Analytische Einführung in die Erkenntnistheorie [2nd revised and expanded edition] 9783110530278, 9783110530254

The successful textbook Analytic Introduction to Epistemology is now in its 2nd edition. It introduces critical question

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German Pages 488 [490] Year 2017

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Table of contents :
Vorwort zur zweiten Auflage
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
1. Einführung
2. Wahrheit
3. Wissen
4. Erkenntnistheoretische Rechtfertigung
5. Die Struktur der Rechtfertigung
6. Skeptizismus
7. Quellen des Wissens
8. Naturalistische Erkenntnistheorie
9. Anhang : Seminarpläne
Literaturverzeichnis
Glossar
Sachregister
Namenregister
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Analytische Einführung in die Erkenntnistheorie [2nd revised and expanded edition]
 9783110530278, 9783110530254

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Thomas Grundmann Analytische Einführung in die Erkenntnistheorie

Thomas Grundmann

Analytische Einführung in die Erkenntnistheorie 2., überarbeitete und erweiterte Auflage

Die „Analytischen Einführungen in die Philosophie“ werden von Ansgar Beckermann herausgegeben.

ISBN 978-3-11-053025-4 e-ISBN 978-3-11-053027-8 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-053030-8 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen ­Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Umschlaggestaltung: urbanglimpses / E+ / Getty Images Typesetting: fidus Publikations-Service GmbH, Nördlingen Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Für Cornelia, Larissa, Rebecca und für Leser, wie ich sie mir wünsche: kritisch, aber wohlwollend

Vorwort zur zweiten Auflage Fast zehn Jahre sind vergangen, seit die erste Auflage dieses Buches 2008 erschienen ist. In diesem Jahrzehnt hat es drei für die Erkenntnistheorie bemerkenswerte Entwicklungen gegeben. Erstens kam es innerhalb der Erkenntnistheorie zu neuen, hoch innovativen Schwerpunktsetzungen und -verschiebungen. So ist z. B. die soziale Erkenntnistheorie von der Peripherie ins Zentrum der neuesten Debatten gerückt und hat spannende neue Themenfelder wie Expertise und epistemische Autorität, Dissens und Relativismus oder Gruppenwissen erschlossen. Die Erkenntnistheorie ist außerdem viel anwendungsbezogener geworden und widmet sich inzwischen auch so konkreten Themen wie Verschwörungstheorien, Gerüchten, epistemischen Pathologien oder den epistemischen Grundlagen der Demokratie. Zu den neu entdeckten Themen gehören auch die epistemische Normativität und Fragen aus dem Grenzbereich zwischen Erkenntnistheorie und Ethik (wie z. B. epistemische Gerechtigkeit). Zweitens ist die Erkenntnistheorie inzwischen neben der wiedererstarkten Metaphysik zu einer der lebendigsten und produktivsten philosophischen Disziplinen geworden. Drittens lässt sich mittlerweile nicht mehr bestreiten, dass die Erkenntnistheorie auch eine wichtige politische Bedeutung hat. Offensichtlich spielt für Teile der öffentlichen Meinung und der öffentlich-politischen Debatte die Orientierung an der Wahrheit, an wissenschaftlichen Autoritäten und Qualitätsmedien, aber auch an Argumenten und Gründen keine zentrale Rolle mehr. Verschwörungstheorien sind weit verbreitet. Etwa ein Drittel der US-Amerikaner glaubt immer noch, dass Barack Obama kein amerikanischer Staatsbürger ist. Genauso viele US-Amerikaner glauben, die Anschläge von 9/11 seien entweder von der Bush-Regierung selbst verübt oder zumindest wissentlich toleriert worden. 60–80 % der US-Amerikaner glauben, ihre Regierung hätte hinter dem Attentat auf John F. Kennedy gestanden. Das alles, obwohl jede dieser „Theorien“ klar widerlegt wurde. US-Präsident Trump und wichtige seiner Regierungsmitglieder behaupten offensichtliche Unwahrheiten (z. B. dass es bei Trumps Amtseinführung im Januar 2017 mehr Teilnehmer gegeben hätte als bei Obamas Amtseinführung; dass Trump die meisten Wahlmänner seit Reagan auf seiner Seite gehabt habe oder so triviale Dinge wie, dass es bei der Amtseinführung nicht geregnet hätte, obwohl man auf den Fotos zahllose Menschen mit geöffneten Regenschirmen sieht). Trump beruft sich ganz offen auf höchst fragwürdige Quellen (im Falle des vermeintlichen schwedischen Terroranschlags auf Fox-News oder auf die angebliche Meinung vieler Wähler, bei der US-Wahl sei es zu massivem Wahlbetrug gekommen). Schließlich bezweifeln er und sein Kabinett die Glaubwürdigkeit der Wissenschaften (beim Klimawandel; einer von Trumps Ministern hält sogar die Urknalltheorie für widerlegt, weil die Explosion die Erde hätte zerstören müssen!) und der etablierten Medien. Das DOI 10.1515/9783110530278-203

VIII 

 Vorwort zur zweiten Auflage

postfaktische Denken, die systematische Missachtung von Wahrheit, Experten und guten Gründen und die Etablierung sogenannter „alternativer Tatsachen“ ist selbstverständlich kein rein amerikanisches Phänomen, sondern greift auch in der öffentlichen Diskussion z. B. in Deutschland um sich. Nach der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus 2016 sagte der AfD Spitzenkandidat: „Das, was man fühlt, ist auch Realität“, als er damit konfrontiert wurde, dass die Kriminalitätswahrnehmung der Bevölkerung nicht den Tatsachen entspreche. Angesichts solcher beunruhigender Entwicklungen sollte die Beschäftigung mit Wahrheit, Wissen und Gründen zur Grundausbildung eines jeden mündigen Bürgers gehören. Die vorliegende zweite Auflage der Analytischen Einführung in die Erkenntnistheorie musste zwangsläufig ein Kompromiss bleiben. Einerseits habe ich das Buch vollständig überarbeitet; andererseits durfte es auch nicht zu lang werden. Die Sprache wurde, wo nötig, geglättet. Einige inhaltliche Fehler wurden korrigiert. So hatte ich z. B. in der ersten Auflage noch fälschlich angenommen, dass Tracking-Theorien des Wissens (oder Dretskes zwingende Gründe) unsere Intuitionen zum Scheunenfassadenfall erklären können. Auch meine Kritik der evolutionären Erklärung von apriorischem Wissen war korrekturbedürftig. Ich habe außerdem viele Beispiele aktualisiert, neue Forschungsdiskussionen, Argumente und Theorien in den Text eingearbeitet. Zur besseren didaktischen Vermittlung habe ich außerdem neue Teile in das Buch aufgenommen. Am Ende jedes Kapitels gibt es nun Studienfragen zur selbständigen Rekapitulation. Zudem verweise ich dort auf wichtige neue und weiterführende Literatur (jeweils kurz kommentiert). Im Anhang des Buches gibt es zudem einige Vorschläge für thematisch fokussierte Lehrveranstaltungen, die als Proseminare mit jeweils zwei Semesterwochenstunden konzipiert sind und als Textgrundlagen ausgewählte Teile dieser Einführung sowie Originaltexte vorschlagen. Ich hätte den Text gerne noch weiter durch neue Abschnitte zur epistemischen Normativität, zum Dissens, zum Relativismus und zur angewandten Erkenntnistheorie ergänzt. Aber dann hätte dieses ohnehin schon lange Buch jeden vertretbaren Umfang gesprengt. Stattdessen gibt es jetzt ausführliche Literaturempfehlungen zu diesen Themen. Für die Überarbeitung habe ich zahlreiche Hinweise und Anregungen von Joachim Horvath und Jens Kipper bekommen. Auch die Diskussionen mit Sven Bernecker, Elke Brendel, Hansgeorg Hoppe, Wolfgang Kuhlmann, Peter Rohs und den Teilnehmern des Köln-Bonner Forschungskolloquiums für Erkenntnistheorie haben mir auf vielfältige Weise geholfen. Bei der finalen Arbeit am Manuskript haben mich meine Mitarbeiter Dominik Balg, Jan Constantin, Conrad Friedrich und Carina Schleeweit tatkräftig und engagiert unterstützt. Ihnen allen möchte ich für ihre Hilfe ganz herzlich danken sowie auch einigen ungenannten kritischen Lesern für ihre Hinweise. Mein ganz besonderer Dank geht an Gertrud



Vorwort zur zweiten Auflage 

 IX

Grünkorn vom De Gruyter Verlag, ohne deren geduldig treibende Kraft aus dieser zweiten Auflage sicher nichts geworden wäre. Köln, im Februar 2017

Thomas Grundmann

Vorwort Dieses Buch ist eine allgemeine Einführung in die Erkenntnistheorie. Es erscheint als dritter Band in der von Ansgar Beckermann herausgegebenen Reihe der „Analytischen Einführungen in die Philosophie“. Diese Einführungen erläutern die jeweiligen philosophischen Disziplinen keineswegs nur aus der Perspektive einer bestimmten philosophischen Tradition oder Schule: etwa der (sprach-)analytischen Philosophie, sondern sie sind alle einem bestimmten Stil des Philosophierens bzw. einer bestimmten Einstellung zu philosophischen Problemen verpflichtet. Die analytische Einstellung in der Philosophie lässt sich nach Beckermann durch drei Merkmale charakterisieren: 1.) Die möglichst präzise Formulierung und kritische Diskussion von Argumenten steht im Vordergrund. 2.) Philosophische Probleme und Vorschläge zu ihrer Lösung lassen sich zeitunabhängig formulieren und bewerten. 3.) Es gibt einen globalen Diskurs der Philosophen, der alle Schulen und Traditionen übergreift. Wer mit einer solchen analytischen Einstellung philosophiert, der versteht die Philosophie primär als eine Wissenschaft, die Antworten auf spezifisch philosophische Sachfragen gibt. Die Beschäftigung mit der Geschichte der Philosophie und mit den Antworten der großen Philosophen steht für einen Philosophen mit einer solchen Einstellung ausschließlich im Dienst der Diskussion systematischer Sachfragen. Aus dieser analytischen Grundeinstellung ergeben sich gewisse Konsequenzen für den Aufbau dieser Einführung. Wie bei den anderen Analytischen Einführungen strukturieren die zeitunabhängigen philosophischen Fragen und Probleme die Darstellung. Dazu werden die Antworten der philosophischen Hauptpositionen vorgestellt und möglichst präzise rekonstruiert. Hier kommen Vorschläge aus der Antike (etwa von Platon oder Aristoteles) oder aus der gesamten Neuzeit (etwa von Descartes, Locke, Berkeley, Hume, Kant, Reid oder Mill) genauso zu Wort wie aus der gegenwärtigen Diskussion. Allerdings nimmt die Darstellung der gegenwärtigen Diskussion einen vergleichsweise breiten Raum ein. Das liegt nicht etwa daran, dass diese Einführung blind gegenüber der Geschichte der Erkenntnistheorie ist und die Bedeutung der Gegenwart einfach naiv überschätzt, sondern vor allem daran, dass es in den letzten Jahrzehnten eine sehr lebendige und innovative Debatte in der Erkenntnistheorie gegeben hat, die aus meiner Sicht auch zu wichtigen Fortschritten geführt hat. Schließlich werden die Argumente für und gegen die philosophischen Hauptpositionen vorgestellt und diskutiert. Dabei werde ich die „Wahrheitsfrage“ am Ende nicht einfach offen lassen, sondern unvoreingenommen und mit aller nötigen Vorsicht, aber dennoch in der Sache eindeutig Position beziehen. Diese Einführung wird also nicht einfach die Argumente für eine Position und die Einwände gegen sie auflisten, sondern sie wird eine Bewertung und Gewichtung vornehmen, die ein DOI 10.1515/9783110530278-204

XII 

 Vorwort

bestimmtes Ergebnis nahe legt und dem Leser eine Orientierungshilfe gibt. Es ist ein klarer Vorteil einer solchen positionierten Einführung, dass sie Schritt für Schritt konstruktiv auf ihren eigenen Ergebnissen aufbauen kann. Es gibt inzwischen auch auf dem deutschen Markt eine ganze Reihe guter aktueller Einführungen in die Erkenntnistheorie. Etwa Peter Baumanns Erkenntnistheorie, Herbert Schnädelbachs Erkenntnistheorie zur Einführung oder Gerhard Ernsts Einführung in die Erkenntnistheorie. Jede dieser Einführungen verfolgt eine spezifische Zielsetzung und richtet sich an eine bestimmte Lesergruppe. Die vorliegende Einführung möchte erstens möglichst umfassend und ausführlich in die Erkenntnistheorie einführen. Deshalb ist daraus ein relativ dickes Buch geworden. Zweitens handelt es sich um eine im erläuterten Sinne analytische und klar positionierte Einführung. Drittens ist diese Einführung elementar, aber zugleich auch weiterführend. Sie wendet sich also nicht nur an philosophische Einsteiger, sondern auch an Philosophen, die sich schon länger mit der Erkenntnistheorie beschäftigen. Ich habe versucht, alle verwendeten Fachbegriffe zu erläutern. Die Erläuterungen finden sich entweder direkt im Text (wobei viele zentrale Begriffe noch einmal übersichtlich in einem Kasten definiert werden) oder sie werden (wenn durch ‚*‘ im Text markiert) in einem Glossar am Ende des Buches erklärt. Das Buch ist im Kern aus einer Vorlesung hervorgegangen, die ich im Wintersemester 2001/02 an der Universität Tübingen und später in abgewandelter Form an der Humboldt Universität Berlin und der Universität zu Köln gehalten habe. Viele Menschen haben direkt oder indirekt mitgeholfen, dass dieses Buch das geworden ist, was es ist. Ihnen möchte ich an dieser Stelle danken. Mein besonderer Dank gilt meiner Frau, Cornelia, und meinen Töchtern, Larissa und Rebecca, für ihre Geduld während der langen Entstehungsgeschichte des Manuskripts, für ihre liebevolle Unterstützung auch in den kritischen Phasen des Schreibens und für ihren Realitätssinn, der mich stets nach der verständlichsten Formulierung eines philosophischen Problems hat suchen lassen. Außerordentlich dankbar bin ich auch Ansgar Beckermann – für sein Vertrauen in mich als Autor der Reihe, aber auch für seine gründliche und unnachgiebig auf Verständlichkeit pochende Kommentierung des gesamten Manuskripts. Ganz besonders bedanken möchte ich mich auch bei Joachim Horvath, der das Manuskript Seite für Seite kritisch kommentiert und mich durch seine stets scharfsinnigen Einwände immer wieder dazu gezwungen hat, die Dinge noch einmal ganz neu zu durchdenken. Entscheidend zum Gelingen des Ganzen haben auch meine Mitarbeiter Woldai Wagner, Tobias Starzak und Daniel Malsch beigetragen. Sie haben mir z. T. über Jahre hinweg wertvolle Kommentare zum Text gegeben, Korrektur gelesen, das Glossar, Literaturverzeichnis und die Register erstellt sowie den Text in seine endgültige Form gebracht. Dankbar bin ich auch für die kritischen



Vorwort  

 XIII

Kommentare und wertvollen Hinweise von philosophischen Freunden und Weggefährten, die Teile meines Manuskripts gelesen haben: Frank Hofmann, Tanja Hötte, Christiane Schildknecht, Jan Sprenger, Eva Wilhelmus und allen Teilnehmern des Köln-Bonner Kolloquiums zur Erkenntnistheorie im Sommersemester 2006, in dem die erste Hälfte meines Buches lebhaft diskutiert wurde. Die Entstehung des Buches hat natürlich auch von intensiven philosophischen Diskussionen und Gesprächen profitiert, die ich über die behandelten Themen geführt habe, und zwar besonders mit Andreas Bartels, Sven Bernecker, Elke Brendel, Kristina Engelhard, Manfred Frank, Dietmar Heidemann, Christoph Jäger, Jens Kipper, Hilary Kornblith, Hans Joachim Krämer, Achim Lohmar, Christian Nimtz, Richard Schantz, Daniel Schoch, Oliver Scholz, David Schweikard, Sven Walter und Marcus Willaschek. Außerdem möchte ich meiner Sekretärin, Judith Reichert, dafür danken, dass sie mit großem Einsatz und unübertroffener Gründlichkeit das Manuskript noch ein letztes Mal Korrektur gelesen hat, als die Zeit bereits drängte. Last, but not least danke ich Gertrud Grünkorn vom De Gruyter Verlag für ihre freundschaftliche Betreuung, ihre unkomplizierte Art und ganz besonders für ihre Geduld. Köln, Juni 2008

Thomas Grundmann

Inhaltsverzeichnis Vorwort zur zweiten Auflage  Vorwort 

 VII

 XI

Inhaltsverzeichnis 

 XV

 1 1 Einführung  1.0 Was ist und wozu dient Erkenntnistheorie?   1 1.1 Was ist Erkenntnis?   1 1.2 Die Grundfragen der Erkenntnistheorie   4 1.3 Erkenntnistheorie als philosophische Disziplin   6 1.4 Ist Erkenntnistheorie überhaupt möglich?   12 1.5 Über den Stellenwert der Erkenntnistheorie in der Philosophie   16 1.6 Über die Relevanz der Erkenntnistheorie   20 1.7 Literaturempfehlungen   24  25 2 Wahrheit  2.0 Allgemeines   25 2.1 Grundlegende Merkmale der Wahrheit   29 2.2 Wahrheitstheorien   32 2.2.1 Epistemische Wahrheitstheorien   33 2.2.2 Deflationäre Wahrheitstheorien   42 2.2.3 Korrespondenztheorien der Wahrheit   46 2.2.4 Wie lässt sich die Korrespondenzrelation zwischen dem Träger des Wahrheitswertes und dem Wahrmacher verstehen?   48 2.3 Studienfragen   52 2.4 Literaturempfehlungen   53  55 3 Wissen  3.0 Formen des Wissens   55 3.1 Die Standardanalyse des propositionalen Wissens: gerechtfertigte, wahre Überzeugung   66 3.2 Das Gettierproblem   76 3.3 Posttraditionelle Wissensdefinitionen   83 3.3.1 Quartettlösungen   84 3.3.2 Rein externalistische Lösungen   92 3.3.2.1 Die kausale Theorie   92

XVI 

 Inhaltsverzeichnis

3.3.2.2 Zuverlässigkeitstheorien   95 3.4 Semantischer Kontextualismus   110 3.5 Das Prinzip der Geschlossenheit des Wissens   123 3.6 Wissen durch sichere Gründe   133 3.6.1 Weitere Gegenbeispiele und neue Perspektiven   138 3.7 Die Bedeutung des Wissens für die Erkenntnistheorie   143 3.7.1 Wissen als stabiler Faktor im kognitiven Haushalt   143 3.7.2 Wissen als Ziel unserer Erkenntnisbemühungen   144 3.7.2.1 Ist Wissen ein inkohärenter Begriff?   153 3.7.3 Wissen als Grundlage und Ausgangspunkt unserer Erkenntnisbemühungen   155 3.7.4 Die methodologische Rolle des Wissens   162 3.8 Studienfragen   164 3.9 Literaturempfehlungen   165  167 4 Erkenntnistheoretische Rechtfertigung  4.0 Allgemeines   167 4.1 Die Definition* der erkenntnistheoretischen Rechtfertigung   171 4.2 Sind Gründe Ursachen?   172 4.3 Was ist ein guter Grund?   178 4.3.1 Das Modell erkenntnistheoretischer Verpflichtung   178 4.3.1.1 Einwände gegen das Modell der Verpflichtung   180 4.3.2 Das Modell instrumenteller Rationalität   184 4.4 Internalismus oder Externalismus?   186 4.4.1 Evidentialismus   188 4.4.2 Zugangsinternalistische Versionen des Objektivismus   191 4.4.3 Gründe als Tatsachen   192 4.4.4 Keine Rechtfertigung ohne Metarechtfertigung   193 4.4.5 Reliabilismus   198 4.4.5.1 Das Referenzklassenproblem   201 4.4.5.2 Das Problem der allzu leichten Metarechtfertigung   203  207 5 Die Struktur der Rechtfertigung  5.0 Allgemeines   207 5.1 Der klassische Fundamentalismus   212 5.2 Neoklassischer Fundamentalismus   222 5.3 Kohärenztheorien der Rechtfertigung   231 5.4 Der Kontextualismus der Rechtfertigung   242

Inhaltsverzeichnis 

5.5 5.6

 XVII

Totgesagte leben länger: Plädoyer für einen moderaten Fundamentalismus   249 Studienfragen zu Kapitel 4 und 5   251

 253 6 Skeptizismus  6.0 Allgemeines   253 6.1 Erkenntnistheoretischer Skeptizismus   255 6.1.1 Was besagt der erkenntnistheoretische Skeptizismus?   255 6.1.2 Universeller und partieller Skeptizismus   259 6.1.3 Wie wichtig ist der Skeptizismus für die Erkenntnistheorie?   262 6.2 Eine Analyse skeptischer Argumente   266 6.2.1 Skeptische Argumente, die auf skeptischen Hypothesen beruhen   267 6.2.1.1 Das Gewissheitsargument   268 6.2.1.2 Das Geschlossenheitsargument   270 6.2.1.3 Das Traumargument   275 6.2.2 Das Regressargument   280 6.2.3 Das Unterbestimmtheitsargument   285 6.2.4 Ein kurzes Fazit der Analyse skeptischer Argumente   292 6.3 Ambitionierte antiskeptische Strategien   294 6.3.1 Semantische Argumente   295 6.3.1.1 Putnams Gehirne im Tank   296 6.3.1.2 Davidsons Argument von der radikalen Interpretation   299 6.3.1.3 Chalmers Destruktion der Täuschungshypothesen   302 6.3.2 Idealistische Strategien gegen den Skeptizismus   304 6.3.2.1 Berkeleys phänomenalistische Reduktionsthese   307 6.3.2.2 Kants transzendentale Reduktionsthese   309 6.3.2.3 Berkeleys Meisterargument für den Idealismus   310 6.3.2.4 Semantisches Argument   312 6.3.2.5 Freges Widerlegung des erkenntnistheoretischen Idealismus   313 6.3.2.6 Der erkenntnistheoretische Idealismus ohne Reduktionsthese   314 6.3.2.7 Sind unsere Aussagen über subjektive Erscheinungen wirklich skepsisresistenter als Aussagen über die geistunabhängige Außenwelt?   315 6.3.3 Selbstaufhebungsargumente   316 6.3.3.1 Die Selbstaufhebung des uneingeschränkten Fallibilismus   317 6.3.3.2 Transzendentalpragmatische Letztbegründung   319

XVIII  6.3.3.3 6.3.3.4 6.3.4 6.3.5 6.4 6.5

 Inhaltsverzeichnis

Die Unbestreitbarkeit des Widerspruchsprinzips   321 Transzendentale Argumente   327 Erkenntnistheoretisch zirkuläre Argumente gegen den Skeptiker   330 Das wirkliche skeptische Problem   334 Studienfragen   335 Literaturempfehlungen   335

 337 7 Quellen des Wissens  7.0 Allgemeines   337 7.1 Sinneswahrnehmung   344 7.1.1 Was ist der unmittelbare Gegenstand der Sinneserfahrung?  7.1.1.1 Metaphysische Probleme des perzeptuellen Subjektivismus  7.1.1.2 Erkenntnistheoretische Probleme des perzeptuellen Subjektivismus   353 7.1.1.3 Das Täuschungsargument auf dem Prüfstand   357 7.1.1.4 Argumente für den intentionalen Realismus   360 7.1.2 Was für eine Art mentaler Zustand ist die Sinneserfahrung?   362 7.1.3 Wie kann die Sinneserfahrung ein basaler Grund für unsere Überzeugungen über die Außenwelt sein?   366 7.2 Apriorisches Wissen   369 7.2.1 Präzisierungsversuche der Kantischen Definition   373 7.2.2 Argumente für apriorische Erkenntnis   377 7.2.3 Probleme apriorischer Erkenntnis   381 7.3 Selbstwissen   385 7.4 Wissen durch das Zeugnis anderer   393 7.4.1 Probleme des Reduktionismus   397 7.4.2 Die antireduktionistische Alternative   399 7.5 Studienfragen   402 7.6 Literaturempfehlungen   403 8 Naturalistische Erkenntnistheorie  8.1 Literaturempfehlungen   422 9

Anhang : Seminarpläne 

 423

 405

 346  350

Inhaltsverzeichnis 

Literaturverzeichnis  Glossar 

 449

Sachregister  Namenregister 

 461  467

 437

 XIX

1 Einführung 1.0 Was ist und wozu dient Erkenntnistheorie? Was ist das: Erkenntnistheorie? Wie der Name bereits sagt, beschäftigt sich die Erkenntnistheorie mit Erkenntnis. Doch diese Antwort ist trivial und hilft nicht wirklich weiter. Um zu verstehen, worum es in der Erkenntnistheorie wirklich geht, müssen wir erstens zumindest ein vorläufiges Verständnis davon entwickeln, was Erkenntnis ist; wir müssen zweitens verstehen, was die Erkenntnistheorie, und zwar insbesondere als philosophische Disziplin, an der Erkenntnis interessiert; und schließlich müssen wir drittens verstehen, welche Relevanz die Erkenntnistheorie für uns hat.

1.1 Was ist Erkenntnis? Man kann zunächst versuchen, sich durch eine Analyse unseres Erkenntnisbegriffes* dem anzunähern, was Erkenntnis ist. Eine Antwort auf die Frage „Was ist Erkenntnis?“ soll also auf dem Umweg über die Beantwortung der Frage „Was bedeutet der Ausdruck ‚Erkenntnis‘?“ gegeben werden. Hierzu zwei Vorbemerkungen: Der Ausdruck ‚Erkenntnis‘ ist doppeldeutig. Manchmal wird er für einen Prozess oder eine Tätigkeit gebraucht – eben den Prozess des Erkennens. Manchmal wird er aber auch für das Resultat dieses Prozesses verwendet – einen Zustand. Außerdem sprechen wir von ‚Erkenntnis‘ sowohl im personalen Sinne (also von der Erkenntnis einer Person) als auch im unpersönlichen Sinne (von der Erkenntnis der Wissenschaften). Um die Sache zu vereinfachen, beschränken wir uns zunächst einmal auf Zustände von Personen. Betrachten wir einen ersten Analyse-Vorschlag. Er lautet: (1) Von ‚Erkenntnis‘ sprechen wir mit Bezug auf kognitive Zustände eines Subjekts. Was sind kognitive Zustände? Man könnte sagen, dass es sich um geistige Zustände handelt – im Unterschied zu rein körperlichen Zuständen, wie einer Entzündung der Augen oder einer Anspannung der Muskeln. Zu den geistigen Zuständen zählen wir Überzeugungen, Wünsche, Sinneseindrücke (wie Macbeths Halluzination eines Dolchs), Gefühle (wie Liebe oder Furcht) und Empfindungen (wie Schmerzen). Unter diesen geistigen Zuständen haben Überzeugungen und Wünsche klarerweise einen propositionalen* Gehalt – einen Inhalt, der sich durch einen dass-Satz artikulieren lässt. Jemand hat die Überzeugung, dass Gras grün ist. Ein anderer wünscht sich, dass es seinen DOI 10.1515/9783110530278-001

2 

 1 Einführung

Nachkommen auch nach seinem Tode gut geht. Ob Wahrnehmungseindrücke, Gefühle und Empfindungen einen propositionalen Gehalt besitzen, ist zumindest strittig. Vielfach wird angenommen, dass sie rein qualitative Phänomene sind. Nur eine Teilmenge aller geistigen Zustände mit propositionalem Gehalt haben einen Wahrheitswert. Wünsche können weder wahr noch falsch sein. Sie können nur durch einen bestimmten Weltverlauf erfüllt werden oder unerfüllt bleiben. Allein die Überzeugungen beanspruchen klarerweise, dass etwas Bestimmtes der Fall ist. Sie können deshalb wahr oder falsch sein. Nur solche wahrheitsfähigen geistigen Zustände sind kognitive Zustände. Überzeugungen sind klare Fälle von kognitiven Zuständen. Wenn Sie jetzt z. B. die Überzeugung hätten, dass Sie gerade ein Buch über den Zweiten Weltkrieg lesen, wäre diese Überzeugung falsch und damit ein kognitiver Zustand. Jemand, der das Wort ‚Erkenntnis‘ im Sinne von kognitiven Zuständen verwendet hat, war Kant. Er hat es offenbar als Übersetzung des lateinischen Ausdrucks cognitio verstanden. Kant war der Auffassung, dass Erkenntnisse auch falsch sein können. Er sagt: „Eine Erkenntnis ist falsch, wenn sie mit dem Gegenstande, worauf sie bezogen wird, nicht übereinstimmt“.1 Das hört sich für uns heute jedoch sonderbar an. Wir verstehen den Ausdruck ‚Erkenntnis‘ als Erfolgswort, und Falschheit oder Irrtum bedeuten Misserfolg. Der Erfolgscharakter des Ausdrucks ‚Erkenntnis‘ kommt zum Ausdruck, wenn man sich die Definition* ansieht, die der Brockhaus vorschlägt. Dort heißt es: Erkenntnis ist „die Einsicht in einen Sachverhalt“.2 Ein Sachverhalt ist dabei ein Zustand der Welt, etwas, was der Fall ist, eine Tatsache. Also: Dass dieses Buch eine Einführung in die Erkenntnistheorie ist, dass dieses Buch im Jahr 2017 in zweiter Auflage erschienen ist, dass der Autor dieses Buches in Kiel geboren wurde usw. Wenn man solche Sachverhalte einsieht, dann erfasst man sie. Mit anderen Worten: Man befindet sich in einem kognitiven Zustand, der einen Sachverhalt der Welt trifft oder, anders formuliert, wahr ist. Der Vorschlag des Brockhauses lautet also, etwas umformuliert: (2) Erkenntnis ist eine wahre Überzeugung. Das klingt sehr viel besser als der erste Vorschlag, denn man möchte sagen: Erkenntnis gibt es nur von etwas, das existiert. Wenn wir uns täuschen, dann handelt es sich eben gerade nicht um eine Erkenntnis, sondern um einen Irrtum. Doch auch der zweite Vorschlag stößt schnell an seine Grenzen. Stellen Sie sich die folgende Situation vor: Sie sitzen als Studentin oder

1 Kant 1998, B 83. 2 Enzyklopädie 1968, S. 669.



1.1 Was ist Erkenntnis? 

 3

Student vor einem multiple choice Test und stoßen auf eine Frage, die Sie nicht beantworten können. Eigentlich müssten Sie passen, aber da eine der drei angegebenen Antwortmöglichkeiten richtig sein muss, raten Sie einfach. Und siehe da, Sie liegen glücklicherweise richtig! In diesem Fall hätten Sie eine wahre Überzeugung,3 aber würden Sie wirklich sagen, dass Sie die Sache ‚erkannt‘ haben? Diese Frage ist natürlich nur rhetorisch. Selbstverständlich würden wir hier nicht von einer Erkenntnis sprechen, denn Sie hätten die Wahrheit eben nur zufällig erzielt. Um diesen Fall auszuschließen, muss der zweite Vorschlag etwas modifiziert werden: (3) Erkenntnis ist eine nicht-zufällig wahre Überzeugung. Um diesen dritten Vorschlag zu prüfen, stellen Sie sich eine weitere Situation vor. Sie verwenden ein perfekt funktionierendes Instrument (sagen wir: ein zuverlässiges Thermometer) und glauben, was immer dieses Instrument anzeigt. In diesem Fall ist die Wahrheit Ihrer Überzeugungen nicht mehr zufällig, denn das Instrument zeigt immer korrekt an. Aber Sie haben keinerlei Gründe, die für die Korrektheit des Instruments sprechen. Dann ist die Wahrheit Ihrer Überzeugungen aus Ihrer eigenen Perspektive immer noch zufällig. Würden Sie dann von einer ‚Erkenntnis‘ sprechen? Wenn Ihre Antwort ‚nein‘ lautet, dann liegt jetzt auf der Hand, was noch zur Erkenntnis fehlt: die Gründe oder, etwas allgemeiner gesprochen, die Rechtfertigung Ihrer Überzeugung. Damit liegt die folgende Definition von Erkenntnis nahe: (4) Erkenntnis ist gerechtfertigte, wahre Überzeugung. Obwohl auch dieser Definitionsvorschlag bestenfalls als vorläufig betrachtet werden kann, soll hier die Analyse erst einmal enden. Es ist jetzt etwas deutlicher geworden, was das Thema der Erkenntnistheorie ist: gerechtfertigte, wahre Überzeugung. Das galt spätestens seit Platons Dialog Menon (in dem es um die Lehrbarkeit von Wissen geht) als die Standarddefinition von Wissen (griech.: episteme). Wir können also sagen, dass es in der Erkenntnistheorie um Wissen geht. Deshalb lautet die englische Übersetzung von ‚Erkenntnistheorie‘ auch ‚theory of knowledge‘ oder ‚epistemology‘. Und mit dem Wissen geht es zugleich um Wahrheit und um Rechtfertigung – die Komponenten des Wissens.

3 Streng genommen fehlt beim Raten die subjektive Gewissheit der Wahrheit, die erforderlich ist, damit eine echte Überzeugung vorliegt.

4 

 1 Einführung

1.2 Die Grundfragen der Erkenntnistheorie Die noch relativ grobe und vorläufige Analyse des Erkenntnisbegriffs hat zum Ergebnis, dass das Thema der Erkenntnistheorie Wissen ist und mit ihm Wahrheit und Rechtfertigung. Doch welche spezifischen Fragestellungen verfolgt die Erkenntnistheorie in Hinblick auf das Wissen? Selbstverständlich geht es auch in den Einzelwissenschaften (wie Physik, Chemie, Biologie, aber auch Psychologie, Germanistik und Geschichte) um Wissen. Diese Disziplinen liefern Wissen über ihre jeweiligen Bereiche, wenn alles gut geht. Und jeder, der in diesen Bereichen Wissen erwerben will, ist gut beraten, sich an diese Wissenschaften zu halten. Aber die meisten dieser Einzelwissenschaften machen Wissen oder Erkenntnis nicht eigens zum Thema ihrer Forschung. Darin unterscheidet sich die Erkenntnistheorie von ihnen. Ihr geht es um Wissen über das Wissen. Das ist ein Merkmal der Erkenntnistheorie. Aber es ist noch nicht ausreichend, um sie von allen Einzelwissenschaften abzugrenzen. Wenn Sie aufmerksam gelesen haben, dann wird Ihnen aufgefallen sein, dass es eben hieß: „Die meisten Einzelwissenschaften machen Wissen nicht zum Thema ihrer Forschung.“ Es gibt also doch einige, die es tun. Hier muss man vor allem an drei Disziplinen denken: Erstens die Kognitionswissenschaften (zu denen die Neurowissenschaft, die kognitive Psychologie und die Künstliche-Intelligenz-Forschung gehören), zweitens die Evolutionsbiologie und drittens die Sozialwissenschaften. Sehen wir uns etwas genauer an, auf welche Weise diese Disziplinen Erkenntnis oder Wissen zu ihrem Thema machen. Zunächst die Kognitionswissenschaften: In diesen geht es primär darum, wie Menschen tatsächlich wahrnehmen und denken, um die neurophysiologische Realisierung* dieser kognitiven Prozesse im Gehirn und darum, künstliche Systeme zu entwickeln, die wahrnehmen und denken können. Thema sind also eigentlich, wie der Begriff bereits sagt, kognitive Zustände und Prozesse und nicht Wissen als solches. Die Wahrheit der Kognitionen, die für Wissen unverzichtbar ist, spielt hier bestenfalls eine untergeordnete Rolle. Wie ist es mit der Evolutionsbiologie? Hier geht es tatsächlich um Wissen, zumindest im Sinne von nicht-zufällig wahrer Überzeugung. Die These ist, dass Wissen einen Überlebenswert hat und deshalb einen selektiven Vorteil in der evolutionären Geschichte gewährt. Gegenstand sind also die kausalen Konsequenzen von Wissen. Die Sozialwissenschaften thematisieren die besonderen Strukturen der Wissensgesellschaft und, wenn man die Sozial- und Wissenschaftsgeschichte hinzuzählt, wie sich das Wissenschaftsverständnis oder der Wissenschaftsbetrieb historisch verändert haben. Hier stehen die Beschreibung und Erklärung der gesellschaftlichen Funktion des Wissens und die Beschreibung und Erklärung gesellschaftlich anerkannter Wissensmaßstäbe im Vordergrund.



1.2 Die Grundfragen der Erkenntnistheorie 

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Sofern die Einzelwissenschaften also Wissen überhaupt thematisieren, tun sie es nur in Hinblick auf seine kausalen Wirkungen oder das historisch sich wandelnde Wissensverständnis bestimmter Epochen und Traditionen. Die Erkenntnistheorie interessiert dagegen etwas ganz anderes am Wissen. Sie möchte erstens klären, was Wissen (bzw. Erkenntnis) seiner Natur nach eigentlich ist. Sie möchte also die klassische sokratische „Was ist X-Frage“ in Bezug auf Wissen beantworten. In dieser Richtung haben wir vorhin schon einige vorsichtige Schritte unternommen und gesehen, dass es keine einfache Sache ist. Es kommen wichtige Komponenten wie Wahrheit und Rechtfertigung ins Spiel, die ihrerseits einer Klärung bedürfen. Die Erkenntnistheorie untersucht also auch, was Wahrheit und was Rechtfertigung ist. Und sie sollte untersuchen, in welchem Verhältnis die Komponenten zueinander stehen. Ist Wissen ein Ziel? Oder ist das primäre Ziel die Wahrheit und Rechtfertigung nur ein Mittel dazu? Und in welchem Verhältnis stehen diese Ziele zum Ziel des praktischen Erfolgs? Diesen ganzen Fragenkomplex zähle ich zu der analytischen Aufgabe der Erkenntnistheorie – der Analyse und Klärung erkenntnistheoretischer Kategorien und ihrer Verhältnisse untereinander. Darin erschöpfen sich die Aufgaben der Erkenntnistheorie jedoch nicht. Sobald die Natur der erkenntnistheoretischen Grundkategorien geklärt ist (also feststeht, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit Wissen, Wahrheit und Rechtfertigung vorliegen), kann die Erkenntnistheorie ihrer evaluativen oder normativen Aufgabe nachgehen. Sie kann untersuchen, ob die Methoden und Verfahren, mit denen Menschen im Allgemeinen ihre Überzeugungen bilden und verteidigen, den Bedingungen entsprechen, die die Analyse der erkenntnistheoretischen Grundkategorien ergeben hat.4 Sie bewertet also das menschliche Erkenntnisvermögen und beschreibt nicht nur unsere tatsächlichen Verfahrensweisen (wie beispielsweise die Wissenschaftsgeschichte). Zu einer solchen Bewertung gehört natürlich auch eine Beschreibung dieser Verfahren, aber sie alleine kann nicht genügen, um die normative Aufgabe zu erfüllen. In diesen Bereich fallen u. a. die folgenden Fragen: Auf welche Weise und durch welche Quellen können wir Wissen erwerben? Also: Beruht Wissen allein auf Erfahrung (wie der Empirismus meint) oder gibt es auch Wissen aus reiner Vernunft (wie Rationalisten glauben)? Wie sieht die korrekte Struktur der Rechtfertigung aus? Also: Beginnt jede angemessene Rechtfertigung mit fundamentalen Gründen (wie der Fundamentalismus meint) oder stützen sich unsere Gründe wechselseitig in einem großen Netz (wie Kohärenztheoretiker behaupten)? Welchen Umfang

4 An dieser Stelle wird bereits deutlich, dass die analytische Aufgabe der Erkenntnistheorie ihrer normativen Aufgabe methodisch vorgelagert ist.

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 1 Einführung

und welche Grenzen hat das menschliche Wissen? Und, radikaler gefragt, gibt es überhaupt Wissen bzw. gerechtfertigte Überzeugungen (was der Skeptizismus ja bezweifelt)? Schließlich muss die Erkenntnistheorie auch der Frage nachgehen, ob wir in der Lage sind, unsere Erkenntnisfähigkeiten zu verbessern (z. B. durch geeignetere Methoden). Kurz: Im Rahmen der normativen Aufgabe der Erkenntnistheorie geht es um die Bewertung der Quellen, der Struktur und des Umfangs menschlichen Wissens und menschlicher Rechtfertigung. Grundfragen der Erkenntnistheorie Analytische Fragen (1) Was ist Wahrheit? (2) Was ist Wissen? (3) Was ist Rechtfertigung? Normative Fragen (1) Welche Quellen hat unser Wissen? (2) Welche allgemeine Struktur hat unsere Rechtfertigung? (3) Was können wir wissen? (Umfang und Grenzen menschlichen Wissens)

1.3 Erkenntnistheorie als philosophische Disziplin Jetzt dürfte klar geworden sein, worin das Eigentümliche der Erkenntnistheorie gegenüber den Einzelwissenschaften liegt. Die Erkenntnistheorie hat ganz spezifische Aufgaben: die Analyse von Kategorien, die mit Wissen zu tun haben, und eine ganz allgemeine Bewertung menschlicher Methoden in Hinblick auf diese Kategorien. Diese Aufgaben werden von keiner Einzelwissenschaft wahrgenommen. Die entscheidende Frage, die sich anschließt und die gegenwärtig die Erkenntnistheoretiker besonders beschäftigt, ist die Frage, ob es auch besondere Methoden gibt, die die Erkenntnistheorie als philosophische Disziplin gegenüber empirischen Wissenschaften auszeichnet. Der methodische Naturalismus bestreitet das.5 Dieser Naturalismus vertritt die Auffassung, dass die erkenntnistheore-

5 Während der methodische Naturalismus die erkenntnistheoretische These vertritt, dass nur die empirischen Methoden der Wissenschaften Erkenntnisse hervorbringen, behauptet der ontologische Naturalismus, dass alles, was existiert, in der natürlichen raum-zeitlichen Welt existiert. Quine ist der paradigmatische Vertreter beider Arten von Naturalismus gewesen. Vgl. zur Unterscheidung verschiedener Arten von Naturalismus Goldman 1994. Allgemein zum Naturalismus in der Erkenntnistheorie Kornblith 1994, Kitcher 1992 und Koppelberg 2000.



1.3 Erkenntnistheorie als philosophische Disziplin 

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tischen Fragestellungen mit Hilfe genau derselben empirischen Methoden beantwortet werden können wie die Fragestellungen der Einzelwissenschaften. Gibt es Gründe, die dafür sprechen, an der Idee einer philosophischen Erkenntnistheorie, die nicht auf empirische Wissenschaften reduziert werden kann, weiter festzuhalten? Betrachten Sie zunächst die analytischen Aufgaben der Erkenntnistheorie. Erkenntnistheoretiker wollen herausbekommen, was Wissen, Wahrheit und Rechtfertigung sind. Sie wollen die Natur dieser Grundbegriffe besser verstehen. Als Naturalisten müssten sie diese Fragen genauso verstehen wie z. B. die Frage, was Aluminium ist.6 Wer auch immer das Letztere wissen will, wird sich einfach ein Stück Aluminium nehmen und es mit Hilfe empirischer Methoden auf seine innere Struktur hin untersuchen. In diesem Fall wäre es unsinnig, sich der Natur der Sache durch eine Begriffsanalyse anzunähern. Unser Begriff „Aluminium“ enthält im besten Fall nicht viel Wissenswertes über den Stoff; im schlechtesten Fall ist er sogar irreführend.7 Wissen und andere erkenntnistheoretische Begriffe können wir jedoch nicht so wie Aluminium untersuchen. Hier gibt es einfach keine exemplarischen (so genannte paradigmatische) Fälle. Wir dürfen nicht einfach davon ausgehen, dass irgendeiner der Fälle, auf den der Wissensbegriff angewandt wird, dessen Bedingungen tatsächlich erfüllt. Wir könnten uns schließlich täuschen und nur glauben, dass Wissen vorliegt. Ansonsten würden wir die Möglichkeit skeptischer Irrtumssituationen von vornherein ausschließen. Die Untersuchung des Aluminiums kann tatsächlich ergeben, dass unser Alltagsverständnis seiner wesentlichen Eigenschaften falsch war. Aber wir können uns nicht vorstellen, dass wir aufgrund einer Untersuchung der exemplarischen Fälle des Wissens zu der Auffassung kommen, dass zur Natur des Wissens Wahrheit nicht hinzu gehört. Läge in den untersuchten Fällen keine Wahrheit vor, dann wären es eben keine Fälle von Wissen. Es ist deshalb unvermeidlich, dass wir zunächst die Bedingungen analysieren, die erfüllt sein müssen, damit ein Fall von Wissen vorliegt, bevor wir beurteilen können, in welchen Fällen Wissen tatsächlich vorliegt. Der einzig gangbare Weg scheint die Begriffsanalyse zu sein. Eine philosophische Begriffsanalyse besteht nun nicht einfach darin, dass man im Duden nachschaut, was das fragliche Wort bedeutet. Philosophische Begriffsanalyse besteht auch nicht darin, empirische Untersuchungen über den Sprachgebrauch anzustellen, wie ihre Kritiker manchmal verächtlich unterstellen.

6 Ganz in diesem Sinne versteht Kornblith 1995 die Frage nach der Natur des Wissens. 7 Für ein Metall wie Gold ist das noch offenkundiger. Kompetente Sprecher neigen zu der Auffassung, dass zu ihrem Begriff von Gold gehört, dass Gold gelb ist. Tatsächlich aber beruht die gelbe Farbe des Goldes in der Regel auf geringfügigen Kupferbeimengungen in den mineralogischen Goldvorkommen.

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 1 Einführung

Um einen Begriff philosophisch zu analysieren, muss man hypothetisch konstruierte Situationen daraufhin untersuchen, ob man geneigt ist, den Begriff auf diese Situationen anzuwenden oder nicht. Durch eine geschickte Wahl der von der Wirklichkeit oft sehr weit abweichenden und bizarren Szenarien kann man verschiedene notwendige* und zusammen hinreichende* Bedingungen für die Anwendung des Begriffs herausbekommen und so zu einer Definition gelangen.8 Eine Begriffsanalyse in diesem Sinne kann informativ sein, weil unsere Begriffsverwendung nicht von einer expliziten Vorstellung der Anwendungsbedingungen gesteuert wird.9 Die Fähigkeit, Worte zu verwenden, beruht vielmehr auf einer Art praktischem Können, einem know how, wie der späte Wittgenstein in seinen Philosophischen Untersuchungen gezeigt hat.10 Bei der Begriffsanalyse handelt es sich nicht um eine Methode der empirischen Wissenschaften, sondern um so etwas wie Lehnstuhl-Philosophie – also Philosophie, die man ohne Kenntnis der Welt im eigenen Studierzimmer betreiben kann. Sie ist deshalb eine eminent philosophische Aufgabe. Ein zweites Argument* gegen den methodischen Naturalismus lautet wie folgt: Wenn wir die normativen Aufgaben der Erkenntnistheorie betrachten, dann soll bewertet werden, ob die Methoden, die Menschen verwenden, um Erkenntnis zu erwerben, gut und erfolgreich sind oder nicht. Wenn wir jedoch die empirischen Methoden der Erkenntnisgewinnung untersuchen und dies mit Hilfe empirischer Methoden tun (wie der Naturalismus empfiehlt), dann ergibt sich ein Zirkel. In unserer Untersuchung müssen wir den Erfolg genau jener Methoden voraussetzen, deren Qualität wir gerade erst untersuchen wollen. Die Erkenntnistheorie sollte die Sache jedoch nicht als vorentschieden betrachten, sondern die Methoden, die sie untersucht, kritisch hinterfragen. Deshalb sollte die Erkenntnistheorie ihre Bewertung von einem unabhängigen, wenn nicht gar voraus-

8 Immer wieder hört man den Einwand, dass man einen Begriff doch so definieren könne, wie man wolle. Wenn eine Definition auf einer willkürlichen Entscheidung beruhe, könne sie jedoch keinen Erkenntniswert haben. Dieser Einwand übersieht den Unterschied zwischen stipulativen Definitionen, die tatsächlich die Bedeutung eines Wortes neu festlegen und deshalb weder wahr noch falsch sein können, und analytischen Definitionen, die einen bereits existierenden Begriff analysieren und in Bezug auf ihn wahr oder falsch sein können. 9 In diesem Sinne auch Peacocke 1998. 10 Das so genannte Paradox der Analyse ist deshalb ein bloßes Scheinproblem. Diesem Paradox zufolge ist jede Analyse überflüssig, weil wir bereits die richtige Bedeutung des zu analysierenden Begriffs kennen müssen, um einzelne Definitionsvorschläge bewerten zu können. Tatsächlich überprüfen wir die Definitionsvorschläge jedoch induktiv anhand unserer Urteile über tatsächliche und mögliche Einzelfälle; und zu solchen Urteilen sind wir auch ohne die explizite Kenntnis der notwendigen und hinreichenden Bedingungen für die Begriffsanwendung in der Lage. Vgl. dazu Smith 1994, S. 37–39.



1.3 Erkenntnistheorie als philosophische Disziplin 

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setzungslosen Standpunkt unternehmen. Das Problem lässt sich besonders gut anhand der Auseinandersetzung mit dem Skeptizismus veranschaulichen. Dazu eine kleine skeptische Geschichte: Alles fing an diesem kalten Mittwochabend an. Ich saß allein in meinem Büro herum und beobachtete, wie der Regen draußen auf die verlassenen Straßen prasselte, als plötzlich das Telefon klingelte. Harrys Frau war am Apparat und sie klang verängstigt. Sie hätten alleine in ihrer Wohnung zu Abend gegessen, als plötzlich ihre Wohnungstür aufgebrochen wurde und sechs vermummte Männer hereinplatzten. Die Männer waren bewaffnet und zwangen Harry und Anne, sich mit dem Gesicht auf den Boden zu legen, während sie Harrys Taschen durchwühlten. Als sie seinen Führerschein gefunden hatten, sah sich einer von ihnen aufmerksam Harrys Gesicht an, verglich es mit dem offiziellen Foto und murmelte: „Alles klar; er ist’s.“ Der Anführer der Einbrecher verabreichte Harry eine Injektion mit einem Mittel, das ihm im Handumdrehen das Bewusstsein raubte. Aus irgendeinem Grund fesselten und knebelten sie nur Anne. Zwei der Männer verließen den Raum und kehrten mit einer Bahre und weißen Kitteln zurück. Sie legten Harry auf die Bahre, zogen die weißen Kittel an und rollten ihn aus der Wohnung. Anne ließen sie auf dem Boden zurück. Sie schaffte es, sich zum Fenster zu robben, um gerade noch zu sehen, dass sie Harry in einen Krankenwagen schoben und davon fuhren. Als Anne mich anrief, war sie vollkommen aufgelöst. Es hatte Stunden gedauert, bis sie sich von ihren Fesseln befreit hatte. Dann rief sie die Polizei. Zu ihrer Überraschung kamen statt eines uniformierten Beamten zwei Männer in Zivil und, ohne sich den Tatort überhaupt nur anzusehen, teilten sie ihr mit, dass sie nichts tun könnten und dass sie besser den Mund halten solle. Sollte sie auch nur den leisesten Versuch unternehmen, der Sache nachzugehen, würden sie sie für verrückt erklären und ihren Mann würde sie dann niemals wieder sehen. Da sie keinen anderen Ausweg wusste, rief Anne mich an. Sie war geistesgegenwärtig genug gewesen, um sich das Kennzeichen des Krankenwagens zu merken und so war es für mich nicht schwer, ihn bis zu einer Privatklinik am Stadtrand zurückzuverfolgen. Als ich dort ankam, war die Klinik erstaunlicherweise wie eine Festung verbarrikadiert. Es gab Wachleute am Eingang und eine große Mauer rundherum. Meine gute Ausbildung erlaubte es mir, die immerhin sechs Meter hohe Mauer mit Stacheldraht zu überwinden und die Wachhunde auf der anderen Seite ruhig zu halten. Die Fenster im Erdgeschoss waren alle verrammelt, aber ich schaffte es irgendwie, an einer Regenrinne hochzuklettern und durch ein Fenster im zweiten Stock, das jemand offen gelassen hatte, einzudringen. Ich fand mich in einem Laboratorium wieder. Als ich ein Flüstern im Nebenraum hörte, sah ich durch das Schlüsselloch und entdeckte einen kompletten Operationssaal, in dem ein Team von Chirurgen an Harry herumhantierte. Er war mit einem Tuch vom Hals abwärts zugedeckt und sie schienen ihn an irgendwelche Röhren und Drähte anzuschließen. Ich stieß einen stummen Schrei aus, als ich bemerkte, dass sie Harrys Schädeldecke entfernt hatten. Zu meiner großen Bestürzung fasste einer der Chirurgen in Harrys offenen Schädel hinein, holte sein Gehirn heraus und legte es in eine verchromte Metallschüssel. Die Röhren und Drähte, die ich zuvor bemerkt hatte, waren an das nunmehr körperlose Gehirn angeschlossen. Die Chirurgen trugen die blutige Masse vorsichtig zu einem Gefäß hinüber, in das sie sie legten. Mein erster Gedanke war, dass ich in eine Versammlung futuristischer Satanisten hineingeraten war, die sich irgendeinen Kick von einer Vivisektion versprachen.

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 1 Einführung

Dann dachte ich jedoch daran, dass Harry Versicherungsagent war. Vielleicht war dies ihre Rache für die Erhöhung der Raten für eine Versicherung, die für Schäden durch Kunstfehler aufkam. Wenn sie so etwas jeden Mittwochabend trieben, dann waren die Raten sicher nicht höher, als sie sein sollten. Meine Spekulationen wurden abrupt unterbrochen, als das Licht in meinem Versteck anging und ich mich der Furcht einflößendsten Gruppe von Medizinern gegenüber sah, die ich je in meinem Leben gesehen hatte. Sie verfrachteten mich gewaltsam in das Nachbarzimmer und legten mich auf den Operationstisch. Ich dachte in diesem Moment: „Oh, jetzt ist’s vorbei mit mir.“ Die Ärzte steckten in der anderen Ecke des Zimmers die Köpfe zusammen, aber ich konnte meinen Kopf nicht so weit herumdrehen, dass ich sehen konnte, was genau sie dort taten. Sie tuschelten miteinander; sicher berieten sie über mein Schicksal. Plötzlich öffnete sich eine Tür und ich hörte die Stimme einer Frau. Das veränderte Verhalten der medizinischen Bösewichte machte auf einen Schlag deutlich, wer hier der Chef war. Ich versuchte mit aller Kraft, einen Blick auf diese geheimnisvolle Frau zu werfen, aber sie entzog sich meinen Blicken. Dann aber kam sie zu meiner Überraschung zu mir herüber, beugte sich über mich und ich stellte fest, dass es meine Sekretärin Margot war. Ich fing an zu bedauern, dass ich ihr kein Weihnachtsgeld gezahlt hatte. Ohne Zweifel, es war Margot, aber eine ganz andere Margot, als ich sie kannte. Als sie sich so über mich beugte, strömte sie eine unglaubliche Autorität aus. „Also Mike, Du dachtest, dass Du so clever warst, als Du Harry hier in diese Klinik gefolgt bist“, sagte sie. Selbst jetzt war ihre Stimme erregender, als ich es je sonst erlebt hatte. Aber das war es nicht, was mich beschäftigte. Sie fuhr fort: „Das war alles nur ein Trick, um Dich herzulocken. Du hast gesehen, was mit Harry passiert ist. Er ist nicht wirklich tot, wie Du weißt. Diese Gentlemen hier sind die derzeit besten Neurowissenschaftler der Welt. Sie haben ein chirurgisches Verfahren entwickelt, mit dem sie das Gehirn vom Körper trennen, aber in einem Behälter mit Nährflüssigkeit am Leben erhalten können. Das Ministerium für Nahrungsund Arzneimittel würde das Verfahren sicher nicht gutheißen, aber wir werden es ihnen noch beweisen. Siehst Du all die Drähte, die zu Harrys Gehirn führen? Sie schließen ihn an einen leistungsstarken Computer an. Der Computer zeichnet den Output seines motorischen Kortex auf und liefert einen solchen Input an seinen sensorischen Kortex, dass alles für Harry ganz normal aussieht. Er simuliert eine Erfahrungswelt, die so perfekt zu dem passt, was er früher erlebt hat, dass er gar nicht bemerkt, dass irgendetwas mit ihm passiert ist. Gerade glaubt er, dass er sich rasiert und sich fertig macht, um ins Büro zu gehen (…). Aber tatsächlich ist er nur ein Gehirn im Tank. Sobald wir unser Verfahren perfektioniert haben, werden wir uns noch einmal an den Chef des Ministeriums für Nahrungs- und Arzneimittel wenden. Aber zunächst brauchen wir einige Versuchspersonen. Mit Harry war es ein leichtes Spiel. Um unser Computerprogramm wirklich ernsthaft zu testen, brauchen wir jemanden, der ein interessanteres und vielseitigeres Leben führt  – jemanden wie Dich!“ Ich begann zu schreien. Die Chirurgen hatten sich um mich herum versammelt und sahen mich mit einem bösartigen Glanz in ihren Augen an. Der größte Schurke, ein Mann mit einem pockennarbigen Gesicht und einem einzigen Auge, das unter dem fettigen schwarzen Haar hervorstach, spielte mit einem rasiermesserscharfen Skalpell in seinen blutigen Händen herum und sah so aus, als ob er seine Begeisterung kaum zügeln konnte. Aber Margot grinste mich nur an und flüsterte mit dieser unglaublichen Stimme: „Ich wette, Du denkst jetzt, dass wir Dich gleich operieren und Dein Gehirn herausholen, genauso wie wir es mit Harry getan haben. Stimmt’s? Aber



1.3 Erkenntnistheorie als philosophische Disziplin 

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Du brauchst keine Angst haben. Wir werden Dein Gehirn nicht entfernen. Wir haben es nämlich bereits getan – und zwar vor drei Monaten!“ Damit ließen sie mich gehen. Wie im Nebel bin ich in mein Büro zurückgekehrt. Aus gutem Grund habe ich niemandem von dieser Geschichte erzählt. Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Mich quält der Gedanke, dass ich wirklich ein Gehirn im Tank sein könnte und dass alles, was ich um mich herum sehe, die bloße Simulation eines Computers sein könnte. Woher soll ich es wissen? Wenn das Computerprogramm wirklich funktioniert, dann wird alles ganz normal aussehen, egal was ich tue. Vielleicht ist nichts von dem wirklich, was ich sehe. Das treibt mich in den Wahnsinn. Ich habe mir sogar schon überlegt, mich freiwillig in die Klinik zurück zu begeben und sie zu bitten, mein Gehirn herauszunehmen. Dann wenigstens könnte ich sicher sein.11

Was ist Mikes Problem? Es könnte sein, dass er tatsächlich schon seit Monaten das trübsinnige Dasein eines Gehirns im Tank fristet und dies auf grausame Weise durch eine entsprechende Manipulation seiner Erfahrungen seitens seiner Peiniger soeben erfahren hat. Es könnte aber auch sein, dass sich die Szene tatsächlich so abgespielt hat, wie er sie gerade erlebt hat, und dass seine Sekretärin mit ihm nur ein böses Spiel treibt, um sich dafür zu rächen, dass er ihr kein Weihnachtsgeld gezahlt hat. Sie hätte Mike dann nur in eine Situation gelockt, in der sie ihm etwas vorspielt und ihn anlügt. Oder es könnte am Ende alles (einschließlich der Szene in der Klinik) nur ein makaberer, aber sehr lebendiger Traum gewesen sein. Mike kann es nicht entscheiden und es gibt auch keine Möglichkeit, die Sache irgendwie zu klären. Das ist das Perfide daran. In allen drei Szenarien sind seine Erfahrungen genau dieselben. Er kann also aufgrund seiner Erfahrungen nicht entscheiden, welches dieser Szenarien zutrifft. Nun ist es nur noch ein kleiner Schritt hin zu der These, dass wir uns im Grunde alle fortwährend in der Situation Mikes befinden. Wir brauchen ja gar keine empirischen Gründe (wie Mikes Margot-Episode), die uns nahelegen, dass wir uns in einer skeptischen Situation befinden. Es genügt, wenn wir erkennen, dass immer alternative Interpretationen unserer Erfahrung vorstellbar sind, die empirisch äquivalent mit unserer üblichen Interpretation sind, um die Berechtigung dieser Interpretation in Frage zu stellen. In allen alternativen Situationen würden wir exakt dieselben Erfahrungen machen, die wir tatsächlich machen. Dann nämlich erkennen wir, dass wir keinen empirischen Grund haben, die übliche Interpretation einer dieser Alternativen vorzuziehen. Übertragen wir den Fall jetzt auf die naturalistische Erkenntnistheorie. Wir wollen unsere empirischen Methoden daraufhin beurteilen, ob sie erfolgreich sind oder nicht. Erfolgreich wären sie dann, wenn sie häufig wahre Überzeugun-

11 Pollock 1986, S. 1–3.

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 1 Einführung

gen oder sogar Wissen hervorbringen. Der Naturalist verwendet dazu eben diese empirischen Methoden. Nehmen wir an, wir kommen mit Hilfe dieser Methoden zu dem Ergebnis, dass die empirischen Methoden erfolgreich sind. Kann uns dieses Ergebnis etwas nützen? Nun, wenn die Methoden tatsächlich nicht erfolgreich wären, könnte ihre Verwendung dennoch zu dem Ergebnis führen, dass sie erfolgreich sind. Genauso wie Mikes Wahrnehmung selbst dann bestätigen würde, dass er kein Gehirn im Tank ist, sondern frei herumläuft, wenn er ein entsprechend manipuliertes Gehirn im Tank wäre. Spätestens an diesem Punkt wird das Problem der naturalisierten Erkenntnistheorie deutlich: Die Qualität ihrer Bewertung unserer Methoden hängt von der fraglichen Qualität der von ihr bewerteten Methoden ab, und das ist zumindest misslich. Es gibt also zumindest zwei Argumente dafür, dass Erkenntnistheorie eine philosophische Disziplin ist. Das erste lautet: Was Erkenntnis, Wissen, Wahrheit und Rechtfertigung wirklich sind, können wir nicht durch empirische Untersuchungen herausbekommen, sondern müssen es auf dem Wege einer Begriffsanalyse klären. Das zweite Argument macht auf den Mangel einer empirischen Bewertung empirischer Methoden aufmerksam. Eine solche Bewertung wäre epistemisch zirkulär*.12

1.4 Ist Erkenntnistheorie überhaupt möglich? Seit den Anfängen der Philosophie in der Antike ist immer wieder daran gezweifelt worden, ob so etwas wie Erkenntnistheorie überhaupt möglich ist. Ein prinzipieller Einwand gegen die Möglichkeit einer normativen Erkenntnistheorie ist das Problem des Kriteriums*, das erstmals bei dem antiken Skeptiker Sextus

12 Die hier angesprochene Zirkularität ist anderer Natur als ein logischer Zirkel. In einem logischen Zirkel tritt die Konklusion explizit unter den Prämissen eines Arguments auf. Das beeinträchtigt nicht die Gültigkeit eines Arguments, denn in jeder Welt, in der ‚p‘ wahr ist, ist ‚p‘ wahr. Aber logisch zirkuläre Argumente sind erkenntnistheoretisch wertlos. Denn entweder wissen wir bereits von p, dann ist das Argument für p überflüssig, oder wir wissen noch nicht von p, dann können wir durch ein Argument, in dem p eine der Prämissen ist, auch kein Wissen von p erwerben. Ein epistemischer Zirkel liegt dagegen vor, wenn die Rechtfertigung der Prämissen eines Arguments die Wahrheit der Konklusion voraussetzt. Dieser Fall tritt z. B. ein, wenn ich für die Zuverlässigkeit meiner Wahrnehmung mit Hilfe von Tatsachen argumentiere, die ich wahrgenommen habe. Ob eine epistemisch zirkuläre Argumentation genauso erkenntnistheoretisch wertlos ist wie ein logisch zirkuläres Argument, wird an anderem Ort in diesem Buch noch genauer untersucht werden. Vgl. S. 330–334.



1.4 Ist Erkenntnistheorie überhaupt möglich? 

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Empiricus in Erscheinung tritt.13 Als Kriterium wird von ihm ein Maßstab, man könnte auch sagen: eine Methode, bezeichnet, die es uns erlaubt, über die Wahrheit und Falschheit unserer Urteile zu entscheiden. Die Erkenntnistheorie soll nun – gewissermaßen von einem übergeordneten Standpunkt aus – darüber entscheiden, was ein gutes Kriterium zur Unterscheidung von wahren und falschen Urteilen ist. Das entspricht in etwa der These, dass die Erkenntnistheorie bewerten soll, welche Methoden erfolgreiche Mittel der Erkenntnisgewinnung sind. Nun kann die Erkenntnistheorie natürlich nicht ohne eigenes Kriterium (ohne eigene Methode) funktionieren. Entweder verwendet sie also dasselbe Kriterium, über das sie entscheiden soll (und dann tritt der epistemische Zirkel auf, den die Erkenntnistheorie ja gerade vermeiden will), oder sie verwendet ein anderes Kriterium (eine eigene philosophische Methode), doch dann stellt sich die Frage, ob dieses Kriterium gut ist, und dazu bedarf es eines weiteren Kriteriums und so ad infinitum. Erkenntnistheorie erscheint also als unmöglich, weil sie entweder zirkulär verfährt oder in einen Regress immer höherstufigerer Kriterien mündet oder einfach dogmatisch* ohne weitere Begründung an irgendeiner Stelle abbricht. Anders formuliert: Wenn die Erkenntnistheorie voraussetzungslos die Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt begründen will, dann ist sie offensichtlich unmöglich, da sie selbst auf irgendeiner Art von Methode beruhen muss, die sie bestenfalls zirkulär rechtfertigen kann. Keiner hat dieses Problem so prägnant formuliert wie Hegel in seiner Enzyklopädie der Wissenschaften mit Bezug auf Kants Erkenntnistheorie. Dort heißt es: Sie [die Philosophie Kants] wird auch kritische Philosophie genannt, indem ihr Zweck zunächst ist (…), eine Kritik des Erkenntnisvermögens zu sein. Vor dem Erkennen muss man das Erkenntnisvermögen untersuchen. Das ist dem Menschenverstand plausibel, ein Fund für den gesunden Menschenverstand. (…) Das Erkenntnisvermögen untersuchen heißt, es zu erkennen. Die Forderung ist also diese: man soll das Erkenntnisvermögen erkennen, ehe man es erkennt; es ist dasselbe wie mit dem Schwimmenwollen, ehe man ins Wasser geht.14

Das lässt sich auch umdrehen: Wenn eine philosophische Erkenntnistheorie möglich sein und zugleich alle Methoden der Erkenntnisgewinnung bewerten soll, dann kommt sie nicht umhin, an irgendeinem Punkt epistemisch zirkulär zu werden (d. h. in ihrer Bewertung diejenige Methode zu verwenden, um deren Bewertung es geht). Nur so scheint die Möglichkeit einer allgemeinen Erkennt-

13 Empiricus 1968, II. Buch, §§ 15–20. Dieses antike Problem wurde später immer wieder neu formuliert. Beispielsweise von Montaigne, Hegel und Leonard Nelson. Vgl. zur Darstellung des Problems auch Schnädelbach 2002, S. 19 ff. 14 Hegel 1982, S. 333 f.

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 1 Einführung

nistheorie verteidigt werden zu können. Wenn das jedoch richtig ist, dann müssen wir auch den vorhin angeführten Einwand gegen die Naturalisierung der Erkenntnistheorie (der gerade auf dieser Zirkularität beruht) neu überdenken. Das Problem des Kriteriums ist, wenn man so will, das Totschlägerargument gegen jede Art von Erkenntnistheorie bis in die Gegenwart gewesen. Wer also am Sinn des ganzen Unternehmens festhalten möchte, muss auf dieses Problem eine Antwort haben.15 An die Seite des antiken Kriteriumsproblems hat sich in neuerer Zeit ein weiterer grundsätzlicher Einwand gegen die normative Erkenntnistheorie gesellt. Er lautet folgendermaßen: Die Erkenntnistheorie untersucht die kognitiven Vermögen, Quellen und Prozesse menschlicher Erkenntnis. Es geht dabei um Wahrnehmung, Introspektion* oder Vernunft. Wenn die Erkenntnistheorie sich jedoch mit dem erkennenden Subjekt beschäftigt, dann ist sie streng genommen nichts anderes als kognitive Psychologie. Und diese kognitive Psychologie ist keine philosophische, sondern eine empirische Wissenschaft. Sie ist aber vor allem auch keine normative, sondern eine deskriptive Disziplin, die die psychischen Abläufe so beschreibt, wie sie sind. Dieser Punkt wurde von dem amerikanischen Philosophen W. V. O. Quine betont, als er sagte: „Erkenntnistheorie (…) wird zu einem Kapitel der Psychologie (…).“16 Richard Rorty bläst in dasselbe Horn: Die Frage ‚Wie ist Erkenntnis möglich?‘ hätte (…) der Frage ‚Wie sind Telefone möglich?‘ geglichen und soviel bedeutet wie ‚Wie kann man etwas konstruieren, was das kann?‘ Eine physiologische Psychologie, nicht eine ‚Erkenntnistheorie‘, wäre als der einzige legitime Nachfolger von De Anima und (Humes) Essay Concerning Human Understanding erschienen.17

Aus der Perspektive Rortys hat Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft auch nichts anderes als Kognitionspsychologie betrieben, allerdings in Form einer höchst fragwürdigen „transzendentalen Psychologie“ von einem Standpunkt apriorischer* Vernunfterkenntnis. Wenn man diesen Psychologismus vermeiden möchte, dann bleibt als Alternative nur die Vertreibung des erkennenden Subjekts aus der Erkenntnistheorie übrig. Doch dann reduziert sich die Erkenntnistheorie auf reine Logik, Argumentationstheorie, Bedeutungstheorie oder formale Wissenschaftstheorie. Damit hat jedoch bereits ein grundlegender Themenwechsel

15 Auf dieses Problem werde ich ausführlich im Abschnitt 6.3.4. und im Kapitel 8 eingehen. 16 Quine 1969, S. 82, in meiner Übersetzung. 17 Rorty 1981, S. 171.



1.4 Ist Erkenntnistheorie überhaupt möglich? 

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stattgefunden.18 Die genannten Disziplinen mögen zwar philosophisch und normativ sein, aber sie wären keine legitimen Nachfolger der Erkenntnistheorie. Was ist zu diesem Einwand zu sagen? Die Option einer Erkenntnistheorie ohne erkennendes Subjekt scheint keinen Sinn zu machen. Aber läuft eine Erkenntnistheorie mit erkennendem Subjekt automatisch darauf hinaus, dass die Erkenntnistheorie zur Psychologie wird? Zumindest folgt es nicht daraus. Es ist zwar offensichtlich wahr, dass einer Bewertung kognitiver Quellen des Menschen ihre Untersuchung durch die Psychologie vorangehen muss. Solange wir nämlich die tatsächlichen Quellen menschlicher Erkenntnis nicht kennen, gibt es auch nichts, was wir bewerten können. Das bedeutet jedoch nur, dass die Erkenntnistheorie sich auf deskriptive Erkenntnisse der Psychologie stützen muss, nicht jedoch, dass sie nichts eigenes mehr zu sagen hat. Offensichtlich erfolgt die normative Bewertung der menschlichen Erkenntnisquellen gerade nicht durch die Psychologie. Quine und Rorty zeigen also weniger, als sie zu zeigen meinen. Sie zeigen, dass eine autonome Erkenntnistheorie ohne Bezug zu den Kognitionswissenschaften nicht möglich ist. Insofern machen sie deutlich, dass ein traditionelles Verständnis von Erkenntnistheorie, wie es vor allem im Neukantianismus verwurzelt ist, nicht mehr haltbar ist. Der Neukantianer Rudolf Eisler schreibt 1907 in seiner Einführung in die Erkenntnistheorie: Erkenntnistheorie ist nicht Psychologie, ist nicht Anwendung von Psychologie, hat Psychologie nicht zur Grundlage, nicht zum Ausgangspunkt, ja nicht einmal als Hilfsmittel. (…) Die Psychologie, weit entfernt, zur Grundlage der Erkenntnistheorie dienen zu können, setzt schon diese Wissenschaft oder wenigstens die Geltung ihrer Sätze voraus, sie ist die Abhängige der Erkenntnistheorie.19

Die von Eisler hier vertretene Autonomie der Erkenntnistheorie erweist sich angesichts der Relevanz psychologischer Erkenntnisse für die Erkenntnistheorie als problematisch. Insoweit wird man Quine und Rorty Recht geben müssen. Sie zeigen aber weder, dass es keine normative Bewertung der kognitiven Vermögen des Menschen geben kann, noch, dass diese Bewertung nicht zu den bleibenden Aufgaben der Philosophie gehört.

18 Popper ist ein Befürworter einer solchen Erkenntnistheorie ohne erkennendes Subjekt. Vgl. Popper 1993, S. 109–157. 19 Eisler 1907, S. 9 f.

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 1 Einführung

1.5 Über den Stellenwert der Erkenntnistheorie in der Philosophie Wenn sich die grundsätzlichen Einwände gegen die Möglichkeit der Erkenntnistheorie zurückweisen lassen, dann stellt sich als nächstes die Frage, welche Rolle die Erkenntnistheorie innerhalb der Philosophie spielt. Wir sind es heute gewohnt, verschiedene philosophische Disziplinen ziemlich streng zu unterscheiden. Üblich ist die Unterscheidung zwischen theoretischer Philosophie (zu der Logik, Metaphysik – oder Ontologie, Philosophie des Geistes, Sprachphilosophie, aber auch Erkenntnistheorie gezählt werden), praktischer Philosophie (Ethik, Politische Philosophie, Sozialphilosophie) und Ästhetik. Diese Unterscheidung war nicht immer üblich. Bei Platon findet sich noch keine Spur von ihr. Erst seit Aristoteles ist eine systematische Untergliederung der Philosophie üblich geworden. Die Erkenntnistheorie ist ihrem Namen nach noch relativ jung. Erst nach Kant, d. h. seit Mitte des 19. Jahrhunderts, spricht man in der deutschsprachigen Philosophie von einer „Theorie der Erkenntnis“, die dann unter dieser Bezeichnung vor allem im Neukantianismus besondere Beachtung gefunden hat.20 Der Sache nach wurde Erkenntnistheorie aber bereits seit den Anfängen der Philosophie in der griechischen Antike betrieben. Schon bei Platon spielt die Frage nach einer Definition des Wissens im Menon und im Theaitetos eine wichtige Rolle. Und in der Politeia geht es neben der Gerechtigkeit auch um eine Rangordnung der Wissensformen und die Möglichkeit von Ideenwissen. Bei Aristoteles finden sich wichtige Überlegungen zur Wissenschaftstheorie (zur axiomatischen* Methode und zur Induktion*) in den Analytica posteriora und zur Wahrnehmungstheorie in De anima. Eine empiristische Erkenntnistheorie finden wir bei Epikur. Und vor allem die hellenistische Philosophie hat das Problem des Skeptizismus (akademische und phyrronische Skepsis) und die Möglichkeit unfehlbaren Wissens (Stoa) sehr beschäftigt. Dennoch war die Erkenntnistheorie (soweit überhaupt disziplinär klar unterschieden) nur eine philosophische Theorie neben anderen. Die Metaphysik hatte ganz deutlich Priorität und wurde von Aristoteles zur „ersten Philosophie“ erklärt. Der Name „Metaphysik“ verdankt sich vielleicht einem Zufall. Die metaphysischen Bücher des Aristoteles standen nämlich in der alexandrinischen Bibliothek hinter den Büchern der Physik, so dass man sie als „die hinter der Physik“ (ta meta ta physica) bezeichnete. Der Sache nach geht es in der Metaphysik um die Grundstruktur der Wirklichkeit im Allgemeinen (metaphysica generalis) oder um bestimmte Wirklichkeitsbereiche wie die Welt, Gott und die Seele (metaphysica specialis). Die Metaphysik versucht, die allgemeinen Kate-

20 Zeller 1877, Vaihinger 1876, Rorty 1981, Kap. III.



1.5 Über den Stellenwert der Erkenntnistheorie in der Philosophie 

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gorien der Wirklichkeit zu erfassen (Substanz, Akzidenz, Ereignisse, Eigenschaften, Kausalität usw.), aber auch Fragen nach der Unsterblichkeit der Seele, dem Anfang der Welt oder der Existenz Gottes zu beantworten. Der bis dahin unangetastete Primat der Metaphysik in der Philosophie wurde in der Neuzeit erschüttert. Dazu hat zum einen der rasante Fortschritt und Erfolg der empirischen Wissenschaften geführt, der die philosophischen Methoden der Naturerkenntnis zumindest fraglich erscheinen ließ. Dazu hat aber auch der Streit innerhalb der Metaphysik geführt. Ein Echo darauf ist beispielsweise Kants Klage darüber, dass die Metaphysik noch immer nicht den sicheren Gang einer Wissenschaft erreicht habe (wie ihn nach seiner Auffassung die Logik oder die Physik Newtons erreicht haben), sondern sich in Antinomien verstricke, weil vom metaphysischen Standpunkt bislang alles und sein Gegenteil beweisbar* erschien.21 Diese Krise der Metaphysik führte zu Beginn der Neuzeit zu einem geschärften Methodenbewusstsein und der Idee, dass einer soliden metaphysischen Theoriebildung eine Reflexion auf die richtige Methode vorausgehen müsse. Genau diese Rolle übernahm seit Descartes die Erkenntnistheorie. In seinen Meditationen ist der Gedanke leitend, dass man nur durch eine radikale methodische Skepsis bezüglich unserer Wissensprinzipien die Spreu vom Weizen trennen könne. Fortan sollten nur solche Methoden als akzeptabel gelten, die die Wahrheit garantieren. Und Descartes wollte das von einem absolut unbezweifelbaren Standpunkt aus sicherstellen – der Gewissheit des ‚Ich existiere‘. Ein ähnlicher methodischer Rigorismus ist auch bei den Britischen Empiristen (Locke, Berkeley und Hume) zu beobachten. Kurz: In der Neuzeit hat die Erkenntnistheorie die Metaphysik als erste Philosophie abgelöst. Dieses veränderte Selbstverständnis in der Philosophie zeigt sich beispielsweise in John Lockes Versuch über den menschlichen Verstand (1689), wo ausdrücklich in dem vorangestellten Brief an den Leser gesagt wird, dass inhaltlichen Untersuchungen eine kritische Untersuchung der menschlichen Erkenntnisfähigkeit vorangehen müsse: Fünf oder sechs Freunde trafen sich in meiner Wohnung und erörterten ein von dem gegenwärtigen sehr weit abliegendes Thema; hierbei gelangten sie bald durch die Schwierigkeiten, die sich von allen Seiten erhoben, an einen toten Punkt. Nachdem wir uns eine Zeitlang abgemüht hatten, ohne einer Lösung der uns quälenden Zweifel irgendwie näher zu kommen, kam mir der Gedanke, dass wir einen falschen Weg eingeschlagen hätten und vor Beginn solcher Untersuchungen notwendig unsere eigenen geistigen Anlagen prüfen und zusehen müssten, mit welchen Objekten sich zu befassen unser Verstand tauglich sei.22

21 Kant 1998, B VII ff. 22 Locke 1981, Bd. 1, S. 7, meine Hervorhebung.

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 1 Einführung

Die Erkenntnistheorie sollte das methodische Fundament legen, auf dem dann eine Metaphysik als Wissenschaft aufbauen konnte. Mit Kant hat diese Umkehrung der Prioritäten eine weitere Radikalisierung erfahren.23 Streng genommen versucht Kant in seiner kritischen Phase mit der Kritik der reinen Vernunft (1781) zu zeigen, dass die traditionellen Themen der Metaphysik entweder die Grenzen des Erkennbaren überschreiten (wie die Unsterblichkeit der Seele, die Existenz Gottes, der Anfang der Welt, die Freiheit und der Zweck der Welt) oder durch Erkenntnistheorie ersetzt werden müssen (wie die Deduktion* der allgemeinen Kategorien der erfahrbaren Natur). Dass Kant eine Ersetzung möglicher Metaphysik durch die Erkenntnistheorie im Sinn hat, wird deutlich, wenn er in der Analytik der Kritik an einer Stelle sagt, „der stolze Name einer Ontologie (…) muss dem bescheidenen, einer bloßen Analytik des reinen Verstandes, Platz machen.“24 Damit will er sagen, dass eine bestimmte Art der Metaphysik (als Theorie erfahrungstranszendenter Dinge) nicht mehr möglich ist und dass Metaphysik, sofern sie möglich ist, nur als Erkenntnistheorie (als Analytik des Verstandes) überlebt. Kant zufolge ist außerhalb der Erkenntnistheorie kein Platz mehr für philosophische Erkenntnis, sondern nur noch Raum für die empirischen Wissenschaften, die durch die Erkenntnistheorie legitimiert werden. Es handelt sich um eine radikale Metaphysikkritik und eine Zurückführung der theoretischen Philosophie auf Erkenntnistheorie. Dabei ist es natürlich nicht geblieben. Der Siegeszug der Erkenntnistheorie vor allem im Neukantianismus bis ins 20. Jahrhundert hinein ist inzwischen längst Geschichte. Seit Frege, Russell und dem frühen Wittgenstein ist zunächst durch die Sprachphilosophie, dann durch die Philosophie des Geistes immer deutlicher geworden, dass es eine Voraussetzung der Erkenntnistheorie gibt, die diese selbst nicht mehr reflektiert. Wenn sie nämlich untersucht, welche unserer kognitiven Methoden gut geeignet sind, um Wahrheit und Wissen zu liefern, dann setzt sie stillschweigend voraus, dass es so etwas wie einen auf die Welt abzielenden intentionalen* Bezug gibt. Doch wie dieser Bezug möglich ist, darüber schweigt sich die Erkenntnistheorie aus. Die Sprachphilosophie (und später die Philosophie des Geistes) ist in diese Lücke vorgestoßen und arbeitet an einer Theorie der Bedeutung. Sie hat der Erkenntnistheorie damit ihren Anspruch

23 Vgl. in diesem Sinne auch Kants Verständnis der Kritik der reinen Vernunft: „Ich verstehe aber (unter einer Kritik der reinen Vernunft eine Kritik, TG) (…) des Vernunftvermögens überhaupt, in Ansehung aller Erkenntnisse, zu denen sie, unabhängig aller Erfahrung, streben mag, mithin die Entscheidung der Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer Metaphysik überhaupt und die Bestimmung so wohl der Quellen, als des Umfanges und der Grenzen derselben (…).“ (A XII) 24 Kant 1998, B 303.



