Analytische Einführung in die Erkenntnistheorie 9783110211849, 9783110176223

Thomas Grundmann provides an introduction to the most important fundamental questions and problems of epistemology. He d

191 24 9MB

German Pages 623 [624] Year 2008

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Table of contents :
Vorwort
1 Einführung
1.0 Was ist und wozu dient Erkenntnistheorie?
1.1 Was ist Erkenntnis?
1.2 Die Grundfragen der Erkenntnistheorie
1.3 Erkenntnistheorie als philosophische Disziplin
1.4 Ist Erkenntnistheorie überhaupt möglich?
1.5 Über den Stellenwert der Erkenntnistheorie in der Philosophie
1.6 Über die Relevanz der Erkenntnistheorie
2 Wahrheit
2.0 Allgemeines
2.1 Grundlegende Merkmale der Wahrheit
2.2 Wahrheitstheorien
3 Wissen
3.0 Formen des Wissens
3.1 Die Standardanalyse des propositionalen Wissens: gerechtfertigte, wahre Überzeugung
3.2 Das Gettierproblem
3.3 Posttraditionelle Wissensdefinitionen
3.4 Semantischer Kontextualismus
3.5 Das Prinzip der Geschlossenheit des Wissens
3.6 Wissen durch sichere Gründe
3.7 Die Bedeutung des Wissens für die Erkenntnistheorie
4 Erkenntnistheoretische Rechtfertigung
4.0 Allgemeines
4.1 Die Definition der erkenntnistheoretischen Rechtfertigung
4.2 Sind Gründe Ursachen?
4.3 Was ist ein guter Grund?
4.4 Internalismus oder Externalismus?
5 Die Struktur der Rechtfertigung
5.0 Allgemeines
5.1 Der klassische Fundamentalismus
5.2 Neoklassischer Fundamentalismus
5.3 Kohärenztheorien der Rechtfertigung
5.4 Der Kontextualismus der Rechtfertigung
5.5 Totgesagte leben länger: Plädoyer für einen moderaten Fundamentalismus
6 Skeptizismus
6.0 Allgemeines
6.1 Erkenntnistheoretischer Skeptizismus
6.2 Eine Analyse skeptischer Argumente
6.3 Ambitionierte antiskeptische Strategien
7 Quellen des Wissens
7.0 Allgemeines
7.1 Sinneswahrnehmung
7.2 Apriorisches Wissen
7.3 Selbstwissen
7.4 Wissen durch das Zeugnis anderer
8 Naturalistische Erkenntnistheorie
Literaturverzeichnis
Glossar
Sachregister
Namenregister
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Analytische Einführung in die Erkenntnistheorie
 9783110211849, 9783110176223

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de Gruyter Studienbuch Thomas Grundmann Analytische Einführung in die Erkenntnistheorie

Thomas Grundmann

Analytische Einführung in die Erkenntnistheorie

w DE

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Walter de Gruyter · Berlin · New York

Die „Analytischen Einführungen in die Philosophie" werden von Ansgar Beckermann herausgegeben.

® Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt. ISBN 978-3-11-017622-3 Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Copyright 2008 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, 10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Umschlaggestaltung: deblik, Berlin Satz: Dörlemann Satz, Lemförde Druck und buchbinderische Verarbeitung: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten

Für Cornelia, Larissa, Rebecca und für Leser, wie ich sie mir wünsche: kritisch, aber wohlwollend

Vorwort Dieses Buch ist eine allgemeine Einführung in die Erkenntnistheorie. Es erscheint als dritter Band in der von Ansgar Beckermann herausgegebenen Reihe der „Analytischen Einführungen in die Philosophie". Diese Einführungen erläutern die jeweiligen philosophischen Disziplinen keineswegs nur aus der Perspektive einer bestimmten philosophischen Tradition oder Schule: etwa der (sprach-)analytischen Philosophie, sondern sie sind alle einem bestimmten Stil des Philosophierens bzw. einer bestimmten Einstellung zu philosophischen Problemen verpflichtet. Die analytische Einstellung in der Philosophie lässt sich nach Beckermann durch drei Merkmale charakterisieren: 1.) Die möglichst präzise Formulierung und kritische Diskussion von Argumenten steht im Vordergrund. 2) Philosophische Probleme und Vorschläge zu ihrer Lösung lassen sich zeitunabhängig formulieren und bewerten. 3.) Es gibt einen globalen Diskurs der Philosophen, der alle Schulen und Traditionen übergreift. Wer mit einer solchen analytischen Einstellung philosophiert, der versteht die Philosophie primär als eine Wissenschaft, die Antworten auf spezifisch philosophische Sachfragen gibt. Die Beschäftigung mit der Geschichte der Philosophie und mit den Antworten der großen Philosophen steht für einen Philosophen mit einer solchen Einstellung ausschließlich im Dienst der Diskussion systematischer Sachfragen. Aus dieser analytischen Grundeinstellung ergeben sich gewisse Konsequenzen für den Aufbau dieser Einführung. Wie bei den anderen Analytischen Einführungen strukturieren die zeitunabhängigen philosophischen Fragen und Probleme die Darstellung. Dazu werden die Antworten der philosophischen Hauptpositionen vorgestellt und möglichst präzise rekonstruiert. Hier kommen Vorschläge aus der Antike (etwa von Piaton oder Aristoteles) oder aus der gesamten Neuzeit (etwa von Descartes, Locke, Berkeley, Hume, Kant, Reid oder Mili) ge-

Vili

Vorwort

nauso zu Wort wie aus der gegenwärtigen Diskussion. Allerdings nimmt die Darstellung der gegenwärtigen Diskussion einen vergleichsweise breiten Raum ein. Das liegt nicht etwa daran, dass diese Einführung blind gegenüber der Geschichte der Erkenntnistheorie ist und die Bedeutung der Gegenwart einfach naiv überschätzt, sondern vor allem daran, dass es in den letzten Jahrzehnten eine sehr lebendige und innovative Debatte in der Erkenntnistheorie gegeben hat, die aus meiner Sicht auch zu wichtigen Fortschritten in der Erkenntnistheorie geführt hat. Schließlich werden die Argumente für und gegen die philosophischen Hauptpositionen vorgestellt und diskutiert. Dabei werde ich die „Wahrheitsfrage" am Ende nicht einfach offen lassen, sondern unvoreingenommen und mit aller nötigen Vorsicht, aber dennoch in der Sache eindeutig Position beziehen. Diese Einführung wird also nicht einfach die Argumente für eine Position und die Einwände gegen sie auflisten, sondern sie wird eine Bewertung und Gewichtung vornehmen, die ein bestimmtes Ergebnis nahe legt und dem Leser eine Orientierungshilfe gibt. Es ist ein klarer Vorteil einer solchen positionierten Einführung, dass sie Schritt für Schritt konstruktiv auf ihre eigenen Ergebnisse aufbauen kann. Es gibt inzwischen auch auf dem deutschen Markt eine ganze Reihe guter aktueller Einführungen in die Erkenntnistheorie. Etwa Peter Baumanns Erkenntnistheorie, Herbert Schnädelbachs Erkenntnistheorie zur Einführung oder Gerhard Ernsts Einführung in die Erkenntnistheorie. Jede dieser Einführungen verfolgt eine spezifische Zielsetzung und richtet sich an eine bestimmte Lesergruppe. Die vorliegende Einführung möchte erstens möglichst umfassend und ausführlich in die Erkenntnistheorie einführen. Deshalb ist daraus ein relativ dickes Buch geworden. Zweitens handelt es sich um eine im erläuterten Sinne analytische und klar positionierte Einführung. Drittens ist diese Einführung elementar, aber zugleich auch weiterführend. Sie wendet sich also nicht nur an philosophische Einsteiger, sondern auch an Philosophen, die sich schon länger mit der Erkenntnistheorie beschäftigen.

Vorwort

IX

Ich habe versucht, alle verwendeten Fachbegriffe zu erläutern. Die Erläuterungen finden sich entweder direkt im Text (wobei viele zentrale Begriffe noch einmal übersichtlich in einem Kasten definiert werden) oder sie werden (wenn durch im Text markiert) in einem Glossar am Ende des Buches erklärt. Das Buch ist im Kern aus einer Vorlesung hervorgegangen, die ich im Wintersemester 2001/02 an der Universität Tübingen und später in abgewandelter Form an der Humboldt Universität Berlin und der Universität zu Köln gehalten habe. Viele Menschen haben direkt oder indirekt mitgeholfen, dass dieses Buch das geworden ist, was es ist. Ihnen möchte ich an dieser Stelle danken. Mein besonderer Dank gilt meiner Frau, Cornelia, und meinen Töchtern, Larissa und Rebecca, für ihre Geduld während der langen Entstehungsgeschichte des Manuskripts, für ihre liebevolle Unterstützung auch in den kritischen Phasen des Schreibens und für ihren Realitätssinn, der mich stets nach der verständlichsten Formulierung eines philosophischen Problems hat suchen lassen. Außerordentlich dankbar bin ich auch Ansgar Beckermann - für sein Vertrauen in mich als Autor der Reihe, aber auch für seine gründliche und unnachgiebig auf Verständlichkeit pochende Kommentierung des gesamten Manuskripts. Ganz besonders bedanken möchte ich mich auch bei Joachim Horvath, der das Manuskript Seite für Seite kritisch kommentiert und mich durch seine stets scharfsinnigen Einwände immer wieder dazu gezwungen hat, die Dinge noch einmal ganz neu zu durchdenken. Entscheidend zum Gelingen des Ganzen haben auch meine Mitarbeiter Woldai Wagner, Tobias Starzak und Daniel Malsch beigetragen. Sie haben mir z.T. über Jahre hinweg wertvolle Kommentare zum Text gegeben, Korrektur gelesen, das Glossar, Literaturverzeichnis und die Register erstellt sowie den Text in seine endgültige Form gebracht. Dankbar bin ich auch für die kritischen Kommentare und wertvollen Hinweise von philosophischen Freunden und Weggefährten, die Teile meines Manuskripts gelesen haben: Frank Hofmann, Tanja Hötte,

χ

Vorwort

Christiane Schildknecht, Jan Sprenger, Eva Wilhelmus und allen Teilnehmern des Köln-Bonner Kolloquiums zur Erkenntnistheorie im Sommersemester 2006, in dem die erste Hälfte meines Buches lebhaft diskutiert wurde. Die Entstehung des Buches hat natürlich auch von intensiven philosophischen Diskussionen und Gesprächen profitiert, die ich über die behandelten Themen geführt habe, und zwar besonders mit Andreas Bartels, Sven Bernecker, Elke Brendel, Kristina Engelhard, Manfred Frank, Dietmar Heidemann, Christoph Jäger, Jens Kipper, Hilary Kornblith, Hans Joachim Krämer, Achim Lohmar, Christian Nimtz, Richard Schantz, Daniel Schoch, Oliver Scholz, David Schweikard, Sven Walter und Marcus Willaschek. Außerdem möchte ich meiner Sekretärin, Judith Reichert, dafür danken, dass sie mit großem Einsatz und unübertroffener Gründlichkeit das Manuskript noch ein letztes Mal Korrektur gelesen hat, als die Zeit bereits drängte. Last, but not least danke ich Gertrud Grünkorn vom De Gruyter Verlag für ihre freundschaftliche Betreuung, ihre unkomplizierte Art und ganz besonders für ihre Geduld. Köln, Juni 2008

Thomas Grundmann

Inhaltsverzeichnis Vorwort 1

Einführung

1.0 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5

VII 1

Was ist und wozu dient Erkenntnistheorie? Was ist Erkenntnis? Die Grundfragen der Erkenntnistheorie Erkenntnistheorie als philosophische Disziplin . . . Ist Erkenntnistheorie überhaupt möglich? Uber den Stellenwert der Erkenntnistheorie in der Philosophie 1.6 Uber die Relevanz der Erkenntnistheorie

21 27

2

33

Wahrheit

1 1 5 8 17

2.0 Allgemeines 2.1 Grundlegende Merkmale der Wahrheit 2.2 Wahrheitstheorien 2.2.1 Epistemische Wahrheitstheorien 2.2.2 Deflationäre Wahrheitstheorien 2.2.3 Korrespondenztheorien der Wahrheit . . . . 2.2.4 Wie lässt sich die Korrespondenzrelation zwischen dem Träger des Wahrheitswertes und dem Wahrmacher verstehen?

33 38 42 44 56 62

3

71

Wissen

3.0 Formen des Wissens 3.1 Die Standardanalyse des propositionalen Wissens: gerechtfertigte, wahre Uberzeugung

64

71 86

XII

Inhaltsverzeichnis

3.2 Das Gettierproblem 3.3 Posttraditionelle Wissensdefinitionen 3.3.1 Quartettlösungen 3.3.2 Rein externalistische Lösungen 3.3.2.1 Die kausale Theorie 3.3.2.2 Zuverlässigkeitstheorien 3.4 Semantischer Kontextualismus 3.5 Das Prinzip der Geschlossenheit des Wissens . . . . 3.6 Wissen durch sichere Gründe 3.6.1 Weitere Gegenbeispiele und neue Perspektiven 3.7 Die Bedeutung des Wissens für die Erkenntnistheorie 3.7.1 Wissen als stabiler Faktor im kognitiven Haushalt 3.7.2 Wissen als Ziel unserer Erkenntnisbemühungen 3.7.2.1 Ist Wissen ein inkohärenter Begriff? 3.7.3 Wissen als Grundlage und Ausgangspunkt unserer Erkenntnisbemühungen 3.7.4 Die methodologische Rolle des Wissens . . .

4

99 110 111 121 121 127 148 166 180 187 193 194 195 208 210 219

Erkenntnistheoretische Rechtfertigung . 223

4.0 Allgemeines 4.1 Die Definition der erkenntnistheoretischen Rechtfertigung 4.2 Sind Gründe Ursachen? 4.3 Was ist ein guter Grund? 4.3.1 Das Modell erkenntnistheoretischer Verpflichtung 4.3.1.1 Einwände gegen das Modell der Verpflichtung 4.3.2 Das Modell instrumenteller Rationalität . . . 4.4 Internalismus oder Externalismus ? 4.4.1 Evidentialismus 4.4.2 Zugangsinternalistische Versionen des Objektivismus

223 229 230 238 238 241 246 249 252 255

Inhaltsverzeichnis

XIII

4.4.3 4.4.4 4.4.5 4.4.5.1 4.4.5.2

257 259 265 268

Gründe als Tatsachen Keine Rechtfertigung ohne Metarechtfertigung Reliabilismus Das Referenzklassenproblem Das Problem der allzu leichten Metarechtfertigung

272

5

Die Struktur der Rechtfertigung

277

5.0 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5

Allgemeines Der klassische Fundamentalismus Neoklassischer Fundamentalismus Kohärenztheorien der Rechtfertigung Der Kontextualismus der Rechtfertigung Totgesagte leben länger: Plädoyer für einen moderaten Fundamentalismus

277 284 298 309 325

Skeptizismus

339

6

335

6.0 Allgemeines 339 6.1 Erkenntnistheoretischer Skeptizismus 342 6.1.1 Was besagt der erkenntnistheoretische Skeptizismus? 342 6.1.2 Universeller und partieller Skeptizismus . . . 347 6.1.3 Wie wichtig ist der Skeptizismus für die Erkenntnistheorie? 351 6.2 Eine Analyse skeptischer Argumente 357 6.2.1 Skeptische Argumente, die auf skeptischen Hypothesen beruhen 358 6.2.1.1 Das Gewissheitsargument 360 6.2.1.2 Das Geschlossenheitsargument 363 6.2.1.3 Das Traumargument 369 6.2.2 Das Regressargument 375

XIV

Inhaltsverzeichnis

6.2.3 6.2.4

Das Unterbestimmtheitsargument Ein kurzes Fazit der Analyse skeptischer Argumente 6.3 Ambitionierte antiskeptische Strategien 6.3.1 Semantische Argumente 6.3.1.1 Putnams Gehirne im Tank 6.3.1.2 Davidsons Argument von der radikalen Interpretation 6.3.1.3 Chalmers Destruktion der Täuschungshypothesen 6.3.2 Idealistische Strategien gegen den Skeptizismus 6.3.2.1 Berkeleys phänomenalistische Reduktionsthese 6.3.2.2 Kants transzendentale Reduktionsthese . . . 6.3.2.3 Berkeleys Meisterargument für den Idealismus 6.3.2.4 Semantisches Argument 6.3.2.5 Freges Widerlegung des erkenntnistheoretischen Idealismus 6.3.2.6 Der erkenntnistheoretische Idealismus ohne Reduktionsthese 6.3.2.7 Sind unsere Aussagen über subjektive Erscheinungen wirklich skepsisresistenter als Aussagen über die geistunabhängige Außenwelt? 6.3.3 Selbstaufhebungsargumente 6.3.3.1 Die Selbstaufhebung des uneingeschränkten Fallibilismus 6.3.3.2 Transzendentalpragmatische Letztbegründung 6.3.3.3 Die Unbestreitbarkeit des Widerspruchsprinzips 6.3.3.4 Transzendentale Argumente 6.3.4 Erkenntnistheoretisch zirkuläre Argumente gegen den Skeptiker 6.3.5 Das wirkliche skeptische Problem

383 393 396 397 398 402 406 409 413 415 416 419 421 422

423 425 426 429 431 440 445 450

Inhaltsverzeichnis

XV

7

453

Quellen des Wissens

7.0 Allgemeines 7.1 Sinneswahrnehmung 7.1.1 Was ist der unmittelbare Gegenstand der Sinneserfahrung? 7.1.1.1 Metaphysische Probleme des perzeptuellen Subjektivismus 7.1.1.2 Erkenntnistheoretische Probleme des perzeptuellen Subjektivismus 7.1.1.3 Das Täuschungsargument auf dem Prüfstand 7.1.1.4 Argumente für den intentionalen Realismus . 7.1.2 Was für eine Art mentaler Zustand ist die Sinneserfahrung? 7.1.3 Wie kann die Sinneserfahrung ein basaler Grund für unsere Uberzeugungen über die Außenwelt sein? 7.2 Apriorisches Wissen 7.2.1 Präzisierungsversuche der Kantischen Definition 7.2.2 Argumente für apriorische Erkenntnis . . . . 7.2.3 Probleme apriorischer Erkenntnis 7.3 Selbstwissen 7.4 Wissen durch das Zeugnis anderer 7.4.1 Probleme des Reduktionismus 7.4.2 Die antireduktionistische Alternative . . . .

8

Naturalistische Erkenntnistheorie

453 463 466 471 475 481 484 487

493 497 503 508 512 518 529 534 536

543

Literaturverzeichnis

567

Glossar

583

Sachregister

597

Namenregister

605

1 Einführung 1.0 Was ist und wozu dient Erkenntnistheorie? Was ist das: Erkenntnistheorie? Wie der Name bereits sagt, beschäftigt sich die Erkenntnistheorie mit Erkenntnis. Doch diese Antwort ist trivial und hilft nicht wirklich weiter. Um zu verstehen, worum es in der Erkenntnistheorie wirklich geht, müssen wir erstens zumindest ein vorläufiges Verständnis davon entwickeln, was Erkenntnis ist; wir müssen zweitens verstehen, was die Erkenntnistheorie, und zwar insbesondere als philosophische Disziplin, an der Erkenntnis interessiert; und schließlich müssen wir drittens verstehen, welche Relevanz die Erkenntnistheorie für uns hat.

1.1 Was ist Erkenntnis? Man kann zunächst versuchen, sich durch eine Analyse unseres Erke η η t η i sb egriffe s dem anzunähern, was Erkenntnis ist. Eine Antwort auf die Frage „Was ist Erkenntnis?" soll also auf dem Umweg über die Beantwortung der Frage „Was bedeutet der Ausdruck ,Erkenntnis'?" gegeben werden. Hierzu zwei Vorbemerkungen: Der Ausdruck ,Erkenntnis' ist doppeldeutig. Manchmal wird er für einen Prozess oder eine Tätigkeit gebraucht - eben den Prozess des Erkennens. Manchmal wird er aber auch für das Resultat dieses Prozesses verwendet - einen Zustand. Außerdem sprechen wir von ,Erkenntnis' sowohl im personalen Sinne (also von der Erkenntnis einer Person) als auch im unpersönlichen Sinne (von der Erkenntnis der Wissenschaften). Um die Sache zu vereinfachen, beschränken wir uns zunächst einmal auf Zustände von Personen. Betrachten wir einen ersten Analyse-Vorschlag. Er lautet:

2

Einführung

(1) Von,Erkenntnis' sprechen Zustände eines Subjekts.

wir mit Bezug auf

kognitive

Was sind kognitive Zustände? Man könnte sagen, dass es sich um geistige Zustände handelt — im Unterschied zu rein körperlichen Zuständen, wie einer Entzündung der Augen oder einer Anspannung der Muskeln. Zu den geistigen Zuständen zählen wir Uberzeugungen, Wünsche, Wahrnehmungseindrücke (wie Macbeths Halluzination eines Dolchs), Gefühle (wie Liebe oder Furcht) und Empfindungen (wie Schmerzen). Unter diesen geistigen Zuständen haben Uberzeugungen und Wünsche klarerweise einen propositionalen* Gehalt - einen Inhalt, der sich durch einen dass-Satz artikulieren lässt. Jemand hat die Uberzeugung, dass Gras grün ist. Ein anderer wünscht sich, dass es seinen Nachkommen auch nach seinem Tode gut geht. Ob Wahrnehmungseindrücke, Gefühle und Empfindungen einen propositionalen Gehalt besitzen, ist zumindest strittig. Vielfach wird angenommen, dass sie rein qualitative Phänomene sind. Nur eine Teilmenge aller geistigen Zustände mit propositionalem Gehalt haben einen Wahrheitswert. Wünsche sind weder wahr noch falsch sein. Sie können nur durch einen bestimmten Weltverlauf erfüllt werden oder unerfüllt bleiben. Allein die Uberzeugungen beanspruchen klarerweise, dass etwas Bestimmtes der Fall ist. Sie können deshalb wahr oder falsch sein. Nur solche wahrheitsfähigen geistigen Zustände sind kognitive Zustände. Uberzeugungen sind klare Fälle von kognitiven Zuständen. Wenn Sie jetzt z.B. die Uberzeugung hätten, dass Sie gerade ein Buch über den Zweiten Weltkrieg lesen, wäre diese Uberzeugung falsch und damit ein kognitiver Zustand. Jemand, der das Wort,Erkenntnis' im Sinne von kognitiven Zuständen verwendet hat, war Kant. Er hat es offenbar als Ubersetzung des lateinischen Ausdrucks cognitio verstanden. Kant war der Auffassung, dass Erkenntnisse auch falsch sein können. Er sagt: „Eine Erkenntnis ist falsch, wenn sie mit dem Gegenstande, worauf sie bezogen wird, nicht übereinstimmt".1 Das hört sich Kant 1998, Β 83.

3

Was ist Erkenntnis?

für uns heute jedoch sonderbar an. Wir verstehen den Ausdruck ,Erkenntnis' als Erfolgswort, und Falschheit oder Irrtum bedeuten Misserfolg. Der Erfolgscharakter des Ausdrucks ,Erkenntnis' kommt zum Ausdruck, wenn man sich die Definition"" ansieht, die der Brockhaus vorschlägt. D o r t heißt es: Erkenntnis ist „die Einsicht in einen Sachverhalt". 2 Ein Sachverhalt ist dabei ein Zustand der Welt, etwas, was der Fall ist, eine Tatsache. Also: Dass dieses Buch eine Einführung in die Erkenntnistheorie ist, dass dieses Buch im Jahr 2008 erschienen ist, dass der Autor dieses Buches in Kiel geboren wurde usw. Wenn man solche Sachverhalte einsieht, dann erfasst man sie. Mit anderen Worten: Man befindet sich in einem kognitiven Zustand, der einen Sachverhalt der Welt trifft oder, anders formuliert, wahr ist. D e r Vorschlag des Brockhauses lautet also, etwas umformuliert:

(2) Erkenntnis ist eine wahre

Überzeugung.

Das klingt sehr viel besser als der erste Vorschlag, denn man möchte sagen: Erkenntnis gibt es nur von etwas, das existiert. Wenn wir uns täuschen, dann handelt es sich eben gerade nicht um eine Erkenntnis, sondern um einen Irrtum. D o c h auch der zweite Vorschlag stößt schnell an seine Grenzen. Stellen Sie sich die folgende Situation vor: Sie sitzen als Studentin oder Student vor einem multiple choice Test und stoßen auf eine Frage, die Sie nicht beantworten können. Eigentlich müssten Sie passen, aber da eine der drei angegebenen Antwortmöglichkeiten richtig sein muss, raten Sie einfach. U n d siehe da, Sie liegen glücklicherweise richtig! In diesem Fall hätten Sie eine wahre Uberzeugung, 3 aber würden Sie wirklich sagen, dass Sie die Sache ,erkannt' haben? Diese Frage ist natürlich nur rhetorisch. Selbstverständlich würden wir hier nicht von einer E r kenntnis sprechen, denn Sie hätten die Wahrheit eben nur zu-

2 3

Enzyklopädie 1968, S. 669. Streng genommen fehlt beim Raten die subjektive Gewissheit der Wahrheit, die erforderlich ist, damit eine echte Uberzeugung vorliegt.

4

Einführung

fällig erzielt. Um diesen Fall auszuschließen, muss der zweite Vorschlag etwas modifiziert werden: (3) Erkenntnis ist eine nicht-zufällig

wahre

Überzeugung.

Um diesen dritten Vorschlag zu prüfen, stellen Sie sich eine weitere Situation vor. Sie verwenden ein perfekt funktionierendes Instrument (sagen wir: ein zuverlässiges Thermometer) und glauben, was immer dieses Instrument anzeigt. In diesem Fall ist die Wahrheit Ihrer Überzeugungen nicht mehr zufällig, denn das Instrument zeigt immer korrekt an. Aber Sie haben keinerlei Gründe, die für die Korrektheit des Instruments sprechen. Dann ist die Wahrheit Ihrer Uberzeugungen aus Ihrer eigenen Perspektive immer noch zufällig. Würden Sie dann von einer ,Erkenntnis' sprechen? Wenn Ihre Antwort ,nein' lautet, dann liegt jetzt auf der Hand, was noch zur Erkenntnis fehlt: die Gründe oder, etwas allgemeiner gesprochen, die Rechtfertigung Ihrer Uberzeugung. Damit liegt die folgende Definition von Erkenntnis nahe: (4) Erkenntnis ist gerechtfertigte,

wahre

Uberzeugung.

Obwohl auch dieser Definitionsvorschlag bestenfalls als vorläufig betrachtet werden kann, soll hier die Analyse erst einmal enden. Es ist jetzt etwas deutlicher geworden, was das Thema der Erkenntnistheorie ist: gerechtfertigte, wahre Uberzeugung. Das galt spätestens seit Piatons Dialog Menon (wo es um die Lehrbarkeit von Wissen geht) als die Standarddefinition von Wissen (griech.: episteme). Wir können also sagen, dass es in der Erkenntnistheorie um Wissen geht. Deshalb lautet die englische Ubersetzung von ,Erkenntnistheorie' auch ,theory of knowledge' oder ,epistemology'. Und mit dem Wissen geht es zugleich um Wahrheit und um Rechtfertigung - die Komponenten des Wissens.

Die Grundfragen der Erkenntnistheorie

5

1.2 Die Grundfragen der Erkenntnistheorie Die noch relativ grobe und vorläufige Analyse des Erkenntnisbegriffs hat zum Ergebnis, dass das Thema der Erkenntnistheorie Wissen ist und mit ihm Wahrheit und Rechtfertigung. Doch welche spezifischen Fragestellungen verfolgt die Erkenntnistheorie in Hinblick auf das Wissen? Selbstverständlich geht es auch in den Einzelwissenschaften (wie Physik, Chemie, Biologie, aber auch Psychologie, Germanistik und Geschichte) um Wissen. Diese Disziplinen liefern Wissen über ihre jeweiligen Bereiche, wenn alles gut geht. Und jeder, der in diesen Bereichen Wissen erwerben will, ist gut beraten, sich an diese Wissenschaften zu halten. Aber die meisten dieser Einzelwissenschaften machen Wissen oder Erkenntnis nicht eigens zum Thema ihrer Forschung. Darin unterscheidet sich die Erkenntnistheorie von ihnen. Ihr geht es um Wissen über das Wissen. Das ist ein Merkmal der Erkenntnistheorie. Aber es ist noch nicht ausreichend, um sie von allen Einzelwissenschaften abzugrenzen. Wenn Sie aufmerksam gelesen haben, dann wird Ihnen aufgefallen sein, dass es eben hieß: „Die meisten Einzelwissenschaften machen Wissen nicht zum Thema ihrer Forschung." Es gibt also doch einige, die es tun. Hier muss man vor allem an drei Disziplinen denken: Erstens die Kognitionswissenschaften (zu denen die Neurowissenschaft, die kognitive Psychologie und die Künstliche-Intelligenz-Forschung gehören), zweitens die Evolutionsbiologie und drittens die Sozialwissenschaften. Sehen wir uns etwas genauer an, auf welche Weise diese Disziplinen Erkenntnis oder Wissen zu ihrem Thema machen. Zunächst die Kognitionswissenschaftem In diesen geht es primär darum, wie Menschen tatsächlich wahrnehmen und denken, um die neurophysiologische Realisierung"' dieser kognitiven Prozesse im Gehirn und darum, künstliche Systeme zu entwickeln, die wahrnehmen und denken können. Thema sind also eigentlich, wie der Begriff bereits sagt, kognitive Zustände und Prozesse und nicht Wissen als solches. Die Wahrheit der Kognitionen, die für Wissen unverzichtbar ist,

6

Einführung

spielt hier bestenfalls eine untergeordnete Rolle. Wie ist es mit der Evolutionsbiologie? Hier geht es tatsächlich um Wissen, zumindest im Sinne von nicht-zufällig wahrer Uberzeugung. Die These ist, dass Wissen einen Uberlebenswert hat und deshalb einen selektiven Vorteil in der evolutionären Geschichte gewährt. Gegenstand sind also die kausalen Konsequenzen von Wissen. Die Sozialwissenschaften thematisieren die besonderen Strukturen der Wissensgesellschaft und, wenn man die Sozialund Wissenschaftsgeschichte hinzuzählt, wie sich das Wissenschaftsverständnis oder der Wissenschaftsbetrieb historisch verändert haben. Hier stehen die Beschreibung und Erklärung der gesellschaftlichen Funktion des Wissens und die Beschreibung und Erklärung gesellschaftlich anerkannter Wissensmaßstäbe im Vordergrund. Sofern die Einzelwissenschaften also Wissen überhaupt thematisieren, tun sie es nur in Hinblick auf seine kausalen Wirkungen oder das historisch sich wandelnde Wissensverständnis bestimmter Epochen und Traditionen. Die Erkenntnistheorie interessiert dagegen etwas ganz anderes am Wissen. Sie möchte erstens klären, was Wissen (bzw. Erkenntnis) seiner Natur nach eigentlich ist. Sie möchte also die klassische sokratische „Was ist X-Frage" in Bezug auf Wissen beantworten. In dieser Richtung haben wir vorhin schon einige vorsichtige Schritte unternommen und gesehen, dass es keine einfache Sache ist. Es kommen wichtige Komponenten wie Wahrheit und Rechtfertigung ins Spiel, die ihrerseits einer Klärung bedürfen. Die Erkenntnistheorie untersucht also auch, was Wahrheit und was Rechtfertigung ist. Und sie sollte untersuchen, in welchem Verhältnis die Komponenten zueinander stehen. Ist Wissen ein Ziel? Oder ist das primäre Ziel die Wahrheit und Rechtfertigung nur ein Mittel dazu? Und in welchem Verhältnis stehen diese Ziele zum Ziel des praktischen Erfolgs? Diesen ganzen Fragenkomplex zähle ich zu der analytischen Aufgabe der Erkenntnistheorie - der Analyse und Klärung erkenntnistheoretischer Kategorien und ihrer Verhältnisse untereinander.

Die Grundfragen der Erkenntnistheorie

7

Darin erschöpfen sich die Aufgaben der Erkenntnistheorie jedoch nicht. Sobald die Natur der erkenntnistheoretischen Grundkategorien geklärt ist (also feststeht, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit Wissen, Wahrheit und Rechtfertigung vorliegen), kann die Erkenntnistheorie ihrer evaluativen oder normativen Aufgabe nachgehen. Sie kann untersuchen, ob die Methoden und Verfahren, mit denen Menschen im Allgemeinen ihre Uberzeugungen bilden und verteidigen, den Bedingungen entsprechen, die die Analyse der erkenntnistheoretischen Grundkategorien ergeben hat.4 Sie bewertet also das menschliche Erkenntnisvermögen und beschreibt nicht nur unsere tatsächlichen Verfahrensweisen (wie beispielsweise die Wissenschaftsgeschichte). Zu einer solchen Bewertung gehört natürlich auch eine Beschreibung dieser Verfahren, aber sie alleine kann nicht genügen, um die normative Aufgabe zu erfüllen. In diesen Bereich fallen u.a. die folgenden Fragen: Auf welche Weise und durch welche Quellen können wir Wissen erwerben? Also: Beruht Wissen allein auf Erfahrung (wie der Empirismus meint) oder gibt es auch Wissen aus Vernunft (wie Rationalisten glauben). Wie sieht die korrekte Struktur der Rechtfertigung aus? Also: Beginnt jede angemessene Rechtfertigung mit fundamentalen Gründen (wie der Fundamentalismus meint) oder stützen sich unsere Gründe wechselseitig in einem großen Netz (wie Kohärenztheoretiker behaupten)? Welchen Umfang und welche Grenzen hat das menschliche Wissen? Und, radikaler gefragt, gibt es überhaupt Wissen bzw. gerechtfertigte Uberzeugungen (was der Skeptizismus ja bezweifelt)? Schließlich muss die Erkenntnistheorie auch der Frage nachgehen, ob wir in der Lage sind, unsere Erkenntnisfähigkeiten zu verbessern (z.B. durch geeignetere Methoden). Kurz: Im Rahmen der normativen Aufgabe der Erkenntnistheorie geht es um die Bewertung der Quellen, der Struktur und des Umfangs menschlichen Wissens und menschlicher Rechtfertigung. 4

An dieser Stelle wird bereits deutlich, dass die analytische Aufgabe der Erkenntnistheorie ihrer normativen Aufgabe methodisch vorgelagert ist.

8

Einführung

Grundfragen der Erkenntnistheorie Analytische Fragen (1) Was ist Wahrheit? (2) Was ist Wissen? (3) Was ist Rechtfertigung? Normative Fragen (1) Welche Quellen hat unser Wissen? (2) Welche allgemeine Struktur hat unsere Rechtfertigung? (3) Was können wir wissen? (Umfang und Grenzen menschlichen Wissens)

1.3 Erkenntnistheorie als philosophische Disziplin Jetzt dürfte klar geworden sein, worin das Eigentümliche der Erkenntnistheorie gegenüber den Einzelwissenschaften liegt. Die Erkenntnistheorie hat ganz spezifische Aufgaben: die Analyse von Kategorien, die mit Wissen zu tun haben, und eine ganz allgemeine Bewertung menschlicher Methoden in Hinblick auf diese Kategorien. Diese Aufgaben werden von keiner Einzelwissenschaft wahrgenommen. Die entscheidende Frage, die sich anschließt und die gegenwärtig die Erkenntnistheoretiker besonders beschäftigt, ist die Frage, ob es auch besondere Methoden gibt, die die Erkenntnistheorie als philosophische Disziplin gegenüber empirischen Wissenschaften auszeichnet. Der methodische Naturalismus bestreitet das.5 Dieser Natura5

Während der methodische Naturalismus die erkenntnistheoretische These vertritt, dass nur die empirischen Methoden der Wissenschaften Erkenntnisse hervorbringen, behauptet der ontologische Naturalismus, dass alles, was existiert, in der natürlichen raum-zeitlichen Welt existiert. Quine ist der paradigmatische Vertreter beider Arten von Naturalismus gewesen. Vgl. zur Unterscheidung verschiedener Arten von

Erkenntnistheorie als philosophische Disziplin

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lismus vertritt die Auffassung, dass die erkenntnistheoretischen Fragestellungen mit Hilfe genau derselben empirischen Methoden beantwortet werden können wie die Fragestellungen der Einzelwissenschaften. Gibt es Gründe, die dafür sprechen, an der Idee e 'mer philosophischen Erkenntnistheorie, die nicht auf empirische Wissenschaften reduziert werden kann, weiter festzuhalten? Betrachten Sie zunächst die analytischen Aufgaben der Erkenntnistheorie. Erkenntnistheoretiker wollen herausbekommen, was Wissen, Wahrheit und Rechtfertigung sind. Sie wollen die Natur dieser Grundbegriffe besser verstehen. Als Naturalisten müssten sie diese Fragen genauso verstehen wie z.B. die Frage, was Aluminium ist.6 Wer auch immer das Letztere wissen will, wird sich einfach ein Stück Aluminium nehmen und es mit Hilfe empirischer Methoden auf seine innere Struktur hin untersuchen. In diesem Fall wäre es unsinnig, sich der Natur der Sache durch eine Begriffsanalyse anzunähern. Unser Begriff „Aluminium" enthält im besten Fall nicht viel Wissenswertes über den Stoff; im schlechtesten Fall ist er sogar irreführend. 7 Wissen und andere erkenntnistheoretische Begriffe können wir jedoch nicht so wie Aluminium untersuchen. Hier gibt es einfach keine exemplarischen (so genannt e paradigmatische) Fälle. Wir dürfen nicht einfach davon ausgehen, dass irgendeiner der Fälle, auf den der Wissensbegriff angewandt wird, dessen Bedingungen tatsächlich erfüllt. Wir könnten uns schließlich täuschen und nur glauben, dass Wissen vorliegt. Ansonsten würden wir die Möglichkeit skeptischer Irrtumssituationen von vornhe-

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Naturalismus Goldman 1994. Allgemein z u m Naturalismus in der Erkenntnistheorie Kornblith 1994, Kitcher 1992 und Koppelberg 2000. Ganz in diesem Sinne versteht Kornblith 1995 die Frage nach der Natur des Wissens. Für ein Metall wie Gold ist das noch offenkundiger. Kompetente Sprecher neigen zu der Auffassung, dass zu ihrem Begriff von Gold gehört, dass Gold gelb ist. Tatsächlich aber beruht die gelbe Farbe des Goldes in der Regel auf geringfügigen Kupferbeimengungen in den mineralogischen Goldvorkommen.

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Einführung

rein ausschließen. Die Untersuchung des Aluminiums kann tatsächlich ergeben, dass unser Alltagsverständnis seiner wesentlichen Eigenschaften falsch war. Aber wir können uns nicht vorstellen, dass wir aufgrund einer Untersuchung der exemplarischen Fälle des Wissens zu der Auffassung kommen, dass zur Natur des Wissens Wahrheit nicht hinzu gehört. Läge in den untersuchten Fällen keine Wahrheit vor, dann wären es eben keine Fälle von Wissen. Es ist deshalb unvermeidlich, dass wir zunächst die Bedingungen analysieren, die erfüllt sein müssen, damit ein Fall von Wissen vorliegt, bevor wir beurteilen können, in welchen Fällen Wissen tatsächlich vorliegt. Der einzig gangbare Weg scheint die Begriffsanalyse zu sein. Eine philosophische Begriffsanalyse besteht nun nicht einfach darin, dass man im Duden nachschaut, was das fragliche Wort bedeutet. Philosophische Begriffsanalyse besteht auch nicht darin, empirische Untersuchungen über den Sprachgebrauch anzustellen, wie ihre Kritiker manchmal verächtlich unterstellen. Um einen Begriff philosophisch zu analysieren, muss man hypothetisch konstruierte Situationen daraufhin untersuchen, ob man geneigt ist, den Begriff auf diese Situationen anzuwenden oder nicht. Durch eine geschickte Wahl der von der Wirklichkeit oft sehr weit abweichenden und bizarren Szenarien kann man verschiedene notwendige"" und zusammen hinreichende"" Bedingungen für die Anwendung des Begriffs herausbekommen und so zu einer Definition gelangen. 8 Eine Begriffsanalyse in diesem Sinne kann informativ sein, weil unsere Begriffsverwendung nicht von einer expliziten Vorstellung der Anwen-

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Immer wieder hört man den Einwand, dass man einen Begriff doch so definieren könne, wie man wolle. Wenn eine Definition auf einer willkürlichen Entscheidung beruhe, könne sie jedoch keinen Erkenntniswert haben. Dieser Einwand übersieht den Unterschied zwischen stipulativen Definitionen, die tatsächlich die Bedeutung eines Wortes neu festlegen und deshalb weder wahr noch falsch sein können, und explikativen Definitionen, die einen bereits existierenden Begriff analysieren und in Bezug auf ihn wahr oder falsch sein können.

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dungsbedingungen gesteuert wird. 9 Die Fähigkeit, Worte zu verwenden, beruht vielmehr auf einer Art praktischem Können, einem know how, wie der späte Wittgenstein in seinen Philosophischen Untersuchungen gezeigt hat.10 Bei der Begriffsanalyse handelt es sich nicht um eine Methode der empirischen Wissenschaften, sondern um so etwas wie LehnstuhlPhilosophie - also Philosophie, die man ohne Kenntnis der Welt im eigenen Studierzimmer betreiben kann. Sie ist deshalb eine eminent philosophische Aufgabe. Ein zweites Argument* gegen den methodischen Naturalismus lautet wie folgt: Wenn wir die normativen Aufgaben der Erkenntnistheorie betrachten, dann soll bewertet werden, ob die Methoden, die Menschen verwenden, um Erkenntnis zu erwerben, gut und erfolgreich sind oder nicht. Wenn wir jedoch die empirischen Methoden der Erkenntnis gewinnung untersuchen und dies mit Hilfe empirischer Methoden tun (wie der Naturalismus empfiehlt), dann ergibt sich ein Zirkel. In unserer Untersuchung müssen wir den Erfolg genau jener Methoden voraussetzen, deren Qualität wir gerade erst untersuchen wollen. Die Erkenntnistheorie sollte die Sache jedoch nicht als vorentschieden betrachten, sondern die Methoden, die sie untersucht, kritisch hinterfragen. Deshalb sollte die Erkenntnistheorie ihre Bewertung von einem unabhängigen, wenn nicht gar voraussetzungslosen Standpunkt unternehmen. Das Problem lässt sich besonders gut anhand der Auseinandersetzung mit dem Skeptizismus veranschaulichen. Dazu eine kleine skeptische Geschichte: 9 10

In diesem Sinne auch Peacocke 1998. Das so genannte Paradox der Analyse ist deshalb ein bloßes Scheinproblem. Diesem Paradox zufolge ist jede Analyse überflüssig, weil wir bereits die richtige Bedeutung des zu analysierenden Begriffs kennen müssen, um einzelne Definitionsvorschläge bewerten zu können. Tatsächlich überprüfen wir die Definitionsvorschläge jedoch induktiv anhand unserer Urteile über tatsächliche und mögliche Einzelfälle; und zu solchen Urteilen sind wir auch ohne die explizite Kenntnis der notwendigen und hinreichenden Bedingungen für die Begriffsanwendung in der Lage. Vgl. dazu Smith 1994, S. 37-39.

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Einführung Alles fing an diesem kalten Mittwochabend an. Ich saß allein in meinem Büro herum und beobachtete, wie der Regen draußen auf die verlassenen Straßen prasselte, als plötzlich das Telefon klingelte. Harrys Frau war am Apparat und sie klang verängstigt. Sie hätten alleine in ihrer Wohnung zu Abend gegessen, als plötzlich ihre Wohnungstür aufgebrochen wurde und sechs vermummte Männer hereinplatzten. Die Männer waren bewaffnet und zwangen Harry und Anne, sich mit dem Gesicht auf den Boden zu legen, während sie Harrys Taschen durchwühlten. Als sie seinen Führerschein gefunden hatten, sah sich einer von ihnen aufmerksam Harrys Gesicht an, verglich es mit dem offiziellen Foto und murmelte: „Alles klar; er ist's." Der Anführer der Einbrecher verabreichte Harry eine Injektion mit einem Mittel, das ihm im Handumdrehen das Bewusstsein raubte. Aus irgendeinem Grund fesselten und knebelten sie nur Anne. Zwei der Männer verließen den Raum und kehrten mit einer Bahre und weißen Kitteln zurück. Sie legten Harry auf die Bahre, zogen die weißen Kittel an und rollten ihn aus der Wohnung. Anne ließen sie auf dem Boden zurück. Sie schaffte es, sich zum Fenster zu robben, um gerade noch zu sehen, dass sie Harry in einen Krankenwagen schoben und davon fuhren. Als Anne mich anrief, war sie vollkommen aufgelöst. Es hatte Stunden gedauert, bis sie sich von ihren Fesseln befreit hatte. Dann rief sie die Polizei. Zu ihrer Überraschung kamen statt eines uniformierten Beamten zwei Männer in Zivil und, ohne sich den Tatort überhaupt nur anzusehen, teilten sie ihr mit, dass sie nichts tun könnten und dass sie besser den Mund halten solle. Sollte sie auch nur den leisesten Versuch unternehmen, der Sache nachzugehen, würden sie sie für verrückt erklären und ihren Mann würde sie dann niemals wieder sehen. Da sie keinen anderen Ausweg wusste, rief Anne mich an. Sie war geistesgegenwärtig genug gewesen, um sich das Kennzeichen des Krankenwagens zu merken und so war es für mich nicht schwer, ihn bis zu einer Privatklinik am Stadtrand zurückzuverfolgen. Als ich dort ankam, war die Klinik erstaunlicherweise wie eine Festung verbarrikadiert. Es gab Wachleute am Eingang und eine große Mauer rundherum. Meine gute Ausbildung erlaubte es mir, die immerhin 6 Meter hohe Mauer mit Stacheldraht zu überwinden und die Wachhunde auf der anderen Seite ruhig zu halten. Die Fenster im Erdgeschoss waren alle verrammelt, aber ich schaffte es irgendwie, an einer Regenrinne hochzuklettern und durch ein Fenster im zweiten Stock, das jemand offen gelassen hatte, einzudringen. Ich fand mich in einem Laboratorium wieder. Als ich ein Flüstern im Nebenraum hörte, sah ich durch das Schlüsselloch und entdeckte einen kompletten Operationssaal, in dem ein Team von Chirurgen an Harry herumhantierte. Er war mit einem Tuch vom Hals abwärts zugedeckt und sie schienen ihn an irgendwel-

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che Röhren und Drähte anzuschließen. Ich stieß einen stummen Schrei aus, als ich bemerkte, dass sie Harrys Schädeldecke entfernt hatten. Zu meiner großen Bestürzung fasste einer der Chirurgen in Harrys offenen Schädel hinein, holte sein Gehirn heraus und legte es in eine verchromte Metallschüssel. Die Röhren und Drähte, die ich zuvor bemerkt hatte, waren an das nunmehr körperlose Gehirn angeschlossen. Die Chirurgen trugen die blutige Masse vorsichtig zu einem Gefäß hinüber, in das sie sie legten. Mein erster Gedanke war, dass ich in eine Versammlung futuristischer Satanisten hineingeraten war, die sich irgendeinen Kick von einer Vivisektion versprachen. Dann dachte ich jedoch daran, dass Harry Versicherungsagent war. Vielleicht war dies ihre Rache für die Erhöhung der Raten für eine Versicherung, die für Schäden durch Kunstfehler aufkam. Wenn sie so etwas jeden Mittwochabend trieben, dann waren die Raten sicher nicht höher, als sie sein sollten. Meine Spekulationen wurden abrupt unterbrochen, als das Licht in meinem Versteck anging und ich mich der Furcht einflößendsten Gruppe von Medizinern gegenüber sah, die ich je in meinem Leben gesehen hatte. Sie verfrachteten mich gewaltsam in das Nachbarzimmer und legten mich auf den Operationstisch. Ich dachte in diesem Moment: „Oh, jetzt ist s vorbei mit mir." Die Arzte steckten in der anderen Ecke des Zimmers die Köpfe zusammen, aber ich konnte meinen Kopf nicht so weit herumdrehen, dass ich sehen konnte, was genau sie dort taten. Sie tuschelten miteinander; sicher berieten sie über mein Schicksal. Plötzlich öffnete sich eine Tür und ich hörte die Stimme einer Frau. Das veränderte Verhalten der medizinischen Bösewichte machte auf einen Schlag deutlich, wer hier der Chef war. Ich versuchte mit aller Kraft einen Blick auf diese geheimnisvolle Frau zu werfen, aber sie entzog sich meinen Blicken. Dann aber kam sie zu meiner Überraschung zu mir herüber, beugte sich über mich und ich stellte fest, dass es meine Sekretärin Margot war. Ich fing an zu bedauern, dass ich ihr kein Weihnachtsgeld gezahlt hatte. Ohne Zweifel, es war Margot, aber eine ganz andere Margot, als ich sie kannte. Als sie sich so über mich beugte, strömte sie eine unglaubliche Autorität aus. „Also Mike, Du dachtest, dass Du so clever warst, als Du Harry hier in diese Klinik gefolgt bist", sagte sie. Selbst jetzt war ihre Stimme erregender, als ich es je sonst erlebt hatte. Aber das war es nicht, was mich beschäftigte. Sie fuhr fort: „Das war alles nur ein Trick, um Dich herzulocken. Du hast gesehen, was mit Harry passiert ist. Er ist nicht wirklich tot, wie Du weißt. Diese Gentlemen hier sind die derzeit besten Neurowissenschaftler der Welt. Sie haben ein chirurgisches Verfahren entwickelt, mit dem sie das Gehirn vom Körper trennen, aber in einem Behälter mit Nährflüssigkeit am Leben erhalten können. Das Ministerium für Nahrungs- und Arzneimittel würde das Verfahren

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Einführung sicher nicht gutheißen, aber wir werden es ihnen noch beweisen. Siehst Du all die Drähte, die zu Harrys Gehirn führen? Sie schließen ihn an einen leistungsstarken Computer an. Der Computer zeichnet den Output seines motorischen Kortex auf und liefert einen solchen Input an seinen sensorischen Kortex, dass alles für Harry ganz normal aussieht. Er simuliert eine Erfahrungswelt, die so perfekt zu dem passt, was er früher erlebt hat, dass er gar nicht bemerkt, dass irgendetwas mit ihm passiert ist. Gerade glaubt er, dass er sich rasiert und sich fertig macht, um ins Büro zu gehen (...). Aber tatsächlich ist er nur ein Gehirn im Tank. „Sobald wir unser Verfahren perfektioniert haben, werden wir uns noch einmal an den Chef des Ministeriums für Nahrungs- und Arzneimittel wenden. Aber zunächst brauchen wir einige Versuchspersonen. Mit Harry war es ein leichtes Spiel. Um unser Computerprogramm wirklich ernsthaft zu testen, brauchen wir jemanden, der ein interessanteres und vielseitigeres Leben führt - jemanden wie Dich!" Ich begann zu schreien. Die Chirurgen hatten sich um mich herum versammelt und sahen mich mit einem bösartigen Glanz in ihren Augen an. Der größte Schurke, ein Mann mit einem pockennarbigen Gesicht und einem einzigen Auge, das unter dem fettigen schwarzen Haar hervorstach, spielte mit einem rasiermesserscharfen Skalpell in seinen blutigen Händen herum und sah so aus, als ob er seine Begeisterung kaum zügeln konnte. Aber Margot grinste mich nur an und flüsterte mit dieser unglaublichen Stimme: „Ich wette, Du denkst jetzt, dass wir Dich gleich operieren und Dein Gehirn herausholen, genauso wie wir es mit Harry getan haben. Stimmt's? Aber Du brauchst keine Angst haben. Wir werden Dein Gehirn nicht entfernen. Wir haben es nämlich bereits getan - und zwar vor drei Monaten!" Damit ließen sie mich gehen. Wie im Nebel bin ich in mein Büro zurückgekehrt. Aus gutem Grund habe ich niemandem von dieser Geschichte erzählt. Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Mich quält der Gedanke, dass ich wirklich ein Gehirn im Tank sein könnte und dass alles, was ich um mich herum sehe, die bloße Simulation eines Computers sein könnte. Woher soll ich es wissen? Wenn das Computerprogramm wirklich funktioniert, dann wird alles ganz normal aussehen, egal was ich tue. Vielleicht ist nichts von dem wirklich, was ich sehe. Das treibt mich in den Wahnsinn. Ich habe mir sogar schon überlegt, mich freiwillig in die Klinik zurück zu begeben und sie zu bitten, mein Gehirn herauszunehmen. Dann wenigstens könnte ich sicher sein.11

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Pollock 1986, S. 1-3.

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Was ist Mikes Problem? Es könnte sein, dass er tatsächlich schon seit Monaten das trübsinnige Dasein eines Gehirns im Tank fristet und dies auf grausame Weise durch eine entsprechende Manipulation seiner Erfahrungen seitens seiner Peiniger soeben erfahren hat. Es könnte aber auch sein, dass sich die Szene tatsächlich so abgespielt hat, wie er sie gerade erlebt hat, und dass seine Sekretärin mit ihm nur ein böses Spiel treibt, um sich dafür zu rächen, dass er ihr kein Weihnachtsgeld gezahlt hat. Sie hätte Mike dann nur in eine Situation gelockt, in der sie ihm etwas vorspielt und ihn anlügt. Oder es könnte am Ende alles (einschließlich der Szene in der Klinik) nur ein makaberer, aber sehr lebendiger Traum gewesen sein. Mike kann es nicht entscheiden und es gibt auch keine Möglichkeit, die Sache irgendwie zu klären. Das ist das Perfide daran. In allen drei Szenarien sind seine Erfahrungen genau dieselben. Er kann also aufgrund seiner Erfahrungen nicht entscheiden, welches dieser Szenarien zutrifft. Nun ist es nur noch ein kleiner Schritt hin zu der These, dass wir uns im Grunde alle fortwährend in der Situation Mikes befinden. Wir brauchen ja gar keine empirischen Gründe (wie Mikes Margot-Episode), die uns nahelegen, dass wir uns in einer skeptischen Situation befinden. Es genügt, wenn wir erkennen, dass immer alternative Interpretationen unserer Erfahrung vorstellbar sind, die empirisch äquivalent mit unserer üblichen Interpretation sind, um die Berechtigung dieser Interpretation in Frage zu stellen. In allen alternativen Situationen würden wir exakt dieselben Erfahrungen machen, die wir tatsächlich machen. Dann nämlich erkennen wir, dass wir keinen empirischen Grund haben, die übliche Interpretation einer dieser Alternativen vorzuziehen. Ubertragen wir den Fall jetzt auf die naturalistische Erkenntnistheorie. Wir wollen unsere empirischen Methoden daraufhin beurteilen, ob sie erfolgreich sind oder nicht. Erfolgreich wären sie dann, wenn sie häufig wahre Uberzeugungen oder sogar Wissen hervorbringen. Der Naturalist verwendet dazu eben diese empirischen Methoden. Nehmen wir an, wir kommen mit Hilfe dieser Methoden zu dem Ergebnis, dass die

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empirischen Methoden erfolgreich sind. Kann uns dieses Ergebnis etwas nützen? Nun, wenn die Methoden tatsächlich nicht erfolgreich wären, könnte ihre Verwendung dennoch zu dem Ergebnis führen, dass sie erfolgreich sind. Genauso wie Mikes Wahrnehmung selbst dann bestätigen würde, dass er kein Gehirn im Tank ist, sondern frei herumläuft, wenn er ein entsprechend manipuliertes Gehirn im Tank wäre. Spätestens an diesem Punkt wird das Problem der naturalisierten Erkenntnistheorie deutlich: Die Qualität ihrer Bewertung unserer Methoden hängt von der fraglichen Qualität der von ihr bewerteten Methoden ab, und das ist zumindest misslich. Es gibt also zumindest zwei Argumente dafür, dass Erkenntnistheorie eine philosophische Disziplin ist. Das erste lautet: Was Erkenntnis, Wissen, Wahrheit und Rechtfertigung wirklich sind, können wir nicht durch empirische Untersuchungen herausbekommen, sondern müssen es auf dem Wege einer Begriffsanalyse klären. Das zweite Argument macht auf den Mangel einer empirischen Bewertung empirischer Methoden aufmerksam. Eine solche Bewertung wäre epistemisch zirkulär"".12

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Die hier angesprochene Zirkularität ist anderer Natur als ein logischer Zirkel. In einem logischen Zirkel tritt die Konklusion explizit unter den Prämissen eines Arguments auf. Das beeinträchtigt nicht die Gültigkeit eines Arguments, denn in jeder Welt, in der ,p' wahr ist, ist ,p' wahr. Aber logisch zirkuläre Argumente sind erkenntnistheoretisch wertlos. Denn entweder wissen wir bereits von p, dann ist das Argument für ρ überflüssig, oder wir wissen noch nicht von p, dann können wir durch ein Argument, in dem ρ eine der Prämissen ist, auch kein Wissen von ρ erwerben. Ein epistemischer Zirkel liegt dagegen vor, wenn die Rechtfertigung der Prämissen eines Arguments die Wahrheit der Konklusion voraussetzt. Dieser Fall tritt z.B. ein, wenn ich für die Zuverlässigkeit meiner Wahrnehmung mit Hilfe von Tatsachen argumentiere, die ich wahrgenommen habe. Ob eine epistemisch zirkuläre Argumentation genauso erkenntnistheoretisch wertlos ist wie ein logisch zirkuläres Argument, wird an anderem Ort in diesem Buch noch genauer untersucht werden. Vgl. S. 445-450.

Ist Erkenntnistheorie überhaupt möglich?

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1.4 Ist Erkenntnistheorie überhaupt möglich? Seit den Anfängen der Philosophie in der Antike ist immer wieder daran gezweifelt worden, ob so etwas wie Erkenntnistheorie überhaupt möglich ist. Ein prinzipieller Einwand gegen die Möglichkeit einer normativen Erkenntnistheorie ist das Problem des Kriteriumsdas erstmals bei dem antiken Skeptiker Sextus Empiricus in Erscheinung tritt.13 Als Kriterium wird von ihm ein Maßstab, man könnte auch sagen: eine Methode, bezeichnet, die es uns erlaubt, über die Wahrheit und Falschheit unserer Urteile zu entscheiden. Die Erkenntnistheorie soll nun — gewissermaßen von einem übergeordneten Standpunkt aus - darüber entscheiden, was ein gutes Kriterium zur Unterscheidung von wahren und falschen Urteilen ist. Das entspricht in etwa der These, dass die Erkenntnistheorie bewerten soll, welche Methoden erfolgreiche Mittel der Erkenntnisgewinnung sind. Nun kann die Erkenntnistheorie natürlich nicht ohne eigenes Kriterium (ohne eigene Methode) funktionieren. Entweder verwendet sie also dasselbe Kriterium, über das sie entscheiden soll (und dann tritt der epistemische Zirkel auf, den die Erkenntnistheorie ja gerade vermeiden will), oder sie verwendet ein anderes Kriterium (eine eigene philosophische Methode), doch dann stellt sich die Frage, ob dieses Kriterium gut ist, und dazu bedarf es eines weiteren Kriteriums und so ad infinitum. Erkenntnistheorie erscheint also als unmöglich, weil sie entweder zirkulär verfährt oder in einen Regress immer höherstufigerer Kriterien mündet oder einfach dogmatisch"" ohne weitere Begründung an irgendeiner Stelle abbricht. Anders formuliert: Wenn die Erkenntnistheorie voraussetzungslos die Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt begründen will, dann ist sie offensichtlich unmöglich, da sie selbst

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Empiricus 1968, II. Buch, §§ 15-20. Dieses antike Problem wurde später immer wieder neu formuliert. Beispielsweise von Montaigne, Hegel und Leonard Nelson. Vgl. zur Darstellung des Problems auch Schnädelbach 2002, S. 19 ff.

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Einführung

auf irgendeiner Art von Methode beruhen muss, die sie bestenfalls zirkulär rechtfertigen kann. Keiner hat dieses Problem so prägnant formuliert wie Hegel in seiner Enzyklopädie der Wissenschaften mit Bezug auf Kants Erkenntnistheorie. Dort heißt es: Sie [die Philosophie Kants] wird auch kritische Philosophie genannt, indem ihr Zweck zunächst ist (...), eine Kritik des Erkenntnisvermögens zu sein. Vor dem Erkennen muss man das Erkenntnisvermögen untersuchen. Das ist dem Menschenverstand plausibel, ein Fund für den gesunden Menschenverstand. ( . . . ) Das Erkenntnisvermögen untersuchen heißt, es zu erkennen. D i e Forderung ist also diese: man soll das Erkenntnisvermögen erkennen, ehe man es erkennt; es ist dasselbe wie mit dem Schwimmenwollen, ehe man ins Wasser geht. 14

Das lässt sich auch umdrehen: Wenn eine philosophische Erkenntnistheorie möglich sein und zugleich alle Methoden der Erkenntnisgewinnung bewerten soll, dann kommt sie nicht umhin, an irgendeinem Punkt epistemisch zirkulär zu werden (d.h. in ihrer Bewertung diejenige Methode zu verwenden, um deren Bewertung es geht). Nur so scheint die Möglichkeit einer allgemeinen Erkenntnistheorie verteidigt werden zu können. Wenn das jedoch richtig ist, dann müssen wir auch den vorhin angeführten Einwand gegen die Naturalisierung der Erkenntnistheorie (der gerade auf dieser Zirkularität beruht) neu überdenken. Das Problem des Kriteriums ist, wenn man so will, das Totschlägerargument gegen jede Art von Erkenntnistheorie bis in die Gegenwart gewesen. Wer also am Sinn des ganzen Unternehmens festhalten möchte, muss auf dieses Problem eine Antwort haben.15 An die Seite des antiken Kriteriumsproblems hat sich in neuerer Zeit ein weiterer grundsätzlicher Einwand gegen die normative Erkenntnistheorie gesellt. Er lautet folgendermaßen: Die Erkenntnistheorie untersucht die kognitiven Vermö-

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Hegel 1982, S. 333f. Auf dieses Problem werde ich ausführlich im Abschnitt 6.3.4. und im Kapitel 8 eingehen.

Ist Erkenntnistheorie überhaupt möglich?

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gen, Quellen und Prozesse menschlicher Erkenntnis. Es geht dabei um Wahrnehmung, Introspektion"' oder Vernunft. Wenn die Erkenntnistheorie sich jedoch mit dem erkennenden Subjekt beschäftigt, dann ist sie streng genommen nichts anderes als kognitive Psychologie. Und diese kognitive Psychologie ist keine philosophische, sondern eine empirische Wissenschaft. Sie ist aber vor allem auch keine normative, sondern eine deskriptive Disziplin, die die psychischen Abläufe so beschreibt, wie sie sind. Dieser Punkt wurde von dem amerikanischen Philosophen W.V.O. Quine betont, als er sagte: „Erkenntnistheorie (...) wird zu einem Kapitel der Psychologie (.. .)."16 Richard Rorty bläst in dasselbe Horn: Die Frage ,Wie ist Erkenntnis möglich?' hätte (...) der Frage ,Wie sind Telefone möglich?' geglichen und soviel bedeutet wie ,Wie kann man etwas konstruieren, was das kann?' Eine physiologische Psychologie, nicht eine ,Erkenntnistheorie', wäre als der einzige legitime Nachfolger von De Anima und (Humes) Essay Concerning Human Understanding erschienen. 17

Aus der Perspektive Rortys hat Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft auch nichts anderes als Kognitionspsychologie betrieben, allerdings in Form einer höchst fragwürdigen „transzendentalen Psychologie" von einem Standpunkt apriorischer"' Vernunfterkenntnis. Wenn man diesen Psychologismus vermeiden möchte, dann bleibt als Alternative nur die Vertreibung des erkennenden Subjekts aus der Erkenntnistheorie übrig. Doch dann reduziert sich die Erkenntnistheorie auf reine Logik, Argumentationstheorie, Bedeutungstheorie oder formale Wissenschaftstheorie. Damit hat jedoch bereits ein grundlegender Themenwechsel stattgefunden.18 Die genannten Disziplinen mögen zwar philosophisch und normativ sein, aber sie wären keine legitimen Nachfolger der Erkenntnistheorie. Quine 1969, S. 82, in meiner Übersetzung. " Rorty 1981, S. 171. 18 Popper ist ein Befürworter einer solchen Erkenntnistheorie ohne erkennendes Subjekt. Vgl. Popper 1993, S. 109-157. 16

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Einführung

Was ist zu diesem Einwand zu sagen? Die Option einer Erkenntnistheorie ohne erkennendes Subjekt scheint keinen Sinn zu machen. Aber läuft eine Erkenntnistheorie mit erkennendem Subjekt automatisch darauf hinaus, dass die Erkenntnistheorie zur Psychologie wird? Zumindest folgt es nicht daraus. Es ist zwar offensichtlich wahr, dass einer Bewertung kognitiver Quellen des Menschen ihre Untersuchung durch die Psychologie vorangehen muss. Solange wir nämlich die tatsächlichen Quellen menschlicher Erkenntnis nicht kennen, gibt es auch nichts, was wir bewerten können. Das bedeutet jedoch nur, dass die Erkenntnistheorie sich auf deskriptive Erkenntnisse der Psychologie stützen muss, nicht jedoch, dass sie nichts eigenes mehr zu sagen hat. Offensichtlich erfolgt die normative Bewertung der menschlichen Erkenntnisquellen gerade nicht durch die Psychologie. Quine und Rorty zeigen also weniger, als sie zu zeigen meinen. Sie zeigen, dass eine autonome Erkenntnistheorie ohne Bezug zu den Kognitionswissenschaften nicht möglich ist. Insofern machen sie deutlich, dass ein traditionelles Verständnis von Erkenntnistheorie, wie es vor allem im Neukantianismus verwurzelt ist, nicht mehr haltbar ist. Der Neukantianer Rudolf Eisler schreibt 1907 in seiner Einführung in die Erkenntnistheorie: Erkenntnistheorie ist nicht Psychologie, ist nicht Anwendung von Psychologie, hat Psychologie nicht zur Grundlage, nicht zum Ausgangspunkt, ja nicht einmal als Hilfsmittel. (...) Die Psychologie, weit entfernt, zur Grundlage der Erkenntnistheorie dienen zu können, setzt schon diese Wissenschaft oder wenigstens die Geltung ihrer Sätze voraus, sie ist die Abhängige der Erkenntnistheorie. 19

Die von Eisler hier vertretene Autonomie der Erkenntnistheorie erweist sich angesichts der Relevanz psychologischer Erkenntnisse für die Erkenntnistheorie als problematisch. Insoweit wird man Quine und Rorty Recht geben müssen. Sie zeigen aber weder, dass es keine normative Bewertung der kognitiven Vermögen des Menschen geben kann, noch, dass 19

Eisler 1907, S. 9f.

Über den Stellenwert der Erkenntnistheorie in der Philosophie

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diese Bewertung nicht zu den bleibenden Aufgaben der Philosophie gehört.

1.5 Uber den Stellenwert der Erkenntnistheorie in der Philosophie Wenn sich die grundsätzlichen Einwände gegen die Möglichkeit der Erkenntnistheorie zurückweisen lassen, dann stellt sich als nächstes die Frage, welche Rolle die Erkenntnistheorie innerhalb der Philosophie spielt. Wir sind es heute gewohnt, verschiedene philosophische Disziplinen ziemlich streng zu unterscheiden. Üblich ist die Unterscheidung zwischen theoretischer Philosophie (zu der Logik, Metaphysik - oder Ontologie, Philosophie des Geistes, Sprachphilosophie, aber auch Erkenntnistheorie gezählt werden), praktischer Philosophie (Ethik, Politische Philosophie, Sozialphilosophie) und Ästhetik. Diese Unterscheidung war nicht immer üblich. Bei Piaton findet sich noch keine Spur von ihr. Erst seit Aristoteles ist eine systematische Untergliederung der Philosophie üblich geworden. Die Erkenntnistheorie ist ihrem Namen nach noch relativ jung. Erst nach Kant, d.h. seit Mitte des 19. Jahrhunderts, spricht man in der deutschsprachigen Philosophie von einer „Theorie der Erkenntnis", die dann unter dieser Bezeichnung vor allem im Neukantianismus besondere Beachtung gefunden hat.20 Der Sache nach wurde Erkenntnistheorie aber bereits seit den Anfängen der Philosophie in der griechischen Antike betrieben. Schon bei Piaton spielt die Frage nach einer Definition des Wissens im Menon und im Theaitetos eine wichtige Rolle. Und in der Politeia geht es neben der Gerechtigkeit auch um eine Rangordnung der Wissensformen und die Möglichkeit von Ideenwissen. Bei Aristoteles finden sich wichtige Überlegungen zur Wissenschaftstheorie (zur axiomatischen::" Me20

Zeller 1877, Vaihinger 1876, Rorty 1981, Kap. III.

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Einführung

thode und zur Induktion"') in den Analyticaposteriora und zur Wahrnehmungstheorie in De anima. Eine empiristische Erkenntnistheorie finden wir bei Epikur. Und vor allem die hellenistische Philosophie hat das Problem des Skeptizismus (akademische und phyrronische Skepsis) und die Möglichkeit unfehlbaren Wissens (Stoa) sehr beschäftigt. Dennoch war die Erkenntnistheorie (soweit überhaupt disziplinar klar unterschieden) nur eine philosophische Theorie neben anderen. Die Metaphysik hatte ganz deutlich Priorität und wurde von Aristoteles zur „ersten Philosophie" erklärt. Der Name „Metaphysik" verdankt sich vielleicht einem Zufall. Die metaphysischen Bücher des Aristoteles standen nämlich in der alexandrinischen Bibliothek hinter den Büchern der Physik, so dass man sie als „die hinter der Physik" (ta meta ta physica) bezeichnete. Der Sache nach geht es in der Metaphysik um die Grundstruktur der Wirklichkeit im Allgemeinen (metaphysica generalis) oder um bestimmte Wirklichkeitsbereiche wie die Welt, Gott und die Seele (metaphysica specialis). Die Metaphysik versucht die allgemeinen Kategorien der Wirklichkeit zu erfassen (Substanz, Akzidenz, Ereignisse, Eigenschaften, Kausalität usw.), aber auch Fragen nach der Unsterblichkeit der Seele, dem Anfang der Welt oder der Existenz Gottes zu beantworten. Der bis dahin unangetastete Primat der Metaphysik in der Philosophie wurde in der Neuzeit erschüttert. Dazu hat zum einen der rasante Fortschritt und Erfolg der empirischen Wissenschaften geführt, der die philosophischen Methoden der Naturerkenntnis zumindest fraglich erscheinen ließ. Dazu hat aber auch der Streit innerhalb der Metaphysik geführt. Ein Echo darauf ist beispielsweise Kants Klage darüber, dass die Metaphysik noch immer nicht den sicheren Gang einer Wissenschaft erreicht habe (wie ihn nach seiner Auffassung die Logik oder die Physik Newtons erreicht haben), sondern sich in Antinomien verstricke, weil vom metaphysischen Standpunkt bislang alles und sein Gegenteil beweisbar* erschien.21 Diese 21

Kant 1998, Β VII ff.

Über den Stellenwert der Erkenntnistheorie in der Philosophie

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Krise der Metaphysik führte zu Beginn der Neuzeit zu einem geschärften Methodenbewusstsein und der Idee, dass einer soliden metaphysischen Theoriebildung eine Reflexion auf die richtige Methode vorausgehen müsse. Genau diese Rolle übernahm seit Descartes die Erkenntnistheorie. In seinen Meditationen ist der Gedanke leitend, dass man nur durch eine radikale methodische Skepsis bezüglich unserer Wissensprinzipien die Spreu vom Weizen trennen könne. Fortan sollten nur solche Methoden als akzeptabel gelten, die die Wahrheit garantieren. Und Descartes wollte das von einem absolut unbezweifelbaren Standpunkt aus sicherstellen - der Gewissheit des ,Ich existiere'. Ein ähnlicher methodischer Rigorismus ist auch bei den Britischen Empiristen (Locke, Berkeley und Hume) zu beobachten. Kurz: In der Neuzeit hat die Erkenntnistheorie die Metaphysik als erste Philosophie abgelöst. Dieses veränderte Selbstverständnis in der Philosophie zeigt sich beispielsweise in John Lockes Versuch über den menschlichen Verstand (1689), wo ausdrücklich in dem vorangestellten Brief an den Leser gesagt wird, dass inhaltlichen Untersuchungen eine kritische U n tersuchung der menschlichen Erkenntnisfähigkeit vorangehen müsse: Fünf oder sechs Freunde trafen sich in meiner Wohnung und erörterten ein von dem gegenwärtigen sehr weit abliegendes Thema; hierbei gelangten sie bald durch die Schwierigkeiten, die sich von allen Seiten erhoben, an einen toten Punkt. Nachdem wir uns eine Zeitlang abgemüht hatten, ohne einer Lösung der uns quälenden Zweifel irgendwie näher zu kommen, kam mir der Gedanke, dass wir einen falschen Weg eingeschlagen hätten und vor Beginn solcher Untersuchungen notwendig unsere eigenen geistigen Anlagen prüfen und zusehen müssten, mit welchen Objekten sich zu befassen unser Verstand tauglich sei.22

Die Erkenntnistheorie sollte das methodische Fundament legen, auf dem dann eine Metaphysik als Wissenschaft aufbauen konnte. Mit Kant hat diese Umkehrung der Prioritäten eine

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Locke 1981, Bd. 1, S. 7, meine Hervorhebung.

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Einführung

weitere Radikalisierung erfahren. 23 Streng genommen versucht Kant in seiner kritischen Phase mit der Kritik der reinen Vernunft (1781) zu zeigen, dass die traditionellen T h e m e n der M e taphysik entweder die Grenzen des Erkennbaren überschreiten (wie die Unsterblichkeit der Seele, die Existenz Gottes, der Anfang der Welt, die Freiheit und der Z w e c k der Welt) oder durch Erkenntnistheorie ersetzt werden müssen (wie die D e duktion"" der allgemeinen Kategorien der erfahrbaren Natur). Dass Kant eine Ersetzung möglicher Metaphysik durch die E r kenntnistheorie im Sinn hat, wird deutlich, wenn er in der Analytik der Kritik an einer Stelle sagt, „der stolze N a m e einer O n tologie ( . . . ) muss dem bescheidenen, einer bloßen Analytik des reinen Verstandes, Platz machen." 2 4 D a m i t will er sagen, dass eine bestimmte Art der Metaphysik (als Theorie erfahrungstranszendenter Dinge) nicht mehr möglich ist und dass Metaphysik, sofern sie möglich ist, nur als Erkenntnistheorie (als Analytik des Verstandes) überlebt. Kant zufolge ist außerhalb der Erkenntnistheorie kein Platz mehr für philosophische E r kenntnis, sondern nur n o c h R a u m für die empirischen Wissenschaften, die durch die Erkenntnistheorie legitimiert werden. Es handelt sich um eine radikale Metaphysikkritik und eine Zurückführung der theoretischen Philosophie auf Erkenntnistheorie. Dabei ist es natürlich nicht geblieben. D e r Siegeszug der E r kenntnistheorie vor allem im Neukantianismus bis ins 20. J a h r hundert hinein ist inzwischen längst Geschichte. Seit Frege, Russell und dem frühen Wittgenstein ist zunächst durch die Sprachphilosophie, dann durch die Philosophie des Geistes im23

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Vgl. in diesem Sinne auch Kants Verständnis der Kritik der reinen Vernunft·. „Ich verstehe aber (unter einer Kritik der reinen Vernunft eine Kritik, T G ) (...) des Vernunftvermögens überhaupt, in Ansehung aller Erkenntnisse, zu denen sie, unabhängig aller Erfahrung, streben mag, mithin die Entscheidung der Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer Metaphysik überhaupt und die Bestimmung so wohl der Quellen, als des Umfanges und der Grenzen derselben (...)." (A XII) Kant 1998, Β 303.

Über den Stellenwert der Erkenntnistheorie in der Philosophie

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mer deutlicher geworden, dass es eine Voraussetzung der Erkenntnistheorie gibt, die diese selbst nicht mehr reflektiert. Wenn sie nämlich untersucht, welche unserer kognitiven Methoden gut geeignet sind, um Wahrheit und Wissen zu liefern, dann setzt sie stillschweigend voraus, dass es so etwas wie einen auf die Welt abzielenden intentionalen* Bezug gibt. Doch wie dieser Bezug möglich ist, darüber schweigt sich die Erkenntnistheorie aus. Die Sprachphilosophie (und später die Philosophie des Geistes) ist in diese Lücke vorgestoßen und arbeitet an einer Theorie der Bedeutung. Sie hat der Erkenntnistheorie damit ihren Anspruch auf eine erste Philosophie streitig gemacht. Man spricht von der linguistischen Wende' in der Philosophie. Philosophiegeschichtlich betrachtet wurde also die Metaphysik durch die Erkenntnistheorie und diese wiederum durch die Sprachphilosophie und Philosophie des Geistes als erste Philosophie abgelöst.25 Die Idee einer streng hierarchischen Beziehung zwischen den Disziplinen der theoretischen Philosophie verliert aber schnell an Attraktivität, wenn man diese Beziehung genauer durchdenkt. Es zeigt sich nämlich, dass keine dieser Disziplinen vollkommen unabhängig von den jeweils anderen Disziplinen ist. Deshalb kann auch keiner dieser Disziplinen ein absoluter Vorrang eingeräumt werden. Die Erkenntnistheorie z.B. hängt auf vielfältige Weise von den anderen Disziplinen ab. Erstens ist der für sie zentrale Begriff der Wahrheit im Kern ein semantischer Begriff, der eine Beziehung zwischen Geist und Welt zum Ausdruck bringt. Zweitens besteht ein wichtiger Teil der Erkenntnistheorie selbst aus einer Bedeutungsanalyse der erkenntnistheoretischen Grundbegriffe (wie Rechtfertigung und Wissen). Solange die Bedeutung dieser Begriffe nicht geklärt ist, ist auch nicht klar, an welchem Maßstab sich die normative Erkenntnistheorie orientieren soll, wenn sie untersucht, ob Gründe oder Methoden im erkenntnistheoretischen Sinne gut oder schlecht sind. Drittens hängt die Beurteilung der Frage, ob wir über 25

Vgl. in diesem Sinne Tugendhat 1976, Kap. I, und Glock 2002.

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Einführung

einen bestimmten Bereich Wissen haben, entscheidend davon ab, worauf sich die betreffenden Urteile beziehen bzw. welche Bedeutung sie haben. In all diesen Fragen hängt die Erkenntnistheorie von einer Theorie der Bedeutung wesentlich ab. Wenn man die Einsicht hinzunimmt, dass die Erkenntnistheorie in ihrem Kern eine Theorie des erkennenden Subjekts ist, dann handelt die Erkenntnistheorie von Gegenständen (wie mentalen Prozessen und Uberzeugungen oder Wahrnehmungen), die einen bestimmten ontologischen und psychologischen Status haben. Auch in dieser Hinsicht erweist sich die Erkenntnistheorie also als angewiesen auf die Ergebnisse anderer philosophischer Disziplinen (und der empirischen Wissenschaften). Andererseits kann aber das Primat auch nicht einfach einer der anderen Disziplinen wie der Sprachphilosophie, der Philosophie des Geistes oder der Metaphysik zugeschrieben werden. Wir dürfen nämlich keine Gegenstände in der Außenwelt oder Bedeutungsentitäten* postulieren, zu denen wir nicht irgendeinen Erkenntniszugang haben können. Solche für uns unerkennbaren Entitäten könnte es zwar prinzipiell geben, aber solange wir nicht von ihnen wissen oder nicht wenigstens gute Gründe bezüglich ihrer Existenz haben, bleibt jede Behauptung ihrer Existenz ein unbegründetes Dogma. Es sieht also so aus, als würde zwischen den verschiedenen theoretischen Disziplinen eine wechselseitige Abhängigkeit ohne einseitige Priorität bestehen. Wir können keine Disziplin der Philosophie unter vollständiger Abstraktion von den jeweils anderen Disziplinen betreiben. Es ist vielmehr so, dass wir beim Theoretisieren in einem Bereich (sei es Metaphysik, Erkenntnistheorie oder Semantik) die Ergebnisse der jeweils anderen Disziplinen berücksichtigen müssen, um zu einem stimmigen Gesamtbild zu kommen. Man sollte also nicht mehr von einer Hierarchie, sondern einem integrativen Projekt sprechen, in dem aber die Erkenntnistheorie eine wichtige und unverzichtbare Rolle spielt.26 26

In diesem Sinne Peacocke 1999, Kap. 1.

Über die Relevanz der Erkenntnistheorie

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Die Rangordnung der Disziplinen der theoretischen Philosophie (1) Antike: Metaphysik als erste Philosophie (2) Neuzeit: Erkenntnistheorie als erste Philosophie (3) 20. Jahrhundert: Bedeutungstheorie (Semantik) als erste Philosophie (4) Ausblick: Gleichrangigkeit von Metaphysik, Erkenntnistheorie und Bedeutungstheorie

1.6 Über die Relevanz der Erkenntnistheorie Welche Bedeutung die Erkenntnistheorie für unser Wissen insgesamt, für die Philosophie und unser Selbstverständnis hat, darüber besteht auch gegenwärtig keine Einigkeit unter Philosophen. Die Einschätzungen reichen von extrem wichtig und grundlegend bis hin zu bloß klärend und eher marginal. A m Anfang dieser Einführung in die Erkenntnistheorie sollen die verschiedenen Konzeptionen der Erkenntnistheorie zunächst einmal vorgestellt werden. Es wird später durch den Gang der Diskussion deutlich werden, welche Konzeptionen überzogen sind und welche sich als akzeptabel erweisen. Die zweifellos anspruchsvollste Konzeption der Erkenntnistheorie ist diejenige, die in der Erkenntnistheorie eine Fundamentalwissenschaft sieht, durch die alle Einzelwissenschaften (sowie alle anderen philosophischen Disziplinen) allererst legitimiert werden. Dem liegt der folgende Gedanke zugrunde: Die empirischen Einzelwissenschaften (Physik, Biologie) verwenden Methoden oder beruhen auf Voraussetzungen, die sie selbst nicht mehr rechtfertigen können, die aber einer Rechtfertigung bedürfen. Der Erkenntnistheorie kommt nun die Aufgabe zu, diese Wissenschaften zu legitimieren und auf ein sicheres Fundament zu stellen. Nach dieser Auffassung hat die Erkenntnistheorie das methodische Primat gegenüber jeglichem Wissen

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Einführung

und jeder Form von Wissenschaft. Sie muss deshalb auch unabhängig oder autonom gegenüber den Ergebnissen der Einzelwissenschaften sein. Und sie verwendet rein apriorische und unfehlbare Methoden. Der bereits zitierte Rudolf Eisler bringt diese Konzeption der Erkenntnistheorie auf den Punkt: Die Erkenntnistheorie ist souverän, sie schöpft ihre Gewissheit aus sich selbst, aus ihrer rein logischen Tätigkeit, mittels welcher sie, in a priorischer Weise, die Grundbegriffe und Grundsätze der Wissenschaften deduziert oder doch legitimiert. 27

Und warum bedürfen die empirischen Wissenschaften überhaupt einer apriorischen Legitimation? Die Argumente dafür sind bei Descartes und Kant zu finden. Nach Descartes muss die Zuverlässigkeit wissenschaftlicher Methoden gegen den radikalen Zweifel erwiesen werden, damit diese Wissen hervorbringen können. Würden wir uns dabei auf eben diese wissenschaftlichen Methoden selbst verlassen, so würden wir gerade das voraussetzen, was der Skeptiker bezweifelt. Deshalb bedarf es einer apriorischen Metarechtfertigung unserer empirischen Methoden. Nach Kant beruhen die empirischen Wissenschaften auf inhaltlichen (nicht methodischen) Voraussetzungen, die sich ihrerseits nicht empirisch rechtfertigen lassen. So geht beispielsweise die Physik davon aus, dass alle Ereignisse kausal erklärbar sind, insofern jedes Ereignis eine Ursache hat. Dieses allgemeine Kausalprinzip kann jedoch nach Kant nicht durch die Erfahrung gerechtfertigt werden. Kausalität ist ein modaler Begriff, der beinhaltet, dass die Ursache die Wirkung mit Notwendigkeit erzwingt. Wir können jedoch nur erfahren, was ist, und nicht, was notwendig ist. Die Wahrheit des Kausalprinzips kann deshalb nur a priori durch Vernunft erkannt werden. Das soll die Erkenntnistheorie leisten (die bei Kant selbst noch nicht so heißt).28 Etwas schwächer ist die Konzeption der Erkenntnistheorie, die deren Rolle vor allem in der Widerlegung des Skeptizismus 27 28

Eisler 1907, S. 11. Gegenwärtig wird die Rolle der Erkenntnistheorie als Fundamentalwissenschaft noch von Bonjour 1998 und Bealer vertreten.

Über die Relevanz der Erkenntnistheorie

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sieht.29 Diese Position gesteht zu, dass unser gewöhnliches Wissen und die Wissenschaften auch ohne eine Legitimation durch die philosophische Erkenntnistheorie möglich sind. Sobald wir jedoch einen Standpunkt radikaler kritischer Reflexion einnehmen, wollen wir wissen, ob wir Wissen und vor allem, ob wir funktionierende Wissenschaften haben. Die Erkenntnistheorie ist aus dieser Perspektive nicht mehr methodisch primär gegenüber allem übrigen Wissen, sie muss aber autonom und a priori sein. Weniger anspruchsvoll ist die normative Erkenntnistheorie im Rahmen des Naturalismus. Hier geht es immer noch darum, den Umfang des menschlichen Wissens zu bestimmen (oder sogar durch die Verbesserung der Methoden zu vergrößern). Aber das geschieht nicht mehr in Auseinandersetzung mit dem Skeptiker, sondern unter der Annahme, dass bestimmte Methoden Wissen generieren bzw. rechtfertigende Kraft haben, oder unter der Annahme, dass der gesunde Menschenverstand Recht hat und der Umfang unseres Wissens ungefähr so groß ist, wie wir gewöhnlich annehmen.30 Die akzeptierten Methoden können dann dazu verwendet werden, die Zuverlässigkeit anderer Methoden zu bewerten und gegebenenfalls zu verbessern. Oder wir können aufgrund von Symmetrieüberlegungen argumentieren, dass andere Methoden, die nicht schlechter dastehen als die akzeptierten Methoden, gleichfalls akzeptiert werden müssen. Umgekehrt können wir Rückschlüsse auf die legitimen Methoden der Erkenntnis ziehen, wenn wir von einem bestimmten Umfang unseres Wissens ausgehen. Die Erkenntnistheorie lässt sich auch als methodologisches Kriterium für akzeptable metaphysische Annahmen verstehen.31 Wir können nämlich die Beschaffenheit und das Wesen eines bestimmten ontologischen Gegenstandsbereichs dadurch erken29 30

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Vgl. etwa Stroud 1996. Chisholm 1982 nennt die erste Annahme Methodismus, die zweite Partikularismus. Bartelborth 1996 versucht beide Annahmen in einer Art Überlegungsgleichgewicht auszubalancieren. Vgl. z u m Folgenden Glock 2002.

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Einführung

nen, dass wir annehmen, dass wir von diesem Bereich Wissen haben und dass wir von ihm nur dann Wissen haben können, wenn er auf eine bestimmte Weise beschaffen ist. Der Vater dieser Argumentationsfigur ist Kant. Er geht davon aus, dass wir erfahrungsunabhängiges Wissen von notwendigen Wahrheiten haben. Ein solches Wissen ist ihm zufolge jedoch nur dann möglich, wenn die notwendigen Tatsachen selbst ein Produkt unserer Verstandestätigkeit sind und deshalb nicht geistunabhängig existieren. So beweist er den transzendentalen Idealismus. Ganz gleich wie man dieses spezifische Argument bewertet, dahinter steht eine generelle Argumentationsfigur der folgenden Form: (PI) Wir haben Wissen von X. (P2) Wenn wir Wissen von X haben, dann muss X so-und-so beschaffen sein. Also: X ist so-und-so beschaffen. Eine klassische Anwendung dieses Argumenttyps ist die Argumentation gegen eine platonistische Interpretation der Zahlen: Wir haben Wissen von mathematischen Tatsachen. Da wir von einer platonischen Hinterwelt kein Wissen haben können denn zu dieser abstrakten Welt stehen wir in keinem für Wissen erforderlichen kausalen Kontakt, können mathematische Tatsachen nicht platonistisch interpretiert werden. 32 32

Dieses Beispiel zeigt jedoch gleich schon die Probleme des ganzen Ansatzes. Das Argument kann bestenfalls als ein anfechtbares Argument aufgefasst werden, denn erstens kann man einen partiellen Skeptizismus mit Bezug auf eingeschränkte Wissensbereiche durchaus vertreten (vielleicht ist die Mathematik nur ein nützliches Instrument für die korrekte Prognose, aber nicht selbst wahr, wie Field behauptet). Zweitens kann man das Wissen, das in (1) unterstellt wird, auch dadurch leugnen, dass man den ganzen Diskursbereich als nicht deskriptiv analysiert. Die fraglichen Urteile hätten dann keine Wahrheitsbedingungen und deshalb gäbe es auch kein Wissen in diesem Bereich. Das ist beispielsweise für den Bereich der moralischen Urteile von den Expressivisten angenommen worden. Schließlich ist drittens auch die Prämisse (2) nicht unanfechtbar. Vielleicht gibt es gar keine Probleme mit dem Wissen von platonischen Entitäten, wenn man die kausale Konzeption des Wissens aufgibt.

