Strafanzeige mit einer Default-Berechtigung zu versehen oder ob etwa höhere Anforderungen an den Beweis „zureichender Anhaltspunkte“ nach § 152 II StPO zu stellen sind. Der ggf. kritischen Gesundheitslage der in einer Strafanzeige erwähnten Person, wo im Fall einer Ermittlungsmaß­ nahme mit einer Gesundheitsgefährdung zu rechnen ist, soll Rechnung getra­ gen werden. Das heißt allerdings nicht, dass der Staatsanwalt oder die Er­ mittlungsbeamten von dem Legalitätsprinzip absehen dürfen, nur weil die Leute in der Nachbarschaft sich nicht vergegenwärtigen können, dass die Anforderungen für einen Anfangsverdacht und die daraus resultierenden Er­ mittlungsmaßnahmen relativ bzw. sehr niedrig sind. All diejenigen, die glau­ ben, dass andere Menschen ‚Dreck am Stecken‘ haben, nur weil letztere un­ ter Verdacht stehen (oder genauer: weil sie sich vielleicht über Beweisanaly­ se wenig Gedanken gemacht haben) ähneln den Menschen, die sich jedes Mal aufregen und bei ihrem Hausmeister beschweren, wenn versehentlich der Feueralarm ausgelöst wird. Diese Menschen vermögen sich nicht Klar­ heit über den Beweismechanismus zu verschaffen, dass nämlich die Mini­ mierung des einen Fehlurteilsrisikos, welches für sie selbst am gravierends­ ten ist (unentdecktes Feuer), die Maximierung des jeweils anderen mit sich bringt. Indem wir die „false negatives“ (Feuer, kein Alarm) minimieren, ma­ ximieren wir im gleichen Atemzug die „false positives“ (kein Feuer, Alarm). Strukturell ähnlich funktioniert es auch bei einem gerichtlichen Verfahren mit einem steil asymmetrischen Beweiskriterium. Und mit automatisch aus­ gelösten Feueralarmen müssen wir weiterleben, solange wir mehr Wert auf das Menschenleben als auf die ggf. entgangenen Arbeitsstunden und die Pro­ duktivität legen, ähnlich, wie wir bloß aus einem Ermittlungsverfahren den Dreck-am-Stecken-Schluss nicht ziehen dürfen.

D. Zweiter Kontext: Untersuchungshaft – (nur) ein IK? Das zweite Stadium des Strafverfahrens, mit dem ich mich auseinander­ setzen und dessen kontextuellen Parameter ausarbeiten möchte, ist dasjenige der Untersuchungshaft. Generell steht das Rechtsinstitut der Untersuchungs­ 52  Eingehend

dazu Kühne (2010), Rn. 317.

318

Teil 8: Die inferentiellen Kontexte im Ermittlungsverfahren

haft im Spannungsfeld zwischen den legitimen und unabweisbaren staat­ lichen Bedürfnissen einer wirksamen Strafverfolgung und dem durch Art. 2 Abs. 2 Sätze 2, 3 und 104 GG gewährleisteten Freiheitsrecht der Person.53 In dieser Phase des Ermittlungsverfahrens, d. h. besonders früh, prallen die zwei Koordinaten einer Kriminalpolitik auf eine prägnante Weise aufeinan­ der: einerseits der Freiheitsanspruch des betroffenen Bürgers, der bis zu einer rechtskräftigen Verurteilung als unschuldig anzusehen ist und andererseits das Erfordernis einer effektiven Strafrechtspflege. Neben den Vorschriften der §§ 81 Abs. 2, 132 Abs. 1, 138a Abs. 1 StPO, die den dringenden Verdacht voraussetzen, sind die materiellen Vorausset­ zungen der Untersuchungshaft gemäß §§ 112 Abs. 1, 112a, 113, 127 Abs. 2 StPO: (a) der dringende Tatverdacht und (b) das Vorliegen eines Haftgrun­ des. Darüber hinaus muss der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gewahrt sein. Die Verhältnismäßigkeit ist jedoch nicht direkt als Haftvoraussetzung gestal­ tet, da die Einhaltung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit keine posi­ tive Voraussetzung beinhaltet. Vielmehr wird die Unverhältnismäßigkeit zum Ausschlussgrund gemacht.54 Dem Ermittler bzw. Staatsanwalt steht ein weiter Beurteilungsspielraum zu und der Erlass eines Haftbefehls kann somit nur negativ an seiner Unverhältnismäßigkeit gemessen werden. Es ist also das Missverhältnis, das festzustellen sei, um die Ablehnung der Anord­ nung einer U-Haft zu rechtfertigen. Über die Gewichtigkeit dieser Garantie hinaus hat die gesetzliche Erwähnung des Gebots der Verhältnismäßigkeit nur deklaratorische Bedeutung, da dieser Grundsatz kraft Verfassung sowie­ so gilt.55 Die Verhaftung als die intensivste Form der Freiheitsbeschränkung stellt einen schwerwiegenden Eingriff in das Grundrecht der persönlichen Freiheit dar und dies meistens zu einem Zeitpunkt, da der Beschuldigte noch nicht die Möglichkeit hat, sich zu der Beschuldigung zu äußern. Nach h. M. wird ein stärkerer Verdachtsgrad vorausgesetzt als er für die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens erforderlich ist.56 Bekanntlich verfolgen die mit Grundrechtsbeeinträchtigungen verbundenen Ermittlungsmaßnahmen unter­ schiedliche Ziele a) Sicherung des Erkenntnisverfahrens, b) Sicherung des Vollstreckungsverfahrens und c) vorläufige Maßregelverhängung zur Siche­ rung der Allgemeinheit.57 Hier wird davon ausgegangen, dass der primäre 53  Vgl.

dazu BVerfG, 2 BvR 671 / 08 vom 30.8.2008. Kleinknecht (1965), S. 114; Meyer-Goßner / Schmitt, § 112, Rn. 8 m. w. N.; KK7–Graf, § 112, Rn. 44 § 112; Sachs, in: Sachs (Hrsg.) Grundgesetz, 5. Aufl. 2009, Art. 20, Rn. 154. 55  Kühne (2010), Rn. 416. 56  Meyer-Goßner / Schmitt, § 112, Rn. 6. 57  Vgl. Hellmann (2006), S. 72; vgl. Kühne (2010), Rn. 415. 54  So



D. Zweiter Kontext: Untersuchungshaft – (nur) ein IK? 319

Zweck der U-Haft die Verfahrenssicherung ist:58 Sie soll die Durchführung eines geordneten Strafverfahrens dadurch gewährleisten, dass der Beschul­ digte gehindert wird, sich dem Verfahren oder der möglicherweise sich anschließenden Vollstreckung zu entziehen oder Beweisquellen zu manipu­ lieren.59 Gleichwohl besteht Einigkeit darüber, dass die U-Haft zur Siche­ rung einer effektiven Strafrechtspflege zulässig ist, denn die EMRK selbst sieht in Art. 5 Abs. 1 S. 2 Untersuchungshaft wegen Fluchtgefahr vor. Auf das Thema des erforderlichen Grads des Tatverdachts möchte ich hier nicht noch einmal eingehen. Erwähnenswert ist, dass eine solche Un­ gleichung an der Inkommensurabilität zwischen den verschiedenen Erschei­ nungen des Verdachts scheitert. Vergleichbar sind nur die verschiedenen IK und nicht die erforderlichen Glaubensgrade bei jedem einzelnen Kontext. Die Tatsache auf der anderen Seite, dass der Gesetzgeber den Begriff „drin­ gend“ verwendet, scheint dieser (in dieser Phase des Strafverfahrens) Prio­ rität der Verfahrenssicherung Rechnung zu tragen. Diese Auffassung beruht sogar auf der Bedeutung des Begriffs: Bei dem Stichwort „dringend“ findet sich die Erläuterung: eilig, drängend, keinen Aufschub duldend.60 Die Dringlichkeit des Verdachts bezieht sich auf den Zeitpunkt der Zuschreibung und hat somit nichts mit der Intensität des Verdachts, sondern vielmehr mit seinem eiligen Charakter zum Zweck der Verfahrenssicherung zu tun.