1.5 Über den Stellenwert der Erkenntnistheorie in der Philosophie 

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auf eine erste Philosophie streitig gemacht. Man spricht von der ‚linguistischen Wende‘ in der Philosophie. Philosophiegeschichtlich betrachtet wurde also die Metaphysik durch die Erkenntnistheorie und diese wiederum durch die Sprachphilosophie und Philosophie des Geistes als erste Philosophie abgelöst.25 Die Idee einer streng hierarchischen Beziehung zwischen den Disziplinen der theoretischen Philosophie verliert aber schnell an Attraktivität, wenn man diese Beziehung genauer durchdenkt. Es zeigt sich nämlich, dass keine dieser Disziplinen vollkommen unabhängig von den jeweils anderen Disziplinen ist. Deshalb kann auch keiner dieser Disziplinen ein absoluter Vorrang eingeräumt werden. Die Erkenntnistheorie z. B. hängt auf vielfältige Weise von den anderen Disziplinen ab. Erstens ist der für sie zentrale Begriff der Wahrheit im Kern ein semantischer Begriff, der eine Beziehung zwischen Geist und Welt zum Ausdruck bringt. Zweitens besteht ein wichtiger Teil der Erkenntnistheorie selbst aus einer Bedeutungsanalyse der erkenntnistheoretischen Grundbegriffe (wie Rechtfertigung und Wissen). Solange die Bedeutung dieser Begriffe nicht geklärt ist, ist auch nicht klar, an welchem Maßstab sich die normative Erkenntnistheorie orientieren soll, wenn sie untersucht, ob Gründe oder Methoden im erkenntnistheoretischen Sinne gut oder schlecht sind. Drittens hängt die Beurteilung der Frage, ob wir über einen bestimmten Bereich Wissen haben, entscheidend davon ab, worauf sich die betreffenden Urteile beziehen bzw. welche Bedeutung sie haben. In all diesen Fragen hängt die Erkenntnistheorie von einer Theorie der Bedeutung wesentlich ab. Wenn man die Einsicht hinzunimmt, dass die Erkenntnistheorie in ihrem Kern eine Theorie des erkennenden Subjekts ist, dann handelt die Erkenntnistheorie von Gegenständen (wie mentalen Prozessen und Überzeugungen oder Wahrnehmungen), die einen bestimmten ontologischen und psychologischen Status haben. Auch in dieser Hinsicht erweist sich die Erkenntnistheorie also als angewiesen auf die Ergebnisse anderer philosophischer Disziplinen (und der empirischen Wissenschaften). Andererseits kann aber das Primat auch nicht einfach einer der anderen Disziplinen wie der Sprachphilosophie, der Philosophie des Geistes oder der Metaphysik zugeschrieben werden. Wir dürfen nämlich keine Gegenstände in der Außenwelt oder Bedeutungsentitäten* postulieren, zu denen wir nicht irgendeinen Erkenntniszugang haben können. Solche für uns unerkennbaren Entitäten könnte es zwar prinzipiell geben, aber solange wir nicht von ihnen wissen oder nicht wenigstens gute Gründe bezüglich ihrer Existenz haben, bleibt jede Behauptung ihrer Existenz ein unbegründetes Dogma. Es sieht also so aus, als würde zwischen den verschiedenen theoretischen Disziplinen eine wechselsei-

25 Vgl. in diesem Sinne Tugendhat 1976, Kap. I, und Glock 2002.

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 1 Einführung

tige Abhängigkeit ohne einseitige Priorität bestehen. Wir können keine Disziplin der Philosophie unter vollständiger Abstraktion von den jeweils anderen Disziplinen betreiben. Es ist vielmehr so, dass wir beim Theoretisieren in einem Bereich (sei es Metaphysik, Erkenntnistheorie oder Semantik) die Ergebnisse der jeweils anderen Disziplinen berücksichtigen müssen, um zu einem stimmigen Gesamtbild zu kommen. Man sollte also nicht mehr von einer Hierarchie, sondern einem integrativen Projekt sprechen, in dem aber die Erkenntnistheorie eine wichtige und unverzichtbare Rolle spielt.26 Die Rangordnung der Disziplinen der theoretischen Philosophie (1) Antike: Metaphysik als erste Philosophie (2) Neuzeit: Erkenntnistheorie als erste Philosophie (3) 20. Jahrhundert: Bedeutungstheorie (Semantik) als erste Philosophie (4) Ausblick: Gleichrangigkeit von Metaphysik, Erkenntnistheorie und Bedeutungstheorie

1.6 Über die Relevanz der Erkenntnistheorie Welche Bedeutung die Erkenntnistheorie für unser Wissen insgesamt, für die Philosophie und unser Selbstverständnis hat, darüber besteht auch gegenwärtig keine Einigkeit unter Philosophen. Die Einschätzungen reichen von extrem wichtig und grundlegend bis hin zu bloß klärend und eher marginal. Am Anfang dieser Einführung in die Erkenntnistheorie sollen die verschiedenen Konzeptionen der Erkenntnistheorie zunächst einmal vorgestellt werden. Es wird später durch den Gang der Diskussion deutlich werden, welche Konzeptionen überzogen sind und welche sich als akzeptabel erweisen. Die zweifellos anspruchsvollste Konzeption der Erkenntnistheorie ist diejenige, die in der Erkenntnistheorie eine Fundamentalwissenschaft sieht, durch die alle Einzelwissenschaften (sowie alle anderen philosophischen Disziplinen) allererst legitimiert werden. Dem liegt der folgende Gedanke zugrunde: Die empirischen Einzelwissenschaften (Physik, Biologie) verwenden Methoden oder beruhen auf Voraussetzungen, die sie selbst nicht mehr rechtfertigen können, die aber einer Rechtfertigung bedürfen. Der Erkenntnistheorie kommt nun die Aufgabe zu, diese Wissenschaften zu legitimieren und auf ein sicheres Fundament zu stellen. Nach dieser Auffassung hat die Erkenntnistheorie das methodische Primat gegenüber jeglichem Wissen und jeder Form von Wissenschaft. Sie muss deshalb auch unabhängig oder autonom gegenüber den Ergebnissen der

26 In diesem Sinne Peacocke 1999, Kap. 1.



1.6 Über die Relevanz der Erkenntnistheorie 

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Einzelwissenschaften sein. Und sie verwendet rein apriorische und unfehlbare Methoden. Der bereits zitierte Rudolf Eisler bringt diese Konzeption der Erkenntnistheorie auf den Punkt: Die Erkenntnistheorie ist souverän, sie schöpft ihre Gewissheit aus sich selbst, aus ihrer rein logischen Tätigkeit, mittels welcher sie, in a priorischer Weise, die Grundbegriffe und Grundsätze der Wissenschaften deduziert oder doch legitimiert.27

Und warum bedürfen die empirischen Wissenschaften überhaupt einer apriorischen Legitimation? Die Argumente dafür sind bei Descartes und Kant zu finden. Nach Descartes muss die Zuverlässigkeit wissenschaftlicher Methoden gegen den radikalen Zweifel erwiesen werden, damit diese Wissen hervorbringen können. Würden wir uns dabei auf eben diese wissenschaftlichen Methoden selbst verlassen, so würden wir gerade das voraussetzen, was der Skeptiker bezweifelt. Deshalb bedarf es einer apriorischen Metarechtfertigung unserer empirischen Methoden. Nach Kant beruhen die empirischen Wissenschaften auf inhaltlichen (nicht methodischen) Voraussetzungen, die sich ihrerseits nicht empirisch rechtfertigen lassen. So geht beispielsweise die Physik davon aus, dass alle Ereignisse kausal erklärbar sind, insofern jedes Ereignis eine Ursache hat. Dieses allgemeine Kausalprinzip kann jedoch nach Kant nicht durch die Erfahrung gerechtfertigt werden. Kausalität ist ein modaler Begriff, der beinhaltet, dass die Ursache die Wirkung mit Notwendigkeit erzwingt. Wir können jedoch nur erfahren, was ist, und nicht, was notwendig ist. Die Wahrheit des Kausalprinzips kann deshalb nur a priori durch Vernunft erkannt werden. Das soll die Erkenntnistheorie leisten (die bei Kant selbst noch nicht so heißt).28 Etwas schwächer ist die Konzeption der Erkenntnistheorie, die deren Rolle vor allem in der Widerlegung des Skeptizismus sieht.29 Diese Position gesteht zu, dass unser gewöhnliches Wissen und die Wissenschaften auch ohne eine Legitimation durch die philosophische Erkenntnistheorie möglich sind. Sobald wir jedoch einen Standpunkt radikaler kritischer Reflexion einnehmen, wollen wir wissen, ob wir Wissen und vor allem, ob wir funktionierende Wissenschaften haben. Die Erkenntnistheorie ist aus dieser Perspektive nicht mehr methodisch primär gegenüber allem übrigen Wissen, sie muss aber autonom und a priori sein. Weniger anspruchsvoll ist die normative Erkenntnistheorie im Rahmen des Naturalismus. Hier geht es immer noch darum, den Umfang des menschlichen

27 Eisler 1907, S. 11. 28 Gegenwärtig wird die Rolle der Erkenntnistheorie als Fundamentalwissenschaft noch von BonJour 1998 und Bealer vertreten. 29 Vgl. etwa Stroud 1996.

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 1 Einführung

Wissens zu bestimmen (oder sogar durch die Verbesserung der Methoden zu vergrößern). Aber das geschieht nicht mehr in Auseinandersetzung mit dem Skeptiker, sondern unter der Annahme, dass bestimmte Methoden Wissen generieren bzw. rechtfertigende Kraft haben, oder unter der Annahme, dass der gesunde Menschenverstand Recht hat und der Umfang unseres Wissens ungefähr so groß ist, wie wir gewöhnlich annehmen.30 Die akzeptierten Methoden können dann dazu verwendet werden, die Zuverlässigkeit anderer Methoden zu bewerten und gegebenenfalls zu verbessern. Oder wir können aufgrund von Symmetrieüberlegungen argumentieren, dass andere Methoden, die nicht schlechter dastehen als die akzeptierten Methoden, gleichfalls akzeptiert werden müssen. Umgekehrt können wir Rückschlüsse auf die legitimen Methoden der Erkenntnis ziehen, wenn wir von einem bestimmten Umfang unseres Wissens ausgehen. Die Erkenntnistheorie lässt sich auch als methodologisches Kriterium für akzeptable metaphysische Annahmen verstehen.31 Wir können nämlich die Beschaffenheit und das Wesen eines bestimmten ontologischen Gegenstandsbereichs dadurch erkennen, dass wir annehmen, dass wir von diesem Bereich Wissen haben und dass wir von ihm nur dann Wissen haben können, wenn er auf eine bestimmte Weise beschaffen ist. Der Vater dieser Argumentationsfigur ist Kant. Er geht davon aus, dass wir erfahrungsunabhängiges Wissen von notwendigen Wahrheiten haben. Ein solches Wissen ist ihm zufolge jedoch nur dann möglich, wenn die notwendigen Tatsachen selbst ein Produkt unserer Verstandestätigkeit sind und deshalb nicht geistunabhängig existieren. So beweist er den transzendentalen Idealismus. Ganz gleich wie man dieses spezifische Argument bewertet, dahinter steht eine generelle Argumentationsfigur der folgenden Form: (P1) (P2)

Wir haben Wissen von X. Wenn wir Wissen von X haben, dann muss X so-und-so beschaffen sein.

Also: X ist so-und-so beschaffen. Eine klassische Anwendung dieses Argumenttyps ist die Argumentation gegen eine platonistische Interpretation der Zahlen: Wir haben Wissen von mathematischen Tatsachen. Da wir von einer platonischen Hinterwelt kein Wissen haben können – denn zu dieser abstrakten Welt stehen wir in keinem für Wissen erfor-

30 Chisholm 1982 nennt die erste Annahme Methodismus, die zweite Partikularismus. Bartelborth 1996 versucht beide Annahmen in einer Art Überlegungsgleichgewicht auszubalancieren. 31 Vgl. zum Folgenden Glock 2002.



1.6 Über die Relevanz der Erkenntnistheorie 

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derlichen kausalen Kontakt, können mathematische Tatsachen nicht platonistisch interpretiert werden.32 Schließlich kann man die primäre Aufgabe der Erkenntnistheorie darin sehen, zu einem besseren Verständnis und einer vollständigen Klärung unserer erkenntnistheoretischen Grundbegriffe beizutragen. Aus dieser Perspektive bekommt natürlich das analytische Projekt der Erkenntnistheorie einen eindeutigen Vorrang. Auf seiner Grundlage lassen sich jedoch auch die klassischen Paradoxien der Erkenntnistheorie auflösen. Hier ist die Grundidee, dass wir mit Hilfe eines besseren Verständnisses unserer erkenntnistheoretischen Grundbegriffe eine Diagnose etwa für den Skeptizismus anbieten können, die erklärt, warum der Skeptizismus uns so plausibel erscheint, und zugleich erklärt, warum er dennoch falsch ist. Durch ein Missverständnis unserer eigenen epistemischen Grundbegriffe sind wir demnach in eine Sackgasse oder – um mit Wittgenstein zu sprechen – in ein Fliegenglas geraten, aus dem wir nur dadurch einen Ausweg finden, dass wir uns überlegen, wie wir in das Glas hineingeraten sind. Der diagnostische Ansatz klärt uns über solche grundlegenden Missverständnisse auf und befreit uns von scheinbaren Problemen.33 Es ist eines der Ziele dieses Buches zu klären, welche dieser Rollen die Erkenntnistheorie sinnvollerweise spielen kann. Konzeptionen der Erkenntnistheorie (1) Fundamentalwissenschaft, die jegliches Wissen legitimiert (2) Widerlegung des Skeptizismus (3) Normative Erkenntnistheorie auf naturalistischer Basis (4) Methodologie der Metaphysik (5) Begriffsklärung und Diagnostik erkenntnistheoretischer Probleme

32 Dieses Beispiel zeigt jedoch gleich schon die Probleme des ganzen Ansatzes. Das Argument kann bestenfalls als ein anfechtbares Argument aufgefasst werden, denn erstens kann man einen partiellen Skeptizismus mit Bezug auf eingeschränkte Wissensbereiche durchaus vertreten (vielleicht ist die Mathematik nur ein nützliches Instrument für die korrekte Prognose, aber nicht selbst wahr, wie Hartry Field behauptet). Zweitens kann man das Wissen, das in (1) unterstellt wird, auch dadurch leugnen, dass man den ganzen Diskursbereich als nicht deskriptiv analysiert. Die fraglichen Urteile hätten dann keine Wahrheitsbedingungen und deshalb gäbe es auch kein Wissen in diesem Bereich. Das ist beispielsweise für den Bereich der moralischen Urteile von den Expressivisten angenommen worden. Schließlich ist drittens auch die Prämisse (2) nicht unanfechtbar. Vielleicht gibt es gar keine Probleme mit dem Wissen von platonischen Entitäten, wenn man die kausale Konzeption des Wissens aufgibt. 33 Die diagnostische Methode in der Erkenntnistheorie wird von Williams 1996, DeRose 1995, Greco 2000 und Rorty 1981 vertreten.

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 1 Einführung

1.7 Literaturempfehlungen Nikola Kompa und Sebastian Schmoranzer 2014 (Hg.): Grundkurs Erkenntnistheorie, Münster (Debattenorientierte Einführung in die wichtigsten Themenfelder der Erkenntnistheorie). Thomas Bonk 2013 (Hg.): Lexikon der Erkenntnistheorie, Darmstadt (die wichtigsten Grundbegriffe, ausführlich und verständlich erläutert). Sven Bernecker und Duncan Pritchard 2011 (Hg.): The Routledge Companion to Epistemology, London/New York (umfangreiches Nachschlagwerk mit exzellenten Artikeln zu allen Kernthemen der Erkenntnistheorie). Matthias Steup, John Turri und Ernest Sosa 2014 (Hg): Contemporary Debates in Epistemology, Malden/Oxford, 2. Auflage (avancierte Diskussion der zentralen erkenntnistheoretischen Fragen durch Beiträge pro und contra von ihren Hauptvertretern). John Turri: Epistemology. A Guide, Malden/Oxford (interessante Einführung mit Hilfe einer kritischen Kommentierung der wichtigsten erkenntnistheoretischen Beiträge der letzten 50 Jahre). Alvin Goldman und Matthew McGrath 2015: Epistemology. A Contemporary Introduction, Oxford (eine innovative Einführung, die auch kognitionswissenschaftliche und experimentelle Perspektiven berücksichtigt). Darren Bradley 2015: A Critical Introduction to Formal Epistemology, London (sehr gut lesbare und leicht verständliche Einführung in die Grundlagen und philosophischen Perspektiven der formalen Erkenntnistheorie und Wahrscheinlichkeitstheorie). Daniel Kahneman 2014: Schnelles Denken, langsames Denken, Pantheon (verständlich und unterhaltsam geschriebenes wichtiges Buch des Psychologen und Nobelpreisträgers, mit psychologischen Erklärungen von typischen Verzerrungen in der Urteilsbildung).

2 Wahrheit 2.0 Allgemeines Der Begriff* der Wahrheit ist streng genommen kein erkenntnistheoretischer Begriff. Er greift eine Relation zwischen Geist und Welt heraus, nämlich den Bezug auf etwas, das der Fall ist. Er ist deshalb anderen semantischen Grundbegriffen wie dem der Referenz oder der Bedeutung sehr ähnlich. Obwohl Wahrheit also ein semantischer Begriff ist, spielt er innerhalb der Erkenntnistheorie eine herausragende Rolle. Wahrheit und die Vermeidung von Irrtum sind Grundziele unserer Erkenntnisbemühungen. Wissen beinhaltet, wie wir gesehen haben, auch die Wahrheit der Überzeugung. Und rechtfertigende Gründe sollen dafür sprechen, dass die auf sie gestützte Überzeugung wahr ist, sie sollen die Wahrheit dieser Überzeugung zumindest wahrscheinlich machen. Deshalb ist eine Klärung des Begriffes und der Natur der Wahrheit eine unverzichtbare Voraussetzung für die normative Erkenntnistheorie. Ob wir mit unseren Erkenntnisbemühungen Erfolg haben und welche Quellen unser Wissen hat, lässt sich erst beantworten, wenn geklärt ist, wie das Ziel unserer Erkenntnisbemühungen genauer aussieht. Das soll in diesem Kapitel in Grundzügen untersucht werden. Unser alltäglicher Wahrheitsbegriff ist mehrdeutig. Das gilt auch für den Wahrheitsbegriff der philosophischen Tradition. Zunächst soll genauer eingegrenzt werden, um welche Art von Wahrheit es geht, wenn Wahrheit als Ziel unserer Erkenntnisbemühungen verstanden wird. Wir sprechen davon, dass etwas aus wahrer Liebe geschah, dass jemand ein wahrer Freund ist, dass ein Roman wahre Empfindungen ausdrückt oder dass etwas wahre Kunst ist. In diesen Fällen wird ‚Wahrheit‘ auf Gegenstände angewandt. Ein Gegenstand ist wahr, wenn er seinem Maßstab entspricht oder – anders gesagt – wenn er so ist, wie er sein soll. Dafür muss er einer Idee, einem Begriff oder den Absichten seines Schöpfers entsprechen. Da ein Gegenstand seinem Maßstab mehr oder weniger gut entsprechen kann, gibt es Grade der Wahrheit, so wie es Grade der Vollkommenheit gibt. Dieser ontologische Sinn von Wahrheit, der vor allem in der Antike und im Mittelalter eine wichtige Rolle spielte, aber auch heute noch gebräuchlich ist,34 hat nichts mit dem Ziel unserer Erkenntnisbemühungen zu tun. Wenn wir

34 Hegel erweist sich in seiner Enzyklopädie (Hegel 1969, Bd. 8, S. 86, Zweiter Zusatz zu § 24) als Fürsprecher dieser ontologischen Konzeption der Wahrheit: „Im philosophischen Sinn (…) heißt Wahrheit (…) Übereinstimmung eines Inhalts mit sich selbst. (…) Übrigens findet sich diese tiefere (philosophische) Bedeutung der Wahrheit zum Teil auch schon im gewöhnlichen Sprachgebrauch. So spricht man z. B. von einem wahren Freund und versteht darunter einen solchen, DOI 10.1515/9783110530278-002

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 2 Wahrheit

etwas wissen wollen, dann wollen wir nicht bestimmte Arten von Dingen besitzen, sondern erfassen, wie die Dinge sind. Der erkenntnistheoretisch relevante Sinn von Wahrheit muss auch von zwei Verwendungsweisen abgegrenzt werden, die in der philosophischen Tradition eine wichtige Rolle spielen. Im Buch Theta 10 seiner Metaphysik spricht Aristoteles von einer noetischen Wahrheit, die darin besteht, dass man bestimmte Gegenstände (vielleicht sind Bedeutungen gemeint) direkt durch Vernunft erfasst.35 Das Eigentümliche dieser Wahrheitskonzeption liegt darin, dass man etwas nur erfassen oder verfehlen kann. Ausgeschlossen ist der Fall, dass man sich auf einen Gegenstand bezieht, ihn aber nicht so erfasst, wie er wirklich ist. Mit anderen Worten: Gegensatz der noetischen Wahrheit ist nicht Irrtum oder Falschheit, sondern das Nicht-Erfassen. Auch darum kann es in unseren Erkenntnisbemühungen nicht gehen, denn ihr Ziel ist die Wahrheit im Gegensatz zur Falschheit. Aus einem ähnlichen Grund muss auch Heideggers hermeneutischer Wahrheitsbegriff als geeigneter Kandidat ausscheiden. In Sein und Zeit (§ 44) führt er die „Erschlossenheit“ als den grundlegenden Sinn von Wahrheit ein.36 Sein Grundgedanke ist dabei, dass jeder kritischen Unterscheidung zwischen wahren und falschen Urteilen ein Verstehen bzw. eine Gegebenheit der Dinge für uns vorausgeht.37 Diese ursprüngliche Erschlossenheit der Welt kann jedoch nicht das Ziel unserer Erkenntnisbemühungen sein, sondern es ist die Wahrheit im Unterschied zum Irrtum. Worum es wirklich geht, wenn wir Wissen erlangen wollen, ist die propositionale Wahrheit. Dabei handelt es sich um eine Eigenschaft von Sätzen, Überzeugungen, Vorstellungen oder Propositionen*, die einen Gegenstand als so-und-so beschaffen darstellen (repräsentieren) und dabei dieses Ding so darstellen, wie es wirklich ist. Die Träger des Wahrheitswertes (im Folgenden kurz: Wahrheitswertträger) müssen also erstens einen Bedeutungsgehalt propositionaler Art haben. Sie müssen besagen, dass etwas so-und-so beschaffen ist bzw. dass etwas der Fall ist. Und dieser Gehalt muss zweitens erfüllt sein, damit der Wahrheitswertträger

dessen Handlungsweise dem Begriff der Freundschaft gemäß ist; ebenso spricht man von einem wahren Kunstwerk. Unwahr heißt damit soviel als schlecht, in sich selbst unangemessen.“ 35 Aristoteles 1978, Met. 1051b. 36 An anderer Stelle spricht Heidegger auch von ‚Unverborgenheit‘ – ein Terminus, den er als Übersetzung des griechischen Begriffes ‚aletheia‘ anbietet. 37 Heidegger setzt an dieser Stelle Wahrheit und Falschheit einfach mit Verifikation und Falsifikation gleich. Nur die letzteren setzen nämlich eine Gegebenheit der Dinge für uns voraus.

2.0 Allgemeines 

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den Wahrheitswert ‚wahr‘ hat. Ansonsten hat er den Wahrheitswert ‚falsch‘.38 Nur Gebilde mit propositionalem Gehalt können wahr oder falsch sein. Dieser kritische Wahrheitsbegriff ist der Begriff der Wahrheit, der für die Erkenntnistheorie von zentraler Bedeutung ist. Er wurde bereits von Aristoteles deutlich formuliert, wenn dieser im Buch Gamma seiner Metaphysik sagt: „Zu sagen (…), das Seiende sei nicht oder das Nicht-Seiende sei, ist falsch, dagegen zu sagen, das Seiende sei und das Nicht-Seiende sei nicht, ist wahr.“39 Man könnte den Gedanken von Aristoteles auch so ausdrücken: Wenn etwas der Fall ist und ich sage, dass es nicht der Fall ist, oder etwas ist nicht der Fall und ich sage, dass es der Fall ist, dann sage ich etwas Falsches. Wenn etwas dagegen der Fall ist und ich sage, dass es der Fall ist, oder wenn etwas nicht der Fall ist und ich sage, dass es nicht der Fall ist, dann sage ich die Wahrheit. Welcher Art der Träger propositionaler Wahrheit ist, darüber gibt es einen langen Streit. Nach der klassischen Auffassung sind psychologische Zustände wie Überzeugungen, Vorstellungen oder Urteile Wahrheitswertträger. Nach der linguistischen Wende in der Philosophie wurde jedoch auch die Überzeugung vertreten, dass linguistische Entitäten*  – Aussagesätze  – Wahrheitswertträger sind.40 Gottlob Frege hat schließlich die sehr einflussreiche Auffassung verfochten, dass als Wahrheitswertträger nur Propositionen (die er selbst ‚Gedanken‘ nennt) in Frage kommen.41 Propositionen sind abstrakte, nicht in der raum-zeitlichen Welt lokalisierbare, platonische Entitäten. Zunächst einmal scheint alles dafür zu sprechen, dass psychologische Zustände und Sätze die Wahrheitswertträger sind, denn schließlich wollen wir ja kognitiv die Wahrheit erfassen, wenn wir uns um Erkenntnis bemühen, und wir wollen diese Wahrheit auch sprachlich mitteilen können. Wären die Träger der Wahrheit in einer platonischen Hinterwelt angesiedelt, so könnten wir mit ihnen wenig anfangen. Bei genauerem Hinsehen ergeben sich aber einige Schwierigkeiten für Auffassungen, die den Träger der Wahrheit in Raum und Zeit lokalisieren. Erstens: Wahrheiten sollen intersubjektiv* zugänglich und mitteilbar sein. Psychische Zustände (wie Überzeugungen) sind jedoch immer Zustände einer spezifischen Person. Sie gehören sozusagen zum Privateigentum ihres Trägers. Insofern fehlt ihnen die Intersubjektivität. Der primäre Träger der Wahrheit ist

38 Um die Sache zu vereinfachen, wird hier von der Bivalenz ausgegangen, also der Annahme, dass Sätze bzw. Überzeugungen entweder wahr oder falsch sind und ein dritter Wahrheitswert nicht existiert. 39 Aristoteles 1978, Met. 1011b25. 40 Für diese Position ist insbesondere Wittgenstein in seinem Tractatus eingetreten. 41 Frege 2003, S. 38.

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 2 Wahrheit

also das propositionale Objekt der Überzeugung, in dem natürlich Überzeugungen verschiedener Personen übereinstimmen können. Thomas kann glauben, dass Merkel 2005 Bundeskanzlerin wurde; und Peter kann auch glauben, dass Merkel 2005 Bundeskanzlerin wurde. Hier liegen zwei Überzeugungen mit demselben propositionalen Objekt vor. Zweitens: Bestimmte Typen von Sätzen sowie bestimmte Typen von Überzeugungen haben keinen eindeutigen Wahrheitswert. Der indexikalische* Satz bzw. die indexikalische Überzeugung „Jetzt ist es Nacht“ ist nachts wahr, aber tagsüber falsch. Der Wahrheitswert schwankt also mit dem Zeitpunkt der Äußerung oder des Denkens. Bei anderen indexikalischen Sätzen oder Überzeugungen schwankt er mit dem Ort oder dem Denker bzw. Sprecher. Wahrheit ist jedoch weder zeit- noch personen- noch ortsrelativ. Drittens: Sätze können mit der Zeit ihre Bedeutung verändern, sodass aus einem wahren Satz ein falscher werden kann oder umgekehrt. Ein Wahrheitswertträger sollte seinen Wahrheitswert jedoch konstant tragen. Diese Probleme legen Freges Schritt nahe, in der Proposition den eigentlichen Träger der Wahrheit zu sehen. Wenn man Propositionen als Gegenstände in einer platonischen Hinterwelt versteht, ergeben sich daraus jedoch, wie bereits kurz angedeutet, gleichfalls Probleme. Erstens ist die Annahme von Gegenständen in einer Welt jenseits von Raum und Zeit ein ontologisch sehr hoher Preis. Zweitens aber möchten wir als Personen, die in der raum-zeitlichen Welt leben, einen Zugang zur Wahrheit haben; und es ist nicht erkennbar, wie uns dabei Propositionen helfen könnten, wenn sie kein Bestandteil der psychologischen Welt sind. Um sie kognitiv zu erfassen, bräuchten wir eigentlich weitere Wahrheitswertträger, die aber wiederum als Propositionen verstanden werden müssten usw. Es bleibt also unklar, wie wir überhaupt einen psychologischen Zugang zu platonischen Wahrheitswertträgern haben können. Frege selbst übergeht dieses Problem, indem er einfach postuliert, dass wir diese Propositionen ‚fassen‘. Aber er bleibt uns eine Erklärung schuldig, wie ein solches Fassen möglich sein soll.42 Es ergibt sich insofern der Eindruck, als ob weder psychologische noch linguistische noch gar propositionale Wahrheitswertträger in Frage kommen. Es gibt jedoch einen relativ einfachen Ausweg aus dieser Lage. Aus den Argumenten* gegen psychologische oder linguistische Wahrheitswertträger sollte man den Schluss ziehen, dass es in erster Linie der propositionale Gehalt ist, der einen eindeutigen und konstanten Wahrheitswert hat. Wir sind jedoch nicht dazu gezwungen, diesen Gehalt im Sinne Freges als platonischen Gegenstand zu hypostasieren. Viel näher liegt die Annahme, dass es sich um Gehaltseigenschaften

42 Vgl. Frege 2003, S. 57.



2.1 Grundlegende Merkmale der Wahrheit 

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konkreter Sätze und Überzeugungen handelt.43 Insofern können wir sagen, dass Sätze und Überzeugungen Wahrheitswertträger sind, allerdings nicht simpliciter, sondern aufgrund ihres propositionalen Gehalts.44 Auf diese Weise können die Wahrheitswertträger in die Sphären des Denkens und der Kommunikation zurückgeholt werden.

2.1 Grundlegende Merkmale der Wahrheit Um die verschiedenen Konzeptionen der Wahrheit besser bewerten zu können, sollen nun einige grundlegende Merkmale der Wahrheit aufgelistet werden, denen jede akzeptable Konzeption Rechnung tragen muss. Man kann sie auch als Adäquatheitsbedingungen* für Wahrheitstheorien im Allgemeinen verstehen.45 Ein solches Merkmal wurde bereits erwähnt. Wahrheit ist eine absolute Eigenschaft. Es kann nicht der Fall sein, dass eine Person X die Überzeugung hat, dass p, und eine zweite Person Y auch die Überzeugung hat, dass p, und dass die Überzeugung von X wahr ist, die Überzeugung von Y aber falsch. Außerdem kann der Wahrheitswert des propositionalen Gehalts einer Überzeugung oder eines Satzes sich nicht mit der Zeit oder dem Ort ändern. Der Wahrheitswert ist in keiner Beziehung relativ.46 Wenn man im Alltag davon spricht, dass etwas wahr für die Person X, aber nicht wahr für die Person Y ist, dann meint man damit genau genommen nicht die Wahrheit selbst, sondern das, was die verschiedenen Personen für wahr halten. Dieses Fürwahrhalten ist selbstverständlich relativ auf Personen, Zeitpunkte und Orte. Aber wenn X p für wahr hält und Y die Negation

43 Diese Möglichkeit wird von Alston 1996, S. 19, erwogen. Wie Sätze bzw. psychologische Zustände solche Eigenschaften erwerben können, ist eine andere Frage. 44 Allerdings ist nicht jeder Träger von propositionalem Gehalt ein Wahrheitswertträger. Er muss auch die richtige Entsprechungsrichtung haben. Wünsche besitzen einen propositionalen Gehalt, zielen jedoch darauf, dass die Welt ihnen entspricht. Sie haben eine Welt-zu-Geist Entsprechungsrichtung. Deshalb besitzen sie keinen Wahrheitswert. Überzeugungen zielen dagegen darauf, dass sie der Welt entsprechen. Sie besitzen eine Geist-zu-Welt Entsprechungsrichtung. Deshalb haben sie einen Wahrheitswert. 45 Adäquatheitsbedingungen für Theorien legen generelle Bedingungen fest, die jede akzeptable Theorie über einen bestimmten Bereich erfüllen muss. 46 Allerdings gibt es neuerdings wieder eine gewisse Renaissance des Wahrheitsrelativismus. Danach kann dieselbe Proposition relativ zu den Standards eines Beurteilenden und falsch relativ zu den Standards eines anderen Beurteilenden sein. Das hat zumindest eine gewisse Plausibilität in Bezug auf Propositionen wie „Die Karikatur ist lustig“. Zur Verteidigung des Wahrheitsrelativismus vgl. MacFarlane 2014.

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 2 Wahrheit

von p für wahr hält, dann kann eben nur einer von beiden damit die Wahrheit treffen. Ein weiteres Merkmal der Wahrheit ist ihre Extensionalität*. Der Wahrheitswert eines Satzes ändert sich nicht, wenn man in ihm Ausdrücke gleicher Extension (mit identischen Referenten) durcheinander ersetzt.47 Betrachten Sie das folgende Beispiel. Der Satz ‚Der Abendstern ist ein Planet‘ ist zweifellos wahr. Der Ausdruck ‚Abendstern‘ bezieht sich genau wie der Ausdruck ‚Morgenstern‘ auf die Venus. Wenn man in dem Satz ‚Abendstern‘ durch einen Ausdruck mit gleicher Extension, nämlich ‚Morgenstern‘, ersetzt, dann erhält man den Satz ‚Der Morgenstern ist ein Planet‘. Dieser Satz ist genau wie der Ausgangssatz wahr. Der Sinn eines Satzes ist dagegen keine extensionale, sondern eine intensionale* Eigenschaft. Er kann sich nämlich durch die Ersetzung ko-extensionaler Ausdrücke im Satz ändern. Genau das ist im Beispiel oben passiert. Der Satz ‚Der Morgenstern ist ein Planet‘ hat einen ganz anderen Sinn als der Satz ‚Der Abendstern ist ein Planet‘. Wir können den einen für wahr und den anderen für falsch halten, ohne uns damit zu widersprechen. Es ist ferner unstrittig, dass die folgende Äquivalenz für jeden Satz p gilt:48 ‚p‘ ist wahr genau dann, wenn p. Man spricht in diesem Zusammenhang vom so genannten Zitattilgungsschema. Die Wahrheit dieser Äquivalenz lässt sich leicht anhand eines Beispielsatzes einsehen. ‚Schulz ist 2017 Kanzlerkandidat der SPD‘ ist dann und nur dann wahr, wenn Schulz 2017 Kanzlerkandidat der SPD ist. Diese Äquivalenz lässt sich als eine logische Wenn-dann-Verknüpfung (ein Konditional) in beide Richtungen verstehen. Prüfen wir, ob diese Verknüpfung gilt: Wenn der Satz ‚Schulz ist 2017 Kanzlerkandidat der SPD‘ wahr ist, dann ist Schulz 2017 Kanzlerkandidat der SPD. Das ist wahr, weil die Tatsache, dass Schulz 2017 Kanzlerkandidat der SPD ist, der Wahrmacher49 für den Satz ‚Schulz ist 2017 Kanzlerkandidat der SPD‘ ist. Wenn dieser Satz wahr ist, dann liegt auch sein Wahrmacher vor. Umgekehrt muss auch gelten: Wenn Schulz 2017 Kanzlerkandidat der SPD ist, dann ist der Satz ‚Schulz ist 2017 Kanzlerkandidat der SPD‘ wahr. Das ist wahr, weil immer, wenn eine Tatsache besteht, auch der Satz wahr ist, der diese Tatsache ausdrückt. Also gilt die Äquivalenz. Die meisten Philosophen, die sich mit Wahrheit beschäftigen,

47 Frege 1962, S. 47 f. 48 Vgl. Williamson 1994, S. 162. 49 Der Begriff des Wahrmachers wird hier nicht im engen Sinne der Wahrmachertheorie verstanden, sondern einfach vortheoretisch als dasjenige, was für die Wahrheit des Wahrheitswertträgers verantwortlich ist.



2.1 Grundlegende Merkmale der Wahrheit 

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sind auch der Auffassung, dass es sich nicht nur um eine materiale Äquivalenz50 handelt, sondern dass diese Äquivalenz in allen Welten, d. h. notwendig*, wahr ist. Wie wir später sehen werden, ist nur strittig, ob diese Äquivalenz Wahrheit definiert. Im Regelfall sind außerdem die Faktoren, die über die Wahrheit und Falschheit einer Überzeugung entscheiden, von dieser Überzeugung unabhängig.51 Nur so ist es möglich, dass Überzeugungen falsch sein können und überhaupt die Differenz zwischen Wahrheit und Falschheit eröffnet wird. Diese Unabhängigkeit der Wahrheit vom Fürwahrhalten ist ein minimaler realistischer Kern des Wahrheitsbegriffs, der unstrittig zwischen allen Positionen ist.52 Schließlich spricht vieles dafür, dass Wahrheit keine rein sprachrelative Eigenschaft ist. Die Bedeutung eines Satzes lässt sich nämlich als dessen Wahrheitsbedingung analysieren.53 Deshalb können wir die Bedeutung eines Satzes durch eine Paraphrase angeben, die unter denselben Bedingungen wahr ist. Die Bedeutung des Satzes ‚Nichts ist neu in der Philosophie‘ lässt sich beispielsweise durch den Satz ‚Es gibt keine neuen philosophischen Positionen‘ angeben, weil der zweite Satz unter denselben Bedingungen wahr ist wie der erste. Wenn das richtig ist, dann lässt sich ein Satz einer Sprache nur dann in einen Satz einer anderen Sprache übersetzen, wenn beide Sätze dieselben Wahrheitsbedingungen haben. Und die können sie nur dann haben, wenn Wahrheit über alle Sprachen hinweg dasselbe bedeutet.54 Wenn man Wahrheit sprachrelativ versteht, muss man also entweder die Annahme aufgeben, dass die Bedeutung eines Satzes dessen Wahrheitsbedingung ist, oder man muss die Übersetzbarkeit von Sprachen ineinander aufgeben, was beides gleichermaßen unplausibel ist. Adäquatheitsbedingungen für Wahrheitstheorien (1) Wahrheit ist eine absolute Eigenschaft. (2) Wahrheit ist extensional. (3) Wahrheit erfüllt das Zitattilgungsschema. (4) Wahrheit fällt nicht mit dem Fürwahrhalten zusammen. (5) Wahrheit ist nicht sprachrelativ.

50 Eine materiale Äquivalenz ist bereits wahr, wenn der Wahrheitswert der verknüpften Teilsätze tatsächlich übereinstimmt, also beide Teilsätze wahr oder beide falsch sind. 51 Eine Ausnahme sind selbstbezügliche Überzeugungen wie „Dies ist eine Überzeugung“ oder die Überzeugung „Ich habe eine einzige Überzeugung“. 52 Vgl. dazu Williams 1996, S. 228: „wenn es um wahr und falsch geht, dann ist es nicht das Denken, das es so macht (…).“ 53 Es gibt allerdings auch alternative Ansätze zu einer nicht-wahrheitskonditionalen Semantik, die hier jedoch nicht eigens berücksichtigt werden. 54 Dieser Aspekt wird vor allem von Davidson vertreten. Vgl. etwa Davidson 2001, S. 637.

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 2 Wahrheit

2.2 Wahrheitstheorien Wenn man die verschiedenen Wahrheitstheorien nach systematischen Gesichtspunkten ordnet, dann kann man sie zunächst in epistemische und nicht-epistemische (oder realistische) Wahrheitstheorien unterteilen. Den epistemischen Wahrheitstheorien zufolge lässt sich Wahrheit durch Rechtfertigungskriterien definieren. Realistische Wahrheitstheorien bestreiten das. Unter den realistischen Wahrheitstheorien lassen sich wiederum drei Typen von Theorien unterscheiden. Deflationäre Theorien gehen davon aus, dass sich Wahrheit allein durch das Zitattilgungsschema definieren lässt und es ansonsten nichts Interessantes über Wahrheit zu sagen gibt. Daneben gibt es Theorien, die von der Undefinierbarkeit bzw. Primitivität des Wahrheitsbegriffes ausgehen. Schließlich gibt es die Korrespondenztheorien der Wahrheit, die Wahrheit als eine relationale Eigenschaft zwischen Wahrmachern und Wahrheitswertträgern auffassen, nämlich die Relation der Entsprechung oder Korrespondenz.

Historisch betrachtet war die Korrespondenztheorie bis ins 19.  Jahrhundert hinein die dominierende Position. Zu ihren klassischen Vertretern gehörten Aristoteles55, Karneades, dem Sextus Empiricus die Auffassung zuschreibt, dass die Vorstellung wahr ist „wenn sie mit dem Vorgestellten zusammenstimmt, falsch aber, wenn sie ihm widerspricht“56, Thomas von Aquin, der die Formel prägte „Veritas est adaequatio rei et intellectus“, also dass Wahrheit die Übereinstimmung des Dinges mit dem Intellekt sei,57 Descartes, Locke, Leibniz, Hume, der Wahrheit „in der Übereinstimmung unserer Vorstellung von Gegenständen mit

55 Aristoteles 1964, Kategorienschrift 12b11, 14b14; De Interpretatione 16a3. 56 Empiricus 1957, Adversus Mathematicos, VII, 168. 57 Aquin 1996, Q.1; A.1 & 3.

2.2 Wahrheitstheorien 

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ihrer realen Existenz“ sieht,58 Kant, der sagt, dass die Wahrheit „die Übereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstande sei“59 und viele andere. Erst im 19. und 20. Jahrhundert geriet die Korrespondenztheorie zunehmend in Misskredit, weil auf der einen Seite Charles Sanders Peirce und die amerikanischen Pragmatisten die korrespondenztheoretische Wahrheit für prinzipiell unerkennbar hielten und auf der anderen Seite Frege die Korrespondenztheorie aus semantischen und metaphysischen Gründen ablehnte. Neben der epistemischen Wahrheitstheorie, die in unterschiedlichen Versionen von Peirce, Neurath, Schlick, Putnam, Habermas und Dummett vertreten wurde,60 fanden auch der Deflationismus (Frege, Ramsey, Quine) und der Primitivismus (Frege, Davidson61) im 20. Jahrhundert viel Beachtung. Inzwischen gibt es gewisse Tendenzen zu einer Rehabilitierung der Korrespondenztheorie.

2.2.1 Epistemische Wahrheitstheorien Am Anfang der Diskussion der verschiedenen Wahrheitstheorien sollen die epistemischen Wahrheitstheorien stehen. Um ihre zentrale These zu erläutern, muss zunächst die wichtige Unterscheidung zwischen der Natur der Wahrheit und den Kriterien* der Wahrheit erklärt werden. Die Natur der Wahrheit ist das, was Wahrheit der Sache nach ist. Ein Wahrheitskriterium ist dagegen etwas, mit dessen Hilfe wir feststellen bzw. entscheiden, ob eine Überzeugung oder ein Satz wahr ist. Normalerweise nehmen wir an, dass die Natur einer Sache und die Kriterien für ihr Vorliegen nicht ein und dasselbe sind. So ist eine Säure, kurz gesagt, ein Protonenspender, aber unser Kriterium für ihr Vorliegen ist der Lackmustest. Die Vertreter epistemischer Wahrheitstheorien behaupten nun, dass es sich im Fall der Wahrheit anders verhält. Die Natur und das Kriterium der Wahrheit sollen der Sache nach ein und dasselbe sein. Wahrheiten hängen deshalb notwendigerweise mit unseren Kriterien für sie zusammen und können sie prinzipiell nicht transzendieren. Wenn das richtig ist, dann muss die folgende Äquivalenz notwendig wahr sein:

58 Hume 1978, II, 3, 10. 59 Kant 1998, B 82. 60 Möglicherweise sind Berkeley und Hegel (in der Einleitung zu seiner Phänomenologie des Geistes) bereits frühe Vorläufer solcher epistemischen Theorien. 61 Frege 2003, S. 38, erwägt die Undefinierbarkeit der Wahrheit; Davidson 2001, S. 624 f., vertritt sie dezidiert.

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(EWT) Die Proposition, dass p, ist dann und nur dann wahr, wenn das Kriterium der Wahrheit erfüllt ist. Die epistemischen Wahrheitstheorien wurden in erster Linie indirekt* begründet, und zwar durch Argumente, die zeigen sollten, dass die Alternative zu ihnen – also die realistische Wahrheitsauffassung – unweigerlich zu gravierenden erkenntnistheoretischen und semantischen Problemen führt. Sehen wir uns zunächst die erkenntnistheoretischen Probleme an, zu denen nicht-epistemische Wahrheitsauffassungen führen sollen.62 Bei Brand Blanshard, einem der wichtigsten Vertreter der Kohärenztheorie der Wahrheit, findet sich die folgende Argumentation: Wenn man die Natur der Wahrheit auf eine Weise konzipiert und ihren Test auf eine andere, dann kann man ziemlich sicher sein, dass die beiden früher oder später auseinander fallen. Am Ende ist der einzige Test, der nicht in die Irre führt, die spezifische und charakteristische Natur der Wahrheit selbst.63

Blanshard behauptet hier, dass daraus, dass die Kriterien (die er ‚Test‘ nennt) und die Natur der Wahrheit nicht identisch sind, folgt, dass die Kriterien täuschen. Damit wäre eine skeptische Konsequenz unausweichlich. Tatsächlich folgt aber nicht, was Blanshard behauptet. Aus der Verschiedenheit von Kriterium und Natur der Wahrheit folgt nur, dass die Kriterien täuschen können. Diese bloße Möglichkeit des Irrtums ist vollkommen damit verträglich, dass die Kriterien die Wahrheit zuverlässig indizieren. Sie ist sogar damit verträglich, dass die Kriterien absolut fehlerfrei funktionieren. Es ist nur logisch und metaphysisch möglich, dass sie täuschen. Deshalb ist es nicht richtig, dass aus einem realistischen Wahrheitsverständnis automatisch der Skeptizismus folgt.64 Es gibt noch ein weiteres erkenntnistheoretisches Argument gegen realistische Auffassungen der Wahrheit, das sich insbesondere gegen die Korrespondenztheorie der Wahrheit richtet.65 Nehmen wir einmal an, Wahrheit bestünde in der Übereinstimmung zwischen dem Gehalt unserer Überzeugungen und den Tatsachen in der Welt. Dann, so lautet das Argument, könnten wir die Wahrheit niemals erfassen, weil wir dazu unsere Überzeugungen mit den Tatsachen vergleichen müssten, um gegebenenfalls eine Korrespondenz beider zu erkennen. Um zu erfassen, dass unsere Überzeugung, dass p, wahr ist, müssten wir also

62 Vgl. dazu die ausgezeichnete Darstellung in Alston 1996, Kap. 3. 63 Blanshard 1939, Bd. II, S. 268 f., meine Übersetzung. 64 Übrigens könnte man auch dafürhalten, dass skeptische Konsequenzen eine Wahrheitstheorie nicht automatisch widerlegen. 65 Vgl. dazu Blanshard 1939, Bd. II, S. 269.

2.2 Wahrheitstheorien 

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zunächst erfassen, dass wir glauben, dass p, dann erfassen, dass es der Fall ist, dass p, und erst dann könnten wir erkennen, dass eine Übereinstimmung zwischen beiden besteht. Doch um zu erfassen, dass es der Fall ist, dass p, müssten wir bereits erfassen, dass ‚p‘ wahr ist. Wir können nämlich unsere Überzeugungen mit der Welt nur vergleichen, wenn wir beide kognitiv (durch wahre Überzeugungen) erfasst haben. Die Welt ist uns ja nicht anders gegeben als durch unsere kognitiven Zustände. Doch wenn das gilt, dann könnten wir die Wahrheit unserer Überzeugung erst erfassen, wenn wir diese Wahrheit bereits erfasst hätten. Die Feststellung der Wahrheit durch Vergleich unserer Überzeugungen mit den Tatsachen wäre also zirkulär*. Dieses Argument beruht auf einem Denkfehler. Er besteht darin, dass im Argument fälschlich unterstellt wird, dass wir Wahrheiten im Sinne von Tatsachen nur dann kognitiv erfassen können, wenn wir erfassen, dass eine Korrespondenzrelation besteht. Das ist aber nicht der Fall. Um eine wahre Überzeugung über eine Tatsache zu haben, genügt es, dass ich eine Überzeugung habe, die faktisch mit einer Tatsache korrespondiert. Ich muss diese Korrespondenz nicht außerdem noch erfassen. Die realistische Wahrheitsauffassung führt also nicht automatisch zu den skeptischen Konsequenzen, die Vertreter der epistemischen Wahrheitstheorie ihr unterstellen. Sehen wir uns jetzt das semantische Argument gegen die realistische Wahrheitsauffassung an. Offenbar können wir den Begriff der Wahrheit verstehen. Wir können außerdem verstehen, was ein Satz bedeutet. Und wenn man von der plausiblen Annahme ausgeht, dass die Bedeutung eines Satzes in seiner Wahrheitsbedingung besteht, dann ergibt sich daraus, dass wir auch die Wahrheitsbedingungen von Sätzen verstehen können. Wenn wir Wahrheit bzw. die Wahrheitsbedingungen von Sätzen verstehen, dann ist es ziemlich plausibel, dass dieses Verständnis sich genau darin ausdrückt, dass wir sagen können, ob Wahrheit im konkreten Fall vorliegt bzw. ob ein Satz wahr ist. Wenn wir also den Begriff Wahrheit verstehen, dann kennen wir die Kriterien seiner korrekten Anwendung, und wenn wir die Bedeutung eines Satzes verstehen, dann kennen wir Kriterien, mit Hilfe derer wir feststellen können, ob er wahr ist. In diesem Fall spricht man auch von Verifikationskriterien. Was wir also an der Wahrheit und den Wahrheitsbedingungen von Sätzen verstehen sind diese Verifikationskriterien. Wenn man jetzt noch die Annahme hinzunimmt, dass wir unsere Begriffe und die Bedeutung unserer Sätze vollständig verstehen können, dann folgt daraus, dass Wahrheit und Wahrheitsbedingungen auf unsere Rechtfertigungskriterien reduzierbar sind. Ansonsten würden sie das, was wir verstehen

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 2 Wahrheit

können, transzendieren. Positionen, die so argumentieren, nennt man verifikationistisch.66 Auch dieses Argument gegen die realistische Wahrheitsauffassung ist angreifbar. Das zeigt die folgende Überlegung: Was wir verstehen, wenn wir einen Begriff oder einen Satz verstehen, sind nicht die Kriterien seiner korrekten Anwendung. Wir verstehen vielmehr, wie die Welt aussehen würde, wenn der Begriff zutreffen würde bzw. der Satz wahr wäre. Und wir verstehen auch, ob der Begriff zutreffen würde bzw. der Satz wahr wäre, wenn die Welt auf eine bestimmte Weise beschaffen wäre. Diese Dinge können wir erkennen, auch wenn wir keinerlei Kriterien in der Hand haben, um zu sagen, ob der Begriff tatsächlich zutrifft bzw. der Satz tatsächlich wahr ist.67 Und in genau so einer Situation befinden wir uns, wenn wir über skeptische Szenarien nachdenken. Erinnern Sie sich an die skeptische Geschichte von Harry und Mike. Mike verfügt über keinerlei Kriterien, um zu entscheiden, ob er ein Gehirn im Tank ist oder nicht. Darin besteht sein Problem. Dennoch versteht er sehr gut, was es bedeuten würde, wäre er ein solches Gehirn im Tank. Er weiß genau, wie die Welt aussehen würde, wenn er ein solches Gehirn wäre. Dazu muss er keine Kriterien in der Hand haben, die es ihm ermöglichen zu entscheiden, ob er sich in einer solchen Situation befindet. Sobald man sich das klar gemacht hat, verliert der Verifikationismus seine anfängliche Plausibilität. Wäre diese Position nämlich richtig, dann könnte Mike das skeptische Szenario nicht einmal verstehen. Aber offensichtlich versteht er dieses Szenario sehr gut. Beide indirekten Argumente für einen epistemischen Wahrheitsbegriff sind also keine wirklich guten Argumente. Aus einem realistischen Wahrheitsbegriff folgt weder automatisch der Skeptizismus noch folgt daraus, dass wir unsere Begriffe und Sätze nicht mehr verstehen können. Sehen wir uns jetzt klassische Kandidaten für eine epistemische Analyse der Wahrheit etwas genauer an. Hier muss man zunächst zwei Typen von Theorien unterscheiden: Die einen behaupten, dass sich Wahrheit auf epistemische Kriterien reduzieren lässt, die uns hier und jetzt in einer gegebenen Situation tatsächlich zur Verfügung stehen. Die anderen behaupten dagegen, dass sich eine solche Reduktion nur auf Kriterien durchführen lässt, die uns unter idealen Bedingungen zur Verfügung stehen würden. Von den Vertretern epistemischer Wahrheitstheorien werden außerdem unterschiedliche Arten von Kriterien vorgeschlagen. In diesem Zusammenhang sind insbesondere drei Kriterien erwähnenswert: Evidenz, Konsens und Kohä-

66 Vgl. zur Darstellung des Verifikationismus Alston 1996, Kap. 4. 67 Einen ähnlichen Vorschlag macht Wittgenstein in seinem Tractatus. Vgl. Wittgenstein 1984, Bd. I, Satz 4.024: „Einen Satz verstehen, heißt, wissen was der Fall ist, wenn er wahr ist. (Man kann ihn also verstehen, ohne zu wissen, ob er wahr ist.)“

2.2 Wahrheitstheorien 

 37

renz. Der Evidenztheoretiker der Wahrheit behauptet entsprechend, dass eine Überzeugung dann und nur dann wahr ist, wenn sie evident ist für das Erkenntnissubjekt. Der Konsenstheoretiker behauptet, dass eine Überzeugung dann und nur dann wahr ist, wenn darüber ein Konsens unter Forschern besteht. Und der Kohärenztheoretiker vertritt die Auffassung, dass eine Überzeugung dann und nur dann wahr ist, wenn die Überzeugung mit einem bestimmten System von Überzeugungen kohärent* zusammenpasst.68 Wenn man die verschiedenen Kriterien berücksichtigt und die Tatsache, dass sich diese Kriterien jeweils unter tatsächlichen oder idealen Bedingungen anwenden lassen, ergeben sich daraus die folgenden sechs Möglichkeiten: Kriterium

tatsächliche Bedingungen

ideale Bedingungen

Evidenz

Phänomenalismus (Berkeley)

Husserl

Konsens Kohärenz

Peirce, Habermas Neurath

Blanshard, Walker, Putnam

Zu dieser Tabelle sind einige Erläuterungen nötig. Vertreter einer einfachen Evidenztheorie der Wahrheit nehmen etwa an, dass eine Aussage dadurch verifiziert wird, dass man wahrnimmt, dass es sich so verhält, wie die Aussage besagt. In diesem Fall wird die Aussage durch eine einzelne Wahrnehmung des Erkenntnissubjekts evident gemacht. Frühe Phänomenalisten, wie der Britische Empirist George Berkeley, waren dieser Auffassung. Edmund Husserl fand eine solche einfache Verifikation dagegen unplausibel. Als wahr erwiesen wird ihm zufolge eine Aussage nur dadurch, dass wir alle Aspekte der Aussage durch eine unendliche Abfolge von perspektivischen Wahrnehmungen der entsprechenden Sache überprüfen. Eine endgültige Verifikation ist demnach nur approximativ möglich und bleibt ein bloß idealer Zielpunkt der Forschung.69 Die Vertreter der Konsenstheorie haben eigentlich alle angenommen, dass Wahrheit sich nur auf einen idealen Konsens reduzieren lasse. Der amerikanische Pragmatist C. S. Peirce war der Auffassung, dass eine Überzeugung dann und nur dann wahr sei, wenn die Forschermeinungen auf lange Sicht in Hinblick auf sie konvergieren.70 Habermas definiert Wahrheit durch prozedurale Bedingungen des Diskurses zwischen Forschern. Wahr wäre ein Satz, wenn es zu einem Konsens über ihn in einer zeitlich

68 Alle drei Kriterien lassen sich auch auf Sätze anwenden. 69 Husserl 1992, Bd. IV, Kap. 5. 70 Peirce Peirce 2001, S. 206: „Die Auffassung, die dazu bestimmt ist, dass alle Forscher sie am Ende teilen, ist das, was wir mit Wahrheit meinen (…).“ (meine Übersetzung)

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 2 Wahrheit

und personell unbegrenzten Diskussionsgemeinschaft käme, in der es keinerlei sachfremde Zwänge gibt.71 Kohärenztheorien der Wahrheit werden in sehr unterschiedlicher Form vertreten. Auf der einen Seite steht einer der Hauptvertreter des Wiener Kreises, Otto Neurath, der Kohärenz ganz schwach als Konsistenz (also Verträglichkeit) versteht und jede konsistente* Satzmenge für wahr hält.72 Auf der anderen Seite steht Brand Blanshard, für den Kohärenz eine viel stärkere Beziehung ist, die einen inhaltlichen Zusammenhang durch logische Implikation* einschließt, und der nur Überzeugungssysteme für wahr hält, die in idealer Weise kohärent sind.73 Allerdings schließt jede Auffassung von Kohärenz Konsistenz ein. Daraus ergibt sich ein gewisses Problem für Kohärenztheorien der Wahrheit. Konsistenz wird nämlich normalerweise so definiert, dass Sätze bzw. Überzeugungen konsistent sind, wenn sie zusammen wahr sein können. Doch dann könnte Wahrheit nicht durch Kohärenz definiert werden, weil die darin eingeschlossene Konsistenz selbst nur durch Rekurs auf Wahrheit definiert werden kann. Dieses Problem lässt sich allerdings lösen, wenn man Konsistenz rein syntaktisch durch Widerspruchsfreiheit definiert.74 Gegen die epistemischen Wahrheitstheorien gibt es eine Reihe von Einwänden. Die ersten beiden Einwände richten sich nur gegen eine Definition* von Wahrheit durch Kriterien, die für uns unter konkreten Bedingungen tatsächlich anwendbar sind. Der Relativitätseinwand: Ob jemandem eine Proposition evident erscheint, ob über sie ein tatsächlicher Konsens besteht und ob eine Proposition mit einem bestimmten Überzeugungssystem kohärent zusammenpasst, sind Dinge, die relativ zum Zeitpunkt und relativ zu den betreffenden Personen sind. Was mir heute evident erscheint, muss einem anderen nicht evident erscheinen und morgen könnte es auch mir nicht mehr evident erscheinen. Worin heute bestimmte Kommunikationsteilnehmer übereinstimmen, das kann von anderen Personen bestritten werden und das kann morgen auch von einigen der jetzt miteinander übereinstimmenden Personen abgelehnt werden. Ob eine Proposition kohärent mit anderen Überzeugungen oder Sätzen zusammenpasst, hängt davon ab, welches Überzeugungssystem bzw. welche Menge von Sätzen zugrunde gelegt wird. Relativ zu unterschiedlichen Bezugssystemen kann das Kriterium einmal erfüllt und ein anderes Mal verletzt sein. Tatsächliche Kriterien sind also immer relativ auf Personen und Zeitpunkte. Aber Wahrheit, so lautet eine Adäquatheits-

71 Habermas 1973. 72 Neurath 1979, S. 108. 73 Blanshard 1939, Bd. II, S. 264 f. 74 Vgl. dazu Kirkham 1992, S. 107.

2.2 Wahrheitstheorien 

 39

bedingung, ist eine absolute Eigenschaft. Deshalb sind solche Kriterien nicht hinreichend* für Wahrheit.75 Der Transzendenzeinwand: Wenn wir allein die epistemischen Kriterien berücksichtigen, die uns tatsächlich zu einem gegebenen Zeitpunkt zur Verfügung stehen, dann ist die Annahme sehr plausibel, dass es Wahrheiten gibt, die keine dieser Kriterien erfüllen. Demnach gibt es rechtfertigungstranszendente Wahrheiten. Wahrheiten über die Vergangenheit sind dafür ein besonders gutes Beispiel. Nach allem, was wir heute wissen, hat die Erde auf den Tag genau vor 100.000 Jahren existiert. Wenn sie zu diesem Zeitpunkt existiert hat, dann gab es auch an dem Ort, an dem Sie sich jetzt gerade aufhalten, spezifische Wetterverhältnisse. Doch mit Hilfe welcher Ihnen jetzt zur Verfügung stehenden Kriterien sollten Sie in der Lage sein zu sagen, ob es geregnet hat, wie lange die Sonne schien und welche Luftfeuchtigkeit herrschte? Das sind Fakten, die uns heute nicht mehr kognitiv durch irgendwelche Kriterien zugänglich sind. In diesem Sinne ist es ziemlich offensichtlich, dass es rechtfertigungstranszendente Wahrheiten gibt. Die Erfüllung der epistemischen Kriterien ist also für Wahrheit auch nicht notwendig. Aus diesen beiden ersten Einwänden kann man die Schlussfolgerung ziehen, dass eine epistemische Definition der Wahrheit, wenn sie überhaupt möglich ist, nur durch Kriterien unter idealisierten Bedingungen möglich ist. Was unter idealen Bedingungen evident ist oder in einem ideal kohärenten Überzeugungssystem enthalten ist oder worüber unter idealen Bedingungen ein Konsens zu erzielen ist, das muss nicht in gleicher Weise relativ sein, wie es die Dinge sind, auf die unter faktischen Bedingungen die genannten Kriterien zutreffen. Und auch wenn man zugestehen muss, dass es Tatsachen gibt, die für uns faktisch epistemisch nicht zugänglich sind, so könnten diese Tatsachen unter idealen Bedingungen immer noch zugänglich sein. Alle vergangenen Tatsachen ließen sich herausfinden, wenn wir uns vor Ort befinden würden oder wenn wir mit Hilfe perfekter Instrumente alle uns gegenwärtig zur Verfügung stehenden Zeugnisse auswerten könnten oder wenn wir ideale Beobachter (wie Gott) wären. Selbst wenn also die Kriterien, die uns faktisch zur Verfügung stehen, weder hinreichend noch notwendig für Wahrheit sind, muss das noch lange nicht für idealisierte Kriterien gelten. Es gibt nun zwei weitere Einwände, die sich speziell gegen eine Definition von Wahrheit durch Kriterien der Verifikation unter idealen Bedingungen richten. Der Zirkularitätseinwand: Wie sind ‚ideale Bedingungen der Verifikation‘ definiert? Es

75 Russell 2001, S. 19, und Blanshard 1939, Bd. II, S. 271, werfen dieses Problem für Kohärenztheorien auf.

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drängt sich der Verdacht auf, dass wir als ‚ideale Bedingungen‘ genau die Bedingungen verstehen, unter denen die Kriterien alle Irrtumsmöglichkeiten ausschließen. Wenn das richtig ist, dann muss für die Definition idealer Bedingungen der Wahrheitsbegriff bereits vorausgesetzt werden. Wenn wir also mit Hilfe idealer Bedingungen Wahrheit definieren, ergibt sich ein Definitionszirkel. Das lässt sich anhand von Habermas Theorie des idealen Diskurses veranschaulichen. Habermas spricht öfter davon, dass ein idealer Diskurs dann vorliege, wenn der „zwanglose Zwang des besseren Arguments“ herrsche. Wenn die idealen Bedingungen jedoch dadurch festgelegt werden, dass sich in ihnen das bessere Argument durchsetzt, dann setzt das ein Verständnis des besseren Arguments voraus. Und es ist nur schwer zu sehen, wie man das bessere Argument ohne Bezug auf die Wahrheit verstehen kann.76 Der Wahrheitsbegriff scheint also für die Definition idealer Bedingungen bereits vorausgesetzt werden zu müssen. Der Einwand von den skeptischen Konsequenzen: Der epistemische Wahrheitsbegriff hat die Funktion, die Kluft zwischen den Kriterien der Wahrheit und der Natur der Wahrheit zu überbrücken. Das soll, gemäß seiner Vertreter, skeptische Konsequenzen im Keim ersticken. Doch wenn die Wahrheit auf Kriterien unter idealen Bedingungen zurückgeführt wird, dann ist diese Wahrheit gegenüber den Kriterien, über die wir hier und jetzt tatsächlich verfügen, immer noch transzendent. Wir können also von unserem gegenwärtigen Standpunkt aus gar nicht beurteilen, ob unsere Überzeugungen die Kriterien unter idealen Bedingungen erfüllen oder nicht. Und das bedeutet, dass ein plausibler epistemischer Wahrheitsbegriff in keiner Weise besser dasteht als sein realistischer Rivale.77 Es gibt noch zwei weitere, prinzipielle Einwände gegen epistemische Theorien der Wahrheit. Der Parasitismuseinwand: Es lässt sich mit Hilfe begrifflicher Überlegungen zeigen, dass der epistemische Wahrheitsbegriff nicht autonom ist, sondern auf tieferer Ebene einen realistischen Wahrheitsbegriff voraussetzt. Epistemische Wahrheitstheorien können dann bestenfalls für einen Teilbereich von Wahrheiten gelten; sie verhalten sich parasitär zu realistischen Wahrheitstheo-

76 Wenn ein gutes Argument ein schlüssiges Argument ist, dann sind nur gültige Argumente mit wahren Prämissen gut. Wenn man dagegen bereits gültige Argumente für gut hält, dann müssen es immer noch Argumente sein, die derart sind, dass die Prämissen, wenn sie wahr sind, die Wahrheit der Konklusion erzwingen. In beiden Fällen ist es nötig, zur Definition eines guten Arguments den Wahrheitsbegriff bereits vorauszusetzen. Vgl. auch Beckermann 1972. 77 Vgl. in diesem Sinne Blanshard 1939, S. 269; Williams 1996, S. 151. Das legt auch Peirce 2001, S. 206 f., direkt nahe: „Die Auffassung, die dazu bestimmt ist, dass alle Forscher sie am Ende alle teilen, ist das, was wir mit Wahrheit meinen (…). (…) Die Auffassung, die sich letzten Endes aus der Forschung ergibt, hängt nicht davon ab, was irgendjemand aktual denkt.“ (meine Übersetzung).

2.2 Wahrheitstheorien 

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rien. Das soll am Beispiel der Kohärenztheorie der Wahrheit erläutert werden. Die Kohärenztheorie besagt, dass die Tatsache, die eine Überzeugung wahr macht, ihre Kohärenz mit dem Überzeugungssystem ist. Doch wodurch wird die Aussage, dass die Überzeugung mit dem Überzeugungssystem kohärent zusammenpasst, wahr gemacht? Entweder durch die Tatsache der Kohärenz selbst. Dann gilt die Kohärenztheorie der Wahrheit nicht für Wahrheiten über die Kohärenz. Oder die Metaaussage, dass die Überzeugung mit dem Überzeugungssystem kohärent zusammenpasst, wird ihrerseits dadurch wahr gemacht, dass sie selbst auch mit dem Überzeugungssystem kohärent zusammenpasst. Wenn sich alle Tatsachen (einschließlich der Tatsachen über die Kohärenz) kohärenztheoretisch analysieren lassen, dann bekommen wir einen unendlichen und deshalb vitiösen Regress.78 Das Problem lässt sich auch so formulieren: Wenn alle Tatsachen kohärenztheoretisch analysiert werden, dann gibt es am Ende keinerlei Tatsachen, die darüber entscheiden, ob eine Überzeugung wahr ist oder nicht. Der Wahrheitswert aller Aussagen und Überzeugungen bleibt radikal unbestimmt.79 So bleibt nur der Ausweg, dass die Kohärenztheorie einfach auf einen Teil der Wahrheiten beschränkt wird.80 In diesem Fall ist die epistemische Wahrheitstheorie aber gar keine echte Alternative zur realistischen Wahrheitstheorie, sondern setzt diese voraus. Man kann auch sagen, dass die epistemische Wahrheitstheorie sich parasitär zur realistischen Wahrheitstheorie verhält. Der Einwand vom Primat der Wahrheit: Mit Hilfe einer relativ einfachen Überlegung lässt sich zeigen, dass der Wahrheitsbegriff gegenüber dem Begriff der erkenntnistheoretischen Rechtfertigung primär ist. Wenn er das jedoch ist, dann führt die Definition der Wahrheit durch Rechtfertigungskriterien zu einem Definitionszirkel. Ausgangspunkt der Überlegung ist die Beobachtung, dass es unterschiedliche Arten der Rechtfertigung gibt. Neben der erkenntnistheoretischen Rechtfertigung gibt es auch eine pragmatische Rechtfertigung. Und beide Arten der Rechtfertigung sind voneinander unabhängig. Betrachten Sie das folgende Beispiel: Peter ist aufgrund seiner bislang miserablen Leistungsbilanz im erkenntnistheoretischen Sinne nicht gerechtfertigt zu glauben, dass er die bevorstehende Klausur besteht. Er weiß nun aber, dass Selbstvertrauen die Erfolgsaussichten deutlich verbessert. Deshalb ist er pragmatisch gesehen gerechtfertigt zu glauben, dass er die bevorstehende Klausur bestehen wird. Es wäre also aus dieser Perspektive rational, wenn Peter sich einreden würde, dass er die Klausur bestehen wird. Er ist also erkenntnistheoretisch nicht gerechtfertigt, aber prag-

78 Kirkham 1992, S. 114 f.; Fumerton 1995. 79 Walker 2001, S. 147. 80 Vgl. auch Walker 2001, S. 149. Er spricht von einer ‚unreinen‘ Kohärenztheorie.

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matisch gerechtfertigt zu glauben, dass er die Klausur bestehen wird. Wie lassen sich die beiden Arten der Rechtfertigung unterscheiden? Generell gilt, dass Rechtfertigung eine instrumentelle Form der Rationalität ist. Unterschiedliche Arten der Rechtfertigung lassen sich dadurch unterscheiden, dass unterschiedliche Ziele verfolgt werden. Das Ziel der erkenntnistheoretischen Rechtfertigung ist die Wahrheit, während das Ziel der pragmatischen Rechtfertigung der Handlungserfolg ist. Wenn das richtig ist, dann kann man aber Wahrheit nicht mit Hilfe erkenntnistheoretischer Rechtfertigung definieren, denn die erkenntnistheoretische Rechtfertigung ist ja ihrerseits nur in Bezug auf Wahrheit definiert. Fassen wir zusammen: Es hat sich gezeigt, dass es keine wirklich starken Argumente für epistemische Wahrheitstheorien gibt. Umgekehrt gibt es eine Reihe von starken Einwänden gegen solche epistemischen Wahrheitstheorien. Nimmt man beides zusammen, dann wird man wohl sagen können, dass epistemische Wahrheitstheorien als Option ausscheiden.

2.2.2 Deflationäre Wahrheitstheorien Sobald man akzeptiert, dass sich Wahrheit nicht epistemisch analysieren oder erklären lässt, sondern radikal nicht-epistemisch ist, vertritt man bereits eine realistische Position bezüglich der Wahrheit.81 Wie wir gesehen haben, folgt daraus nicht, dass Wahrheit erkenntnistheoretisch unzugänglich ist. Auch Eigenschaften, die selbst keine epistemische Natur haben, können zugänglich sein. Der Wahrheitsrealismus ist neutral gegenüber der Frage, ob Wahrheit eine metaphysische Eigenschaft der Korrespondenz zwischen Wahrheitswertträgern und ihren Wahrmachern ist oder ob das Wahrheitsprädikat nur ein nützlicher semantischer Mechanismus ist, um indirekt über die Welt reden zu können, indem wir angeführten Sätzen Wahrheit zuschreiben und damit dasselbe aussagen wie mit einem Satz über die Welt. Zu der letzteren Position neigt der so genannte Deflationismus. Er behandelt Wahrheit deflationär, weil sich nach seiner Auffassung über Wahrheit nichts Interessantes und Substantielles aussagen lässt. Das Wahrheitsprädikat mag zwar in manchen Situationen nützlich sein, es bezeichnet aber keine echte Eigenschaft. Manche Prädikate, die wir im Alltag verwenden, sind von dieser Art, beispielsweise das Prädikat „Elternteil“, das dann auf eine Person zutrifft, wenn sie ein Vater oder eine Mutter ist. Dieses Prädikat bezeichnet keine echte Eigenschaft, weil es eigenartig wäre, wenn wir annehmen würden, dass Personen disjunktive* Eigenschaften haben. Sie erfüllen dieses Prädikat, indem

81 Vgl. Williams 1996, S. 154.

2.2 Wahrheitstheorien 

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sie Väter sind oder indem sie Mütter sind. Wir müssen nicht noch eine weitere disjunktive Eigenschaft Elternteil-zu-sein hinzunehmen. Der Deflationismus behauptet dasselbe über unser Prädikat ‚wahr‘. Der Grundgedanke des Deflationismus lässt sich auch so ausdrücken: Wenn wir die Welt mit extrem sparsamen Mitteln beschreiben würden, dann würde in einer solchen sparsamen Beschreibung Wahrheit nicht mehr auftauchen, weil Wahrheit nichts ist, was in der Welt vorkommt. Deshalb ist das Zitattilgungsschema nicht nur wahr (was alle Wahrheitstheorien akzeptieren), sondern dieses Schema sagt bereits alles aus, was man über Wahrheit überhaupt sagen kann. Wenn es aber richtig ist, dass „‚p‘ ist wahr“ im Grunde nichts anderes besagt als „p“, dann kann man alles sagen, ohne das Wahrheitsprädikat überhaupt zu verwenden, und zwar indem man einfach direkt über die Welt redet. Gottlob Frege hat diese Intuition als erster deutlich zum Ausdruck gebracht. In Der Gedanke heißt es diesbezüglich: „Beachtenswert ist es auch, dass der Satz ‚Ich rieche Veilchenduft‘ doch wohl denselben Inhalt hat wie der Satz ‚Es ist wahr, dass ich Veilchenduft rieche‘. So scheint denn dem Gedanken dadurch nichts hinzugefügt zu werden, dass ich ihm die Eigenschaft der Wahrheit zulege.“82 Deshalb kann man Frege auch als Vater der deflationären Wahrheitsauffassung bezeichnen.83 Mit Hilfe des Zitattilgungsschemas lässt sich das Wahrheitsprädikat für eine bestimmte Sprache S durch die Liste aller Instanzen dieses Schemas in dieser Sprache definieren. Wenn diese Definition von ‚wahr-in-S‘ in einer Metasprache erfolgt, die nicht mit S identisch ist, dann lassen sich dadurch auch semantische Paradoxien vermeiden, die ansonsten unweigerlich auftreten. Die Vorteile des Deflationismus liegen auf der Hand. Erstens handelt es sich um eine realistische Auffassung, die in der Lage ist, unsere alltägliche Intuition zum Ausdruck zu bringen, dass ein Satz wahr ist, wenn der Fall ist, was dieser Satz behauptet, ohne sich auf irgendeine metaphysische Interpretation festzulegen. Da der Deflationismus eine Korrespondenzrelation zwischen Geist bzw. Sprache und Welt nicht erwähnt, verpflichtet er sich auch nicht auf schwer zu explizierende Dinge wie Tatsachen und Übereinstimmungsrelationen. Der Ansatz ist in metaphysischer Hinsicht minimalistisch und deshalb auch nicht in gleicher Weise angreifbar wie die klassische Korrespondenztheorie. Zweitens scheinen unsere Bedeutungsintuitionen ganz eindeutig für den Deflationismus zu sprechen. Betrachten Sie den Satz „‚Schnee ist weiß‘ ist dann und nur dann wahr, wenn Schnee weiß ist“. Dieser Satz ist nicht nur einfach

82 Frege 2003, S. 39 f. 83 Der Deflationismus wird auch von Ramsey 2001, Quine 1990, S. 80, und Horwich 1990 vertreten.

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 2 Wahrheit

wahr oder notwendigerweise wahr. Sobald Sie diesen Satz verstehen, wissen Sie auch, dass er notwendigerweise wahr ist. Sätze, deren notwendige Wahrheit man allein aufgrund ihres Verstehens erfasst, sind analytische* Sätze.84 Wenn es jedoch analytisch wahr ist, dass ‚Schnee ist weiß‘ dann und nur dann wahr ist, wenn Schnee weiß ist, dann ist es plausibel anzunehmen, dass „‚Schnee ist weiß‘ ist wahr“ und „Schnee ist weiß“ dasselbe bedeuten. Schließlich ist auch der Satz „Franz ist ein Junggeselle dann und nur dann, wenn Franz ein unverheirateter Mann ist“ analytisch, weil „Franz ist ein Junggeselle“ und „Franz ist ein unverheirateter Mann“ dasselbe bedeuten. Dass „‚Schnee ist weiß‘ ist wahr“ und „Schnee ist weiß“ dasselbe bedeuten ist aber genau das, was der Deflationist behauptet. Das Argument lautet also: (1) (2)

Wenn eine Äquivalenz analytisch wahr ist, dann sind die beiden in ihr verknüpften Teilsätze bedeutungsgleich. Die Äquivalenz „‚Schnee ist weiß‘ ist wahr genau dann, wenn Schnee weiß ist“ ist analytisch wahr.

Also: „‚Schnee ist weiß‘ ist wahr“ bedeutet dasselbe wie „Schnee ist weiß“. Der Deflationismus beruht nun auf einer Verallgemeinerung dieser Konsequenz für alle Sätze. Es gibt jedoch neben diesen Argumenten für den Deflationismus auch eine Reihe von Einwänden gegen ihn. Erstens kann man sich fragen, warum wir das Wahrheitsprädikat überhaupt haben, wenn es – wie der Deflationist behauptet – eigentlich gar nichts bezeichnet. Darauf hat der Deflationist jedoch eine Antwort parat. Auch Prädikate, die keine echten Eigenschaften bezeichnen, können nützliche Instrumente der Kommunikation sein. Stellen Sie sich vor, Sie wissen nicht, was genau eine Person ausgesagt hat, die Sie für absolut glaubwürdig halten. Wenn Sie es wüssten, dann würden Sie sagen, dass diese Person behauptet hat, dass p, und p. Dann wäre das Wahrheitsprädikat überflüssig. Da Sie den Inhalt der Behauptung jedoch nicht kennen, bleibt Ihnen nichts anderes übrig, als zu sagen, dass das, was diese Person behauptet hat, wahr ist. Das Wahrheitsprädikat erlaubt außerdem vereinfachende Abkürzungen. Nehmen Sie an, Sie wollen sagen, dass es so ist, wie der umfangreiche Bericht einer Person S besagt, dann müssten Sie, wenn Sie das Wahrheitsprädikat vermeiden wollen, sagen: „Die Person S sagt, dass p und dass q und dass r … und p und q und r …“. Das ist natür-

84 Für die analytische Interpretation der Äquivalenz sprechen sich Frege 2003, S. 39 f., und Ramsey 2001, S. 437, aus.

2.2 Wahrheitstheorien 

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lich sehr umständlich. Einfacher ist es, wenn Sie sagen „Alles, was die Person sagt, ist wahr“. Aber aus dieser Nützlichkeit des Wahrheitsprädikats folgt eben nicht, dass es wirklich etwas bezeichnet. Der erste Einwand gegen den Deflationismus kann also zurückgewiesen werden. Zweitens zeigt sich bei genauerem Hinsehen, dass das Hauptargument für den Deflationismus aus der Analytizität des Zitattilgungsschemas auf einer falschen Prämisse beruht.85 Sehen wir uns dieses Argument noch einmal an: (1) (2)

Wenn eine Äquivalenz analytisch wahr ist, dann sind die beiden in ihr verknüpften Teilsätze bedeutungsgleich. Die Äquivalenz „‚Schnee ist weiß‘ ist wahr genau dann, wenn Schnee weiß ist“ ist analytisch wahr.

Also: „‚Schnee ist weiß‘ ist wahr“ bedeutet dasselbe wie „Schnee ist weiß“. In diesem Argument ist die Prämisse (1) problematisch. Es gibt zwar Beispiele, in denen die Teilsätze einer analytischen Äquivalenz bedeutungsgleich sind. Denken Sie an den von mir oben bereits angeführten Satz über den Junggesellen Franz. Aber es gibt auch Beispiele, in denen die Teilsätze klarerweise nicht bedeutungsgleich sind. Betrachten Sie den Satz: (3) Ein allwissendes Wesen würde glauben, dass Zucker süß ist, dann und nur dann, wenn Zucker süß ist. Dabei handelt es sich offensichtlich um eine notwendig wahre Äquivalenz. Damit eine Äquivalenz notwendig wahr ist, muss folgendes gelten: In jeder Situation, in der der linke Teilsatz wahr ist, ist auch der rechte Teilsatz wahr, und umgekehrt. Prüfen wir das für den vorliegenden Satz. Was auch immer ein allwissendes Wesen (sofern es dieses gibt) glaubt, ist wahr, sonst wäre dieses Wesen nicht allwissend. Wenn es also glaubt, dass Zucker süß ist, dann ist Zucker süß. Umgekehrt: Wenn etwas eine Tatsache ist, dann wird sie auch vom allwissenden Wesen (sofern es dieses gibt) geglaubt, sonst hätte dieses Wesen kein Wissen über alles. Die Äquivalenz ist also notwendig wahr. Und dass sie das ist, erkennen wir allein aufgrund unseres Verstehens dieses Satzes. Wir brauchen dazu keinerlei zusätzliches Wissen. (3) ist also eine analytisch wahre Äquivalenz. Wäre die Prämisse (1) wahr, dann müsste also „Ein allwissendes Wesen würde glauben, dass Zucker süß ist“ bedeutungsgleich mit „Zucker ist süß“ sein. Das ist aber extrem unplau-

85 Vgl. zum Folgenden Alston 1996, S. 48.

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 2 Wahrheit

sibel, denn im ersten Satz wird auf ganz andere Dinge Bezug genommen als im zweiten Satz. Deshalb ist Prämisse (1) entgegen dem ersten Anschein nicht wahr; und damit ist das Argument für den Deflationismus zu Fall gebracht.86 Drittens kann der Deflationist nicht an seiner These festhalten, dass die notwendige Wahrheit der Äquivalenz „Der Satz ‚p‘ ist wahr dann und nur dann, wenn p“ die Bedeutung des Wahrheitsprädikats festlegt.87 Es ergibt sich nämlich das folgende Dilemma*: Entweder ist die Äquivalenz gar nicht notwendig, oder sie ist nicht dazu geeignet, die Bedeutung von ‚wahr‘ zu erklären. Warum ist die Äquivalenz nicht notwendig wahr? Weil sie über grammatische Entitäten redet, die auch etwas anderes bedeuten könnten. Wenn der Satz „Schnee ist weiß“ beispielsweise bedeutet hätte, dass Zucker süß ist, dann wäre er nicht wahr gewesen, wenn Schnee weiß ist, sondern wenn Zucker süß ist. Die notwendige Wahrheit der Äquivalenz lässt sich nur dadurch aufrechterhalten, dass man keine rein grammatischen Entitäten betrachtet, sondern interpretierte Sätze mit einer bestimmten Bedeutung. Die Bedeutung eines Satzes wird jedoch durch seine Wahrheitsbedingungen festgelegt. Aus der Äquivalenz würde also: „Der Satz ‚p‘ ist wahr genau dann, wenn p, insofern ‚p‘ wahr ist genau dann, wenn p“. Diese Äquivalenz ist notwendig wahr. Sie ist aber auch vollkommen trivial und, was noch schlimmer ist, sie kann die Bedeutung von ‚wahr‘ nicht klären, weil im Definiens bereits ‚wahr‘ vorkommt.88 Die Bilanz des Deflationismus sieht also auch nicht besonders gut aus. Das Hauptargument für diese Wahrheitsauffassung hält einer kritischen Untersuchung nicht stand. Außerdem verstößt seine Wahrheitsanalyse zumindest gegen zwei Adäquatheitsbedingungen für Wahrheitstheorien: Sie macht Wahrheit sprachrelativ und kann nicht erklären, warum das Zitattilgungsschema notwendig wahr ist. Deshalb scheint es vernünftig, die viel gescholtene klassische Korrespondenztheorie noch einmal genauer unter die Lupe zu nehmen.