Über die Relevanz der Erkenntnistheorie

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Schließlich kann man die primäre Aufgabe der Erkenntnistheorie darin sehen, zu einem besseren Verständnis und einer vollständigen Klärung unserer erkenntnistheoretischen Grundbegriffe beizutragen. Aus dieser Perspektive bekommt natürlich das analytische Projekt der Erkenntnistheorie einen eindeutigen Vorrang. Auf seiner Grundlage lassen sich jedoch auch die klassischen Paradoxien der Erkenntnistheorie auflösen. Hier ist die Grundidee, dass wir mit Hilfe eines besseren Verständnisses unserer erkenntnistheoretischen Grundbegriffe eine Diagnose etwa für den Skeptizismus anbieten können, die erklärt, warum der Skeptizismus uns so plausibel erscheint, und zugleich erklärt, warum er dennoch falsch ist. Durch ein Missverständnis unserer eigenen epistemischen Grundbegriffe sind wir demnach in eine Sackgasse oder - um mit Wittgenstein zu sprechen - in ein Fliegenglas geraten, aus dem wir nur dadurch einen Ausweg finden, dass wir uns überlegen, wie wir in das Glas hineingeraten sind. Der diagnostische Ansatz klärt uns über solche grundlegenden Missverständnisse auf und befreit uns von scheinbaren Problemen. 33 Es ist eines der Ziele dieses Buches zu klären, welche dieser Rollen die Erkenntnistheorie sinnvollerweise spielen kann. Konzeptionen der Erkenntnistheorie (1) Fundamentalwissenschaft, die jegliches Wissen legitimiert (2) Widerlegung des Skeptizismus (3) Normative Erkenntnistheorie auf naturalistischer Basis (4) Methodologie der Metaphysik (5) Begriffsklärung und Diagnostik erkenntnistheoretischer Probleme

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Die diagnostische Methode in der Erkenntnistheorie wird von Williams 1996, DeRose 1995, Greco 2000 und Rorty 1981 vertreten.

2 Wahrheit 2.0 Allgemeines Der Begriff"" der Wahrheit ist streng genommen kein erkenntnistheoretischer Begriff. Er greift eine Relation zwischen Geist und Welt heraus, nämlich den Bezug auf etwas, das der Fall ist. Er ist deshalb anderen semantischen Grundbegriffen wie dem der Referenz oder der Bedeutung sehr ähnlich. Obwohl Wahrheit also ein semantischer Begriff ist, spielt er innerhalb der Erkenntnistheorie eine herausragende Rolle. Wahrheit und die Vermeidung von Irrtum sind Grundziele unserer Erkenntnisbemühungen. Wissen beinhaltet, wie wir gesehen haben, auch die Wahrheit der Uberzeugung. Und rechtfertigende Gründe sollen dafür sprechen, dass die auf sie gestützte Uberzeugung wahr ist, sie sollen die Wahrheit dieser Überzeugung zumindest wahrscheinlich machen. Deshalb ist eine Klärung des Begriffes und der Natur der Wahrheit eine unverzichtbare Voraussetzung für die normative Erkenntnistheorie. Ob wir mit unseren Erkenntnisbemühungen Erfolg haben und welche Quellen unser Wissen hat, lässt sich erst beantworten, wenn geklärt ist, wie das Ziel unserer Erkenntnisbemühungen genauer aussieht. Das soll in diesem Kapitel in Grundzügen untersucht werden. Unser alltäglicher Wahrheitsbegriff ist mehrdeutig. Das gilt auch für den Wahrheitsbegriff der philosophischen Tradition. Zunächst soll genauer eingegrenzt werden, um welche Art von Wahrheit es geht, wenn Wahrheit als Ziel unserer Erkenntnisbemühungen verstanden wird. Wir sprechen davon, dass etwas aus wahrer Liebe geschah, dass jemand ein wahrer Freund ist, dass ein Roman wahre Empfindungen ausdrückt oder dass etwas wahre Kunst ist. In diesen Fällen wird ,Wahrheit' auf Gegenstände angewandt. Ein Gegenstand ist wahr, wenn er seinem Maßstab entspricht oder - anders gesagt - wenn er so ist, wie er sein soll. Dafür muss er einer Idee, einem Begriff oder

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Wahrheit

den Absichten seines Schöpfers entsprechen. Da ein Gegenstand seinem Maßstab mehr oder weniger gut entsprechen kann, gibt es Grade der Wahrheit, so wie es Grade der Vollkommenheit gibt. Dieser ontologische Sinn von Wahrheit, der vor allem in der Antike und im Mittelalter eine wichtige Rolle spielte, aber auch heute noch gebräuchlich ist,34 hat nichts mit dem Ziel unserer Erkenntnisbemühungen zu tun. Wenn wir etwas wissen wollen, dann wollen wir nicht bestimmte Arten von Dingen besitzen, sondern erfassen, wie die Dinge sind. Der erkenntnistheoretisch relevante Sinn von Wahrheit muss auch von zwei Verwendungsweisen abgegrenzt werden, die in der philosophischen Tradition eine wichtige Rolle spielen. Im Buch Theta 10 seiner Metaphysik spricht Aristoteles von einer noetischen Wahrheit, die darin besteht, dass man bestimmte Gegenstände (vielleicht sind Bedeutungen gemeint) direkt durch Vernunft erfasst.35 Das Eigentümliche dieser Wahrheitskonzeption liegt darin, dass man etwas nur erfassen oder verfehlen kann. Ausgeschlossen ist der Fall, dass man sich auf einen Gegenstand bezieht, ihn aber nicht so erfasst, wie er wirklich ist. Mit anderen Worten: Gegensatz der noetischen Wahrheit ist nicht Irrtum oder Falschheit, sondern das NichtErfassen. Auch darum kann es in unseren Erkenntnisbemühungen nicht gehen, denn ihr Ziel ist die Wahrheit im Gegensatz zur Falschheit. Aus einem ähnlichen Grund muss auch Heideggers hermeneutischer Wahrheitsbegriff als geeigneter 34

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Hegel erweist sich in seiner Enzyklopädie (Hegel 1969, Bd. 8, S. 86, Zweiter Zusatz zu § 24) als Fürsprecher dieser ontologischen Konzeption der Wahrheit: „Im philosophischen Sinn (...) heißt Wahrheit (...) Ubereinstimmung eines Inhalts mit sich selbst. (...) Übrigens findet sich diese tiefere (philosophische) Bedeutung der Wahrheit zum Teil auch schon im gewöhnlichen Sprachgebrauch. So spricht man z.B. von einem wahren Freund und versteht darunter einen solchen, dessen Handlungsweise dem Begriff der Freundschaft gemäß ist; ebenso spricht man von einem wahren Kunstwerk. Unwahr heißt damit soviel als schlecht, in sich selbst unangemessen." Aristoteles 1978, Met. 1051b.

Allgemeines

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Kandidat ausscheiden. In Sein und Zeit (§ 44) führt er die „Erschlossenheit" als den grundlegenden Sinn von Wahrheit ein. 36 Sein Grundgedanke ist dabei, dass jeder kritischen Unterscheidung zwischen wahren und falschen Urteilen ein Verstehen bzw. eine Gegebenheit der Dinge für uns vorausgeht. 37 Diese ursprüngliche Erschlossenheit der Welt kann jedoch nicht das Ziel unserer Erkenntnisbemühungen sein, sondern es ist die Wahrheit im Unterschied zum Irrtum. Worum es wirklich geht, wenn wir Wissen erlangen wollen, ist die propositionale Wahrheit. Dabei handelt es sich um eine Eigenschaft von Sätzen, Überzeugungen, Vorstellungen oder Propositionen*, die einen Gegenstand als so-und-so beschaffen darstellen (repräsentieren) und dabei dieses Ding so darstellen, wie es wirklich ist. Die Träger des Wahrheitswertes (im Folgenden kurz: Wahrheitswertträger) müssen also erstens einen Bedeutungsgehalt propositionaler Art haben. Sie müssen besagen, dass etwas so-und-so beschaffen ist bzw. dass etwas der Fall ist. U n d dieser Gehalt muss zweitens erfüllt sein, damit der Wahrheitswertträger den Wahrheitswert ,wahr' hat. Ansonsten hat er den Wahrheitswert ,falsch'. 38 N u r Gebilde mit propositionalem Gehalt können wahr oder falsch sein. Dieser kritische Wahrheitsbegriff ist der Begriff der Wahrheit, der für die Erkenntnistheorie von zentraler Bedeutung ist. E r wurde bereits von Aristoteles deutlich formuliert, wenn dieser im Buch Gamma seiner Metaphysik sagt: „Zu sagen (...), das Seiende sei nicht oder das Nicht-Seiende sei, ist falsch, dagegen zu sagen, das Seiende sei und das Nicht-Seiende sei nicht, ist

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A n anderer Stelle spricht Heidegger auch von ,Unverborgenheit' - ein Terminus, den er als Ubersetzung des griechischen Begriffes ,aletheia' anbietet. Heidegger setzt an dieser Stelle Wahrheit und Falschheit einfach mit Verifikation und Falsifikation gleich. N u r die letzteren setzen nämlich eine Gegebenheit der Dinge für uns voraus. U m die Sache zu vereinfachen, wird hier von der Bivalenz ausgegangen, also der Annahme, dass Sätze bzw. Überzeugungen entweder wahr oder falsch sind und ein dritter Wahrheitswert nicht existiert.

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Wahrheit

wahr."39 Man könnte den Gedanken von Aristoteles auch so ausdrücken: Wenn etwas der Fall ist und ich sage, dass es nicht der Fall ist, oder etwas ist nicht der Fall und ich sage, dass es der Fall ist, dann sage ich etwas Falsches. Wenn etwas dagegen der Fall ist und ich sage, dass es der Fall ist, oder wenn etwas nicht der Fall ist und ich sage, dass es nicht der Fall ist, dann sage ich die Wahrheit. Welcher Art der Trägerpropositionaler Wahrheit ist, darüber gibt es einen langen Streit. Nach der klassischen Auffassung sind psychologische Zustände wie Uberzeugungen, Vorstellungen oder Urteile Wahrheitswertträger. Nach der linguistischen Wende in der Philosophie wurde jedoch auch die Uberzeugung vertreten, dass linguistische Entitäten* - Aussagesätze - Wahrheitswertträger sind.40 Gottlob Frege hat schließlich die sehr einflussreiche Auffassung verfochten, dass als Wahrheitswertträger nur Propositionen (die er selbst ,Gedanken' nennt) in Frage kommen.41 Propositionen sind abstrakte, nicht in der raum-zeitlichen Welt lokalisierbare, platonische Entitäten. Zunächst einmal scheint alles dafür zu sprechen, dass psychologische Zustände und Sätze die Wahrheitswertträger sind, denn schließlich wollen wir ja kognitiv die Wahrheit erfassen, wenn wir uns um Erkenntnis bemühen, und wir wollen diese Wahrheit auch sprachlich mitteilen können. Wären die Träger der Wahrheit in einer platonischen Hinterwelt angesiedelt, so könnten wir mit ihnen wenig anfangen. Bei genauerem Hinsehen ergeben sich aber einige Schwierigkeiten für Auffassungen, die den Träger der Wahrheit in Raum und Zeit lokalisieren. Erstens: Wahrheiten sollen intersubjektiv* zugänglich und mitteilbar sein. Psychische Zustände (wie Überzeugungen) sind jedoch immer Zustände einer spezifischen Person. Sie gehören sozusagen zum Privateigentum ihres Trägers. Insofern fehlt ih39 40

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Aristoteles 1978, Met. 1011b25. Für diese Position ist insbesondere Wittgenstein in seinem Tractatus eingetreten. Frege 2003, S. 38.

Allgemeines

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nen die Intersubjektivität. Der primäre Träger der Wahrheit ist also das propositionale Objekt der Uberzeugung, in dem natürlich Uberzeugungen verschiedener Personen übereinstimmen können. Thomas kann glauben, dass Merkel 2005 Bundeskanzlerin wurde; und Peter kann auch glauben, dass Merkel 2005 Bundeskanzlerin wurde. Hier liegen zwei Überzeugungen mit demselben propositionalen Objekt vor. Zweitens: Bestimmte Typen von Sätzen sowie bestimmte Typen von Uberzeugungen haben keinen eindeutigen Wahrheitswert. Der indexikalische* Satz bzw. die indexikalische Uberzeugung „Jetzt ist es Nacht" ist nachts wahr, aber tagsüber falsch. Der Wahrheitswert schwankt also mit dem Zeitpunkt der Äußerung oder des Denkens. Bei anderen indexikalischen Sätzen oder Uberzeugungen schwankt er mit dem Ort oder dem Denker bzw. Sprecher. Wahrheit ist jedoch weder zeit- noch personen- noch ortsrelativ. Drittens: Sätze können mit der Zeit ihre Bedeutung verändern, sodass aus einem wahren Satz ein falscher werden kann oder umgekehrt. Ein Wahrheitswertträger sollte seinen Wahrheitswert jedoch konstant tragen. Diese Probleme legen Freges Schritt nahe, in der Proposition den eigentlichen Träger der Wahrheit zu sehen. Wenn man Propositionen als Gegenstände in einer platonischen Hinterwelt versteht, ergeben sich daraus jedoch, wie bereits kurz angedeutet, gleichfalls Probleme. Erstens ist die Annahme von Gegenständen in einer Welt jenseits von Raum und Zeit ein ontologisch sehr hoher Preis. Zweitens aber möchten wir als Personen, die in der raum-zeitlichen Welt leben, einen Zugang zur Wahrheit haben; und es ist nicht erkennbar, wie uns dabei Propositionen helfen könnten, wenn sie kein Bestandteil der psychologischen Welt sind. U m sie kognitiv zu erfassen, bräuchten wir eigentlich weitere Wahrheitswertträger, die aber wiederum als Propositionen verstanden werden müssten usw. Es bleibt also unklar, wie wir überhaupt einen psychologischen Zugang zu platonischen Wahrheitswertträgern haben können. Frege selbst übergeht dieses Problem, indem er einfach postuliert, dass wir diese Propositionen ,fassen'. Aber er

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Wahrheit

bleibt uns eine Erklärung schuldig, wie ein solches Fassen möglich sein soll.42 Es ergibt sich insofern der Eindruck, als ob weder psychologische noch linguistische noch gar propositionale Wahrheitswertträger in Frage kommen. Es gibt jedoch einen relativ einfachen Ausweg aus dieser Lage. Aus den Argumenten"" gegen psychologische oder linguistische Wahrheitswertträger sollte man den Schluss ziehen, dass es in erster Linie der propositionale Gehalt ist, der einen eindeutigen und konstanten Wahrheitswert hat. Wir sind jedoch nicht dazu gezwungen, diesen Gehalt im Sinne Freges als platonischen Gegenstand zu hypostasieren. Viel näher liegt die Annahme, dass es sich um Gehaltseigenschaften konkreter Sätze und Uberzeugungen handelt.43 Insofern können wir sagen, dass Sätze und Uberzeugungen Wahrheitswertträger sind, allerdings nicht simpliciter, sondern aufgrund ihres propositionalen Gehalts.44 Auf diese Weise können die Wahrheitswertträger in die Sphären des Denkens und der Kommunikation zurückgeholt werden.

2.1 Grundlegende Merkmale der Wahrheit Um die verschiedenen Konzeptionen der Wahrheit besser bewerten zu können, sollen nun einige grundlegende Merkmale der Wahrheit auf gelistet werden, denen jede akzeptable Kon42 43

44

Vgl. Frege 2003, S. 57. Diese Möglichkeit wird von Aiston 1996, S. 19, erwogen. Wie Sätze bzw. psychologische Zustände solche Eigenschaften erwerben können, ist eine andere Frage. Allerdings ist nicht jeder Träger von propositionalem Gehalt ein Wahrheitswertträger. Er muss auch die richtige Entsprechungsrichtung haben. Wünsche besitzen einen propositionalen Gehalt, zielen jedoch darauf, dass die Welt ihnen entspricht. Sie haben eine Welt-zu-Geist Entsprechungsrichtung. Deshalb besitzen sie keinen Wahrheitswert. Uberzeugungen zielen dagegen darauf, dass sie der Welt entsprechen. Sie besitzen eine Geist-zu-Welt Entsprechungsrichtung. Deshalb haben sie einen Wahrheitswert.

Grundlegende Merkmale der Wahrheit

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zeption Rechnung tragen muss. Man kann sie auch als Adäquatheitsbedingungen* für Wahrheitstheorien im Allgemeinen verstehen.45 Ein solches Merkmal wurde bereits erwähnt. Wahrheit ist eine absolute Eigenschaft. Es kann nicht der Fall sein, dass eine Person X die Uberzeugung hat, dass p, und eine zweite Person Y auch die Uberzeugung hat, dass p, und dass die Uberzeugung von X wahr ist, die Uberzeugung von Y aber falsch. Außerdem kann der Wahrheitswert des propositionalen Gehalts einer Überzeugung oder eines Satzes sich nicht mit der Zeit oder dem Ort ändern. Der Wahrheitswert ist in keiner Beziehung relativ. Wenn man im Alltag davon spricht, dass etwas wahr für die Person X, aber nicht wahr für die Person Y ist, dann meint man damit genau genommen nicht die Wahrheit selbst, sondern das, was die verschiedenen Personen für wahr halten. Dieses Fürwahrhalten ist selbstverständlich relativ auf Personen, Zeitpunkte und Orte. Aber wenn Χ ρ für wahr hält und Y die Negation von ρ für wahr hält, dann kann eben nur einer von beiden damit die Wahrheit treffen. Ein weiteres Merkmal der Wahrheit ist ihre Extensionalität::\ Der Wahrheitswert eines Satzes ändert sich nicht, wenn man in ihm Ausdrücke gleicher Extension (mit identischen Referenten) durcheinander ersetzt.46 Betrachten Sie das folgende Beispiel. Der Satz ,Der Abendstern ist ein Planet' ist zweifellos wahr. Der Ausdruck ,Abendstern' bezieht sich genau wie der Ausdruck .Morgenstern' auf die Venus. Wenn man in dem Satz ,Abendstern' durch einen Ausdruck mit gleicher Extension, nämlich ,Morgenstern', ersetzt, dann erhält man den Satz ,Der Morgenstern ist ein Planet'. Dieser Satz ist genau wie der Ausgangssatz wahr. Der Sinn eines Satzes ist dagegen keine extensionale, sondern eine intensionale* Eigenschaft. Er kann sich nämlich durch die Ersetzung ko-extensionaler Ausdrücke im Adäquatheitsbedingungen für Theorien legen generelle Bedingungen fest, die jede akzeptable Theorie über einen bestimmten Bereich erfüllen muss. « Frege 1962, S. 47f. 45

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Wahrheit

Satz ändern. Genau das ist im Beispiel oben passiert. Der Satz ,Der Morgenstern ist ein Planet' hat einen ganz anderen Sinn als der Satz ,Der Abendstern ist ein Planet'. Wir können den einen für wahr und den anderen für falsch halten, ohne uns damit zu widersprechen. Es ist ferner unstrittig, dass die folgende Äquivalenz für jeden Satz ρ gilt: 47 ,p' ist wahr genau

dann, wenn p.

Man spricht in diesem Zusammenhang vom so genannten Zitattilgungsschema. Die Wahrheit dieser Äquivalenz lässt sich leicht anhand eines Beispielsatzes einsehen. ,Merkel ist 2006 Bundeskanzlerin' ist dann und nur dann wahr, wenn Merkel 2006 Bundeskanzlerin ist. Diese Äquivalenz lässt sich als eine logische Wenn-dann-Verknüpfung (ein Konditional) in beide Richtungen verstehen. Prüfen wir, ob diese Verknüpfung gilt: Wenn der Satz ,Merkel ist 2006 Bundeskanzlerin' wahr ist, dann ist Merkel 2006 Bundeskanzlerin. Das ist wahr, weil die Tatsache, dass Merkel 2006 Bundeskanzlerin ist, der Wahrmacher 48 für den Satz ,Merkel ist 2006 Bundeskanzlerin' ist. Wenn dieser Satz wahr ist, dann liegt auch sein Wahrmacher vor. Umgekehrt muss auch gelten: Wenn Merkel 2006 Bundeskanzlerin ist, dann ist der Satz ,Merkel ist 2006 Bundeskanzlerin' wahr. Das ist wahr, weil immer wenn eine Tatsache besteht, auch der Satz wahr ist, der diese Tatsache ausdrückt. Also gilt die Äquivalenz. Die meisten Philosophen, die sich mit Wahrheit beschäftigen, sind auch der Auffassung, dass es sich nicht nur um eine materiale Äquivalenz 49 handelt, sondern dass diese Äqui47 48

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Vgl. Williamson 1994, S. 162. Der Begriff des Wahrmachers wird hier nicht im engen Sinne der Wahrmachertheorie verstanden, sondern einfach vortheoretisch als dasjenige, was für die Wahrheit des Wahrheitswertträgers verantwortlich ist. Eine materiale Äquivalenz ist bereits wahr, wenn der Wahrheitswert der verknüpften Teilsätze tatsächlich übereinstimmt, also beide Teilsätze wahr oder beide falsch sind.

Grundlegende Merkmale der Wahrheit

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valenz in allen Welten, d.h. notwendig"', wahr ist. Wie wir später sehen werden, ist nur strittig, ob diese Äquivalenz Wahrheit

definiert.

Im Regelfall sind außerdem die Faktoren, die über die Wahrheit und Falschheit einer Uberzeugung entscheiden, von dieser Uberzeugung unabhängig. 50 N u r so ist es möglich, dass Uberzeugungen falsch sein können und überhaupt die Differenz von Wahrheit und Falschheit eröffnet wird. Diese Unabhängigkeit der Wahrheit vom Fürwahrhalten ist ein minimaler realistischer Kern des Wahrheitsbegriffs, der unstrittig zwischen allen Positionen ist. 51 Schließlich spricht vieles dafür, dass Wahrheit keine rein sprachrelative Eigenschaft ist. Die Bedeutung eines Satzes lässt sich nämlich als dessen Wahrheitsbedingung analysieren. 52 Deshalb können wir die Bedeutung eines Satzes durch eine Paraphrase angeben, die unter denselben Bedingungen wahr ist. Die Bedeutung des Satzes ,Nichts ist neu in der Philosophie' lässt sich beispielsweise durch den Satz ,Es gibt keine neuen philosophischen Positionen' angeben, weil der zweite Satz unter denselben Bedingungen wahr ist wie der erste. Wenn das richtig ist, dann lässt sich ein Satz einer Sprache nur dann in einen Satz einer anderen Sprache übersetzen, wenn beide Sätze dieselben Wahrheitsbedingungen haben. Und die können sie nur dann haben, wenn Wahrheit über alle Sprachen hinweg dasselbe bedeutet. 53 Wenn man Wahrheit sprachrelativ versteht, muss man also entweder die Annahme aufgeben, dass die

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Eine Ausnahme sind selbstbezügliche Überzeugungen wie „Dies ist eine Überzeugung" oder die Überzeugung „Ich habe eine einzige Überzeugung". Vgl. dazu Williams 1996, S. 228: „wenn es um wahr und lalsch geht, dann ist es nicht das Denken, das es so macht (...)." Es gibt allerdings auch alternative Ansätze zu einer nicht-wahrheitskonditionalen Semantik, die hier jedoch nicht eigens berücksichtigt werden. Dieser Aspekt wird vor allem von Davidson vertreten. Vgl. etwa Davidson 2001, S. 637.

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Wahrheit

Bedeutung eines Satzes dessen Wahrheitsbedingung ist, oder man muss die Ubersetzbarkeit von Sprachen ineinander aufgeben, was beides gleichermaßen unplausibel ist. Adäquatheitsbedingungen für Wahrheitstheorien (1) Wahrheit ist eine absolute Eigenschaft. (2) Wahrheit ist extensional. (3) Wahrheit erfüllt das Zitattilgungsschema. (4) Wahrheit fällt nicht mit dem Fürwahrhalten zusammen. (5) Wahrheit ist nicht sprachrelativ.

2.2 Wahrheitstheorien Wenn man die verschiedenen Wahrheitstheorien nach systematischen Gesichtspunkten ordnet, dann kann man sie zunächst in epistemische und nicht-epistemische (oder realistische) Wahrheitstheorien unterteilen. Den epistemischen Wahrheitstheorien zufolge lässt sich Wahrheit durch Rechtfertigungskriterien definieren. Realistische Wahrheitstheorien bestreiten das. Unter den realistischen Wahrheitstheorien lassen sich wiederum drei Typen von Theorien unterscheiden. Deflationäre Theorien gehen davon aus, dass sich Wahrheit allein durch das Zitattilgungsschema definieren lässt und es ansonsten nichts Interessantes über Wahrheit zu sagen gibt. Daneben gibt es Theorien, die von der Undefinierbarkeit bzw. Primitivität des Wahrheitsbegriffes ausgehen. Schließlich gibt es die Korrespondenztheorien der Wahrheit, die Wahrheit als eine relationale Eigenschaft zwischen Wahrmachern und Wahrheitswertträgern auffassen, nämlich die Relation der Entsprechung oder Korrespondenz.

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Wahrheitstheorien

Epistemische Wahrheitstheorien

Deflationismus

Realistische Wahrheitstheorien

Primitivismus

Korrespondenztheorie

Historisch betrachtet war die Korrespondenztheorie bis ins 19. Jahrhundert hinein die dominierende Position. Zu ihren klassischen Vertretern gehörten Aristoteles 54 , Karneades, dem Sextus Empiricus die Auffassung zuschreibt, dass die Vorstellung wahr ist „wenn sie mit dem Vorgestellten zusammenstimmt, falsch aber, wenn sie ihm widerspricht" 55 , Thomas von Aquin, der die Formel prägte „Veritas est adaequatio rei et intellectus", also dass Wahrheit die Ubereinstimmung des Dinges mit dem Intellekt sei,56 Descartes, Locke, Leibniz, Hume, der Wahrheit „in der Ubereinstimmung unserer Vorstellung von Gegenständen mit ihrer realen Existenz" sieht, 57 Kant, der sagt, dass die Wahrheit „die Ubereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstande sei" 58 und viele andere. Erst im 19. und 20. Jahrhundert geriet die Korrespondenztheorie zunehmend in Misskredit, weil auf der einen Seite Charles Sanders Peirce und die amerikanischen Pragmatisten die korrespondenztheoAristoteles 1964, Kategorienschrift 12bll, 14bl4; De Interpretatione 16a3. 55 Empiricus 1957, Adversus Mathematicos, VII, 168. 5Í Aquin 1996, Q . l ; A.l & 3. 57 Hume 1978, II, 3, 10. 58 Kant 1998, Β 82. 54

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Wahrheit

retische Wahrheit für prinzipiell unerkennbar hielten und auf der anderen Seite Frege die Korrespondenztheorie aus semantischen und metaphysischen Gründen ablehnte. Neben der epistemischen Wahrheitstheorie, die in unterschiedlichen Versionen von Peirce, Neurath, Schlick, Putnam, Habermas und Dummett vertreten wurde, 59 fanden auch der Deflationismus (Frege, Ramsey, Quine) und der Primitivismus (Frege, Davidson 60 ) im 20. Jahrhundert viel Beachtung. Inzwischen gibt es gewisse Tendenzen zu einer Rehabilitierung der Korrespondenztheorie.

2.2.1 Epistemische Wahrheitstheorien Am Anfang der Diskussion der verschiedenen Wahrheitstheorien sollen die epistemischen Wahrheitstheorien stehen. U m ihre zentrale These zu erläutern, muss zunächst die wichtige Unterscheidung zwischen der Natur der Wahrheit und den Kriterien* der Wahrheit erklärt werden. Die Natur der Wahrheit ist das, was Wahrheit der Sache nach ist. Ein Wahrheits&nterium ist dagegen etwas, mit dessen Hilfe wir feststellen bzw. entscheiden, ob eine Uberzeugung oder ein Satz wahr ist. Normalerweise nehmen wir an, dass die Natur einer Sache und die Kriterien für ihr Vorliegen nicht ein und dasselbe sind. So ist eine Säure, kurz gesagt, ein Protonenspender, aber unser Kriterium für ihr Vorliegen ist der Lackmustest. Die Vertreter epistemischer Wahrheitstheorien behaupten nun, dass es sich im Fall der Wahrheit anders verhält. Die Natur und das Kriterium der Wahrheit sollen der Sache nach ein und dasselbe sein. Wahrheiten hängen deshalb notwendigerweise mit unseren

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Möglicherweise sind Berkeley und Hegel (in der Einleitung zu seiner Phänomenologie des Geistes) bereits frühe Vorläufer solcher epistemischen Theorien. Frege 2003, S. 38, erwägt die Undefinierbarkeit der Wahrheit; Davidson 2001, S. 624f, vertritt sie dezidiert.

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Kriterien für sie zusammen und können sie prinzipiell nicht transzendieren. Wenn das richtig ist, dann muss die folgende Äquivalenz notwendig wahr sein: (EWT) Die Proposition, dass p, ist dann und nur dann wahr, wenn das Kriterium der Wahrheit erfüllt ist. Die epistemischen Wahrheitstheorien wurden in erster Linie indirekt"" begründet, und zwar durch Argumente, die zeigen sollten, dass die Alternative zu ihnen - also die realistische Wahrheitsauffassung - unweigerlich zu gravierenden erkenntnistheoretischen und semantischen Problemen führt. Sehen wir uns zunächst die erkenntnistheoretischen Probleme an, zu denen nicht-epistemische Wahrheitsauffassungen führen sollen.61 Bei Brand Blanshard, einem der wichtigsten Vertreter der Kohärenztheorie der Wahrheit, findet sich die folgende Argumentation: Wenn man die Natur der Wahrheit auf eine Weise konzipiert und ihren Test auf eine andere, dann kann man ziemlich sicher sein, dass die beiden früher oder später auseinander fallen. Am Ende ist der einzige Test, der nicht in die Irre führt, die spezifische und charakteristische Natur der Wahrheit selbst.62

Blanshard behauptet hier, dass daraus, dass die Kriterien (die er ,Test' nennt) und die Natur der Wahrheit nicht identisch sind, folgt, dass die Kriterien täuschen. Damit wäre eine skeptische Konsequenz unausweichlich. Tatsächlich folgt aber nicht, was Blanshard behauptet. Aus der Verschiedenheit von Kriterium und Natur der Wahrheit folgt nur, dass die Kriterien täuschen können. Diese bloße Möglichkeit des Irrtums ist vollkommen damit verträglich, dass die Kriterien die Wahrheit zuverlässig indizieren. Sie ist sogar damit verträglich, dass die Kriterien absolut fehlerfrei funktionieren. Es ist nur logisch und metaphysisch möglich, dass sie täuschen. Deshalb ist es nicht richtig, 61 62

Vgl. dazu die ausgezeichnete Darstellung in Aiston 1996, Kap. 3. Blanshard 1939, Bd. II, S. 268f, meine Übersetzung.

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dass aus einem realistischen Wahrheitsverständnis automatisch der Skeptizismus folgt.63 Es gibt noch ein weiteres erkenntnistheoretisches Argument gegen realistische Auffassungen der Wahrheit, das sich insbesondere gegen die Korrespondenztheorie der Wahrheit richtet.64 Nehmen wir einmal an, Wahrheit bestünde in der Ubereinstimmung zwischen dem Gehalt unserer Uberzeugungen und den Tatsachen in der Welt. Dann, so lautet das Argument, könnten wir die Wahrheit niemals erfassen, weil wir dazu unsere Uberzeugungen mit den Tatsachen vergleichen müssten, um gegebenenfalls eine Korrespondenz beider zu erkennen. Um zu erfassen, dass unsere Uberzeugung, dass p, wahr ist, müssten wir also zunächst erfassen, dass wir glauben, dass p, dann erfassen, dass es der Fall ist, dass p, und erst dann könnten wir erkennen, dass eine Ubereinstimmung zwischen beiden besteht. Doch um zu erfassen, dass es der Fall ist, dass p, müssten wir bereits erfassen, dass ,p' wahr ist. Wir können nämlich unsere Uberzeugungen mit der Welt nur vergleichen, wenn wir beide kognitiv (durch wahre Uberzeugungen) erfasst haben. Die Welt ist uns ja nicht anders gegeben als durch unsere kognitiven Zustände. Doch wenn das gilt, dann könnten wir die Wahrheit unserer Überzeugung erst erfassen, wenn wir diese Wahrheit bereits erfasst hätten. Die Feststellung der Wahrheit durch Vergleich unserer Überzeugungen mit den Tatsachen wäre also zirkulär"". Dieses Argument beruht auf einem Denkfehler. Er besteht darin, dass im Argument fälschlich unterstellt wird, dass wir Wahrheiten im Sinne von Tatsachen nur dann kognitiv erfassen können, wenn wir erfassen, dass eine Korrespondenzrelation besteht. Das ist aber nicht der Fall. Um eine wahre Uberzeugung über eine Tatsache zu haben, genügt es, dass ich eine Uberzeugung habe, die faktisch mit einer Tatsache

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Übrigens könnte man auch dafürhalten, dass skeptische Konsequenzen eine Wahrheitstheorie nicht automatisch widerlegen. Vgl. dazu Blanshard 1939, Bd. II, S. 269.

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korrespondiert. Ich muss diese Korrespondenz nicht außerdem noch erfassen. Die realistische Wahrheitsauffassung führt also nicht automatisch zu den skeptischen Konsequenzen, die Vertreter der epistemischen Wahrheitstheorie ihr unterstellen. Sehen wir uns jetzt das semantische Argument gegen die realistische Wahrheitsauffassung an. Offenbar können wir den Begriff der Wahrheit verstehen. Wir können außerdem verstehen, was ein Satz bedeutet. Und wenn man von der plausiblen Annahme ausgeht, dass die Bedeutung eines Satzes in seiner Wahrheitsbedingung besteht, dann ergibt sich daraus, dass wir auch die Wahrheitsbedingungen von Sätzen verstehen können. Wenn wir Wahrheit bzw. die Wahrheitsbedingungen von Sätzen verstehen, dann ist es ziemlich plausibel, dass dieses Verständnis sich genau darin ausdrückt, dass wir sagen können, ob Wahrheit im konkreten Fall vorliegt bzw. ob ein Satz wahr ist. Wenn wir also den Begriff Wahrheit verstehen, dann kennen wir die Kriterien seiner korrekten Anwendung, und wenn wir die Bedeutung eines Satzes verstehen, dann kennen wir Kriterien, mit Hilfe derer wir feststellen können, ob er wahr ist. In diesem Fall spricht man auch von Verifikationskriterien. Was wir also an der Wahrheit und den Wahrheitsbedingungen von Sätzen verstehen sind diese Verifikationskriterien. Wenn man jetzt noch die Annahme hinzunimmt, dass wir unsere Begriffe und die Bedeutung unserer Sätze vollständig verstehen können, dann folgt daraus, dass Wahrheit und Wahrheitsbedingungen auf unsere Rechtfertigungskriterien reduzierbar sind. Ansonsten würden sie das, was wir verstehen können, transzendieren. Positionen, die so argumentieren, nennt man verifikationistisch.65 Auch dieses Argument gegen die realistische Wahrheitsauffassung ist angreifbar. Das zeigt die folgende Überlegung: Was wir verstehen, wenn wir einen Begriff oder einen Satz verstehen, sind nicht die Kriterien seiner korrekten Anwendung. Wir 65

Vgl. zur Darstellung des Verifikationismus Aiston 1996, Kap. 4.

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verstehen vielmehr, wie die Welt aussehen würde, wenn der Begriff zutreffen würde bzw. der Satz wahr wäre. Und wir verstehen auch, ob der Begriff zutreffen würde bzw. der Satz wahr wäre, wenn die Welt auf eine bestimmte Weise beschaffen wäre. Diese Dinge können wir erkennen, auch wenn wir keinerlei Kriterien in der Hand haben, um zu sagen, ob der Begriff tatsächlich zutrifft bzw. der Satz tatsächlich wahr ist.66 Und in genau so einer Situation befinden wir uns, wenn wir über skeptische Szenarien nachdenken. Erinnern Sie sich an die skeptische Geschichte von Harry und Mike. Mike verfügt über keinerlei Kriterien, um zu entscheiden, ob er ein Gehirn im Tank ist oder nicht. Darin besteht sein Problem. Dennoch versteht er sehr gut, was es bedeuten würde, wäre er ein solches Gehirn im Tank. Er weiß genau, wie die Welt aussehen würde, wenn er ein solches Gehirn wäre. Dazu muss er keine Kriterien in der Hand haben, die es ihm ermöglichen zu entscheiden, ob er sich in einer solchen Situation befindet. Sobald man sich das klar gemacht hat, verliert der Verifikationismus seine anfängliche Plausibilität. Wäre diese Position nämlich richtig, dann könnte Mike das skeptische Szenario nicht einmal verstehen. Aber offensichtlich versteht er dieses Szenario sehr gut. Beide indirekten Argumente für einen epistemischen Wahrheitsbegriff sind also keine wirklich guten Argumente. Aus einem realistischen Wahrheitsbegriff folgt weder automatisch der Skeptizismus noch folgt daraus, dass wir unsere Begriffe und Sätze nicht mehr verstehen können. Sehen wir uns jetzt klassische Kandidaten für eine epistemische Analyse der Wahrheit etwas genauer an. Hier muss man zunächst zwei Typen von Theorien unterscheiden: Die einen behaupten, dass sich Wahrheit auf epistemische Kriterien reduzieren lässt, die uns hier und jetzt in einer gegebenen Situation tatsächlich zur Ver66

Einen ähnlichen Vorschlag macht Wittgenstein in seinem Tractatus. Vgl. Wittgenstein 1984, Bd. I, Satz 4.024: „Einen Satz verstehen, heißt, wissen was der Fall ist, wenn er wahr ist. (Man kann ihn also verstehen, ohne zu wissen, ob er wahr ist.)"

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fügung stehen. Die anderen behaupten dagegen, dass sich eine solche Reduktion nur auf Kriterien durchführen lässt, die uns unter idealen Bedingungen zur Verfügung stehen würden. Von den Vertretern epistemischer Wahrheitstheorien werden außerdem unterschiedliche Arten von Kriterien vorgeschlagen. In diesem Zusammenhang sind insbesondere drei Kriterien erwähnenswert: Evidenz, Konsens und Kohärenz. Der Evidenztheoretiker der Wahrheit behauptet entsprechend, dass eine Uberzeugung dann und nur dann wahr ist, wenn sie evident ist für das Erkenntnissubjekt. Der Konsenstheoretiker behauptet, dass eine Uberzeugung dann und nur dann wahr ist, wenn darüber ein Konsens unter Forschern besteht. Und der Kohärenztheoretiker vertritt die Auffassung, dass eine Uberzeugung dann und nur dann wahr ist, wenn die Überzeugung mit einem bestimmten System von Uberzeugungen kohärent"" zusammenpasst.67 Wenn man die verschiedenen Kriterien berücksichtigt und die Tatsache, dass sich diese Kriterien jeweils unter tatsächlichen oder idealen Bedingungen anwenden lassen, ergeben sich daraus die folgenden sechs Möglichkeiten: Kriterium Evidenz

tatsächliche Bedingungen

ideale Bedingungen

Phänomenalismus (Berkeley)

Husserl

Konsens Kohärenz

Peirce, Habermas Neurath

Blanshard, Walker, Putnam

Zu dieser Tabelle sind einige Erläuterungen nötig. Vertreter einer einfachen Evidenztheorie der Wahrheit nehmen etwa an, dass eine Aussage dadurch verifiziert wird, dass man wahrnimmt, dass es sich so verhält, wie die Aussage besagt. In diesem Fall wird die Aussage durch eine einzelne Wahrnehmung des Erkenntnissubjekts evident gemacht. Frühe Phänomenalisten, wie der Britische Empirist George Berkeley, waren dieser Auffassung. Edmund Husserl fand eine solche einfache Verifikation dagegen unplausibel. Als wahr erwiesen wird ihm zu67

Alle drei Kriterien lassen sich auch auf Sätze anwenden.

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folge eine Aussage nur dadurch, dass wir alle Aspekte der Aussage durch eine unendliche Abfolge von perspektivischen Wahrnehmungen der entsprechenden Sache überprüfen. Eine endgültige Verifikation ist demnach nur approximativ möglich und bleibt ein bloß idealer Zielpunkt der Forschung.68 Die Vertreter der Konsenstheorie haben eigentlich alle angenommen, dass Wahrheit sich nur auf einen idealen Konsens reduzieren lasse. Der amerikanische Pragmatist C.S. Peirce war der Auffassung, dass eine Uberzeugung dann und nur dann wahr sei, wenn die Forschermeinungen auf lange Sicht in Hinblick auf sie konvergieren.69 Habermas definiert Wahrheit durch prozedurale Bedingungen des Diskurses zwischen Forschern. Wahr wäre ein Satz, wenn es zu einem Konsens über ihn in einer zeitlich und personell unbegrenzten Diskussionsgemeinschaft käme, in der es keinerlei sachfremde Zwänge gibt.70 Kohärenztheorien der Wahrheit werden in sehr unterschiedlicher Form vertreten. Auf der einen Seite steht einer der Hauptvertreter des Wiener Kreises, Otto Neurath, der Kohärenz ganz schwach als Konsistenz (also Verträglichkeit) versteht und jede konsistente* Satzmenge für wahr hält.71 Auf der anderen Seite steht Brand Blanshard, für den Kohärenz eine viel stärkere Beziehung ist, die einen inhaltlichen Zusammenhang durch logische Implikation"" einschließt, und der nur Uberzeugungssysteme für wahr hält, die in idealer Weise kohärent sind.72 Allerdings schließt jede Auffassung von Kohärenz Konsistenz ein. Daraus ergibt sich ein gewisses Problem für Kohärenztheorien der Wahrheit. Konsistenz wird nämlich normalerweise so definiert, dass Sätze bzw. Uberzeugungen konsistent sind, wenn sie zusammen wahr sein können. Doch dann 6S 69

70 71 72

Husserl 1992, Bd. IV, Kap. 5. Peirce Peirce 2001, S. 206: „Die Auffassung, die dazu bestimmt ist, dass alle Forscher sie am Ende teilen, ist das, was wir mit Wahrheit meinen (...)." (meine Ubersetzung) Habermas 1973. Neurath 1979, S. 108. Blanshard 1939, Bd. II, S. 264 f.

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könnte Wahrheit nicht durch Kohärenz definiert werden, weil die darin eingeschlossene Konsistenz selbst nur durch Rekurs auf Wahrheit definiert werden kann. Dieses Problem lässt sich allerdings lösen, wenn man Konsistenz rein syntaktisch durch Widerspruchsfreiheit definiert.73 Gegen die epistemischen Wahrheitstheorien gibt es eine Reihe von Einwänden. Die ersten beiden Einwände richten sich nur gegen eine Definition"" von Wahrheit durch Kriterien, die für uns unter konkreten Bedingungen tatsächlich anwendbar sind. Der Relativitätseinwand·. Ob jemandem eine Proposition evident erscheint, ob über sie ein tatsächlicher Konsens besteht und ob eine Proposition mit einem bestimmten Uberzeugungssystem kohärent zusammenpasst, sind Dinge, die relativ zum Zeitpunkt und relativ zu den betreffenden Personen sind. Was mir heute evident erscheint, muss einem anderen nicht evident erscheinen und morgen könnte es auch mir nicht mehr evident erscheinen. Worin heute bestimmte Kommunikationsteilnehmer übereinstimmen, das kann von anderen Personen bestritten werden und das kann morgen auch von einigen der jetzt miteinander übereinstimmenden Personen abgelehnt werden. Ob eine Proposition kohärent mit anderen Uberzeugungen oder Sätzen zusammenpasst, hängt davon ab, welches Uberzeugungssystem bzw. welche Menge von Sätzen zugrunde gelegt wird. Relativ zu unterschiedlichen Bezugssystemen kann das Kriterium einmal erfüllt und ein anderes Mal verletzt sein. Tatsächliche Kriterien sind also immer relativ auf Personen und Zeitpunkte. Aber Wahrheit, so lautet eine Adäquatheitsbedingung, ist eine absolute Eigenschaft. Deshalb sind solche Kriterien nicht hinreichend"' für Wahrheit.74 Der Transzendenzeinwand·. Wenn wir allein die epistemischen Kriterien berücksichtigen, die uns tatsächlich zu einem gegebenen Zeitpunkt zur Verfügung stehen, dann ist die An73 74

Vgl. dazu Kirkham 1992, S. 107. Russell 2001, S. 19, und Blanshard 1939, Bd. II, S. 271, werfen dieses Problem für Kohärenztheorien auf.

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nähme sehr plausibel, dass es Wahrheiten gibt, die keine dieser Kriterien erfüllen. Demnach gibt es rechtfertigungstranszendente Wahrheiten. Wahrheiten über die Vergangenheit sind dafür ein besonders gutes Beispiel. Nach allem, was wir heute wissen, hat die Erde auf den Tag genau vor 100000 Jahren existiert. Wenn sie zu diesem Zeitpunkt existiert hat, dann gab es auch an dem Ort, an dem Sie sich jetzt gerade aufhalten, spezifische Wetterverhältnisse. Doch mit Hilfe welcher Ihnen jetzt zur Verfügung stehenden Kriterien sollten Sie in der Lage sein zu sagen, ob es geregnet hat, wie lange die Sonne schien und welche Luftfeuchtigkeit herrschte? Das sind Fakten, die uns heute nicht mehr kognitiv durch irgendwelche Kriterien zugänglich sind. In diesem Sinne ist es ziemlich offensichtlich, dass es rechtfertigungstranszendente Wahrheiten gibt. Die Erfüllung der epistemischen Kriterien ist also für Wahrheit auch nicht notwendig. Aus diesen beiden ersten Einwänden kann man die Schlussfolgerung ziehen, dass eine epistemische Definition der Wahrheit, wenn sie überhaupt möglich ist, nur durch Kriterien unter idealisierten Bedingungen möglich ist. Was unter idealen Bedingungen evident ist oder in einem ideal kohärenten Uberzeugungssystem enthalten ist oder worüber unter idealen Bedingungen ein Konsens zu erzielen ist, das muss nicht in gleicher Weise relativ sein, wie es die Dinge sind, auf die unter faktischen Bedingungen die genannten Kriterien zutreffen. Und auch wenn man zugestehen muss, dass es Tatsachen gibt, die für uns faktisch epistemisch nicht zugänglich sind, so könnten diese Tatsachen unter idealen Bedingungen immer noch zugänglich sein. Alle vergangenen Tatsachen ließen sich herausfinden, wenn wir uns vor Ort befinden würden oder wenn wir mit Hilfe perfekter Instrumente alle uns gegenwärtig zur Verfügung stehenden Zeugnisse auswerten könnten oder wenn wir ideale Beobachter (wie Gott) wären. Selbst wenn also die Kriterien, die uns faktisch zur Verfügung stehen, weder hinreichend noch notwendig für Wahrheit sind, muss das noch lange nicht für idealisierte Kriterien gelten.

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Es gibt nun zwei weitere Einwände, die sich speziell gegen eine Definition von Wahrheit durch Kriterien der Verifikation unter idealen Bedingungen richten. Der Zirkularitätseinwand·. Wie sind ,ideale Bedingungen der Verifikation' definiert? Es drängt sich der Verdacht auf, dass wir als ,ideale Bedingungen' genau die Bedingungen verstehen, unter denen die Kriterien alle Irrtumsmöglichkeiten ausschließen. Wenn das richtig ist, dann muss für die Definition idealer Bedingungen der Wahrheitsbegriff bereits vorausgesetzt werden. Wenn wir also mit Hilfe idealer Bedingungen Wahrheit definieren, ergibt sich ein Definitionszirkel. Das lässt sich anhand von Habermas Theorie des idealen Diskurses veranschaulichen. Habermas spricht öfter davon, dass ein idealer Diskurs dann vorliege, wenn der „zwanglose Zwang des besseren Arguments" herrsche. Wenn die idealen Bedingungen jedoch dadurch festgelegt werden, dass sich in ihnen das bessere Argument durchsetzt, dann setzt das ein Verständnis des besseren Arguments voraus. Und es ist nur schwer zu sehen, wie man das bessere Argument ohne Bezug auf die Wahrheit verstehen kann.75 Der Wahrheitsbegriff scheint also für die Definition idealer Bedingungen bereits vorausgesetzt werden zu müssen. Der Einwand von den skeptischen Konsequenzen·. Der epistemische Wahrheitsbegriff hat die Funktion, die Kluft zwischen den Kriterien der Wahrheit und der Natur der Wahrheit zu überbrücken. Das soll, gemäß seiner Vertreter, skeptische Konsequenzen im Keim ersticken. Doch wenn die Wahrheit auf Kriterien unter idealen Bedingungen zurückgeführt wird, dann ist diese Wahrheit gegenüber den Kriterien, über die wir hier und jetzt tatsächlich verfügen, immer noch transzendent. 75

Wenn ein gutes Argument ein schlüssiges Argument ist, dann sind nur gültige Argumente mit wahren Prämissen gut. Wenn man dagegen bereits gültige Argumente für gut hält, dann müssen es immer noch Argumente sein, die derart sind, dass die Prämissen, wenn sie wahr sind, die Wahrheit der Konklusion erzwingen. In beiden Fällen ist es nötig, zur Definition eines guten Arguments den Wahrheitsbegriff bereits vorauszusetzen. Vgl. auch Beckermann 1972.

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Wir können also von unserem gegenwärtigen Standpunkt aus gar nicht beurteilen, ob unsere Uberzeugungen die Kriterien unter idealen Bedingungen erfüllen oder nicht. Und das bedeutet, dass ein plausibler epistemischer Wahrheitsbegriff in keiner Weise besser dasteht als sein realistischer Rivale.76 Es gibt noch zwei weitere, prinzipielle Einwände gegen epistemische Theorien der Wahrheit. Der Parasitismuseinwand·. Es lässt sich mit Hilfe begrifflicher Überlegungen zeigen, dass der epistemische Wahrheitsbegriff nicht autonom ist, sondern auf tieferer Ebene einen realistischen Wahrheitsbegriff voraussetzt. Epistemische Wahrheitstheorien können dann bestenfalls für einen Teilbereich von Wahrheiten gelten; sie verhalten sich parasitär zu realistischen Wahrheitstheorien. Das soll am Beispiel der Kohärenztheorie der Wahrheit erläutert werden. Die Kohärenztheorie besagt, dass die Tatsache, die eine Uberzeugung wahr macht, ihre Kohärenz mit dem Überzeugungssystem ist. Doch wodurch wird die Aussage, dass die Überzeugung mit dem Überzeugungssystem kohärent zusammenpasst, wahr gemacht? Entweder durch die Tatsache der Kohärenz selbst. Dann gilt die Kohärenztheorie der Wahrheit nicht für Wahrheiten über die Kohärenz. Oder die Metaaussage, dass die Überzeugung mit dem Überzeugungssystem kohärent zusammenpasst, wird ihrerseits dadurch wahr gemacht, dass sie selbst auch mit dem Überzeugungssystem kohärent zusammenpasst. Wenn sich alle Tatsachen (einschließlich der Tatsachen über die Kohärenz) kohärenztheoretisch analysieren lassen, dann bekommen wir einen unendlichen und deshalb vitiösen Regress.77 Das Problem lässt sich auch so formulieren: Wenn alle Tatsachen kohärenztheoretisch analysiert werden, dann gibt es 76

77

Vgl. in diesem Sinne Blanshard 1939, S. 269; Williams 1996, S. 151. Das legt auch Peirce 2001, S. 206f, direkt nahe: „Die Auffassung, die dazu bestimmt ist, dass alle Forscher sie am Ende alle teilen, ist das, was wir mit Wahrheit meinen (...). (...) Die Auffassung, die sich letzten Endes aus der Forschung ergibt, hängt nicht davon ab, was irgendjemand aktual denkt." (meine Ubersetzung). Kirkham 1992, S. 114f; Fumerton 1995.

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am Ende keinerlei Tatsachen, die darüber entscheiden, ob eine Uberzeugung wahr ist oder nicht. Der Wahrheitswert aller Aussagen und Uberzeugungen bleibt radikal unbestimmt.78 So bleibt nur der Ausweg, dass die Kohärenztheorie einfach auf einen Teil der Wahrheiten beschränkt wird.79 In diesem Fall ist die epistemische Wahrheitstheorie aber gar keine echte Alternative zur realistischen Wahrheitstheorie, sondern setzt diese voraus. Man kann auch sagen, dass die epistemische Wahrheitstheorie sich parasitär zur realistischen Wahrheitstheorie verhält. Der Einwand vom Primat der Wahrheit: Mit Hilfe einer relativ einfachen Überlegung lässt sich zeigen, dass der Wahrheitsbegriff gegenüber dem Begriff der erkenntnistheoretischen Rechtfertigung primär ist. Wenn er das jedoch ist, dann führt die Definition der Wahrheit durch Rechtfertigungskriterien zu einem Definitionszirkel. Ausgangspunkt der Überlegung ist die Beobachtung, dass es unterschiedliche Arten der Rechtfertigung gibt. Neben der erkenntnistheoretischen Rechtfertigung gibt es auch eme pragmatische Rechtfertigung. Und beide Arten der Rechtfertigung sind voneinander unabhängig. Betrachten Sie das folgende Beispiel: Peter ist aufgrund seiner bislang miserablen Leistungsbilanz im erkenntnistheoretischen Sinne nicht gerechtfertigt zu glauben, dass er die bevorstehende Klausur besteht. Er weiß nun aber, dass Selbstvertrauen die Erfolgsaussichten deutlich verbessert. Deshalb ist er pragmatisch gesehen gerechtfertigt zu glauben, dass er die bevorstehende Klausur bestehen wird. Es wäre also aus dieser Perspektive rational, wenn Peter sich einreden würde, dass er die Klausur bestehen wird. Er ist also erkenntnistheoretisch nicht gerechtfertigt, aber pragmatisch gerechtfertigt zu glauben, dass er die Klausur bestehen wird. Wie lassen sich die beiden Arten der Rechtfertigung unterscheiden? 78 79

Walker 2001, S. 147. Vgl. auch Walker 2001, S. 149. Er spricht von einer ,unreinen' Kohärenztheorie.

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Generell gilt, dass Rechtfertigung eine instrumenteile Form der Rationalität ist. Unterschiedliche Arten der Rechtfertigung lassen sich dadurch unterscheiden, dass unterschiedliche Ziele verfolgt werden. Das Ziel der erkenntnistheoretischen Rechtfertigung ist die Wahrheit, während das Ziel der pragmatischen Rechtfertigung der Handlungserfolg ist. Wenn das richtig ist, dann kann man aber Wahrheit nicht mit Hilfe erkenntnistheoretischer Rechtfertigung definieren, denn die erkenntnistheoretische Rechtfertigung ist ja ihrerseits nur in Bezug auf Wahrheit definiert. Fassen wir zusammen: Es hat sich gezeigt, dass es keine wirklich starken Argumente für epistemische Wahrheitstheorien gibt. Umgekehrt gibt es eine Reihe von starken Einwänden gegen solche epistemischen Wahrheitstheorien. Nimmt man beides zusammen, dann wird man wohl sagen können, dass epistemische Wahrheitstheorien als Option ausscheiden.

2.2.2 Deflationäre Wahrheitstheorien Sobald man akzeptiert, dass sich Wahrheit nicht epistemisch analysieren oder erklären lässt, sondern radikal nicht-epistemisch ist, vertritt man bereits eine realistische Position bezüglich der Wahrheit. 80 Wie wir gesehen haben, folgt daraus nicht, dass Wahrheit erkenntnistheoretisch unzugänglich ist. Auch Eigenschaften, die selbst keine epistemische Natur haben, können zugänglich sein. Der Wahrheitsrealismus ist neutral gegenüber der Frage, ob Wahrheit eine metaphysische Eigenschaft der Korrespondenz zwischen Wahrheitswertträgern und ihren Wahrmachern ist oder ob das Wahrheitsprädikat nur ein nützlicher semantischer Mechanismus ist, um indirekt über die Welt reden zu können, indem wir angeführten Sätzen Wahrheit zuschreiben und damit dasselbe aussagen wie mit einem Satz über die Welt. Zu der letzteren Position neigt der so genannte Defla80

Vgl. Williams 1996, S. 154.

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tionismus. Er behandelt Wahrheit deflationär, weil sich nach seiner Auffassung über Wahrheit nichts Interessantes und Substantielles aussagen lässt. Das Wahrheitsprädikat mag zwar in manchen Situationen nützlich sein, es bezeichnet aber keine echte Eigenschaft. Manche Prädikate, die wir im Alltag verwenden, sind von dieser Art, beispielsweise das Prädikat „Elternteil", das dann auf eine Person zutrifft, wenn sie ein Vater oder eine Mutter ist. Dieses Prädikat bezeichnet keine echte Eigenschaft, weil es eigenartig wäre, wenn wir annehmen würden, dass Personen disjunktive* Eigenschaften haben. Sie erfüllen dieses Prädikat, indem sie Väter sind oder indem sie Mütter sind. Wir müssen nicht noch eine weitere disjunktive Eigenschaft Elternteil-zu-sein hinzunehmen. Der Deflationismus behauptet dasselbe über unser Prädikat ,wahr'. Der Grundgedanke des Deflationismus lässt sich auch so ausdrücken: Wenn wir die Welt mit extrem sparsamen Mitteln beschreiben würden, dann würde in einer solchen sparsamen Beschreibung Wahrheit nicht mehr auftauchen, weil Wahrheit nichts ist, was in der Welt vorkommt. Deshalb ist das Zitattilgungsschema nicht nur wahr (was alle Wahrheitstheorien akzeptieren), sondern dieses Schema sagt bereits alles aus, was man über Wahrheit überhaupt sagen kann. Wenn es aber richtig ist, dass „,p' ist wahr" im Grunde nichts anderes besagt als „p", dann kann man alles sagen, ohne das Wahrheitsprädikat überhaupt zu verwenden, und zwar indem man einfach direkt über die Welt redet. Gottlob Frege hat diese Intuition als erster deutlich zum Ausdruck gebracht. In Der Gedanke heißt es diesbezüglich: „Beachtenswert ist es auch, dass der Satz ,Ich rieche Veilchenduft' doch wohl denselben Inhalt hat wie der Satz ,Es ist wahr, dass ich Veilchenduft rieche'. So scheint denn dem Gedanken dadurch nichts hinzugefügt zu werden, dass ich ihm die Eigenschaft der Wahrheit zulege."81 Deshalb kann man Frege auch als Vater der deflationären Wahrheitsauffassung be-

81

Frege 2003, S. 39f.

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zeichnen.82 Mit Hilfe des Zitattilgungsschemas lässt sich das Wahrheitsprädikat für eine bestimmte Sprache S durch die Liste aller Instanzen dieses Schemas in dieser Sprache definieren. Wenn diese Definition von ,wahr-in-S' in einer Metasprache erfolgt, die nicht mit S identisch ist, dann lassen sich dadurch auch semantische Paradoxien vermeiden, die ansonsten unweigerlich auftreten. Die Vorteile des Deflationismus liegen auf der Hand. Erstens handelt es sich um eine realistische Auffassung, die in der Lage ist, unsere alltägliche Intuition zum Ausdruck zu bringen, dass ein Satz wahr ist, wenn der Fall ist, was dieser Satz behauptet, ohne sich auf irgendeine metaphysische Interpretation festzulegen. Da der Deflationismus eine Korrespondenzrelation zwischen Geist bzw. Sprache und Welt nicht erwähnt, verpflichtet er sich auch nicht auf schwer zu explizierende Dinge wie Tatsachen und Ubereinstimmungsrelationen. Der Ansatz ist in metaphysischer Hinsicht minimalistisch und deshalb auch nicht in gleicher Weise angreifbar wie die klassische Korrespondenztheorie. Zweitens scheinen unsere Bedeutungsintuitionen ganz eindeutig für den Deflationismus zu sprechen. Betrachten Sie den Satz ,„Schnee ist weiß' ist dann und nur dann wahr, wenn Schnee weiß ist". Dieser Satz ist nicht nur einfach wahr oder notwendigerweise wahr. Sobald Sie diesen Satz verstehen, wissen Sie auch, dass er notwendigerweise wahr ist. Sätze, deren notwendige Wahrheit man allein aufgrund ihres Verstehens erfasst, sind analytische* Sätze.83 Wenn es jedoch analytisch wahr ist, dass ,Schnee ist weiß' dann und nur dann wahr ist, wenn Schnee weiß ist, dann ist es plausibel anzunehmen, dass ,„Schnee ist weiß' ist wahr" und „Schnee ist weiß" dasselbe bedeuten. Schließlich ist auch der Satz „Franz ist ein Junggeselle 82

83

Der Deflationismus wird auch von Ramsey 2001, Quine 1990, S. 80, und Horwich 1990 vertreten. Für die analytische Interpretation der Äquivalenz sprechen sich Frege 2003, S. 39f., und Ramsey 2001, S. 437, aus.

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dann und nur dann, wenn Franz ein unverheirateter Mann ist" analytisch, weil „Franz ist ein Junggeselle" und „Franz ist ein unverheirateter Mann" dasselbe bedeuten. Dass „,Schnee ist weiß' ist wahr" und „Schnee ist weiß" dasselbe bedeuten ist aber genau das, was der Deflationist behauptet. Das Argument lautet also: (1) (2)

Wenn eine Äquivalenz analytisch wahr ist, dann sind die beiden in ihr verknüpften Teilsätze bedeutungsgleich. Die Äquivalenz „,Schnee ist weiß' ist wahr genau dann, wenn Schnee weiß ist" ist analytisch wahr.

Also: „,Schnee ist weiß' ist wahr" bedeutet dasselbe wie „Schnee ist weiß". Der Deflationismus beruht nun auf einer Verallgemeinerung dieser Konsequenz für alle Sätze. Es gibt jedoch neben diesen Argumenten für den Deflationismus auch eine Reihe von Einwänden gegen ihn. Erstens kann man sich fragen, warum wir das Wahrheitsprädikat überhaupt haben, wenn es - wie der Deflationist behauptet eigentlich gar nichts bezeichnet. Darauf hat der Deflationist jedoch eine Antwort parat. Auch Prädikate, die keine echten Eigenschaften bezeichnen, können nützliche Instrumente der Kommunikation sein. Stellen Sie sich vor, Sie wissen nicht, was genau eine Person ausgesagt hat, die Sie für absolut glaubwürdig halten. Wenn Sie es wüssten, dann würden Sie sagen, dass diese Person behauptet hat, dass p, und p. Dann wäre das Wahrheitsprädikat überflüssig. Da Sie den Inhalt der Behauptung jedoch nicht kennen, bleibt Ihnen nichts anderes übrig, als zu sagen, dass das, was diese Person behauptet hat, wahr ist. Das Wahrheitsprädikat erlaubt außerdem vereinfachende Abkürzungen. Nehmen Sie an, Sie wollen sagen, dass es so ist, wie der umfangreiche Bericht einer Person S besagt, dann müssten Sie, wenn Sie das Wahrheitsprädikat vermeiden wollen, sagen: „Die Person S sagt, dass ρ und dass q und dass r ... und ρ und q und r ...". Das ist natürlich sehr umständlich.

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Einfacher ist es, wenn Sie sagen „Alles, was die Person sagt, ist wahr". Aber aus dieser Nützlichkeit des Wahrheitsprädikats folgt eben nicht, dass es wirklich etwas bezeichnet. Der erste Einwand gegen den Deflationismus kann also zurückgewiesen werden. Zweitens zeigt sich bei genauerem Hinsehen, dass das Hauptargument für den Deflationismus aus der Analytizität des Zitattilgungsschemas auf einer falschen Prämisse beruht.84 Sehen wir uns dieses Argument noch einmal an: (1) (2)

Wenn eine Äquivalenz analytisch wahr ist, dann sind die beiden in ihr verknüpften Teilsätze bedeutungsgleich. Die Äquivalenz ,„Schnee ist weiß' ist wahr genau dann, wenn Schnee weiß ist" ist analytisch wahr.

Also: „,Schnee ist weiß' ist wahr" bedeutet dasselbe wie „Schnee ist weiß". In diesem Argument ist die Prämisse (1) problematisch. Es gibt zwar Beispiele, in denen die Teilsätze einer analytischen Äquivalenz bedeutungsgleich sind. Denken Sie an den von mir oben bereits angeführten Satz über den Junggesellen Franz. Aber es gibt auch Beispiele, in denen die Teilsätze klarerweise nicht bedeutungsgleich sind. Betrachten Sie den Satz: (3)

Ein allwissendes Wesen würde glauben, dass Zucker süß ist, dann und nur dann, wenn Zucker süß ist.

Dabei handelt es sich offensichtlich um eine notwendig wahre Äquivalenz. Damit eine Äquivalenz notwendig wahr ist, muss folgendes gelten: In jeder Situation, in der der linke Teilsatz wahr ist, ist auch der rechte Teilsatz wahr, und umgekehrt. Prüfen wir das für den vorliegenden Satz. Was auch immer ein allwissendes Wesen (sofern es dieses gibt) glaubt ist wahr, sonst wäre dieses Wesen nicht allwissend. Wenn es also glaubt, dass Zucker süß ist, dann ist Zucker süß. Umgekehrt: Wenn etwas 84

Vgl. zum Folgenden Aiston 1996, S. 48.

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eine Tatsache ist, dann wird sie auch vom allwissenden Wesen (sofern es dieses gibt) geglaubt, sonst hätte dieses Wesen kein Wissen über alles. Die Äquivalenz ist also notwendig wahr. Und dass sie das ist, erkennen wir allein aufgrund unseres Verstehens dieses Satzes. Wir brauchen dazu keinerlei zusätzliches Wissen. (3) ist also eine analytisch wahre Äquivalenz. Wäre die Prämisse (1) wahr, dann müsste also „Ein allwissendes Wesen würde glauben, dass Zucker süß ist" bedeutungsgleich mit „Zucker ist süß" sein. Das ist aber extrem unplausibel, denn im ersten Satz wird auf ganz andere Dinge Bezug genommen als im zweiten Satz. Deshalb ist Prämisse (1) entgegen dem ersten Anschein nicht wahr; und damit ist das Argument für den Deflationismus zu Fall gebracht.85 Drittens kann der Deflationist nicht an seiner These festhalten, dass die notwendige Wahrheit der Äquivalenz „Der Satz ,p' ist wahr dann und nur dann, wenn p" die Bedeutung des Wahrheitsprädikats festlegt.86 Es ergibt sich nämlich das folgende Dilemma"": Entweder ist die Äquivalenz gar nicht notwendig, oder sie ist nicht dazu geeignet, die Bedeutung von ,wahr' zu erklären. Warum ist die Äquivalenz nicht notwendig wahr? Weil sie über grammatische Entitäten redet, die auch etwas anderes bedeuten könnten. Wenn der Satz „Schnee ist weiß" beispielsweise bedeutet hätte, dass Zucker süß ist, dann wäre er nicht wahr gewesen, wenn Schnee weiß ist, sondern wenn Zucker süß ist. Die notwendige Wahrheit der Äquivalenz lässt sich nur dadurch aufrechterhalten, dass man keine rein grammatischen Entitäten betrachtet, sondern interpretierte Sätze mit einer bestimmten Bedeutung. Die Bedeutung eines Satzes wird jedoch durch seine Wahrheitsbedingungen festgelegt. Aus der Äquivalenz würde also: „Der Satz ,p' ist wahr genau dann, wenn p, insofern ,p' wahr ist genau dann, wenn p". 85

86

Natürlich könnte man außerdem die Prämisse (2) angreifen und bestreiten, dass Äquivalenzen nach dem Zitattilgungsschema analytisch wahr sind. Vgl. Oppy/Jackson/Smith 1994.

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Wahrheit

Diese Äquivalenz ist notwendig wahr. Sie ist aber auch vollkommen trivial und, was noch schlimmer ist, sie kann die Bedeutung von ,wahr' nicht klären, weil im Definiens bereits ,wahr' vorkommt. 87 Die Bilanz des Deflationismus sieht also auch nicht besonders gut aus. Das Hauptargument für diese Wahrheitsauffassung hält einer kritischen Untersuchung nicht stand. Außerdem verstößt seine Wahrheitsanalyse zumindest gegen zwei Adäquatheitsbedingungen für Wahrheitstheorien: Sie macht Wahrheit sprachrelativ und kann nicht erklären, warum das Zitattilgungsschema notwendig wahr ist. Deshalb scheint es vernünftig, die viel gescholtene klassische Korrespondenztheorie noch einmal genauer unter die Lupe zu nehmen.

2.2.3 Korrespondenztheorien der Wahrheit Die Korrespondenztheorie ist eine realistische Wahrheitstheorie. Sie buchstabiert den Realismus jedoch, anders als der Deflationismus, im robusten Sinne metaphysisch aus. Danach ist eine Uberzeugung genau dann wahr, wenn sie mit einem Wahrmacher in der Welt korrespondiert. 88 Da die Korrespondenztheorie eine metaphysische Analyse der Wahrheit offeriert, muss sie auch die Natur des Wahrmachers und die Natur der Korrespondenzrelation genauer erklären. Und das halten viele ihrer Kritiker für unmöglich. Aus ihrer Sicht sind Wahrmacher und Korrespondenzrelationen mysteriöse Dinge. Welcher Art ist der Wahrmacher} Die klassischen Vertreter der Korrespondenztheorie vor Bertrand Russell gingen davon aus, dass Gegenstände in der Welt Uberzeugungen wahr machen. Aber Gegenstände sind zum einen sehr unspezifisch. Sie machen aufgrund ihrer vielfältigen Eigenschaften höchst unterschiedliche Uberzeugungen wahr. Ebenso gut könnte man dann gleich 87 88

Vgl. Davidson 1996, S. 318ff. Analoges ließe sich auch für Sätze sagen.

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die Realität insgesamt als Wahrmacher aller wahren Überzeugungen betrachten. Zum anderen soll ein Wahrmacher die Wahrheit der von ihm wahr gemachten Uberzeugung erzwingen. Das bedeutet, dass in jeder möglichen Welt*, in der der Wahrmacher und die Uberzeugung vorliegen, die Uberzeugung wahr ist. Aus diesem Grunde sagt man auch, dass die Uberzeugung wahr ist, weil etwas Bestimmtes der Fall ist. Gegenstände können diese Bedingung nicht erfüllen, denn derselbe Gegenstand, der aufgrund einer seiner Eigenschaften eine bestimmte Uberzeugung wahr macht, würde auch dann noch vorliegen, wenn er diese Eigenschaft nicht mehr hätte. Gegenstände haben ihre Eigenschaften nämlich in der Regel nur kontingenterweise*.89 Es ist deshalb angemessener, die Wahrmacher - wie Russell - als Tatsachen zu verstehen. Tatsachen bestehen darin, dass ein Gegenstand eine bestimmte Eigenschaft hat (technisch gesprochen: instantiiert). Die Uberzeugung, dass Schnee weiß ist, wird dadurch wahr gemacht, dass dem Schnee die Eigenschaft zukommt, weiß zu sein. Tatsachen sind Entitäten in der Welt und keine wahren Propositionen oder Aussagen, wie Frege und Peter Strawson behauptet haben. 90 Man kann Tatsachen sehen und Tatsachen können sowohl die Rolle von Ursachen als auch die Rolle von Wirkungen einnehmen. Es ist zwar richtig, dass sich Tatsachen nicht beschreiben lassen, ohne dass wahre Propositionen existieren. Aber daraus folgt nicht, dass das, was mit ihnen beschrieben wird, selbst eine Proposition ist.

89 90

Vgl. zu ähnlichen Überlegungen Armstrong 1997, S. 115 f. Vgl. Frege 2003, S. 57f; Strawson 1949.

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2.2.4 Wie lässt sich die Korrespondenzrelation zwischen dem Träger des Wahrheitswertes und dem Wahrmacher verstehen? Hier ist die Gefahr eines Missverständnisses besonders groß. Die für die Wahrheit erforderliche Korrespondenz ist keine exakte Ähnlichkeit 91 zwischen dem psychologischen bzw. linguistischen Wahrheitswertträger und dem Wahrmacher. Wie Frege in seiner Polemik gegen die Korrespondenztheorie zutreffend bemerkt hat, ist es schlichtweg falsch zu sagen, dass mentale Zustände der Welt exakt ähnlich sind. Dazu müssten sie selbst Tatsachen der Welt und eben gerade keine mentalen Zustände sein.92 Die Ubereinstimmung soll vielmehr zwischen dem propositionalen Inhalt des Wahrheitswertträgers und der wahr machenden Tatsache bestehen. Allerdings darf man hier nicht bei einer primitiven Ubereinstimmungsbeziehung zwischen Wahrmacher und dem propositionalen Inhalt stehen bleiben, weil sich der propositionale Inhalt nur über die Wahrheitsbedingungen angeben lässt und damit die Analyse von Wahrheit durch Korrespondenz den Wahrheitsbegriff bereits voraussetzen müsste. Die Korrespondenzrelation muss vielmehr auf semantische Relationen unterhalb der Ebene ganzer 91

92

Der Ausdruck der Identität wird hier bewusst vermieden, weil er zu weiteren Missverständnissen einlädt. Man muss nämlich zwischen numerischer und qualitativer Identität unterscheiden. Wenn Franz und Franziska beide sagen „Bertrand Russell war ein bedeutender englischer Philosoph des 20. Jahrhunderts", dann sind ihre Äußerungen numerisch verschieden (es sind eben zwei Äußerungen und nicht eine), aber ihre Äußerungen sind qualitativ identisch. ,Exakte Ähnlichkeit' wird hier im Sinne von qualitativer Identität verwendet. Vgl. Frege 2003, S. 37: „Eine Vorstellung mit einem Dinge zur Deckung zu bringen, wäre nur möglich, wenn auch das Ding eine Vorstellung wäre. Und wenn dann die erste mit der zweiten vollkommen übereinstimmt, fallen sie zusammen. Aber das will man gerade nicht, wenn man die Wahrheit als Ubereinstimmung einer Vorstellung mit etwas Wirklichem bestimmt. Dabei ist es wesentlich, dass das Wirkliche von der Vorstellung verschieden sei."

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Sätze zurückgeführt werden. Ein singulärer Satz vom Typ ,Sokrates ist ein Mensch' wäre demnach wahr genau dann, wenn der Gegenstand, auf den der Name ,Sokrates' referiert, die Eigenschaft hat, auf die das Prädikat ,ist ein Mensch' referiert. Wenn der Gegenstand diese Eigenschaft hat, dann liegt die wahrmachende Tatsache vor. In dieser Analyse kommt zwar die semantische Relation der Referenz vor, aber der Begriff der Wahrheit taucht in ihr nicht mehr auf. Die metaphysischen ,Bausteine' der Korrespondenztheorie lassen sich also trotz der Bedenken ihrer Kritiker plausibel ausbuchstabieren. Sehen wir uns jetzt einige Standardeinwände gegen die Korrespondenztheorie an. Bei Frege findet sich die folgende Überlegung: Eine Ubereinstimmung ist eine Beziehung. Dem widerspricht aber die Gebrauchsweise des Wortes ,wahr', das kein Beziehungswort ist, keinen Hinweis auf etwas anderes enthält, mit dem etwas übereinstimmen solle.«

Das Argument ist so zu verstehen: Wäre die Korrespondenztheorie richtig, dann wäre Wahrheit eine Relation zwischen Geist und Welt. Eine solche Relation müsste durch ein zweistelliges Prädikat bezeichnet werden. Unser Wahrheitsprädikat ist jedoch nur einstellig. Wir sagen, dass ein Satz wahr ist. Punkt. Wir sagen nicht, dass er wahr in Bezug auf irgendetwas ist. Und deshalb bezieht sich unser Wahrheitsprädikat nicht auf eine Korrespondenzrelation. Dieser Einwand ist nicht stichhaltig. Er beruht auf einem Fehlschluss von der Syntax auf die Semantik. Es ist unzulässig, von syntaktischen Eigenschaften eines Ausdrucks auf die Natur dessen zu schließen, was durch diesen Ausdruck bezeichnet wird. In unserer Alltagssprache gibt es zahlreiche Beispiele für zweistellige Eigenschaften, die durch einstellige Prädikate bezeichnet werden. Verheiratet ist man immer mit irgendjemandem. Das Verheiratetsein ist also eine zweistellige Relation. 93

Frege 2003, S. 37.

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Dennoch ist der Satz „Jonas ist verheiratet" grammatisch wohlgeformt und das bedeutet, dass das Prädikat .verheiratet' in diesem Satz einstellig ist und keiner weiteren Ergänzung durch ein Objekt bedarf. Ein weiterer Einwand gegen die Korrespondenztheorie lässt sich aus einer Bemerkung von Heidegger in Sein und Zeit extrapolieren. Dort heißt es: „Bevor die Gesetze Newtons entdeckt wurden, waren sie nicht ,wahr' (.,.)." 94 Daraus lässt sich der folgende Einwand konstruieren: (1) (2)

Wenn die Korrespondenztheorie wahr ist, dann ist die Wahrheit vollkommen objektiv und subjektunabhängig. Wahrheit ist subjektabhängig.

Also: Die Korrespondenztheorie ist nicht wahr. Um diesen Einwand bewerten zu können, muss man sich vor Augen führen, dass es einen klaren Unterschied zwischen der Wahrheit im Sinne einer Relation der Korrespondenz zwischen Wahrheitswertträger und Wahrmacher auf der einen Seite und der Wahrheit im Sinne des Wahrmachers auf der anderen Seite gibt. Heidegger hat vollkommen Recht damit, dass die Korrespondenzrelation subjektabhängig ist. Diese Relation ist nämlich nur möglich, wenn beide Relata existieren: die Wahrmacher und die Wahrheitswertträger. Wenn man nun die plausible Annahme hinzufügt, dass Wahrheitswertträger psychologische oder linguistische Dinge sind, dann wird deutlich, dass es diese Dinge und damit auch die Korrespondenzrelation erst gibt, sobald sie ein denkendes Subjekt denkt oder ein Sprecher artikuliert. Das kann auch der Korrespondenztheoretiker akzeptieren. Er kann jedoch zugleich behaupten, dass die Wahrmacher vollkommen objektiv und subjektunabhängig sind. Die Wahrheitsrelation hängt also zwar vom Subjekt ab, der Wahrheitswert ist damit aber nicht automatisch ein menschliches Konstrukt. Das oben angeführte Argument ist also u n g ü l t i g ' , weil 94

Heidegger 1993, S. 226.

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sich ,Wahrheit' in der Prämisse (1) auf die Wahrmacher bezieht und in Prämisse (2) auf die Korrespondenzrelation. Schließlich gibt es noch Freges klassischen Zirkularitätseinwand gegen jede Wahrheitsdefinition: So scheitert (...) jeder (...) Versuch, das Wahrsein zu definieren. Denn in der Definition gäbe man gewisse Merkmale an. Und bei der Anwendung auf einen besonderen Fall käme es immer darauf an, ob es wahr wäre, dass diese Merkmale zutreffen. So drehte man sich im Kreise.95

Dieser Einwand lässt sich natürlich auch auf die Korrespondenztheorie anwenden. Betrachten wir eine besonders einfache Version dieser Theorie. Sie besagt: (KT) ,p' ist wahr genau dann, wenn ,p' mit einer Tatsache übereinstimmt. Nun behauptet Frege, dass das Definiens (also die rechte Seite der Äquivalenz) ja auch noch wahr sein müsse. Dann würde aus (KT) (KT'): (KT') ,p' ist wahr genau dann, wenn es wahr ist, dass ,p' mit einer Tatsache übereinstimmt. Aber wenn das der Definitionsvorschlag wäre, dann würde es sich offensichtlich um einen Definitionszirkel handeln. Der Begriff der Wahrheit würde in der Definition der Wahrheit bereits verwendet; und das ist natürlich unzulässig. Unklar ist, warum Frege glaubt, dass der Korrespondenztheoretiker (KT') statt (KT) vertreten muss. Im Definiens von (KT) werden Sätze verwendet, aber es wird dort ausschließlich über die Welt geredet, genauer über relationale Tatsachen. Der Weltbezug muss also nicht erst dadurch hergestellt werden, dass dem Satz auf der rechten Seite der Äquivalenz Wahrheit zugeschrieben wird. Die Relation rechts definiert das, was links steht, und sie macht auch den Satz ,„Dass ,p' mit einer Tatsache übereinstimmt' ist wahr" wahr. Aber sie ist selbst keine Wahrheit, sondern ein Wahrmacher, also etwas Nicht95

Frege 2003, S. 38.

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sprachliches. Der semantische Aufstieg von ,„p' stimmt mit einer Tatsache überein" zu „Es ist wahr, dass ,p' mit einer Tatsache übereinstimmt" ist also ganz und gar unnötig für die Definition. Es ist aber genau dieser unnötige semantische Aufstieg, der den von Frege monierten Definitionszirkel allererst erzeugt. Im Ergebnis kann man festhalten, dass die Korrespondenztheorie der Wahrheit keineswegs eine mysteriöse und undurchsichtige metaphysische Theorie ist. Die metaphysischen Grundbegriffe der wahr machenden Tatsache und der Korrespondenzrelation lassen sich erklären. Und auch die Standardeinwände gegen die Korrespondenztheorie halten einer kritischen Uberprüfung nicht stand. Selbstverständlich gibt es eine ganze Reihe von weiteren Einwänden, die im Rahmen dieser Einführung nicht alle behandelt werden können. Der erkenntnistheoretische Einwand, dass die Korrespondenztheorie unweigerlich zu skeptischen Konsequenzen führt, wurde ja bereits im Zusammenhang mit den Argumenten gegen realistische Wahrheitsauffassungen zurückgewiesen. Weitere Einwände sollen nur kurz erwähnt werden: Nach dem so genannten Slingshot-Argument kann man durch die Substitution koextensionaler Ausdrücke zeigen, dass alle wahren Sätze durch dieselbe Tatsache wahr gemacht werden. 96 Demnach gibt es keine spezifischen Wahrmacher einzelner Sätze, sondern nur eine ,große' Tatsache, was eine Art reductio ad absurdum der Theorie wäre. Die Diskussion dieses Arguments hat gezeigt, dass es verschiedene Strategien gibt, die Substitutionen, auf denen das Argument beruht, für unzulässig zu erklären. 97 Ungelöst bleibt die Frage, wie semantische Paradoxien ausgeschlossen werden sollen, wenn das Wahrheitsprädikat sprachübergreifend definiert wird. Schließlich führt eine sehr einfache Version der Korrespondenztheorie zu einer Inflation von obskuren Tatsachen. Wenn jeder wahre Satz wahr aufgrund einer % 97

Davidson 1984, S. 42. Vgl. Olson 1987 und Neale 2001.

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korrespondierenden Tatsache wäre, dann müsste es für wahre Negationen, Konjunktionen* und Disjunktionen* eben auch negative Tatsachen, konjunktive Tatsachen und disjunktive Tatsachen geben. Diese Konsequenz kann man vermeiden, indem man nur die Wahrheit atomarer Sätze durch entsprechende Tatsachen erklärt und die Wahrheit aller anderen Sätze auf die Wahrheit dieser Sätze und deren logische Verknüpfung zurückführt. Eine solche rekursive Definition der Wahrheit wurde von den Vertretern des Logischen Atomismus (Russell und Wittgenstein) in Angriff genommen. Danach ist eine Konjunktion wie „Anna ist blond und Peter ist schwarzhaarig" nicht wahr, weil es in der Welt eine komplexe Tatsache aus Annas Blondsein und Peters Schwarzhaarigkeit gibt, sondern weil der Satz „Anna ist blond" durch eine Tatsache wahr gemacht wird und der Satz „Peter ist schwarzhaarig" durch eine andere Tatsache wahr gemacht wird. Etwas schwieriger ist es anzugeben, wodurch negative Sätze wie „Am 20. März 2006 regnet es in Köln nicht" wahr gemacht werden. Wenn man sagt, dass dieser Satz wahr ist, weil es keinen Wahrmacher für den Satz „Am 20. März 2006 regnet es in Köln" gibt, hat man die Wahrheit wieder durch eine negative Tatsache erklärt: Eben die Inexistenz eines Wahrmachers für den atomaren Satz. Aber es gibt auch für dieses Problem raffinierte Lösungsvorschläge. Der negative Satz könnte beispielsweise durch die Menge aller Tatsachen und die Tatsache zweiter Ordnung, dass es alle Tatsachen erster Ordnung sind, wahr gemacht werden. 98 Obwohl die Probleme der Korrespondenztheorie der Wahrheit also längst nicht alle gelöst sind, steht diese Theorie deutlich besser da, als alle ihre Konkurrenten. Das sollte aus der Diskussion in diesem Kapitel deutlich hervorgegangen sein. In den weiteren Kapiteln dieser Einführung wird deshalb die Korrespondenztheorie der Wahrheit zugrunde gelegt.

98

Das ist etwa der Vorschlag von Armstrong 1997, S. 134 f.