I. Der IK für den Erlass und der IK für die weitere Überprüfung der U-Haft Hierbei sollte man zwischen dem Erlass eines Haftbefehls vor und nach der Vernehmung des Beschuldigten unterscheiden, was m. E. der entschei­ dende Punkt ist. Nach §§ 114 StPO, 104 Abs. 2 S. 2, 3 und Art. 104 Abs. 3 GG darf der Haftbefehl selbst dann angeordnet werden, wenn der Verdäch­ tigte nicht bereits vernommen worden ist und die Möglichkeit hat, sich zu verteidigen. Ein möglicher Verstoß gegen das Prinzip des rechtlichen Gehörs springt hierbei ins Auge. Dem Beschuldigten wird nachträglich rechtliches Gehör gewährt, obwohl das Grundrecht auf Gehör verlangt, dass der Haft­ befehl nur auf solche Tatsachen und Beweismittel gestützt werden darf, die dem Beschuldigten vorher bekannt waren und zu denen er zu Wort kommen konnte.61 Nach der Rechtsprechung darf ausnahmsweise nur davon abge­ 58  Kindhäuser

(2010), § 9, Rn. 1; Roxin / Schünemann (2012), S. 218. 19, 342. 60  Pars pro toto: Duden Deutsches Universal-Wörterbuch, Dudenverlag Mann­ heim / Zürich, 7. Aufl. 2011; Wahrig, Wörterbuch der deutschen Sprache, 2007, S. 254. 61  Vgl. BVerfG, NStZ 94, S. 552. 59  BVerfGE

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Teil 8: Die inferentiellen Kontexte im Ermittlungsverfahren

gangen werden, wo die Sicherheit gefährdeter Interessen eine vorherige Anhörung verbietet, um z. B. den Beschuldigten nicht vor einer bevorste­ henden Ermittlungsmaßnahme zu warnen.62 Der Vorwurf, dass der Mensch bis zum Zeitpunkt der Vernehmung zum bloßen Objekt eines Verfahrens gemacht wird, ist mindestens nicht völlig unbegründet.63 Der Gesetzgeber hat indes der oben skizzierten Asymmetrie Rechnung ge­ tragen. Gerade deshalb soll der zuständige Richter gemäß § 115 StPO den Vorgeführten unverzüglich, d. h. ohne jede nach Lage des Falles vermeidbare Verzögerung, vernehmen und schließlich entscheiden, ob der Haftbefehl auf­ rechtzuerhalten ist oder ob er nach § 120 StPO aufgehoben oder sein Vollzug nach § 116 ausgesetzt werden muss.64 Eine unverzügliche Vernehmung nach der Ergreifung, womit nach BVerfG ein sachgemäßer Ausgleich zwischen den Interessen des Beschuldigten und den Bedürfnissen der Strafrechtspflege hergestellt ist, vermag diesen Eingriff in das Grundrecht der persönlichen Freiheit rückwirkend auszugleichen bzw. zu rechtfertigen.65 Des Weiteren ist die Entscheidung des Richters grundsätzlich unverzüglich nach mündlicher Anhörung herbeizuführen, da der Richter sich einen persönlichen Eindruck verschaffen muss.66 Die Annahme, dass nach der Vernehmung des Beschuldigten sowohl normativ als auch faktisch mehrere (kontextrelevante) Alternativen auszu­ schließen sind, liegt auf der Hand. Der Beschuldigte kann während seiner Vernehmung die Tatsachen, die zu seinen Gunsten sprechen, geltend machen und ggf. auf etwaige Rechtfertigungs-, Schuld- oder Strafausschließungs­ gründe hinweisen, die den dringenden Tatverdacht beseitigen. Die Alternative etwa, dass der der Beschimpfung verdächtige Untersu­ chungshäftling an Tourette-Syndrom (TS) leidet, ist nunmehr kontextrele­ vant. Der gemäß § 115 StPO zuständige Richter ist epistemisch verpflichtet, diesen Defeater auszuräumen:

Für SEDDV → ( D1 ˅ D2 ˅ DTS)  

62  BVerfGE

P : D1 Ú D2 Ú DTS C

9, 89 (S. 98); Vgl. BVerfGE 7, 95 (S. 99). 7, 53 (S. 57); 9, 89 (S. 95). 64  Dazu Roxin / Schünemann (2009), § 30 Rn. 24–29. 65  Hierzu siehe BVerfGE 9, 89 (97); vgl. etwa BVerfGE 58, 208 (222). 66  BVerfGE 22, 317. 63  BVerfGE



D. Zweiter Kontext: Untersuchungshaft – (nur) ein IK? 321

1. Zur Präzisierung des zweiten inferentiellen Kontextes: IK1 der U-Haft Fassen wir jetzt die bisherigen Ergebnisse zusammen: Erfolgt die Frei­ heitsentziehung durch die Exekutive gem. § 127 Abs. 2 StPO oder wird der Beschuldigte zum Zweck des Vollzugs eines vom zuständigen Richter an­ geordneten Haftbefehls ergriffen gem. § 114 StPO, nämlich ohne vorherige richterliche Anordnung, dann ist der inferentielle Kontext bis zum Zeitpunkt der Vernehmung derselbe wie bei dem Anfangsverdacht. Das SED ist nach wie vor sehr eingeschränkt. Der epistemische Agent (der zur Festnahme berechtigte Polizeibeamte oder der die U-Haft anordnende Richter) ist noch nicht in der Lage, mehrere Alternativen auszuschließen, gerade weil norma­ lerweise solche Alternativen sich noch nicht ergeben haben können und weil ein umfassendes SED den Zweck der Verfahrenssicherung gefährden würde, dem die U-Haft dient. Angenommen, dass der Anfangsverdacht die für die Einleitung des Ermittlungsverfahrens erforderliche Gewissheit ist, genügt er auch für die vorläufige Freiheitsentziehung durch die Exekutive oder die Anordnung der U-Haft durch schriftlichen Haftbefehl. Der Anfangsverdacht büßt im IK der U-Haft seinen privilegierten epistemischen Status zum Zeit­ punkt der Vernehmung ein, die ohne jede nach Lage des Falles vermeidba­ re Verzögerung erfolgen soll. Der höhere Begründungsbedarf wegen der Entziehung der Freiheit des Beschuldigten wird durch den gebotenen unver­ züglichen Charakter der Vernehmung durch den Richter kompensiert. Für SEDDV = AV → (D1 ˅ D2)  



P : D1 Ú D2 C

2. IK2 der U-Haft Der inferentielle Kontext ändert sich (und das SED erweitert sich) erst nach der Vernehmung. Der vierte kontextuelle (ökonomische) Parameter wird hier in Betracht gezogen. Denn hier steht nicht nur der soziale Status des Verdächtigen auf dem Spiel (wegen der Stigmatisierungswirkung der Ermittlungsmaßnahmen), sondern seine verfassungsrechtlich geschützte Handlungs- und Bewegungsfreiheit. Wie Williams anmerkt, „if the costs of error are high, more demanding standards may be in order“.67 Von dieser verfassungsrechtlich sehr problematischen Zeitspanne (von der Festnahme bis zur Vernehmung) abgesehen, wo der U-Häftlinge nicht sein Grundrecht auf Gehör wahrnehmen kann, kennzeichnet sich der 2. IK im Strafverfahren durch ein vergleichsweise umfassenderes SED. Der Richter soll nach der 67  Williams,

Problems, S. 161.