2.2.3 Korrespondenztheorien der Wahrheit Die Korrespondenztheorie ist eine realistische Wahrheitstheorie. Sie buchstabiert den Realismus jedoch, anders als der Deflationismus, im robusten Sinne metaphysisch aus. Danach ist eine Überzeugung genau dann wahr, wenn sie mit

86 Natürlich könnte man außerdem die Prämisse (2) angreifen und bestreiten, dass Äquivalenzen nach dem Zitattilgungsschema analytisch wahr sind. 87 Vgl. Oppy/Jackson/Smith 1994. 88 Vgl. Davidson 1996, S. 318 ff.

2.2 Wahrheitstheorien 

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einem Wahrmacher in der Welt korrespondiert.89 Da die Korrespondenztheorie eine metaphysische Analyse der Wahrheit offeriert, muss sie auch die Natur des Wahrmachers und die Natur der Korrespondenzrelation genauer erklären. Und das halten viele ihrer Kritiker für unmöglich. Aus ihrer Sicht sind Wahrmacher und Korrespondenzrelationen mysteriöse Dinge. Welcher Art ist der Wahrmacher? Die klassischen Vertreter der Korrespondenztheorie vor Bertrand Russell gingen davon aus, dass Gegenstände in der Welt Überzeugungen wahr machen. Aber Gegenstände sind zum einen sehr unspezifisch. Sie machen aufgrund ihrer vielfältigen Eigenschaften höchst unterschiedliche Überzeugungen wahr. Ebenso gut könnte man dann gleich die Realität insgesamt als Wahrmacher aller wahren Überzeugungen betrachten. Zum anderen soll ein Wahrmacher die Wahrheit der von ihm wahr gemachten Überzeugung erzwingen. Das bedeutet, dass in jeder möglichen Welt*, in der der Wahrmacher und die Überzeugung vorliegen, die Überzeugung wahr ist. Aus diesem Grunde sagt man auch, dass die Überzeugung wahr ist, weil etwas Bestimmtes der Fall ist. Gegenstände können diese Bedingung nicht erfüllen, denn derselbe Gegenstand, der aufgrund einer seiner Eigenschaften eine bestimmte Überzeugung wahr macht, würde auch dann noch vorliegen, wenn er diese Eigenschaft nicht mehr hätte. Gegenstände haben ihre Eigenschaften nämlich in der Regel nur kontingenterweise*.90 Es ist deshalb angemessener, die Wahrmacher – wie Russell – als Tatsachen zu verstehen. Tatsachen bestehen darin, dass ein Gegenstand eine bestimmte Eigenschaft hat (technisch gesprochen: instantiiert). Die Überzeugung, dass Schnee weiß ist, wird dadurch wahr gemacht, dass dem Schnee die Eigenschaft zukommt, weiß zu sein. Tatsachen sind Entitäten in der Welt und keine wahren Propositionen oder Aussagen, wie Frege und Peter Strawson behauptet haben.91 Man kann Tatsachen sehen und Tatsachen können sowohl die Rolle von Ursachen als auch die Rolle von Wirkungen einnehmen. Es ist zwar richtig, dass sich Tatsachen nicht beschreiben lassen, ohne dass wahre Propositionen existieren. Aber daraus folgt nicht, dass das, was mit ihnen beschrieben wird, selbst eine Proposition ist.

89 Analoges ließe sich auch für Sätze sagen. 90 Vgl. zu ähnlichen Überlegungen Armstrong 1997, S. 115 f. 91 Vgl. Frege 2003, S. 57 f.; Strawson 1949.

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 2 Wahrheit

2.2.4 Wie lässt sich die Korrespondenzrelation zwischen dem Träger des Wahrheitswertes und dem Wahrmacher verstehen? Hier ist die Gefahr eines Missverständnisses besonders groß. Die für die Wahrheit erforderliche Korrespondenz ist keine exakte Ähnlichkeit92 zwischen dem psychologischen bzw. linguistischen Wahrheitswertträger und dem Wahrmacher. Wie Frege in seiner Polemik gegen die Korrespondenztheorie zutreffend bemerkt hat, ist es schlichtweg falsch zu sagen, dass mentale Zustände der Welt exakt ähnlich sind. Dazu müssten sie selbst Tatsachen der Welt und eben gerade keine mentalen Zustände sein.93 Die Übereinstimmung soll vielmehr zwischen dem propositionalen Inhalt des Wahrheitswertträgers und der wahr machenden Tatsache bestehen. Allerdings darf man hier nicht bei einer primitiven Übereinstimmungsbeziehung zwischen Wahrmacher und dem propositionalen Inhalt stehen bleiben, weil sich der propositionale Inhalt nur über die Wahrheitsbedingungen angeben lässt und damit die Analyse von Wahrheit durch Korrespondenz den Wahrheitsbegriff bereits voraussetzen müsste. Die Korrespondenzrelation muss vielmehr auf semantische Relationen unterhalb der Ebene ganzer Sätze zurückgeführt werden. Ein singulärer Satz vom Typ ‚Sokrates ist ein Mensch‘ wäre demnach wahr genau dann, wenn der Gegenstand, auf den der Name ‚Sokrates‘ referiert, die Eigenschaft hat, auf die das Prädikat ‚ist ein Mensch‘ referiert. Wenn der Gegenstand diese Eigenschaft hat, dann liegt die wahrmachende Tatsache vor. In dieser Analyse kommt zwar die semantische Relation der Referenz vor, aber der Begriff der Wahrheit taucht in ihr nicht mehr auf. Die metaphysischen ‚Bausteine‘ der Korrespondenztheorie lassen sich also trotz der Bedenken ihrer Kritiker plausibel ausbuchstabieren. Sehen wir uns jetzt einige Standardeinwände gegen die Korrespondenztheorie an. Bei Frege findet sich die folgende Überlegung:

92 Der Ausdruck der Identität wird hier bewusst vermieden, weil er zu weiteren Missverständnissen einlädt. Man muss nämlich zwischen numerischer und qualitativer Identität unterscheiden. Wenn Franz und Franziska beide sagen „Bertrand Russell war ein bedeutender englischer Philosoph des 20. Jahrhunderts“, dann sind ihre Äußerungen numerisch verschieden (es sind eben zwei Äußerungen und nicht eine), aber ihre Äußerungen sind qualitativ identisch. ‚Exakte Ähnlichkeit‘ wird hier im Sinne von qualitativer Identität verwendet. 93 Vgl. Frege 2003, S. 37: „Eine Vorstellung mit einem Dinge zur Deckung zu bringen, wäre nur möglich, wenn auch das Ding eine Vorstellung wäre. Und wenn dann die erste mit der zweiten vollkommen übereinstimmt, fallen sie zusammen. Aber das will man gerade nicht, wenn man die Wahrheit als Übereinstimmung einer Vorstellung mit etwas Wirklichem bestimmt. Dabei ist es wesentlich, dass das Wirkliche von der Vorstellung verschieden sei.“

2.2 Wahrheitstheorien 

 49

Eine Übereinstimmung ist eine Beziehung. Dem widerspricht aber die Gebrauchsweise des Wortes ‚wahr‘, das kein Beziehungswort ist, keinen Hinweis auf etwas anderes enthält, mit dem etwas übereinstimmen solle.94

Das Argument ist so zu verstehen: Wäre die Korrespondenztheorie richtig, dann wäre Wahrheit eine Relation zwischen Geist und Welt. Eine solche Relation müsste durch ein zweistelliges Prädikat bezeichnet werden. Unser Wahrheitsprädikat ist jedoch nur einstellig. Wir sagen, dass ein Satz wahr ist. Punkt. Wir sagen nicht, dass er wahr in Bezug auf irgendetwas ist. Und deshalb bezieht sich unser Wahrheitsprädikat nicht auf eine Korrespondenzrelation. Dieser Einwand ist nicht stichhaltig. Er beruht auf einem Fehlschluss von der Syntax auf die Semantik. Es ist unzulässig, von syntaktischen Eigenschaften eines Ausdrucks auf die Natur dessen zu schließen, was durch diesen Ausdruck bezeichnet wird. In unserer Alltagssprache gibt es zahlreiche Beispiele für zweistellige Eigenschaften, die durch einstellige Prädikate bezeichnet werden. Verheiratet ist man immer mit irgendjemandem. Das Verheiratetsein ist also eine zweistellige Relation. Dennoch ist der Satz „Jonas ist verheiratet“ grammatisch wohlgeformt und das bedeutet, dass das Prädikat ‚verheiratet‘ in diesem Satz einstellig ist und keiner weiteren Ergänzung durch ein Objekt bedarf. Ein weiterer Einwand gegen die Korrespondenztheorie lässt sich aus einer Bemerkung von Heidegger in Sein und Zeit extrapolieren. Dort heißt es: „Bevor die Gesetze Newtons entdeckt wurden, waren sie nicht ‚wahr‘ (…).“95 Daraus lässt sich der folgende Einwand konstruieren: (1) (2)

Wenn die Korrespondenztheorie wahr ist, dann ist die Wahrheit vollkommen objektiv und subjektunabhängig. Wahrheit ist subjektabhängig.

Also: Die Korrespondenztheorie ist nicht wahr. Um diesen Einwand bewerten zu können, muss man sich vor Augen führen, dass es einen klaren Unterschied zwischen der Wahrheit im Sinne einer Relation der Korrespondenz zwischen Wahrheitswertträger und Wahrmacher auf der einen Seite und der Wahrheit im Sinne des Wahrmachers auf der anderen Seite gibt. Heidegger hat vollkommen Recht damit, dass die Korrespondenzrelation subjektabhängig ist. Diese Relation ist nämlich nur möglich, wenn beide Relata existie-

94 Frege 2003, S. 37. 95 Heidegger 1993, S. 226.

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 2 Wahrheit

ren: die Wahrmacher und die Wahrheitswertträger. Wenn man nun die plausible Annahme hinzufügt, dass Wahrheitswertträger psychologische oder linguistische Dinge sind (nämlich die Überzeugungen oder Sätze aufgrund ihres propositionalen Gehalts), dann wird deutlich, dass es diese Dinge und damit auch die Korrespondenzrelation erst gibt, sobald sie ein denkendes Subjekt denkt oder ein Sprecher artikuliert. Das kann auch der Korrespondenztheoretiker akzeptieren. Er kann jedoch zugleich behaupten, dass die Wahrmacher vollkommen objektiv und subjektunabhängig sind. Die Wahrheitsrelation hängt also zwar vom Subjekt ab, der Wahrheitswert ist damit aber nicht automatisch ein menschliches Konstrukt. Das oben angeführte Argument ist also ungültig*, weil sich ‚Wahrheit‘ in der Prämisse (1) auf die Wahrmacher bezieht und in Prämisse (2) auf die Korrespondenzrelation. Schließlich gibt es noch Freges klassischen Zirkularitätseinwand gegen jede Wahrheitsdefinition: So scheitert (…) jeder (…) Versuch, das Wahrsein zu definieren. Denn in der Definition gäbe man gewisse Merkmale an. Und bei der Anwendung auf einen besonderen Fall käme es immer darauf an, ob es wahr wäre, dass diese Merkmale zutreffen. So drehte man sich im Kreise.96

Dieser Einwand lässt sich natürlich auch auf die Korrespondenztheorie anwenden. Betrachten wir eine besonders einfache Version dieser Theorie. Sie besagt: (KT)

‚p‘ ist wahr genau dann, wenn ‚p‘ mit einer Tatsache übereinstimmt.

Nun behauptet Frege, dass das Definiens (also die rechte Seite der Äquivalenz) ja auch noch wahr sein müsse. Dann würde aus (KT) (KT’): (KT’) ‚p‘ ist wahr genau dann, wenn es wahr ist, dass ‚p‘ mit einer Tatsache übereinstimmt. Aber wenn das der Definitionsvorschlag wäre, dann würde es sich offensichtlich um einen Definitionszirkel handeln. Der Begriff der Wahrheit würde in der Definition der Wahrheit bereits verwendet; und das ist natürlich unzulässig. Unklar ist, warum Frege glaubt, dass der Korrespondenztheoretiker (KT’) statt (KT) vertreten muss. Im Definiens von (KT) werden Sätze verwendet, aber es wird dort ausschließlich über die Welt geredet, genauer über relationale Tatsa-

96 Frege 2003, S. 38.

2.2 Wahrheitstheorien 

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chen. Der Weltbezug muss also nicht erst dadurch hergestellt werden, dass dem Satz auf der rechten Seite der Äquivalenz Wahrheit zugeschrieben wird. Die Relation rechts definiert das, was links steht, und sie macht auch den Satz „‚Dass ‚p‘ mit einer Tatsache übereinstimmt‘ ist wahr“ wahr. Aber sie ist selbst keine Wahrheit, sondern ein Wahrmacher, also etwas Nichtsprachliches. Der semantische Aufstieg von „‚p‘ stimmt mit einer Tatsache überein“ zu „Es ist wahr, dass ‚p‘ mit einer Tatsache übereinstimmt“ ist also ganz und gar unnötig für die Definition. Es ist aber genau dieser unnötige semantische Aufstieg, der den von Frege monierten Definitionszirkel allererst erzeugt. Im Ergebnis kann man festhalten, dass die Korrespondenztheorie der Wahrheit keineswegs eine mysteriöse und undurchsichtige metaphysische Theorie ist. Die metaphysischen Grundbegriffe der wahr machenden Tatsache und der Korrespondenzrelation lassen sich erklären. Und auch die Standardeinwände gegen die Korrespondenztheorie halten einer kritischen Überprüfung nicht stand. Selbstverständlich gibt es eine ganze Reihe von weiteren Einwänden, die im Rahmen dieser Einführung nicht alle behandelt werden können. Der erkenntnistheoretische Einwand, dass die Korrespondenztheorie unweigerlich zu skeptischen Konsequenzen führt, wurde ja bereits im Zusammenhang mit den Argumenten gegen realistische Wahrheitsauffassungen zurückgewiesen. Weitere Einwände sollen nur kurz erwähnt werden: Nach dem so genannten Sling­ shot-Argument kann man durch die Substitution koextensionaler Ausdrücke zeigen, dass alle wahren Sätze durch dieselbe Tatsache wahr gemacht werden.97 Demnach gibt es keine spezifischen Wahrmacher einzelner Sätze, sondern nur eine ‚große‘ Tatsache, was eine Art reductio ad absurdum der Theorie wäre. Die Diskussion dieses Arguments hat gezeigt, dass es verschiedene Strategien gibt, die Substitutionen, auf denen das Argument beruht, für unzulässig zu erklären.98 Ungelöst bleibt die Frage, wie semantische Paradoxien ausgeschlossen werden sollen, wenn das Wahrheitsprädikat sprachübergreifend definiert wird. Schließlich führt eine sehr einfache Version der Korrespondenztheorie zu einer Inflation von obskuren Tatsachen. Wenn jeder wahre Satz wahr aufgrund einer korrespondierenden Tatsache wäre, dann müsste es für wahre Negationen, Konjunktionen* und Disjunktionen* eben auch negative Tatsachen, konjunktive Tatsachen und disjunktive Tatsachen geben. Diese Konsequenz kann man vermeiden, indem man nur die Wahrheit atomarer Sätze durch entsprechende Tatsachen erklärt und die Wahrheit aller anderen Sätze auf die Wahrheit dieser Sätze und deren logische Verknüpfung zurückführt. Eine solche rekursive Definition der Wahrheit

97 Davidson 1984, S. 42. 98 Vgl. Olson 1987 und Neale 2001.

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 2 Wahrheit

wurde von den Vertretern des Logischen Atomismus (Russell und Wittgenstein) in Angriff genommen. Danach ist eine Konjunktion wie „Anna ist blond und Peter ist schwarzhaarig“ nicht wahr, weil es in der Welt eine komplexe Tatsache aus Annas Blondsein und Peters Schwarzhaarigkeit gibt, sondern weil der Satz „Anna ist blond“ durch eine Tatsache wahr gemacht wird und der Satz „Peter ist schwarzhaarig“ durch eine andere Tatsache wahr gemacht wird. Etwas schwieriger ist es anzugeben, wodurch negative Sätze wie „Am 20. März 2006 regnet es in Köln nicht“ wahr gemacht werden. Wenn man sagt, dass dieser Satz wahr ist, weil es keinen Wahrmacher für den Satz „Am 20. März 2006 regnet es in Köln“ gibt, hat man die Wahrheit wieder durch eine negative Tatsache erklärt: Eben die Inexistenz eines Wahrmachers für den atomaren Satz. Aber es gibt auch für dieses Problem raffinierte Lösungsvorschläge. Der negative Satz könnte beispielsweise durch die Menge aller Tatsachen und die Tatsache zweiter Ordnung, dass es alle Tatsachen erster Ordnung sind, wahr gemacht werden.99 Obwohl die Probleme der Korrespondenztheorie der Wahrheit also längst nicht alle gelöst sind, steht diese Theorie deutlich besser da, als alle ihre Konkurrenten. Das sollte aus der Diskussion in diesem Kapitel deutlich hervorgegangen sein. In den weiteren Kapiteln dieser Einführung wird deshalb die Korrespondenztheorie der Wahrheit zugrunde gelegt.100

2.3 Studienfragen 1. Was ist propositionale Wahrheit und warum ist sie interessant? 2. Warum ist es plausibel, dass Wahrheit das Zitattilgungsschema erfüllt? 3. Was bedeutet es, dass Wahrheit nicht mit dem Fürwahrhalten zusammenfällt? 4. Warum sollte man glauben, dass realistische Wahrheitsauffassungen zu skeptischen Konsequenzen führen und was spricht gegen diese These? 5. Was besagt die Kohärenztheorie der Wahrheit in der Variante mit idealen Bedingungen und warum ist sie der Variante mit realen Bedingungen vorzuziehen?

99 Das ist etwa der Vorschlag von Armstrong 1997, S. 134 f. 100 Lynch 2009 argumentiert für die interessante Position eines Wahrheitspluralismus. Danach hat Wahrheit minimale generelle Eigenschaften, wird aber in verschiedenen Bereichen unterschiedlich realisiert. So können Aussagen über die raumzeitliche Welt durch korrespondierende Tatsachen wahr gemacht werden, aber mathematische Aussagen durch Beweisbarkeit.

2.4 Literaturempfehlungen 

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6. Warum führen epistemische Wahrheitstheorien mit Bezug auf ideale Bedingungen in einen Definitionszirkel? 7. Was bedeutet es, dass deflationäre Wahrheitstheorien „metaphysisch minimalistisch“ sind und warum ist dies ein Vorteil? 8. Wie lässt sich das Hauptargument für deflationäre Wahrheitstheorien angreifen? 9. Wie kann die Relation zwischen dem Wahrheitswertträger und der Welt bei der Korrespondenztheorie der Wahrheit ausbuchstabiert werden, damit sie Standardeinwänden entgeht? 10. Welcher der vorgestellten Theorien und Ansätze sind vielversprechend und welche können am ehesten aufgegeben werden?

2.4 Literaturempfehlungen Michael Lynch 2009: Truth as One and Many, Oxford (Verteidigung des Wahrheitspluralismus: Wahrheit hat in verschiedenen Bereichen eine unterschiedliche Natur). Chase Wrenn 2014: Truth, Cambridge (UK)/Malden (eine sehr gute elementare Einführung in alle Themenbereiche der Wahrheit). Michael Lynch 2004: True to Life. Why Truth Matters, Cambridge, MA (warum Wahrheit keine abstarkte Philosophenidee ist, sondern wichtig ist für unser privates und politisches Leben, sehr gut verständlich).

3 Wissen 3.0 Formen des Wissens Unser Wissensbegriff* und seine Verwandten wie „kennen“ oder „erkennen“ tauchen im Alltag in einer Reihe von recht unterschiedlichen Satzkonstruktionen auf: (1) Herbert weiß, dass Einstein die Relativitätstheorie entwickelt hat. (2) Schiller kennt Goethe. (3) Frank weiß, wie es ist, etwas Rotes zu sehen. (4) Matthias weiß, wie man Tango tanzt. (5) Sabine weiß, wo München liegt. (6) Tobias weiß, wer die Schlacht bei Waterloo verloren hat. (7) Rebecca weiß, ob es heute regnet. (8) Larissa weiß, wann sie eingeschult wurde. Erkenntnistheoretiker beschäftigen sich in der Regel primär mit dem Wissen, von dem in Satz (1) die Rede ist. Dieses Wissen nennt man auch propositionales* Wissen oder Wissen-dass. Es ist auf einen propositionalen Inhalt bezogen, der durch einen Aussagesatz zum Ausdruck gebracht werden kann. Im vorliegenden Fall ist es der Satz „Einstein hat die Relativitätstheorie entwickelt“. Wissen-dass hat also die allgemeine Form ‚S weiß, dass p‘, wobei S sich auf das Subjekt des Wissens bezieht und p für den Aussagesatz bzw. die Proposition steht. Die Frage, zu welcher Art von Dingen Propositionen gehören, ist bereits im letzten Kapitel erörtert worden. Ich habe mich dafür ausgesprochen, Propositionen als Inhaltseigenschaften von Wahrheitswertträgern zu verstehen. Wichtig sind hier nur die folgenden drei Merkmale von Propositionen. Erstens sind Propositionen Träger eines Wahrheitswertes (normalerweise ‚wahr‘ oder ‚falsch‘). Zweitens werden sie durch Tatsachen wahr gemacht, also dadurch, dass etwas Bestimmtes mit dem Gegenstand, von dem sie handeln, der Fall ist. Und drittens sind die Propositionen feiner individuiert als die sie wahr machenden Tatsachen. Dafür ist nach Frege die spezifische Gegebenheitsweise des Gegenstandes verantwortlich. Die Sätze „Der Abendstern ist ein Planet“ und „Der Morgenstern ist ein Planet“ drücken also verschiedene Propositionen aus, aber sie werden durch ein und dieselbe Tatsache wahr gemacht, nämlich dadurch, dass die Venus ein Planet ist.101

101 Hier wird eine engmaschige Individuation von Propositionen (relativ zu Gegebenheitsweisen und Begriffen) und eine weitmaschige Individuation von Tatsachen angenommen. Frege hatte ursprünglich eine engmaschige Individuation von Propositionen und Tatsachen vorgeschlagen, da er in Tatsachen nichts anderes als wahre Propositionen sah. Russell hat dagegen DOI 10.1515/9783110530278-003

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 3 Wissen

Wissen-dass ist für die Erkenntnistheorie besonders wichtig, weil die Erkenntnistheorie unsere kognitive Perspektive auf die Wahrheit betrachtet. Doch was ist mit den anderen Wissenskonstruktionen? In welchem Verhältnis stehen sie zum Wissen-dass? Der Satz (2) schreibt Schiller ein Wissen aufgrund von Bekanntschaft zu. Die grammatische Besonderheit ist hier, dass „kennen“ (im Englischen ‚to know someone‘) als transitives Verb verwendet wird, das durch ein Objekt allein und nicht durch einen Dass-Satz ergänzt wird. Semantisch wird eine Wissensrelation zwischen einem Subjekt und einem Gegenstand (im vorliegenden Fall einer Person) ausgesagt. Die Wissenszuschreibung erwähnt nur den Gegenstand des Wissens. Damit ist jedoch die philosophisch interessante Frage, ob die Kenntnis eines Gegenstandes vom Wissen-dass unabhängig ist, keineswegs entschieden. Viele Philosophen finden die Idee überzeugend, dass es eine eigentümliche Bekanntschaftsrelation zwischen dem Subjekt und einem Gegenstand geben kann.102 Überlegen wir uns die Sache selber. Nehmen wir an, ich hätte alle Bücher, Tagebücher und Briefe gelesen, die von Goethe handeln. In diesem Fall hätte ich eine unglaubliche Menge von propositionalem Wissen über Goethe. Ich wüsste vermutlich mehr Fakten über ihn als mancher, der ihn zu Lebzeiten kannte. Würde man in diesem Fall sagen, dass ich Goethe kenne? Hier sind die Intuitionen uneinheitlich. In einem bestimmten Sinne könnte man wohl sagen, dass ich ein Kenner Goethes bin. Aber man würde nicht sagen, dass ich ihn persönlich kenne oder mit ihm bekannt bin. Wenn das richtig ist, dann folgt aus dem Wissen einer beliebig großen Menge von Propositionen über Goethe nicht, dass man Goethe kennt. Doch das bedeutet nicht, dass für persönliche Bekanntschaft propositionales Wissen prinzipiell nicht hinreicht. Erforderlich ist nur die richtige Art von propositionalem Wissen. Es darf sich nicht um Wissen vom Hörensagen oder Wissen durch Lektüre handeln, sondern um propositionales Wissen aufgrund von direkter Wahrnehmung. Ich kann ein solches Wissen von Goethe jedoch heute nicht mehr erwerben, soviel propositionales Wissen über ihn ich auch immer anhäufen mag. Propositionales Wissen einer ganz bestimmten (direkten perzeptuellen) Art scheint also hinreichend* zu sein für die Kenntnis einer Person. Doch ist es auch notwendig*? Kann ich nicht auch ohne Wissen-dass über eine Person diese Person kennen? Was ist etwa mit einem kleinen Kind, das seine Mutter kennt, oder mit jemandem, der das Gesicht einer bestimmten Person kennt, ohne irgendwelche

eine weitmaschige Individuation von Tatsachen und Propositionen vertreten. Weitmaschige Propositionen werden durch den Referenten und die ihm zu- oder abgesprochenen Eigenschaften selbst individuiert. 102 Vgl. besonders Russells „knowledge by acquaintance“ in Russell 1967, Kap. 5.



3.0 Formen des Wissens 

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signifikanten Merkmale dieses Gesichts beschreiben zu können? Offenbar reicht es für die rudimentäre Kenntnis einer Person aus, dass wir eine bestimmte Fähigkeit haben, nämlich diese Person wiederzuerkennen. Wir dürfen jedoch nicht vergessen, dass Propositionen durch die Gegebenheitsweise des Gegenstandes individuiert sind. Wenn ein Kind seine Mutter kennt und wiedererkennt, dann muss es in der Lage sein, einfache demonstrative Propositionen folgender Art zu wissen: Dieses (phänomenale Gegebenheitsweise) ist Mutter. Das wäre zumindest eine Erklärung für die Wiedererkennensfähigkeit des Kindes. Eine ähnliche Erklärung könnte man auch für die Gesichtserkennung geben. Wir können in beiden Fällen von einem Wissen-dass sprechen, wenn wir dieses Wissen nicht für reine Beschreibungen reservieren. Wenn wir diese Möglichkeit berücksichtigen, dann könnte sich Wissen aufgrund von Bekanntschaft vielleicht auf Wissen-dass reduzieren lassen. Betrachten wir nun den Satz (3) [Frank weiß, wie es ist, etwas Rotes zu sehen]. Durch ihn wird Frank ein Wissen-wie-es-ist zugeschrieben. Was ist damit gemeint? Am besten lässt sich das durch das Gedankenexperiment der Superwissenschaftlerin Mary illustrieren: Mary ist eine außergewöhnlich begabte Wissenschaftlerin, die von Geburt an in einem geschlossenen Zimmer lebt, in dem alles schwarz-weiß ist. Das betrifft sogar sie selbst. Mit der Außenwelt ist sie über einen Schwarz-Weiß-Monitor verbunden. Und über ihn bekommt sie alle ihre Informationen. Sie liest Bücher, nimmt an Diskussionen teil und leitet sogar Experimente. Auf diese Weise wird sie zur weltweit führenden Expertin über Farben, Farbwahrnehmung und die Neurophysiologie der Farbwahrnehmung. Sie weiß alle objektiven Tatsachen über Farben. Was ihr fehlt ist das eigene Erleben von Farben. Und solange ihr das fehlt, weiß sie nicht, wie es ist, Farben zu sehen.103

Dieses drastische Beispiel lässt sich verallgemeinern. Solange wir selbst bestimmte Erlebnisse nicht gehabt haben oder bestimmte Erfahrungen nicht gemacht haben, wissen wir nicht, wie es ist, ein solches Erlebnis zu haben. Solange wir nie einem Stinktier begegnet sind, wissen wir nicht, wie es ist, den Geruch eines solchen Tiers zu erleben. Solange wir niemals vom australischen Brotaufstrich Vegemite gekostet haben, wissen wir nicht, wie es ist, ihn zu probieren. Solange ein Teenager sich noch nicht das erste Mal verliebt hat, weiß er nicht, wie es ist, verliebt zu sein. Und ein von Geburt an Farbenblinder weiß niemals, wie es ist, Farben zu sehen. Keine objektive Information über die Aus-

103 Vgl. Jackson 1986. Vielleicht werden Sie sich fragen, ob Mary in ihrer Zelle nicht doch Farben sehen könnte, wenn sie beispielsweise ihre eigene Zunge im Spiegel ansehen würde oder sich in den Finger schnitte und Blut heraustropfte. Um das Gedankenexperiment konsequent auszugestalten, müsste man deshalb Mary schwarz/weiße Linsen in die Augen setzen.

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 3 Wissen

löser oder Wirkungen dieser Erfahrungen oder deren neurophysiologische Realisierung* kann uns weiterhelfen. Und auch der Verweis auf eine andere, aber ähnliche Erfahrung, kann uns nur dann weiterhelfen, wenn wir bereits wissen, wie es ist, diese andere Erfahrung zu haben. Das könnte einen auf den Gedanken bringen, dass es sich bei dem Wissenwie-es-ist um eine Wissensform sui generis handelt. Dafür scheint auch zu sprechen, dass Sätze wie (3) keine Propositionalkonstruktionen sind. Sehen wir uns zunächst an, was es mit dieser zweiten Überlegung auf sich hat. Die Sätze (5) – (8) sind ebenfalls keine Konstruktionen, in denen eine Proposition als Objekt des Wissens auftaucht. Dennoch lässt sich leicht zeigen, dass sie propositionales Wissen zuschreiben. Der Satz (5) [Sabine weiß, wo München liegt] ist wahr, wenn es eine Proposition gibt, die die Lage Münchens beschreibt (z. B. dass München ca. 60 km nördlich der Alpen an der Isar liegt), und Sabine diese Proposition weiß. Der Satz (6) [Tobias weiß, wer die Schlacht bei Waterloo verloren hat] ist wahr, wenn es eine Proposition gibt, die den Verlierer der Schlacht bei Waterloo angibt, und Tobias diese Proposition weiß. Der Satz (7) [Rebecca weiß, ob es heute regnet] ist wahr, wenn es die Proposition gibt, dass es heute regnet, und es die Proposition gibt, dass es heute nicht regnet, und Rebecca eine der beiden Propositionen weiß. Und der Satz (8) [Larissa weiß, wann sie eingeschult wurde] ist schließlich wahr, wenn es eine Proposition gibt, die eine wahre Antwort auf die Frage gibt, wann Larissa eingeschult wurde, und Larissa diese Proposition weiß. In allen diesen Fällen wird dem Träger des Wissens ein propositionales Wissen zugeschrieben, ohne die Proposition explizit zu nennen. Generell kann man sagen, dass Wissenszuschreibungen mit eingebetteten Fragen ein Wissen von derjenigen Proposition zuschreiben, die eine wahre Antwort auf die eingebettete Frage gibt.104 Man verwendet solche indirekten Zuschreibungen, wenn man den genauen Inhalt des propositionalen Wissens nicht kennt. Das lässt sich nun auch auf das Verstehen der Wissenszuschreibung (3) [Frank weiß, wie es ist, etwas Rotes zu sehen] anwenden. Aus der Form dieser Zuschreibung lässt sich nicht ableiten, dass kein propositionales Wissen zugeschrieben wird. Wenn es sich um ein propositionales Wissen handelt, dann hätten wir mit Hilfe dieser Konstruktion die Möglichkeit propositionales Wissen zuzuschreiben, ohne den Inhalt dieses Wissens selber kennen zu müssen. Und dieser Fall tritt beim Wissen-wie-es-ist regelmäßig auf. Wir können erkennen, dass jemand eine Erfahrung erlebt, die wir noch nie erlebt haben, und dass er deshalb weiß, wie es ist, diese Erfahrung zu haben. Aber weil wir selbst die Erfahrung eben noch nicht gemacht haben, kennen wir den Inhalt seines propositionalen Wissens nicht.

104 Vgl. dazu Karttunen 1977.



3.0 Formen des Wissens 

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Das ist etwa der Fall im Fledermaus-Beispiel von Thomas Nagel.105 Wir wissen nicht, wie es ist, eine Fledermaus zu sein, weil die Fledermaus durch Echolotung ganz andere Erfahrungen hat, als wir sie überhaupt haben können, aber dennoch können wir der Fledermaus ein solches Wissen zuschreiben, weil sie selbst aufgrund ihrer Erfahrungen wissen muss, wie es ist, eine Fledermaus zu sein. Es spricht nun in der Tat einiges dafür, dass Wissen-wie-es-ist eine Form von propositionalem Wissen ist, das wir nur aus der Perspektive des phänomenalen Erlebens erwerben können. Stellen Sie sich vor, unsere Superwissenschaftlerin Mary verlässt ihr schwarz-weißes Gefängnis und sieht das erste Mal in ihrem Leben etwas Rotes. Dann hat sie etwas Neues gelernt. Sie weiß nun, wie es ist, etwas Rotes zu sehen. Wir können entweder sagen, dass sie Wissen von einer Tatsache erworben hat, von der sie vorher keinerlei Wissen hatte. Dabei handelt es sich um eine phänomenale, subjektive Tatsache, zu der nur derjenige Zugang hat, in dessen mentalem Leben sich diese Tatsache abspielt. Dann müssten wir zugestehen, dass es über die physikalischen Tatsachen hinaus, von denen Mary ja in ihrem Gefängnis vollständiges Wissen erworben hat, weitere nichtphysikalische, phänomenale Tatsachen gibt.106 Oder wir sagen, dass Mary neues Wissen erwirbt, wenn sie das erste Mal in ihrem Leben eine Roterfahrung hat, weil sie eine Tatsache, die ihr früher rein physikalisch gegeben war, jetzt mit Hilfe phänomenaler Begriffe erfasst, die sie erst dadurch erwirbt, dass sie selbst eine Roterfahrung hat. Dann müssten wir keine nicht-physikalischen Tatsachen annehmen, sondern nur Propositionen einführen, die mit phänomenalen Begriffen auf physikalische Tatsachen Bezug nehmen.107 Einige Philosophen haben versucht, die Intuition wegzuerklären, dass Mary neues Wissen-dass erwirbt, wenn sie aus ihrem Gefängnis frei kommt. Was sie lernt oder erwirbt sind bestimmte Fähigkeiten oder ein gewisses Können, Farberfahrungen zu erinnern, sich vorzustellen oder wiederzuerkennen. Demnach erwirbt Mary ein neues Wissen-wie (ein know how), nicht ein Wissen-dass.108 Was ist von diesem Vorschlag zu halten? Nun, es mag sein, dass Mary aufgrund ihrer neuen Farberlebnisse die besagten Fähigkeiten erwirbt. Aber wir können das, was sie lernt, sobald sie Farben sieht, nicht auf diese Fähigkeiten beschränken. Offenbar hat Mary nun auch einen kognitiven Zugang zu einer Tatsache, den sie zuvor nicht hatte. Sie erwirbt also auch neues Wissen-dass. Und dieses Wissen

105 Nagel 1979 106 Vgl. Jackson 1986. 107 Dafür spricht sich Tye 1995, Kap. 6 aus. Vgl. auch Beckermann 2008, S. 426 f. 108 Vgl.Lewis 1988, Nemirow 1990.

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 3 Wissen

erklärt vermutlich ihre neuen Fähigkeiten, die sie erst allmählich und nicht instantan erwirbt, wie das neue Wissen-dass. Sehen wir uns schließlich noch die von Satz (4) [Matthias weiß, wie man Tango tanzt] beschriebene Wissensform an. Was muss alles der Fall sein, damit man korrekterweise sagen kann, dass Matthias weiß, wie man Tango tanzt? Zunächst muss es der Fall sein, dass er erfolgreich Tango tanzen würde, wenn geeignete Umstände eintreten würden. Diese Umstände müssen jedoch nicht unbedingt in seiner Macht stehen oder überhaupt in der Welt, wie sie wirklich ist, realisierbar sein. Auch ein geübter Tangotänzer, der durch einen schweren Unfall beide Beine verloren hat, weiß wie man Tango tanzt, obwohl er dazu nicht mehr die Fähigkeit hat. Es gilt immer noch: Hätte er noch beide Beine und wären auch die anderen Bedingungen erfüllt, dann würde er erfolgreich Tango tanzen. Streng genommen ist es also falsch, Wissen-wie mit einer Fähigkeit zu identifizieren. Die Erfolgsbedingung ist jedoch nur eine Bedingung für das Vorliegen von Wissen-wie. Jemand, der eine gute Verdauung hat, würde unter geeigneten Umständen zugeführte Nahrung erfolgreich verdauen. Diese Disposition des Körpers ist jedoch kein Wissen-wie. Wissen-wie liegt nur vor, wenn es um intentionale* Handlungen geht. Matthias weiß also, wie man Tango tanzt, genau dann wenn er erfolgreich tanzen würde, wenn bestimmte geeignete Umstände vorlägen und er es willentlich versuchen würde. Wissen-wie kann sich auf sehr unterschiedliche Handlungen beziehen: eine Sinfonie komponieren, Karten spielen, Witze machen, eine Sprache sprechen, argumentieren, aber auch Fahrrad fahren, Fußball spielen, Tanzen oder mit den Ohren wackeln. Gilbert Ryle hat in seinem Buch Der Begriff des Geistes109 gegen die von ihm so genannte „intellektualistische Legende“ argumentiert, wonach jedes Wissen-wie prinzipiell von einem Wissen-dass abhängt. Selbstverständlich will Ryle damit nicht bestreiten, dass propositionales Wissen manchmal erfolgreiches Handeln erst ermöglicht. So kann der Manager eine Firma nur dann erfolgreich sanieren, wenn er viel propositionales Wissen über Betriebswirtschaft und die konkreten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen hat. Und ich kann mir nur dann ein bestimmtes Buch aus der Bibliothek holen, wenn ich weiß, wo dieses Buch steht und wann die Bibliothek geöffnet hat. Und dabei handelt es sich, wie wir gesehen haben, eindeutig um Wissen-dass. Ryles Punkt ist vielmehr, dass nicht jedes Wissen-wie von einem Wissen-dass abhängt oder sogar vollständig aus ihm erklärt werden kann. Ryle führt zwei Argumente gegen die intellektualistische Legende an. Das erste Argument* beruht auf der Einsicht, dass erfolgreiche Praxis ohne theoreti-

109 Ryle 1969.



3.0 Formen des Wissens 

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sches Wissen-dass möglich zu sein scheint.110 Dafür gibt es unzählige Beispiele. Wir können grammatikalisch korrektes Deutsch sprechen, aber wir haben nicht unbedingt ein propositionales Wissen von den Regeln der Grammatik des Deutschen. Das bemerken wir spätestens dann, wenn wir einem Kind oder einem Ausländer erklären sollen, warum bestimmte Konstruktionen ungrammatisch sind. Wir können Fahrrad fahren, Tanzen oder Knoten knüpfen, aber wenn wir theoretisch erklären sollen, wie wir das machen, dann können wir nur mit den Achseln zucken. Das gilt selbst für intelligentes Verhalten. Ryle weist darauf hin, dass ein guter Witze-Erzähler nicht unbedingt Regeln angeben kann, wie man Witze erfindet. Und auch ohne Kenntnis einer Logik der Argumentation sind Leute in der Lage, gute Argumente zu konstruieren und Fehlschlüsse zu entdecken. Formal kann man Ryles Argument folgendermaßen rekonstruieren: (9)

(10)

Wenn Wissen-wie Wissen-dass voraussetzt, dann kann es keinen Handlungserfolg geben, ohne dass der Akteur ein propositionales Wissen von den Mitteln zum Erfolg hat. Es gibt Handlungserfolg, ohne dass der Akteur ein propositionales Wissen von den Mitteln zum Erfolg hat.

Also: Wissen-wie setzt Wissen-dass nicht voraus. Dieses Argument ist formal gültig*. Die Konklusion folgt also logisch deduktiv* aus seinen Prämissen. Doch ist das Argument auch schlüssig*? Dazu müssten die Prämissen auch wahr sein. Die Prämisse (9) ist analytisch* wahr aufgrund der Bedeutung. Der Satz sagt eigentlich nur aus, was damit gemeint ist, dass Wissen-wie Wissen-dass voraussetzt. Ein Handlungserfolg ist nichts anderes als die Manifestation eines Wissens-wie. Es ist deshalb begrifflich unmöglich, dass wir erfolgreich handeln, ohne ein Wissen-wie zu haben. Doch wenn dieses Wissenwie Wissen-dass voraussetzt, dann ist damit natürlich genau das Wissen von den Mitteln gemeint, die den Erfolg der Handlung ermöglichen. Wenn (9) jedoch analytisch ist, dann erscheint es aussichtslos, die Wahrheit dieser Prämisse anzugreifen. Die Prämisse (10) ist dagegen klarerweise synthetisch* und damit im Prinzip angreifbar. Die von Ryle genannten Beispiele sollen die Wahrheit dieser Prämisse plausibel machen. Doch streng genommen zeigen sie nur, dass manche Personen, die erfolgreich handeln, nicht angeben oder artikulieren können, mit welchen Mitteln sie den Erfolg erzielt haben. Die Beispiele zeigen also nur, dass

110 Vgl. Ryle 1969, S. 32 f.

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 3 Wissen

Propositionen, die Mittel zum Handlungserfolg beschreiben, den Personen nicht zugänglich sind. Die Beispiele zeigen nicht direkt, dass die Personen kein Wissen von solchen Propositionen haben. Läge ein derartiges Wissen vor, dann könnte es den Personen in den Beispielsfällen nicht zugänglich sein. Kann es ein propositionales Wissen geben, dass dem Besitzer dieses Wissens nicht zugänglich ist? Das klingt zunächst wie ein Widerspruch in sich. Ein Wissen, das nicht gewusst wird, ist eben kein Wissen. Sieht man genauer hin, dann besteht der vermeintliche Widerspruch jedoch gar nicht. In einer ersten Annäherung könnte man sagen, dass Wissen vorliegt, wenn eine wahre Überzeugung auf die richtige Weise gebildet wird. Wenn es möglich ist, dass man eine Überzeugung haben kann, von der man explizit nichts weiß, dann könnte diese Überzeugung auch wahr und auf die richtige Weise gebildet worden sein, ohne dass man davon explizit etwas weiß. Wir hätten dann Wissen, ohne Wissen von diesem Wissen zu haben, und das beinhaltet zunächst einmal keinerlei Widerspruch in sich. Die zentrale Frage ist, ob es solche für das Subjekt unzugänglichen, impliziten Überzeugungen geben kann. Normalerweise unterscheidet man zwischen gerade auftretenden und dispositionalen Überzeugungen. Gerade auftretende Überzeugungen sind von der Art, dass sie mir bewusst sind, wenn ich sie habe. Sie sind die Dinge, an die ich gerade bewusst denke. Daneben habe ich sehr viele dispositionale Überzeugungen, an die ich nicht fortwährend bewusst denke, die ich mir aber jederzeit ins Bewusstsein rufen kann. Ich denke nicht dauernd daran, dass die Erde eine Kugel ist. Doch wenn mich jemand fragt, dann wird mir klar, dass ich das glaube und diese Überzeugung nicht erst in diesem Augenblick neu erwerbe, sondern dispositional die ganze Zeit geglaubt habe. Unzugängliche Überzeugungen müssten von diesen beiden Überzeugungstypen unterschieden werden, weil sie mir weder gegenwärtig bewusst sind noch jederzeit zugänglich sind, wie die dispositionalen Überzeugungen. Diese Überzeugungen wären in der Person, aber man könnte sie nicht direkt der Person zuschreiben. Deshalb müsste man wohl von sub-personalen Überzeugungen sprechen. Gerade im Zusammenhang mit sprachlicher Kompetenz ist die Annahme solcher unzugänglichen, impliziten Überzeugungen relativ plausibel. Der Sprecher hätte demnach implizite Überzeugungen hinsichtlich grammatischer Regeln und des Lexikons, auf die er nicht willentlich zugreifen kann, die aber zur Erklärung seines sprachlichen Verhaltens unverzichtbare Dienste leisten.111 Solche Theorien sind sicher nicht unumstritten. Sie zeigen jedoch, dass Ryles erstes Argument gegen die intellektualistische Legende nicht so stark ist, wie es zunächst aussah. Es gibt argumentativen Spielraum, um sich ihm zu entziehen.

111 Vgl. Pinker 2000, Kap. 4.



3.0 Formen des Wissens 

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Sehen wir uns deshalb Ryles zweites Argument an, das er für sein Hauptargument hält. An zentraler Stelle in Der Begriff des Geistes sagt Ryle: Der entscheidende Einwand gegen die intellektualistische Legende ist also dieser. Das Erwägen von Sätzen ist selbst eine Tätigkeit, die mehr oder weniger intelligent, mehr oder weniger dumm ausgeführt werden kann. Aber wenn zur intelligenten Ausführung einer Tätigkeit eine vorhergehende theoretische Tätigkeit nötig ist, und zwar eine, die intelligent ausgeführt werden muss, dann wäre es logisch unmöglich, dass jemand in diesen Zirkel eindringen könnte.112

Gleich im Anschluss an diese Stelle macht Ryle deutlich, dass er das Problem in einem sich abzeichnenden Regress sieht. Das Argument hat offenbar die Form einer reductio ad absurdum. Ein solches Argument widerlegt eine ganz bestimmte These, indem es zeigt, dass sich aus dieser These inakzeptable Konsequenzen ergeben (im äußersten Fall sogar ein logischer Widerspruch). Es hat also die Form eines modus tollens:

Wenn p, dann q. q ist falsch. Also: p ist falsch.

Man kann Ryles Argument in genau diese Form bringen. Dann lautet es: (11) (12)

Wenn Wissen-wie Wissen-dass voraussetzt, dann ist intelligentes Verhalten unmöglich. Intelligentes Verhalten ist möglich.

Also: Wissen-wie setzt Wissen-dass nicht voraus. Doch ganz entscheidend ist natürlich, wie Ryle die Prämisse (11) dieses Arguments begründet. Ryle scheint folgendermaßen zu argumentieren: (13)

(14) (15)

Wenn Wissen-wie Wissen-dass voraussetzt, dann kann es keinen Handlungserfolg geben, ohne dass der Akteur ein propositionales Wissen von den Mitteln zum Erfolg hat. Jedes intelligente Verhalten einer Person ist Produkt ihres Wissens-wie. Jedes Wissen-dass einer Person beinhaltet intelligentes Verhalten dieser Person.

112 Ryle 1969, S. 34. Vgl. zur Rekonstruktion und Kritik Stanley/Williamson 2001.

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(16) (17)

 3 Wissen

Jedes intelligente Verhalten einer Person setzt eine unendliche Menge von Wissen-dass dieser Person voraus. Eine Person hat keine unendliche Menge von Wissen-dass.

Also: Es ist kein intelligentes Verhalten einer Person möglich. Aus der Annahme (13) des Intellektualisten folgt also die Konklusion, wenn die Prämissen (14) bis (17) zutreffen. (14) und (17) sollten unstrittig sein. (16) ergibt sich als Lemma aus (13), (14) und (15). Das lässt sich leicht einsehen, wenn man ein beliebiges Beispiel für intelligentes Verhalten betrachtet. Nehmen wir an, jemand spielt Schach. Nach (14) benötigt er dafür ein gewisses Wissen-wie, ein praktisches Wissen um die Regeln des Schachs. Nach (13) setzt dieses praktische Wissen nun seinerseits ein bestimmtes theoretisches Wissen voraus. Sagen wir, die Person müsste die Schachregeln explizit kennen. Wenn nun (15) richtig ist, dann würde ein solches theoretisches Wissen ein weiteres intelligentes Verhalten involvieren, beispielsweise das Nachlesen in den Spielregeln. Doch dieses intelligente Verhalten müsste wiederum durch ein weiteres praktisches Wissen, dieses durch ein theoretisches Wissen und das wieder durch ein intelligentes Verhalten erklärt werden und so bis ins Unendliche. Der Regress folgt also logisch. So lässt sich nur die Prämisse (15) angreifen, wenn man die reductio verhindern will. Und in der Tat ist diese Prämisse höchst problematisch. Selbstverständlich erwerben wir manchmal nur dann Wissen-dass, wenn wir vorher bestimmte intellektuelle Tätigkeiten verrichtet haben. Dazu gehört das Lesen von Büchern, das Befragen von Experten, das Durchführen von Experimenten etc. Aber (15) behauptet mit strenger Allgemeinheit, dass das immer so ist. Und das ist nicht plausibel. Was ist etwa, wenn wir Wissen durch direkte und unvermutete Wahrnehmung erwerben? Ich sehe beispielsweise, dass ein bestimmter Kollege in der Institutsbibliothek ein Buch liest, obwohl ich ihn eigentlich an einem ganz anderen Ort vermutet hätte. Ich weiß also, dass dieser Kollege im Institut ist, ohne dass ich dafür irgendeine intelligente Nachforschung hätte anstellen müssen. Ich weiß es ganz unmittelbar. Nun könnte man sagen, dass ich selbst in einem solchen Fall eine Denkhandlung vollziehen muss. Ich muss die geeignete Proposition in Gedanken erwägen und schließlich akzeptieren. Und das wäre doch immer noch eine minimale intelligente Handlung. Man kann so sprechen. Wichtig ist jedoch, dass man dann von Handlungen im uneigentlichen Sinne spricht. Gedanken und Überzeugungen stellen sich nämlich nicht willentlich ein. Nur wenn eine willentliche, intentionale Handlung vorliegt, gilt jedoch, dass diese Handlung das Produkt eines Wissens-wie ist. Der problematische Regress ergibt sich nur, wenn jedes Wissen-dass eine Handlung in diesem starken Sinne einschließt. Und das



3.0 Formen des Wissens 

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ist einfach nicht der Fall. Deshalb kann auch Ryles zweites Argument nicht überzeugen. Der stärkste Einwand gegen die intellektualistische Legende ergibt sich, wenn man sie in Reinform vertritt. Das ist dann der Fall, wenn man nicht nur behauptet, dass Wissen-wie propositionales Wissen-dass in der einen oder anderen Form voraussetzt, sondern wenn man behauptet, dass Wissen-wie eigentlich nichts anderes ist als Wissen-dass.113 Damit würde man eine strenge Reduktionsthese vertreten. In diesem Fall stellt sich das Problem des Intellektuellen ein. Stellen Sie sich folgenden Fall vor. Franz ist ein renommierter und äußerst gebildeter Gelehrter. Er weiß alles über die Theorie des Tanzes. Sein besonderes Spezialgebiet ist der Tango. Er kennt selbst die raffiniertesten Varianten der verschiedenen Figuren. Und er ist auch ein Experte auf dem Gebiet der Motorik des Tanzens. Doch wenn er abends mit seiner Frau bei einer festlichen Gelegenheit Tango tanzen soll, versagt er kläglich. Er weiß theoretisch alles, was man überhaupt nur über diesen Tanz wissen kann, aber er weiß nicht, wie er Tango tanzen soll. Dieser Fall scheint eindeutig dafür zu sprechen, dass theoretisches Wissen-dass nicht hinreichend ist für das praktische Wissen-wie. Doch auch hier ist die Sache nicht so eindeutig, wie es zunächst aussieht. Es ist nämlich nicht klar, ob Franz aus seinen Büchern tatsächlich einschränkungslos alles propositionale Wissen über den Tango erwerben kann. Er kann so nämlich nicht lernen, was aus seiner eigenen Perspektive in der jeweiligen Wahrnehmungssituation nötig ist, um bestimmte Figuren zu tanzen, die er tanzen möchte. Dazu sind sehr viele Propositionen mit feinmotorischem Inhalt erforderlich, und zwar Propositionen aus der eigenen subjektiven Perspektive. Solche perspektivischen und situativen Propositionen erwirbt man nicht abstrakt aus Büchern, sondern normalerweise durch praktische Übung. Wenn es sie gibt, sind sie uns auch nicht alle bewusst zugänglich. Aber beides spricht nicht dagegen, dass es sich um propositionales Wissen einer besonderen Form handelt. Der Fall des ungeschickten Tänzers zeigt nur, dass eine vollständige Kenntnis reiner Beschreibungen nicht ausreicht, um praktisches Wissen zu erklären. Selbstverständlich soll hier nicht der Anspruch erhoben werden, eine Reduktion von Wissen-wie auf Wissen-dass durchgeführt zu haben. Ich möchte nur betonen, dass das Problem des Intellektuellen allein nicht ausreicht, um die Möglichkeit einer solchen Reduktion zu widerlegen. Es gibt allerdings einen weiteren, ziemlich guten Einwand gegen den Intellektualismus. Danach können wir

113 Vertreten wird diese These von Stanley/Williamson 2001.

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 3 Wissen

Wissen-wie auch durch eine rein zufällig wahre Gebrauchsanleitung erwerben, während für Wissen-dass die Zufälligkeit der Wahrheit ausgeschlossen ist.114 Gleichwohl soll hier nicht endgültig ausgeschlossen werden, dass alle Formen des Wissens auf propositionales Wissen-dass reduzierbar sein könnten. Doch selbst wenn eine solche Reduktion nicht gelingen würde, gäbe es gute Gründe für die Vorrangstellung des propositionalen Wissens. Erstens ist nur dieses Wissen übertragbar. Wir können es durch Kommunikation anderen Personen mitteilen. Und wir können es durch gültige Schlüsse weiter verarbeiten. Zweitens ist nur dieses Wissen relevant, wenn das zentrale Ziel der Erkenntnistheorie die Wahrheit ist. Formen des Wissens Es gibt vier voneinander unterscheidbare Formen des Wissens: (1) Wissen-dass bezieht sich auf wahrheitsfähige Propositionen. (2) Wissen durch Bekanntschaft bezieht sich auf Gegenstände (Personen, Dinge, Ereignisse). (3) Wissen-wie-es-ist bezieht sich auf die eigenen phänomenalen Zustände. (4) Wissen-wie bezieht sich auf praktisches Können. Eine Reduktion aller Formen des Wissens auf Wissen-dass ist unter Umständen möglich. In jedem Fall aber ist das Wissen-dass das zentrale Thema der Erkenntnistheorie.

3.1 Die Standardanalyse des propositionalen Wissens: gerechtfertigte, wahre Überzeugung Nach traditioneller Auffassung liegt Wissen-dass115 vor, wenn eine Person eine wahre Überzeugung hat, die zusätzlich gerechtfertigt ist. Dieser Definitionsvorschlag* für propositionales Wissen lässt sich bereits bei Platon nachweisen. Im Menon sagt Sokrates: „(…) auch die richtigen Überzeugungen sind eine schöne Sache, solange sie bleiben, und bewirken alles Gute; lange Zeit aber pflegen sie nicht zu bleiben, sondern gehen davon aus der Seele des Menschen, so dass sie doch nicht viel wert sind, bis man sie bindet durch Aufweisung ihrer Begründung. Und dies, Freund Menon, ist eben die Erinnerung, wie wir im Vorigen zugestanden haben. Nachdem sie aber gebunden werden, werden sie zuerst Erkenntnis (gr.: episteme = Wissen) und dann auch bleibend. Und deshalb nun ist die

114 Vgl. Cath 2011. 115 Wenn ich im Folgenden ohne weitere Qualifikation von „Wissen“ spreche, meine ich immer propositionales Wissen.



3.1 Die Standardanalyse des propositionalen Wissens 

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Erkenntnis höher zu schätzen als die richtige Überzeugung, und es unterscheidet sich eben durch das Gebundensein die Erkenntnis von der richtigen Überzeugung.“116

Sokrates behauptet hier eigentlich gleich mehrere Dinge auf einmal. Erstens liegt Wissen dann und nur dann vor, wenn jemand zusätzlich zu der wahren Überzeugung (die Sokrates „richtig“ nennt) auch noch über eine Begründung verfügt. Sokrates macht also einen Vorschlag für die Definition von Wissen. Zweitens sagt er etwas über die Funktion der Begründung aus. Die Begründung soll die wahre Überzeugung „binden“, so dass sie eine stabile Verankerung im Überzeugungshaushalt der Person bekommt und nicht so leicht verschwinden kann. Und drittens behauptet Sokrates, dass Wissen aufgrund dieser Stabilität mehr wert ist als eine Überzeugung, die bloß wahr ist. Das ist die Mehrwertthese. Ich möchte an dieser Stelle zunächst nur den Definitionsvorschlag von Platon aufgreifen. Er lautet etwas formaler gefasst: Ein Subjekt S weiß die Proposition, dass p, genau dann, wenn: (i) S überzeugt ist, dass p (ii) die Proposition, dass p, wahr ist (iii) S in seiner Überzeugung, dass p, gerechtfertigt ist. Diese Definition des Wissens ist in der Folgezeit bis hin zu Gettiers Gegenbeispielen in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts die allein maßgebliche Definition gewesen, auch wenn sich die Formulierungen dieser Definition bisweilen stark unterschieden haben. Ich werde diese Definition deshalb auch als Standardanalyse des Wissens bezeichnen. Gemäß der Standardanalyse liegt Wissen genau dann vor, wenn die Überzeugungs-, die Wahrheits- und die Rechtfertigungsbedingung erfüllt sind. Was spricht für die einzelnen Bedingungen? Sehen wir uns zunächst die Überzeugungsbedingung an. Stellen Sie sich für einen Moment eine Welt ohne Lebewesen mit einer kognitiven Perspektive auf diese Welt vor. Unsere Welt ist zurzeit nicht von dieser Art, aber sie ist es vor der Entstehung höher entwickelten tierischen Lebens einmal gewesen und sie könnte sich unter ungünstigen Umständen auch wieder in diesen Zustand verwandeln. In einer solchen Welt kann es Information geben. Baumringe tragen beispielsweise Information über das Alter eines Baumes. Und die erkaltete Lava trägt Information über einen vorhergehenden Vulkanausbruch. Information ist nicht auf eine kognitive Perspektive angewiesen. Es genügt, wenn es eine gesetzmäßige Beziehung zwischen dem Träger der Information und dem, worüber er Information trägt, gibt.117 Aber in einer Welt

116 Platon 1970, Menon 97e-98a; meine Hervorhebung. Übersetzung leicht abgeändert. 117 Vgl. zum Informationsbegriff Dretske 1981.

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 3 Wissen

ohne kognitive Perspektive kann es kein Wissen geben. Wissen liegt nur vor, wenn der Gegenstand des Wissens von jemandem kognitiv erfasst wird. Propositionales Wissen kann deshalb nur vorliegen, wenn es jemanden gibt, der propositionale Einstellungen hat. Doch nicht jede propositionale Einstellung ist eine Überzeugung. Damit eine Überzeugung vorliegt, müssen zwei Bedingungen erfüllt sein. Erstens muss eine bestimmte Entsprechungsrichtung vorliegen. Überzeugungen müssen sich nach der Welt richten, um korrekt zu sein, und nicht umgekehrt (wie es z. B. bei Wünschen der Fall ist).118 Und zweitens stimmt jemand, der von einer Proposition überzeugt ist, ihrem Inhalt zu. Er ist sich subjektiv sicher, dass es sich so verhält. Ganz anders verhält es sich, wenn jemand die Wahrheit einer Proposition nur in Erwägung zieht oder sogar nur erhofft. Die erste Bedingung ist im Fall des propositionalen Wissens offensichtlich erfüllt, denn wenn wir uns um Wissen bemühen, dann streben wir danach, die Welt so zu erfassen, wie sie ist. Wir streben nach Wahrheit. Der Maßstab für die Erfüllung ist dabei die Welt. Was ist jedoch mit der zweiten Bedingung? Genügt es nicht vielleicht, dass wir die Wahrheit einer Proposition bloß in Erwägung ziehen oder vermuten, um (unter den geeigneten Zusatzbedingungen) Wissen zu haben? Müssen wir tatsächlich fest an sie glauben? Es scheint ein einfaches Argument für die Richtigkeit der Überzeugungsbedingung zu geben. Es ist nämlich absurd zu sagen „Ich weiß, dass Aristoteles der Schüler von Platon war, aber ich bin mir total unsicher.“ Doch wenn Wissen mit Unsicherheit unverträglich ist, dann erfordert Wissen offenbar subjektive Sicherheit, d. h. eine feste Überzeugung. Es ist jedoch fraglich, ob die vorangehende Äußerung wirklich logisch widersprüchlich ist. Die Absurdität der Äußerung könnte auch auf der pragmatischen Ebene liegen. Wenn ich sage „Ich weiß, dass Aristoteles der Schüler von Platon war“, dann möchte ich damit offenbar dem Hörer zu verstehen geben, dass ich keinen Zweifel daran habe, dass es sich so verhält, und diese kommunikative Absicht würde durch die Ergänzung „aber ich bin mir total unsicher“ zunichte gemacht. Doch nicht alles, was ich jemandem durch meine Äußerung zu verstehen gebe, ist auch tatsächlich logisch in der Aussage enthalten. Wenn ich zum Beispiel sage „Einigen Besuchern der Ausstellung haben die Bilder gefallen“, dann gebe ich meinem Zuhörer damit zu verstehen, dass die Bilder nicht allen Besuchern gefallen haben. Aber das wird sicher

118 Searle 1983, S. 7 f., unterscheidet zwei Entsprechungsrichtungen (directions of fit). Überzeugungen und Aussagen haben eine Geist-zu-Welt Entsprechungsrichtung: Der Geist oder die Sätze sollen sich der Welt anpassen. Wünsche oder Versprechen haben eine Welt-zu-Geist Entsprechungsrichtung: Die Welt soll dem Geist entsprechen.



3.1 Die Standardanalyse des propositionalen Wissens 

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nicht logisch durch den Satz impliziert. Denn wenn die Bilder einigen Besuchern gefallen haben, dann ist es logisch damit verträglich, dass sie allen Besuchern gefallen haben. Das einfache Argument erweist sich also als zu einfach. Andererseits gibt es einige Einwände gegen die Überzeugungsbedingung des Wissens. Stellen Sie sich zunächst den Studenten Jörg vor, der mit sehr schlechten Vornoten in eine Prüfung geht, die er aber dennoch mit Ach und Krach besteht. Als er das positive Ergebnis von seinen Prüfern erfährt, sagt Jörg: „Ich weiß, dass ich diese Prüfung bestanden habe, aber ich kann es noch gar nicht glauben.“ Diese Aussage enthält offenbar keinen logischen Widerspruch. Doch dann muss es möglich sein zu wissen, dass p, ohne überzeugt zu sein (zu glauben), dass p. Denn wenn man etwas nicht glauben kann, dann glaubt man es auch nicht. Was unmöglich ist, ist auch nicht wirklich. Meines Erachtens ist dies jedoch nur ein scheinbares Gegenbeispiel. Jörg will nicht sagen, dass er weiß, dass p, ohne zu glauben, dass p. Er will eigentlich sagen, dass sein neues Wissen (über die bestandene Prüfung) einschließlich der zugehörigen Überzeugung nicht zu seinen Vorüberzeugungen und Erwartungen passt. Es gibt jedoch noch ein weiteres Gegenbeispiel, das man ernster nehmen muss. Stellen Sie sich einen Studenten der Geschichte vor, der sich nicht mehr daran erinnern kann, dass er auch einmal etwas über die Stauferzeit gelernt hat. Als er über einige Daten dieser Zeit ausgefragt wird, ist er zwar äußerst unsicher und glaubt zu raten, aber seine Antworten erweisen sich stets als richtig.119 Würde man nicht sagen, dass er die Daten wusste, obwohl er sich unsicher war und deshalb keine Überzeugungen hatte? Ich bin mir nicht sicher, ob wir dem Studenten tatsächlich Wissen zuschreiben müssen oder ob wir ihn nicht nur als einen zuverlässigen Informanten ohne Wissen im strikten Sinne betrachten können. Doch selbst wenn wir Wissen zuschreiben, ist in dem Fall nicht ganz klar, ob die Überzeugungen tatsächlich fehlen. Sicher hat der Student keine bewussten Überzeugungen. Aber seine Antworten könnten die Manifestation dispositionaler Überzeugungen sein. Die Unsicherheit des Studenten wäre dann nur darauf zurückzuführen, dass er kein Wissen von diesen Überzeugungen hat, sondern im Gegenteil glaubt, dass er das Wissen und die dazugehörigen Überzeugungen nicht besitzt. Der Fall scheint nicht ganz eindeutig entscheidbar zu sein. Solange jedoch keine eindeutigen Gegenbeispiele gegen die Überzeugungsbedingung existieren, werde ich weiterhin annehmen, dass die Überzeugungsbedingung richtig ist. Was spricht für die Wahrheitsbedingung des Wissens? Warum muss eine gewusste Proposition wahr sein? „Wissen“ ist ähnlich wie „wahrnehmen“ oder

119 Vgl. dazu Radford 1966.

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 3 Wissen

„erinnern“ ein Erfolgsverb. Genauso wenig, wie wir wahrnehmen können, ohne dass der wahrgenommene Gegenstand existiert, oder uns erinnern können, ohne dass es das erinnerte Ereignis in der Vergangenheit gibt, können wir wissen, ohne dass das, was wir wissen (die Proposition), wahr ist. Unsere kognitive Perspektive muss eine Tatsache in der Welt erfassen, damit wir Wissen zuschreiben können; und das bedeutet nichts anderes, als dass die kognitive Perspektive wahr ist. Deshalb ist es absurd zu sagen „Er weiß die Antwort, aber er irrt sich mit dem, was er sagt.“ Über die Wahrheitsbedingung des Wissens besteht allgemeine Einigkeit. Dennoch scheint es auch in diesem Fall ein Gegenbeispiel zu geben. Ich kann sagen „Ich wusste plötzlich, wie die Antwort lauten musste, und dennoch stellte sie sich im Nachhinein als falsch heraus.“ An dieser Äußerung ist nichts auszusetzen. Das scheint jedoch nahe zu legen, dass Wissen auch ohne Wahrheit möglich ist. Darauf sind zwei verschiedene Erwiderungen möglich. Man kann erstens sagen, dass „Wissen“ mehrdeutig ist und dass Wissen in einem Sinne nur subjektive Sicherheit und nicht objektive Wahrheit verlangt. Wissen in diesem subjektiven Sinne spielt für philosophische Analysen jedoch keine Rolle und kann hier außer Acht gelassen werden. Oder man versteht die oben angeführte Äußerung so, dass es sich bei ihr um eine verkürzte (elliptische*) Äußerung handelt. Die vollständige Äußerung lautet dann: „Ich meinte zu wissen, wie die Antwort lauten musste, und dennoch stellte sie sich im Nachhinein als falsch heraus.“ Und die Wahrheit dieser Aussage ist vollkommen verträglich mit der Wahrheitsbedingung des Wissens. Ich kann nämlich auch dann glauben, dass ich etwas weiß, wenn ich es in Wirklichkeit nicht weiß, sondern mich irre. Die Wahrheitsbedingung des Wissens ist deshalb außerordentlich plausibel. Sehen wir uns jetzt die dritte Bedingung der Standardanalyse des Wissens an: die Rechtfertigungsbedingung. Was ist damit gemeint, dass eine Person gerechtfertigt ist, eine bestimmte Proposition zu glauben? Es wird sich später zeigen, dass es gar nicht so einfach ist, die richtige Antwort auf diese Frage zu geben. Zunächst einmal gibt es aber ein ganz naheliegendes Verständnis der Rechtfertigungsbedingung, welches auch die traditionelle Konzeption des Wissens bestimmt hat. Eine Person ist demnach gerechtfertigt, eine bestimmte Proposition zu glauben, wenn aus ihrer Perspektive etwas für die Wahrheit dieser Proposition spricht. Es muss einen Grund geben, der für die Wahrheit der Proposition spricht, und dieser Grund muss der Person bekannt sein. Es kann also danach nicht der Fall sein, dass jemand gerechtfertigt ist, ohne dass ihm der rechtfertigende Grund bewusst ist. Nach dieser Auffassung sind Gründe mentale Zustände der Person selbst. Peters Überzeugung, dass vor ihm ein Tisch steht, wird etwa dadurch gerechtfertigt, dass Peter einen bestimmten visuellen Eindruck von diesem Tisch hat. Und Iwans Überzeugung, dass er selbst sterblich ist, ist dadurch gerechtfertigt, dass er glaubt, dass alle Menschen sterblich sind und er selbst ein Mensch ist. Im



3.1 Die Standardanalyse des propositionalen Wissens 

 71

ersten Fall liegt eine direkte perzeptuelle Rechtfertigung vor, im zweiten Fall eine argumentative oder inferenzielle* Rechtfertigung. Doch in beiden Fällen verfügen die Personen über rechtfertigende Gründe, die zu ihrer kognitiven Perspektive gehören. Um das Charakteristikum dieser Rechtfertigung hervorzuheben, werde ich in solchen Fällen von einer internen Rechtfertigung sprechen. Intern ist diese Rechtfertigung, weil sie durch kognitive Faktoren der Person bestimmt wird und nicht durch irgendwelche objektiven Tatsachen. Was spricht nun dafür, dass für Wissen eine solche interne Rechtfertigung erforderlich ist? Platon argumentiert an der bereits zitierten Stelle aus dem Menon wie folgt: Wissen verlangt nach einer gewissen Stabilität. Es darf nicht flüchtig sein, wie Wahrheiten, auf die man durch Herumraten oder bloße Vermutung zufällig stößt. Solange man keine Gründe für die eigenen Auffassungen hat, können sich diese – je nachdem, was man hört oder sieht – wie Fähnchen im Wind drehen. Eine Begründung verankert dagegen die wahren Auffassungen im Überzeugungshaushalt. Solange ich über gute Gründe verfüge, die für eine bestimmte Proposition sprechen, werde ich sie nicht einfach bei der nächsten Gelegenheit aufgeben, sondern an ihr festhalten, auch wenn andere etwas anderes sagen oder der oberflächliche Augenschein gegen sie spricht. In diesem Sinne sind gute Gründe ein stabilisierender Faktor. Deshalb hält Platon sie für ein unabdingbares Element des Wissens. Sein Argument lässt sich in die folgende Form bringen: (1) (2)

Wissen ist dasselbe wie stabile wahre Überzeugung. Wahre Überzeugung ist nur dann stabil, wenn sie intern gerechtfertigt ist.

Also: Wissen setzt eine interne Rechtfertigung voraus. Platons Argument kann nicht wirklich überzeugen, weil beide Prämissen angreifbar sind. Gegen Prämisse (2) spricht, dass die interne Rechtfertigung nicht notwendig für die Stabilität einer Überzeugung ist. Jede hinreichend feste Überzeugung ist stabil, ganz egal, ob sie auf Gründen beruht oder aus einer dogmatischen* oder gar fanatischen Haltung des Überzeugungsinhabers resultiert. Eine interne Rechtfertigung ist nicht einmal hinreichend für die Stabilität der wahren Überzeugung, denn Rechtfertigungen sind rational erschütterbar durch gute Einwände oder kritische Reflexion. Und manchmal führen diese Einwände dann auf rationale Weise weg von der Wahrheit. Außerdem kann die bindende Kraft von Gründen immer durch irrationale Faktoren überwunden werden. Obwohl die dem Richter bekannten Indizien die Unschuld eines Beschuldigten nahe legen (und die Proposition rechtfertigen, dass der Beschuldigte unschuldig ist), kann der Richter dennoch zu der Überzeugung kommen, dass der Beschuldigte schul-

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 3 Wissen

dig ist, wenn er gegen ihn aus persönlichen oder rassistischen Gründen voreingenommen ist. Gute Gründe sind also weder der einzige Faktor, der für Stabilität unter den Überzeugungen sorgt, noch können sie diese Stabilität garantieren. Wenn man sich das vor Augen hält, dann wird auch schnell klar, dass Prämisse (1) nicht richtig sein kann. Es lassen sich nämlich mühelos Fälle denken, in denen jemand eine stabile wahre Überzeugung hat, wir jedoch intuitiv davor zurückschrecken, ihm Wissen zuzuschreiben. Im Jahr 2002 gab es in den USA in der Nähe der Hauptstadt Washington zwei schwarze Heckenschützen, die aus ihrem Auto heraus immer wieder willkürlich ausgewählte Passanten erschossen und damit über Wochen die Öffentlichkeit in Panik versetzten. Angenommen jemand hätte in dieser Situation – und zwar noch bevor man herausfand, wer die Täter waren – aufgrund seiner fest verankerten rassistischen Vorurteile geglaubt, dass Schwarze die Täter seien. Dann hätte er eine felsenfeste (und damit stabile) wahre Überzeugung gehabt. Aber wir würden ihm kein Wissen zuschreiben. Also ist auch Prämisse (1) falsch. Doch auch wenn Platons Argument für die Rechtfertigungsbedingung des Wissens nicht überzeugen kann, weist das letzte Beispiel bereits den Weg zu einem besseren Argument. Wenn eine stabile wahre Überzeugung kein Wissen darstellt, weil die Überzeugung auf einem Vorurteil beruht, dann liegt es nahe, daraus die Konsequenz zu ziehen, dass in diesem Fall der Überzeugung die Rationalität fehlt. Das Defizit besteht also anscheinend gerade in den fehlenden guten Gründen. Auf diese Weise lässt sich auch die Rechtfertigungsbedingung des Wissens plausibilisieren. Die Standardanalyse des Wissens hat sich also als plausibel erwiesen. Standardanalyse des Wissens: Ein Subjekt S weiß die Proposition, dass p, genau dann, wenn: (i) S überzeugt ist, dass p (ii) die Proposition, dass p, wahr ist (iii) S in seiner Überzeugung, dass p, gerechtfertigt ist.

Bevor wir zu den Problemen der Standardanalyse kommen, möchte ich darauf aufmerksam machen, dass es in der erkenntnistheoretischen Tradition zwei unterschiedliche Auffassungen über die Stärke der Rechtfertigung gibt. Nach dem ersten Modell muss Rechtfertigung Wahrheit garantieren; eine gerechtfertigte Überzeugung muss gewiss sein. In der Neuzeit war Descartes vermutlich der wichtigste Vertreter dieses Gewissheitsmodells, aber auch Platon und Aristoteles gehörten bereits in der Antike zu seinen Anhängern. Im Kern besagt dieses Modell, dass eine Überzeugung nur dann gerechtfertigt ist, wenn ihre Wahrheit durch Gründe objektiv garantiert wird und dies auch aus der subjektiven Perspek-



3.1 Die Standardanalyse des propositionalen Wissens 

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tive erfasst wird. Eine in diesem Sinne gewisse Überzeugung kann weder falsch noch für denjenigen, der sie hat, zweifelhaft sein. Nach Descartes können wir diese Rechtfertigung nur auf dem Wege rationaler Intuition, d. h. unmittelbarer intellektueller Einsicht in die Wahrheit der Proposition, und logisch-deduktiver Schlussfolgerung aus den Ergebnissen dieser rationalen Intuition erzielen.120 Dem Gewissheitsmodell steht das Wahrscheinlichkeitsmodell der Rechtfertigung gegenüber. Es wurde vor allem von den Pragmatisten (C. S.  Peirce war hier der Vorreiter) und einigen Logischen Empiristen vertreten. Es gab jedoch schon in der Antike (unter den Akademischen Skeptikern) und in der frühen Neuzeit (etwa bei Locke) Vorläufer dieses Modells. Nach diesem Modell gilt eine Überzeugung bereits dann als gerechtfertigt, wenn es Gründe dafür gibt, dass die Überzeugung wahrscheinlich wahr ist. Die Gründe müssen die Wahrheit der Überzeugung nicht erzwingen, um Rechtfertigungskraft zu bekommen. Das Wahrscheinlichkeitsmodell erlaubt eine Rechtfertigung von Überzeugungen über die umgebende Außenwelt aufgrund einer Sinneserfahrung, obwohl diese Sinneserfahrung auch dann auftreten könnte, wenn die Überzeugung falsch wäre, beispielsweise im Fall von schlechten Wahrnehmungsbedingungen, Illusionen oder Halluzinationen. Und das Wahrscheinlichkeitsmodell erlaubt auch einen Transfer der Rechtfertigung über induktive Inferenzen*. Ein typischer Fall einer induktiven Inferenz ist die folgende enumerative Induktion: Alle bisher beobachteten Schwäne sind weiß. Deshalb sind alle Schwäne weiß. Ein solcher Schluss kann (im Unterschied zum deduktiven Schluss) die Wahrheit der Konklusion selbst dann nicht erzwingen, wenn die Prämissen wahr sind. Ein gültiger induktiver Schluss aufgrund von vollständig wahren Prämissen kann also zu einer falschen Konklusion führen. Er kann die Wahrheit der Konklusion nicht garantieren, sondern nur wahrscheinlich machen. Der Unterschied zwischen beiden Modellen besteht nicht nur darin, dass nach dem Gewissheitsmodell die Rechtfertigung die Wahrheit erzwingt, während sie nach dem Wahrscheinlichkeitsmodell die Wahrheit nur wahrscheinlich macht. Viel gravierender sind die Unterschiede in der Dynamik der Rechtfertigung, die beide Modelle nach sich ziehen. Nach dem Gewissheitsmodell kann die Rechtfertigung einer Überzeugung durch keine zusätzlichen Informationen erschüttert werden. Wenn eine Überzeugung den Status von Gewissheit erlangt, dann behält sie ihn für alle Zeiten. Erkenntnisfortschritt kann es nur insofern geben, als wir den Umfang unserer gerechtfertigten Überzeugungen um weitere Gewissheiten erweitern können. Gewissheit führt also zu einer stabilen Rechtfertigung (aber nicht unbedingt zu einer stabilen Überzeugung, wie Platon meint).

120 Vgl. Descartes 1973, Regulae, Regel 3.

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 3 Wissen

Aus der Perspektive des Wahrscheinlichkeitsmodells sieht die Sache ganz anders aus. In diesem Modell bleibt jede Rechtfertigung angreifbar. Sobald wir entsprechende neue Informationen bekommen, können Gründe, die bislang ausreichten, um eine Überzeugung zu rechtfertigen, ihre rechtfertigende Kraft verlieren. Die Rechtfertigung im Wahrscheinlichkeitsmodell bleibt also stets vorläufig und ist niemals sicher vor einer Revision. Sehen wir uns die Logik dieser Revision etwas genauer an.121 In der Fachterminologie der Erkenntnistheorie spricht man davon, dass Wahrscheinlichkeitsgründe anfechtbar sind. Die Rechtfertigung R einer Person S für ihre Überzeugung p ist genau dann de facto angefochten, wenn S zusätzliche Informationen erwirbt, die zusammen mit R die Überzeugung p nicht länger rechtfertigen. Bei Wahrscheinlichkeitsgründen ist es im Prinzip immer möglich, dass solche Zusatzinformationen erworben werden. Nehmen wir beispielsweise an, ich hätte einen visuellen Roteindruck. Diese Erfahrung spricht dafür, dass sich vor mir ein roter Gegenstand befindet. Deshalb rechtfertigt er meine Überzeugung, dass sich vor mir ein roter Gegenstand befindet. Nehmen wir nun weiter an, ich würde aus glaubhafter Quelle erfahren, dass ich mich in einem Raum ohne rote Gegenstände befinde. Wenn ich beides zusammen betrachte, meinen Roteindruck und die glaubhafte Versicherung, dass in dem Raum, in dem ich mich gerade aufhalte, keine roten Gegenstände sind, dann bin ich nicht länger in meiner Überzeugung gerechtfertigt, dass sich vor mir ein roter Gegenstand befindet. Die Gründe für und gegen diese Überzeugung heben sich gegenseitig auf. Ich hatte zunächst einen Grund, der für die Wahrheit meiner Überzeugung sprach, und habe nun einen Grund erworben, der gegen ihre Wahrheit spricht. Ich habe einen widerlegenden Anfechtungsgrund. Es gibt daneben noch eine andere Art von Anfechtungsgründen, die unterminierenden Anfechtungsgründe. Rufen Sie sich wieder die Situation von gerade eben vor Augen. Ich habe einen Roteindruck und glaube deshalb, dass sich ein roter Gegenstand vor mir befindet. Doch nun bekomme ich die Information, dass ich mich in einem Zimmer mit roter Beleuchtung befinde. Wenn ich meinen Roteindruck und die Information, dass ich mich in einem Zimmer mit roter Beleuchtung befinde, zusammen nehme, dann bin ich nicht länger gerechtfertigt zu glauben, dass sich vor mir ein roter Gegenstand befindet. In diesem Fall jedoch nicht deshalb, weil etwas gegen die Wahrheit meiner Überzeugung spricht, sondern weil die Rechtfertigungskraft meines Grundes für diese Überzeugung neutralisiert wird. Bei roter Beleuchtung sehen nämlich nicht nur rote Dinge rot aus, sondern zum Beispiel auch weiße.

121 Vgl. zum Folgenden Pollock 1986, S. 37–39.



3.1 Die Standardanalyse des propositionalen Wissens 

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Auch die inferenzielle Rechtfertigung durch induktives Schließen erweist sich als anfechtbar. Betrachten wir das oben bereits angeführte Beispiel für einen induktiven Schluss etwas schematischer, dann sieht es etwa folgendermaßen aus: (1) (2) … (n)

Der erste beobachtete Schwan ist weiß. Der zweite beobachtete Schwan ist weiß. Der n-te beobachtete Schwan ist weiß.

Also: Alle Schwäne sind weiß. Wenn wir eine ausreichende Zahl weißer Schwäne beobachtet haben, d. h. wenn die Prämissen (1) – (n) wahr sind, dann ist der Schluss auf die Konklusion (K) induktiv gültig. Induktive Schlüsse sind jedoch nicht-monoton. Sie können durch die Hinzufügung weiterer Prämissen (die die Wahrheit der bisherigen Prämissen unangetastet lassen) von gültigen in ungültige Schlüsse verwandelt werden. Bei deduktiven Schlüssen wird dagegen eine Erweiterung der Prämissenmenge die Gültigkeit niemals beeinträchtigen können. Im Fall des hier betrachteten induktiven Schlusses können wir zum Beispiel die folgende Prämisse hinzufügen: (n+1) Der n+1-te Schwan ist schwarz. Sofort wäre der induktive Schluss auf (K) nicht mehr gültig. Die Prämissenmenge wäre sogar logisch unverträglich mit der Konklusion (K). Induktive Schlussfolgerungen dürfen aber niemals ihren Prämissen widersprechen. Zwei Modelle der Rechtfertigung: Gewissheit versus Wahrscheinlichkeit Nach dem Gewissheitsmodell müssen die rechtfertigenden Gründe die Wahrheit der Überzeugung objektiv und aus der subjektiven Perspektive garantieren. Die Rechtfertigung ist absolut unanfechtbar. Nach dem Wahrscheinlichkeitsmodell müssen die rechtfertigenden Gründe die Wahrheit der Überzeugung nur wahrscheinlich machen. Jede Rechtfertigung ist prinzipiell anfechtbar.