3 Wissen 3.0 Formen des Wissens Unser Wissens begriff' und seine Verwandten wie „kennen" oder „erkennen" tauchen im Alltag in einer Reihe von recht unterschiedlichen Satzkonstruktionen auf: (1) Herbert weiß, dass Einstein die Relativitätstheorie entwickelt hat. (2) Schiller kennt Goethe. (3) Frank weiß, wie es ist, etwas Rotes zu sehen. (4) Matthias weiß, wie man Tango tanzt. (5) Sabine weiß, wo München liegt. (6) Tobias weiß, wer die Schlacht bei Waterloo verloren hat. (7) Rebecca weiß, ob es heute regnet. (8) Larissa weiß, wann sie eingeschult wurde. Erkenntnistheoretiker beschäftigen sich in der Regel primär mit dem Wissen, von dem in Satz (1) die Rede ist. Dieses Wissen nennt man auch propositionales* Wissen oder Wissen-dass. Es ist auf einen propositionalen Inhalt bezogen, der durch einen Aussagesatz zum Ausdruck gebracht werden kann. Im vorliegenden Fall ist es der Satz „Einstein hat die Relativitätstheorie entwickelt". Wissen-dass hat also die allgemeine Form ,S weiß, dass p', wobei S sich auf das Subjekt des Wissens bezieht und ρ für den Aussagesatz bzw. die Proposition steht. Die Frage, zu welcher Art von Dingen Propositionen gehören, ist bereits im letzten Kapitel erörtert worden. Ich habe mich dafür ausgesprochen, Propositionen als I η h a 11 s e ig enseba fien von Wahrheitswertträgern zu verstehen. Wichtig sind hier nur die folgenden drei Merkmale von Propositionen. Erstens sind Propositionen Träger eines Wahrheitswertes (normalerweise ,wahr' oder ,falsch'). Zweitens werden sie durch Tatsachen wahr gemacht, also dadurch, dass etwas Bestimmtes mit dem Gegenstand, von dem sie handeln, der Fall ist. U n d drittens

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sind die Propositionen feiner individuiert als die sie wahr machenden Tatsachen. Dafür ist nach Frege die spezifische Gegebenheitsweise des Gegenstandes verantwortlich. Die Sätze „Der Abendstern ist ein Planet" und „Der Morgenstern ist ein Planet" drücken also verschiedene Propositionen aus, aber sie werden durch ein und dieselbe Tatsache wahr gemacht, nämlich dadurch, dass die Venus ein Planet i s t . " Wissen-dass ist für die Erkenntnistheorie besonders wichtig, weil die Erkenntnistheorie unsere kognitive Perspektive auf die Wahrheit betrachtet. D o c h was ist mit den anderen Wissenskonstruktionen? In welchem Verhältnis stehen sie zum Wissen-dass? Der Satz (2) schreibt Schiller ein Wissen aufgrund von Bekanntschaft zu. Die grammatische Besonderheit ist hier, dass „kennen" (im Englischen ,to know someone') als transitives Verb verwendet wird, das durch ein Objekt allein und nicht durch einen DassSatz ergänzt wird. Semantisch wird eine Wissensrelation zwischen einem Subjekt und einem Gegenstand (im vorliegenden Fall einer Person) ausgesagt. Die Wissenszuschreibung erwähnt nur den Gegenstand des Wissens. Damit ist jedoch die philosophisch interessante Frage, ob die Kenntnis eines Gegenstandes vom Wissen-dass unabhängig ist, keineswegs entschieden. Viele Philosophen finden die Idee überzeugend, dass es eine eigentümliche Bekanntschaftsrelation zwischen dem Subjekt und einem Gegenstand geben kann. 100 Uberlegen wir uns die Sache selber. Nehmen wir an, ich hätte alle Bücher, Tagebücher und

Hier wird eine engmaschige Individuation von Propositionen (relativ zu Gegebenheitsweisen und Begriffen) und eine weitmaschige Individuation von Tatsachen angenommen. Frege hatte ursprünglich eine engmaschige Individuation von Propositionen und Tatsachen vorgeschlagen, da er in Tatsachen nichts anderes als wahre Propositionen sah. Russell hat dagegen eine weitmaschige Individuation von Tatsachen und Propositionen vertreten. Weitmaschige Propositionen werden durch den Referenten und die ihm zu- oder abgesprochenen Eigenschaften selbst individuiert. too Yg]_ besonders Russells „knowledge by acquaintance" in Russell 1967, Kap. 5. 99

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Briefe gelesen, die von Goethe handeln. In diesem Fall hätte ich eine unglaubliche Menge von propositionalem Wissen über Goethe. Ich wüsste vermutlich mehr Fakten über ihn als mancher, der ihn zu Lebzeiten kannte. Würde man in diesem Fall sagen, dass ich Goethe kenne? Hier sind die Intuitionen uneinheitlich. In einem bestimmten Sinne könnte man wohl sagen, dass ich ein Kenner Goethes bin. Aber man würde nicht sagen, dass ich ihn persönlich kenne oder mit ihm bekannt bin. Wenn das richtig ist, dann folgt aus dem Wissen einer beliebig großen Menge von Propositionen über Goethe nicht, dass man Goethe kennt. Doch das bedeutet nicht, dass für persönliche Bekanntschaft propositionales Wissen prinzipiell nicht hinreicht. Erforderlich ist nur die richtige Art von propositionalem Wissen. Es darf sich nicht um Wissen vom Hörensagen oder Wissen durch Lektüre handeln, sondern um propositionales Wissen aufgrund von direkter Wahrnehmung. Ich kann ein solches Wissen von Goethe jedoch heute nicht mehr erwerben, soviel propositionales Wissen über ihn ich auch immer anhäufen mag. Propositionales Wissen einer ganz bestimmten (direkten perzeptuellen) Art scheint also hinreichend"" zu sein für die Kenntnis einer Person. Doch ist es auch notwendig"" ? Kann ich nicht auch ohne Wissen-dass über eine Person diese Person kennen? Was ist etwa mit einem kleinen Kind, das seine Mutter kennt, oder mit jemandem, der das Gesicht einer bestimmten Person kennt, ohne irgendwelche signifikanten Merkmale dieses Gesichts beschreiben zu können. Offenbar reicht es für die rudimentäre Kenntnis einer Person aus, dass wir eine bestimmte Fähigkeit haben, nämlich diese Person wiederzuerkennen. Wir dürfen jedoch nicht vergessen, dass Propositionen durch die Gegebenheitsweise des Gegenstandes individuiert sind. Wenn ein Kind seine Mutter kennt und wiedererkennt, dann muss es in der Lage sein, einfache demonstrative Propositionen folgender Art zu wissen: Dieses (phänomenale Gegebenheitsweise) ist Mutter. Das wäre zumindest eine Erklärung für die Wiedererkennensfähigkeit des Kindes. Eine ähnliche Erklärung könnte man auch für die Gesichtserkennung geben.

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Wir können in beiden Fällen von einem Wissen-dass sprechen, wenn wir dieses Wissen nicht für reine Beschreibungen reservieren. Wenn wir diese Möglichkeit berücksichtigen, dann könnte sich Wissen aufgrund von Bekanntschaft vielleicht auf Wissen-dass reduzieren lassen. Betrachten wir nun den Satz (3) [Frank weiß, wie es ist, etwas Rotes zu sehen]. Durch ihn wird Frank ein Wissen-wie-esist zugeschrieben. Was ist damit gemeint? Am besten lässt sich das durch das Gedankenexperiment der Superwissenschaftlerin Mary illustrieren: Mary ist eine außergewöhnlich begabte Wissenschaftlerin, die von Geburt an in einem geschlossenen Zimmer lebt, in dem alles schwarz-weiß ist. Das betrifft sogar sie selbst. Mit der Außenwelt ist sie über einen Schwarz-Weiß-Monitor verbunden. Und über ihn bekommt sie alle ihre Informationen. Sie liest Bücher, nimmt an Diskussionen teil und leitet sogar Experimente. Auf diese Weise wird sie zur weltweit führenden Expertin über Farben, Farbwahrnehmung und die Neurophysiologie der Farbwahrnehmung. Sie weiß alle objektiven Tatsachen über Farben. Was ihr fehlt ist das eigene Erleben von Farben. Und solange ihr das fehlt, weiß sie nicht, wie es ist, Farben zu sehen.101

Dieses drastische Beispiel lässt sich verallgemeinern. Solange wir selbst bestimmte Erlebnisse nicht gehabt haben oder bestimmte Erfahrungen nicht gemacht haben, wissen wir nicht, wie es ist, ein solches Erlebnis zu haben. Solange wir nie einem Stinktier begegnet sind, wissen wir nicht, wie es ist, den Geruch eines solchen Tiers zu erleben. Solange wir niemals vom australischen Brotaufstrich Vegemite gekostet haben, wissen wir nicht, wie es ist, ihn zu probieren. Solange ein Teenager sich noch nicht das erste Mal verliebt hat, weiß er nicht, wie es ist, verliebt zu sein. Und ein von Geburt an Farbenblinder weiß

101

Vgl. Jackson 1986. Vielleicht werden Sie sich fragen, ob Mary in ihrer Zelle nicht doch Farben sehen könnte, wenn sie beispielsweise ihre eigene Zunge im Spiegel ansehen würde oder sich in den Finger schnitte und Blut heraustropfte. Um das Gedankenexperiment konsequent auszugestalten, müsste man deshalb Mary schwarz/weiße Linsen in die Augen setzen.

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niemals, wie es ist, Farben zu sehen. Keine objektive Information über die Auslöser oder Wirkungen dieser Erfahrungen oder deren neurophysiologische Realisierung"" kann uns weiterhelfen. Und auch der Verweis auf eine andere, aber ähnliche Erfahrung, kann uns nur dann weiterhelfen, wenn wir bereits wissen, wie es ist, diese andere Erfahrung zu haben. Das könnte einen auf den Gedanken bringen, dass es sich bei dem Wissen-wie-es-ist um eine Wissensform sui generis handelt. Dafür scheint auch zu sprechen, dass Sätze wie (3) keine Propositionalkonstruktionen sind. Sehen wir uns zunächst an, was es mit dieser zweiten Überlegung auf sich hat. Die Sätze (5) - (8) sind ebenfalls keine Konstruktionen, in denen eine Proposition als Objekt des Wissens auftaucht. Dennoch lässt sich leicht zeigen, dass sie propositionales Wissen zuschreiben. Der Satz (5) [Sabine weiß, wo München liegt] ist wahr, wenn es eine Proposition gibt, die die Lage Münchens beschreibt (z.B. dass München ca. 60 km nördlich der Alpen an der Isar liegt), und Sabine diese Proposition weiß. Der Satz (6) [Tobias weiß, wer die Schlacht bei Waterloo verloren hat] ist wahr, wenn es eine Proposition gibt, die den Verlierer der Schlacht bei Waterloo angibt, und Tobias diese Proposition weiß. Der Satz (7) [Rebecca weiß, ob es heute regnet] ist wahr, wenn es die Proposition gibt, dass es heute regnet, und die Proposition gibt, dass es heute nicht regnet, und Rebecca eine der beiden Propositionen weiß. Und der Satz (8) [Larissa weiß, wann sie eingeschult wurde] ist schließlich wahr, wenn es eine Proposition gibt, die eine wahre Antwort auf die Frage gibt, wann Larissa eingeschult wurde, und Larissa diese Proposition weiß. In allen diesen Fällen wird dem Träger des Wissens ein propositionales Wissen zugeschrieben, ohne die Proposition explizit zu nennen. Generell kann man sagen, dass Wissenszuschreibungen mit eingebetteten Fragen ein Wissen von derjenigen Proposition zuschreiben, die eine wahre Antwort auf die eingebettete Frage gibt. 102 Man verwendet solche indirekten Zu102

Vgl. dazu Karttunen 1977.

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Schreibungen, wenn man den genauen Inhalt des propositionalen Wissens nicht kennt. Das lässt sich nun auch auf das Verstehen der Wissenszuschreibung (3) [Frank weiß, wie es ist, etwas Rotes zu sehen] anwenden. Aus der F o r m dieser Zuschreibung lässt sich nicht ableiten, dass kein propositionales Wissen zugeschrieben wird. Wenn es sich um ein propositionales Wissen handelt, dann hätten wir mit Hilfe dieser Konstruktion die Möglichkeit propositionales Wissen zuzuschreiben, ohne den Inhalt dieses Wissens selber kennen zu müssen. U n d dieser Fall tritt beim Wissen-wie-es-ist regelmäßig auf. Wir können erkennen, dass jemand eine Erfahrung erlebt, die wir noch nie erlebt haben, und dass er deshalb weiß, wie es ist, diese Erfahrung zu haben. Aber weil wir selbst die Erfahrung eben noch nicht gemacht haben, kennen wir den Inhalt seines propositionalen Wissens nicht. Das ist etwa der Fall im Fledermaus-Beispiel von T h o mas Nagel. 1 0 3 Wir wissen nicht, wie es ist, eine Fledermaus zu sein, weil die Fledermaus durch Echolotung ganz andere Erfahrungen hat, als wir sie überhaupt haben können, aber dennoch können wir der Fledermaus ein solches Wissen zuschreiben, weil sie selbst aufgrund ihrer Erfahrungen wissen muss, wie es ist, eine Fledermaus zu sein. Es spricht nun in der Tat einiges dafür, dass Wissen-wie-esist eine F o r m von propositionalem Wissen ist, das wir nur aus der Perspektive des phänomenalen Erlebens erwerben können. Stellen Sie sich vor, unsere Superwissenschaftlerin Mary verlässt ihr schwarz-weißes Gefängnis und sieht das erste Mal in ihrem Leben etwas Rotes. Dann hat sie etwas Neues gelernt. Sie weiß nun, wie es ist, etwas Rotes zu sehen. Wir können entweder sagen, dass sie Wissen von einer Tatsache erworben hat, von der sie vorher keinerlei Wissen hatte. Dabei handelt es sich um eine phänomenale, subjektive Tatsache, zu der nur derjenige Zugang hat, in dessen mentalem Leben sich diese Tatsache abspielt. Dann müssten wir zugestehen, dass es über die physi103

Nagel 1979

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kaiischen Tatsachen hinaus, von denen Maria ja in ihrem Gefängnis vollständiges Wissen erworben hat, weitere nichtphysikalische, phänomenale Tatsachen gibt. 104 Oder wir sagen, dass Maria neues Wissen erwirbt, wenn sie das erste Mal in ihrem Leben eine Roterfahrung hat, weil sie eine Tatsache, die ihr früher rein physikalisch gegeben war, jetzt mit Hilfe phänomenaler Begriffe erfasst, die sie erst dadurch erwirbt, dass sie selbst eine Roterfahrung hat. Dann müssten wir keine nichtphysikalischen Tatsachen annehmen, sondern nur Propositionen einführen, die mit phänomenalen Begriffen auf physikalische Tatsachen Bezug nehmen. 105 Einige Philosophen haben versucht, die Intuition wegzuerklären, dass Mary neues Wissen-dass erwirbt, wenn sie aus ihrem Gefängnis frei kommt. Was sie lernt oder erwirbt sind bestimmte Fähigkeiten oder ein gewisses Können, Farberfahrungen zu erinnern, sich vorzustellen oder wiederzuerkennen. Demnach erwirbt Mary ein neues Wissen-wie (ein know how), nicht ein Wissen-dass. 106 Was ist von diesem Vorschlag zu halten? Nun, es mag sein, dass Mary aufgrund ihrer neuen Farberlebnisse die besagten Fähigkeiten erwirbt. Aber wir können das, was sie lernt, sobald sie Farben sieht, nicht auf diese Fähigkeiten beschränken. Offenbar hat Mary nun auch einen kognitiven Zugang zu einer Tatsache, den sie zuvor nicht hatte. Sie erwirbt also auch neues Wissen-dass. Und dieses Wissen erklärt vermutlich ihre neuen Fähigkeiten, die sie erst allmählich und nicht instantan erwirbt, wie das neue Wissen-dass. Sehen wir uns schließlich noch die von Satz (4) [Matthias weiß, wie man Tango tanzt] beschriebene Wissensform an. Was muss alles der Fall sein, damit man korrekterweise sagen kann, dass Matthias weiß, wie man Tango tanzt? Zunächst muss es der Fall sein, dass er erfolgreich Tango tanzen würde, wenn ge104 105 106

Vgl. Jackson 1986. Dafür spricht sich Tye 1995, Kap. 6 aus. Vgl. auch Beckermann 3 2008, S. 426 f. Vgl.Lewis 1988, Nemirow 1990.

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eignete Umstände eintreten würden. Diese Umstände müssen jedoch nicht unbedingt in seiner Macht stehen oder überhaupt in der Welt, wie sie wirklich ist, realisierbar sein. Auch ein geübter Tangotänzer, der durch einen schweren Unfall beide Beine verloren hat, weiß wie man Tango tanzt, obwohl er dazu nicht mehr die Fähigkeit hat. Es gilt immer noch: Hätte er noch beide Beine und wären auch die anderen Bedingungen erfüllt, dann würde er erfolgreich Tango tanzen. Streng genommen ist es also falsch, Wissen-wie mit einer Fähigkeit zu identifizieren. Die Erfolgsbedingung ist jedoch nur eine Bedingung für das Vorliegen von Wissen-wie. Jemand, der eine gute Verdauung hat, würde unter geeigneten Umständen zugeführte Nahrung erfolgreich verdauen. Diese Disposition des Körpers ist jedoch kein Wissen-wie. Wissen-wie liegt nur vor, wenn es um intentionale* Handlungen geht. Matthias weiß also, wie man Tango tanzt, genau dann wenn er erfolgreich tanzen würde, wenn bestimmte geeignete Umstände vorlägen und er es willentlich versuchen würde. Wissen-wie kann sich auf sehr unterschiedliche Handlungen beziehen: eine Sinfonie komponieren, Karten spielen, Witze machen, eine Sprache sprechen, Argumentieren, aber auch Fahrrad fahren, Fußball spielen, Tanzen oder mit den Ohren wackeln. Gilbert Ryle hat in seinem Buch Der Begriff des Geistes107 gegen die von ihm so genannte „intellektualistische Legende" argumentiert, wonach jedes Wissen-wie prinzipiell von einem Wissen-dass abhängt. Selbstverständlich will Ryle damit nicht bestreiten, dass propositionales Wissen manchmal erfolgreiches Handeln erst ermöglicht. So kann der Manager eine Firma nur dann erfolgreich sanieren, wenn er viel propositionales Wissen über Betriebswirtschaft und die konkreten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen hat. Und ich kann mir nur dann ein bestimmtes Buch aus der Bibliothek holen, wenn ich weiß, wo dieses Buch steht und wann die Bibliothek geöffnet hat. Und dabei handelt es sich, wie wir gesehen haben, eindeu107

Ryle 1969.

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tig um Wissen-dass. Ryles Punkt ist vielmehr, dass nicht jedes Wissen-wie von einem Wissen-dass abhängt oder sogar vollständig aus ihm erklärt werden kann. Ryle führt zwei Argumente gegen die intellektualistische Legende an. Das erste Argument* beruht auf der Einsicht, dass erfolgreiche Praxis ohne theoretisches Wissen-dass möglich zu sein scheint. 108 Dafür gibt es unzählige Beispiele. Wir können grammatikalisch korrektes Deutsch sprechen, aber wir haben nicht unbedingt ein propositionales Wissen von den Regeln der Grammatik des Deutschen. Das bemerken wir spätestens dann, wenn wir einem Kind oder einem Ausländer erklären sollen, warum bestimmte Konstruktionen ungrammatisch sind. Wir können Fahrrad fahren, Tanzen oder Knoten knüpfen, aber wenn wir theoretisch erklären sollen, wie wir das machen, dann können wir nur mit den Achseln zucken. Das gilt selbst für intelligentes Verhalten. Ryle weist darauf hin, dass ein guter Witze-Erzähler nicht unbedingt Regeln angeben kann, wie man Witze erfindet. Und auch ohne Kenntnis einer Logik der Argumentation sind Leute in der Lage, gute Argumente zu konstruieren und Fehlschlüsse zu entdecken. Formal kann man Ryles Argument folgendermaßen rekonstruieren: (9)

Wenn Wissen-wie Wissen-dass voraussetzt, dann kann es keinen Handlungserfolg geben, ohne dass der Akteur ein propositionales Wissen von den Mitteln zum Erfolg hat. (10) Es gibt Handlungserfolg, ohne dass der Akteur ein propositionales Wissen von den Mitteln zum Erfolg hat. Also: Wissen-wie setzt Wissen-dass nicht voraus. Dieses Argument ist formal gültig"". Die Konklusion folgt also logisch deduktiv'1" aus seinen Prämissen. Doch ist das Argument auch schlüssig""? Dazu müssten die Prämissen auch wahr sein. Die Prämisse (9) ist analytisch"" wahr aufgrund der Bedeutung. 108

Vgl. Ryle 1969, S. 32f.

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Der Satz sagt eigentlich nur aus, was damit gemeint ist, dass Wissen-wie Wissen-dass voraussetzt. Ein Handlungserfolg ist nichts anderes als die Manifestation eines Wissens-wie. Es ist deshalb begrifflich unmöglich, dass wir erfolgreich handeln, ohne eine Wissen-wie zu haben. Doch wenn dieses Wissen-wie Wissen-dass voraussetzt, dann ist damit natürlich genau das Wissen von den Mitteln gemeint, die den Erfolg der Handlung ermöglichen. Wenn (9) jedoch analytisch ist, dann erscheint es aussichtslos, die Wahrheit dieser Prämisse anzugreifen. Die Prämisse (10) ist dagegen klarerweise synthetisch"" und damit im Prinzip angreifbar. Die von Ryle genannten Beispiele sollen die Wahrheit dieser Prämisse plausibel machen. Doch streng genommen zeigen sie nur, dass manche Personen, die erfolgreich handeln, nicht angeben oder artikulieren können, mit welchen Mitteln sie den Erfolg erzielt haben. Die Beispiele zeigen also nur, dass Propositionen, die Mittel zum Handlungserfolg beschreiben, den Personen nicht zugänglich sind. Die Beispiele zeigen nicht direkt, dass die Personen kein Wissen von solchen Propositionen haben. Läge ein derartiges Wissen vor, dann könnte es den Personen in den Beispielsfällen nicht zugänglich sein. Kann es ein propositionales Wissen geben, dass dem Besitzer dieses Wissens nicht zugänglich ist? Das klingt zunächst wie ein Widerspruch in sich. Ein Wissen, das nicht gewusst wird, ist eben kein Wissen. Sieht man genauer hin, dann besteht der vermeintliche Widerspruch jedoch gar nicht. In einer ersten Annäherung könnte man sagen, dass Wissen vorliegt, wenn eine wahre Uberzeugung auf die richtige Weise gebildet wird. Wenn es möglich ist, dass man eine Uberzeugung haben kann, von der man explizit nichts weiß, dann könnte diese Uberzeugung auch wahr und auf die richtige Weise gebildet worden sein, ohne dass man davon explizit etwas weiß. Wir hätten dann Wissen, ohne Wissen von diesem Wissen zu haben, und das beinhaltet zunächst einmal keinerlei Widerspruch in sich. Die zentrale Frage ist, ob es solche für das Subjekt unzugänglichen, impliziten Uberzeugungen geben kann. Normalerweise unterscheidet man zwischen gerade auftretenden und

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dispositionellen Überzeugungen. Gerade auftretende Überzeugungen sind von der Art, dass sie mir bewusst sind, wenn ich sie habe. Sie sind die Dinge, an die ich gerade bewusst denke. Daneben habe ich sehr viele dispositionale Überzeugungen, an die ich nicht fortwährend bewusst denke, die ich mir aber jederzeit ins Bewusstsein rufen kann. Ich denke nicht dauernd daran, dass die Erde eine Kugel ist. Doch wenn mich jemand fragt, dann wird mir klar, dass ich das glaube und diese Überzeugung nicht erst in diesem Augenblick neu erwerbe, sondern dispositional die ganze Zeit geglaubt habe. Unzugängliche Überzeugungen müssten von diesen beiden Überzeugungstypen unterschieden werden, weil sie mir weder gegenwärtig bewusst sind noch jederzeit zugänglich sind, wie die dispositionalen Überzeugungen. Diese Überzeugungen wären in der Person, aber man könnte sie nicht direkt der Person zuschreiben. Deshalb müsste man wohl von sub-personalen Überzeugungen sprechen. Gerade im Zusammenhang mit sprachlicher Kompetenz ist die Annahme solcher unzugänglichen, impliziten Überzeugungen relativ plausibel. Der Sprecher hätte demnach implizite Überzeugungen hinsichtlich grammatischer Regeln und des Lexikons, auf die er nicht willentlich zugreifen kann, die aber zur Erklärung seines sprachlichen Verhaltens unverzichtbare Dienste leisten.109 Solche Theorien sind sicher nicht unumstritten. Sie zeigen jedoch, dass Ryles erstes Argument gegen die intellektualistische Legende nicht so stark ist, wie es zunächst aussah. Es gibt argumentativen Spielraum, um sich ihm zu entziehen. Sehen wir uns deshalb Ryles zweites Argument an, das er für sein Hauptargument hält. An zentraler Stelle in Der Begriff des Geistes sagt Ryle: D e r entscheidende Einwand gegen die intellektualistische Legende ist also dieser. Das Erwägen von Sätzen ist selbst eine Tätigkeit, die mehr oder weniger intelligent, mehr oder weniger dumm ausgeführt werden kann. A b e r wenn zur intelligenten Ausführung einer Tätigkeit eine 1OT

Vgl. Pinker 2000, Kap. 4.

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Wissen vorhergehende theoretische Tätigkeit nötig ist, und zwar eine, die intelligent ausgeführt werden muss, dann wäre es logisch unmöglich, dass jemand in diesen Zirkel eindringen könnte. 110

Gleich im Anschluss an diese Stelle macht Ryle deutlich, dass er das Problem in einem sich abzeichnenden Regress sieht. Das Argument hat offenbar die Form einer reductio ad absurdum. Ein solches Argument widerlegt eine ganz bestimmte These, indem es zeigt, dass sich aus dieser These inakzeptable Konsequenzen ergeben (im äußersten Fall sogar ein logischer Widerspruch). Es hat also die Form eines modus tollens·. Wenn p, dann q. q ist falsch. Also: ρ ist falsch. Man kann Ryles Argument in genau diese Form bringen. Dann lautet es: (11) Wenn Wissen-wie Wissen-dass voraussetzt, dann ist intelligentes Verhalten unmöglich. (12) Intelligentes Verhalten ist möglich. Also: Wissen-wie setzt Wissen-dass nicht voraus. Doch ganz entscheidend ist natürlich, wie Ryle die Prämisse (11) dieses Arguments begründet. Ryle scheint folgendermaßen zu argumentieren: (13) Jedes Wissen-wie einer Person setzt Wissen-dass dieser Person voraus. (14) Jedes intelligente Verhalten einer Person ist Produkt ihres Wissens-wie. (15) Jedes Wissen-dass einer Person beinhaltet intelligentes Verhalten dieser Person. (16) Jedes intelligente Verhalten einer Person setzt eine unendliche Menge von Wissen-dass dieser Person voraus. "0 Ryle 1969, S. 34. Vgl. zur Rekonstruktion und Kritik Stanley/Williamson 2001.

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(17)

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Eine Person hat keine unendliche Menge von Wissendass.

Also: Es ist kein intelligentes Verhalten einer Person möglich. Aus der Annahme (13) des Intellektualisten folgt also die Konklusion, wenn die Prämissen (14) bis (17) zutreffen. (14) und (17) sollten unstrittig sein. (16) ergibt sich als Lemma aus (13), (14) und (15). Das lässt sich leicht einsehen, wenn man ein beliebiges Beispiel für intelligentes Verhalten betrachtet. Nehmen wir an, jemand spielt Schach. Nach (14) benötigt er dafür ein gewisses Wissen-wie, ein praktisches Wissen um die Regeln des Schachs. Nach (13) setzt dieses praktische Wissen nun seinerseits ein bestimmtes theoretisches Wissen voraus. Sagen wir, die Person müsste die Schachregeln explizit kennen. Wenn nun (15) richtig ist, dann würde ein solches theoretisches Wissen ein weiteres intelligentes Verhalten involvieren, beispielsweise das Nachlesen in den Spielregeln. Doch dieses intelligente Verhalten müsste wiederum durch ein weiteres praktisches Wissen, dieses durch ein theoretisches Wissen und das wieder durch ein intelligentes Verhalten erklärt werden und so bis ins Unendliche. Der Regress folgt also logisch. So lässt sich nur die Prämisse (15) angreifen, wenn man die reductio verhindern will. Und in der Tat ist diese Prämisse höchst problematisch. Selbstverständlich erwerben wir manchmal nur dann Wissendass, wenn wir vorher bestimmte intellektuelle Tätigkeiten verrichtet haben. Dazu gehört das Lesen von Büchern, das Befragen von Experten, das Durchführen von Experimenten etc. Aber (15) behauptet mit strenger Allgemeinheit, dass das immer so ist. Und das ist nicht plausibel. Was ist etwa, wenn wir Wissen durch direkte und unvermutete Wahrnehmung erwerben? Ich sehe beispielsweise, dass ein bestimmter Kollege in der Institutsbibliothek ein Buch liest, obwohl ich ihn eigentlich an einem ganz anderen Ort vermutet hätte. Ich weiß also, dass dieser Kollege im Institut ist, ohne dass ich dafür irgendeine intelligente Nachforschung hätte anstellen müssen. Ich weiß es

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Wissen

ganz unmittelbar. Nun könnte man sagen, dass ich selbst in einem solchen Fall eine Denkhandlung vollziehen muss. Ich muss die geeignete Proposition in Gedanken erwägen und schließlich akzeptieren. Und das wäre doch immer noch eine minimale intelligente Handlung. Man kann so sprechen. Wichtig ist jedoch, dass man dann von Handlungen im uneigentlichen Sinne spricht. Gedanken und Uberzeugungen stellen sich nämlich nicht willentlich ein. Nur wenn eine willentliche, intentionale Handlung vorliegt, gilt jedoch, dass diese Handlung das Produkt eines Wissens-wie ist. Der problematische Regress ergibt sich nur, wenn jedes Wissen-dass eine Handlung in diesem starken Sinne einschließt. Und das ist einfach nicht der Fall. Deshalb kann auch Ryles zweites Argument nicht überzeugen. Der stärkste Einwand gegen die intellektualistische Legende ergibt sich, wenn man sie in Reinform vertritt. Das ist dann der Fall, wenn man nicht nur behauptet, dass Wissen-wie propositionales Wissen-dass in der einen oder anderen Form voraussetzt, sondern wenn man behauptet, dass Wissen-wie eigentlich nichts anderes ist als Wissen-dass.111 Damit würde man eine strenge Reduktionsthese vertreten. In diesem Fall stellt sich das Problem des Intellektuellen ein. Stellen Sie sich folgenden Fall vor. Franz ist ein renommierter und äußerst gebildeter Gelehrter. Er weiß alles über die Theorie des Tanzes. Sein besonderes Spezialgebiet ist der Tango. Er kennt selbst die raffiniertesten Varianten der verschiedenen Figuren. Und er ist auch ein Experte auf dem Gebiet der Motorik des Tanzens. Doch wenn er abends mit seiner Frau bei einer festlichen Gelegenheit Tango tanzen soll, versagt er kläglich. Er weiß theoretisch alles, was man überhaupt nur über diesen Tanz wissen kann, aber er weiß nicht, wie er Tango tanzen soll. Dieser Fall scheint eindeutig dafür zu sprechen, dass theoretisches Wissendass nicht hinreichend ist für das praktische Wissen-wie.

111

Vertreten wird diese These von Stanley/Williams on 2001.

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Doch auch hier ist die Sache nicht so eindeutig, wie es zunächst aussieht. Es ist nämlich nicht klar, ob Franz aus seinen Büchern tatsächlich einschränkungslos alles propositionale Wissen über den Tango erwerben kann. Er kann so nämlich nicht lernen, was aus seiner eigenen Perspektive in der jeweiligen Wahrnehmungssituation nötig ist, um bestimmte Figuren zu tanzen, die er tanzen möchte. Dazu sind sehr viele Propositionen mit feinmotorischem Inhalt erforderlich, und zwar Propositionen aus der eigenen subjektiven Perspektive. Solche perspektivischen und situativen Propositionen erwirbt man nicht abstrakt aus Büchern, sondern normalerweise durch praktische Übung. Wenn es sie gibt, sind sie uns auch nicht alle bewusst zugänglich. Aber beides spricht nicht dagegen, dass es sich um propositionales Wissen einer besonderen Form handelt. Der Fall des ungeschickten Tänzers zeigt nur, dass eine vollständige Kenntnis reiner Beschreibungen nicht ausreicht, um praktisches Wissen zu erklären. Selbstverständlich soll hier nicht der Anspruch erhoben werden, eine Reduktion von Wissen-wie auf Wissen-dass durchgeführt zu haben. Es ist wirklich nicht absehbar, ob eine solche Reduktion gelingen kann. Ich möchte nur betonen, dass das Problem des Intellektuellen allein nicht ausreicht, um die Möglichkeit einer solchen Reduktion zu widerlegen. Nun gibt es jedoch ein zusätzliches Argument, das für die Möglichkeit einer solchen Reduktion spricht. Nach Ryle soll Wissen-wie intentionales Handeln erklären. Doch wenn wir Handlungen erklären, geben wir üblicherweise an, welches Ziel der Handelnde verfolgt und welche Uberzeugungen er darüber hat, wie er dieses Ziel erreicht. Die Handlung wird dann als Resultat einer bestimmten Zielvorstellung (dem Wunsch) und instrumenteilen Uberzeugungen über die Mittel zu diesem Ziel erklärt. Doch wenn dieses Modell richtig ist, dann muss auch der Handlungserfolg durch ein Wissen-dass bestimmter Art erklärt werden können. Es deutet sich hier also an, dass alle Formen des Wissens auf propositionales Wissen-dass reduzierbar sein könnten. Damit hätten wir eine gute Erklärung für die exklusive Stellung dieser

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Wissen

Form des Wissens in der Erkenntnistheorie. Doch selbst wenn eine solche Reduktion nicht gelingen würde, gäbe es gute Gründe für die Vorrangstellung des propositionalen Wissens. Erstens ist nur dieses Wissen übertragbar. Wir können es durch Kommunikation anderen Personen mitteilen. Und wir können es durch gültige Schlüsse weiter verarbeiten. Zweitens ist nur dieses Wissen relevant, wenn das zentrale Ziel der Erkenntnistheorie die Wahrheit ist. Formen des Wissens

Es gibt vier voneinander unterscheidbare Formen des Wissens: (1) Wissen-dass bezieht sich auf wahrheitsfähige Propositionen. (2) Wissen durch Bekanntschaft bezieht sich auf Gegenstände (Personen, Dinge, Ereignisse). (3) Wissen-wie-es-ist bezieht sich auf die eigenen phänomenalen Zustände. (4) Wissen-wie bezieht sich auf praktisches Können. Eine Reduktion aller Formen des Wissens auf Wissen-dass ist unter Umständen möglich. In jedem Fall aber ist das Wissen-dass das zentrale Thema der Erkenntnistheorie.

3.1 Die Standardanalyse des propositionalen Wissens: gerechtfertigte, wahre Uberzeugung Nach traditioneller Auffassung liegt Wissen-dass112 vor, wenn eine Person eine wahre Uberzeugung hat, die zusätzlich gerechtfertigt ist. Dieser Definitionsvorschlag* für propositiona12

Wenn ich im Folgenden ohne weitere Qualifikation von „Wissen" spreche, meine ich i m m e r p r o p o s i t i o n a l e s Wissen.

Die Standardanalyse des propositionalen Wissens

les Wissen lässt sich bereits bei Piaton nachweisen. Im sagt Sokrates:

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„(...) auch die richtigen Uberzeugungen sind eine schöne Sache, solange sie bleiben, und bewirken alles Gute; lange Zeit aber pflegen sie nicht zu bleiben, sondern gehen davon aus der Seele des Menschen, so dass sie doch nicht viel Wert sind, bis man sie bindet durch Aufweisung ihrer Begründung. Und dies, Freund Menon, ist eben die Erinnerung, wie wir im Vorigen zugestanden haben. Nachdem sie aber gebunden werden, werden sie zuerst Erkenntnis (gr.: episteme = Wissen) und dann auch bleibend. Und deshalb nun ist die Erkenntnis höher zu schätzen als die richtige Überzeugung, und es unterscheidet sich ehen durch das Gebundensein die Erkenntnis von der richtigen Überzeugung."n3

Sokrates behauptet hier eigentlich gleich mehrere Dinge auf einmal. Erstens liegt Wissen dann und nur dann vor, wenn jemand zusätzlich zu der wahren Uberzeugung (die Sokrates „richtig" nennt) auch noch über eine Begründung verfügt. Sokrates macht also einen Vorschlag für die Definition von Wissen. Zweitens sagt er etwas über die Funktion der Begründung aus. Die Begründung soll die wahre Uberzeugung „binden", so dass sie eine stabile Verankerung im Uberzeugungshaushalt der Person bekommt und nicht so leicht verschwinden kann. Und drittens behauptet Sokrates, dass Wissen aufgrund dieser Stabilität mehr wert ist als eine Uberzeugung, die bloß wahr ist. Das ist die Mehrwertthese. Ich möchte an dieser Stelle zunächst nur den Definitionsvorschlag von Piaton aufgreifen. Er lautet etwas formaler gefasst: Ein Subjekt S weiß die Proposition, dass p, genau dann, wenn: (i) S überzeugt ist, dass ρ (ii) die Proposition, dass p, wahr ist (iii) S in seiner Überzeugung, dass p, gerechtfertigt ist. Diese Definition des Wissens ist in der Folgezeit bis hin zu Gettiers Gegenbeispielen in den sechziger Jahren des 20. Jahr113

Piaton 1970, Menon 97e-98a; meine Hervorhebung. Ubersetzung leicht abgeändert.

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Wissen

hunderts die allein maßgebliche Definition gewesen, auch wenn sich die Formulierungen dieser Definition bisweilen stark unterschieden haben. Ich werde diese Definition deshalb auch als Standardanalyse des Wissens bezeichnen. Gemäß der Standardanalyse liegt Wissen genau dann vor, wenn die Uberzeugungs-, die Wahrheits- und die Rechtfertigungsbedingung erfüllt sind. Was spricht für die einzelnen Bedingungen? Sehen wir uns zunächst die Überzeugungsbedingung an. Stellen Sie sich für einen Moment eine Welt ohne Lebewesen mit einer kognitiven Perspektive auf diese Welt vor. Unsere Welt ist zurzeit nicht von dieser Art, aber sie ist es vor der Entstehung höher entwickelten tierischen Lebens einmal gewesen und sie könnte sich unter ungünstigen Umständen auch wieder in diesen Zustand verwandeln. In einer solchen Welt kann es Information geben. Baumringe tragen beispielsweise Information über das Alter eines Baumes. Und die erkaltete Lava trägt Information über einen vorhergehenden Vulkanausbruch. Information ist nicht auf eine kognitive Perspektive angewiesen. Es genügt, wenn es eine gesetzmäßige Beziehung zwischen dem Träger der Information und dem, worüber er Information trägt, gibt.114 Aber in einer Welt ohne kognitive Perspektive kann es kein Wissen geben. Wissen liegt nur vor, wenn der Gegenstand des Wissens von jemandem kognitiv erfasst wird. Propositionales Wissen kann deshalb nur vorliegen, wenn es jemanden gibt, der propositionale Einstellungen hat. Doch nicht jede propositionale Einstellung ist eine Uberzeugung. Damit eine Uberzeugung vorliegt, müssen zwei Bedingungen erfüllt sein. Erstens muss eine bestimmte Entsprechungsrichtung vorliegen. Überzeugungen müssen sich nach der Welt richten, um korrekt zu sein, und nicht umgekehrt (wie es z.B. bei Wünschen der Fall ist).115 Und zweitens stimmt je114 Yg]_ 115

z u m

Informationsbegriff Dretske 1981.

Searle 1983, S. 7f., unterscheidet zwei Entsprechungsrichtungen (directions of fit). Uberzeugungen und Aussagen haben eine Geist-zuWelt Entsprechungsrichtung: D e r Geist oder die Sätze sollen sich der

Die Standardanalyse des propositionalen Wissens

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mand, der von einer Proposition überzeugt ist, ihrem Inhalt zu. Er ist sich subjektiv sicher, dass es sich so verhält. Ganz anders verhält es sich, wenn jemand die Wahrheit einer Proposition nur in Erwägung zieht oder sogar nur erhofft. Die erste Bedingung ist im Fall des propositionalen Wissens offensichtlich erfüllt, denn wenn wir uns um Wissen bemühen, dann streben wir danach, die Welt so zu erfassen, wie sie ist. Wir streben nach Wahrheit. Der Maßstab für die Erfüllung ist dabei die Welt. Was ist jedoch mit der zweiten Bedingung? Genügt es nicht vielleicht, dass wir die Wahrheit einer Proposition bloß in Erwägung ziehen oder vermuten, um (unter den geeigneten Zusatzbedingungen) Wissen zu haben? Müssen wir tatsächlich fest an sie glauben? Es scheint ein einfaches Argument für die Richtigkeit der Uberzeugungsbedingung zu geben. Es ist nämlich absurd zu sagen „Ich weiß, dass Aristoteles der Schüler von Piaton war, aber ich bin mir total unsicher." Doch wenn Wissen mit Unsicherheit unverträglich ist, dann erfordert Wissen offenbar subjektive Sicherheit, d.h. eine feste Uberzeugung. Es ist jedoch fraglich, ob die vorangehende Äußerung wirklich logisch widersprüchlich ist. Die Absurdität der Äußerung könnte auch auf der pragmatischen Ebene liegen. Wenn ich sage „Ich weiß, dass Aristoteles der Schüler von Piaton war", dann möchte ich damit offenbar dem Hörer zu verstehen geben, dass ich keinen Zweifel daran habe, dass es sich so verhält, und diese kommunikative Absicht würde durch die Ergänzung „aber ich bin mir total unsicher" zunichte gemacht. Doch nicht alles, was ich jemandem durch meine Äußerung zu verstehen gebe, ist auch tatsächlich logisch in der Aussage enthalten. Wenn ich zum Beispiel sage „Einigen Besuchern der Ausstellung haben die Bilder gefallen", dann gebe ich meinem Zuhörer damit zu verstehen, dass die Bilder nicht allen Besuchern gefallen haben. Aber das wird sicher nicht logisch durch den Satz impliziert. Welt anpassen. Wünsche oder Versprechen haben eine Welt-zu-Geist Entsprechungsrichtung: Die Welt soll dem Geist entsprechen.

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Denn wenn die Bilder einigen Besuchern gefallen haben, dann ist es logisch damit verträglich, dass sie allen Besuchern gefallen haben. Das einfache Argument erweist sich also als zu einfach. Andererseits gibt es einige Einwände gegen die Uberzeugungsbedingung des Wissens. Stellen Sie sich zunächst den Studenten Jörg vor, der mit sehr schlechten Vornoten in eine Prüfung geht, die er aber dennoch mit Ach und Krach besteht. Als er das positive Ergebnis von seinen Prüfern erfährt, sagt Jörg: „Ich weiß, dass ich diese Prüfung bestanden habe, aber ich kann es noch gar nicht glauben." Diese Aussage enthält offenbar keinen logischen Widerspruch. Doch dann muss es möglich sein zu wissen, dass p, ohne überzeugt zu sein (zu glauben), dass p. Denn wenn man etwas nicht glauben kann, dann glaubt man es auch nicht. Was unmöglich ist, ist auch nicht wirklich. Meines Erachtens ist dies jedoch nur ein scheinbares Gegenbeispiel. Jörg will nicht sagen, dass er weiß, dass p, ohne zu glauben, dass p. Er will eigentlich sagen, dass sein neues Wissen (über die bestandene Prüfung) einschließlich der zugehörigen Überzeugung nicht zu seinen Vorüberzeugungen und Erwartungen passt. Es gibt jedoch noch ein weiteres Gegenbeispiel, das man ernster nehmen muss. Stellen Sie sich einen Studenten der Geschichte vor, der sich nicht mehr daran erinnern kann, dass er auch einmal etwas über die Stauferzeit gelernt hat. Als er über einige Daten dieser Zeit ausgefragt wird, ist er zwar äußerst unsicher und glaubt zu raten, aber seine Antworten erweisen sich stets als richtig.116 Würde man nicht sagen, dass er die Daten wusste, obwohl er sich unsicher war und deshalb keine Uberzeugungen hatte? Ich bin mir nicht sicher, ob wir dem Studenten tatsächlich Wissen zuschreiben müssen oder ob wir ihn nicht nur als einen zuverlässigen Informanten ohne Wissen im strikten Sinne betrachten können. Doch selbst wenn wir Wissen zuschreiben, ist in dem Fall nicht ganz klar, ob die Überzeugungen tatsächlich fehlen. Sicher hat der Student keine bewussten Uberzeugungen. Aber seine Antworten könnten die 116

Vgl. dazu Radford 1966.

Die Standardanalyse des propositionalen Wissens

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Manifestation dispositionaler Überzeugungen sein. Die Unsicherheit des Studenten wäre dann nur darauf zurückzuführen, dass er kein Wissen von diesen Uberzeugungen hat, sondern im Gegenteil glaubt, dass er das Wissen und die dazugehörigen Uberzeugungen nicht besitzt. Der Fall scheint nicht ganz eindeutig entscheidbar zu sein. Solange jedoch keine eindeutigen Gegenbeispiele gegen die Uberzeugungsbedingung existieren, werde ich weiterhin annehmen, dass die Uberzeugungsbedingung richtig ist. Was spricht für die Wahrheitsbedingung des Wissens ? Warum muss eine gewusste Proposition wahr sein? „Wissen" ist ähnlich wie „wahrnehmen" oder „erinnern" ein Erfolgsverb. Genauso wenig, wie wir wahrnehmen können, ohne dass der wahrgenommene Gegenstand existiert, oder uns erinnern können, ohne dass es das erinnerte Ereignis in der Vergangenheit gibt, können wir wissen, ohne dass das, was wir wissen (die Proposition), wahr ist. Unsere kognitive Perspektive muss eine Tatsache in der Welt erfassen, damit wir Wissen zuschreiben können; und das bedeutet nichts anderes, als dass die kognitive Perspektive wahr ist. Deshalb ist es absurd zu sagen „Er weiß die Antwort, aber er irrt sich mit dem, was er sagt." Über die Wahrheitsbedingung des Wissens besteht allgemeine Einigkeit. Dennoch scheint es auch in diesem Fall ein Gegenbeispiel zu geben. Ich kann sagen „Ich wusste plötzlich, wie die Antwort lauten musste, und dennoch stellte sie sich im Nachhinein als falsch heraus." An dieser Äußerung ist nichts auszusetzen. Das scheint jedoch nahe zu legen, dass Wissen auch ohne Wahrheit möglich ist. Doch dieser Anschein trügt. In Wirklichkeit handelt es sich im Beispielsfall nämlich um eine verkürzte (elliptische"') Äußerung. Die vollständige Äußerung lautet: „Ich meinte zu wissen, wie die Antwort lauten musste, und dennoch stellte sie sich im Nachhinein als falsch heraus." Und die Wahrheit dieser Aussage ist vollkommen verträglich mit der Wahrheitsbedingung des Wissens. Ich kann nämlich auch dann glauben, dass ich etwas weiß, wenn ich es in Wirklichkeit nicht weiß, sondern mich irre. Die Wahrheitsbedingung des Wissens ist deshalb außerordentlich plausibel.

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Wissen

Sehen wir uns jetzt die dritte Bedingung der Standardanalyse des Wissens an: die Rechtfertigungsbedingung. Was ist damit gemeint, dass eine Person gerechtfertigt ist, eine bestimmte Proposition zu glauben? Es wird sich später zeigen, dass es gar nicht so einfach ist, die richtige Antwort auf diese Frage zu geben. Zunächst einmal gibt es aber ein ganz naheliegendes Verständnis der Rechtfertigungsbedingung, welches auch die traditionelle Konzeption des Wissens bestimmt hat. Eine Person ist demnach gerechtfertigt, eine bestimmte Proposition zu glauben, wenn aus ihrer Perspektive etwas für die Wahrheit dieser Proposition spricht. Es muss einen Grund geben, der für die Wahrheit der Proposition spricht, und dieser Grund muss der Person bekannt sein. Es kann also danach nicht der Fall sein, dass jemand gerechtfertigt ist, ohne dass ihm der rechtfertigende Grund bewusst ist. Nach dieser Auffassung sind Gründe mentale Zustände der Person selbst. Peters Uberzeugung, dass vor ihm ein Tisch steht, wird etwa dadurch gerechtfertigt, dass Peter einen bestimmten visuellen Eindruck von diesem Tisch hat. Und Iwans Überzeugung, dass er selbst sterblich ist, ist dadurch gerechtfertigt, dass er glaubt, dass alle Menschen sterblich sind und er selbst ein Mensch ist. Im ersten Fall liegt eine direkte perzeptuelle Rechtfertigung vor, im zweiten Fall eine argumentative oder inferenzielle::" Rechtfertigung. Doch in beiden Fällen verfügen die Personen über rechtfertigende Gründe, die zu ihrer kognitiven Perspektive gehören. Um das Charakteristikum dieser Rechtfertigung hervorzuheben, werde ich in solchen Fällen von einer internen Rechtfertigung sprechen. Intern ist diese Rechtfertigung, weil sie durch kognitive Faktoren der Person bestimmt wird und nicht durch irgendwelche objektiven Tatsachen. Was spricht nun dafür, dass für Wissen eine solche interne Rechtfertigung erforderlich ist? Piaton argumentiert an der bereits zitierten Stelle aus dem Menon wie folgt: Wissen verlangt nach einer gewissen Stabilität. Es darf nicht flüchtig sein, wie Wahrheiten, auf die man durch Herumraten oder bloße Vermutung zufällig stößt. Solange man keine Gründe für die eige-

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nen Auffassungen hat, können sich diese - je nachdem, was man hört oder sieht — wie Fähnchen im Wind drehen. Eine Begründung verankert dagegen die wahren Auffassungen im Uberzeugungshaushalt. Solange ich über gute Gründe verfüge, die für eine bestimmte Proposition sprechen, werde ich sie nicht einfach bei der nächsten Gelegenheit aufgeben, sondern an ihr festhalten, auch wenn andere etwas anderes sagen oder der oberflächliche Augenschein gegen sie spricht. In diesem Sinne sind gute Gründe ein stabilisierender Faktor. Deshalb hält Piaton sie für ein unabdingbares Element des Wissens. Sein Argument lässt sich in die folgende Form bringen: (1) (2)

Wissen ist dasselbe wie stabile wahre Uberzeugung. Wahre Uberzeugung ist nur dann stabil, wenn sie intern gerechtfertigt ist.

Also: Wissen setzt eine interne

Rechtfertigung voraus.

Piatons Argument kann nicht überzeugen, weil beide Prämissen angreifbar sind. Gegen Prämisse (2) spricht, dass die interne Rechtfertigung nicht notwendig für die Stabilität einer Uberzeugung ist. Jede hinreichend feste Überzeugung ist stabil, ganz egal, ob sie auf Gründen beruht oder aus einer dogmatischen"" oder gar fanatischen Haltung des Uberzeugungsinhabers resultiert. Eine interne Rechtfertigung ist nicht einmal hinreichend für die Stabilität der Uberzeugung, denn Rechtfertigungen sind rational erschütterbar durch gute Einwände oder kritische Reflexion. Außerdem kann die bindende Kraft von Gründen immer durch irrationale Faktoren überwunden werden. Obwohl die dem Richter bekannten Indizien die Unschuld eines Beschuldigten nahe legen (und die Proposition rechtfertigen, dass der Beschuldigte unschuldig ist), kann der Richter dennoch zu der Uberzeugung kommen, dass der Beschuldigte schuldig ist, wenn er gegen ihn aus persönlichen oder rassistischen Gründen voreingenommen ist. Gute Gründe sind also weder der einzige Faktor, der für Stabilität unter den Überzeugungen sorgt, noch können sie diese Stabilität garan-

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tieren. Wenn man sich das vor Augen hält, dann wird auch schnell klar, dass Prämisse (1) nicht richtig sein kann. Es lassen sich nämlich mühelos Fälle denken, in denen jemand eine stabile wahre Uberzeugung hat, wir jedoch intuitiv davor zurückschrecken, ihm Wissen zuzuschreiben. Vor einiger Zeit gab es in den U S A in der Nähe der Hauptstadt Washington zwei schwarze Heckenschützen, die aus ihrem Auto heraus immer wieder willkürlich ausgewählte Passanten erschossen und damit über Wochen die Öffentlichkeit in Panik versetzten. Angenommen jemand hätte in dieser Situation - und zwar noch bevor man herausfand, wer die Täter waren - aufgrund seiner fest verankerten rassistischen Vorurteile geglaubt, dass Schwarze die Täter seien. Dann hätte er eine felsenfeste (und damit stabile) wahre Überzeugung gehabt. Aber wir würden ihm kein Wissen zuschreiben. Also ist auch Prämisse (1) falsch. Doch auch wenn Piatons Argument für die Rechtfertigungsbedingung des Wissens nicht überzeugen kann, weist das letzte Beispiel bereits den Weg zu einem besseren Argument. Wenn eine stabile wahre Uberzeugung kein Wissen darstellt, wenn die Uberzeugung auf einem Vorurteil beruht, dann liegt es nahe, daraus die Konsequenz zu ziehen, dass in diesem Fall der Uberzeugung die Rationalität fehlt. Das Defizit besteht also anscheinend gerade in den fehlenden guten Gründen. Auf diese Weise lässt sich auch die Rechtfertigungsbedingung des Wissens plausibilisieren. Die Standardanalyse des Wissens hat sich also als plausibel erwiesen.

Standardanalyse des Wissens: Ein Subjekt S weiß die Proposition, dass p, genau dann, wenn: (i) S überzeugt ist, dass ρ (ii) die Proposition, dass p, wahr ist (iii) S in seiner Uberzeugung, dass p, gerechtfertigt ist.

Die Standardanalyse des propositionalen Wissens

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Bevor wir zu den Problemen der Standardanalyse kommen, möchte ich darauf aufmerksam machen, dass es in der erkenntnistheoretischen Tradition zwei unterschiedliche Auffassungen über die Stärke der Rechtfertigung gibt. Nach dem ersten Modell muss Rechtfertigung Wahrheit garantieren; eine gerechtfertigte Uberzeugung muss gewiss sein. In der Neuzeit war Descartes vermutlich der wichtigste Vertreter dieses Gewissheitsmodells, aber auch Piaton und Aristoteles gehörten bereits in der Antike zu seinen Anhängern. Im Kern besagt dieses Modell, dass eine Uberzeugung nur dann gerechtfertigt ist, wenn ihre Wahrheit durch Gründe objektiv garantiert wird und dies auch aus der subjektiven Perspektive erfasst wird. Eine in diesem Sinne gewisse Uberzeugung kann weder falsch noch für denjenigen, der sie hat, zweifelhaft sein. Nach Descartes können wir diese Rechtfertigung nur auf dem Wege rationaler Intuition, d.h. unmittelbarer intellektueller Einsicht in die Wahrheit der Proposition, und logisch-deduktiver Schlussfolgerung aus den Ergebnissen dieser rationalen Intuition erzielen.117 Dem Gewissheitsmodell steht das Wahrscheinlichkeitsmodell der Rechtfertigung gegenüber. Es wurde vor allem von den Pragmatisiert (C. S. Peirce war hier der Vorreiter) und einigen Logischen Empiristen vertreten. Es gab jedoch schon in der Antike (unter den Akademischen Skeptikern) und in der frühen Neuzeit (etwa bei Locke) Vorläufer dieses Modells. Nach diesem Modell gilt eine Uberzeugung bereits dann als gerechtfertigt, wenn es Gründe dafür gibt, dass die Überzeugung wahrscheinlich wahr ist. Die Gründe müssen die Wahrheit der Uberzeugung nicht erzwingen, um Rechtfertigungskraft zu bekommen. Das Wahrscheinlichkeitsmodell erlaubt eine Rechtfertigung von Uberzeugungen über die umgebende Außenwelt aufgrund einer Sinneserfahrung, obwohl diese Sinneserfahrung auch dann auftreten könnte, wenn die Uberzeugung falsch wäre, bei-

117

Vgl. Descartes 1973, Regulae, Regel 3.

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spielsweise im Fall von schlechten Wahrnehmungsbedingungen, Illusionen oder Halluzinationen. Und das Wahrscheinlichkeitsmodell erlaubt auch einen Transfer der Rechtfertigung über induktive InferenzenEin typischer Fall einer induktiven Inferenz ist die folgende enumerative Induktion: Alle bisher beobachteten Schwäne sind weiß. Deshalb sind alle Schwäne weiß. Ein solcher Schluss kann (im Unterschied zum deduktiven Schluss) die Wahrheit der Konklusion selbst dann nicht erzwingen, wenn die Prämissen wahr sind. Ein gültiger induktiver Schluss aufgrund von vollständig wahren Prämissen kann also zu einer falschen Konklusion führen. Er kann die Wahrheit der Konklusion nicht garantieren, sondern nur wahrscheinlich machen. Der Unterschied zwischen beiden Modellen besteht nicht nur darin, dass nach dem Gewissheitsmodell die Rechtfertigung die Wahrheit erzwingt, während sie nach dem Wahrscheinlichkeitsmodell die Wahrheit nur wahrscheinlich macht. Viel gravierender sind die Unterschiede in der Dynamik der Rechtfertigung, die beide Modelle nach sich ziehen. Nach dem Gewissheitsmodell kann die Rechtfertigung einer Uberzeugung durch keine zusätzlichen Informationen erschüttert werden. Wenn eine Uberzeugung den Status von Gewissheit erlangt, dann behält sie ihn für alle Zeiten. Erkenntnisfortschritt kann es nur insofern geben, als wir den Umfang unserer gerechtfertigten Uberzeugungen um weitere Gewissheiten erweitern können. Gewissheit führt also zu einer stabilen Rechtfertigung (aber nicht unbedingt zu einer stabilen Überzeugung, wie Piaton meint). Aus der Perspektive des Wahrscheinlichkeitsmodells sieht die Sache ganz anders aus. In diesem Modell bleibt jede Rechtfertigung angreifbar. Sobald wir entsprechende neue Informationen bekommen, können Gründe, die bislang ausreichten, um eine Uberzeugung zu rechtfertigen, ihre rechtfertigende Kraft verlieren. Die Rechtfertigung im Wahrscheinlichkeitsmodell bleibt also stets vorläufig und ist niemals sicher vor einer Revision.

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Sehen wir uns die Logik dieser Revision etwas genauer an.118 In der Fachterminologie der Erkenntnistheorie spricht man davon, dass Wahrscheinlichkeitsgründe anfechtbar sind. Die Rechtfertigung R einer Person S für ihre Uberzeugung ρ ist genau dann de facto angefochten, wenn S zusätzliche Informationen erwirbt, die zusammen mit R die Uberzeugung ρ nicht länger rechtfertigen. Bei Wahrscheinlichkeitsgründen ist es im Prinzip immer möglich, dass solche Zusatzinformationen erworben werden. Nehmen wir beispielsweise an, ich hätte einen visuellen Roteindruck. Diese Erfahrung spricht dafür, dass sich vor mir ein roter Gegenstand befindet. Deshalb rechtfertigt er meine Uberzeugung, dass sich vor mir ein roter Gegenstand befindet. Nehmen wir nun weiter an, ich würde aus glaubhafter Quelle erfahren, dass ich mich in einem Raum ohne rote Gegenstände befinde. Wenn ich beides zusammen betrachte, meinen Roteindruck und die glaubhafte Versicherung, dass in dem Raum, in dem ich mich gerade aufhalte, keine roten Gegenstände sind, dann bin ich nicht länger in meiner Uberzeugung gerechtfertigt, dass sich vor mir ein roter Gegenstand befindet. Die Gründe für und gegen diese Uberzeugung heben sich gegenseitig auf. Ich hatte zunächst einen Grund, der für die Wahrheit meiner Uberzeugung sprach, und habe nun einen Grund erworben, der gegen ihre Wahrheit spricht. Ich habe einen widerlegenden Anfechtungsgrund. Es gibt daneben noch eine andere Art von Anfechtungsgründen, die unterminierenden Anfechtungsgründe. Rufen Sie sich wieder die Situation von gerade eben vor Augen. Ich habe einen Roteindruck und glaube deshalb, dass sich ein roter Gegenstand vor mir befindet. Doch nun bekomme ich die Information, dass ich mich in einem Zimmer mit roter Beleuchtung befinde. Wenn ich meinen Roteindruck und die Information, dass ich mich in einem Zimmer mit roter Beleuchtung befinde, zusammen nehme, dann bin ich nicht länger gerechtfertigt zu glauben, dass sich vor mir ein roter Gegenstand befindet. In diesem Fall jedoch 118

Vgl. zum Folgenden Pollock 1986, S. 37-39.

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nicht deshalb, weil etwas gegen die Wahrheit meiner Überzeugung spricht, sondern weil die Rechtfertigungskraft meines Grundes für diese Uberzeugung neutralisiert wird. Bei roter Beleuchtung sehen nämlich nicht nur rote Dinge rot aus, sondern zum Beispiel auch weiße. Auch die inferenzielle Rechtfertigung durch induktives Schließen erweist sich als anfechtbar. Betrachten wir das oben bereits angeführte Beispiel für einen induktiven Schluss etwas schematischer, dann sieht es etwa folgendermaßen aus: (1) Der erste beobachtete Schwan ist weiß. (2) Der zweite beobachtete Schwan ist weiß. (n) Der η-te beobachtete Schwan ist weiß. Alle Schwäne sind weiß. Wenn wir eine ausreichende Zahl weißer Schwäne beobachtet haben, d.h. wenn die Prämissen (1) - (n) wahr sind, dann ist der Schluss auf die Konklusion (K) induktiv gültig. Induktive Schlüsse sind jedoch nicht-monoton. Sie können durch die Hinzufügung weiterer Prämissen (die die Wahrheit der bisherigen Prämissen unangetastet lassen) von gültigen in ungültige Schlüsse verwandelt werden. Bei deduktiven Schlüssen wird dagegen eine Erweiterung der Prämissenmenge die Gültigkeit niemals beeinträchtigen können. Im Fall des hier betrachteten induktiven Schlusses können wir zum Beispiel die folgende Prämisse hinzufügen: (n+1) Der n+1-te Schwan ist schwarz. Sofort wäre der induktive Schluss auf (K) nicht mehr gültig. Die Prämissenmenge wäre sogar logisch unverträglich mit der Konklusion (K). Induktive Schlussfolgerungen dürfen aber niemals ihren Prämissen widersprechen.

Das Gettierproblem

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Zwei Modelle der Rechtfertigung: Gewissheit versus Wahrscheinlichkeit Nach dem Gewissheitsmodell müssen die rechtfertigenden Gründe die Wahrheit der Uberzeugung objektiv und aus der subjektiven Perspektive garantieren. Die Rechtfertigung ist absolut unanfechtbar. Nach dem Wahrscheinlichkeitsmodell müssen die rechtfertigenden Gründe die Wahrheit der Uberzeugung nur wahrscheinlich machen. Jede Rechtfertigung ist prinzipiell anfechtbar.

3.2 Das Gettierproblem Die Standardanalyse des Wissens konnte sich bis 1963 (nahezu) unbehelligt behaupten. Bis dahin hatte diese Analyse geradezu den Status eines evidenten Prinzips. In diesem Jahr erschien ein kleiner, eineinhalbseitiger, fast unscheinbarer Artikel des zu diesem Zeitpunkt völlig unbekannten amerikanischen Philosophen Edmund Gettier in der renommierten Zeitschrift Analysis. Wenn man der Legende glauben darf, handelte es sich eher um das Zufallsprodukt eines verzweifelt um seine akademische Weiterbeschäftigung kämpfenden Nachwuchswissenschaftlers, der bis dahin einfach zu wenig publiziert hatte, um eine lebenslange Anstellung an seiner Universität zu bekommen. Der unscheinbare Artikel enthielt zwei Beispiele, die zeigen sollten, dass die Standardanalyse des Wissens nicht hinreichend sein kann. Der Artikel schlug wie eine Bombe in der akademischen Welt ein und erschütterte die erkenntnistheoretische Orthodoxie nachhaltig. Vermutlich hat kein anderer philosophischer Text von solch bescheidenem Umfang jemals eine derartig überwältigende Rezeption erfahren. Dabei handelte es sich ironischerweise nur um eine philosophische Verlegenheitsarbeit.

100

Wissen

Zunächst nahm man an, dass Gettier kein sehr tief greifendes Problem präsentiert hatte und dass sich die Standardanalyse mit einigen technischen Tricks reparieren lasse. Auf jeden neuen Definitionsvorschlag wurden jedoch neue gettierähnliche Gegenbeispiele vorgebracht, so dass sich die Abfolge von Definitionsvorschlägen und Gegenbeispielen bald zu einer ganzen Industrie verselbständigte. Deshalb zweifeln mittlerweile nicht wenige Erkenntnistheoretiker daran, dass man überhaupt eine vollständig zufriedenstellende Definition des Wissens finden kann oder dass die Suche nach Definitionen überhaupt ein sinnvolles philosophisches Projekt ist. 119 Ich glaube jedoch, dass Gettiers Beispiele auf einen substantiellen Defekt der Standardanalyse hinweisen, der nur durch eine grundlegende Revision dieser Definition behoben werden kann. Diese Revision ist kein unendliches und unabschließbares Projekt, sondern unter den Vorschlägen für eine neue Wissensdefinition aus der Zeit nach Gettier finden sich einige sehr brauchbare Kandidaten. Dabei sollen im Folgenden ganz deutlich Vor- und Nachteile dieser verschiedenen Vorschläge herausgearbeitet werden. Sehen wir uns zunächst die beiden ursprünglichen GettierFälle an: F A L L I : S M I T H UND DER U N V E R H O F F T E J O B 1 2 0

Zwei Arbeitssuchende, nennen wir sie Smith und Jones, haben sich bei einer Firma auf dieselbe Stelle beworben. Smith hat nun glaubhaft vom Personalchef erfahren, dass sich die Firma letzten Endes für seinen Konkurrenten Jones entscheiden wird. Er hat außerdem beiläufig gesehen, dass Jones zehn Münzen in seiner Hosentasche mit sich herumträgt. Damit hat er gute Gründe für seine Uberzeugung:

119 120

Craig 1993, S. 24; Baumann 2002, S. 86; Williamson 2000, S. 4. Gettier 1987.

101

Das Gettierproblem

(1) Jones ist derjenige, der die Stelle bekommt, zehn Münzen in seiner Hosentasche. Daraus zieht er nun folgenden

deduktiven

(2) Derjenige, der die Stelle bekommt, ner Hosentasche.

und Jones

hat

Schluss:

hat zehn Münzen in sei-

Nun ereignen sich zufällig zwei Dinge, von denen Smith nichts weiß. Erstens hat Smith selbst auch genau zehn Münzen in seiner Hosentasche und zweitens bekommt er und nicht Jones am Ende die Stelle, trotz der gegenteiligen Vorabinformation. Wenn sich das alles zufällig so abspielt, wie Gettier annimmt, dann ist Smiths Uberzeugung (2) wahr und gerechtfertigt. Dennoch würden wir ihm kein Wissen zuschreiben. Also, folgert Gettier, ist die Standardanalyse des Wissens falsch. Jemand kann eine gerechtfertigte, wahre Überzeugung besitzen und dennoch kein Wissen haben. Die Standardanalyse ist nicht hinreichendfür Wissen. Zunächst müssen wir uns klar machen, warum Smiths Uberzeugung (2) gerechtfertigt und wahr ist. Smith hat offenbar gute Wahrscheinlichkeitsgründe für seine Uberzeugung (1). Er hört aus zuverlässiger Quelle, dass Jones die Stelle bekommen wird, und er sieht, dass Jones zehn Münzen in seiner Hosentasche hat. Beide Gründe garantieren die Wahrheit nicht, denn zuverlässige Informanten können auch einmal Fehler machen (was im vorliegenden Fall ja auch passiert) und die Sinneserfahrung ist sicher nicht untrüglich. Es handelt sich also nicht um rechtfertigende Gründe nach dem Gewissheitsmodell, aber um Gründe, die wir im Alltag zumindest als gute Gründe akzeptieren würden. Nach dem Wahrscheinlichkeitsmodell der Rechtfertigung ist (1) also gerechtfertigt. Aber (1) ist eine falsche Konjunktion*. Eine solche Konjunktion (eine aussagenlogische Und-Verknüpfung) ist bereits falsch, wenn ein Teilsatz falsch ist. Und das ist hier der Fall, da Jones die Stelle tatsächlich nicht bekommt. (1) ist also eine falsche Uberzeugung, die aber nach dem Wahrscheinlichkeitsmodell der Rechtfertigung

102

Wissen

dennoch gerechtfertigt ist.121 Aus dieser gerechtfertigten falschen Uberzeugung folgert Smith nun deduktiv korrekt (2). Dass es sich so verhält, kann man sich schnell klar machen. Wenn man (2) so versteht, dass der Satz besagt: „Es gibt jemanden, der die Stelle bekommt und der zehn Münzen in seiner Hosentasche hat", dann kommt man von (1) zu (2) durch existentielle Generalisierung.122 Wenn es eine ganz bestimmte Person gibt, die die Stelle bekommt und die zehn Münzen in der Hosentasche hat, dann muss es irgend]emanden geben, der die Stelle bekommt und zehn Münzen in der Hosentasche hat. Wenn man jedoch von einer gerechtfertigten (wenn auch falschen) Uberzeugung durch einen deduktiv korrekten Schluss zu einer anderen Uberzeugung übergeht, dann ist es sehr plausibel, dass man auch in der Konklusion gerechtfertigt ist. Gettier selbst weist explizit darauf hin, dass er dieses Prinzip der Geschlossenheit der Rechtfertigung unter logischer Ableitung in seiner Argumentation voraussetzt.123 Aber dieses Prinzip ist von überwältigender Plausibilität. Wir verwenden es täglich in unseren Argumenten, wenn wir eine Reihe von Prämissen rechtfertigen, daraus dann logisch eine Konklusion ableiten und annehmen, dass auch die Konklusion gerechtfertigt ist.

121

122

123

Zu diesem Modell einer fehlbaren Rechtfertigung bekennt sich Gettier ausdrücklich: „In dem Sinn von gerechtfertigt', in dem es eine notwendige Bedingung für S' Wissen von Ρ ist, dass S darin gerechtfertigt ist zu glauben, dass P, ist es möglich, dass jemand gerechtfertigt ist, etwas zu glauben, was in Wirklichkeit falsch ist." Vgl. Gettier 1987, S. 91. (2) kann auch anders verstanden werden, nämlich so, dass der Ausdruck „derjenige, der die Stelle b e k o m m t " referentiell gedeutet wird. Smith würde sich dann mit dieser (lalschen) Beschreibung auf Jones beziehen. Unter dieser Lesart würde (2) bedeuten: „Jones hat zehn Münzen in der Hosentasche." Diese Lesart scheidet jedoch aus, da Gettier der Auffassung ist, dass (2) durch die für Smith glückliche Wendung des Schicksals wahr gemacht wird. Wenn (2) „Jones hat zehn Münzen in der Hosentasche" bedeuten würde, dann gäbe es auch keinen Grund mehr, mit der Wissenszuschreibung an Smith zu zögern. Auch dieses Prinzip akzeptiert Gettier ausdrücklich, vgl. Gettier 1987, S. 91.

Das Gettierproblem

103

Als Ergebnis lässt sich Folgendes festhalten: Wenn wir das Wahrscheinlichkeitsmodell der Rechtfertigung zugrunde legen, dann ist Smith in seiner Uberzeugung (1) gerechtfertigt (auch wenn sie falsch ist). Durch einen abschwächenden deduktiven Schluss gelangt er zu Uberzeugung (2), die ebenfalls gerechtfertigt ist, da Rechtfertigung unter logischer Implikation geschlossen ist. (2) ist jedoch nicht nur gerechtfertigt, sondern auch wahr, und zwar wird (2) - für Smith ganz unerwartet - durch ihn selbst wahr gemacht. Smith hat mit (2) also eine gerechtfertigte, wahre Uberzeugung. Dennoch zögern wir, ihm Wissen zuzuschreiben, weil seine gerechtfertigte Uberzeugung (2) nur aufgrund eines glücklichen Zufalls wahr ist. Smith hat gewissermaßen Glück im Unglück, da er von einer gerechtfertigten Überzeugung, die unglücklicherweise falsch ist, glücklicherweise eine wahre Uberzeugung logisch deduktiv ableitet. Dieses zufällige Erzielen der Wahrheit ist mit unserem Verständnis von Wissen offenbar unverträglich. Sehen wir uns nun Gettiers F A L L 2 an: M E I E R U N D SEIN G O L F 1 2 4

Smith weiß, dass Meier immer schon einen Golf besessen hat, und er wird auch gerade wieder von Meier in einem Golf mitgenommen. Das sind für Smith hinreichende Gründe um die folgende Proposition zu glauben: (3) Meier besitzt einen

Golf

Auch bei diesen Gründen handelt es sich natürlich nur um Wahrscheinlichkeitsgründe, also bestenfalls um Indizien, die für die Wahrheit von (3) sprechen. Aber es handelt sich um Gründe von der Qualität, die wir üblicherweise als gute Rechtfertigungsgründe verstehen. Nun hat Smith einen Freund namens Krause, von dem er überhaupt nicht weiß, wo er sich derzeit befindet. Er lässt jedoch seine Phantasie spielen und denkt sich einen Ort aus, an dem sich Krause gerade aufhalten 124

Ich präsentiere eine leicht veränderte Version von Gettiers zweitem Beispiel, vgl. Gettier 1987, S. 92.

104

Wissen

könnte, liegen des Namens Krause kommt er auf Berlin. Da Smith jemand ist, der logische Spielereien liebt, erkennt er sofort, dass man aus (3) die folgende Proposition deduktiv folgern kann: (4) Meier besitzt einen Golf oder Krause hält sich in Berlin auf125 Sobald Smith diesen Zusammenhang erkennt, gelangt er durch deduktive Inferenz aus seiner gerechtfertigten Überzeugung (3) zu der Überzeugung (4). Wenn das Prinzip der Geschlossenheit der Rechtfertigung unter logischer Implikation gilt, ist seine Überzeugung (4) gerechtfertigt. Nun passieren wieder zwei unerwartete Zufälle. Erstens besitzt Meier nämlich in Wirklichkeit seinen Golf nicht mehr, sondern fährt einen Mietwagen. (3) ist also falsch. Doch zweitens ist (4) dennoch wahr, weil sich Krause überraschenderweise tatsächlich in Berlin aufhält. Smiths Überzeugung (4) ist also gerechtfertigt und wahr. Gleichwohl würde man nicht sagen, dass Smith Wissen hinsichtlich von (4) besitzt. In diesem konkreten Fall ist es ein glücklicher Zufall, dass die gerechtfertigte Überzeugung wahr ist. Und eine zufällig wahre Überzeugung ist kein Fall von Wissen. Auch Gettiers zweiter Fall zeigt also, dass die Standardana125

Ich habe die beiden ursprünglichen Gettierfälle aus Gründen der Präsentation leicht abgewandelt. An dieser Stelle weiche ich aber substantiell vom Original ab, weil Gettier annimmt, dass sich aus , p ' , e n t w e d e r ρ oder q' logisch folgern lässt. Das ist jedoch falsch. Aus einer beliebigen Proposition folgt nicht eine Verknüpfung dieser Proposition mit einer beliebigen anderen Proposition durch das ausschließende Oder. Das lässt sich leicht zeigen. Damit eine Folgerung logisch gültig ist, muss die Konklusion in jeder möglichen Bewertungssituation wahr sein, in der die Prämisse wahr ist. Es gibt jedoch Situationen, in denen ,p' wahr ist und ,entweder ρ oder q' nicht wahr ist. Eine solche Situation liegt vor, wenn ,p' und ,q' beide wahr sind. Eine solche Situation wird nämlich durch das ausschließende Oder negiert. Der Fehler lässt sich aber leicht beheben. Ich habe das ausschließende Oder bei Gettier einfach durch ein einschließendes Oder ersetzt. Solche Konstruktionen sind verträglich damit, dass beide Teilsätze wahr sind.

Das Gettierproblem

105

lyse des Wissens nicht hinreichend ist. Sie kann erfüllt sein, dass Wissen tatsächlich vorliegt.

ohne

Sehen wir uns etwas genauer an, was in den Gettierfällen schief geht. Aus der kognitiven Perspektive des Erkenntnissubjekts passieren keine Fehler. Smith bildet eine Uberzeugung auf der Grundlage guter Wahrscheinlichkeitsgründe und folgert aus ihr auf logisch vollkommen korrekte Weise eine andere Uberzeugung, die auf diesem inferenziellen Wege ihre Rechtfertigung erhält. Da Smith für seine Rechtfertigung nur Wahrscheinlichkeitsgründe zur Verfügung stehen, muss auch die Welt auf die richtige Weise mitspielen, damit seine inferenziell erworbene Uberzeugung ein Fall von Wissen darstellt. In einer wichtigen Hinsicht tut sie das auch in den Gettierfällen. Die Schlussfolgerungen, die Smith zieht, sind nämlich wahr. Wenn dennoch in beiden Fällen kein Wissen zustande kommt, dann liegt das daran, dass die Welt in einer anderen Hinsicht nicht richtig mitspielt. Die Welt ist nämlich so beschaffen, dass die Gründe, die Smith zur Verfügung stehen, nicht auf die richtige Weise mit der Wahrheit seiner Schlussfolgerung verbunden sind. Der Fehler lässt sich noch genauer lokalisieren. In beiden Fällen gelangt Smith nämlich zu einer gerechtfertigten, wahren Konklusion auf dem Umweg über eine gerechtfertigte, falsche Prämisse. Wäre allein die Außenwelt geringfügig anders gewesen, dann hätten wir nicht gezögert, Smith Wissen zuzuschreiben. Die jeweiligen Prämissen hätten nur wahr sein müssen. Hätte also im Fall von Smith und dem unverhofften Job Jones die Arbeitsstelle bekommen, dann hätte Smith unter ansonsten gleichen Umständen Wissen gehabt. Hätte Meier im anderen Fall tatsächlich einen Golf besessen, dann hätte Smith auch in diesem Fall unter ansonsten gleichen Umständen Wissen gehabt. Die Umstände hätten nur so sein müssen, dass die Wahrheit der gerechtfertigten Uberzeugung nicht zufällig eingetreten wäre. Damit haben wir eine äußerst wichtige Einsicht gewonnen. Wissen hängt nicht nur von einer gegenüber unserer kognitiven Perspektive externen Bedingung ab (der Wahrheit), sondern

106

Wissen

auch noch von einer zweiten. Damit aus wahrer Überzeugung Wissen wird, genügt es nicht, die geeignete kognitive Perspektive auf die Welt zu haben, sondern die Welt selbst muss ein weiteres Mal mitspielen, um den wissensgefährdenden Zufall auszuschließen. Welcher Art die wissensgenerierenden Zusatzfaktoren genauer sein müssen, um Gettierfälle zu vermeiden, darüber haben sich die Erkenntnistheoretiker nach Gettier erbitterte Debatten geliefert. Das wird uns noch eingehender beschäftigen. Wichtig ist an dieser Stelle nur, dass diese wissensgenerierenden Zusatzfaktoren externer Natur sein müssen. Dagegen scheint zunächst zu sprechen, dass die Gettierfälle nur ein Problem für die Standardanalyse des Wissens aufwerfen, wenn man das Wahrscheinlichkeitsmodell der Rechtfertigung und nicht das Gewissheitsmodell zugrunde legt. Würden wir nämlich nur dann von einer Rechtfertigung sprechen, wenn die Gründe die Wahrheit der zu rechtfertigenden Uberzeugung garantieren, dann könnte der Fall nicht eintreten, dass jemand in einer Uberzeugung gerechtfertigt wäre, die falsch ist. Deshalb wären in beiden Fällen die Ausgangsprämissen nicht gerechtfertigt. Da man durch deduktive Inferenz aus ungerechtfertigten Prämissen jedoch keine gerechtfertigten Konklusionen gewinnen kann, wären auch die Schlussfolgerungen ungerechtfertigt, wenn auch wahr. Doch dass ungerechtfertigte, wahre Uberzeugungen kein Wissen darstellen, ist mit der Standardanalyse vollkommen verträglich. Könnte man dann nicht sagen, dass nach dem Gewissheitsmodell Wissen allein von der kognitiven Perspektive abhängt? Es genügt offenbar, dass Uberzeugungen gewiss sind, damit Wissen vorliegt. Doch in Wirklichkeit verbirgt hier die schillernde Natur des Gewissheitsbegriffes die externen Faktoren des Wissens. Umgangssprachlich spricht man häufig auch dann von Gewissheit, wenn eine unerschütterliche Uberzeugung vorliegt. Gewissheit in diesem subjektiven Sinne hängt tatsächlich allein von der kognitiven Perspektive ab. Descartes' Gewissheitsbegriff impliziert jedoch einen objektiven Zusammenhang mit der Wahrheit. Es kann demnach keine Gewissheit ohne eine Korrela-

Das Gettierproblem

107

tiorr" mit der Welt vorliegen. Deshalb hängt Gewissheit in diesem terminologischen Sinne nicht allein von der kognitiven Perspektive ab. Nur in diesem Sinne gewisse Uberzeugungen sind jedoch hinreichend für Wissen.

Die Bedeutung der Gettierfälle Die Gettierfälle zeigen, dass Wissen nicht nur von einem externen Faktor abhängig ist (der Wahrheit), sondern auch noch von einem weiteren (der objektiven Nicht-Zufälligkeit der Wahrheit). Das Gettierproblem für die Standardanalyse Die Standardanalyse definiert Wissen als gerechtfertigte, wahreUberzeugung. Die Gettierfälle zeigen, dass es Fälle gerechtfertigter, wahrer Uberzeugung gibt, die kein Wissen darstellen. Die Standardanalyse ist also falsch.

Die ursprünglichen Gettierfälle werfen, wie gesagt, ein Problem für die Standardanalyse des Wissens auf, weil sie zeigen, dass diese Wissensdefinition ohne zusätzliche externe Bedingungen nicht hinreichend ist. Es gibt deshalb einerseits die Strategie, die dreigliedrige Standardanalyse durch eine vierte (externe) Zusatzbedingung zu ergänzen. Andererseits kann man auch versuchen, die Bedingung einer internen Rechtfertigung ganz aufzugeben und durch eine rein externe dritte Bedingung zu ersetzen. Wenn man die Eigenschaft, die aus einer wahren Überzeugung einen Fall von Wissen macht, den wissensgenerierenden Zusatzfaktor nennen, dann ist also die Frage, ob dieser Faktor als Kombination aus internen und externen Faktoren zu verstehen ist (das wäre die Kombinationslösung) oder ob dieser Faktor rein externer Natur ist (das wäre die rein externalistische Lösung). Wie wir gesehen haben, kann er in keinem Fall rein interner Natur sein. Das schließen die Gettierfälle aus.

108

Wissen

Der erste Vorschlag zur Lösung des Gettierproblems bietet eine Kombinationslösung an. Er lautet: Gerechtfertigte, wahre Überzeugungen ergeben nur dann Wissen, wenn die Rechtfertigung nicht auf irgendwelchen falschen Prämissen beruht\i2h Ein Subjekt S weiß die Proposition, dass p, genau dann, wenn: (i) (ii) (iii) (iv)

S überzeugt ist, dass p, die Proposition, dass p, wahr ist, S in seiner Uberzeugung, dass p, gerechtfertigt ist, die Rechtfertigung von ρ nicht auf einer falschen Prämisse beruht.

Dieser Vorschlag ist ganz naheliegend, da die Zufälligkeit der Wahrheit der wahren, gerechtfertigten Uberzeugung in den ursprünglichen Gettierfällen ja gerade darauf beruht, dass diese Uberzeugung aus einer falschen Prämisse gefolgert wird. Gegen diese Lösung spricht ein weiterer Fall, der im Geiste der ursprünglichen Gettierfälle konstruiert ist, jedoch nicht inferenzielles Wissen betrifft. F A L L 3: H E N R Y UND D I E

SCHEUNENFASSADEN127

Henry fährt mit seinem Auto durch eine ländliche Gegend des Schwarzwalds. Von der Straße aus sieht er bei strahlendem Sonnenschein und absolut klarer Sicht nicht weit entfernt ein Gebäude, das wie eine Scheune aussieht. Er ist deshalb davon überzeugt, dass er gerade an einer Scheune vorbeifährt. Diese Überzeugung ist auch tatsächlich wahr. Was er allerdings nicht weiß, ist, dass es in der Gegend lauter Scheunenattrappen gibt, die echten Scheunen von der Straße aus täuschend ähnlich sehen. Die ganze Gegend gehört zur Kulisse einer neuen Folge der „ Schwarzwaldklinik Henry hat also die gerechtfertigte, wahre Überzeugung, dass er gerade an einer Scheune vorbeifährt. Aber objektiv betrachtet ist seine Überzeugung nur zufällig wahr. Hätte er eine Scheunenattrappe gesehen, dann 126 127

Vgl. etwa Armstrong 1973, S. 152. Vgl. Goldman 1976, S. 143.

Das Gettierproblem

109

hätte er ebenfalls geglaubt, gerade an einer Scheune vorüber zu fahren. Deshalb würde man Henry intuitiv kein Wissen zuschreiben. Dieser Fall weicht von den ursprünglichen Gettierfällen ab, insofern hier kein Fall von Glück im Unglück vorliegt. Henrys gerechtfertigte, wahre Uberzeugung beruht nicht auf einem Schluss aus einer falschen Prämisse. Falsche Prämissen kommen in dem Fall gar nicht vor. Dennoch ist seine gerechtfertigte, wahre Uberzeugung nur zufällig wahr und kein Fall von Wissen. Der erste Vorschlag für eine Modifikation der Standardanalyse ist deshalb unzureichend. Vielleicht könnte man einwenden, dass Henrys Rechtfertigung im vorliegenden Fall nicht ausreichend ist. Hätte er nicht zumindest um das Gebäude herumgehen können? Dann hätte er ausschließen können, dass es sich um eine bloße Fassade handelt. Doch wenn man Wahrscheinlichkeitsgründe überhaupt akzeptiert, dann hat Henry optimale Gründe für seine Überzeugung. Er hat bei optimalen Sichtverhältnissen eine sehr gute Sicht auf das Objekt und er hat alles getan, was man von ihm vernünftigerweise erwarten kann, um die Wahrheit seiner Uberzeugung zu prüfen. Aber selbst das Herumgehen um das Gebäude hätte nicht jede Irrtumsmöglichkeit ausgeschlossen. Was wäre, wenn das Gebäude zwar auch eine Rückseite und Seitenwände gehabt hätte, aber die Wände aus Pappmaché gemacht wären? Hätte Henry also auch noch das Material prüfen müssen? Was wäre, wenn das Gebäude gar keine Scheune wäre, sondern als geheimer Treffpunkt für Spione angelegt wäre? Hätte Henry auch noch die Verwendung des Gebäudes überprüfen müssen? Wenn also Henrys Gründe keine guten Gründe sind, dann gibt es überhaupt keine guten Gründe. Skeptische Konsequenzen wären unausweichlich. Der Scheunenfassadenfall ist deshalb ein echter gettierartiger Fall.

110

Wissen

3.3 Posttraditionelle Wissensdefinitionen Auf der Suche nach einer Wissensdefinition, die gegen gettierartige Fälle resistent ist, hat man zwei unterschiedliche Wege eingeschlagen. Der erste Weg besteht darin, dass man die von der Standardanalyse aufgeführten Bedingungen zwar für notwendig, aber eben nicht für hinreichend hält. Sie bedürfen einer Ergänzung durch eine zusätzliche Bedingung, die Gegenbeispiele ausschließen soll. Die dreigliedrige Standardanalyse wird danach durch eine vierte Bedingung ergänzt. Deshalb spricht man auch von so genannten Quartettlösungen. Wissen wäre dann gerechtfertigte, wahre Uberzeugung plus X. Der wissensgenerierende Zusatzfaktor, also der Faktor, der hinzukommen muss, damit aus wahrer Uberzeugung Wissen wird, wäre dann ein Faktor, der aus einem internen Element (der Rechtfertigung) und einem externen Element besteht. Die Quartettlösungen sind also Kombinationslösungen. Der alternative zweite Weg zu einer Lösung besteht darin, dass man die Standardanalyse weder für hinreichend noch für notwendig hält. Die Bedingung einer internen Rechtfertigung wird dann ganz fallen gelassen und ersetzt durch einen rein externalistischen wissensgenerierenden Zusatzfaktor. In diesem Fall kann man auch von einer Terzettlösung sprechen. Wissen wäre dann wahre Überzeugung plus eine rein externalistische Zusatzbedingung. Mit der folgenden Darstellung der wichtigsten Definitionsvorschläge wird kein Vollständigkeitsanspruch verbunden. Das Gettierproblem hat zu einer unübersehbaren Flut von Lösungsvorschlägen geführt, die oft ziemlich ad hoc nur die Defizite ihrer Vorgängerdefinitionen ausgleichen und sofort neue Gegenbeispiele heraufbeschworen haben. Es sollen nur die wichtigsten Definitionsvorschläge herausgegriffen, in ihren Grundzügen klar umrissen und bezüglich ihrer Vor- und Nachteile erörtert werden.

Posttraditionelle Wissensdefinitionen

111

3.3.1 Quartettlösungen Unanfechtbarkeit der Rechtfertigung Stellen wir uns noch einmal die Frage, was in den Gettierfällen schief geht. Eine relativ naheliegende Antwort ist die folgende. Das Erkenntnissubjekt ist aus seiner mehr oder weniger beschränkten und verzerrten kognitiven Perspektive in seiner wahren Uberzeugung gerechtfertigt. Wenn man diese kognitive Perspektive nun mit immer mehr korrekten Informationen ausstattet, d.h. falsche Überzeugungen korrigiert und neue Informationen hinzu nimmt, dann gibt es zwei Möglichkeiten für die Rechtfertigung der Uberzeugung: Entweder sie bleibt stabil unter jedem möglichen Informationszuwachs oder sie geht durch die zusätzlichen Informationen verloren. In den Gettierfällen ist die gegebene Rechtfertigung instabil und würde verloren gehen, wenn das Erkenntnissubjekt mehr Informationen über seine Umwelt hätte. Gettierresistente Fälle zeichnen sich dagegen durch eine unter Informationszuwachs stabile Rechtfertigung aus. Wissen läge dann vor, wenn die Rechtfertigung einer wahren Überzeugung des Erkenntnissubjekts auch unter informationellen Idealbedingungen erhalten bliebe. Dieser Grundgedanke motiviert den Vorschlag, Wissen als unanfechtbar gerechtfertigte, wahre Überzeugung zu definieren. Unanfechtbar (im Englischen: indefeasible) ist dabei die Rechtfertigung einer Überzeugung für eine bestimmte Person genau dann, wenn es keine Tatsache gibt, die - wenn die Person sie herausfinden würde - die Rechtfertigung der Überzeugung aufheben würde. Wir erhalten also die folgende Definition von Wissen als unanfechtbar gerechtfertigte, wahre Überzeugung:128 Ein Subjekt S weiß die Proposition, dass p, genau dann, wenn:

128 Vgl. Lehrer/Paxson in Bieri 1987.

112 (i) (ii) (iii) (iv)

Wissen

S überzeugt ist, dass ρ, die Proposition, dass p, wahr ist, S in seiner Uberzeugung, dass p, gerechtfertigt ist, Ss Rechtfertigung unanfechtbar ist.