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Teil 8: Die inferentiellen Kontexte im Ermittlungsverfahren

Vernehmung die Argumente des Beschuldigten, sogar dessen Schweigen in seine Beweiswürdigung mit einbeziehen, dieses Mal aber, um einen mit Gründen versehenen Haftbefehl zu erlassen bzw. aufrechtzuerhalten oder die Freilassung des vorläufig festgenommenen nach §§ 127 Abs. 1, 2 StPO anzuordnen bzw. den Haftbefehl nach § 120 Abs. 1 StPO aufzuheben, falls (nunmehr kontextrelevante) Rechtfertigungs-, Schuld- oder Strafausschlie­ ßungsgründe vorliegen oder die Voraussetzungen des § 112 Abs. 1 S. 1 StPO nicht erfüllt sind. Erst zu diesem Zeitpunkt erhöht sich normativ (und nicht nur epistemisch) der Begründungsbedarf für die Anordnung der U-Haft. Mehrere Alternativen sind aufgrund der Vernehmung auszuschließen und weniger Zweifel dürfen legitimerweise ignoriert werden.

Für SEDDV → (D1 ˅ D2 ˅ … D˅)  

P : D1 Ú D2 Ú  Ú DÚ C

II. Zwischenfazit Die U-Haft, die außerdem nicht selten eine apokryphe Vor-Strafe darstellt,68 bleibt immer noch der einschneidendste Eingriff in die persön­ liche Freiheit. Sie kann zu Haftschäden führen, hat regelmäßig entsoziali­ sierende Wirkungen und stört überdies das kriminalpolitische Programm der Begrenzung kurzfristigen Freiheitsentzugs.69 Darüber hinaus sind zum ei­ nen junge Menschen in der U-Haft dem überaus schädlichen Kontakt mit älteren Gefangenen ausgesetzt, zum anderen droht erwachsenen Untersu­ chungshäftlingen die sog. kriminelle Ansteckung.70 Das heißt aber nicht, dass der IK des ‚dringenden Verdachts‘ aus den o. g. Gründen mit dem Kontext der Hauptverhandlung gleichzusetzen ist.71 Der ‚dringende Ver­ dacht‘ ist ohnehin nicht die einzige Voraussetzung für die U-Haft; über­ spannte Anforderungen haben ferner in Bezug auf die zu diesem Zeitpunkt noch nicht abgeschlossenen Ermittlungen das Potenzial, den Anwendungs­ raum dieser Vorschrift auf null zu reduzieren.

68  Kühne (2010), Rn. 427; über den vor-punitiven Charakter der U-Haft siehe Androulakis (1996), S. 310 f. 69  Hassemer (1984), S. 41; BVerfG NStZ 1994, S. 604. 70  Ebert (1994), S. 142. 71  Darauf weist Hassemer (1984), S. 41 hin.



E. Dritter inferentieller Kontext – Der „hinreichende Verdacht“323

E. Dritter inferentieller Kontext – Der „hinreichende Verdacht“ Der ‚hinreichende Verdacht‘ leitet das Ermittlungsverfahren zunächst in das Zwischenverfahren über, in dem über die Eröffnung des Hauptverfah­ rens gegen den nunmehr Angeschuldigten entschieden wird (§ 157 StPO). Nach h. M. besteht ein hinreichender Verdacht bei vorläufiger Tatbewer­ tung in der Wahrscheinlichkeit der späteren Verurteilung;72 die gleich hohe Wahrscheinlichkeit wie beim dringenden Tatverdacht werde dabei nicht vorausgesetzt.73 Diese Auffassung hält in vielerlei Hinsicht der Kritik nicht stand. Wie bereits herausgearbeitet, stellt die epistemische Wahr­ scheinlichkeit den Grad des Glaubens an den Eintritt eines Ereignisses dar. Worin der Fehler der h. M. besteht, vermag uns erst der Gedanke zu verdeutlichen, dass das Konzept der epistemischen Wahrscheinlichkeiten nicht als subjektive Entsprechung einer objektiven Größe begriffen werden kann, sondern als gedankliches Konzept verstanden werden muss.74 Epis­ temische Wahrscheinlichkeiten dienen uns insofern dazu, als sie uns er­ möglichen, mithilfe mächtiger mathematischer Apparate unsere Intuitionen zu revidieren ohne vorhersehbare Fehler zu begenen. Arithmetische Ge­ nauigkeit bei den Ergebnissen (likelihood ratios) ist weder realistisch noch erforderlich. Die Aufgabe eines epistemischen Agenten ist nicht, einen Wahrscheinlichkeitswert zu ermitteln, sondern mithilfe eines Wahrschein­ lichkeitskalküls bzw. probabilistischer Netzwerke eine Entscheidung zu treffen. Davon ausgehend können wir besser verstehen, dass es wenig Sinn ergibt, den Wahrscheinlichkeitswert eines anderen Wahrscheinlich­ keitswertes zu ermitteln. Eine solche Metawahrscheinlichkeit, wie sie oben beschrieben wurde, scheint somit äußerst fraglich zu sein. Zustimmend dazu äußert sich aus anderem Anlass Arthur Kaufmann.75 Letzterer hat an dieser Begriffsbe­ ­ stimmung, in Bezug auf die Problematik der Gefährdungsdelikte und die Wahrscheinlichkeit einer Gefahr (d. h. die Wahrscheinlichkeit einer [aleatori­ schen] Wahrscheinlichkeit) bemängelt, dass in ihr ein logischer Fehler ver­ borgen ist: „Da schon der Gefahrbegriff das Moment der Wahrscheinlichkeit immanent enthalte, ergäbe die Wahrscheinlichkeit der Wahrscheinlichkeit 72  BVerfG NJW 2002, 2859 (2860); BGH St 29, 224 (229); vgl. LR26–Stuckenberg, § 203 Rn. 9, Fn. 26. 73  Meyer-Goßner / Schmitt, § 203, Rn. 2; vgl. Ebert (1994), S. 162; vgl. auch BGHSt 23, 304; BGH NJW 1970, 1543. 74  So ausdrücklich Lucy (2006), S. 5; vgl. Nell (1983), S. 35. 75  Kaufmann (1963), 425  ff.; einen Überblick über die Problematik bietet Zieschang (1998), S. 68 ff.