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3.2 Das Gettierproblem Die Standardanalyse des Wissens konnte sich bis 1963 (nahezu) unbehelligt behaupten.122 Bis dahin hatte diese Analyse geradezu den Status eines evidenten Prinzips. In diesem Jahr erschien ein kleiner, eineinhalbseitiger, fast unscheinbarer Artikel des zu diesem Zeitpunkt völlig unbekannten amerikanischen Philosophen Edmund Gettier in der renommierten Zeitschrift Analysis. Wenn man der Legende glauben darf, handelte es sich eher um das Zufallsprodukt eines verzweifelt um seine akademische Weiterbeschäftigung kämpfenden Nachwuchswissenschaftlers, der bis dahin einfach zu wenig publiziert hatte, um eine dauerhafte Anstellung an seiner Universität zu bekommen. Der unscheinbare Artikel enthielt zwei Beispiele, die zeigen sollten, dass die Standardanalyse des Wissens nicht hinreichend sein kann. Der Artikel schlug wie eine Bombe in der akademischen Welt ein und erschütterte die erkenntnistheoretische Orthodoxie nachhaltig. Vermutlich hat kein anderer philosophischer Text von solch bescheidenem Umfang jemals eine derartig überwältigende Rezeption erfahren. Dabei handelte es sich ironischerweise nur um eine philosophische Verlegenheitsarbeit. Zunächst nahm man an, dass Gettier kein sehr tief greifendes Problem entdeckt hatte und dass sich die Standardanalyse mit einigen technischen Tricks reparieren lasse. Auf jeden neuen Definitionsvorschlag wurden jedoch neue gettierähnliche Gegenbeispiele vorgebracht, so dass sich die Abfolge von Definitionsvorschlägen und Gegenbeispielen bald zu einer ganzen Industrie verselbständigte. Deshalb zweifeln mittlerweile nicht wenige Erkenntnistheoretiker daran, dass man überhaupt eine vollständig zufriedenstellende Definition des Wissens finden kann oder dass die Suche nach Definitionen überhaupt ein sinnvolles philosophisches Projekt ist.123 Ich glaube jedoch, dass Gettiers Beispiele auf einen substantiellen Defekt der Standardanalyse hinweisen, der nur durch eine grundlegende Revision dieser Definition behoben werden kann. Diese Revision ist kein unendliches und unabschließbares Projekt, sondern unter den Vorschlägen für eine neue Wissensdefinition aus der Zeit nach Gettier finden sich einige sehr brauchbare Kandidaten. Dabei sollen im Folgenden ganz deutlich Vor- und Nachteile dieser verschiedenen Vorschläge herausgearbeitet werden. Sehen wir uns zunächst die beiden ursprünglichen Gettier-Fälle an:

122 Es gab im Mittelalter, in der indisch-tibetanischen Tradition, bei Meinong und Russell bereits Argumente gegen die Standardanalyse des Wissens, die Gettiers weiter unten dargestellte Überlegungen teilweise antizipiert haben. Sie haben jedoch die Diskussion nicht nachhaltig beeinflusst. Vgl. Martens 2011; Stoltz 2007; Meinong 1973, S. 398–399; Russell 1967. 123 Craig 1993, S. 24; Baumann 2002, S. 86; Williamson 2000, S. 4.



3.2 Das Gettierproblem 

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Fall 1: Smith und der unverhoffte Job124 Zwei Arbeitssuchende, nennen wir sie Smith und Jones, haben sich bei einer Firma auf dieselbe Stelle beworben. Smith hat nun glaubhaft vom Personalchef erfahren, dass sich die Firma letzten Endes für seinen Konkurrenten Jones entscheiden wird. Er hat außerdem beiläufig gesehen, dass Jones zehn Münzen in seiner Hosentasche mit sich herumträgt. Damit hat er gute Gründe für seine Überzeugung: (1) Jones ist derjenige, der die Stelle bekommt, und Jones hat zehn Münzen in seiner Hosentasche. Daraus zieht er nun folgenden deduktiven Schluss: (2) Derjenige, der die Stelle bekommt, hat zehn Münzen in seiner Hosentasche. Nun ereignen sich zufällig zwei Dinge, von denen Smith nichts weiß. Erstens hat Smith selbst auch genau zehn Münzen in seiner Hosentasche und zweitens bekommt er und nicht Jones am Ende die Stelle, trotz der gegenteiligen Vorabinformation. Wenn sich das alles zufällig so abspielt, wie Gettier annimmt, dann ist Smiths Überzeugung (2) wahr und gerechtfertigt. Dennoch würden wir ihm kein Wissen zuschreiben. Also, folgert Gettier, ist die Standardanalyse des Wissens falsch. Jemand kann eine gerechtfertigte, wahre Überzeugung besitzen und dennoch kein Wissen haben. Die Standardanalyse ist nicht hinreichend für Wissen. Zunächst müssen wir uns klar machen, warum Smiths Überzeugung (2) gerechtfertigt und wahr ist. Smith hat offenbar gute Wahrscheinlichkeitsgründe für seine Überzeugung (1). Er hört aus zuverlässiger Quelle, dass Jones die Stelle bekommen wird, und er sieht, dass Jones zehn Münzen in seiner Hosentasche hat. Beide Gründe garantieren die Wahrheit nicht, denn zuverlässige Informanten können auch einmal Fehler machen (was im vorliegenden Fall ja auch passiert) und die Sinneserfahrung ist sicher nicht untrüglich. Es handelt sich also nicht um rechtfertigende Gründe nach dem Gewissheitsmodell, aber um Gründe, die wir im Alltag zumindest als gute Gründe akzeptieren würden. Nach dem Wahrscheinlichkeitsmodell der Rechtfertigung ist (1) also gerechtfertigt. Aber (1) ist eine falsche Konjunktion*. Eine solche Konjunktion (eine aussagenlogische Und-Verknüpfung) ist bereits falsch, wenn ein Teilsatz falsch ist. Und das ist hier der Fall, da Jones die Stelle tatsächlich nicht bekommt. (1) ist also eine falsche Überzeugung, die aber nach dem Wahrscheinlichkeitsmodell der Rechtfertigung dennoch gerechtfertigt ist.125 Aus dieser gerechtfertigten falschen Überzeugung folgert Smith nun deduktiv korrekt (2). Dass es sich so verhält, kann man sich schnell klar machen.

124 Gettier 1987. 125 Zu diesem Modell einer fehlbaren Rechtfertigung bekennt sich Gettier ausdrücklich: „In dem Sinn von ‚gerechtfertigt‘, in dem es eine notwendige Bedingung für S’ Wissen von P ist, dass

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 3 Wissen

Wenn man (2) so versteht, dass der Satz besagt: „Es gibt jemanden, der die Stelle bekommt und der zehn Münzen in seiner Hosentasche hat“, dann kommt man von (1) zu (2) durch existentielle Generalisierung.126 Wenn es eine ganz bestimmte Person gibt, die die Stelle bekommt und die zehn Münzen in der Hosentasche hat, dann muss es irgendjemanden geben, der die Stelle bekommt und zehn Münzen in der Hosentasche hat. Wenn man jedoch von einer gerechtfertigten (wenn auch falschen) Überzeugung durch einen deduktiv korrekten Schluss zu einer anderen Überzeugung übergeht, dann ist es sehr plausibel, dass man auch in der Konklusion gerechtfertigt ist. Gettier selbst weist explizit darauf hin, dass er dieses Prinzip der Geschlossenheit der Rechtfertigung unter logischer Ableitung in seiner Argumentation voraussetzt.127 Aber dieses Prinzip ist von überwältigender Plausibilität. Wir verwenden es täglich in unseren Argumenten, wenn wir eine Reihe von Prämissen rechtfertigen, daraus dann logisch eine Konklusion ableiten und annehmen, dass auch die Konklusion gerechtfertigt ist. Als Ergebnis lässt sich Folgendes festhalten: Wenn wir das Wahrscheinlichkeitsmodell der Rechtfertigung zugrunde legen, dann ist Smith in seiner Überzeugung (1) gerechtfertigt (auch wenn sie falsch ist). Durch einen abschwächenden deduktiven Schluss gelangt er zu Überzeugung (2), die ebenfalls gerechtfertigt ist, da Rechtfertigung unter logischer Implikation geschlossen ist. (2) ist jedoch nicht nur gerechtfertigt, sondern auch wahr, und zwar wird (2) – für Smith ganz unerwartet – dadurch wahr gemacht, dass er selbst den Job bekommt und zehn Münzen in seiner Hosentasche hat. Smith hat mit (2) also eine gerechtfertigte, wahre Überzeugung. Dennoch zögern wir, ihm Wissen zuzuschreiben, weil seine gerechtfertigte Überzeugung (2) nur aufgrund eines glücklichen Zufalls wahr ist. Smith hat gewissermaßen Glück im Unglück, da er von einer gerechtfertigten Überzeugung, die unglücklicherweise falsch ist, glücklicherweise eine wahre Überzeugung logisch deduktiv ableitet. Dieses zufällige Erzielen der Wahrheit ist mit unserem Verständnis von Wissen offenbar unverträglich. Sehen wir uns nun Gettiers Fall 2 an:

S darin gerechtfertigt ist zu glauben, dass P, ist es möglich, dass jemand gerechtfertigt ist, etwas zu glauben, was in Wirklichkeit falsch ist.“ Vgl. Gettier 1987, S. 91. 126 (2) kann auch anders verstanden werden, nämlich so, dass der Ausdruck „derjenige, der die Stelle bekommt“ referentiell gedeutet wird. Smith würde sich dann mit dieser (falschen) Beschreibung auf Jones beziehen. Unter dieser Lesart würde (2) bedeuten: „Jones hat zehn Münzen in der Hosentasche.“ Diese Lesart scheidet jedoch aus, da Gettier der Auffassung ist, dass (2) durch die für Smith glückliche Wendung des Schicksals wahr gemacht wird. Wenn (2) „Jones hat zehn Münzen in der Hosentasche“ bedeuten würde, dann gäbe es auch keinen Grund mehr, mit der Wissenszuschreibung an Smith zu zögern. 127 Auch dieses Prinzip akzeptiert Gettier ausdrücklich, vgl. Gettier 1987, S. 91.



3.2 Das Gettierproblem 

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Meier und sein Golf128 Smith weiß, dass Meier immer schon einen Golf besessen hat, und er wird auch gerade wieder von Meier in einem Golf mitgenommen. Das sind für Smith hinreichende Gründe um die folgende Proposition zu glauben: (3) Meier besitzt einen Golf. Auch bei diesen Gründen handelt es sich natürlich nur um Wahrscheinlichkeitsgründe, also bestenfalls um Indizien, die für die Wahrheit von (3) sprechen. Aber es handelt sich um Gründe von einer Qualität, die wir üblicherweise als gute Rechtfertigungsgründe verstehen. Nun hat Smith einen Freund namens Krause, von dem er überhaupt nicht weiß, wo er sich derzeit befindet. Er lässt jedoch seine Phantasie spielen und denkt sich einen Ort aus, an dem sich Krause gerade aufhalten könnte. Wegen des Namens Krause kommt er auf Berlin. Da Smith jemand ist, der logische Spielereien liebt, erkennt er sofort, dass man aus (3) die folgende Proposition deduktiv folgern kann: (4) Meier besitzt einen Golf oder Krause hält sich in Berlin auf.129 Sobald Smith diesen Zusammenhang erkennt, gelangt er durch deduktive Inferenz aus seiner gerechtfertigten Überzeugung (3) zu der Überzeugung (4). Wenn das Prinzip der Geschlossenheit der Rechtfertigung unter logischer Implikation gilt, ist seine Überzeugung (4) gerechtfertigt. Nun passieren wieder zwei unerwartete Zufälle. Erstens besitzt Meier nämlich in Wirklichkeit seinen Golf nicht mehr, sondern fährt einen Mietwagen. (3) ist also falsch. Doch zweitens ist (4) dennoch wahr, weil sich Krause überraschenderweise tatsächlich in Berlin aufhält. Smiths Überzeugung (4) ist also gerechtfertigt und wahr. Gleichwohl würde man nicht sagen, dass Smith Wissen hinsichtlich von (4) besitzt. In diesem konkreten Fall ist es ein glücklicher Zufall, dass die gerechtfertigte Überzeugung wahr ist. Und eine zufällig wahre Überzeugung ist kein Fall von Wissen. Auch Gettiers zweiter Fall

128 Ich präsentiere eine leicht veränderte Version von Gettiers zweitem Beispiel, vgl. Gettier 1987, S. 92. 129 Ich habe die beiden ursprünglichen Gettierfälle aus Gründen der Präsentation leicht abgewandelt. An dieser Stelle weiche ich aber substantiell vom Original ab, weil Gettier annimmt, dass sich aus ‚p‘ ‚entweder p oder q‘ logisch folgern lässt. Das ist jedoch falsch. Aus einer beliebigen Proposition folgt nicht eine Verknüpfung dieser Proposition mit einer beliebigen anderen Proposition durch das ausschließende Oder. Das lässt sich leicht zeigen. Damit eine Folgerung logisch gültig ist, muss die Konklusion in jeder möglichen Bewertungssituation wahr sein, in der die Prämisse wahr ist. Es gibt jedoch Situationen, in denen ‚p‘ wahr ist und ‚entweder p oder q‘ nicht wahr ist. Eine solche Situation liegt vor, wenn ‚p‘ und ‚q‘ beide wahr sind. Eine solche Situation wird nämlich durch das ausschließende Oder negiert. Der Fehler lässt sich aber leicht beheben. Ich habe das ausschließende Oder bei Gettier einfach durch ein einschließendes Oder ersetzt. Solche Konstruktionen sind verträglich damit, dass beide Teilsätze wahr sind.

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zeigt also, dass die Standardanalyse des Wissens nicht hinreichend ist. Sie kann erfüllt sein, ohne dass Wissen tatsächlich vorliegt. Sehen wir uns etwas genauer an, was in den Gettierfällen schief geht. Aus der kognitiven Perspektive des Erkenntnissubjekts passieren keine Fehler. Smith bildet eine Überzeugung auf der Grundlage guter Wahrscheinlichkeitsgründe und folgert aus ihr auf logisch vollkommen korrekte Weise eine andere Überzeugung, die auf diesem inferenziellen Wege ihre Rechtfertigung erhält. Da Smith für seine Rechtfertigung nur Wahrscheinlichkeitsgründe zur Verfügung stehen, muss auch die Welt auf die richtige Weise mitspielen, damit seine inferenziell erworbene Überzeugung ein Fall von Wissen darstellt. In einer wichtigen Hinsicht tut sie das auch in den Gettierfällen. Die Schlussfolgerungen, die Smith zieht, sind nämlich wahr. Wenn dennoch in beiden Fällen kein Wissen zustande kommt, dann liegt das daran, dass die Welt in einer anderen Hinsicht nicht richtig mitspielt. Die Welt ist nämlich so beschaffen, dass die Gründe, die Smith zur Verfügung stehen, nicht auf die richtige Weise mit der Wahrheit seiner Schlussfolgerung verbunden sind. Der Fehler lässt sich noch genauer lokalisieren. In beiden Fällen gelangt Smith nämlich zu einer gerechtfertigten, wahren Konklusion auf dem Umweg über eine gerechtfertigte, falsche Prämisse. Wäre allein die Außenwelt geringfügig anders gewesen, dann hätten wir nicht gezögert, Smith Wissen zuzuschreiben. Die jeweiligen Prämissen hätten nur wahr sein müssen. Hätte also im Fall von Smith und dem unverhofften Job Jones die Arbeitsstelle bekommen, dann hätte Smith unter ansonsten gleichen Umständen Wissen gehabt. Hätte Meier im anderen Fall tatsächlich einen Golf besessen, dann hätte Smith auch in diesem Fall unter ansonsten gleichen Umständen Wissen gehabt. Die Umstände hätten nur so sein müssen, dass die Wahrheit der gerechtfertigten Überzeugung nicht zufällig eingetreten wäre. Damit haben wir eine äußerst wichtige Einsicht gewonnen. Wissen hängt nicht nur von einer gegenüber unserer kognitiven Perspektive externen Bedingung ab (der Wahrheit), sondern auch noch von einer zweiten. Damit aus wahrer Überzeugung Wissen wird, genügt es nicht, die geeignete kognitive Perspektive auf die Welt zu haben, sondern die Welt selbst muss ein weiteres Mal mitspielen, um den wissensgefährdenden Zufall auszuschließen. Welcher Art die wissensgenerierenden Zusatzfaktoren genauer sein müssen, um Gettierfälle zu vermeiden, darüber haben sich die Erkenntnistheoretiker nach Gettier erbitterte Debatten geliefert. Das wird uns noch eingehender beschäftigen. Wichtig ist an dieser Stelle nur, dass diese wissensgenerierenden Zusatzfaktoren externer Natur sein müssen. Dagegen scheint zunächst zu sprechen, dass die Gettierfälle nur ein Problem für die Standardanalyse des Wissens aufwerfen, wenn man das Wahrscheinlichkeitsmodell der Rechtfertigung und nicht das Gewissheitsmodell



3.2 Das Gettierproblem 

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zugrunde legt. Würden wir nämlich nur dann von einer Rechtfertigung sprechen, wenn die Gründe die Wahrheit der zu rechtfertigenden Überzeugung garantieren, dann könnte der Fall nicht eintreten, dass jemand in einer Überzeugung gerechtfertigt wäre, die falsch ist. Deshalb wären in beiden Fällen die Ausgangsprämissen nicht gerechtfertigt. Da man durch deduktive Inferenz aus ungerechtfertigten Prämissen jedoch keine gerechtfertigten Konklusionen gewinnen kann, wären auch die Schlussfolgerungen ungerechtfertigt, wenn auch wahr. Doch dass ungerechtfertigte, wahre Überzeugungen kein Wissen darstellen, ist mit der Standardanalyse vollkommen verträglich. Könnte man dann nicht sagen, dass nach dem Gewissheitsmodell Wissen allein von der kognitiven Perspektive abhängt? Es genügt offenbar, dass Überzeugungen gewiss sind, damit Wissen vorliegt. Doch in Wirklichkeit verbirgt hier die schillernde Natur des Gewissheitsbegriffes die externen Faktoren des Wissens. Umgangssprachlich spricht man häufig auch dann von Gewissheit, wenn eine unerschütterliche Überzeugung vorliegt. Gewissheit in diesem subjektiven Sinne hängt tatsächlich allein von der kognitiven Perspektive ab. Descartes’ Gewissheitsbegriff impliziert jedoch einen objektiven Zusammenhang mit der Wahrheit. Es kann demnach keine Gewissheit ohne eine Korrelation* mit der Welt vorliegen. Deshalb hängt Gewissheit in diesem terminologischen Sinne nicht allein von der kognitiven Perspektive ab. Nur in diesem Sinne gewisse Überzeugungen sind jedoch hinreichend für Wissen. Die Bedeutung der Gettierfälle Die Gettierfälle zeigen, dass Wissen nicht nur von einem externen Faktor abhängig ist (der Wahrheit), sondern auch noch von einem weiteren (der objektiven Nicht-Zufälligkeit der Wahrheit). Das Gettierproblem für die Standardanalyse Die Standardanalyse definiert Wissen als gerechtfertigte, wahre Überzeugung. Die Gettierfälle zeigen, dass es Fälle gerechtfertigter, wahrer Überzeugung gibt, die kein Wissen darstellen. Die Standardanalyse ist also falsch.

Die ursprünglichen Gettierfälle werfen, wie gesagt, ein Problem für die Standardanalyse des Wissens auf, weil sie zeigen, dass diese Wissensdefinition ohne zusätzliche externe Bedingungen nicht hinreichend ist. Es gibt deshalb einerseits die Strategie, die dreigliedrige Standardanalyse durch eine vierte (externe) Zusatzbedingung zu ergänzen. Andererseits kann man auch versuchen, die Bedingung einer internen Rechtfertigung ganz aufzugeben und durch eine rein externe dritte Bedingung zu ersetzen. Wenn wir die Eigenschaft, die aus einer wahren Überzeugung einen Fall von Wissen macht, den wissensgenerierenden Zusatzfaktor nennen, dann ist also die Frage, ob dieser Faktor als Kombination aus internen und externen Faktoren zu verstehen ist (das wäre die Kombinations-

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lösung) oder ob dieser Faktor rein externer Natur ist (das wäre die rein externalistische Lösung). Wie wir gesehen haben, kann er in keinem Fall rein interner Natur sein. Das schließen die Gettierfälle aus. Der erste Vorschlag zur Lösung des Gettierproblems bietet eine Kombinationslösung an. Er lautet: Gerechtfertigte, wahre Überzeugungen ergeben nur dann Wissen, wenn die Rechtfertigung nicht auf irgendwelchen falschen Prämissen beruht:130 Ein Subjekt S weiß die Proposition, dass p, genau dann, wenn: (i) S überzeugt ist, dass p, (ii) die Proposition, dass p, wahr ist, (iii) S in seiner Überzeugung, dass p, gerechtfertigt ist, (iv) die Rechtfertigung von p nicht auf einer falschen Prämisse beruht. Dieser Vorschlag ist ganz naheliegend, da die Zufälligkeit der Wahrheit der wahren, gerechtfertigten Überzeugung in den ursprünglichen Gettierfällen ja gerade darauf beruht, dass diese Überzeugung aus einer falschen Prämisse gefolgert wird. Gegen diese Lösung spricht ein weiterer Fall, der im Geiste der ursprünglichen Gettierfälle konstruiert ist, jedoch nicht-inferenzielles Wissen betrifft. Fall 3: Henry und die Scheunenfassaden131 Henry fährt mit seinem Auto durch eine ländliche Gegend des Schwarzwalds. Von der Straße aus sieht er bei strahlendem Sonnenschein und absolut klarer Sicht nicht weit entfernt ein Gebäude, das wie eine Scheune aussieht. Er ist deshalb davon überzeugt, dass er gerade an einer Scheune vorbeifährt. Diese Überzeugung ist auch tatsächlich wahr. Was er allerdings nicht weiß, ist, dass es in der Gegend lauter Scheunenattrappen gibt, die echten Scheunen von der Straße aus täuschend ähnlich sehen. Die ganze Gegend gehört zur Kulisse einer neuen Folge der „Schwarzwaldklinik“. Henry hat also die gerechtfertigte, wahre Überzeugung, dass er gerade an einer Scheune vorbeifährt. Aber objektiv betrachtet ist seine Überzeugung nur zufällig wahr. Hätte er eine Scheunenattrappe gesehen, dann hätte er ebenfalls geglaubt, gerade an einer Scheune vorüber zu fahren. Deshalb würde man Henry intuitiv kein Wissen zuschreiben. Dieser Fall weicht von den ursprünglichen Gettierfällen ab, insofern hier kein Fall von Glück im Unglück vorliegt.132 Henrys gerechtfertigte, wahre Überzeugung

130 Vgl. etwa Armstrong 1973, S. 152. 131 Vgl. Goldman 1976, S. 143. 132 Hetherington 2006, S. 87–89, nennt den ursprünglichen Gettierfall ‚hilfreich‘.



3.3 Posttraditionelle Wissensdefinitionen 

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beruht nicht auf einem Schluss aus einer falschen Prämisse. Falsche Prämissen kommen in dem Fall gar nicht vor. Dennoch ist seine gerechtfertigte, wahre Überzeugung nur zufällig wahr und kein Fall von Wissen. Die objektive Umgebung bedroht die Wahrheit der Meinung, insofern Henrys Meinung in dieser Umgebung leicht hätte falsch sein können.133 Der erste Vorschlag für eine Modifikation der Standardanalyse ist deshalb unzureichend. Vielleicht könnte man einwenden, dass Henrys Rechtfertigung im vorliegenden Fall nicht ausreichend ist. Hätte er nicht zumindest um das Gebäude herumgehen können? Dann hätte er ausschließen können, dass es sich um eine bloße Fassade handelt. Doch wenn man Wahrscheinlichkeitsgründe überhaupt akzeptiert, dann hat Henry optimale Gründe für seine Überzeugung. Er hat bei optimalen Sichtverhältnissen eine sehr gute Sicht auf das Objekt und er hat alles getan, was man von ihm vernünftigerweise erwarten kann, um die Wahrheit seiner Überzeugung zu prüfen. Aber selbst das Herumgehen um das Gebäude hätte nicht jede Irrtumsmöglichkeit ausgeschlossen. Was wäre, wenn das Gebäude zwar auch eine Rückseite und Seitenwände gehabt hätte, aber die Wände aus Pappmaché gemacht wären? Hätte Henry also auch noch das Material prüfen müssen? Was wäre, wenn das Gebäude gar keine Scheune wäre, sondern als geheimer Treffpunkt für Spione angelegt wäre? Hätte Henry auch noch die Verwendung des Gebäudes überprüfen müssen? Wenn also Henrys Gründe keine guten Gründe sind, dann gibt es überhaupt keine guten Gründe. Skeptische Konsequenzen wären unausweichlich. Der Scheunenfassadenfall ist deshalb ein echter gettierartiger Fall.

3.3 Posttraditionelle Wissensdefinitionen Auf der Suche nach einer Wissensdefinition, die gegen gettierartige Fälle resistent ist, hat man zwei unterschiedliche Wege eingeschlagen. Der erste Weg besteht darin, dass man die von der Standardanalyse aufgeführten Bedingungen zwar für notwendig, aber eben nicht für hinreichend hält. Sie bedürfen einer Ergänzung durch eine zusätzliche Bedingung, die Gegenbeispiele ausschließen soll. Die dreigliedrige Standardanalyse wird danach durch eine vierte Bedingung ergänzt. Deshalb spricht man auch von so genannten Quartettlösungen. Wissen wäre dann gerechtfertigte, wahre Überzeugung plus X. Der wissensgenerierende Zusatzfaktor, also der Faktor, der hinzukommen muss, damit aus wahrer Überzeugung Wissen wird, wäre dann ein Faktor, der aus einem internen Element (der Rechtfertigung) und einem externen Element besteht. Die Quartettlösungen sind

133 Diesen Fall nennt Hetherington 2006, S. 87–89, einen ‚gefährlichen‘ Gettierfall.

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also Kombinationslösungen. Der alternative zweite Weg zu einer Lösung besteht darin, dass man die Standardanalyse weder für hinreichend noch für notwendig hält. Die Bedingung einer internen Rechtfertigung wird dann ganz fallen gelassen und ersetzt durch einen rein externalistischen wissensgenerierenden Zusatzfaktor. In diesem Fall kann man auch von einer Terzettlösung sprechen. Wissen wäre dann wahre Überzeugung plus eine rein externalistische Zusatzbedingung. Mit der folgenden Darstellung der wichtigsten Definitionsvorschläge wird kein Vollständigkeitsanspruch verbunden. Das Gettierproblem hat zu einer unübersehbaren Flut von Lösungsvorschlägen geführt, die oft ziemlich ad hoc nur die Defizite ihrer Vorgängerdefinitionen ausgleichen und sofort neue Gegenbeispiele heraufbeschworen haben. Es sollen nur die wichtigsten Definitionsvorschläge herausgegriffen, in ihren Grundzügen klar umrissen und bezüglich ihrer Vor- und Nachteile erörtert werden.

3.3.1 Quartettlösungen Unanfechtbarkeit der Rechtfertigung Stellen wir uns noch einmal die Frage, was in den Gettierfällen schief geht. Eine relativ naheliegende Antwort ist die folgende. Das Erkenntnissubjekt ist aus seiner mehr oder weniger beschränkten und verzerrten kognitiven Perspektive in seiner wahren Überzeugung gerechtfertigt. Wenn man diese kognitive Perspektive nun mit immer mehr korrekten Informationen ausstattet, d. h. falsche Überzeugungen korrigiert und neue Informationen hinzu nimmt, dann gibt es zwei Möglichkeiten für die Rechtfertigung der Überzeugung: Entweder sie bleibt stabil unter jedem möglichen Informationszuwachs oder sie geht durch die zusätzlichen Informationen verloren. In den Gettierfällen ist die gegebene Rechtfertigung instabil und würde verloren gehen, wenn das Erkenntnissubjekt mehr Informationen über seine Umwelt hätte. Gettierresistente Fälle zeichnen sich dagegen durch eine unter Informationszuwachs stabile Rechtfertigung aus. Wissen läge dann vor, wenn die Rechtfertigung einer wahren Überzeugung des Erkenntnissubjekts auch unter informationellen Idealbedingungen erhalten bliebe. Dieser Grundgedanke motiviert den Vorschlag, Wissen als unanfechtbar gerechtfertigte, wahre Überzeugung zu definieren. Unanfechtbar (im Englischen: indefeasible) ist dabei die Rechtfertigung einer Überzeugung für eine bestimmte Person genau dann, wenn es keine Tatsache gibt, die – wenn die Person sie herausfinden würde – die



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Rechtfertigung der Überzeugung aufheben würde. Wir erhalten also die folgende Definition von Wissen als unanfechtbar gerechtfertigte, wahre Überzeugung:134 Ein Subjekt S weiß die Proposition, dass p, genau dann, wenn: (i) S überzeugt ist, dass p, (ii) die Proposition, dass p, wahr ist, (iii) S in seiner Überzeugung, dass p, gerechtfertigt ist, (iv) Ss Rechtfertigung unanfechtbar ist. Die neue Definition kann die Gettierfälle ausschließen. Wenn im Fall von Smith und dem unverhofften Job Smith die Information erhielte, dass Jones die Stelle nicht bekommt, dann wäre damit die Wahrheit seiner Ausgangsüberzeugung widerlegt: (1) Jones ist derjenige, der die Stelle bekommt, und Jones hat zehn Münzen in seiner Hosentasche. Doch dann würde Smiths Grund für seine Konklusion wegfallen, dass derjenige, der die Stelle bekommt, zehn Münzen in der Hosentasche hat. Ganz Analoges würde im Fall von Meier und seinem Golf passieren. Sobald Smith erfährt, dass Meier keinen Golf besitzt, würde seine Rechtfertigung für seine Überzeugung wegfallen, dass Meier einen Golf besitzt oder Krause sich in Berlin aufhält. Die Unanfechtbarkeitsdefinition kann aber auch den Fall der Scheunenfassaden erklären. Sobald nämlich Henry erfährt, dass es in der Umgebung von Scheunenattrappen nur so wimmelt, könnte der Blick auf ein Gebäude, das so aussieht wie eine Scheune, nicht länger seine Überzeugung rechtfertigen, dass es sich um eine Scheune handelt. Die neue Information wäre ein unterminierender Anfechtungsgrund für die Rechtfertigung von Henrys Überzeugung. Die Unanfechtbarkeitsdefinition ist auch mit der Einsicht verträglich, dass Gettierfälle nur durch eine externe Bedingung ausgeschlossen werden können. Die potentiellen Anfechtungsgründe sind nämlich objektive Tatsachen, die zum gegenwärtigen Zeitpunkt dem Erkenntnissubjekt nicht unmittelbar zugänglich sind, weil sie noch nicht im Fokus seiner kognitiven Perspektive liegen. Obwohl der Definitionsvorschlag auf den ersten Blick sehr vielversprechend aussieht, weil er Bedingungen nennt, die selbst in den Gettierfällen für Wissen hinreichen, gibt es Probleme mit dieser Definition. Stellen Sie sich folgende Situation vor:135 Angenommen, ich sehe, wie ein Mann ein Buch aus der Bibliothek stiehlt. Ich bin mir sicher, dass es sich um Tom Grabit handelt, da ich ihn aus vielen Semina-

134 Vgl. Lehrer/Paxson in Bieri 1987. 135 Lehrer/Paxson in Bieri 1987, S. 96.

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ren kenne. Ich komme also zu der gerechtfertigten Überzeugung, dass Tom Grabit ein Buch gestohlen hat, und melde das der Aufsicht. Nachdem Frau Grabit, seine Mutter, von dieser Beschuldigung Wind bekommen hat, behauptet sie, dass Tom zum fraglichen Zeitpunkt nicht in der Bibliothek, sondern an einem hunderte Kilometer entfernten Ort gewesen sei, aber John Grabit, sein eineiiger Zwillingsbruder in der Bibliothek gewesen sei. Ich weiß davon nichts. Würde ich davon erfahren, dass es diese entlastende Aussage seiner Mutter gibt, dann wäre dies ein widerlegender Anfechtungsgrund für meine Rechtfertigung. Wüsste ich von dieser Aussage, so würde mich meine Beobachtung nicht länger in der Annahme rechtfertigen, dass Tom Grabit ein Buch gestohlen hat, denn es gibt Indizien, die gegen die Wahrheit dieser Überzeugung sprechen. Ich habe also keine unanfechtbare Rechtfertigung und folglich auch kein Wissen. Das ist jedoch noch nicht das Ende der Geschichte: In Wirklichkeit ist die Mutter von Tom Grabit eine zwanghafte Lügnerin und John Grabit ist das Hirngespinst ihres verwirrten Geistes. Tom Grabit hat gar keinen Zwillingsbruder, sondern hat tatsächlich das Buch aus der Bibliothek gestohlen. Meine Überzeugung ist also wahr. Unsere Intuition sagt uns, dass ich in diesem Fall weiß, dass Tom Grabit das Buch gestohlen hat. Die Aussage seiner Mutter ist ein irreführender Anfechtungsgrund, der die Qualität meines Wissens gar nicht beeinträchtigt. Doch die Unanfechtbarkeitsdefinition sagt etwas anderes. Ihr zufolge habe ich kein Wissen, weil es eine Tatsache gibt (die Aussage von Frau Grabit), die – wenn ich sie erfahren würde – meine Rechtfertigung unterminieren würde. Die Bedingungen, die der Definitionsvorschlag anführt, sind also nicht notwendig für das Vorliegen von Wissen. Da die Definition notwendige und zusammen hinreichende Bedingungen für Wissen angeben soll, muss der vorliegende Vorschlag modifiziert werden. Irreführende Anfechtungsgründe müssen irgendwie als irrelevant ausgeschlossen werden. Das führt zu folgender Modifikation des Definitionsvorschlags: Ein Subjekt S weiß die Proposition, dass p, genau dann, wenn: (i) S überzeugt ist, dass p, (ii) die Proposition, dass p, wahr ist, (iii) S in seiner Überzeugung, dass p, gerechtfertigt ist, (iv’) Ss Rechtfertigung durch relevante Tatsachen unanfechtbar ist. Die Vertreter der Unanfechtbarkeitsdefinition haben sehr unterschiedliche Vorschläge für Relevanzkriterien vorgebracht.136 Ich möchte hier nicht genauer auf

136 Harman 1973 hat sogar dafür argumentiert, dass selbst irreführende Anfechtungsgründe, wenn sie für das Erkenntnissubjekt leicht verfügbar sind (da es sich beispielsweise um Informationen handelt, die eine große gesellschaftliche Verbreitung haben), Wissen ausschließen



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die Einzelheiten der mitunter recht technischen Lösungsvorschläge eingehen. Sehen wir uns exemplarisch nur einen relativ einfachen Vorschlag an, wonach nur dann kein Wissen vorliegt, wenn die Rechtfertigung der wahren Überzeugung durch Gründe anfechtbar ist, die ihrerseits unanfechtbar sind. Genau diese Eigenschaft liegt im Fall der Aussage der Mutter von Tom Grabit nicht vor. Für sich allein betrachtet hebt die Tatsache ihrer Aussage zwar die Rechtfertigung meiner Überzeugung, dass Tom Grabit ein Buch gestohlen hat, auf, sobald ich jedoch wüsste, wie es um den Geisteszustand von ihr steht und dass Tom Grabit tatsächlich gar kein eineiiger Zwilling ist, würde diese Aussage ihre Anfechtungskraft in Bezug auf meine Rechtfertigung wieder einbüßen. Die Bedingung (iv’) der Wissensdefinition könnte also folgendermaßen präzisiert werden: (iv’’) Ss Rechtfertigung ist durch unanfechtbare Gründe unanfechtbar. So elegant der Vorschlag der Definition von Wissen als unanfechtbar gerechtfertigte wahre Überzeugung ist, gegen ihn sprechen doch eine Reihe von Einwänden. Ich werde zunächst zwei Einwände nennen, die meines Erachtens auf Missverständnissen beruhen. Danach werde ich zwei weitere Einwände darstellen, die die wirklichen Schwächen des Vorschlags zum Vorschein bringen. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als ob die Forderung nach einer (unter qualifizierten Bedingungen) unanfechtbaren Rechtfertigung nichts anderes ist als die Gewissheitsanforderung in Verkleidung. Schließlich soll ja auch die Gewissheit absolut unanfechtbar sein. Das ist zwar richtig, zeigt jedoch nicht, dass Gewissheit und Unanfechtbarkeit äquivalent sind. Damit Gewissheit vorliegt, müssen die Gründe nämlich nicht nur tatsächlich unanfechtbar sein, sondern diese Tatsache müssen sie dem Erkenntnissubjekt auch offenbaren. Gewissheit liegt also nur vor, wenn das Erkenntnissubjekt etwas weiß und außerdem weiß, dass es dieses Wissen hat. Gewissheit impliziert neben Wissen erster Ordnung* auch Wissen, dass man weiß. Das lässt sich anhand eines unserer Beispiele veranschaulichen. Würde Henry

können. Sein Fall ist von der folgenden Art: Johannes liest in einer renommierten Zeitung, dass ein rechtsradikaler Politiker bei einem Anschlag ums Leben gekommen ist, und glaubt das natürlich. Der Bericht stammt von einem Journalisten, der Augenzeuge des Geschehens war. Johannes nimmt jedoch keine Notiz davon, dass in allen anderen Zeitungen geschrieben steht, dass tatsächlich gar nicht der Politiker, sondern sein Leibwächter bei dem Anschlag ums Leben gekommen ist. Was die Öffentlichkeit nicht weiß, ist, dass diese Geschichte erfunden wurde, um einen spontanen Aufmarsch rechter Kräfte zu verhindern. Harman vertritt die Auffassung, dass Johannes kein Wissen hat, weil es einen leicht verfügbaren irreführenden Anfechtungsgrund gibt. Andere irreführende Anfechtungsgründe, wie im Fall von Tom Grabit, können dagegen Wissen nicht ausschließen. Deshalb stellt sich die dringliche Frage nach präzisen Abgrenzungsgründen zwischen relevanten und irrelevanten irreführenden Anfechtungsgründen. Meiner Intuition nach muss man jedoch nicht unbedingt sagen, dass Johannes kein Wissen hat.

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durch eine Gegend ohne täuschende Fassaden fahren, dann hätte er aufgrund seiner Wahrnehmung eine unanfechtbare Rechtfertigung für seine wahre Überzeugung, dass er gerade an einer Scheune vorüber fährt. Diese Unanfechtbarkeit beruht allein aufgrund der tatsächlichen Beschaffenheit seiner Umwelt. Henry hätte nicht automatisch ein Wissen von dieser Unanfechtbarkeit seiner Rechtfertigung. Wäre er ein skeptisch veranlagter Philosoph, dann könnte er sich fragen, ob sein Wahrnehmungserlebnis nicht möglicherweise auf einer geschickten Täuschung beruht, sei es nun durch Fassaden oder durch die Einwirkung eines betrügerischen Dämons auf seine Sinneswahrnehmung. Und er könnte, trotz seiner de facto unanfechtbaren Gründe, solche Irrtumsmöglichkeiten nicht durch Gründe zurückweisen. Genau das ist im Fall der Gewissheit jedoch möglich. Wenn mir etwas gewiss ist, dann habe ich für die Proposition, die für mich Gewissheit hat, nicht nur tatsächlich unanfechtbare Gründe, sondern ich erfasse auch, dass die Wahrheit dieser Proposition durch meine Gründe erzwungen wird. Ich muss gar nicht wissen, wie meine Umwelt konkret aussieht, um zu wissen, ob meine Gründe unanfechtbar sind. Meine Gründe selbst zeigen, dass sie in jeder Welt, egal wie sie ansonsten beschaffen ist, die Wahrheit der Proposition erzwingen. Das klassische Beispiel für solche Gewissheiten sind cogito-artige Gedanken wie „Ich existiere jetzt“, von denen ich wissen kann, dass sie in jeder Welt, in der ich sie denke, wahr sind, ohne zusätzlich etwas über die Welt in Erfahrung bringen zu müssen. Gewissheit erfordert also mehr als eine tatsächliche Unanfechtbarkeit der Rechtfertigung, sie erfordert zusätzlich auch noch ein Wissen um diese Unanfechtbarkeit. Deshalb ist der Vorschlag, Wissen als unanfechtbar gerechtfertigte, wahre Überzeugung zu definieren, nicht äquivalent mit dem Vorschlag, Wissen als gewisse Überzeugung zu definieren. Und er sieht sich auch nicht mit den Schwierigkeiten des Gewissheitsmodells konfrontiert. Denn wenngleich es wohl nur weniges gibt, das die Gewissheitsbedingung erfüllt, könnte es sehr viel mehr geben, was die Bedingung der de facto Unanfechtbarkeit der Rechtfertigung erfüllt. Ein weiterer Einwand liegt auf der Hand. Es könnte doch sein, dass eine wahre Überzeugung unanfechtbar gerechtfertigt ist, ohne dass tatsächlich Wissen vorliegt. Dann wäre die Definition nicht hinreichend. Warum scheint das denkbar zu sein? Führen Sie sich noch einmal den Fall der Scheunenfassaden vor Augen, diesmal jedoch mit einer kleinen Modifikation. Im Schwarzwald wurden in der Gegend, durch die Henry gerade fährt, nicht viele, sondern sehr wenige Scheunenfassaden aufgestellt. Dementsprechend ist die Wahrscheinlichkeit, dass Henry in dieser Gegend eine echte Scheune mit einer Fassade verwechselt, extrem gering (sagen wir 1:1.000). Läge der Fall so, dann müsste man wohl sagen, dass Henry, auch wenn er von dieser extrem geringen Irrtumsmöglichkeit wüsste, weiterhin gerechtfertigt bliebe, allein aufgrund seiner Wahrnehmung zu sagen,



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dass er gerade an einer Scheune vorüber fährt. Seine Rechtfertigung wäre also durch diese Tatsache nicht anfechtbar. Aber wir würden kaum sagen, dass er auch Wissen hat. Auch wenn die Wahrscheinlichkeit für einen Irrtum noch so gering ist, können wir nicht sagen, dass Wissen vorliegt. Der folgende Fall einer Lotterie kann das illustrieren: Auch wenn man vielleicht gerechtfertigt ist zu glauben, dass das eigene Los verliert (weil nur ein Los von 1.000 gewinnt und alle anderen Lose Nieten sind), kann man nicht sagen, dass man weiß, dass das eigene Los verliert, solange auch nur der Hauch einer Gewinnchance besteht. Wissen und unanfechtbar gerechtfertigte, wahre Überzeugung scheinen also auseinander zu fallen. Doch dieser Anschein trügt. Sicher, die generelle Tatsache, dass es in der Gegend des Schwarzwaldes, durch die Henry fährt, nur sehr wenige Fassaden gibt, greift seine perzeptuelle Rechtfertigung nicht an. Entscheidend ist jedoch die unmittelbare Umgebung der von Henry betrachteten Scheune. Wenn die unmittelbar benachbarten Gebäude bloße Fassaden sind, dann ist diese lokale Tatsache ein Anfechtungsgrund für seine Rechtfertigung. Kommen dort keine Fassaden vor, dann ist seine Rechtfertigung zwar unangefochten, in diesem Fall können wir Henry jedoch auch Wissen zuschreiben, weil relativ zu der unmittelbaren Umgebung dann jeglicher Irrtum ausgeschlossen ist und die Wahrheit der Überzeugung deshalb nicht zufällig ist. Nur naheliegende Irrtumsmöglichkeiten verhindern Wissen, sie sind jedoch auch automatisch Anfechtungsgründe für die Rechtfertigung, so dass der vorliegende Definitionsvorschlag tatsächlich hinreichend für Wissen ist. Sehen wir uns nun den ersten echten Einwand gegen die Unanfechtbarkeitsdefinition an. Die Gesamtheit aller Tatsachen legt zweifellos fest, ob bestimmte Tatsachen die Rechtfertigung nur prima facie anfechten oder auch ultima facie als Anfechtungsgründe Bestand haben. Ob im gegebenen Fall Wissen vorliegt oder nicht, ist also selbst eine Tatsache. Die Unanfechtbarkeitsdefinition macht jedoch jede Wissenszuschreibung zum Problem. Um herauszufinden, ob jemand etwas weiß, müsste man nämlich jede der unbestimmt vielen Tatsachen kennen, die potentielle Anfechtungsgründe für die Rechtfertigung des Erkenntnissubjekts sein können. Im Fall von Tom Grabit könnte es beispielsweise neben der entlastenden Aussage der Mutter noch sehr viele andere Indizien geben, die dagegen sprechen, dass Tom sich zum fraglichen Zeitpunkt in der Bibliothek aufgehalten hat. Der Beobachter müsste außerdem alle für die Bewertung dieser Indizien erforderlichen Tatsachen kennen. Um herauszubekommen, dass die entlastende Aussage von Toms Mutter irreführend ist, müsste er Zeugen kennen, die ihren verwirrten Geisteszustand bestätigen und die Existenz eines Zwillingsbruders bestreiten usw. Kurz: Wenn wir Wissen zuschreiben wollen, dürfen wir uns nach dem vorliegenden Vorschlag nicht darauf beschränken, die lokale Beziehung zwischen dem Erkenntnissubjekt und seinem Gegenstand zu betrachten, sondern

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wir müssen ein umfassendes Wissen über die Welt haben, das es uns erlaubt, alle potentiellen Anfechtungsgründe der Rechtfertigung bewerten zu können. Da wir weit davon entfernt sind, allwissende Wesen zu sein, können wir also Wissen nicht zuschreiben. Das ist eine absurde Konsequenz des Ansatzes. Noch ein zweiter Einwand kommt hinzu. Die Unanfechtbarkeitsdefinition verlangt für Wissen, dass die Überzeugung intern gerechtfertigt ist. Es gibt jedoch gute Gründe, diese Bedingung für zu stark, also nicht für notwendig zu halten. Häufig wird dieser Einwand so begründet, dass man Wissen überintellektualisiere, wenn man es an die Bedingung einer internen Rechtfertigung knüpfe. Kleinkinder und sogar Tiere könnten auch (in beschränktem Umfang) Wissen haben, aber sie verfügten nicht über eine argumentative Begründung und schon gar nicht über Gründe für die Zuverlässigkeit der verwendeten Quelle. Auch wenn das richtig ist, folgt daraus nicht automatisch, dass Wissen auch ohne interne Begründung vorkommen kann. Eine interne Begründung kann nämlich auch dann vorliegen, wenn das Erkenntnissubjekt über kein Argument verfügt oder kein Wissen höherer Ordnung besitzt, weil es beispielsweise nicht über die erforderlichen Begriffe verfügt. Es genügt, wenn etwas in seiner kognitiven Perspektive für die Wahrheit der fraglichen Proposition spricht. Dabei kann es sich auch um sinnliche Erfahrungen handeln, die man auch Kleinkindern und Tieren kaum absprechen kann. Tierisches und kindliches Wissen allein spricht also nicht gegen die interne Rechtfertigungsbedingung des Wissens. Es gibt jedoch eindeutige Fälle menschlichen Wissens, in denen es keine intern zugänglichen Gründe gibt, die für die Wahrheit der fraglichen Proposition sprechen. Es gibt Leute, die auf Hühnerfarmen arbeiten und aufgrund eines bloß oberflächlichen Blicks auf ein Huhn zuverlässig sagen können, ob es männlich oder weiblich ist. Sie wissen das unmittelbar. Sie können jedoch nicht sagen, woran sie es erkennen. Die Gründe für ihr Urteil sind ihnen nicht direkt zugänglich, wie man es erwarten würde, wenn sie über eine interne Rechtfertigung verfügen würden. Ähnlich verhält es sich im Falle unseres Selbstwissens. Wir können auf direktem Wege zuverlässig sagen, dass wir bei Bewusstsein sind, dass wir gerade etwas denken, erfahren oder wollen und was der Inhalt unserer geistigen Zustände ist. Wir brauchen uns dabei nicht auf eine äußere Beobachtung unseres Verhaltens zu stützen. Aber auch eine innere Wahrnehmung unseres mentalen Lebens gibt es nicht. Wir wissen es direkt, ohne uns dabei auf irgendwelche internen Gründe zu stützen. In beiden Beispielen gibt es also Wissen ohne interne Rechtfertigung. Deshalb kann diese Rechtfertigung keine notwendige Bedingung für Wissen sein. Es gibt jedoch noch ein weiteres Argument, das dafür spricht, diese Bedingung fallen zu lassen. Die Rechtfertigung wird nämlich in jedem Fall durch Gegengründe, die mir tatsächlich bekannt werden, angefochten, und zwar auch dann, wenn diese Gegengründe irreführend sind. Doch für Wissen gilt das



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nicht unbedingt. Stellen Sie sich vor, jemand bedient in einer Fabrik einen Kessel mit hohem Druck und verlässt sich dabei auf die Druckanzeige am Kessel. Nun gibt es ein Sicherheitssystem, das eine Fehlfunktion der Druckanzeige durch eine Warnleuchte anzeigt. Nehmen wir an, diese Warnleuchte leuchtet auf, aber der Kesselbetreiber ignoriert sie und hält sich einfach weiter an die Druckanzeige. Das wäre in jedem Fall irrational und seine Überzeugungen über den Kesseldruck, die sich auf die Druckanzeige stützen, wären folglich nicht gerechtfertigt. Nehmen wir jedoch weiter an, dass das Sicherheitssystem einen Defekt hat und die Druckanzeige zuverlässig funktioniert. Dann weiß der Betreiber dennoch, wie hoch der Druck im Kessel ist. Er weiß es, obwohl er die ihm bekannten (irreführenden) Gegengründe nicht ausräumen kann und deshalb keine gerechtfertigten Überzeugungen bezüglich des Kesseldrucks hat.137 Wenn Sie diese Intuition teilen, dann müssen Sie auch akzeptieren, dass es Wissen ohne Rechtfertigung gibt. Wenn Sie dagegen diese Intuition nicht für hinnehmbar halten, dann bleiben zumindest die Fälle unmittelbaren Wissens ohne zugängliche interne Gründe als Argument gegen die Rechtfertigungsbedingung des Wissens.138 Die Unanfechtbarkeitsdefinition Es ist für Wissen hinreichend, wenn eine gerechtfertigte, wahre Überzeugung vorliegt, deren Rechtfertigung nicht durch Tatsachen anfechtbar ist, die ihrerseits unangreifbare Gründe sind. Es gibt jedoch zwei schwerwiegende Einwände gegen diese Wissensdefinition: Einwand 1: Die Wissenszuschreibung ist aufgrund dieser Definition nahezu unmöglich. Einwand 2: Der Definitionsvorschlag nennt keine notwendigen Bedingungen für Wissen, da es Wissen ohne Rechtfertigung gibt.

137 Dretske 1971 vertritt genau diese Auffassung in Zwingende Gründe, S. 149, Fn. 17, wenn er sagt, wir sollten von jemandem, der Wissen hat, nicht verlangen, „dass er nicht glaubt, dass er keine zwingenden Gründe hat.“ 138 Viele Vertreter der Unanfechtbarkeitsdefinition halten dagegen, dass auch introspektives Selbstwissen (und vergleichbares anderes Wissen) auf internen Gründen beruht. Nach ihnen muss das Erkenntnissubjekt zumindest auf geeignete Weise glauben, dass seine gegenwärtige Überzeugung auf Introspektion beruht und dass Introspektion zuverlässig ist, damit introspektives Wissen möglich ist. Introspektives Wissen beruht danach also auf internen Gründen zweiter Ordnung. Doch wenn man diese Verteidigungslinie einschlägt, handelt man sich den zuvor erwähnten Vorwurf der Überintellektualisierung des Wissens ein. Interne Gründe zweiter Ordnung erfordern nämlich Begriffe, über die Tiere und Kleinkinder nicht verfügen.

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3.3.2 Rein externalistische Lösungen 3.3.2.1 Die kausale Theorie Die kausale Definition des Wissens ist der Urtyp der rein externalistischen Terzett-Lösungen des Gettierproblems. Ihr Erfinder – Alvin Goldman – hatte dabei den folgenden Grundgedanken:139 Was in den ursprünglichen Gettierfällen Wissen verhindert, ist das Fehlen der geeigneten Beziehung zwischen der Welt und unseren wahren Überzeugungen über sie. Dieses Defizit kann gemäß dem frühen Goldman dadurch behoben werden, dass unsere wahren Überzeugungen durch die sie wahrmachenden Tatsachen (kurz: ihre Wahrmacher) auf die richtige Weise verursacht werden. Diese Einsicht motiviert den folgenden Definitionsvorschlag: Die kausale Definition Ein Subjekt S weiß die Proposition, dass p, genau dann, wenn: (i) S überzeugt ist, dass p, (ii) die Proposition, dass p, wahr ist, (iii) die Tatsache, dass p, verursacht, dass S überzeugt ist, dass p.

Dieser Definitionsvorschlag ist in der Lage, die ursprünglichen Gettierfälle auszuschließen. Im Fall von Smith und dem unverhofften Job ist es Jones (und das, was Smith über ihn hört und von ihm sieht), der, vermittelt durch eine andere Überzeugung, in Smith die Überzeugung kausal auslöst, dass derjenige, der die Stelle bekommt, zehn Münzen in der Hosentasche hat. Diese Überzeugung wird aber nicht dadurch wahr gemacht, dass Jones zehn Münzen in der Hosentasche hat, sondern dadurch, dass dies für Smith selbst gilt. Deshalb wird Bedingung (iii) verletzt. Wissen liegt nicht vor, weil der Wahrmacher der Überzeugung nicht ihre Ursache ist. Ganz ähnlich verhält sich die Sache in Gettiers zweitem Fall. Smiths Überzeugung, dass Meier einen Golf besitzt oder Krause sich in Berlin aufhält, wird kausal durch den von ihm beobachteten Meier verursacht, aber Meier ist nicht der Wahrmacher der Überzeugung, sondern Krauses tatsächlicher Aufenthalt in Berlin. Auch hier liegt kein Wissen vor, weil der Wahrmacher nicht die Ursache der Überzeugung ist. Gegen die kausale Definition gibt es eine ganze Reihe von Einwänden. Manche lassen sich relativ schnell ausräumen. Es gibt jedoch andere, die so stark sind, dass die kausale Theorie inzwischen von niemandem mehr vertreten wird.

139 Goldman 1987.



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Auch Goldman hat sie später zugunsten seiner Zuverlässigkeitstheorie aufgegeben.140 Zunächst wurde eingewandt, dass die kausale Definition vielleicht bestimmte Arten von Wissen wie Wahrnehmungswissen oder Erinnerungswissen erklären kann, für andere Arten jedoch vollkommen ungeeignet ist. Das gilt insbesondere für inferenzielles Wissen aufgrund von argumentativen Schlussfolgerungen. Als Begründung wird häufig die folgende Überlegung angeführt: (1) (2)

Inferenzielles Wissen beruht auf der logischen Beziehung zwischen den propositionalen Inhalten der beteiligten Überzeugungen. Logische Beziehungen sind keine kausalen Beziehungen.

Also: Inferenzielles Wissen beruht nicht auf kausalen Beziehungen. Die beiden Prämissen dieses Arguments sind tadellos. Die Gültigkeit der Inferenzen beruht auf den logischen Beziehungen zwischen Prämissen und Konklusion. Und logische Beziehungen sind keine kausalen Beziehungen, weil sie viel stärker sind als diese. Dennoch ist das Argument nicht gut, weil es nicht gültig ist. Die Wahrheit seiner Prämissen erzwingt nicht die Wahrheit seiner Konklusion. Warum? Nun, die Prämisse (1) sagt nur, dass inferenzielles Wissen auf logischen Beziehungen beruht, aber sie sagt nicht, dass es allein auf logischen Beziehungen beruht. Nur wenn das der Fall wäre, würde die Konklusion unter Hinzuziehung der Prämisse (2) logisch folgen. Es ist aber klar, dass inferenzielles Wissen nicht allein auf den logischen Beziehungen beruhen kann. Damit jemand inferenzielles Wissen hat, genügt es nämlich nicht, dass er über ein logisch gültiges Argument für die Konklusion verfügt, sondern er muss von dieser Konklusion überzeugt sein, weil er dieses Argument hat (und nicht etwa aufgrund von Vorurteilen, die zufällig mit dem Ergebnis dieses Arguments übereinstimmen). Die kausale Beziehung zwischen den Überzeugungen einer Person muss sich also nach deren logischer Beziehung richten, damit es zu inferenziellem Wissen kommt. Das ist aber mit der kausalen Definition des Wissens bestens verträglich. Ein zweiter Einwand besagt, dass die kausale Definition des Wissens Wissen von zukünftigen Ereignissen und Tatsachen unmöglich macht. Die Zukunft kann nämlich keine Ursache der Gegenwart sein. Viele Philosophen sind sogar der Auffassung, dass die kausale Richtung den Zeitpfeil erst konstituiert. Wie tragisch ist dieser Einwand wirklich? Ich denke, er sieht schlimmer aus, als er wirklich ist. Sicher, in den Wissenschaften sind Prognosen zukünftiger experimenteller Resul-

140 In Goldman 1976.

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tate von außerordentlicher Bedeutung. Und unser alltägliches instrumentelles Wissen macht geordnetes Handeln in der Welt allererst möglich. Aber es hängt nicht viel davon ab, dass wir in diesen Fällen Wissen im strengen Sinne haben. Es würde genügen, wenn wir gerechtfertigte, wahre Überzeugungen hätten. Doch die lässt der Einwand unberührt. Einem dritten Einwand zufolge ist die Definition nicht hinreichend. Es kann sein, dass der Wahrmacher einer Überzeugung deren Ursache ist und dennoch kein Wissen vorliegt. Dem Einwand zufolge ist das genau dann der Fall, wenn (irreführende) Anfechtungsgründe bekannt werden, die das Wissen unterminieren. Doch wir haben bereits im Zusammenhang mit der Diskussion der Unanfechtbarkeitsdefinition gesehen, dass es durchaus plausibel ist, Wissen von der Anfechtbarkeit durch Gegengründe auszunehmen. In diesem Fall entfällt der dritte Einwand. Ich werde jetzt noch zwei Einwände vorbringen, die meines Erachtens fatal für die kausale Definition sind. Der vierte Einwand besagt, dass die kausale Definition mathematisches Wissen ausschließt. Warum? Üblicherweise geht man davon aus, dass mathematische Tatsachen wie ‚2+2=4‘ notwendige Tatsachen sind. Notwendige Tatsachen hätten nicht anders sein können als sie aktual* sind. Sie sind – wie man in modaler Redeweise gerne sagt – wahr in jeder Welt. Das bedeutet nicht, dass unsere Überzeugungen, die sie betreffen, gewiss sind. Wir hätten uns über die mathematischen Tatsachen auch täuschen können. Das passiert beispielsweise, wenn wir uns verrechnen. Wenn nun mathematische Tatsachen notwendig sind, dann können sie keine Ursachen für unsere Überzeugungen über sie sein. Dafür muss man nicht annehmen, dass die mathematischen Tatsachen in einer platonischen Welt reiner Zahlen und Ideen existieren, die in keiner kausalen Interaktion mit unseren konkreten psychologischen Zuständen steht. Notwendige Tatsachen sind als solche bar jeder kausalen Kraft. Das wird deutlich, wenn man sich den kontrafaktischen* Charakter kausaler Aussagen vor Augen führt. Wenn ich sage „Das Feuer hat die Zerstörung des Hauses verursacht“, dann impliziert das, dass das Haus nicht zerstört worden wäre, wenn es nicht gebrannt hätte. Ich behaupte also implizit etwas über Situationen, in denen die Ursache nicht vorgelegen hätte, nämlich dass in ihnen auch die Wirkung nicht eingetreten wäre. Nun gibt es aber keine möglichen Situationen, in denen notwendige Tatsachen nicht bestanden hätten. Alle kontrafaktischen Aussagen, die im Vordersatz auf notwendige Tatsachen Bezug nehmen, sind deshalb zwar wahr (weil der Vordersatz durch keine mögliche Situation erfüllt wird), aber eben bloß trivialerweise wahr und deshalb nicht aussagekräftig bezüglich kausaler Abhängigkeitsrelationen. Aus diesem Grund können notwendige Tatsachen keine Ursachen sein. Nun könnte man natürlich fragen, was daran so schlimm wäre, wenn es kein mathematisches Wissen gäbe. Meines Erachtens lässt sich



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dieses Problem aber nicht analog zum Problem des Wissens über die Zukunft behandeln, und zwar deshalb, weil mathematisches Wissen geradezu als Musterbeispiel für Wissen schlechthin gilt. Wenn es in diesem Bereich kein Wissen gibt, dann kann es überhaupt kein Wissen geben. Am schwerwiegendsten ist jedoch der fünfte Einwand. Es gibt nämlich Fälle, in denen unsere Intuitionen eindeutig sagen, dass kein Wissen vorliegt, nach der kausalen Definition jedoch Wissen vorliegen müsste. Dann wäre die Definition nicht hinreichend. Ein solcher Fall ist der Fall der Scheunenfassaden. Wenn Henry bei guter Sicht aus dem fahrenden Auto auf eine echte Scheune sieht und aufgrund dieser Sinneserfahrung zu der Überzeugung kommt, dass er an einer Scheune vorüberfährt, dann ist der Wahrmacher der Überzeugung (die echte Scheune) ihre auslösende Ursache. Dennoch schreiben wir Henry kein Wissen zu, wenn es in der unmittelbaren Umgebung der Scheune Scheunenfassaden gibt, die der echten Scheune von der Straße aus täuschend ähnlich sehen.141 Doch diese Tatsachen haben mit der kausalen Geschichte von Henrys Überzeugung nichts zu tun. Dieser gettierartige Fall widerlegt die kausale Definition des Wissens eindeutig. Schlechte Einwände gegen die kausale Definition Einwand 1: Die kausale Definition kann nicht alle Wissensarten erfassen. Sie scheitert insbesondere an inferenziellem Wissen. Einwand 2: Die kausale Definition kann Wissen über die Zukunft nicht erklären. Einwand 3: Die kausale Definition ist nicht hinreichend, da Wissen durch bekannte Anfechtungsgründe aufhebbar ist. Gute Einwände Einwand 4: Die kausale Definition kann mathematisches Wissen nicht erklären. Einwand 5: Die kausale Definition ist nicht hinreichend, um zu erklären, warum im Fall der Scheunenfassaden intuitiv kein Wissen vorliegt.

3.3.2.2 Zuverlässigkeitstheorien Hinter der kausalen Theorie steht die Einsicht, dass der Faktor, der zur Wahrheit der Überzeugung hinzukommen muss, damit Wissen entsteht, (der wissensgenerierenden Zusatzfaktor142) in einer Beziehung zwischen der Welt und unseren Über-

141 Allerdings gibt es Zweifel daran, ob diese erkenntnistheoretische Lehrbuchmeinung tatsächlich das repräsentiert, was Erkenntnistheoretiker über den Scheunenfassadenfall denken. Neuere experimentelle Studien legen nahe, dass Erkenntnistheoretiker im Scheunenfassadenfall oft auch Wissen zuschreiben. Vgl. Horvath und Wiegmann 2016. 142 Das ist meine behelfsmäßige Übersetzung des von Plantinga 1993a geprägten englischen Terminus „warrant“.

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zeugungen über sie bestehen muss, die einen modalen Charakter hat. Diese Einsicht lässt sich auch dann bewahren, wenn man den Fehler der kausalen Theorie vermeidet. Dafür muss man die Richtung dieser Beziehung einfach nur umkehren. Während die kausale Theorie verlangt, dass der Wahrmacher in der Welt die wahre Überzeugung über sie (kausal) erzwingt, sollte man besser verlangen, dass die Überzeugung oder ihre Entstehungsgeschichte derart ist, dass sie das Vorliegen der sie wahr machenden Tatsache erzwingt. Die Wahrheit der Überzeugung muss also nicht nur faktisch bestehen, sondern garantiert sein, damit Wissen vorliegt.143 Es darf nicht der Fall sein, dass die wahre Überzeugung auch hätte falsch sein können. Theorien, die Wissen auf diese Art und Weise definieren, nennt man „Zuverlässigkeitstheorien“ (im Englischen „reliabilism“). Diese Bezeichnung ist ein Sammelbegriff, der auf sehr viele Definitionsvorschläge zutrifft, die sich – wie wir noch sehen werden – in wichtigen Details unterscheiden. Allgemeiner bezeichnet man solche Instrumente, Indikatoren oder Methoden als „zuverlässig“, die häufig zu wahren (oder korrekten) Ergebnissen führen. Die Wahrheitshäufigkeit lässt sich als Grad der Wahrscheinlichkeit der Wahrheit ausdrücken. Es handelt sich genauer um den Grad der Wahrscheinlichkeit der Wahrheit (einer Überzeugung) relativ dazu, dass sie sich auf ein bestimmtes Instrument, einen bestimmten Indikator oder eine bestimmte Methode stützt. Die Wahrheitswahrscheinlichkeit W einer Überzeugung p relativ zur Methode m ist zum Beispiel 0.5, wenn 50 % aller Überzeugungen, die sich auf diese Methode stützen, wahr sind. In diesem Fall schreibt man: W(p/m) = 0.5 Die relative Wahrheitswahrscheinlichkeit einer Überzeugung kann variieren, je nachdem, auf welche Methode eine Person diese Überzeugung stützt. Intuitiv gesprochen ist die Wahrscheinlichkeit der Wahrheit meiner Überzeugung, dass es draußen gerade regnet, höher, wenn ich mich dabei auf meine Wahrnehmung stütze, als wenn ich dazu durch das Werfen einer Münze oder bloßes Raten komme. Im absoluten Sinne spricht man von einer zuverlässig gebildeten Überzeugung, wenn die relative Wahrscheinlichkeit ihrer Wahrheit deutlich größer als 0.5 ist. Für Wissen reicht das natürlich nicht aus. Hier muss die relative Wahrheitswahrscheinlichkeit gleich 1 sein. Die Methode, auf die sich die wahre Überzeugung stützt, muss also perfekt zuverlässig sein, sie darf keine Irrtümer zulassen. Nur dann haben wir eine Überzeugung, deren Wahrheit garantiert ist. Dass die Wahrheitsgarantie die bisher diskutierten Gettier-Fälle ausschließen kann, lässt sich leicht einsehen. In den ursprünglichen beiden Gettier-Fällen

143 Diese Wahrheitsgarantie ist allerdings nicht absolut zu verstehen, sondern kann – wie im Folgenden noch näher erläutert wird – verschiedene Grade annehmen.



3.3 Posttraditionelle Wissensdefinitionen 

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gelangt Smith durch eine Inferenz zu einer Überzeugung, die sehr leicht hätte falsch sein können. Um das zu erkennen, muss man sich nur leicht mögliche Situationen ansehen, in denen Smith auf dieselbe Weise zu seiner Überzeugung gekommen wäre, er aber (im Fall 1) keine zehn Münzen in der Hosentasche gehabt hätte oder (im Fall 2) Krause sich gerade noch in Hamburg aufgehalten hätte. Auch im Fall der Scheunenfassaden wäre ein Irrtum Henrys relativ leicht möglich gewesen. Wenn er nämlich auf eine der vielen Scheunenfassaden in der Umgebung geschaut hätte, wäre er gleichwohl zu der (dann falschen) Überzeugung gekommen, dass er gerade an einer Scheune vorüberfährt. Die Forderung der Wahrheitsgarantie oder perfekten Zuverlässigkeit würde solche Fälle definitiv ausschließen. Wahrheitsgarantie Eine ganz wesentliche Frage, in der die verschiedenen Vertreter der Zuverlässigkeitstheorie weit auseinander liegen, ist die Frage nach der erforderlichen Stärke der Wahrheitsgarantie. Ein Beispiel kann die Unterschiede verdeutlichen. Peter sieht das Gesicht von Marianne, die er aus Seminaren an der Universität gut kennt, in geringer Entfernung deutlich vor sich und kommt daraufhin zu der Überzeugung, dass dort drüben Marianne steht. Es handelt sich tatsächlich um Marianne. Deshalb ist seine Überzeugung wahr. Aber garantiert seine Gesichtswahrnehmung die Wahrheit seiner Überzeugung? Hier sind verschiedene Antworten denkbar. Erstens: Seine Wahrnehmung garantiert die Wahrheit seiner Überzeugung nicht, weil es mögliche Situationen gibt, in denen er aufgrund dieser Wahrnehmung zu einer falschen Überzeugung kommen würde. Eine solche mögliche (wenn auch ziemlich abwegige) Situation wäre ein Gehirn-imTank Szenario. Deshalb garantiert die Wahrnehmung in einem Sinne die Wahrheit der Überzeugung nicht. Dies ist genau der Sinn von Wahrheitsgarantie, den das Gewissheitsmodell zugrunde legt. Wir wollen also sagen: Wahrheitsgarantie als Gewissheit Eine Überzeugung ist genau dann gewiss, wenn es überhaupt keine mögliche Situation gibt, in der sie auf dieselbe Weise gebildet wird wie in der aktualen Welt, aber falsch ist.

Zweite Antwort: Peters Wahrnehmung garantiert die Wahrheit seiner Überzeugung, wenn sie in der nächsten möglichen Situation, in der Marianne nicht dort drüben stünde (die Proposition, die Peter aktual glaubt, also falsch wäre), diese Wahrnehmung auch nicht auftreten würde. Diese Bedingung kann man nur dann verstehen, wenn man sich mögliche Situationen (und mögliche Welten* als maximale Situationen) als nach einer Ähnlichkeitsrelation eindeutig geordnet denkt.

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 3 Wissen

Die relativ zur aktualen Situation nächste mögliche Situation (mit einer bestimmten Eigenschaft) wäre demnach die mögliche Situation, die (unter den möglichen Situationen, die die bestimmte Eigenschaft haben) der aktualen Situation am ähnlichsten ist. Die nächste Welt, in der sich eine bestimmte Tatsache ereignet, die sich in der aktualen Welt nicht ereignet, ist die Welt, in der sich diese Differenz durch die geringste Abweichung von den Tatsachen der aktualen Welt erklären lässt. Die Ähnlichkeit zwischen möglichen Situationen hängt allerdings nicht nur von der Anzahl der in ihnen übereinstimmenden Tatsachen ab. Die Tatsachen haben auch eine unterschiedlich gewichtete Bedeutung. So ist etwa eine mögliche Welt, in der auch nur eines unserer Naturgesetze nicht gilt, per se unserer aktualen Welt sehr viel unähnlicher als eine mögliche Welt, in der alle aktualen Naturgesetze gelten, aber sehr viele Einzeltatsachen abweichen. Die Übereinstimmung der Naturgesetze ist für die Ähnlichkeit zwischen Welten wichtiger als die Übereinstimmung von Einzeltatsachen. Dass das so sein muss, lässt sich am Beispiel kontrafaktischer Konditionalsätze unschwer erkennen. Solche Sätze sind wahr, wenn in der nächsten Welt, in der ihr Vordersatz wahr wäre auch der Hintersatz wahr wäre. Nun ist der kontrafaktische Konditionalsatz „Wenn Nixon den roten Knopf im Weißen Haus gedrückt hätte, dann hätte kurz danach eine globale nukleare Katastrophe stattgefunden“ offenbar wahr. Also wäre die von der aktualen Welt aus nächste Welt, in der Nixon den roten Knopf gedrückt hätte, offenbar eine Welt, die von ihrem Erscheinungsbild her der aktualen Welt sehr unähnlich wäre (aufgrund der nuklearen Zerstörung). Doch das abweichende Erscheinungsbild der Welt ist eine kausale Konsequenz des Knopfdrucks, die in allen relativ ähnlichen Welten aufgrund ihrer übereinstimmenden Naturgesetze unvermeidlich ist. Wenn wir von Peters aktualer Situation ausgehen, dann wäre vermutlich die nächste Situation, in der Marianne nicht dort drüben stünde, eine Situation, in der niemand dort drüben stünde. Wenn wir Mariannes Abwesenheit erklären wollen und dabei auf die geringstmögliche Weise vom aktualen Weltverlauf abweichen wollen (ohne dabei die Naturgesetze zu verletzen), dann können wir annehmen, dass sich Marianne in der Vorgeschichte dieser Situation entschieden hat, Peter nicht zu treffen. Jede Welt, in der ein Zwilling oder ein Doppelgänger von Marianne existieren würde, der anstelle von Marianne Peter träfe, würde der aktualen Welt viel unähnlicher sein. Diese Tatsachen müssten nämlich zusätzlich eingeführt werden und hätten zudem eine eigene Vorgeschichte und spezifische Konsequenzen, die alle von der aktualen Welt abweichen. Wenn also Peter in der nächsten möglichen Situation, in der Marianne abwesend wäre, niemanden vor sich hätte, dann würde es für Peter sicher auch nicht so aussehen, als ob Marianne vor ihm stünde, sondern er hätte einen gänzlich anderen Sinneseindruck. Wenn eine Wahrheitsgarantie in diesem Sinne vorliegt, können wir von einer sensitiven Überzeugung sprechen.



3.3 Posttraditionelle Wissensdefinitionen 

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Wahrheitsgarantie als Sensitivität (gegenüber der Falschheit) Eine Überzeugung ist sensitiv genau dann, wenn sie auf Entstehungsbedingungen beruht, die in der nächsten Welt, in der der Inhalt der Überzeugung falsch wäre, nicht aufgetreten wären.

Dritte Antwort: Peters Wahrnehmung garantiert die Wahrheit seiner Überzeugung nicht im erforderlichen Sinne, weil nicht in allen relevanten möglichen Situationen, in denen seine Überzeugung auf dieselbe Weise hervorgebracht wird wie in der aktualen Welt, diese Überzeugung auch wahr ist. Sie hätte unter relevanten kontrafaktischen Umständen also auch falsch sein können. Nehmen wir einmal an, Marianne hätte eine eineiige Zwillingsschwester namens Martina. Wenn das der Fall ist, dann ist die Annahme intuitiv sehr plausibel, dass Peter nur dann weiß, dass er Marianne sieht, wenn seine Gründe ausreichen, um Marianne von Martina zu unterscheiden. Doch seine Wahrnehmung leistet das nicht, denn für ihn sehen Marianne und Martina völlig gleich aus. Es gibt also eine relevante kontrafaktische Situation, in der Peter einen Sinneseindruck gleicher Qualität hat und folglich dieselbe Überzeugung bildet wie in der aktualen Welt, diese Überzeugung aber falsch ist, weil dort drüben nicht Marianne, sondern Martina steht. Damit ergibt sich eine dritte Konzeption der Wahrheitsgarantie. Wahrheitsgarantie als Sicherheit Eine Überzeugung ist sicher genau dann, wenn es keine relevanten kontrafaktischen Situationen (relevanten Alternativen) gibt, in denen die Überzeugung auf dieselbe Weise hervorgebracht wird und falsch ist.

Sehen wir uns zunächst das Verhältnis dieser drei Konzeptionen von Wahrheitsgarantie etwas genauer an. Gewissheit beinhaltet nicht nur den stärksten modalen Anspruch, sie weist auch die Besonderheit auf, dass man die wirkliche (aktuale) Welt nicht kennen muss, um zu erkennen, dass sie vorliegt. Wenn es für mich undenkbar ist, dass meine Gründe mich täuschen, dann ist diese Einsicht für mich nicht nur ein Grund für meine Überzeugung erster Ordnung, sondern zugleich auch ein Grund für die Annahme zweiter Ordnung, dass meine Gründe die Wahrheit im stärksten Sinne garantieren. Um zu erkennen, dass eine sensitive oder eine sichere Überzeugung vorliegt, muss ich dagegen zunächst etwas über die wirkliche Welt und ihre Beschaffenheit herausfinden. Deshalb fallen hier das Wissen erster Ordnung und das Wissen, dass man Wissen erster Ordnung hat, auseinander. Man kann Gewissheit als Spezialfall von Sicherheit verstehen, denn eine sichere Überzeugung ist gewiss, wenn alle möglichen Situationen relevant sind. Ob Sensitivität oder Sicherheit die stärkere Bedingung ist, hängt deshalb davon ab, welche möglichen Situationen relevant sind. In vielen alltäglichen Fällen impliziert Sicherheit Sensitivität. Irrtum in relevanten möglichen Situati-

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 3 Wissen

onen lässt sich nur dann vermeiden, wenn man zwischen Fällen, in denen die Überzeugung falsch ist, und solchen, in denen die Überzeugung wahr ist, unterscheiden kann. Häufig ist die Sicherheit sogar stärker als die Sensitivität (etwa in dem oben angeführten Zwillingsbeispiel). Anders ist es jedoch mit Überzeugungen, die nur in sehr bizarren (von der aktualen Situation weit entfernten) möglichen Situationen wahr wären. Stellen Sie sich vor, Sie würden aufgrund Ihrer Wahrnehmung der Außenwelt die Überzeugung bilden, dass Sie kein Gehirn in einer Nährlösung sind. Nehmen Sie weiter an, diese Überzeugung wäre wahr. Sie sind kein Gehirn in einer Nährlösung. Die so gebildete Überzeugung ist selbstverständlich nicht gewiss. Es gibt mögliche Situationen (etwa wenn Sie ein Gehirn in einer Nährlösung wären), in denen Ihre Überzeugung nicht wahr wäre. Ihre Überzeugung wäre jedoch auch nicht sensitiv. In der nächsten möglichen Welt, in der sie falsch wäre (Sie also ein Gehirn in einer Nährlösung sind), würden Sie nämlich den Unterschied nicht bemerken und weiterhin diese (falsche) Überzeugung unterhalten. Die Überzeugung könnte jedoch sicher sein, denn es ist keineswegs ausgemacht, dass Gehirn-im-Tank-Situationen relevante kontrafaktische Umstände sind. Für die Sicherheit könnte es genügen, dass Ihre Überzeugung in allen der aktualen Situation mehr oder weniger ähnlichen Situationen wahr ist. Die bizarre Gehirn-im-Tank-Situation ist der aktualen Situation einfach zu unähnlich, um als relevant gelten zu können. Die entscheidende Frage lautet nun: Wie stark muss die Wahrheitsgarantie für Wissen sein? Gewissheit wird es, wenn überhaupt, nur in einem sehr beschränkten Bereich geben können. Würde Wissen also Gewissheit erfordern, wäre ein ziemlich weitreichender Skeptizismus die unmittelbare Konsequenz. Um die Gettierfälle auszuschließen, ist Gewissheit jedoch sicher auch nicht nötig. Es genügt, wenn Irrtümer in der Umwelt, so wie sie aktual ist, nicht auftreten können. Entscheidend ist also, ob Irrtümer in nahen möglichen Welten auftreten können. Vielleicht genügt es also, dass unsere Überzeugungen sicher sind, damit Wissen vorliegt. Unsere Überzeugungen sind sicher, wenn unter relevanten kontrafaktischen Umständen keine Irrtümer auftreten. Im Scheunenfassadenfall ist Henrys Überzeugung nicht sicher, denn er hätte sehr leicht aufgrund derselben Wahrnehmung eine falsche Überzeugung bilden können, wenn er an einer der vielen Fassaden der Umgebung vorübergefahren wäre. Die Wissensbedingung der Sicherheit kann also erklären, warum wir Henry kein Wissen zuschreiben. Problematisch an dieser Konzeption ist jedoch, dass nicht eindeutig feststeht, welche kontrafaktischen Umstände relevant sind.144 Nehmen wir einmal an, in Henrys Fall gäbe es zwar keine Fassaden in dem Landkreis, durch den er fährt,

144 Vgl. dazu Brandom 1998, Baumann 2001.



3.3 Posttraditionelle Wissensdefinitionen 

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aber in dem benachbarten Landkreis, durch den er leicht hätte fahren können, gäbe es welche. Wäre das dann noch relevant? Oder nehmen wir an, es gäbe Scheunenfassaden in einem sehr weit entfernten Land, aber Henry hätte sich leicht dafür entscheiden können, eine Autoreise durch dieses Land zu unternehmen. Wir können auch annehmen, es gäbe in dem Zeitraum, in dem Henry durch das Land fährt, gar keine Scheunenfassaden, die er mit echten Scheunen verwechseln könnte, aber kurz davor hätte es welche gegeben. Gibt es überhaupt objektive Tatsachen, die festlegen, wie weit entfernt eine Irrtumsmöglichkeit sein kann, um noch als relevant zu gelten? Manches spricht dafür, dass es objektiv unbestimmt bleibt, welche kontrafaktischen Situationen wirklich relevant sind. Ob Irrtumsmöglichkeiten relevant sind oder nicht, hinge dann letzten Endes von den Relevanzgesichtspunkten des Betrachters ab. Die Standards für die korrekte Zuschreibung von Wissen variieren dann mit den Standards desjenigen, der das Wissen zuschreibt. Wenn wir Philosophie treiben, werden wir auch sehr weit entfernte (möglicherweise skeptische) Irrtumsmöglichkeiten für relevant halten und damit die Maßstäbe für das Wissen in die Höhe treiben. Wenn wir uns dagegen im Kontext des Alltags bewegen, denken wir nur an naheliegende Irrtumsmöglichkeiten. Dann liegt die Messlatte für Wissen relativ niedrig. Der Vorschlag, Wissen als sichere, wahre Überzeugung zu definieren, hat also eine gewisse Affinität zum semantischen Kontextualismus, der besagt, dass der Wissensbegriff versteckt indexikalisch* ist und die Bedingungen korrekter Wissenszuschreibung mit den Relevanzkriterien desjenigen, der Wissen zuschreibt, variieren. Die Plausibilität des semantischen Kontextualismus werde ich weiter unten untersuchen. Lässt sich Wissen vielleicht als sensitive, wahre Überzeugung definieren? Dann müsste sich die Überzeugung auf einen Indikator stützen, der nicht auftreten würde, wenn das, was die Überzeugung besagt, nicht der Fall wäre. Um zu wissen, dass p, muss man also in der nächsten Welt, in der p nicht der Fall ist, abweichend reagieren. Wissen setzt sozusagen eine minimale Fähigkeit zur Diskrimination zwischen dem Bestehen und Nichtbestehen einer Tatsache voraus. ‚Minimal‘ nenne ich diese Fähigkeit, weil Sensitivität diese Diskriminationsfähigkeit nicht uneingeschränkt für alle möglichen Welten verlangt, sondern nur für die nächste Welt, in der die Überzeugung falsch wäre. Minimale Diskriminationsfähigkeit Ein System hat eine minimale Fähigkeit, zwischen dem Bestehen einer Tatsache p und ihrem Nichtbestehen zu diskriminieren, wenn es in der nächsten nicht-p Welt abweichend reagiert. Maximale Diskriminationsfähigkeit Ein System hat eine maximale Fähigkeit, zwischen dem Bestehen einer Tatsache p und ihrem Nichtbestehen zu diskriminieren, wenn es in allen nicht-p Welten abweichend reagiert.