Die neue Definition kann die Gettierfälle ausschließen. Wenn im Fall von Smith und dem unverhofften Job Smith die Information erhielte, dass Jones die Stelle nicht bekommt, dann wäre damit die Wahrheit seiner Ausgangsüberzeugung widerlegt: (1) Jones ist derjenige, der die Stelle bekommt, und Jones hat zehn Münzen in seiner Hosentasche. Doch dann würde Smiths Grund für seine Konklusion wegfallen, dass derjenige, der die Stelle bekommt, zehn Münzen in der Hosentasche hat. Ganz Analoges würde im Fall von Meier und seinem Golf passieren. Sobald Smith erfährt, dass Meier keinen Golf besitzt, würde seine Rechtfertigung für seine Uberzeugung wegfallen, dass Meier einen Golf besitzt oder Krause sich in Berlin aufhält. Die Unanfechtbarkeitsdefinition kann aber auch den Fall der Scheunenfassaden erklären. Sobald nämlich Henry erfährt, dass es in der Umgebung von Scheunenattrappen nur so wimmelt, könnte der Blick auf ein Gebäude, das so aussieht wie eine Scheune, nicht länger seine Uberzeugung rechtfertigen, dass es sich um eine Scheune handelt. Die neue Information wäre ein unterminierender Anfechtungsgrund für die Rechtfertigung von Henrys Uberzeugung. Die Unanfechtbarkeitsdefinition ist auch mit der Einsicht verträglich, dass Gettierfälle nur durch eine externe Bedingung ausgeschlossen werden können. Die potentiellen Anfechtungsgründe sind nämlich objektive Tatsachen, die zum gegenwärtigen Zeitpunkt dem Erkenntnissubjekt nicht unmittelbar zugänglich sind, weil sie noch nicht im Fokus seiner kognitiven Perspektive liegen.

Posttraditionelle Wissensdefinitionen

113

Obwohl der Definitionsvorschlag auf den ersten Blick sehr gut aussieht, weil er Bedingungen nennt, die selbst in den Gettierfällen für Wissen hinreichen, gibt es Probleme mit dieser Definition. Stellen Sie sich folgende Situation vor:129 Angenommen, ich sehe, wie ein Mann ein Buch aus der Bibliothek stielt. Ich hin mir sicher, dass es sich um Tom Grahit handelt, da ich ihn aus vielen Seminaren kenne. Ich komme also zu der gerechtfertigten Überzeugung, dass Tom Grabit ein Buch gestohlen hat, und melde das der Aufsicht. Nachdem Frau Grabit, seine Mutter, von dieser Beschuldigung Wind bekommen hat, behauptet sie, dass Tom zum fraglichen Zeitpunkt nicht in der Bibliothek, sondern an einem hunderte Kilometer entfernten Ort gewesen sei, aber John Grabit, sein eineiiger Zwillingsbruder in der Bibliothek gewesen sei. Ich weiß davon nichts. Würde ich davon erfahren, dass es diese entlastende Aussage seiner Mutter gibt, dann wäre dies ein widerlegender Anfechtungsgrund für meine Rechtfertigung. Wüsste ich von dieser Aussage, so würde mich meine Beobachtung nicht länger in der Annahme rechtfertigen, dass Tom Grabit ein Buch gestohlen hat, denn es gibt Indizien, die gegen die Wahrheit dieser Uberzeugung sprechen. Ich habe also keine unanfechtbare Rechtfertigung und folglich auch kein Wissen. Das ist jedoch noch nicht das Ende der Geschichte: In Wirklichkeit ist die Mutter von Tom Grabit eine zwanghafte Lügnerin und John Grabit ist das Hirngespinst ihres verwirrten Geistes. Tom Grabit hat gar keinen Zwillingsbruder; sondern hat tatsächlich das Buch aus der Bibliothek gestohlen. Meine Überzeugung ist also wahr. Unsere Intuition sagt uns, dass ich in diesem Fall weiß, dass Tom Grabit das Buch gestohlen hat. Die Aussage seiner Mutter ist ein irreführender Anfechtungsgrund, der die Qualität meines Wissens gar nicht beeinträchtigt. Doch die Unanfechtbarkeitsdefinition sagt etwas anderes. Ihr zufolge habe ich kein Wissen, 129

Lehrer/Paxson in Bieri 1987, S. 96.

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Wissen

weil es eine Tatsache gibt (die Aussage von Frau Grabit), die wenn ich sie erfahren würde — meine Rechtfertigung unterminieren würde. Die Bedingungen, die der Definitionsvorschlag anführt, sind also nicht notwendig für das Vorliegen von Wissen. Da die Definition notwendige und zusammen hinreichende Bedingungen für Wissen angeben soll, muss der vorliegende Vorschlag modifiziert werden. Irreführende Anfechtungsgründe müssen irgendwie als irrelevant ausgeschlossen werden. Das führt zu folgender Modifikation des Definitionsvorschlags: Ein Subjekt S weiß die Proposition, dass p, genau dann, wenn: (i) S überzeugt ist, dass p, (ii) die Proposition, dass p, wahr ist, (iii) S in seiner Uberzeugung, dass p, gerechtfertigt ist, (iv') Ss Rechtfertigung durch relevante Tatsachen unanfechtbar ist. Die Vertreter der Unanfechtbarkeitsdefinition haben sehr unterschiedliche Vorschläge für Relevanzkriterien vorgebracht.130 130

Harman 1973 hat sogar dafür argumentiert, dass selbst irreführende Anfechtungsgründe, wenn sie für das Erkenntnissubjekt leicht verfügbar sind (da es sich beispielsweise um Informationen handelt, die eine große gesellschaftliche Verbreitung haben), Wissen ausschließen können. Sein Fall ist von der folgenden Art: Johannes liest in einer renommierten Zeitung, dass ein rechtsradikaler Politiker bei einem Anschlag ums Leben gekommen ist, und glaubt das natürlich. Der Bericht stammt von einem Journalisten, der Augenzeuge des Geschehens war. Johannes nimmt jedoch keine Notiz davon, dass in allen anderen Zeitungen geschrieben steht, dass tatsächlich gar nicht der Politiker, sondern sein Leibwächter bei dem Anschlag ums Leben gekommen ist. Was die Öffentlichkeit nicht weiß, ist, dass diese Geschichte erfunden wurde, um einen spontanen Aufmarsch rechter Kräfte zu verhindern. Harman vertritt die Auffassung, dass Johannes kein Wissen hat, weil es einen leicht verfügbaren irreführenden Anfechtungsgrund gibt. Andere irreführende Anfechtungsgründe, wie im Fall von Tom Grabit, können dagegen Wissen nicht ausschließen. Deshalb stellt sich die dringliche Frage nach präzisen Abgrenzungsgründen zwischen relevanten und irrelevanten irreführenden Anfechtungsgründen. Meiner Intuition nach muss man jedoch nicht unbedingt sagen, dass Johannes kein Wissen hat.

Posttraditionelle Wissensdefinitionen

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Ich möchte hier nicht genauer auf die Einzelheiten der mitunter recht technischen Lösungsvorschläge eingehen. Sehen wir uns exemplarisch nur einen relativ einfachen Vorschlag an, wonach nur dann kein Wissen vorliegt, wenn die Rechtfertigung der wahren Uberzeugung durch Gründe anfechtbar ist, die ihrerseits unanfechtbar sind. Genau diese Eigenschaft liegt im Fall der Aussage der Mutter von Tom Grabit nicht vor. Für sich allein betrachtet hebt die Tatsache ihrer Aussage zwar die Rechtfertigung meiner Uberzeugung, dass Tom Grabit ein Buch gestohlen hat, auf, sobald ich jedoch wüsste, wie es um den Geisteszustand von ihr steht und dass Tom Grabit tatsächlich gar kein eineiiger Zwilling ist, würde diese Aussage ihre Anfechtungskraft in Bezug auf meine Rechtfertigung wieder einbüßen. Die Bedingung (iv') der Wissensdefinition könnte also folgendermaßen präzisiert werden: (iv") Ss Rechtfertigung ist durch unanfechtbare fechtbar.

Gründe unan-

So elegant der Vorschlag der Definition von Wissen als unanfechtbar gerechtfertigte wahre Uberzeugung ist, gegen ihn sprechen doch eine Reihe von Einwänden. Ich werde zunächst zwei Einwände nennen, die meines Erachtens auf Missverständnissen beruhen. Danach werde ich zwei weitere Einwände darstellen, die die wirklichen Schwächen des Vorschlags zum Vorschein bringen. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als ob die Forderung nach einer (unter qualifizierten Bedingungen) unanfechtbaren Rechtfertigung nichts anderes ist als die Gewissheitsanforderung in Verkleidung. Schließlich soll ja auch die Gewissheit absolut unanfechtbar sein. Das ist zwar richtig, zeigt jedoch nicht, dass Gewissheit und Unanfechtbarkeit äquivalent sind. Damit Gewissheit vorliegt, müssen die Gründe nämlich nicht nur tatsächlich unanfechtbar sein, sondern diese Tatsache müssen sie dem Erkenntnissubjekt auch o f fenbaren. Gewissheit liegt also nur vor, wenn das Erkenntnissubjekt etwas weiß und außerdem weiß, dass es dieses Wissen hat. Gewissheit impliziert neben Wissen erster Ordnung' auch

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Wissen

Wissen, dass man weiß. Das lässt sich anhand eines unserer Beispiele veranschaulichen. Würde Henry durch eine Gegend ohne täuschende Fassaden fahren, dann hätte er aufgrund seiner Wahrnehmung eine unanfechtbare Rechtfertigung für seine wahre Uberzeugung, dass er gerade an einer Scheune vorüber fährt. Diese Unanfechtbarkeit beruht allein aufgrund der tatsächlichen Beschaffenheit seiner Umwelt. Henry hätte nicht automatisch ein Wissen von dieser Unanfechtbarkeit seiner Rechtfertigung. Wäre er ein skeptisch veranlagter Philosoph, dann könnte er sich fragen, ob sein Wahrnehmungserlebnis nicht möglicherweise auf einer geschickten Täuschung beruht, sei es nun durch Fassaden oder durch die Einwirkung eines betrügerischen Dämons auf seine Sinneswahrnehmung. Und er könnte, trotz seiner de facto unanfechtbaren Gründe, solche Irrtumsmöglichkeiten nicht durch Gründe zurückweisen. Genau das ist im Fall der Gewissheit jedoch möglich. Wenn mir etwas gewiss ist, dann habe ich für die Proposition, die für mich Gewissheit hat, nicht nur tatsächlich unanfechtbare Gründe, sondern ich erfasse auch, dass die Wahrheit dieser Proposition durch meine Gründe erzwungen wird. Ich muss gar nicht wissen, wie meine Umwelt konkret aussieht, um zu wissen, ob meine Gründe unanfechtbar sind. Meine Gründe selbst zeigen, dass sie in jeder Welt, egal wie sie ansonsten beschaffen ist, die Wahrheit der Proposition erzwingen. Das klassische Beispiel für solche Gewissheiten sind cogito-artige Gedanken wie „Ich existiere jetzt", von denen ich wissen kann, dass sie in jeder Welt, in der ich sie denke, wahr sind, ohne zusätzlich etwas über die Welt in Erfahrung bringen zu müssen. Gewissheit erfordert also mehr als eine tatsächliche Unanfechtbarkeit der Rechtfertigung, sie erfordert zusätzlich auch noch ein Wissen um diese Unanfechtbarkeit. Deshalb ist der Vorschlag, Wissen als unanfechtbar gerechtfertigte, wahre Uberzeugung zu definieren, nicht äquivalent mit dem Vorschlag, Wissen als gewisse Überzeugung zu definieren. Und er sieht sich auch nicht mit den Schwierigkeiten des Gewissheitsmodells konfrontiert. Denn wenngleich es wohl nur weniges gibt, das die Gewiss-

Posttraditionelle Wissensdefinitionen

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heitsbedingung erfüllt, könnte es sehr viel mehr geben, was die Bedingung der de facto Unanfechtbarkeit der Rechtfertigung erfüllt. Ein weiterer Einwand liegt auf der Hand. Es könnte doch sein, dass eine wahre Uberzeugung unanfechtbar gerechtfertigt ist, ohne dass tatsächlich Wissen vorliegt. Dann wäre die Definition nicht hinreichend. Warum scheint das denkbar zu sein? Führen Sie sich noch einmal den Fall der Scheunenfassaden vor Augen, diesmal jedoch mit einer kleinen Modifikation. Im Schwarzwald wurden in der Gegend, durch die Henry gerade fährt, nicht viele, sondern sehr wenige Scheunenfassaden aufgestellt. Dementsprechend ist die Wahrscheinlichkeit, dass Henry in dieser Gegend eine echte Scheune mit einer Fassade verwechselt, extrem gering (sagen wir 1:1000). Läge der Fall so, dann müsste man wohl sagen, dass Henry, auch wenn er von dieser extrem geringen Irrtumsmöglichkeit wüsste, weiterhin gerechtfertigt bliebe, allein aufgrund seiner Wahrnehmung zu sagen, dass er gerade an einer Scheune vorüber fährt. Seine Rechtfertigung wäre also durch diese Tatsache nicht anfechtbar. Aber wir würden kaum sagen, dass er auch Wissen hat. Auch wenn die Wahrscheinlichkeit für einen Irrtum noch so gering ist, können wir nicht sagen, dass Wissen vorliegt. Der folgende Fall einer Lotterie kann das illustrieren: Auch wenn man vielleicht gerechtfertigt ist zu glauben, dass das eigene Los verliert (weil nur ein Los von 1000 gewinnt und alle anderen Lose Nieten sind), kann man nicht sagen, dass man weiß, dass das eigene Los verliert, solange auch nur der Hauch einer Gewinnchance besteht. Wissen und unanfechtbar gerechtfertigte, wahre Überzeugung scheinen also auseinander zu fallen. Doch dieser Anschein trügt. Sicher, die generelle Tatsache, dass es in der Gegend des Schwarzwaldes, durch die Henry fährt, nur sehr wenige Fassaden gibt, greift seine perzeptuelle Rechtfertigung nicht an. Entscheidend ist jedoch die unmittelbare Umgebung der von Henry betrachteten Scheune. Wenn die unmittelbar benachbarten Gebäude bloße Fassaden sind, dann ist diese lokale Tatsache ein Anfechtungsgrund für seine Rechtferti-

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gung. Kommen dort keine Fassaden vor, dann ist seine Rechtfertigung zwar unangefochten, in diesem Fall können wir Henry jedoch auch Wissen zuschreiben, weil relativ zu der unmittelbaren Umgebung dann jeglicher Irrtum ausgeschlossen ist und die Wahrheit der Uberzeugung deshalb nicht zufällig ist. Nur naheliegende Irrtumsmöglichkeiten verhindern Wissen, sie sind jedoch auch automatisch Anfechtungsgründe für die Rechtfertigung, so dass der vorliegende Definitionsvorschlag tatsächlich hinreichend für Wissen ist. Sehen wir uns nun den ersten echten Einwand gegen die Unanfechtbarkeitsdefinition an. Die Gesamtheit aller Tatsachen legt zweifellos fest, ob bestimmte Tatsachen die Rechtfertigung nur prima facie anfechten oder auch ultima facie als Anfechtungsgründe Bestand haben. Ob im gegebenen Fall Wissen vorliegt oder nicht, ist also selbst eine Tatsache. Die Unanfechtbarkeitsdefinition macht jedoch jede Wissenszuschreibung zum Problem. Um herauszufinden, ob jemand etwas weiß, müsste man nämlich jede der unbestimmt vielen Tatsachen kennen, die potentielle Anfechtungsgründe für die Rechtfertigung des Erkenntnissubjekts sein können. Im Fall von Tom Grabit könnte es beispielsweise neben der entlastenden Aussage der Mutter noch sehr viele andere Indizien geben, die dagegen sprechen, dass Tom sich zum fraglichen Zeitpunkt in der Bibliothek aufgehalten hat. Der Beobachter müsste außerdem alle für die Bewertung dieser Indizien erforderlichen Tatsachen kennen. Um herauszubekommen, dass die entlastende Aussage von Toms Mutter irreführend ist, müsste er Zeugen kennen, die ihren verwirrten Geisteszustand bestätigen und die Existenz eines Zwillingsbruders bestreiten usw. Kurz: Wenn wir Wissen zuschreiben wollen, dürfen wir uns nach dem vorliegenden Vorschlag nicht darauf beschränken, die lokale Beziehung zwischen dem Erkenntnissubjekt und seinem Gegenstand zu betrachten, sondern wir müssen ein umfassendes Wissen über die Welt haben, das es uns erlaubt, alle potentiellen Anfechtungsgründe der Rechtfertigung bewerten zu können. Da wir weit davon entfernt sind, allwissende Wesen zu sein, können wir

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also Wissen nicht zuschreiben. Das ist eine absurde Konsequenz des Ansatzes. Noch ein zweiter Einwand kommt hinzu. Die Unanfechtbarkeitsdefinition verlangt für Wissen, dass die Uberzeugung intern gerechtfertigt ist. Es gibt jedoch gute Gründe, diese Bedingung für zu stark, also nicht für notwendig zu halten. Häufig wird dieser Einwand so begründet, dass man Wissen überintellektualisiere, wenn man es an die Bedingung einer internen Rechtfertigung knüpfe. Kleinkinder und sogar Tiere könnten auch (in beschränktem Umfang) Wissen haben, aber sie verfügten nicht über eine argumentative Begründung und schon gar nicht über Gründe für die Zuverlässigkeit der verwendeten Quelle. Auch wenn das richtig ist, folgt daraus nicht automatisch, dass Wissen auch ohne interne Begründung vorkommen kann. Eine interne Begründung kann nämlich auch dann vorliegen, wenn das Erkenntnissubjekt über kein Argument verfügt oder kein Wissen höherer Ordnung besitzt, weil es beispielsweise nicht über die erforderlichen Begriffe verfügt. Es genügt, wenn etwas in seiner kognitiven Perspektive für die Wahrheit der fraglichen Proposition spricht. Dabei kann es sich auch um sinnliche Erfahrungen handeln, die man auch Kleinkindern und Tieren kaum absprechen kann. Tierisches und kindliches Wissen allein spricht also nicht gegen die interne Rechtfertigungsbedingung des Wissens. Es gibt jedoch eindeutige Fälle menschlichen Wissens, in denen es keine intern zugänglichen Gründe gibt, die für die Wahrheit der fraglichen Proposition sprechen. Es gibt Leute, die auf Hühnerfarmen arbeiten und aufgrund eines bloß oberflächlichen Blicks auf ein Huhn zuverlässig sagen können, ob es männlich oder weiblich ist. Sie wissen das unmittelbar. Sie können jedoch nicht sagen, woran sie es erkennen. Die Gründe für ihr Urteil sind ihnen nicht direkt zugänglich, wie man es erwarten würde, wenn sie über eine interne Rechtfertigung verfügen würden. Ähnlich verhält es sich im Falle unseres Selbstwissens. Wir können auf direktem Wege zuverlässig sagen, dass wir bei Bewusstsein sind, dass wir gerade etwas denken, erfah-

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ren oder wollen und was der Inhalt unserer geistigen Zustände ist. Wir brauchen uns dabei nicht auf eine äußere Beobachtung unseres Verhaltens zu stützen. Aber auch eine innere Wahrnehmung unseres mentalen Lebens gibt es nicht. Wir wissen es direkt, ohne uns dabei auf irgendwelche internen Gründe zu stützen. In beiden Beispielen gibt es also Wissen ohne interne Rechtfertigung. Deshalb kann diese Rechtfertigung keine notwendige Bedingung für Wissen sein. Es gibt jedoch noch ein weiteres Argument, das dafür spricht, diese Bedingung fallen zu lassen. Die Rechtfertigung wird nämlich in jedem Fall durch Gegengründe, die mir tatsächlich bekannt werden, angefochten, und zwar auch dann, wenn diese Gegengründe irreführend sind. Doch für Wissen gilt das nicht unbedingt. Stellen Sie sich vor, jemand bedient in einer Fabrik einen Kessel mit hohem Druck und verlässt sich dabei auf die Druckanzeige am Kessel. Nun gibt es ein Sicherheitssystem, das eine Fehlfunktion der Druckanzeige durch eine Warnleuchte anzeigt. Nehmen wir an, diese Warnleuchte leuchtet auf, aber der Kesselbetreiber ignoriert sie und hält sich einfach weiter an die Druckanzeige. Das wäre in jedem Fall irrational und seine Uberzeugungen über den Kesseldruck, die sich auf die Druckanzeige stützen, wären folglich nicht gerechtfertigt. Nehmen wir jedoch weiter an, dass das Sicherheitssystem einen Defekt hat und die Druckanzeige zuverlässig funktioniert. Dann weiß der Betreiber dennoch, wie hoch der Druck im Kessel ist. Er weiß es, obwohl er die ihm bekannten (irreführenden) Gegengründe nicht ausräumen kann und deshalb keine gerechtfertigten Uberzeugungen bezüglich des Kesseldrucks hat. 131 Wenn Sie diese Intuition teilen, dann müssen Sie auch akzeptieren, dass es Wissen ohne Rechtfertigung gibt. Wenn Sie dagegen diese Intuition nicht für hinnehmbar halten, dann bleiben zumindest die Fälle unmittel-

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Dretske 1971 vertritt genau diese Auffassung in Zwingende Gründe, S. 149, Fn. 17, wenn er sagt, wir sollten von jemandem, der Wissen hat, nicht verlangen, „dass er nicht glaubt, dass er keine zwingenden Gründe hat."

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baren Wissens ohne zugängliche interne Gründe als Argument gegen die Rechtfertigungsbedingung des Wissens. 132 Die Unanfechtbarkeitsdefinition Es ist für Wissen hinreichend, wenn eine gerechtfertigte, wahre Uberzeugung vorliegt, deren Rechtfertigung nicht durch Tatsachen anfechtbar ist, die ihrerseits unangreifbare Gründe sind. Es gibt jedoch zwei schwerwiegende Einwände gegen diese Wissensdefinition: Einwand 1\ Die Wissenszuschreibung ist aufgrund dieser Definition nahezu unmöglich. Einwand 2: Der Definitionsvorschlag nennt keine notwendigen Bedingungen für Wissen, da es Wissen ohne Rechtfertigung gibt.

3.3.2 Rein externalistische Lösungen 3.3.2.1 Die kausale Theorie Die kausale Definition des Wissens ist der Urtyp der rein externalistischen Terzett-Lösungen des Gettierproblems. Ihr Erfinder - Alvin Goldman - hatte dabei den folgenden Grundge-

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Viele Vertreter der Unanfechtbarkeitsdefinition halten dagegen, dass auch introspektives Selbstwissen (und vergleichbares anderes Wissen) auf internen Gründen beruht. Nach ihnen muss das Erkenntnissubjekt zumindest auf geeignete Weise glauben, dass seine gegenwärtige Uberzeugung auf Introspektion beruht und dass Introspektion zuverlässig ist, damit introspektives Wissen möglich ist. Introspektives Wissen beruht danach also auf internen Gründen zweiter Ordnung. Doch wenn man diese Verteidigungslinie einschlägt, handelt man sich den zuvor erwähnten Vorwurf der Überintellektualisierung des Wissens ein. Interne Gründe zweiter Ordnung erfordern nämlich Begriffe, über die Tiere und Kleinkinder nicht verfügen.

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danken:133 Was in den ursprünglichen Gettierfällen Wissen verhindert ist das Fehlen der geeigneten Beziehung zwischen der Welt und unseren wahren Uberzeugungen über sie. Dieses Defizit kann gemäß dem frühen Goldman dadurch behoben werden, dass unsere wahren Uberzeugungen durch die sie wahrmachenden Tatsachen (kurz: ihre Wahrmacher) auf die richtige Weise verursacht werden. Diese Einsicht motiviert den folgenden Definitionsvorschlag: Die kausale Definition

Ein Subjekt S weiß die Proposition, dass p, genau dann, wenn: (i) S überzeugt ist, dass p, (ii) die Proposition, dass p, wahr ist, (iii) die Tatsache, dass p, verursacht, dass S überzeugt ist, dass p. Dieser Definitionsvorschlag ist in der Lage, die ursprünglichen Gettierfälle auszuschließen. Im Fall von Smith und dem unverh o f f t e n Job ist es Jones (und das, was Smith über ihn hört und von ihm sieht), der, vermittelt durch eine andere Uberzeugung, in Smith die Uberzeugung kausal auslöst, dass derjenige, der die Stelle bekommt, zehn Münzen in der Hosentasche hat. Diese Uberzeugung wird aber nicht dadurch wahr gemacht, dass Jones zehn Münzen in der Hosentasche hat, sondern dadurch, dass dies für Smith selbst gilt. Deshalb wird Bedingung (iii) verletzt. Wissen liegt nicht vor, weil der Wahrmacher der Überzeugung nicht ihre Ursache ist. Ganz ähnlich verhält sich die Sache in Gettiers zweitem Fall. Smiths Uberzeugung, dass Meier einen Golf besitzt oder Krause sich in Berlin aufhält, wird kausal durch den von ihm beobachteten Meier verursacht, aber Meier ist nicht der Wahrmacher der Überzeugung, sondern Krauses tatsächlicher Aufenthalt in Berlin. Auch hier liegt 133

Goldman 1987.

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kein Wissen vor, weil der Wahrmacher nicht die Ursache der Uberzeugung ist. Gegen die kausale Definition gibt es eine ganze Reihe von Einwänden. Manche lassen sich relativ schnell ausräumen. Es gibt jedoch andere, die so stark sind, dass die kausale Theorie inzwischen von niemandem mehr vertreten wird. Auch Goldman hat sie später zugunsten seiner Zuverlässigkeitstheorie aufgegeben. 134 Zunächst wurde eingewandt, dass die kausale Definition vielleicht bestimmte Arten von Wissen wie Wahrnehmungswissen oder Erinnerungswissen erklären kann, für andere Arten jedoch vollkommen ungeeignet ist. Das gilt insbesondere für inferenzielles Wissen aufgrund von argumentativen Schlussfolgerungen. Als Begründung wird häufig die folgende Überlegung angeführt: (1)

(2)

Inferenzielles Wissen beruht auf der logischen Beziehung zwischen den propositionalen Inhalten der beteiligten Uberzeugungen. Logische Beziehungen sind keine kausalen Beziehungen.

Also: Inferenzielles Wissen beruht nicht auf kausalen Beziehungen. Die beiden Prämissen dieses Arguments sind tadellos. Die Gültigkeit der Inferenzen beruht auf den logischen Beziehungen zwischen Prämissen und Konklusion. Und logische Beziehungen sind keine kausalen Beziehungen, weil sie viel stärker sind als diese. Dennoch ist das Argument nicht gut, weil es nicht gültig ist. Die Wahrheit seiner Prämissen erzwingt nicht die Wahrheit seiner Konklusion. Warum? Nun, die Prämisse (1) sagt nur, dass inferenzielles Wissen auf logischen Beziehungen beruht, aber sie sagt nicht, dass es allein auf logischen Beziehungen beruht. Nur wenn das der Fall wäre, würde die Konklusion unter Hinzuziehung der Prämisse (2) logisch folgen. Es 134

In Goldman 1976.

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ist aber klar, dass inferenzielles Wissen nicht allein auf den logischen Beziehungen beruhen kann. Damit jemand inferenzielles Wissen hat, genügt es nämlich nicht, dass er über ein logisch gültiges Argument für die Konklusion verfügt, sondern er muss von dieser Konklusion überzeugt sein, weil er dieses Argument hat (und nicht etwa aufgrund von Vorurteilen, die zufällig mit dem Ergebnis dieses Arguments übereinstimmen). Die kausale Beziehung zwischen den Uberzeugungen einer Person muss sich also nach deren logischer Beziehung richten, damit es zu inferenziellem Wissen kommt. Das ist aber mit der kausalen Definition des Wissens bestens verträglich. Ein zweiter Einwand besagt, dass die kausale Definition des Wissens Wissen von zukünftigen Ereignissen und Tatsachen unmöglich macht. Die Zukunft kann nämlich keine Ursache der Gegenwart sein. Viele Philosophen sind sogar der Auffassung, dass die kausale Richtung den Zeitpfeil erst konstituiert. Wie tragisch ist dieser Einwand wirklich? Ich denke, er sieht schlimmer aus, als er wirklich ist. Sicher, in den Wissenschaften sind Prognosen zukünftiger experimenteller Resultate von außerordentlicher Bedeutung. Und unser alltägliches instrumentelles Wissen macht geordnetes Handeln in der Welt allererst möglich. Aber es hängt nicht viel davon ab, dass wir in diesen Fällen Wissen im strengen Sinne haben. Es würde genügen, wenn wir gerechtfertigte, wahre Uberzeugungen hätten. Doch die lässt der Einwand unberührt. Einem dritten Einwand zufolge ist die Definition nicht hinreichend. Es kann sein, dass der Wahrmacher einer Uberzeugung deren Ursache ist und dennoch kein Wissen vorliegt. Dem Einwand zufolge ist das genau dann der Fall, wenn (irreführende) Anfechtungsgründe bekannt werden, die das Wissen unterminieren. Doch wir haben bereits im Zusammenhang mit der Diskussion der Unanfechtbarkeitsdefinition gesehen, dass es sehr plausibel ist, Wissen von der Anfechtbarkeit durch Gegengründe auszunehmen. In diesem Fall entfällt der dritte Einwand. Ich werde jetzt noch zwei Einwände darstellen, die meines Erachtens fatal für die kausale Definition sind. Der vierte Ein-

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wand besagt, dass die kausale Definition mathematisches Wissen ausschließt. Warum? Üblicherweise geht man davon aus, dass mathematische Tatsachen wie ,2+2=4' notwendige Tatsachen sind. Notwendige Tatsachen hätten nicht anders sein können als sie aktual* sind. Sie sind - wie man in modaler Redeweise gerne sagt - wahr in jeder Welt. Das bedeutet nicht, dass unsere Uberzeugungen, die sie betreffen, gewiss sind. Wir hätten uns über die mathematischen Tatsachen auch täuschen können. Das passiert beispielsweise, wenn wir uns verrechnen. Wenn nun mathematische Tatsachen notwendig sind, dann können sie keine Ursachen für unsere Überzeugungen über sie sein. Dafür muss man nicht annehmen, dass die mathematischen Tatsachen in einer platonischen Welt reiner Zahlen und Ideen existieren, die in keiner kausalen Interaktion mit unseren konkreten psychologischen Zuständen steht. Notwendige Tatsachen sind als solche bar jeder kausalen Kraft. Das wird deutlich, wenn man sich den kontrafaktischen''1" Charakter kausaler Aussagen vor Augen führt. Wenn ich sage „Das Feuer hat die Zerstörung des Hauses verursacht", dann impliziert das, dass das Haus nicht zerstört worden wäre, wenn es nicht gebrannt hätte. Ich behaupte also implizit etwas über Situationen, in denen die Ursache nicht vorgelegen hätte, nämlich dass in ihnen auch die Wirkung nicht eingetreten wäre. Nun gibt es aber keine möglichen Situationen, in denen notwendige Tatsachen nicht bestanden hätten. Alle kontrafaktischen Aussagen, die im Vordersatz auf notwendige Tatsachen Bezug nehmen, sind deshalb zwar wahr (weil der Vordersatz durch keine mögliche Situation erfüllt wird), aber eben bloß trivialerweise wahr und deshalb nicht aussagekräftig bezüglich kausaler Abhängigkeitsrelationen. Aus diesem Grund können notwendige Tatsachen keine Ursachen sein. Nun könnte man natürlich fragen, was daran so schlimm wäre, wenn es kein mathematisches Wissen gäbe. Meines Erachtens lässt sich dieses Problem aber nicht analog zum Problem des Wissens über die Zukunft behandeln, und zwar deshalb, weil mathematisches Wissen geradezu als Musterbeispiel für Wissen schlechthin gilt. Wenn es in diesem

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Bereich kein Wissen gibt, dann kann es überhaupt kein Wissen geben. Am schwerwiegendsten ist jedoch der fünfte Einwand. Es gibt nämlich Fälle, in denen unsere Intuitionen eindeutig sagen, dass kein Wissen vorliegt, nach der kausalen Definition jedoch Wissen vorliegen müsste. Dann wäre die Definition nicht hinreichend. Ein solcher Fall ist der Fall der Scheunenfassaden. Wenn Henry bei guter Sicht aus dem fahrenden Auto auf eine echte Scheune sieht und aufgrund dieser Sinneserfahrung zu der Uberzeugung kommt, dass er an einer Scheune vorüberfährt, dann ist der Wahrmacher der Uberzeugung (die echte Scheune) ihre auslösende Ursache. Dennoch schreiben wir Henry kein Wissen zu, wenn es in der unmittelbaren Umgebung der Scheune Scheunenfassaden gibt, die der echten Scheune von der Straße aus täuschend ähnlich sehen. Doch diese Tatsachen haben mit der kausalen Geschichte von Henrys Uberzeugung nichts zu tun. Dieser gettierartige Fall widerlegt die kausale Definition des Wissens eindeutig. Schlechte Einwände gegen die kausale Definition Einwand 1: Die kausale Definition kann nicht alle Wissensarten erfassen. Sie scheitert insbesondere an inferenziellem Wissen. Einwand 2: Die kausale Definition kann Wissen über die Zukunft nicht erklären. Einwand 3: Die kausale Definition ist nicht hinreichend, da Wissen durch bekannte Anfechtungsgründe aufhebbar ist. Gute Einwände Einwand 4: Die kausale Definition kann mathematisches Wissen nicht erklären. Einwand 5\ Die kausale Definition ist nicht hinreichend, um zu erklären, warum im Fall der Scheunenfassaden intuitiv kein Wissen vorliegt.

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3.3.2.2 Zuverlässigkeitstheorien

Hinter der kausalen Theorie steht die Einsicht, dass der Faktor, der zur Wahrheit der Uberzeugung hinzukommen muss, damit Wissen entsteht, (der wissensgenerierenden Zusatzfaktoru5) in einer Beziehung zwischen der Welt und unseren Uberzeugungen über sie bestehen muss, die einen modalen Charakter hat. Diese Einsicht lässt sich auch dann bewahren, wenn man den Fehler der kausalen Theorie vermeidet. Dafür muss man die Richtung dieser Beziehung einfach nur umkehren. Während die kausale Theorie verlangt, dass der Wahrmacher in der Welt die wahre Uberzeugung über sie (kausal) erzwingt, sollte man besser verlangen, dass die Uberzeugung oder ihre Entstehungsgeschichte derart ist, dass sie das Vorliegen der sie wahr machenden Tatsache erzwingt. Die Wahrheit der Uberzeugung muss also nicht nur faktisch bestehen, sondern garantiert sein, damit Wissen vorliegt.136 Es darf nicht der Fall sein, dass die wahre Uberzeugung auch hätte falsch sein können. Theorien, die Wissen auf diese Art und Weise definieren, nennt man „Zuverlässigkeitstheorien" (im Englischen „reliabilism"). Diese Bezeichnung ist ein Sammelbegriff, der auf sehr viele Definitionsvorschläge zutrifft, die sich — wie wir noch sehen werden — in wichtigen Details unterscheiden. Allgemeiner bezeichnet man solche Instrumente, Indikatoren oder Methoden als „zuverlässig", die häufig zu wahren (oder korrekten) Ergebnissen führen. Die Wahrheitshäufigkeit lässt sich als Grad der Wahrscheinlichkeit der Wahrheit ausdrücken. Es handelt sich genauer um den Grad der Wahrscheinlichkeit der Wahrheit (einer Überzeugung) relativ dazu, dass sie sich auf ein bestimmtes Instrument, einen bestimmten 135

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Das ist meine behelfsmäßige Übersetzung des von Plantinga f 993a geprägten englischen Terminus „warrant". Diese Wahrheitsgarantie ist allerdings nicht absolut zu verstehen, sondern kann - wie im Folgenden noch näher erläutert wird - verschiedene Grade annehmen.

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Indikator oder eine bestimmte Methode stützt. Die Wahrscheinlichkeit W einer Uberzeugung ρ relativ zur Methode m ist zum Beispiel 0.5, wenn 50 % aller Uberzeugungen, die sich auf diese Methode stützen, wahr sind. In diesem Fall schreibt man: W(p/m) = 0.5 Die relative Wahrheitswahrscheinlichkeit einer Uberzeugung kann variieren, je nachdem, auf welche Methode eine Person diese Uberzeugung stützt. Intuitiv gesprochen ist die Wahrscheinlichkeit der Wahrheit meiner Überzeugung, dass es draußen gerade regnet, höher, wenn ich mich dabei auf meine Wahrnehmung stütze, als wenn ich dazu durch das Werfen einer Münze oder bloßes Raten komme. Im absoluten Sinne spricht man von einer zuverlässig gebildeten Uberzeugung, wenn die relative Wahrscheinlichkeit ihrer Wahrheit deutlich größer als 0.5 ist. Für Wissen reicht das natürlich nicht aus. Hier muss die relative Wahrheitswahrscheinlichkeit gleich 1 sein. Die Methode, auf die sich die wahre Uberzeugung stützt, muss also perfekt zuverlässig sein, sie darf keine Irrtümer zulassen. Nur dann haben wir eine Uberzeugung, deren Wahrheit garantiert ist. Dass die Wahrheitsgarantie die bisher diskutierten GettierFälle ausschließen kann, lässt sich leicht einsehen. In den ursprünglichen beiden Gettier-Fällen gelangt Smith durch eine Inferenz zu einer Überzeugung, die sehr leicht hätte falsch sein können. Um das zu erkennen, muss man sich nur leicht mögliche Situationen ansehen, in denen Smith auf dieselbe Weise zu seiner Überzeugung gekommen wäre, er aber (im Fall 1) keine zehn Münzen in der Hosentasche gehabt hätte oder (im Fall 2) Krause sich gerade noch in Hamburg aufgehalten hätte. Auch im Fall der Scheunenfassaden wäre ein Irrtum Henrys relativ leicht möglich gewesen. Wenn er nämlich auf eine der vielen Scheunenfassaden in der Umgebung geschaut hätte, wäre er gleichwohl zu der (dann falschen) Überzeugung gekommen, dass er gerade an einer Scheune vorüberfährt. Die Forderung

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der Wahrheitsgarantie oder perfekten Zuverlässigkeit würde solche Fälle definitiv ausschließen. Wahrheitsgarantie Eine ganz wesentliche Frage, in der die verschiedenen Vertreter der Zuverlässigkeitstheorie weit auseinander liegen, ist die Frage nach der erforderlichen Stärke der Wahrheitsgarantie. Ein Beispiel kann die Unterschiede verdeutlichen. Peter sieht das Gesicht von Marianne, die er aus Seminaren an der Universität gut kennt, in geringer Entfernung deutlich vor sich und kommt daraufhin zu der Uberzeugung, dass dort drüben Marianne steht. Es handelt sich tatsächlich um Marianne. Deshalb ist seine Uberzeugung wahr. Aber garantiert seine Gesichtswahrnehmung die Wahrheit seiner Überzeugung? Hier sind verschiedene Antworten denkbar. Erstens: Seine Wahrnehmung garantiert die Wahrheit seiner Uberzeugung nicht, weil es mögliche Situationen gibt, in denen er aufgrund dieser Wahrnehmung zu einer falschen Uberzeugung kommen würde. Eine solche mögliche (wenn auch ziemlich abwegige) Situation wäre ein Gehirn-im-Tank Szenario. Deshalb garantiert die Wahrnehmung in einem Sinne die Wahrheit der Uberzeugung nicht. Dies ist genau der Sinn von Wahrheitsgarantie, den das Gewissheitsmodell zugrunde legt. Wir wollen also sagen: Wahrheitsgarantie als Gewissheit

Eine Uberzeugung ist genau dann gewiss, wenn es überhaupt keine mögliche Situation gibt, in der sie auf dieselbe Weise gebildet wird wie in der aktualen Welt, aber falsch ist. Zweite Antwort: Peters Wahrnehmung garantiert die Wahrheit seiner Uberzeugung, wenn sie in der nächsten möglichen Situation, in der Marianne nicht dort drüben stünde (die Proposi-

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tion, die Peter aktual glaubt, also falsch wäre), diese Wahrnehmung auch nicht auftreten würde. Diese Bedingung kann man nur dann verstehen, wenn man sich mögliche Situationen (und mögliche Weiten"' als maximale Situationen) als nach einer Ähnlichkeitsrelation eindeutig geordnet denkt. Die relativ zur aktualen Situation nächste mögliche Situation (mit einer bestimmten Eigenschaft) wäre demnach die mögliche Situation, die (unter den möglichen Situationen, die die bestimmte Eigenschaft haben) der aktualen Situation am ähnlichsten ist. Die nächste Welt, in der sich eine bestimmte Tatsache ereignet, die sich in der aktualen Welt nicht ereignet, ist die Welt, in der diese Differenz durch die geringste Abweichung von den Tatsachen der aktualen Welt erklären lässt. Die Ähnlichkeit zwischen möglichen Situationen hängt allerdings nicht nur von der Anzahl der in ihnen übereinstimmenden Tatsachen ab. Die Tatsachen haben auch eine unterschiedlich gewichtete Bedeutung. So ist etwa eine mögliche Welt, in der auch nur eines unserer Naturgesetze nicht gilt, per se unserer aktualen Welt sehr viel unähnlicher als eine mögliche Welt, in der alle aktualen Naturgesetze gelten, aber sehr viele Einzeltatsachen abweichen. Die Ubereinstimmung der Naturgesetze ist für die Ähnlichkeit zwischen Welten wichtiger als die Ubereinstimmung von Einzeltatsachen. Dass das so sein muss, lässt sich am Beispiel kontrafaktischer Konditionalsätze unschwer erkennen. Solche Sätze sind wahr, wenn in der nächsten Welt, in der ihr Vordersatz wahr wäre auch der Hintersatz wahr wäre. Nun ist der kontrafaktische Konditionalsatz „Wenn Nixon den roten Knopf im Weißen Haus gedrückt hätte, dann hätte kurz danach eine globale nukleare Katastrophe stattgefunden" offenbar wahr. Also wäre die von der aktualen Welt aus nächste Welt, in der Nixon den roten Knopf gedrückt hätte, offenbar eine Welt, die von ihrem Erscheinungsbild her der aktualen Welt sehr unähnlich wäre (aufgrund der nuklearen Zerstörung). Doch das abweichende Erscheinungsbild der Welt ist eine kausale Konsequenz des Knopfdrucks, die in allen relativ ähnlichen Welten aufgrund ihrer übereinstimmenden Naturgesetze unvermeid-

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lieh ist. Wenn wir von Peters aktualer Situation ausgehen, dann wäre vermutlich die nächste Situation, in der Marianne nicht dort drüben stünde, eine Situation, in der niemand dort drüben stünde. Wenn wir Mariannes Abwesenheit erklären wollen und dabei auf die geringstmögliche Weise vom aktualen Weltverlauf abweichen wollen (ohne dabei die Naturgesetze zu verletzen), dann können wir annehmen, dass sich Marianne in der Vorgeschichte dieser Situation entschieden hat, Peter nicht zu treffen. Jede Welt, in der ein Zwilling oder ein Doppelgänger von Marianne existieren würde, der anstelle von Marianne Peter träfe, würde der aktualen Welt viel unähnlicher sein. Diese Tatsachen müssten nämlich zusätzlich eingeführt werden und hätten zudem eine eigene Vorgeschichte und spezifische Konsequenzen, die alle von der aktualen Welt abweichen. Wenn also Peter in der nächsten möglichen Situation, in der Marianne abwesend wäre, niemanden vor sich hätte, dann würde es für Peter sicher auch nicht so aussehen, als ob Marianne vor ihm stünde, sondern er hätte einen gänzlich anderen Sinneseindruck. Wenn eine Wahrheitsgarantie in diesem Sinne vorliegt, können wir von einer sensitiven Uberzeugung sprechen Wahrheitsgarantie als Sensitivität (gegenüber der Falschheit) Eine Uberzeugung ist sensitiv genau dann, wenn sie auf Entstehungsbedingungen beruht, die in der nächsten Welt, in der der Inhalt der Uberzeugung falsch wäre, nicht aufgetreten wären. Dritte Antwort·. Peters Wahrnehmung garantiert die Wahrheit seiner Überzeugung nicht im erforderlichen Sinne, weil nicht in allen relevanten möglichen Situationen, in denen seine Überzeugung auf dieselbe Weise hervorgebracht wird wie in der aktualen Welt, diese Überzeugung auch wahr ist. Sie hätte unter relevanten kontrafaktischen Umständen also auch falsch sein können. Nehmen wir einmal an, Marianne hätte eine ein-

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eiige Zwillingsschwester namens Martina. Wenn das der Fall ist, dann ist die Annahme intuitiv sehr plausibel, dass Peter nur dann weiß, dass er Marianne sieht, wenn seine Gründe ausreichen, um Marianne von Martina zu unterscheiden. Doch seine Wahrnehmung leistet das nicht, denn für ihn sehen Marianne und Martina völlig gleich aus. Es gibt also eine relevante kontrafaktische Situation, in der Peter einen Sinneseindruck gleicher Qualität hat und folglich dieselbe Uberzeugung bildet wie in der aktualen Welt, diese Uberzeugung aber falsch ist, weil dort drüben nicht Marianne, sondern Martina steht. Damit ergibt sich eine dritte Konzeption der Wahrheitsgarantie. Wahrheitsgarantie als Sicherheit Eine Uberzeugung ist sicher genau dann, wenn es keine relevanten kontrafaktischen Situationen (relevanten Alternativen) gibt, in denen die Uberzeugung auf dieselbe Weise hervorgebracht wird und falsch ist. Sehen wir uns zunächst das Verhältnis dieser drei Konzeptionen von Wahrheitsgarantie etwas genauer an. Gewissheit beinhaltet nicht nur den stärksten modalen Anspruch, sie weist auch die Besonderheit auf, dass man die wirkliche (aktuale) Welt nicht kennen muss, um zu erkennen, dass sie vorliegt. Wenn es für mich undenkbar ist, dass meine Gründe mich täuschen, dann ist diese Einsicht für mich nicht nur ein Grund für meine Uberzeugung erster Ordnung, sondern zugleich auch ein Grund für die Annahme zweiter Ordnung, dass meine Gründe die Wahrheit im stärksten Sinne garantieren. Um zu erkennen, dass eine sensitive oder eine sichere Uberzeugung vorliegt, muss ich dagegen zunächst etwas über die wirkliche Welt und ihre Beschaffenheit herausfinden. Deshalb fallen hier das Wissen erster Ordnung und das Wissen, dass man Wissen erster Ordnung hat, auseinander. Man kann Gewissheit als Spezialfall von Sicherheit verstehen, denn eine sichere Uberzeugung ist gewiss, wenn alle möglichen Situationen relevant sind. Ob Sen-

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siti vi tat oder Sicherheit die stärkere Bedingung ist, hängt deshalb davon ab, welche möglichen Situationen relevant sind. In vielen alltäglichen Fällen impliziert Sicherheit Sensitivität. Irrtum in relevanten möglichen Situationen lässt sich nur dann vermeiden, wenn man zwischen Fällen, in denen die Uberzeugung falsch ist, und solchen, in denen die Uberzeugung wahr ist, unterscheiden kann. Häufig ist die Sicherheit sogar stärker als die Sensitivität (etwa in dem oben angeführten Zwillingsbeispiel). Anders ist es jedoch mit Überzeugungen, die nur in sehr bizarren (von der aktualen Situation weit entfernten) möglichen Situationen wahr wären. Stellen Sie sich vor, Sie würden aufgrund Ihrer Wahrnehmung der Außenwelt die Uberzeugung bilden, dass Sie kein Gehirn in einer Nährlösung sind. Nehmen Sie weiter an, diese Überzeugung wäre wahr. Sie sind kein Gehirn in einer Nährlösung. Die so gebildete Überzeugung ist selbstverständlich nicht gewiss. Es gibt mögliche Situationen (etwa wenn Sie ein Gehirn in einer Nährlösung wären), in denen Ihre Überzeugung nicht wahr wäre. Ihre Überzeugung wäre jedoch auch nicht sensitiv. In der nächsten möglichen Welt, in der sie falsch wäre (Sie also ein Gehirn in einer Nährlösung sind), würden Sie nämlich den Unterschied nicht bemerken und weiterhin diese (falsche) Überzeugung unterhalten. Die Überzeugung könnte jedoch sicher sein, denn es ist keineswegs ausgemacht, dass Gehirn-im-Tank-Situationen relevante kontrafaktische Umstände sind. Für die Sicherheit könnte es genügen, dass Ihre Überzeugung in allen der aktualen Situation mehr oder weniger ähnlichen Situationen wahr ist. Die bizarre Gehirn-im-Tank-Situation ist der aktualen Situation einfach zu unähnlich, um als relevant gelten zu können. Die entscheidende Frage lautet nun: Wie stark muss die Wahrheitsgarantie für Wissen sein? Gewissheit wird es, wenn überhaupt, nur in einem sehr beschränkten Bereich geben können. Würde Wissen also Gewissheit erfordern, wäre ein ziemlich weitreichender Skeptizismus die unmittelbare Konsequenz. Um die Gettierfälle auszuschließen, ist Gewissheit jedoch sicher auch nicht nötig. Es genügt, wenn Irrtümer in der

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Umwelt, so wie sie aktual ist, nicht auftreten können. Entscheidend ist also, ob Irrtümer in nahen möglichen Welten auftreten können. Vielleicht genügt es also, dass unsere Uberzeugungen sicher sind, damit Wissen vorliegt. Unsere Überzeugungen sind sicher, wenn unter relevanten kontrafaktischen Umständen keine Irrtümer auftreten. Im Scheunenfassadenfall ist Henrys Uberzeugung nicht sicher, denn er hätte sehr leicht aufgrund derselben Wahrnehmung eine falsche Uberzeugung bilden können, wenn er an einer der vielen Fassaden der Umgebung vorübergefahren wäre. Die Wissensbedingung der Sicherheit kann also erklären, warum wir Henry kein Wissen zuschreiben. Problematisch an dieser Konzeption ist jedoch, dass nicht eindeutig feststeht, welche kontrafaktischen Umstände relevant sind.137 Nehmen wir einmal an, in Henrys Fall gäbe es zwar keine Fassaden in dem Landkreis, durch den er fährt, aber in dem benachbarten Landkreis, durch den er leicht hätte fahren können, gäbe es welche. Wäre das dann noch relevant? Oder nehmen wir an, es gäbe Scheunenfassaden in einem sehr weit entfernten Land, aber Henry hätte sich leicht dafür entscheiden können, eine Autoreise durch dieses Land zu unternehmen. Wir können auch annehmen, es gäbe in dem Zeitraum, in dem Henry durch das Land fährt, gar keine Scheunenfassaden, die er mit echten Scheunen verwechseln könnte, aber kurz davor hätte es welche gegeben. Gibt es überhaupt objektive Tatsachen, die festlegen, wie weit entfernt eine Irrtumsmöglichkeit sein kann, um noch als relevant zu gelten? Manches spricht dafür, dass es objektiv unbestimmt bleibt, welche kontrafaktischen Situationen wirklich relevant sind. Ob Irrtumsmöglichkeiten relevant sind oder nicht, hinge dann letzten Endes von den Relevanzgesichtspunkten des Betrachters ab. Die Standards für die korrekte Zuschreibung von Wissen variieren dann mit den Standards desjenigen, der das Wissen zuschreibt. Wenn wir Philosophie treiben, werden wir auch sehr weit entfernte (möglicherweise skeptische) Irrtumsmög137

Vgl. dazu Brandom 1998, Baumann 2001.

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lichkeiten für relevant halten und damit die Maßstäbe für das Wissen in die Höhe treiben. Wenn wir uns dagegen im Kontext des Alltags bewegen, denken wir nur an naheliegende Irrtumsmöglichkeiten. Dann liegt die Messlatte für Wissen relativ niedrig. Der Vorschlag, Wissen als sichere, wahre Uberzeugung zu definieren, hat also eine gewisse Affinität zum semantischen Kontextualismus, der besagt, dass der Wissensbegriff versteckt indexikalisch* ist und die Bedingungen korrekter Wissenszuschreibung mit den Relevanzkriterien desjenigen, der Wissen zuschreibt, variieren. Die Plausibilität des semantischen Kontextualismus werde ich weiter unten untersuchen. Lässt sich Wissen vielleicht als sensitive, wahre Uberzeugung definieren? Dann müsste sich die Uberzeugung auf einen Indikator stützen, der nicht auftreten würde, wenn das, was die Uberzeugung besagt, nicht der Fall wäre. Um zu wissen, dass p, muss man also in der nächsten Welt, in der ρ nicht der Fall ist, abweichend reagieren. Wissen setzt sozusagen eine minimale Fähigkeit zur Diskrimination zwischen dem Bestehen und Nichtbestehen einer Tatsache voraus.,Minimal' nenne ich diese Fähigkeit, weil Sensitivität diese Diskriminationsfähigkeit nicht uneingeschränkt für alle möglichen Welten verlangt, sondern nur für die nächste Welt, in der die Uberzeugung falsch wäre. Minimale Diskriminationsfähigkeit Ein System hat eine minimale Fähigkeit, zwischen dem Bestehen einer Tatsache ρ und ihrem Nichtbestehen zu diskriminieren, wenn es in der nächsten nicht-p Welt abweichend reagiert. Maximale Diskriminationsfähigkeit Ein System hat eine maximale Fähigkeit, zwischen dem Bestehen einer Tatsache ρ und ihrem Nichtbestehen zu diskriminieren, wenn es in allen nicht-p Welten abweichend reagiert.

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Es ist nun intuitiv außerordentlich plausibel, Wissen mit Hilfe der Fähigkeit zur Unterscheidung zwischen wahr machenden und falsch machenden Situationen zu definieren. Ein Indiz dafür ist zumindest der englische Sprachgebrauch, der eine diskriminative Bedeutung von „wissen" kennt.138 So heißt es beispielsweise „He doesn t know right from left." Die Sensitivi tätsbedingung kann auch erklären, warum wir Henry im Fall der Scheunenfassaden kein Wissen zuschreiben. Er kann Scheunen von Scheunenfassaden aufgrund seiner Wahrnehmung nicht unterscheiden. In der nächsten Welt, in der er sich vor einer Scheunenfassade befunden hätte, hätte er dennoch den gleichen Sinneseindruck gehabt. Deshalb weiß er in der aktualen Welt nicht, dass er gerade an einer Scheune vorbeifährt. Die Sensitivitätsbedingung hat einen deutlichen Vorteil gegenüber der Sicherheitsbedingung. Es steht nämlich objektiv eindeutig fest, in welcher möglichen Situation kein Irrtum auftreten darf. Um zu wissen, dass p, muss das Erkenntnissubjekt in einer einzigen, ganz bestimmten möglichen Welt, die mit ρ unverträglich ist, entdecken, dass es sich um eine Welt handelt, in der die Tatsache, dass p, nicht besteht: in der nächsten möglichen Nicht-p-Welt. Und diese Bedingung ist ganz unabhängig von den Relevanzkriterien der Wissenszuschreiber. Die Sensitivitätsbedingung hat also keinerlei Affinität zum semantischen Kontextualismus. Wenn man Wissen als sensitive, wahre Uberzeugung definiert, ergibt sich jedoch ein Problem. Diese Definition ist nämlich unverträglich mit einem Wissensprinzip, das auf den ersten Blick außerordentlich plausibel ist. Es ist unverträglich mit dem Prinzip der Geschlossenheit von Wissen unter gewusster logischer Implikation. Dieses Prinzip besagt in etwa das Folgende: Wenn jemand Wissen von Prämissen hat und erkennt, dass in diesen Prämissen eine Konklusion logisch enthalten ist, und wenn er die Konklusion glaubt (weil er das erkennt), dann hat er auch ein Wissen von der Konklusion. Angenommen W 138

Vgl. Goldman 1976, S. 143.

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Posttraditionelle Wissensdefinitionen

ist der Wissensoperator mit einem Index s für das Subjekt des Wissens und einem Index t für den Zeitpunkt des Wissens, G sei der Glaubensoperator mit entsprechenden Indices und ρ und q stehen für beliebige Propositionen, dann lautet das Geschlossenheitsprinzip des Wissens etwas formaler: Prinzip der Geschlossenheit des Wissens

W(s>t)p & W(S;t)(p => q) & G ( v ) q

W(s>t)q

Dieses Prinzip ist außerordentlich plausibel, weil es die Idee verkörpert, dass man durch korrekt vollzogene logische Schlüsse Wissen ausdehnen kann. Wir gehen alle davon aus, dass wir durch korrekte logische Schlüsse nicht nur aus wahren Prämissen wahre Konklusionen ableiten können, sondern dass wir aus Wissen auch weiteres Wissen ableiten können. Doch warum ist die Definition von Wissen als sensitiver, wahrer Uberzeugung mit dem Geschlossenheitsprinzip des Wissens unverträglich? Ich möchte das anhand eines Beispiels zeigen. Nehmen wir an, Jonas hat einen Sinneseindruck von einem Tisch vor sich, er glaubt deshalb, dass sich ein Tisch vor ihm befindet, und er hat Recht damit. Wenn die weiteren Umstände der Wahrnehmungssituation relativ normal sind, dann hätte Jonas keinen Sinneseindruck von einem Tisch, wenn dort kein Tisch wäre. In der nächsten Welt, in der jemand den Tisch entfernt hätte, würde Jonas vermutlich einfach an derselben Stelle keinen Gegenstand sehen. Nach der Sensitivitätsdefinition weiß Jonas also, dass sich vor ihm ein Tisch befindet, denn seine Uberzeugung ist wahr und sie beruht auf Entstehungsbedingungen (dem Sinneseindruck), die in der nächsten möglichen Situation, in der das, was er glaubt, falsch wäre, nicht aufgetreten wären. Nun scheint folgendes zu gelten: Aus (1) Es gibt einen Tisch, der sich vor Jonas befindet, folgt logisch

138

Wissen

(2) Es ist nicht der Fall, dass sich vor Jonas kein Tisch befindet und ein böser Dämon in Jonas den Sinneseindruck eines Tisches hervorruft. 139 Nehmen wir nun an, Jonas ist logisch nicht auf den Kopf gefallen und erkennt diese Folgerungsbeziehung und er glaubt aufgrund dessen an die Wahrheit von (2). Da (1) wahr ist, muss auch (2) wahr sein. Jonas hat also die wahre Uberzeugung, dass (2). Aber dennoch weiß er (2) nicht, wenn man die Sensitivitätsdefinition des Wissens zugrunde legt. In der nächsten Welt, in der (2) falsch ist, Jonas also einen trügerischen Sinneseindruck von einem Tisch hätte, wären die Entstehungsbedingungen von (2) unverändert. Jonas käme aufgrund einer korrekten Inferenz aus einem auf den Sinneseindruck eines Tisches gestützten Urteil, nämlich (1), zu dem Urteil, dass (2). Also weiß Jonas (2) nicht. Das Beispiel zeigt also, dass die Definition von Wissen als sensitive, wahre Uberzeugung das sehr plausible Prinzip der Geschlossenheit des Wissens verletzt. Dasselbe gilt nicht für die beiden anderen Konzeptionen wahrheitsgarantierender Faktoren. Gewissheit liegt nur dann vor, wenn das Erkenntnissubjekt die Wahrheit der geglaubten Proposition von allen mit ihr unverträglichen möglichen Irrtumssituationen unterscheiden kann. Gewissheit erfordert also eine maximale Diskriminationsfähigkeit. Wenn Wissen diese Fähigkeit impliziert, dann folgt die Geschlossenheit des Wissens automatisch. p-Welten von allen Nicht-p-Welten unterscheiden zu können, bedeutet nichts anderes als alle logischen Implikationen von ρ von deren unverträglichen Alternativen unterscheiden zu können. Gewissheit impliziert also Geschlossenheit. Allerdings nur um den Preis des Skeptizismus, denn ich bin eben in Bezug auf (fast) keine Proposition in der Lage, Situationen, in denen sie wahr ist, uneingeschränkt von 139

Formal: ρ => —1(—ipAq). Die logische Folgerung muss bestehen, weil es keine Bewertung von ρ als wahr gibt, unter der die Konjunktion —ipAq wahr sein kann, denn eine Konjunktion ist falsch, wenn ein Glied falsch ist.

139

Posttraditionelle Wissensdefinitionen

Situationen zu unterscheiden, in denen sie falsch ist. Es gibt immer irgendwelche Irrtumsmöglichkeiten, die ich nicht entdecken kann. Besser ergeht es der Definition von Wissen als sichere, wahre Uberzeugung. Wenn Sicherheit Wahrheitsgarantie in allen relevanten kontrafaktischen Situationen erfordert, dann ist das mit der Geschlossenheit des Wissens verträglich, da der Bereich der relevanten Situationen anders als im Fall der Sensitivität über die logischen Implikationen stabil bleiben kann. Solange diese Stabilität besteht, muss Geschlossenheit gelten, da in jeder Welt, in der eine Proposition wahr ist, auch alle ihre logischen Implikationen wahr sein müssen. Wenn der Bereich der relevanten kontrafaktischen Situationen nicht zu weit gezogen ist, dann ist Wissen im Unterschied zur Gewissheitskonzeption auch möglich. Sicherheit wirft allerdings das Problem der objektiven Unbestimmtheit der relevanten kontrafaktischen Situationen auf. Es scheint aus dieser Perspektive keine objektiven Korrektheitsbedingungen der Wissenszuschreibung zu geben. Im Abschnitt über den kontextualistischen Wissensbegriff werde ich genauer untersuchen, ob und um welchen Preis dieses Problem zu lösen ist. Wahrheitsgarantierende Faktoren Geschlossenheit

Objektive Korrektheitsbedingungen der Wissenszuschreibung

Existenz des Wissens

Gewissheit

+

+

Sicherheit

+

ρ

+

Sensitivität

-

+

+

-

140

Wissen

Die konkreten Vorschläge für eine Wissensdefinition

Nozick: Wissen durch „ truth-trackingK Robert Nozick hat Anfang der achtziger Jahre eine genauso elegante wie bestechende Definition des Wissens vorgeschlagen, die im Kern auf der Idee der Sensitivität beruht. 140 Allerdings spielen für Nozick die jeweiligen Ursachen und Gründe der wahren Uberzeugung keine Rolle. Gefordert wird, dass die Uberzeugung selbst (egal auf welchem Wege) sensitiv ist gegenüber dem Nichtbestehen der Tatsache, von der sie handelt. Zusätzlich fordert Nozicks Theorie, dass das Wissenssubjekt in den nahen möglichen Welten, in denen die Tatsache genauso wie in der aktualen Welt besteht, diese Tatsache auch glaubt. Wissen liegt also genau dann vor, wenn das Subjekt eine wahre Uberzeugung hat, die mit der Tatsache, von der sie handelt, kontrafaktisch korreliert: Würde die Tatsache nicht bestehen, dann würde auch das Subjekt nicht glauben, dass sie besteht; falls die Tatsache jedoch auch in nahen möglichen Welten besteht, ist das Subjekt in diesen Welten davon auch überzeugt. Wissen heißt damit, der Wahrheit auf der Spur zu sein. So könnte man Nozicks „truth-tracking" übersetzen. Wir erhalten somit die folgende Definition: Wissen als truth-tracking Ein Subjekt S weiß die Proposition, dass p, genau dann, wenn: (i) S überzeugt ist, dass p, (ii) die Proposition, dass p, wahr ist, (iii) wenn ρ nicht wahr wäre, S nicht glauben würde, dass p, (iv) falls ρ wahr wäre, S ρ auch glauben würde.

140

Nozick 1981, S. 167-290.

Posttraditionelle Wissensdefinitionen

141

Die Bedingung (iii) drückt die Sensitivität der Überzeugung aus. Diese Bedingung erklärt, warum Henry im Fall der Scheunenfassaden kein Wissen hat. Hätte er eine Scheunenfassade von der Straße aus gesehen, hätte er dennoch (fälschlich) geglaubt, dass es sich um eine echte Scheune handelt. Die Bedingung (iv) lässt sich als Stabilitätsbedingung bezeichnen.141 Damit Wissen vorliegt, muss man nach Nozick kontrafaktisch stabil an die Wahrheit glauben. Diese Zusatzbedingung soll Fälle wie den folgenden ausschließen: Ein Gehirn im Tank bekommt von einem zynischen Neurowissenschaftler durch elektrische Stimulation die wahre Uberzeugung induziert, dass es ein Gehirn im Tank ist. Diese Uberzeugung erfüllt die Bedingung (iii) der Sensitivität, da das Gehirn nicht glauben würde, dass es ein solches Gehirn im Tank ist, wenn es ein normales Leben in seinem menschlichen Körper außerhalb des Tanks führen würde. Dennoch hat man die Intuition, dass dieses Gehirn kein Wissen hat. Nozick gibt dafür folgende Erklärung: Es hätte auch sehr leicht sein können, dass das Gehirn seine wahre Situation nicht erkannt hätte, etwa wenn der zynische Neurowissenschaftler mehr Spaß daran gefunden hätte, das Gehirn in einer kognitiven Scheinwelt gefangen zu halten. Das soll durch die Stabilitätsbedingung (iv) ausgeschlossen werden. Beide Bedingungen, sowohl (iii) als auch (iv) sind jedoch zu stark und nicht notwendig für Wissen. Mit Bezug auf (iii) hat 141

Es ist hier wichtig, dass Nozick kontrafaktische Konditinalsätze anders versteht als üblich. Der Satz „Falls ρ wahr wäre, würde S auch ρ glauben" ist nach Nozick nicht bereits dann wahr, wenn in der nächsten Welt (einschließlich der aktualen Welt), in der ρ wahr ist, S ρ glaubt. Denn dann wäre die Wissensbedingung (iv) gegenüber (i) und (ii) überflüssig. Nach Nozick sagen solche kontrafaktischen Konditionalsätze auch dann etwas über nicht-aktuale mögliche Welten aus, wenn der Vordersatz in der aktualen Welt wahr ist. Sie sagen in jedem Fall etwas über andere mögliche Welten aus. Vgl. dazu Nozick 1987, S. 170: „Dem (...) Vorschlag hat [iv] Gültigkeit, falls S nicht nur tatsächlich wahrerweise ρ glaubt, sondern ρ auch in den ,benachbarten' Welten, in denen ρ wahr ist, glaubt."

142

Wissen

Nozick das selbst eingeräumt.142 Stellen Sie sich vor, eine Großmutter glaubt, dass es ihrem Enkel gut geht, weil sie es ihm direkt ansieht. Wäre er schwer krank oder tot, dann hätte ihr Umfeld ihr vorgetäuscht, dass es ihm gut ginge, um sie zu schonen. In diesem Fall würde man sagen, dass die Großmutter weiß, dass es ihrem Enkel gut geht, wenn sie es ihm ansieht, auch wenn sie sich in der nächsten Welt, in der es ihrem Enkel schlecht geht, darüber getäuscht hätte. Der Fall zeigt, dass die Sensitivität der Uberzeugung selbst nicht notwendig für Wissen sein kann. Es kommt vielmehr darauf an, dass die Methode (oder der Grund), auf die sich die Uberzeugung stützt, sensitiv ist. Und das ist im Großmutter-Fall erfüllt. Wäre der Enkel in einem schlechten Gesundheitszustand (oder tot) gewesen, dann hätte er nicht gesund für die Großmutter ausgesehen. Wenn sie sich getäuscht hätte, dann wären ihre Gründe andere gewesen - in unserem Fall hätte es das falsche Zeugnis anderer gegeben. Auch die Stabilitätsbedingung (iv) ist zu stark. Nehmen wir einmal an, ein Wanderer ist vom Weg abgekommen und hat sich im Gebirge vollkommen verirrt. Er weiß nicht mehr, wie er zu seinem Ausgangsort zurückfinden soll. Wie der Zufall so will, findet er mitten in der Wildnis einen verlassenen Rucksack mit einer Karte und einem funktionierenden GPS-System. Nachdem er seine Koordinaten auf der Karte eingetragen hat, weiß er wieder, wo er sich befindet und kann den Weg zurück finden. Der Wanderer weiß, wo er ist, obwohl es sehr leicht hätte sein können, dass er seine wirkliche Position nicht gekannt hätte (wenn er den Rucksack nicht gefunden hätte). Dass es sehr leicht der Fall hätte sein können, dass jemand die Wahrheit nicht erfasst (und geglaubt) hätte, kann also tatsächliches Wissen nicht verhindern. Deshalb erfordert Wissen auch keine Stabilität.

142

Nozick 1981, S. 179.

143

Posttraditionelle Wissensdefinitionen

Einwände gegen Wissen als truth-tracking (1) Sensitivität der Uberzeugung (ohne Berücksichtigung der Methode ihrer Bildung) ist nicht notwendig für Wissen. (2) Stabilität der wahren Uberzeugung ist nicht notwendig für Wissen.

Dretske:

Wissen durch zwingende

Gründe

Fred Dretske hat bereits Anfang der siebziger Jahre eine Wissensdefinition präsentiert, die sich als die richtige Konsequenz aus den Fehlern der truth-tracking Konzeption des Wissens verstehen lässt.143 Nach Dretske ist für Wissen nicht die Sensitivität der wahren Uberzeugung selbst erforderlich, sondern die wahre Uberzeugung muss auf sensitiven Gründen für den Inhalt der Überzeugung beruhen. Solche sensitiven Gründe nennt Dretske „zwingende Gründe". Die wahre Uberzeugung muss also auf die richtige Art und Weise verursacht sein. Und das ist auch schon hinreichend für Wissen. Von einer zusätzlichen Stabilitätsbedingung sieht Dretske ganz ab. Er schlägt also die folgende Wissensdefinition vor: Wissen durch zwingende Gründe Ein Subjekt S weiß die Proposition, dass p, genau dann, wenn: (i) S überzeugt ist, dass p, (ii) die Proposition, dass p, wahr ist, (iii) Ss Uberzeugung, dass p, durch einen Grund g auf die richtige Weise verursacht wird, (iv) dieser Grund g ein zwingender Grund für ρ ist.

143

Dretske 1987.

144

Wissen

Da zwingende Gründe durch die Eigenschaft der Sensitivität charakterisiert sind, ist ein zwingender Grund für ρ ein Grund, der in der nächsten Welt, in der ρ nicht der Fall wäre, nicht auftreten würde. Doch was versteht Dretske unter einem Grund? Die Beispiele machen ganz deutlich, dass damit nicht nur introspektiv'1" zugängliche Zustände der kognitiven Perspektive des epistemischen Subjekts gemeint sind (wie Wahrnehmungen, Uberzeugungen oder Argumente), sondern auch objektive Tatsachen (wie Anzeigen von Thermometern, Instrumenten oder Behauptungen von anderen Menschen) darunter fallen können. Es handelt sich also nicht notwendigerweise um interne Gründe. Später verdeutlicht Dretske diesen neutralen Status der Gründe durch den Begriff der Information, die nicht nur von kognitiven Zuständen getragen wird.144 Außerdem ist es wichtig, dass die wahre Uberzeugung auf die richtige Weise durch den zwingenden Grund verursacht wird. Stellen Sie sich den folgenden Fall vor: Harald greift aus einem Behälter mit verschiedenen Fieberthermometern eines heraus, dessen Anzeige sensitiv gegenüber der Körpertemperatur ist, er misst mit diesem Thermometer die Temperatur seines Kindes und glaubt aufgrund der angezeigten Temperatur korrekterweise, dass eine entsprechende Körpertemperatur bei seinem Kind vorliegt. In diesem Fall hat Harald eine wahre Uberzeugung, die durch einen zwingenden Grund verursacht wird. Nehmen wir nun jedoch weiter an, Harald hätte zufällig das einzige funktionsfähige Thermometer in dem Behälter erwischt. Alle anderen Thermometer sind defekt. Dann hat man die Intuition, dass Harald kein Wissen von der Körpertemperatur seines Kindes hat. Die konkrete Anzeige dieses Thermometers ist zwar ein zwingender Grund für die tatsächliche Körpertemperatur des Kindes. Aber sie verursacht Haralds Uberzeugung nicht aufgrund ihrer Eigenschaft, die Anzeige dieses Thermometers zu sein, sondern aufgrund ihrer Eigenschaft, die Anzeige eines Thermometers zu sein. Im vorliegenden Fall ist es also gerade 144

Vgl. Dretske 1981.

Posttraditionelle Wissensdefinitionen

145

nicht die Tatsache, dass ein zwingender Grund vorliegt, die kausal wirksam ist. Harald hätte auch der Anzeige eines der defekten Thermometer vertraut. Und das muss ausgeschlossen sein, damit Wissen vorliegt. Dretskes Wissenskonzeption kann die Gettier-Fälle mühelos ausschließen. Im Fall von Smith und dem unverhofften Job ist Smiths wahre Uberzeugung, dass derjenige, der die Stelle bekommt, zehn Münzen in seiner Hosentasche hat, einfach nicht durch einen zwingenden Grund verursacht. Die Gründe, auf denen diese Uberzeugung beruht, enthalten nämlich eine Fehlinformation (dass Jones die Stelle bekommen wird); und zwingende Gründe schließen Fehlinformation aus. Im Fall von Meier und seinem Golf ist Smiths wahre Uberzeugung, dass Meier einen Golf besitzt oder Krause sich in Berlin aufhält, ebenfalls durch irreführende Gründe verursacht - Gründe für die Annahme, dass Meier einen Golf besitzt, die vorliegen, obwohl es nicht der Fall ist, dass Meier einen Golf besitzt; und solche irreführenden Gründe sind natürlich keine zwingenden Gründe. Auch im Fall der Scheunenfassaden ist die Sache ganz klar. Henry stützt seine wahre Uberzeugung auf Wahrnehmungserlebnisse, die keine zwingenden Gründe sind, da sie auch aufgetreten wären, wenn er auf eine Scheunenfassade geschaut hätte und somit das, was er tatsächlich glaubt, nicht der Fall gewesen wäre. Es gibt jedoch zwei Probleme mit Dretskes Vorschlag. Erstens scheint dieser Vorschlag mathematisches Wissen auszuschließen. Nehmen wir einmal an, dass grundlegende mathematische Uberzeugungen auf mathematischen Intuitionen beruhen. Damit nach Dretske mathematisches Wissen vorliegt, muss eine spezifische mathematische Intuition eine wahre mathematische Überzeugung verursachen. Wenn eine mathematische Uberzeugung wahr ist, dann bezieht sie sich jedoch nach herrschender Auffassung auf eine notwendige Tatsache, eine Tatsache, die nicht anders hätte sein können. Wenn jedoch das der Fall ist, dann kann die mathematische Intuition, die die wahre mathematische Überzeugung stützt, kein zwingender

146

Wissen

Grund sein, weil es einfach keine mögliche Situation gibt, in der die mathematische Tatsache nicht besteht. Eine solche Situation müsste es aber geben können, denn ein zwingender Grund liegt faktisch nur dann vor, wenn er in der nächsten derartigen Situation nicht auftreten würde. Es kann also von mathematischen und anderen notwendigen Tatsachen kein Wissen geben. Das zweite Problem, das ich hier wiederum zunächst nur nennen möchte, besteht darin, dass Wissen, wenn es auf zwingenden Gründen beruht, die die Eigenschaft der Sensitivität haben, das Geschlossenheitsprinzip verletzt. Wie ernsthaft die daraus entstehenden Probleme sind, wird noch zu untersuchen sein. Probleme des Wissens durch zwingende Gründe (1) Wissen von notwendigen Wahrheiten ist unmöglich. (2) Das Geschlossenheitsprinzip für Wissen kann nicht streng allgemein gültig sein.

Goldman: Wissen durch perfekt zuverlässige überzeugungsbildende Prozesse Die eben genannten Probleme ergeben sich, wenn die Bedingungen für Wissen vom spezifischen Inhalt der gewussten Proposition abhängen. Die Sensitivitätsbedingung stellt je nach dem Inhalt der Proposition unterschiedlich hohe Anforderungen an die Diskriminationsfähigkeit des Erkenntnissubjekts und ist eben im Falle notwendiger Wahrheiten gar nicht erfüllbar. U m diese Probleme zu vermeiden, kann man Wissen als Resultat eines allgemeinen überzeugungsbildenden Prozesses definieren, dessen Wahrheitsbilanz in allen relevanten aktualen und kontrafaktischen Situationen 1 0 0 % beträgt. Das ist der Grundgedanke von Alvin Goldmans Zuverlässigkeitstheorie des Wissens:

Posttraditionelle Wissensdefinitionen

147

Welche Arten von kausalen Prozessen oder Mechanismen müssen für eine Uberzeugung verantwortlich sein, damit diese Überzeugung als Wissen gilt? Es muss sich um Mechanismen handeln, die - in einem wohlverstandenen Sinne - „zuverlässig" sind. Grob gesagt ist ein kognitiver Mechanismus oder Prozess zuverlässig, wenn er wahre Uberzeugungen nicht nur in aktualen Situationen produziert, sondern in relevanten kontrafaktischen Situationen wahre Überzeugungen produzieren würde oder wenigstens falsche Überzeugungen verhindern würde. Die Theorie des Wissens, die ich im Blick habe, würde demnach eine wichtige kontrafaktische Komponente enthalten. 145

Obwohl Goldman niemals einen konkreten Definitionsvorschlag für Wissen gemacht hat, sondern meistens nur notwendige Bedingungen für Wissen nennt, könnte man die folgende Definition extrapolieren: Wissen durch perfekt zuverlässige überzeugungsbildende Prozesse Ein Subjekt S weiß die Proposition, dass p, genau dann, wenn: (i) S überzeugt ist, dass p, (ii) diese Uberzeugung durch einen Prozess verursacht wird, (iii) dieser Prozess von einem Typ ist, der in allen relevanten faktischen und kontrafaktischen Situationen zu 100 % wahre Uberzeugungen hervorbringt. Allerdings bleibt in dieser Konzeption unklar, wodurch relevante faktische und kontrafaktische Situationen festgelegt werden. Dieses Unbestimmtheitsproblem wird uns im Folgenden weiter beschäftigen.

145

Goldman 1976, S. 143, meine Übersetzung.

148

Wissen

3.4 Semantischer Kontextualismus Die bislang erwogenen Vorschläge zur Definition des Wissens führen in eine Art Aporie - eine Situation, in der wir nicht recht sehen, wie es weiter gehen soll. Wenn wir Wissen als Uberzeugung definieren, die durch zwingende Gründe gestützt wird, dann steht eindeutig fest, wie stark unsere Gründe mit der Wahrheit korreliert sein müssen, um Wissen zu ermöglichen. In der nächsten Welt, in der die Uberzeugung falsch wäre, dürfen die Gründe nicht auftreten. Ich weiß also aufgrund meiner Sinneswahrnehmung, dass ich eine Hand habe, da ich in der nächsten Welt, in der ich diese Hand nicht hätte (weil ich sie beispielsweise durch einen tragischen Unfall verloren hätte), die Hand auch nicht wahrnehmen würde. Doch die Eindeutigkeit der Wahrheitsbedingungen für die Wissenszuschreibung hat einen hohen Preis. Wenn Wissen nämlich durch zwingende Gründe definiert wird, dann lässt sich das intuitiv extrem plausible Prinzip der Geschlossenheit des Wissens nicht aufrechterhalten. Im Beispiel: Dass ich eine Hand habe impliziert logisch, dass ich kein handloses Gehirn im Tank bin, dem von einem bösen Neurowissenschaftler durch die entsprechende Manipulation seiner Sinneserfahrung bloß vorgegaukelt wird, es hätte eine Hand. Nach dem Prinzip der Geschlossenheit des Wissens müsste jemand, der weiß, dass er eine Hand hat, und daraus korrekt ableitet, dass er kein handloses Gehirn im Tank ist, wissen, dass er kein handloses Gehirn im Tank ist. Doch zwingende Gründe sind nicht geschlossen unter logischer Implikation. Meine zwingenden Gründe für meine Überzeugung, dass ich eine Hand habe, sind keine zwingenden Gründe dafür, dass ich kein handloses Gehirn im Tank bin. Denn ich würde dieselbe Sinneserfahrung von meiner Hand haben, wenn ich ein handloses (entsprechend manipuliertes) Gehirn im Tank wäre. Wenn Wissen dagegen als wahre Überzeugung definiert wird, die durch einen Prozess erzeugt wird, der in allen relevanten kontrafaktischen Situationen oder, wie man auch sagt,

Semantischer Kontextualismus

149

in allen relevanten möglichen Welten zu wahren Überzeugungen führt, dann lässt sich das Prinzip der Geschlossenheit des Wissens aufrechterhalten, insofern der Bereich der relevanten Welten für verschiedene Uberzeugungen konstant bleibt. Wenn ich nämlich meine Uberzeugung, dass ich eine Hand habe, in allen relevanten Welten wahr ist (und ich deshalb weiß, dass ich eine Hand habe), dann bin ich auch in keiner dieser Welten ein handloses Gehirn im Tank. Wenn ich eine entsprechende Überzeugung bilden würde, dann würde ich also auch wissen, dass ich kein handloses Gehirn im Tank bin. Hier stellt sich jedoch die Frage, durch welche Faktoren die Menge der relevanten Welten festgelegt wird. Das Problem für Wissen als perfekt zuverlässig gebildete Uberzeugung lässt sich anhand des bereits bekannten Scheunenfassadenfalls veranschaulichen. Führen wir uns den Fall noch einmal vor Augen. Henry sieht bei guten Sichtverhältnissen am Rande der Straße ein Gebäude, das wie eine Scheune aussieht und das er auch für eine Scheune hält. Tatsächlich handelt es sich um eine Scheune. Wenn in der Umgebung jedoch Scheunenfassaden existieren, die echten Scheunen täuschend ähnlich sehen, dann hätte Henrys Sinneserfahrung ihn sehr leicht in die Irre führen können. Deshalb hat er kein Wissen. Doch was bedeutet es, dass die täuschenden Scheunenfassaden (oder generalisierend: Irrtumsmöglichkeiten) in der Umgebung vorkommen müssen, damit Henry kein Wissen hat? Wie nahe müssen die Irrtumsmöglichkeiten der tatsächlichen Erkenntnissituation kommen, damit sie relevant sind? Wie nahe ist nahe genug? Wenn die nächstliegenden Gebäude Scheunenfassaden wären, dann wäre das sicher relevant. Aber was wäre, wenn in dem Landkreis, durch den Henry gerade fährt, keine Scheunenfassaden existieren, aber Fassaden in den angrenzenden Landkreisen massiv auftreten? Was wäre, wenn es solche Fassaden in Deutschland gar nicht gäbe, sondern nur in Kalifornien, Henry aber fast dorthin gereist wäre? Was wäre, wenn jetzt gar keine Scheunenfassaden mehr existieren, sondern alle nach Abschluss der Dreharbeiten wieder abgerissen wurden,

150

Wissen

aber diese Fassaden bis ganz kurz vor Henry Autofahrt genau in dem Gebiet existierten, durch das er gerade fährt? Was wäre, wenn es solche Fassaden weder gibt noch je gegeben hat, jemand sie aber fast dort gebaut hätte oder in Zukunft bauen wird? Müssen Irrtumsmöglichkeiten tatsächlich existieren und wie nahe müssen sie liegen, um relevant zu sein? Oder genügt es, wenn es sie bloß in nahen möglichen Welten gibt? Hier lauert eine ganze Reihe von Fragen, auf die wir nicht ohne weiteres eine eindeutige Antwort geben können. Es gibt anscheinend keine objektiven Tatsachen, die festlegen, ob eine Irrtumsmöglichkeit relevant für die Wissenszuschreibung ist oder nicht. Es ist objektiv unbestimmt, ob eine Irrtumsmöglichkeit relevant ist. Wir können also offenbar die Geschlossenheit des Wissens nur um den Preis der Unbestimmtheit der Wahrheitsbedingungen des Wissens retten. Dieses Problem möchte ich als Problem der Unbestimmtheit bezeichnen.146 So ergibt sich also eine Art Dilemma"' für die Vorschläge einer Wissensdefinition. Entweder verletzen sie - wie die Konzeption der zwingenden Gründe - das intuitiv sehr plausible Geschlossenheitsprinzip für Wissen. Oder sie bewahren dieses Prinzip - wie der Vorschlag, Wissen durch perfekt zuverlässige Prozesse zu erklären, dann laufen sie in das Messer des Unbestimmtheitsproblems. Es gibt jedoch einen noch relativ neuen Vorschlag, wie man Wissen definieren kann, um zwischen beiden Hörnern des Dilemmas hindurch zu steuern. Der semantische KontextualismusU7 bezüglich des Wissensbegriffes verspricht, Geschlossenheit zu bewahren und das Unbestimmtheitsproblem zugleich zu lösen. Im Kern besagt diese Position, dass Wissenszuschreibungen kontextsensitiv bzw. indexikalisch148 sind. Ob der Satz „S weiß, dass p" wahr ist (oder 146

147 148

Es handelt sich hier um ein Problem, das dem verwandt ist, was von Brandom 1998, S. 386, und Baumann 2001 hervorgehoben wurde. Wichtige Vertreter dieser Art von Kontextualismus sind Lewis 1979 und 1996, DeRose 1995 und 1999 sowie Cohen 1988 und 1999. Indexikalische Ausdrücke wie „dies", „hier", „jetzt" oder „ich" haben einen feststehenden sprachlichen Sinn, aber keinen kontextunabhängi-

Semantischer Kontextualismus

151

nicht), hängt vom Kontext ab. Unser Wissensbegriff wird also ähnlich verstanden wie etwa der Ausdruck ,flach'. Mit Bezug auf ein und dieselbe Sache, etwa eine Straße, und denselben Zeitpunkt lässt sich wahrer Weise sagen „Die Straße ist flach" und auch wahrer Weise sagen „Die Straße ist nicht flach". Das ist möglich, wenn unterschiedliche Maßstäbe für Flachheit im Spiel sind. Ein Autofahrer wird korrekter Weise sagen „Die Straße ist flach.", wenn sie keine Unebenheiten aufweist, die sich beim Fahren negativ bemerkbar machen. Ein Wissenschaftler, der die Straßenoberfläche unter einem Mikroskop betrachtet, führt einen viel strengeren Maßstab ein, relativ zu dem er die Wahrheit sagt, wenn er sagt „Die Straße ist nicht flach" Der Vertreter des semantischen Kontextualismus bezüglich von Wissen behauptet nun, dass unser Ausdruck für Wissen sprachlich genau so funktioniert wie unser Ausdruck ,flach'. Ganz wesentlich für das genauere Verständnis des semantischen Kontextualismus ist, dass der Maßstab für die Wahrheitsbedingungen unserer Wissenszuschreibungen vom Kontext dessen abhängt, der Wissen zuschreibt, und nicht etwa vom Kontext desjenigen, dem Wissen zugeschrieben oder abgesprochen wird. Der Außerungskontext legt also die Wahrheitsbedingungen der Wissenszuschreibung fest; und diese Wahrheitsbedingungen können mit dem Kontext des Wissenszuschreibers variieren. Deshalb spricht man auch von einem Zuschreibungskontextualismus.149 Es kann also bei Wissenszugen Referenten. D e r sprachliche Sinn (bei „dies": der Gegenstand auf den ich zeige; bei „ich": der Sprecher dieser Äußerung) legt relativ zu einem Kontext den Referenten eindeutig fest. Deshalb kann derselbe indexikalische Asdruck in unterschiedlichen Kontexten der Verwendung auf verschiedene Gegenstände referieren. Alle Ausdrücke, deren Referenz kontextabhängig ist, kann man im weiteren Sinne als indexikalisch bezeichnen. 149

D e r Kontextualismus in der Erkenntnistheorie lässt sich durch die These charakterisieren, dass die Wahrheitsbedingungen für Zuschreibungen des Wissens (oder der Rechtfertigung) mit dem Kontext va-

152

Wissen

Schreibungen dasselbe passieren wie bei der Charakterisierung eines Gegenstandes als „flach". In Bezug auf ein und dieselbe Person S, denselben Zeitpunkt und dieselbe Proposition ρ ist es möglich, dass eine Person A behauptet „S weiß, dass p" und damit die Wahrheit sagt und dass zugleich eine andere Person Β behauptet „S weiß nicht, dass p" und damit ebenfalls Recht hat. Das ist möglich, wenn die Maßstäbe in den beiden Außerungskontexten verschieden sind. Die Hauptvertreter des semantischen Kontextualismus sind sich darin einig, dass die Faktoren, die die Wahrheitsbedingungen der Wissenszuschreibungen im jeweiligen Äußerungskontext bestimmen, im Wesentlichen konversationelle Faktoren sind. Wie hoch der Maßstab für eine korrekte Wissenszuschreibung ist, hängt also davon ab, welche Irrtumsmöglichkeiten der Wissenszuschreiber erwähnt oder bedenkt bzw. (nach einem anderen Vorschlag) was explizit als Wissen behauptet wird.

riieren. Der Kontextualismus muss also als Gegenthese zum Invariantismus verstanden werden, wonach die Wahrheitsbedingungen für epistemische Zuschreibungen nicht mit dem Kontext variieren. Im Rahmen des erkenntnistheoretischen Kontextualismus lassen sich dann grundsätzlich zwei Arten unterscheiden, je nachdem, ob der Kontext des Wissenszuschreibers (Zuschreibungskontextualismus) oder der Kontext des Erkenntnissubjekts (Subjektkontextualismus), dem Wissen zugeschrieben wird, maßgeblich für die Wahrheitsbedingungen der Wissenszuschreibung ist. Zu dieser Unterscheidung vgl. DeRose 1999, Pritchard 2002 und Grundmann 2003. Vgl. zur Charakterisierung des semantischen (Zuschreibungs-)Kontextualismus Brendel 2003, S. 10191021, Grundmann 2003, S. 995-998. Zum Teil werden auch Positionen als kontextualistisch bezeichnet, die Wissen von externen Bedingungen (neben der Wahrheit) abhängig machen. Vgl. Dretske 2004, Williams 2001, S. 162. Abgesehen davon, dass die Wahrheit dieser Form von Kontextualismus nach Gettier nahezu unstrittig ist, sollte man diese Positionen nicht unter dem Label ,Kontextualismus' vertreten, weil sie mit dem Invariantismus vollkommen verträglich sind und der Kontext ihnen zufolge nur für die Erfüllung und nicht für die Festlegung der Wahrheitsbedingungen für Wissen verantwortlich ist.