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Teil 8: Die inferentiellen Kontexte im Ermittlungsverfahren

keinen Sinn.“76 Angenommen, dass eine Verurteilung u. a. eine hinreichend hohe epistemische Wahrscheinlichkeit voraussetzt, ist die Argumentation Kaufmanns auf unsere Problematik zugeschnitten. Auch die Wahrscheinlich­ keit einer Verurteilung ergibt als Begriff keinen Sinn.77 Zutreffend führt Ebert aus, dass die formelle Beweisbarkeit des Beweismaterials von der Individua­ lität der Personen, die zur Beweiswürdigung berufen sind, abhängt, also von den Tatrichtern der Hauptverhandlung. Anders ausgedrückt: Ihre Beweiswür­ digung und die induktiven Schlüsse, die sie ziehen werden, lassen sich aus entscheidungstheoretischer Sicht prinzipiell nicht vorhersagen und daher ist der Verfahrensausgang nicht voraussehbar.78 Maßgebender Zeitpunkt ist folglich die Gegenwart und nicht der Mo­ ment, wenn die Tatrichter das Strafurteil fällen werden, da eine solche Be­ urteilung nicht nachvollziehbar ist. Wie ist also der dritte Inferentielle Kontext festzulegen? Welche kontextuellen Parameter sind besonders her­ vorzuheben? Eine mögliche Lösung könnte folgende sein: der sachbearbei­ tende Staatsanwalt oder das Gericht, dessen Beschluss die Hauptverhandlung eröffnet, würden hic et nunc den Angeschuldigten auch verurteilen (§ 261 StPO). In diesem Fall taucht ein neues Problem auf. Wenn man den IK so festlegt, dann operiert man automatisch im Rahmen des vierten IK, nämlich desjenigen der Hauptverhandlung mit einem entsprechend höheren Begrün­ dungsbedarf: ein umfassenderes SED. Der Ausweg aus dieser Inkohärenz, der sich uns anbietet, ist m. E. zweierlei: Entweder muss man eine Lücke in seiner Argumentation einräumen oder einen Ansatz aufgreifen, der gute Argumente auf seiner Seite zu haben scheint, nämlich die Folgen der Hauptverhandlung mit der Strafe gleichzusetzen.79

I. Strafprozess als Bestrafung? Die Argumente, die dafür sprechen, sind plausibel. Die Eröffnung des Hauptverfahrens an sich bewirkt zwar unter rechtlichen Gesichtspunkten keine Freiheitsbeeinträchtigung. Gravierend können allerdings die tatsäch­ lichen Folgen sein. Erstens die dem Angeklagten unbequeme Situation, seine persönlichen Verhältnisse offenbaren zu müssen (§ 241 Abs. 2 StPO) und zweitens die Tatsache, dass die dem Angeklagten vorgeworfene Tat Zieschang (1998), S. 44. BVerfG NJW 03, 2444. 78  Ebert (1994), S. 102. Siehe auch Frede (1970). Dieser theoretische Ansatz ist nicht ohne praktisches Interesse. Der Rechtsanwalt, der mit guten Gründen von ei­ nem Freispruch spricht, haftet nicht gegenüber seinem Mandanten, falls er verurteilt wird. 79  Feeley (1979); Androulakis (1996), S. 300 ff. 76  Siehe 77  Siehe



E. Dritter inferentieller Kontext – Der „hinreichende Verdacht“325

coram publico verlesen wird.80 Darüber hinaus wirkt, so Androulakis, die stigmatisierende Wirkung der Strafe in gewissem Sinn auch zurück und verleiht dem gesamten Strafverfahren eine eigene Prägung und Farbe.81 Die Hauptverhandlung weist in der Tat viele Erscheinungsmerkmale der Strafe auf. Diese auf den ersten Blick einleuchtende These hat Feeley, insbeson­ dere in Bezug auf die Gerichte unterer Instanz, systematisch ausgearbeitet.82 Diese Schlussfolgerung wäre m. E. vorschnell. Denn eine solche Auffas­ sung verzichtet auf einen allgemeinen Anwendungsanspruch, da sie über ihren begrenzten Anwendungsraum hinaus den Hauptmerkmalen, durch welche sich die Hauptverhandlung kennzeichnet, nicht Rechnung zu tragen scheint. Hauptsächlich geht es dabei um die Prozessmaximen, wie z. B. die Mündlichkeit und Unmittelbarkeit des Erkenntnisverfahrens, der Grundsatz der Öffentlichkeit oder sogar das Recht des Angeklagten auf das letzte Wort (§ 258 StPO) etc. Nicht zuletzt käme eine solche Auffassung an den pragmatics der Hauptverhandlung nicht vorbei: nämlich an dem, was ein direk­ ter Kontakt der Tatrichter mit dem Angeklagten und dem mutmaßlichen Opfer ausmacht: Mimik, Gestik, Prosodie sowie der holistische Charakter der Kommunikation: das „szenische Verstehen“,83 das man zwar möglichst analytisch auf ein rationales Gleis lenken, aber nicht leugnen kann. Daher schließe ich mich der Auffassung Kühnes an, dem zufolge der hinreichende Verdacht, sich vom dringenden Tatverdacht (gemeint wird: der IK2) nur durch seine Position am Ende des Ermittlungsverfahrens unter­ scheidet und deshalb nur dann bejaht werden dürfe, wenn alle zur Aufklä­ rung erforderlichen Ermittlungen angestellt worden seien.84

II. Über Gewissheit und Wissen Wie könnte also die Lösung dieses Problems aussehen? Wenn der Akteur sich aufgrund des bisherigen Ermittlungsergebnisses im Rahmen des dritten inferentiellen Kontextes die Gewissheit verschafft, dass der Beschuldigte sich schuldig gemacht hat, darf er ihn etwa der wohl stigmatisierenden Hauptverhandlung aussetzen, damit dort über den Angeklagten aufs Neue verhandelt werden kann? Ich meine, ja. Denn die Begründung des hinrei­ chenden Verdachts hat einen provisorischen Charakter und büßt ihren epis­ Ebert (1994), S. 102 ff. (1996), S. 310. 82  Feeley (1979), S. 199–201. Der Autor weist besonders darauf hin, dass die Angeklagten mehr Interesse an einem möglichst kurzen Prozess als an der Vermei­ dung des Stigmas hatten, das ihnen die Strafe zufügt. 83  Siehe nur Hassemer (1991). 84  Kühne (1979), S. 622 f. 80  So

81  Androulakis

326

Teil 8: Die inferentiellen Kontexte im Ermittlungsverfahren

temischen Status ein, sobald sie in einem noch anspruchsvolleren IK hi­ neingestellt wird: Hinreichender Verdacht entfaltet keine Rechtskräftigkeit und gilt nicht erga omnes. Zudem fehlt den ersten drei IK der fünfte kon­ textuelle Parameter (situational factors), nämlich die Überprüfung, dass es dabei um (intersubjektiv adäquate) gute Gründe geht. Erst danach gilt eine begründete Meinung als für alle Mitglieder einer Community verbindliches Wissen, das nur unter gewissen Voraussetzungen (z. B.: Wiederaufnahme) bezweifelt werden kann. Jeder bisherige Wissensanspruch (Anfangs-, dringender und hinreichender Verdacht) vermag nur, die jeweils nächste Ermittlungsmaßnahme einzulei­ ten. Sobald dieser Wissensanspruch in einen jeweils anspruchsvolleren Kontext hineingestellt wird, verliert er seinen privilegierten Status. Denn die jeweilige Default-Berechtigung (entitlement) zielt nur darauf ab, uns eine Untersuchung zu ermöglichen, ohne dabei unausweichlich in Dogmatismus zu verfallen. Rechtsgültig kann ein Gerichtsurteil erst dann werden, wenn eine Entscheidung unanfechtbar und vollstreckbar wird sowie andere Ge­ richte und Rechtsadressaten daran bindet. Kontextualistisch betrachtet ist der Grund dafür der fünfte Kontextuelle Parameter, nämlich die Bestätigung, dass die angegebenen Gründe adäquat sind – der revisionsrechtlichen Prü­ fung ist hier ein Fristablauf oder Rechtsmittelverzicht bzw. -rücknahme gleichzusetzen. Erst wenn ein Gerichtsurteil Rechtskraft entfaltet, gilt es auch als forensisches Wissen, an welchem sich andere orientieren können und sollen. Die Rechtfertigung ist nunmehr nicht nur epistemischer, sondern auch evidentieller Natur. Ausgerechnet dieses Merkmal der Unanfechtbar­ keit fehlt den ersten drei inferentiellen Kontexten im Strafverfahren: Sie entfalten keine verbindliche Kraft. Wie im Teil 4 gezeigt, brauchen wir, um Wissen zu erlangen, „adequately grounded belief“.85 Dieser externalistische Parameter unterscheidet die für praktische Zwecke hinreichende Gewissheit von der Kategorie des Wissens. Und ausgerechnet dieser externalistische Parameter fehlt bei jedem der ersten drei IK.