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 3 Wissen

Es ist nun intuitiv außerordentlich plausibel, Wissen mit Hilfe der Fähigkeit zur Unterscheidung zwischen wahr machenden und falsch machenden Situationen zu definieren. Ein Indiz dafür ist zumindest der englische Sprachgebrauch, der eine diskriminative Bedeutung von „wissen“ kennt.145 So heißt es beispielsweise „He doesn’t know right from left.“ Die Sensitivitätsbedingung hat einen deutlichen Vorteil gegenüber der Sicherheitsbedingung. Es steht nämlich objektiv eindeutig fest, in welcher möglichen Situation kein Irrtum auftreten darf. Um zu wissen, dass p, muss das Erkenntnissubjekt in einer einzigen, ganz bestimmten möglichen Welt, die mit p unverträglich ist, entdecken, dass es sich um eine Welt handelt, in der die Tatsache, dass p, nicht besteht: in der nächsten möglichen Nicht-p-Welt. Und diese Bedingung ist ganz unabhängig von den Relevanzkriterien der Wissenszuschreiber. Die Sensitivitätsbedingung hat also keinerlei Affinität zum semantischen Kontextualismus. Wenn man Wissen als sensitive, wahre Überzeugung definiert, ergeben sich jedoch Probleme. Die Sensitivitätsbedingung kann nicht ohne weiteres erklären, warum wir Henry im Scheunenfassadenland kein Wissen zuschreiben. Denn wenn Henry vor einer tatsächlichen Scheune die wahre Meinung bildet, dass das Gebäude vor ihm eine Scheune ist, dann ist diese Meinung auch sensitiv. In der nächsten Welt, in der dort keine Scheune stünde, gäbe es dort gar kein Gebäude und deshalb würde Henry aufgrund seiner Sinneswahrnehmung auch nicht fälschlich glauben, dass dort eine Scheune ist. Für die Erfüllung der Sensitivitätsbedingung ist es irrelevant, dass Henry in einer weiter entfernten Welt vor einer Fassade glauben würde, dass es sich um eine echte Scheune handelt. Die Sensitivitätsbedingung kann unsere Intuition über den Scheunenfassadenfall also nicht erklären. Aber diese Definition ist auch unverträglich mit einem Wissensprinzip, das auf den ersten Blick außerordentlich plausibel ist. Es ist unverträglich mit dem Prinzip der Geschlossenheit von Wissen unter gewusster logischer Implikation. Dieses Prinzip besagt in etwa das Folgende: Wenn jemand Wissen von Prämissen hat und erkennt, dass in diesen Prämissen eine Konklusion logisch enthalten ist, und wenn er die Konklusion glaubt (weil er das erkennt), dann hat er auch ein Wissen von der Konklusion. Angenommen W ist der Wissensoperator mit einem Index s für das Subjekt des Wissens und einem Index t für den Zeitpunkt des Wissens, G sei der Glaubensoperator mit entsprechenden Indices und p und q stehen für beliebige Propositionen, dann lautet das Geschlossenheitsprinzip des Wissens etwas formaler:

145 Vgl. Goldman 1976, S. 143.



3.3 Posttraditionelle Wissensdefinitionen 

 103

Prinzip der Geschlossenheit des Wissens W(s,t)p & W(s,t)(p ⇒ q) & G(s,t)q → W(s,t)q

Dieses Prinzip ist außerordentlich plausibel, weil es die Idee verkörpert, dass man durch korrekt vollzogene logische Schlüsse Wissen ausdehnen kann. Wir gehen alle davon aus, dass wir durch korrekte logische Schlüsse nicht nur aus wahren Prämissen wahre Konklusionen ableiten können, sondern dass wir aus Wissen auch weiteres Wissen ableiten können. Doch warum ist die Definition von Wissen als sensitiver, wahrer Überzeugung mit dem Geschlossenheitsprinzip des Wissens unverträglich? Ich möchte das anhand eines Beispiels zeigen. Nehmen wir an, Jonas hat einen Sinneseindruck von einem Tisch vor sich, er glaubt deshalb, dass sich ein Tisch vor ihm befindet, und er hat Recht damit. Wenn die weiteren Umstände der Wahrnehmungssituation relativ normal sind, dann hätte Jonas keinen Sinneseindruck von einem Tisch, wenn dort kein Tisch wäre. In der nächsten Welt, in der jemand den Tisch entfernt hätte, würde Jonas vermutlich einfach an derselben Stelle keinen Gegenstand sehen. Nach der Sensitivitätsdefinition weiß Jonas also, dass sich vor ihm ein Tisch befindet, denn seine Überzeugung ist wahr und sie beruht auf Entstehungsbedingungen (dem Sinneseindruck), die in der nächsten möglichen Situation, in der das, was er glaubt, falsch wäre, nicht aufgetreten wären. Nun scheint folgendes zu gelten: Aus (1) Es gibt einen Tisch, der sich vor Jonas befindet. folgt logisch (2) Es ist nicht der Fall, dass sich vor Jonas kein Tisch befindet und ein böser Dämon in Jonas den Sinneseindruck eines Tisches hervorruft.146 Nehmen wir nun an, Jonas ist logisch nicht auf den Kopf gefallen und erkennt diese Folgerungsbeziehung und er glaubt aufgrund dessen an die Wahrheit von (2). Da (1) wahr ist, muss auch (2) wahr sein. Jonas hat also die wahre Überzeugung, dass (2). Aber dennoch weiß er (2) nicht, wenn man die Sensitivitätsdefinition des Wissens zugrunde legt. In der nächsten Welt, in der (2) falsch ist, Jonas also einen trügerischen Sinneseindruck von einem Tisch hätte, wären die Entstehungsbedingungen von (2) unverändert. Jonas käme aufgrund einer korrekten Inferenz aus einem auf den Sinneseindruck eines Tisches gestützten Urteil, nämlich (1), zu dem Urteil, dass (2). Also weiß Jonas (2) nicht. Das Beispiel zeigt

146 Formal: p ⇒ ¬(¬p∧q). Die logische Folgerung muss bestehen, weil es keine Bewertung von p als wahr gibt, unter der die Konjunktion ¬p∧q wahr sein kann, denn eine Konjunktion ist falsch, wenn ein Glied falsch ist.

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 3 Wissen

also, dass die Definition von Wissen als sensitive, wahre Überzeugung das sehr plausible Prinzip der Geschlossenheit des Wissens verletzt. Dasselbe gilt nicht für die beiden anderen Konzeptionen wahrheitsgarantierender Faktoren. Gewissheit liegt nur dann vor, wenn das Erkenntnissubjekt die Wahrheit der geglaubten Proposition von allen mit ihr unverträglichen möglichen Irrtumssituationen unterscheiden kann. Gewissheit erfordert also eine maximale Diskriminationsfähigkeit. Wenn Wissen diese Fähigkeit impliziert, dann folgt die Geschlossenheit des Wissens automatisch. p-Welten von allen Nicht-p-Welten unterscheiden zu können, bedeutet nichts anderes als alle logischen Implikationen von p von deren unverträglichen Alternativen unterscheiden zu können. Gewissheit impliziert also Geschlossenheit. Allerdings nur um den Preis des Skeptizismus, denn ich bin eben in Bezug auf (fast) keine Proposition in der Lage, Situationen, in denen sie wahr ist, uneingeschränkt von Situationen zu unterscheiden, in denen sie falsch ist. Es gibt immer irgendwelche Irrtumsmöglichkeiten, die ich nicht entdecken kann. Besser ergeht es der Definition von Wissen als sichere, wahre Überzeugung. Wenn Sicherheit Wahrheitsgarantie in allen relevanten kontrafaktischen Situationen erfordert, dann ist das mit der Geschlossenheit des Wissens verträglich, da der Bereich der relevanten Situationen anders als im Fall der Sensitivität über die logischen Implikationen stabil bleiben kann. Solange diese Stabilität besteht, muss Geschlossenheit gelten, da in jeder Welt, in der eine Proposition wahr ist, auch alle ihre logischen Implikationen wahr sein müssen. Wenn der Bereich der relevanten kontrafaktischen Situationen nicht zu weit gezogen ist, dann ist Wissen im Unterschied zur Gewissheitskonzeption auch möglich. Sicherheit wirft allerdings das Problem der objektiven Unbestimmtheit der relevanten kontrafaktischen Situationen auf. Es scheint aus dieser Perspektive keine objektiven Korrektheitsbedingungen der Wissenszuschreibung zu geben. Im Abschnitt über den kontextualistischen Wissensbegriff werde ich genauer untersuchen, ob und um welchen Preis dieses Problem zu lösen ist. Wahrheitsgarantierende Faktoren Geschlossenheit

Objektive Korrektheits­ bedingungen der ­Wissens­zuschreibung

Existenz des Wissens

Gewissheit +

+



Sicherheit

+

?

+

Sensitivität –

+

+



3.3 Posttraditionelle Wissensdefinitionen 

 105

Die konkreten Vorschläge für eine Wissensdefinition Nozick: Wissen durch „truth-tracking“ Robert Nozick hat Anfang der achtziger Jahre eine genauso elegante wie bestechende Definition des Wissens vorgeschlagen, die im Kern auf der Idee der Sensitivität beruht.147 Allerdings spielen für Nozick die jeweiligen Ursachen und Gründe der wahren Überzeugung keine Rolle. Gefordert wird, dass die Überzeugung selbst (egal auf welchem Wege) sensitiv ist gegenüber dem Nichtbestehen der Tatsache, von der sie handelt. Zusätzlich fordert Nozicks Theorie, dass das Wissenssubjekt in den nahen möglichen Welten, in denen die Tatsache genauso wie in der aktualen Welt besteht, diese Tatsache auch glaubt. Wissen liegt also genau dann vor, wenn das Subjekt eine wahre Überzeugung hat, die mit der Tatsache, von der sie handelt, kontrafaktisch korreliert: Würde die Tatsache nicht bestehen, dann würde auch das Subjekt nicht glauben, dass sie besteht; falls die Tatsache jedoch auch in nahen möglichen Welten besteht, ist das Subjekt in diesen Welten davon auch überzeugt. Wissen heißt damit, der Wahrheit auf der Spur zu sein. So könnte man Nozicks „truth-tracking“ übersetzen. Wir erhalten somit die folgende Definition: Wissen als truth-tracking Ein Subjekt S weiß die Proposition, dass p, genau dann, wenn: (i) S überzeugt ist, dass p, (ii) die Proposition, dass p, wahr ist, (iii) wenn p nicht wahr wäre, S nicht glauben würde, dass p, (iv) falls p wahr wäre, S p auch glauben würde.

Die Bedingung (iii) drückt die Sensitivität der Überzeugung aus. Die Bedingung (iv) lässt sich als Stabilitätsbedingung bezeichnen.148 Damit Wissen vorliegt, muss man nach Nozick kontrafaktisch stabil an die Wahrheit glauben. Diese Zusatzbedingung soll Fälle wie den folgenden ausschließen: Ein Gehirn im Tank bekommt von einem zynischen Neurowissenschaftler durch elektrische Stimulation die

147 Nozick 1981, S. 167–290. 148 Es ist hier wichtig, dass Nozick kontrafaktische Konditionalsätze anders versteht als üblich. Der Satz „Falls p wahr wäre, würde S auch p glauben“ ist nach Nozick nicht bereits dann wahr, wenn in der nächsten Welt (einschließlich der aktualen Welt), in der p wahr ist, S p glaubt. Denn dann wäre die Wissensbedingung (iv) gegenüber (i) und (ii) überflüssig. Nach Nozick sagen solche kontrafaktischen Konditionalsätze auch dann etwas über nicht-aktuale mögliche Welten aus, wenn der Vordersatz in der aktualen Welt wahr ist. Sie sagen in jedem Fall etwas über andere mögliche Welten aus. Vgl. dazu Nozick 1987, S. 170: „Der (…) Vorschlag hat [iv] Gültigkeit, falls S nicht nur tatsächlich wahrerweise p glaubt, sondern p auch in den ‚benachbarten‘ Welten, in denen p wahr ist, glaubt.“

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 3 Wissen

wahre Überzeugung induziert, dass es ein Gehirn im Tank ist. Diese Überzeugung erfüllt die Bedingung (iii) der Sensitivität, da das Gehirn nicht glauben würde, dass es ein solches Gehirn im Tank ist, wenn es ein normales Leben in seinem menschlichen Körper außerhalb des Tanks führen würde. Dennoch hat man die Intuition, dass dieses Gehirn kein Wissen hat. Nozick gibt dafür folgende Erklärung: Es hätte auch sehr leicht sein können, dass das Gehirn seine wahre Situation nicht erkannt hätte, etwa wenn der zynische Neurowissenschaftler mehr Spaß daran gefunden hätte, das Gehirn in einer kognitiven Scheinwelt gefangen zu halten. Das soll durch die Stabilitätsbedingung (iv) ausgeschlossen werden. Beide Bedingungen, sowohl (iii) als auch (iv) sind jedoch zu stark und nicht notwendig für Wissen. Mit Bezug auf (iii) hat Nozick das selbst eingeräumt.149 Stellen Sie sich vor, eine Großmutter glaubt, dass es ihrem Enkel gut geht, weil sie es ihm direkt ansieht. Wäre er schwer krank oder tot, dann hätte ihr Umfeld ihr vorgetäuscht, dass es ihm gut ginge, um sie zu schonen. In diesem Fall würde man sagen, dass die Großmutter weiß, dass es ihrem Enkel gut geht, wenn sie es ihm ansieht, auch wenn sie sich in der nächsten Welt, in der es ihrem Enkel schlecht geht, darüber getäuscht hätte. Der Fall zeigt, dass die Sensitivität der Überzeugung selbst nicht notwendig für Wissen sein kann. Es kommt vielmehr darauf an, dass die Methode (oder der Grund), auf die sich die Überzeugung stützt, sensitiv ist. Und das ist im Großmutter-Fall erfüllt. Wäre der Enkel in einem schlechten Gesundheitszustand (oder tot) gewesen, dann hätte er nicht gesund für die Großmutter ausgesehen. Wenn sie sich getäuscht hätte, dann wären ihre Gründe andere gewesen – in unserem Fall hätte es das falsche Zeugnis anderer gegeben. Auch die Stabilitätsbedingung (iv) ist zu stark. Nehmen wir einmal an, ein Wanderer ist vom Weg abgekommen und hat sich im Gebirge vollkommen verirrt. Er weiß nicht mehr, wie er zu seinem Ausgangsort zurückfinden soll. Wie der Zufall so will, findet er mitten in der Wildnis einen verlassenen Rucksack mit einer Karte und einem funktionierenden GPS-System. Nachdem er seine Koordinaten auf der Karte eingetragen hat, weiß er wieder, wo er sich befindet und kann den Weg zurück finden. Der Wanderer weiß, wo er ist, obwohl es sehr leicht hätte sein können, dass er seine wirkliche Position nicht gekannt hätte (wenn er den Rucksack nicht gefunden hätte). Dass es sehr leicht der Fall hätte sein können, dass jemand die Wahrheit nicht erfasst (und geglaubt) hätte, kann also tatsächliches Wissen nicht verhindern. Deshalb erfordert Wissen auch keine Stabilität.

149 Nozick 1981, S. 179.



3.3 Posttraditionelle Wissensdefinitionen 

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Einwände gegen Wissen als truth-tracking (1) Sensitivität der Überzeugung (ohne Berücksichtigung der Methode ihrer Bildung) ist nicht notwendig für Wissen. (2) Stabilität der wahren Überzeugung ist nicht notwendig für Wissen.

Dretske: Wissen durch zwingende Gründe Fred Dretske hat bereits Anfang der siebziger Jahre eine Wissensdefinition präsentiert, die sich als die richtige Konsequenz aus den Fehlern der truth-tracking Konzeption des Wissens verstehen lässt.150 Nach Dretske ist für Wissen nicht die Sensitivität der wahren Überzeugung selbst erforderlich, sondern die wahre Überzeugung muss auf sensitiven Gründen für den Inhalt der Überzeugung beruhen. Solche sensitiven Gründe nennt Dretske „zwingende Gründe“. Die wahre Überzeugung muss also auf die richtige Art und Weise verursacht sein. Und das ist auch schon hinreichend für Wissen. Von einer zusätzlichen Stabilitätsbedingung sieht Dretske ganz ab. Er schlägt also die folgende Wissensdefinition vor: Wissen durch zwingende Gründe Ein Subjekt S weiß die Proposition, dass p, genau dann, wenn: (i) S überzeugt ist, dass p, (ii) die Proposition, dass p, wahr ist, (iii) Ss Überzeugung, dass p, durch einen Grund g auf die richtige Weise verursacht wird, (iv) dieser Grund g ein zwingender Grund für p ist.

Da zwingende Gründe durch die Eigenschaft der Sensitivität charakterisiert sind, ist ein zwingender Grund für p ein Grund, der in der nächsten Welt, in der p nicht der Fall wäre, nicht auftreten würde. Doch was versteht Dretske unter einem Grund? Die Beispiele machen ganz deutlich, dass damit nicht nur introspektiv* zugängliche Zustände der kognitiven Perspektive des epistemischen Subjekts gemeint sind (wie Wahrnehmungen, Überzeugungen oder Argumente), sondern auch objektive Tatsachen (wie Anzeigen von Thermometern, Instrumenten oder Behauptungen von anderen Menschen) darunter fallen können. Es handelt sich also nicht notwendigerweise um interne Gründe. Später verdeutlicht Dretske diesen neutralen Status der Gründe durch den Begriff der Information, die nicht nur von kognitiven Zuständen getragen wird.151 Außerdem ist es wichtig, dass die wahre Überzeugung auf die richtige Weise durch den zwingenden Grund verursacht wird. Stellen Sie sich den folgenden Fall vor: Harald greift aus einem

150 Dretske 1987. 151 Vgl. Dretske 1981.

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 3 Wissen

Behälter mit verschiedenen Fieberthermometern eines heraus, dessen Anzeige sensitiv gegenüber der Körpertemperatur ist, er misst mit diesem Thermometer die Temperatur seines Kindes und glaubt aufgrund der angezeigten Temperatur korrekterweise, dass eine entsprechende Körpertemperatur bei seinem Kind vorliegt. In diesem Fall hat Harald eine wahre Überzeugung, die durch einen zwingenden Grund verursacht wird. Nehmen wir nun jedoch weiter an, Harald hätte zufällig das einzige funktionsfähige Thermometer in dem Behälter erwischt. Alle anderen Thermometer sind defekt. Dann hat man die Intuition, dass Harald kein Wissen von der Körpertemperatur seines Kindes hat. Die konkrete Anzeige dieses Thermometers ist zwar ein zwingender Grund für die tatsächliche Körpertemperatur des Kindes. Aber sie verursacht Haralds Überzeugung nicht aufgrund ihrer Eigenschaft, die Anzeige dieses Thermometers zu sein, sondern aufgrund ihrer Eigenschaft, die Anzeige eines Thermometers zu sein. Im vorliegenden Fall ist es also gerade nicht die Tatsache, dass ein zwingender Grund vorliegt, die kausal wirksam ist. Harald hätte auch der Anzeige eines der defekten Thermometer vertraut. Und das muss ausgeschlossen sein, damit Wissen vorliegt. Dretskes Wissenskonzeption kann die ursprünglichen Gettier-Fälle mühelos ausschließen. Im Fall von Smith und dem unverhofften Job ist Smiths wahre Überzeugung, dass derjenige, der die Stelle bekommt, zehn Münzen in seiner Hosentasche hat, einfach nicht durch einen zwingenden Grund verursacht. Die Gründe, auf denen diese Überzeugung beruht, enthalten nämlich eine Fehlinformation (dass Jones die Stelle bekommen wird); und zwingende Gründe schließen Fehlinformation aus. Im Fall von Meier und seinem Golf ist Smiths wahre Überzeugung, dass Meier einen Golf besitzt oder Krause sich in Berlin aufhält, ebenfalls durch irreführende Gründe verursacht  – Gründe für die Annahme, dass Meier einen Golf besitzt, die vorliegen, obwohl es nicht der Fall ist, dass Meier einen Golf besitzt; und solche irreführenden Gründe sind natürlich keine zwingenden Gründe. Es gibt jedoch drei ernsthafte Probleme mit Dretskes Vorschlag. Erstens liefert er nicht das richtige Urteil über den Scheunenfassadenfall. Henry stützt seine wahre Überzeugung auf Wahrnehmungserlebnisse, die zwingende Gründe sind, da sie nicht aufgetreten wären, wenn vor ihm keine Scheune gewesen wäre (sondern gar kein Gebäude). Die nächste Nicht-p Welt ist hier keine Situation, in der Henry vor einer Scheunenfassade steht und fälschlich glaubt, dass er vor einer echten Scheune steht. Deshalb müsste man nach Dretskes Vorschlag Henry Wissen zuschreiben; und das widerspricht unseren Intuitionen über den Fall. Zweitens scheint dieser Vorschlag mathematisches Wissen auszuschließen. Nehmen wir einmal an, dass grundlegende mathematische Überzeugungen auf mathematischen Intuitionen beruhen. Damit nach Dretske mathematisches Wissen vorliegt, muss eine spezifische mathematische Intuition eine wahre



3.3 Posttraditionelle Wissensdefinitionen 

 109

mathematische Überzeugung verursachen. Wenn eine mathematische Überzeugung wahr ist, dann bezieht sie sich jedoch nach herrschender Auffassung auf eine notwendige Tatsache, eine Tatsache, die nicht anders hätte sein können. Wenn jedoch das der Fall ist, dann kann die mathematische Intuition, die die wahre mathematische Überzeugung stützt, kein zwingender Grund sein, weil es einfach keine mögliche Situation gibt, in der die mathematische Tatsache nicht besteht. Eine solche Situation müsste es aber geben können, denn ein zwingender Grund liegt faktisch nur dann vor, wenn er in der nächsten derartigen Situation nicht auftreten würde. Es kann also von mathematischen und anderen notwendigen Tatsachen kein Wissen geben. Das dritte Problem, das ich hier wiederum zunächst nur nennen möchte, besteht darin, dass Wissen, wenn es auf zwingenden Gründen beruht, die die Eigenschaft der Sensitivität haben, das Geschlossenheitsprinzip verletzt. Wie ernsthaft die daraus entstehenden Probleme sind, wird noch zu untersuchen sein. Probleme des Wissens durch zwingende Gründe (1) Henry bekommt fälschlich Wissen zugesprochen. (2) Wissen von notwendigen Wahrheiten ist unmöglich. (3) Das Geschlossenheitsprinzip für Wissen kann nicht streng allgemein gültig sein.

Goldman: Wissen durch perfekt zuverlässige überzeugungsbildende Prozesse Die eben genannten Probleme ergeben sich, wenn die Bedingungen für Wissen vom spezifischen Inhalt der gewussten Proposition abhängen. Die Sensitivitätsbedingung stellt je nach dem Inhalt der Proposition unterschiedlich hohe Anforderungen an die Diskriminationsfähigkeit des Erkenntnissubjekts und ist eben im Falle notwendiger Wahrheiten gar nicht erfüllbar. Um diese Probleme zu vermeiden, kann man Wissen als Resultat eines allgemeinen überzeugungsbildenden Prozesses definieren, dessen Wahrheitsbilanz in allen relevanten aktualen und kontrafaktischen Situationen 100 % beträgt. Das ist der Grundgedanke von Alvin Goldmans Zuverlässigkeitstheorie des Wissens: Welche Arten von kausalen Prozessen oder Mechanismen müssen für eine Überzeugung verantwortlich sein, damit diese Überzeugung als Wissen gilt? Es muss sich um Mechanismen handeln, die  – in einem wohlverstandenen Sinne  – „zuverlässig“ sind. Grob gesagt ist ein kognitiver Mechanismus oder Prozess zuverlässig, wenn er wahre Überzeugungen nicht nur in aktualen Situationen produziert, sondern in relevanten kontrafaktischen Situationen wahre Überzeugungen produzieren würde oder wenigstens falsche Überzeugungen

110 

 3 Wissen

verhindern würde. Die Theorie des Wissens, die ich im Blick habe, würde demnach eine wichtige kontrafaktische Komponente enthalten.152

Obwohl Goldman niemals einen konkreten Definitionsvorschlag für Wissen gemacht hat, sondern meistens nur notwendige Bedingungen für Wissen nennt, könnte man die folgende Definition extrapolieren: Wissen durch perfekt zuverlässige überzeugungsbildende Prozesse Ein Subjekt S weiß die Proposition, dass p, genau dann, wenn: (i) S überzeugt ist, dass p, (ii) diese Überzeugung durch einen Prozess verursacht wird, (iii) dieser Prozess von einem Typ ist, der in allen relevanten faktischen und kontrafaktischen Situationen zu 100 % wahre Überzeugungen hervorbringt.

Allerdings bleibt in dieser Konzeption unklar, wodurch relevante faktische und kontrafaktische Situationen festgelegt werden. Dieses Unbestimmtheitsproblem wird uns im Folgenden weiter beschäftigen.

3.4 Semantischer Kontextualismus Die bislang erwogenen Vorschläge zur Definition des Wissens führen in eine Art Aporie  – eine Situation, in der wir nicht recht sehen, wie es weiter gehen soll. Wenn wir Wissen als Überzeugung definieren, die durch zwingende Gründe gestützt wird, dann steht eindeutig fest, wie stark unsere Gründe mit der Wahrheit korreliert sein müssen, um Wissen zu ermöglichen. In der nächsten Welt, in der die Überzeugung falsch wäre, dürfen die Gründe nicht auftreten. Ich weiß also aufgrund meiner Sinneswahrnehmung, dass ich eine Hand habe, da ich in der nächsten Welt, in der ich diese Hand nicht hätte (weil ich sie beispielsweise durch einen tragischen Unfall verloren hätte), die Hand auch nicht wahrnehmen würde. Doch die Eindeutigkeit der Wahrheitsbedingungen für die Wissenszuschreibung hat einen hohen Preis. Wenn Wissen nämlich durch zwingende Gründe definiert wird, dann lässt sich das intuitiv extrem plausible Prinzip der Geschlossenheit des Wissens nicht aufrechterhalten. Im Beispiel: Dass ich eine Hand habe impliziert logisch, dass ich kein handloses Gehirn im Tank bin, dem von einem bösen Neurowissenschaftler durch die entsprechende Manipulation seiner Sinneserfahrung bloß vorgegaukelt wird, es hätte eine Hand. Nach dem

152 Goldman 1976, S. 143, meine Übersetzung.



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Prinzip der Geschlossenheit des Wissens müsste jemand, der weiß, dass er eine Hand hat, und daraus korrekt ableitet, dass er kein handloses Gehirn im Tank ist, wissen, dass er kein handloses Gehirn im Tank ist. Doch zwingende Gründe sind nicht geschlossen unter logischer Implikation. Meine zwingenden Gründe für meine Überzeugung, dass ich eine Hand habe, sind keine zwingenden Gründe dafür, dass ich kein handloses Gehirn im Tank bin. Denn ich würde dieselbe Sinneserfahrung von meiner Hand haben, wenn ich ein handloses (entsprechend manipuliertes) Gehirn im Tank wäre. Wenn Wissen dagegen als wahre Überzeugung definiert wird, die durch einen Prozess erzeugt wird, der in allen relevanten kontrafaktischen Situationen oder, wie man auch sagt, in allen relevanten möglichen Welten zu wahren Überzeugungen führt, dann lässt sich das Prinzip der Geschlossenheit des Wissens aufrechterhalten, insofern der Bereich der relevanten Welten für verschiedene Überzeugungen konstant bleibt. Wenn nämlich meine Überzeugung, dass ich eine Hand habe, in allen relevanten Welten wahr ist (und ich deshalb weiß, dass ich eine Hand habe), dann bin ich auch in keiner dieser Welten ein handloses Gehirn im Tank. Wenn ich eine entsprechende Überzeugung bilden würde, dann würde ich also auch wissen, dass ich kein handloses Gehirn im Tank bin. Hier stellt sich jedoch die Frage, durch welche Faktoren die Menge der relevanten Welten festgelegt wird. Das Problem für Wissen als perfekt zuverlässig gebildete Überzeugung lässt sich anhand des bereits bekannten Scheunenfassadenfalls veranschaulichen. Führen wir uns den Fall noch einmal vor Augen. Henry sieht bei guten Sichtverhältnissen am Rande der Straße ein Gebäude, das wie eine Scheune aussieht und das er auch für eine Scheune hält. Tatsächlich handelt es sich um eine Scheune. Wenn in der Umgebung jedoch Scheunenfassaden existieren, die echten Scheunen täuschend ähnlich sehen, dann hätte Henrys Sinneserfahrung ihn sehr leicht in die Irre führen können. Deshalb hat er kein Wissen. Doch was bedeutet es, dass die täuschenden Scheunenfassaden (oder generalisierend: Irrtumsmöglichkeiten) in der Umgebung vorkommen müssen, damit Henry kein Wissen hat? Wie nahe müssen die Irrtumsmöglichkeiten der tatsächlichen Erkenntnissituation kommen, damit sie relevant sind? Wie nahe ist nahe genug? Wenn die nächstliegenden Gebäude Scheunenfassaden wären, dann wäre das sicher relevant. Aber was wäre, wenn in dem Landkreis, durch den Henry gerade fährt, keine Scheunenfassaden existieren, aber Fassaden in den angrenzenden Landkreisen massiv auftreten? Was wäre, wenn es solche Fassaden in Deutschland gar nicht gäbe, sondern nur in Kalifornien, Henry aber fast dorthin gereist wäre? Was wäre, wenn jetzt gar keine Scheunenfassaden mehr existieren, sondern alle nach Abschluss der Dreharbeiten wieder abgerissen wurden, aber diese Fassaden bis ganz kurz vor Henrys Autofahrt genau in dem Gebiet existierten, durch das er gerade fährt?

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Was wäre, wenn es solche Fassaden weder gibt noch je gegeben hat, jemand sie aber fast dort gebaut hätte oder in Zukunft bauen wird? Müssen Irrtumsmöglichkeiten tatsächlich existieren und wie nahe müssen sie liegen, um relevant zu sein? Oder genügt es, wenn es sie bloß in nahen möglichen Welten gibt? Hier lauert eine ganze Reihe von Fragen, auf die wir nicht ohne weiteres eine eindeutige Antwort geben können. Es gibt anscheinend keine objektiven Tatsachen, die festlegen, ob eine Irrtumsmöglichkeit relevant für die Wissenszuschreibung ist oder nicht. Es ist objektiv unbestimmt, ob eine Irrtumsmöglichkeit relevant ist. Wir können also offenbar die Geschlossenheit des Wissens nur um den Preis der Unbestimmtheit der Wahrheitsbedingungen des Wissens retten. Dieses Problem möchte ich als Problem der Unbestimmtheit bezeichnen.153 So ergibt sich also eine Art Dilemma* für die Vorschläge einer Wissensdefinition. Entweder verletzen sie – wie die Konzeption der zwingenden Gründe – das intuitiv sehr plausible Geschlossenheitsprinzip für Wissen. Oder sie bewahren dieses Prinzip – wie der Vorschlag, Wissen durch perfekt zuverlässige Prozesse zu erklären, dann laufen sie in das Messer des Unbestimmtheitsproblems. Es gibt jedoch einen noch relativ neuen Vorschlag, wie man Wissen definieren kann, um zwischen beiden Hörnern des Dilemmas hindurch zu steuern. Der semantische Kontextualismus154 bezüglich des Wissensbegriffes verspricht, Geschlossenheit zu bewahren und das Unbestimmtheitsproblem zugleich zu lösen. Im Kern besagt diese Position, dass Wissenszuschreibungen kontextsensitiv bzw. indexikalisch155 sind. Ob der Satz „S weiß, dass p“ wahr ist (oder nicht), hängt vom Kontext ab. Unser Wissensbegriff wird also ähnlich verstanden wie etwa der Ausdruck ‚flach‘. Mit Bezug auf ein und dieselbe Sache, etwa eine Straße, und denselben Zeitpunkt lässt sich wahrer Weise sagen „Die Straße ist flach“ und genauso wahrer Weise sagen „Die Straße ist nicht flach“. Das ist möglich, wenn unterschiedliche Maßstäbe für Flachheit im Spiel sind. Ein Autofahrer wird korrekter Weise sagen „Die Straße ist flach“, wenn sie keine Unebenheiten aufweist, die sich beim Fahren

153 Es handelt sich hier um ein Problem, das dem verwandt ist, was von Brandom 1998, S. 386, und Baumann 2001 hervorgehoben wurde. 154 Wichtige Vertreter dieser Art von Kontextualismus sind Lewis 1979 und 1996, DeRose 1995 und 1999 sowie Cohen 1988 und 1999. 155 Indexikalische Ausdrücke wie „dies“, „hier“, „jetzt“ oder „ich“ haben einen feststehenden sprachlichen Sinn, aber keinen kontextunabhängigen Referenten. Der sprachliche Sinn (bei „dies“: der Gegenstand auf den ich zeige; bei „ich“: der Sprecher dieser Äußerung) legt relativ zu einem Kontext den Referenten eindeutig fest. Deshalb kann derselbe indexikalische Ausdruck in unterschiedlichen Kontexten seiner Verwendung auf verschiedene Gegenstände referieren. Alle Ausdrücke, deren Referenz kontextabhängig ist, kann man im weiteren Sinne als indexikalisch bezeichnen.



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negativ bemerkbar machen. Ein Wissenschaftler, der die Straßenoberfläche unter einem Mikroskop betrachtet, führt einen viel strengeren Maßstab ein, relativ zu dem er die Wahrheit sagt, wenn er sagt „Die Straße ist nicht flach“. Der Vertreter des semantischen Kontextualismus bezüglich von Wissen behauptet nun, dass unser Ausdruck für Wissen sprachlich genau so funktioniert wie unser Ausdruck ‚flach‘. Ganz wesentlich für das genauere Verständnis des semantischen Kontextualismus ist, dass der Maßstab für die Wahrheitsbedingungen unserer Wissenszuschreibungen vom Kontext dessen abhängt, der Wissen zuschreibt, und nicht etwa vom Kontext desjenigen, dem Wissen zugeschrieben oder abgesprochen wird. Der Äußerungskontext legt also die Wahrheitsbedingungen der Wissenszuschreibung fest; und diese Wahrheitsbedingungen können mit dem Kontext des Wissenszuschreibers variieren. Deshalb spricht man auch von einem Zuschreibungskontextualismus.156 Es kann also bei Wissenszuschreibungen dasselbe passieren wie bei der Charakterisierung eines Gegenstandes als „flach“. In Bezug auf ein und dieselbe Person S, denselben Zeitpunkt und dieselbe Proposition p ist es möglich, dass eine Person A behauptet „S weiß, dass p“ und damit die Wahrheit sagt und dass zugleich eine andere Person B behauptet „S weiß nicht, dass p“ und damit ebenfalls Recht hat. Das ist möglich, wenn die Maßstäbe in den beiden Äußerungskontexten verschieden sind. Die Hauptvertreter des semanti-

156 Der Kontextualismus in der Erkenntnistheorie lässt sich durch die These charakterisieren, dass die Wahrheitsbedingungen für Zuschreibungen des Wissens (oder der Rechtfertigung) mit dem Kontext variieren. Der Kontextualismus muss also als Gegenthese zum Invariantismus verstanden werden, wonach die Wahrheitsbedingungen für epistemische Zuschreibungen nicht mit dem Kontext variieren. Im Rahmen des erkenntnistheoretischen Kontextualismus lassen sich dann grundsätzlich zwei Arten unterscheiden, je nachdem, ob der Kontext des Wissenszuschreibers (Zuschreibungskontextualismus) oder der Kontext des Erkenntnissubjekts (Subjektkontextualismus), dem Wissen zugeschrieben wird, maßgeblich für die Wahrheitsbedingungen der Wissenszuschreibung ist. Zu dieser Unterscheidung vgl. DeRose 1999, Pritchard 2002 und Grundmann 2003c. Vgl. zur Charakterisierung des semantischen (Zuschreibungs-)Kontextualismus Brendel 2003, S. 1019–1021, Grundmann 2003c, S. 995–998. Dagegen bezeichnet Stanley 2005 den Subjektkontextualismus, der Wissensbedingungen davon abhängig macht, wie viel praktisch für das Subjekt auf dem Spiel steht, als Invariantismus. Ihm zufolge ist nur der Zuschreiberkontextualismus ein echter Kontextualismus. Zum Teil werden auch Positionen als kontextualistisch bezeichnet, die Wissen von externen Bedingungen (neben der Wahrheit) abhängig machen. Vgl. Dretske 2004, Williams 2001, S. 162. Abgesehen davon, dass die Wahrheit dieser Form von Kontextualismus nach Gettier nahezu unstrittig ist, sollte man diese Positionen nicht unter dem Label ‚Kontextualismus‘ klassifizieren, weil sie mit dem Invariantismus vollkommen verträglich sind und der Kontext ihnen zufolge nur für die Erfüllung und nicht für die Festlegung der Wahrheitsbedingungen für Wissen verantwortlich ist.

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schen Kontextualismus sind sich darin einig, dass die Faktoren, die die Wahrheitsbedingungen der Wissenszuschreibungen im jeweiligen Äußerungskontext bestimmen, im Wesentlichen konversationelle Faktoren sind. Wie hoch der Maßstab für eine korrekte Wissenszuschreibung ist, hängt also davon ab, welche Irrtumsmöglichkeiten der Wissenszuschreiber erwähnt oder bedenkt bzw. (nach einem anderen Vorschlag) was explizit als Wissen behauptet wird. Wie sich der semantische Kontextualist die Veränderung der Wissensmaßstäbe in der Praxis vorstellt, lässt sich ganz schön am Beispiel alltäglicher und skeptischer Kontexte veranschaulichen. Nehmen wir an, eine Person S glaubt aufgrund ihrer Sinneswahrnehmung, dass sich vor ihr ein Schreibtisch befindet, und S hat Recht. Stellen Sie sich jetzt einen Beobachter A vor, der selbst nur alltägliche Irrtumsmöglichkeiten in Betracht zieht. Relativ zu den von A in Betracht gezogenen Irrtumsmöglichkeiten garantiert die Sinneswahrnehmung von S die Wahrheit seiner Überzeugung. Deshalb hat A Recht, wenn er sagt „S weiß, dass sich vor ihm ein Schreibtisch befindet“. Stellen Sie sich jetzt einen Beobachter B vor – einen Philosophen, der in erkenntnistheoretischen Fragen versiert ist. Er zieht auch sehr bizarre Irrtumsmöglichkeiten in Betracht: dass man permanent träumen könnte, dass ein böser Dämon oder ein fieser Neurowissenschaftler die gesamte Sinneserfahrung manipulieren könnte und Ähnliches mehr. Relativ zu den von B in Betracht gezogenen skeptischen Irrtumsmöglichkeiten garantiert die Sinneswahrnehmung von S die Wahrheit seiner Überzeugung nicht. In den skeptischen Situationen würde sie nämlich S in die Irre führen. Deshalb hat B Recht, wenn er sagt „S weiß nicht, dass sich vor ihm ein Schreibtisch befindet“. Es liegt kein Widerspruch darin, dass S korrekterweise (von A) Wissen zugeschrieben bekommt und S korrekterweise (von B) Wissen abgesprochen bekommt. Denn das, was A dem Subjekt S an Wissen zuschreibt, ist nicht dasselbe wie das, was B dem Subjekt S an Wissen abspricht. Objektsprachlich ausgedrückt behauptet A korrekt, dass S relativ zu alltäglichen Maßstäben weiß, dass er sich vor einem Schreibtisch befindet, und B behauptet korrekt, dass S relativ zu strengen (skeptischen) Maßstäben nicht weiß, dass er sich vor einem Schreibtisch befindet. Und das kann beides wahr sein. Der semantische Kontextualist schlägt also folgende Wissensdefinition vor: Wissen gemäß dem semantischen Kontextualismus Die Äußerung „Subjekt S weiß die Proposition, dass p“ durch einen Zuschreiber A ist wahr genau dann, wenn: (i) S überzeugt ist, dass p, (ii) die Proposition, dass p, wahr ist, (iii) Ss Überzeugung, dass p, durch einen Grund g gestützt wird, (iv) dieser Grund g die Wahrheit der Überzeugung, dass p, in allen Welten w garantiert, die aus As Perspektive aufgrund konversationeller Faktoren relevant sind.



3.4 Semantischer Kontextualismus 

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Aus dieser Definition wird sofort ersichtlich, wie der Kontextualist das Problem der Unbestimmtheit löst. Auch wenn objektiv unbestimmt bleibt, welche möglichen Welten relevant sind für die korrekte Wissenszuschreibung, können konversationelle Faktoren aus der Perspektive des Wissenszuschreibers die Menge der relevanten Welten exakt fixieren. Für den semantischen Kontextualismus sprechen im Wesentlichen vier Argumente, die ich jetzt etwas genauer unter die Lupe nehmen werde. Erstens: Die Vielfalt und Variabilität unserer Wissensmaßstäbe in der alltäglichen Praxis außerhalb der Studierstube des Philosophen kann allein durch einen indexikalischen Wissensbegriff adäquat beschrieben werden. Nur der Kontextualismus wäre demnach deskriptiv adäquat. Zweitens: Der Kontextualismus ist besser als seine Rivalen dazu in der Lage, herkömmliche erkenntnistheoretische Paradoxien wie das Problem des Skeptizismus zu lösen und im gleichen Atemzug deren anfängliche Plausibilität zu erklären. Er hat ein ausgezeichnetes diagnostisches Potenzial. Drittens: Der Kontextualismus kann erklären, warum das Prinzip der Geschlossenheit für Wissen zumindest innerhalb eines Kontextes gilt. Viertens: Wie eben bereits angedeutet, kann der Kontextualismus auch das Problem der Unbestimmtheit relevanter möglicher Welten lösen. Zunächst zum Argument der deskriptiven Adäquatheit.157 Eine ganz typische Alltagssituation wie die folgende legt den indexikalischen Charakter unseres Wissensbegriffes nahe: Herr Stehle muss dienstlich dringend so schnell wie möglich mit dem Zug von Tübingen nach Stuttgart in die Hauptgeschäftsstelle fahren. Deshalb fragt er im Büro nach, ob irgendjemand weiß, wann der nächste Zug nach Stuttgart fährt. Sein Kollege, Herr Pfefferle, antwortet: „Ich weiß, dass der nächste Zug nach Stuttgart um 15:35 Uhr fährt. Ich habe den Zug vor kurzem auch einmal nehmen müssen.“ Da Stehle die Sache äußerst wichtig ist, denkt er daran, dass sich sein Kollege vielleicht nur irrtümlich daran zu erinnern meint oder dass sich der Fahrplan inzwischen geändert haben könnte oder dass sich der Zug heute möglicherweise wegen Gleisbauarbeiten verspäten könnte. Deshalb nimmt er an, dass Pfefferle nicht wirklich weiß, wann der nächste Zug fährt. Er ruft also bei der Bahnhofsauskunft an, um sich zu informieren. Der semantische Kontextualist analysiert den Fall wie folgt: Pfefferle hat, gemessen an seinen eigenen Maßstäben, Recht mit der Behauptung, dass er weiß, wann der nächste Zug nach Stuttgart fährt. Der Zug fährt tatsächlich um diese Zeit und er hat Gründe für seine Überzeugung, die relativ zu den von ihm für relevant gehaltenen Irrtumsmöglichkeiten die Wahrheit garantieren. Aber Stehle hat, gemessen an seinen strengeren Maßstäben, auch Recht damit, dass

157 Vgl. zu diesem Argument Cohen 1999, S. 58.

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Pfefferle es nicht weiß. Beide haben Recht und es gibt keinen Widerspruch, weil Pfefferle zwar gemäß weniger anspruchsvoller Maßstäbe Wissen hat, nicht aber gemäß der strengeren Maßstäbe von Stehle. Zwar könnte man alternativ dazu auch annehmen, dass wir es mit zwei sich widersprechenden Wissenszuschreibungen zu tun haben, von denen mindestens eine falsch ist. Doch das hätte in jedem Fall fatale Konsequenzen. Nehmen wir an, Stehle hätte Unrecht, wenn er seinem Kollegen Pfefferle Wissen abspricht. Dann müsste er korrekterweise sagen, dass Pfefferle Wissen hat. Wenn er das täte, dann wäre aber seine Erkundigung bei der Bahnhofsauskunft widersinnig. Doch in der vorliegenden Situation ist sie das sicher nicht. Wenn wir dagegen sagen, dass Pfefferle sich fälschlich Wissen zuschreibt, dann folgt daraus, dass wir so gut wie niemals Wissen haben, denn unsere gewöhnliche erkenntnistheoretische Situation entspricht ziemlich genau der Situation, in der sich Pfefferle befindet. Unsere Informationen hängen fast immer von Quellen ab, die auch fehlerhaft sein könnten. Also sind beide Wissenszuschreibungen korrekt und der Wissensbegriff ist indexikalisch. Was ist von diesem Argument zu halten? Aus meiner Sicht wird hier eine zu starke Konsequenz aus dem beschriebenen Fall gezogen. Wenn Stehle etwas ausgefallene Irrtumsmöglichkeiten in Betracht zieht, dann muss das keineswegs die Wahrheitsbedingungen der Wissenszuschreibung an Pfefferle verändern, sondern es kann einfach dazu führen, dass er Zweifel daran hat, dass die invarianten Wahrheitsbedingungen für Wissen im Falle seines Kollegen erfüllt sind. Stehle kann einfach Zweifel daran haben, ob es wahr ist, was Pfefferle sagt. Deshalb glaubt Stehle auch nicht, dass sein Kollege weiß, wann der Zug fährt, und geht von der Annahme aus, dass er es nicht weiß. Das wäre in der Situation auch dann rational, wenn Pfefferle tatsächlich Recht damit hat, dass er weiß, wann der Zug fährt, und Stehle Recht hätte, wenn er ihm glauben würde. Stehles Verhalten wird einfach dadurch erklärt, dass er nicht weiß (oder nicht gerechtfertigt ist anzunehmen), dass sein Kollege Wissen hat. Beispielsfälle wie der vorliegende lassen sich also auch ohne die Annahme erklären, dass der Wissensbegriff indexikalisch ist.158 Wie sieht es genauer mit dem diagnostischen Potential des semantischen Kontextualismus aus?159 Betrachten Sie die folgenden drei Propositionen: (1) Ich weiß nicht, dass ich kein handloses Gehirn im Tank bin (in dem die Sinneserfahrung der eigenen Hand durch direkte Einwirkung auf das Gehirn hervorgerufen wird).

158 Vgl. zu dieser Kritik auch Grundmann 2003c, S. 1003 ff. 159 Vgl. zum Folgenden Cohen 1988 und DeRose 1995.



3.4 Semantischer Kontextualismus 

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(2) Wenn ich nicht weiß, dass ich kein handloses Gehirn im Tank bin, dann weiß ich auch nicht, dass ich eine Hand habe. (3) Ich weiß, dass ich eine Hand habe. Diese drei Propositionen scheinen miteinander unverträglich zu sein. Aus (1) und (2) folgt offenbar die Negation von (3). Dennoch sehen alle drei Propositionen auf den ersten Blick sehr plausibel aus. Ich weiß nicht, dass ich kein Gehirn im Tank bin, denn wie sollte ich das aufgrund meiner Erfahrung wissen können, die doch genauso aussehen würde, wenn ich ein Gehirn im Tank wäre. (2) folgt aus dem Prinzip der Geschlossenheit des Wissens. Und (3) wird durch unsere Alltagsintuitionen gestützt. Wir haben es also mit einem Paradox zu tun. Jede der drei Propositionen erscheint für sich genommen äußerst plausibel, aber sie können anscheinend nicht alle zusammen wahr sein. Dieses skeptische Paradox lässt sich für beliebige alltägliche Propositionen und beliebige skeptische Irrtumsmöglichkeiten verallgemeinern. Um das Paradox zu lösen, ist eine Antwort auf die Frage nötig, welche der miteinander unverträglichen Propositionen falsch ist. Zugleich müssen wir erklären, warum diese falsche Proposition dennoch so plausibel erscheint. Die herkömmlichen Versuche, das Paradox zu lösen, sind aus unterschiedlichen Gründen unbefriedigend. Die skeptische Strategie gibt (3) auf. Verallgemeinert betrachtet folgt daraus, dass wir über keinerlei Wissen verfügen. Diese Konsequenz ist bereits für sich genommen absurd. Außerdem versteht man nicht, weshalb (3) überhaupt so plausibel erscheinen konnte, wenn (1) offensichtlich richtig ist. Eine andere Strategie besteht darin, das Prinzip der Geschlossenheit für Wissen aufzugeben. Solange man an diesem Prinzip festhält, muss man (2) akzeptieren. Dass ich eine Hand habe impliziert logisch, dass ich kein handloses Gehirn im Tank bin. Wenn ich also Letzteres nicht weiß, dann weiß ich auch das Erstere nicht.160 Weil das Geschlossenheitsprinzip jedoch so große intuitive Plausibilität besitzt, ist es denkbar unattraktiv, das Prinzip aufzugeben. So bleibt schließlich noch die Moore-Strategie. G. E.  Moore war der Überzeugung, dass uns nichts gewisser ist, als dass wir alltägliche Propositionen wie die, dass ich eine Hand habe, wissen. Dann können wir mit Hilfe von (2) die Falschheit von (1) einfach ableiten. Ich weiß also, dass ich kein handloses Gehirn im Tank bin. Aber diese Strategie lässt letztlich unerklärt, warum (1) trotzdem so plausibel erscheint. Der semantische Kontextualismus bietet uns nun einen einfachen Ausweg aus der Misere an. Für ihn gibt es nämlich gar keine echte Inkonsistenz zwischen den drei Sätzen, sondern nur den Anschein eines Paradoxes. Wenn der Kontex-

160 Wenn gilt: p → q, dann gilt (aufgrund von Kontraposition): ¬q → ¬p.

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tualist Recht hat, drückt (1) die folgende Proposition aus: Ich weiß relativ zu dem strengen Maßstab skeptischer Kontexte nicht, dass ich kein handloses Gehirn im Tank bin. (2) sollte als Geschlossenheit von Wissen relativ zu einem Kontext interpretiert werden. Dann folgt aus (1) und (2), dass ich relativ zum strengen Maßstab des skeptischen Kontextes nicht weiß, dass ich eine Hand habe. Das widerspricht jedoch keineswegs unserer durch (3) zum Ausdruck gebrachten Alltagsüberzeugung, dass ich relativ zu unseren gewöhnlichen Maßstäben weiß, dass ich eine Hand habe. Der Kontextualist relativiert also die skeptische Konsequenz auf den Kontext des Skeptizismus: Von alltäglichen Propositionen haben wir kein Wissen, das den extrem strengen Maßstäben skeptischer Überlegungen gerecht wird. Aber das bedroht unsere alltäglichen Wissensansprüche überhaupt nicht. Denn die beanspruchen nur ein Wissen nach gewöhnlichen Maßstäben. Was ist von dieser kontextualistischen Diagnose des skeptischen Paradoxes zu halten? Im Grunde läuft die Diagnose darauf hinaus, das skeptische Paradox als Illusion zu entlarven. Die eigentliche Quelle des Problems ist ein semantisches Missverständnis.161 Wir durchschauen einfach die Indexikalität unserer Wissenszuschreibungen nicht. Aus einem scheinbar erkenntnistheoretischen Problem wird ein semantisches Missverständnis. Und sobald dieses beseitigt ist, bleibt nur folgende Binsenweisheit übrig: Gemessen an extrem hohen Maßstäben haben wir kein Wissen über die Welt. Dieses Problem ist vollkommen harmlos, genau wie die Einsicht, dass es keinen Arzt in einer Stadt wie New York gibt – sobald man als Arzt nur denjenigen gelten lässt, der jede nur denkbare Krankheit innerhalb von zwei Minuten heilen kann.162 Diese Diagnose des skeptischen Problems ist jedoch einfach unplausibel, weil ein offensichtlich erkenntnistheoretisches Problem durch sie zum Verschwinden gebracht und durch ein rein semantisches Problem ersetzt wird. Außerdem kann auch die Kontextualisierung skeptischer Konsequenzen nicht überzeugen. Skeptische Positionen beruhen nämlich auf der Intuition, dass wir in keinem Kontext auch nur minimales Wissen besitzen.163 Und antiskeptische Positionen wollen Wissen nicht nur im alltäglichen Kontext behaupten, sondern eben gerade auch im Angesicht skeptischer Szenarien. Die Diagnose des skeptischen Paradoxes durch den Kontextualisten lokalisiert das skeptische Problem also im doppelten Sinne falsch. Erstens reduziert es dieses Problem auf ein rein semantisches Problem. Und zweitens kontextualisiert es ein Problem, das intuitiv die verschiedenen Kontexte übergreift.

161 Vgl. Schiffer 1996. 162 Das Beispiel übernehme ich von Stroud 1984, S. 40 f. 163 Zu dieser Kritik auch Kornblith 2000 und Williams 2001.



3.4 Semantischer Kontextualismus 

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Damit komme ich zum dritten Argument für den semantischen Kontextualismus. Dieser soll in der Lage sein, das intuitiv sehr plausible Geschlossenheitsprinzip für Wissen zu bewahren. Einer der Hauptvertreter des Kontextualismus, Keith DeRose, findet die Aufgabe dieses Prinzips vollkommen inakzeptabel.164 Der Kontextualismus kann das Prinzip zwar nicht über verschiedene Kontexte hinweg, wohl aber innerhalb eines Kontextes bewahren. Wie ist das möglich? Innerhalb eines Kontextes ist der Maßstab für Wissen konstant. Das heißt, der Bereich möglicher Welten, innerhalb dessen der Grund einer Überzeugung deren Wahrheit garantieren muss, um Wissen zu generieren, ist fixiert. Nun gilt aber, dass in allen Welten, in denen eine Proposition wahr ist, auch alle Propositionen wahr sind, die durch sie logisch impliziert* werden. Doch dann gilt auch Folgendes: Wenn ein Grund relativ zu einem bestimmten Bereich möglicher Welten die Wahrheit einer Proposition garantiert, dann garantiert er relativ zu diesem Bereich möglicher Welten auch die Wahrheit aller durch diese Proposition logisch implizierten Propositionen. Innerhalb eines Kontextes muss deshalb Geschlossenheit für Wissen gelten. DeRose ist der Auffassung, dass der Bereich relevanter möglicher Welten durch die Proposition festgelegt wird, von der durch den Wissenszuschreiber behauptet wird, dass sie von einem Subjekt gewusst wird. Die Wissenszuschreibung ist dann wahr, wenn in dem Bereich möglicher Welten, der bis zur nächsten Welt reicht, in der diese Proposition falsch ist, die Gründe für diese Proposition nur auftreten, insofern die Proposition wahr ist.165 Das Subjekt wird dann auch von den Propositionen Wissen haben, die es durch eine logische Folgerung aus einer Proposition ableitet, die zu seinem Wissen zählt. Dieses Wissen verschwindet jedoch, sobald vom Zuschreiber behauptet wird, dass es besteht. Denn dann ändert sich der Kontext. Dasselbe gilt auch für den Fall, dass jemand sich selbst Wissen zuschreibt und aus diesem Wissen durch eine logische Folgerung Überzeugungen gewinnt, von denen er behauptet, dass er sie ebenfalls weiß. Sobald man also explizit behauptet, dass man die Implikationen von etwas, das man weiß, ebenfalls weiß, verändert sich der Kontext in der Weise, dass die Gründe nicht mehr ausreichen, um aus der gefolgerten Wahrheit Wissen zu machen. In der Praxis ist also der Kontext aufgrund seiner Sensitivität gegenüber Wissensbehauptungen so instabil, dass sich mit Hilfe einer logischen Folgerung aus dem,

164 In diesem Sinne DeRose 1995, S. 45. 165 Vgl. in diesem Sinne die Regel der Sensitivität in DeRose 1995, S. 36.

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was man sich als Wissen zuschreibt, niemals Wissensbehauptungen rechtfertigen lassen.166 Noch deutlicher wird die Geschlossenheit von Wissen untergraben, wenn man erwähnte oder bedachte Irrtumsmöglichkeiten für die konversationellen Faktoren hält, die den Maßstab für die Wahrheit von Wissenszuschreibungen festlegen. Nehmen wir an, dass ich wiederum aufgrund meiner Sinneserfahrung im gewöhnlichen Kontext weiß, dass ich eine Hand habe. Wenn ich nun erfasse, dass dies logisch impliziert, dass ich kein handloses Gehirn im Tank bin, und aufgrund dessen glaube, dass ich kein handloses Gehirn im Tank bin, dann bringt diese Schlussfolgerung automatisch durch ihren Inhalt eine Irrtumsmöglichkeit ins Spiel, die den Wissensmaßstab so weit anhebt, dass ich nicht weiß, dass ich kein handloses Gehirn im Tank bin. In diesem Fall ist es also gar nicht möglich, dass ich Irrtumssituationen durch eine logische Inferenz aus meinem gewöhnlichen Wissen ausschließe, weil die Schlussfolgerung selbst bereits den Kontext ändert. Tatsächlich ist also die Geschlossenheit des Wissens im Rahmen des Kontextualismus zumindest sehr stark eingeschränkt, weil manche Schlussfolgerungen automatisch den Kontext verändern. Betrachten wir schließlich noch das Argument, dass konversationelle Faktoren eindeutig festlegen, welche möglichen Welten für die Bewertung des Wissensanspruches relevant sind. Kann der Kontextualismus das Unbestimmtheitsproblem tatsächlich lösen? Stellen Sie sich vor, ein Philosoph formuliert ein gültiges Argument auf der Basis von Prämissen, die in den Bereich seines Wissens fallen. Damit entscheidet er eine bislang unter Philosophen strittige Frage auf äußerst originelle Weise. Wenn das Erwähnen einer Irrtumsmöglichkeit bereits ausreichen würde, um den Maßstab des Wissens anzuheben, dann würde es genügen, wenn sein neidischer Gesprächspartner bloß erwähnte, dass seine ganze Überlegung auf der Täuschung durch einen bösen Dämon beruhen könnte, um ihn seines Wissens zu berauben. Das ist jedoch vollkommen kontraintuitiv. Es reicht offenbar nicht aus, dass Irrtumsmöglichkeiten einfach nur erwähnt werden, um sie für die Wahrheitsbedingungen der Wissenszuschreibung relevant zu machen. Doch dann bleibt unbestimmt, unter welchen konversationellen Bedingungen Irrtumsmöglichkeiten relevant werden. Dasselbe Problem ergibt sich auch im umgekehrten Fall. Es ist nicht klar, ob und unter welchen Bedingungen sich die Maßstäbe der korrekten Wissenszuschreibung wieder absenken. Sobald wir einmal skeptische Irrtumsmöglichkeiten in Betracht gezogen haben, können wir den Maßstab wenigstens nicht dadurch wieder senken, dass wir diese Möglich-

166 Davis 2004, S. 260, hält diese Konsequenz für genauso inakzeptabel wie die Aufgabe des Geschlossenheitsprinzips selbst.



3.4 Semantischer Kontextualismus 

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keiten einfach ignorieren. Welche Faktoren für die Absenkung der Maßstäbe verantwortlich sind, bleibt also ebenfalls unklar.167 Die anscheinend so überzeugenden Argumente für den semantischen Kontextualismus erweisen sich bei näherer Betrachtung als wenig überzeugend. Es gibt jedoch umgekehrt auch starke Einwände gegen den semantischen Kontextualismus. Ich werde mich im Folgenden auf einen solchen Einwand konzentrieren: viele semantische Beobachtungen im Zusammenhang mit dem Wissensbegriff sprechen gegen seinen indexikalischen Charakter. Was spricht gegen den indexikalischen Charakter unseres Wissensbegriffes? Indexikalische Begriffe weisen die Besonderheit auf, dass ihre Referenz nicht konstant ist, sondern vom Kontext der Äußerung mitbestimmt wird. Der indexikalische Ausdruck ‚ich‘ bezieht sich beispielsweise auf denjenigen, der dieses Wort äußert, und das können, je nach Umständen, ganz verschiedene Personen sein. Daraus ergibt sich, dass auch ein Satz, in den ein solcher indexikalischer Ausdruck eingebettet ist, je nach Kontext andere Wahrheitsbedingungen hat. Wenn Thomas Grundmann den Satz äußert: „Ich bin ein Philosoph“, dann ist der Satz wahr genau dann, wenn der Äußerer dieses Satzes, Thomas Grundmann, ein Philosoph ist. Wenn dagegen Angela Merkel denselben Satz äußert, dann ist dieser Satz wahr genau dann, wenn Angela Merkel eine Philosophin ist. Es ist unschwer erkennbar, dass eine Äußerung des Satzes wahr und die andere falsch sein kann, wenn verschiedene Sprecher sie äußern. Und genau diesen Sachverhalt erkennen kompetente Sprecher, wenn sie indexikalische Ausdrücke verwenden. Deshalb würde es auch für niemanden irgendwie widersprüchlich klingen, wenn ich zu Angela Merkel Folgendes sagen würde: „Sie haben Recht, wenn Sie sagen ‚Ich bin kein Philosoph‘, aber ich bin ein Philosoph.“ Beide Verwendungen von ‚ich‘ beziehen sich auf verschiedene Personen, im ersten Fall auf Angela Merkel und im zweiten Fall auf Thomas Grundmann. Wenn kompetente Sprecher indexikalische Ausdrücke verwenden, erkennen sie deren indexikalischen Charakter normalerweise. Sie sind nicht blind gegenüber der Indexikalität der von ihnen verwendeten Ausdrücke.168 Doch wenn der Wissensbegriff indexikalisch wäre, dann würden wir – anders als im Regelfall  – dessen indexikalischen Charakter gerade nicht durchschauen. Das wird deutlich, wenn Sie sich folgenden Satz vor Augen führen: „Du hast Recht, wenn Du sagst ‚Ich weiß, dass ich eine Hand habe‘, aber Du weißt nicht, dass Du eine Hand hast.“ Dieser Satz hört sich eindeutig widersprüchlich an. Wenn wir jedoch die indexikalische Analyse des Wissensbegriffes akzeptieren, könnte

167 In diesem Sinne auch Brendel 2003, S. 1023. 168 Vgl. dazu Schiffer 1996, S. 328; Davis 2004, S. 264 f.

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er sehr wohl wahr sein, nämlich dann, wenn der Äußerer des übergeordneten Satzes einen strengeren Wissensmaßstab hat als der Äußerer des eingebetteten Satzes. Dennoch klingt der Satz für uns widersprüchlich. Außerdem hätten wir uns nicht über Jahrtausende mit dem skeptischen Problem als einem tiefen erkenntnistheoretischen Problem herumgeschlagen, wenn wir erkannt hätten, dass alltägliche Wissensbehauptungen vollkommen verträglich mit skeptischen Wissensbestreitungen sind. Dass wir tatsächlich nichts von dem indexikalischen Charakter unseres Wissensbegriffes wissen, spricht gegen dessen indexikalischen Charakter. Außerdem gibt es auch noch einige andere Merkmale indexikalischer Begriffe, die vom Wissensbegriff ebenfalls nicht erfüllt werden. Wenn die Anwendungsbedingungen für einen Ausdruck mit den Maßstäben des Sprechers variieren, wie beispielsweise im Fall des Ausdrucks ‚flach‘, dann lassen sich die Maßstäbe üblicherweise genauso leicht wieder senken, wie sie sich anheben lassen.169 So kann ich (als Autofahrer) sagen: „Die Straße ist flach“ und damit die Wahrheit sagen; und dann kann ich (als Wissenschaftler, der die Straßenoberfläche mit einem Mikroskop untersucht) sagen „Die Straße ist nicht flach“ und wieder Recht haben. Ich kann aber sofort wieder in die Perspektive des Autofahrers zurückkehren und damit automatisch den Maßstab senken. Es bleibt auch nach meiner wissenschaftlichen Untersuchung möglich, dass ich (als Autofahrer) daran festhalte, dass die Straße flach ist, und damit wiederum die Wahrheit sage. Anders ist es im Fall der Anhebung der Wissensmaßstäbe durch skeptische Irrtumsmöglichkeiten. Hat man sie einmal in Betracht gezogen, dann wird man auch bezüglich alltäglicher Wissensansprüche sagen, dass sie – streng genommen – falsch sind. Schließlich lassen sich indexikalische Ausdrücke wie ‚flach‘ relativieren. So können wir etwa sagen, dass nichts vollkommen flach ist, aber Flugzeugflügel relativ flach sind. Eine vergleichbare Relativierung ist beim Wissen unmöglich. Von einem ‚relativen‘ oder ‚unvollkommenen Wissen‘ zu sprechen, ist ein sprachliches Unding.170 Der Wissensbegriff verhält sich also in vielerlei Hinsicht deutlich anders als typische indexikalische Ausdrücke und das spricht dagegen, ihn als indexikalischen Ausdruck zu klassifizieren. Insgesamt lässt sich resümieren, dass die Argumente für den Kontextualismus allesamt nicht wirklich überzeugen können und dass es schwerwiegende Einwände gegen den vom Kontextualismus unterstellten indexikalischen Charakter unseres Wissensbegriffes gibt. Hier die Argumente für und gegen den Kontextualismus und ihre Bewertung noch einmal im Überblick:

169 Vgl. Brendel 2003, S. 1023. 170 Davis 2004, S. 268.



3.5 Das Prinzip der Geschlossenheit des Wissens 

 123

Semantischer Zuschreibungskontextualismus: Argumente dafür (1) Argument der deskriptiven Adäquatheit: Nur die Annahme eines indexikalischen Wissensbegriffes erfasst unsere Praxis der Wissenszuschreibung angemessen. Einwand: Es genügt, wenn wir annehmen, dass wir oft nicht sicher sind, ob die invarianten Wissensbedingungen erfüllt sind. (2) Argument des diagnostischen Potentials: Nur der Kontextualismus kann das skeptische Paradox auflösen, ohne die Plausibilität der Annahmen in Frage zu stellen. Einwand: Die kontextualistische Lösung bringt das erkenntnistheoretische Problem ganz zum Verschwinden und bietet deshalb keine angemessene Diagnose. (3) Der Kontextualismus kann das Geschlossenheitsprinzip für Wissen bewahren, wenn es dieses Prinzip auch auf Kontexte relativieren muss. Einwand: In der Praxis läuft diese Relativierung des Prinzips darauf hinaus, das Prinzip aufzugeben, weil die Kontexte instabil sind. (4) Argument von der Lösung des Unbestimmtheitsproblems: Nur die konversationellen Faktoren des Äußerungskontextes können die für die Wissenszuschreibung relevanten möglichen Welten eindeutig festlegen. Einwand: Auch der konversationelle Kontextualismus kann dieses Problem nicht vollständig lösen. Semantischer Zuschreibungskontextualismus: Einwand Der Wissensbegriff verhält sich untypisch für einen indexikalischen Begriff.

3.5 Das Prinzip der Geschlossenheit des Wissens Bislang wurde davon ausgegangen, dass das Prinzip der Geschlossenheit des Wissens eine hohe intuitive Plausibilität besitzt. Jetzt soll dieses Prinzip genauer unter die Lupe genommen werden. Wenn ich weiß, dass alle Kugeln in einem Behälter rot sind, und weiß, dass daraus logisch folgt, dass eine bestimmte Kugel in dem Behälter rot ist, dann weiß ich auch, dass diese Kugel rot ist. Wir alle gehen in unseren Argumenten im Alltag genauso wie in philosophischen Beweisen* davon aus, dass deduktive Inferenzen aus unserem bisherigen Wissen zu neuem Wissen führen. Wir betrachten deduktive Schlüsse aus dem, was wir wissen, als legitime Quelle neuen Wissens. Diese hohe anfängliche Plausibilität der Geschlossenheit des Wissens unter logischer Implikation wird auch in der gegenwärtigen Erkenntnistheorie allgemein anerkannt.171 Strittig ist jedoch,

171 Vgl. etwa Williams 1996, S. 317; Wright 1985, S. 432; Klein 2004, S. 165; Luper 2006, S. 1. Selbst Kritiker des Prinzips wie Dretske können nicht umhin, die Anfangsplausibilität des Prinzips einzuräumen. Vgl. etwa Dretske 2005, S. 18: „Ja, Geschlossenheit klingt wie ein eminent plausibles Prinzip. Wenn es sonst keinen Unterschied macht, sollten wir es deshalb aufrechterhalten.“ (meine Übersetzung) Vgl. auch die ausgezeichnete Monographie Barke 2002.

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 3 Wissen

ob dieses Prinzip absolut unantastbar ist oder ob wir es aufgrund der mit ihm verbundenen gravierenden Probleme letztlich dennoch aufgeben oder zumindest in seiner Geltung einschränken müssen. Vor allem Fred Dretske und Robert Nozick haben dafür plädiert, dieses Prinzip aufzugeben und so die ansonsten drohende Gefahr des Skeptizismus abzuwenden.172 Dem steht die Mehrzahl gegenwärtiger Erkenntnistheoretiker gegenüber, die dieses Prinzip für absolut unverhandelbar halten. Michael Williams hält es für geradezu paradox, dieses Prinzip zu leugnen.173 Richard Feldman hält die Aufgabe des Prinzips für „eine der unplausibelsten Ideen der Erkenntnistheorie der letzten Jahre“.174 Keith DeRose hält den Angriff auf die Geschlossenheit für „intuitiv bizarr“ und regelrecht „abstoßend“;175 BonJour sieht darin sogar eine reductio ad absurdum derjenigen Positionen, die zur Aufgabe dieses Prinzips gezwungen sind.176 In diesem Abschnitt soll zunächst nach einer plausiblen Formulierung des Prinzips gesucht werden. Sodann werde ich verschiedene Interpretationen des Prinzips diskutieren. Anschließend werden wir uns Dretskes klassische Einwände gegen die Geschlossenheit ansehen und auf ihre Tragfähigkeit hin untersuchen. Zum Schluss werde ich kurz darauf eingehen, welche Konsequenzen die Aufgabe des Prinzips hätte. Wenn man von dem intuitiven Prinzip der Wissensvermehrung durch Deduktion ausgeht, dann könnte ein erster Vorschlag für seine präzise Formulierung folgendermaßen lauten:177 (GW1) Wenn eine Person S weiß, dass p, und p logisch q impliziert178, dann weiß S auch, dass q. So formuliert ist das Prinzip eindeutig falsch, weil der Fall vorkommen kann, dass jemand etwas weiß, aber die Implikationen dessen, was er weiß, gar nicht erkennt und sie deshalb auch nicht glaubt. Ansonsten müsste jeder, der die Axiome* der Mathematik kennt, automatisch alle mathematisch beweisbaren Propositionen wissen. Und das ist natürlich nicht der Fall. Aber auch jemand, der die Implikationen dessen, was er weiß, erkennt, wird diese Implikationen nicht immer glauben. Beispielsweise deshalb nicht, weil sie zu bestimmten Über-

172 Vgl. dazu Dretske 1970; Dretske 2005; Nozick 1981. 173 Williams 1996, S. 322. 174 Feldman 1999. 175 DeRose 1995. 176 Bonjour 1987. 177 Vgl. zur exakten Formulierung des Prinzips die sehr klare Darstellung in Luper 2006. 178 Eine Proposition p impliziert logisch eine Proposition q, wenn der Satz ‚wenn p, dann q‘ logisch wahr ist oder (anders gesagt), wenn gilt: in allen denkbaren Situationen in denen p wahr ist, ist auch q wahr. Man kann in diesem Fall auch sagen: p erzwingt die Wahrheit von q.



3.5 Das Prinzip der Geschlossenheit des Wissens 

 125

zeugungen nicht passen, die in seinem Überzeugungssystem sehr fest verwurzelt sind. Wissen impliziert Überzeugung; die ist jedoch unter logischer Implikation nicht geschlossen. Solche Einwände legen folgende Modifikation nahe: (GW2) Wenn eine Person S weiß, dass p, und weiß, dass p eine Proposition q logisch impliziert, und wenn S auch glaubt, dass q, dann weiß S, dass q. Diese Formulierung schließt aus, dass S nicht glaubt, dass q, aber sie lässt vollkommen offen, warum S glaubt, dass q. Selbst wenn jemand etwas weiß und erkennt, dass das, was er weiß, eine bestimmte Implikation hat, ist noch nicht ausgeschlossen, dass er diese Implikation aus schlechten Gründen glaubt und deshalb kein diesbezügliches Wissen hat. Ein Richter mag einen gültigen Beweis für die Unschuld der Angeklagten kennen. Dennoch würden wir davor zurückschrecken zu sagen, dass er weiß, dass die Angeklagte unschuldig ist, wenn sein Glaube an ihre Unschuld allein auf seiner Voreingenommenheit für die Angeklagte beruht. Deshalb bietet sich die folgende Reformulierung an: (GW3) Wenn eine Person S weiß, dass p, und glaubt, dass q, weil sie weiß, dass p die Proposition q logisch impliziert, dann weiß S, dass q. Doch auch dieser Vorschlag muss noch etwas modifiziert werden, um das intuitive Prinzip ganz zu erfassen. Zum einen muss er etwas liberalisiert werden. Auch wenn wir erkennen, dass eine Proposition nicht streng formal-logisch, sondern nur begrifflich eine andere Proposition impliziert, soll Geschlossenheit gelten. Wenn jemand weiß, dass S p weiß, und außerdem weiß, dass Wissen seinem Begriff nach impliziert, dass eine Überzeugung vorliegt, und er deshalb folgert, dass S p glaubt, dann ist es intuitiv sehr plausibel zu sagen, dass er weiß, dass S p glaubt. Außerdem soll das Prinzip ja gerade auch für die Fälle gelten, in denen jemand aus einer Menge verschiedener Prämissen (und nicht nur aus einer einzelnen), von denen er Wissen hat, eine Konklusion deduktiv ableitet. Die endgültige Formulierung des Prinzips der Geschlossenheit lautet deshalb folgendermaßen: (GW4) Wenn eine Person S Wissen von verschiedenen Propositionen hat und glaubt, dass q, weil sie weiß, dass q durch diese Propositionen logisch oder begrifflich impliziert wird, dann weiß S, dass q.

Dieses Prinzip ist jedoch noch interpretationsbedürftig. Es sagt nämlich bislang nichts darüber aus, ob die Gründe, aufgrund derer die Person die Konklusion weiß, dieselben Gründe sind wie diejenigen, aufgrund derer sie von den Prämissen weiß, oder ob sie die Konklusion aufgrund von unabhängigen Gründen weiß. Nach der ersten Interpretation ergibt sich folgendes Bild: In einer deduktiven (oder begrifflichen) Folgerung werden die Gründe für die Prämissen wie durch

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einen Kanal an die Konklusion weitergeleitet oder transferiert. Wir erhalten so das Transferprinzip wissensgenerierender Gründe:179 (TP) Wenn eine Person S Wissen von verschiedenen Propositionen hat und glaubt, dass q, weil sie weiß, dass q durch diese Propositionen logisch oder begrifflich impliziert wird, dann weiß S, dass q, und zwar aufgrund derselben Gründe, aufgrund derer sie die verschiedenen Propositionen weiß, die q implizieren.

Das Geschlossenheitsprinzip lässt sich aber auch anders interpretieren, nämlich so, dass es zwar besagt, dass wir Wissen von der Implikation haben, wenn wir Wissen von Propositionen haben, die sie implizieren, aber völlig offen lässt, auf welche Weise wir dieses Wissen erlangen. Dann erhalten wir ein unspezifiziertes Prinzip der Geschlossenheit:180 (UGW) Wenn eine Person S Wissen von verschiedenen Propositionen hat und glaubt, dass q, weil sie weiß, dass q durch diese Propositionen logisch oder begrifflich impliziert wird, dann weiß S, dass q, und zwar aufgrund irgendwelcher Gründe.

Dieses Prinzip schließt nicht aus, dass das Transferprinzip gilt, aber wenn das Transferprinzip falsch sein sollte, dann wäre es naheliegend (UGW) folgendermaßen zu verstehen: Damit wir aufgrund unserer gewöhnlichen Gründe die Prämissen wissen können, müssen wir ein Wissen von dem, was sie implizieren, bereits voraussetzen. Wir könnten dann also etwa von gewöhnlichen Propositionen wie „Ich habe eine Hand“ aufgrund unserer Wahrnehmung nur dann wissen, wenn wir Wissen von dem, was diese Proposition impliziert, also beispielsweise, dass ich kein handloses Gehirn im Tank bin, bereits aufgrund unabhängiger Gründe besitzen. Wenn das Geschlossenheitsprinzip so interpretiert wird, dann kann es natürlich nicht mehr als Prinzip der Wissensvermehrung durch Deduktion verstanden werden. Wir müssen dann umgekehrt eine ganze Menge Wissen über das, was durch eine Proposition alles impliziert wird, voraussetzen, um diese Proposition wissen zu können. Etwas pointierter formuliert: Wir müssten die Konklusion bereits wissen, um die Prämissen wissen zu können.181 Sehen wir uns jetzt die Einwände gegen das Geschlossenheitsprinzip an. Dretske richtet seine Kritik zunächst gegen das Transferprinzip. Es hat ihm zufolge vollkommen unplausible Konsequenzen. Betrachten Sie einige Beispiele:

179 Dretske 2005, S. 14–16, spricht von ‚transmission of evidential warrant‘. 180 Ähnlich auch Dretske 2005, S. 16. 181 Zu dieser Lesart des Prinzips Williams 1996, S. 331 f.



3.5 Das Prinzip der Geschlossenheit des Wissens 

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Ich weiß aufgrund dessen, was ich sehe, dass Kekse auf dem Teller vor mir liegen. Selbstverständlich weiß ich auch, dass wenn Kekse auf meinem Teller liegen, dies begrifflich impliziert, dass es eine materielle Außenwelt gibt. Wenn das Transferprinzip gelten würde, dann müsste ich allein aufgrund meiner visuellen Wahrnehmung der Kekse wissen, dass es eine materielle Außenwelt gibt. Aber ich kann nicht allein aufgrund meiner Wahrnehmung der Kekse den Idealismus widerlegen.182 Ein Zoobesucher weiß aufgrund des Aussehens der Tiere vor ihm und aufgrund der Hinweistafel am Gehege, dass es sich bei den Tieren vor ihm um Zebras handelt. Wenn etwas ein Zebra ist, dann impliziert das begrifflich, dass es kein geschickt verkleideter Maulesel ist. Also müsste der Zoobesucher auch allein aufgrund dessen, was er sieht, wissen, dass es sich bei den Tieren nicht um geschickt verkleidete Maulesel handelt, wenn das Transferprinzip richtig wäre. Aber das kann er so nicht wissen, weil doch geschickt verkleidete Maulesel genauso aussehen wie Zebras.183 Ich weiß aufgrund dessen, was ich sehe, dass ich eine Hand habe. Wenn ich eine Hand habe, dann impliziert das logisch, dass ich kein handloses Gehirn im Tank bin, für das es nur so aussieht, als hätte es eine Hand. Nach dem Transferprinzip müsste ich also allein aufgrund meiner visuellen Erlebnisse wissen, dass ich kein handloses Gehirn im Tank bin, dessen Wahrnehmungen manipuliert werden. Aber das scheint absurd zu sein. Dretske bietet folgende Diagnose dieser Beispielsfälle an: In allen Fällen ist die Konklusion eine schwergewichtige Implikation von etwas, das ich weiß, und solche schwergewichtigen Implikationen kann ich aufgrund der Gründe, auf die sich mein alltägliches Wissen stützt, nicht wissen.184 Aber warum nicht? In allen Beispielfällen sind die Gründe Wahrnehmungen. Wahrnehmung selbst ist jedoch nicht unter logischer Implikation geschlossen.185 Ich sehe nicht alle Implikationen von etwas, was ich sehe. Das wird anhand der schwergewichtigen Implikationen besonders deutlich. Wenn ich sehe, dass Kekse auf meinem Teller liegen, dann sehe ich nicht, dass eine materielle Außenwelt existiert. Das gehört einfach nicht zum Inhalt meiner Wahrnehmung. Und wenn ich ein Zebra sehe, dann sehe ich nicht, dass es kein geschickt verkleidetes Maultier ist, denn ich würde genau das gleiche wahrnehmen, wenn ich ein so getarntes Maultier vor mir hätte. Als Zebra verkleidete Maultiere sehen genau wie Zebras aus. Noch deutlicher wird das im Fall des skeptischen Szenarios. Ich kann sehen, dass ich eine Hand habe. Aber ich kann nicht sehen, dass ich kein handloses Gehirn im Tank bin. Ich kann

182 Das Beispiel stammt aus Dretske 2005, S. 14. 183 Dieses Beispiel aus Dretske 1970 hat inzwischen den Rang eines Klassikers. 184 Dretske 2005, S. 16. 185 Ebd.

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 3 Wissen

es bestenfalls glauben aufgrund dessen, was ich unmittelbar sehe. Und wäre ich tatsächlich ein handloses Gehirn im Tank, dann würde ich aufgrund der Manipulation durch den fiesen Neurowissenschaftler exakt die gleiche Erfahrung haben wie die, die ich habe, wenn ich eine existierende Hand sehe. Die schwergewichtigen Implikationen dessen, was ich sehe, kann ich also nicht sehen. Und deshalb kann ich von ihnen auch aufgrund meiner Wahrnehmung allein kein Wissen haben. Folglich ist das Transferprinzip nach Dretske falsch.186 Aber das Transferprinzip ist ja, wie wir gesehen haben, nicht die einzig mögliche Interpretation des Geschlossenheitsprinzips. Was ist mit dem unspezifizierten Prinzip der Geschlossenheit? Es besagt, dass wir, um gewöhnliche Alltagspropositionen zu wissen, auf irgendeine Weise auch deren schwergewichtige Implikationen wissen müssen. Die Kritik am Transferprinzip hat gezeigt, dass wir von ihnen nicht durch unsere gewöhnlichen Wahrnehmungen wissen können. Also brauchen wir dazu unabhängige, ‚höhere‘ Gründe. Doch es scheint ganz und gar ausgeschlossen, dass wir vorab (und gewissermaßen a priori*) von allen schwergewichtigen Implikationen unseres gewöhnlichen Wissens Wissen haben. Doch dann wird aus dem Geschlossenheitsprinzip ein modus tollens:187 Um alltägliches Wissen zu haben, müssen wir Wissen von dessen schwergewichtigen Implikationen haben. Dieses Wissen haben wir nicht. Also haben wir auch kein Wissen im alltäglichen Sinne. Das Geschlossenheitsprinzip hat demnach unvermeidliche skeptische Konsequenzen.188 Dretskes Argumentation gegen das Geschlossenheitsprinzip lässt sich auf das folgende Dilemma zuspitzen: Das Geschlossenheitsprinzip kann als Transferprinzip oder als unspezifiziertes Prinzip interpretiert werden. Wenn wir es als Transferprinzip verstehen, dann ist es falsch, weil die Wahrnehmung nicht geschlossen ist (und Vergleichbares ließe sich auch für die Erinnerung, die Introspektion usw. sagen). Wenn wir es dagegen als unspezifiziertes Prinzip verstehen, ergeben sich unvermeidliche skeptische Konsequenzen, so dass der Preis für die Geschlossenheit des Wissens zu hoch ist. Also muss das Prinzip aufgegeben oder zumindest auf vernünftige Weise eingeschränkt werden. Dieser Einwand sieht zunächst sehr stark aus. Wenn man jedoch genauer hinsieht, gibt es verschiedene Möglichkeiten, das Dilemma zurückzuweisen. Zunächst zum ersten Horn: Dretskes Argument gegen das Transferprinzip. Es ist zwar richtig, dass die Wahrnehmung nicht geschlossen ist unter logischer Impli-

186 Ebd. 187 Der modus tollens ist ein Schluss der folgenden Form: Wenn p, dann q. q ist falsch. Also ist p falsch. 188 Dretske 2005, S. 18.