Semantischer Kontextualismus

153

Wie sich der semantische Kontextualist die Veränderung der Wissensmaßstäbe in der Praxis vorstellt, lässt sich ganz schön am Beispiel alltäglicher und skeptischer Kontexte veranschaulichen. Nehmen wir an, eine Person S glaubt aufgrund ihrer Sinneswahrnehmung, dass sich vor ihr ein Schreibtisch befindet, und S hat Recht. Stellen Sie sich jetzt einen Beobachter A vor, der selbst nur alltägliche Irrtumsmöglichkeiten in Betracht zieht. Relativ zu den von A in Betracht gezogenen Irrtumsmöglichkeiten garantiert die Sinneswahrnehmung von S die Wahrheit seiner Uberzeugung. Deshalb hat A Recht, wenn er sagt „S weiß, dass sich vor ihm ein Schreibtisch befindet". Stellen Sie sich jetzt einen Beobachter Β vor - einen Philosophen, der in erkenntnistheoretischen Fragen versiert ist. Er zieht auch sehr bizarre Irrtumsmöglichkeiten in Betracht: dass man permanent träumen könnte, dass ein böser Dämon oder ein fieser Neurowissenschaftler die gesamte Sinneserfahrung manipulieren könnte und Ähnliches mehr. Relativ zu den von Β in Betracht gezogenen skeptischen Irrtumsmöglichkeiten garantiert die Sinneswahrnehmung von S die Wahrheit seiner Uberzeugung nicht. In den skeptischen Situationen würde sie nämlich S in die Irre führen. Deshalb hat Β Recht, wenn er sagt „S weiß nicht, dass sich vor ihm ein Schreibtisch befindet". Es liegt kein Widerspruch darin, dass S korrekterweise (von A) Wissen zugeschrieben bekommt und S korrekterweise (von B) Wissen abgesprochen bekommt. Denn das, was A dem Subjekt S an Wissen zuschreibt, ist nicht dasselbe wie das, was Β dem Subjekt S an Wissen abspricht. Objektsprachlich ausgedrückt behauptet A korrekt, dass S relativ zu alltäglichen Maßstäben weiß, dass er sich vor einem Schreibtisch befindet, und Β behauptet korrekt, dass S relativ zu strengen (skeptischen) Maßstäben nicht weiß, dass er sich vor einem Schreibtisch befindet. Und das kann beides wahr sein. Der semantische Kontextualist schlägt also folgende Wissensdefinition vor:

154

Wissen

Wissen gemäß dem semantischen Kontextualismus

Die Äußerung „Subjekt S weiß die Proposition, dass p" durch einen Zuschreiber A ist wahr genau dann wenn: (i) S überzeugt ist, dass p, (ii) die Proposition, dass p, wahr ist, (iii) Ss Uberzeugung, dass p, durch einen Grund g gestützt wird, (iv) dieser Grund g die Wahrheit der Uberzeugung, dass p, in allen Welten w garantiert, die aus As Perspektive aufgrund konversationeller Faktoren relevant sind. Aus dieser Definition wird sofort ersichtlich, wie der Kontextualist das Problem der Unbestimmtheit löst. Auch wenn objektiv unbestimmt bleibt, welche möglichen Welten relevant sind für die korrekte Wissenszuschreibung, können konversationelle Faktoren aus der Perspektive des Wissenszuschreibers die Menge der relevanten Welten exakt fixieren. Für den semantischen Kontextualismus sprechen im Wesentlichen vier Argumente, die ich jetzt etwas genauer unter die Lupe nehmen werde. Erstens·. Die Vielfalt und Variabilität unserer Wissensmaßstäbe in der alltäglichen Praxis außerhalb der Studierstube des Philosophen kann allein durch einen indexikalischen Wissensbegriff adäquat beschrieben werden. Nur der Kontextualismus wäre demnach deskriptiv adäquat. Zweitens·. Der Kontextualismus ist besser als seine Rivalen dazu in der Lage, herkömmliche erkenntnistheoretische Paradoxien wie das Problem des Skeptizismus zu lösen und im gleichen Atemzug deren anfängliche Plausibilität zu erklären. Er hat ein ausgezeichnetes diagnostisches Potenzial. Drittens·. Der Kontextualismus kann erklären, warum das Prinzip der Geschlossenheit für Wissen zumindest innerhalb eines Kontextes gilt. Viertens·. Wie eben bereits angedeutet, kann der Kontextualismus auch das Problem der Unbestimmtheit relevanter möglicher Welten lösen.

Semantischer Kontextualismus

155

Zunächst zum Argument der deskriptiven Adäquatheit.150 Eine ganz typische Alltagssituation wie die folgende legt den indexikalischen Charakter unseres Wissensbegriffes nahe: Herr Stehle muss dienstlich dringend so schnell wie möglich mit dem Zug von Tübingen nach Stuttgart in die Hauptgeschäftsstelle fahren. Deshalb fragt er im Büro nach, ob irgendjemand weiß, wann der nächste Zug nach Stuttgart fährt. Sein Kollege, Herr P f e f f e r l e , antwortet: „Ich weiß, dass der nächste Zug nach Stuttgart um 15:35 Uhr fährt. Ich habe den Zug vor kurzem auch einmal nehmen müssen.K Da Stehle die Sache äußerst wichtig ist, denkt er daran, dass sich sein Kollege vielleicht nur irrtümlich daran zu erinnern meint oder dass sich der Fahrplan inzwischen geändert haben könnte oder dass sich der Zug heute möglicherweise wegen Gleisbauarbeiten verspäten könnte. Deshalb nimmt er an, dass P f e f f e r l e nicht wirklich weiß, wann der nächste Zug fährt. Er ruft also bei der Bahnhofsauskunft an, um sich zu informieren. Der semantische Kontextualist analysiert den Fall wie folgt: Pfefferle hat, gemessen an seinen eigenen Maßstäben, Recht mit der Behauptung, dass er weiß, wann der nächste Zug nach Stuttgart fährt. Der Zug fährt tatsächlich um diese Zeit und er hat Gründe für seine Uberzeugung, die relativ zu den von ihm für relevant gehaltenen Irrtumsmöglichkeiten die Wahrheit garantieren. Aber Stehle hat, gemessen an seinen strengeren Maßstäben, auch Recht damit, dass Pfefferle es nicht weiß. Beide haben Recht und es gibt keinen Widerspruch, weil Pfefferle zwar gemäß weniger anspruchsvoller Maßstäbe Wissen hat, nicht aber gemäß der strengeren Maßstäbe von Stehle. Zwar könnte man alternativ dazu auch annehmen, dass wir es mit zwei sich widersprechenden Wissenszuschreibungen zu tun haben, von denen mindestens eine falsch ist. Doch das hätte in jedem Fall fatale Konsequenzen. Nehmen wir an, Stehle hätte Unrecht, wenn er seinem Kollegen Pfefferle Wissen abspricht. Dann müsste er korrekterweise sagen, dass Pfefferle 150

Vgl. zu diesem Argument Cohen 1999, S. 58.

156

Wissen

Wissen hat. Wenn er das täte, dann wäre aber seine Erkundigung bei der Bahnhofsauskunft widersinnig. Doch in der vorliegenden Situation ist sie das sicher nicht. Wenn wir dagegen sagen, dass Pfefferle sich fälschlich Wissen zuschreibt, dann folgt daraus, dass wir so gut wie niemals Wissen haben, denn unsere gewöhnliche erkenntnistheoretische Situation entspricht ziemlich genau der Situation, in der sich Pfefferle befindet. Unsere Informationen hängen fast immer von Quellen ab, die auch fehlerhaft sein könnten. Also sind beide Wissenszuschreibungen korrekt und der Wissensbegriff ist indexikalisch. Was ist von diesem Argument zu halten? Aus meiner Sicht wird hier eine zu starke Konsequenz aus dem beschriebenen Fall gezogen. Wenn Stehle etwas ausgefallene Irrtumsmöglichkeiten in Betracht zieht, dann muss das keineswegs die Wahrheitsbedingungen der Wissenszuschreibung an Pfefferle verändern, sondern es kann einfach dazu führen, dass er Zweifel daran hat, dass die invarianten Wahrheitsbedingungen für Wissen im Falle seines Kollegen erfüllt sind. Stehle kann einfach Zweifel daran haben, ob es wahr ist, was Pfefferle sagt. Deshalb glaubt Stehle auch nicht, dass sein Kollege weiß, wann der Zug fährt, und geht von der Annahme aus, dass er es nicht weiß. Das wäre in der Situation auch dann rational, wenn Pfefferle tatsächlich Recht damit hat, dass er weiß, wann der Zug fährt, und Stehle Recht hätte, wenn er ihm glauben würde. Stehles Verhalten wird einfach dadurch erklärt, dass er nicht weiß (oder nicht gerechtfertigt ist anzunehmen), dass sein Kollege Wissen hat. Beispielsfälle wie der vorliegende lassen sich also auch ohne die Annahme erklären, dass der Wissensbegriff indexikalisch ist.151 Wie sieht es genauer mit dem diagnostischen Potential des semantischen Kontextualismus aus? 152 Betrachten Sie die folgenden drei Propositionen:

151 152

Vgl. zu dieser Kritik auch Grundmann 2003, S. 1003 ff. Vgl. zum Folgenden Cohen 1988 und DeRose 1995.

Semantischer Kontextualismus

157

(1) Ich weiß nicht, dass ich kein handloses Gehirn im Tank bin (in dem die Sinneserfahrung der eigenen Hand durch direkte Einwirkung auf das Gehirn hervorgerufen wird). (2) Wenn ich nicht weiß, dass ich kein handloses Gehirn im Tank bin, dann weiß ich auch nicht, dass ich eine Hand habe. (3) Ich weiß, dass ich eine Hand habe. Diese drei Propositionen scheinen miteinander unverträglich zu sein. Aus (1) und (2) folgt offenbar die Negation von (3). Dennoch sehen alle drei Propositionen auf den ersten Blick sehr plausibel aus. Ich weiß nicht, dass ich kein Gehirn im Tank bin, denn wie sollte ich das aufgrund meiner Erfahrung wissen können, die doch genauso aussehen würde, wenn ich ein Gehirn im Tank wäre. (2) folgt aus dem Prinzip der Geschlossenheit des Wissens. Und (3) wird durch unsere Alltagsintuitionen gestützt. Wir haben es also mit einem Paradoxon zu tun. Jede der drei Propositionen erscheint für sich genommen äußerst plausibel, aber sie können anscheinend nicht alle zusammen wahr sein. Dieses skeptische Paradox lässt sich für beliebige alltägliche Propositionen und beliebige skeptische Irrtumsmöglichkeiten verallgemeinern. Um das Paradox zu lösen, ist eine Antwort auf die Frage nötig, welche der miteinander unverträglichen Propositionen falsch ist. Zugleich müssen wir erklären, warum diese falsche Proposition dennoch so plausibel erscheint. Die herkömmlichen Versuche, das Paradox zu lösen, sind aus unterschiedlichen Gründen unbefriedigend. Die skeptische Strategie gibt (3) auf. Verallgemeinert betrachtet folgt daraus, dass wir über keinerlei Wissen verfügen. Diese Konsequenz ist bereits für sich genommen absurd. Außerdem versteht man nicht, weshalb (3) überhaupt so plausibel erscheinen konnte, wenn (1) offensichtlich richtig ist. Eine andere Strategie besteht darin, das Prinzip der Geschlossenheit für Wissen aufzugeben. Solange man an diesem Prinzip festhält, muss man (2) akzeptieren. Dass ich eine Hand habe impliziert logisch, dass ich kein handloses Gehirn im Tank bin. Wenn ich also Letzteres nicht

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Wissen

weiß, dann weiß ich auch das Erstere nicht. 153 Weil das Geschlossenheitsprinzip jedoch so große intuitive Plausibilität besitzt, ist es denkbar unattraktiv, das Prinzip aufzugeben. So bleibt schließlich noch die Moore-Strategie. G . E . Moore war der Uberzeugung, dass uns nichts gewisser ist, als dass wir alltägliche Propositionen wie die, dass ich eine Hand habe, wissen. Dann können wir mit Hilfe von (2) die Falschheit von (1) einfach ableiten. Ich weiß also, dass ich kein handloses Gehirn im Tank bin. Aber diese Strategie lässt letztlich unerklärt, warum (1) trotzdem so plausibel erscheint. D e r semantische Kontextualismus bietet uns nun einen einfachen Ausweg aus der Misere an. Für ihn gibt es nämlich gar keine echte Inkonsistenz zwischen den drei Sätzen, sondern nur den Anschein eines Paradoxes. Wenn der Kontextualist Recht hat, drückt (1) die folgende Proposition aus: Ich weiß re-

lativ zu dem strengen Maßstab skeptischer Kontexte nicht, dass ich kein handloses Gehirn im Tank hin. (2) sollte als Geschlossenheit von Wissen relativ zu einem Kontext interpretiert werden. Dann folgt aus (1) und (2), dass ich relativ zum strengen Maßstab des skeptischen Kontextes nicht weiß, dass ich eine Hand habe. Das widerspricht jedoch keineswegs unserer durch (3) zum Ausdruck gebrachten Alltagsüberzeugung, dass ichrelativ zu unseren gewöhnlichen Maßstäben weiß, dass ich eine Hand habe. Der Kontextualist relativiert also die skeptische Konsequenz auf den Kontext des Skeptizismus: Von alltäglichen Propositionen haben wir kein Wissen, das den extrem strengen Maßstäben skeptischer Überlegungen gerecht wird. Aber das bedroht unsere alltäglichen Wissensansprüche überhaupt nicht. Denn die beanspruchen nur ein Wissen nach gewöhnlichen Maßstäben. Was ist von dieser kontextualistischen Diagnose des skeptischen Paradoxes zu halten? Im Grunde läuft die Diagnose darauf hinaus, das skeptische Paradox als Illusion zu entlarven. Die eigentliche Quelle des Problems ist ein semantisches 153

Wenn gilt: ρ —» q, dann gilt (aufgrund von Kontraposition): —iq —» —ip.

Semantischer Kontextualismus

159

Missverständnis. 154 Wir durchschauen einfach die Indexikalität unserer Wissenszuschreibungen nicht. Aus einem scheinbar erkenntnistheoretischen Problem wird ein semantisches Missverständnis. Und sobald dieses beseitigt ist, bleibt nur folgende Binsenweisheit übrig: Gemessen an extrem hohen Maßstäben haben wir kein Wissen über die Welt. Dieses Problem ist vollkommen harmlos, genau wie die Einsicht, dass es keinen Arzt in einer Stadt wie New York gibt - sobald man als Arzt nur denjenigen gelten lässt, der jede nur denkbare Krankheit innerhalb von zwei Minuten heilen kann. 155 Diese Diagnose des skeptischen Problems ist jedoch einfach unplausibel, weil ein offensichtlich erkenntnistheoretisches Problem durch sie zum Verschwinden gebracht und durch ein rein semantisches Problem ersetzt wird. Außerdem kann auch die Kontextualisierung skeptischer Konsequenzen nicht überzeugen. Skeptische Positionen beruhen nämlich auf der Intuition, dass wir in keinem Kontext auch nur minimales Wissen besitzen. 156 Und antiskeptische Positionen wollen Wissen nicht nur im alltäglichen Kontext behaupten, sondern eben gerade auch im Angesicht skeptischer Szenarien. Die Diagnose des skeptischen Paradoxes durch den Kontextualisten lokalisiert das skeptische Problem also im doppelten Sinne falsch. Erstens reduziert es dieses Problem auf ein rein semantisches Problem. Und zweitens kontextualisiert es ein Problem, das intuitiv die verschiedenen Kontexte übergreift. Damit komme ich zum dritten Argument für den semantischen Kontextualismus. Dieser soll in der Lage sein, das intuitiv sehr plausible Geschlossenheitsprinzip für Wissen zu bewahren. Einer der Hauptvertreter des Kontextualismus, Keith DeRose, findet die Aufgabe dieses Prinzips vollkommen inakzeptabel. 157 Der Kontextualismus kann das Prinzip zwar nicht 154 155 156 157

Vgl. Schiffer 1996. Das Beispiel übernehme ich von Stroud 1984, S. 40f. Zu dieser Kritik auch Kornblith 2000 und Williams 2001. In diesem Sinne DeRose 1995, S. 45.

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Wissen

über verschiedene Kontexte hinweg, wohl aber innerhalb eines Kontextes bewahren. Wie ist das möglich? Innerhalb eines Kontextes ist der Maßstab für Wissen konstant. Das heißt, der Bereich möglicher Welten, innerhalb dessen der Grund einer Uberzeugung deren Wahrheit garantieren muss, um Wissen zu generieren, ist fixiert. Nun gilt aber, dass in allen Welten, in denen eine Proposition wahr ist, auch alle Propositionen wahr sind, die durch sie logisch impliziert"" werden. Doch dann gilt auch Folgendes: Wenn ein Grund relativ zu einem bestimmten Bereich möglicher Welten die Wahrheit einer Proposition garantiert, dann garantiert er relativ zu diesem Bereich möglicher Welten auch die Wahrheit aller durch diese Proposition logisch implizierten Propositionen. Innerhalb eines Kontextes muss deshalb Geschlossenheit für Wissen gelten. DeRose ist der Auffassung, dass der Bereich relevanter möglicher Welten durch die Proposition festgelegt wird, von der durch den Wissenszuschreiber behauptet wird, dass sie von einem Subjekt gewusst wird. Die Wissenszuschreibung ist dann wahr, wenn in dem Bereich möglicher Welten, der bis zur nächsten Welt reicht, in der diese Proposition falsch ist, die Gründe für diese Proposition nur auftreten, insofern die Proposition wahr ist.158 Das Subjekt wird dann auch von den Propositionen Wissen haben, die es durch eine logische Folgerung aus einer Proposition ableitet, die zu seinem Wissen zählt. Dieses Wissen verschwindet jedoch, sobald vom Zuschreiber behauptet wird, dass es besteht. Denn dann ändert sich der Kontext. Dasselbe gilt auch für den Fall, dass jemand sich selbst Wissen zuschreibt und aus diesem Wissen durch eine logische Folgerung Uberzeugungen gewinnt, von denen er behauptet, dass er sie ebenfalls weiß. Sobald man also explizit behauptet, dass man die Implikationen von etwas, das man weiß, ebenfalls weiß, verändert sich der Kontext in der Weise, dass die Gründe nicht mehr ausreichen, um aus der gefolgerten Wahrheit Wis158

Vgl. in diesem Sinne DeRoses Regel der Sensitivität in DeRose 1995, S. 36.

Semantischer Kontextualismus

161

sen zu machen. In der Praxis ist also der Kontext aufgrund seiner Sensitivität gegenüber Wissensbehauptungen so instabil, dass sich mit Hilfe einer logischen Folgerung aus dem, was man sich als Wissen zuschreibt, niemals Wissensbehauptungen rechtfertigen lassen. 159 Noch deutlicher wird die Geschlossenheit von Wissen untergraben, wenn man erwähnte oder bedachte Irrtumsmöglichkeiten für die konversationeilen Faktoren hält, die den Maßstab für die Wahrheit von Wissenszuschreibungen festlegen. Nehmen wir an, dass ich wiederum aufgrund meiner Sinneserfahrung im gewöhnlichen Kontext weiß, dass ich eine Hand habe. Wenn ich nun erfasse, dass dies logisch impliziert, dass ich kein handloses Gehirn im Tank bin, und aufgrund dessen glaube, dass ich kein handloses Gehirn im Tank bin, dann bringt diese Schlussfolgerung automatisch durch ihren Inhalt eine Irrtumsmöglichkeit ins Spiel, die den Wissensmaßstab so weit anhebt, dass ich nicht weiß, dass ich kein handloses Gehirn im Tank bin. In diesem Fall ist es also gar nicht möglich, dass ich Irrtumssituationen durch eine logische Inferenz aus meinem gewöhnlichen Wissen ausschließe, weil die Schlussfolgerung selbst bereits den Kontext ändert. Tatsächlich ist also die Geschlossenheit des Wissens im Rahmen des Kontextualismus zumindest sehr stark eingeschränkt, weil manche Schlussfolgerungen automatisch den Kontext verändern. Betrachten wir schließlich noch das Argument, dass konversationelle Faktoren eindeutig festlegen, welche möglichen Welten für die Bewertung des Wissensanspruches relevant sind. Kann der Kontextualismus das Unbestimmtheitsproblem tatsächlich lösen? Stellen Sie sich vor, ein Philosoph formuliert ein gültiges Argument auf der Basis von Prämissen, die in den Bereich seines Wissens fallen. Damit entscheidet er eine bislang unter Philosophen strittige Frage auf äußerst originelle Weise. Wenn das Erwähnen einer Irrtumsmöglichkeit bereits ausrei159

Davis 2004, S. 260, hält diese Konsequenz für genauso inakzeptabel wie die Aufgabe des Geschlossenheitsprinzips selbst.

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Wissen

chen würde, um den Maßstab des Wissens anzuheben, dann würde es genügen, wenn sein neidischer Gesprächspartner bloß erwähnte, dass seine ganze Überlegung auf der Täuschung durch einen bösen Dämon beruhen könnte, um ihn seines Wissens zu berauben. Das ist jedoch vollkommen kontraintuitiv. Es reicht offenbar nicht aus, dass Irrtumsmöglichkeiten einfach nur erwähnt werden, um sie für die Wahrheitsbedingungen der Wissenszuschreibung relevant zu machen. Doch dann bleibt unbestimmt, unter welchen konversationellen Bedingungen Irrtumsmöglichkeiten relevant werden. Dasselbe Problem ergibt sich auch im umgekehrten Fall. Es ist nicht klar, ob und unter welchen Bedingungen sich die Maßstäbe der korrekten Wissenszuschreibung wieder absenken. Sobald wir einmal skeptische Irrtumsmöglichkeiten in Betracht gezogen haben, können wir den Maßstab wenigstens nicht dadurch wieder senken, dass wir diese Möglichkeiten einfach ignorieren. Welche Faktoren für die Absenkung der Maßstäbe verantwortlich sind, bleibt also ebenfalls unklar. 160 Die anscheinend so überzeugenden Argumente für den semantischen Kontextualismus erweisen sich bei näherer Betrachtung als wenig überzeugend. Es gibt jedoch umgekehrt auch starke Einwände gegen den semantischen Kontextualismus. Ich werde mich im Folgenden auf einen solchen Einwand konzentrieren: viele semantische Beobachtungen im Zusammenhang mit dem Wissensbegriff sprechen gegen seinen indexikalischen Charakter. Was spricht gegen den indexikalischen Charakter unseres Wissensbegriffes? Indexikalische Begriffe weisen die Besonderheit auf, dass ihre Referenz nicht konstant ist, sondern vom Kontext der Äußerung mitbestimmt wird. Der indexikalische Ausdruck ,ich' bezieht sich beispielsweise auf denjenigen, der dieses Wort äußert, und das können, je nach Umständen, ganz verschiedene Personen sein. Daraus ergibt sich, dass auch ein Satz, in den ein solcher indexikalischer Ausdruck eingebettet 160

In diesem Sinne auch Brendel 2003, S. 1023.

Semantischer Kontextualismus

163

ist, je nach Kontext andere Wahrheitsbedingungen hat. Wenn Thomas Grundmann den Satz äußert: „Ich bin ein Philosoph", dann ist der Satz wahr genau dann, wenn der Äußerer dieses Satzes, Thomas Grundmann, ein Philosoph ist. Wenn dagegen Angela Merkel denselben Satz äußert, dann ist dieser Satz wahr genau dann, wenn Angela Merkel eine Philosophin ist. Es ist unschwer erkennbar, dass eine Äußerung des Satzes wahr und die andere falsch sein kann, wenn verschiedene Sprecher sie äußern. Und genau diesen Sachverhalt erkennen kompetente Sprecher, wenn sie indexikalische Ausdrücke verwenden. Deshalb würde es auch für niemanden irgendwie widersprüchlich klingen, wenn ich zu Angela Merkel Folgendes sagen würde: „Sie haben Recht, wenn Sie sagen ,Ich bin kein Philosoph', aber ich bin ein Philosoph." Beide Verwendungen von ,ich' beziehen sich auf verschiedene Personen, im ersten Fall auf Angela Merkel und im zweiten Fall auf Thomas Grundmann. Wenn kompetente Sprecher indexikalische Ausdrücke verwenden, erkennen sie deren indexikalischen Charakter. Sie sind nicht blind gegenüber der Indexikalität der von ihnen verwendeten Ausdrücke.161 Doch wenn der Wissensbegriff indexikalisch wäre, dann würden wir - anders als im Regelfall - dessen indexikalischen Charakter gerade nicht durchschauen. Das wird deutlich, wenn Sie sich folgenden Satz vor Augen führen: „Du hast Recht, wenn Du sagst ,Ich weiß, dass ich eine Hand habe', aber Du weißt nicht, dass Du eine Hand hast." Dieser Satz hört sich eindeutig widersprüchlich an. Wenn wir jedoch die indexikalische Analyse des Wissensbegriffes akzeptieren, könnte er sehr wohl wahr sein, nämlich dann, wenn der Äußerer des übergeordneten Satzes einen strengeren Wissensmaßstab hat als der Äußerer des eingebetteten Satzes. Dennoch klingt der Satz für uns widersprüchlich. Außerdem hätten wir uns nicht über Jahrtausende mit dem skeptischen Problem als einem tiefen erkenntnistheoretischen Problem herumgeschlagen, wenn wir erkannt hätten, dass alltägliche Wissens161

Vgl. dazu Schiffer 1996, S. 328; Davis 2004, S. 264f.

164

Wissen

behauptungen vollkommen verträglich mit skeptischen Wissensbestreitungen sind. Dass wir tatsächlich nichts von dem indexikalischen Charakter unseres Wissensbegriffes wissen, spricht gegen dessen indexikalischen Charakter. Außerdem gibt es auch noch einige andere Merkmale indexikalischer Begriffe, die vom Wissensbegriff ebenfalls nicht erfüllt werden. Wenn die Anwendungsbedingungen für einen Ausdruck mit den Maßstäben des Sprechers variieren, wie beispielsweise im Fall des Ausdrucks ,flach', dann lassen sich die Maßstäbe üblicherweise genauso leicht wieder senken, wie sie sich anheben lassen.162 So kann ich (als Autofahrer) sagen: „Die Straße ist flach" und damit die Wahrheit sagen; und dann kann ich (als Wissenschaftler, der die Straßenoberfläche mit einem Mikroskop untersucht) sagen „Die Straße ist nicht flach" und wieder Recht haben. Ich kann aber sofort wieder in die Perspektive des Autofahrers zurückkehren und damit automatisch den Maßstab senken. Es bleibt auch nach meiner wissenschaftlichen Untersuchung möglich, dass ich (als Autofahrer) daran festhalte, dass die Straße flach ist, und damit wiederum die Wahrheit sage. Anders ist es im Fall der Anhebung der Wissensmaßstäbe durch skeptische Irrtumsmöglichkeiten. Hat man sie einmal in Betracht gezogen, dann wird man auch bezüglich alltäglicher Wissensansprüche sagen, dass sie - streng genommen - falsch sind. Schließlich lassen sich indexikalische Ausdrücke wie ,flach' relativieren. So können wir etwa sagen, dass nichts vollkommen flach ist, aber Flugzeugflügel relativ flach sind. Eine vergleichbare Relativierung ist beim Wissen unmöglich. Von einem ,relativen' oder unvollkommenen Wissen' zu sprechen, ist ein sprachliches Unding.163 Der Wissensbegriff verhält sich also in vielerlei Hinsicht deutlich anders als typische indexikalische Ausdrücke und das spricht dagegen, ihn als indexikalischen Ausdruck zu klassifizieren.

162 163

Vgl. Brendel 2003, S. 1023. Davis 2004, S. 268.

Semantischer Kontextualismus

165

Insgesamt lässt sich resümieren, dass die Argumente für den Kontextualismus allesamt nicht wirklich überzeugen können und dass es schwerwiegende Einwände gegen den vom Kontextualismus unterstellten indexikalischen Charakter unseres Wissensbegriffes gibt. Hier die Argumente für und gegen den Kontextualismus und ihre Bewertung noch einmal im Uberblick: Semantischer Zuschreibungskontextualismus: Argumente dafür (1) Argument der deskriptiven Adäquatheit: Nur die Annahme eines indexikalischen Wissensbegriffes erfasst unsere Praxis der Wissenszuschreibung angemessen. Einwand: Es genügt, wenn wir annehmen, dass wir oft nicht sicher sind, ob die invarianten Wissensbedingungen erfüllt sind. (2) Argument des diagnostischen Potentials: Nur der Kontextualismus kann das skeptische Paradox auflösen, ohne die Plausibilität der Annahmen in Frage zu stellen. Einwand·. Die kontextualistische Lösung bringt das erkenntnistheoretische Problem ganz zum Verschwinden und bietet deshalb keine angemessene Diagnose. (3) Der Kontextualismus kann das Geschlossenheitsprinzip für Wissen bewahren, wenn es dieses Prinzip auch auf Kontexte relativieren muss. Einwand·. In der Praxis läuft diese Relativierung des Prinzips darauf hinaus, das Prinzip aufzugeben, weil die Kontexte instabil sind. (4) Argument von der Lösung des Unbestimmtheitsproblems: Nur die konversationeilen Faktoren des Äußerungskontextes können die für die Wissenszuschreibung relevanten möglichen Welten eindeutig festlegen. Einwand·. Auch der konversationeile Kontextualismus kann dieses Problem nicht vollständig lösen.

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Wissen

Semantischer Zuschreibungskontextualismus: Einwand Der Wissensbegriff verhält sich untypisch für einen indexikalischen Begriff.

3.5 Das Prinzip der Geschlossenheit des Wissens Bislang wurde davon ausgegangen, dass das Prinzip der Geschlossenheit des Wissens eine hohe intuitive Plausibilität besitzt. Jetzt soll dieses Prinzip genauer unter die Lupe genommen werden. Wenn ich weiß, dass alle Kugeln in einem Behälter rot sind, und weiß, dass daraus logisch folgt, dass eine bestimmte Kugel in dem Behälter rot ist, dann weiß ich auch, dass diese Kugel rot ist. Wir alle gehen in unseren Argumenten im Alltag genauso wie in philosophischen Beweisen"" davon aus, dass deduktive Inferenzen aus unserem bisherigen Wissen zu neuem Wissen führen. Wir betrachten deduktive Schlüsse aus dem, was wir wissen, als legitime Quelle neuen Wissens. Diese hohe anfängliche Plausibilität der Geschlossenheit des Wissens unter logischer Implikation wird auch in der gegenwärtigen Erkenntnistheorie allgemein anerkannt. 164 Strittig ist jedoch, ob dieses Prinzip absolut unantastbar ist oder ob wir es aufgrund der mit ihm verbundenen gravierenden Probleme letztlich dennoch aufgeben oder zumindest in seiner Geltung einschränken müssen. Vor allem Fred Dretske und Robert 164

Vgl. etwa Williams 1996, S. 317; Wright 1985, S. 432; K l e i n 2 0 0 4 , S. 165; L u p e r 2006, S. 1. Selbst Kritiker des Prinzips wie D r e t s k e können nicht umhin, die Anfangsplausibilität des Prinzips einzuräumen. Vgl. etwa D r e t s k e 2005, S. 18: „Ja, Geschlossenheit klingt wie ein eminent plausibles Prinzip. Wenn es sonst keinen Unterschied macht, sollten wir es deshalb aufrechterhalten." (meine Ü b e r s e t z u n g ) Bislang gibt es nur eine, allerdings ausgezeichnete, M o n o g r a p h i e zu diesem Thema: Barke 2002.

Das Prinzip der Geschlossenheit des Wissens

167

Nozick haben dafür plädiert, dieses Prinzip aufzugeben und so die ansonsten drohende Gefahr des Skeptizismus abzuwenden. 165 Dem steht die Mehrzahl gegenwärtiger Erkenntnistheoretiker gegenüber, die dieses Prinzip für absolut unverhandelbar halten. Michael Williams hält es für geradezu paradox, dieses Prinzip zu leugnen. 166 Richard Feldman hält die Aufgabe des Prinzips für „eine der unplausibelsten Ideen der Erkenntnistheorie der letzten Jahre". 167 Keith DeRose hält den Angriff auf die Geschlossenheit für „intuitiv bizarr" und regelrecht „abstoßend"; 168 Bonjour sieht darin sogar eine reductio ad absurdum derjenigen Positionen, die zur Aufgabe dieses Prinzips gezwungen sind. 169 In diesem Abschnitt soll zunächst nach einer plausiblen Formulierung des Prinzips gesucht werden. Sodann werde ich verschiedene Interpretationen des Prinzips diskutieren. Anschließend werden wir uns Dretskes klassische Einwände gegen die Geschlossenheit ansehen und auf ihre Tragfähigkeit hin untersuchen. Zum Schluss werde ich kurz darauf eingehen, welche Konsequenzen die Aufgabe des Prinzips hätte. Wenn man von dem intuitiven Prinzip der Wissensvermehrung durch Deduktion ausgeht, dann könnte ein erster Vorschlag für seine präzise Formulierung folgendermaßen lauten:170 (GW1) Wenn eine Person S weiß, dass p, und ρ logisch q impliziert 171 , dann weiß S auch, dass q. 165 Vgl. dazu Dretske 1970; Dretske 2005; Nozick 1981. '«> Williams 1996, S. 322. 167 Feldman 1999. DeRose 1995. 169 Bonjour 1987. 170 Yg|_ z u r exakten Formulierung des Prinzips die sehr klare Darstellung in Luper 2006. 171 Eine Proposition ρ impliziert logisch eine Proposition q, wenn der Satz ,wenn p, dann q' logisch wahr ist oder (anders gesagt), wenn gilt: in allen denkbaren Situationen in denen ρ wahr ist, ist auch q wahr. Man kann in diesem Fall auch sagen: ρ erzwingt die Wahrheit von q.

168

Wissen

S o formuliert ist das Prinzip eindeutig falsch, weil der Fall vork o m m e n kann, dass j e m a n d etwas weiß, aber die Implikationen dessen, was er weiß, gar nicht erkennt u n d sie deshalb auch nicht glaubt. A n s o n s t e n müsste jeder, der die Axiome"" der M a thematik kennt, automatisch alle mathematisch beweisbaren Propositionen wissen. U n d das ist natürlich nicht der Fall. A b e r auch jemand, der die Implikationen dessen, was er weiß, erkennt, wird diese Implikationen nicht i m m e r glauben. Beispielsweise deshalb nicht, weil sie zu bestimmten U b e r z e u g u n gen nicht passen, die in seinem U b e r z e u g u n g s s y s t e m sehr fest verwurzelt sind. Wissen impliziert U b e r z e u g u n g ; die ist jedoch unter logischer Implikation nicht geschlossen. Solche Einw ä n d e legen folgende M o d i f i k a t i o n nahe: ( G W 2 ) Wenn eine Person S weiß, dass p, u n d weiß, dass ρ eine P r o p o s i t i o n q logisch impliziert, und wenn S auch glaubt, dass q, dann weiß S, dass q. D i e s e F o r m u l i e r u n g schließt aus, dass S nicht glaubt, dass q, aber sie lässt v o l l k o m m e n offen, warum S glaubt, dass q. Selbst wenn j e m a n d etwas weiß u n d erkennt, dass das, was er weiß, eine bestimmte Implikation hat, ist noch nicht ausgeschlossen, dass er diese Implikation aus schlechten G r ü n d e n glaubt und deshalb kein diesbezügliches Wissen hat. Ein Richter m a g einen gültigen Beweis für die U n s c h u l d der Angeklagten kennen. D e n n o c h w ü r d e n wir davor zurückschrecken zu sagen, dass er weiß, dass die Angeklagte unschuldig ist, wenn sein G l a u b e an ihre U n s c h u l d allein auf seiner Voreingenommenheit für die Angeklagte beruht. D e s h a l b bietet sich die folgende R e f o r m u lierung an: ( G W 3 ) Wenn eine Person S weiß, dass p, u n d glaubt, dass q, weil sie weiß, dass ρ die P r o p o s i t i o n q logisch impliziert, dann weiß S, dass q. D o c h auch dieser Vorschlag muss noch etwas modifiziert werden, u m das intuitive Prinzip ganz zu erfassen. Z u m einen muss er etwas liberalisiert werden. A u c h wenn wir erkennen, dass

169

Das Prinzip der Geschlossenheit des Wissens

eine Proposition nicht streng formal-logisch, sondern nur begrifflich eine andere Proposition impliziert, soll Geschlossenheit gelten. Wenn jemand weiß, dass S ρ weiß, und außerdem weiß, dass Wissen seinem Begriff nach impliziert, dass eine Uberzeugung vorliegt, und er deshalb folgert, dass S ρ glaubt, dann ist es intuitiv sehr plausibel zu sagen, dass er weiß, dass S ρ glaubt. Außerdem soll das Prinzip ja gerade auch für die Fälle gelten, in denen jemand aus einer Menge verschiedener Prämissen (und nicht nur aus einer einzelnen), von denen er Wissen hat, eine Konklusion deduktiv ableitet. Die endgültige Formulierung des Prinzips der Geschlossenheit lautet deshalb folgendermaßen: ( G W 4 ) Wenn eine Person S Wissen von verschiedenen Propositionen hat und glaubt, dass q, weil sie weiß, dass q durch diese Propositionen logisch oder begrifflich impliziert wird, dann weiß S, dass q. Dieses Prinzip ist jedoch noch interpretationsbedürftig. Es sagt nämlich bislang nichts darüber aus, ob die Gründe, aufgrund derer die Person die Konklusion weiß, dieselben Gründe sind wie diejenigen, aufgrund derer sie von den Prämissen weiß, oder ob sie die Konklusion aufgrund von unabhängigen Gründen weiß. Nach der ersten Interpretation ergibt sich folgendes Bild: In einer deduktiven (oder begrifflichen) Folgerung werden die Gründe für die Prämissen wie durch einen Kanal an die Konklusion weitergeleitet oder transferiert. Wir erhalten so das

Transferprinzip wissensgenerierender

172

Gründe:172

Dretske 2005, S. 14-16, spricht von transmission of evidential warrant'.

170

Wissen

(TP) Wenn eine Person S Wissen von verschiedenen Propositionen hat und glaubt, dass q, weil sie weiß, dass q durch diese Propositionen logisch oder begrifflich impliziert wird, dann weiß S, dass q, und zwar aufgrund derselben Gründe, aufgrund derer sie die verschiedenen Propositionen weiß, die q implizieren. Das Geschlossenheitsprinzip lässt sich aber auch anders interpretieren, nämlich so, dass es zwar besagt, dass wir Wissen von der Implikation haben, wenn wir Wissen von Propositionen haben, die sie implizieren, aber völlig offen lässt, auf welche Weise wir dieses Wissen erlangen. Dann erhalten wir ein unspezifiziertes Prinzip der Geschlossenheit:173 (UGW) Wenn eine Person S Wissen von verschiedenen Propositionen hat und glaubt, dass q, weil sie weiß, dass q durch diese Propositionen logisch oder begrifflich impliziert wird, dann weiß S, dass q, und zwar aufgrund irgendwelcher Gründe. Dieses Prinzip schließt nicht aus, dass das Transferprinzip gilt, aber wenn das Transferprinzip falsch sein sollte, dann wäre es naheliegend (UGW) folgendermaßen zu verstehen: Damit wir aufgrund unserer gewöhnlichen Gründe die Prämissen wissen können, müssen wir ein Wissen von dem, was sie implizieren, bereits voraussetzen. Wir könnten dann also etwa von gewöhnlichen Propositionen wie „Ich habe eine Hand" aufgrund unserer Wahrnehmung nur dann wissen, wenn wir Wissen von dem, was diese Proposition impliziert, also beispielsweise dass ich kein handloses Gehirn im Tank bin, bereits aufgrund unabhängiger Gründe besitzen. Wenn das Geschlossenheitsprinzip 173

Ähnlich auch Dretske 2005, S. 16.

Das Prinzip der Geschlossenheit des Wissens

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so interpretiert wird, dann kann es natürlich nicht mehr als Prinzip der Wissensvermehrung durch Deduktion verstanden werden. Wir müssen dann umgekehrt eine ganze Menge Wissen über das, was durch eine Proposition alles impliziert wird, voraussetzen, um diese Proposition wissen zu können. Etwas pointierter formuliert: Wir müssten die Konklusion bereits wissen, um die Prämissen wissen zu können. 174 Sehen wir uns jetzt die Einwände gegen das Geschlossenheitsprinzip an. Dretske richtet seine Kritik zunächst gegen das Transferprinzip. Es hat ihm zufolge vollkommen unplausible Konsequenzen. Betrachten Sie einige Beispiele: Ich weiß aufgrund dessen, was ich sehe, dass Kekse auf dem Teller vor mir liegen. Selbstverständlich weiß ich auch, dass wenn Kekse auf meinem Teller liegen, dies begrifflich impliziert, dass es eine materielle Außenwelt gibt. Wenn das Transferprinzip gelten würde, dann müsste ich allein aufgrund meiner visuellen Wahrnehmung der Kekse wissen, dass es eine materielle Außenwelt gibt. Aber ich kann nicht allein aufgrund meiner Wahrnehmung der Kekse den Idealismus widerlegen.175 Ein Zoobesucher weiß aufgrund des Aussehens der Tiere vor ihm und aufgrund der Hinweistafel am Gehege, dass es sich bei den Tieren vor ihm um Zebras handelt. Wenn etwas ein Zebra ist, dann impliziert das begrifflich, dass es kein geschickt verkleideter Maulesel ist. Also müsste der Zoobesucher auch allein aufgrund dessen, was er sieht, wissen, dass es sich bei den Tieren nicht um geschickt verkleidete Maulesel handelt, wenn das Transferprinzip richtig wäre. Aber das kann er so nicht wissen, weil doch geschickt verkleidete Maulesel genauso aussehen wie Zebras.^76

174 175 176

Zu dieser Lesart des Prinzips Williams 1996, S. 331 f. Das Beispiel stammt aus Dretske 2005, S. 14. Dieses Beispiel aus Dretske 1970 hat inzwischen den Rang eines Klassikers.

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Wissen

Ich weiß aufgrund dessen, was ich sehe, dass ich eine Hand habe. Wenn ich eine Hand habe, dann impliziert das logisch, dass ich kein handloses Gehirn im Tank bin, für das es nur so aussieht, als hätte es eine Hand. Nach dem Transferprinzip müsste ich also allein aufgrund meiner visuellen Erlebnisse wissen, dass ich kein handloses Gehirn im Tank bin, dessen Wahrnehmungen manipuliert werden. Aber das scheint absurd zu sein. Dretske bietet folgende Diagnose dieser Beispielsfälle an: In allen Fällen ist die Konklusion eine schwer gewichtige Implikation von etwas, das ich weiß, und solche schwergewichtigen Implikationen kann ich aufgrund der Gründe, auf die sich mein alltägliches Wissen stützt, nicht wissen.177 Aber warum nicht? In allen Beispielfällen sind die Gründe Wahrnehmungen. Wahrnehmung selbst ist jedoch nicht unter logischer Implikation geschlossen.178 Ich sehe nicht alle Implikationen von etwas, was ich sehe. Das wird anhand der schwergewichtigen Implikationen besonders deutlich. Wenn ich sehe, dass Kekse auf meinem Teller liegen, dann sehe ich nicht, dass eine materielle Außenwelt existiert. Das gehört einfach nicht zum Inhalt meiner Wahrnehmung. Und wenn ich ein Zebra sehe, dann sehe ich nicht, dass es kein geschickt verkleidetes Maultier ist, denn ich würde genau das gleiche wahrnehmen, wenn ich ein so getarntes Maultier vor mir hätte. Als Zebra verkleidete Maultiere sehen genau wie Zebras aus. Noch deutlicher wird das im Fall des skeptischen Szenarios. Ich kann sehen, dass ich eine Hand habe. Aber ich kann nicht sehen, dass ich kein handloses Gehirn im Tank bin. Ich kann es bestenfalls glauben aufgrund dessen, was ich unmittelbar sehe. Und wäre ich tatsächlich ein handloses Gehirn im Tank, dann würde ich aufgrund der Manipulation durch den fiesen Neurowissenschaftler exakt die gleiche Erfahrung haben wie die, die ich habe, wenn ich eine existierende Hand sehe. Die schwergewichtigen Implikationen '77 Dretske 2005, S. 16. 178 Ebd.

Das Prinzip der Geschlossenheit des Wissens

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dessen, was ich sehe, kann ich also nicht sehen. Und deshalb kann ich von ihnen auch aufgrund meiner Wahrnehmung allein kein Wissen haben. Folglich ist das Transferprinzip nach Dretske falsch. 179 Aber das Transferprinzip ist ja, wie wir gesehen haben, nicht die einzig mögliche Interpretation des Geschlossenheitsprinzips. Was ist mit dem unspezifizierten Prinzip der Geschlossenheit? Es besagt, dass wir, um gewöhnliche Alltagspropositionen zu wissen, auf irgendeine Weise auch deren schwergewichtige Implikationen wissen müssen. Die Kritik am Transferprinzip hat gezeigt, dass wir von ihnen nicht durch unsere gewöhnlichen Wahrnehmungen wissen können. Also brauchen wir dazu unabhängige, ,höhere' Gründe. Doch es scheint ganz und gar ausgeschlossen, dass wir vorab (und gewissermaßen a priori*) von allen schwergewichtigen Implikationen unseres gewöhnlichen Wissens Wissen haben. Doch dann wird aus dem Geschlossenheitsprinzip ein modus tollerisi Um alltägliches Wissen zu haben, müssen wir Wissen von dessen schwergewichtigen Implikationen haben. Dieses Wissen haben wir nicht. Also haben wir auch kein Wissen im alltäglichen Sinne. Das Geschlossenheitsprinzip hat demnach unvermeidliche skeptische Konsequenzen. 181 Dretskes Argumentation gegen das Geschlossenheitsprinzip lässt sich auf das folgende Dilemma zuspitzen: Das Geschlossenheitsprinzip kann als Transferprinzip oder als unspezifiziertes Prinzip interpretiert werden. Wenn wir es als Transferprinzip verstehen, dann ist es falsch, weil die Wahrnehmung nicht geschlossen ist (und Vergleichbares ließe sich auch für die Erinnerung, die Introspektion usw. sagen). Wenn wir es dagegen als unspezifiziertes Prinzip verstehen, ergeben sich unvermeidliche skeptische Konsequenzen, so dass der Preis für die GeEbd. 180 D e r modus tollens ist ein Schluss der folgenden Form: Wenn p, dann q. q ist falsch. Also ist ρ falsch. 181 Dretske 2005, S. 18. 179

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schlossenheit des Wissens zu hoch ist. Also muss das Prinzip aufgegeben oder zumindest auf vernünftige Weise eingeschränkt werden. Dieser Einwand sieht zunächst sehr stark aus. Wenn man jedoch genauer hinsieht, gibt es verschiedene Möglichkeiten, das Dilemma zurückzuweisen. Zunächst zum ersten Horn: Dretskes Argument gegen das Transferprinzip. Es ist zwar richtig, dass die Wahrnehmung nicht geschlossen ist unter logischer Implikation und dass wir deshalb die schwergewichtigen Implikationen dessen, was wir wahrnehmen, nicht ihrerseits wahrnehmen. Daraus folgt aber nicht unmittelbar, dass wir aufgrund unserer Wahrnehmung nicht von diesen Implikationen wissen können. U m daraus ein gültiges Argument zu machen, braucht Dretske die Zusatzannahme, dass Wissen Uberzeugung aufgrund zwingender Gründe ist. Sobald diese Annahme hinzukommt, können wir nicht allein aufgrund unserer Wahrnehmung von schwergewichtigen Implikationen wissen. Die sind nämlich genau so konstruiert, dass die Wahrnehmung nicht zwischen der Wahrheit und der Falschheit dieser Implikation unterscheiden kann. Hätten wir als Zebras verkleidete Maulesel vor uns, dann würden wir das Gleiche wahrnehmen, als wenn wir echte Zebras vor uns haben. Sobald man jedoch Dretskes Konzeption des Wissens aufgibt und zulässt, dass es Wissen auch dann gibt, wenn wir sichere Gründe für unsere Uberzeugung haben (also Gründe, die in nahen Welten nicht in die Irre führen), dann kann man sehr wohl behaupten, dass unsere Wahrnehmung gewöhnlicher Tatsachen Wissen von ihren schwergewichtigen Implikationen ermöglicht. Wenn verkleidete Maulesel in keiner nahen möglichen Welt auftreten, dann ist unsere Wahrnehmung der Zebras ein sicherer Grund für unsere Uberzeugung, dass es sich nicht um verkleidete Maulesel handelt, 182 auch wenn das nicht zum Inhalt der Wahrnehmung selbst gehört. Dretskes Argument gegen 182

Zu Wissen durch sichere Gründe vgl. Sosa 1999, Williamson 2000, Luper 2006.

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das Transferprinzip hängt also notwendigerweise von seiner eigenen Wissenskonzeption ab, die nicht unangefochten ist. Ein zweiter Aspekt kommt hinzu. In manchen Fällen, in denen es intuitiv vollkommen unplausibel ist zu behaupten, dass wir von den vermeintlichen schwergewichtigen Implikationen dessen, was wir wissen, aufgrund unserer gewöhnlichen Gründe wissen, handelt es sich gar nicht um echte Implikationen dessen, was wir wissen. Man muss nämlich sehr streng zwischen Implikationen der Propositionen, die wir wissen, und Implikationen unseres Wissens von diesen Propositionen unterscheiden. Die Geschlossenheit bezieht sich nur auf das Erstere. Damit ich aufgrund meiner Wahrnehmung weiß, dass ich eine Hand habe, darf es nicht der Fall sein, dass ich ein Gehirn im Tank bin, dessen Wahrnehmungen manipuliert werden. In dieser Situation wäre ein Irrtum zu leicht möglich, um Wissen zuzulassen. Da jedoch die Wahrheit meiner Uberzeugung, dass ich eine Hand habe, durchaus damit verträglich ist, dass meine Wahrnehmungen manipuliert werden (auch ein Gehirn im Tank könnte eine Hand besitzen), muss ich allein aufgrund des Geschlossenheitsprinzips nicht wissen, dass ich kein Gehirn im Tank bin, um zu wissen, dass ich eine Hand habe. Das müsste ich nur wissen, um zu wissen, dass ich weiß, dass ich eine Hand habe. Ich müsste es also nur wissen, um Wissen zweiter Ordnung zu haben. Zweifellos lassen sich die skeptischen Hypothesen* auch so formulieren, dass ihre Wahrheit mit unserem gewöhnlichen Wissen und der Wahrheit dessen, was wir wissen, unverträglich sind. Dabei handelt es sich jedoch immer um (mitunter versteckte) Konjunktionen.183 Aus dem Transferprinzip ergibt sich, dass wir aufgrund unserer gewöhnlichen Gründe wissen müssen, dass diese Konjunktion falsch ist. Im Zebrafall müssen wir also beispielsweise aufgrund unserer Wahrnehmung wissen, dass es nicht der Fall ist, dass das Tier vor uns sowohl ein 83

Vgl. zum Folgenden die sehr aufschlussreichen Beobachtungen von Klein 2004, S. 178.

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Maulesel als auch ein als Zebra verkleidetes Tier ist. Im Fall des Gehirns im Tank müssen wir aufgrund unserer Sinneswahrnehmung der Hand wissen, dass es nicht der Fall ist, dass wir sowohl keine Hand haben als auch ein Gehirn im Tank sind. Bei den schwergewichtigen Implikationen, die wir nach dem Transferprinzip allein aufgrund unserer gewöhnlichen Gründe wissen müssen, handelt es sich also immer um negierte Konjunktionen. Um zu wissen, dass eine Konjunktion falsch ist, muss ich jedoch nicht wissen, dass beide durch ,und' verknüpften Propositionen falsch sind. Es genügt, wenn ich weiß, dass eine von ihnen falsch ist. Das hat nun aber schwerwiegende Konsequenzen für die von Dretske ins Feld geführten Beispiele. Wenn ich im Zebrafall aufgrund meiner Wahrnehmung weiß, dass sich vor mir ein Zebra befindet, und das Transferprinzip gilt, dann muss ich allein aufgrund dieser Wahrnehmung wissen, dass es nicht der Fall ist, dass das Tier vor mir ein Maulesel und ein als Zebra verkleidetes Tier ist. Das weiß ich aber bereits dadurch, dass ich weiß, dass es sich nicht um einen Maulesel handelt. Um zu wissen, dass die Konjunktion falsch ist, muss ich nichts darüber wissen, ob es sich um ein als Zebra verkleidetes Tier handelt. Dass ich aber aufgrund meiner Wahrnehmung weiß, dass es sich bei dem Tier nicht um einen Maulesel handelt, ist gar nicht unplausibel. Auf jeden Fall gehört zu den schwergewichtigen Implikationen meines Wissens nicht die Proposition, dass es sich um kein als Zebra verkleidetes Tier handelt. Es wäre also für das Geschlossenheitsprinzip gar nicht bedrohlich, wenn ich von dieser Proposition aufgrund meiner gewöhnlichen Wahrnehmung nicht wissen könnte. Sehen wir uns jetzt das zweite Horn von Dretskes Dilemma für das Geschlossenheitsprinzip genauer an. Ergeben sich aus dem Geschlossenheitsprinzip unvermeidlich skeptische Konsequenzen, wenn man seine Interpretation als Transferprinzip fallen lässt? Peter Klein hat das entschieden zurückgewiesen.184 Er akzeptiert, dass die Gründe für unsere Prämissen nicht un184

Dazu Klein 1981.

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sere Gründe für die Konklusion sind. Und er ist genau wie Dretske auch der Auffasung, dass wir keine unabhängigen Erkenntnisquellen für unser Wissen von der Konklusion haben. Wenn wir jedoch aufgrund von Wahrnehmung wissen, dass PJ, ..., pn, und aus diesen Prämissen eine Konklusion q ableiten, dann sind unsere Gründe für q nicht die Wahrnehmungen, sondern die Prämissen pl5 ..., pn selbst. Sie bildet ihrerseits einen zusätzlichen Grund. Zunächst sieht das zwar nach einer wundersamen Vermehrung der Gründe aus. Und wenn man die dem Transferprinzip zugrunde liegende Idee im Hinterkopf hat, dass Inferenzen Begründungen nur weiterleiten und nicht generieren, dann erscheint einem der Vorschlag wenig einleuchtend. Man darf jedoch nicht aus dem Auge verlieren, dass es hier um Wissen geht. Wenn wir - aufgrund unserer Wahrnehmung - von einer Tatsache wissen und daraus eine Konklusion ableiten, dann können wir die (erkannte) Tatsache selbst als Grund für die Konklusion betrachten und müssen nicht dasjenige, was diese Tatsache indizierte, als Grund für die Konklusion nehmen. So betrachtet kann uns Wissen neue Gründe erschließen. Darin liegt nichts Mysteriöses. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Dretskes Einwände gegen das Geschlossenheitsprinzip alles andere als zwingend sind. Seine Kritik am Transferprinzip setzt seine Wissensdefinition bereits voraus. Und selbst wenn man das Transferprinzip aufgibt, kann man das Geschlossenheitsprinzip zumindest für Wissen so interpretieren, dass es nicht zu absurden skeptischen Konsequenzen führt. Wenn man zudem berücksichtigt, dass selbst die Kritiker dem Geschlossenheitsprinzip eine große anfängliche Plausibilität bescheinigen, dann sollte man an diesem Prinzip festhalten. Allerdings gilt das nicht für die Interpretation dieses Prinzips, nach der wir zunächst und aufgrund unabhängiger Gründe wissen müssen, dass alle (einschließlich der schwergewichtigen) Implikationen einer Proposition wahr sind, bevor wir aufgrund unserer gewöhnlichen Gründe das wissen können, was diese Implikationen hat. Diese Interpretation führt nicht nur unweigerlich zu

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skeptischen Konsequenzen, sondern ist auch ganz gegen den Geist unseres intuitiven Geschlossenheitsprinzips gerichtet, das als Prinzip der Wissensvermehrung durch Deduktion fungieren soll und nicht als Prinzip der Aufdeckung von Voraussetzungen unseres Wissens. Auch wenn also einiges dafür spricht, das intuitive Geschlossenheitsprinzip aufrechtzuerhalten, ist es aufschlussreich zu klären, welche Konsequenzen aus der Aufgabe dieses Prinzips folgen würden. Dretske selbst räumt ein, dass es desaströs wäre, wenn dieses Prinzip ganz über Bord geworfen würde. Dazu spielt es eine zu wichtige Rolle in unserer alltäglichen Wissensvermehrung durch Deduktion. Stattdessen schlägt er vor, dieses Prinzip auf vernünftige Weise einzuschränken: Geschlossenheit zu bestreiten bedeutet nicht, dass man niemals wissen (herausfinden, entdecken, lernen) kann, dass q wahr ist, indem man es aus einem ρ ableitet, von dem man weiß, dass es wahr ist. Es bedeutet nur, dass man bestreitet, dass man es für jedes beliebige q kann.185

Dretske will von dem Prinzip nur den Schluss auf die von ihm so genannten schwergewichtigen Implikationen ausnehmen. Es ist nicht ganz klar, welches das Merkmal solcher schwergewichtigen Implikationen ist. Vermutlich sind es die Implikationen, die den Inhalt unserer Gründe übersteigen. Also, am Beispiel der Wahrnehmung, die Implikationen von etwas Wahrgenommenem, die selbst nicht mehr wahrnehmbar sind. Es lässt sich nun jedoch anhand von Beispielen zeigen, dass sich die von Dretske vorgeschlagene Einschränkung des Prinzips nicht konsequent durchhalten lässt.186 Wenn man Dretskes eigene Definition von Wissen durch zwingende Gründe voraussetzt, dann lässt sich zeigen, dass es Fälle gibt, in denen die Geschlossenheit selbst für ganz unverdächtige (keineswegs schwerwiegende) Implikationen von alltäglichem Wissen verletzt ist. Nehmen wir an, ich weiß aufgrund meiner WahrnehDretske 2005, S. 17, in meiner Ubersetzung. 186 Yg]_ d a z u Hawthorne 2005. Ich habe seine Beispiele aus Darstellungsgründen leicht abgewandelt.

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mung, dass ich höchstens eine Handvoll bittere Mandeln gegessen habe. Meine Wahrnehmung liefert dafür einen zwingenden Grund. Hätte ich nämlich mehr gegessen, dann hätte ich etwas anderes gesehen. Wenn ich höchstens eine Handvoll bittere Mandeln gegessen habe, dann impliziert das, dass ich weniger als zehn Hände voll bitterer Mandeln gegessen habe. Doch mein Wahrnehmungserlebnis ist kein zwingender Grund dafür, dass ich weniger als zehn Hände voll bitterer Mandeln gegessen habe. Denn hätte ich zehn Hände voll bitterer Mandeln oder mehr gegessen, dann hätten sich bei mir Halluzinationen eingestellt. Es hätte für mich fälschlicherweise so ausgesehen, als hätte ich höchstens eine Handvoll bitterer Mandeln gegessen. Also ist dieses Wahrnehmungserlebnis kein zwingender Grund dafür, dass ich weniger als zehn Hände voll bitterer Mandeln gegessen habe. Dieses Wahrnehmungserlebnis ist kein zwingender Grund für eine ganz unverdächtige Implikationenen dessen, was ich aufgrund von zwingenden Gründen weiß. Umgekehrt gibt es auch manche schwergewichtigen Implikationen von dem, was ich aufgrund zwingender Gründe weiß, für die diese Gründe ebenfalls zwingend sind. Manchmal lässt sich die Geschlossenheit eben doch auf solche Propositionen ausdehnen. Das lässt sich durch ein anderes Beispiel veranschaulichen: Ich weiß aufgrund meiner Wahrnehmung, dass sich ein Stück Schokolade in Reichweite vor mir befindet. Das impliziert, dass sich ein geistunabhängiges Objekt in Reichweite vor mir befindet. Das ist nach Dretskes Kriterium"' eindeutig eine schwergewichtige Implikation dessen, was ich sehe, weil es nicht der Inhalt meiner Wahrnehmung ist. Dennoch ist meine Wahrnehmung ein zwingender Grund für diese Implikation. Hätte sich in Reichweite vor mir nämlich kein geistunabhängiges Objekt befunden, dann hätte ich dort auch nichts gesehen. Diese Beispiele zeigen ganz deutlich, dass man das Geschlossenheitsprinzip des Wissens keiner plausiblen Restriktion unterwerfen kann, die als allgemeines Prinzip vertretbar wäre. 187 187

Hawthorne 2005, S. 38.

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Man muss es also ganz oder gar nicht aufgeben. D o c h dann stehen wir vor der folgenden Alternative: Entweder wir geben das Prinzip ganz auf und verlieren damit jegliche Möglichkeit, auf regelgeleitete Weise unser Wissen durch deduktive Inferenzen zu vermehren. Oder wir halten an diesem Prinzip ohne jede Einschränkung fest. D a sich herausgestellt hat, dass Dretskes Einwände gegen das Prinzip nicht besonders stark sind, sollten wir die zweite Option wählen und an der Geschlossenheit uneingeschränkt festhalten. 188

3.6 Wissen durch sichere Gründe Die bisherige Diskussion des Wissensbegriffes hat zum einen ergeben, dass es eine ganze Reihe von Adäquatheitsbedingungen* für die korrekte Definition von Wissen gibt: (1) Gettier-Szenarien müssen ausgeschlossen werden. (2) Das Prinzip der Geschlossenheit für Wissen sollte bewahrt werden. (3) Radikale skeptische Konsequenzen sollten vermieden werden. (4) Wissen sollte nicht als indexikalischer Begriff analysiert werden. (5) Die Wahrheitsbedingungen von Wissenszuschreibungen sollten nicht radikal unbestimmt sein. Zum anderen hat sich gezeigt, dass alle bislang erwogenen rein externalistischen Theorien die eine oder andere dieser Bedingungen verletzen. Kausale Theorien können die Gettier-Szenarien nicht völlig ausschließen. Tracking-Theorien oder zwingende Gründe verletzen das Prinzip der Geschlossenheit. Infallible Gründe gibt es praktisch nicht, so dass ein radikaler 188

Die beste weiterführende Diskussion des Prinzips der Geschlossenheit für Wissen findet sich in Dretske 2005 und Hawthorne 2005. Ein hervorragender Uberblicksartikel ist Luper 2006.

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Skeptizismus die unausweichliche Konsequenz ist. Der Zuschreibungskontextualismus versteht Wissen als indexikalischen Begriff. Und Goldmans Vorschlag, Wissen durch perfekt zuverlässige überzeugungsbildende Prozesse zu erklären, führt zum Unbestimmtheitsproblem. Es gibt jedoch noch einen weiteren, relativ neuen externalistischen Vorschlag für die Wissensdefinition, nämlich Wissen durch sichere Gründe (safe reasons) zu erklären.189 Im Grunde handelt es sich um eine Position, die Goldmans Vorschlag ziemlich ähnlich ist. Das Unbestimmtheitsproblem kann jedoch vermieden werden. Ein sicherer Grund ist ein Grund, der in allen nahe gelegenen möglichen Welten die Wahrheit der auf ihn gestützten Überzeugung garantiert. Es hätte also nicht leicht sein können, dass die durch einen solchen Grund gestützte Uberzeugung falsch gewesen wäre. Dadurch werden Gettier-Situationen ausgeschlossen. Sichere Gründe sind jedoch im Unterschied zu zwingenden (oder gar infalliblen) Gründen keine Unterscheidungskriterien zwischen Situationen, in denen die Uberzeugung wahr ist, und Situationen, in denen sie falsch ist. Ein sicherer Grund für ρ muss also nicht zwischen ρ und nicht-p Situationen diskriminieren können. Ein Beispiel: Nehmen wir an, ich glaube, dass ich kein Gehirn im Tank bin und stütze mich dabei auf meine Wahrnehmung der Außenwelt. Wenn es richtig ist, was ich glaube, dann ist meine so gestützte Uberzeugung nicht nur wahr, sondern sie hätte auch nicht leicht falsch sein können, weil die Situation, in der ich ein Gehirn im Tank wäre, von der aktualen Welt extrem weit entfernt ist. Meine Wahrnehmung ist also ein sicherer Grund für meine Uberzeugung, dass ich kein Gehirn im Tank bin, auch wenn es richtig ist, dass ich dieselben Wahrnehmungserlebnisse hätte, wenn ich ein Gehirn im Tank wäre, und ich deshalb mit Hilfe der Wahrnehmung nicht zwischen Normalsituationen und skeptischen Situationen unterscheiden kann.

189

Vgl. dazu Luper 1987, 2003; Sosa 1999; Williamson 2000.

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Wissen

Wissen durch sichere Gründe

Ein Subjekt S weiß die Proposition, dass p, genau dann wenn: (i) S überzeugt ist, dass p, (ii) die Proposition, dass p, wahr ist, (iii) Ss Uberzeugung, dass p, durch einen Grund g auf die richtige Weise verursacht wird, (iv) dieser Grund g ein sicherer Grund für ρ ist (wobei ein sicherer Grund g für ρ derart ist, dass in allen naheliegenden möglichen Welten, in denen g vorkommt, ,p' wahr ist). Der Vorschlag, Wissen durch sichere Gründe zu definieren, bietet eine Reihe von Vorteilen. Erstens stellt er sicher, dass Wissen unter logischer Implikation geschlossen ist. Das lässt sich leicht zeigen: Zunächst einmal ist unstrittig, dass Wahrheit unter logischer Implikation geschlossen ist. Wenn eine Proposition ρ eine Proposition q logisch impliziert, dann ist q in allen Welten wahr, in denen ρ wahr ist. Nehmen wir nun an, dass g ein sicherer Grund ist, der die Wahrheit von ρ im Bereich der nahen möglichen Welten garantiert. Dann folgt daraus, dass g auch die Wahrheit von q im Bereich dieser möglichen Welten garantiert, wenn q durch ρ logisch impliziert wird. G ist also auch ein sicherer Grund für q. Zweitens können skeptische Konsequenzen vermieden werden, und zwar obwohl das Prinzip der Geschlossenheit gilt. Wenn dieses Prinzip gilt, dann kann jemand nur dann wissen, dass er beispielsweise eine Hand hat, wenn er auch all das weiß, was durch diese Proposition logisch impliziert wird. Um gewöhnliche Propositionen wie die über die eigene Hand zu wissen, muss er also auch wissen, dass er kein handloses Gehirn im Tank ist. Doch das ist kein Problem, wenn dafür sichere Gründe hinreichend sind. Wenn das Erkenntnissubjekt nämlich tatsächlich kein Gehirn im Tank ist, dann garantiert sein

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Wahrnehmungserlebnis von der Hand auch in allen nahen möglichen Welten, dass er kein solches Gehirn im Tank ist. Die Welt, in der es ein solches Gehirn im Tank wäre, ist einfach zu weit entfernt, um das zu verhindern. G.E. Moore hatte also Recht, als er behauptete, dass wir aufgrund unserer alltäglichen Gründe wissen könnten, dass Idealismus und Skeptizismus falsch sind.190 Drittens lässt sich so auch erklären, warum der Skeptizismus auf den ersten Blick so plausibel erscheint, obwohl er - wie gerade gezeigt - tatsächlich falsch ist. Wie sieht diese Erklärung aus? Im Fall gewöhnlicher Propositionen sind sichere Gründe immer zugleich auch zwingende Gründe. Denn in diesem Fall gehören in den Bereich der nahen möglichen Welten, in dem sichere Gründe die Wahrheit garantieren müssen, auch Welten, in denen die Proposition falsch ist. Ich habe tatsächlich zwei Hände. Es hätte aber sehr leicht sein können, dass ich durch einen Unfall eine der beiden Hände verloren hätte. Welten, in denen das passiert wäre, gehören zu den nahen möglichen Welten, weil nicht viele Dinge hätten anders sein müssen, als sie es aktual sind, damit ich eine Hand verloren hätte. Als ich einmal Holzbalken mit einer Kreissäge gesägt habe, hätte bereits eine kleine Unaufmerksamkeit zum Verlust einer Hand führen können. Damit meine Sinneswahrnehmung von meinen beiden Händen ein sicherer Grund dafür ist, dass ich zwei Hände habe, muss es deshalb der Fall sein, dass ich diese Wahrnehmung nicht gehabt hätte, wenn ich eine Hand durch einen Unfall verloren hätte. Sichere Gründe für gewöhnliche Propositionen sind also zugleich auch zwingende Gründe für sie. Das erweckt den Anschein, dass die für Wissen erforderlichen Gründe immer zwingende Gründe sind. Aber das ist ja falsch. Es gibt Propositionen, und dazu zählt insbesondere die Negation skeptischer Hypothesen, für die ich sichere Gründe habe, ohne zwingende Gründe zu haben, und zwar weil mögliche Welten, in denen sie falsch sind, einfach zu weit von der aktua190

In diesem Sinne Sosa 1999.

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len Welt entfernt sind, um relevant zu sein. Es entsteht also nur fälschlich der Eindruck, als hätte ich kein Wissen von der Negation skeptischer Hypothesen. Was mir fehlt sind die zwingenden Gründe dafür, dass ich mich nicht in der skeptischen Situation befinde. Tatsächlich habe ich aber sichere Gründe und folglich auch das Wissen, dass ich nicht in dieser Situation bin. Viertens hat die Position sicherer Gründe auch keinerlei Affinität zum Kontextualismus und der These eines indexikalischen Wissensbegriffes. Es handelt sich vielmehr um eine Spielart des Invariantismus. Was zum Bereich naher, relevanter möglicher Welten gehört und was nicht, steht objektiv und unabhängig von der Perspektive des Betrachters fest. Damit aber liegt auch gleich eines der Hauptprobleme dieser Position offen zutage: das Unbestimmtheitsproblem. Die Frage, welche objektiven Faktoren festlegen, was in den Bereich relevanter naher Welten fällt und was nicht, stellt sich in aller Schärfe. Selbstverständlich wird man hier, wie auch bei vielen anderen wichtigen Begriffen, eine gewisse Vagheit einräumen dürfen. Doch auch für Begriffe mit unscharfen Rändern gilt, dass irgendetwas die Bedingungen korrekter Anwendung bestimmen muss. Erstaunlicherweise haben wir in der Praxis recht stabile Intuitionen darüber, ob eine Irrtumssituation relevant ist oder nicht. Wir betrachten normale Welten und in ihnen normale Bedingungen. Wenn in ihnen die Gründe die Wahrheit garantieren, sorgen sie dafür, dass aus einer wahren Uberzeugung Wissen wird. Und was als normal gilt, wird nicht durch den Betrachter und seine Perspektive festgelegt (wie der Kontextualist sagt), sondern es sind die Situationen, in denen die Gründe als Indikatoren der Wahrheit fungieren sollen - Situationen, für die unser kognitives Equipment „geschaffen" ist. Ein analoger Fall aus dem Bereich der Instrumente kann verdeutlichen, was gemeint ist. Wenn wir uns auf die Anzeige eines Kompasses in unseren Überzeugungen über die Himmelsrichtungen verlassen, dann erwerben wir Wissen, solange wir uns nicht in die Nähe des magnetischen Nordpols begeben oder größere Eisen-

Wissen durch sichere Gründe

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mengen in der U m g e b u n g sind. D e r Kompass ist ein sicherer Indikator der Himmelsrichtung, weil seine Anzeige unter B e dingungen, für die er von seinem Konstrukteur gemacht wurde, korrekt ist. F ü r die kognitiven Vermögen des Menschen müssen die normalen Welten und Situationen nicht durch die Absichten eines intelligenten Konstrukteurs festgelegt werden, sie können auch evolutionär erklärt werden durch die Art von Umwelten, in denen sie sich als angepasst bewährt haben. D a z u zählen sicher keine skeptischen Szenarien oder bizarre Irrtumssituationen. D i e genaue evolutionstheoretische G e schichte kann für unsere Zwecke offen bleiben. Wichtig ist nur, dass auf diese Weise die für die Bewertung der Gründe relevanten möglichen Welten durch objektive Faktoren festgelegt werden können. So lässt sich das Unbestimmtheitsproblem in einem vernünftigen Rahmen eingrenzen. Es gibt jedoch noch ein zweites Problem für sichere Gründe. Sicherheit ist nämlich eine Eigenschaft, die ein G r u n d unter Umständen zu leicht erringen kann. Stellen Sie sich vor, ich würde meine Uberzeugung, dass ,2 + 2 = 4 ' wahr ist, auf einen plötzlichen Einfall oder eine innere Stimme oder auf ein k o m i sches Gefühl in der Magengrube oder sonst irgend etwas Beliebiges stützen. Alle diese Gründe sind allein deshalb sicher, weil der Inhalt meiner Uberzeugung dergestalt ist, dass er nicht leicht falsch wäre. Dabei ist es im Grunde vollkommen egal, worauf ich meine Uberzeugung stütze. Jeder beliebige G r u n d für diese Uberzeugung oder andere Uberzeugungen, deren Inhalt nur in sehr weit entfernten möglichen Welten falsch wäre, wird automatisch zu einem sicheren Grund. U m sicher zu sein, müssen Gründe also unter Umständen gar keine spezifischen Qualitäten haben, ganz im Gegensatz zu zwingenden G r ü n den, die zwischen veridischen und täuschenden Situationen diskriminieren können müssen. Dieses Problem eines zu leicht zu erwerbenden Wissens lässt sich vermutlich einfach dadurch beheben, dass man Wissen nicht einfach durch sichere Gründe für einzelne Uberzeugungen analysiert, sondern dass man stattdessen verlangt, dass Uberzeugungen durch sichere Me-

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thoden hervorgebracht werden. Solche Methoden bringen Uberzeugungen mit unterschiedlichem Gehalt hervor, von denen keine einzige leicht hätte falsch sein dürfen, damit sie als sicher gelten können.191 Diese Bedingung kann auch im Fall notwendiger mathematischer Propositionen nicht auf triviale Weise erfüllt werden. Wenn ich durch einen plötzlichen Einfall zu einer wahren mathematischen Uberzeugung gelange, dann könnte ich durch diese Methode auch sehr leicht zu einer falschen Überzeugung kommen, nämlich dass ,3+3=5' ist. Deshalb ist die Methode des plötzlichen Einfalls nicht sicher. Möglicherweise handelt man sich auf diese Weise das skeptische Problem ein, dass es gar kein Wissen gibt, weil es keine sicheren Methoden gibt, die bezüglich einer Vielzahl von Uberzeugungen nicht leicht hätten in die Irre führen können. Auch der Vorschlag, Wissen durch sichere Gründe oder Methoden zu analysieren, ist nicht völlig unproblematisch. Hier wird es sicher auch zukünftig weitere Verbesserungsvorschläge geben. Dennoch scheint die Diskussion der Gettierfälle auf diese oder wenigstens eine sehr ähnliche Konzeption des Wissens hinauszulaufen. Es dürfte also keinesfalls die beliebte Diagnose zutreffen, dass jeder neue Definitionsvorschlag für Wissen ad infinitum neue Gegenbeispiele auf den Plan bringt, so dass eine abschließende Analyse von Wissen unmöglich ist.192 Mit Wissen als wahrer Überzeugung aufgrund von sicheren Methoden haben wir eine vergleichsweise präzise Ausbuchstabierung unserer vortheoretischen Intuition erreicht, dass Wissen nichtzufällig wahre Überzeugung ist.

191 Vgl. in diesem Sinne Williamson 2000, S. 123-130, und Sainsbury 1997. 192 Vgl. etwa Williamson 2000, S. 4: „This book makes no attempt to survey even the most salient analyses of knowledge proposed in recent decades and the counterexamples to which they succumb (...). It will be assumed (...) that the upshot of that debate is that no currently available analysis of knowledge in terms of belief is adequate (...)."

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Vorteile des Wissens durch sichere Gründe (1) Prinzip der Geschlossenheit des Wissens bleibt gewahrt. (2) Es gibt keine skeptischen Konsequenzen. (3) Die intuitive Plausibilität des Skeptizismus lässt sich erklären. (4) Der Invariantismus bleibt erhalten. (5) Das Unbestimmtheitsproblem kann in vernünftigen Grenzen gehalten werden.

Probleme des Wissens durch sichere Gründe (1) Gründe von Propositionen, die nur in sehr weit entfernten Welten falsch sind, erwerben die Eigenschaft der Sicherheit quasi umsonst. Mögliche Lösung: Wissen durch sichere Methoden.

3.6.1 Weitere Gegenbeispiele und neue Perspektiven Wissen ist eine wahre Uberzeugung aufgrund einer bestimmten Art von zuverlässigen Gründen, nämlich sicheren Gründen. 193 So lautet das vorläufige Ergebnis. Damit hat sich eine bestimmte Spielart der externalistischen Zuverlässigkeitstheorie bewährt. Hier könnte meine Diskussion des Wissensbegriffes enden, wenn es nicht in den 90er Jahren zwei völlig neue Theorieansätze gegeben hätte, die dieses Ergebnis zu erschüttern scheinen. Da ist zunächst Alvin Plantinga, der vorschlägt, dass der Begriff der „ordnungsgemäßen Funktion" (proper function) zum Kernbegriff der Wissensdefinition werden 193

Aus Einfachheitsgründen führe ich hier den Verbesserungsvorschlag mit Hilfe sicherer Methoden nicht mehr eigens an.

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müsse. Parallel dazu hat sich die so genannte Tugenderkenntnistheorie (virtue epistemology) entwickelt. Deren Hauptvertreter Ernest Sosa und Linda Zabzebski sind der Auffassung, dass Wissen als Uberzeugung definiert werden müsse, die sich der intellektuellen Tugend des Erkenntnissubjekts verdankt. In beiden Konzeptionen scheinen die zuverlässigen Gründe bestenfalls noch eine untergeordnete Rolle zu spielen. Plantinga hat mit Hilfe von neuen Gegenbeispielen zu zeigen versucht, dass es nicht hinreichend ist für Wissen, wenn eine wahre Uberzeugung sich auf zuverlässige Gründe (welcher Art auch immer) stützt. Da gibt es zunächst den Fall der erkenntnistheoretisch vorteilhaften Verletzung·. Lassen Sie uns annehmen, dass es eine seltene, aber spezifische Art der Hirnverletzung gibt, die immer verbunden ist mit einer Reihe von kognitiven Prozessen mit einem relevanten Maß an Spezifizität, von denen die meisten im Betroffenen zu auf absurde Weise falschen U b e r zeugungen führen. Einer dieser miteinander verbundenen Prozesse verursacht im Betroffenen jedoch eine Überzeugung, dass er eine Hirnverletzung hat. N e h m e n wir also an, S (der Betroffene, T G ) leidet an dieser Verletzung und glaubt folglich, dass er eine Hirnverletzung hat. ( . . . ) D a n n wird der relevante Prozesstyp sicher extrem zuverlässig sein, aber die daraus resultierende Uberzeugung - dass er eine Hirnverletzung hat - wird kaum einen wissensgenerierenden Grund (warrant) haben. 1 9 4

Dieser Fall zeigt Plantinga zufolge, dass wahrheitsgarantierende (zuverlässige) Gründe, die sich einer kognitiven Störung oder Fehlfunktion verdanken, nicht zu Wissen führen können. Ein zweiter Fall kommt hinzu: Stellen Sie sich vor (...), dass ich an einer seltenen Krankheit leide. Ein bestimmter Ton ist derart, dass ich, sooft ich ihn höre, der Uberzeugung bin, dass ein großes lila Tier in der Nähe ist. In meiner kognitiven Umgebung ist das, so wie die Dinge liegen, kein Indikator für die Wahrheit dieser Überzeugung (...). Aber stellen Sie sich vor, dass ich plötzlich ohne mein Wissen in eine fremde Umgebung verschleppt würde (...), und stellen Sie sich ferner vor, dass dort, sooft dieser Ton zu hören

194

Plantinga 1993a, S. 199, meine Übersetzung.

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ist, tatsächlich immer ein großes lila Tier in der Nähe ist. (...) in dieser Umgebung ist der Ton tatsächlich ein zuverlässiger Indikator für die Wahrheit der Uberzeugung; aber natürlich würde die fragliche Überzeugung (...) keinen wissensgenerierenden Grund haben (...).·195

Dieser Fall soll zeigen, dass es für Wissen nicht ausreicht, wenn Gründe die Wahrheit in Umgebungen garantieren, für die sie nicht geschaffen sind. Für Plantinga liegt deshalb Wissen dann und nur dann vor, wenn eine Uberzeugung durch zuverlässige (wahrheitsgarantierende) kognitive Vermögen hervorgebracht wird, wenn diese Vermögen einwandfrei funktionieren (also so funktionieren, wie sie funktionieren sollen) und wenn sie in einer Umgebung zur Anwendung kommen, für die sie gemacht sind. 196 Aus meiner Sicht sind diese Modifikationsvorschläge vollkommen in Ordnung. Sie sind auf einer Linie mit dem, was oben bereits zur Lösung des Unbestimmtheitsproblems gesagt wurde. Normale Funktionsweisen und normale Umgebungen müssen normativ festgelegt werden. Solche Normen müssen nicht auf Gott als intelligenten Designer zurückgeführt werden, wie Plantinga glaubt, 197 sondern lassen sich auch im Rahmen der Evolutionstheorie naturalistisch erklären. Vor allem aber handelt es sich nur um geringfügige Modifikationen an der Zuverlässigkeitstheorie und nicht um einen fundamentalen Umsturz dieser Theorie. Vertreter der Tugenderkenntnistheorie versuchen Wissen als Resultat einer intellektuellen Tugend des Erkenntnissubjekts zu definieren. Wissen wird also als Manifestation oder Ausübung einer intellektuellen Fähigkeit dieses Subjekts verstanden. 198 Diese Position hat zwei wichtige Implikationen. Erstens schließt sie rein punktuelles Wissen aus. Es kann nicht sein, dass ein Subjekt nur von einer einzigen Proposition Wis195 196 197 198

Ebd., S. 191 f, meine Übersetzung. Ebd., S. 213f. Plantinga 1993b. Vgl. Zagzebski 1999; einen guten Überblick über die Tugenderkenntnistheorie gibt Greco 2002, 2004

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sen hat und von gar nichts sonst. Ein solcher Atomismus des Wissens* wird durch die Tugenderkenntnistheorie ausgeschlossen, weil intellektuelle Fähigkeiten immer eine gewisse Bandbreite haben. Wer aufgrund seiner intellektuellen Fähigkeit etwas Spezielles weiß, der weiß aufgrund dieser Fähigkeit auch anderes oder kann es zumindest wissen. Zweitens liegen der Tugenderkenntnistheorie zufolge die wissensgenerierenden Faktoren in der Person. Wissen ist der Person also immer als ihr eigener Verdienst zuschreibbar. Deshalb wird es als Resultat von Fähigkeiten der Person verstanden. Lässt sich Wissen als Resultat der intellektuellen Tugend des Erkenntnissubjekts definieren? Die Beantwortung dieser Frage hängt entscheidend davon ab, was unter intellektueller Tugend' verstanden wird. Hier gibt es zwei Alternativen. Entweder man bezeichnet jemanden als intellektuell tugendhaft', wenn er sich in erkenntnistheoretischer Hinsicht vollkommen verantwortlich verhält, d.h., wenn er wahrheitsliebend und aufrichtig ist und wenn er so sorgfältig, wie überhaupt nur möglich, die Dinge untersucht, bevor er sich eine Uberzeugung bildet, und auch alle weiteren epistemischen Pflichten beachtet. Kurz: Jemand ist in diesem Sinne intellektuell tugendhaft, wenn er sich epistemisch verantwortlich verhält.199 Oder man reserviert das Etikett intellektuell tugendhaft' für denjenigen, der ein zuverlässiger Wahrheitsfinder ist. Intellektuelle Tugenden bestehen dann einfach in der Fähigkeit, zuverlässig Uberzeugungen zu bilden.200 Wenn man intellektuelle Tugend mit epistemischer Verantwortlichkeit gleichsetzt, dann kann sie die Wahrheit der gebildeten Überzeugungen nicht garantieren. Es ist also möglich, dass jemand, der maximal verantwortlich vorgegangen ist in seinen Erkenntnisbemühungen, dennoch die Wahrheit verfehlt. Denken Sie noch einmal an den Fall der Scheunenfassa199

200

In diesem Sinne Code 1987, Montmarquet 1993 und Zagzebski 1996, 1999. Sosa 2007, Kap. 2.

Wissen durch sichere Gründe

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den. Henry hätte sich natürlich nicht mit seinem Blick von der Straße begnügen müssen. Er hätte anhalten und das Gebäude genauer untersuchen können. Dann wäre es ihm aufgefallen, wenn es sich um eine bloße Fassade gehandelt hätte. Aber eine geringfügige Modifikation des Falls kann das Problem verschärfen. Nehmen wir an, bei dem von Henry untersuchten Gebäude handelt es sich tatsächlich um eine Scheune, aber rundherum gibt es nur Gebäude, die so geschickt als Scheunen getarnt sind, dass auch eine genauere Inspektion die Tarnung nicht entlarvt hätte. Dann könnte Henry so sorgfältig, wie überhaupt nur möglich, vorgehen und dennoch hätte er einfach Glück, wenn er vor der einzigen echten Scheune diese zutreffend für eine Scheune hielt. Wenn man die intellektuelle Tugend als erkenntnistheoretische Verantwortlichkeit versteht, dann bleibt es also möglich, dass eine wahre Uberzeugung, die aus einer intellektuellen Tugend resultiert, kein Wissen ist, weil eine Gettier-Situation besteht. 201 Solche wissensgefährdenden Situationen können ausgeschlossen werden, wenn man die intellektuelle Tugend als Fähigkeit zuverlässiger Uberzeugungsbildung versteht. In diesem Fall erweist sich der Definitionsvorschlag der Tugenderkenntnistheorie jedoch als Spezialfall der Zuverlässigkeitstheorie. Es handelt sich also um keinen völlig neuen Ansatz. Im Übrigen ist es höchst fraglich, ob die beiden Zusatzbedingungen, die die Tugenderkenntnistheorie ins Spiel bringt, wirklich akzeptabel sind. Was spricht gegen einen Atomismus des Wissens ? Warum sollte jemand nicht viele Überzeugungen, darunter auch viele sehr gut begründete und wahre Überzeugungen haben, aber eben nur in einem einzigen Fall einen Grund haben, der die Wahrheit seiner Überzeugung auf eine Art und Weise garantiert, dass man zutreffend sagen kann, dass er die Sache weiß? Mir ist nicht klar, warum diese Situation nicht wenigstens denkbar ist, auch wenn sie vielleicht in der Realität nicht vorkommt, sondern alle, die etwas wissen, vieles wissen. Außer201

Vgl. auch Levin 2004.