III. Fazit Zusammenfassend ist festzustellen, dass der Unterschied zwischen den verschiedenen Erscheinungen des Verdachts nicht quantitativer Natur (im Sinne eines Mehr und Weniger) ist. Glaubensgrade als Wahrscheinlichkeits­ werte (die rechtsdogmatische Kategorie des Verdachts ist so ein graduierba­ rer Glaubensgrad) sind erst dann vergleichbar, wenn die Methode für ihre Ermittlung die gleiche ist, nämlich im Rahmen eines festgelegten inferen­ 85  Williams,

Problems, S. 161.



E. Dritter inferentieller Kontext – Der „hinreichende Verdacht“327

tiellen Kontextes. Es ist also der von Situation zu Situation neu zu bestim­ mende inferentielle Kontext derjenige Parameter, der sich verschiebt und eine neue, mal anspruchsvollere mal weniger anspruchsvolle Rechtferti­ gungsstruktur vorschreibt. In jedem Fall (Einleitung des Ermittlungsverfah­ rens, Erlass bzw. Aufrechterhaltung des Haftbefehls, Erhebung der öffent­ lichen Klage, Verurteilung) sollen wir uns zunächst Klarheit darüber ver­ schaffen, welche die kontextuellen Parameter sind und wie sie sich auf die Begründungsstruktur auswirken: welche Aussagen werden mit einer DefaultBerechtigung geschützt, welche kontextrelevanten Alternativen sollen durch Evidenzen ausgeschlossen werden und welche Defeater können zulässiger­ weise ignoriert werden.

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Sachverzeichnis Abschaffung der Folter  133 adequate grounds  234, 238 Agent siehe epistemischer Agent Agrippa-Trilemma – führt unausweichlich zur Skepsis  162 – Struktur des ~  166 f. Akzeptierbarkeit der astronomischen Ergebnisse als Funktion der eingesetz­ ten Methode  40 Aleatorische Wahrscheinlichkeit – ­metrischer Begriff der ~  308 aleatory probability  291–294 Allquantor – Semantik des ~  191, 193 Amtsaufklärungspflicht  128 Anastasia  280–301 – das Geheimnis des Anastasia-Falls  296 Anfangsverdacht  303, 312–317 [siehe auch Verdacht] – als Voraussetzung für die Inkulpation einer Person  312 – mit der Kenntnisnahme der Strafan­ zeige gewinnt der Staatsanwalt die  für die Einleitung des Ermittlungsver­ fahrens erforderliche Gewissheit  315 – ökonomische Parameter des ~  316 – schon geringe Anhaltspunkte reichen für das Entstehen eines ~  313 – Widerlegungsgründe beim inferentiel­ len Kontext des ~  315 Anforderungen an die für eine Verurtei­ lung erforderliche Gewissheit  131, 164, 296 Angel-Proposition  224 applied epistemology  159, 247 ascription of responsibility and rights  225

attributor-factors  193 Augenscheineinnahme  63 Aussagen als Rechtfertigungsgründe  169 basale Meinungen – die Grundidee des Mythos des Gegebenen besteht darin, dass es ~ gibt  58 Begriff – ~e als kulturrelatives Produkt unseres Denkens  46, 57, 183 ~ der Wahrheit siehe Wahrheit ~ des Wissens siehe Wissen – die ~sabhängigkeit der Wahrnehmung lässt keinen unmittelbaren Zugang zur Wirklichkeit zu  57 – relationale, absolute ~  188 begriffliche Abhängigkeit der Welt von unseren Begriffen  26, 45 f., 57 f. begriffliche Verwirrung als Krankheit  282 Begriffsexplikation  46 Begründung – ~spflicht  141, 154 – Urteils~ als epistemische Praxis  59 Beobachtungssätze  168 Beweis jenseits vernünftiger Zweifel  165, 235, 249–278 Beweisanalyse  152 Beweiskriterium – der inferentielle Kontext als ~  280–301 – ist steil asymmetrisch  266 Beweismaß  280 – Frage nach dem ~ als Pseudoproblem  282 Beweismaßlehre  281 ff.

Sachverzeichnis351 – objektive ~  284–295 – subjektive ~  295–301 Beweismaterial – das Urteil des Tatrichters ist ein induktiver Schluss vom ~ auf ein Probandum hin  150 – mittelbares ~ 149 – unmittelbares ~  149 Beweisregel – den Katalysator der Carolina bildeten die ~  131 Beweiswürdigung – als das Problem des Wissens  38 – als Geheimnis des Tatrichters  28, 150, 157, 242 – als Privatsprache  28 f. – die Problematik der ~ ist nichts anderes – als das Herz des Strafver­ fahrens  38 – die Statik der ~ ist eine Funktion der Leistungsfähigkeit unserer erkenntnis­ theoretischen Begriffe  39 – Urteilsaufhebungen durch die Revisionsgerichte wegen mangelhafter ~ gehören zum Alltag der Strafjustiz  151 bewusste Naivität als methodologisches Defizit  40 Bifurkationspunkt  263 Blackstone-ratio  266 Blick von Nirgendwo  45, 212, 247 Bürger – status positivus und negativus des ~  288 cartesianische Skepsis  173 ff., 247 – setzt den erkenntnistheoretischen Realismus voraus  209 Chimäre – materielle Wahrheit als ~  42 circumstacial evidence  149 closure principle  173 Code de procédure pénale  145 cognitive fallacies  290 Common Sense  142 f. communication breakdown  289 Community View  204, 212

condicio humana  102, 212 f. Constitutio Criminalis Carolina  129 conviction intime – beim amerikanischen Rechtssystem 146 f. – beim französischen Rechtssystem  145 f. conviction raisonnée – als verfassungskonforme Auslegung des § 267 Abs. 1 StPO  152 – die geltende Strafprozessordnung folgt dem System der ~ nicht  150–157 Correct-negative Ergebnis  270 Default-and-Challenge Strategie  219, 225 Default-Berechtigung  227 Default-Logik  225 f. Default rules  314 Defeater  214 [siehe auch Set of Epistemic Defeaters (SED)] – ihre Menge hängt von der jeweiligen Rechtfertigungsstruktur ab  214 Denkökonomie  230 diagnostische Haltung als Reaktion auf die skeptische Herausforderung  31 f. dialektische Faktoren  181 Domino-Effekt – bei den Beweismaßlehren  295 – bei der Rechtfertigung  168 doxastische Phänomene  63 dringender Verdacht  303, 317–322 [siehe auch Verdacht] – die Dringlichkeit bei dem ~  hat mit dessen eiligen Charakter zum Zweck der Verfahrenssicherung zu tun  319 eingeschränkte Immunität  62 einzig richtige Beobachtung  61 elektrische Signalform als ‚Sprache‘ des Gehirns  52 Engpässe bei der Informationsverarbei­ tung  51 Entscheidungstheoretische Hybris  64 ff.