3.5 Das Prinzip der Geschlossenheit des Wissens 

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kation und dass wir deshalb die schwergewichtigen Implikationen dessen, was wir wahrnehmen, nicht ihrerseits wahrnehmen. Daraus folgt aber nicht unmittelbar, dass wir aufgrund unserer Wahrnehmung nicht von diesen Implikationen wissen können. Um daraus ein gültiges Argument zu machen, braucht Dretske die Zusatzannahme, dass Wissen Überzeugung aufgrund zwingender Gründe ist. Sobald diese Annahme hinzukommt, können wir nicht allein aufgrund unserer Wahrnehmung von schwergewichtigen Implikationen wissen. Die sind nämlich genau so konstruiert, dass die Wahrnehmung nicht zwischen der Wahrheit und der Falschheit dieser Implikation unterscheiden kann. Hätten wir als Zebras verkleidete Maulesel vor uns, dann würden wir das Gleiche wahrnehmen, als wenn wir echte Zebras vor uns haben. Sobald man jedoch Dretskes Konzeption des Wissens aufgibt und zulässt, dass es Wissen auch dann gibt, wenn wir sichere Gründe für unsere Überzeugung haben (also Gründe, die in nahen Welten nicht in die Irre führen), dann kann man sehr wohl behaupten, dass unsere Wahrnehmung gewöhnlicher Tatsachen Wissen von ihren schwergewichtigen Implikationen ermöglicht. Wenn verkleidete Maulesel in keiner nahen möglichen Welt auftreten, dann ist unsere Wahrnehmung der Zebras ein sicherer Grund für unsere Überzeugung, dass es sich nicht um verkleidete Maulesel handelt,189 auch wenn das nicht zum Inhalt der Wahrnehmung selbst gehört. Dretskes Argument gegen das Transferprinzip hängt also notwendigerweise von seiner eigenen Wissenskonzeption ab, die nicht unangefochten ist. Ein zweiter Aspekt kommt hinzu. In manchen Fällen, in denen es intuitiv vollkommen unplausibel ist zu behaupten, dass wir von den vermeintlichen schwergewichtigen Implikationen dessen, was wir wissen, aufgrund unserer gewöhnlichen Gründe wissen, handelt es sich gar nicht um echte Implikationen dessen, was wir wissen. Man muss nämlich sehr streng zwischen Implikationen der Propositionen, die wir wissen, und Implikationen unseres Wissens von diesen Propositionen unterscheiden. Die Geschlossenheit bezieht sich nur auf das Erstere. Damit ich aufgrund meiner Wahrnehmung weiß, dass ich eine Hand habe, darf es nicht der Fall sein, dass ich ein Gehirn im Tank bin, dessen Wahrnehmungen manipuliert werden. In dieser Situation wäre ein Irrtum zu leicht möglich, um Wissen zuzulassen. Da jedoch die Wahrheit meiner Überzeugung, dass ich eine Hand habe, durchaus damit verträglich ist, dass meine Wahrnehmungen manipuliert werden (auch ein Gehirn im Tank könnte eine Hand besitzen), muss ich allein aufgrund des Geschlossenheitsprinzips nicht wissen, dass ich kein Gehirn im Tank bin, um zu wissen, dass ich eine Hand habe. Das müsste ich nur wissen,

189 Zu Wissen durch sichere Gründe vgl. Sosa 1999, Williamson 2000, Luper 2006.

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 3 Wissen

um zu wissen, dass ich weiß, dass ich eine Hand habe. Ich müsste es also nur wissen, um Wissen zweiter Ordnung zu haben. Zweifellos lassen sich die skeptischen Hypothesen* auch so formulieren, dass ihre Wahrheit mit unserem gewöhnlichen Wissen und der Wahrheit dessen, was wir wissen, unverträglich sind. Dabei handelt es sich jedoch immer um (mitunter versteckte) Konjunktionen.190 Aus dem Transferprinzip ergibt sich, dass wir aufgrund unserer gewöhnlichen Gründe wissen müssen, dass diese Konjunktion falsch ist. Im Zebrafall müssen wir also beispielsweise aufgrund unserer Wahrnehmung wissen, dass es nicht der Fall ist, dass das Tier vor uns sowohl ein Maulesel als auch ein als Zebra verkleidetes Tier ist. Im Fall des Gehirns im Tank müssen wir aufgrund unserer Sinneswahrnehmung der Hand wissen, dass es nicht der Fall ist, dass wir sowohl keine Hand haben als auch ein Gehirn im Tank sind. Bei den schwergewichtigen Implikationen, die wir nach dem Transferprinzip allein aufgrund unserer gewöhnlichen Gründe wissen müssen, handelt es sich also immer um negierte Konjunktionen. Um zu wissen, dass eine Konjunktion falsch ist, muss ich jedoch nicht wissen, dass beide durch ‚und‘ verknüpften Propositionen falsch sind. Es genügt, wenn ich weiß, dass eine von ihnen falsch ist. Das hat nun aber schwerwiegende Konsequenzen für die von Dretske ins Feld geführten Beispiele. Wenn ich im Zebrafall aufgrund meiner Wahrnehmung weiß, dass sich vor mir ein Zebra befindet, und das Transferprinzip gilt, dann muss ich allein aufgrund dieser Wahrnehmung wissen, dass es nicht der Fall ist, dass das Tier vor mir ein Maulesel und ein als Zebra verkleidetes Tier ist. Das weiß ich aber bereits dadurch, dass ich weiß, dass es sich nicht um einen Maulesel handelt. Um zu wissen, dass die Konjunktion falsch ist, muss ich nichts darüber wissen, ob es sich um ein als Zebra verkleidetes Tier handelt. Dass ich aber aufgrund meiner Wahrnehmung weiß, dass es sich bei dem Tier nicht um einen Maulesel handelt, ist gar nicht unplausibel. Auf jeden Fall gehört zu den schwergewichtigen Implikationen meines Wissens nicht die Proposition, dass es sich um kein als Zebra verkleidetes Tier handelt. Es wäre also für das Geschlossenheitsprinzip gar nicht bedrohlich, wenn ich von dieser Proposition aufgrund meiner gewöhnlichen Wahrnehmung nicht wissen könnte. Sehen wir uns jetzt das zweite Horn von Dretskes Dilemma für das Geschlossenheitsprinzip genauer an. Ergeben sich aus dem Geschlossenheitsprinzip unvermeidlich skeptische Konsequenzen, wenn man seine Interpretation als Transferprinzip fallen lässt? Peter Klein hat das entschieden zurückgewiesen.191 Er akzeptiert, dass die Gründe für unsere Prämissen nicht unsere Gründe für die

190 Vgl. zum Folgenden die sehr aufschlussreichen Beobachtungen von Klein 2004, S. 178. 191 Dazu Klein 1981.



3.5 Das Prinzip der Geschlossenheit des Wissens 

 131

Konklusion sind. Und er ist genau wie Dretske auch der Auffasung, dass wir keine unabhängigen Erkenntnisquellen für unser Wissen von der Konklusion haben. Wenn wir jedoch aufgrund von Wahrnehmung wissen, dass p1, …, pn, und aus diesen Prämissen eine Konklusion q ableiten, dann sind unsere Gründe für q nicht die Wahrnehmungen, sondern die Prämissen p1, …, pn selbst. Sie bilden ihrerseits einen zusätzlichen Grund. Zunächst sieht das zwar nach einer wundersamen Vermehrung der Gründe aus. Und wenn man die dem Transferprinzip zugrunde liegende Idee im Hinterkopf hat, dass Inferenzen Begründungen nur weiterleiten und nicht generieren, dann erscheint einem der Vorschlag wenig einleuchtend. Man darf jedoch nicht aus dem Auge verlieren, dass es hier um Wissen geht. Wenn wir – aufgrund unserer Wahrnehmung – von einer Tatsache wissen und daraus eine Konklusion ableiten, dann können wir die (erkannte) Tatsache selbst als Grund für die Konklusion betrachten und müssen nicht dasjenige, was diese Tatsache indizierte, als Grund für die Konklusion nehmen. So betrachtet kann uns Wissen neue Gründe erschließen. Darin liegt nichts Mysteriöses. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Dretskes Einwände gegen das Geschlossenheitsprinzip alles andere als zwingend sind. Seine Kritik am Transferprinzip setzt seine Wissensdefinition bereits voraus. Und selbst wenn man das Transferprinzip aufgibt, kann man das Geschlossenheitsprinzip zumindest für Wissen so interpretieren, dass es nicht zu absurden skeptischen Konsequenzen führt. Wenn man zudem berücksichtigt, dass selbst die Kritiker dem Geschlossenheitsprinzip eine große anfängliche Plausibilität bescheinigen, dann sollte man an diesem Prinzip festhalten. Allerdings gilt das nicht für die Interpretation dieses Prinzips, nach der wir zunächst und aufgrund unabhängiger Gründe wissen müssen, dass alle (einschließlich der schwergewichtigen) Implikationen einer Proposition wahr sind, bevor wir aufgrund unserer gewöhnlichen Gründe das wissen können, was diese Implikationen hat. Diese Interpretation führt nicht nur unweigerlich zu skeptischen Konsequenzen, sondern ist auch ganz gegen den Geist unseres intuitiven Geschlossenheitsprinzips gerichtet, das als Prinzip der Wissensvermehrung durch Deduktion fungieren soll und nicht als Prinzip der Aufdeckung von Voraussetzungen unseres Wissens. Auch wenn also einiges dafür spricht, das intuitive Geschlossenheitsprinzip aufrechtzuerhalten, ist es aufschlussreich zu klären, welche Konsequenzen aus der Aufgabe dieses Prinzips folgen würden. Dretske selbst räumt ein, dass es desaströs wäre, wenn dieses Prinzip ganz über Bord geworfen würde. Dazu spielt es eine zu wichtige Rolle in unserer alltäglichen Wissensvermehrung durch Deduktion. Stattdessen schlägt er vor, dieses Prinzip auf vernünftige Weise einzuschränken:

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 3 Wissen

Geschlossenheit zu bestreiten bedeutet nicht, dass man niemals wissen (herausfinden, entdecken, lernen) kann, dass q wahr ist, indem man es aus einem p ableitet, von dem man weiß, dass es wahr ist. Es bedeutet nur, dass man bestreitet, dass man es für jedes beliebige q kann.192

Dretske will von dem Prinzip nur den Schluss auf die von ihm so genannten schwergewichtigen Implikationen ausnehmen. Es ist nicht ganz klar, welches das Merkmal solcher schwergewichtigen Implikationen ist. Vermutlich sind es die Implikationen, die den Inhalt unserer Gründe übersteigen. Also, am Beispiel der Wahrnehmung, die Implikationen von etwas Wahrgenommenem, die selbst nicht mehr wahrnehmbar sind. Es lässt sich nun jedoch anhand von Beispielen zeigen, dass sich die von Dretske vorgeschlagene Einschränkung des Prinzips nicht konsequent durchhalten lässt.193 Wenn man Dretskes eigene Definition von Wissen durch zwingende Gründe voraussetzt, dann lässt sich zeigen, dass es Fälle gibt, in denen die Geschlossenheit selbst für ganz unverdächtige (keineswegs schwerwiegende) Implikationen von alltäglichem Wissen verletzt ist. Nehmen wir an, ich weiß aufgrund meiner Wahrnehmung, dass ich höchstens eine Handvoll bittere Mandeln gegessen habe. Meine Wahrnehmung liefert dafür einen zwingenden Grund. Hätte ich nämlich mehr gegessen, dann hätte ich etwas anderes gesehen. Wenn ich höchstens eine Handvoll bittere Mandeln gegessen habe, dann impliziert das, dass ich weniger als zehn Hände voll bitterer Mandeln gegessen habe. Doch mein Wahrnehmungserlebnis ist kein zwingender Grund dafür, dass ich weniger als zehn Hände voll bitterer Mandeln gegessen habe. Denn hätte ich zehn Hände voll bitterer Mandeln oder mehr gegessen, dann hätten sich bei mir Halluzinationen eingestellt. Es hätte für mich fälschlicherweise so ausgesehen, als hätte ich höchstens eine Handvoll bitterer Mandeln gegessen. Also ist dieses Wahrnehmungserlebnis kein zwingender Grund dafür, dass ich weniger als zehn Hände voll bitterer Mandeln gegessen habe. Dieses Wahrnehmungserlebnis ist kein zwingender Grund für eine ganz unverdächtige Implikation dessen, was ich aufgrund von zwingenden Gründen weiß. Umgekehrt gibt es auch manche schwergewichtigen Implikationen von dem, was ich aufgrund zwingender Gründe weiß, für die diese Gründe ebenfalls zwingend sind. Manchmal lässt sich die Geschlossenheit eben doch auf solche Propositionen ausdehnen. Das lässt sich durch ein anderes Beispiel veranschaulichen: Ich weiß aufgrund meiner Wahrnehmung, dass sich ein

192 Dretske 2005, S. 17, in meiner Übersetzung. 193 Vgl. dazu Hawthorne 2005. Ich habe seine Beispiele aus Darstellungsgründen leicht abgewandelt.



3.6 Wissen durch sichere Gründe 

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Stück Schokolade in Reichweite vor mir befindet. Das impliziert, dass sich ein geistunabhängiges Objekt in Reichweite vor mir befindet. Das ist nach Dretskes Kriterium* eindeutig eine schwergewichtige Implikation dessen, was ich sehe, weil es nicht der Inhalt meiner Wahrnehmung ist. Dennoch ist meine Wahrnehmung ein zwingender Grund für diese Implikation. Hätte sich in Reichweite vor mir nämlich kein geistunabhängiges Objekt befunden, dann hätte ich dort auch nichts gesehen. Diese Beispiele zeigen ganz deutlich, dass man das Geschlossenheitsprinzip des Wissens keiner plausiblen Restriktion unterwerfen kann, die als allgemeines Prinzip vertretbar wäre.194 Man muss es also ganz oder gar nicht aufgeben. Doch dann stehen wir vor der folgenden Alternative: Entweder wir geben das Prinzip ganz auf und verlieren damit jegliche Möglichkeit, auf regelgeleitete Weise unser Wissen durch deduktive Inferenzen zu vermehren. Oder wir halten an diesem Prinzip ohne jede Einschränkung fest. Da sich herausgestellt hat, dass Dretskes Einwände gegen das Prinzip nicht besonders stark sind, sollten wir die zweite Option wählen und an der Geschlossenheit uneingeschränkt festhalten.195

3.6 Wissen durch sichere Gründe Die bisherige Diskussion des Wissensbegriffes hat zum einen ergeben, dass es eine ganze Reihe von Adäquatheitsbedingungen* für die korrekte Definition von Wissen gibt: (1) Gettier-Szenarien müssen ausgeschlossen werden. (2) Das Prinzip der Geschlossenheit für Wissen sollte bewahrt werden. (3) Radikale skeptische Konsequenzen sollten vermieden werden. (4) Wissen sollte nicht als indexikalischer Begriff analysiert werden. (5) Die Wahrheitsbedingungen von Wissenszuschreibungen sollten nicht radikal unbestimmt sein. Zum anderen hat sich gezeigt, dass alle bislang erwogenen rein externalistischen Theorien die eine oder andere dieser Bedingungen verletzen. Kausale Theorien können die Gettier-Szenarien nicht völlig ausschließen. Tracking-Theorien oder zwingende Gründe verletzen das Prinzip der Geschlossenheit und können auch bedrohliche Gettier-Szenarien wie im Scheunenfassadenfall nicht ausschließen. Infallible Gründe gibt es praktisch nicht, so dass ein radikaler Skeptizis-

194 Hawthorne 2005, S. 38. 195 Die beste weiterführende Diskussion des Prinzips der Geschlossenheit für Wissen findet sich in Dretske 2005 und Hawthorne 2005. Ein hervorragender Überblicksartikel ist Luper 2006.

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 3 Wissen

mus die unausweichliche Konsequenz ist. Der Zuschreibungskontextualismus versteht Wissen als indexikalischen Begriff. Und Goldmans Vorschlag, Wissen durch perfekt zuverlässige überzeugungsbildende Prozesse zu erklären, führt zum Unbestimmtheitsproblem. Es gibt jedoch noch einen weiteren, relativ neuen externalistischen Vorschlag für die Wissensdefinition, nämlich Wissen durch sichere Gründe (safe reasons) zu erklären.196 Im Grunde handelt es sich um eine Position, die Goldmans Vorschlag ziemlich ähnlich ist. Das Unbestimmtheitsproblem kann jedoch vermieden werden. Ein sicherer Grund ist ein Grund, der in allen nahe gelegenen möglichen Welten die Wahrheit der auf ihn gestützten Überzeugung garantiert. Es hätte also nicht leicht sein können, dass die durch einen solchen Grund gestützte Überzeugung falsch gewesen wäre. Dadurch werden Gettier-Situationen ausgeschlossen. Sichere Gründe sind jedoch im Unterschied zu zwingenden (oder gar infalliblen) Gründen keine Unterscheidungskriterien zwischen Situationen, in denen die Überzeugung wahr ist, und Situationen, in denen sie falsch ist. Ein sicherer Grund für p muss also nicht zwischen p und nicht-p Situationen diskriminieren können. Ein Beispiel: Nehmen wir an, ich glaube, dass ich kein Gehirn im Tank bin und stütze mich dabei auf meine Wahrnehmung der Außenwelt. Wenn es richtig ist, was ich glaube, dann ist meine so gestützte Überzeugung nicht nur wahr, sondern sie hätte auch nicht leicht falsch sein können, weil die Situation, in der ich ein Gehirn im Tank wäre, von der aktualen Welt extrem weit entfernt ist. Meine Wahrnehmung ist also ein sicherer Grund für meine Überzeugung, dass ich kein Gehirn im Tank bin, auch wenn es richtig ist, dass ich dieselben Wahrnehmungserlebnisse hätte, wenn ich ein Gehirn im Tank wäre, und ich deshalb mit Hilfe der Wahrnehmung nicht zwischen Normalsituationen und skeptischen Situationen unterscheiden kann. Wissen durch sichere Gründe Ein Subjekt S weiß die Proposition, dass p, genau dann, wenn: (i) S überzeugt ist, dass p, (ii) die Proposition, dass p, wahr ist, (iii) Ss Überzeugung, dass p, durch einen Grund g auf die richtige Weise verursacht wird, (iv) dieser Grund g ein sicherer Grund für p ist (wobei ein sicherer Grund g für p derart ist, dass in allen naheliegenden möglichen Welten, in denen g vorkommt, ‚p‘ wahr ist).

Der Vorschlag, Wissen durch sichere Gründe zu definieren, bietet eine Reihe von Vorteilen. Erstens stellt er sicher, dass Wissen unter logischer Implikation

196 Vgl. dazu Luper 1987, 2003; Pritchard 2005; Sosa 1999; Williamson 2000.



3.6 Wissen durch sichere Gründe 

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geschlossen ist. Das lässt sich leicht zeigen: Zunächst einmal ist unstrittig, dass Wahrheit unter logischer Implikation geschlossen ist. Wenn eine Proposition p eine Proposition q logisch impliziert, dann ist q in allen Welten wahr, in denen p wahr ist. Nehmen wir nun an, dass g ein sicherer Grund ist, der die Wahrheit von p im Bereich der nahen möglichen Welten garantiert. Dann folgt daraus, dass g auch die Wahrheit von q im Bereich dieser möglichen Welten garantiert, wenn q durch p logisch impliziert wird. G ist also auch ein sicherer Grund für q. Zweitens können skeptische Konsequenzen vermieden werden, und zwar obwohl das Prinzip der Geschlossenheit gilt. Wenn dieses Prinzip gilt, dann kann jemand nur dann wissen, dass er beispielsweise eine Hand hat, wenn er auch all das weiß, was durch diese Proposition logisch impliziert wird. Um gewöhnliche Propositionen wie die über die eigene Hand zu wissen, muss er also auch wissen, dass er kein handloses Gehirn im Tank ist. Doch das ist kein Problem, wenn dafür sichere Gründe hinreichend sind. Wenn das Erkenntnissubjekt nämlich tatsächlich kein Gehirn im Tank ist, dann garantiert sein Wahrnehmungserlebnis von der Hand auch in allen nahen möglichen Welten, dass er kein solches Gehirn im Tank ist. Die Welt, in der es ein solches Gehirn im Tank wäre, ist einfach zu weit entfernt, um das zu verhindern. G. E. Moore hatte also Recht, als er behauptete, dass wir aufgrund unserer alltäglichen Gründe wissen könnten, dass Idealismus und Skeptizismus falsch sind.197 Drittens lässt sich so auch erklären, warum der Skeptizismus auf den ersten Blick so plausibel erscheint, obwohl er – wie gerade gezeigt – tatsächlich falsch ist. Wie sieht diese Erklärung aus? Im Fall gewöhnlicher Propositionen sind sichere Gründe immer zugleich auch zwingende Gründe. Denn in diesem Fall gehören in den Bereich der nahen möglichen Welten, in dem sichere Gründe die Wahrheit garantieren müssen, auch Welten, in denen die Proposition falsch ist. Ich habe tatsächlich zwei Hände. Es hätte aber sehr leicht sein können, dass ich durch einen Unfall eine der beiden Hände verloren hätte. Welten, in denen das passiert wäre, gehören zu den nahen möglichen Welten, weil nicht viele Dinge hätten anders sein müssen, als sie es aktual sind, damit ich eine Hand verloren hätte. Als ich einmal Holzbalken mit einer Kreissäge gesägt habe, hätte bereits eine kleine Unaufmerksamkeit zum Verlust einer Hand führen können. Damit meine Sinneswahrnehmung von meinen beiden Händen ein sicherer Grund dafür ist, dass ich zwei Hände habe, muss es deshalb der Fall sein, dass ich diese Wahrnehmung nicht gehabt hätte, wenn ich eine Hand durch einen Unfall verloren hätte. Sichere Gründe für gewöhnliche Propositionen sind also zugleich auch zwingende Gründe für sie. Das erweckt den Anschein, dass die für Wissen

197 Vgl. in diesem Sinne Sosa 1999.

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 3 Wissen

erforderlichen Gründe immer zwingende Gründe sind. Aber das ist ja falsch. Es gibt Propositionen, und dazu zählt insbesondere die Negation skeptischer Hypothesen, für die ich sichere Gründe habe, ohne zwingende Gründe zu haben, und zwar weil mögliche Welten, in denen sie falsch sind, einfach zu weit von der aktualen Welt entfernt sind, um relevant zu sein. Es entsteht also nur fälschlich der Eindruck, als hätte ich kein Wissen von der Negation skeptischer Hypothesen. Was mir fehlt sind die zwingenden Gründe dafür, dass ich mich nicht in der skeptischen Situation befinde. Tatsächlich habe ich aber sichere Gründe und folglich auch das Wissen, dass ich nicht in dieser Situation bin. Viertens hat die Position sicherer Gründe auch keinerlei Affinität zum Kontextualismus und der These eines indexikalischen Wissensbegriffes. Es handelt sich vielmehr um eine Spielart des Invariantismus. Was zum Bereich naher, relevanter möglicher Welten gehört und was nicht, steht objektiv und unabhängig von der Perspektive des Betrachters fest. Damit aber liegt auch gleich eines der Hauptprobleme dieser Position offen zutage: das Unbestimmtheitsproblem. Die Frage, welche objektiven Faktoren festlegen, was in den Bereich relevanter naher Welten fällt und was nicht, stellt sich in aller Schärfe. Selbstverständlich wird man hier, wie auch bei vielen anderen wichtigen Begriffen, eine gewisse Vagheit einräumen dürfen. Doch auch für Begriffe mit unscharfen Rändern gilt, dass irgendetwas die Bedingungen korrekter Anwendung bestimmen muss. Erstaunlicherweise haben wir in der Praxis recht stabile Intuitionen darüber, ob eine Irrtumssituation relevant ist oder nicht. Wir betrachten normale Welten und in ihnen normale Bedingungen. Wenn in ihnen die Gründe die Wahrheit garantieren, sorgen sie dafür, dass aus einer wahren Überzeugung Wissen wird. Und was als normal gilt, wird nicht durch den Betrachter und seine Perspektive festgelegt (wie der Kontextualist sagt), sondern es sind die Situationen, in denen die Gründe als Indikatoren der Wahrheit fungieren sollen – Situationen, für die unser kognitives Equipment „geschaffen“ ist. Ein analoger Fall aus dem Bereich der Instrumente kann verdeutlichen, was gemeint ist. Wenn wir uns auf die Anzeige eines Kompasses in unseren Überzeugungen über die Himmelsrichtungen verlassen, dann erwerben wir Wissen, solange wir uns nicht in die Nähe des magnetischen Nordpols begeben oder größere Eisenmengen in der Umgebung sind. Der Kompass ist ein sicherer Indikator der Himmelsrichtung, weil seine Anzeige unter Bedingungen, für die er von seinem Konstrukteur gemacht wurde, korrekt ist. Für die kognitiven Vermögen des Menschen müssen die normalen Welten und Situationen nicht durch die Absichten eines intelligenten Konstrukteurs festgelegt werden, sie können auch evolutionär erklärt werden durch die Art von Umwelten, in denen sie sich als angepasst bewährt haben. Dazu zählen sicher keine skeptischen Szenarien oder bizarre Irrtumssituationen. Die genaue



3.6 Wissen durch sichere Gründe 

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evolutionstheoretische Geschichte kann für unsere Zwecke offen bleiben. Wichtig ist nur, dass auf diese Weise die für die Bewertung der Gründe relevanten möglichen Welten durch objektive Faktoren festgelegt werden können. So lässt sich das Unbestimmtheitsproblem in einem vernünftigen Rahmen eingrenzen. Es gibt jedoch noch ein zweites Problem für sichere Gründe. Sicherheit ist nämlich eine Eigenschaft, die ein Grund unter Umständen zu leicht erringen kann. Stellen Sie sich vor, ich würde meine Überzeugung, dass ‚2 + 2 = 4‘ wahr ist, auf einen plötzlichen Einfall oder eine innere Stimme oder auf ein komisches Gefühl in der Magengrube oder sonst irgendetwas Beliebiges stützen. Alle diese Gründe sind allein deshalb sicher, weil der Inhalt meiner Überzeugung dergestalt ist, dass er nicht leicht falsch wäre. Dabei ist es im Grunde vollkommen egal, worauf ich meine Überzeugung stütze. Jeder beliebige Grund für diese Überzeugung oder andere Überzeugungen, deren Inhalt nur in sehr weit entfernten möglichen Welten falsch wäre, wird automatisch zu einem sicheren Grund. Um sicher zu sein, müssen Gründe also unter Umständen gar keine spezifischen Qualitäten haben, ganz im Gegensatz zu zwingenden Gründen, die zwischen veridischen und täuschenden Situationen diskriminieren können müssen. Dieses Problem eines zu leicht zu erwerbenden Wissens lässt sich vermutlich einfach dadurch beheben, dass man Wissen nicht einfach durch sichere Gründe für einzelne Überzeugungen analysiert, sondern dass man stattdessen verlangt, dass Überzeugungen durch sichere Methoden hervorgebracht werden. Solche Methoden bringen Überzeugungen mit unterschiedlichem Gehalt hervor, von denen keine einzige leicht hätte falsch sein dürfen, damit sie als sicher gelten können.198 Diese Bedingung kann auch im Fall notwendiger mathematischer Propositionen nicht auf triviale Weise erfüllt werden. Wenn ich durch einen plötzlichen Einfall zu einer wahren mathematischen Überzeugung gelange, dann könnte ich durch diese Methode auch sehr leicht zu einer falschen Überzeugung kommen, nämlich dass ‚3+3=5‘ ist. Deshalb ist die Methode des plötzlichen Einfalls nicht sicher. Möglicherweise handelt man sich auf diese Weise das skeptische Problem ein, dass es gar kein Wissen gibt, weil es keine sicheren Methoden gibt, die bezüglich einer Vielzahl von Überzeugungen nicht leicht hätten in die Irre führen können. Auch der Vorschlag, Wissen durch sichere Gründe oder Methoden zu analysieren, ist nicht völlig unproblematisch. Hier wird es sicher auch zukünftig weitere Verbesserungsvorschläge geben. Dennoch scheint die Diskussion der Gettierfälle auf diese oder wenigstens eine sehr ähnliche Konzeption des Wissens hinauszulaufen. Es dürfte also keinesfalls die beliebte Diagnose zutreffen, dass jeder neue Definitionsvorschlag für Wissen ad infinitum neue Gegenbeispiele auf den

198 Vgl. in diesem Sinne Pritchard 2005, Williamson 2000, S. 123–130, und Sainsbury 1997.

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Plan bringt, so dass eine abschließende Analyse von Wissen unmöglich ist.199 Mit Wissen als wahrer Überzeugung aufgrund von sicheren Methoden haben wir eine vergleichsweise präzise Ausbuchstabierung unserer vortheoretischen Intuition erreicht, dass Wissen nicht-zufällig wahre Überzeugung ist. Vorteile des Wissens durch sichere Gründe Prinzip der Geschlossenheit des Wissens bleibt gewahrt. (1) (2) Es gibt keine skeptischen Konsequenzen. (3) Die intuitive Plausibilität des Skeptizismus lässt sich erklären. (4) Der Invariantismus bleibt erhalten. Das Unbestimmtheitsproblem kann in vernünftigen Grenzen gehalten werden. (5) Probleme des Wissens durch sichere Gründe Gründe von Propositionen, die nur in sehr weit entfernten Welten falsch sind, erwerben (1) die Eigenschaft der Sicherheit quasi umsonst. Mögliche Lösung: Wissen durch sichere Methoden.

3.6.1 Weitere Gegenbeispiele und neue Perspektiven Wissen ist eine wahre Überzeugung aufgrund einer bestimmten Art von zuverlässigen Gründen, nämlich sicheren Gründen.200 So lautet das vorläufige Ergebnis. Damit hat sich eine bestimmte Spielart der externalistischen Zuverlässigkeitstheorie bewährt. Hier könnte meine Diskussion des Wissensbegriffes enden, wenn es nicht in den 90er Jahren zwei völlig neue Theorieansätze gegeben hätte, die dieses Ergebnis zu erschüttern scheinen. Da ist zunächst Alvin Plantinga, der vorschlägt, dass der Begriff der „ordnungsgemäßen Funktion“ (proper function) zum Kernbegriff der Wissensdefinition werden müsse. Parallel dazu hat sich die so genannte Tugenderkenntnistheorie (virtue epistemology) entwickelt. Deren Hauptvertreter Ernest Sosa und Linda Zagzebski sind der Auffassung, dass Wissen als Überzeugung definiert werden müsse, die sich der intellektuellen Tugend des Erkenntnissubjekts verdankt. In beiden Konzeptionen scheinen die zuverlässigen Gründe bestenfalls noch eine untergeordnete Rolle zu spielen.

199 Vgl. etwa Williamson 2000, S. 4: „This book makes no attempt to survey even the most salient analyses of knowledge proposed in recent decades and the counterexamples to which they succumb (…). It will be assumed (…) that the upshot of that debate is that no currently available analysis of knowledge in terms of belief is adequate (…).“ 200 Aus Einfachheitsgründen führe ich hier den Verbesserungsvorschlag mit Hilfe sicherer Methoden nicht mehr eigens an.



3.6 Wissen durch sichere Gründe 

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Plantinga hat mit Hilfe von neuen Gegenbeispielen zu zeigen versucht, dass es nicht hinreichend ist für Wissen, wenn eine wahre Überzeugung sich auf zuverlässige Gründe (welcher Art auch immer) stützt. Da gibt es zunächst den Fall der erkenntnistheoretisch vorteilhaften Verletzung: Lassen Sie uns annehmen, dass es eine seltene, aber spezifische Art der Hirnverletzung gibt, die immer verbunden ist mit einer Reihe von kognitiven Prozessen mit einem relevanten Maß an Spezifizität, von denen die meisten im Betroffenen zu auf absurde Weise falschen Überzeugungen führen. Einer dieser miteinander verbundenen Prozesse verursacht im Betroffenen jedoch eine Überzeugung, dass er eine Hirnverletzung hat. Nehmen wir also an, S (der Betroffene, TG) leidet an dieser Verletzung und glaubt folglich, dass er eine Hirnverletzung hat. (…) Dann wird der relevante Prozesstyp sicher extrem zuverlässig sein, aber die daraus resultierende Überzeugung – dass er eine Hirnverletzung hat – wird kaum einen wissensgenerierenden Grund (warrant) haben.201

Dieser Fall zeigt Plantinga zufolge, dass wahrheitsgarantierende (zuverlässige) Gründe, die sich einer kognitiven Störung oder Fehlfunktion verdanken, nicht zu Wissen führen können. Ein zweiter Fall kommt hinzu: Stellen Sie sich vor (…), dass ich an einer seltenen Krankheit leide. Ein bestimmter Ton ist derart, dass ich, sooft ich ihn höre, der Überzeugung bin, dass ein großes lila Tier in der Nähe ist. In meiner kognitiven Umgebung ist das, so wie die Dinge liegen, kein Indikator für die Wahrheit dieser Überzeugung (…). Aber stellen Sie sich vor, dass ich plötzlich ohne mein Wissen in eine fremde Umgebung verschleppt würde (…), und stellen Sie sich ferner vor, dass dort, sooft dieser Ton zu hören ist, tatsächlich immer ein großes lila Tier in der Nähe ist. (…) (I)n dieser Umgebung ist der Ton tatsächlich ein zuverlässiger Indikator für die Wahrheit der Überzeugung; aber natürlich würde die fragliche Überzeugung (…) keinen wissensgenerierenden Grund haben (…).202

Dieser Fall soll zeigen, dass es für Wissen nicht ausreicht, wenn Gründe die Wahrheit in Umgebungen garantieren, für die sie nicht geschaffen sind. Für Plantinga liegt deshalb Wissen dann und nur dann vor, wenn eine Überzeugung durch zuverlässige (wahrheitsgarantierende) kognitive Vermögen hervorgebracht wird, wenn diese Vermögen einwandfrei funktionieren (also so funktionieren, wie sie funktionieren sollen) und wenn sie in einer Umgebung zur Anwendung kommen, für die sie gemacht sind.203 Aus meiner Sicht sind diese Modifikationsvorschläge vollkommen in Ordnung. Sie sind auf einer Linie mit dem, was oben bereits zur Lösung des Unbe-

201 Plantinga 1993a, S. 199, meine Übersetzung. 202 Ebd., S. 191 f., meine Übersetzung. 203 Ebd., S. 213 f.

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stimmtheitsproblems gesagt wurde. Normale Funktionsweisen und normale Umgebungen müssen normativ festgelegt werden. Solche Normen müssen nicht auf Gott als intelligenten Designer zurückgeführt werden, wie Plantinga glaubt,204 sondern lassen sich auch im Rahmen der Evolutionstheorie naturalistisch erklären. Vor allem aber handelt es sich nur um geringfügige Modifikationen an der Zuverlässigkeitstheorie und nicht um einen fundamentalen Umsturz dieser Theorie. Vertreter der Tugenderkenntnistheorie versuchen Wissen als Resultat einer intellektuellen Tugend des Erkenntnissubjekts zu definieren. Wissen wird also als Manifestation oder Ausübung einer intellektuellen Kompetenz dieses Subjekts verstanden.205 Diese Position hat zwei wichtige Implikationen. Erstens schließt sie rein punktuelles Wissen aus. Es kann nicht sein, dass ein Subjekt nur von einer einzigen Proposition Wissen hat und von gar nichts sonst. Ein solcher Atomismus des Wissens* wird durch die Tugenderkenntnistheorie ausgeschlossen, weil intellektuelle Fähigkeiten immer eine gewisse Bandbreite haben. Wer aufgrund seiner intellektuellen Fähigkeit etwas Spezielles weiß, der weiß aufgrund dieser Fähigkeit auch anderes oder kann es zumindest wissen. Zweitens liegen der Tugenderkenntnistheorie zufolge die wissensgenerierenden Faktoren in der Person. Wissen ist der Person also immer als ihr eigener Verdienst zuschreibbar. Deshalb wird es als Resultat von Kompetenzen der Person verstanden. Lässt sich Wissen als Resultat der intellektuellen Tugend des Erkenntnissubjekts definieren? Die Beantwortung dieser Frage hängt entscheidend davon ab, was unter ‚intellektueller Tugend‘ verstanden wird. Hier gibt es zwei Alternativen. Entweder man bezeichnet jemanden als ‚intellektuell tugendhaft‘, wenn er sich in erkenntnistheoretischer Hinsicht vollkommen verantwortlich verhält, d. h., wenn er wahrheitsliebend und aufrichtig ist und wenn er so sorgfältig, wie überhaupt nur möglich, die Dinge untersucht, bevor er sich eine Überzeugung bildet, und auch alle weiteren epistemischen Pflichten beachtet. Kurz: Jemand ist in diesem Sinne intellektuell tugendhaft, wenn er sich epistemisch verantwortlich verhält.206 Oder man reserviert das Etikett ‚intellektuell tugendhaft‘ für denjenigen, der ein zuverlässiger Wahrheitsfinder ist. Intellektuelle Tugenden bestehen dann einfach in der Kompetenz des Subjekts, zuverlässig Überzeugungen zu bilden.207

204 Plantinga 1993b. 205 Vgl. Zagzebski 1999; einen guten Überblick über die Tugenderkenntnistheorie gibt Greco 2002, 2004. 206 In diesem Sinne Code 1987, Montmarquet 1993 und Zagzebski 1996, 1999. 207 Sosa 2007, Kap. 2.



3.6 Wissen durch sichere Gründe 

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Wenn man intellektuelle Tugend mit epistemischer Verantwortlichkeit gleichsetzt, dann kann sie die Wahrheit der gebildeten Überzeugungen nicht garantieren. Es ist also möglich, dass jemand, der maximal verantwortlich vorgegangen ist in seinen Erkenntnisbemühungen, dennoch die Wahrheit verfehlt. Denken Sie noch einmal an den Fall der Scheunenfassaden. Henry hätte sich natürlich nicht mit seinem Blick von der Straße begnügen müssen. Er hätte anhalten und das Gebäude genauer untersuchen können. Dann wäre es ihm aufgefallen, wenn es sich um eine bloße Fassade gehandelt hätte. Aber eine geringfügige Modifikation des Falls kann das Problem verschärfen. Nehmen wir an, bei dem von Henry untersuchten Gebäude handelt es sich tatsächlich um eine Scheune, aber rundherum gibt es nur Gebäude, die so geschickt als Scheunen getarnt sind, dass auch eine genauere Inspektion die Tarnung nicht entlarvt hätte. Dann könnte Henry so sorgfältig, wie überhaupt nur möglich, vorgehen und dennoch hätte er einfach Glück, wenn er vor der einzigen echten Scheune diese zutreffend für eine Scheune hielt. Wenn man die intellektuelle Tugend als erkenntnistheoretische Verantwortlichkeit versteht, dann bleibt es also möglich, dass eine wahre Überzeugung, die aus einer intellektuellen Tugend resultiert, kein Wissen ist, weil eine Gettier-Situation besteht.208 Solche wissensgefährdenden Situationen können ausgeschlossen werden, wenn man die intellektuelle Tugend als Fähigkeit zuverlässiger Überzeugungsbildung versteht. In diesem Fall erweist sich der Definitionsvorschlag der Tugenderkenntnistheorie jedoch als Spezialfall der Zuverlässigkeitstheorie. Es handelt sich also um keinen völlig neuen Ansatz. Im Übrigen ist es höchst fraglich, ob die beiden Zusatzbedingungen, die die Tugenderkenntnistheorie ins Spiel bringt, wirklich akzeptabel sind. Was spricht gegen einen Atomismus des Wissens? Warum sollte jemand nicht viele Überzeugungen, darunter auch viele sehr gut begründete und wahre Überzeugungen haben, aber eben nur in einem einzigen Fall einen Grund haben, der die Wahrheit seiner Überzeugung auf eine Art und Weise garantiert, dass man zutreffend sagen kann, dass er die Sache weiß? Mir ist nicht klar, warum diese Situation nicht wenigstens denkbar ist, auch wenn sie vielleicht in der Realität nicht vorkommt, sondern alle, die etwas wissen, vieles wissen. Außerdem ist nicht einsichtig, warum man einer Person nur dann korrekt Wissen zuschreiben kann, wenn die Quelle des Wissens in ihr selbst liegt. Häufig ist unser Wissenserwerb entscheidend von externen Hilfsmitteln abhängig, seien es Instrumente oder Experten, die uns wichtige Informationen geben. In diesen Fällen beruht unser Wissen entscheidend auf der Mithilfe der Umwelt und ver-

208 Vgl. auch Levin 2004.

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dankt sich nicht allein unseren eigenen Kompetenzen.209 Auch von dieser Seite aus muss man also ein dickes Fragezeichen hinter die These der Tugenderkenntnistheorie setzen. Unterm Strich bewährt sich also die Zuverlässigkeitstheorie des Wissens. Wissen ist wahre Überzeugung, die auf sicheren Gründen beruht.210 Allerdings ist das nur näherungsweise die ganze Wahrheit. Der Vorschlag ist nicht ganz hinreichend. Das haben vor allem die Gegenbeispiele von Plantinga gezeigt. Und es bleiben auch ein paar Bedenken, weil sichere Gründe unter bestimmten Umständen ein bisschen zu leicht zu haben sind. Hier müsste man auf sichere Methoden zurückgreifen. Es bleibt auch zu erwarten, dass es weitere, noch geschickter konstruierte gettierartige Fälle in der Zukunft geben wird. Welches Resümee soll man also ziehen? Man kann sagen, dass sich alle Versuche, eine vollkommen adäquate Definition eines Begriffs zu entwickeln, als extrem schwierig erwiesen haben. Deshalb sollte man nicht mutlos werden. Ein harter Kern notwendiger Bedingungen für Wissen hat sich als extrem stabil im Angesicht immer neuer Gegenbeispiele erwiesen. Die Feinabstimmung der hinreichenden Bedingungen ist ein schwieriger Prozess, der vielleicht niemals ganz vollendet werden kann. Oder man schlägt sich auf die Seite derjenigen, die Begriffsdefinitionen generell oder für bestimmte Begriffe unmöglich halten, weil diese Begriffe sich einfach nicht in eine Konjunktion von Komponenten zerlegen lassen.211 Das schließt jedoch nicht aus, dass die Begriffsanalyse notwendige Bedingungen zutage fördern kann. Ein gutes Beispiel ist der Begriff ‚rot‘. Es ist nahezu unstrittig, dass dieser Begriff den Begriff ‚farbig‘ begrifflich impliziert. Dennoch scheint es unmöglich, den Begriff ‚farbig‘ mit einem anderen Begriff (außer ‚rot‘) zu verknüpfen und auf diese Weise ‚rot‘ zu definieren. Vielleicht sollten wir uns also auch im Falle des Wissensbegriffes mit zentralen notwendigen Bedingungen zufrieden geben. Dann wäre wahre Überzeugung aufgrund sicherer Gründe zumindest der Kern des Wissens.

209 Vgl. dazu die alltagsnahen Beispiele für Wissen vom Hörensagen in Lackey 2007. 210 Vgl. in diesem Sinne auch Pritchard 2005, der das Vorliegen sicherer Gründe als Abwesenheit von veritischem Zufall beschreibt. Interessanterweise scheint die Abwesenheit von veritischem Zufall eine Wissensbedingung zu sein, die robust über sehr viele verschiedene Sprachen hinweg gilt. Das haben die experimentellen Untersuchungen von Machery, Stich, Rose e.a. 2015 gezeigt. 211 Williamson 2000, S. 2–5.



3.7 Die Bedeutung des Wissens für die Erkenntnistheorie 

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3.7 Die Bedeutung des Wissens für die Erkenntnistheorie Der Wissensbegriff ist ein schwieriger Begriff. Das sollte durch die Schwierigkeiten, eine einwandfreie Definition des Wissens zu finden, deutlich geworden sein. Aber ist Wissen auch ein zentraler Begriff in der Erkenntnistheorie? Hängt irgendetwas Wesentliches in der Erkenntnistheorie davon ab, dass wir zu einer befriedigenden Klärung dessen kommen, was Wissen ist? Zunächst scheint es geradezu absurd, eine solche Frage zu stellen. Schließlich ist die Erkenntnistheorie doch eine Theorie der Erkenntnis; und wenn man ‚Erkenntnis‘ hier als Wissen versteht, dann ist Wissen das leitende Thema der Erkenntnistheorie schlechthin. Blickt man auf die angelsächsische Erkenntnistheorie, die unter dem Namen ‚theory of knowledge‘ betrieben wird, dann findet diese Annahme weitere Bestätigung. Wissen ist jedoch nicht nur der Namensgeber für die Erkenntnistheorie. Auch die tatsächliche Entwicklung der gegenwärtigen Erkenntnistheorie, vor allem nach dem Erscheinen von Gettiers Aufsatz, zeigt deutlich, dass der Wissensbegriff geradezu die gesamte Aufmerksamkeit der Erkenntnistheoretiker der letzten Jahrzehnte auf sich gezogen hat. Doch was genau ist die Bedeutung bzw. die Funktion, die Wissen in der Erkenntnistheorie hat? Diese Frage ist vor allem in der letzten Zeit immer deutlicher in den Vordergrund gerückt. In diesem Zusammenhang sind vor allem vier Vorschläge diskutiert worden: (1) Wissen als stabiler Faktor im kognitiven Haushalt, (2) Wissen als Ziel unserer Erkenntnisbemühungen, (3) Wissen als Grundlage und Ausgangspunkt unserer Erkenntnisbemühungen und, schließlich, (4) die methodologische Rolle des Wissens.

3.7.1 Wissen als stabiler Faktor im kognitiven Haushalt Bereits Platon hat in seinem Menon, wie bereits ausführlich dargelegt wurde, die Auffassung vertreten, dass Wissen im Unterschied zu bloß wahrer Überzeugung weniger flüchtig ist, sondern im Überzeugungshaushalt einer Person fest verankert ist. Auch dogmatische Auffassung und fanatisch vertretene Ideologien können in einer Person fest verankert sein. Aber Wissen erweist sich dann am stabilsten, wenn die Person rational ist. Ein Beispiel kann das verdeutlichen.212 Nehmen wir an, ein Einbrecher durchsucht die ganze Nacht lang ein Haus und riskiert dabei, von den heimkehrenden Hausbesitzern oder der Polizei entdeckt zu werden. Er weiß, dass ein sehr wertvoller Diamant im Haus versteckt ist. Und

212 Dieses Beispiel übernehme ich von Williamson 2000, S. 62.

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das erklärt sein Verhalten. Hätte er bloß die wahre Überzeugung gehabt, dass im Haus ein Diamant versteckt ist, ohne es zu wissen, dann könnte er diese wahre Überzeugung beispielsweise durch die falsche Information gewonnen haben, dass ein Diamant unter dem Bett versteckt ist. Wahre Überzeugungen können nämlich aus falschen Überzeugungen abgeleitet sein, während das bei Wissen nicht möglich ist. In diesem Fall hätte der Einbrecher, sofern er unter dem Bett keinen Diamanten gefunden hätte, seine wahre Überzeugung aufgegeben. Und dieser Überzeugungswandel wäre vollkommen rational gewesen. Wenn der Einbrecher dagegen vom Diamanten im Haus weiß, ist es sehr viel schwerer, dieses Wissen auf rationale Weise zu unterminieren. Natürlich könnte der Einbrecher dogmatisch auch dann noch an seiner Überzeugung, dass ein Diamant im Haus ist, festhalten, wenn wirklich alles dagegen spricht. Und der Einbrecher könnte sogar Recht haben, weil der Diamant einfach unglaublich geschickt versteckt wurde. Aber irgendwann wird das Festhalten an seiner Überzeugung gegen alle Evidenzen irrational. Ein rationaler Einbrecher würde seine Auffassung irgendwann aufgeben. Es lässt sich also festhalten, dass Wissen maximale Stabilität hat, sofern wir es mit rationalen Wesen zu tun haben. Haben wir damit den besonderen erkenntnistheoretischen Status des Wissens erklärt? Dass das nicht so ist, wird sofort deutlich, wenn Sie sich überlegen, warum es wichtig ist, stabile (wahre) Überzeugungen zu haben. Wir planen (als vorausschauende Wesen) unser zukünftiges Handeln im Voraus; und wir benötigen zur Realisierung komplexer Handlungsmuster eine gewisse Zeit. Wissen als stabile wahre Überzeugung ist also erforderlich, um eine reibungslose Handlungspraxis zu ermöglichen. Wissen hat demnach einen enormen praktischen Wert. Aber dieser Wert ist eben kein rein erkenntnistheoretischer Wert, der uns erklären kann, warum Wissen innerhalb der Erkenntnistheorie ein wichtiger, ja sogar zentraler Begriff ist.

3.7.2 Wissen als Ziel unserer Erkenntnisbemühungen Es gilt als weithin unstrittig unter Erkenntnistheoretikern, dass Wahrheit Ziel unserer Erkenntnisbemühungen ist. So sagt bereits Gottlob Frege in seinem Aufsatz Der Gedanke: „(…) alle Wissenschaften (haben) Wahrheit als Ziel. (…) Wahrheiten zu entdecken, ist Aufgabe aller Wissenschaften (…).“213 Bei Paul Moser heißt es: „Erkenntnistheoretische Rechtfertigung ist notwendiger Weise auf das so genannte kognitive Ziel der Wahrheit bezogen, insofern eine einzelne

213 Frege 2003, S. 35.



3.7 Die Bedeutung des Wissens für die Erkenntnistheorie 

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Überzeugung nur dann erkenntnistheoretisch gerechtfertigt ist, wenn sie in geeigneter Weise auf das Ziel der Wahrheit gerichtet ist.“214 Laurence BonJour ist etwas genauer: Warum sollten wir, als kognitive Wesen, daran interessiert sein, ob unsere Überzeugungen gerechtfertigt sind? (…) Was uns überhaupt zu kognitiven Wesen macht ist unsere Fähigkeit, Überzeugungen zu haben, und das Ziel unserer spezifisch kognitiven Bemühungen ist die Wahrheit: Wir wollen, dass unsere Überzeugungen die Welt korrekt und genau die Welt wiedergeben. Wenn die Wahrheit irgendwie unmittelbar und problemlos zugänglich wäre (…), dann hätte der Begriff der Rechtfertigung nur geringe Bedeutung (…). Aber wir haben keinen solchen unmittelbaren und problemlosen Zugang zur Wahrheit; und aus diesem Grund kommt die Rechtfertigung ins Spiel. Wenn die Maßstäbe der erkenntnistheoretischen Rechtfertigung richtig gewählt sind, dann führt die erkenntnistheoretische Rechtfertigung unserer Überzeugungen dazu, dass sie auch dazu tendieren, wahr zu sein. Wenn die erkenntnistheoretische Rechtfertigung nicht auf diese Weise der Wahrheit dienlich wäre (…), dann wäre sie irrelevant für unser zentrales kognitives Ziel und von zweifelhaftem Wert. (…) Erkenntnistheoretische Rechtfertigung ist deshalb am Ende der Analyse nur ein instrumenteller und kein intrinsischer Wert.215

BonJour sagt hier also, dass Wahrheit der einzige erkenntnistheoretische Wert ist und dass Rechtfertigung nur einen instrumentellen Wert im Hinblick auf das Ziel der Wahrheit hat.216 Die Rechtfertigung ist also ein geeignetes Mittel, dieses Ziel zu erreichen. Auch das Ziel der Wahrheit lässt sich noch etwas genauer spezifizieren. Wir wollen nicht einfach so viele Wahrheiten wie möglich (egal wie viele Irrtümer wir uns dabei einhandeln), sondern wir wollen wahre Überzeugungen und keine falschen Überzeugungen haben. Diesen Gesichtspunkt bringt William Alston ins Spiel: „Erkenntnistheoretische Bewertung wird vom so genannten ‚epistemischen Standpunkt‘ aus vorgenommen. Dieser Standpunkt ist durch das Ziel definiert, in möglichst großem Umfang die Wahrheit unserer Überzeugungen zu maximieren und ihre Falschheit zu minimieren.“217 Ähnlich auch Crispin Sartwell: „Es wird allgemein angenommen, dass unser erkenntnistheoretisches Ziel darin besteht, wahre Überzeugungen zu erlangen und falsche zu vermeiden, und zwar im Hinblick auf Propositionen, die uns interessieren.“218 Dieses ‚Doppelziel‘ der Wahrheit lässt sich einheitlich fassen, wenn wir als Ziel angeben, eine Propo-

214 Moser 1985, S. 4; meine Übersetzung. 215 BonJour 1985, S. 7 f.; meine Übersetzung. 216 Ähnlich auch Hofmann 2007, S. 147: „Das einzige intrinsische epistemische Ziel oder der einzige intrinsische epistemische Wert ist die Wahrheit.“ Hofmann nennt diese Position ‚Wahrheitsmonismus‘. Vgl. auch Beckermann 2001, S. 575 f. 217 Alston 1989a, S. 83 f.; meine Übersetzung. 218 Sartwell 1992, S. 172; meine Übersetzung.

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sition dann und nur dann zu glauben, wenn sie wahr ist.219 In diesem qualifizierten Sinne können wir vom Ziel unserer Erkenntnisbemühungen als der Wahrheit sprechen. Es zeichnet sich damit eine relativ einfache und klare Konzeption der erkenntnistheoretischen Ziele und Werte ab. Es gibt genau ein intrinsisches Ziel unserer Erkenntnisbemühungen, und das liegt in der Wahrheit, genauer darin, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu glauben. Alles andere hat nur einen abgeleiteten, instrumentellen Wert. So liegt der Wert der Rechtfertigung allein darin, dass sie ein zuverlässiges Mittel zur Erlangung von wahren Überzeugungen ist. Diese Position soll ‚Wahrheitsmonismus‘ genannt werden.220 Wahrheitsmonismus: Wahrheit ist der einzige intrinsische Wert in der Erkenntnistheorie. Alle anderen Werte (insbesondere der Wert der Rechtfertigung) sind abgeleitet und rein instrumentell.

Das Problem des Wahrheitsmonismus liegt darin, dass er dem intuitiven Wert des Wissens nicht in geeigneter Weise Rechnung trägt. So sagt bereits Aristoteles, dass alle Menschen von Natur aus nach Wissen streben.221 Er sagt nicht, dass alle Menschen nach Wahrheit streben. Wissen selbst scheint also ein Zielbegriff zu sein, und das widerspricht dem Wahrheitsmonismus, für den es keine eigenständigen erkenntnistheoretischen Ziele neben der Wahrheit gibt. Der sich hier andeutende Konflikt ist jedoch nur scheinbar. Wenn Aristoteles von ‚Wissen‘ spricht, meint er nämlich nicht eine gut begründete oder nichtzufällig wahre Überzeugung im Unterschied zu einer bloß wahren Überzeugung, sondern wahre Überzeugungen über die Ursachen von Phänomenen. Aristoteles will also sagen, dass wir uns von Natur aus nicht für x-beliebige Wahrheiten interessieren, sondern nach einer Erklärung sowie einem systematischen und tiefgreifenden Verständnis von Tatsachen suchen. Wir wollen begreifen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Aber dieses Ziel widerspricht dem Wahrheitsmonismus überhaupt nicht. Auch der Wahrheitsmonist kann nämlich sagen, dass uns unter den Wahrheiten eben besonders die explanatorisch wertvollen Wahrheiten interessieren. Warum der vermeintliche Einwand ins Leere läuft, lässt sich auch noch auf eine andere Weise verständlich machen. Wir sind bislang davon ausgegangen, dass Wissen einen besonderen erkenntnistheoretischen Status gegenüber bloß wahrer Überzeugung hat. Wissen, so wie es Aristoteles versteht, ist aber nicht durch seinen besonderen erkenntnistheoretischen Status ausge-

219 Hofmann 2007, S. 152; David 2001, S. 158. 220 Diesen Begriff verdanke ich Hofmann 2007, S. 147. 221 Aristoteles 1978, 980a21.



3.7 Die Bedeutung des Wissens für die Erkenntnistheorie 

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zeichnet, sondern durch seinen Inhalt. Es steht also nicht in Opposition zu bloß wahrer Überzeugung, sondern als Kenntnis von den Ursachen in Opposition zur Kenntnis von bloßen Oberflächenphänomenen. Ein wirklich ernstzunehmender Einwand gegen den Wahrheitsmonismus ist die so genannte Menon-Intuition. Das ist die Intuition, die Platon in seinem Menon ausdrückt, wenn er sagt, dass „die Erkenntnis höher zu schätzen (ist) als die richtige Überzeugung“ (98a). Viele gegenwärtige Erkenntnistheoretiker teilen diese Intuition, wonach Wissen erkenntnistheoretisch besser oder mehr wert ist als bloß wahre Überzeugung.222 Diesen „Mehrwert“ des Wissens kann der Wahrheitsmonismus offenbar nicht erklären. Was sollte dem Wissen diesen Mehrwert verleihen können, wenn der einzige intrinsische Wert die Wahrheit ist? Es gibt insgesamt drei mögliche Strategien, mit der Menon-Intuition umzugehen. Erstens kann man sie als Grund verstehen, den Wahrheitsmonismus aufzugeben und entweder neben der Wahrheit weitere erkenntnistheoretische Ziele annehmen (Pluralismus) oder ein stärkeres Gesamtziel anzunehmen. Zweitens kann man versuchen, die Menon-Intuition allem Anschein der Unverträglichkeit zum Trotz dennoch im Rahmen des Wahrheitsmonismus zu erklären. Und drittens kann man schließlich versuchen, die Menon-Intuition weg zu erklären. Die meisten Vertreter des Pluralismus sind der Auffassung, dass die Komponente des Wissens, die neben der Wahrheit einen eigenständigen, intrinsischen Wert hat, die Rechtfertigung ist.223 Eine wahre Überzeugung ist gerechtfertigt, wenn sie kausales Produkt eines psychologischen Prozesses ist, der bestimmte Bedingungen erfüllt. Dazu kann etwa zählen, dass der Prozess zuverlässig wahre Überzeugungen hervorbringt oder dass er den Normen der Rationalität folgt. Eine gerechtfertigte wahre Überzeugung wäre demnach aufgrund ihrer Kausalgeschichte wertvoller als eine bloß wahre Überzeugung, und zwar deshalb, weil sie das Produkt eines aufgrund seiner Zuverlässigkeit oder Rationalität intrinsisch wertvollen Prozesses ist. Ein solcher Werte-Pluralismus begegnet uns z. B. auch bei Kunstwerken. Ihr Wert hängt nicht nur von den ästhetischen Eigenschaften des Werkes selbst ab. Sonst wäre eine perfekte Reproduktion genauso viel wert wie ein Original oder das ursprüngliche Brillo-Verpackungsmaterial genauso viel wert wie Warhols Brillo-Boxes, die exakte Kopien dieses Verpackungsmaterials sind. Die Kausalgeschichte des Werkes gibt diesem also einen künstlerischen Mehrwert.

222 Vgl. dazu DePaul 2001, Riggs 2002, Zagzebski 2004, Koppelberg 2005. Ich bin den Implikationen dieser Intuition in Grundmann 2002b nachgegangen. 223 Dezidierte Pluralisten sind DePaul 2001, Koppelberg 2005, Kvanvig 2003. Ich habe diese Position in Grundmann 2002b erwogen.

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Der Haupteinwand gegen den Werte-Pluralismus in der Erkenntnistheorie besteht darin, dass unabhängige Werte in einen Konflikt geraten können und für diesen Konfliktfall die Priorität der Werte nicht geregelt ist. Frank Hofmann beschreibt diese Situation folgendermaßen: Zwischen den verschiedenen postulierten epistemischen Grundzielen drohen Konflikte. Es ist nämlich nicht garantiert, dass alle Ziele in jedem Fall zugleich erreicht werden können. Es könnte Situationen geben und gibt sie wahrscheinlich auch, in denen nicht alle Ziele erreicht werden können. Betrachten wir der Einfachheit halber denjenigen Pluralismus, der zum Wahrheitsziel noch das Ziel der Rechtfertigung (oder Rationalität) als zweites, intrinsisches Ziel postuliert. Dann gibt es wahrscheinlich Situationen, in denen nicht sowohl Wahrheit als auch Rechtfertigung erreichbar sind.224

Hofmann sagt hier ganz richtig, dass der Fall eintreten kann, dass das eine Ziel (Wahrheit) erreicht wird, ohne dass das andere Ziel (Rechtfertigung) erreicht wird und umgekehrt. Daraus ergibt sich jedoch nicht unmittelbar ein Problem. Denn erstens schließt die Verwirklichung des einen Ziels die Verwirklichung des anderen Zieles nicht prinzipiell aus. Beide Ziele sind miteinander verträglich. Es kann Überzeugungen geben, die zugleich wahr und gerechtfertigt sind. Wenn wir zwei eigenständige Ziele haben, dann bilden wir normalerweise eine integrative Zielvorstellung. Wenn ich etwa durstig und hungrig bin, dann strebe ich eine Situation an, in der sowohl mein Durst gelöscht als auch mein Hunger gestillt wird. Und sollte der Pluralismus wahr sein, dann wäre eben Wissen meine integrative Zielkonzeption. Zweitens können auch die Strategien der Verfolgung beider Einzelziele nicht miteinander in Konflikt geraten, weil Rechtfertigung und Wahrheit im Wissen systematisch verbunden sind. Nehmen wir zunächst an, dass ein rechtfertigender Prozess ein zuverlässiger Prozess ist. In diesem Fall ist der Versuch, zu gerechtfertigten Überzeugungen zu gelangen, auch immer ein Versuch, geeignete Mittel zur Erreichung der Wahrheit in Anwendung zu bringen. Die beiden intrinsischen Ziele stehen nämlich auch noch in einer Zweck-MittelRelation zueinander. Wenn ich das Ziel der Wahrheit rational verfolge, kann ich das nicht anders tun, als zu versuchen, mein zweites Ziel, die Rechtfertigung, zu realisieren. Und wenn ich das Ziel der Rechtfertigung verfolge, dann tue ich damit auch automatisch etwas, was mich meinem Ziel der Wahrheit näher bringt. Nehmen wir jetzt alternativ dazu an, dass ein rechtfertigender Prozess ein rationaler Prozess ist. In diesem Fall ist die Ausübung eines rationalen Prozesses nicht unbedingt der beste Weg zur Wahrheit. Aber als rationale Wesen haben wir gar keine andere Wahl, als uns beim Verfolgen des Wahrheitsziels nach den Normen

224 Hofmann 2007, S. 159 f.



3.7 Die Bedeutung des Wissens für die Erkenntnistheorie 

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der Rationalität zu richten. Auch in diesem Fall kann es also zu keinem Konflikt bei der Verfolgung der beiden unabhängigen Ziele kommen. Da die Ziele weder unverträglich sind, noch ein Konflikt bei ihrer Verfolgung auftreten kann, halte ich das vermeintliche Konfliktproblem für ein Scheinproblem. Allerdings wird der Pluralist dem Wissen keinen eigenständigen intrinsischen Wert zusprechen können, sondern verschiedenen seiner Komponenten (wie Wahrheit und Rechtfertigung) einen intrinsischen Wert zuschreiben. Der Pluralist kann also zwar die Menon-Intuition, aber nicht die systematische Bedeutung des Wissens für die Erkenntnistheorie erklären.225 Beides zusammen wollen die so genannten Tugend-Erkenntnistheoretiker erklären.226 Sie verstehen Wissen als durch intellektuelle Tugend erworbene wahre Überzeugung. Die intellektuelle Tugend kann dabei als zuverlässige Kompetenz einer Person verstanden werden, Wahrheiten zu entdecken, oder aber auch als deren erkenntnistheoretische Verantwortlichkeit. Dem Gesamtkomplex der durch intellektuelle Tugend erworbenen Überzeugung soll ein intrinsischer Wert zukommen, der sich nicht aus der Summe seiner Teile ergibt, so dass ein Pluralismus vermieden wird. Auf diese Weise lässt sich recht gut erklären, warum Wissen der höchste erkenntnistheoretische Wert ist. Weniger gut lässt sich jedoch erklären, wieso wahre Überzeugung, die nicht durch intellektuelle Tugend zustande gekommen ist, auch einen erkenntnistheoretischen Wert hat, wenn dieser auch geringer ist als der des Wissens. Es bietet sich an, dass der Wert des Ganzen auf seine Teile ‚abstrahlt‘. Aber wie sollte das auch dann der Fall sein können, wenn der Teil (die bloß wahre Überzeugung) unabhängig vom Ganzen (dem Erwerb durch intellektuelle Tugend) besteht?227 Vielleicht könnte man darauf entgegnen, dass wahre, aber nicht durch intellektuelle Tugend erworbene Überzeugungen oder falsche, aber durch intellektuelle Tugend erworbene Überzeugungen dem Ziel wahrer, durch intellektuelle Tugend erworbener Überzeugung in relevanter Hinsicht ähnlich sind oder sich diesem Ziel wenigstens in relevanter Hinsicht annähern, so dass sie in Hinblick auf das Ideal des Wissens einen zwar geringeren, aber immer noch nennenswerten erkenntnistheoretischen Wert haben. Es zeichnet sich jedoch eine recht vage Gesamtkonzeption ab, deren Erklärungskraft in Hinblick auf unsere Intuition letzten Endes unklar bleibt. Unter den Alternativen zum Wahrheitsmonismus schneidet der Pluralismus klarerweise am besten ab. Er kann die Menon-Intuition erklären, zugleich hat er aber auch keine Probleme damit, den erkenntnistheoretischen Wert bloß wahrer

225 Vgl. Grundmann 2002b, S. 122. Anders dagegen Koppelberg 2005, S. 50. 226 Vgl. Sosa 2007, Zagzebski 2004. 227 Vgl. Hofmann 2007, S. 165 f.

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Überzeugungen zu erklären. Und der vermeintliche Zielkonflikt stellt sich in der Praxis gar nicht ein. Dennoch ist diese Position weniger einheitlich und systematisch als der Wahrheitsmonismus. Das liegt einerseits daran, dass hier mehrere unabhängige Werte ins Spiel kommen, und andererseits daran, dass der Pluralismus irgendwie noch verständlich machen müsste, warum uns an der Rechtfertigung unabhängig von ihrem instrumentellen Wert so viel liegt.228 Deshalb soll jetzt untersucht werden, ob auch der Wahrheitsmonismus entgegen allem Anschein die Menon-Intuition erklären kann. Diese Auffassung wird von Frank Hofmann vertreten. Den Grundgedanken seiner Überlegung gibt sein folgendes Resümee gut wieder: Es konnte im Rahmen des Wahrheitsmonismus gut verständlich gemacht werden, wieso Wissen intuitiv einen so hohen Wert darstellt. Im Wissen sind nämlich zwei Merkmale kombiniert, wobei jedes von diesen einen epistemischen Wert ins Spiel bringt. Das Merkmal der Wahrheit ist selbst ein intrinsischer epistemischer Wert, und das Merkmal der Rechtfertigung impliziert einen instrumentellen Wert der bei der Meinungsgenese beteiligten Prozesse. Dieser Wert kommt im übertragenen Sinne  – als sekundärer Wert  – auch der Person zu, die Träger dieser Prozesse ist. Auf diese Weise konnte die Mehrwert-Intuition [die Menon-Intuition] gut eingefangen werden (…).229

Hofmann argumentiert also wie folgt: Eine Überzeugung hat dem Wahrheitsmonismus zufolge ihren maximalen erkenntnistheoretischen Wert erreicht, wenn sie wahr ist. Dieser Wert kann durch eine bestimmte Genese (etwa dadurch, dass sie Resultat eines zuverlässigen Prozesses ist) nicht mehr gesteigert werden. Aber es gibt noch andere potentielle Träger von erkenntnistheoretischem Wert, dazu zählen die beteiligten Prozesse und die Personen, die diese Prozesse in Anwendung bringen. Wenn Wissen vorliegt, so impliziert das, dass die wahre Überzeugung durch einen zuverlässigen Prozess in einer Person hervorgebracht wurde. Wissen impliziert also die Existenz zuverlässiger Prozesse und die Existenz von wissenden Personen. Die beteiligten Prozesse und Personen tragen im Fall von Wissen zusätzlich einen instrumentellen Wert in Hinblick auf die Wahrheit. Doch daraus folgt, dass im Fall des Wissens mehr erkenntnistheoretische Werte verwirklicht sind als im Fall der bloß wahren Überzeugung. Auch der Wahrheitsmonismus kann also erklären, warum es erkenntnistheoretisch besser ist, Wissen zu haben als bloß wahre Überzeugung.

228 DePaul 2001, S. 182, sieht dieses Desiderat sehr deutlich. Ich kenne jedoch bislang keine befriedigende Antwort der pluralistischen Erkenntnistheoretiker auf diese Frage. 229 Hofmann 2007, S. 23.



3.7 Die Bedeutung des Wissens für die Erkenntnistheorie 

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Die von Hofmann angebotene Überlegung erklärt zwar, warum Wissen die Existenz von mehr Werten impliziert, als es bloß wahre Überzeugung tut. Sie erklärt auch, warum eine Situation, in der man Wissen hat, erkenntnistheoretisch besser ist, als eine Situation, in der man eine bloß wahre Überzeugung hat. Aber sie erklärt nicht das, was sie eigentlich erklären sollte, nämlich dass Wissen besser ist als wahre Überzeugung. Das war die ursprüngliche Menon-Intuition. Diese Intuition wird nicht erklärt, weil Wissen identisch ist mit einer Überzeugung, die eine bestimmte Vorgeschichte hat. Wissen ist also eine Art von Überzeugung. In Bezug auf die Überzeugungen hatte aber auch Hofmann angenommen, dass sich der Wert wahrer Überzeugungen nicht mehr steigern lässt, solange der Wahrheitsmonismus vorausgesetzt wird. Insofern bleibt festzuhalten, dass der Wahrheitsmonismus die Menon-Intuition letztlich nicht erklären kann. Um die Plausibilität des Wahrheitsmonismus besser beurteilen zu können, ist das folgende Gedankenexperiment aus dem Umkreis der Menon-Intuition hilfreich. Stellen Sie sich vor, Sie hätten in erkenntnistheoretischer Hinsicht das ‚ganz große Los‘ gezogen. Ein kosmischer Zufall hat es gut mit Ihnen gemeint und Sie werden durch eine Art Blitzschlag aus heiterem Himmel mit allen wahren Überzeugungen ‚beschenkt‘, die es überhaupt gibt, einschließlich der Überzeugung, dass es alle wahren Überzeugungen sind, und zwar ohne dass Sie dabei verletzt werden. Wir wollen hier davon absehen (und dürfen das auch im Gedankenexperiment), wie unwahrscheinlich ein solches Ereignis ist. Es genügt, dass es denkbar ist. Und wir wollen auch von den Problemen absehen, dass Sie vermutlich gar nicht die kognitiven Kapazitäten für eine solche Veränderung haben und dass eine so radikale kognitive Veränderung möglicherweise auch Ihre personale Identität bedroht. Worauf es ankommt ist, dass Sie alle Tatsachen der Welt kognitiv korrekt erfassen, ohne eine einzige von ihnen zu wissen. Es handelt sich also nicht um den Zustand von Allwissenheit, denn die Wahrheit jeder Ihrer Überzeugungen ist zufällig, sondern um einen Zustand der globalen Transparenz aller Tatsachen. Sie glauben alles und nur das, was der Fall ist. Aber wäre der Blitzschlag geringfügig anders ausgefallen, dann hätten Sie größtenteils falsche Überzeugungen gehabt oder eben gar keine. Sie haben also keinerlei Wissen. Aber Sie haben nicht einmal gerechtfertigte Überzeugungen, weil sich Ihre Überzeugungen dem reinen Zufall verdanken und diese deshalb weder zuverlässig noch rational erworben wurden. Nennen wir diese Situation die Situation des erkenntnistheoretischen Jackpots. Wie würden Sie diese Situation intuitiv bewerten? Einerseits haben Sie maximales Glück gehabt. Aber andererseits besteht auch ein erkenntnistheoretisches Defizit. Sie würden vermutlich nicht sagen, dass die Situation nicht hätte besser ausfallen können. Die entscheidende Frage ist, was der Wahrheitsmonismus zum Szenario des erkenntnistheoretischen Jackpots sagt oder sagen muss. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als könne er das intuitive Defizit

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in der vorgestellten Situation nicht erklären. Wenn Wahrheit unser ganzes und einziges Ziel ist, dann bleibt doch in der Situation des erkenntnistheoretischen Jackpots nichts zu wünschen übrig. Damit hätte der Wahrheitsmonismus jedoch eine kontraintuitive Konsequenz. Der erste Anschein trügt jedoch. Auch der Wahrheitsmonist kann nämlich das Defizit sehr wohl erklären. Wenn Wahrheit das einzige intrinsische Ziel ist, dann sind zuverlässige Methoden der Überzeugungsbildung instrumentell wertvoll. Über diese Methoden verfügen Sie jedoch in der Situation des erkenntnistheoretischen Jackpots nicht. Besser wäre es gewesen, wenn die wahren Überzeugungen durch zuverlässige Methoden erworben worden wären. Dann hätten Sie nämlich auch unter anderen Umständen (wenn sich der Zufall nicht ereignet hätte) wahre Überzeugungen gehabt. Die Bilanz für den Wahrheitsmonismus sieht gar nicht schlecht aus. Er kann zwar die Menon-Intuition, dass Wissen erkenntnistheoretisch mehr wert ist als bloß wahre Überzeugung, nicht vollständig erklären. Aber er kann etwas erklären, das sehr nahe verwandt damit ist, nämlich warum es erkenntnistheoretisch besser ist, Wissen zu haben als bloß wahre Überzeugung zu haben. In Situationen des Wissens liegen, wie Hofmann gezeigt hat, mehr erkenntnistheoretische Werte vor, auch wenn die gewusste Überzeugung selbst nicht mehr wert ist als die bloß wahre Überzeugung. Aber wenn wir das erkennen, sollten wir uns fragen, ob wir wirklich sicher sind, dass wir intuitiv Wissen besser bewerten als bloß wahre Überzeugung, oder nicht vielmehr die Wissenssituation besser bewerten als die Situation, in der wir bloß wahre Überzeugungen haben. Meines Erachtens sind die Intuitionen hier gar nicht so klar fixierbar. Hinzu kommt, dass sich die Menon-Intuition auch auf verschiedene Weise wegerklären lässt. Man erklärt eine Intuition weg, wenn man zeigen kann, dass sie fehlerhaft zustande gekommen ist und deshalb als erkenntnistheoretischer Grund nicht ernst genommen werden muss. Eine naheliegende Möglichkeit, die Menon-Intuition wegzuerklären, ist die folgende: Wissen ist tatsächlich mehr wert als bloß wahre Überzeugung, weil es in rationalen Wesen stabiler ist und deshalb eine bessere Basis für unsere praktische Orientierung in der Welt bietet. Man ist geneigt, diese Einsicht abzukürzen und zu sagen, dass Wissen also mehr wert ist als bloß wahre Überzeugung, und dabei vergisst man, dass dies ja nur in praktischer Hinsicht gilt. Wissen ist also gar nicht simpliciter mehr wert als wahre Überzeugung, sondern Wissen ist nur praktisch mehr wert als wahre Überzeugung. Da man diese Qualifikation leicht übersieht, meint man am Ende, dass dadurch der größere Wert des Wissens auch für die Erkenntnistheorie gezeigt sei. Aber das ist eben falsch. Es gibt jedoch noch eine weitere Möglichkeit, die Menon-Intuition wegzuerklären: Wahrheit ist uns normalerweise nicht direkt zugänglich, sondern wir orientieren uns zunächst einmal an unseren Rechtfertigungskriterien, die gute



3.7 Die Bedeutung des Wissens für die Erkenntnistheorie 

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Indikatoren der Wahrheit sind. Deshalb schätzen wir diese Indikatoren. Wir schätzen sie zwar nur als gut geeignete Mittel, um unser Ziel der Wahrheit zu erreichen, nicht als Wert an sich. Aber dieser Umstand gerät leicht in Vergessenheit, weil Rechtfertigungskriterien für uns eben wichtig und interessant sind (egal aus welchem Grund). Wenn wir nun einen Fall von Wissen vor uns haben und einmal annehmen, dass Wissen Wahrheit und Rechtfertigung zumindest als Komponenten enthält, dann passiert es leicht, dass wir zum intrinsischen Wert der Wahrheit den instrumentellen Wert der Rechtfertigung dazuzählen. Aber das ist natürlich ein Fehler, denn die Verwendung eines geeigneten Mittels fügt dem Wert des verwirklichten Ziels nichts an Wert hinzu und kann dies auch nicht, solange das Mittel keinen eigenen intrinsischen Wert hat. Dieser Fehler schleicht sich jedoch sehr leicht ein.230 Der Wahrheitsmonismus kommt am Ende nahe heran an eine Erklärung der Menon-Intuition, auch wenn er sie nicht vollständig erklären kann. Dieser Mangel kann jedoch kein entscheidendes Argument gegen den Monismus sein, weil die Intuition selbst möglicherweise fehlerhaft zustande gekommen ist. Als Alternative zum Monismus darf man jedoch auch den Pluralismus nicht vollkommen vernachlässigen. Er bietet zwar ein etwas uneinheitlicheres Gesamtbild, kann aber die Menon-Intuition vollständig erklären. Beide Positionen räumen Wissen jedoch nicht den Status eines primären erkenntnistheoretischen Ziels ein. Der Monismus sieht in der Wahrheit das alleinige Ziel und der Pluralismus stellt diesem Ziel als weiteres intrinsisches Ziel die Rechtfertigung an die Seite. Wissen selbst hat auch aus der Perspektive des Pluralisten keinen eigenständigen intrinsischen Wert. 3.7.2.1 Ist Wissen ein inkohärenter* Begriff? Es ist in letzter Zeit von verschiedener Seite aus der Verdacht geäußert worden, dass unser alltäglicher Begriff des Wissens inkonsistent* oder zumindest nicht kohärent sein könnte.231 Diese These geht ursprünglich auf Crispin Sartwell zurück. Sein Argument lautet in etwa folgendermaßen:232 Einerseits ist Wissen seinem Begriff nach ein reiner Zielbegriff. Es ist begrifflich wahr, dass Wissen das Ziel unserer Erkenntnisbemühungen ist. Es ist außerdem begrifflich wahr, dass Wahrheit das alleinige Ziel unserer Erkenntnisbemühungen ist. Deshalb müsste Wissen seinem Begriff nach wahre Überzeugung sein. Andererseits ist es aber

230 Vgl. in diesem Sinne Beckermann 2001, S. 579; DePaul 2001, S. 180. 231 Vgl. dazu vor allem Sartwell 1992 und Beckermann 2001 und 2002. 232 Vgl. insbesondere Sartwell 1992, S. 172–176.

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auch begrifflich wahr, dass Wissen die Komponenten der wahren Überzeugung und der Rechtfertigung enthält. Da die Rechtfertigung kein Teil unseres erkenntnistheoretischen Ziels ist, sondern nur ein Mittel zu diesem Ziel darstellt, wäre Wissen demnach kein reiner Zielbegriff. Ein Begriff, der aber zugleich ein reiner Zielbegriff und kein reiner Zielbegriff ist, ist inkohärent, ja sogar inkonsistent. Dieses Argument lässt sich besser überschauen, wenn man es in seine Normalform bringt: (1) Wissen bezeichnet ausschließlich das Ziel unserer Erkenntnisbemühungen. (analytisch wahr) (2) Wahre Überzeugung ist das alleinige Ziel unserer Erkenntnisbemühungen. (analytisch wahr) (3) Wissen beinhaltet wahre Überzeugung und Rechtfertigung. (analytisch wahr) (4) Wissen bezeichnet mehr als das Ziel unserer Erkenntnisbemühungen. (aus (2) und (3)) (5) (1) und (4) stehen im Widerspruch zueinander. Wenn sich jedoch durch Begriffsanalyse und deduktive Inferenz allein ein Widerspruch ableiten lässt, dann muss der analysierte Begriff selbst widersprüchlich sein. Nach dem, was im vorherigen Abschnitt gesagt wurde, ist es leicht, den Fehler in dieser Argumentation zu benennen. Wenn der Wahrheitsmonismus richtig ist, dann ist (1) falsch. Und wenn der Pluralismus richtig ist, dann sind sogar (1) und (2) falsch. Es ist aber auch möglich, die Gültigkeit des Arguments von Sartwell in Zweifel zu ziehen. Es liegt nämlich die Vermutung nahe, dass die Wissensbegriffe, die in (1) und (3) verwendet werden, nicht dieselben sind. Um das zu zeigen, müssen wir uns noch einmal Aristoteles’ Diktum, dass alle Menschen von Natur aus nach Wissen streben, vor Augen führen. Ich hatte oben gesagt, dass Wissen hier so zu verstehen ist, dass es ein systematisches und tief greifendes Verständnis der Dinge bezeichnet. Das lässt sich noch etwas genauer explizieren. Aristoteles meint, dass sich der Mensch nicht mit der isolierten Kenntnis von einzelnen Tatsachen zufrieden gibt, sondern dass er an einem theoretischen Verstehen der Welt interessiert ist. Der Mensch sucht also nicht nach isolierten Wahrheiten, sondern nach wahren Theorien über die Welt, die formal so charakterisiert werden können, dass sie Axiome* bereitstellen (die die kausalen Grundprinzipien der Welt beschreiben), aus denen sich dann Erklärungen in Form von Theoremen* ableiten lassen. Wissen in diesem Sinne wäre dann ein systematisch-theoretischer Zusammenhang von Wahrheiten. Am besten ließe es sich als wissenschaftliche Wahrheit mit explanatorischer Kraft bezeichnen. Ich werde Wissen in diesem Sinne als WissenW bezeichnen. Wenn man Wissen in diesem Sinne versteht, lässt sich vermutlich die Prämisse (1) in Sartwells Argument kaum bestreiten, auch wenn es dann keine analytische Wahrheit wäre. Der Wissensbe-



3.7 Die Bedeutung des Wissens für die Erkenntnistheorie 

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griff, der uns in der Erkenntnistheorie besonders beschäftigt und dem ich auch in dieser Einführung großen Raum geschenkt habe, ist jedoch ein ganz anderer. Danach bezeichnet Wissen keine bestimmte Art von Wahrheiten, sondern eine starke epistemische Position gegenüber einer Wahrheit. Für eine wahre Überzeugung, die ich weiß, habe ich wahrheitsgarantierende Rechtfertigungsgründe. Um den besonderen erkenntnistheoretischen Status dieses Wissens zu indizieren werde ich deshalb von WissenE sprechen. Von Wissen in diesem Sinne ist in Sartwells Argument in (3) und (4) die Rede. Wenn man das berücksichtigt, dann gelingt es Sartwell nicht, mit seinem Argument eine Inkonsistenz im Wissensbegriff zu zeigen. Er zeigt dann nur, dass wir verschiedene Wissensbegriffe haben. Das wird deutlich, wenn wir uns sein Argument in der Normalform noch einmal ansehen, und zwar dieses Mal mit den Indizes am Wissensbegriff: (1’) WissenW bezeichnet ausschließlich das Ziel unserer Erkenntnisbemühungen. (2) Wahre Überzeugung ist das alleinige Ziel unserer Erkenntnisbemühungen. (analytisch wahr) (3’) WissenE beinhaltet wahre Überzeugung und Rechtfertigung. (analytisch wahr) (4’) WissenE bezeichnet mehr als das Ziel unserer Erkenntnisbemühungen. (aus (2) & (3) In dieser Reformulierung des Arguments wird sofort deutlich, dass es keinen Widerspruch zwischen den Sätzen (1’) und (4’) gibt.