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dem ist nicht einsichtig, warum man einer Person nur dann korrekt Wissen zuschreiben kann, wenn die Quelle des Wissens in ihr selbst liegt. Häufig ist unser Wissenserwerb entscheidend von externen Hilfsmitteln abhängig, seien es Instrumente oder Experten, die uns wichtige Informationen geben. In diesen Fällen beruht unser Wissen entscheidend auf der Mithilfe der Umwelt und verdankt sich nicht allein unseren eigenen Fähigkeiten. Auch von dieser Seite aus muss man also ein dickes Fragezeichen hinter die These der Tugenderkenntnistheorie setzen. Unterm Strich bewährt sich also die Zuverlässigkeitstheorie des Wissens. Wissen ist wahre Uberzeugung, die auf sicheren Gründen beruht. Allerdings ist das nur näherungsweise die ganze Wahrheit. Der Vorschlag ist nicht ganz hinreichend. Das haben vor allem die Gegenbeispiele von Plantinga gezeigt. Und es bleiben auch ein paar Bedenken, weil sichere Gründe unter bestimmten Umständen ein bisschen zu leicht zu haben sind. Hier müsste man auf sichere Methoden zurückgreifen. Es bleibt auch zu erwarten, dass es weitere, noch geschickter konstruierte gettierartige Fälle in der Zukunft geben wird. Welches Resümee soll man also ziehen? Man kann sagen, dass sich alle Versuche, eine vollkommen adäquate Definition eines Begriffs zu entwickeln, als extrem schwierig erwiesen haben. Deshalb sollte man nicht mutlos werden. Ein harter Kern notwendiger Bedingungen für Wissen hat sich als extrem stabil im Angesicht immer neuer Gegenbeispiele erwiesen. Die Feinabstimmung der hinreichenden Bedingungen ist ein schwieriger Prozess, der vielleicht niemals ganz vollendet werden kann. Oder man schlägt sich auf die Seite derjenigen, die Begriffsdefinitionen generell oder für bestimmte Begriffe unmöglich halten, weil diese Begriffe sich einfach nicht in eine Konjunktion von Komponenten zerlegen lassen. 202 Das schließt jedoch nicht aus, dass die Begriffsanalyse notwendige Bedingungen zutage fördern kann. Ein gutes Beispiel ist der Begriff ,rot'. Es ist na202

Williamson 2000, S. 2-5.

Die Bedeutung des Wissens für die Erkenntnistheorie

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hezu unstrittig, dass dieser Begriff den Begriff ,farbig' begrifflich impliziert. Dennoch scheint es unmöglich, den Begriff f a r big' mit einem anderen Begriff (außer ,rot') zu verknüpfen und auf diese Weise ,rot' zu definieren. Vielleicht sollten wir uns also auch im Falle des Wissensbegriffes mit zentralen notwendigen Bedingungen zufrieden geben. Dann wäre wahre Uberzeugung aufgrund sicherer Gründe zumindest der Kern des Wissens.

3.7 Die Bedeutung des Wissens f ü r die Erkenntnistheorie Der Wissensbegriff ist ein schwieriger Begriff. Das sollte durch die Schwierigkeiten, eine einwandfreie Definition des Wissens zu finden, deutlich geworden sein. Aber ist Wissen auch ein zentraler Begriff in der Erkenntnistheorie? Hängt irgendetwas Wesentliches in der Erkenntnistheorie davon ab, dass wir zu einer befriedigenden Klärung dessen kommen, was Wissen ist? Zunächst scheint es geradezu absurd, eine solche Frage zu stellen. Schließlich ist die Erkenntnistheorie doch eine Theorie der Erkenntnis', und wenn man ,Erkenntnis' hier als Wissen versteht, dann ist Wissen das leitende Thema der Erkenntnistheorie schlechthin. Blickt man auf die angelsächsische Erkenntnistheorie, die unter dem Namen,theory of knowledge' betrieben wird, dann findet diese Annahme weitere Bestätigung. Wissen ist jedoch nicht nur der Namensgeber für die Erkenntnistheorie. Auch die tatsächliche Entwicklung der gegenwärtigen Erkenntnistheorie, vor allem nach dem Erscheinen von Gettiers Aufsatz, zeigt deutlich, dass der Wissensbegriff geradezu die gesamte Aufmerksamkeit der Erkenntnistheoretiker der letzten Jahrzehnte auf sich gezogen hat. Doch was genau ist die Bedeutung bzw. die Funktion, die Wissen in der Erkenntnistheorie hat? Diese Frage ist vor allem in der letzten Zeit immer deutlicher in den Vordergrund gerückt. In diesem Zusammenhang sind vor allem vier Vor-

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schläge diskutiert worden: (1) Wissen als stabiler Faktor im kognitiven Haushalt, (2) Wissen als Ziel unserer Erkenntnisbemühungen, (3) Wissen als Grundlage und Ausgangspunkt unserer Erkenntnisbemühungen und, schließlich, (4) die methodologische Rolle des Wissens.

3.7.1 Wissen als stabiler Faktor im kognitiven Haushalt Bereits Piaton hat in seinem Menon, wie bereits ausführlich dargelegt wurde, die Auffassung vertreten, dass Wissen im U n terschied zu bloß wahrer Uberzeugung weniger flüchtig ist, sondern im Uberzeugungshaushalt einer Person fest verankert ist. Auch dogmatische Auffassung und fanatisch vertretene Ideologien können in einer Person fest verankert sein. Aber Wissen erweist sich dann am stabilsten, wenn die Person rational ist. Ein Beispiel kann das verdeutlichen. 203 Nehmen wir an, ein Einbrecher durchsucht die ganze Nacht lang ein Haus und riskiert dabei, von den heimkehrenden Hausbesitzern oder der Polizei entdeckt zu werden. Er weiß, dass ein sehr wertvoller Diamant im Haus versteckt ist. Und das erklärt sein Verhalten. Hätte er bloß die wahre Uberzeugung gehabt, dass im Haus ein Diamant versteckt ist, ohne es zu wissen, dann könnte er diese wahre Uberzeugung beispielsweise durch die falsche Information gewonnen haben, dass ein Diamant unter dem Bett versteckt ist. Wahre Uberzeugungen können nämlich aus falschen Uberzeugungen abgeleitet sein, während das bei Wissen nicht möglich ist. In diesem Fall hätte der Einbrecher, sofern er unter dem Bett keinen Diamanten gefunden hätte, seine wahre Uberzeugung aufgegeben. Und dieser Uberzeugungswandel wäre vollkommen rational gewesen. Wenn der Einbrecher dagegen vom Diamanten im Haus weiß, ist es sehr viel schwerer, dieses Wissen auf rationale Weise zu unterminieren. Natürlich könnte der Einbrecher dogmatisch auch dann noch an seiner Überzeu203

Dieses Beispiel übernehme ich von Williamson 2000, S. 62.

Die Bedeutung des Wissens für die Erkenntnistheorie

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gung, dass ein Diamant im Haus ist, festhalten, wenn wirklich alles dagegen spricht. Und der Einbrecher könnte sogar Recht haben, weil der Diamant einfach unglaublich geschickt versteckt wurde. Aber irgendwann wird das Festhalten an seiner Uberzeugung gegen alle Evidenzen irrational. Ein rationaler Einbrecher würde seine Auffassung irgendwann aufgeben. Es lässt sich also festhalten, dass Wissen maximale Stabilität hat, sofern wir es mit rationalen Wesen zu tun haben. Haben wir damit den besonderen erkenntnistheoretischen Status des Wissens erklärt? Dass das nicht so ist, wird sofort deutlich, wenn Sie sich überlegen, warum es wichtig ist, stabile (wahre) Uberzeugungen zu haben. Wir planen (als vorausschauende Wesen) unser zukünftiges Handeln im Voraus; und wir benötigen zu Realisierung komplexer Handlungsmuster eine gewisse Zeit. Wissen als stabile wahre Uberzeugung ist also erforderlich, um eine reibungslose Handlungspraxis zu ermöglichen. Wissen hat demnach einen enormen praktischen Wert. Aber dieser Wert ist eben kein rein erkenntnistheoretischer Wert, der uns erklären kann, warum Wissen innerhalb der Erkenntnistheorie ein wichtiger, ja sogar zentraler Begriff ist.

3.7.2 Wissen als Ziel unserer Erkenntnisbemühungen

Es gilt als weithin unstrittig unter Erkenntnistheoretikern, dass Wahrheit Ziel unserer Erkenntnisbemühungen ist. So sagt bereits Gottlob Frege in seinem Aufsatz Der Gedanke·. „(...) alle Wissenschaften (haben) Wahrheit als Ziel. (...) Wahrheiten zu entdecken, ist Aufgabe aller Wissenschaften (,..)." 204 Bei Paul Moser heißt es: „Erkenntnistheoretische Rechtfertigung ist notwendiger Weise auf das so genannte kognitive Ziel der Wahrheit bezogen, insofern eine einzelne Überzeugung nur dann erkenntnistheoretisch gerechtfertigt ist, wenn sie in ge-

204

Frege 2003, S. 35.

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eigneter Weise auf das Ziel der Wahrheit gerichtet ist." 2 0 5 Laurence Bonjour ist etwas genauer: Warum sollten wir, als kognitive Wesen, daran interessiert sein, ob unsere Uberzeugungen gerechtfertigt sind? (...) Was uns überhaupt zu kognitiven Wesen macht ist unsere Fähigkeit, Uberzeugungen zu haben, und das Ziel unserer spezifisch kognitiven Bemühungen ist die Wahrheit: Wir wollen, dass unsere Uberzeugungen die Welt korrekt und genau die Welt wiedergeben. Wenn die Wahrheit irgendwie unmittelbar und problemlos zugänglich wäre (...), dann hätte der Begriff der Rechtfertigung nur geringe Bedeutung (...). Aber wir haben keinen solchen unmittelbaren und problemlosen Zugang zur Wahrheit; und aus diesem Grund kommt die Rechtfertigung ins Spiel. Wenn die Maßstäbe der erkenntnistheoretischen Rechtfertigung richtig gewählt sind, dann führt die erkenntnistheoretische Rechtfertigung unserer Uberzeugungen dazu, dass sie auch dazu tendieren, wahr zu sein. Wenn die erkenntnistheoretische Rechtfertigung nicht auf diese Weise der Wahrheit dienlich wäre (...), dann wäre sie irrelevant für unser zentrales kognitives Ziel und von zweifelhaftem Wert. (...) Erkenntnistheoretische Rechtfertigung ist deshalb am Ende der Analyse nur ein instrumenteller und kein intrinsischer Wert. 206

Bonjour sagt hier also, dass Wahrheit der einzige erkenntnistheoretische Wert ist und dass Rechtfertigung nur einen instrumenteilen Wert im Hinblick auf das Ziel der Wahrheit hat. 207 Die Rechtfertigung ist also ein geeignetes Mittel, dieses Ziel zu erreichen. Auch das Ziel der Wahrheit lässt sich noch etwas genauer spezifizieren. Wir wollen nicht einfach so viele Wahrheiten wie möglich (egal wie viele Irrtümer wir uns dabei einhandeln), sondern wir wollen wahre Uberzeugungen und keine falschen Uberzeugungen haben. Diesen Gesichtspunkt bringt William Aiston ins Spiel: „Erkenntnistheoretische Bewertung wird vom so genannten ,epistemischen Standpunkt' aus vorgenommen. Dieser Standpunkt ist durch das Ziel definiert, in 205 206 207

Moser 1985, S. 4; meine Ubersetzung. B o n j o u r 1985, S. 7f; meine Übersetzung. Ahnlich auch H o f m a n n 2007, S. 147: „ D a s einzige intrinsische epistemische Ziel oder der einzige intrinsische epistemische Wert ist die Wahrheit." H o f m a n n nennt diese Position ,Wahrheitsmonismus'. Vgl. auch Beckermann 2001, S. 575f.

Die Bedeutung des Wissens für die Erkenntnistheorie

197

möglichst großem Umfang die Wahrheit unserer Überzeugungen zu maximieren und ihre Falschheit zu minimieren."208 Ahnlich auch Crispin Sartwell: „Es wird allgemein angenommen, dass unser erkenntnistheoretisches Ziel darin besteht, wahre Uberzeugungen zu erlangen und falsche zu vermeiden, und zwar im Hinblick auf Propositionen, die uns interessieren."209 Dieses ,Doppelziel' der Wahrheit lässt sich einheitlich fassen, wenn wir als Ziel angeben, eine Proposition dann und nur dann zu glauben, wenn sie wahr ist.210 In diesem qualifizierten Sinne können wir vom Ziel unserer Erkenntnisbemühungen als der Wahrheit sprechen. Es zeichnet sich damit eine relativ einfache und klare Konzeption der erkenntnistheoretischen Ziele und Werte ab. Es gibt genau ein intrinsisches Ziel unserer Erkenntnisbemühungen, und das liegt in der Wahrheit, genauer darin, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu glauben. Alles andere hat nur einen abgeleiteten, instrumenteilen Wert. So liegt der Wert der Rechtfertigung allein darin, dass sie ein zuverlässiges Mittel zur Erlangung von wahren Überzeugungen ist. Diese Position soll ,Wahrheitsmonismus' genannt werden.211 Wahrheitsmonismus·. Wahrheit ist der einzige intrinsische Wert in der Erkenntnistheorie. Alle anderen Werte (insbesondere der Wert der Rechtfertigung) sind abgeleitet und rein instrumenteil. Das Problem des Wahrheitsmonismus liegt darin, dass er dem intuitiven Wert des Wissens nicht in geeigneter Weise Rechnung trägt. So sagt bereits Aristoteles, dass alle Menschen von

2°8

Aiston 1989, S. 83f; meine Übersetzung. Sartwell 1992, S. 172; meine Übersetzung. 2I° Hofmann 2007, S. 152; David 2001, S. 158. 211 Diesen Begriff verdanke ich Hofmann 2007, S. 147. 209

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Natur aus nach Wissen streben. 212 Er sagt nicht, dass alle Menschen nach Wahrheit streben. Wissen selbst scheint also ein Zielbegriff zu sein, und das widerspricht dem Wahrheitsmonismus, für den es keine eigenständigen erkenntnistheoretischen Ziele neben der Wahrheit gibt. Der sich hier andeutende Konflikt ist jedoch nur scheinbar. Wenn Aristoteles von ,Wissen' spricht, meint er nämlich nicht eine gut begründete oder nicht-zufällig wahre Uberzeugung im Unterschied zu einer bloß wahren Überzeugung, sondern wahre Uberzeugungen über die Ursachen von Phänomenen. Aristoteles will also sagen, dass wir uns von Natur aus nicht für x-beliebige Wahrheiten interessieren, sondern nach einer Erklärung sowie einem systematischen und tiefgreifenden Verständnis von Tatsachen suchen. Wir wollen begreifen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Aber dieses Ziel widerspricht dem Wahrheitsmonismus überhaupt nicht. Auch der Wahrheitsmonist kann nämlich sagen, dass uns unter den Wahrheiten eben besonders die explanatorisch wertvollen Wahrheiten interessieren. Warum der vermeintliche Einwand ins Leere läuft, lässt sich auch noch auf eine andere Weise verständlich machen. Wir sind bislang davon ausgegangen, dass Wissen einen besonderen erkenntnistheoretischen Status gegenüber bloß wahrer Uberzeugung hat. Wissen, so wie es Aristoteles versteht, ist aber nicht durch seinen besonderen erkenntnistheoretischen Status ausgezeichnet, sondern durch seinen Inhalt. Es steht also nicht in Opposition zu bloß wahrer Überzeugung, sondern als Kenntnis von den Ursachen in Opposition zur Kenntnis von bloßen Oberflächenphänomenen. Ein wirklich ernstzunehmender Einwand gegen den Wahrheitsmonismus ist die so genannte Menon-Intuition. Das ist die Intuition, die Piaton in seinem Menon ausdrückt, wenn er sagt, dass „die Erkenntnis höher zu schätzen (ist) als die richtige Überzeugung" (98a). Viele gegenwärtige Erkenntnistheoretiker teilen diese Intuition, wonach Wissen erkenntnistheore212

Aristoteles 1978, 980a21.

Die Bedeutung des Wissens für die Erkenntnistheorie

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tisch besser oder mehr wert ist als bloß wahre Überzeugung. 213 Diesen „Mehrwert" des Wissens kann der Wahrheitsmonismus offenbar nicht erklären. Was sollte dem Wissen diesen Mehrwert verleihen können, wenn der einzige intrinsische Wert die Wahrheit ist? Es gibt insgesamt drei mögliche Strategien, mit der MenonIntuition umzugehen. Erstens kann man sie als Grund verstehen, den Wahrheitsmonismus aufzugeben und entweder neben der Wahrheit weitere erkenntnistheoretische Ziele annehmen (Pluralismus) oder ein stärkeres Gesamtziel anzunehmen. Zweitens kann man versuchen, die Menon-Intuition allem Anschein der Unverträglichkeit zum Trotz dennoch im Rahmen des Wahrheitsmonismus zu erklären. Und drittens kann man schließlich versuchen, die Menon-Intuition weg zu erklären. Die meisten Vertreter des Pluralismus sind der Auffassung, dass die Komponente des Wissens, die neben der Wahrheit einen eigenständigen, intrinsischen Wert hat, die Rechtfertigung ist.214 Eine wahre Uberzeugung ist gerechtfertigt, wenn sie kausales Produkt eines psychologischen Prozesses ist, der bestimmte Bedingungen erfüllt. Dazu kann etwa zählen, dass der Prozess zuverlässig wahre Uberzeugungen hervorbringt oder dass er den Normen der Rationalität folgt. Eine gerechtfertigte wahre Uberzeugung wäre demnach aufgrund ihrer Kausalgeschichte wertvoller als eine bloß wahre Uberzeugung, und zwar deshalb, weil sie das Produkt eines aufgrund seiner Zuverlässigkeit oder Rationalität intrinsisch wertvollen Prozesses ist. Ein solcher Werte-Pluralismus begegnet uns z.B. auch bei Kunstwerken. Ihr Wert hängt nicht nur von den ästhetischen Eigenschaften des Werkes selbst ab. Sonst wäre eine perfekte Reproduktion genauso viel wert wie ein Original oder das ur213

214

Vgl. dazu DePaul 2001, Riggs 2002, Zagzebski 2004, Koppelberg 2005. Ich bin den Implikationen dieser Intuition in Grundmann 2002b nachgegangen. Dezidierte Pluralisten sind DePaul 2001, Koppelberg 2005, Kvanvig 2003. Ich habe diese Position in Grundmann 2002b erwogen.

200

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sprüngliche Brillo-Verpackungsmaterial genauso viel wert wie Warhols Brillo-Boxes, die exakte Kopien dieses Verpackungsmaterials sind. Die Kausalgeschichte des Werkes gibt diesem also einen künstlerischen Mehrwert. Der Haupteinwand gegen den Werte-Pluralismus in der Erkenntnistheorie besteht darin, dass unabhängige Werte in einen Konflikt geraten können und für diesen Konfliktfall die Priorität der Werte nicht geregelt ist. Frank Hofmann beschreibt diese Situation folgendermaßen: Zwischen den verschiedenen postulierten epistemischen Grundzielen drohen Konflikte. Es ist nämlich nicht garantiert, dass alle Ziele in jedem Fall zugleich erreicht werden können. Es könnte Situationen geben und gibt sie wahrscheinlich auch, in denen nicht alle Ziele erreicht werden können. Betrachten wir der Einfachheit halber denjenigen Pluralismus, der zum Wahrheitsziel noch das Ziel der Rechtfertigung (oder Rationalität) als zweites, intrinsisches Ziel postuliert. D a n n gibt es wahrscheinlich Situationen, in denen nicht sowohl Wahrheit als auch Rechtfertigung erreichbar sind. 215

Hofmann sagt hier ganz richtig, dass der Fall eintreten kann, dass das eine Ziel (Wahrheit) erreicht wird, ohne dass das andere Ziel (Rechtfertigung) erreicht wird und umgekehrt. Daraus ergibt sich jedoch nicht unmittelbar ein Problem. Denn erstens schließt die Verwirklichung des einen Ziels die Verwirklichung des anderen Zieles nicht prinzipiell aus. Beide Ziele sind miteinander verträglich. Es kann Uberzeugungen geben, die zugleich wahr und gerechtfertigt sind. Wenn wir zwei eigenständige Ziele haben, dann bilden wir normalerweise eine integrative Zielvorstellung. Wenn ich etwa durstig und hungrig bin, dann strebe ich eine Situation an, in der sowohl mein Durst gelöscht als auch mein Hunger gestillt wird. Und sollte der Pluralismus wahr sein, dann wäre eben Wissen meine integrative Zielkonzeption. Zweitens können auch die Strategien der Verfolgung beider Einzelziele nicht miteinander in Konflikt geraten, weil Rechtfertigung und Wahrheit im Wissen systema-

215

H o f m a n n 2007, S. 159f.

Die Bedeutung des Wissens für die Erkenntnistheorie

201

tisch verbunden sind. Nehmen wir zunächst an, dass ein rechtfertigender Prozess ein zuverlässiger Prozess ist. In diesem Fall ist der Versuch, zu gerechtfertigten Uberzeugungen zu gelangen, auch immer ein Versuch, geeignete Mittel zur Erreichung der Wahrheit in Anwendung zu bringen. Die beiden intrinsischen Ziele stehen nämlich auch noch in einer Zweck-MittelRelation zueinander. Wenn ich das Ziel der Wahrheit rational verfolge, kann ich das nicht anders tun, als zu versuchen, mein zweites Ziel, die Rechtfertigung, zu realisieren. Und wenn ich das Ziel der Rechtfertigung verfolge, dann tue ich damit auch automatisch etwas, was mich meinem Ziel der Wahrheit näher bringt. Nehmen wir jetzt alternativ dazu an, dass ein rechtfertigender Prozess ein rationaler Prozess ist. In diesem Fall ist die Ausübung eines rationalen Prozesses nicht unbedingt der beste Weg zur Wahrheit. Aber als rationale Wesen haben wir gar keine andere Wahl, als uns beim Verfolgen des Wahrheitsziels nach den Normen der Rationalität zu richten. Auch in diesem Fall kann es also zu keinem Konflikt bei der Verfolgung der beiden unabhängigen Ziele kommen. Da die Ziele weder unverträglich sind, noch ein Konflikt bei ihrer Verfolgung auftreten kann, halte ich das vermeintliche Konfliktproblem für ein Scheinproblem. Allerdings wird der Pluralist dem Wissen keinen eigenständigen intrinsischen Wert zusprechen können, sondern verschiedenen seiner Komponenten (wie Wahrheit und Rechtfertigung) einen intrinsischen Wert zuschreiben. Der Pluralist kann also zwar die Menon-Intuition, aber nicht die systematische Bedeutung des Wissens für die Erkenntnistheorie erklären. 216 Beides zusammen wollen die so genannten Tugend-Erkenntnistheoretiker erklären. 217 Sie verstehen Wissen als durch intellektuelle Tugend erworbene wahre Uberzeugung. Die intellektuelle Tugend kann dabei als zuverlässige Fähigkeit einer Person verstanden werden, Wahrheiten zu entdecken, oder 216 217

Vgl. Grundmann 2002b, S. 122. Anders dagegen Koppelberg 2005, S. 50. Vgl. Sosa 2007, Zagzebski 2004.

202

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aber auch als deren erkenntnistheoretische Verantwortlichkeit. Dem Gesamtkomplex der durch intellektuelle Tugend erworbenen Uberzeugung soll ein intrinsischer Wert zukommen, der sich nicht aus der Summe seiner Teile ergibt, so dass ein Pluralismus vermieden wird. Auf diese Weise lässt sich recht gut erklären, warum Wissen der höchste erkenntnistheoretische Wert ist. Weniger gut lässt sich jedoch erklären, wieso wahre Uberzeugung, die nicht durch intellektuelle Tugend zustande gekommen ist, auch einen erkenntnistheoretischen Wert hat, wenn dieser auch geringer ist als der des Wissens. Es bietet sich an, dass der Wert des Ganzen auf seine Teile .abstrahlt'. Aber wie sollte das auch dann der Fall sein können, wenn der Teil (die bloß wahre Uberzeugung) unabhängig vom Ganzen (dem Erwerb durch intellektuelle Tugend) besteht? 218 Vielleicht könnte man darauf entgegnen, dass wahre, aber nicht durch intellektuelle Tugend erworbene Uberzeugungen oder falsche, aber durch intellektuelle Tugend erworbene Uberzeugungen dem Ziel wahrer, durch intellektuelle Tugend erworbener Überzeugung in relevanter Hinsicht ähnlich sind oder sich diesem Ziel wenigstens in relevanter Hinsicht annähern, so dass sie in Hinblick auf das Ideal des Wissens einen zwar geringeren, aber immer noch nennenswerten erkenntnistheoretischen Wert haben. Es zeichnet sich jedoch eine recht vage Gesamtkonzeption ab, deren Erklärungskraft in Hinblick auf unsere Intuition letzten Endes unklar bleibt. Unter den Alternativen zum Wahrheitsmonismus schneidet der Pluralismus klarerweise am besten ab. Er kann die Menon-Intuition erklären, zugleich hat er aber auch keine Probleme damit, den erkenntnistheoretischen Wert bloß wahrer Uberzeugungen zu erklären. Und der vermeintliche Zielkonflikt stellt sich in der Praxis gar nicht ein. Dennoch ist diese Position weniger einheitlich und systematisch als der Wahrheitsmonismus. Das liegt einerseits daran, dass hier mehrere unabhängige Werte ins Spiel kommen, und andererseits daran, 218

Vgl. Hofmann 2007, S. 165f.

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dass der Pluralismus irgendwie noch verständlich machen müsste, warum uns an der Rechtfertigung unabhängig von ihrem instrumenteilen Wert soviel liegt.219 Deshalb soll jetzt untersucht werden, ob auch der Wahrheitsmonismus entgegen allem Anschein die Menon-Intuition erklären kann. Diese Auffassung wurde kürzlich von Frank Hofmann vertreten. Den Grundgedanken seiner Überlegung gibt sein folgendes Resümee gut wieder: Es konnte im Rahmen des Wahrheitsmonismus gut verständlich gemacht werden, wieso Wissen intuitiv einen so hohen Wert darstellt. Im Wissen sind nämlich zwei Merkmale kombiniert, wobei jedes von diesen einen epistemischen Wert ins Spiel bringt. Das Merkmal der Wahrheit ist selbst ein intrinsischer epistemischer Wert, und das Merkmal der Rechtfertigung impliziert einen instrumentellen Wert der bei der Meinungsgenese beteiligten Prozesse. Dieser Wert kommt im übertragenen Sinne - als sekundärer Wert - auch der Person zu, die Träger dieser Prozesse ist. Auf diese Weise konnte die Mehrwert-Intuition [die MenonIntuition] gut eingefangen werden (...).·220

Hofmann argumentiert also wie folgt: Eine Uberzeugung hat dem Wahrheitsmonismus zufolge ihren maximalen erkenntnistheoretischen Wert erreicht, wenn sie wahr ist. Dieser Wert kann durch eine bestimmte Genese (etwa dadurch, dass sie Resultat eines zuverlässigen Prozesses ist) nicht mehr gesteigert werden. Aber es gibt noch andere potentielle Träger von erkenntnistheoretischem Wert, dazu zählen die beteiligten Prozesse und die Personen, die diese Prozesse in Anwendung bringen. Wenn Wissen vorliegt, so impliziert das, dass die wahre Uberzeugung durch einen zuverlässigen Prozess in einer Person hervorgebracht wurde. Wissen impliziert also die Existenz zuverlässiger Prozesse und die Existenz von wissenden Personen. Die beteiligten Prozesse und Personen tragen im Fall von Wissen zusätzlich einen instrumentellen Wert in Hinblick auf 219

220

DePaul 2001, S. 182, sieht dieses Desiderat sehr deutlich. Ich kenne jedoch bislang keine befriedigende Antwort der pluralistischen Erkenntnistheoretiker auf diese Frage. Hofmann 2007, S. 23.

204

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die Wahrheit. Doch daraus folgt, dass im Fall des Wissens mehr erkenntnistheoretische Werte verwirklicht sind als im Fall der bloß wahren Uberzeugung. Auch der Wahrheitsmonismus kann also erklären, warum es erkenntnistheoretisch besser ist, Wissen zu haben als bloß wahre Uberzeugung. Die von Hofmann angebotene Überlegung erklärt zwar, warum Wissen die Existenz von mehr Werten impliziert, als es bloß wahre Uberzeugung tut. Sie erklärt auch, warum eine Situation, in der man Wissen hat, erkenntnistheoretisch besser ist, als eine Situation, in der man eine bloß wahre Uberzeugung hat. Aber sie erklärt nicht das, was sie eigentlich erklären sollte, nämlich dass Wissen besser ist als wahre Uberzeugung. Das war die ursprüngliche Menon-Intuition. Diese Intuition wird nicht erklärt, weil Wissen identisch ist mit einer Überzeugung, die eine bestimmte Vorgeschichte hat. Wissen ist also eine Art von Überzeugung. In Bezug auf die Überzeugungen hatte aber auch Hofmann angenommen, dass sich der Wert wahrer Überzeugungen nicht mehr steigern lässt, solange der Wahrheitsmonismus vorausgesetzt wird. Insofern bleibt festzuhalten, dass der Wahrheitsmonismus die Menon-Intuition letztlich nicht erklären kann. Um die Plausibilität des Wahrheitsmonismus besser beurteilen zu können, ist das folgende Gedankenexperiment aus dem Umkreis der Menon-Intuition hilfreich. Stellen Sie sich vor, Sie hätten in erkenntnistheoretischer Hinsicht das ,ganz große Los' gezogen. Ein kosmischer Zufall hat es gut mit Ihnen gemeint und Sie werden durch eine Art Blitzschlag aus heiterem Himmel mit allen wahren Überzeugungen ,beschenkt', die es überhaupt gibt, einschließlich der Überzeugung, dass es alle wahren Überzeugungen sind, und zwar ohne dass Sie dabei verletzt werden. Wir wollen hier davon absehen (und dürfen das auch im Gedankenexperiment), wie unwahrscheinlich ein solches Ereignis ist. Es genügt, dass es denkbar ist. Und wir wollen auch von den Problemen absehen, dass Sie vermutlich gar nicht die kognitiven Kapazitäten für eine solche Veränderung haben und dass eine so radikale kognitive Veränderung

Die Bedeutung des Wissens für die Erkenntnistheorie

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möglicherweise auch Ihre personale Identität bedroht. Worauf es ankommt ist, dass Sie alle Tatsachen der Welt kognitiv korrekt erfassen, ohne eine einzige von ihnen zu wissen. Es handelt sich also nicht um den Zustand von Allwissenheit, denn die Wahrheit jeder Ihrer Uberzeugungen ist zufällig, sondern um einen Zustand der globalen Transparenz aller Tatsachen. Sie glauben alles und nur das, was der Fall ist. Aber wäre der Blitzschlag geringfügig anders ausgefallen, dann hätten Sie größtenteils falsche Uberzeugungen gehabt oder eben gar keine. Sie haben also keinerlei Wissen. Aber Sie haben nicht einmal gerechtfertigte Uberzeugungen, weil sich Ihre Uberzeugungen dem reinen Zufall verdanken und diese deshalb weder zuverlässig noch rational erworben wurden. Nennen wir diese Situation die Situation des erkenntnistheoretischen Jackpots. Wie würden Sie diese Situation intuitiv bewerten? Einerseits haben Sie maximales Glück gehabt. Aber andererseits besteht auch ein erkenntnistheoretisches Defizit. Sie würden vermutlich nicht sagen, dass die Situation nicht hätte besser ausfallen können. Die entscheidende Frage ist, was der Wahrheitsmonismus zum Szenario des erkenntnistheoretischen Jackpots sagt oder sagen muss. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als könne er das intuitive Defizit in der vorgestellten Situation nicht erklären. Wenn Wahrheit unser ganzes und einziges Ziel ist, dann bleibt doch in der Situation des erkenntnistheoretischen Jackpots nichts zu wünschen übrig. Damit hätte der Wahrheitsmonismus jedoch eine kontraintuitive Konsequenz. Der erste Anschein trügt jedoch. Auch der Wahrheitsmonist kann nämlich das Defizit sehr wohl erklären. Wenn Wahrheit das einzige intrinsische Ziel ist, dann sind zuverlässige Methoden der Uberzeugungsbildung instrumenteil wertvoll. Uber diese Methoden verfügen Sie jedoch in der Situation des erkenntnistheoretischen Jackpots nicht. Besser wäre es gewesen, wenn die wahren Überzeugungen durch zuverlässige Methoden erworben worden wären. Dann hätten Sie nämlich auch unter anderen Umständen (wenn sich der Zufall nicht ereignet hätte) wahre Uberzeugungen gehabt.

206

Wissen

Die Bilanz für den Wahrheitsmonismus sieht gar nicht schlecht aus. Er kann zwar die Menon-Intuition, dass Wissen erkenntnistheoretisch mehr wert ist als bloß wahre Uberzeugung, nicht vollständig erklären. Aber er kann etwas erklären, das sehr nahe verwandt damit ist, nämlich warum es erkenntnistheoretisch besser ist, Wissen zu haben als bloß wahre Uberzeugung zu haben. In Situationen des Wissens liegen, wie Hofmann gezeigt hat, mehr erkenntnistheoretische Werte vor, auch wenn die gewusste Überzeugung selbst nicht mehr wert ist als die bloß wahre Uberzeugung. Aber wenn wir das erkennen, sollten wir uns fragen, ob wir wirklich sicher sind, dass wir intuitiv Wissen besser bewerten als bloß wahre Uberzeugung, oder nicht vielmehr die Wissenssituation besser bewerten als die Situation, in der wir bloß wahre Überzeugungen haben. Meines Erachtens sind die Intuitionen hier gar nicht so klar fixierbar. Hinzu kommt, dass sich die Menon-Intuition auch auf verschiedene Weise wegerklären lässt. Man erklärt eine Intuition weg, wenn man zeigen kann, dass sie fehlerhaft zustande gekommen ist und deshalb als erkenntnistheoretischer Grund nicht ernst genommen werden muss. Eine naheliegende Möglichkeit, die Menon-Intuition wegzuerklären ist die folgende: Wissen ist tatsächlich mehr wert als bloß wahre Überzeugung, weil es in rationalen Wesen stabiler ist und deshalb eine bessere Basis für unsere praktische Orientierung in der Welt bietet. Man ist geneigt, diese Einsicht abzukürzen und zu sagen, dass Wissen also mehr wert ist als bloß wahre Überzeugung, und dabei vergisst man, dass dies ja nur in praktischer Hinsicht gilt. Wissen ist also gar nicht simpliciter mehr wert als wahre Überzeugung, sondern Wissen ist nur praktisch mehr wert als wahre Überzeugung. Da man diese Qualifikation leicht übersieht, meint man am Ende, dass dadurch der größere Wert des Wissens auch für die Erkenntnistheorie gezeigt sei. Aber das ist eben falsch. Es gibt jedoch noch eine weitere Möglichkeit, die MenonIntuition wegzuerklären: Wahrheit ist uns normalerweise nicht direkt zugänglich, sondern wir orientieren uns zunächst einmal

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an unseren Rechtfertigungskriterien, die gute Indikatoren der Wahrheit sind. Deshalb schätzen wir diese Indikatoren. Wir schätzen sie zwar nur als gut geeignete Mittel, um unser Ziel der Wahrheit zu erreichen, nicht als Wert an sich. Aber dieser Umstand gerät leicht in Vergessenheit, weil Rechtfertigungskriterien für uns eben wichtig und interessant sind (egal aus welchem Grund). Wenn wir nun einen Fall von Wissen vor uns haben und einmal annehmen, dass Wissen Wahrheit und Rechtfertigung zumindest als Komponenten enthält, dann passiert es leicht, dass wir zum intrinsischen Wert der Wahrheit den instrumenteilen Wert der Rechtfertigung dazuzählen. Aber das ist natürlich ein Fehler, denn die Verwendung eines geeigneten Mittels fügt dem Wert des verwirklichten Ziels nichts an Wert hinzu und kann dies auch nicht, solange das Mittel keinen eigenen intrinsischen Wert hat. Dieser Fehler schleicht sich jedoch sehr leicht ein. 221 Der Wahrheitsmonismus kommt am Ende nahe heran an eine Erklärung der Menon-Intuition, auch wenn er sie nicht vollständig erklären kann. Dieser Mangel kann jedoch kein entscheidendes Argument gegen den Monismus sein, weil die Intuition selbst möglicherweise fehlerhaft zustande gekommen ist. Als Alternative zum Monismus darf man jedoch auch den Pluralismus nicht vollkommen vernachlässigen. E r bietet zwar ein etwas uneinheitlicheres Gesamtbild, kann aber die MenonIntuition vollständig erklären. Beide Positionen räumen Wissen jedoch nicht den Status eines primären erkenntnistheoretischen Ziels ein. Der Monismus sieht in der Wahrheit das alleinige Ziel und der Pluralismus stellt diesem Ziel als weiteres intrinsisches Ziel die Rechtfertigung an die Seite. Wissen selbst hat auch aus der Perspektive des Pluralisten keinen eigenständigen intrinsischen Wert.

221

Vgl. in diesem Sinne Beckermann 2001, S. 579; DePaul 2001, S. 180.

208

Wissen

3.7.2.1 Ist Wissen ein inkohärenter"" Begriff? Es ist in letzter Zeit von verschiedener Seite aus der Verdacht geäußert worden, dass unser alltäglicher Begriff des Wissens inkonsistent* oder zumindest nicht kohärent sein könnte. 222 Diese These geht ursprünglich auf Crispin Sartwell zurück. Sein Argument lautet in etwa folgendermaßen: 223 Einerseits ist Wissen seinem Begriff nach ein reiner Zielbegriff. Es ist analytisch wahr, dass Wissen das Ziel unserer Erkenntnisbemühungen ist. Es ist außerdem begrifflich wahr, dass Wahrheit das alleinige Ziel unserer Erkenntnisbemühungen ist. Deshalb müsste Wissen seinem Begriff nach wahre Uberzeugung sein. Andererseits ist es aber auch begrifflich wahr, dass Wissen die Komponenten der wahren Uberzeugung und der Rechtfertigung enthält. Da die Rechtfertigung kein Teil unseres erkenntnistheoretischen Ziels ist, sondern nur ein Mittel zu diesem Ziel darstellt, wäre Wissen demnach kein reiner Zielbegriff. Ein Begriff, der aber zugleich ein reiner Zielbegriff und kein reiner Zielbegriff ist, ist inkohärent, ja sogar inkonsistent. Dieses Argument lässt sich besser überschauen, wenn man es in seine Normalform bringt: (1) Wissen bezeichnet ausschließlich das Ziel unserer Erkenntnisbemühungen. (analytisch wahr) (2) Wahre Uberzeugung ist das alleinige Ziel unserer Erkenntnisbemühungen. (analytisch wahr) (3) Wissen beinhaltet wahre Uberzeugung und Rechtfertigung. (analytisch wahr) (4) Wissen bezeichnet mehr als das Ziel unserer Erkenntnisbemühungen. (aus (2) und (3)) (5) (1) und (4) stehen im Widerspruch zueinander.

222 Yg]_ ¿aZu vor allem Sartwell 1992 und Beckermann 2001und 2002. 223 Vgl. insbesondere Sartwell 1992, S. 172-176.

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Wenn sich jedoch durch Begriffsanalyse und deduktive Inferenz allein ein Widerspruch ableiten lässt, dann muss der analysierte Begriff selbst widersprüchlich sein. Nach dem, was im vorherigen Abschnitt gesagt wurde, ist es leicht, den Fehler in dieser Argumentation zu benennen. Wenn der Wahrheitsmonismus richtig ist, dann ist (1) falsch. Und wenn der Pluralismus richtig ist, dann sind sogar (1) und (2) falsch. Es ist aber auch möglich, die Gültigkeit des Arguments von Sartwell in Zweifel zu ziehen. Es liegt nämlich die Vermutung nahe, dass die Wissensbegriffe, die in (1) und (3) verwendet werden, nicht dieselben sind. Um das zu zeigen, müssen wir uns noch einmal Aristoteles' Diktum, dass alle Menschen von Natur aus nach Wissen streben, vor Augen führen. Ich hatte oben gesagt, dass Wissen hier so zu verstehen ist, dass es ein systematisches und tief greifendes Verständnis der Dinge bezeichnet. Das lässt sich noch etwas genauer explizieren. Aristoteles meint, dass sich der Mensch nicht mit der isolierten Kenntnis von einzelnen Tatsachen zufrieden gibt, sondern dass er an einem theoretischen Verstehen der Welt interessiert ist. Der Mensch sucht also nicht nach isolierten Wahrheiten, sondern nach wahren Theorien über die Welt, die formal so charakterisiert werden können, dass sie Axiome* bereitstellen (die die kausalen Grundprinzipien der Welt beschreiben), aus denen sich dann Erklärungen in Form von Theoremen"" ableiten lassen. Wissen in diesem Sinne wäre dann ein systematischtheoretischer Zusammenhang von Wahrheiten. Am besten ließe es sich als wissenschaftliche Wahrheit mit explanatorischer Kraft bezeichnen. Ich werde Wissen in diesem Sinne als Wissen w bezeichnen. Wenn man Wissen in diesem Sinne versteht, lässt sich vermutlich die Prämisse (1) in Sartwells Argument kaum bestreiten, auch wenn es dann keine analytische Wahrheit wäre. Der Wissensbegriff, der uns in der Erkenntnistheorie besonders beschäftigt und dem ich auch in dieser Einführung großen Raum geschenkt habe, ist jedoch ein ganz anderer. Danach bezeichnet Wissen keine bestimmte Art von Wahrheiten, sondern eine starke epistemische Position gegen-

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Wissen

über einer Wahrheit. Für eine wahre Überzeugung, die ich weiß, habe ich Wahrheitsgarantierende Rechtfertigungsgründe. Um den besonderen erkenntnistheoretischen Status dieses Wissens zu indizieren werde ich deshalb von WissenE sprechen. Von Wissen in diesem Sinne ist in Sartwells Argument in (3) und (4) die Rede. Wenn man das berücksichtigt, dann gelingt es Sartwell nicht, mit seinem Argument eine Inkonsistenz im Wissensbegriff zu zeigen. Er zeigt dann nur, dass wir verschiedene Wissensbegriffe haben. Das wird deutlich, wenn wir uns sein Argument in der Normalform noch einmal ansehen, und zwar dieses Mal mit den Indizes am Wissensbegriff: (1') Wissen w bezeichnet ausschließlich das Ziel unserer Erkenntnisbemühungen. (2) Wahre Uberzeugung ist das alleinige Ziel unserer Erkenntnisbemühungen. (analytisch wahr) (3') WissenE beinhaltet wahre Uberzeugung und Rechtfertigung. (analytisch wahr) (4') WissenE bezeichnet mehr als das Ziel unserer Erkenntnisbemühungen. (aus (2) & (3) In dieser Reformulierung des Arguments wird sofort deutlich, dass es keinen Widerspruch zwischen den Sätzen (1') und (4') gibt. 3.7.3 Wissen als Grundlage und Ausgangspunkt unserer Erkenntnisbemühungen

Wissen ist also kein Ziel unserer kognitiven Anstrengungen, sondern die Wahrheit ist dieses Ziel (oder Wahrheit und Rechtfertigung, wenn der Pluralismus zutreffen sollte). Doch welche Funktion hat das Wissen dann im Rahmen unserer Erkenntnisbemühungen? Vielleicht hilft es, wenn man die Blickrichtung einfach umkehrt und einmal überlegt, ob Wissen, wenn schon nicht das Ziel, so doch vielleicht die Basis derjenigen kognitiven Bemühungen ist, die wir Rechtfertigung oder Begründung

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nennen. Wissen wäre dann die Grundlage oder der Grund jeder erkenntnistheoretischen Rechtfertigung, also dasjenige, was die zu rechtfertigende Uberzeugung rechtfertigt. Dieser Gedanke ist nicht neu, sondern bildet den Kern der cartesianischen Konzeption der Rechtfertigung. Danach kann und muss man in der Kette der Rechtfertigung immer bis zu einem unzweifelhaft gewissen Wissen zurückgehen. Basis jeder Rechtfertigung wäre demnach ein Wissen besonderer Art, nämlich ein Wissen, dessen Wahrheit unfehlbar und unbezweifelbar verbürgt ist. Dass die Ketten der Rechtfertigung erst in unbezweifelbaren Gewissheiten enden, kann man durch eine einfache Überlegung plausibel machen. Denken Sie an die folgende Situation: Ich bin der Uberzeugung, dass die Vogelgrippe inzwischen Deutschland erreicht hat. Doch was rechtfertigt mich in dieser Überzeugung? Dass veterinär-medizinische Untersuchungen das entsprechende Virus in einigen verendeten Schwänen vor Rügen identifiziert haben. Und was rechtfertigt mich in dieser Überzeugung? Dass ich es heute in einer zuverlässigen deutschen Tageszeitung gelesen habe. Und was rechtfertigt mich in dieser Überzeugung? Dass gerade jetzt, in genau dem Moment, in dem ich mir diese Frage stelle, ein Erinnerungsbild mit diesem Inhalt in mir vorhanden ist. Hier nun bricht der drohende Regress der Rechtfertigung ab. Bezüglich meiner gegenwärtigen eigenen mentalen Zustände kann es keinen sinnvollen Zweifel mehr geben. Diese Zustände sind gewiss. Und deshalb erübrigt sich die Suche nach weiteren rechtfertigenden Gründen. Nach der cartesianischen Konzeption liegt genau in diesen Gewissheiten die Basis jeder echten Rechtfertigung. Die Probleme des cartesianischen Bildes sind lange bekannt und ich möchte sie hier nur ganz kurz darstellen. Erstens scheint es auch bezüglich eigener gegenwärtiger mentaler Zustände keine wirklich unbezweifelbaren Überzeugungen zu geben. Auch die Introspektion ist nicht gewiss. Dafür gibt es unzählige Beispiele. Hier nur eine kleine Auswahl. Ein Vater ist der introspektiven Auffassung, dass er seine beiden Kinder

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Wissen

gleich gerne mag und für keines von beiden voreingenommen ist. Später stellt er fest, dass dies eine Selbsttäuschung war, weil er von einem seiner beiden Kinder enttäuscht ist, als es nicht besser in der Schule oder bei einem Wettbewerb abschneidet als sein anderes Kind. Ein zweiter Fall: Jemand meint, fest davon überzeugt zu sein, dass eine bestimmte Entscheidung richtig ist. Doch als es darum geht, die Entscheidung in die Tat umzusetzen, zögert er. Dabei stellt sich heraus, dass er gar nicht so fest überzeugt war, wie er glaubte. Schließlich ein dritter Fall: Bei manchen amerikanischen Burschenschaften gibt es den martialischen Brauch, neuen Mitgliedern mit einem glühenden Eisen ein Brandzeichen auf den Rücken einzubrennen. Stellen Sie sich vor, wie ein Novize in einer solchen Situation gerade das fürchterliche Brennen des glühenden Eisens erwartet. Ohne dass er es weiß, wird sein Rücken jedoch nicht mit dem brennenden Eisen berührt, sondern mit einem Stück Eis. In dieser Situation wird der Betroffene zunächst glauben, dass er einen brennendheißen Schmerz spürt, weil es das ist, was er erwartet. Erst nach einer Weile wird ihm klar werden, dass er keine brennende Hitze, sondern große Kälte spürt. Alle diese Beispiele zeigen die Fehlbarkeit unserer Introspektion. Und da sich solche Irrtumssituationen niemals prinzipiell ausschließen lassen, sind auch introspektive Uberzeugungen nicht unbezweifelbar gewiss. Zweitens sieht man nicht, wie solche cartesianischen Gewissheiten über gegenwärtige eigene Erlebnisse und andere mentale Zustände, wenn es sie denn gäbe, jemals in der Lage sein sollten, unsere Uberzeugungen über die von uns unabhängige Außenwelt zu rechtfertigen. Es ist offensichtlich, dass man aus introspektiven Uberzeugungen über die eigene Innenwelt keine deduktiven Schlüsse über die Außenwelt ziehen kann. Aber wenn wir von unseren Erlebnissen als Wirkungen auf deren Ursachen in der Außenwelt induktiv schließen wollen, dann gibt es offenbar eine unbestimmte Menge von alternativen Kausalerklärungen, von denen auf den ersten Blick nicht zu sehen ist, welche erkenntnistheoretisch den Vorzug ver-

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dient. Nehmen wir beispielsweise meine episodische Erinnerung daran, dass ich heute Morgen etwas über die ersten Fälle von Vogelgrippe in Deutschland gelesen habe. Es ist möglich, dass sich diese Erinnerungsepisode tatsächlich meinem Zeitunglesen am Morgen verdankt. Genauso gut ist es aber auch möglich, dass diese Erinnerung das trügerische Produkt von Drogen ist, die ich eingenommen habe. Oder, wie Russell einmal erwogen hat, die gesamte Welt einschließlich meiner selbst könnte erst vor drei Minuten von einem bösen Dämon erschaffen sein, der mir trügerische Erinnerungsepisoden über eine morgendliche Zeitungslektüre eingepflanzt hat. Viele weitere alternative Kausalerklärungen wären möglich, so dass diese kausalen Inferenzen von der Innenwelt auf die Außenwelt einen höchst zweifelhaften epistemischen Wert haben. In jüngerer Zeit hat Timothy Williamson die Idee wieder aufgegriffen, dass nur das, was wir wissen, ein epistemischer Grund sein kann. 224 Allerdings hat er diese Idee vom Cartesianismus vollkommen gelöst. Für Williamson hat das Wissen, das als rechtfertigender Grund fungiert, nicht mehr den Status der Gewissheit. 225 Es ist also möglich, dass das, was wir wissen, für uns gleichwohl zweifelhaft werden kann. Und es ist genauso möglich, dass wir kein Wissen davon haben, ob wir etwas wissen, wenn wir es wissen. Wir können uns also darüber täuschen oder darüber im Unklaren sein, ob wir Wissen haben. 226 Dasselbe gilt nach Williamson auch für unsere rechtfertigenden Gründe. Diese Gründe sind uns nicht in dem starken Sinne transparent, dass uns jederzeit klar und offenkundig ist, was unsere Gründe sind. 227 Es gibt aber auch noch einen weiteren Unterschied zum Cartesianismus. Als Grund fungiert nämlich nach Williamson nicht nur unser Wissen über unser

224

225 226 227

In Williamson 2000, Kap. 9 & 10. Was Williamson dort .evidence' nennt, übersetze ich hier durchgängig mit Grund. Williamson 2000, S. 205. Vgl. etwa Williamson 2000, S. 23. Williamson 2000, S. 174-178.

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mentales Innenleben, sondern ebenso unser Wissen über die Welt. Diese Abweichungen vom cartesianischen Modell stellen zweierlei sicher: Es gibt Gründe (da es Wissen im Unterschied zu Gewissheit tatsächlich gibt) und die Menge unserer Gründe ist groß genug, um auch unsere Uberzeugungen über die Welt zu rechtfertigen (da zum relevanten Wissen auch unser Wissen über die Außenwelt gezählt wird). Williamsons Konzeption der Rechtfertigungsgründe ist radikal externalistisch. Da Wissen über die Außenwelt nicht ausgeschlossen ist und Wissen die Existenz entsprechender Tatsachen impliziert, beinhalten unsere Gründe Teile der Außenwelt. Und da Wissen nicht transparent ist, sind uns auch unsere Gründe nicht immer automatisch zugänglich. Dennoch ist Williamson ein Psychologist im Hinblick auf Gründe.228 Der Psychologismus besagt, dass nur psychische Zustände des erkenntnistheoretischen Subjekts Gründe sein können. Dass Williamson einen Psychologismus der Gründe vertritt, mag angesichts ihres externen Charakters überraschen, es wird jedoch verständlich, wenn man berücksichtigt, dass er auch von den mentalen Zuständen annimmt, dass sie von der Außenwelt abhängen und nicht transparent sind. Für Williamson ist Wissen ein mentaler Zustand. Williamsons Vorschlag, jede Rechtfertigung mit Rekurs auf Wissen als den rechtfertigenden Grund zu analysieren, sieht zunächst wie eine Sackgasse aus. Gewöhnlich nehmen wir doch an, dass Wissen ein komplexer Begriff ist, der sich, wie auch immer seine Analyse genauer aussieht, mit Hilfe der Komponenten Uberzeugung, Wahrheit, Rechtfertigung und weiteren Zusatzbedingungen analysieren lässt. Wenn wir jedoch Wissen mit Rekurs auf Konstituenten analysieren, unter denen auch Rechtfertigung vorkommt, dann kann man Rechtfertigung nicht ihrerseits mit Hilfe von Wissen erläutern. Das wäre ein unzulässiger Definitionszirkel. Dieser Zirkel lässt sich nur vermeiden, wenn man, wie Williamson, davon ausgeht, 228

Williamson 2000, S. 195.

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dass der Wissensbegriff nicht analysierbar ist, sondern selbst in der Ordnung der begrifflichen Analyse den Vorrang vor der Rechtfertigung hat. 229 Die Auffassung, dass sich unsere Gründe auf das beschränken, was wir wissen, hat aber eine Reihe von kontra-intuitiven Konsequenzen. Eine dieser Konsequenzen hat mit der Rolle der Erfahrung für die Rechtfertigung zu tun. Wenn Gründe sich auf Wissen beschränken und wenn Wissen eine bestimmte Art der Uberzeugung ist, dann können Erfahrungen selbst keine Gründe sein, sondern die Erfahrung kann bestenfalls Gründe liefern. 230 Sie kann eine Quelle der Gründe sein. Williamson stellt sich das etwa so vor: Wir haben eine höchst reichhaltige Sinneserfahrung, z.B. von einem Tisch. Diese Sinneserfahrung führt zu einer rudimentären indexikalischen Uberzeugung vom Typ „Dieser Gegenstand hat diese Gestalt". Der Inhalt dieser Uberzeugung wird zum größten Teil durch die zugrunde liegende Sinneserfahrung bestimmt. Wenn die Sinneserfahrung zuverlässig ist und die Umstände günstig sind, dann wissen wir, dass dieser Gegenstand diese Gestalt hat. Und dieses Wissen ist dann der induktive Grund für die Uberzeugung, dass vor uns ein Tisch steht. Es rechtfertigt diese Uberzeugung. Doch was passiert, wenn diese Uberzeugung durch eine Illusion oder Halluzination zustande kommt? Dann ist sie falsch. Dennoch neigen wir dazu, auch falsche Uberzeugungen, die durch eine Sinnestäuschung zustande gekommen sind, für gerechtfertigt zu halten, zumindest wenn unsere Sinneserfahrung unter normalen Umständen zuverlässig ist. Williamson hat mit dieser Intuition erhebliche Probleme, denn die Uberzeugung „Dieser Gegenstand hat diese Gestalt" kann ja in der Halluzinationssituation kein Wissen darstellen (weil sie falsch ist), doch eine gerechtfertigte Uberzeugung setzt nach Williamson Wissen voraus, das den Grund liefert. Welches Wissen liefert in der Halluzinationssituation also den Grund für die Vgl. Williamson 2000, S. 185 f. »o Williamson 2000, S. 197. 229

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falsche Überzeugung, dass vor uns ein Tisch steht? Williamson sagt, dass in diesem Fall unser Wissen, dass es perzeptuell so erscheint, als ob ein Tisch vor uns steht, den erforderlichen Grund liefert.231 Doch daraus ergibt sich unmittelbar ein Folgeproblem: Der Unterschied zwischen einer veridischen Erfahrung und einer Sinnestäuschung liegt in den unterschiedlichen Ursachen für die Entstehung der Sinneserfahrung. Im veridischen Fall entspricht die externe Ursache dem Inhalt der Sinneserfahrung. Im Fall der Halluzination ist die Ursache ein objektives Täuschungsszenario oder eine direkte neuronale Einwirkung durch Psychopharmaka oder elektrische Stimulation der Nervenzellen. Die kognitive Weiterverarbeitung der Sinneserfahrung unterscheidet sich dagegen in beiden Fällen nicht. Nun ist es aber so, dass ein Grund eine Uberzeugung nur dann rechtfertigt, wenn die Person die Uberzeugung hat, weil sie den Grund hat. Die natürliche Interpretation dieses ,weil' ist kausal. Gründe müssen also auch Ursachen sein. Wenn das richtig ist und wenn ferner die Kausalketten zwischen Sinneserfahrung und Überzeugung in den Fällen veridischer Erfahrung und Sinnestäuschung übereinstimmen und wenn außerdem im Fall der Sinnestäuschung die Überzeugung über die Außenwelt (den Tisch) nur durch ein introspektives Wissen gerechtfertigt sein kann, dann muss der Grund für empirische Überzeugungen in allen Fällen ein introspektives Wissen sein. Das ist jedoch aus zwei Gründen äußerst unplausibel. Zum einen bemerken wir phänomenologisch im Normalfall empirischer Rechtfertigung von Überzeugungen über die Außenwelt keine introspektiven Überzeugungen. Selbstverständlich können wir sie in Wahrnehmungssituationen bilden, aber der kausale Weg von der Wahrnehmung zur Überzeugung über die Außenwelt führt normalerweise nicht über den Umweg einer entsprechenden introspektiven Überzeugung. 232 Zum anderen 231 232

Williamson 2000, S. 198. Dieses phänomenologische Argument zeigt natürlich nicht zwingend, dass es keine introspektiven Uberzeugungen (und introspektives Wis-

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schließt diese Position für Kleinkinder und andere Lebewesen, die über keine introspektiven Begriffe verfügen (und deshalb auch keine introspektiven Uberzeugungen haben können), jegliche Form von empirischer Rechtfertigung aus - eine nur schwer zu akzeptierende Konsequenz.233 Hier eine zweite kontra-intuitive Konsequenz: Wissenschaftliche Theorien und Weltbilder werden normalerweise nicht als Ganze direkt auf unser Beobachtungswissen gestützt, sondern in viele Argumente gehen auch theoretische Hintergrundannahmen ein. Der normale Wissenschaftsbetrieb besteht in der Lösung von Problemen im Rahmen einer etablierten Hintergrundtheorie. Der wissenschaftliche Fortschritt hat aber die meisten dieser Hintergrundtheorien als falsch entlarvt. Wenn nun rechtfertigende Gründe auf Wissen beschränkt sind und Wissen Wahrheit impliziert, dann ergibt sich daraus die Konsequenz, dass die Resultate vergangener Wissenschaft im Zuge des wissenschaftlichen Fortschritts nicht nur ihre Rechtfertigung verlieren, sondern dass sie niemals gerechtfertigt waren. Sie sind uns fälschlich nur so vorgekommen, als ob sie gerechtfertigt waren. Aber das ist sehr unplausibel. Es ist richtig, dass frühere Wissenschaftler die Resultate ihrer wissenschaftlichen Arbeit fälschlich für wahr gehalten haben (wenn die Theorien inzwischen widerlegt sind), aber wollen wir wirklich sagen, dass sie sie auch fälschlich für gerechtfertigt gehalten haben? Williamsons Konzeption bindet die Gründe offenbar zu eng an die Wahrheit. Schließlich noch eine dritte kontraintuitive Konsequenz: Es gehört offenbar zu unseren Binsenweisheiten über Gründe, dass sie durch andere Gründe anfechtbar sind. Das bedeutet, dass sie ihre Rechtfertigungskraft immer nur vorläufig besit-

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sen) in der Kausalkette gibt. Sie könnten ja für die Person unzugänglich sein. Aber es spricht zunächst einmal nichts für die Existenz solcher Überzeugungen. Williamson führt sie ad hoc als bloße Hilfshypothesen zur Verteidigung seiner These ein. Williamson scheint diese Konsequenz zu akzeptieren. Vgl. Williamson 2000, S. 199.

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zen, und zwar genau so lange, bis Gründe auftauchen, die ihre Wahrheit oder ihre Zuverlässigkeit angreifen. Dass mir etwas rot erscheint ist solange ein guter Grund für meine Uberzeugung, dass dieses Ding rot ist, bis ich einen Grund habe, an der Beschreibung meiner Wahrnehmung als Rot-Erscheinung zu zweifeln, oder die Information bekomme, dass die Gegenstände, die ich wahrnehme, mit rotem Licht beleuchtet werden. Die Anfechtbarkeit unserer Gründe zeigt nicht nur eine ihnen inhärente erkenntnistheoretische Schwäche auf, sie ermöglicht uns zugleich eine sukzessive Annäherung an die Wahrheit. Eine rationale Revision unserer Uberzeugungen im Lichte stetig neuer Gründe führt uns immer dichter an die Wahrheit heran. Williamson erkennt, dass er der Anfechtbarkeit von Gründen auch in seiner Konzeption der Rechtfertigung Rechnung tragen muss. 234 Er schlägt deshalb Folgendes vor: Solange Wissen keine Gewissheit impliziert, kann auch Wissen durch anderes Wissen angefochten werden. Etwas, das wir wissen, kann nämlich in Bezug auf anderes Wissen von uns nahelegen, dass es falsch ist. Ein Beispiel: Wir wissen aufgrund von Beobachtung, dass in einer Tasche ein roter und ein schwarzer Ball stecken. Wenn wir jedoch lOOOOmal hintereinander einen roten Ball aus der Tasche ziehen, den wir jeweils wieder zurücklegen, dann kommen uns Zweifel daran, ob wirklich ein schwarzer Ball in der Tasche ist.235 Unser Wissen geht mit unserem Fürwahrhalten verloren. Diese Anfechtung von Wissen durch anderes Wissen soll nach Williamson die Anfechtungsstruktur unserer Rechtfertigung erklären. Diese Erklärung hat jedoch einen entscheidenden Nachteil. Wenn Wissen anderes Wissen unterminiert, dann werden wir dadurch de facto in die Irre geführt. Wir nähern uns damit nicht an die Wahrheit an, sondern verlieren gewusste Wahrheiten. Anfechtung von Wissen durch anderes Wissen ist also, gegeben unser erkenntnistheoretisches Ziel der Wahrheit, kontraproduktiv. Aber die rationale Revi234 235

Williamson 2000, S. 219. Williamson 2000, S. 222.

Die Bedeutung des Wissens für die Erkenntnistheorie

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sion unserer Überzeugungen durch den Mechanismus der Anfechtung unserer Gründe soll uns im Großen und Ganzen der Wahrheit näher bringen. Deshalb ist sie erkenntnistheoretisch vorteilhaft. Und genau diesen Aspekt der Rechtfertigung kann Williamson nicht adäquat erklären. Was lässt sich also abschließend über die Idee, Wissen zum Ausgangspunkt von Begründungen zu machen, sagen? Sowohl der Cartesianismus als auch Williamsons Konzeption haben beide stark kontraintuitive Konsequenzen. Der Cartesianismus führt aufgrund des unerfüllbaren Aufbaus unserer Rechtfertigungen auf Gewissheiten direkt zum Skeptizismus. Und obwohl Williamson die cartesianische Forderung nach Gewissheit ganz aufgibt, bleibt die Auffassung, dass Wissen der Ausgangspunkt jeder Rechtfertigung sein muss, viel zu restriktiv. Der Bereich gerechtfertigter Uberzeugungen wird viel zu klein; und der dynamische Prozess rationaler Anfechtung von Gründen lässt sich nicht mehr als schrittweise Annäherung an die Wahrheit verstehen. Deshalb sollten wir die erkenntnistheoretische Rolle des Wissens nicht als Basis der Rechtfertigung verstehen.

3.7.4 Die methodologische Rolle des Wissens Da Wahrheit ein, wenn nicht sogar das einzige intrinsische Ziel der menschlichen Erkenntnisbemühungen ist, ist auch die Frage, welche Mittel wir anwenden sollen, um wahre Uberzeugungen zu erzielen, von großer Bedeutung. Wir suchen nach guten Kriterien der Wahrheit, um unser erkenntnistheoretisches Ziel zu erreichen. Es ist schwer vorstellbar, dass Wissen in diesem Zusammenhang eine Rolle spielen könnte. Wissen ist das Resultat von auf geeignete Weise wahrheitsgarantierenden Methoden oder Prozessen. Wissen ist kein Kriterium der Wahrheit. Das einzige Kriterium der Wahrheit sind unsere Verfahren und Maßstäbe der Rechtfertigung. Wenn wir sie erfüllen und die Welt in der geeigneten Weise mitspielt, dann erzielen

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Wissen

wir Wahrheit und - unter Umständen - Wissen. Aus der Perspektive der ersten Person bleibt uns also nichts anderes übrig, als die Rechtfertigungskriterien zu erfüllen und zu hoffen, dass alles gut geht. Das Erreichen unseres Ziels und die Frage, ob wir dieses Ziel - im Fall von Wissen - sogar noch durch eigenen Verdienst erreichen, ist aus unserer Perspektive der ersten Person eine Sache des Glücks. Das gilt zumindest, solange wir keine unmittelbare und unbezweifelbare Einsicht in die Wahrheit haben. Hätten wir solche Gewissheit, dann ließe sich in gewissem Sinne sagen, dass es eine Form von Wissen gibt, nämlich die Gewissheit, die zugleich ein Kriterium ist und das, wofür es Kriterium ist. In diesem Fall könnte Wissen ein Kriterium der Wahrheit sein, weil es eine Gegebenheitsweise der Wahrheit wäre. Unter den Bedingungen der steten Denkbarkeit von Irrtum kann es jedoch keine Gewissheit geben. Unsere einzigen epistemischen Kriterien sind unsere Rechtfertigungskriterien. Wissen scheint keinerlei methodologische Rolle im Rahmen unserer Erkenntnisbemühungen zu spielen.236 Das ist aber bestenfalls die halbe Wahrheit. Wir folgen nämlich nicht immer einfach nur unseren Rechtfertigungskriterien, sondern wir können Verfahren, Methoden und Instrumente auch einer Bewertung in Bezug darauf unterziehen, ob sie geeignete Mittel zur Erzielung wahrer Uberzeugungen sind. Letzteres tun wir, wenn wir kritisch reflektieren oder vor der Wahl stehen, welche Methode wir anwenden sollen. Wenn wir bewerten, welchen instrumenteilen Wert Methoden hinsichtlich der Wahrheit haben, dann geschieht das normalerweise induktiv. Wir ziehen eine Bilanz, wie zuverlässig eine Methode in der Vergangenheit war, und schließen dann auf ihre generelle Zuverlässigkeit. Eine solche Bewertung kann selbstverständlich nicht im luftleeren Raum stattfinden. Wir müssen also bereits über Methoden verfügen, mit Hilfe derer wir Aussagen über den Wahrheitswert der vergangenen Resultate der bewerteten Methode treffen können. Dennoch haben solche Bewer236 Vgl. in diesem Sinne Kaplan 1985.

Die Bedeutung des Wissens für die Erkenntnistheorie

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tungen maßgeblichen Einfluss auf unsere Überzeugungsbildung. Wenn wir beispielsweise in Erfahrung bringen, dass ein so genannter Experte in der Vergangenheit fast immer richtig lag mit seinen Erklärungen und Prognosen, dann werden wir uns auf ihn verlassen und seinen Äußerungen glauben schenken. Wenn sich dagegen herausstellt, dass ein Instrument in der Vergangenheit öfter falsche Messwerte angezeigt hat, werden wir uns nicht mehr auf die Daten dieses Instruments verlassen, solange es nicht repariert oder neu justiert wurde. Hier gilt die Regel, dass wir uns nur auf Instrumente, Methoden oder Informanten verlassen, die normalerweise zuverlässig sind. Die Zuverlässigkeit ist also die relevante Eigenschaft, wenn wir nach einem Indikator dafür suchen, dass etwas ein geeignetes Kriterium der Wahrheit ist. Und jetzt kommt Wissen ins Spiel. Im Idealfall stellen wir fest, dass eine Methode in der Vergangenheit nicht nur immer wahre Ergebnisse hervorgebracht hat, sondern dass diese perfekte Wahrheitsbilanz auch nicht Ergebnis eines Zufalls war. Ein Thermometer könnte etwa eine perfekte Wahrheitsbilanz haben, wenn es defekt ist und konstant 20 Grad Celsius anzeigt, aber die Temperatur des Raumes, in dem es aufgestellt ist, auch konstant 20 Grad beträgt. Im Idealfall hat die Methode also in der Vergangenheit immer Wissen hervorgebracht. Dann können wir induktiv schließen, dass es sich um eine Quelle des Wissens handelt, auf die wir absolut vertrauen können. Die Zuschreibung von Wissen kann also sehr wohl methodologisch relevant sein, weil sie uns hilft, Quellen des Wissens oder wissensgenerierende Methoden zu identifizieren. Solche Methoden haben einen maximalen instrumentellen Wert in unseren Erkenntnisbemühungen. Solche Methoden wird es in der Praxis eher selten geben. Außerdem können wir uns natürlich darüber täuschen, ob wir es tatsächlich mit einer wissensgenerierenden Methode zu tun haben. Unsere Bewertung der vergangenen Ergebnisse könnte falsch sein und unsere induktive Verallgemeinerung ist ebenfalls eine mögliche Fehlerquelle. Gleichwohl können wir durch Wissenszuschreibungen Quel-

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len des Wissens identifizieren und damit Erkenntnismethoden einen maximalen instrumenteilen Wert zuschreiben. Ansgar Beckermann hat gegen eine vergleichbare Überlegung einen prinzipiellen Einwand erhoben. Aus seiner Sicht macht es keinen Sinn zu sagen, dass wir etwas als besonders vertrauenswürdige Informationsquelle verwenden, wenn wir herausgefunden haben, dass diese Quelle über Wissen verfügt. Denn um der Quelle Wissen zuschreiben zu können, müssten wir ja bereits die Wahrheiten kennen, die uns die Informationsquelle allererst verraten soll. Wenn wir Informanten Wissen zuschreiben, können wir sie also nicht mehr als Informanten betrachten. 237 Hier übersieht Beckermann meines Erachtens aber, dass wir Quellen des Wissens auch induktiv identifizieren können, ohne selbst bereits Wissen über die Fälle haben zu müssen, über die wir uns Informationen und Aufschluss von der Quelle erhoffen. Ich kann also rechtfertigen, dass Schmidt weiß, dass p, indem ich zeige, dass Schmidt in allen bisherigen Fragen, die den Bereich betrafen, zu dem ρ gehört, Wissen hatte. Ich muss dazu nicht unbedingt wissen, dass ρ selbst der Fall ist.

237 Yg]_ Beckermanns Argumentation gegen Craigs Theorie des guten Informanten in Beckermann 2001, S. 582.

4 Erkenntnistheoretische Rechtfertigung 4.0 Allgemeines Wenn wir uns um Erkenntnis bemühen, dann treffen wir im günstigen Falle die Wahrheit. Aber die Wahrheit ist uns nicht unmittelbar gegeben. Wir verfügen über keinen Wahr hei ts sinn, den vielleicht ein höheres Wesen besitzen könnte. Wir benötigen geeignete Verfahren, Methoden oder Instrumente, die uns zur Wahrheit hinführen. Solche wahrheitszuträglichen Mittel sind für uns wichtig, weil wir ohne sie im Hinblick auf die Wahrheit im Dunkeln tappen würden. Uberzeugungen, die auf wahrheitszuträgliche Mittel gestützt sind, sind im erkenntnistheoretischen Sinne gerechtfertigt. Das verdeutlicht, warum die Rechtfertigung in unseren Erkenntnisbemühungen eine so wichtige Rolle spielt. Laurence Bonjour hat diese Überlegung besonders prägnant formuliert: Warum sollten wir, als kognitive Wesen, ein Interesse daran haben, dass unsere Uberzeugungen erkenntnistheoretisch gerechtfertigt sind? (...) Was uns allererst zu kognitiven Wesen macht ist unser Vermögen, etwas zu glauben, und das Ziel unserer spezifischen kognitiven Bemühungen ist die Wahrheit: Wir wollen, dass unsere Uberzeugungen die Welt richtig und genau wiedergeben. Wäre die Wahrheit auf irgendeine Weise unmittelbar und unproblematisch zugänglich (wie sie es, nach manchen Auffassungen, für Gott ist), so dass man sich in allen Fällen einfach dafür entscheiden könnte, das Wahre zu glauben, dann hätte der Begriff der Rechtfertigung keine große Bedeutung und würde keine unabhängige Rolle für die Erkenntnis spielen. (...) Die grundlegende Rolle der Rechtfertigung ist es, ein Mittel zur Wahrheit zu sein.238

Die gerechtfertigte Uberzeugung hat insofern einen abgeleiteten erkenntnistheoretischen Wert, als sie durch eine Methode zustande gekommen ist, die ein gutes Mittel auf dem Weg zur Wahrheit ist. Da gute Mittel nicht unbedingt vollkommene Mittel sein müssen, kann eine Uberzeugung auch dann ge238

Bonjour 1985, S. 7. Meine eigene Übersetzung.

224

Erkenntnistheoretische Rechtfertigung

rechtfertigt sein, wenn sie falsch ist, weil die Rechtfertigung die Wahrheit nicht unbedingt garantieren muss, um (im Allgemeinen) zu ihr hinzuführen. Eine gute Ausbildung ist auch dann ein gutes Mittel zu einem ordentlichen Beruf, wenn es vorkommen kann, dass gut ausgebildete Personen keine Arbeit finden. Neben der Wahrheitszuträglichkeit gibt es eine Reihe weiterer Eigenschaften, die man mit Hilfe einer Begriffsanalyse über die erkenntnistheoretische Rechtfertigung herausfinden

kann.239 Im Unterschied zur Wahrheit ist die

Rechtfertigung

personenrelativ und zeitrelativ. So können zwei verschiedene Personen beispielsweise glauben, dass die Schlacht von Hastings 1066 stattfand. Beide würden damit etwas Wahres glauben. Aber es könnte sein, dass die Uberzeugung der einen Person - ein Schüler der 4. Klasse, der diese Information irgendwo zufällig aufgeschnappt hat - nicht gerechtfertigt ist, während die Uberzeugung der anderen Person — ein Historiker - sehr gut gerechtfertigt ist. O b die Uberzeugung gerechtfertigt ist oder nicht, hängt nicht allein von dem Inhalt der Uberzeugung und der Welt ab, sondern von den Gründen, die die jeweilige Person für ihre Überzeugung hat. U n d diese Gründe können sich auch relativ zu ein und derselben Person mit der Zeit ändern. Jemand kann gerechtfertigterweise glauben, dass sich am Straßenrand eine Scheune befindet, solange er von der Straße aus auf das Gebäude blickt. Sobald er aber um das Gebäude herumgegangen ist und gesehen hat, dass es aus nichts als einer Fassade besteht, wird diese Rechtfertigung durch einen Anfechtungsgrund aufgehoben. Die Personenund Zeitrelativität der Rechtfertigung zeigt, dass die Rechtfertigung eine Eigenschaft ist, die vom Kontext der Gründe abhängt, die die betreffende Person zum jeweiligen Zeitpunkt hat. Aber sprechen wir nicht auch davon, dass wissenschaftliche Theorien durch Experimente bestätigt und damit gerechtfertigt 239 Vgl. zum Folgenden vor allem Aiston 1989a.

Allgemeines

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werden oder dass ein mathematischer Beweis* ein bestimmtes Theorem* rechtfertigt? In diesen Fällen sprechen wir anscheinend ganz objektiv und unpersönlich von einer Rechtfertigung. 240 Es gibt in der Welt Experimente oder Beweise, die eine Theorie oder ein Theorem in der Weise rechtfertigen, dass es eine logisch-inferenzielle* Beziehung zwischen dem Experiment bzw. dem Beweis und der Theorie bzw. dem Theorem gibt. Dieser Anschein einer objektiven Rechtfertigung trügt jedoch. Erstens wäre die objektive Eigenschaft der Rechtfertigung einer Proposition* aufgrund irgendeiner Tatsache in einer Welt ohne Personen ganz witzlos, weil die Propositionen wahr oder falsch sind und erst Personen Mittel brauchen, um die Wahrheit herauszufinden. Zweitens ist die logische Beziehung zwischen den Prämissen und der Konklusion eines Beweises nicht hinreichend*, um die Konklusion zu rechtfertigen. Die Prämissen müssen dazu ihrerseits gerechtfertigt sein. Wenn diese Rechtfertigung wiederum nur durch einen Beweis zustande käme, würde sich ein Regress ergeben. Deshalb muss es Formen der Rechtfertigung geben, die nicht rein logisch-inferenziell sind, von denen jede inferenzielle Rechtfertigung abhängt. Solche Formen der Rechtfertigung lassen sich aber nicht mehr rein logisch-abstrakt und unabhängig von Personen verstehen. Umgekehrt lässt sich jede scheinbar unpersönliche Rechtfertigung auf eine personale Rechtfertigung nach dem folgenden Schema zurückführen: Eine Proposition q ist unpersönlich durch eine Proposition ρ gerechtfertigt genau dann, wenn jedes Subjekt, das seine Uberzeugung, dass q, auf einen personal gerechtfertigten Grund, dass p, inferenziell stützt, in seiner Uberzeugung, dass q, personal gerechtfertigt ist. Wir sagen also abstrakt, dass eine Proposition ρ eine Proposition q rechtfertigt, wenn jedermann, der Gründe hätte, ρ anzunehmen, und q daraus folgerte, in seiner Uberzeugung, dass q, gerechtfertigt wäre. Die scheinbar unpersönliche Rechtferti-

240

Vgl. Popper 1993.

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Erkenntnistheoretische Rechtfertigung

gung ist also nur das Resultat einer abstrahierenden Verallgemeinerung.241 Der Begriff * der Rechtfertigung ist außerdem ein normativer (oder evaluativer) Begriff Wenn wir sagen, dass eine Uberzeugung gerechtfertigt ist, dann sagen wir damit nicht nur, dass sie auf bestimmte Weise beschaffen ist, sondern wir sagen auch, dass sie so ist, wie sie vom erkenntnistheoretischen Standpunkt aus sein sollte. Wir betrachten und bewerten sie also aus der Perspektive epistemischer Normen und Maßstäbe. In diesem Sinne verhält sich der Begriff der epistemischen Rechtfertigung ganz ähnlich wie der Begriff des moralisch Guten oder des Nützlichen. Auch in diesen Fällen erfolgen Bewertungen unter Zugrundelegung bestimmter Normen und Maßstäbe. Es ist ferner außerordentlich wichtig zu erkennen, dass der Begriff der Rechtfertigung ein Gattungsbegriff ist, der verschiedene Arten der Rechtfertigung umfasst. Eine Uberzeugung kann aus Klugheitsgründen pragmatisch gerechtfertigt sein, sie kann moralisch gerechtfertigt sein oder sie kann erkenntnistheoretisch gerechtfertigt sein. Und es gibt sicher noch andere Arten der Rechtfertigung. Eine Uberzeugung kann auf eine Art gerechtfertigt sein, ohne auf eine der anderen Arten gerechtfertigt zu sein. Die verschiedenen Arten der Rechtfertigung sind also unabhängig voneinander. Jemand kann beispielsweise aus pragmatischen Gründen gerechtfertigt sein, an seinen Erfolg zu glauben, da Zuversicht die Erfolgsaussichten erhöht, obwohl er erkenntnistheoretisch gesehen nicht gerechtfertigt ist, an diesen Erfolg zu glauben, weil er sehr unwahrscheinlich ist. Wenn es jedoch unterschiedliche, voneinander unabhängige Arten der Rechtfertigung gibt, dann muss es charakteristische Merkmale für jede dieser Arten geben. Ein solches Merkmal muss sich also auch für die erkenntnistheoretische Rechtfertigung angeben lassen. 241

Eine ausführliche Kritik der Idee einer abstrakten, unpersönlichen Rechtfertigung findet sich in Grundmann 2003, S. 300-303.

Allgemeines

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Die Rechtfertigung einer Uberzeugung ist außerdem keine statische Angelegenheit, die ein für alle Mal feststeht. Eine Überzeugung ist vielmehr immer nur vorläufig (prima facie) gerechtfertigt und diese Rechtfertigung kann zu einem späteren Zeitpunkt durch so genannte Anfechtungsgründe wieder entkräftet werden. Die Rechtfertigung einer Uberzeugung ist also empfänglich für eine kritische Revision im Lichte neuer Information. Wer diesen dynamischen Charakter der Rechtfertigung übersieht, wird schnell zum Dogmatiker*, der an einer einmal gerechtfertigten Uberzeugung gegen jeden kritischen Einwand festhält. Die Anfechtbarkeit der Rechtfertigung hängt eng damit zusammen, dass unsere Rechtfertigung fehlbar ist und auch in die Irre führen kann. Nur deshalb muss sie stets Raum für eine Korrektur lassen. Würden wir die Wahrheit unmittelbar und mit Gewissheit erfassen, dann wäre die Uberprüfung unserer Überzeugungen im Lichte neuer Gründe im besten Fall überflüssig und im schlechtesten Fall würde sie uns sogar von der Wahrheit wegführen. Es gibt zwei unterschiedliche Arten von Anfechtungsgründen: übertrumpfende und unterminierende Anfechtungsgründe. Bei den übertrumpfenden Anfechtungsgründen handelt es sich um Gründe, die direkt gegen die Wahrheit einer gerechtfertigten Uberzeugung sprechen. Ein Beispiel: Sie erinnern sich sehr genau daran, dass Sie gestern Abend ihr Auto direkt vor ihrer Wohnung geparkt haben. Diese Erinnerung rechtfertigt Ihre Uberzeugung, dass es heute Morgen immer noch dort steht. Wenn Sie jedoch dort Ihr Auto nicht mehr vorfinden, dann stellt sich Ihre zuvor gerechtfertigte Uberzeugung als falsch heraus und damit wird auch die bisherige Rechtfertigung dieser Überzeugung entkräftet. Diese Rechtfertigung kann jedoch auch durch einen Anfechtungsgrund ganz anderer Art aufgehoben werden. Sobald Sie den begründeten Verdacht haben, dass Ihre Erinnerung unzuverlässig ist, wird die Rechtfertigungskraft Ihrer Erinnerung automatisch zerstört (selbst wenn dieser Verdacht falsch sein sollte). Sie haben dann einen unterminierenden Anfechtungsgrund, der sich gegen die Rechtfertigung der Überzeugung richtet.

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Erkenntnistheoretische Rechtfertigung

Schließlich ist die Rechtfertigung einer Uberzeugung eine graduelle Eigenschaft. Eine Uberzeugung kann mehr oder weniger gut gerechtfertigt sein. Wir können schwache Gründe für die Wahrheit einer Überzeugung besitzen. Zusätzliche Gründe können den Rechtfertigungsgrad dieser Uberzeugung erhöhen. Wir können im besten Fall sogar Wahrheitsgarantierende Gründe besitzen.242 Allerdings verwenden wir das Rechtfertigungsprädikat nicht immer in diesem graduellen Sinne, sondern manchmal auch im absoluten Sinne. Dann ist eine Uberzeugung entweder gerechtfertigt oder nicht. Wenn wir Rechtfertigung in diesem absoluten Sinne zuschreiben oder absprechen, muss es einen bestimmten Schwellenwert der graduellen Rechtfertigung geben, ab dem eine Uberzeugung als im absoluten Sinne gerechtfertigt gilt. Alle diese Eigenschaften gehören zu Allgemeinplätzen über die Rechtfertigung. Sie machen den begrifflichen Kern der erkenntnistheoretischen Rechtfertigung aus, den jede substantielle Theorie über die Natur der Rechtfertigung erfüllen sollte. Damit haben diese Merkmale den Rang von Adäquatheitsbedingungen* für eine solche Theorie über die Natur der Rechtfertigung. Adäquatheitsbedingungen für Theorien der erkenntnistheoretischen Rechtfertigung: Erkenntnistheoretische Rechtfertigung ist: (1) wahrheitszuträglich (2) personen- und zeitrelativ (3) normativ (4) eine spezifische Art der Rechtfertigung (5) anfechtbar (6) eine graduelle Eigenschaft.

242

Auch diese wahrheitsgarantierenden Gründe sind rational anfechtbar, solange das Subjekt keine Gewissheit hat, dass es sich um wahrheitsgarantierende Gründe handelt. Vgl. zu Graden der Wahrheitsgarantie Abschnitt 3.3.2.2.

Die Definition der erkenntnistheoretischen Rechtfertigung

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4.1 Die Definition^" der erkenntnistheoretischen Rechtfertigung Diese Adäquatheitsbedingungen legen die folgende allgemeine Definition der erkenntnistheoretischen Rechtfertigung nahe:243 (ER) Eine Person S ist zum Zeitpunkt t epistemisch gerechtfertigt zu glauben, dass p, genau dann, wenn: (i) S Gründe hat für seine Uberzeugung, dass p, (ii) die Gründe, die S für seine Uberzeugung hat, adäquat (gut) sind, (iii) diese Gründe die Uberzeugung stützen. Die Person selbst muss Gründe haben, weil die Rechtfertigung eine personenrelative Eigenschaft ist. Als Grund wird hier all das verstanden, was für den Rechtfertigungsstatus der Uberzeugung relevant ist.244 Es soll zunächst offen bleiben, ob es sich um objektive Tatsachen der Welt, psychologische Tatsachen im weiteren Sinne oder kognitive Zustände (wie Uberzeugungen) handelt. Die Gründe müssen adäquat sein, weil sie die Überzeugung nur dann rechtfertigen, wenn sie vom epistemischen Standpunkt aus so sind, wie sie sein sollen. Dass es für die Rechtfertigung einer Überzeugung nicht ausreicht, wenn die Person adäquate Gründe für die Überzeugung hat, sondern dass diese adäquaten Gründe darüber hinaus die Überzeugung stützen245 müssen, zeigt folgendes Beispiel: Der Kommissar 243 244

245

Vgl. zum Folgenden Aiston 1989c. D e r Begriff „Grund" wird hier terminologisch verwendet und soll nicht alle Bedeutungsnuancen der alltagssprachlichen Verrwendung einfangen. Gründe im hier eingeführten Sinne müssen nicht per definitionem angebbar sein oder in einem inferenziellen Zusammenhang mit der gerechtfertigten Uberzeugung stehen. Gründe müssen deshalb keinen propositionalen Gehalt haben. Ein Grund im hier verwandten Sinne ist dasjenige, wovon der erkenntnistheoretische Status einer Überzeugung abhängt. Auch der Begriff des Stützens wird hier terminologisch verwendet (als Ubersetzung des englischen Terminus basing). Dass ein Grund eine

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Erkenntnistheoretische Rechtfertigung

hält die Mordverdächtige für unschuldig. Er hat dafür einen exzellenten (und damit adäquaten) Grund. Es gibt nämlich entlastendes Beweismaterial Die Verdächtige kann den Mord nicht begangen haben, weil sie ein sicheres Alibi hat. Jemand bezeugt glaubwürdig, dass sie zur Tatzeit nicht am Tatort war. Und der Kommissar weiß davon. Dennoch ist ihm das eigentlich egal, denn er hätte die Verdächtige ohnehin für unschuldig gehalten, weil er nicht glauben kann, dass eine so zerbrechlich aussehende Frau einen Mord begehen kann. In diesem Fall würde man sagen, dass die Uberzeugung des Kommissars epistemisch nicht gerechtfertigt ist, obwohl er einen adäquaten Grund für sie hat. Also muss es noch eine weitere Bedingung geben, die in diesem Fall nicht erfüllt ist. Der gute Grund muss die Uberzeugung auch stützen. Der Kommissar hat einen guten Grund für seine Uberzeugung, aber es ist nicht dieser gute Grund, sondern ein schlechter Grund (nämlich die Annahme, dass zerbrechlich aussehende Frauen keinen Mord begehen), der seine Uberzeugung stützt.