352 Sachverzeichnis epistemic engineering  271, 287 epistemische Praxis – Gesetzgebung und ~  265 – Grenzen der ~  251 – unsere ~ Praxis ist zunächst eine vertretbare epistemische Praxis  260 epistemische Rechte und Pflichten 23, 28, 107, 116, 141–158, 159–165, 216–219, 247 epistemische Richtigkeit als zweiteiliger Standard  161 epistemische Verantwortlichkeit  156, 231 epistemische Wahrscheinlichkeit – als gedankliches Konzept  293 – unser Umgang mit ~ ist als irrational anzusehen  301 – ~en sind inkommensurabel, wenn sie sich aus einem verschiedenen Kalkül ergeben  309 epistemischer Agent  113 epistemischer Zugang zur Welt  46 Ereignisraum  270 Erkenntnis – Mythos des Gegebenen als Spielart des ~-Fundamentalismus  56 Erkenntnisakt – Beweiswürdigung als ~  123 Erkenntnisfundamentalismus  167 f. – Descartes als Gründervater des modernen ~  168 – formaler ~  206 – gezähmter ~  223 – substantieller ~  207 Erkenntnisrealismus  161 Erkenntnisskeptizismus siehe Skeptizis­ mus erkenntnistheoretische Priorität  168 erkenntnistheoretischer Realismus  177 – als Vorannahme des Skeptizismus 206 Erkenntnistheorie – die traditionelle ~ ist von praktischen Zwängen abgekop­ pelt  202 evidentielle Rechtfertigung  232

Fallibilismus  119 False-negative Ergebnis  270 Fehlertyp  277 f. Fehlurteil  114 f. – das Problem der  ~  116 f., 266 f. – ~ in abstracto  121 f., 266 f. Fehlverurteilung in concreto  121 Flaschenhals-Modell  51 ff. Flat-earth-society  182 Folter 133–136 – Abschaffung der ~ 136 f. forensische Sachverhaltsfeststellung siehe Sachverhaltsfeststellung Freie Beweiswürdigung – als Koordinate der Kriminalpolitik  250 – conviction intime als System der ~  141 – conviction raisonée als System der ~  141 – Einführung der ~  139 – ist ein Kind der französischen Revolution  129 – System der ~ als forensische Erschei­ nung unserer epistemischen Praxis  128 Freiheit Fundamentalismus siehe Erkenntnis­ fundamentalismus Fundamentum incocussum  169 Fundhärentismus  172 ff., 223 Gadwall-Ente  189 Gemeinschaft – die Begriffe, über welche unsere ~ verfügt, machen zugleich unseren Wissenshorizont aus  213 generische Zweifel  175, 297 genuine issue of material fact  61 Gerichtssaal als beliebter Topos erkenntnistheoretischer Ansätze  159 Geschlossenheit des Wissens unter logischer Implikation  173, 189

Sachverzeichnis353 Geschlossenheitsgebot – bei der tatrichterlichen Begründung  162 Geschworenengericht  145 Gespenst in der Maschine  284 gesunder Menschenverstand  143 [siehe auch Common Sense] Gewissheit – als Angel des jeweiligen inferentiellen Kontextes  220 – epistemische ~  220 – epistemische Normen als ~  221 – erst mithilfe von ~en sind wir imstande, zwischen begründeten und unbegründeten Aussagen zu differen­ zieren  221 – persönliche ~ des Richters  287, 295 – Verhältnis von ~ und Wissen  325 f. Gewissheitsformen  137 f. ghost in the machine  284 Glaubhaftmachung  306 Grammatik – die ~, auf welcher unsere Wahrneh­ mung beruht  55 f. – die Komponente der „erkenntnistheo­ retischen Priorität“ als ~ von Erkennt­ nis 224 – erst das Erfassen der ~ des Strafrechts ermöglicht es uns, sinngemäß darüber und effektiv miteinander zu reden  250 – Kulturen werden anhand einer verschiedenen ~ zu typisch verschie­ denen Beobachtungen  83 Grenzbegriffe  187 Grenzen der Gemeinschaft  212 Grundintuitionen  268 Grundprobleme der Sachverhaltsfest­ stellungsdogmatik  76–123 Haftbefehl – Erlass eines ~  319 Harmless error-Doktrin  240 Hautfarbe als Einflussfaktor bei der Entscheidung eines Wählers  47 heuristics and biases  301

hindsight bias  130 hinreichender Verdacht  303 [siehe auch Verdacht] – leitet das Ermittlungsverfahren in das Zwischenverfahren über  323 Hohe Standards – Ansatz der ~  200 Ignoramus – Handlungsanweisung des ~  115 f. – Situation des ~ 113, 250 ff., 270 indexikalische Begriffe  186 Indexikalität des „Wissens“  186, 196 Indizienlehre bei der Carolina  133 Infallibilität – katholisches Dogma der ~  137 Inferentieller Kontext ist revisibel  239 Inferentieller Kontextualismus  109, 157, 177, 203–234 – als Antidot  208 – ~ als erkenntnistheoretischer Ansatz  158 – hat die Aufgabe, die jeweilige kriminalpolitische Entscheidung über den kriminalpolitischen trade-off umzusetzen  263 f. – ist eine Art vom substantiellen Kontextualismus  204 – nach dem ~ siedelt sich die Rechtferti­ gung an unseren sozialen Praktiken und Normen an  204 – schreibt vor, wie wir die Struktur unserer Rechtfertigung aufbauen sollen  251 – sieht die Utilities als einen wichtigen Parameter unserer epistemischen Praxis  259 – Status des ~  242 – vermag, über die Phänomenologie der strafprofprozessualen Denkfigur des Beweises jenseits vernünftiger Zweifel hinauszugehen  297 Inferenzkraft der Beweismittel  131 Informationsstand muss sich immer auf einen Zeitpunkt t1 beziehen  87, 120 f., 179–186, 266

354 Sachverzeichnis Inkommensurabilität  309 Intelligibilitätsbeschränkungen als Angeln des Sprachspiels  228 Irrtumsimmunität  190 Irrtumsmöglichkeit  184 – bloße Erwähnung einer ~  192 – weit hergeholte ~en  189, 190 ff., 200 Januskopf – Strafe als ~  251 Juristische Bescheidenheit  65–67 Juristische Methode – antitheoretische Affekt bei der ~  37 – übliche Vorgehensweise bei der ~  35 ff. Jury  142 Kardinalität  226 Know-High  193 Know-Low  192 knowledge claim  154 kognitive Einflüsse als Top-down-Pro­ zesse  55 kognitive Intoleranz  60, 64 kognitive Rahmenbedingungen  54 f. kognitive Täuschungen  269 Kohärentismus  170 ff. – als symmetrische Begründungs­ struktur  170 – Isolationseinwand gegen den ~  171 konstruktive Haltung als Reaktion auf die skeptische Herausforderung  31 Kontext – Gewissheiten als Angeln des ­inferentiellen ~  220 – philosophischer ~ als eine von praktischen Zwängen befreite Form des alltäglichen ~  214 Kontext-Hoch  241 Kontext-Tief  241 Kontextsensibilität unseres Wissens  179

Kontextualismus – Epistemologischer ~ als diagnostische Entgegnung auf den Skeptizismus  176 ff. – führt (nicht) zu Relativismus  181 – Inferentieller ~  177 [siehe auch Inferentieller Kontextualismus] – Semantischer ~  177 [siehe auch Semantischer Kontextualismus] – Zuschreibungs-~  192 kontextuelle Faktoren  181, 184 – dialektische ~  229 – die Menge der relevanten Alternativen hängt von den ~ ab  189 – erst in Anbetracht kontextueller Faktoren können wir festlegen, welche Rolle einer Meinungsart zugeschrie­ ben wird  209 – ökonomische ~  229 f. Kontingenz ist ein systemimmanentes Spezifikum unserer epistemischen Praxis  118 Kontinuitätsthese  199 Korrespondenztheorie der Wahrheit  42 Kriminalpolitik – ähnelt dem biologischen Abwehrsys­ tem höherer Lebewesen  258 – als Taskmaster  267 – birgt zwei gegenläufige Tendenzen in sich  258 – Eindämmung der Kriminalität als Aufgabe der ~  252 f. – Freiheit und Sicherheit als Koordina­ ten der ~  249 – ist ein nicht-cartesianisches Koordina­ tensystem  257 – ist im Prinzip kriminalpolitisches Handeln  259 – Schutz der rechtstreuen Bürger als Aufgabe der ~  252 Kriminalpolitischer trade-off  263 Kriminelle Ansteckung  322 Kühne-Problem  303–327