3.7.3 Wissen als Grundlage und Ausgangspunkt unserer Erkenntnisbemühungen Wissen ist also kein Ziel unserer kognitiven Anstrengungen, sondern die Wahrheit ist dieses Ziel (oder Wahrheit und Rechtfertigung, wenn der Pluralismus zutreffen sollte). Doch welche Funktion hat das Wissen dann im Rahmen unserer Erkenntnisbemühungen? Vielleicht hilft es, wenn man die Blickrichtung einfach umkehrt und einmal überlegt, ob Wissen, wenn schon nicht das Ziel, so doch vielleicht die Basis derjenigen kognitiven Bemühungen ist, die wir Rechtfertigung oder Begründung nennen. Wissen wäre dann die Grundlage oder der Grund jeder erkenntnistheoretischen Rechtfertigung, also dasjenige, was die zu rechtfertigende Überzeugung rechtfertigt. Dieser Gedanke ist nicht neu, sondern bildet den Kern der cartesianischen Konzeption der Rechtfertigung. Danach kann und muss man in der Kette der Rechtfertigung immer bis zu einem unzweifelhaft gewissen Wissen zurückgehen. Basis jeder Rechtfertigung wäre demnach ein Wissen

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besonderer Art, nämlich ein Wissen, dessen Wahrheit unfehlbar und unbezweifelbar verbürgt ist. Dass die Ketten der Rechtfertigung erst in unbezweifelbaren Gewissheiten enden, kann man durch eine einfache Überlegung plausibel machen. Denken Sie an die folgende Situation: Ich bin der Überzeugung, dass in den Anschlag auf das World Trade Center 2001 die CIA nicht verwickelt war. Doch was rechtfertigt mich in dieser Überzeugung? Dass weltweit führende Experten die Sache so einschätzen. Und was rechtfertigt mich in dieser Überzeugung? Dass sie es in vielen Artikeln und Büchern dokumentiert haben. Und was rechtfertigt mich in dieser Überzeugung? Dass gerade jetzt, in genau dem Moment, in dem ich mir diese Frage stelle, ein Erinnerungsbild mit diesem Inhalt in mir vorhanden ist. Hier nun bricht der drohende Regress der Rechtfertigung ab. Bezüglich meiner gegenwärtigen eigenen mentalen Zustände kann es keinen sinnvollen Zweifel mehr geben. Diese Zustände sind gewiss. Und deshalb erübrigt sich die Suche nach weiteren rechtfertigenden Gründen. Nach der cartesianischen Konzeption liegt genau in diesen Gewissheiten die Basis jeder echten Rechtfertigung. Die Probleme des cartesianischen Bildes sind lange bekannt und ich möchte sie hier nur ganz kurz darstellen. Erstens scheint es auch bezüglich eigener gegenwärtiger mentaler Zustände keine wirklich unbezweifelbaren Überzeugungen zu geben. Auch die Introspektion ist nicht gewiss. Dafür gibt es unzählige Beispiele. Hier nur eine kleine Auswahl. Ein Vater ist der introspektiven Auffassung, dass er seine beiden Kinder gleich gerne mag und für keines von beiden voreingenommen ist. Später stellt er fest, dass dies eine Selbsttäuschung war, weil er von einem seiner beiden Kinder enttäuscht ist, als es nicht besser in der Schule oder bei einem Wettbewerb abschneidet als sein anderes Kind. Ein zweiter Fall: Jemand meint, fest davon überzeugt zu sein, dass eine bestimmte Entscheidung richtig ist. Doch als es darum geht, die Entscheidung in die Tat umzusetzen, zögert er. Dabei stellt sich heraus, dass er gar nicht so fest überzeugt war, wie er glaubte. Schließlich ein dritter Fall: Bei manchen amerikanischen Burschenschaften gibt es den martialischen Brauch, neuen Mitgliedern mit einem glühenden Eisen ein Brandzeichen auf den Rücken einzubrennen. Stellen Sie sich vor, wie ein Novize in einer solchen Situation gerade das fürchterliche Brennen des glühenden Eisens erwartet. Ohne dass er es weiß, wird sein Rücken jedoch nicht mit dem brennenden Eisen berührt, sondern mit einem Stück Eis. In dieser Situation wird der Betroffene zunächst glauben, dass er einen brennendheißen Schmerz spürt, weil es das ist, was er erwartet. Erst nach einer Weile wird ihm klar werden, dass er keine brennende Hitze, sondern große Kälte spürt. Alle diese Beispiele zeigen die Fehlbarkeit unserer Introspektion. Und da sich solche Irrtumssituationen niemals prinzipiell ausschließen lassen, sind auch introspektive Überzeugungen nicht unbezweifelbar gewiss.



3.7 Die Bedeutung des Wissens für die Erkenntnistheorie 

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Zweitens sieht man nicht, wie solche cartesianischen Gewissheiten über gegenwärtige eigene Erlebnisse und andere mentale Zustände, wenn es sie denn gäbe, jemals in der Lage sein sollten, unsere Überzeugungen über die von uns unabhängige Außenwelt zu rechtfertigen. Es ist offensichtlich, dass man aus introspektiven Überzeugungen über die eigene Innenwelt keine deduktiven Schlüsse über die Außenwelt ziehen kann. Aber wenn wir von unseren Erlebnissen als Wirkungen auf deren Ursachen in der Außenwelt induktiv schließen wollen, dann gibt es offenbar eine unbestimmte Menge von alternativen Kausalerklärungen, von denen auf den ersten Blick nicht zu sehen ist, welche erkenntnistheoretisch den Vorzug verdient. Nehmen wir beispielsweise meine episodische Erinnerung daran, dass ich gerade eine wissenschaftliche Widerlegung der 9/11 Verschwörungstheorien gelesen habe. Es ist möglich, dass sich diese Erinnerungsepisode tatsächlich meiner Lektüre verdankt. Genauso gut ist es aber auch möglich, dass diese Erinnerung das trügerische Produkt von Drogen ist, die ich eingenommen habe. Oder, wie Russell einmal erwogen hat, die gesamte Welt einschließlich meiner selbst könnte erst vor drei Minuten von einem bösen Dämon erschaffen sein, der mir trügerische Erinnerungsepisoden über meine Lektüre eingepflanzt hat. Viele weitere alternative Kausalerklärungen wären möglich, so dass diese kausalen Inferenzen von der Innenwelt auf die Außenwelt einen höchst zweifelhaften epistemischen Wert haben. Timothy Williamson hat die Idee wieder aufgegriffen, dass nur das, was wir wissen, ein epistemischer Grund sein kann.233 Allerdings hat er diese Idee vom Cartesianismus vollkommen gelöst. Für Williamson hat das Wissen, das als rechtfertigender Grund fungiert, nicht mehr den Status der Gewissheit.234 Es ist also möglich, dass das, was wir wissen, für uns gleichwohl zweifelhaft werden kann. Und es ist genauso möglich, dass wir kein Wissen davon haben, ob wir etwas wissen, wenn wir es wissen. Wir können uns also darüber täuschen oder darüber im Unklaren sein, ob wir Wissen haben.235 Dasselbe gilt nach Williamson auch für unsere rechtfertigenden Gründe. Diese Gründe sind uns nicht in dem starken Sinne transparent, dass uns jederzeit klar und offenkundig ist, was unsere Gründe sind.236 Es gibt aber auch noch einen weiteren Unterschied zum Cartesianismus. Als Grund fungiert nämlich nach Williamson nicht nur unser

233 In Williamson 2000, Kap. 9 & 10. Was Williamson dort ‚evidence‘ nennt, übersetze ich hier durchgängig mit „Grund“. Williamson behauptet darüber hinaus, dass Wissen auch die Norm für korrekte Behauptungen und richtiges Handeln festlegt. Wir machen also einen Fehler, wenn wir etwas behaupten oder tun, das wir nicht wissen. 234 Williamson 2000, S. 205. 235 Vgl. etwa Williamson 2000, S. 23. 236 Williamson 2000, S. 174–178.

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Wissen über unser mentales Innenleben, sondern ebenso unser Wissen über die Welt. Diese Abweichungen vom cartesianischen Modell stellen zweierlei sicher: Es gibt Gründe (da es Wissen im Unterschied zu Gewissheit tatsächlich gibt) und die Menge unserer Gründe ist groß genug, um auch unsere Überzeugungen über die Welt zu rechtfertigen (da zum relevanten Wissen auch unser Wissen über die Außenwelt gezählt wird). Williamsons Konzeption der Rechtfertigungsgründe ist radikal externalistisch. Da Wissen über die Außenwelt nicht ausgeschlossen ist und Wissen die Existenz entsprechender Tatsachen impliziert, beinhalten unsere Gründe Teile der Außenwelt. Und da Wissen nicht transparent ist, sind uns auch unsere Gründe nicht immer automatisch zugänglich. Dennoch ist Williamson ein Psychologist im Hinblick auf Gründe.237 Der Psychologismus besagt, dass nur psychische Zustände des erkenntnistheoretischen Subjekts Gründe sein können. Dass Williamson einen Psychologismus der Gründe vertritt, mag angesichts ihres externen Charakters überraschen, es wird jedoch verständlich, wenn man berücksichtigt, dass er auch von den mentalen Zuständen annimmt, dass sie von der Außenwelt abhängen und nicht transparent sind. Für Williamson ist Wissen ein mentaler Zustand. Williamsons Vorschlag, jede Rechtfertigung mit Rekurs auf Wissen als den rechtfertigenden Grund zu analysieren, sieht zunächst wie eine Sackgasse aus. Gewöhnlich nehmen wir doch an, dass Wissen ein komplexer Begriff ist, der sich, wie auch immer seine Analyse genauer aussieht, mit Hilfe der Komponenten Überzeugung, Wahrheit, Rechtfertigung und weiteren Zusatzbedingungen analysieren lässt. Wenn wir jedoch Wissen mit Rekurs auf Konstituenten analysieren, unter denen auch Rechtfertigung vorkommt, dann kann man Rechtfertigung nicht ihrerseits mit Hilfe von Wissen erläutern. Das wäre ein unzulässiger Definitionszirkel. Dieser Zirkel lässt sich nur vermeiden, wenn man, wie Williamson, davon ausgeht, dass der Wissensbegriff nicht analysierbar ist, sondern selbst in der Ordnung der begrifflichen Analyse den Vorrang vor der Rechtfertigung hat.238 Die Auffassung, dass sich unsere Gründe auf das beschränken, was wir wissen, hat aber eine Reihe von kontra-intuitiven Konsequenzen. Eine dieser Konsequenzen hat mit der Rolle der Erfahrung für die Rechtfertigung zu tun. Wenn Gründe sich auf Wissen beschränken und wenn Wissen eine bestimmte Art der Überzeugung ist, dann können Erfahrungen selbst keine Gründe sein,

237 Williamson 2000, S. 195. Allerdings kann man Williamson hier auch etwas schwächer verstehen, so dass Gründe objektive Tatsachen in der Welt sind, die das Subjekt allerdings nur besitzt, wenn es Wissen von diesen Tatsachen hat. 238 Vgl. Williamson 2000, S. 185 f.



3.7 Die Bedeutung des Wissens für die Erkenntnistheorie 

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sondern die Erfahrung kann bestenfalls Gründe liefern.239 Sie kann eine Quelle der Gründe sein. Williamson stellt sich das etwa so vor: Wir haben eine höchst reichhaltige Sinneserfahrung, z. B. von einem Tisch. Diese Sinneserfahrung führt zu einer rudimentären indexikalischen Überzeugung vom Typ „Dieser Gegenstand hat diese Gestalt“. Der Inhalt dieser Überzeugung wird zum größten Teil durch die zugrunde liegende Sinneserfahrung bestimmt. Wenn die Sinneserfahrung zuverlässig ist und die Umstände günstig sind, dann wissen wir, dass dieser Gegenstand diese Gestalt hat. Und dieses Wissen ist dann der induktive Grund für die Überzeugung, dass vor uns ein Tisch steht. Es rechtfertigt diese Überzeugung. Doch was passiert, wenn diese Überzeugung durch eine Illusion oder Halluzination zustande kommt? Dann ist sie falsch. Dennoch neigen wir dazu, auch falsche Überzeugungen, die durch eine Sinnestäuschung zustande gekommen sind, für gerechtfertigt zu halten, zumindest wenn unsere Sinneserfahrung unter normalen Umständen zuverlässig ist. Williamson hat mit dieser Intuition erhebliche Probleme, denn die Überzeugung „Dieser Gegenstand hat diese Gestalt“ kann ja in der Halluzinationssituation kein Wissen darstellen (weil sie falsch ist), doch eine gerechtfertigte Überzeugung setzt nach Williamson Wissen voraus, das den Grund liefert. Welches Wissen liefert in der Halluzinationssituation also den Grund für die falsche Überzeugung, dass vor uns ein Tisch steht? Williamson sagt, dass in diesem Fall unser Wissen, dass es perzeptuell so erscheint, als ob ein Tisch vor uns steht, den erforderlichen Grund liefert.240 Doch daraus ergibt sich unmittelbar ein Folgeproblem: Der Unterschied zwischen einer veridischen Erfahrung und einer Sinnestäuschung liegt in den unterschiedlichen Ursachen für die Entstehung der Sinneserfahrung. Im veridischen Fall entspricht die externe Ursache dem Inhalt der Sinneserfahrung. Im Fall der Halluzination ist die Ursache ein objektives Täuschungsszenario oder eine direkte neuronale Einwirkung durch Psychopharmaka oder elektrische Stimulation der Nervenzellen. Die kognitive Weiterverarbeitung der Sinneserfahrung unterscheidet sich dagegen in beiden Fällen nicht. Nun ist es aber so, dass ein Grund eine Überzeugung nur dann rechtfertigt, wenn die Person die Überzeugung hat, weil sie den Grund hat. Die natürliche Interpretation dieses ‚weil‘ ist kausal. Gründe müssen also auch Ursachen sein. Wenn das richtig ist und wenn ferner die Kausalketten zwischen Sinneserfahrung und Überzeugung in den Fällen veridischer Erfahrung und Sinnestäuschung übereinstimmen und wenn außerdem im Fall der Sinnestäuschung die Überzeugung über die Außenwelt (den Tisch) nur durch ein introspektives Wissen gerechtfertigt sein kann, dann muss der Grund für empirische

239 Williamson 2000, S. 197. 240 Williamson 2000, S. 198.

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Überzeugungen in allen Fällen ein introspektives Wissen sein. Das ist jedoch aus zwei Gründen äußerst unplausibel. Zum einen bemerken wir phänomenologisch im Normalfall empirischer Rechtfertigung von Überzeugungen über die Außenwelt keine introspektiven Überzeugungen. Selbstverständlich können wir sie in Wahrnehmungssituationen bilden, aber der kausale Weg von der Wahrnehmung zur Überzeugung über die Außenwelt führt normalerweise nicht über den Umweg einer entsprechenden introspektiven Überzeugung.241 Zum anderen schließt diese Position für Kleinkinder und andere Lebewesen, die über keine introspektiven Begriffe verfügen (und deshalb auch keine introspektiven Überzeugungen haben können), jegliche Form von empirischer Rechtfertigung aus – eine nur schwer zu akzeptierende Konsequenz.242 Hier eine zweite kontraintuitive Konsequenz: Wissenschaftliche Theorien und Weltbilder werden normalerweise nicht als Ganze direkt auf unser Beobachtungswissen gestützt, sondern in viele Argumente gehen auch theoretische Hintergrundannahmen ein. Der normale Wissenschaftsbetrieb besteht in der Lösung von Problemen im Rahmen einer etablierten Hintergrundtheorie. Der wissenschaftliche Fortschritt hat aber die meisten dieser Hintergrundtheorien als falsch entlarvt. Wenn nun rechtfertigende Gründe auf Wissen beschränkt sind und Wissen Wahrheit impliziert, dann ergibt sich daraus die Konsequenz, dass die Resultate vergangener Wissenschaft im Zuge des wissenschaftlichen Fortschritts nicht nur ihre Rechtfertigung verlieren, sondern dass sie niemals gerechtfertigt waren. Sie sind uns fälschlich nur so vorgekommen, als ob sie gerechtfertigt waren. Aber das ist sehr unplausibel. Es ist richtig, dass frühere Wissenschaftler die Resultate ihrer wissenschaftlichen Arbeit fälschlich für wahr gehalten haben (wenn die Theorien inzwischen widerlegt sind), aber wollen wir wirklich sagen, dass sie sie auch fälschlich für gerechtfertigt gehalten haben? Williamsons Konzeption bindet die Gründe offenbar zu eng an die Wahrheit.243 Schließlich noch eine dritte kontraintuitive Konsequenz: Es gehört offenbar zu unseren Binsenweisheiten über Gründe, dass sie durch andere Gründe

241 Dieses phänomenologische Argument zeigt natürlich nicht zwingend, dass es keine introspektiven Überzeugungen (und introspektives Wissen) in der Kausalkette gibt. Sie könnten ja für die Person unzugänglich sein. Aber es spricht zunächst einmal nichts für die Existenz solcher Überzeugungen. Williamson führt sie ad hoc als bloße Hilfshypothesen zur Verteidigung seiner These ein. 242 Williamson scheint diese Konsequenz zu akzeptieren. Vgl. Williamson 2000, S. 199. 243 Comesana & Kantin 2010 weisen auf die interessante Konsequenz hin, dass Williamsons Gleichsetzung von Gründen mit Wissen auch verhindert, dass Gettierfälle die Standardanalyse von Wissen widerlegen. In den ursprünglichen Gettierfällen wäre die Konklusion gar nicht gerechtfertigt, weil sie nicht aus gewussten Prämissen abgeleitet wird.



3.7 Die Bedeutung des Wissens für die Erkenntnistheorie 

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anfechtbar sind. Das bedeutet, dass sie ihre Rechtfertigungskraft immer nur vorläufig besitzen, und zwar genau so lange, bis Gründe auftauchen, die ihre Wahrheit oder ihre Zuverlässigkeit angreifen. Dass mir etwas rot erscheint ist solange ein guter Grund für meine Überzeugung, dass dieses Ding rot ist, bis ich einen Grund habe, an der Beschreibung meiner Wahrnehmung als Rot-Erscheinung zu zweifeln, oder die Information bekomme, dass die Gegenstände, die ich wahrnehme, mit rotem Licht beleuchtet werden. Die Anfechtbarkeit unserer Gründe zeigt nicht nur eine ihnen inhärente erkenntnistheoretische Schwäche auf, sie ermöglicht uns zugleich eine sukzessive Annäherung an die Wahrheit. Eine rationale Revision unserer Überzeugungen im Lichte stetig neuer Gründe führt uns immer dichter an die Wahrheit heran. Williamson erkennt, dass er der Anfechtbarkeit von Gründen auch in seiner Konzeption der Rechtfertigung Rechnung tragen muss.244 Er schlägt deshalb Folgendes vor: Solange Wissen keine Gewissheit impliziert, kann auch Wissen durch anderes Wissen angefochten werden. Etwas, das wir wissen, kann nämlich in Bezug auf anderes Wissen von uns nahelegen, dass es falsch ist. Ein Beispiel: Wir wissen aufgrund von Beobachtung, dass in einer Tasche ein roter und ein schwarzer Ball stecken. Wenn wir jedoch 10.000-mal hintereinander einen roten Ball aus der Tasche ziehen, den wir jeweils wieder zurücklegen, dann kommen uns Zweifel daran, ob wirklich ein schwarzer Ball in der Tasche ist.245 Unser Wissen geht mit unserem Fürwahrhalten verloren. Diese Anfechtung von Wissen durch anderes Wissen soll nach Williamson die Anfechtungsstruktur unserer Rechtfertigung erklären. Diese Erklärung hat jedoch einen entscheidenden Nachteil. Wenn Wissen anderes Wissen unterminiert, dann werden wir dadurch de facto in die Irre geführt. Wir nähern uns damit nicht an die Wahrheit an, sondern verlieren gewusste Wahrheiten. Anfechtung von Wissen durch anderes Wissen ist also, gegeben unser erkenntnistheoretisches Ziel der Wahrheit, kontraproduktiv. Aber die rationale Revision unserer Überzeugungen durch den Mechanismus der Anfechtung unserer Gründe soll uns im Großen und Ganzen der Wahrheit näher bringen. Deshalb ist sie erkenntnistheoretisch vorteilhaft. Und genau diesen Aspekt der Rechtfertigung kann Williamson nicht adäquat erklären. Was lässt sich also abschließend über die Idee, Wissen zum Ausgangspunkt von Begründungen zu machen, sagen? Sowohl der Cartesianismus als auch Williamsons Konzeption haben beide stark kontraintuitive Konsequenzen. Der Cartesianismus führt aufgrund des unerfüllbaren Aufbaus unserer Rechtfertigungen auf Gewissheiten direkt zum Skeptizismus. Und obwohl Williamson die carte-

244 Williamson 2000, S. 219. 245 Williamson 2000, S. 222.

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 3 Wissen

sianische Forderung nach Gewissheit ganz aufgibt, bleibt die Auffassung, dass Wissen der Ausgangspunkt jeder Rechtfertigung sein muss, viel zu restriktiv. Der Bereich gerechtfertigter Überzeugungen wird viel zu klein; und der dynamische Prozess rationaler Anfechtung von Gründen lässt sich nicht mehr als schrittweise Annäherung an die Wahrheit verstehen. Deshalb sollten wir die erkenntnistheoretische Rolle des Wissens nicht als Basis der Rechtfertigung verstehen.

3.7.4 Die methodologische Rolle des Wissens Da Wahrheit ein, wenn nicht sogar das einzige intrinsische Ziel der menschlichen Erkenntnisbemühungen ist, ist auch die Frage, welche Mittel wir anwenden sollen, um wahre Überzeugungen zu erzielen, von großer Bedeutung. Wir suchen nach guten Kriterien der Wahrheit, um unser erkenntnistheoretisches Ziel zu erreichen. Es ist schwer vorstellbar, dass Wissen in diesem Zusammenhang eine Rolle spielen könnte. Wissen ist das Resultat von auf geeignete Weise wahrheitsgarantierenden Methoden oder Prozessen. Wissen ist kein Kriterium der Wahrheit. Das einzige Kriterium der Wahrheit sind unsere Verfahren und Maßstäbe der Rechtfertigung. Wenn wir sie erfüllen und die Welt in der geeigneten Weise mitspielt, dann erzielen wir Wahrheit und – unter Umständen – Wissen. Aus der Perspektive der ersten Person bleibt uns also nichts anderes übrig, als die Rechtfertigungskriterien zu erfüllen und zu hoffen, dass alles gut geht. Das Erreichen unseres Ziels und die Frage, ob wir dieses Ziel – im Fall von Wissen – sogar noch durch eigenen Verdienst erreichen, ist aus unserer Perspektive der ersten Person eine Sache des Glücks. Das gilt zumindest, solange wir keine unmittelbare und unbezweifelbare Einsicht in die Wahrheit haben. Hätten wir solche Gewissheit, dann ließe sich in gewissem Sinne sagen, dass es eine Form von Wissen gibt, nämlich die Gewissheit, die zugleich ein Kriterium ist und das, wofür es Kriterium ist. In diesem Fall könnte Wissen ein Kriterium der Wahrheit sein, weil es eine Gegebenheitsweise der Wahrheit wäre. Unter den Bedingungen der steten Denkbarkeit von Irrtum kann es jedoch keine Gewissheit geben. Unsere einzigen epistemischen Kriterien sind unsere Rechtfertigungskriterien. Wissen scheint keinerlei methodologische Rolle im Rahmen unserer Erkenntnisbemühungen zu spielen.246 Das ist aber bestenfalls die halbe Wahrheit. Wir folgen nämlich nicht immer einfach nur unseren Rechtfertigungskriterien, sondern wir können Verfahren, Methoden und Instrumente auch einer Bewertung in Bezug darauf unterziehen,

246 Vgl. in diesem Sinne Kaplan 1985.



3.7 Die Bedeutung des Wissens für die Erkenntnistheorie 

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ob sie geeignete Mittel zur Erzielung wahrer Überzeugungen sind. Letzteres tun wir, wenn wir kritisch reflektieren oder vor der Wahl stehen, welche Methode wir anwenden sollen. Wenn wir bewerten, welchen instrumentellen Wert Methoden hinsichtlich der Wahrheit haben, dann geschieht das normalerweise induktiv. Wir ziehen eine Bilanz, wie zuverlässig eine Methode in der Vergangenheit war, und schließen dann auf ihre generelle Zuverlässigkeit. Eine solche Bewertung kann selbstverständlich nicht im luftleeren Raum stattfinden. Wir müssen also bereits über Methoden verfügen, mit Hilfe derer wir Aussagen über den Wahrheitswert der vergangenen Resultate der bewerteten Methode treffen können. Dennoch haben solche Bewertungen maßgeblichen Einfluss auf unsere Überzeugungsbildung. Wenn wir beispielsweise in Erfahrung bringen, dass ein so genannter Experte in der Vergangenheit fast immer richtig lag mit seinen Erklärungen und Prognosen, dann werden wir uns auf ihn verlassen und seinen Äußerungen Glauben schenken. Wenn sich dagegen herausstellt, dass ein Instrument in der Vergangenheit öfters falsche Messwerte angezeigt hat, werden wir uns nicht mehr auf die Daten dieses Instruments verlassen, solange es nicht repariert oder neu justiert wurde. Hier gilt die Regel, dass wir uns nur auf Instrumente, Methoden oder Informanten verlassen, die normalerweise zuverlässig sind. Die Zuverlässigkeit ist also die relevante Eigenschaft, wenn wir nach einem Indikator dafür suchen, dass etwas ein geeignetes Kriterium der Wahrheit ist. Und jetzt kommt Wissen ins Spiel. Im Idealfall stellen wir fest, dass eine Methode in der Vergangenheit nicht nur immer wahre Ergebnisse hervorgebracht hat, sondern dass diese perfekte Wahrheitsbilanz auch nicht Ergebnis eines Zufalls war. Im Idealfall hat die Methode also in der Vergangenheit immer Wissen hervorgebracht. Dann können wir induktiv schließen, dass es sich um eine Quelle des Wissens handelt, auf die wir absolut vertrauen können. Die Zuschreibung von Wissen kann also sehr wohl methodologisch relevant sein, weil sie uns hilft, Quellen des Wissens oder wissensgenerierende Methoden zu identifizieren. Solche Methoden haben einen maximalen instrumentellen Wert in unseren Erkenntnisbemühungen. Solche Methoden wird es in der Praxis eher selten geben. Außerdem können wir uns natürlich darüber täuschen, ob wir es tatsächlich mit einer wissensgenerierenden Methode zu tun haben. Unsere Bewertung der vergangenen Ergebnisse könnte falsch sein und unsere induktive Verallgemeinerung ist ebenfalls eine mögliche Fehlerquelle. Gleichwohl können wir durch Wissenszuschreibungen Quellen des Wissens identifizieren und damit Erkenntnismethoden einen maximalen instrumentellen Wert zuschreiben. Ansgar Beckermann hat gegen eine vergleichbare Überlegung einen prinzipiellen Einwand erhoben. Aus seiner Sicht macht es keinen Sinn zu sagen, dass wir etwas als besonders vertrauenswürdige Informationsquelle verwenden, wenn wir herausgefunden haben, dass diese Quelle über Wissen verfügt. Denn

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 3 Wissen

um der Quelle Wissen zuschreiben zu können, müssten wir ja bereits die Wahrheiten kennen, die uns die Informationsquelle allererst verraten soll. Wenn wir Informanten Wissen zuschreiben, können wir sie also nicht mehr als Informanten betrachten.247 Hier übersieht Beckermann meines Erachtens aber, dass wir Quellen des Wissens auch induktiv identifizieren können, ohne selbst bereits Wissen über die Fälle haben zu müssen, über die wir uns Informationen und Aufschluss von der Quelle erhoffen. Ich kann also rechtfertigen, dass Schmidt weiß, dass p, indem ich zeige, dass Schmidt in allen bisherigen Fragen, die den Bereich betrafen, zu dem p gehört, Wissen hatte. Ich muss dazu nicht unbedingt wissen, dass p selbst der Fall ist.

3.8 Studienfragen 1. Inwieweit unterscheidet sich propositionales Wissen von anderen Formen des Wissens? 2. Wie lautet die Standarddefinition propositionalen Wissens, und warum handelt es sich hierbei um eine auf den ersten Blick vielversprechende Analyse? 3. Inwiefern stellen die sogenannten Gettierfälle ein Problem für die Standardanalyse propositionalen Wissens dar? 4. Worin unterscheiden sich Quartett- und Terzettlösungen des Problems der korrekten Analyse propositionalen Wissens? 5. Woran scheitert eine kausale Theorie propositionalen Wissens? 6. Mit welchen grundlegenden Problem haben kontextualistische Theorien propositionalen Wissens zu kämpfen? 7. Welche Zuverlässigkeitstheorien propositionalen Wissens gibt es, und was haben diese Theorien gemeinsam? 8. Welche Vor- und Nachteile hat die Einführung einer Sicherheitsbedingung in die Analyse propositionalen Wissens? 9. Was spricht für das Prinzip der Geschlossenheit des Wissens? 10. Welche Überlegungen sprechen dafür, dass Wissen ein inkohärenter Begriff ist, und wie plausibel sind diese Überlegungen?

247 Vgl. Beckermanns Argumentation gegen Craigs Theorie des guten Informanten in Beckermann 2001, S. 582.

3.9 Literaturempfehlungen 

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3.9 Literaturempfehlungen Elke Brendel 2013: Wissen, Berlin/Boston (hervorragende, sehr lesbare, umfassende Einführung und Diskussion der Post-Gettier-Wissenstheorien, behandelt neben den neuesten Ansätzen auch pragmatische Theorien und den Wert des Wissens). Duncan Pritchard 2007: Epistemic Luck, Oxford (beste Gesamtdarstellung der Sicherheitskonzeption des Wissens; erklärt aufschlussreich, welche Arten des Zufalls mit Wissen verträglich sind und welche nicht). Duncan Pritchard 2009: Knowledge, Houndmills/New York (kurze, leicht lesbare, exzellente Verteidigung einer Wissenskonzeption, die Abwesenheit von Zufall und epistemische Tugend des Subjekts verlangt). Jason Stanley 2008: Knowledge and Practical Interests, Oxford (Der Klassiker zum “practical encroachment”; ob jemand weiß, hängt davon ab, wie viel für ihn praktisch auf dem Spiel steht).

Knowledge First Erkenntnistheorie Timothy Williamson 2000: Knowledge and Its Limits, Oxford (schwierige, aber hoch innovative Verteidigung der Idee, dass Wissen unanalysierbar und fundamental ist – auch für die Erklärung und Regulierung unseres praktischen und epistemischen Verhaltens). Patrick Greenough und Duncan Pritchard 2009 (Hg.): Williamson on Knowledge, Oxford (viele Kritiker von Williamsons Wissenstheorie kommen zu Wort). Aidan McGlynn 2014: Knowledge First?, Houndmills/New York (erste umfassende Kritik von Williamson in Buchlänge).

Tugenderkenntnistheorie Jason Baehr 2011: The Inquiring Mind. On Intellectual Virtues & Virtue Epistemology, Oxford (umfangreiches Standardwerk zu epistemischen Charaktertugenden wie Offenheit und Mut sowie ihrer Rolle für Wissen und Rechtfertigung).

4 Erkenntnistheoretische Rechtfertigung 4.0 Allgemeines Wenn wir uns um Erkenntnis bemühen, dann treffen wir im günstigen Falle die Wahrheit. Aber die Wahrheit ist uns nicht unmittelbar gegeben. Wir verfügen über keinen Wahrheitssinn, den vielleicht ein höheres Wesen besitzen könnte. Wir benötigen geeignete Verfahren, Methoden oder Instrumente, die uns zur Wahrheit hinführen. Solche wahrheitszuträglichen Mittel sind für uns wichtig, weil wir ohne sie im Hinblick auf die Wahrheit im Dunkeln tappen würden. Überzeugungen, die auf wahrheitszuträgliche Mittel gestützt sind, sind im erkenntnistheoretischen Sinne gerechtfertigt. Das verdeutlicht, warum die Rechtfertigung in unseren Erkenntnisbemühungen eine so wichtige Rolle spielt. Laurence BonJour hat diese Überlegung besonders prägnant formuliert: Warum sollten wir, als kognitive Wesen, ein Interesse daran haben, dass unsere Überzeugungen erkenntnistheoretisch gerechtfertigt sind? (…) Was uns allererst zu kognitiven Wesen macht, ist unser Vermögen, etwas zu glauben, und das Ziel unserer spezifischen kognitiven Bemühungen ist die Wahrheit: Wir wollen, dass unsere Überzeugungen die Welt richtig und genau wiedergeben. Wäre die Wahrheit auf irgendeine Weise unmittelbar und unproblematisch zugänglich (wie sie es, nach manchen Auffassungen, für Gott ist), so dass man sich in allen Fällen einfach dafür entscheiden könnte, das Wahre zu glauben, dann hätte der Begriff der Rechtfertigung keine große Bedeutung und würde keine unabhängige Rolle für die Erkenntnis spielen. (…) Die grundlegende Rolle der Rechtfertigung ist es, ein Mittel zur Wahrheit zu sein.248

Die gerechtfertigte Überzeugung hat insofern einen abgeleiteten erkenntnistheoretischen Wert, als sie durch eine Methode zustande gekommen ist, die ein gutes Mittel auf dem Weg zur Wahrheit ist. Da gute Mittel nicht unbedingt vollkommene Mittel sein müssen, kann eine Überzeugung auch dann gerechtfertigt sein, wenn sie falsch ist, weil die Rechtfertigung die Wahrheit nicht unbedingt garantieren muss, um (im Allgemeinen) zu ihr hinzuführen. Eine gute Ausbildung ist auch dann ein gutes Mittel zu einem ordentlichen Beruf, wenn es vorkommen kann, dass gut ausgebildete Personen keine Arbeit finden. Neben der Wahrheitszuträglichkeit gibt es eine Reihe weiterer Eigenschaften, die man mit Hilfe einer Begriffsanalyse über die erkenntnistheoretische Rechtfertigung herausfinden kann.249 Im Unterschied zur Wahrheit ist die Rechtfertigung

248 BonJour 1985, S. 7. Meine eigene Übersetzung. 249 Vgl. zum Folgenden vor allem Alston 1989a. DOI 10.1515/9783110530278-004

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 4 Erkenntnistheoretische Rechtfertigung

personenrelativ und zeitrelativ. So können zwei verschiedene Personen beispielsweise glauben, dass die Schlacht von Hastings 1066 stattfand. Beide würden damit etwas Wahres glauben. Aber es könnte sein, dass die Überzeugung der einen Person – ein Schüler der 4. Klasse, der diese Information irgendwo zufällig aufgeschnappt hat  – nicht gerechtfertigt ist, während die Überzeugung der anderen Person – ein Historiker – sehr gut gerechtfertigt ist. Ob die Überzeugung gerechtfertigt ist oder nicht, hängt nicht allein von dem Inhalt der Überzeugung und der Welt ab, sondern von den Gründen, die die jeweilige Person für ihre Überzeugung hat. Und diese Gründe können sich auch relativ zu ein und derselben Person mit der Zeit ändern. Jemand kann gerechtfertigterweise glauben, dass sich am Straßenrand eine Scheune befindet, solange er von der Straße aus auf das Gebäude blickt. Sobald er aber um das Gebäude herumgegangen ist und gesehen hat, dass es aus nichts als einer Fassade besteht, wird diese Rechtfertigung durch einen Anfechtungsgrund aufgehoben. Die Personen- und Zeitrelativität der Rechtfertigung zeigt, dass die Rechtfertigung eine Eigenschaft ist, die vom Kontext der Gründe abhängt, die die betreffende Person zum jeweiligen Zeitpunkt hat. Aber sprechen wir nicht auch davon, dass wissenschaftliche Theorien durch Experimente bestätigt und damit gerechtfertigt werden oder dass ein mathematischer Beweis* ein bestimmtes Theorem* rechtfertigt? In diesen Fällen sprechen wir anscheinend ganz objektiv und unpersönlich von einer Rechtfertigung.250 Es gibt in der Welt Experimente oder Beweise, die eine Theorie oder ein Theorem in der Weise rechtfertigen, dass es eine logisch-inferenzielle* Beziehung zwischen dem Experiment bzw. dem Beweis und der Theorie bzw. dem Theorem gibt. Dieser Anschein einer objektiven Rechtfertigung trügt jedoch. Erstens wäre die objektive Eigenschaft der Rechtfertigung einer Proposition* aufgrund irgendeiner Tatsache in einer Welt ohne Personen ganz witzlos, weil die Propositionen wahr oder falsch sind und erst Personen Mittel brauchen, um die Wahrheit herauszufinden. Zweitens ist die logische Beziehung zwischen den Prämissen und der Konklusion eines Beweises nicht hinreichend*, um die Konklusion zu rechtfertigen. Die Prämissen müssen dazu ihrerseits gerechtfertigt sein. Wenn diese Rechtfertigung wiederum nur durch einen Beweis zustande käme, würde sich ein Regress ergeben. Deshalb muss es Formen der Rechtfertigung geben, die nicht rein logisch-inferenziell sind, von denen jede inferenzielle Rechtfertigung abhängt. Solche Formen der Rechtfertigung lassen sich aber nicht mehr rein logisch-abstrakt und unabhängig von Personen verstehen. Umgekehrt lässt sich jede scheinbar unpersönliche Rechtfertigung auf eine personale Rechtfertigung

250 Vgl. Popper 1993.

4.0 Allgemeines 

 169

nach dem folgenden Schema zurückführen: Eine Proposition q ist unpersönlich durch eine Proposition p gerechtfertigt genau dann, wenn jedes Subjekt, das seine Überzeugung, dass q, auf einen personal gerechtfertigten Grund, dass p, inferenziell stützt, in seiner Überzeugung, dass q, personal gerechtfertigt ist. Wir sagen also abstrakt, dass eine Proposition p eine Proposition q rechtfertigt, wenn jedermann, der Gründe hätte, p anzunehmen, und q daraus folgerte, in seiner Überzeugung, dass q, gerechtfertigt wäre. Die scheinbar unpersönliche Rechtfertigung ist also nur das Resultat einer abstrahierenden Verallgemeinerung.251 Der Begriff* der Rechtfertigung ist außerdem ein normativer (oder evaluativer) Begriff. Wenn wir sagen, dass eine Überzeugung gerechtfertigt ist, dann sagen wir damit nicht nur, dass sie auf bestimmte Weise beschaffen ist, sondern wir sagen auch, dass sie so ist, wie sie vom erkenntnistheoretischen Standpunkt aus sein sollte. Wir betrachten und bewerten sie also aus der Perspektive epistemischer Normen und Maßstäbe. In diesem Sinne verhält sich der Begriff der epistemischen Rechtfertigung ganz ähnlich wie der Begriff des moralisch Guten oder des Nützlichen. Auch in diesen Fällen erfolgen Bewertungen unter Zugrundelegung bestimmter Normen und Maßstäbe. Es ist ferner außerordentlich wichtig zu erkennen, dass der Begriff der Rechtfertigung ein Gattungsbegriff ist, der verschiedene Arten der Rechtfertigung umfasst. Eine Überzeugung kann aus Klugheitsgründen pragmatisch gerechtfertigt sein, sie kann moralisch gerechtfertigt sein oder sie kann erkenntnistheoretisch gerechtfertigt sein. Und es gibt sicher noch andere Arten der Rechtfertigung. Eine Überzeugung kann auf eine Art gerechtfertigt sein, ohne auf eine der anderen Arten gerechtfertigt zu sein. Die verschiedenen Arten der Rechtfertigung sind also unabhängig voneinander. Jemand kann beispielsweise aus pragmatischen Gründen gerechtfertigt sein, an seinen Erfolg zu glauben, da Zuversicht die Erfolgsaussichten erhöht, obwohl er erkenntnistheoretisch gesehen nicht gerechtfertigt ist, an diesen Erfolg zu glauben, weil er sehr unwahrscheinlich ist. Wenn es jedoch unterschiedliche, voneinander unabhängige Arten der Rechtfertigung gibt, dann muss es charakteristische Merkmale für jede dieser Arten geben. Ein solches Merkmal muss sich also auch für die erkenntnistheoretische Rechtfertigung angeben lassen. Die Rechtfertigung einer Überzeugung ist außerdem keine statische Angelegenheit, die ein für alle Mal feststeht. Eine Überzeugung ist vielmehr immer nur vorläufig (prima facie) gerechtfertigt und diese Rechtfertigung kann zu einem späteren Zeitpunkt durch so genannte Anfechtungsgründe wieder entkräftet

251 Eine ausführliche Kritik der Idee einer abstrakten, unpersönlichen Rechtfertigung findet sich in Grundmann 2003a, S. 300–303.

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 4 Erkenntnistheoretische Rechtfertigung

werden. Die Rechtfertigung einer Überzeugung ist also empfänglich für eine kritische Revision im Lichte neuer Information. Wer diesen dynamischen Charakter der Rechtfertigung übersieht, wird schnell zum Dogmatiker*, der an einer einmal gerechtfertigten Überzeugung gegen jeden kritischen Einwand festhält. Die Anfechtbarkeit der Rechtfertigung hängt eng damit zusammen, dass unsere Rechtfertigung fehlbar ist und auch in die Irre führen kann. Nur deshalb muss sie stets Raum für eine Korrektur lassen. Würden wir die Wahrheit unmittelbar und mit Gewissheit erfassen, dann wäre die Überprüfung unserer Überzeugungen im Lichte neuer Gründe im besten Fall überflüssig und im schlechtesten Fall würde sie uns sogar von der Wahrheit wegführen. Es gibt zwei unterschiedliche Arten von Anfechtungsgründen: übertrumpfende und unterminierende Anfechtungsgründe. Bei den übertrumpfenden Anfechtungsgründen handelt es sich um Gründe, die direkt gegen die Wahrheit einer gerechtfertigten Überzeugung sprechen. Ein Beispiel: Sie erinnern sich sehr genau daran, dass Sie gestern Abend ihr Auto direkt vor ihrer Wohnung geparkt haben. Diese Erinnerung rechtfertigt Ihre Überzeugung, dass es heute Morgen immer noch dort steht. Wenn Sie jedoch dort Ihr Auto nicht mehr vorfinden, dann stellt sich Ihre zuvor gerechtfertigte Überzeugung als falsch heraus und damit wird auch die bisherige Rechtfertigung dieser Überzeugung entkräftet. Diese Rechtfertigung kann jedoch auch durch einen Anfechtungsgrund ganz anderer Art aufgehoben werden. Sobald Sie den begründeten Verdacht haben, dass Ihre Erinnerung unzuverlässig ist, wird die Rechtfertigungskraft Ihrer Erinnerung automatisch zerstört (selbst wenn dieser Verdacht falsch sein sollte). Sie haben dann einen unterminierenden Anfechtungsgrund, der sich gegen die Rechtfertigung der Überzeugung richtet. Schließlich ist die Rechtfertigung einer Überzeugung eine graduelle Eigenschaft. Eine Überzeugung kann mehr oder weniger gut gerechtfertigt sein. Wir können schwache Gründe für die Wahrheit einer Überzeugung besitzen. Zusätzliche Gründe können den Rechtfertigungsgrad dieser Überzeugung erhöhen. Wir können im besten Fall sogar wahrheitsgarantierende Gründe besitzen.252 Allerdings verwenden wir das Rechtfertigungsprädikat nicht immer in diesem graduellen Sinne, sondern manchmal auch im absoluten Sinne. Dann ist eine Überzeugung entweder gerechtfertigt oder nicht. Wenn wir Rechtfertigung in diesem absoluten Sinne zuschreiben oder absprechen, muss es einen bestimmten Schwellenwert der graduellen Rechtfertigung geben, ab dem eine Überzeugung als im absoluten Sinne gerechtfertigt gilt.

252 Auch diese wahrheitsgarantierenden Gründe sind rational anfechtbar, solange das Subjekt keine Gewissheit hat, dass es sich um wahrheitsgarantierende Gründe handelt. Vgl. zu Graden der Wahrheitsgarantie Abschnitt 3.3.2.2.

4.0 Allgemeines 

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Alle diese Eigenschaften gehören zu Allgemeinplätzen über die Rechtfertigung. Sie machen den begrifflichen Kern der erkenntnistheoretischen Rechtfertigung aus, den jede substantielle Theorie über die Natur der Rechtfertigung erfüllen sollte. Damit haben diese Merkmale den Rang von Adäquatheitsbedingungen* für eine solche Theorie über die Natur der Rechtfertigung. Adäquatheitsbedingungen für Theorien der erkenntnistheoretischen Rechtfertigung: Erkenntnistheoretische Rechtfertigung ist: (1) wahrheitszuträglich (2) personen- und zeitrelativ (3) normativ (4) eine spezifische Art der Rechtfertigung (5) anfechtbar (6) eine graduelle Eigenschaft.

4.1 Die Definition* der erkenntnistheoretischen Rechtfertigung Diese Adäquatheitsbedingungen legen die folgende allgemeine Definition der erkenntnistheoretischen Rechtfertigung nahe:253 (ER) Eine Person S ist zum Zeitpunkt t epistemisch gerechtfertigt zu glauben, dass p, genau dann, wenn: (i) S Gründe hat für seine Überzeugung, dass p, (ii) die Gründe, die S für seine Überzeugung hat, adäquat (gut) sind, (iii) diese Gründe die Überzeugung stützen. Die Person selbst muss Gründe haben, weil die Rechtfertigung eine personenrelative Eigenschaft ist. Als Grund wird hier all das verstanden, was für den Rechtfertigungsstatus der Überzeugung relevant ist.254 Es soll zunächst offen bleiben, ob es sich um objektive Tatsachen der Welt, psychologische Tatsachen im weiteren Sinne oder kognitive Zustände (wie Überzeugungen) handelt. Die Gründe müssen adäquat sein, weil sie die Überzeugung nur dann rechtfertigen, wenn

253 Vgl. zum Folgenden Alston 1989c. 254 Der Begriff „Grund‟ wird hier terminologisch verwendet und soll nicht alle Bedeutungsnuancen der alltagssprachlichen Verwendung einfangen. Gründe im hier eingeführten Sinne müssen nicht per definitionem angebbar sein oder in einem inferenziellen Zusammenhang mit der gerechtfertigten Überzeugung stehen. Gründe müssen deshalb keinen propositionalen Gehalt haben. Ein Grund im hier verwandten Sinne ist dasjenige, wovon der erkenntnistheoretische Status einer Überzeugung abhängt.

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 4 Erkenntnistheoretische Rechtfertigung

sie vom epistemischen Standpunkt aus so sind, wie sie sein sollen. Dass es für die Rechtfertigung einer Überzeugung nicht ausreicht, wenn die Person adäquate Gründe für die Überzeugung hat, sondern dass diese adäquaten Gründe darüber hinaus die Überzeugung stützen255 müssen, zeigt folgendes Beispiel: Der Kommissar hält die Mordverdächtige für unschuldig. Er hat dafür einen exzellenten (und damit adäquaten) Grund. Es gibt nämlich entlastendes Beweismaterial. Die Verdächtige kann den Mord nicht begangen haben, weil sie ein sicheres Alibi hat. Jemand bezeugt glaubwürdig, dass sie zur Tatzeit nicht am Tatort war. Und der Kommissar weiß davon. Dennoch ist ihm das eigentlich egal, denn er hätte die Verdächtige ohnehin für unschuldig gehalten, weil er nicht glauben kann, dass eine so zerbrechlich aussehende Frau einen Mord begehen kann. In diesem Fall würde man sagen, dass die Überzeugung des Kommissars epistemisch nicht gerechtfertigt ist, obwohl er einen adäquaten Grund für sie hat. Also muss es noch eine weitere Bedingung geben, die in diesem Fall nicht erfüllt ist. Der gute Grund muss die Überzeugung auch stützen. Der Kommissar hat einen guten Grund für seine Überzeugung, aber es ist nicht dieser gute Grund, sondern ein schlechter Grund (nämlich die Annahme, dass zerbrechlich aussehende Frauen keinen Mord begehen), der seine Überzeugung stützt.

4.2 Sind Gründe Ursachen? Was muss der Fall sein, damit ein Grund eine Überzeugung stützt? Umgangssprachlich würde man sagen, dass eine Überzeugung nur dann erkenntnistheoretisch gerechtfertigt ist, wenn jemand sie nur deshalb hat, weil er einen guten Grund für sie hat. Unter Erkenntnistheoretikern ist bis heute strittig, wie dieses ‚weil‘ zu verstehen ist. Traditionell war die Auffassung vorherrschend, dass Gründe keine Ursachen sind und deshalb die Stützungsrelation nicht kausal verstanden werden darf. Die Gegner der kausalen Auffassung, die kurz Nicht-Kausalisten genannt werden sollen, schlagen vor, dass jemand eine Überzeugung hat, weil er gute Gründe für sie hat, wenn er auch erfasst, dass er gute Gründe für

255 Auch der Begriff des Stützens wird hier terminologisch verwendet (als Übersetzung des englischen Terminus basing). Dass ein Grund eine Überzeugung in diesem terminologischen Sinne stützt, besagt nicht, dass es sich um einen guten oder adäquaten Grund handelt, der der Überzeugung einen erkenntnistheoretisch positiven Status verleiht. Eine Überzeugung kann auch auf einen schlechten Grund gestützt sein. Das Stützen im hier verwendeten Sinne hat keine evaluative Bedeutungskomponente. Dass eine Überzeugung durch einen Grund gestützt wird, kann man auch folgendermaßen umschreiben: Die Überzeugung beruht auf diesem Grund.



4.2 Sind Gründe Ursachen? 

 173

seine Überzeugung hat. Damit jemand durch seine guten Gründe gerechtfertigt ist, muss er folglich eine wahre Metaüberzeugung über seine Gründe haben.256 Dieser Vorschlag der Nicht-Kausalisten ist jedoch problematisch, weil eine Metaüberzeugung darüber, dass man gute Gründe für seine Überzeugung erster Ordnung hat, weder notwendig* noch hinreichend* dafür ist, dass diese Gründe die Überzeugung erster Ordnung stützen. Sehen wir uns zunächst an, warum eine solche Metaüberzeugung nicht notwendig ist. Ein kleines Kind sieht einen roten Ball und glaubt daraufhin, dass vor ihm ein roter Ball liegt. In diesem Fall ist es plausibel anzunehmen, dass die Überzeugung des Kindes durch sein Wahrnehmungserlebnis gerechtfertigt wird. Das Wahrnehmungserlebnis muss also ein guter Grund für die Überzeugung sein und diese Überzeugung stützen. Kleine Kinder verfügen jedoch noch nicht über die begrifflichen Ressourcen, die nötig sind, um zu erfassen, dass sie einen guten Grund für ihre Überzeugung haben. Dazu müssten sie über den Begriff des Grundes verfügen, den kleine Kinder offenbar noch nicht besitzen. Sofern also auch kleine Kinder bereits gerechtfertigte Überzeugungen haben können, kann der Besitz einer Metaüberzeugung über die Adäquatheit des Grundes nicht notwendig dafür sein, dass ein Grund eine Überzeugung stützt. Erwachsene verfügen dagegen in der Regel über den Begriff des Grundes oder einen äquivalenten Begriff. Sie können also im Prinzip die erforderliche Metaüberzeugung bilden. Aber es ist psychologisch wenig plausibel, dass sie eine solche Metaüberzeugung in allen normalen Situationen bilden. Erst wenn man kritisch über die Gründe für die eigenen Überzeugungen nachdenkt und sich fragt, ob man adäquate Gründe hat, wird man solche Metaüberzeugungen bilden. Der Nicht-Kausalist müsste also sagen, dass Erwachsene keine gerechtfertigten Überzeugungen haben, solange sie nicht kritisch über die Qualität ihrer Gründe nachdenken. Da das der Ausnahmefall ist, würde folgen, dass auch Erwachsene nur in Ausnahmefällen gerechtfertigte Überzeugungen haben. Das ist eine nur schwer hinnehmbare Konsequenz, die sicher gegen die nichtkausale Analyse der Stützungsrelation spricht. Es kommt jedoch noch schlimmer für den Anhänger dieser Analyse. Einen großen Teil unserer gegenwärtigen Überzeugungen haben wir vermutlich intellektuell redlich erworben. Wir haben gute Bücher gelesen, uns durch zuverlässige Medien informiert, gute Lehrer gehabt oder Leuten vertraut, die es wissen müssen, und wir haben auch eigene Erfahrungen gemacht. In den meisten Fällen wissen wir jedoch nicht mehr genau, wie wir zu unseren Überzeugungen gekommen sind. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Aristoteles der Lehrer von Alexander dem Großen war. Aber auf welchen Grund stützt sich diese Überzeugung? Ich bin mir nicht sicher, ob ich es gelesen habe,

256 Foley 1987, S. 174–208; Lehrer 1990, S. 168–172.

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 4 Erkenntnistheoretische Rechtfertigung

ob mein Philosophielehrer in der Schule uns darüber unterrichtet hat oder ob ich es erst im Studium gelernt habe. Und so geht es mir mit den meisten Überzeugungen. Ich kann nicht mehr genau sagen, was der Grund für meine Überzeugung war. Dann kann ich aber auch die Metaüberzeugung nicht haben, die der Nicht-Kausalist als Bedingung für die Rechtfertigung verlangt. In all den Fällen, in denen ich vergessen habe, welches der Grund für meine Überzeugung war, hätte ich folglich keine gerechtfertigte Überzeugung. Dann aber bliebe nur ein ganz kleiner Rest von Überzeugungen übrig, die wirklich gerechtfertigt sind. Es wären nur die Überzeugungen, für die wir aktuell die Gründe angeben könnten. Die Metaüberzeugung, dass man einen guten Grund für seine Überzeugung hat, ist jedoch nicht nur nicht notwendig dafür, dass ein guter Grund, den man hat, die eigene Überzeugung rechtfertigt; sie ist auch nicht hinreichend dafür. Es lassen sich mühelos Fälle konstruieren, in denen jemand einen guten Grund für seine Überzeugung hat, diesen Grund kennt und erfasst, dass es ein guter Grund ist, und in denen die Überzeugung dennoch nicht gerechtfertigt ist. Ein solcher Fall ist der folgende: Michael ist Biologe. Er weiß, dass Intelligenz zu 70 % genetisch bestimmt ist. Er weiß außerdem, dass er selbst hochintelligent ist und dass seine Frau ähnlich intelligent ist wie er selbst. Er erkennt, dass diese Tatsachen ein guter Grund für die Annahme sind, dass seine Kinder sehr intelligent sein werden. Und er glaubt auch genau das. Der Nicht-Kausalist müsste also sagen, dass Michaels Überzeugung gerechtfertigt ist. Aber Michael glaubt, dass seine Kinder sehr intelligent sein werden, weil er sich das unheimlich wünscht, auch wenn ihm das vielleicht gar nicht bewusst ist. Das ist der wirksame Grund für seine Überzeugung. Er würde dasselbe immer noch glauben, wenn die ihm bekannten Tatsachen dagegen sprechen würden. Sein wirklicher Grund ist natürlich inadäquat. Deshalb halten wir seine Überzeugung nicht für gerechtfertigt. Die nicht-kausale Analyse der Stützungsbeziehung kann also nicht überzeugen.257 Die kausale Analyse behauptet dagegen, dass gute Gründe, die man hat, die eigene Überzeugung nur dann rechtfertigen, wenn sie diese auch verursachen. Rechtfertigende Gründe müssen demnach entgegen dem Slogan „Gründe sind keine Ursachen“ doch die Ursachen für die durch sie gerechtfertigten Überzeugungen sein. Das scheint die vernünftige Konsequenz aus dem Scheitern der nicht-kausalen Analyse zu sein. Es gibt jedoch einige grundsätzliche Einwände gegen die kausale Analyse, die noch ausgeräumt werden müssen. Keith Lehrer, einer der hartnäckigsten Vertreter der nicht-kausalen Analyse, hat sich einen Fall ausgedacht, der beweisen soll, dass eine kausale Beziehung zwischen Grund und Überzeugung nicht nötig ist, damit der Grund die Überzeugung rechtfertigt.

257 Eine sehr gute Kritik der nicht-kausalen Analyse findet sich auch in Koppelberg 1999.



4.2 Sind Gründe Ursachen? 

 175

Dabei handelt es sich um den folgenden Fall: Der Rassist Rasso hat, wie sein Name bereits andeutet, rassistisch motivierte Vorurteile gegen Mitglieder einer bestimmten menschlichen Rasse. Das ist die Entstehungsursache für seine Überzeugung, dass diese Rasse aus genetischen Gründen von einer furchtbaren Seuche heimgesucht wird. Der Fall ist so konstruiert, dass Rassos Überzeugung aufgrund seines Vorurteils maximal stark und unabänderlich ist. Rassos Vorurteil ist also nicht nur die ursprüngliche Entstehungsursache, sondern auch die gegenwärtig erhaltende Ursache für seine Überzeugung. In der Geschichte von Lehrer wird Rasso aufgrund seines Interesses an der Krankheit zum Arzt, liest umfangreiche medizinische Studien über sie und findet dabei überraschend heraus, dass alle wissenschaftlichen Belege zwingend darauf hindeuten, dass seine Überzeugung wahr ist. Rasso erwirbt also nicht nur gute Gründe für seine Überzeugung, sondern er erkennt auch, dass diese Gründe gut sind. Dennoch behält er sein Vorurteil, und dieses Vorurteil ist die fortdauernde Ursache für seine Überzeugung. Nach Lehrer ist Rassos Überzeugung in diesem Fall gerechtfertigt.258 Lehrer möchte mit diesem Beispiel zeigen, dass ein Grund eine Überzeugung auch dann rechtfertigen kann, wenn er sie nicht verursacht. Aber das gelingt ihm nicht. Er zeigt nämlich nicht, dass die guten Gründe Rassos nicht kausal wirksam sind. Er zeigt nur, dass Rassos Vorurteil eine hinreichende Ursache für dessen Überzeugung ist. Das schließt jedoch nicht aus, dass es weitere kausal wirksame Faktoren gibt. Es könnte nämlich sein, dass Rassos Überzeugung verschiedene hinreichende Ursachen hat: sein Vorurteil und seine ärztliche Einsicht. In diesem Fall spricht man von kausaler Überdeterminierung eines Ereignisses. Eine solche Überdeterminierung lag auch bei Caesars Tod vor. Jeder der zahllosen Messerstiche auf ihn war tödlich. Es ist allerdings umstritten, ob es kausale Überdeterminierung tatsächlich gibt. Was bei oberflächlicher Betrachtung wie das Vorhandensein mehrerer hinreichender Ursachen aussieht, kann nämlich auch folgendermaßen verstanden werden: Es gibt mehrere potentielle Kandidaten für eine hinreichende Ursache, von denen im konkreten Fall immer nur einer zum Zuge kommt. Wäre diese Ursache allerdings ausgeblieben, dann wäre die Wirkung aufgrund einer anderen Ursache eingetreten. Wäre Caesar also nicht wegen des einen Messerstichs gestorben, der tatsächlich kausal relevant war, dann wäre er aufgrund einer der anderen, gleichfalls tödlichen Messerstiche gestorben. Wenn man kausale Überdeterminierung ablehnt, dann sind im Falle Rassos die guten Gründe kausal vollkommen irrelevant, weil seine Überzeugung allein durch sein Vorurteil verursacht wird. In diesem Fall erscheint es jedoch unplausibel, dass Rassos Überzeugung gerechtfertigt sein soll. Das wird deutlich, wenn

258 Vgl. dazu Lehrer 1990, S. 169 f.

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 4 Erkenntnistheoretische Rechtfertigung

wir den Fall noch etwas weiter ausgestalten. Stellen Sie sich vor, Rasso erkennt, dass er gute Gründe für seine Überzeugung hat, und er erkennt außerdem, dass er seine Überzeugung nicht aufgrund dieser Gründe, sondern wegen seines Vorurteils hat. In diesem Fall würde er niemals sagen, dass seine Überzeugung gerechtfertigt ist.259 Das liegt daran, dass der Begriff der Rechtfertigung impliziert, dass die rechtfertigenden Gründe die durch sie gerechtfertigte Überzeugung verursachen. Rasso könnte nur sagen, dass seine Überzeugung durch die Gründe, die er hat, gerechtfertigt werden könnte. Wenn er seine Überzeugung auf diese Gründe statt auf sein Vorurteil stützen würde, dann wäre sie gerechtfertigt. Aber diese kontrafaktische* Aussage impliziert nicht, dass seine Überzeugung tatsächlich gerechtfertigt ist. Lehrer gelingt es also nicht zu zeigen, dass Rassos Überzeugung gerechtfertigt ist, obwohl seine guten Gründe nicht die Ursache dieser Überzeugung sind. Entweder zeigt sein Fall nicht, dass die guten Gründe kausal irrelevant sind. Oder Lehrers Einschätzung, dass wir Rassos Überzeugung für gerechtfertigt halten, ist unplausibel. Es gibt noch ein zweites wichtiges Argument* gegen die Auffassung, dass erkenntnistheoretische Gründe Ursachen sind. Dieses Argument beruht darauf, dass logische Schlüsse als Paradefall der Rechtfertigung aufgefasst werden. Wenn jemand einen logischen Schluss im Denken vollzieht, dann kann man diesen Schluss aus zwei verschiedenen Perspektiven betrachten. Man kann ihn einerseits als Abfolge psychischer Überzeugungszustände, also als einen psychischen Prozess, betrachten. Andererseits kann man den Schluss auch als logische Relation zwischen den propositionalen Inhalten des Denkprozesses betrachten. In dieser zweiten Hinsicht ist der Schluss entweder gültig* oder ungültig; und nur dieser Aspekt ist erkenntnistheoretisch relevant. Dann kann man jedoch folgendermaßen argumentieren:260

259 Hier kann auch die Unterscheidung zwischen propositionaler und doxastischer Rechtfertigung weiterhelfen. Das, was man glaubt (die Proposition), ist propositional gerechtfertigt, wenn man gute Gründe für den Meinungsinhalt hat. Das hat Rasso in jedem Fall. Das bedeutet aber nicht, dass seine Meinung selbst gerechtfertigt ist. Damit die Meinung doxastisch gerechtfertigt ist, muss sie auch auf gute Gründe gestützt sein. Vgl. zu einer neueren Bewertung des Verhältnisses zwischen doxastischer und propositionaler Rechtfertigung Turri 2010. 260 Vgl. bereits Frege 2003, S. 36; Bieri 1987, S. 60 f.; Bartelborth 1997.



(1) (2) (3)

4.2 Sind Gründe Ursachen? 

 177

Die kausal wirksamen Aspekte an Überzeugungszuständen sind psychologisch. Die erkenntnistheoretisch relevanten Aspekte an Überzeugungszuständen sind nicht psychologisch. Also sind die erkenntnistheoretisch relevanten Aspekte an Überzeugungszuständen nicht kausal wirksam.

In diesem Argument ist die Prämisse (2) angreifbar. Das Argument beruht ja auf der Annahme, dass die logische Beziehung der propositionalen Inhalte der Überzeugungen das ist, was an den Überzeugungszuständen erkenntnistheoretisch relevant ist. Die propositionalen Inhalte von Überzeugungszuständen sind Eigenschaften dieser Zustände. Kausale Relationen bestehen zwischen einzelnen psychischen Ereignissen, im vorliegenden Fall zwischen Überzeugungszuständen. Dabei ist es jedoch wichtig, dass diese Relationen immer aufgrund von Eigenschaften dieser Ereignisse bestehen. Ein Beispiel: Wenn das Kirchenfenster aufgrund des Gesangs der Sopranistin zerspringt, dann geschieht das aufgrund einer bestimmten Eigenschaft dieses Gesangs, nämlich seiner Tonhöhe, und nicht aufgrund irgendeiner anderen seiner Eigenschaften, etwa der Melodie des Gesangs. Wenn man nun einen kausalen Prozess des Denkens betrachtet, dann stellt sich die Frage, aufgrund welcher Eigenschaften dieser Prozess abläuft. Sind dafür allein neuronale oder syntaktische Eigenschaften relevant oder beruht der Prozess auf den semantischen Inhaltseigenschaften der Überzeugungszustände? Dass auch semantische Inhaltseigenschaften kausal relevant sein können, nehmen wir in unseren alltäglichen Handlungserklärungen an. Wir sagen etwa, dass jemand den Kühlschrank öffnet, weil er ein kühles Bier trinken möchte und glaubt, dass im Kühlschrank noch eine Flasche Bier steht. Hätte er eine Überzeugung mit einem anderen Inhalt gehabt (z. B. dass im Kühlschrank kein Bier ist), hätte er den Kühlschrank nicht geöffnet. Hier ist der Inhalt seiner Überzeugung kausal relevant. Das lässt sich nun mühelos auf Denkprozesse übertragen. Wenn jemand zu der Überzeugung kommt, dass Sokrates sterblich ist, weil er glaubt, dass alle Menschen sterblich sind, und zugleich glaubt, dass Sokrates ein Mensch ist, und wenn dieser kausale Prozess auf den Inhaltseigenschaften der beteiligten Überzeugungen beruht (und nicht genauso abgelaufen wäre, wenn die Überzeugungen ganz andere Inhalte gehabt hätten), dann sind die erkenntnistheoretisch relevanten logischen Beziehungen psychologisch realisiert. Das beweist, dass erkenntnistheoretisch relevante Eigenschaften von Überzeugungszuständen psychologisch wirksam sein können. Es ist zwar durchaus sinnvoll, die logischen von den psychologischen Beziehungen zwischen Überzeugungszuständen zu unterscheiden, weil die psychologischen Prozesse den logischen Relationen

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 4 Erkenntnistheoretische Rechtfertigung

nicht immer Rechnung tragen. Schließlich sind auch Fehlschlüsse psychologisch möglich. Das schließt jedoch nicht aus, dass logisch gültige Schlüsse psychologisch realisiert sein können und dass dabei die logischen Eigenschaften für den Denkprozess kausal verantwortlich sind. Es lässt sich also festhalten, dass ein guter Grund eine Überzeugung nur dann stützt (und damit rechtfertigt), wenn er kausal für diese Überzeugung verantwortlich ist. Diese kausale Analyse lässt sich offenbar gegen alle Einwände verteidigen.

4.3 Was ist ein guter Grund? Wann sind die Gründe, die eine Überzeugung kausal stützen, gut bzw. adäquat? Nur wenn die Gründe, die eine Überzeugung stützen, auch gut sind, ist diese Überzeugung nämlich wirklich gerechtfertigt. Hier gibt es grundsätzlich zwei alternative Modelle: das Modell erkenntnistheoretischer Pflichten und das Modell der instrumentellen Rationalität. Nach dem Modell der Verpflichtung ist die Überzeugung einer Person gerechtfertigt, wenn diese Person gegen keine Verpflichtung bezüglich dieser Überzeugung verstoßen hat. Nach dem Modell der instrumentellen Rationalität ist die Überzeugung einer Person gerechtfertigt, wenn sie auf Methoden gestützt ist oder durch Prozesse hervorgebracht wird, die zuverlässig zum epistemischen Ziel der Wahrheit hinführen. 4.3.1 Das Modell erkenntnistheoretischer Verpflichtung261 Wenn man von der Form epistemischer Bewertungen in unserer natürlichen Sprache ausgeht, liegt es nahe, die Rechtfertigung nach dem Modell epistemischer Verpflichtung zu verstehen. Wenn jemand einen Fehlschluss begeht, dann heißt es: „Er hätte diese Konsequenz nicht ziehen dürfen“ oder: „Er sollte stattdessen eine andere Konsequenz ziehen“. Wenn jemand gute Gegengründe ignoriert und einfach dogmatisch an seinem Standpunkt festhält, dann sagen wir: „Er sollte seinen Standpunkt revidieren“. Wenn jemand voreilige Schlüsse zieht oder die Gründe, die ihm zur Verfügung stehen, nicht sorgfältig abwägt, dann halten wir ihn für erkenntnistheoretisch unverantwortlich. Andererseits sagen wir auch, dass man jemandem, der zu einem falschen Urteil aufgrund einer umfangreichen Recherche und sorgfältiger Abwägung aller zur Verfügung stehenden Gründe kommt, nichts vorwerfen kann. Alle diese Bewertungen scheinen vorauszusetzen,

261 Zur Einführung kann man sich sehr gut bei Plantinga 1993a, Kap. 1, informieren.



4.3 Was ist ein guter Grund? 

 179

dass es epistemische Pflichten, Normen und Regeln gibt, die dem Erkenntnissubjekt vorschreiben, wie es sich im erkenntnistheoretischen Sinne zu verhalten hat. Das Erkenntnissubjekt ist in seiner Überzeugung gerechtfertigt, solange es gegen keine der epistemischen Pflichten verstößt und sich nichts zu Schulden kommen lässt. Ansonsten wäre seine Überzeugung nicht gerechtfertigt. Dieses Verständnis der Rechtfertigung wird auch als deontologische* Konzeption oder als Ethik des Glaubens („ethics of belief“) bezeichnet.262 Damit wird dem normativen Charakter der epistemischen Begriffe in besonderem Maße Rechnung getragen. Die deontologische Konzeption der Rechtfertigung geht historisch auf Descartes und Locke zurück. Ein besonders deutliches Bekenntnis findet sich im 4. Buch von Lockes Versuch über den menschlichen Verstand: Wer glaubt, ohne einen vernünftigen Grund zum Glauben zu haben, mag in seine Einbildungen verliebt sein. Aber er sucht weder die Wahrheit so, wie er sollte, noch erweist er seinem Schöpfer den schuldigen Gehorsam; denn es ist die Absicht des Schöpfers, dass der Mensch die Erkenntnisfähigkeit, die ihm verliehen wurde, anwenden soll, um Täuschung und Irrtum zu vermeiden. Wer das nicht nach besten Kräften tut, mag zwar bisweilen die Wahrheit treffen; er hat aber nur zufällig Recht. Und ich gebe zu bedenken, ob der günstige Zufall für die Regelwidrigkeit seines Verfahrens als Entschuldigung dienen kann. Soviel steht jedenfalls fest, dass er für alle Irrtümer, in die er hineingerät, verantwortlich ist. Dagegen darf jemand, der das Licht und die Fähigkeiten, die ihm Gott verliehen hat, ausnützt und aufrichtig bestrebt ist, mit den Hilfsmitteln und Kräften, die er besitzt, die Wahrheit zu ermitteln, die Befriedigung hegen, dass er seine Pflicht als vernunftbegabtes Wesen erfüllt, so dass ihm, auch wenn er die Wahrheit verfehlen sollte, doch der Lohn nicht entgehen wird. Denn derjenige erteilt seine Zustimmung in der richtigen Weise und erteilt sie so, wie er soll, der sich hinsichtlich des Glaubens und Nichtglaubens in jedem Fall und in jeder Angelegenheit von der Vernunft leiten lässt. Wer anders handelt, (…) missbraucht Fähigkeiten, die ihm zu keinem anderen Zweck gegeben wurden als dazu, dass er die klarere Augenscheinlichkeit und die größere Wahrscheinlichkeit aufsucht und sich davon leiten lässt.263

In dieser Passage finden sich alle für die deontologische Konzeption wichtigen Merkmale. Erstens geht Locke – ähnlich wie Descartes – davon aus, dass Überzeugungen Handlungen sind, die wir willentlich kontrollieren können. Ansonsten könnte er weder generell verlangen, dass wir etwas nur dann glauben sollen, wenn wir „einen vernünftigen Grund zum Glauben haben“, noch verlangen, dass sich unsere Überzeugungen „in jedem Fall und in jeder Angelegenheit von der Vernunft leiten“ lassen. Das setzt voraus, dass wir eine vollständige willentli-

262 Von griech. deón – das, was vorgeschrieben ist. Clifford in: Pojman 2003, S. 515–18, hat das Etikett „Ethik des Glaubens“ geprägt. 263 Locke 1981, Bd. II, Buch IV, Kap. Xvii, 24, S. 391 f. (meine Hervorhebung); vgl. auch Descartes 1992 AT VII 70.

180 

 4 Erkenntnistheoretische Rechtfertigung

che Kontrolle über unsere Überzeugungen haben. Diese Position wird auch als doxastischer Voluntarismus264 bezeichnet. Zweitens beziehen sich die Pflichten, an denen unsere Urteilshandlungen orientiert sind, nicht auf objektive Sachverhalte (die Wahrheit zu glauben), sondern es handelt sich um subjektive Pflichten, die relativ zu dem formuliert sind, was wir können. Sollen impliziert hier also Können. Locke hebt hervor, dass wir unsere epistemische Pflicht bereits dann erfüllt haben, wenn wir unser Bestes tun, die Wahrheit anzustreben. Und das tun wir, wenn wir unsere Überzeugungen an dem orientieren, was uns aus unserer Perspektive als wahrscheinlich und evident erscheint. Diese Pflichterfüllung ist verträglich damit, dass wir etwas Falsches glauben. Drittens wird unser epistemisches Verhalten grundsätzlich negativ bewertet, wenn wir unsere Pflicht nicht erfüllen, sogar dann, wenn wir dabei eine Wahrheit treffen. Viertens wird umgekehrt unser epistemisches Verhalten grundsätzlich positiv bewertet, wenn wir unsere Pflicht erfüllen, selbst dann, wenn wir dadurch zu falschen Überzeugungen kommen. 4.3.1.1 Einwände gegen das Modell der Verpflichtung Die deontologische Konzeption der Rechtfertigung wirft zunächst die Frage auf, welche erkenntnistheoretischen Pflichten für den Menschen überhaupt bestehen. Wenn unser epistemisches Verhalten nicht gegen Pflichten verstoßen darf, dann müssen uns diese Pflichten nämlich auch bekannt sein. Hier gibt es eine Reihe von unterschiedlichen Vorschlägen. Wir sollen unsere epistemischen Einstellungen (Zustimmung, Ablehnung oder Urteilsenthaltung) unseren Gründen anpassen. Wir sollen unser Möglichstes tun, um wahre Überzeugungen zu erzielen und falsche zu vermeiden. Wir sollen möglichst viele Gründe sammeln. Wir sollen unsere Gründe sorgfältig abwägen. Wir sollen vorläufige Urteile im Lichte neuer Informationen überprüfen. Wir sollen unsere Urteile und Gründe kritisch überprüfen. Wir sollen korrekt schließen. Diese Reihe ließe sich noch eine ganze Weile fortsetzen. Es ist nicht klar, ob diese Pflichten alle gleichrangig nebeneinander stehen oder ob es einen obersten kategorischen Imperativ in der Erkenntnistheorie gibt. Aber welcher sollte das sein? Und wenn es diesen obersten Imperativ nicht gibt, welches Merkmal macht dann die verschiedenen Imperative zu erkenntnistheoretischen Imperativen? Das sind schwierige Fragen, denen sich das Modell erkenntnistheoretischer Pflichten nicht entziehen kann und bei denen man nicht recht sieht, wie man

264 Von griech. doxa: „Überzeugung“ und lat voluntas: „Wille“. Der doxastische Voluntarismus behauptet die willentliche Kontrolle von Überzeugungen.



4.3 Was ist ein guter Grund? 

 181

sie beantworten soll. Schwerer wiegt jedoch ein zweiter Einwand. Das Pflichtenmodell hängt davon ab, dass der doxastische Voluntarismus richtig ist und das heißt, dass wir unsere Überzeugungen willentlich kontrollieren können. Es kann nämlich Pflichten bezüglich unserer Überzeugungsbildung nur dann geben, wenn wir eine Kontrolle über diese Überzeugungen haben. Hier gilt der Grundsatz Sollen impliziert Können.265 Wenn sich also zeigen ließe, dass wir keine willentliche Kontrolle über unsere Überzeugungen haben, dann kann es auch keine Pflichten bezüglich unserer Überzeugungsbildung geben.266 Das Argument gegen das Pflichtenmodell würde also folgendermaßen aussehen: (1)

(2) (3)

Epistemische Pflichten bezüglich der Überzeugungsbildung gibt es nur, wenn wir eine willentliche Kontrolle über unsere Überzeugungsbildung haben. Wir haben keine willentliche Kontrolle über unsere Überzeugungsbildung. Also gibt es keine epistemischen Pflichten bezüglich der Überzeugungsbildung.

In der Prämisse (2) wird der doxastische Voluntarismus abgelehnt. Gegen ihn sprechen einige wichtige psychologische Beobachtungen. Stellen Sie sich vor, Sie überqueren die Straße und sehen plötzlich, während Sie sich etwa in der Straßenmitte befinden, aus dem Augenwinkel einen Lastwagen schnell auf sich zukommen. Automatisch stellt sich bei Ihnen die Überzeugung ein, dass ein Lastwagen auf Sie zurast. Selbst wenn Sie wollten, könnten Sie diesen Gedanken nicht unterdrücken. Sie können auf ihn keinen willentlichen Einfluss ausüben. Ein anderes Beispiel: Sie überlegen sich, was die Summe aus 2 und 2 ist und kommen natürlich im Handumdrehen zu dem Ergebnis 4. Das leuchtet unmittelbar ein. Selbst wenn Sie wollten, könnten Sie Ihre Überzeugung nicht korrigieren, solange Ihnen dieses Ergebnis einleuchtet. Ähnlich ist es auch bei logischen Schlüssen. Wenn Sie glauben, dass Sie ein Mensch sind und dass alle Menschen

265 Dass Sollen und Verantwortlichkeit tatsächlich eine willentliche Kontrolle voraussetzen, wird inzwischen vermehrt angegriffen. McHugh 2013, 2014 hat beispielsweise darauf hingewiesen, dass wir ja auch für unsere Entscheidungen und Absichten verantwortlich sind, ohne dass wir eine willentliche Kontrolle über sie haben. Wir sind in unserer Entscheidungsbildung einfach deshalb verantwortlich, weil unsere Entscheidungen auf Gründe sensitiv sind, nicht deshalb, weil wir uns, gegeben bestimmte Gründe, so oder auch ganz anders entscheiden können. Dasselbe lässt sich dann aber auch über unsere Meinungsbildung sagen. In dieser 2.  Auflage ist nicht der Raum, um die gegenwärtig beobachtbare Renaissance epistemischer Pflichten und Verantwortlichkeit angemessen wiederzugeben. 266 Vgl. dazu vor allem Alston 1989 f.

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 4 Erkenntnistheoretische Rechtfertigung

sterblich sind, dann kommen Sie zu dem Ergebnis, dass Sie selbst sterblich sind. Diese Überzeugung, so gerne Sie sie auch vermeiden würden, können Sie willentlich nicht beeinflussen. In sehr vielen Fällen zwingen uns unsere Gründe also dazu, bestimmte Überzeugungen zu haben. Und darauf können wir willentlich keinen Einfluss ausüben. Manchmal befinden sich unsere Überzeugungen auch im festen Griff unserer Vorurteile. In der Zeit der Bürgerrechtsbewegung setzte sich in den USA mehr und mehr der Gedanke durch, dass auch Schwarze gleichberechtigte Bürger sind. Aufgeklärte Südstaatler fanden diese Überlegung durchaus richtig. Dennoch blieben ihre Überzeugungen über Schwarze im Alltag lange durch ihre Vorurteile bestimmt, selbst wenn sie das ganz und gar nicht wollten. Oder stellen Sie sich einen religiösen Menschen vor, der aufgrund des ungeheuren Leidens von Unschuldigen in der Welt zu dem Ergebnis kommt, dass ein Gott so etwas nicht zulassen könnte, und der dennoch weiter an Gott glaubt, selbst wenn er es eigentlich nicht mehr will. Alle diese Fälle zeigen, dass die kausal bestimmenden Faktoren der Überzeugungsbildung einen direkten willentlichen Einfluss ausschließen.267 Der doxastische Voluntarismus widerspricht jedoch nicht nur den psychischen Tatsachen, er ist auch aus systematischen Gründen unhaltbar. Wie wir gesehen haben, liegt dem Voluntarismus die Idee zugrunde, dass unsere Überzeugungen, unser Fürwahrhalten, unsere Urteile Handlungen im Geiste sind. Diese Auffassung lässt sich jedoch ad absurdum führen. Nehmen wir an, alle Überzeugungen wären Handlungen. Nach dem Standardmodell der Handlungserklärung sind Handlungen das Resultat eines Wunsches und einer dazugehörigen instrumentellen Überzeugung. Ich suche nach einem bestimmten Zitat von Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft, weil ich die Textstelle in einem Aufsatz angeben will (der Wunsch) und weil ich glaube, dass das Zitat in seiner Kritik der reinen Vernunft zu finden ist (die Überzeugung). Wenn alle Überzeugungen Handlungen sind, dann bedarf es zur Erklärung jeder einzelnen Überzeugung eines Wunsches und einer weiteren Überzeugung. Da diese Überzeugung wiederum nur durch eine weitere Überzeugung (und einen Wunsch) erklärt werden kann, ergibt sich ein unendlicher Regress. Und ein solcher Regress ist nicht realisierbar. Also können Überzeugungen keine Handlungen im Geiste sein.268

267 Das schließt natürlich einen indirekten willentlichen Einfluss auf unsere Überzeugungen nicht aus. Wenn ich etwas Bestimmtes glauben will, dann kann ich mich natürlich in eine Situation begeben, in der ich das sehe, was ich glauben will. Aber diese indirekte Einflussmöglichkeit ist natürlich viel zu schwach, um epistemische Pflichten zu begründen. 268 Ganz abgesehen davon lässt sich auch phänomenologisch nicht bei jeder Überzeugung ein entsprechender Wunsch nachweisen.