4.2 Sind Gründe Ursachen? Was muss der Fall sein, damit ein Grund eine Uberzeugung stützt? Umgangssprachlich würde man sagen, dass eine Überzeugung nur dann erkenntnistheoretisch gerechtfertigt ist, wenn jemand sie nur deshalb hat, weil er einen guten Grund für sie hat. Unter Erkenntnistheoretikern ist bis heute strittig, wie dieses ,weil' zu verstehen ist. Traditionell war die Auffassung Überzeugung in diesem terminologischen Sinne stützt besagt nicht, dass es sich um einen guten oder adäquaten Grund handelt, der der Uberzeugung einen erkenntnistheoretisch positiven Status verleiht. Eine Uberzeugung kann auch auf einen schlechten Grund gestützt sein. Das Stützen im hier verwendeten Sinne hat keine evaluative Bedeutungskomponente. Dass eine Überzeugung durch einen Grund gestützt wird, kann man auch folgendermaßen umschreiben: Die Überzeugung beruht auf diesem Grund.

Sind Gründe Ursachen?

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vorherrschend, dass Gründe keine Ursachen sind und deshalb die Stützungsrelation nicht kausal verstanden werden darf. Die Gegner der kausalen Auffassung, die kurz Nicht-Kausalisten genannt werden sollen, schlagen vor, dass jemand eine Uberzeugung hat, weil er gute Gründe für sie hat, wenn er auch erfasst, dass er gute Gründe für seine Überzeugung hat. Damit jemand durch seine guten Gründe gerechtfertigt ist, muss er folglich eine wahre MetaÜberzeugung über seine Gründe haben. 2 « Dieser Vorschlag der Nicht-Kausalisten ist jedoch problematisch, weil eine MetaÜberzeugung darüber, dass man gute Gründe für seine Überzeugung erster Ordnung hat, weder notwendig"" noch hinreichend"" dafür ist, dass diese Gründe die Überzeugung erster Ordnung stützen. Sehen wir uns zunächst an, warum eine solche MetaÜberzeugung nicht notwendig ist. Ein kleines Kind sieht einen roten Ball und glaubt daraufhin, dass vor ihm ein roter Ball liegt. In diesem Fall ist es plausibel anzunehmen, dass die Überzeugung des Kindes durch sein Wahrnehmungserlebnis gerechtfertigt wird. Das Wahrnehmungserlebnis muss also ein guter Grund für die Überzeugung sein und diese Überzeugung stützen. Kleine Kinder verfügen jedoch noch nicht über die begrifflichen Ressourcen, die nötig sind, um zu erfassen, dass sie einen guten Grund für ihre Überzeugung haben. Dazu müssten sie über den Begriff des Grundes verfügen, den kleine Kinder offenbar noch nicht besitzen. Sofern also auch kleine Kinder bereits gerechtfertigte Überzeugungen haben können, kann der Besitz einer MetaÜberzeugung über die Adäquatheit des Grundes nicht notwendig dafür sein, dass ein Grund eine Überzeugung stützt. Erwachsene verfügen dagegen in der Regel über den Begriff des Grundes oder einen äquivalenten Begriff. Sie können also im Prinzip die erforderliche MetaÜberzeugung bilden. Aber es ist psychologisch unplausibel, dass sie eine solche MetaÜberzeugung in allen normalen Situationen bilden. Erst wenn man kritisch über die 246

Foley 1987, S. 174-208; Lehrer 1990, S. 168-172.

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Erkenntnistheoretische Rechtfertigung

Gründe für die eigenen Überzeugungen nachdenkt und sich fragt, ob man adäquate Gründe hat, wird man solche Metaüberzeugungen bilden. Der Nicht-Kausalist müsste also sagen, dass Erwachsene keine gerechtfertigten Uberezugungen haben, solange sie nicht kritisch über die Qualität ihrer Gründe nachdenken. D a das der Ausnahmefall ist, würde folgen, dass auch Erwachsene nur in Ausnahmefällen gerechtfertigte Uberzeugungen haben. Das ist eine nur schwer zu akzeptierende Konsequenz, die sicher gegen die nicht-kausale Analyse der Stützungsrelation spricht. Es kommt jedoch noch schlimmer für den Vertreter dieser Analyse. Einen großen Teil unserer gegenwärtigen Uberzeugungen haben wir vermutlich intellektuell redlich erworben. Wir haben gute Bücher gelesen, uns durch zuverlässige Medien informiert, gute Lehrer gehabt oder Leuten vertraut, die es wissen müssen, und wir haben auch eigene Erfahrungen gemacht. In den meisten Fällen wissen wir jedoch nicht mehr genau, wie wir zu unseren Uberzeugungen gekommen sind. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Aristoteles der Lehrer von Alexander dem Großen war. Aber auf welchen Grund stützt sich dieseUberzeugung? Ich bin mir nicht sicher, ob ich es gelesen habe, ob mein Philosophielehrer in der Schule uns darüber unterrichtet hat oder ob ich es erst im Studium gelernt habe. U n d so geht es mir mit den meisten Überzeugungen. Ich kann nicht mehr genau sagen, was der Grund für meine Überzeugung war. Dann kann ich aber auch die MetaÜberzeugung nicht haben, die der Nicht-Kausalist als Bedingung für die Rechtfertigung verlangt. In all den Fällen, in denen ich vergessen habe, was der Grund für meine Überzeugung war, hätte ich folglich keine gerechtfertigte Überzeugung. Dann aber bliebe nur ein ganz kleiner Rest von Überzeugungen übrig, die wirklich gerechtfertigt sind. Es wären nur die Überzeugungen, für die wir aktuell die Gründe angeben könnten. Die MetaÜberzeugung, dass man einen guten Grund für seine Überzeugung hat, ist jedoch nicht nur nicht notwendig dafür, dass ein guter Grund, den man hat, die eigene Überzeugung rechtfertigt; sie ist auch nicht hinreichend dafür. Es lassen

Sind Gründe Ursachen?

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sich mühelos Fälle konstruieren, in denen jemand einen guten Grund für seine Uberzeugung hat, diesen Grund kennt und erfasst, dass es ein guter Grund ist, und in denen die Uberzeugung dennoch nicht gerechtfertigt ist. Ein solcher Fall ist der folgende: Michael ist Biologe. Er weiß, dass Intelligenz zu 70 % genetisch bestimmt ist. Er weiß außerdem, dass er seihst hochintelligent ist und dass seine Frau ähnlich intelligent ist wie er seihst. Er erkennt, dass diese Tatsachen ein guter Grund für die Annahme sind, dass seine Kinder sehr intelligent sein werden. Und er glauht auch genau das. Der Nicht-Kausalist müsste also sagen, dass Michaels Überzeugung gerechtfertigt ist. Aber Michael glaubt, dass seine Kinder sehr intelligent sein werden, weil er es sich unheimlich wünscht, auch wenn ihm das vielleicht gar nicht bewusst ist. Das ist der wirksame Grund für seine Uberzeugung. Er würde dasselbe immer noch glauben, wenn die ihm bekannten Tatsachen dagegen sprechen würden. Sein wirklicher Grund ist natürlich inadäquat. Deshalb halten wir seine Überzeugung nicht für gerechtfertigt. Die nicht-kausale Analyse der Stützungsbeziehung kann also nicht überzeugen.247 Die kausale Analyse behauptet dagegen, dass gute Gründe, die man hat, die eigene Uberzeugung nur dann rechtfertigen, wenn sie diese auch verursachen. Rechtfertigende Gründe müssen demnach entgegen dem Slogan „Gründe sind keine Ursachen" doch die Ursachen für die durch sie gerechtfertigten Überzeugungen sein. Das scheint die vernünftige Konsequenz aus dem Scheitern der nicht-kausalen Analyse zu sein. Es gibt jedoch einige grundsätzliche Einwände gegen die kausale Analyse, die noch ausgeräumt werden müssen. Keith Lehrer, einer der hartnäckigsten Vertreter der nicht-kausalen Analyse, hat sich einen Fall ausgedacht, der beweisen soll, dass eine kausale Beziehung zwischen Grund und Überzeugung nicht nötig ist, damit der Grund die Überzeugung rechtfertigt. Dabei handelt es sich um den folgenden Fall: 247

Eine sehr gute Kritik der nicht-kausalen Analyse findet sich auch in Koppelberg 1999.

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Erkenntnistheoretische Rechtfertigung

Der Rassist Rasso hat, wie sein Name bereits andeutet, rassistisch motivierte Vorurteile gegen Mitglieder einer bestimmten menschlichen Rasse. Das ist die Entstehungsursach e für seine Uberzeugung, dass diese Rasse aus genetischen Gründen von einer furchtbaren Seuche heimgesucht wird. Der Fall ist so konstruiert, dass Rassos Überzeugung aufgrund seines Vorurteils maximal stark und unabänderlich ist. Rassos Vorurteil ist also nicht nur die ursprüngliche Entstehungsursache, sondern auch die gegenwärtig erhaltende Ursache für seine Überzeugung. In der Geschichte von Lehrer wird Rasso aufgrund seines Interesses an der Krankheit zum Arzt, liest umfangreiche medizinische Studien über sie und findet dabei überraschend heraus, dass alle wissenschaftlichen Belege zwingend darauf hindeuten, dass seine Überzeugung wahr ist. Rasso erwirbt also nicht nur gute Gründe für seine Überzeugung, sondern er erkennt auch, dass diese Gründe gut sind. Dennoch behält er sein Vorurteil, und dieses Vorurteil ist die fortdauernde Ursache für seine Überzeugung. N a c h Lehrer ist Rassos Uberzeugung in diesem Fall gerechtfertigt. 248 Lehrer möchte mit diesem Beispiel zeigen, dass ein Grund eine Uberzeugung auch dann rechtfertigen kann, wenn er sie nicht verursacht. A b e r das gelingt ihm nicht. Er zeigt nämlich nicht, dass die guten Gründe Rassos nicht kausal wirksam sind. Er zeigt nur, dass Rassos Vorurteil eine hinreichende Ursache für dessen Überzeugung ist. Das schließt jedoch nicht aus, dass es weitere kausal wirksame Faktoren gibt. Es könnte nämlich sein, dass Rassos Überzeugung verschiedene hinreichende U r sachen hat: sein Vorurteil und seine ärztliche Einsicht. In diesem Fall spricht man von kausaler Überdeterminierung eines Ereignisses. Eine solche Überdeterminierung lag auch bei Caesars Tod vor. Jeder der zahllosen Messerstiche auf ihn war tödlich. Es ist allerdings umstritten, ob es kausale Überdeterminierung tatsächlich gibt. Was bei oberflächlicher Betrachtung wie das Vorhandensein mehrerer hinreichender Ursachen aussieht, 248

Vgl. dazu Lehrer 1990, S. 169 f.

Sind Gründe Ursachen?

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kann nämlich auch folgendermaßen verstanden werden: Es gibt mehrere potentielle Kandidaten für eine hinreichende Ursache, von denen im konkreten Fall immer nur einer zum Zuge kommt. Wäre diese Ursache allerdings ausgeblieben, dann wäre die Wirkung aufgrund einer anderen Ursache eingetreten. Wäre Caesar also nicht wegen des einen Messerstichs gestorben, der tatsächlich kausal relevant war, dann wäre er aufgrund einer der anderen, gleichfalls tödlichen Messerstiche gestorben. Wenn man kausale Überdeterminierung ablehnt, dann sind im Falle Rassos die guten Gründe kausal vollkommen irrelevant, weil seine Überzeugung allein durch sein Vorurteil verursacht wird. In diesem Fall erscheint es jedoch unplausibel, dass Rassos Uberzeugung gerechtfertigt sein soll. Das wird deutlich, wenn wir den Fall noch etwas weiter ausgestalten. Stellen Sie sich vor, Rasso erkennt, dass er gute Gründe für seine Uberzeugung hat, und er erkennt außerdem, dass er seine Überzeugung nicht aufgrund dieser Gründe, sondern wegen seines Vorurteils hat. In diesem Fall würde er niemals sagen, dass seine Überzeugung gerechtfertigt ist. Das liegt daran, dass der Begriff der Rechtfertigung impliziert, dass die rechtfertigenden Gründe die durch sie gerechtfertigte Überzeugung verursachen. Rasso könnte nur sagen, dass seine Überzeugung durch die Gründe, die er hat, gerechtfertigt werden könnte. Wenn er seine Überzeugung auf diese Gründe statt auf sein Vorurteil stützen würde, dann wäre sie gerechtfertigt. Aber diese kontrafaktische* Aussage impliziert nicht, dass seine Überzeugung tatsächlich gerechtfertigt ist. Lehrer gelingt es also nicht zu zeigen, dass Rassos Überzeugung gerechtfertigt ist, obwohl seine guten Gründe nicht die Ursache dieser Überzeugung sind. Entweder zeigt sein Fall nicht, dass die guten Gründe kausal irrelevant sind. Oder Lehrers Einschätzung, dass wir Rassos Überzeugung für gerechtfertigt halten, ist unplausibel. Es gibt noch ein zweites wichtiges Argument"' gegen die Auffassung, dass erkenntnistheoretische Gründe Ursachen sind. Dieses Argument beruht darauf, dass logische Schlüsse als Paradefall der Rechtfertigung aufgefasst werden. Wenn jemand

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Erkenntnistheoretische Rechtfertigung

einen logischen Schluss im Denken vollzieht, dann kann man diesen Schluss aus zwei verschiedenen Perspektiven betrachten. Man kann ihn einerseits als Abfolge psychischer Uberzeugungszustände, also als einen psychischen Prozess, betrachten. Andererseits kann man den Schluss auch als logische Relation zwischen den propositionalen Inhalten des Denkprozesses betrachten. In dieser zweiten Hinsicht ist der Schluss entweder gültig* oder ungültig; und nur dieser Aspekt ist erkenntnistheoretisch relevant. Dann kann man jedoch folgendermaßen argumentieren: 249 (1) Die kausal wirksamen Aspekte an Uberzeugungszuständen sind psychologisch. (2) Die erkenntnistheoretisch relevanten Aspekte an Uberzeugungszuständen sind nicht psychologisch. (3) Also sind die erkenntnistheoretisch relevanten Aspekte an Uberzeugungszuständen nicht kausal wirksam. In diesem Argument ist die Prämisse (2) angreifbar. Das Argument beruht ja auf der Annahme, dass die logische Beziehung der propositionalen Inhalte der Uberzeugungen das ist, was an den Uberzeugungszuständen erkenntnistheoretisch relevant ist. Die propositionalen Inhalte von Uberzeugungszuständen sind Eigenschaften dieser Zustände. Kausale Relationen bestehen zwischen einzelnen psychischen Ereignissen, im vorliegenden Fall zwischen Uberzeugungszuständen. Dabei ist es jedoch wichtig, dass diese Relationen immer aufgrund von Eigenschaften dieser Ereignisse bestehen. Wenn das Kirchenfenster aufgrund des Gesangs der Sopranistin zerspringt, dann geschieht das aufgrund einer bestimmten Eigenschaft dieses Gesangs, nämlich seiner Tonhöhe, und nicht aufgrund irgendeiner anderen seiner Eigenschaften, etwa der Melodie des Gesangs. Wenn man nun einen kausalen Prozess des Denkens betrachtet, dann stellt sich die Frage, aufgrund welcher Eigen249

Vgl. bereits Frege 2003, S. 36; Bieri 1987, S. 60f.; Bartelborth 1997.

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Schäften dieser Prozess abläuft. Sind dafür allein neuronale oder syntaktische Eigenschaften relevant oder beruht der Prozess auf den semantischen Inhaltseigenschaften der Uberzeugungszustände? Dass auch semantische Inhaltseigenschaften kausal relevant sein können, nehmen wir in unseren alltäglichen Handlungserklärungen an. Wir sagen etwa, dass jemand den Kühlschrank öffnet, weil er ein kühles Bier trinken möchte und glaubt, dass im Kühlschrank noch eine Flasche Bier steht. Hätte er eine Uberzeugung mit einem anderen Inhalt gehabt (z.B. dass im Kühlschrank kein Bier ist), hätte er den Kühlschrank nicht geöffnet. Hier ist der Inhalt seiner Uberzeugung kausal relevant. Das lässt sich nun mühelos auf Denkprozesse übertragen. Wenn jemand zu der Uberzeugung kommt, dass Sokrates sterblich ist, weil er glaubt, dass alle Menschen sterblich sind, und zugleich glaubt, dass Sokrates ein Mensch ist, und wenn dieser kausale Prozess auf den Inhaltseigenschaften der beteiligten Uberzeugungen beruht (und nicht genauso abgelaufen wäre, wenn die Uberzeugungen ganz andere Inhalte gehabt hätten), dann sind die erkenntnistheoretisch relevanten logischen Beziehungen psychologisch realisiert. Das beweist, dass erkenntnistheoretisch relevante Eigenschaften von Überzeugungszuständen psychologisch wirksam sein können. Es ist zwar durchaus sinnvoll, die logischen von den psychologischen Beziehungen zwischen Überzeugungszuständen zu unterscheiden, weil die psychologischen Prozesse den logischen Relationen nicht immer Rechnung tragen. Schließlich sind auch Fehlschlüsse psychologisch möglich. Das schließt jedoch nicht aus, dass logisch gültige Schlüsse psychologisch realisiert sein können und dass dabei die logischen Eigenschaften für den Denkprozess kausal verantwortlich sind. Es lässt sich also festhalten, dass ein guter Grund eine Überzeugung nur dann stützt (und damit rechtfertigt), wenn er kausal für diese Uberzeugung verantwortlich ist. Diese kausale Analyse lässt sich offenbar gegen alle Einwände verteidigen.

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Erkenntnistheoretische Rechtfertigung

4.3 Was ist ein guter Grund? Wann sind die Gründe, die eine Uberzeugung kausal stützen, gut bzw. adäquat? Nur wenn die Gründe, die eine Uberzeugung stützen, auch gut sind, ist diese Uberzeugung nämlich wirklich gerechtfertigt. Hier gibt es grundsätzlich zwei alternative Modelle: das Modell erkenntnistheoretischer Pflichten und das Modell der instrumentellen Rationalität. Nach dem Modell der Verpflichtung ist die Überzeugung einer Person gerechtfertigt, wenn diese Person gegen keine Verpflichtung bezüglich dieser Überzeugung verstoßen hat. Nach dem Modell der instrumentellen Rationalität ist die Überzeugung einer Person gerechtfertigt, wenn sie auf Methoden gestützt ist oder durch Prozesse hervorgebracht wird, die zuverlässig zum epistemischen Ziel der Wahrheit hinführen.

4.3.1 Das Modell erkenntnistheoretischer Verpflichtung250 Wenn man von der Form epistemischer Bewertungen in unserer natürlichen Sprache ausgeht, liegt es nahe, die Rechtfertigung nach dem Modell epistemischer Verpflichtung zu verstehen. Wenn jemand einen Fehlschluss begeht, dann heißt es: „Er hätte diese Konsequenz nicht ziehen dürfen" oder: „Er sollte stattdessen eine andere Konsequenz ziehen". Wenn jemand gute Gegengründe ignoriert und einfach dogmatisch an seinem Standpunkt festhält, dann sagen wir: „Er sollte seinen Standpunkt revidieren". Wenn jemand voreilige Schlüsse zieht oder die Gründe, die ihm zur Verfügung stehen, nicht sorgfältig abwägt, dann halten wir ihn für erkenntnistheoretisch unverantwortlich. Andererseits sagen wir auch, dass man jemandem, der zu einem falschen Urteil aufgrund einer umfangreichen Recherche und sorgfältiger Abwägung aller zur Verfügung stehenden 250

Zur Einführung kann man sich sehr gut bei Plantinga 1993a, Kap. 1, informieren.

Was ist ein guter Grund?

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G r ü n d e k o m m t , nichts vorwerfen kann. A l l e diese B e w e r t u n gen scheinen vorauszusetzen, dass es epistemische Pflichten, N o r m e n u n d Regeln gibt, die d e m Erkenntnissubjekt v o r schreiben, w i e es sich i m erkenntnistheoretischen Sinne zu verhalten hat. Das Erkenntnissubjekt ist in seiner U b e r z e u g u n g gerechtfertigt, solange es gegen keine der epistemischen Pflichten verstößt u n d sich nichts zu Schulden k o m m e n lässt. A n sonsten w ä r e seine U b e r z e u g u n g nicht gerechtfertigt. Dieses Verständnis der Rechtfertigung w i r d auch als deontologische* K o n z e p t i o n oder als Ethik des Glaubens („ethics of belief") bezeichnet. 2 5 1 D a m i t w i r d d e m n o r m a t i v e n C h a r a k t e r der epistemischen Begriffe in b e s o n d e r e m M a ß e R e c h n u n g getragen. Die deontologische K o n z e p t i o n der Rechtfertigung geht historisch auf Descartes u n d L o c k e z u r ü c k . Ein besonders deutliches Bekenntnis findet sich i m 4. B u c h von L o c k e s Ver-

such über den menschlichen Verstand,·.

Wer glaubt, ohne einen vernünftigen Grund zum Glauben zu haben, mag in seine Einbildungen verliebt sein. Aber er sucht weder die Wahrheit so, wie er sollte, noch erweist er seinem Schöpfer den schuldigen Gehorsam; denn es ist die Absicht des Schöpfers, dass der Mensch die Erkenntnisfähigkeit, die ihm verliehen wurde, anwenden soll, um Täuschung und Irrtum zu vermeiden. Wer das nicht nach besten Kräften tut, mag zwar bisweilen die Wahrheit treffen; er hat aber nur zufällig Recht. Und ich gebe zu bedenken, ob der günstige Zufall für die Regelwidrigkeit seines Verfahrens als Entschuldigung dienen kann. Soviel steht jedenfalls fest, dass er für alle Irrtümer, in die er hineingerät, verantwortlich ist. Dagegen darf jemand, der das Licht und die Fähigkeiten, die ihm Gott verliehen hat, ausnützt und aufrichtig bestrebt ist, mit den Hilfsmitteln und Kräften, die er besitzt, die Wahrheit zu ermitteln, die Befriedigung hegen, dass er seine Pflicht als vernunftbegabtes Wesen erfüllt, so dass ihm, auch wenn er die Wahrheit verfehlen sollte, doch der Lohn nicht entgehen wird. Denn derjenige erteilt seine Zustimmung in der richtigen Weise und erteilt sie so, wie er soll, der sich hinsichtlich des Glaubens und Nichtglaubens in jedem Fall und in jeder Angelegenheit von der Vernunft leiten lässt. Wer anders handelt, (...) missbraucht

251

Von griech. deón - das, was vorgeschrieben ist. Clifford in: Pojman 2003 S. 515-18, hat das Etikett „Ethik des Glaubens" geprägt.

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Erkenntnistheoretische Rechtfertigung

Fähigkeiten, die ihm zu keinem anderen Zweck gegeben wurden als dazu, dass er die klarere Augenscheinlichkeit und die größere Wahrscheinlichkeit aufsucht und sich davon leiten lässt.252

In dieser Passage finden sich alle für die deontologische Konzeption wichtigen Merkmale. Erstens geht Locke - ähnlich wie Descartes - davon aus, dass Uberzeugungen Handlungen sind, die wir willentlich kontrollieren können. Ansonsten könnte er weder generell verlangen, dass wir etwas nur dann glauben sollen, wenn wir „einen vernünftigen Grund zum Glauben haben", noch verlangen, dass sich unsere Uberzeugungen „in jedem Fall und in jeder Angelegenheit von der Vernunft leiten" lassen. Das setzt voraus, dass wir eine vollständige willentliche Kontrolle über unsere Uberzeugungen haben. Diese Position wird auch als doxastischer Voluntarismus253 bezeichnet. Zweitens beziehen sich die Pflichten, an denen unsere Urteilshandlungen orientiert sind, nicht auf objektive Sachverhalte (die Wahrheit zu glauben), sondern es handelt sich um subjektive Pflichten, die relativ zu dem formuliert sind, was wir können. Sollen impliziert hier also Können. Locke hebt hervor, dass wir unsere epistemische Pflicht bereits dann erfüllt haben, wenn wir unser Bestes tun, die Wahrheit anzustreben. Und das tun wir, wenn wir unsere Uberzeugungen an dem orientieren, was uns aus unserer Perspektive als wahrscheinlich und evident erscheint. Diese Pflichterfüllung ist verträglich damit, dass wir etwas Falsches glauben. Drittens wird unser epistemisches Verhalten grundsätzlich negativ bewertet, wenn wir unsere Pflicht nicht erfüllen, sogar dann, wenn wir dabei eine Wahrheit treffen. Viertens wird umgekehrt unser epistemisches Verhalten grundsätzlich positiv bewertet, wenn wir unsere Pflicht erfüllen, selbst dann, wenn wir dadurch zu falschen Uberzeugungen kommen.

252 253

Locke 1981, Bd. II, Buch IV, Kap. Xvii, 24, S. 391f (meine Hervorhebung); vgl. auch Descartes 1992 AT VII 70. Von griech. doxa „Uberzeugung" und lat voluntas: „Wille". Der doxastische Voluntarismus behauptet die willentliche Kontrolle von Uberzeugungen.

Was ist ein guter Grund?

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4.3.1.1 Einwände gegen das Modell der Verpflichtung

Die deontologische Konzeption der Rechtfertigung wirft zunächst die Frage auf, welche erkenntnistheoretischen Pflichten für den Menschen überhaupt bestehen. Wenn unser epistemisches Verhalten nicht gegen Pflichten verstoßen darf, dann müssen uns diese Pflichten nämlich auch bekannt sein. Hier gibt es eine Reihe von unterschiedlichen Vorschlägen. Wir sollen unsere epistemischen Einstellungen (Zustimmung, Ablehnung oder Urteilsenthaltung) unseren Gründen anpassen. Wir sollen unser Möglichstes tun, um wahre Uberzeugungen zu erzielen und falsche zu vermeiden. Wir sollen möglichst viele Gründe sammeln. Wir sollen unsere Gründe sorgfältig abwägen. Wir sollen vorläufige Urteile im Lichte neuer Informationen überprüfen. Wir sollen unsere Urteile und Gründe kritisch überprüfen. Wir sollen korrekt schließen. Diese Reihe ließe sich noch eine ganze Weile fortsetzen. Es ist nicht klar, ob diese Pflichten alle gleichrangig nebeneinander stehen oder ob es einen obersten kategorischen Imperativ in der Erkenntnistheorie gibt. Aber welcher sollte das sein? Und wenn es diesen obersten Imperativ nicht gibt, welches Merkmal macht dann die verschiedenen Imperative zu erkenntnistheoretischen Imperativen? Das sind schwierige Fragen, denen sich das Modell erkenntnistheoretischer Pflichten nicht entziehen kann und bei denen man nicht recht sieht, wie man sie beantworten soll. Schwerer wiegt jedoch ein zweiter Einwand. Das Pflichtenmodell hängt davon ab, dass der doxastische Voluntarismus richtig ist und das heißt, dass wir unsere Uberzeugungen willentlich kontrollieren können. Es kann nämlich Pflichten bezüglich unserer Uberzeugungsbildung nur dann geben, wenn wir eine Kontrolle über diese Uberzeugungen haben. Hier gilt der Grundsatz Sollen impliziert Können. Wenn sich also zeigen ließe, dass wir keine willentliche Kontrolle über unsere Uberzeugungen haben, dann kann es auch keine Pflichten bezüglich un-

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Erkenntnistheoretische Rechtfertigung

serer Uberzeugungsbildung geben.254 Das Argument gegen das Pflichtenmodell würde also folgendermaßen aussehen: (1) Epistemische Pflichten bezüglich der Uberzeugungsbildung gibt es nur, wenn wir eine willentliche Kontrolle über unsere Uberzeugungsbildung haben. (2) Wir haben keine willentliche Kontrolle über unsere Uberzeugungsbildung. (3) Also gibt es keine epistemischen Pflichten bezüglich der Uberzeugungsbildung. In der Prämisse (2) wird der doxastische Voluntarismus abgelehnt. Gegen ihn sprechen einige wichtige psychologische Beobachtungen. Stellen Sie sich vor, Sie überqueren die Straße und sehen plötzlich, während Sie sich etwa in der Straßenmitte befinden, aus dem Augenwinkel einen Lastwagen schnell auf sich zukommen. Automatisch stellt sich bei Ihnen die Überzeugung ein, dass ein Lastwagen auf Sie zurast. Selbst wenn Sie wollten, könnten Sie diesen Gedanken nicht unterdrücken. Sie können auf ihn keinen willentlichen Einfluss ausüben. Ein anderes Beispiel: Sie überlegen sich, was die Summe aus 2 und 2 ist und kommen natürlich im Handumdrehen zu dem Ergebnis 4. Das leuchtet unmittelbar ein. Selbst wenn Sie wollten, könnten Sie Ihre Überzeugung nicht korrigieren, solange Ihnen dieses Ergebnis einleuchtet. Ähnlich ist es auch bei logischen Schlüssen. Wenn Sie glauben, dass Sie ein Mensch sind und dass alle Menschen sterblich sind, dann kommen Sie zu dem Ergebnis, dass Sie selbst sterblich sind. Diese Überzeugung, so gerne Sie sie auch vermeiden würden, können Sie willentlich nicht beeinflussen. In sehr vielen Fällen zwingen uns unsere Gründe also dazu, bestimmte Überzeugungen zu haben. Und darauf können wir willentlich keinen Einfluss ausüben. Manchmal befinden sich unsere Überzeugungen auch im festen Griff unserer Vorurteile. In der Zeit der Bürgerrechtsbe254

Vgl. dazu vor allem Aiston 1989f.

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wegung setzte sich in den USA mehr und mehr der Gedanke durch, dass auch Schwarze gleichberechtigte Bürger sind. Aufgeklärte Südstaatler fanden diese Überlegung durchaus richtig. Dennoch blieben ihre Uberzeugungen über Schwarze im Alltag lange durch ihre Vorurteile bestimmt, selbst wenn sie das ganz und gar nicht wollten. Oder stellen Sie sich einen religiösen Menschen vor, der aufgrund des ungeheuren Leidens von Unschuldigen in der Welt zu dem Ergebnis kommt, dass ein Gott so etwas nicht zulassen könnte, und der dennoch weiter an Gott glaubt, selbst wenn er es eigentlich nicht mehr will. Alle diese Fälle zeigen, dass die kausal bestimmenden Faktoren der Uberzeugungsbildung einen direkten willentlichen Einfluss ausschließen.255 Der doxastische Voluntarismus widerspricht jedoch nicht nur den psychischen Tatsachen, er ist auch aus systematischen Gründen unhaltbar. Wie wir gesehen haben, liegt dem Voluntarismus die Idee zugrunde, dass unsere Uberzeugungen, unser Fürwahrhalten, unsere Urteile Handlungen im Geiste sind. Diese Auffassung lässt sich jedoch ad absurdum führen. Nehmen wir an, alle Uberzeugungen wären Handlungen. Nach dem Standardmodell der Handlungserklärung sind Handlungen das Resultat eines Wunsches und einer dazugehörigen instrumentellen Uberzeugung. Ich suche nach einem bestimmten Zitat von Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft, weil ich die Textstelle in einem Aufsatz angeben will (der Wunsch) und weil ich glaube, dass das Zitat in seiner Kritik der reinen Vernunft zu finden ist. Wenn alle Uberzeugungen Handlungen sind, dann bedarf es zur Erklärung jeder einzelnen Uberzeugung eines Wunsches und einer weiteren Überzeugung. Da diese Überzeugung wiederum nur durch eine weitere Überzeugung (und einen 255

Das schließt natürlich einen indirekten willentlichen Einfluss auf unsere Uberzeugungen nicht aus. Wenn ich etwas Bestimmtes glauben will, dann kann ich mich natürlich in eine Situation begeben, in der ich das sehe, was ich glauben will. Aber diese indirekte Einflussmöglichkeit ist natürlich viel zu schwach, um epistemische Pflichten zu begründen.

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Erkenntnistheoretische Rechtfertigung

Wunsch) erklärt werden kann, ergibt sich ein unendlicher Regress. Und ein solcher Regress ist nicht realisierbar. Also können Uberzeugungen keine Handlungen im Geiste sein.256 Diese Einwände gegen den doxastischen Voluntarismus sind nicht neu. Anhänger des Pflichtenmodells haben größtenteils zugegeben, dass dieser Voluntarismus nicht haltbar ist. Sie glauben jedoch, dass sie sich auf eine schwächere Position zurückziehen können. Selbst wenn wir unsere Uberzeugungen nicht willentlich kontrollieren können und es deshalb auch keine epistemischen Pflichten bezüglich unserer Uberzeugungsbildung geben kann, gibt es andere epistemisch relevante Faktoren, die wir willentlich beeinflussen können. Die Pflichten könnten sich dann auf diese Faktoren beziehen. 257 Offenbar liegt es in unserer Hand, ob wir unsere Gründe naiv hinnehmen oder ob wir ihre Qualität kritisch reflektieren. Es könnte also eine Pflicht zur kritischen Reflexion geben. Es liegt auch in unserer Hand, wie sorgfältig wir bei der Suche nach Gründen vorgehen, die für oder gegen die Wahrheit einer bestimmten Auffassung sprechen. Auch die Sorgfalt bei der Bewertung unserer Gründe liegt in unserer Hand. Darauf können wir willentlich Einfluss nehmen. Deshalb könnten die Anhänger des Pflichtmodells sagen, dass eine Überzeugung dann gerechtfertigt ist, wenn wir alle Sorgfaltspflichten und die Pflicht zur kritischen Reflexion mit Bezug auf sie erfüllt haben. Was ist von dieser Rückzugsposition der Deontologisten zu halten? Der Deontologist ist darauf festgelegt, eine Überzeugung dann für gerechtfertigt zu halten, wenn das Erkenntnis subjekt alle seine Pflichten erfüllt hat. Nehmen wir an, jemand erfüllt die Pflicht zur kritischen Reflexion und zur Sorgfalt besonders gut. Dennoch kann es passieren, dass seine Überzeugung weiterhin durch tief sitzende Vorurteile und Voreingenommenheiten bestimmt wird und auch seine kritische Reflexion 256

257

Ganz abgesehen davon lässt sich auch phänomenologisch nicht bei jeder Uberzeugung ein entsprechender Wunsch nachweisen. Vgl. in diesem Sinne Bonjour 1985, S. 42; Kim 1994, S. 283.

Was ist ein guter Grund?

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und Sorgfalt daran nichts ändern können. In diesem Fall wäre der Deontologist dazu gezwungen, die durch Vorurteile und Voreingenommenheit bestimmte Uberzeugung als gerechtfertigt zu klassifizieren. Und das ist natürlich vollkommen kontraintuitiv. 258 Wenn wir also epistemische Pflichten erfüllen, die sich nicht direkt auf die Überzeugungsbildung beziehen, dann reicht das für die Rechtfertigung der Uberzeugungen nicht aus. Außerdem handelt es sich bei den Pflichten, von denen hier die Rede ist, um subjektive Pflichten. In diesem Sinne kann jemand nur zu etwas verpflichtet sein, was im Rahmen seiner Möglichkeiten liegt. Stellen Sie sich jetzt eine Person vor, deren intellektuelle Fähigkeiten stark eingeschränkt sind. Sie wird bestimmte logische Fehlschlüsse, die ihr unterlaufen, auch bei angestrengter Reflexion nicht entdecken können. Doch sie hat ihr Bestes getan und sich deshalb nichts zu Schulden kommen lassen. Der Deontologist müsste deshalb in diesem Fall auch Fehlschlüsse als epistemisch gerechtfertigt anerkennen. Auch das ist eine absurde Konsequenz. 259 Kritische Reflexion und Sorgfalt im Umgang mit den Gründen sind jedoch nicht nur nicht hinreichend für die Rechtfertigung einer Uberzeugung, sie sind auch nicht notwendig. Stellen Sie sich jemanden vor, der sich keine Mühe gibt, Gründe für eine bestimmte Auffassung zusammenzutragen und sorgfältig abzuwägen, und der auch nicht dazu neigt, kritisch über die Qualität seiner Gründe nachzudenken. Plötzlich ,stolpert' er gewissermaßen über einen guten Grund für diese Auffassung und erwirbt dadurch die entsprechende Überzeugung. Diese Person erwirbt also einen guten Grund ohne eigenen Verdienst oder eigenes Zutun. Dennoch scheinen die Umstände auszureichen, damit seine Uberzeugung gerechtfertigt ist. Vgl. Tidman 1996, S. 271. 259 Vgl. Tidman 1996, S. 274. Steup 1988 hat dafür argumentiert, dass man wenigstens unter Idealbedingungen durch Reflexion alle kognitiven Fehler erfassen kann. Aber subjektive Pflichten dürfen sich nicht auf Idealbedingungen beziehen, sondern müssen in Rechnung stellen, was das Subjekt tatsächlich leisten kann. 258

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Erkenntnistheoretische Rechtfertigung

Die vorangehenden Überlegungen zeigen ziemlich klar, dass das Pflichtmodell unzureichend ist. Es kann keine epistemischen Pflichten bezüglich der Uberzeugungsbildung geben, weil Uberzeugungen sich nicht willentlich kontrollieren lassen. Und die Erfüllung anderweitiger epistemischer Pflichten ist weder hinreichend noch notwendig für die erkenntnistheoretische Rechtfertigung.

4.3.2 Das Modell instrumenteller Rationalität Sehen wir uns nun das alternative Modell guter Gründe an: das Modell instrumenteller Rationalität. Nach diesem Modell ist ein epistemischer Grund ein guter Grund, wenn es sich um ein gutes Mittel zur Erreichung des erkenntnistheoretischen Ziels handelt. Da wir dieses Ziel bereits früher als die Wahrheit bestimmt haben, sind gute epistemische Gründe zuverlässige Indikatoren der Wahrheit. Eine Uberzeugung wäre also gerechtfertigt, wenn sie durch Methoden, Verfahren oder Prozesse gestützt wird, die die Wahrheit der resultierenden Uberzeugung wahrscheinlich machen. Für eine solche instrumentelle Auffassung guter erkenntnistheoretischer Gründe tritt Laurence Bonjour ein: Wäre die erkenntnistheoretische Rechtfertigung nicht wahrheitszuträglich (...), würde das Auffinden erkenntnistheoretisch gerechtfertigter Uberzeugungen die Wahrscheinlichkeit, wahre Uberzeugungen zu erzielen, nicht substantiell erhöhen, dann wäre die erkenntnistheoretische Rechtfertigung irrelevant für unser primäres kognitives Ziel und von zweifelhaftem Wert. N u r weil wir Grund zu der Annahme haben, dass die erkenntnistheoretische Rechtfertigung ein Weg zur Wahrheit ist, haben wir als kognitive Wesen einen Grund, erkenntnistheoretisch gerechtfertigte Uberzeugungen solchen Überzeugungen vorzuziehen, die erkenntnistheoretisch nicht gerechtfertigt sind. Erkenntnistheoretische Rechtfertigung ist deshalb letztlich nur ein instrumenteller und kein intrinsischer Wert. 260

260

Bonjour 1985, S. 8; meine Übersetzung.

Was ist ein guter Grund?

247

Wenn man dieses Modell guter erkenntnistheoretischer Gründe zugrunde legt, dann lässt sich besser verstehen, warum Sorgfalt und kritische Reflexion erkenntnistheoretisch wertvoll sein können, auch wenn sie nicht festlegen können, was ein guter Grund ist. Epistemisch verantwortliches Verhalten ist erkenntnistheoretisch wertvoll, insofern es zuverlässig dazu beiträgt, die Wahrheit zu finden. Die instrumentelle Konzeption guter Gründe erfüllt den gesamten Katalog der Adäquatheitsbedingungen erkenntnistheoretischer Rechtfertigung. Offensichtlich gilt das für die Bedingung der Wahrheitszuträglichkeit. Wenn gute Gründe zuverlässige Mittel zur Erlangung von wahrer Uberzeugung sind, dann sind sie wahrheitszuträglich. Auch die Normativität in der Unterscheidung zwischen guten und schlechten Gründen kann erklärt werden. Gute Gründe sind zuverlässige Methoden der Überzeugungsbildung, während ein schlechter Grund vorliegt, wenn die Methode unzuverlässig ist. Ferner lässt sich die erkenntnistheoretische Rechtfertigung von anderen Arten der Rechtfertigung auch durch ein charakteristisches Merkmal abgrenzen. Spezifisch ist jeweils das Ziel der instrumentellen Rationalität. Die erkenntnistheoretische Rechtfertigung hat als Ziel die Wahrheit, während die moralische Rechtfertigung das Gute und die pragmatische Rechtfertigung den Nutzen als Ziel haben. Selbst die Anfechtbarkeit der Rechtfertigung lässt sich mit Hilfe der instrumenteilen Konzeption der Rechtfertigung erklären. Auch wenn rechtfertigende Gründe nämlich zuverlässig sind, führen sie doch gelegentlich zu falschen Resultaten. Sie sind fehlbar. Die Anfechtung lässt sich vor diesem Hintergrund als Verfahren der Korrektur von Fehlern verstehen und ist deshalb selbst ein geeignetes Instrument zur schrittweisen Annäherung an die Wahrheit. Die Offenheit für eine kritische Revision unserer Uberzeugungen lässt sich also aus der teleologischen Orientierung der Rechtfertigung an der Wahrheit erklären. Schließlich wird auch der Gradualität der Qualität der Gründe Rechnung getragen. Die Methoden sind mehr oder weniger gute Mittel zur Erlangung wahrer

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Erkenntnistheoretische Rechtfertigung

Überzeugungen. Dieser Grad lässt sich durch den Grad an Zuverlässigkeit quantifizieren, für den sich auch ein Wahrscheinlichkeitswert angeben lässt. Erkenntnistheoretische Konzeptionen guter Gründe (A) Das Modell der Verpflichtung Eine Person ist in ihrer Uberzeugung, dass p, erkenntnistheoretisch gerechtfertigt genau dann, wenn sie gegen keine Pflichten bezüglich der Bildung dieser Uberzeugung verstößt. Einwand 1: Es ist unklar, welche Pflichten es genau gibt und was sie alle zu epistemischen Pflichten macht. Einwand 2: Pflichten bezüglich der Uberzeugungsbildung bestehen nur, wenn wir eine willentliche Kontrolle über unsere Uberzeugungen haben. Eine solche Kontrolle haben wir nicht. Einwand 3: Die Erfüllung von Pflichten, die nicht direkt die Uberzeugungsbildung betrifft, ist weder hinreichend noch notwendig für die Rechtfertigung. (B) Das Modell instrumenteller Rationalität Eine Person hat einen guten Grund für ihre Uberzeugung, dass p, genau dann, wenn der Grund die Wahrheit der Uberzeugung wahrscheinlich macht. Argument·. Dieses Modell erfüllt alle Adäquatheitsbedingungen der erkenntnistheoretischen Rechtfertigung.

Internalismus oder Externalismus ?

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4.4 Internalismus oder Externalismus?261 Im direkten Vergleich hat sich damit die instrumentelle Konzeption erkenntnistheoretischer Rechtfertigung gegenüber dem Pflichtmodell als klar überlegen erwiesen. Die instrumentelle Konzeption der Rechtfertigung lässt jedoch Spielraum für verschiedene Interpretationen. Genügt es, wenn die Wahrheit der gerechtfertigten Uberzeugung aus der subjektiven Perspektive wahrscheinlich erscheint? Oder müssen die Gründe ihre Wahrheit objektiv wahrscheinlich machen? Müssen vielleicht sogar die objektive und die subjektive Perspektive in dieser Hinsicht konvergieren? Uber diese Frage wird seit den frühen 80er Jahren eine der kontroversesten und vielleicht wichtigsten Debatten in der gegenwärtigen Erkenntnistheorie unter dem Slogan „Internalismus oder Externalismus?" geführt. Diese Frage ist von zentraler Bedeutung für die normative Erkenntnistheorie. Von ihrer Entscheidung hängt u.a. ab, wie gravierend das Problem des Skeptizismus wirklich ist und wie die Struktur unserer Begründungen formal betrachtet aussieht. In dieser Debatte zwischen Internalisten und Externalisten geht es genauer um zwei Fragen:

261

Die Literatur zu diesem Thema ist inzwischen unüberschaubar. Zum Einstieg besonders gut lesbar ist Bonjour 2002, S. 221-238. Kornblith 2001 ist ein Sammelband mit den wichtigsten Diskussionsbeiträgen zum Thema. Bonjour/Sosa 2003 trägt die Debatte zwischen den führenden Vertretern des Internalismus und Externalismus kontovers aus. Im deutschsprachigen Raum erörtert Grundmann 2003, Kap. 4 und 5, das Thema umfassend. Häufig wird behauptet, dass das traditionelle Bild der Rechtfertigung internalistisch sei und der Externalismus eine Erfindung des späten 20. Jahrhunderts darstelle, die im Grunde das Thema wechselt. Vgl. etwa Bonjour 1985, S. 37. Zu einer kritischen Bewertung dieser historischen Einschätzung vgl. Aiston - in: Schantz 2004.

250

Erkenntnistheoretische Rechtfertigung

(1.) Was sind Gründe? (2.) In welchem kognitiven Verhältnis stehen Erkenntnissubjekte zu diesen Gründen? Die erste Frage beschäftigt sich mit der Natur und ontologischen Beschaffenheit unserer Gründe. Erkenntnistheoretische Internalisten in diesem ontologischen Sinne sagen, dass die Gründe (als rechtfertigende Faktoren) vollkommen subjektiv sind und allein von der mentalen Perspektive des Erkenntnissubjekts abhängen. Typische Gründe wären also geistige Zustände wie Uberzeugungen, Wahrnehmungserlebnisse, Erinnerungen und Empfindungen. Internalisten in diesem Sinne nenne ich kurz Subjektivisten. Erkenntnistheoretische Externalisten im ontologischen Sinne glauben dagegen nicht, dass die erkenntnistheoretischen Gründe ausschließlich in der mentalen Perspektive zu finden sind. Sie halten auch objektive, von dieser Perspektive unabhängige Tatsachen für rechtfertigungsrelevant. Externalisten in diesem Sinne nenne ich Objektivisten. Aus der Sicht der zweiten Frage ergibt sich dagegen eine andere Dichotomie zwischen erkenntnistheoretischen Internalisten und Externalisten. Die Internalisten behaupten, dass die Gründe dem Erkenntnissubjekt kognitiv bekannt sein müssen. Das Erkenntnissubjekt muss einen kognitiven Zugang zu seinen Gründen haben. Deshalb nenne ich diese Art von Internalismus Tugangsinternalismus. Zugangsexternalisten behaupten dagegen, dass die Gründe dem Subjekt auch unbekannt sein können. D a auch Mischformen von Internalismus und Externalismus in den beiden Dimensionen möglich sind, erhält man die folgende Matrix, in der die wichtigsten Positionen und ihre Hauptvertreter zu finden sind:

251

Internalismus oder Externalismus ? Zugangsinternalismus

Zugangsexternalismus

Subjektivismus

1) Evidentialismus (Cohen 1984, Conee/Feldman 2004, Foley 1985)

Objektivismus

2a) Gründe sind dem Subjekt kognitiv bekannte objektive Tatsachen (Williamson 2000)

3) Reliabilismus (Goldman 1979, Aiston 1986)

2b) Die Gründe machen die Wahrheit der Uberzeugung objektiv wahrscheinlich und dass das so ist, ist dem Subjekt kognitiv bekannt (BonJour 1985)

D e r Evidentialismus (1) besagt, dass es für die Rechtfertigung einer Uberzeugung genügt, wenn es mentale Zustände des Subjekts (wie Erfahrungen oder Uberzeugungen) gibt, die die Wahrheit der zu rechtfertigenden Uberzeugung wahrscheinlich erscheinen lassen. Die Rechtfertigung hängt damit alleine von der mentalen Perspektive des Subjekts ab und zu dieser hat das Subjekt einen direkten introspektiven"' Zugang. Die Auf-

fassung (2a), dass Gründe objektive

Tatsachen sind, die dem

Subjekt kognitiv bekannt sind, ist folgendermaßen zu verstehen: Dass ein Voltmeter einen bestimmten Wert, sagen wir 220 V, anzeigt, ist ein Grund dafür, dass ein Strom von 220 Volt fließt, aber dieser Grund ist nur ein Grund für das Subjekt, dass von diesem Grund auch weiß. D e r Reliabilismus (3) (von engl. reliability. Zuverlässigkeit) besagt, dass eine Uberzeugung vorläufig (also anfechtbar) gerechtfertigt ist, wenn sie sich auf Methoden, Verfahren oder Prozesse stützt, die objektiv zuverlässig sind, d.h. mehrheitlich wahre Überzeugungen hervorbringen. Die Rechtfertigung ist völlig unabhängig davon, ob das Subjekt weiß oder gerechtfertigterweise glaubt, dass seine

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Erkenntnistheoretische Rechtfertigung

Überzeugung auf einer zuverlässigen Methode beruht. Dieser Reliabilismus lässt sich auch mit dem Zugangsinternalismus verbinden (2b). In diesem Fall kann eine Uberzeugung nur dann durch zuverlässige Methoden gerechtfertigt werden, wenn das Subjekt auch gerechtfertigterweise glaubt, dass diese Uberzeugung auf einer zuverlässigen Methode beruht, d.h. eine zusätzliche Metarechtfertigung hat.

4.4.1 Evidentialismus Sehen wir uns jetzt die Positionen der Reihe nach genauer an. D e r Evidentialismus ist ein Subjektivismus. Ihm zufolge hängt alle Rechtfertigung allein von der mentalen Perspektive des Erkenntnissubjekts ab, also von seinen Uberzeugungen, Erinnerungen, Erfahrungen und Intuitionen. Da solche mentalen Zustände direkt durch Introspektion oder Reflexion zugänglich sind, handelt es sich zugleich um einen Zugangsinternalismus. 262 Für den Subjektivismus spricht die folgende Dämonwelt-Intuition: Stellen Sie sich eine kontrafaktische Welt w vor; in der das Subjekt S genau das glaubt, zu erinnern scheint und erlebt, was es in der aktualen Welt glaubt, zu erinnern scheint und erlebt. Seine Überzeugungen, Erinnerungen und Erlebnisse unterscheiden sich in beiden Welten überhaupt nicht, nicht einmal in ihrer Stärke und Intensität. Der einzige Unterschied besteht darin, dass in w die meisten Überzeugungen von S falsch sind, während sie in der aktualen Welt größtenteils wahr sind. In w wird S fortwährend durch einen bösen Dämon über seine Umwelt getäuscht. Aus der Perspektive von S gibt es gar keinen 262

Eigentlich sagt der Zugangsinternalismus aus, dass die rechtfertigenden Faktoren tatsächlich kognitiv bekannt sein müssen, während im Fall des Evidentialismus dieser Zugang nur möglich ist. Dabei handelt es sich jedoch nicht um eine Zugänglichkeit im trivialen Sinne, die zu allen Tatsachen in der Welt besteht, sondern darum, dass die Faktoren direkt und unmittelbar durch Introspektion zugänglich sind. Dass ist eine nicht-triviale Bedingung.

Internalismus oder Externalismus ?

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Unterschied zwischen beiden Welten, so dass S es nicht bemerken würde, wenn er von der aktualen Welt in die Dämonwelt transportiert würde. In diesem Fall - so lautet der Vorschlag würden wir von jeder Uberzeugung, die in der aktualen Welt gerechtfertigt ist, sagen, dass sie auch in der Dämonwelt w gerechtfertigt wäre. Wenn das richtig ist, dann hängt die Rechtfertigung allein von der mentalen Perspektive des Subjekts ab und nicht von objektiven Tatsachen in der Umwelt.263

Einwände Es ist sicher richtig, dass S den Unterschied zwischen der aktualen Welt und der Dämonwelt nicht bemerkt, ja überhaupt nicht bemerken kann. Für ihn sind beide Welten ununterscheidbar. Deshalb kann man S auch in der Dämonwelt keinen Vorwurf machen, dass er irgendeine epistemische Pflicht verletzt hat. Selbst wenn er dort sein Bestes tut, um die Wahrheit herauszubekommen, kann es ihm nicht gelingen. Daraus folgt jedoch nicht, dass seine Uberzeugungen denselben Rechtfertigungsstatus wie in der aktualen Welt haben. Das würde nur folgen, wenn die deontologische Konzeption der Rechtfertigung zuträfe. Aber wir haben bereits gesehen, dass diese Konzeption falsch ist. Es reicht für die Rechtfertigung einfach nicht aus, wenn man aus seiner Perspektive keine Fehler macht und das Beste tut, was man kann. U n d deshalb leuchtet auch der Grundsatz nicht ein, dass es keinen Rechtfertigungsunterschied geben kann, solange man diesen Unterschied nicht aus der Perspektive der ersten Person bemerken kann. Außerdem ist es nicht richtig, dass ein Mittel auch bereits dann instrumenteil rational ist, wenn es aus der Perspektive des Subjekts als zweckdienlich (in diesem Fall also zuverlässig) erscheint. Ein Instrument ist ein gutes Mittel zu einem gegebenen Ziel, wenn es tatsächlich der Verwirklichung dieses Zieles dien263 Vgl. zu diesem Gedankenexperiment Foley 1985, S. 189f.

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Erkenntnistheoretische Rechtfertigung

lieh ist. Wir sind allerdings in unserer Bewertung der instrumenteilen Rationalität an das gebunden, was wir über die Welt glauben. Doch nur dann, wenn unsere kognitive Perspektive der Welt entspricht, ist unsere Bewertung korrekt. Instrumentelle Rationalität selbst ist kein perspektivenrelativer Begriff. Wenn die Rechtfertigung allein von unserer Perspektive abhängen würde, dann wäre es vollkommen rätselhaft, warum uns die Rechtfertigung so wichtig erscheint. Angesichts unseres epistemischen Ziels der Wahrheit ist es doch vollkommen gleichgültig, ob es von irgendeinem Standpunkt so aussieht, als ob die Gründe zuverlässig zur Wahrheit führen. Wir sind einzig und allein daran interessiert, dass uns unsere Gründe tatsächlich zur Wahrheit hinführen. Subjektivisten müssen sich damit allerdings noch nicht geschlagen geben. Es lassen sich nämlich zwei verschiedene Dämonwelten w und w' vorstellen, in denen die Uberzeugungen von S jeweils größtenteils falsch sind, die sich aber dahingehend unterscheiden, dass S in w durch gültige Schlüsse zu seinen Uberzeugungen kommt, während S in w' lauter Fehlschlüsse unterlaufen. Hier verletzt der Dämon also auch die Rationalität von S. Subjektivisten sagen nun, dass sich in diesem Fall die Intuition einstellt, dass S in w epistemisch besser dasteht als in w\ Wie ist das möglich, wenn die Rechtfertigung nicht allein von der mentalen Perspektive abhängt?264 Der Subjektivist nimmt natürlich an, dass S in w deshalb epistemisch besser dasteht, weil er die Schlussregeln nicht verletzt hat. Aber der Objektivist muss diese Erklärung nicht akzeptieren. Er kann sagen, dass gültige Schlüsse deshalb epistemisch besser sind als ungültige, weil sie in jeder Welt konditional zuverlässig sind. Gültige Schlüsse sind so beschaffen, dass sie zwingend zu einer wahren Konklusion führen, wenn ihre Prämissen wahr sind. Dieser Wahrheitswerterhalt ist eine objektive Eigenschaft, und diese Eigenschaft sorgt dafür, dass wir S in w epis264

Dieses Argument für den Subjektivismus findet sich in Cohen 1984, S. 283 f.

Internalismus oder Externalismus ?

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temisch besser beurteilen als in w', auch wenn seine Überzeugungen nicht im vollen Sinne, sondern nur konditional gerechtfertigt sind. Es stellt sich also heraus, dass der Subjektivismus nicht gut begründet ist und dass er den Wert der Rechtfertigung letztlich unverständlich macht. Evidentialismus Die Uberzeugung einer Person ist erkenntnistheoretisch gerechtfertigt genau dann, wenn diese Uberzeugung aus der mentalen Perspektive der Person als wahrscheinlich wahr erscheint. Argument·. Dämon-Intuition Einwand 1\ In der Dämonwelt verletzt die Person keine epistemischen Pflichten. Da das Modell der Verpflichtung jedoch falsch ist, folgt daraus nicht, dass ihre Uberzeugung erkenntnistheoretisch gerechtfertigt ist. Einwand 2: Instrumentelle Rationalität ist nicht perspektivrelativ.

4.4.2 Zugangsinternalistische Versionen des Objektivismus Die erkenntnistheoretische Rechtfertigung hängt also von objektiven Tatsachen ab. Aber diese objektiven Tatsachen können die Überzeugung einer Person nur rechtfertigen, wenn die Person diese Tatsachen kennt. Gründe müssen sich im kognitiven Besitz einer Person befinden, wenn sie die Überzeugungen der Person rechtfertigen sollen. Positionen, die auf diese Weise den Objektivismus mit dem Zugangsinternalismus verbinden (wie 2a und 2b), sind sehr plausibel, wenn man an die typischen Fälle denkt. Wir sagen, dass jemand gute Gründe für seine Ansicht hat (und insofern gerechtfertigt ist), wenn er die Gründe, die für seine Ansicht sprechen, angeben kann, wenn er also eine Begründung oder Argumentation vorweisen kann, die seine

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Erkenntnistheoretische Rechtfertigung

Ansicht wahrscheinlich macht. Gründe kann man jedoch nur angeben, wenn man sie kennt bzw. einen direkten kognitiven Zugriff auf sie hat. Ganz ähnlich sieht es aus, wenn wir aus der Innenperspektive darüber nachdenken, ob unsere eigenen Gründe für eine Auffassung gut sind. Ein solcher reflexiver Aufstieg hin zu einer kritischen Bewertung unserer Gründe scheint immer möglich zu sein. Aber wie sollte das möglich sein, wenn uns unsere Gründe nicht unmittelbar bekannt wären? Denken Sie schließlich auch an Fälle wie den folgenden: Sie fragen sich, ob der gelbe Vogel vor Ihnen auf dem Fensterbrett ein Stieglitz oder ein Kanarienvogel ist. Um zu einem definitiven Urteil in der Sache zu kommen, bräuchten Sie mehr Informationen über typische Merkmale beider Vogelarten, so dass Sie aufgrund solcher Kriterien anhand Ihrer Wahrnehmung herausfinden könnten, worum es sich handelt. Solange sie keine Gründe kennen, die für das eine oder andere sprechen, erscheint ein Urteil aus Ihrer Perspektive dogmatisch und vollkommen willkürlich. Diese und ähnliche Fälle machen den Zugangsinternalismus zunächst sehr plausibel. Eine Überzeugung scheint nur dann gerechtfertigt zu sein, wenn das Erkenntnissubjekt zu glauben gerechtfertigt ist (oder sogar weiß), dass es Faktoren gibt, die die Wahrheit dieser Uberzeugung wahrscheinlich machen. Allerdings beruht diese Verteidigung des Zugangsinternalismus auf einer Generalisierung typischer Fälle, von der nicht klar ist, ob sie wirklich zulässig ist. Sicher, wir sagen, dass jemand eine gerechtfertigte Uberzeugung hat, wenn er Gründe für seine Überzeugung anführen kann. Aber daraus lässt sich nicht direkt ableiten, dass Überzeugungen nur dann gerechtfertigt sind, wenn das Subjekt die Gründe angeben kann. Vielleicht ist die Angabe von Gründen für uns nur ein besonders gutes Indiz um festzustellen, dass jemand gerechtfertigt ist. Aber das ist damit verträglich, dass gerechtfertigte Überzeugungen auch vorliegen können, wenn das Subjekt die Gründe nicht angeben kann. Sicher, es ist auch besonders günstig, wenn wir unsere Gründe so präsent haben, dass wir sie auch kritisch bewerten

Internalismus oder Externalismus ?

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können. Aber ist es für die Rechtfertigung notwendig? Denken Sie daran, dass Sie von den meisten Ihrer gegenwärtigen Uberzeugungen nicht genau wissen, welches Ihr Grund für diese Uberzeugung ist. Sie haben diese Uberzeugungen irgendwann einmal intellektuell redlich erworben, aber die genaue Begründung haben Sie längst vergessen. Soll man wirklich sagen, dass keine dieser vielen Uberzeugungen gerechtfertigt ist? 265 Und schließlich: Sobald wir uns fragen, was wir in einer Sache glauben sollen, brauchen wir offenbar uns bekannte Gründe, um zu einem Urteil zu kommen, das aus unserer Perspektive nicht dogmatisch erscheint. Aber ist das nicht eher der Ausnahmeals der Regelfall? Die meisten unserer Überzeugungen stellen sich automatisch und ohne vorherige Reflexion ein. Diese Überlegungen sollen den Zugangsinternalismus nicht widerlegen, sondern nur zeigen, dass er keineswegs vollkommen selbstverständlich ist, wenn man alle Fälle berücksichtigt.

4.4.3 Gründe als Tatsachen Sehen wir uns nun die Positionen im Einzelnen an, die einen Objektivismus mit einem Zugangsinternalismus verbinden. Eine Möglichkeit, beide zu verbinden, ist die folgende (2a): Gründe sind objektive Tatsachen in der Welt wie ein Messergebnis, ein Indiz, eine Zeugenaussage oder ein Beweisstück. Diese Tatsachen müssen die Wahrheit von Propositionen wahrscheinlich machen. Ein Messergebnis kann eine wissenschaftliche Theorie bestätigen. Eine Zeugenaussage kann die Schuld eines Verdächtigen wahrscheinlich machen usw. Damit ein Grund jedoch die Überzeugung einer bestimmten Person rechtfertigen kann, muss der Grund dieser Person auch noch kognitiv bekannt sein. 266 265

Auf Fälle dieser Art macht Goldman 1979, S. 15; Goldman 1999, S. 280, aufmerksam. Williamson 2000, Kap. 9.

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Erkenntnistheoretische Rechtfertigung

Einwände Gegen diese Position sprechen zwei Einwände. Erstens: Es ergibt sich ein Dilemma'1". Dass der Person die Gründe kognitiv bekannt sein müssen, lässt sich auf zweierlei Weise verstehen. Entweder genügt es, wenn die Person eine wahre Uberzeugung bezüglich des Grundes hat. Oder die Person muss eine gerechtfertigte, wahre Uberzeugung (oder sogar Wissen) bezüglich des Grundes besitzen. Wenn eine wahre Überzeugung über den Grund ausreicht, damit der Grund die Uberzeugung, dass p, rechtfertigt, dann wird unverständlich, warum eine Begründung überhaupt erforderlich ist und man sich nicht gleich mit einer wahren Uberzeugung über ρ zufrieden gibt. Wenn aber eine gerechtfertigte und wahre Überzeugung über den Grund erforderlich ist, damit er die Ausgangsüberzeugung rechtfertigt, dann bedarf es zur Rechtfertigung der Überzeugung über den Grund eines weiteren Grundes, über den eine gerechtfertigte, wahre Überzeugung vorliegt usw. Ein Regress erscheint unvermeidlich. 267 Zweitens: Die Annahme, dass eine Überzeugung nur durch Tatsachen gerechtfertigt werden kann, ist viel zu stark und auf keinen Fall notwendig. Offenbar kann die Konklusion eines deduktiven"' Arguments gerechtfertigt sein, wenn sie auf falschen, aber gerechtfertigten Prämissen beruht. Auch fehlerhafte Gründe anderer Art, wie Halluzinationen oder Illusionen, können rechtfertigen. Der Zusammenhang zwischen den Gründen und der Wahrheit wäre also zu eng, wenn wir Gründe auf Tatsachen einschränken würden. 268

Von Williamson wird dieser Regress nur dadurch vermieden, dass er behauptet, man müsse den Grund wissen und Wissen sei nicht weiter analysierbar, so dass eine weitere Rechtfertigung nicht erforderlich ist und kein Regress entsteht. D o c h selbst wenn Wissen nicht definierbar ist, könnte Rechtfertigung dennoch ein konstitutives Element des Wissens sein. 268 Yg]_ dazu auch die genauere Analyse von Williamsons Position in A b schnitt 3.7.3. 267

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4.4.4 Keine Rechtfertigung ohne Metarechtfertigung Eine Alternative ist die Position, die beispielsweise von Laurence Bonjour vertreten wird (2b). Nach Bonjour ist die Uberzeugung einer Person S gerechtfertigt, wenn sie durch einen zuverlässigen Prozess hervorgebracht wird und wenn S zu glauben gerechtfertigt ist, dass die Uberzeugung durch einen zuverlässigen Prozess hervorgebracht wird. Eine Uberzeugung ist also demnach nur dann gerechtfertigt, wenn die Person S aus ihrer Perspektive auch über ein Kriterium* für die Wahrheit der Uberzeugung verfügt. 269 Diese Position ist schwächer als die Position, die nur Tatsachen als Gründe zulässt, weil zuverlässige Prozesse fehlbar sein können. Da Bonjour zufolge jedoch jede Rechtfertigung eine Metarechtfertigung impliziert, ergibt sich ein ähnliches Regressproblem wie bei der zuvor behandelten Position. Auf die von Bonjour vorgeschlagene Lösung dieses Problems werde ich im nächsten Kapitel noch im Detail eingehen. Bonjours Argument für den Zugangsinternalismus beruht in erster Linie auf einem Gedankenexperiment, das zeigen soll, dass die tatsächliche Zuverlässigkeit einer überzeugungsbildenden Methode nicht ausreicht, um eine Überzeugung zu rechtfertigen. Dieses Gedankenexperiment mit dem Hellseher Norman ist folgendermaßen aufgebaut: Norman besitzt tatsächlich zuverlässige hellseherische Fähigkeiten. Er hat aber aus seiner Perspektive weder Gründe für noch gegen die Zuverlässigkeit der Hellseherei und schon gar keine Gründe dafür oder dagegen, dass er persönlich diese Fähigkeit besitzt. In einer bestimmten Situation erwirbt Norman aufgrund seiner hellseherischen Fähigkeiten die wahre Überzeugung, dass sich der amerikanische Präsident in New York aufhält. Aus seiner Pers269

Vgl. Bonjour 1989, S. 58: „If a person is to be epistemically justified in accepting a particular belief, he must have within his own possession a complete and cogent reason for thinking that the belief is true or at least likely to bet true."

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Erkenntnistheoretische Rechtfertigung

pektive gibt es keine Gründe, die für oder gegen diese Überzeugung sprechen.270 Bonjour ist der Uberzeugung, dass jeder, der diese Situation unvoreingenommen bewertet, zu dem Urteil kommt, dass Normans Uberzeugung nicht gerechtfertigt ist. (Was würden Sie sagen?) Da Norman in der kontrafaktischen Situation tatsächlich hellseherische Fähigkeiten besitzt, kann also die Zuverlässigkeit der Uberzeugungsbildung für die Rechtfertigung nicht ausreichen. Es fehlen aus Normans Perspektive Gründe für seine Uberzeugung. Wir sollen uns vorstellen, dass Hellseherei nicht mit irgendwelchen (übersinnlichen) Erlebnissen verbunden ist, sondern - aus der Innenperspektive betrachtet plötzlich aus dem Nichts irgendeine Uberzeugung über weit entfernte Dinge in Norman auftaucht. Es fehlen jedoch auch die Gründe für die Annahme, dass Hellsehen bei ihm zuverlässig funktioniert. Wenn wir also in Normans Perspektive schlüpfen, dann taucht in uns plötzlich und vollkommen unmotiviert eine Uberzeugung auf, die für uns völlig willkürlich und dogmatisch erscheint. Nichts spricht aus unserer Perspektive für die Wahrheit dieser Uberzeugung. In diesem Fall scheint das Urteil nahe zu liegen, dass Normans Uberzeugung nicht gerechtfertigt ist. Wie kommt diese Intuition zustande? Meines Erachtens liegt das nicht an der fehlenden Metarechtfertigung. 271 Hätte Norman andere zuverlässige Sinne als wir und würde er eine Uberzeugung auf entsprechende Sinneserlebnisse stützen, dann würden wir genauso wenig zögern, diese Uberzeugung als gerechtfertigt anzuerkennen, wie wir Uberzeugungen, die auf zuverlässige visuelle Wahrnehmungen gestützt sind, auch dann als gerechtfertigt qualifizieren, wenn keine Metarechtfertigung der Zuverlässigkeit visueller Wahrnehmung vorliegt. Dass wir geneigt sind, Normans Uberzeugung als nicht gerechtfertigt zu betrachten, liegt daran, dass er Uberzeugungen über die AuVgl. Bonjour 1985, S. 41. 271 Vgl. zur folgenden Kritik ausführlich Grundmann 2004. 270

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ßenwelt erwirbt, ohne sich dabei - wie üblich - auf irgendwelche sinnlichen Erlebnisse zu stützen. Sobald man darauf aufmerksam wird, dass man eine Uberzeugung über die Außenwelt ohne Sinneserfahrung erwirbt, ist man geneigt, sie als spontanen und unzuverlässigen Einfall zu klassifizieren (auch wenn es sich tatsächlich um eine zuverlässige Uberzeugung handelt). 272 Norman hat also aus seiner Perspektive einen unterminierenden Anfechtungsgrund, 273 der seiner Uberzeugung über den Präsidenten auch dann seine Rechtfertigung rauben würde, wenn diese Uberzeugung allein durch ihre zuverlässige Bildung vorläufig gerechtfertigt wäre. Mit anderen Worten: Selbst wenn Sie die Intuition haben, dass Normans Überzeugung nicht gerechtfertigt ist, zeigt das nicht, dass Uberzeugungen nur dann gerechtfertigt sind, wenn das Erkenntnissubjekt auch aus seiner Perspektive Gründe dafür hat, dass die Uberzeugung wahrscheinlich wahr ist. Das Gedankenexperiment kann also den Zugangsinternalismus nicht rechtfertigen. Aber ist die Situation Normans aus seiner Perspektive nicht vollkommen analog zu einer Situation, in der er die Wahrheit einfach nur raten würde? Schließlich gibt es doch aus seiner Perspektive nichts, was für die Wahrheit seiner Überzeugung spricht. Und kann man allen Ernstes behaupten, dass geratene Antworten im erkenntnistheoretischen Sinne gerechtfertigt sind? Es ist richtig: Behauptungen, die durch bloßes Raten zustande kommen, sind nicht gerechtfertigt. Aber solche Be272

273

Introspektives Selbstwissen scheint auch keine evidentielle Basis zu haben, sondern ist direkt. Dennoch haben wir hier nicht die Intuition, dass jemand, der zuverlässig über seine eigenen mentalen Zustände urteilt, nicht gerechtfertigt ist, solange er nicht über eine Rechtfertigung introspektiver Urteile im Allgemeinen verfügt. Es wird zwar durch die Beschreibung von Normans Situation explizit ausgeschlossen, dass Norman über irgendwelche Anfechtungsgründe verfügt. Aber bei der Bewertung von Normans Situation können wir nicht davon abstrahieren, dass wir Uberzeugungen über die Außenwelt ohne evidentielle Basis normalerweise als ,bloße Einfälle' klassifizieren.

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Erkenntnistheoretische Rechtfertigung

hauptungen lassen sich mit unwillkürlichen Überzeugungen überhaupt nicht vergleichen. Die vermeintliche Analogie besteht also gar nicht. Dass wir etwas behaupten, was wir bloß raten, ist eine Handlung, die nicht gut motiviert ist. Aber unwillkürliche Uberzeugungen sind keine Handlungen. Der doxastische Voluntarismus hatte sich ja als falsch herausgestellt. Nur für Handlungen brauchen wir Gründe, die aus unserer Perspektive eine Entscheidung für sie motivieren. Unwillkürliche Überzeugungen stellen sich eben ganz ohne Entscheidung ein. Wenn Norman kritisch darüber nachdenkt, ob seine Überzeugung über den Präsidenten gerechtfertigt ist oder nicht, dann ist er weder in der Lage anzugeben, welche Quellen diese Überzeugung hat, noch kann er sagen, ob diese Quelle zuverlässig ist. Die epistemische Qualität seiner Überzeugung ist also für ihn nicht transparent. Aber das bedeutet weder, wie wir eben gesehen haben, dass er irgendetwas willkürlich glaubt, noch bedeutet es, dass seine Überzeugung einer kritischen Bewertun^ prinzipiell unzugänglich ist. Schließlich kann Norman ja empirisch untersuchen, durch welche Prozesse seine Überzeugung hervorgebracht wurde und ob diese Prozesse bei ihm zuverlässig sind. Er hat nur nicht die Möglichkeit, seine Überzeugung direkt und unmittelbar zu bewerten. Das macht ihn jedoch nicht zu einem Dogmatiker und es ist dann nicht zu sehen, warum man ihm keine gerechtfertigte Überzeugung zuschreiben sollte.

Einwände Die Argumente für den Zugangsinternalismus sind also keineswegs zwingend. Im Übrigen hat der Zugangsinternalismus, der von Bonjour vertreten wird, absurde Konsequenzen. Wenn nämlich jede Rechtfertigung nur aufgrund von Faktoren erfolgen kann, über deren Bestehen gerechtfertigte Überzeugungen vorliegen, dann ergibt sich automatisch ein Regress der Recht-

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fertigung. 274 Sollte dieser Regress nicht zu vermeiden sein, dann hätte das nicht nur unplausible skeptische Konsequenzen, es würde sich sogar aus der Position selbst die Unmöglichkeit jeder Rechtfertigung begrifflich ergeben. Damit wäre der Zugangsinternalismus überhaupt keine konsistente"" Position. Er wäre ein Unding genau wie ein quadratischer Kreis. Bonjour selbst vertritt die Auffassung, dass es kognitive mentale Zustände gibt, die ihre Zuverlässigkeit selbst verbürgen und deshalb keiner Metarechtfertigung durch andere Zustände bedürfen, die ihrerseits gerechtfertigt werden müssten. 275 Aus seiner Sicht lässt sich das Regressproblem also auch im Rahmen des Zugangsinternalismus lösen. Bewusste Uberzeugungen oder Erfahrungen sowie selbstevidente Einsichten in notwendige Wahrheiten sollen in der Lage sein, ihre eigene Zuverlässigkeit zu verbürgen. Jede Rechtfertigung müsste demnach von solchen fundamentalen Gründen ausgehen. Im nächsten Kapitel über die Struktur der Rechtfertigung sollen Bonjours diesbezügliche Vorschläge einer differenzierten Kritik unterzogen werden. An dieser Stelle soll zunächst nur ein kurzer Einwand gegen Bonjours Strategie vorgebracht werden. Bewusste mentale Zustände und selbstevidente Einsichten sind sicher psychologisch fundamental. Wenn man ein bewusstes Erlebnis hat, dann glaubt man (normalerweise) auch, dass man dieses Erlebnis hat. 276 Aber das bedeutet nicht, dass diese Zustände epistemisch fundamental sind. U m zu erkennen, dass Introspektion oder intuitive Einsicht zuverlässig ist, bedarf es einer Theorie, die ihrerseits wieder gerechtfertigt werden müsste, so dass kein Ende des Regresses in Sicht ist. 274 Ygi_ a u c h Alston 1989a. Da der Zugangsinternalismus Rechtfertigung nicht definiert, sondern nur notwendige Bedingungen formuliert, ist der Einwand eines Definitionszirkels allerdings unberechtigt. 275

276

Bonjour nennt solche Zustände ,epistemisch autonom'. Vgl. Bonjour 1998, S. 146f. Es ist natürlich immer möglich, dass man es falsch klassifiziert oder dass man gerade durch Ablenkung nicht auf dieses Erlebnis aufmerksam ist.

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Erkenntnistheoretische Rechtfertigung

Dieser Regress wird nur scheinbar vermieden, indem psychologisch grundlegende kognitive Fähigkeiten (wie Introspektion oder Intuition) nicht mehr kritisch hinterfragt werden. Aus der Sicht eines konsequenten Zugangsinternalismus wäre das aber ein ungerechtfertigter Abbruch der Rechtfertigung, der das Problem nicht wirklich löst. Dieser Einwand wird uns im nächsten Kapitel noch ausführlich beschäftigen. Es scheint noch eine weitere Möglichkeit zu geben, den drohenden Regress zu vermeiden, indem die Bedingung des kognitiven Zugangs abgeschwächt wird. Bislang wurde davon ausgegangen, dass die rechtfertigenden Faktoren dem Subjekt kognitiv bekannt sein müssen, wobei kognitive Bekanntheit so verstanden wird, dass das Subjekt eine wahre gerechtfertigte Uberzeugung über diese Faktoren haben muss. Man kann die Zugangsbedingung jedoch so abschwächen, dass die rechtfertigenden Faktoren dem Subjekt nur potentiell zugänglich sein müssen. In diesem Fall kann man von einem schwachen Zugangsinternalismus sprechen. Dieser schwache Zugangsinternalismus vermeidet vielleicht das Regressproblem, 277 führt aber zu folgendem Dilemma: Die Zugänglichkeit lässt sich auf unterschiedliche Weise verstehen. Entweder es wird gefordert, dass die Gründe irgendwie gerechtfertigt zugänglich sein müssen. Oder es wird verlangt, dass sie auf priviligierte, introspektive Weise zugänglich sein müssen. Im ersten Fall ist die Bedingung vollkommen trivial. Auch der Zugangsexternalismus bestreitet nicht, dass die rechtfertigenden Tatsachen irgendwie, also beispielsweise durch empirische Nachforschungen über die objektive Außenwelt, zugänglich sind. Wird die Zugangsbedingung also derart schwach interpretiert, dann ist sie kein gutes Kriterium zur Unterscheidung vom Zugangsexternalismus. 278 Oder wir nehmen an, dass die rechtfertigenden Faktoren introspektiv zugänglich sein müssen. Dann lässt sich der Zugangsinternalis277 278

Vgl. Alston 1989d, S. 240; Fumerton 1995, S. 64. Fumerton 1995, S. 65; Goldman 1999, S. 288.

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mus anhand dieses Kriteriums zwar klar vom ZugangsexternaIismus unterscheiden. E r ist jedoch nicht mehr mit dem Objektivismus vereinbar (der sich ja als die gegenüber dem Subjektivismus überlegene Position herausgestellt hat), denn objektive Tatsachen lassen sich introspektiv nicht erkennen. Der schwache Zugangsinternalismus vermeidet also das Regressproblem, ist aber entweder zu schwach, um nicht trivial zu sein, oder er ist auf den unattraktiven Subjektivismus festgelegt. Rechtfertigung erfordert Metarechtfertigung Die Uberzeugung einer Person ist gerechtfertigt genau dann, wenn sie durch einen zuverlässigen Prozess hervorgebracht wird und wenn die Person gerechtfertigt ist zu glauben, dass die Uberzeugung durch einen zuverlässigen Prozess hervorgebracht wird. Argument. Gedankenexperiment mit dem Hellseher Norman Einwand 1\ Das Gedankenexperiment ist nicht zwingend. Einwand 2: Regressproblem

4.4.5 Reliabilismus Sehen wir uns schließlich die Position an, die den Objektivismus mit einem Zugangsexternalismus verbindet. Es handelt sich um den so genannten Reliabilismus (Zuverlässigkeitstheorie), der entscheidend von Alvin Goldman durch seinen Aufsatz What is justified belief? inspiriert wurde. Dieser Theorie zufolge ist eine Überzeugung vorläufig im erkenntnistheoretischen Sinne gerechtfertigt genau dann, wenn sie durch Prozesse gestützt wird, die objektiv zuverlässig sind (also mehrheitlich wahre Uberzeugungen hervorbringen). Es genügt, wenn die relevanten Prozesse tatsächlich zuverlässig sind. Dass sie es sind, muss dem Erkenntnissubjekt nicht bekannt sein. 279 279

Vgl. Goldman 1979, S. 10.

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Erkenntnistheoretische Rechtfertigung

Der Reliabilismus ist eine objektivistische Theorie der Rechtfertigung, weil die Zuverlässigkeit (die tatsächliche Wahrheitsbilanz eines Prozesses) von der Beschaffenheit der objektiven Außenwelt abhängt. Allerdings verlangt der Reliabilismus im Unterschied zu der Auffassung, dass Gründe Tatsachen sind, nicht, dass jede Rechtfertigung von einer Wahrheit ausgeht. Wahrnehmungsprozesse können auch dann in der Regel zu wahren Uberzeugungen führen, wenn sie in einem gegeben Fall auf einer Illusion beruhen. Nach dem Reliabilismus ist der Zusammenhang der Rechtfertigung mit der Wahrheit also schwächer als es die Auffassung verlangt, nach der Gründe Tatsachen sind. Der Reliabilismus ist auch eine zugangsexternalistische Theorie, weil die Zuverlässigkeit des für die Rechtfertigung einer Überzeugung relevanten Prozesses dem Erkentnissubjekt nicht bekannt sein muss. Das schließt natürlich ein Wissen von dieser Zuverlässigkeit nicht aus. Auch der Reliabilist kann also sagen, dass Menschen von der Zuverlässigkeit ihrer basalen kognitiven Vermögen wissen. Wenn man die erkenntnistheoretische Rechtfertigung nach dem Modell instrumenteller Rationalität versteht, dann ist der Reliabilismus die geradezu perfekte Verkörperung dieses Modells. Wenn gerechtfertigte Uberzeugungen durch instrumenten rationale Mittel hervorgebracht sein sollen und wenn das erkenntnistheoretische Ziel die Wahrheit ist, dann sind gerechtfertigte Uberzeugungen solche Uberzeugungen, die durch zuverlässige Methoden hervorgebracht werden. Und das ist genau die Grundthese des Reliabilismus. Allerdings bedarf diese These noch einiger Erläuterungen. Erstens: Ein Prozess bzw. eine Methode ist nicht bereits dann zuverlässig, wenn sie tatsächlich zu mehr wahren als falschen Uberzeugungen führt. Es ist nämlich unplausibel zu sagen, dass eine Uhr, die um 3:00 Uhr stehen geblieben ist und nur ein einziges Mal konsultiert wird - nämlich zufällig um 3:00 Uhr — ein zuverlässiges Instrument ist, nur weil sie tatsächlich immer nur wahre Überzeugungen verursacht hat. Damit eine Methode zuverlässig ist, müssen auch alle Überzeugungen berücksichtigt werden, die

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sie leicht hätte verursachen können. Wenn die Wahrheitsbilanz in allen diesen Fällen mehrheitlich positiv ist, dann ist die Methode zuverlässig im für den Reliabilismus relevanten Sinne. 280 Zweitens: Der Reliabilismus ist besonders gut geeignet, um zu erklären, warum Wahrnehmungsüberzeugungen, Erinnerungsüberzeugungen oder introspektive Uberzeugungen gerechtfertigt sind. 281 Deren Rechtfertigung beruht nämlich nicht auf Begründungen und Argumenten, sondern auf der Zuverlässigkeit der involvierten Prozesse. Aber der Reliabilismus kann auch hervorragend erklären, warum Uberzeugungen durch verschiedene Arten von Schlüssen gerechtfertigt werden können. Wenn wir deduktive, induktive und abduktive* Schlüsse auf die beste Erklärung betrachten, dann sind sie nur dann gültig, wenn sie konditional zuverlässig sind. Gültige Schlüsse führen also von wahren Prämissen zu wahren Konklusionen. Bei deduktiven Schlüssen ist dieser Zusammenhang notwendig, bei induktiven und abduktiven Schlüssen nur k o n t i n g e n f u n d wahrscheinlich. Aber der Reliabilismus ist bestens geeignet das Gemeinsame aller dieser gültigen Schlüsse zu erklären. 282 Drittens: Die zuverlässige Genese einer Überzeugung kann diese Uberzeugung nur vorläufig (prima facie) rechtfertigen, weil sie ihren Rechtfertigungsstatus durch Anfechtungs gründe verlieren kann. 283

Einwände Damit sind wir bei den Einwänden gegen den Reliabilismus. Ein typischer Einwand lautet, dass tatsächliche Zuverlässigkeit für die Rechtfertigung einer Überzeugung nicht notwendig ist, 280

281 282 283

Aiston 1995, S. 6f., verteidigt diese kontrafaktische Interpretation der Zuverlässigkeit gegen Goldman 1979, S. 12, der Zuverlässigkeit zunächst als aktuale Wahrheitsbilanz verstand. Bonjour 1998, S. 96. Goldman 1979, S. 13, und Grundmann 2003, S. 320-323. Goldman 1979, S. 20, plädiert für die Anfechtbarkeit reliabilistischer Rechtfertigung.

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Erkenntnistheoretische Rechtfertigung

weil die Dämonwelt-Intuition dafür spricht, dass Rechtfertigung allein von der mentalen Perspektive des Erkenntnissubjekts abhängt. Wir haben aber bereits gesehen, dass und warum dieses Argument für den Subjektivismus unzulänglich ist. Ein weiterer Einwand lautet, dass die tatsächliche Zuverlässigkeit für die Rechtfertigung einer Uberzeugung nicht hinreicht. Das soll durch den Fall des Hellsehers Norman gezeigt werden. Aber auch hier haben wir bereits gesehen, dass dieses Gedankenexperiment nicht zwingend für eine Zugangsbedingung spricht. Das soll an dieser Stelle nicht noch einmal wiederholt werden. Stattdessen sollen zwei weitere wichtige Einwände diskutiert werden: das Referenzklassenproblem und das Problem der allzu leichten Metarechtfertigung.

4.4.5.1 Das Referenzklassenproblem Wenn der Rechtfertigungsstatus einer gegebenen Uberzeugung aufgrund der Zuverlässigkeit des kausal wirksamen Prozesses bewertet werden soll, dann ergibt sich eine Schwierigkeit. Die konkrete Einzelüberzeugung wird durch einen einzelnen psychologischen Prozess verursacht, also durch ein Einzelereignis. Solche Einzelereignisse haben keine statistischen Eigenschaften. Zuverlässigkeit ist aber eine statistische Eigenschaft, denn sie wird durch die objektive Häufigkeit der Wahrheit definiert. Dagegen führt der einzelne psychologische Prozess zu einer einzelnen Uberzeugung, die entweder wahr oder falsch ist. Um dem Prozess eine Wahrheitswahrscheinlichkeit zuordnen zu können, muss er als Einzelereignis einer bestimmten Art betrachtet werden. Doch der einzelne Prozess, der zu der fraglichen Überzeugung hinführt, lässt sich als Vorkommnis sehr unterschiedlicher Arten betrachten, je nachdem, wie er beschrieben wird. Als Beispiel mag meine gegenwärtige Uberzeugung „Heute ist ein sonniger Tag" dienen, die ich aufgrund meiner Wahrnehmung des Wetters durch das Fenster meines Arbeitszimmers erworben habe. Der kognitive Prozess, der zu

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dieser Überzeugung führt, lässt sich auf höchst unterschiedliche Weise charakterisieren: -

als Wahrnehmungsprozess als visueller Prozess als visueller Prozess, der zu einer Uberzeugung mit dem Inhalt „Heute ist ein sonniger Tag" führt

Die Zuverlässigkeit, die dem Prozess zugeordnet wird, hängt natürlich davon ab, welche Beschreibung zugrunde gelegt wird. Sie hängt jedoch nicht nur davon ab, wie spezifisch oder allgemein der psychische Prozess beschrieben wird, sondern sie hängt auch davon ab, unter welchen Umstände der Prozess bewertet wird. Auch hier sind sehr unterschiedliche Beschreibungen möglich, relativ zu denen die zugeordnete Zuverlässigkeit stark variieren kann. Auf das obige Beispiel bezogen, sind etwa folgende Bewertungsumstände denkbar: -

der Prozess unter Bedingungen, die zu einer wahren Uberzeugung führen der Prozess an einem Mittwochabend der Prozess in Bezug auf ein Objekt hinter einem Fenster der Prozess in Bezug auf ein Objekt hinter einem festen Körper der Prozess unter günstigen Beobachtungsbedingungen der Prozess unter beliebigen Beobachtungsbedingungen

Je nachdem, wie der konkrete psychologische Prozess und die Umstände seines Auftretens beschrieben werden, fällt auch das Urteil über seine Zuverlässigkeit unterschiedlich aus. Um bei unserem Beispiel zu bleiben: Perzeptuelle Prozesse sind im Allgemeinen sicherlich nicht übermäßig zuverlässig, aber visuelle Prozesse, die zu der Uberzeugung führen, dass heute ein sonniger Tag ist, sind es vermutlich. Perzeptuelle Prozesse, die zu einer wahren Uberzeugung führen, sind perfekt zuverlässig; aber perzeptuelle Prozesse, die zu Uberzeugungen über Ge-

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genstände hinter festen Körpern führen, sind extrem unzuverlässig. Die Bewertung der Réhabilitât scheint also im doppelten Sinne relativ zu sein. Sie ist relativ zur Angabe des Prozesstyps. Dieses Problem ist das so genannte Generalitätsproblem.2U Die Bewertung ist aber auch relativ zur Festlegung der relevanten Umstände. Dieses Problem soll als Lokalisationsproblem bezeichnet werden. 285 Solange es nicht irgendwelche Tatsachen gibt, die festlegen, welches die für einen psychologischen Prozess relevante Beschreibung ist und welche Umstände für die Bewertung der Zuverlässigkeit relevant sind, bleibt die Zuverlässigkeit eines Prozesses unbestimmt. Und deshalb lässt sich der resultierenden Überzeugung auch kein bestimmter Rechtfertigungsstatus zuordnen. Auf beide Teilprobleme des Referenzklassenproblems gibt es eine Antwort des Reliabilisten. Zunächst die Antwort auf das Generalitätsproblem·. Es ist sicher richtig, dass sich psychische Prozesse extrem unterschiedlich beschreiben lassen. Aber nur eine dieser unterschiedlichen Beschreibungen beschreibt den Einzelprozess so, dass dabei seine essentiellen Eigenschaften erfasst werden. Psychologische Prozesse bilden nämlich natürliche Arten"" aufgrund ihrer kausal operativen Mechanismen, und diese bestimmen die essentiellen Eigenschaften des jeweiligen Einzelprozesses. Ganz analog verhält es sich mit natürlichen Arten wie Wasser. Auch Wasser lässt sich sehr unterschiedlich beschreiben: als trinkbare Flüssigkeit, als durchsichtige Flüssigkeit, als Flüssigkeit, die bei 100 Grad Celsius kocht, als Flüssigkeit in unseren Meeren, Seen und Flüssen usw. Aber nur eine Beschreibung charakterisiert das Wasser über seine wesentlichen Eigenschaften. Diese Beschreibung bezieht sich auf die chemische Struktur des Wassers ( H 2 0 ) . Wie im Fall des Wassers legen die objektiven Tatsachen also auch bei einem psychischen Einzelprozess fest, zu welchem na-

284 285

Vgl. dazu Feldman 1985; Conee/Feldman 1998. Vgl. dazu Dretske 1981, S. 132f; Brandom 1998.