Sachverzeichnis355 legale Beweise – System der ~  129 ff. Likelihood Ratio  150, 309, 323 Linguistische Tests  196 Logik – Default-~  225–227 – Gesetze der ~  238 materielle Wahrheit [siehe auch Wahrheit] – als Antagonistin prozessualer Wahrheitstheorien  41 f. – als Chimäre  42 – ~ als Mythos des Gegebenen  45 Metawahrscheinlichkeit – bildet nach h.M. den archimedischen Punkt des Strafverfahrens  41 ff. – ist kein sinnvoller Begriff  323 methodologische Beschränkungen  229 metrisierbare Strukturen  307 Modell mit den „Relevanten Alternati­ ven“  187 f. Mondlandung  223 Mooresche Sätze  174 moral harm  256, 262 moralische Gewißheit  138 f. Myth of the Given siehe Mythos des Gegebenen Mythos des Gegebenen  45, 46–58 – materielle Wahrheit als ~  45 – Programm der Erfassung einer denkunabhängigen Realität als ~  45 naked challenges  217 Neurophysiologie  48–55 normale Distribution  271 öffentliche Gewalt ist faktenkontingent  251 ontologische Wirklichkeit  45 – die Vorannahme einer ~ ist unhaltbar  45 ordinary language  195, 225

Paradoxie – Diagnose der skeptischen ~  192 Pattsituation – der Kampf zwischen materiellen und prozessualen Wahrheitstheorien endet in einer unliebsamen ~  43 – die Debatte über das Beweismaß als ~  283 Peano-Arithmetik  181 persönliche Rechtfertigungskomponente  231 Philosophie – Geschichte der ~ als eine ‚chronicle of failures‘  39 plausibles Missverständnis  33 – die forensische Wahrheitsdebatte wird auf ein ~ zurückgeführt  40 f. Plena probatio  132 Poena ordinaria  132 politische Zugehörigkeit beeinflusst zunächst unsere visuelle Wahrneh­ mung  47 f. Practical Limitations  212 Precision Intervention Technique  62 Primat der Rechtfertigung  159 Principle of Total Evidence  119–121 Prinzip – ~ der Neutralität des neuronalen Codes  53 – ~ des ausgeschlossenen Zweifels (PAZ)  173 f. Prior Grounding Requirement  216 Privatsprache  28 f. Proof Beyond a Reasonable Doubt  165, 235 f. prozessuale Wahrheitstheorie [siehe auch Wahrheit] – als Antagonistin materieller Wahr­ heitstheorien  41 f. – ~n sind nicht tatsachenorientiert  42 Prüfroutinen  287 Pseudowissenschaftlichkeit  124–126 Pyrrhonische Skepsis  243 – Tropos der Relativität bei der ~  243

356 Sachverzeichnis Pyrrhusniederlage als Preis für unsere antidogmatische Haltung  39, 222 Quantifikator  190 Quasireihe  307 Quid-facti-Frage  28, 210, 260 Quid-juris-Frage  28, 210, 260 Rangskala  197 Rationalität  39. 108, 155, 179 – ~sanforderungen  36 f., 252 – ~skonzepte 43, 121 – ~smaßstäbe 160 – ~snormen  236 Realismus siehe Erkenntnisrealismus Recht des Stärkeren  184 Rechtfertigung – Primat der ~  159 – ~sstiftende Faktoren müssen dem Subjekt kognitiv zugänglich sein  160 Rechtfertigungsstandards  161, 175 Rechtfertigungsstruktur – Aufstellen von ~en  207 f. – Stabilität der ~  160 Rechtliches Gehör  320 Rechtsfrieden – Herbeiführung des ~ als Ziel des Strafverfahrens  43 Rechtsgut – unmittelbares ~ einer Sanktionsnorm ist die Erhaltung der Geltungskraft von Verhaltensnormen  255 Rechtskraft als kontextueller Parameter  234 Rechtspolitischer Rahmen  249 Regress-Stopper  169 Relativismus – als Vorwurf gegen den Kontextualis­ mus  180 – Erkenntnis~  181 – konturenloser ~  65, 181 – kultureller Relativismus  183 f. Revisionsgericht macht bei der Überprü­ fung der tatrichterlichen Überzeugung die gleiche Arbeit wie bei der Über-

prüfung der Verhältnismäßigkeit von staatlichen Eingriffen in die Privat­ sphäre  238 Riehmannsche-Geometrie  182 Risikoverteilungsmechanismus  263 Sachverhaltsfeststellung als ureigene Aufgabe des Tatrichters  112 Sachverhaltsfeststellungsdogmatik  33 [siehe auch Sachverhaltsfeststellung] – beruht auf einem plausiblen Missver­ ständnis  33 ff. Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch  178 – Problematik der ~  27 Scheinbare Allgemeinheit – Ansatz der ~  200 Screening – Ermittlungsverfahren als ~  311 see for yourself  64 Semantischer Kontextualismus  177, 185–202 – der Skeptizismus  wird vom Stand­ punkt des ~ aus auf eine Binsenweis­ heit reduziert  196 Set of Epistemic Defeaters (SED)  228, 238, 310 – die Entscheidung über die Kardinalität der ~ ist eine ureigene Aufgabe der Kriminalpolitik  251 f. – Kardinalität der ~  228, 237 – Mechanismus für die Erweiterung oder Beschränkung der ~  230, 267 – ~ beim Anfangsverdacht  315 f. – ~ beim dringenden Verdacht  317–322 – ~ beim hinreichenden Verdacht  323–326 – stellt ein sensibles Gleichgewicht zwischen Freiheit und Sicherheit her  258, 267 Sicherheit – als Koordinate der Kriminalpolitik  250 – Grundrecht auf ~  253

Sachverzeichnis357 Situational Factors  232 Skala  292 Skeptizismus – agrippinischer ~  162 – als Bewährungsprobe für unsere gerichtliche Praxis  32 – als Problem der Sprache  196 – als Skandal der Philosophie  31, 176 – als tödlicher Pfeil ohne Zielobjekt  201 – der ~ bezweifelt nicht die Existenz der Außenwelt  31 – diagnostische Haltung als Reaktion auf die Herausforderung des ~ 31 f. – Erkenntnistheoretischer Realismus als Vorannahme des ~  206 – konstruktive Haltung als Reaktion auf die Herausforderung des ~ 31 – theoretische Diagnose des ~  32, 246 – therapeutische Diagnose des ~  32, 205 – wird vom Standpunkt des Semanti­ schen Kontextualismus aus auf eine Binsenweisheit reduziert  196 – wirft zunächst Verständnisfragen auf  204 Sozialkostenverteilung  268 space of reasons  244 Sprache – als bloße Verkleidung unserer Gedanken  183 – der soziale Charakter unserer ~ ist untrennbar mit dem sozialen Charak­ ter unseres Wissens verbunden  233 – Zweiteilung unseres Gesamtvokabu­ lars in theoretische und empirische ~  56 Sprachspiel  156 – die Rechtfertigungsstruktur lässt sich erst mithilfe der jeweiligen ~ bestim­ men  208 – endliche Regeln des ~  204 – Mechanik  221 – Struktur des ~  217

– Veränderung des ~  223 – Verhexung der ~  282 Staat – freiheitsorientierte ~en  262 f. – sicherheitsorientierte ~en  261 f. Standard of Proof  272 Standard-Modell  269 Standards für Wissen bis zum Maximum erhöhen  202 Statistik – als Häufigkeitsverteilung  294 – Verhältnis der Rechtswissenschaft zur ~  290 Strafanzeige hat einen privilegierten epistemischen Status  315 Strafe – Ambivalenz der ~  252 – Befriedungseffekt der ~  254 – stellt die Speerspitze der öffentlichen Gewalt dar  251 Strafjustiz – Überforderung der ~ durch das Programm der materiellen Wahrheit  28 Strafprozessrecht – doppelte Aufgabe des ~  110 Strafrecht – Befriedungsfunktion des ~  253 – Instrumentalisierung des ~  261 – Orientierungsfunktion des ~  255 f. Strafurteil – die Legitimität des ~ ist eine Funktion dessen sachlichen Richtigkeit  44 Strafverfahren – als Bestrafung  324 f. – der inferentielle Kontext des ~  249 ff. – Herbeiführung des Rechtsfriedens als Ziel des ~  43 Structure of Justification  177 Stufenbau einer Rechtsordnung  171 Subject Factors  193 Subjekt-Kontext  193 Suche nach Wahrheit  244 Swamping of Priors  309

358 Sachverzeichnis Tatrichter – epistemischer Vorgang des ~  128 Tatverdacht [siehe auch Verdacht] – als diejenige Rechtsfigur, die das Strafverfahren in Gang setzt  303 – ~ als epistemische Wahrscheinlichkeit  309 – die Intensität von Ermittlungseingrif­ fen entspricht nach h.M. der Intensität des ~  308 – Hebelfunktion des ~  303 – liegt nach h.M. vor, wenn eine jeweils hinreichend große Wahrscheinlichkeit besteht  304 – ~sdogmatik  303 Totality Condition  210 Tourette-Syndrom  227 Tracking – als methodologisches Prinzip  33 ff., 259 – das ~prinzip liegt § 244 Abs. 3 Satz 1 zugrunde – der propositionale Gehalt des  ~prinzips besteht in der Handlungsan­ weisung: ‚frag die Experten‘  34 f. Trade-off  263 Transduktion  52 Tweety  226 Tyrannei des Wissens  233

– Tatrichter argumentieren unter ~  291–295, 304 Unschuldiger – Inkaufnahme der Verurteilung ~  117 Unschuldsvermutung  111 Unsicherheit – Ausblenden der ~größe  28, 113 – Bekämpfung der ~  300 Unterbestimmtheit – Problem der ~  188 Untersuchungshaft  317 f. – ist nicht selten eine apokryphe Vor-Strafe  322 – soll die Durchführung eines geordne­ ten Strafverfahrens gewährleisten  319 Urteilsaufhebungen durch die Revisions­ gerichte wegen mangelhafter Beweis­ würdigung gehören zum Alltag der Strafjustiz  151 Urteilsbegründung [siehe auch Begrün­ dung] – als Herkulesaufgabe  162 – Definitionsfunktion der ~  153 – Kontrollfunktion der ~  153 – Informationsfunktion ~  153 Utilities  249, 278

überspannte Anforderungen an den Beweis  147, 163–165, 239–241, 278, 295–298, 322 Überzeugung – als Sache des Grades  309 – basale ~  228 – die kausale Genese einer ~ ist mit ihrer Rechtfertigung nicht identisch  64 – Nexus von ~  211 – propositionaler Gehalt einer ~  112 – ~ des Richters als Beweiskriterium  157 Ungewissheit  291

Verdacht [siehe auch Tatverdacht] – als Schutzwall vor staatlichen Übergriffen  312 – Grenzziehung zwischen verschiedenen Phänotypen des Rechtsbegriffs ‚~‘  302 – verschiedene Erscheinungen des ~  302 Verdächtige – Stigmatisierung des ~ als disutility  316 Verdachtsmanagement  304 Verhaftung als intensivste Form der Freiheitsbeschränkung  318 Verhaltenssteuerung  255

Sachverzeichnis359 Verhältnismäßigkeitsgrundsatz muss bei der Untersuchungshaft gewahrt sein  318 Vernünftig als kulturabhängiger Begriff  191 Vernünftige Zweifel – eine allgemein geltende Definition von ~ muss als Chimäre angesehen werden  237 Vernünftigkeitsvorstellungen als epistemischer Kompass  235 Verurteilung eines Unschuldigen als Phantom  264 Videoaufzeichnung  61 Vokabular – das epistemische ~ ist kontextsensitiv  186 Wahrheit – als das wertvollste aller Dinge  26 – als Eigenschaft von Aussagen  44 – Orientierung an der ~ als epistemi­ sches Ziel  29 – Programm der materiellen ~  28 – propositionale Struktur der ~  60 – Suche nach ~  244 – Überforderung der Strafjustiz durch das Programm der materiellen ~  28 Wahrnehmung – als dynamischer Vorgang  49 – Physiologie der ~  49 ff. – ~wissen als epistemische Basis unserer Überzeugungen  59 – ~wissen als kausale Basis unserer Überzeugungen  59 Wahrscheinlichkeit  138 f. – als Rechtsbegriff  281 – epistemische ~  291 ff. – Grad von ~  299 – objektive ~ als Eigenbegriff der Dogmatik  285 – objektiver ~sbegriff  283 – Wahrheit ist im Grunde ~  140 – Wortgebrauch des Begriffs ~  282

Weltbild  183 – als rechtfertigungsstiftender Faktor  219 – Gleichwertigkeit der ~  184 – Parallelität der ~  183 Wertgeladene Kognition  63 widerlegliche Strukturen  225 Widerlegungsgründe  315 Wiederaufnahmen eines Strafverfahrens  119 Wirtschaftlichkeit unserer epistemischen Praxis  230 f. Wissen – Berechtigung eines Agenten, einen ~sanspruch zu erheben  120 – der soziale Charakter unserer Sprache ist untrennbar mit dem sozialen Charakter unseres Wissens verbunden  233 – gilt erga omnes  233 – liegt im Auge des Betrachters  266 – Strukturanalyse des ~  175 – Verhältnis von ~ und Gewissheit  325 f. – ~sanspruch  46, 195 – ~szuschreibung  121, 181 – „~“ enthält eine versteckte syntakti­ sche Variable  196 – „~“ verhält sich untypisch  für einen indexikalischen Begriff Wissensbehauptung  154, 160 Wissenschaftlichkeit der Sachverhalts­ feststellungsdogmatik  123–125 Wissensethnologie  29 Wissensmechanismus, kontextualisti­ scher ~  198 Wissensstandardverschiebungsmechanis­ mus  180 Wissenszuschreibung  154 – Wahrheitswert einer ~  194 – ~maßstäbe Wittgensteinsche Perspektive  222

360 Sachverzeichnis Zufallsexperiment  292 zureichende Anhaltspunkte  312 [siehe auch Anfangsverdacht] Zuschreiberfaktoren  194 Zweifel – abwegige, nebelhafte ~  203 – Menge der ~  163 [siehe auch Set of Defeaters]

– nur vernünftige ~ können ein Strafurteil verhindern  163 – strafprozessuale Formel der kontextrelevanten ~  237 – Unnatürlichkeit des skeptischen ~  215 Zweiseitiger Test  269