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türlichen Typ dieser Prozess gehört. Und allein dieser Typ ist relevant für die Bewertung der Zuverlässigkeit. 286 Wie sieht es mit dem Lokalisationsproblem aus? Eine Lösung dieses Problems ergibt sich, indem wir einen Umweg über unsere intuitiven Kriterien für die Bewertung der Zuverlässigkeit von Instrumenten und Geräten einschlagen. Nehmen wir an, wir wollen untersuchen, ob ein Kompass zuverlässig funktioniert. Für diese Frage ist natürlich nur unsere Welt relevant. Ob der Kompass auf Himmelskörpern ohne magnetische Pole funktionieren würde oder ob er auch zuverlässig wäre, wenn die Naturgesetze ganz andere wären, ist vollkommen irrelevant. Aber welche Situationen in unserer Welt sind für die Bewertung des Kompasses relevant und welche nicht? Ein Kompass funktioniert nicht zuverlässig, wenn er in der Nähe des magnetischen Nordpols verwendet wird oder wenn sich größere Mengen Eisen in seiner Nähe befinden. Solche Umstände sind für die Bewertung seiner Zuverlässigkeit jedoch irrelevant. Auch von einem Automotor sagen wir ja nicht, dass er unzuverlässig funktioniert, nur weil er unter Wasser oder bei minus 60 Grad Celsius nicht anspringt. Wir nennen Geräte und Instrumente dann zuverlässig, wenn sie unter Normalbedingungen zuverlässig funktionieren. Normalbedingungen sind Umstände, unter denen die Geräte und Instrumente funktionieren sollen, Bedingungen, für die sie gemacht sind. Solche Bedingungen werden bei Geräten und Instrumenten durch ihre Konstrukteure festgelegt. Aber die Umstände, unter denen ein Mechanismus funktionieren soll, können auch auf natürliche Weise festgelegt sein. Wie wir bereits im Kapitel über Wissen gesehen haben, gibt es solche natürlichen Funktionen auch für kognitive Mechanismen und Prozesse. Die Antwort auf das Lokalisationsproblem lautet also: Die Umstände, die für die Bewertung der Zuverlässigkeit eines Prozesses relevant sind, werden durch die natürliche Funktion dieses Prozesses festgelegt. 287 286 Yg|_ i n diesem Sinne Aiston 1995. 287 Vgl. dazu Grundmann 2003, S. 326-331.

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Erkenntnistheoretische Rechtfertigung

4.4.5.2 Das Problem der allzu leichten Metarechtfertigung Stellen Sie sich vor, Sie wollen herausfinden, ob die Tankanzeige Ihres Autos zuverlässig funktioniert. Wenn der Reliabilismus richtig wäre, könnten Sie folgendermaßen vorgehen: Sie verlassen sich auf Ihre Tankanzeige und stützen darauf eine Reihe von Urteilen: dass der Tank zunächst voll ist, dass er eine gewisse Zeit später nur noch halb voll ist und dass er zu einem bestimmten Zeitpunkt bis auf die Reserve leer ist. Außerdem kommen Sie aufgrund Ihrer Wahrnehmung der Tankanzeige zu entsprechenden Urteilen über den Stand Ihrer Tankanzeige. Da aus Ihrer Perspektive in allen Fällen die Tankanzeige mit der Menge an Benzin im Tank übereinstimmt, schließen Sie induktiv darauf, dass Ihre Tankanzeige absolut zuverlässig funktioniert. Wenn Ihre Wahrnehmung und die Tankanzeige zuverlässig funktionieren, dann sind Ihre Urteile darüber, was die Tankanzeige anzeigt und wie viel Benzin sich im Tank befindet gerechtfertigt und mit Hilfe eines induktiven Schlusses aus gerechtfertigten Prämissen kommen Sie außerdem zu der gerechtfertigten Uberzeugung, dass Ihre Tankanzeige absolut zuverlässig funktioniert. Aus der Perspektive des Reliabilismus kann man offensichtlich nichts daran aussetzen, dass eine Methode sich selbst als zuverlässig autorisiert. Dieses Verfahren lässt sich auch auf die Bewertung kognitiver Methoden und Prozesse anwenden. Indem wir das, was wir wahrnehmen, für bare Münze nehmen und gleichzeitig introspektiv erfassen, dass wir es wahrnehmen, können wir sehr leicht rechtfertigen, dass unsere Wahrnehmung zuverlässig ist. Wenn die Wahrnehmung tatsächlich zuverlässig ist, dann können wir mit ihrer Hilfe rechtfertigen, dass sie zuverlässig ist, und damit rechtfertigen wir, dass Wahrnehmungsüberzeugungen gerechtfertigt sind. Wenn man eine Methode mit Hilfe ihrer selbst bewertet, dann kann natürlich nichts anderes herauskommen, als dass sie zuverlässig ist. Aber eigentlich wollen wir doch gerade erst herausfinden, ob die Methode zuverlässig ist und Rechtfertigungskraft hat. Intuitiv betrachtet dürfen wir uns in diesem

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Fall nicht einfach auf die zu untersuchende Methode verlassen, sondern müssen sie mit Hilfe einer unabhängigen Methode bewerten. Im Falle der Tankanzeige würden wir das, was die Tankanzeige anzeigt, mit der Menge an Benzin vergleichen, die wir direkt im Tank gemessen haben. Im Falle einer Waage prüfen wir die Anzeige mit Hilfe geeichter Gewichte. Der Einwand gegen den Reliabilismus lautet nun: Wenn der Reliabilismus wahr ist, dann brauchen wir keine unabhängigen Methoden zur Bewertung einer Methode. Wenn eine Methode zuverlässig ist, dann wird auch das durch sie hervorgebrachte Urteil, dass sie zuverlässig ist, zuverlässig sein. Eine epistemisch zirkuläre* Rechtfertigung ist auf diese Weise möglich. Zwar muss die Wahrnehmung tatsächlich zuverlässig sein, damit wir mit ihrer Hilfe rechtfertigen können, dass die Wahrnehmung zuverlässig ist. Die Prämissen des Arguments sind also nur gerechtfertigt, wenn die Konklusion wahr ist. Aber der Reliabilismus verlangt eben nicht, dass die Existenz der rechtfertigenden Faktoren kognitiv bekannt ist, damit diese Faktoren das rechtfertigen können, was sie rechtfertigen sollen. Die Wahrheit der Konklusion muss also nicht bereits kognitiv bekannt sein, damit die Prämissen gerechtfertigt sind. Nur wenn das der Fall wäre, würde aus dem epistemischen Zirkel ein logischer werden.288 Kurz: Der Reliabilismus macht die Rechtfertigung der Zuverlässigkeit einer Methode viel zu einfach.289 Er kann nicht erklären, wieso wir nach der Bewertung dieser Methode mit Hilfe einer unabhängigen Methode suchen.

288

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Dann würde die Zuverlässigkeit der Wahrnehmung bereits als Prämisse zur Begründung der Prämissen in Anspruch genommen, mit deren Hilfe die Konklusion, dass die Wahrnehmung zuverlässig ist, in Anspruch genommen. Das ist logisch zwar nicht problematisch, aber logisch zirkuläre Argumente sind erkenntnistheoretisch witzlos, weil sie das bereits voraussetzen, was erst begründet werden soll. Vgl. Vogel 2000; Fumerton 1995, S. 177, meint, dass der Reliabilismus viel zu leicht den Skeptizismus widerlegen könnte.

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Erkenntnistheoretische Rechtfertigung

Was ist von diesem Einwand zu halten? Es ist zweifellos richtig, dass der Reliabilismus eine epistemisch zirkuläre Metarechtfertigung zulässt. Wenn eine Methode zuverlässig ist, dann können wir also auch mit dieser Methode ihre Zuverlässigkeit rechtfertigen. Aber wenn wir uns fragen, ob eine Methode zuverlässig ist, dann suchen wir nicht nach irgendeiner Metarechtfertigung, sondern wir wollen entscheiden, ob die Methode zuverlässig ist oder nicht. Wir brauchen also ein Unterscheidungskriterium. Eine Methode kann aber kein Kriterium ihrer eigenen Zuverlässigkeit sein, weil sie sich automatisch selbst autorisiert. Wenn wir also nach einem Kriterium suchen, dann müssen wir eine unabhängige Methode bei der Bewertung verwenden. Als Kriterium kann also nur eine epistemisch nicht-zirkuläre Metarechtfertigung dienen. Das kann auch der Reliabilist akzeptieren. Daraus folgt nicht automatisch irgendeine Version des Zugangsinternalismus. Der verlangt nämlich, dass es für jede gerechtfertigte Uberzeugung ein gerechtfertigtes Kriterium geben muss; und daraus ergibt sich automatisch ein Regress der Kriterien. Anders gewendet: Der Reliabilismus lässt zirkuläre Metarechtfertigungen zu. Er kann aber auch erklären, warum wir manchmal mit solchen Metarechtfertigungen nicht zufrieden sind. Allerdings legt er sich nicht darauf fest, dass wir für jede Rechtfertigung eine nichtzirkuläre Metarechtfertigung brauchen. Der vorliegende Einwand gegen den Reliabilismus geht also fälschlicherweise davon aus, dass der Reliabilismus nicht mehr als eine epistemisch zirkuläre Metarechtfertigung verlangen kann. Das wäre in der Tat eine absurde Konsequenz. Aber der Reliabilismus besagt nur, dass eine Metarechtfertigung epistemisch zirkulär sein kann. Er schließt nicht-zirkuläre Metarechtfertigungen nicht aus.

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Reliabilismus Die Uberzeugung einer Person ist (vorläufig) erkenntnistheoretisch gerechtfertigt genau dann, wenn sie durch einen Prozess gestützt wird, der objektiv zuverlässig ist. Einwand 1\ Dämon-Intuition Antwort: Diese Intuition ist irreführend. Einwand 2: Gedankenexperiment mit dem Hellseher Norman Antwort: Dieses Gedankenexperiment ist nicht zwingend. Einwand 3: Referenzklassenproblem (Generalitätsproblem / Lokalisationsproblem) Antwort: Das Generalitätsproblem lässt sich lösen, weil psychische Prozesse natürliche Arten sind. Antwort: Das Lokalisationsproblem lässt sich lösen, weil die für die Bewertung der Zuverlässigkeit relevante Umwelt durch die natürliche Funktion des Prozesses festgelegt ist. Einwand 4: Aus dem Reliabilismus folgt, dass jede Metarechtfertigung epistemisch zirkulär ist. Antwort: Stimmt nicht! Es folgt nur, dass eine Metarechtfertigung epistemisch zirkulär sein kann, nicht muss.

Ergebnis Was lässt sich also als Ergebnis über die Natur der erkenntnistheoretischen Rechtfertigung festhalten? Wir haben zunächst gesehen, dass diese Rechtfertigung sich nicht durch das deontologische Modell epistemischer Pflichterfüllung erklären lässt, sondern als instrumenteile Rationalität mit Bezug auf das Ziel der Wahrheit verstanden werden muss. Wir haben dann gesehen, dass sich eine subjektivistische Interpretation dieser Ra-

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tionalität ausschließen lässt. Die erkenntnistheoretische Rechtfertigung stellt einen echten, objektiven Zusammenhang mit der Wahrheit her. Nun lässt sich ein solcher objektiver Zusammenhang mit der Wahrheit auch mit einer Zugangsbedingung verknüpfen. Wir haben aber gesehen, dass die Argumente für diese Zugangsbedingung nicht wirklich zwingend sind und dass sich umgekehrt aus der Zugangsbedingung ein Regressproblem ergibt. Im nächsten Kapitel soll genauer untersucht werden, ob der Zugangsinternalist irgendeine Möglichkeit hat, im Rahmen seiner Theorie diesen Regress zu stoppen. Der rivalisierende Reliabilismus ist ein Objektivismus, der auf jegliche Zugangsbedingungen vollständig verzichtet. Es hat sich gezeigt, dass diese Position alle Einwände erfolgreich zurückweisen kann. Sollte der Zugangsinternalismus das Regressproblem nicht lösen können, wäre der Reliabilismus also die Position der Wahl.

5 Die Struktur der Rechtfertigung 5.0 Allgemeines Eine Untersuchung der Struktur der menschlichen Rechtfertigung kann höchst unterschiedliche Ziele verfolgen. Psychologen untersuchen etwa, wie Menschen ihre Uberzeugungen tatsächlich begründen. Dabei kommt heraus, dass uns sehr leicht Fehlschlüsse in der Wahrscheinlichkeitsrechnung unterlaufen. Ein schönes Beispiel zum KonjunktionsieiAschiuss''' kann das veranschaulichen.290 Nehmen Sie an, Sie bekommen die Information, dass eine Person namens „Linda" eine universitäre Ausbildung mit dem Hauptfach Philosophie absolviert hat und dass sie sich besonders für Fragen sozialer Gerechtigkeit interessiert. Sie sollen nun die drei folgenden Aussagen nach ihrer Wahrscheinlichkeit ordnen: (1) Linda engagiert sich für die Frauenbewegung. (2) Linda ist eine Kassiererin. (3) Linda ist eine Kassiererin und engagiert sich für die Frauenbewegung. Wenn Sie wie die meisten Leute reagieren, werden Sie (3) für wahrscheinlicher halten als (2), weil (3) inhaltlich etwas mit der Information zu tun hat, die Sie bekommen haben, während (2) offenbar gar nichts mit dieser Information zu tun hat. Aber dann machen Sie einen Fehler, denn eine Konjunktion (wie (3)) kann niemals wahrscheinlicher sein als die Teilsätze, die sie miteinander verknüpft. Psychologen werden auch andere, typische Formen von Fehlschlüssen oder irrationalen Einflüssen auf die Akzeptanz von Prämissen genauer unter die Lupe nehmen. Ein ganz anderes Ziel verfolgen normative Theorien der Struktur der Rechtfertigung. Sie versuchen anzugeben, wie eine Rechtfertigung aussehen sollte, damit sie gut oder adäquat 290 Vgl. zu diesem Beispiel Tversky/Kahneman 1983.

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Die Struktur der Rechtfertigung

ist. Die Standards für eine gute Rechtfertigung sind in verschiedenen Disziplinen sehr unterschiedlich. In der klassischen Logik und Mathematik werden beispielsweise nur deduktive* Beweise"" akzeptiert, während in den empirischen Wissenschaften induktive Generalisierungen oder abduktive* Schlüsse zulässig sind. Allerdings werden als Ausgangspunkt solcher Schlüsse nur Daten akzeptiert, die durch intersubjektiv::" wiederholbare Experimente gesichert sind. Im Alltag sind alle möglichen Arten von Schlüssen akzeptabel und Prämissen müssen nicht experimentell abgesichert sein. Die Erkenntnistheorie interessiert sich weniger für solche disziplinären Unterschiede, als für die generelle Struktur einer guten Rechtfertigung. Wenn die Struktur der Rechtfertigung in der Erkenntnistheorie zur Diskussion steht, wird zunächst einmal auch von den jeweiligen Quellen der Rechtfertigung abstrahiert. Die formale Struktur einer guten Rechtfertigung kann bei Wissen durch Wahrnehmung, Wissen durch Introspektion"" und Wissen aufgrund von rationalen Intuitionen völlig gleich aussehen. Häufig wird die generelle Struktur einer guten Rechtfertigung unter der Voraussetzung untersucht, dass die Prämissen gerechtfertigt sind. So verfahren etwa die Logik und die Argumentationstheorie. Die Erkenntnistheorie möchte dagegen strukturell aufklären, wie Rechtfertigung überhaupt möglich ist. Diese Untersuchung soll also gerade nicht voraussetzen, dass es Rechtfertigung gibt. Eine erkenntnistheoretische Erforschung der Struktur menschlicher Rechtfertigung ist also (i) normativ, (ii) generell und (iii) global und voraussetzungslos. Von Seiten der Erkenntnistheorie gibt es drei Vorschläge, die generelle und globale Struktur guter Gründe zu charakterisieren: den Fundamentalismus, die Kohärenztheorie und den Kontextualismus. Der Fundamentalismus ist die klassische Position, die eigentlich bis ins ausgehende 19. Jahrhundert unangefochten akzeptiert wurde. Er unterscheidet zunächst rein formal zwei Typen von Überzeugungen: die basalen und die nicht-basalen Uberzeugungen"". Basale Uberzeugungen sind gerechtfertigt, ohne dass diese Rechtfertigung von anderen

Allgemeines

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Überzeugungen (durch einen Schluss) abhängt. Basale Überzeugungen sind nicht-inferenziell* gerechtfertigt. 291 Die nichtbasalen Überzeugungen sind dagegen durch einen Schluss (d.h. inferenziell) gerechtfertigt. D e r Fundamentalismus besagt nun Folgendes: D e r Ursprung aller Rechtfertigung liegt in den basalen Überzeugungen. Alle nicht-basalen Überzeugungen sind nur insofern gerechtfertigt, als sie auf kürzerem oder längerem Weg aus basalen Überzeugungen inferenziell abgeleitet sind. Es kursieren verschiedene Metaphern, um den erkenntnistheoretischen Fundamentalismus zu charakterisieren. Da ist zum einen das Bild von einem Haus des Wissens. Dieses Bild wird bereits durch die Rede von einem Fundament nahe gelegt. In diesem Bild beruht die Stabilität des ganzen Aufbaus (die nicht-basalen Überzeugungen) auf der Stabilität des Fundaments (den basalen Überzeugungen). Das Verhältnis des Fundaments zum Aufbau lässt sich durch verschiedene weitere Metaphern charakterisieren. Häufig findet man das Bild einer Pyramide.

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Streng genommen kann man nur im abgeleiteten Sinne von basalen Überzeugungen sprechen, da in erster Linie Acren Rechtfertigung basal (nicht-inferenziell) oder nicht-basal (inferenziell) ist. Typen von Uberzeugungen sind immer ganz neutral gegenüber der Art ihrer Rechtfertigung. Alle nicht-inferenziell (z.B. durch Wahrnehmung) rechtfertigbaren Uberzeugungen sind im Prinzip auch inferenziell (durch ein Argument) rechtfertigbar. Selbst einzelne Überzeugungen können zu einem Zeitpunkt nicht-inferenziell und zu einem anderen Zeitpunkt inferenziell gerechtfertigt sein. Im Extremfall können sie sogar zu ein und demselben Zeitpunkt inferenziell und zugleich nicht-inferenziell gerechtfertigt sein. Man spricht dann von erkenntnistheoretischer Überdeterminierung. Aus Einfachheitsgründen werde ich aber im Folgenden den gängigen Sprachgebrauch übernehmen und von basalen Uberzeugungen sprechen.

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Die Struktur der Rechtfertigung O

Abb. 1

In diesem Bild könnte das unten liegende Fundament zum Beispiel durch empirische Beobachtungsprotokolle gebildet werden, von denen jeweils mehrere zusammen Aussagen über objektive physikalische Daten rechtfertigen, die ihrerseits durch einen Schluss auf die beste Erklärung eine physikalische Theorie mit axiomatischer* Struktur rechtfertigen. Die Spitze der Pyramide bildet dann das höchste Axiom der Theorie. Im Unterschied dazu steht eine Rechtfertigungstruktur, die die Form eines Baumes hat

î î Î

Allgemeines

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Durch dieses Bild könnte etwa die Rechtfertigungsstruktur einer nicht-empirischen Wissenschaft (wie Logik oder Mathematik) veranschaulicht werden. Die Basis der Rechtfertigung besteht aus wenigen Axiomen, aus denen in mehreren Schritten eine ganze Menge von Theoremen"" abgeleitet werden können. Für den erkenntnistheoretischen Fundamentalismus stellen sich drei zentrale Fragen: 1. Welche Uberzeugungen sind basal? 2. Wie stabil sind die basalen Uberzeugungen? 3. Wodurch bekommen die basalen Überzeugungen ihre epistemische Autorität bzw. ihre Rechtfertigung (wenn nicht dadurch, dass sie aus anderen Überzeugungen inferenziell abgeleitet werden)? Entlang möglicher Antworten auf diese Fragen, kann man verschiedene Versionen des Fundamentalismus unterscheiden. Die rationalistischen Fundamentalisten sind der Auffassung, dass die basalen Überzeugungen auf einer apriorischen"" Einsicht in notwendige"' Wahrheiten oder erste Prinzipien beruhen. Klassische Vertreter dieser Art von Fundamentalismus waren Piaton und Descartes. Empiristische Fundamentalisten sind dagegen der Auffassung, dass basale Überzeugungen durch die Sinneswahrnehmung gerechtfertigt sind. Klassische Vertreter sind die Britischen Empiristen (Locke, Berkeley und Hume) sowie Russell, Ayer und Schlick im 20. Jahrhundert. Hinsichtlich der Stabilität basaler Überzeugungen kann man starke und moderate Fundamentalisten unterscheiden. Starke Fundamentalisten wie Descartes waren der Auffassung, dass basale Überzeugungen unfehlbar und rational unanfechtbar sind. Basale Überzeugungen sind deshalb so etwas wie absolute Fixpunkte. Moderate Fundamentalisten behaupten dagegen, dass basale Überzeugungen zwar keiner weiteren Begründung durch andere Überzeugungen bedürfen, dass sie aber dennoch durch Gegengründe anfechtbar und fehlbar sind. Schließlich kann man Fundamentalisten danach unterscheiden, welche Faktoren sie für die epistemische Autorität der basalen Über-

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Die Struktur der Rechtfertigung

Zeugungen verantwortlich machen. Oer psychologische Fundamentalismus behauptet, dass die basalen Uberzeugungen ihre Autorität dadurch bekommen, dass der Uberzeugungsinhaber mit absoluter Sicherheit von ihrer Wahrheit überzeugt ist. Der externalistische Fundamentalismus macht die Zuverlässigkeit der Überzeugungsbildenden Prozesse dafür verantwortlich, dass die basalen Uberzeugungen gerechtfertigt sind. Der internalistische Fundamentalismus ist dagegen der Auffassung, dass die basalen Überzeugungen so beschaffen sind, dass die Wahrscheinlichkeit ihrer Wahrheit unmittelbar aus ihnen selbst heraus einleuchtet. Damit wäre die Forderung des Zugangsinternalismus erfüllt. Die. Kohärenztheorie der Rechtfertigung kehrt das fundamentalistische Bild gewissermaßen um. Es gibt keine basalen Überzeugungen, denn eine Überzeugung für sich allein genommen kann nicht gerechtfertigt sein. Die Rechtfertigung jeder einzelnen Überzeugung hängt von der globalen Struktur der Beziehungen in einem ganzen System von Überzeugungen ab. Je enger und systematischer die Überzeugungen in einem solchen Überzeugungssystem miteinander zusammenhängen, desto größer ist der Grad an Rechtfertigung dieses Systems und damit aller einzelnen Elemente des Systems. Der erkenntnistheoretische Status des Gesamtsystems ist damit gegenüber dem Status jeder einzelnen Überzeugung vorrangig. Daraus ergeben sich interessante Konsequenzen für die Dynamik von Überzeugungssystemen. Während der traditionelle Fundamentalist davon ausgeht, dass basale Überzeugungen ihrerseits nicht mehr anfechtbar und revidierbar sind, gibt es in der Kohärenztheorie keine Überzeugungen, die von der Möglichkeit der Anfechtung und Revision prinzipiell ausgenommen sind. Jede beliebige Überzeugung kann (gerechtfertigt) revidiert werden, wenn dadurch der Zusammenhang des Gesamtsystems verbessert wird. Diese Eigentümlichkeit wird durch das Bild eines Schiffes oder Floßes des Wissens, das der führende Kohärenztheoretiker des Wiener Kreises, Otto Neurath, für seine Theorie gewählt hat und das W.V.O. Quine seinem Hauptwerk als Motto vorangestellt hat, sehr gut veranschau-

Allgemeines

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licht. Die Schwimmfähigkeit eines Floßes hängt von keinem einzelnen Baumstamm ab. Während der Fahrt können wir beliebige Stämme im Floß auswechseln und so sogar dessen Schwimmfähigkeit noch verbessern. Nimmt man dagegen einen Grundstein im Fundament heraus, dann bricht das ganze Haus zusammen. Die klassischen Vertreter der Kohärenztheorie (Neurath, Quine, Sellars) haben darin eine besondere Tugend ihrer Theorie gesehen, dass sie der uneingeschränkten Fehlbarkeit und Revidierbarkeit von Uberzeugungen im Lichte neuer Informationen Rechnung tragen kann. Der Kontextualismus der Rechtfertigung ist, rein formal betrachtet, ein Fundamentalismus.292 Auch der Kontextualist unterscheidet zwischen basalen und nicht-basalen Uberzeugungen. Was allerdings inferenziell begründet werden muss (nicht-basale Uberzeugungen) und was keiner inferenziellen Begründung bedarf, hängt dem Kontextualismus zufolge vom Kontext des Gesprächs oder dem Kontext der Untersuchung ab. In verschiedenen Kontexten kann also ein und derselbe Uberzeugungstyp einmal basal, ein andermal nicht-basal sein. Wie kann man diese Kontextrelativität genauer verstehen? In einer Gesprächssituation gibt es Dinge, die strittig sind, und andere Dinge, die von allen Gesprächsteilnehmern akzeptiert werden. Der Kontextualismus nimmt nun an, dass unstrittige Uberzeugungen solange (vorläufig) gerechtfertigt sind, bis einer der Gesprächsteilnehmer plausible Gründe gegen die Wahrheit dieser Überzeugungen anführt. Unstrittige Uberzeugungen und Ansichten genießen einen so genannten defaultStatus. Sie gelten als erkenntnistheoretisch akzeptabel, solange nichts gegen sie spricht. Es ist offensichtlich, dass dieser default-Status relativ zur Gesprächssituation ist. Eine andere Form von Kontextualismus, die vor allem vom späten Wittgenstein vertreten wurde, besagt, dass jeder Kontext der Untersuchung eigene Voraussetzungen (methodologische Präsuppositionen) mitbringt, die in diesem Kontext der Untersuchung 292

Vgl. in diesem Sinne auch Williams 2001, S. 164 f.

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Die Struktur der Rechtfertigung

stets begründungswwbedürftig (und damit basal) sind. Im Kontext der Geschichtswissenschaft macht es einfach keinen Sinn zu untersuchen, ob die Erde länger als fünf Minuten existiert und wir möglicherweise kollektiv einer Erinnerungstäuschung unterliegen. Obwohl die Wahrheit dieser Annahme von jeder geschichtswissenschaftlichen Untersuchung vorausgesetzt wird, ist sie innerhalb der Geschichtswissenschaft nicht begründungsbedürftig. Wenn man, wie Wittgenstein, zusätzlich davon ausgeht, dass Kontexte der Untersuchung autonom sind und nicht von anderen Untersuchungskontexten abhängen, dann bestimmt jeder Untersuchungskontext für sich alleine darüber, welche Uberzeugungen basal und welche nicht-basal sind.

5.1 Der klassische Fundamentalismus Traditionell haben Fundamentalisten angenommen, dass das Fundament aller Rechtfertigung aus unfehlbaren und unanfechtbaren Überzeugungen besteht. Und sie haben außerdem angenommen, dass diese basalen Uberzeugungen so beschaffen sind, dass sie selbst einen Grund für die Einsicht in ihre Wahrheit liefern. Eine solche Kombination aus starkem und internalistischem Fundamentalismus möchte ich als klassischen Fundamentalismus bezeichnen. Descartes ist in seinem Hauptwerk Meditationen ein paradigmatischer Vertreter des klassischen Fundamentalismus gewesen. In der Gegenwart kommt Laurence Bonjour dieser Position zumindest nahe.293 Das Hauptargument* für den klassischen Fundamentalismus besteht darin, dass er verspricht, das Regressproblem der Rechtfertigung zu lösen. Das Regressproblem der Rechtfertigung wurde bereits in der Antike formuliert. Es geht wohl auf Aristoteles und in seiner ausgereiften Form auf den akademischen Skeptiker Agrippa

293

Bonjour 1999 und Bonjour 2002.

Der klassische Fundamentalismus

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zurück.294 Es wird auch als Agrippas Trilemma* oder - in der gegenwärtigen Diskussion - als Münchhausen-Trilemma295 bezeichnet. Das Regressproblem wirft ein prinzipielles Problem für die Möglichkeit der Rechtfertigung auf: Nehmen wir an, wir wollten die Uberzeugung A rechtfertigen. Wir können das mit Hilfe einer zweiten Uberzeugung Β tun, wenn wir A aus Β inferenziell erschließen können. Doch nun stellt sich die Frage, wodurch Β gerechtfertigt ist. (i) Entweder rechtfertigen wir Β durch C, C durch D und immer so weiter. Dann ergibt sich ein unendlicher Regress. Diese erste Option gibt dem Regressproblem seinen Namen, (ii) Oder wir rechtfertigen B, den Grund für A, wieder durch A selbst, dann entsteht ein Rechtfertigungszirkel. Der Grund für etwas wird selbst durch das, wofür er Grund ist, gerechtfertigt, (iii) Oder wir rechtfertigen B, unseren Grund für A, durch keine weitere Uberzeugung, sondern brechen die Kette der inferenziellen Begründungen bei Β einfach ab. Dann kommt es zum Abbruch der inferenziellen Begründungen. Agrippa war nun der Auffassung, dass alle drei möglichen Optionen keine akzeptablen Optionen sind. Weder durch einen Regress noch durch einen Zirkel noch durch einen Abbruch der Begründung kann man wirklich irgendetwas rechtfertigen. Deswegen handelt es sich um ein Trilemma*. Alle drei möglichen Wege sind inakzeptabel. Was ist an dem unendlichen Regress auszusetzen? Aristoteles hat dagegen eingewandt, dass es in einer unendlichen Kette von Gründen keinen ersten Grund gibt.296 Wenn es jedoch keinen ersten Grund gibt, dann könne man mit der Begründung gar nicht anfangen. Dieser Einwand ist jedoch nicht sehr gravierend. Aristoteles setzt dabei einfach voraus, dass man den Grund vor dem Begründeten angeben können muss. Aber warum sollte man nicht einfach in der Kette der Begründung vom Aristoteles 1993, Buch I, Kap. 2-3; vgl. zu Agrippas Trilemma die fünf Tropen in Empiricus 1968,1, §§ 164-177. 2 Inferenz, bei dem die Konklusion von den Prämissen (logisch) impliziert wird. Ein klassischer deduktiver Schluss ist ein Syllogismus, der aus zwei Prämissen und einer durch diese Prämissen gemeinsam implizierten Konklusion, besteht. Bsp. Alle Menschen sind sterblich —> Prämisse 1 Sokrates ist ein Mensch —> Prämisse 2 Sokrates ist sterblich —> Konklusion Wenn in diesem Beispiel die Prämissen wahr sind, so folgt daraus, dass auch die Konklusion wahr ist. Es gibt aber auch einfachere gültige deduktive Schlüsse wiep, also ρ. Allgemein ist jeder Schluss deduktiv, bei dem Prämissen und Konklusion in dem Verhältnis zueinander stehen, dass die Konklusion wahr sein muss, wenn die Prämissen wahr sind. Definition Man unterscheidet Nominaldefinitionen und Realdefinitionen. 1. Nominaldefinition: Satz, der die Bedeutung eines Ausdrucks bestimmen soll. Man unterscheidet in einem Definitionssatz das Definiendum (der Ausdruck, der definiert werden soll) vom Definiens (der Teil, der das Definiendum definiert). Beide Bestandteile der Definition sollen die gleiche Bedeutung haben. Zum Beispiel bestimmt der Satz „Ein Junggeselle ist ein unverheirateter Mann" die Bedeutung von „Junggeselle", insofern dieser Ausdruck mit dem Definiens „unverheirateter Mann" synonym ist. Man kann verschiedene Formen der Nominaldefinition unterscheiden: In stipulativen Definitionen wird die Bedeutung eines Ausdrucks lediglich festgesetzt (Bsp.: Das Ass ist die höchste Karte beim Poker). Dagegen legt eine explikative Definition die Bedeutung eines Ausdrucks

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nicht willkürlich fest, sondern versucht, die Bedeutung, die ein Ausdruck hat, korrekt zu beschreiben. Die Explikation der Bedeutung kann richtig oder falsch sein. 2. Realdefinition: Hier wird die Natur, die Essenz einer Sache festgehalten, die durch wissenschaftliche Untersuchungen (und nicht bloß Bedeutungsuntersuchung) ermittelt wurde. Ein Beispiel für Realdefinitionen ist „Wasser ist H 2 0 " . Deontologie (von griech. deon, „das Erforderliche", „die Pflicht", und „Lehre") Pflichtenlehre.

logos,

Dilemma/Trilemma Eine Situation, in der verschiedene Wahlmöglichkeiten vorliegen, die jedoch alle zu einem unerwünschten Ergebnis bzw. kontraintuitiven Konsequenzen führen. Liegen zwei Wahlmöglichkeiten vor, spricht man von einem Dilemma, bei drei Wahlmöglichkeiten von einem Trilemma. Disjunktion Ein aus zwei mit ,oder verbundenen Teilsätzen bestehender Satz. Man unterscheidet dabei die ausschließende Disjunktion, die wahr ist, genau dann, wenn einer der beiden Teilsätze wahr ist, und die nieht-aussehließende Disjunktion (Adjunktion), die sowohl dann wahr ist, wenn einer der beiden Teilsätze wahr ist, als auch, wenn beide Teilsätze wahr sind. Dogma (griech. Dògma, „Uberzeugung", „Lehrsatz"), hier: Behauptung, die ohne rationale Begründung und oft auch trotz rationaler Gegenargumente vertreten wird. Ein Dogmatiker ist demnach jemand, der für rationale Kritik nicht zugänglich ist. Ellipse In der Logik: Argument mit einer Prämisse, die nicht extra aufgeführt wird (weil sie z.B. unkontrovers ist), die jedoch notwendig ist, um das Argument gültig zu machen. enthymematischer Schluss Schluss mit einer ausgelassenen Prämisse. —» Ellipse Entität (lat.entitas, Wesen, Seiendes) hier: ein Seiendes, ein Gegenstand. Extension/Intension Die Extension eines Begriffes (bei Frege: Bedeutung) ist die Menge aller Referenten, also aller Gegenstände, auf die der Begriff sich bezieht oder die unter ihn fallen. So ist z.B. die Extension des Individualbegriffs Ahendstern der Planet, der mit diesem Begriff bezeichnet wird, die Venus.

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Darüber, was die Intension eines Begriffes ist, besteht hingegen weniger Einigkeit. Neben der Extension eines Begriffes gibt es die kognitiv-psychologische Gegebenheitsweise (also etwa eine Beschreibung, die wir mit dem Begriff assoziieren) und es muss etwas geben, das die Extension des Begriffes festlegt. Bei Frege (und bei semantischen Internalisten) fallen beide in der Intension (bei Frege: Sinn) zusammen: so ist zum Beispiel „der hellste Himmelskörper am Abendhimmel" unsere psychologische Gegebenheitsweise des Begriffs Abendstern und die Extension dieses Begriffes wäre demnach der Gegenstand, der diese Beschreibung erfüllt. Kripke und Putnam haben jedoch gezeigt, dass Gegebenheitsweise und Referenzfixierung auseinanderfallen können. Sie argumentieren, dass das, was tatsächlich die Extension unserer Begriffe fixiert, eine unmittelbare Kausalrelation zwischen Referent und Begriff sein kann oder eine Beschreibung, die uns bei der gegenwärtigen Verwendung des Begriffs nicht oder nicht mehr bekannt ist. Da in diesem Fall die Referenz nicht durch etwas Internes (die psychologische Gegebenheitsweise), sondern durch etwas Externes fixiert wird, spricht man auch vom semantischen Externalismus. (siehe: Frege 1962, Putnam 1975, Kripke 1981) extensionaler/intensionaler Kontext Ein Satz stellt für einen Begriff, der in ihm vorkommt, einen extensionalen Kontext dar, wenn dieser Begriff durch einen koextensionalen Begriff (einen Begriff mit gleicher —» Extension) ersetzt werden kann, ohne dass sich der Wahrheitswert des Satzes ändert. Bsp.: In dem Satz Der Abendstern ist ein Planet kann man den Ausdruck Abendstern durch den Ausdruck Morgenstern ersetzen, ohne dass der Wahrheitswert des Satzes sich ändert. Ein Satz stellt für einen Begriff, der in ihm vorkommt, einen intensionalen Kontext dar, wenn koextensionale Ausdrücke nicht ersetzt werden können, ohne dass sich der Wahrheitswert ändert. Bsp.: Peter glaubt, dass der Abendstern ein Planet ist. Wenn dieser Satz wahr ist, kann der Satz Peter glaubt, dass der Morgenstern ein Planet ist immer noch falsch sein, denn vielleicht weiß Peter nicht, dass Abendstern und Morgenstern auf denselben Gegenstand referieren. Intensionale Kontexte nennt man auch „opake" Kontexte. gültig Ein Argument ist gültig, wenn die Konklusion unter korrekter Anwendung der Schlussfolgerungsregeln aus den Prämissen abgeleitet worden ist. Die Gültigkeit eines Arguments sagt jedoch nichts über den Wahrheitswert der Konklusion aus, sie besagt nur, dass die Konklusion wahr sein muss, wenn die Prämissen wahr sind. Ein gültiges Argument mit wahren Prämissen nennt man —> schlüssig.

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hinreichend Β ist hinreichend für A, wenn es der Fall ist, dass immer, wenn B, dann auch A. Wenn Β jedoch nicht auch —» notwendig ist für A, kann es Fälle geben, in denen zwar A, nicht jedoch Β der Fall ist. Implikation, logische Eine Proposition Ρ wird genau dann von einer Menge von Propositionen P I . . . Pn logisch impliziert, wenn a priori einsehbar ist, dass wenn P I . . . Pn alle wahr sind, es —> notwendig ist, dass Ρ wahr ist. Indexikalität/indexikalisch Indexikalische Ausdrücke sind kontextabhängige Ausdrücke, wie ich, hier, jetzt, du, heute, dieses, jenes usw. Die Referenz (Extension) solcher Ausdrücke sowie der Wahrheitswert von Sätzen, die solche Ausdrücke beinhalten, sind abhängig von Sprecher, Sprechzeitpunkt und Äußerungsort (also vom Kontext). indirekter Beweis/indirektes Argument Man kann die Wahrheit eines Satzes ρ indirekt dadurch beweisen, dass man aus der Prämisse nicht-p und weiteren, unstrittigen Prämissen entweder eine widersprüchliche oder eine unplausible Konklusion ableitet. Da diese Konklusion jedoch wahr sein muss, wenn die Prämissen wahr sind, und alle Prämissen außer nicht-p unstrittig wahr sind, muss nicht-p falsch sein, um die widersprüchliche (oder unplausible) Konklusion zu vermeiden. Wenn jedoch nicht-p falsch ist, folgt daraus die Wahrheit ihres —» kontradiktorischen Gegenteils, p, zumindest wenn das Prinzip der Bivalenz gilt (dass entweder ,p' oder,nicht-p' wahr ist). Kurz: Um zu beweisen, dass ein Satz ρ wahr ist, reicht es aus zu zeigen, dass das kontradiktorische Gegenteil von p, nicht-p, falsch ist, denn die Falschheit von nicht-p impliziert die Wahrheit von p. Induktion (von lat. in, in, ein, und ducere führen, leiten) bezeichnet jene Art von Schlüssen, bei denen die Prämissen die Konklusion stützen, ohne sie jedoch logisch zu implizieren (wie es beim —» deduktiven Schluss der Fall ist). D.h., es ist bei einem induktiven Schluss immer möglich, dass die Konklusion falsch ist, obwohl alle Prämissen wahr sind. Man unterscheidet bei induktiven Schlüssen enumerative und —> abduktive Schlüsse. Enumerative Schlüsse sind Schlüsse, bei denen aus einer Korrelation in einer begrenzten Menge von Einzelfällen auf eine streng allgemeine Korrelation geschlossen wird, z.B.: Alle Schwäne, die ich bisher gesehen habe sind weiß. Alle Schwäne sind weiß.

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Abduktive Schlüsse (von lat. ab-ducere, wegführen) sind Schlüsse auf die beste Erklärung. In einer Erklärung folgt das zu Erklärende (Explanandum) deduktiv aus der erklärenden Hypothese (Explanans). Der Schluss auf die beste Erklärung schließt in umgekehrter Richtung vom Explanandum auf das Explanans. Diese Schlussrichtung ist nicht deduktiv. Bei der Entscheidung zwischen konkurrierenden Hypothesen spielen Kriterien wie Einfachheit, Sparsamkeit und Kohärenz mit anderen Uberzeugungen eine Rolle. Manche Autoren (z.B. Peirce) klassifizieren abduktive Schlüsse nicht als Spezialform von Induktion, sondern als eigene Schlussform neben Deduktion und Induktion. Inferenz Eine Inferenz ist ein gedanklicher Prozess, durch den man von einem oder mehreren Gedanken zu einem neuen Gedanken gelangt. In gültigen Inferenzen hängt die Wahrheit des abgeleiteten Gedankens (Konklusion) von der Wahrheit der Gedanken ab, die die Grundlage einer Inferenz bilden (Prämissen). Man spricht auch von einem Schluss. Solche Schlüsse lassen sich sprachlich auch als Beziehungen zwischen Sätzen objektivieren. Die wichtigsten Schlussverfahren sind —> Deduktion, —» Induktion und —> Abduktion. Inkonsistenz, epistemische Ein Schluss / Argument ist epistemisch inkonsistent, wenn die Konklusion nur unter der Bedingung wahr ist, dass die Prämissen nicht gerechtfertigt sind. Intentionalität (von lat. intendere, sich wenden gegen, zielen) Intentionalität bezeichnet ein Strukturmerkmal des Psychischen. Intentionalität bedeutet die Gerichtetheit des Bewusstseins auf ein davon unabhängiges Objekt oder einen davon unabhängigen Sachverhalt (dies können auch mentale Tatsachen sein). Intentionale Zustände sind demnach mentale Zustände, die dadurch charakterisiert sind, dass sie auf etwas gerichtet sind, das unabhängig von diesem Zustand besteht, und dieses Objekt mental repräsentieren. Dabei muss man unterscheiden zwischen dem, was repräsentiert wird (dem Referenten/Objekt) und der Art und Weise, wie es repräsentiert wird (dem repräsentationalen Gehalt). Bei Brentano dient Intentionalität als Unterscheidungsmerkmal zwischen Psychischem und Physischem. Das Psychische (Mentale) ist dabei dadurch charakterisiert, dass es sich mittels eines Inhalts auf ein Objekt bezieht, das nicht existieren muss, damit der intentionale Bezug auf es möglich ist. So können z.B. Kinder Hexen fürchten, obwohl es keine Hexen gibt. Mit der Unterscheidung von Referent/Objekt und Inhalt kann man Fehlrepräsentationen erklären.

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intersubjektiv (von lat. inter zwischen, und subjectum zugrunde liegend) 1. Dasjenige, was prinzipiell für mehrere oder sogar alle Subjekte zugänglich, erkennbar oder begreifbar ist (erkenntnistheoretische Dimension). In diesem Fall spricht man auch von ,öffentlich' (im Gegensatz zu ,privat'). Tatsachen in der Außenwelt sind klarerweise für mehrere Subjekte unter geeigneten Umständen zugänglich. Strittig ist das für Bewusstseinsinhalte wie etwa Schmerzempfindungen, die möglicherweise nicht für Außenstehende zugänglich sind. 2. Das, was in seiner Existenz davon abhängt, dass es mehrere Subjekte gibt (ontologische Dimension). Kommunikation, Gemeinschaften oder Rituale gibt es z.B. nur, wenn es mehrere Subjekte gibt. Davon zu unterscheiden sind subjektive Dinge (z.B. Schmerzen), deren Existenz von einem einzelnen Subjekt abhängt, oder objektive Dinge (z.B. Elektronen), die unabhängig von irgendwelchen Personen existieren. 3. Ein bestimmter Geltungsstatus einer Auffassung. Intersubjektiv gültig ist eine Auffassung, wenn sie von allen Personen (zu einem Zeitpunkt) akzeptiert wird, d.h. wenn es einen Konsens in Bezug auf sie gibt. Bloß subjektiv gültig ist eine Auffassung, wenn sie nur von einzelnen akzeptiert wird, und objektiv gültig ist eine Auffassung, wenn sie wahr ist. Dass die Sonne gar nicht existiert, ist bestenfalls subjektiv gültig. Dass die Sonne sich um die Erde dreht, war (vor Kopernikus) intersubjektiv gültig, aber es war niemals objektiv gültig. Introspektion (lat. intra, „nach innen" und spicere, „schauen") Introspektion ist ein psychologischer Prozess durch den man zu Überzeugungen über eigene mentale Zustände (z.B. Gedanken, Gefühle etc.) kommen kann. So wird die Uberzeugung, dass ich fröhlich bin, in aller Regel so erworben, dass ich mir über meinen Gemütszustand introspektiv gewahr werde. Es ist strittig, ob man Introspektion als eine empirische Erkenntnisquelle analog zur Sinneswahrnehmung von äußeren Tatsachen („Ich sehe dort einen Tisch") verstehen sollte oder ob introspektiv erworbene Überzeugungen eine —» a priori Quelle haben und die ganze Wahrnehmungsanalogie irreführend ist. Introspektion gilt außerdem als eine besonders zuverlässige Erkenntnismethode. Die These des privilegierten Zugangs besagt, dass ein bestimmtes Subjekt in einer besseren epistemischen Position ist als alle anderen Erkenntnissubjekte, um Wissen über seine eigenen mentalen Zustände zu erlangen. kohärent ein System von Überzeugungen ist kohärent, wenn die in ihm enthaltenen Überzeugungen (1.) —> konsistent sind und (2.) sich gegenseitig stützen (deduktiv, induktiv oder explanatorisch).

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konsistent Ein System von Uberzeugungen ist konsistent, wenn alle in ihm enthaltenen Uberzeugungen gleichzeitig wahr sein können, d.h., wenn es keine widersprüchlichen Uberzeugungen enthält. kontingent/notwendig Eine wichtige Unterscheidung in der Ontologie. Eine Proposition (dictum) ist kontingent wahr, wenn sie auch hätte falsch sein können. Es ist zum Beispiel wahr, dass Sie gegenwärtig ein Buch lesen, es hätte aber auch anders sein können. Propositionen sind notwendig wahr, wenn sie unmöglich falsch sein können. Typische Beispiele dafür sind Propositionen wie „2+2=4" oder „Junggesellen sind unverheiratete Männer". In der Terminologie der möglichen Welten ausgedrückt würde man sagen: Kontingente Propositionen sind wahr in mindestens einer möglichen Welt. Notwendige Propositionen sind wahr in allen möglichen Welten. Von diesen de dicto Notwendigkeiten müssen de re Notwendigkeiten sorgfältig unterschieden werden. In ihnen wird nicht einer Proposition, sondern einem Gegenstand (res) eine Eigenschaft als notwendig (oder essenziell) zugeschrieben. Im Begriffsrahmen möglicher Welten lässt sich das folgendermaßen interpretieren: In jeder Welt, in welcher der besagte Gegenstand existiert, besitzt er auch die besagte Eigenschaft. So ist z.B. Wasser notwendigerweise H 2 0 . Konjunktion Eine Konjunktion ist ein Satz, der aus zwei mit und verbundenen Sätzen besteht. Eine Konjunktion ist nur dann wahr, wenn beide Teilsätze für sich genommen wahr sind. kontradiktorisch Zwei Aussagen sind kontradiktorisch, wenn sie weder beide falsch noch beide wahr sein können. D.h., die Falschheit der einen Aussage erzwingt die Wahrheit der anderen (und umgekehrt). Z.B. sind die Sätze ρ: a ist farbig und q: a ist nicht farbig kontradiktorisch, weil aus der Falschheit des einen die Wahrheit des anderen folgt: Wenn ich weiß, dass es nicht zutrifft, dass a farbig ist, weiß ich, dass es zutrifft, dass a nicht-farbig ist. kontrafaktisch Nicht den Tatsachen entsprechend. Normalerweise spricht man von kontrafaktischen Situationen als von Situationen, die nicht der Fall sind, aber der Fall hätten sein können. Maximale mögliche kontrafaktische Situationen werden auch als nicht-aktuale —» mögliche Welten bezeichnet.

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konträr Zwei Aussagen sind konträr, wenn sie nicht beide zugleich wahr sein können (wie —» kontradiktorische Aussagen), jedoch (im Gegensatz zu kontradiktorischen Aussagen) beide zugleich falsch sein können, z.B. Alle Schwäne sind weiß und Kein Schwan ist weiß. Korrelation Zwei Entitäten oder Eigenschaften sind korreliert, wenn die eine nie auftritt, ohne dass auch die andere auftritt. Wenn eine Korrelation besteht, ist damit noch nichts darüber gesagt, ob ein Kausalzusammenhang zwischen den beiden Größen besteht oder nicht. So sind z.B. Temperatureigenschaften und Druckeigenschaften bei Gasen bloß korreliert: steigt die Temperatur, dann steigt auch der Druck (und umgekehrt). Allerdings kann hier keine kausale Beziehung vorliegen, weil eine Ursache immer ihrer Wirkung in der Zeit vorausgeht. Bei bloßen Korrelationen muss das nicht der Fall sein. Eine metaphysisch notwendige Korrelation ist ein gutes Indiz für eine Identität zwischen den Korrelaten, auch wenn sie diese nicht verbürgt. Kriterium (griech. krinein, „scheiden", „urteilen") Das Kennzeichen oder der Prüfstein der Wahrheit oder auch Unterscheidungsmerkmal. mögliche Welt Mögliche Welten sind Welten, die der Fall sein könnten. Man unterscheidet zwischen nomologisch möglichen Welten (die nur unter der Bedingung möglich sind, dass unsere Naturgesetze gelten) und metaphysisch möglichen Welten, für die diese Bedingung nicht gilt. Die Menge der metaphysisch möglichen Welten beinhaltet alle möglichen Welten, sie ist somit größer als die Menge der nomologisch möglichen Welten, und beinhaltet diese. Unklar beim Begriff der möglichen Welten ist deren ontologischer Status. So nimmt der Modale Realismus (vertreten z.B. von Lewis 1986) mögliche Welten als existierend ernst, wohingegen Ersatztheorien sie als Konstrukte aus maximal —> konsistenten Satzmengen (Carnap 1956) oder als Rekombinationen tatsächlich instantiierter Eigenschaften betrachten (z.B. Armstrong 1997). natürliche Art Entitäten, die zu einer Natürlichen Art gehören, bilden eine Menge von Dingen, die wichtige theoretische Eigenschaften gemeinsam haben. Standardbeispiele für natürliche Arten sind biologische Arten, chemische Stoffe oder Arten von mikrophysikalischen Teilchen (Hase, Aluminium, Elektron). Eine semantische Besonderheit bilden Begriffe, die sich auf natürliche Arten beziehen: Diese Natürliche-Art-Begriffe haben (zumindest nach dem semantischen Externalismus) keinen de-

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skriptiven Kern. Deshalb können die hinreichenden und notwendigen Charakteristika der Art nicht durch Begriffsanalyse ermittelt werden, sondern müssen empirisch erforscht werden, (dazu: Putnam 1975, Kripke 1981). Erkenntnistheoretische Naturalisten, die behaupten, dass erkenntnistheoretische Kernbegriffe wie Wissen oder Rechtfertigung natürliche-Art-Begriffe sind, fordern daher eine Abkehr von der Methode der Begriffsanalyse hin zu empirischer Forschung. notwendig —» kontingent/notwendig Proposition Eine Proposition ist, allgemein gesprochen, der Inhalt eines Satzes, einer Uberzeugung oder eines Wunsches. Verschiedene Sätze können die gleiche Proposition ausdrücken, z.B. der englische Satz „Snow is white " und der deutsche Satz „ Schnee ist weiß". Man unterscheidet den propositionalen Gehalt eines Satzes oder einer Uberzeugung von der propositionalen Einstellung. Bei dem propositionalen Gehalt handelt es sich um Gehaltseigenschaften konkreter Sätze und Überzeugungen, durch die diese zu Wahrheitswertträgern werden. Der propositionale Gehalt von Sätzen sagt, dass etwas so-und-so beschaffen ist. Propositionen sind wahr, wenn ihr Gehalt erfüllt ist und falsch, wenn ihr Gehalt nicht erfüllt ist. Erfüllt wird ihr Gehalt durch Tatsachen, also dadurch, dass etwas Bestimmtes, von dem sie handeln, der Fall ist. Nach einer Auffassung sind Propositionen feiner individuiert als Tatsachen. So drücken die Sätze „Der Abendstern ist ein Planet" und „Der Morgenstern ist ein Planet" verschiedene Propositionen aus, die aber beide durch dieselbe Tatsache (dass die Venus ein Planet ist) wahr gemacht werden. Es gibt jedoch auch Russells grobkörnige Auffassung von Propositionen, derzufolge Propositionen durch die Referenten und Eigenschaften konstituiert sind. Demnach würden die Sätze „Der Abendstern ist ein Planet" und „Der Morgenstern ist ein Planet" dieselbe Proposition ausdrücken. Die propositionale Einstellung ist die Einstellung, die ein Sprecher zu einer Proposition einnehmen kann. Zu ihnen zählen glauben, sich fragen oh, wünschen etc. So drücken z.B. die Sätze „Es regnet" und „Ich möchte, dass es regnet" denselben propositionalen Gehalt, aber verschiedene propositionale Einstellungen aus. Der propositionale Gehalt, dass es regnet, wird einmal geglaubt {„Ich glaube, dass es regnet") und einmal gewünscht {„Ich möchte, dass es regnet). Realisierung Mit dem Begriff Realisierung' wird der Umstand beschrieben, dass —» supervenierende Eigenschaften ontologisch von grundlegenderen

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Eigenschaften (der Supervenienzbasis) abhängig sind. So besagt die so genannte „Realisierungsthese" in der Philosophie des Geistes, dass alle mentalen Eigenschaften durch physikalische Eigenschaften realisiert sind. Höherstufige Eigenschaften einer Art Β werden demnach von basalen Eigenschaften einer anderen Art A erzwungen. Dadurch ist es unmöglich, dass es für zwei unterschiedliche supervenierende Eigenschaften Β denselben Realisierer A gibt. Die metaphysische Beziehung der Realisierung impliziert allerdings nicht, dass sich B-Eigenschaften auf Α-Eigenschaften reduzieren lassen und Aussagen über B-Eigenschaften überflüssig sind. Im Gegenteil: B-Eigenschaften können vielfältig realisiert sein. Dies ist die These der Multirealisierbarkeit, die besagt, dass eine supervenierende Eigenschaft Β durch verschiedene Eigenschaften der Art A realisiert werden kann (z.B. Schmerz durch Gehirnzustände und Computeraktivität). (—> Supervenienz) schlüssig ein —> gültiges Argument mit wahren Prämissen. skeptische Hypothesen mögliche Situationen, in denen uns unsere kognitiven Vermögen global täuschen, weil sie nicht auf die normale Weise aktiviert werden, sondern durch Dämonen oder Neurowissenschaftler mit einer Täuschungsabsicht, ohne dass wir die Täuschung bemerken. Supervenienz Supervenienz ist eine Relation zwischen zwei Mengen von Eigenschaften, den supervenierenden Eigenschaften und der Supervenienzbasis, die nicht unabhängig von einander variieren können. Allgemein gilt, dass eine Menge von B-Eigenschaften über einer Menge von A-Eigenschaften superveniert, wenn es keinen Unterschied auf der Ebene der B-Eigenschaften (der supervenierenden Eigenschaften) geben kann, ohne dass es auch einen Unterschied auf der Ebene der A-Eigenschaften (der Supervenienzbasis) gibt. So superveniert z.B. die mittlere Dichte eines Gegenstandes auf Masse und Volumen des Gegenstandes: zwei Gegenstände können nicht verschiedene mittlere Dichten haben, ohne dass sie sich auch entweder in Masse oder Volumen (der Supervenienzbasis) unterscheiden. Man unterscheidet verschiedene Arten von Supervenienz, so z.B. lokale und globale sowie logische und nomologische Supervenienz. (Vgl. dazu Chalmers 1996, S. 32ff; Jackson 1998, S. 9ff; McLaughlin, http://plato.stanford.edu/entries/supervenience/) (—» Realisierung) synthetisch Ein Satz ist synthetisch, wenn er nicht —» analytisch ist, d.h. wenn er nicht allein aufgrund seiner Bedeutung wahr ist, sondern zu seiner Er-

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kenntnis über begriffliche Kompetenz hinaus auch noch empirische Informationen nötig sind. Im Gegensatz zu analytischen Sätzen wie „Junggesellen sind ledig", die von kompetenten Sprechern als trivial empfunden werden, gelten synthetische Sätze wie „Junggesellen sind gesellig" als informativ und erkenntniserweiternd. Wenn allerdings Frege damit Recht hat, dass die Arithmetik insgesamt aus analytischen Sätzen besteht, dann kann es auch hochinformative analytische Sätze geben, wie z.B. Goldbachs Vermutung, dass jede gerade Zahl die Summe zweier Primzahlen ist. Theorem Eine Proposition, die innerhalb eines wissenschaftlichen Systems logisch abgeleitet wurde (im Gegensatz zu —» Axiomen). transzendentales Argument Ein transzendentales Argument soll zeigen, dass die Bedingungen der Möglichkeit einer Position im Widerspruch stehen zu ihrem Inhalt. Dabei kann es sich um semantische, existentielle oder methodologisch/erkenntnistheoretische Bedingungen der Möglichkeit handeln. Type/Token Die Unterscheidung zwischen Vorkommnis und Typ (auf Englisch ,Token und ,Type') wird in der Ontologie vorgenommen, um zwischen einem einzelnen Vorkommnis und dem allgemeinen Vorkommnistypen zu unterscheiden. So enthält zum Beispiel das Wort „Boot" vier Buchstaben. Diese Buchstaben sind Token, also konkrete Vorkommnisse von Buchstaben, die ein Wort bilden. Das Wort „Boot" besteht allerdings nur aus drei verschiedenen Typen von Buchstaben, nämlich b,o und t. Wissen erster/zweiter Ordnung Eine Person S hat Wissen erster Ordnung, wenn sie eine Uberzeugung, dass p, hat, die die Kriterien des Wissens erfüllt (welche das auch sein mögen). Eine Person S hat Wissen zweiter Ordnung, wenn sie die Überzeugung q: ich weiß, dass ρ hat, und diese Uberzeugung q die Kriterien des Wissens erfüllt. Wissen zweiter Ordnung einer Proposition ρ ist, kurz gesagt, zu wissen, dass man ρ weiß. Zirkularität (epistemische; logische), Ein Argument ist zirkulär, wenn eine Prämisse eines Arguments bereits die Wahrheit der Konklusion voraussetzt. Es lassen sich unterschiedliche Arten der Zirkularität in Argumenten unterscheiden. Logische Zirkularität liegt vor, wenn die Konklusion (oder eine Variation davon) schon explizit in den Prämissen vorkommt und daraus inferenziell die Konklusion abgeleitet wird: P, also ρ

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Ein solches Argument ist zwar gültig, aber trivial, denn ein beliebiger Satz p, der zuerst in den Prämissen behauptet wird, muss natürlich auch in der Konklusion daraus folgen. Bei der epistemischen Zirkularität hingegen kommt die Konklusion gar nicht explizit in den Prämissen vor. Der Zirkel besteht vielmehr darin, dass die Rechtfertigung der Prämissen von der Wahrheit der Konklusion abhängig ist: Ρ j S, hat die Wahrnehmungsüberzeugung, dass p„ und p, Ρ2 S2 hat die Wahrnehmungsüberzeugung, dass p2, und p 2 P3 S3 hat die Wahrnehmungsüberzeugung, dass p3, und p 3 ... also (wahrscheinlich) Κ Wahrnehmung ist zuverlässig Unter anderen hat W.P. Aiston dieses epistemisch zirkuläre Argument zur Begründung der Zuverlässigkeit der Sinneswahrnehmung etabliert und diese Form der Zirkularität verteidigt (Aiston 1989d).

Sachregister Abduktion (siehe Schluss auf die beste Erklärung) Abbruch der (inferenziellen) Rechtfertigung - dogmatischer (ungerechtfertigter) 264, 285, 376f., 383 - gerechtfertigter 288f., 382f. Adäquatheitsbedingungen - für Rechtfertigung 228, 247f., 330 - für Wahrheit 39-42, 62 - für Wissen 180 Adverbiale Theorie der Wahrnehmung (siehe Wahrnehmung) Akt-Objekt-Modell (siehe Wahrnehmung) Agrippas Trilemma 285, 289, 376-383 Analytizität 60, 513 Anti-Reduktionismus (vgl. Reduktionismus) Antiskeptizismus (vgl. Skeptizismus) - ambitionierter 352, 357 - moderater 352, 355, 357 Anfechtbarkeit - von Wissen 124 - von Rechtfertigung 218,227, 247, 267, 336 Anfechtungsgründe 224, 227, 267, 331, 333f., 393, 462, 506, 522f., 538, 540f. - widerlegend 97, 113 - unterminierend 97, 112, 117f., 261, 373 f. - irreführend 113 f., 124 - Unanfechtbarkeit 111-121,320, 506, 512 Apriori 19,28, 281, 315f., 347, 416, 431,444

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angeborenes Wissen 504 Exklusivitätsargumente für 508-510 - Fallibilitätseinwand gegen 512 - kontingentes Apriori 501 - Problem der Erklärungslücke 512-515 - Selbstaufhebungsargumente für 510-512 - Realivitätseinwand gegen 515-517 Artikulationsargument 491 f. Asymmetrie, epistemische 287f. Aufmerksamkeit 296f., 300, 389, 424 Außenweltskeptizismus (siehe Skeptizismus) Autonomie der Erkenntnistheorie 20 Basisproblem (siehe Fundamentalismus) Basissätze 379 f. Begriffe - demonstrative 492 - deskriptive 560 - Idealbegriffe 560 - Natürliche-Arten-Begriffe (siehe darunter) Begriffsanalyse 9ff., 16, 192, 209, 224, 551, 562, 565 Bewusstsein 295, 420 - bewusster Zustand 300f. - Bewusstsein von etwas 300f. Blindsicht 488, 522 - Superblindsicht 488f. Cogito-Argument 291-298 - performative Interpretation 293 f.

598 -

Sachregister

sinnkritische Interpretation 294 f. Erklärungslücke, Argument der Standardinterpretation 292 f. (siehe Apriori) Ethik des Glaubens 239 Definition Evidentialismus 251, 252-255 Evidenz 4 9 , 1 9 5 , 4 3 1 , 4 3 5 , 4 5 3 , 4 5 7 , - explikativ 10 - stipulativ 10 462, 494, 503, 525 Definitionszirkel 53, 55, 67f., 214, Externalismus 263 - epistemischer 250, 327, 332, 336, Deflationismus der Wahrheit (siehe 373, 448f., 494, 497, 510, 557, 563 Wahrheitstheorien) - historischer 401 Default-Status 283, 332, 462 - Objektivismus 250 Denkbarkeit 220, 361, 400, 508 - semantischer 397f., 400f., 526 Deontologismus (siehe Rechtferti- Zugangsexternalismus 250, 264f. gung) (vgl. Intemalismus, Reliahilismus) Diagnose 31, 158f., 165, 172, 186, 355, 357, 443 Fallibilismus (vgl. Infallihilismus) - theoretische 354 426-429 - therapeutische 353 - schwach 426 f. Dialethismus 434 - stark 426 Disjunktivismus (siehe Wahrneh- universell 426 mung) Fundamentalismus 278-282 Diskriminationsfähigkeit 135, 138, - Basisproblem des 290, 302f., 309 146 - empiristischer 281 Dogmatismus 289, 379, 381 - externalistischer 282 - internalistischer 282 Entsprechungsrichtung 38, 88 - klassischer 284-298 Erkenntnistheorie - moderater 281, 335-337 - als Fundamentalwissenschaft 27 - neoklassischer 298-309 - als methodologisches Kriterium - Problem des Uberbaus 302 f., 29 f. 309, 336 - als philosophische Disziplin - psychologischer 282 8-16 - rationalistischer 281 - als Widerlegung des Skeptizis- starker 281 mus 28 f. Fundhärenztheorie 324 - analytische Aufgaben der 6, Funktion, ordnungsgemäße {proper 9-11 function) 187-189 - Autonomie der 28 - diagnostischer Ansatz der 31 Gedankenexperimente 509 - evolutionäre 445 f. Gegengründe (siehe Anfechtungsgründe) - Grundfragen der 8 - normative Aufgabe der 7, 11 f. Gehirne im Tank 14, 16, 48,129, Erklärung, deduktiv-nomologi133, 141,148f., 157f., 398-401, sches Modell der 304f. 407f.

Sachregister

599

Generalitätsbedingung (für BeInkonsistenz 158,210,318,324,379 griffe) 490 - epistemische 510 Geschlossenheitsargument (siehe - existenzielle 418f., 426 skeptische Argumente) - performative 293 Geschloss enheitsprinzip - semantische 418, 426 - der Rechtfertigung 366-369 Instrumentelle Rationalität, Modell - des Wissens 136f., 146, 150, der 246-248 158f., 165, 166-180, 363-366 Intellektualistische Legende 78 Gettierfälle 99-107 - Argumente gegen die 79-85 Gewissheit 106f. Internalismus 249-265, 462, 510f., - objektiv 3, 95f., 99, 106, 115f., 532, 557 129, 132f., 138f., 211f., 218, 220, - Zugangsinternalismus 250, 282, 360-362, 396, 427, 429 302, 317f., 496 - subjektiv 3 , 4 2 9 - schwach 264 Gewissheitsargument (siehe skepti- - Regressproblem des 374, 380, sche Argumente) 448 Gründe - Subjektivismus 250, 252f. - als Tatsachen 257f. Interpret, allwissender 405 f. - als Ursachen 230-237 Interpretation, Argument von der - gute (adäquate) 229 radikalen 402-406 - Prima-facie-Grund 321, 456, Introspektion 4 5 4 , 4 6 1 , 5 1 8 - 5 2 9 462 - innere Wahrnehmung 524, 527 - sensitive (siehe Wissen) Intuition, rationale 291, 456, 507, - sichere (siehe Wissen) 509, 511 f. - stützende 229 f. - Transitivität der 287f. Jackpot, erkenntnistheoretischer - zwingende (siehe Wissen) 204 f. Hellseher Norman 259f. Hintergrundwissen 477, 558 Holismus 309f., 318, 326 Idealismus 1 7 1 , 1 8 3 , 4 0 9 - erkenntnistheoretischer 409-425 - metaphysischer 410 - Reduktionsthese des 396, 412 - transzendentaler 30, 410, 415f. Individualismus 531 Induktion 22, 96, 379, 384, 386f., 448, 457, 475, 533 Informant 222, 457, 460, 530, 532, 538, 540f.

Kausalprinzip 28 Kognitionswissenschaften 5, 20 Kohärenztheorie der Rechtfertigung (der Wahrheit siehe Wahrheitstheorien) - Begriff der Kohärenz 312f. - Kohärenztheorie der Uberzeugungsrevision 320f. - erkenntnistheoretische Irrelevanz der Erfahrung 313 f. - Isolationseinwand 313 - holistische 310 - lineare 310 - Problem des internalistischen Regresses 316f.

600 - Relativitätseinwand 31 If. - unreine 316 Konjunktionsfehlschluss 277 Konsistenz 50f., 312, 318 Kontextualismus - deflationärer 327 - der Rechtfertigung 325-335 - pragmatischer 327 - semantischer 148-166 - substanzieller 327 - Zuschreibungskontextualismus 151 f. Kritizismus 380 Lotteriefall 117 Marsianer-Fall 535 f. Matrix 341, 359, 406ff. Meister argument für den Idealismus 416-419 Menon-Intuition 198, 207 Methodismus 29 Möglichkeit (vgl. Notwendigkeit) 361 f., 393,397, 508 Mögliche Welten 130, 141, 183, 514 Moore-Strategie 158 Münchhausentrilemma (siehe Agrippas Trilemma) Müller-Lyer-Illusion 467, 484, 488 Mythos des Gegebenen 495 Naturalismus 543-565 - erhaltender 547f. - ersetzender 545 f. - Fehlschluss des 552 - methodologischer 548 - schwacher 548 - starker 548 - ontologischer 548 Natürliche-Art-Begriff e 559-562 Nihilismus 345 Normativität 7, 247, 547, 553

Sachregister Notwendigkeit (vgl. 291, 299, 506, 508

Möglichkeit)

Objektivismus (siehe Externalismus) Paradox der Analyse 11 Partikularismus 29 Perzept 464 Pessimismus 344 Pflichten, epistemische 238-246 Phänomenale Begriffe 502 Phänomenalismus 49, 385, 413, 415f., 478-480 Piatonismus 30, 36f., 125 Prinzip des Glaubens 538 Prinzip der Wahrheit 538 Problem des Intellektuellen 84 Problem des Kriteriums 17f. Problem des Überbaus (siehe Fundamentalismus) Problem der Unbestimmtheit 150, 154 Propositionen 2, 35-38, 63, 72, 225 Psychologismus 19, 214 Quellen - (nicht-)basale 457f., 496f., 537, 541 - (nicht-)evidenzielle 457 - (nicht-)psychologische 457 - exklusive 455 - der Rechtfertigung 453 - des Wissens 453 - unanfechtbare 456 Rationalismus 432, 508, 518 Realismus - direkter (siehe intentionaler) - erkenntnistheoretischer 417f., 461 - indirekter 467, 475 ff. - intentionaler 388, 391 f., 424, 484-486

Sachregister - naiver 466 - der Wahrheit 42 Rechtfertigung - (nicht-)inferenzielle 92, 225, 288, 3771, 382, 388, 491 - (nicht-)kausale Analyse der 230-237 - apriorische (siehe Apriori) - Artender 55f., 226, 247 - Fundamentalismus der (siehe Fundamentalismus) - Gewissheitsmodell der 95 f., 99, 101,106, 116, 129 - interne 92 f., 119 f . - Kohärenztheorie der (siehe Kohärenztheorie) - kontextualistische (siehe Kontextualismus) - normative Dimension der 226 - personenrelative 224-226 - pragmatische 55, 247 - Quellen der (siehe Quellen) - Regress der 17,211,225,244, 258f., 262-265, 274, 276, 284, 289, 298, 300, 302,316f., 336, 374, 375-383 - Relativität der 224 - Struktur der 277-337 - Transitivität der 287f. - Wahrheitsverbindung (Wahrheitszuträglichkeit) der 223 f., 247 - Wahrscheinlichkeitsmodell der 95f., 99, 101, 103, 106 - zirkuläre 16,273,285,287f., 310, 3 77 f. Rechtfertigungsskeptizismus 340 - partieller 351 - universeller 348-350 Reductio ad absurdum 68, 82, 167, 350, 449 Reduktionismus (vgl. Anti-Reduktionismus) 533, 534-536

601 Referenzklassenproblem (siehe Reliabilismus) Reflexion - kritische 93, 244f., 247, 371 - strikte 430 Regressargument (siehe skeptische Argumente) Regressstopper 300 Relativismus 311 f., 313, 315, 330f., 334f. Relativität der Erfahrung 468f. Reliabilismus 265-276 - Generalitätsproblem des 270 - Lokalisationsproblem des 270 f. - Referenzklassenproblem des 268-271 - Problem der allzu leichten Metarechtfertigung 268-271 Satz vom Widerspruch 431-440 - ontologisches Prinzip 433f. - psychologisches Prinzip 433f. - semantisches Prinzip 433 f. Scheinproblem 11,201,353-355, 509 Scheunenfassadenfall 108f. Schleier der Vorstellungen 385 Schluss auf die beste Erklärung 280, 304f., 309, 316, 384, 386f., 457 Sekundäre Qualitäten 469 Selbstaufhebungsargumente 369, 425-445, 510f. Selbstevidenz 299, 326, 435, 507 Selbstwissen 518-529 - besondere erkenntnistheoretische Autorität 518,520-523 - Luminosität 522 - negativ autonom 522 f. - Transparenz 521 f. - unfehlbar 520 f. - Einbettungsmodell des 527f. - nicht-evidenzielles 525 - spezifische Quelle des 520

602 Sinnesdaten 307,384,386-388,391, 424, 466, 470-474, 546 Sinnestäuschungen - Illusion 96, 215, 258, 266, 340, 388, 465, 467-469, 484 - Halluzination 96, 179, 215f., 258, 303, 340, 388, 390, 414, 465, 468-470 Skeptische Argumente - Geschlossenheitsargument 363-369 - Gewissheitsargument 360-362 - Regressargument 375-383 - Traumargument 369-375 - Unterbestimmtheitsargument 383-392 Skeptische Haltung 342 Skeptische Hypothesen 340 f., 353, 358-360, 373, 393, 397, 443 - Dämonhypothesen (Hypothesen des totalen Irrtums) 359 - Unzuverlässigkeitshypothesen (Traumhypothesen) 360 Skeptisches Paradox 154, 157-159 Skeptizismus (vgl. Antiskeptizismus) - akademischer 349 - der Außenwelt 387, 392 - erkenntnistheoretische Skepsis 345-347 - partieller 351 - phyrronischer 342-344 - Rechtfertigungsskeptizismus (radikaler) 347 - universeller 349-351 - Wissensskeptizismus (moderater) 347,360-362 Skepsiswiderlegung - epistemisch zirkuläre Argumente 445-450 - idealistische Strategien 409-425 - Selbstaufhebungsargumente 425-445

Sachregister -

semantische Argumente 397-409 - transzendentale Argumente (siehe darunter) Slingshot-Argument 68 Solipsismus 307f., 477 Standardhypothese 307f., 477 Subjektivismus (siehe Internalismus) - perzeptueller 467, 471-480 Supervenienz 549f., 552, 565 Szientismus 548 Täuschungsargument (für die Sinnesdatentheorie) 388f., 424,468, 470f., 481-484 Transparenzthese 521 f. Transzendentale Argumente 440-445 - anspruchsvolle 444 - bescheidene 444 Transferprinzip 169-177 Transzendentalpragmatik 4 2 7 ^ 3 1 Traumargument (siehe skeptische Argumente) Trilemma der Begründung (siehe Agrippas Trilemma) Truth-Tracking-Theorie (siehe Wissen) Tugenderkenntnistheorie 188-192 Überdeterminierung, kausale 234 f. Überlegungsgleichgewicht 29, 565 Uberzeugungen - als Handlungen 84, 242-244 - basale 278f., 281 f., 283, 290, 320f. - dialektisch 327 - methodologisch 327 - pragmatisch 331 f. - dispositionale 81 Unfehlbarkeitsthese 521 Unterbestimmtheitsargument (siehe skeptische Argumente)

Sachregister Verifikationismus 47L, 354, 404, 443 Verpflichtung, Modell der 238-246 Voluntarismus, doxastischer 240-244, 262 Vorstellung -

Inhalt der 6 4 , 4 1 8 , 4 1 9 - 4 2 1

Wahrheit - Begriff der 33f., 35,41 - Definition der 67 - Kriterien der 44 - Natur der 44 - noetischer Sinn 34 - ontologischer Sinn 34 - propositionale 35f. Wahrheitstheorien - Adäquatheitsbedingungen für 38-42 - Evidenztheorie 49 - deflationäre 42, 56-62 - epistemische 44-56 Einwände - Einwand von den skeptischen Konsequenzen 53 f. - Einwand vom Primat der Wahrheit 55 f. - Parasitismuseinwand 54 f. - Relativitätseinwand 51 - Transzendenzeinwand 51 f. - Zirkularitäts einwand 53 - ideale Theorie 52 - Kohärenztheorie 50 - Konsenstheorie 50 - Korrespondenztheorie 43, 62-69 - nicht-epistemische 42 - Primitivismus 44 - realistische 42 Wahrheitswertträger 35-38 Wahrheitszuträglichkeit (siehe Rechtfertigung) Wahrmacher 40, 62 f.

603 Wahrnehmung - adverbiale Theorie der 473 f. - Akt-Objekt-Modell der 483f. - disjunktive Theorie der 389, 4 82 f. - epistemische Theorie der 487 - nicht-begrifflicher Gehalt der 492 f. - veridische 482 Widerspruch (siehe Inkonsistenz) Widerspruchsprinzip (siehe Satz vom Widerspruch) Wiedererkennungsbedingung (für Begriffe) 490,492 Wissen - als Zielbegriff 198,208 - Anfechtbarkeit von 120 - Bedeutung für die Erkenntnistheorie 193-222 - durch Gewissheit 129 - durch Sensitivität 130 f. - durch Sicherheit 131 f. - durch truth-tracking 140-143 - durch Zuverlässigkeit 146f. - durch zwingende Gründe 143-146 - Formen von 71-86 - Geschlossenheit von 166-180 - Indexikalität von 162-164 - kausale Theorie von 121-126 - Mehrwertsthese des (vgl. Menon-Intuition) 87 - methodologische Rolle des 219-222 - Rechtfertigungsbedingung von 92-94 - Standardanalyse von 86-99 - Stabilität des 87, 92f., 195 - Stabilitätsbedingung des 141-143 - Uberzeugungsbedingung von 88-91 - Wahrheitsbedingung von 91

604 -

Wissen a u f g r u n d v o n B e k a n n t schaft 7 2 - 7 4 Wissen-dass 71 Wissen-wie 7 8 - 8 5 Wissen-wie-es-ist 7 4 - 7 7

Zebra-Fall 171-176 W W - P r i n z i p 371

Sachregister Ziel, epistemisches 197, 218f. Zirkularität - epistemische 16, 446f., 554f. - logische 16, 446f., 448, 554f. Zitattilgungsschema 40, 42, 57f., 60, 62, 433

Namenregister Agrippa 284f., 376, 379 Albert, H. 285,426 Alston, W. 38, 45, 47, 60, 196, 197, 224, 229, 242, 249, 251, 263, 264, 267, 271, 308, 411, 446, 450, 520, 554, 596 Apel, Κ. O. 427,430 Aquin, T. v. 43 Aristoteles 21,22, 34-36,43, 89,95, 197f., 209, 232, 284-288, 432f., 435, 465, 498, 584 Armstrong, D. M 63, 69, 108, 487 Audi, R. 455-457, 459f. Ayer, A. J. 281, 347, 383f. Barke, A. 166 Barnes, J. 376 Bartelborth, T. 29, 236, 355, 547 Baumann, P. 100, 134, 150 Bealer, G. 28,507,511,558 Beckermann, A. 53, 77, 196, 207f., 222 Berkeley, G. 23,44,49,281,385, 388, 409,410,412-417,419, 466f., 470-472, 476, 478 Bett, R. 350 Bieri, P. 113,236 Bittner, R. 404 Blanshard, B. 45f., 49-51, 54, 310-312 Boghossian, R 513 Bonjour, L. 28, 167, 196, 223, 244, 246, 249, 259f., 262f., 267, 284, 296, 298-301,310,315-318, 352f., 495, 505, 507, 510f., 537, 546, 556, 583 Bradley, F.H. 309 Brandom, R. 134, 150, 270

Brendel, E. 152, 162, 164 Brueckner, A. 399 Bürge, T. 503,527,539 Byrne, A. 470,518,528 Carnap, R. 353,513,592 Casullo, A. 505,508 Chalmers, D. 397, 406-409, 552, 594 Cherniak, C. 319 Chisholm, R. M. 29, 353, 355, 415, 473, 480 Cicero, M.T. 349,369 Clifford, W. 239 Coady, C. 534-536 Code, L. 190 Cohen, S. 150, 155f., 251, 254 Conee, E. 251,270 Craig, E. 100,222 David, M. 197 Davidson, D. 41, 62, 68, 397, 402f., 405 f., 409, 493 f., 536 Davis, W. 161, 163f. DePaul, M. 199,203,207 DeRose, K. 31,150,152,156,159f., 167 Descartes, R. 23, 28, 43, 95, 106, 239f., 281, 284, 290-292, 294-296, 298, 300, 347, 352f., 360, 369,397,410,418, 456, 498, 504, 507, 519f., 531,543, 545 Devitt, M. 510,512 Dewey, J. 353 Dretske, F. 88, 120, 143-145, 152, 166 f., 169-174, 176-180, 270, 364, 487 Dummett, M. 44

606 Eisler, R. 20, 28, 544 Empedokles 344 Empiricus, S. 17, 43, 285, 342f., 456 Epikur 22 Evans, G. 492 f. Feldman, R. 167, 251, 270, 558 Field, H. 30,515 Foley, R. 231,251,253 Frege, G. 24,36-39,44, 57f., 63-65, 67, 72,195, 236, 421 f., 504f., 508, 583, 586f., 595 Fumerton, R. 54,264,273,317,449, 537 Gettier, E. 87,99,100-112, 121 f., 126, 128, 133, 145, 152, 180f., 186, 191-193, 515f., 561 Glock, H. 25, 29 Glüer, K. 402 Goldman, A. 9,108, 121-123,136, 146 f., 181,251,257, 264, 265, 267, 353, 551, 565 Greco, J. 31,189,356 Grundmann, T. 152, 156, 163, 199, 201, 226, 249, 260, 267, 271,293f., 317, 357,372, 374,378, 431,440,511, 561 Haack, S. 324 Habermas, J. 44,49,50,53 Harman, G. 114,324 Harrison, R. 440 Hawthorne, J. 178-180 Hegel, G. F. 17f., 34, 44, 309 Heidegger, M. 34 f., 66 Heil, J. 527 H i n t i k k a J . 293 f. Hofmann, F. 196 f., 200, 202-204 Horwich, P. 58 Huemer, M. 469

Namenregister Hume, D. 19,23,43,281,303, 343f., 347,353,383,385-388, 418, 466f., 470-472, 476, 482, 498-500, 521, 524, 532, 533-535, 537, 543-546, 552 Husserl, E. 49f. Jackson, F. 61, 74, 77, 474, 487, 594 Kahneman, D. 277 Kant, I. 2,18-24,28,30,43,73,243, 352f., 409-412, 415f., 419-421, 423, 440f., 454, 463, 487, 489, 498-500, 502-504, 508, 515, 532, 543f., 583 Kaplan, M. 220 Karneades 43 Karttunen, L. 75 Keuth, H. 428 Kim, J. 547 Kim, K. 244 Kirkham, R. 51,54 Kitcher, P. 9, 506, 508, 529 Klein, P. 166, 175 f. Koppelberg, D. 9, 199, 201, 233 Kornblith, H. 9,159,249, 319, 553, 558-560, 564 Kripke, S. 500f., 508, 587, 593 Kuhlmann, W. 427-430, 438 K v a n v i g J . 199 Lackey, J. 539f. Lehrer, K. 111, 113, 231, 233-235, 310 Leibniz 43, 432, 498, 504 Levin, M. 191 Lewis, D. 77, 150, 592 Locke, J. 23, 43, 95, 239f., 281, 305-307, 347, 385, 387, 466, 475f., 499f., 524, 531 Lukasiewicz, J. 432 Luper, S. 166f., 180f.

607

Namenregister M a c k i e J . 344 f. Malmgren, A. 539 McDowell J . 3 89 f., 482, 490-492 Mill, J. S. 385,413,463,478,508 Montaigne, M. de 17 Montmarquet, J. 190 Moore, G. E. 158,183,353,356 Moser, P. 195 f., 568 f. Nagel, T. 76 Neale, S. 68 Nelson, L. 17 Nemirow, L. 77 Neurath, O. 44, 49, 50, 282f., 310-312, 426 Newton, I. 22, 66 Nichols, S. 515 f. Nozick, R. 140-142, 167, 363f. O'Brien, D. 547 Olson, K. 68 Olsson, E. 325 Oppy, G. 61 Paxson, T. 111,113 Peacocke, C. 11,26 Peirce, C. S. 43f., 49f., 54, 95, 353, 426 Pinker, S. 81 Pitcher, G. 487 Plantinga, Α. 127, 187-9, 192, 238 Platon 4, 21, 30, 36-38, 87, 89, 92-96, 125, 194, 198, 281,369, 498, 504, 531 Plotin 498 Pojman, L. 239, 297 Pollock, J. 14, 97, 314f.,321 Popper, Κ. 19, 225, 379 f., 426 Priest, G. 434, 436f., 439 Pritchard, D. 172 P r y o r J . 369,381 P u s t J . 511

Putnam, H. 44, 49, 397-399, 401, 408 f., 487, 493 Quine, W.V. 8,19,20, 44, 58,282f., 310, 320, 324, 347,353, 426, 438f., 463, 508,512, 545-547, 553 Radford, C. 90 Ramsey, W. 44,58 Reid, T. 537f. Rescher, N. 311 Ricken, F. 342 Riggs, W. 199 Rorty, R. 19-21,31,353 Russell, B. 24, 51, 62-64, 69, 72, 213, 281, 328, 420, 505, 593 Rütte, H. 380 Ryle, G. 78-82, 84 f., 520 Sainsbury, R. 186, 436f. S artwell, C. 197, 208-210 Schantz, R. 249 Schiffer, S. 159,163 Schlick, M. 44,281,311,314 Searle,]. 88 Seilars, W. 283,310,487,495, 551-553 Shoemaker, S. 525 f. Smith, M. 11,61 Sokrates 87,418,531 Sosa, E. 174,181,183,188,190,201, 249 Stanley, J. 82,84 Stern, R. 441 f. Steup, M. 245 Stich, S. 515f. Strawson, P. F. 63, 440-442, 445 Striker, G. 350 Stroud, Β. 29, 159, 346f., 357, 369, 405, 4 4 2 ^ 4 4 Stüber, Κ. 402

608 Tidman, P. 245 Tugendhat, E. 25 Tversky, Α. 277 Tye, M. 77,485-487 Tymoczko, T. 399 Vaihinger, H. 21 Vogel, J. 273 Vossenkuhl, W. 100 Walker, R. 49,55 Weinberg J . 515f. Whiteley, C. 480

Namenregister Willaschek, M. 374 Williams, M. 41, 54, 56, 152, 159, 166f., 171,283, 329,331-334, 345, 353f., 361 f., 522 Williamson,T. 40,84,100,174,181, 186, 192, 194,213-219, 251, 257f., 522 Wittgenstein, L. 11,24,31,36,48, 69, 284, 326, 353, 509, 513, 524 Wright, C. 166,366 Zagzebski, L. 189f., 199, 201 Zeller, E. 21