4.3 Was ist ein guter Grund? 

 183

Diese Einwände gegen den doxastischen Voluntarismus sind nicht neu. Anhänger des Pflichtenmodells haben größtenteils zugegeben, dass dieser Voluntarismus nicht haltbar ist. Sie glauben jedoch, dass sie sich auf eine schwächere Position zurückziehen können. Selbst wenn wir unsere Überzeugungen nicht willentlich kontrollieren können und es deshalb auch keine epistemischen Pflichten bezüglich unserer Überzeugungsbildung geben kann, gibt es andere epistemisch relevante Faktoren, die wir willentlich beeinflussen können. Die Pflichten könnten sich dann auf diese Faktoren beziehen.269 Offenbar liegt es in unserer Hand, ob wir unsere Gründe naiv hinnehmen oder ob wir ihre Qualität kritisch reflektieren. Es könnte also eine Pflicht zur kritischen Reflexion geben. Es liegt auch in unserer Hand, wie sorgfältig wir bei der Suche nach Gründen vorgehen, die für oder gegen die Wahrheit einer bestimmten Auffassung sprechen. Auch die Sorgfalt bei der Bewertung unserer Gründe liegt in unserer Hand. Darauf können wir willentlich Einfluss nehmen. Deshalb könnten die Anhänger des Pflichtmodells sagen, dass eine Überzeugung dann gerechtfertigt ist, wenn wir alle Sorgfaltspflichten und die Pflicht zur kritischen Reflexion mit Bezug auf sie erfüllt haben. Was ist von dieser Rückzugsposition der Deontologisten zu halten? Der Deontologist ist darauf festgelegt, eine Überzeugung dann für gerechtfertigt zu halten, wenn das Erkenntnissubjekt alle seine Pflichten erfüllt hat. Nehmen wir an, jemand erfüllt die Pflicht zur kritischen Reflexion und zur Sorgfalt besonders gut. Dennoch kann es passieren, dass seine Überzeugung weiterhin durch tief sitzende Vorurteile und Voreingenommenheiten bestimmt wird und auch seine kritische Reflexion und Sorgfalt daran nichts ändern können. In diesem Fall wäre der Deontologist dazu gezwungen, die durch Vorurteile und Voreingenommenheit bestimmte Überzeugung als gerechtfertigt zu klassifizieren. Und das ist natürlich vollkommen kontraintuitiv.270 Wenn wir also epistemische Pflichten erfüllen, die sich nicht direkt auf die Überzeugungsbildung beziehen, dann reicht das für die Rechtfertigung der Überzeugungen nicht aus. Außerdem handelt es sich bei den Pflichten, von denen hier die Rede ist, um subjektive Pflichten. In diesem Sinne kann jemand nur zu etwas verpflichtet sein, was im Rahmen seiner Möglichkeiten liegt. Stellen Sie sich jetzt eine Person vor, deren intellektuelle Fähigkeiten stark eingeschränkt sind. Sie wird bestimmte logische Fehlschlüsse, die ihr unterlaufen, auch bei angestrengter Reflexion nicht entdecken können. Doch sie hat ihr Bestes getan und sich deshalb nichts zu Schulden kommen lassen. Der Deontologist müsste deshalb in diesem Fall

269 Vgl. in diesem Sinne BonJour 1985, S. 42; Kim 1994, S. 283. 270 Vgl. Tidman 1996, S. 271.

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 4 Erkenntnistheoretische Rechtfertigung

auch Fehlschlüsse als epistemisch gerechtfertigt anerkennen. Auch das ist eine absurde Konsequenz.271 Kritische Reflexion und Sorgfalt im Umgang mit den Gründen sind jedoch nicht nur nicht hinreichend für die Rechtfertigung einer Überzeugung, sie sind auch nicht notwendig. Stellen Sie sich jemanden vor, der sich keine Mühe gibt, Gründe für eine bestimmte Auffassung zusammenzutragen und sorgfältig abzuwägen, und der auch nicht dazu neigt, kritisch über die Qualität seiner Gründe nachzudenken. Plötzlich ‚stolpert‘ er gewissermaßen über einen guten Grund für diese Auffassung und erwirbt dadurch die entsprechende Überzeugung. Diese Person erwirbt also einen guten Grund ohne eigenen Verdienst oder eigenes Zutun. Dennoch scheinen die Umstände auszureichen, damit seine Überzeugung gerechtfertigt ist. Die vorangehenden Überlegungen zeigen ziemlich klar, dass das Pflichtmodell unzureichend ist. Es kann keine epistemischen Pflichten bezüglich der Überzeugungsbildung geben, weil Überzeugungen sich nicht willentlich kontrollieren lassen. Und die Erfüllung anderweitiger epistemischer Pflichten ist weder hinreichend noch notwendig für die erkenntnistheoretische Rechtfertigung.

4.3.2 Das Modell instrumenteller Rationalität Sehen wir uns nun das alternative Modell guter Gründe an: das Modell instrumenteller Rationalität. Nach diesem Modell ist ein epistemischer Grund ein guter Grund, wenn es sich um ein gutes Mittel zur Erreichung des erkenntnistheoretischen Ziels handelt. Da wir dieses Ziel bereits früher als die Wahrheit bestimmt haben, sind gute epistemische Gründe zuverlässige Indikatoren der Wahrheit. Eine Überzeugung wäre also gerechtfertigt, wenn sie durch Methoden, Verfahren oder Prozesse gestützt wird, die die Wahrheit der resultierenden Überzeugung wahrscheinlich machen. Für eine solche instrumentelle Auffassung guter erkenntnistheoretischer Gründe tritt Laurence BonJour ein: Wäre die erkenntnistheoretische Rechtfertigung nicht wahrheitszuträglich (…), würde das Auffinden erkenntnistheoretisch gerechtfertigter Überzeugungen die Wahrscheinlichkeit, wahre Überzeugungen zu erzielen, nicht substantiell erhöhen, dann wäre die erkenntnistheoretische Rechtfertigung irrelevant für unser primäres kognitives Ziel und von zweifel-

271 Vgl. Tidman 1996, S. 274. Steup 1988 hat dafür argumentiert, dass man wenigstens unter Idealbedingungen durch Reflexion alle kognitiven Fehler erfassen kann. Aber subjektive Pflichten dürfen sich nicht auf Idealbedingungen beziehen, sondern müssen in Rechnung stellen, was das Subjekt tatsächlich leisten kann.



4.3 Was ist ein guter Grund? 

 185

haftem Wert. Nur weil wir Grund zu der Annahme haben, dass die erkenntnistheoretische Rechtfertigung ein Weg zur Wahrheit ist, haben wir als kognitive Wesen einen Grund, erkenntnistheoretisch gerechtfertigte Überzeugungen solchen Überzeugungen vorzuziehen, die erkenntnistheoretisch nicht gerechtfertigt sind. Erkenntnistheoretische Rechtfertigung ist deshalb letztlich nur ein instrumenteller und kein intrinsischer Wert.272

Wenn man dieses Modell guter erkenntnistheoretischer Gründe zugrunde legt, dann lässt sich besser verstehen, warum Sorgfalt und kritische Reflexion erkenntnistheoretisch wertvoll sein können, auch wenn sie nicht festlegen können, was ein guter Grund ist. Epistemisch verantwortliches Verhalten ist erkenntnistheoretisch wertvoll, insofern es zuverlässig dazu beiträgt, die Wahrheit zu finden. Die instrumentelle Konzeption guter Gründe erfüllt den gesamten Katalog der Adäquatheitsbedingungen erkenntnistheoretischer Rechtfertigung. Offensichtlich gilt das für die Bedingung der Wahrheitszuträglichkeit. Wenn gute Gründe zuverlässige Mittel zur Erlangung von wahrer Überzeugung sind, dann sind sie wahrheitszuträglich. Auch die Normativität in der Unterscheidung zwischen guten und schlechten Gründen kann erklärt werden. Gute Gründe sind zuverlässige Methoden der Überzeugungsbildung, während ein schlechter Grund vorliegt, wenn die Methode unzuverlässig ist. Ferner lässt sich die erkenntnistheoretische Rechtfertigung von anderen Arten der Rechtfertigung auch durch ein charakteristisches Merkmal abgrenzen. Spezifisch ist jeweils das Ziel der instrumentellen Rationalität. Die erkenntnistheoretische Rechtfertigung hat als Ziel die Wahrheit, während die moralische Rechtfertigung das Gute und die pragmatische Rechtfertigung den Nutzen als Ziel haben. Selbst die Anfechtbarkeit der Rechtfertigung lässt sich mit Hilfe der instrumentellen Konzeption der Rechtfertigung erklären. Auch wenn rechtfertigende Gründe nämlich zuverlässig sind, führen sie doch gelegentlich zu falschen Resultaten. Sie sind fehlbar. Die Anfechtung lässt sich vor diesem Hintergrund als Verfahren der Korrektur von Fehlern verstehen und ist deshalb selbst ein geeignetes Instrument zur schrittweisen Annäherung an die Wahrheit. Die Offenheit für eine kritische Revision unserer Überzeugungen lässt sich also aus der teleologischen Orientierung der Rechtfertigung an der Wahrheit erklären. Schließlich wird auch der Gradualität der Qualität der Gründe Rechnung getragen. Die Methoden sind mehr oder weniger gute Mittel zur Erlangung wahrer Überzeugungen. Dieser Grad lässt sich durch den Grad an Zuverlässigkeit quantifizieren, für den sich auch ein Wahrscheinlichkeitswert angeben lässt.

272 BonJour 1985, S. 8; meine Übersetzung.

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 4 Erkenntnistheoretische Rechtfertigung

Erkenntnistheoretische Konzeptionen guter Gründe (A) Das Modell der Verpflichtung Eine Person ist in ihrer Überzeugung, dass p, erkenntnistheoretisch gerechtfertigt genau dann, wenn sie gegen keine Pflichten bezüglich der Bildung dieser Überzeugung verstößt. Einwand 1: Es ist unklar, welche Pflichten es genau gibt und was sie alle zu epistemischen Pflichten macht. Einwand 2: Pflichten bezüglich der Überzeugungsbildung bestehen nur, wenn wir eine willentliche Kontrolle über unsere Überzeugungen haben. Eine solche Kontrolle haben wir nicht. Einwand 3: Die Erfüllung von Pflichten, die nicht direkt die Überzeugungsbildung betreffen, ist weder hinreichend noch notwendig für die Rechtfertigung. (B) Das Modell instrumenteller Rationalität Eine Person hat einen guten Grund für ihre Überzeugung, dass p, genau dann, wenn der Grund die Wahrheit der Überzeugung wahrscheinlich macht. Argument: Dieses Modell erfüllt alle Adäquatheitsbedingungen der erkenntnistheoretischen Rechtfertigung.

4.4 Internalismus oder Externalismus?273 Im direkten Vergleich hat sich damit die instrumentelle Konzeption erkenntnistheoretischer Rechtfertigung gegenüber dem Pflichtmodell als klar überlegen erwiesen. Die instrumentelle Konzeption der Rechtfertigung lässt jedoch Spielraum für verschiedene Interpretationen. Genügt es, wenn die Wahrheit der gerechtfertigten Überzeugung aus der subjektiven Perspektive wahrscheinlich erscheint? Oder müssen die Gründe ihre Wahrheit objektiv wahrscheinlich machen? Müssen vielleicht sogar die objektive und die subjektive Perspektive in dieser Hinsicht konvergieren? Über diese Frage wird seit den frühen 80er Jahren eine der kontroversesten und vielleicht wichtigsten Debatten in der gegenwärtigen Erkenntnistheorie unter dem Slogan „Internalismus oder Externalismus?“ geführt. Diese Frage ist von zentraler Bedeutung für die normative Erkenntnistheorie. Von ihrer Entscheidung hängt u. a. ab, wie gravierend das Problem des

273 Die Literatur zu diesem Thema ist inzwischen unüberschaubar. Zum Einstieg besonders gut lesbar ist BonJour 2002, S. 221–238. Kornblith 2001 ist ein Sammelband mit den wichtigsten Diskussionsbeiträgen zum Thema. BonJour/Sosa 2003 trägt die Debatte zwischen den führenden Vertretern des Internalismus und Externalismus kontovers aus. Im deutschsprachigen Raum erörtert Grundmann 2003, Kap. 4 und 5, das Thema umfassend. Häufig wird behauptet, dass das traditionelle Bild der Rechtfertigung internalistisch sei und der Externalismus eine Erfindung des späten 20.  Jahrhunderts darstelle, die im Grunde das Thema wechselt. Vgl. etwa BonJour 1985, S. 37. Zu einer kritischen Bewertung dieser historischen Einschätzung vgl. Alston  – in: Schantz 2004.



4.4 Internalismus oder Externalismus? 

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Skeptizismus wirklich ist und wie die Struktur unserer Begründungen formal betrachtet aussieht. In dieser Debatte zwischen Internalisten und Externalisten geht es genauer um zwei Fragen: (1.) Was sind Gründe? (2.) In welchem kognitiven Verhältnis stehen Erkenntnissubjekte zu diesen Gründen? Die erste Frage beschäftigt sich mit der Natur und ontologischen Beschaffenheit unserer Gründe. Erkenntnistheoretische Internalisten in diesem ontologischen Sinne sagen, dass die Gründe (als rechtfertigende Faktoren) vollkommen subjektiv sind und allein von der nicht-faktiven mentalen Perspektive des Erkenntnissubjekts abhängen. Typische Gründe wären also geistige Zustände wie Überzeugungen, Wahrnehmungserlebnisse, Erinnerungen und Empfindungen. Internalisten in diesem Sinne nenne ich kurz Subjektivisten. Erkenntnistheoretische Externalisten im ontologischen Sinne glauben dagegen nicht, dass die erkenntnistheoretischen Gründe ausschließlich in der nicht-faktiven mentalen Perspektive zu finden sind. Sie halten auch objektive, von dieser Perspektive unabhängige Tatsachen für rechtfertigungsrelevant. Externalisten in diesem Sinne nenne ich Objektivisten. Aus der Sicht der zweiten Frage ergibt sich dagegen eine andere Dichotomie zwischen erkenntnistheoretischen Internalisten und Externalisten. Die Internalisten behaupten, dass die Gründe dem Erkenntnissubjekt kognitiv bekannt sein müssen. Das Erkenntnissubjekt muss einen kognitiven Zugang zu seinen Gründen haben. Deshalb nenne ich diese Art von Internalismus Zugangsinternalismus. Zugangsexternalisten behaupten dagegen, dass die Gründe dem Subjekt auch unbekannt sein können. Da auch Mischformen von Internalismus und Externalismus in den beiden Dimensionen möglich sind, erhält man die folgende Matrix, in der die wichtigsten Positionen und ihre Hauptvertreter zu finden sind: Zugangsinternalismus Subjektivismus

1)

Objektivismus

2a) Gründe sind dem Subjekt kognitiv bekannte objektive Tatsachen ­(Williamson 2000)

Zugangsexternalismus

Evidentialismus (Cohen 1984, Conee/Feldman 2004, Foley 1985)

2b) Die Gründe machen die Wahrheit der Überzeugung objektiv wahrscheinlich und dass das so ist, ist dem Subjekt kognitiv bekannt (BonJour 1985)

3) Reliabilismus (Goldman 1979, Alston 1986)

188 

 4 Erkenntnistheoretische Rechtfertigung

Der Evidentialismus (1) besagt, dass es für die Rechtfertigung einer Überzeugung genügt, wenn es mentale Zustände des Subjekts (wie Erfahrungen oder Überzeugungen) gibt, die die Wahrheit der zu rechtfertigenden Überzeugung wahrscheinlich erscheinen lassen. Die Rechtfertigung hängt damit alleine von der mentalen Perspektive des Subjekts ab und zu dieser hat das Subjekt einen direkten introspektiven* Zugang. Die Auffassung (2a), dass Gründe objektive Tatsachen sind, die dem Subjekt kognitiv bekannt sind, ist folgendermaßen zu verstehen: Dass ein Voltmeter einen bestimmten Wert, sagen wir 220 V, anzeigt, ist ein Grund dafür, dass eine Spannung von 220 Volt anliegt, aber dieser Grund ist nur ein Grund für das Subjekt, dass von diesem Grund auch weiß. Der Reliabilismus (3) (von engl. reliability: Zuverlässigkeit) besagt, dass eine Überzeugung vorläufig (also anfechtbar) gerechtfertigt ist, wenn sie sich auf Methoden, Verfahren oder Prozesse stützt, die objektiv zuverlässig sind, d. h. mehrheitlich wahre Überzeugungen hervorbringen. Die Rechtfertigung ist völlig unabhängig davon, ob das Subjekt weiß oder gerechtfertigterweise glaubt, dass seine Überzeugung auf einer zuverlässigen Methode beruht. Dieser Reliabilismus lässt sich auch mit dem Zugangsinternalismus verbinden (2b). In diesem Fall kann eine Überzeugung nur dann durch zuverlässige Methoden gerechtfertigt werden, wenn das Subjekt auch gerechtfertigterweise glaubt, dass diese Überzeugung auf einer zuverlässigen Methode beruht, d. h. eine zusätzliche Metarechtfertigung hat.

4.4.1 Evidentialismus Sehen wir uns jetzt die Positionen der Reihe nach genauer an. Der Evidentialismus ist ein Subjektivismus. Ihm zufolge hängt alle Rechtfertigung allein von der nichtfaktiven mentalen Perspektive des Erkenntnissubjekts ab, also von seinen Überzeugungen, Erinnerungen, Erfahrungen und Intuitionen. Da solche mentalen Zustände direkt durch Introspektion oder Reflexion zugänglich sind, handelt es sich zugleich um einen Zugangsinternalismus.274 Für den Subjektivismus spricht die folgende Dämonwelt-Intuition: Stellen Sie sich eine kontrafaktische Welt w vor, in der das Subjekt S genau das glaubt, zu erinnern scheint und erlebt, was es in der aktualen Welt glaubt, zu erinnern scheint und erlebt. Seine Überzeugungen, Erinne-

274 Eigentlich sagt der Zugangsinternalismus aus, dass die rechtfertigenden Faktoren tatsächlich kognitiv bekannt sein müssen, während im Fall des Evidentialismus dieser Zugang nur möglich ist. Dabei handelt es sich jedoch nicht um eine Zugänglichkeit im trivialen Sinne, die zu allen Tatsachen in der Welt besteht, sondern darum, dass die Faktoren direkt und unmittelbar durch Introspektion zugänglich sind. Das ist eine nicht-triviale Bedingung.



4.4 Internalismus oder Externalismus? 

 189

rungen und Erlebnisse unterscheiden sich in beiden Welten überhaupt nicht, nicht einmal in ihrer Stärke und Intensität. Der einzige Unterschied besteht darin, dass in w die meisten Überzeugungen von S falsch sind, während sie in der aktualen Welt größtenteils wahr sind. In w wird S fortwährend durch einen bösen Dämon über seine Umwelt getäuscht. Aus der Perspektive von S gibt es gar keinen Unterschied zwischen beiden Welten, so dass S es nicht bemerken würde, wenn er von der aktualen Welt in die Dämonwelt transportiert würde. In diesem Fall – so lautet der Vorschlag – würden wir von jeder Überzeugung, die in der aktualen Welt gerechtfertigt ist, sagen, dass sie auch in der Dämonwelt w gerechtfertigt wäre. Wenn das richtig ist, dann hängt die Rechtfertigung allein von der nicht-faktiven mentalen Perspektive des Subjekts ab und nicht von objektiven Tatsachen in der Umwelt.275 Einwände Es ist sicher richtig, dass S den Unterschied zwischen der aktualen Welt und der Dämonwelt nicht bemerkt, ja überhaupt nicht bemerken kann. Für ihn sind beide Welten ununterscheidbar. Deshalb kann man S auch in der Dämonwelt keinen Vorwurf machen, dass er irgendeine epistemische Pflicht verletzt hat. Selbst wenn er dort sein Bestes tut, um die Wahrheit herauszubekommen, kann es ihm nicht gelingen. Daraus folgt jedoch nicht, dass seine Überzeugungen denselben Rechtfertigungsstatus wie in der aktualen Welt haben. Das würde nur folgen, wenn die deontologische Konzeption der Rechtfertigung zuträfe. Aber wir haben bereits gesehen, dass diese Konzeption problematisch ist. Es reicht für die Rechtfertigung einfach nicht aus, wenn man aus seiner Perspektive keine Fehler macht und das Beste tut, was man kann. Und deshalb leuchtet auch der Grundsatz nicht ein, dass es keinen Rechtfertigungsunterschied geben kann, solange man diesen Unterschied nicht aus der Perspektive der ersten Person bemerken kann. Außerdem ist es nicht richtig, dass ein Mittel auch bereits dann instrumentell rational ist, wenn es aus der Perspektive des Subjekts als zweckdienlich (in diesem Fall also zuverlässig) erscheint. Ein Instrument ist ein gutes Mittel zu einem gegebenen Ziel, wenn es tatsächlich der Verwirklichung dieses Zieles dienlich ist. Wir sind allerdings in unserer Bewertung der instrumentellen Rationalität an das gebunden, was wir über die Welt glauben. Doch nur dann, wenn unsere kognitive Perspektive der Welt entspricht, ist unsere Bewertung korrekt. Instrumentelle Rationalität selbst ist kein perspektivenrelativer Begriff. Wenn die Rechtfertigung allein von unserer Perspektive abhängen würde, dann wäre es vollkommen rätselhaft, warum uns die Rechtfertigung so wichtig erscheint.

275 Vgl. zu diesem Gedankenexperiment Foley 1985, S. 189 f.

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 4 Erkenntnistheoretische Rechtfertigung

Angesichts unseres epistemischen Ziels der Wahrheit ist es doch vollkommen gleichgültig, ob es von irgendeinem Standpunkt so aussieht, als ob die Gründe zuverlässig zur Wahrheit führen. Wir sind einzig und allein daran interessiert, dass uns unsere Gründe tatsächlich zur Wahrheit hinführen. Subjektivisten müssen sich damit allerdings noch nicht geschlagen geben. Es lassen sich nämlich zwei verschiedene Dämonwelten w und w’ vorstellen, in denen die Überzeugungen von S jeweils größtenteils falsch sind, die sich aber dahingehend unterscheiden, dass S in w durch gültige Schlüsse zu seinen Überzeugungen kommt, während S in w’ lauter Fehlschlüsse unterlaufen. Hier verletzt der Dämon also auch die Rationalität von S. Subjektivisten sagen nun, dass sich in diesem Fall die Intuition einstellt, dass S in w epistemisch besser dasteht als in w’. Wie ist das möglich, wenn die Rechtfertigung nicht allein von der nichtfaktiven mentalen Perspektive abhängt?276 Der Subjektivist nimmt natürlich an, dass S in w deshalb epistemisch besser dasteht, weil er die Schlussregeln nicht verletzt hat. Aber der Objektivist muss diese Erklärung nicht akzeptieren. Er kann sagen, dass gültige Schlüsse deshalb epistemisch besser sind als ungültige, weil sie in jeder Welt konditional zuverlässig sind. Gültige Schlüsse sind so beschaffen, dass sie zwingend zu einer wahren Konklusion führen, wenn ihre Prämissen wahr sind. Dieser Wahrheitswerterhalt ist eine objektive Eigenschaft, und diese Eigenschaft sorgt dafür, dass wir S in w epistemisch besser beurteilen als in w’, auch wenn seine Überzeugungen nicht im vollen Sinne, sondern nur konditional gerechtfertigt sind. Es stellt sich also heraus, dass der Subjektivismus nicht gut begründet ist und dass er den Wert der Rechtfertigung letztlich unverständlich macht. Evidentialismus Die Überzeugung einer Person ist erkenntnistheoretisch gerechtfertigt genau dann, wenn diese Überzeugung aus der nicht-faktiven mentalen Perspektive der Person als wahrscheinlich wahr erscheint. Argument: Dämon-Intuition Einwand 1: In der Dämonwelt verletzt die Person keine epistemischen Pflichten. Da das Modell der Verpflichtung jedoch falsch ist, folgt daraus nicht, dass ihre Überzeugung erkenntnistheoretisch gerechtfertigt ist. Einwand 2: Instrumentelle Rationalität ist nicht perspektivrelativ.

276 Dieses Argument für den Subjektivismus findet sich in Cohen 1984, S. 283 f.



4.4 Internalismus oder Externalismus? 

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4.4.2 Zugangsinternalistische Versionen des Objektivismus Die erkenntnistheoretische Rechtfertigung hängt also von objektiven Tatsachen ab. Aber diese objektiven Tatsachen können die Überzeugung einer Person nur rechtfertigen, wenn die Person diese Tatsachen kennt. Gründe müssen sich im kognitiven Besitz einer Person befinden, wenn sie die Überzeugungen der Person rechtfertigen sollen. Positionen, die auf diese Weise den Objektivismus mit dem Zugangsinternalismus verbinden (wie 2a und 2b), sind sehr plausibel, wenn man an die typischen Fälle denkt. Wir sagen, dass jemand gute Gründe für seine Ansicht hat (und insofern gerechtfertigt ist), wenn er die Gründe, die für seine Ansicht sprechen, angeben kann, wenn er also eine Begründung oder Argumentation vorweisen kann, die seine Ansicht wahrscheinlich macht. Gründe kann man jedoch nur angeben, wenn man sie kennt bzw. einen direkten kognitiven Zugriff auf sie hat. Ganz ähnlich sieht es aus, wenn wir aus der Innenperspektive darüber nachdenken, ob unsere eigenen Gründe für eine Auffassung gut sind. Ein solcher reflexiver Aufstieg hin zu einer kritischen Bewertung unserer Gründe scheint immer möglich zu sein. Aber wie sollte das möglich sein, wenn uns unsere Gründe nicht unmittelbar bekannt wären? Denken Sie schließlich auch an Fälle wie den folgenden: Sie fragen sich, ob der gelbe Vogel vor Ihnen auf dem Fensterbrett ein Stieglitz oder ein Kanarienvogel ist. Um zu einem definitiven Urteil in der Sache zu kommen, bräuchten Sie mehr Informationen über typische Merkmale beider Vogelarten, so dass Sie aufgrund solcher Kriterien anhand Ihrer Wahrnehmung herausfinden könnten, worum es sich handelt. Solange sie keine Gründe kennen, die für das eine oder andere sprechen, erscheint ein Urteil aus Ihrer Perspektive dogmatisch und vollkommen willkürlich. Diese und ähnliche Fälle machen den Zugangsinternalismus zunächst sehr plausibel. Eine Überzeugung scheint nur dann gerechtfertigt zu sein, wenn das Erkenntnissubjekt zu glauben gerechtfertigt ist (oder sogar weiß), dass es Faktoren gibt, die die Wahrheit dieser Überzeugung wahrscheinlich machen. Allerdings beruht diese Verteidigung des Zugangsinternalismus auf einer Generalisierung typischer Fälle, von der nicht klar ist, ob sie wirklich zulässig ist. Sicher, wir sagen, dass jemand eine gerechtfertigte Überzeugung hat, wenn er Gründe für seine Überzeugung anführen kann. Aber daraus lässt sich nicht direkt ableiten, dass Überzeugungen nur dann gerechtfertigt sind, wenn das Subjekt die Gründe angeben kann. Vielleicht ist die Angabe von Gründen für uns nur ein besonders gutes Indiz um festzustellen, dass jemand gerechtfertigt ist. Aber das ist damit verträglich, dass gerechtfertigte Überzeugungen auch vorliegen können, wenn das Subjekt die Gründe nicht angeben kann. Sicher, es ist auch besonders günstig, wenn wir unsere Gründe so präsent haben, dass wir sie auch kritisch bewerten können. Aber ist es für die Rechtfertigung notwendig? Denken

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 4 Erkenntnistheoretische Rechtfertigung

Sie daran, dass Sie von den meisten Ihrer gegenwärtigen Überzeugungen nicht genau wissen, welches Ihr Grund für diese Überzeugungen ist. Sie haben diese Überzeugungen irgendwann einmal intellektuell redlich erworben, aber die genaue Begründung haben Sie längst vergessen. Soll man wirklich sagen, dass keine dieser vielen Überzeugungen gerechtfertigt ist?277 Und schließlich: Sobald wir uns fragen, was wir in einer Sache glauben sollen, brauchen wir offenbar uns bekannte Gründe, um zu einem Urteil zu kommen, das aus unserer Perspektive nicht dogmatisch erscheint. Aber ist das nicht eher der Ausnahme- als der Regelfall? Die meisten unserer Überzeugungen stellen sich automatisch und ohne vorherige Reflexion ein. Diese Überlegungen sollen den Zugangsinternalismus nicht widerlegen, sondern nur zeigen, dass er keineswegs vollkommen selbstverständlich ist, wenn man die ganze Bandbreite der Fälle berücksichtigt.

4.4.3 Gründe als Tatsachen Sehen wir uns nun die Positionen im Einzelnen an, die einen Objektivismus mit einem Zugangsinternalismus verbinden. Eine Möglichkeit, beide zu verbinden, ist die folgende (2a): Gründe sind objektive Tatsachen in der Welt wie ein Messergebnis, ein Indiz, eine Zeugenaussage oder ein Beweisstück. Diese Tatsachen müssen die Wahrheit von Propositionen wahrscheinlich machen. Ein Messergebnis kann eine wissenschaftliche Theorie bestätigen. Eine Zeugenaussage kann die Schuld eines Verdächtigen wahrscheinlich machen usw. Damit ein Grund jedoch die Überzeugung einer bestimmten Person rechtfertigen kann, muss der Grund dieser Person auch noch kognitiv bekannt sein.278 Einwände Gegen diese Position sprechen zwei Einwände. Erstens: Es ergibt sich ein Dilemma*. Dass der Person die Gründe kognitiv bekannt sein müssen, lässt sich auf zweierlei Weise verstehen. Entweder genügt es, wenn die Person eine wahre Überzeugung bezüglich des Grundes hat. Oder die Person muss eine gerechtfertigte, wahre Überzeugung (oder sogar Wissen) bezüglich des Grundes besitzen.279 Wenn eine wahre Überzeugung über den Grund ausreicht, damit der Grund die Überzeugung, dass p, rechtfertigt, dann wird unverständlich, warum

277 Auf Fälle dieser Art macht Goldman 1979, S. 15; Goldman 1999, S. 280, aufmerksam. 278 Williamson 2000, Kap. 9. 279 Eine weitere Alternative wäre, dass der objektive Grund durch eine veridische Wahrnehmung kognitiv bekannt ist. Diese Position wird von Pritchard 2012 vertreten.



4.4 Internalismus oder Externalismus? 

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eine Begründung überhaupt erforderlich ist und man sich nicht gleich mit einer wahren Überzeugung über p zufrieden gibt. Wenn aber eine gerechtfertigte und wahre Überzeugung über den Grund erforderlich ist, damit er die Ausgangsüberzeugung rechtfertigt, dann bedarf es zur Rechtfertigung der Überzeugung über den Grund eines weiteren Grundes, über den eine gerechtfertigte, wahre Überzeugung vorliegt usw. Ein Regress erscheint unvermeidlich.280 Zweitens: Die Annahme, dass eine Überzeugung nur durch Tatsachen gerechtfertigt werden kann, ist viel zu stark und auf keinen Fall notwendig. Offenbar kann die Konklusion eines deduktiven* Arguments gerechtfertigt sein, wenn sie auf falschen, aber gerechtfertigten Prämissen beruht. Auch fehlerhafte Gründe anderer Art, wie Halluzinationen oder Illusionen, können rechtfertigen. Der Zusammenhang zwischen den Gründen und der Wahrheit wäre also zu eng, wenn wir Gründe auf Tatsachen einschränken würden.281

4.4.4 Keine Rechtfertigung ohne Metarechtfertigung Eine Alternative ist die Position, die beispielsweise von Laurence BonJour vertreten wird (2b). Nach BonJour ist die Überzeugung einer Person S gerechtfertigt, wenn sie durch einen zuverlässigen Prozess hervorgebracht wird und wenn S zu glauben gerechtfertigt ist, dass die Überzeugung durch einen zuverlässigen Prozess hervorgebracht wird. Eine Überzeugung ist also demnach nur dann gerechtfertigt, wenn die Person S aus ihrer Perspektive auch über ein Kriterium* für die Wahrheit der Überzeugung verfügt.282 Diese Position ist schwächer als die Position, die nur Tatsachen als Gründe zulässt, weil zuverlässige Prozesse fehlbar sein können. Da BonJour zufolge jedoch jede Rechtfertigung eine Metarechtfertigung impliziert, ergibt sich ein ähnliches Regressproblem wie bei der zuvor behandelten Position. Auf die von BonJour vorgeschlagene Lösung dieses Problems werde ich im nächsten Kapitel noch im Detail eingehen. BonJours Argument für den Zugangsinternalismus beruht in erster Linie auf einem Gedankenexperiment, das zeigen soll, dass die tatsächliche Zuverlässig-

280 Von Williamson wird dieser Regress nur dadurch vermieden, dass er behauptet, man müsse den Grund wissen und Wissen sei nicht weiter analysierbar, so dass eine weitere Rechtfertigung nicht erforderlich ist und kein Regress entsteht. Doch selbst wenn Wissen nicht definierbar ist, könnte Rechtfertigung dennoch ein konstitutives Element des Wissens sein. 281 Vgl. dazu auch die genauere Analyse von Williamsons Position in Abschnitt 3.7.3. 282 Vgl. BonJour 1989, S. 58: „If a person is to be epistemically justified in accepting a particular belief, he must have within his own possession a complete and cogent reason for thinking that the belief is true or at least likely to be true.“

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 4 Erkenntnistheoretische Rechtfertigung

keit einer überzeugungsbildenden Methode nicht ausreicht, um eine Überzeugung zu rechtfertigen. Dieses Gedankenexperiment mit dem Hellseher Norman ist folgendermaßen aufgebaut: Norman besitzt tatsächlich zuverlässige hellseherische Fähigkeiten. Er hat aber aus seiner Perspektive weder Gründe für noch gegen die Zuverlässigkeit der Hellseherei und schon gar keine Gründe dafür oder dagegen, dass er persönlich diese Fähigkeit besitzt. In einer bestimmten Situation erwirbt Norman aufgrund seiner hellseherischen Fähigkeiten die wahre Überzeugung, dass sich der amerikanische Präsident in New York aufhält. Aus seiner Perspektive gibt es keine Gründe, die für oder gegen diese Überzeugung sprechen.283 BonJour ist der Überzeugung, dass jeder, der diese Situation unvoreingenommen bewertet, zu dem Urteil kommt, dass Normans Überzeugung nicht gerechtfertigt ist. (Was würden Sie sagen?) Da Norman in der kontrafaktischen Situation tatsächlich hellseherische Fähigkeiten besitzt, kann also die Zuverlässigkeit der Überzeugungsbildung für die Rechtfertigung nicht ausreichen. Es fehlen aus Normans Perspektive Gründe für seine Überzeugung. Wir sollen uns vorstellen, dass Hellseherei nicht mit irgendwelchen (übersinnlichen) Erlebnissen verbunden ist, sondern  – aus der Innenperspektive betrachtet  – plötzlich aus dem Nichts irgendeine Überzeugung über weit entfernte Dinge in Norman auftaucht. Es fehlen jedoch auch die Gründe für die Annahme, dass Hellsehen bei ihm zuverlässig funktioniert. Wenn wir also in Normans Perspektive schlüpfen, dann taucht in uns plötzlich und vollkommen unmotiviert eine Überzeugung auf, die für uns völlig willkürlich und dogmatisch erscheint. Nichts spricht aus unserer Perspektive für die Wahrheit dieser Überzeugung. In diesem Fall scheint das Urteil nahe zu liegen, dass Normans Überzeugung nicht gerechtfertigt ist. Wie kommt diese Intuition zustande? Meines Erachtens liegt das nicht an der fehlenden Metarechtfertigung.284 Hätte Norman andere zuverlässige Sinne als wir und würde er eine Überzeugung auf entsprechende Sinneserlebnisse stützen, dann würden wir genauso wenig zögern, diese Überzeugung als gerechtfertigt anzuerkennen, wie wir Überzeugungen, die auf zuverlässige visuelle Wahrnehmungen gestützt sind, auch dann als gerechtfertigt qualifizieren, wenn keine Metarechtfertigung der Zuverlässigkeit visueller Wahrnehmung vorliegt. Dass wir geneigt sind, Normans Überzeugung als nicht gerechtfertigt zu betrachten, liegt daran, dass er Überzeugungen über die Außenwelt erwirbt, ohne sich dabei – wie üblich – auf irgendwelche sinnlichen Erlebnisse zu stützen. Sobald man darauf aufmerksam wird, dass man eine Überzeugung über die Außenwelt ohne Sinneserfahrung erwirbt, ist man geneigt, sie als spontanen und unzuver-

283 Vgl. BonJour 1985, S. 41. 284 Vgl. zur folgenden Kritik ausführlich Grundmann 2004.



4.4 Internalismus oder Externalismus? 

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lässigen Einfall zu klassifizieren (auch wenn es sich tatsächlich um eine zuverlässig gebildete Überzeugung handelt).285 Norman hat also aus seiner Perspektive einen unterminierenden Anfechtungsgrund,286 der seiner Überzeugung über den Präsidenten auch dann seine Rechtfertigung rauben würde, wenn diese Überzeugung allein durch ihre zuverlässige Bildung vorläufig gerechtfertigt wäre. Mit anderen Worten: Selbst wenn Sie die Intuition haben, dass Normans Überzeugung nicht gerechtfertigt ist, zeigt das nicht zwingend, dass Überzeugungen nur dann gerechtfertigt sind, wenn das Erkenntnissubjekt auch aus seiner Perspektive Gründe dafür hat, dass die Überzeugung wahrscheinlich wahr ist. Das Gedankenexperiment kann also den Zugangsinternalismus nicht rechtfertigen. Aber ist die Situation Normans aus seiner Perspektive nicht vollkommen analog zu einer Situation, in der er die Wahrheit einfach nur raten würde? Schließlich gibt es doch aus seiner Perspektive nichts, was für die Wahrheit seiner Überzeugung spricht. Und kann man allen Ernstes behaupten, dass geratene Antworten im erkenntnistheoretischen Sinne gerechtfertigt sind? Es ist richtig: Behauptungen, die durch bloßes Raten zustande kommen, sind nicht gerechtfertigt. Aber solche Behauptungen lassen sich mit unwillkürlichen Überzeugungen überhaupt nicht vergleichen. Die vermeintliche Analogie besteht also gar nicht. Dass wir etwas behaupten, was wir bloß raten, ist eine Handlung, die nicht gut motiviert ist. Aber unwillkürliche Überzeugungen sind keine Handlungen. Der doxastische Voluntarismus hatte sich ja als falsch herausgestellt. Nur für Handlungen brauchen wir Gründe, die aus unserer Perspektive eine Entscheidung für sie motivieren. Unwillkürliche Überzeugungen stellen sich eben ganz ohne Entscheidung ein. Wenn Norman kritisch darüber nachdenkt, ob seine Überzeugung über den Präsidenten gerechtfertigt ist oder nicht, dann ist er weder in der Lage anzugeben, welche Quellen diese Überzeugung hat, noch kann er sagen, ob diese Quelle zuverlässig ist. Die epistemische Qualität seiner Überzeugung ist also für ihn nicht transparent. Aber das bedeutet weder, wie wir eben gesehen haben, dass er irgendetwas willkürlich glaubt, noch bedeutet es, dass seine Überzeugung einer kritischen Bewertung prinzipiell unzugänglich ist. Schließlich kann Norman ja

285 Introspektives Selbstwissen scheint auch keine evidentielle Basis zu haben, sondern ist direkt. Dennoch haben wir hier nicht die Intuition, dass jemand, der zuverlässig über seine eigenen mentalen Zustände urteilt, nicht gerechtfertigt ist, solange er nicht über eine Rechtfertigung introspektiver Urteile im Allgemeinen verfügt. 286 Es wird zwar durch die Beschreibung von Normans Situation explizit ausgeschlossen, dass Norman über irgendwelche Anfechtungsgründe verfügt. Aber bei der Bewertung von Normans Situation können wir nicht davon abstrahieren, dass wir Überzeugungen über die Außenwelt ohne evidentielle Basis normalerweise als ‚bloße Einfälle‘ klassifizieren.

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 4 Erkenntnistheoretische Rechtfertigung

empirisch untersuchen, durch welche Prozesse seine Überzeugung hervorgebracht wurde und ob diese Prozesse bei ihm zuverlässig sind. Er hat nur nicht die Möglichkeit, seine Überzeugung direkt und unmittelbar zu bewerten. Das macht ihn jedoch nicht zu einem Dogmatiker und es ist dann nicht zu sehen, warum man ihm keine gerechtfertigte Überzeugung zuschreiben sollte. Einwände Die Argumente für den Zugangsinternalismus sind also keineswegs zwingend. Im Übrigen hat der Zugangsinternalismus, der von BonJour vertreten wird, absurde Konsequenzen. Wenn nämlich jede Rechtfertigung nur aufgrund von Faktoren erfolgen kann, über deren Bestehen gerechtfertigte Überzeugungen vorliegen, dann ergibt sich automatisch ein Regress der Rechtfertigung.287 Sollte dieser Regress nicht zu vermeiden sein, dann hätte das nicht nur unplausible skeptische Konsequenzen, es würde sich sogar aus der Position selbst die Unmöglichkeit jeder Rechtfertigung begrifflich ergeben. Damit wäre der Zugangsinternalismus überhaupt keine konsistente* Position. Er wäre ein Unding genau wie ein quadratischer Kreis. BonJour selbst vertritt die Auffassung, dass es kognitive mentale Zustände gibt, die ihre Zuverlässigkeit selbst verbürgen und deshalb keiner Metarechtfertigung durch andere Zustände bedürfen, die ihrerseits gerechtfertigt werden müssten.288 Aus seiner Sicht lässt sich das Regressproblem also auch im Rahmen des Zugangsinternalismus lösen. Bewusste Überzeugungen oder Erfahrungen sowie selbstevidente Einsichten in notwendige Wahrheiten sollen in der Lage sein, ihre eigene Zuverlässigkeit zu verbürgen. Jede Rechtfertigung müsste demnach von solchen fundamentalen Gründen ausgehen. Im nächsten Kapitel über die Struktur der Rechtfertigung sollen BonJours diesbezügliche Vorschläge einer differenzierten Kritik unterzogen werden. An dieser Stelle soll zunächst nur ein kurzer Einwand gegen BonJours Strategie vorgebracht werden. Bewusste mentale Zustände und selbstevidente Einsichten sind sicher psychologisch fundamental. Wenn man ein bewusstes Erlebnis hat, dann glaubt man (normalerweise) auch, dass man dieses Erlebnis hat.289 Aber das bedeutet nicht, dass diese Zustände epistemisch fundamental sind. Um zu

287 Vgl. auch Alston 1989a. Da der Zugangsinternalismus Rechtfertigung nicht definiert, sondern nur notwendige Bedingungen formuliert, ist der Einwand eines Definitionszirkels allerdings unberechtigt. 288 BonJour nennt solche Zustände ‚epistemisch autonom‘. Vgl. BonJour 1998, S. 146 f. 289 Es ist natürlich immer möglich, dass man es falsch klassifiziert oder dass man gerade durch Ablenkung nicht auf dieses Erlebnis aufmerksam ist.



4.4 Internalismus oder Externalismus? 

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erkennen, dass Introspektion oder intuitive Einsicht zuverlässig ist, bedarf es einer Theorie, die ihrerseits wieder gerechtfertigt werden müsste, so dass kein Ende des Regresses in Sicht ist. Dieser Regress wird nur scheinbar vermieden, indem psychologisch grundlegende kognitive Fähigkeiten (wie Introspektion oder Intuition) nicht mehr kritisch hinterfragt werden. Aus der Sicht eines konsequenten Zugangsinternalismus wäre das aber ein ungerechtfertigter Abbruch der Rechtfertigung, der das Problem nicht wirklich löst. Dieser Einwand wird uns im nächsten Kapitel noch ausführlich beschäftigen. Es scheint noch eine weitere Möglichkeit zu geben, den drohenden Regress zu vermeiden, indem die Bedingung des kognitiven Zugangs signifikant abgeschwächt wird. Bislang wurde davon ausgegangen, dass die rechtfertigenden Faktoren dem Subjekt kognitiv bekannt sein müssen, wobei kognitive Bekanntheit so verstanden wird, dass das Subjekt eine wahre gerechtfertigte Überzeugung über diese Faktoren haben muss. Man kann die Zugangsbedingung jedoch so abschwächen, dass die rechtfertigenden Faktoren dem Subjekt nur potentiell zugänglich sein müssen. In diesem Fall kann man von einem schwachen Zugangsinternalismus sprechen. Dieser schwache Zugangsinternalismus vermeidet vielleicht das Reg­ress­ problem,290 führt aber zu folgendem Dilemma: Die Zugänglichkeit lässt sich auf unterschiedliche Weise verstehen. Entweder es wird gefordert, dass die Gründe irgendwie gerechtfertigt zugänglich sein müssen. Oder es wird verlangt, dass sie auf priviligierte, introspektive Weise zugänglich sein müssen. Im ersten Fall ist die Bedingung vollkommen trivial. Auch der Zugangsexternalismus bestreitet nicht, dass die rechtfertigenden Tatsachen irgendwie, also beispielsweise durch empirische Nachforschungen über die objektive Außenwelt, zugänglich sind. Wird die Zugangsbedingung also derart schwach interpretiert, dann ist sie kein gutes Kriterium zur Unterscheidung vom Zugangsexternalismus.291 Oder wir nehmen an, dass die rechtfertigenden Faktoren introspektiv zugänglich sein müssen. Dann lässt sich der Zugangsinternalismus anhand dieses Kriteriums zwar klar vom Zugangsexternalismus unterscheiden. Er ist jedoch nicht mehr mit dem Objektivismus vereinbar (der sich ja als die gegenüber dem Subjektivismus überlegene Position herausgestellt hat), denn objektive Tatsachen lassen sich introspektiv nicht erkennen.292 Der schwache Zugangsinternalismus vermeidet also

290 Vgl. Alston 1989d, S. 240; Fumerton 1995, S. 64. 291 Fumerton 1995, S. 65; Goldman 1999, S. 288. 292 Allein Pritchard 2012 versucht dafür zu argumentieren, dass wir einen introspektiven Zugang zu faktiven, welteinschließenden mentalen Zuständen haben können.

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 4 Erkenntnistheoretische Rechtfertigung

das Regressproblem, ist aber entweder zu schwach, um nicht trivial zu sein, oder er ist auf den unattraktiven Subjektivismus festgelegt. Rechtfertigung erfordert Metarechtfertigung Die Überzeugung einer Person ist gerechtfertigt genau dann, wenn sie durch einen zuverlässigen Prozess hervorgebracht wird und wenn die Person gerechtfertigt ist zu glauben, dass die Überzeugung durch einen zuverlässigen Prozess hervorgebracht wird. Argument: Gedankenexperiment mit dem Hellseher Norman Einwand 1: Das Gedankenexperiment ist nicht zwingend. Einwand 2: Regressproblem

4.4.5 Reliabilismus Sehen wir uns schließlich die Position an, die den Objektivismus mit einem Zugangsexternalismus verbindet. Es handelt sich um den so genannten Reliabilismus (Zuverlässigkeitstheorie), der entscheidend von Alvin Goldman durch seinen Aufsatz What is justified belief? inspiriert wurde. Dieser Theorie zufolge ist eine Überzeugung vorläufig im erkenntnistheoretischen Sinne gerechtfertigt genau dann, wenn sie durch Prozesse gestützt wird, die objektiv zuverlässig sind (also mehrheitlich wahre Überzeugungen hervorbringen). Es genügt, wenn die relevanten Prozesse tatsächlich zuverlässig sind. Dass sie es sind, muss dem Erkenntnissubjekt nicht bekannt sein.293 Der Reliabilismus ist eine objektivistische Theorie der Rechtfertigung, weil die Zuverlässigkeit (die tatsächliche Wahrheitsbilanz eines Prozesses) von der Beschaffenheit der objektiven Außenwelt abhängt. Allerdings verlangt der Reliabilismus im Unterschied zu der Auffassung, dass Gründe Tatsachen sind, nicht, dass jede Rechtfertigung von einer Wahrheit ausgeht. Wahrnehmungsprozesse können auch dann in der Regel zu wahren Überzeugungen führen, wenn sie in einem gegebenen Fall auf einer Illusion beruhen. Nach dem Reliabilismus ist der Zusammenhang der Rechtfertigung mit der Wahrheit also schwächer als es die Auffassung verlangt, nach der Gründe Tatsachen sind. Der Reliabilismus ist auch eine zugangsexternalistische Theorie, weil die Zuverlässigkeit des für die Rechtfertigung einer Überzeugung relevanten Prozesses dem Erkentnissubjekt nicht bekannt sein muss. Das schließt natürlich ein Wissen von dieser Zuverlässigkeit nicht aus. Auch der Reliabilist kann also sagen, dass Menschen von der Zuverlässigkeit ihrer basalen kognitiven Vermögen wissen.

293 Vgl. Goldman 1979, S. 10.



4.4 Internalismus oder Externalismus? 

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Wenn man die erkenntnistheoretische Rechtfertigung nach dem Modell instrumenteller Rationalität versteht, dann ist der Reliabilismus die geradezu perfekte Verkörperung dieses Modells. Wenn gerechtfertigte Überzeugungen durch instrumentell rationale Mittel hervorgebracht sein sollen und wenn das erkenntnistheoretische Ziel die Wahrheit ist, dann sind gerechtfertigte Überzeugungen solche Überzeugungen, die durch zuverlässige Methoden hervorgebracht werden. Und das ist genau die Grundthese des Reliabilismus. Allerdings bedarf diese These noch einiger Erläuterungen. Erstens: Ein Prozess bzw. eine Methode ist nicht bereits dann zuverlässig, wenn sie tatsächlich zu mehr wahren als falschen Überzeugungen führt. Es ist nämlich unplausibel zu sagen, dass eine Uhr, die um 3:00 Uhr stehen geblieben ist und nur ein einziges Mal konsultiert wird – nämlich zufällig um 3:00 Uhr – ein zuverlässiges Instrument ist, nur weil sie tatsächlich immer nur wahre Überzeugungen verursacht hat. Damit eine Methode zuverlässig ist, müssen auch alle Überzeugungen berücksichtigt werden, die sie leicht hätte verursachen können. Wenn die Wahrheitsbilanz in allen diesen Fällen mehrheitlich positiv ist, dann ist die Methode zuverlässig im für den Reliabilismus relevanten Sinne.294 Zweitens: Der Reliabilismus ist besonders gut geeignet, um zu erklären, warum Wahrnehmungsüberzeugungen, Erinnerungsüberzeugungen oder introspektive Überzeugungen gerechtfertigt sind.295 Deren Rechtfertigung beruht nämlich nicht auf Begründungen und Argumenten, sondern auf der Zuverlässigkeit der involvierten Prozesse. Aber der Reliabilismus kann auch hervorragend erklären, warum Überzeugungen durch verschiedene Arten von Schlüssen gerechtfertigt werden können. Wenn wir deduktive, induktive und abduktive* Schlüsse auf die beste Erklärung betrachten, dann sind sie nur dann gültig, wenn sie konditional zuverlässig sind. Gültige Schlüsse führen also von wahren Prämissen zu wahren Konklusionen. Bei deduktiven Schlüssen ist dieser Zusammenhang notwendig, bei induktiven und abduktiven Schlüssen nur kontingent* und wahrscheinlich. Aber der Reliabilismus ist bestens geeignet, das Gemeinsame aller dieser gültigen Schlüsse zu erklären.296 Drittens: Die zuverlässige Genese einer Überzeugung kann diese Überzeugung nur vorläufig (prima facie) rechtfertigen, weil sie ihren Rechtfertigungsstatus durch Anfechtungsgründe verlieren kann.297

294 Alston 1995, S. 6 f., verteidigt diese kontrafaktische Interpretation der Zuverlässigkeit gegen Goldman 1979, S. 12, der Zuverlässigkeit zunächst als aktuale Wahrheitsbilanz verstand. 295 BonJour 1998, S. 96. 296 Goldman 1979, S. 13, und Grundmann 2003, S. 320–323. 297 Goldman 1979, S. 20, plädiert für die Anfechtbarkeit reliabilistischer Rechtfertigung.

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 4 Erkenntnistheoretische Rechtfertigung

Einwände Damit sind wir bei den Einwänden gegen den Reliabilismus. Ein typischer Einwand lautet, dass tatsächliche Zuverlässigkeit für die Rechtfertigung einer Überzeugung nicht notwendig ist, weil die Dämonwelt-Intuition dafür spricht, dass Rechtfertigung allein von der mentalen Perspektive des Erkenntnissubjekts abhängt. Wir haben aber bereits gesehen, dass und warum dieses Argument für den Subjektivismus unzulänglich ist. Ein weiterer Einwand lautet, dass die tatsächliche Zuverlässigkeit für die Rechtfertigung einer Überzeugung nicht hinreicht. Das soll durch den Fall des Hellsehers Norman gezeigt werden. Aber auch hier haben wir bereits gesehen, dass dieses Gedankenexperiment nicht zwingend für eine Zugangsbedingung spricht. Das soll an dieser Stelle nicht noch einmal wiederholt werden. Einige weitere Einwände sollen hier nur kurz genannt werden: Das Werteproblem besagt, dass der Reliabilismus (der Wissen als zuverlässig gebildete wahre Meinung versteht) nicht gut erklären kann, warum wir Wissen für wertvoller als bloß wahre Meinung halten. Denn der Wert einer Sache steigert sich nicht dadurch, dass sie durch ein gutes Instrument (den zuverlässigen Prozess) hervorgebracht wird. Genauso wenig ist es für die Qualität eines Espressos wichtig, ob er aus einer zuverlässigen oder unzuverlässigen Kaffeemaschine stammt.298 Das Problem des Konsequenzialismus ergibt sich, wenn man den Reliabilismus als epistemischen Konsequenzialismus versteht. Dann gibt es nämlich anscheinend Fälle, in denen eine offensichtlich falsche Meinung durch die zukünftige Belohnung mit vielen wahren Meinungen konsequenzialistisch gerechtfertigt wäre, aber epistemisch unzulässig erscheint.299 Das Problem der Anfechtungsgründe für den Reliabilismus ergibt sich, wenn man fragt, wie Anfechtungsgründe reliabilistisch erklärt werden können. Es ist nämlich möglich, dass eine Meinung zuverlässig gebildet wird und dennoch Anfechtungsgründe gegen sie sprechen. In diesem Fall ist die Meinung intuitiv nicht länger gerechtfertigt. Der Reliabilismus hat Probleme, dieses Phänomen mit rein reliabilistischen Ressourcen zu erklären.300 Hier möchte ich mich darauf beschränken, zwei weitere wichtige Einwände zu diskutieren: das Referenzklassenproblem und das Problem der allzu leichten Metarechtfertigung.

298 Vgl. zu diesem in der Literatur „swamping problem“ genannten Einwand gegen den Reliabilismus Zagzebski 2003, Kvanvig 2004. Darauf haben Goldman und Olsson 2009 erwidert. Eine gute Gesamtdarstellung findet sich in Bernecker 2014. 299 Vgl. dazu Berker 2013a und 2013b und zur Verteidigung des Reliabilismus gegen diese Einwände Goldman 2015. 300 Vgl. Grundmann 2009.



4.4 Internalismus oder Externalismus? 

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4.4.5.1 Das Referenzklassenproblem Wenn der Rechtfertigungsstatus einer gegebenen Überzeugung aufgrund der Zuverlässigkeit des kausal wirksamen Prozesses bewertet werden soll, dann ergibt sich eine Schwierigkeit. Die konkrete Einzelüberzeugung wird durch einen einzelnen psychologischen Prozess verursacht, also durch ein Einzelereignis. Solche Einzelereignisse haben keine statistischen Eigenschaften. Zuverlässigkeit ist aber eine statistische Eigenschaft, denn sie wird durch die objektive Häufigkeit der Wahrheit definiert. Dagegen führt der einzelne psychologische Prozess zu einer einzelnen Überzeugung, die entweder wahr oder falsch ist. Um dem Prozess eine Wahrheitswahrscheinlichkeit zuordnen zu können, muss er als Einzelereignis einer bestimmten Art betrachtet werden. Doch der einzelne Prozess, der zu der fraglichen Überzeugung hinführt, lässt sich als Vorkommnis sehr unterschiedlicher Arten betrachten, je nachdem, wie er beschrieben wird. Als Beispiel mag meine gegenwärtige Überzeugung „Heute ist ein sonniger Tag“ dienen, die ich aufgrund meiner Wahrnehmung des Wetters durch das Fenster meines Arbeitszimmers erworben habe. Der kognitive Prozess, der zu dieser Überzeugung führt, lässt sich auf höchst unterschiedliche Weise charakterisieren: – als Wahrnehmungsprozess – als visueller Prozess – als visueller Prozess, der zu einer Überzeugung mit dem Inhalt „Heute ist ein sonniger Tag“ führt – … Die Zuverlässigkeit, die dem Prozess zugeordnet wird, hängt natürlich davon ab, welche Beschreibung zugrunde gelegt wird. Sie hängt jedoch nicht nur davon ab, wie spezifisch oder allgemein der psychische Prozess beschrieben wird, sondern sie hängt auch davon ab, unter welchen Umständen der Prozess bewertet wird. Auch hier sind sehr unterschiedliche Beschreibungen möglich, relativ zu denen die zugeordnete Zuverlässigkeit stark variieren kann. Auf das obige Beispiel bezogen, sind etwa folgende Bewertungsumstände denkbar: – der Prozess unter Bedingungen, die zu einer wahren Überzeugung führen – der Prozess an einem Mittwochabend – der Prozess in Bezug auf ein Objekt hinter einem Fenster – der Prozess in Bezug auf ein Objekt hinter einem festen Körper – der Prozess unter günstigen Beobachtungsbedingungen – der Prozess unter beliebigen Beobachtungsbedingungen – … Je nachdem, wie der konkrete psychologische Prozess und die Umstände seines Auftretens beschrieben werden, fällt auch das Urteil über seine Zuverlässigkeit unterschiedlich aus. Um bei unserem Beispiel zu bleiben: Perzeptuelle Prozesse sind im Allgemeinen sicherlich nicht übermäßig zuverlässig, aber visuelle Pro-

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 4 Erkenntnistheoretische Rechtfertigung

zesse, die zu der Überzeugung führen, dass heute ein sonniger Tag ist, sind es vermutlich. Perzeptuelle Prozesse, die zu einer wahren Überzeugung führen, sind perfekt zuverlässig; aber perzeptuelle Prozesse, die zu Überzeugungen über Gegenstände hinter festen Körpern führen, sind extrem unzuverlässig. Die Bewertung der Reliabilität scheint also im doppelten Sinne relativ zu sein. Sie ist relativ zur Angabe des Prozesstyps. Dieses Problem ist das so genannte Generalitätsproblem.301 Die Bewertung ist aber auch relativ zur Festlegung der relevanten Umstände. Dieses Problem soll als Lokalisationsproblem bezeichnet werden.302 Solange es nicht irgendwelche Tatsachen gibt, die festlegen, welches die für einen psychologischen Prozess relevante Beschreibung ist und welche Umstände für die Bewertung der Zuverlässigkeit relevant sind, bleibt die Zuverlässigkeit eines Prozesses unbestimmt. Und deshalb lässt sich der resultierenden Überzeugung auch kein bestimmter Rechtfertigungsstatus zuordnen. Auf beide Teilprobleme des Referenzklassenproblems gibt es eine Antwort des Reliabilisten. Zunächst die Antwort auf das Generalitätsproblem: Es ist sicher richtig, dass sich psychische Prozesse extrem unterschiedlich beschreiben lassen. Aber nur eine dieser unterschiedlichen Beschreibungen beschreibt den Einzelprozess so, dass dabei seine essentiellen Eigenschaften erfasst werden. Psychologische Prozesse bilden nämlich natürliche Arten* aufgrund ihrer kausal operativen Mechanismen, und diese bestimmen die essentiellen Eigenschaften des jeweiligen Einzelprozesses. Ganz analog verhält es sich mit natürlichen Arten wie Wasser. Auch Wasser lässt sich sehr unterschiedlich beschreiben: als trinkbare Flüssigkeit, als durchsichtige Flüssigkeit, als Flüssigkeit, die bei 100 Grad Celsius kocht, als Flüssigkeit in unseren Meeren, Seen und Flüssen usw. Aber nur eine Beschreibung charakterisiert das Wasser über seine wesentlichen Eigenschaften. Diese Beschreibung bezieht sich auf die chemische Struktur des Wassers (H2O). Wie im Fall des Wassers legen die objektiven Tatsachen also auch bei einem psychischen Einzelprozess fest, zu welchem natürlichen Typ dieser Prozess gehört. Und allein dieser Typ ist relevant für die Bewertung der Zuverlässigkeit.303 Wie sieht es mit dem Lokalisationsproblem aus? Eine Lösung dieses Problems ergibt sich, indem wir einen Umweg über unsere intuitiven Kriterien für die Bewertung der Zuverlässigkeit von Instrumenten und Geräten einschlagen. Nehmen wir an, wir wollen untersuchen, ob ein Kompass zuverlässig funktioniert. Für diese Frage ist natürlich nur unsere Welt relevant. Ob der Kompass auf Himmelskörpern ohne magnetische Pole funktionieren würde oder ob er auch

301 Vgl. dazu Feldman 1985; Conee/Feldman 1998. 302 Vgl. dazu Dretske 1981, S. 132 f.; Brandom 1998. 303 Vgl. in diesem Sinne Alston 1995.



4.4 Internalismus oder Externalismus? 

 203

zuverlässig wäre, wenn die Naturgesetze ganz andere wären, ist vollkommen irrelevant. Aber welche Situationen in unserer Welt sind für die Bewertung des Kompasses relevant und welche nicht? Ein Kompass funktioniert nicht zuverlässig, wenn er in der Nähe des magnetischen Nordpols verwendet wird oder wenn sich größere Mengen Eisen in seiner Nähe befinden. Solche Umstände sind für die Bewertung seiner Zuverlässigkeit jedoch irrelevant. Auch von einem Automotor sagen wir ja nicht, dass er unzuverlässig funktioniert, nur weil er unter Wasser oder bei minus 60 Grad Celsius nicht anspringt. Wir nennen Geräte und Instrumente dann zuverlässig, wenn sie unter Normalbedingungen zuverlässig funktionieren. Normalbedingungen sind Umstände, unter denen die Geräte und Instrumente funktionieren sollen, Bedingungen, für die sie gemacht sind. Solche Bedingungen werden bei Geräten und Instrumenten durch ihre Konstrukteure festgelegt. Aber die Umstände, unter denen ein Mechanismus funktionieren soll, können auch auf natürliche Weise festgelegt sein. Wie wir bereits im Kapitel über Wissen gesehen haben, gibt es solche natürlichen Funktionen auch für kognitive Mechanismen und Prozesse. Die Antwort auf das Lokalisationsproblem lautet also: Die Umstände, die für die Bewertung der Zuverlässigkeit eines Prozesses relevant sind, werden durch die natürliche Funktion dieses Prozesses festgelegt.304 4.4.5.2 Das Problem der allzu leichten Metarechtfertigung Stellen Sie sich vor, Sie wollen herausfinden, ob die Tankanzeige Ihres Autos zuverlässig funktioniert. Wenn der Reliabilismus richtig wäre, könnten Sie folgendermaßen vorgehen: Sie verlassen sich auf Ihre Tankanzeige und stützen darauf eine Reihe von Urteilen: dass der Tank zunächst voll ist, dass er eine gewisse Zeit später nur noch halb voll ist und dass er zu einem bestimmten Zeitpunkt bis auf die Reserve leer ist. Außerdem kommen Sie aufgrund Ihrer Wahrnehmung der Tankanzeige zu entsprechenden Urteilen über den Stand Ihrer Tankanzeige. Da aus Ihrer Perspektive in allen Fällen die Tankanzeige mit der Menge an Benzin im Tank übereinstimmt, schließen Sie induktiv darauf, dass Ihre Tankanzeige absolut zuverlässig funktioniert. Wenn Ihre Wahrnehmung und die Tankanzeige zuverlässig funktionieren, dann sind Ihre Urteile darüber, was die Tankanzeige anzeigt und wie viel Benzin sich im Tank befindet gerechtfertigt und mit Hilfe eines induktiven Schlusses aus gerechtfertigten Prämissen kommen Sie außerdem zu der gerechtfertigten Überzeugung, dass Ihre Tankanzeige absolut zuverlässig funktioniert. Aus der Perspektive des Reliabilismus

304 Vgl. dazu Grundmann 2003a, S. 326–331.

204 

 4 Erkenntnistheoretische Rechtfertigung

kann man offensichtlich nichts daran aussetzen, dass eine Methode sich selbst als zuverlässig autorisiert. Dieses Verfahren lässt sich auch auf die Bewertung kognitiver Methoden und Prozesse anwenden. Indem wir das, was wir wahrnehmen, für bare Münze nehmen und gleichzeitig introspektiv erfassen, dass wir es wahrnehmen, können wir sehr leicht rechtfertigen, dass unsere Wahrnehmung zuverlässig ist. Wenn die Wahrnehmung tatsächlich zuverlässig ist, dann können wir mit ihrer Hilfe rechtfertigen, dass sie zuverlässig ist, und damit rechtfertigen wir, dass Wahrnehmungsüberzeugungen gerechtfertigt sind. Wenn man eine Methode mit Hilfe ihrer selbst bewertet, dann kann natürlich nichts anderes herauskommen, als dass sie zuverlässig ist. Aber eigentlich wollen wir doch gerade erst herausfinden, ob die Methode zuverlässig ist und Rechtfertigungskraft hat. Intuitiv betrachtet dürfen wir uns in diesem Fall nicht einfach auf die zu untersuchende Methode verlassen, sondern müssen sie mit Hilfe einer unabhängigen Methode bewerten. Im Falle der Tankanzeige würden wir das, was die Tankanzeige anzeigt, mit der Menge an Benzin vergleichen, die wir direkt im Tank gemessen haben. Im Falle einer Waage prüfen wir die Anzeige mit Hilfe geeichter Gewichte. Der Einwand gegen den Reliabilismus lautet nun: Wenn der Reliabilismus wahr ist, dann brauchen wir keine unabhängigen Methoden zur Bewertung einer Methode. Wenn eine Methode zuverlässig ist, dann wird auch das durch sie hervorgebrachte Urteil, dass sie zuverlässig ist, zuverlässig sein. Eine epistemisch zirkuläre* Rechtfertigung ist auf diese Weise möglich. Zwar muss die Wahrnehmung tatsächlich zuverlässig sein, damit wir mit ihrer Hilfe rechtfertigen können, dass die Wahrnehmung zuverlässig ist. Die Prämissen des Arguments sind also nur gerechtfertigt, wenn die Konklusion wahr ist. Aber der Reliabilismus verlangt eben nicht, dass die Existenz der rechtfertigenden Faktoren kognitiv bekannt ist, damit diese Faktoren das rechtfertigen können, was sie rechtfertigen sollen. Die Wahrheit der Konklusion muss also nicht bereits kognitiv bekannt sein, damit die Prämissen gerechtfertigt sind. Nur wenn das der Fall wäre, würde aus dem epistemischen Zirkel ein logischer werden.305 Kurz: Der Reliabilismus macht die Rechtfertigung der Zuverlässigkeit einer Methode viel zu einfach.306 Er kann nicht erklären, wieso wir nach der Bewertung dieser Methode mit Hilfe einer unabhängigen Methode suchen.

305 Dann würde die Zuverlässigkeit der Wahrnehmung bereits als Prämisse zur Begründung der Prämissen in Anspruch genommen, mit deren Hilfe die Konklusion, dass die Wahrnehmung zuverlässig ist, begründet wird. Das ist logisch zwar nicht problematisch, aber logisch zirkuläre Argumente sind erkenntnistheoretisch witzlos, weil sie das bereits voraussetzen, was erst begründet werden soll. 306 Vgl. Vogel 2000; Fumerton 1995, S. 177, meint, dass der Reliabilismus viel zu leicht den Skeptizismus widerlegen könnte.



4.4 Internalismus oder Externalismus? 

 205

Was ist von diesem Einwand zu halten? Es ist zweifellos richtig, dass der Reliabilismus eine epistemisch zirkuläre Metarechtfertigung zulässt. Wenn eine Methode zuverlässig ist, dann können wir also auch mit dieser Methode ihre Zuverlässigkeit rechtfertigen. Aber wenn wir uns fragen, ob eine Methode zuverlässig ist, dann suchen wir nicht nach irgendeiner Metarechtfertigung, sondern wir wollen entscheiden, ob die Methode zuverlässig ist oder nicht. Wir brauchen also ein Unterscheidungskriterium. Eine Methode kann aber kein Kriterium ihrer eigenen Zuverlässigkeit sein, weil sie sich automatisch selbst autorisiert. Wenn wir also nach einem Kriterium suchen, dann müssen wir eine unabhängige Methode bei der Bewertung verwenden. Als Kriterium kann also nur eine epistemisch nicht-zirkuläre Metarechtfertigung dienen. Das kann auch der Reliabilist akzeptieren. Daraus folgt nicht automatisch irgendeine Version des Zugangsinternalismus. Der verlangt nämlich, dass es für jede gerechtfertigte Überzeugung ein gerechtfertigtes Kriterium geben muss; und daraus ergibt sich automatisch ein Regress der Kriterien. Anders gewendet: Der Reliabilismus lässt zirkuläre Metarechtfertigungen zu. Er kann aber auch erklären, warum wir manchmal mit solchen Metarechtfertigungen nicht zufrieden sind. Allerdings legt er sich nicht darauf fest, dass wir für jede Rechtfertigung eine nicht-zirkuläre Metarechtfertigung brauchen. Der vorliegende Einwand gegen den Reliabilismus geht also fälschlicherweise davon aus, dass der Reliabilismus nicht mehr als eine epistemisch zirkuläre Metarechtfertigung verlangen kann. Das wäre in der Tat eine absurde Konsequenz. Aber der Reliabilismus besagt nur, dass eine Metarechtfertigung epistemisch zirkulär sein kann. Er schließt nicht-zirkuläre Metarechtfertigungen nicht aus. Reliabilismus Die Überzeugung einer Person ist (vorläufig) erkenntnistheoretisch gerechtfertigt genau dann, wenn sie durch einen Prozess gestützt wird, der objektiv zuverlässig ist. Einwand 1: Dämon-Intuition Antwort: Diese Intuition ist irreführend. Einwand 2: Gedankenexperiment mit dem Hellseher Norman Antwort: Dieses Gedankenexperiment ist nicht zwingend. Einwand 3: Referenzklassenproblem (Generalitätsproblem / Lokalisationsproblem) Antwort: Das Generalitätsproblem lässt sich lösen, weil psychische Prozesse natürliche Arten sind. Antwort: Das Lokalisationsproblem lässt sich lösen, weil die für die Bewertung der Zuverlässigkeit relevante Umwelt durch die natürliche Funktion des Prozesses festgelegt ist. Einwand 4: Aus dem Reliabilismus folgt, dass jede Metarechtfertigung epistemisch zirkulär ist. Antwort: Stimmt nicht! Es folgt nur, dass eine Metarechtfertigung epistemisch zirkulär sein kann, nicht muss.

206 

 4 Erkenntnistheoretische Rechtfertigung

Ergebnis Was lässt sich also als Ergebnis über die Natur der erkenntnistheoretischen Rechtfertigung festhalten? Wir haben zunächst gesehen, dass diese Rechtfertigung sich nicht durch das deontologische Modell epistemischer Pflichterfüllung erklären lässt, sondern als instrumentelle Rationalität mit Bezug auf das Ziel der Wahrheit verstanden werden muss. Wir haben dann gesehen, dass sich eine subjektivistische Interpretation dieser Rationalität ausschließen lässt. Die erkenntnistheoretische Rechtfertigung stellt einen echten, objektiven Zusammenhang mit der Wahrheit her. Nun lässt sich ein solcher objektiver Zusammenhang mit der Wahrheit auch mit einer Zugangsbedingung verknüpfen. Wir haben aber gesehen, dass die Argumente für diese Zugangsbedingung nicht wirklich zwingend sind und dass sich umgekehrt aus der Zugangsbedingung ein Regress­ problem ergibt. Im nächsten Kapitel soll genauer untersucht werden, ob der Zugangsinternalist irgendeine Möglichkeit hat, im Rahmen seiner Theorie diesen Regress zu stoppen. Der rivalisierende Reliabilismus ist ein Objektivismus, der auf jegliche Zugangsbedingungen vollständig verzichtet. Es hat sich gezeigt, dass diese Position alle näher betrachteten Einwände erfolgreich zurückweisen kann. Sollte der Zugangsinternalismus das Regressproblem nicht lösen können, wäre der Reliabilismus also die Position der Wahl.

5 Die Struktur der Rechtfertigung 5.0 Allgemeines Eine Untersuchung der Struktur der menschlichen Rechtfertigung kann höchst unterschiedliche Ziele verfolgen. Psychologen untersuchen etwa, wie Menschen ihre Überzeugungen tatsächlich begründen. Dabei kommt heraus, dass uns sehr leicht Fehlschlüsse in der Wahrscheinlichkeitsrechnung unterlaufen. Ein schönes Beispiel zum Konjunktionsfehlschluss* kann das veranschaulichen.307 Nehmen Sie an, Sie bekommen die Information, dass eine Person namens „Linda“ eine universitäre Ausbildung mit dem Hauptfach Philosophie absolviert hat und dass sie sich besonders für Fragen sozialer Gerechtigkeit interessiert. Sie sollen nun die drei folgenden Aussagen nach ihrer Wahrscheinlichkeit ordnen: (1) Linda engagiert sich für die Frauenbewegung. (2) Linda ist eine Kassiererin. (3) Linda ist eine Kassiererin und engagiert sich für die Frauenbewegung. Wenn Sie wie die meisten Leute reagieren, werden Sie (3) für wahrscheinlicher halten als (2), weil (3) inhaltlich etwas mit der Information zu tun hat, die Sie bekommen haben, während (2) offenbar gar nichts mit dieser Information zu tun hat. Aber dann machen Sie einen Fehler, denn eine Konjunktion (wie (3)) kann niemals wahrscheinlicher sein als die Teilsätze, die sie miteinander verknüpft. Psychologen werden auch andere, typische Formen von Fehlschlüssen oder irrationalen Einflüssen auf die Akzeptanz von Prämissen genauer unter die Lupe nehmen.308 Ein ganz anderes Ziel verfolgen normative Theorien der Struktur der Rechtfertigung. Sie versuchen anzugeben, wie eine Rechtfertigung aussehen sollte, damit sie gut oder adäquat ist. Die Standards für eine gute Rechtfertigung sind in verschiedenen Disziplinen sehr unterschiedlich. In der klassischen Logik und Mathematik werden beispielsweise nur deduktive* Beweise* akzeptiert, während in den empirischen Wissenschaften induktive Generalisierungen oder abduktive* Schlüsse zulässig sind. Allerdings werden als Ausgangspunkt solcher Schlüsse nur Daten akzeptiert, die durch intersubjektiv* wiederholbare Experimente gesichert sind. Im Alltag sind alle möglichen Arten von Schlüssen akzeptabel und Prämissen müssen nicht experimentell abgesichert sein. Die Erkenntnistheorie interessiert sich weniger für solche disziplinären Unterschiede als für die generelle Struktur einer guten Rechtfertigung. Wenn die Struktur der Rechtfer-

307 Vgl. zu diesem Beispiel Tversky/Kahneman 1983. 308 Vgl. dazu ganz hervorragend Kahneman 2015. DOI 10.1515/9783110530278-005

208 

 5 Die Struktur der Rechtfertigung

tigung in der Erkenntnistheorie zur Diskussion steht, wird zunächst einmal auch von den jeweiligen Quellen der Rechtfertigung abstrahiert. Die formale Struktur einer guten Rechtfertigung kann bei Wissen durch Wahrnehmung, Wissen durch Introspektion* und Wissen aufgrund von rationalen Intuitionen völlig gleich aussehen. Häufig wird die generelle Struktur einer guten Rechtfertigung unter der Voraussetzung untersucht, dass die Prämissen gerechtfertigt sind. So verfahren etwa die Logik und die Argumentationstheorie. Die Erkenntnistheorie möchte dagegen strukturell aufklären, wie Rechtfertigung überhaupt möglich ist. Diese Untersuchung soll also gerade nicht voraussetzen, dass es Rechtfertigung gibt. Eine erkenntnistheoretische Erforschung der Struktur menschlicher Rechtfertigung ist also (i) normativ, (ii) generell und (iii) global und voraussetzungslos. Von Seiten der Erkenntnistheorie gibt es drei Vorschläge, die generelle und globale Struktur guter Gründe zu charakterisieren: den Fundamentalismus, die Kohärenztheorie und den Kontextualismus. Der Fundamentalismus ist die klassische Position, die eigentlich bis ins ausgehende 19.  Jahrhundert unangefochten akzeptiert wurde. Er unterscheidet zunächst rein formal zwei Typen von Überzeugungen: die basalen und die nicht-basalen Überzeugungen*. Basale Überzeugungen sind gerechtfertigt, ohne dass diese Rechtfertigung von anderen Überzeugungen (durch einen Schluss) abhängt. Basale Überzeugungen sind nicht-inferenziell* gerechtfertigt.309 Die nicht-basalen Überzeugungen sind dagegen durch einen Schluss (d. h. inferenziell) gerechtfertigt. Der Fundamentalismus besagt nun Folgendes: Der Ursprung aller Rechtfertigung liegt in den basalen Überzeugungen. Alle nicht-basalen Überzeugungen sind nur insofern gerechtfertigt, als sie auf kürzerem oder längerem Weg aus basalen Überzeugungen inferenziell abgeleitet sind. Es kursieren verschiedene Metaphern, um den erkenntnistheoretischen Fundamentalismus zu charakterisieren. Da ist zum einen das Bild von einem Haus des Wissens. Dieses Bild wird bereits durch die Rede von einem Fundament nahe gelegt. In diesem Bild beruht die Stabilität des ganzen Aufbaus (die nicht-basalen

309 Streng genommen kann man nur im abgeleiteten Sinne von basalen Überzeugungen sprechen, da in erster Linie deren Rechtfertigung basal (nicht-inferenziell) oder nicht-basal (inferenziell) ist. Typen von Überzeugungen sind immer ganz neutral gegenüber der Art ihrer Rechtfertigung. Alle nicht-inferenziell (z. B. durch Wahrnehmung) rechtfertigbaren Überzeugungen sind im Prinzip auch inferenziell (durch ein Argument) rechtfertigbar. Selbst einzelne Überzeugungen können zu einem Zeitpunkt nicht-inferenziell und zu einem anderen Zeitpunkt inferenziell gerechtfertigt sein. Im Extremfall können sie sogar zu ein und demselben Zeitpunkt inferenziell und zugleich nicht-inferenziell gerechtfertigt sein. Man spricht dann von erkenntnistheoretischer Überdeterminierung. Aus Einfachheitsgründen werde ich aber im Folgenden den gängigen Sprachgebrauch übernehmen und von basalen Überzeugungen sprechen.

5.0 Allgemeines 

 209

Überzeugungen) auf der Stabilität des Fundaments (den basalen Überzeugungen). Das Verhältnis des Fundaments zum Aufbau lässt sich durch verschiedene weitere Metaphern charakterisieren. Häufig findet man das Bild einer Pyramide.

Abb. 1

In diesem Bild könnte das unten liegende Fundament zum Beispiel durch empirische Beobachtungsprotokolle gebildet werden, von denen jeweils mehrere zusammen Aussagen über objektive physikalische Daten rechtfertigen, die ihrerseits durch einen Schluss auf die beste Erklärung eine physikalische Theorie mit axiomatischer* Struktur rechtfertigen. Die Spitze der Pyramide bildet dann das höchste Axiom der Theorie. Im Unterschied dazu steht eine Rechtfertigungstruktur, die die Form eines Baumes hat.

Abb. 2

Durch dieses Bild könnte etwa die Rechtfertigungsstruktur einer nicht-empirischen Wissenschaft (wie Logik oder Mathematik) veranschaulicht werden. Die Basis der Rechtfertigung besteht aus wenigen Axiomen, aus denen in mehreren Schritten eine ganze Menge von Theoremen* abgeleitet werden können. Für den erkenntnistheoretischen Fundamentalismus stellen sich drei zentrale Fragen: 1. Welche Überzeugungen sind basal? 2. Wie stabil sind die basalen Überzeugungen?

210 

 5 Die Struktur der Rechtfertigung

3. Wodurch bekommen die basalen Überzeugungen ihre epistemische Autorität bzw. ihre Rechtfertigung (wenn nicht dadurch, dass sie aus anderen Überzeugungen inferenziell abgeleitet werden)? Entlang möglicher Antworten auf diese Fragen kann man verschiedene Versionen des Fundamentalismus unterscheiden. Die rationalistischen Fundamentalisten sind der Auffassung, dass die basalen Überzeugungen auf einer apriorischen* Einsicht in notwendige* Wahrheiten oder erste Prinzipien beruhen. Klassische Vertreter dieser Art von Fundamentalismus waren Platon und Descartes. Empiristische Fundamentalisten sind dagegen der Auffassung, dass basale Überzeugungen durch die Sinneswahrnehmung gerechtfertigt sind. Klassische Vertreter sind die Britischen Empiristen (Locke, Berkeley und Hume) sowie Russell, Ayer und Schlick im 20. Jahrhundert. Hinsichtlich der Stabilität basaler Überzeugungen kann man starke und moderate Fundamentalisten unterscheiden. Starke Fundamentalisten wie Descartes waren der Auffassung, dass basale Überzeugungen unfehlbar und rational unanfechtbar sind. Basale Überzeugungen sind deshalb so etwas wie absolute Fixpunkte. Moderate Fundamentalisten behaupten dagegen, dass basale Überzeugungen zwar keiner weiteren positiven Begründung durch andere Überzeugungen bedürfen, dass sie aber dennoch durch Gegengründe anfechtbar und fehlbar sind. Schließlich kann man Fundamentalisten danach unterscheiden, welche Faktoren sie für die epistemische Autorität der basalen Überzeugungen verantwortlich machen. Der psychologische Fundamentalismus behauptet, dass die basalen Überzeugungen ihre Autorität dadurch bekommen, dass der Überzeugungsinhaber mit absoluter Sicherheit von ihrer Wahrheit überzeugt ist. Der externalistische Fundamentalismus macht die Zuverlässigkeit der überzeugungsbildenden Prozesse dafür verantwortlich, dass die basalen Überzeugungen gerechtfertigt sind. Der internalistische Fundamentalismus ist dagegen der Auffassung, dass die basalen Überzeugungen so beschaffen sind, dass die Wahrscheinlichkeit ihrer Wahrheit unmittelbar aus ihnen selbst heraus einleuchtet. Damit wäre die Forderung des Zugangsinternalismus erfüllt. Die Kohärenztheorie der Rechtfertigung kehrt das fundamentalistische Bild gewissermaßen um. Es gibt keine basalen Überzeugungen, denn eine Überzeugung für sich allein genommen kann nicht gerechtfertigt sein. Die Rechtfertigung jeder einzelnen Überzeugung hängt von der globalen Struktur der Beziehungen in einem ganzen System von Überzeugungen ab. Je enger und systematischer die Überzeugungen in einem solchen Überzeugungssystem miteinander zusammenhängen, desto größer ist der Grad an Rechtfertigung dieses Systems und damit aller einzelnen Elemente des Systems. Der erkenntnistheoretische Status des Gesamtsystems ist damit gegenüber dem Status jeder einzelnen Überzeugung vorrangig. Daraus ergeben sich interessante Konsequenzen für die Dynamik von Überzeu-

5.0 Allgemeines 

 211

gungssystemen. Während der traditionelle Fundamentalist davon ausgeht, dass basale Überzeugungen ihrerseits nicht mehr anfechtbar und revidierbar sind, gibt es in der Kohärenztheorie keine Überzeugungen, die von der Möglichkeit der Anfechtung und Revision prinzipiell ausgenommen sind. Jede beliebige Überzeugung kann (gerechtfertigt) revidiert werden, wenn dadurch der Zusammenhang des Gesamtsystems verbessert wird. Diese Eigentümlichkeit wird durch das Bild eines Schiffes oder Floßes des Wissens, das der führende Kohärenztheoretiker des Wiener Kreises, Otto Neurath, für seine Theorie gewählt hat und das W. V. O. Quine seinem Hauptwerk Wort und Gegenstand als Motto vorangestellt hat, sehr gut veranschaulicht. Die Schwimmfähigkeit eines Floßes hängt von keinem einzelnen Baumstamm ab. Während der Fahrt können wir beliebige Stämme im Floß auswechseln und so sogar dessen Schwimmfähigkeit noch verbessern. Nimmt man dagegen einen Grundstein im Fundament heraus, dann bricht das ganze Haus zusammen. Die klassischen Vertreter der Kohärenztheorie (Neurath, Quine, Sellars) haben darin eine besondere Tugend ihrer Theorie gesehen, dass sie der uneingeschränkten Fehlbarkeit und Revidierbarkeit von Überzeugungen im Lichte neuer Informationen Rechnung tragen kann. Der Kontextualismus der Rechtfertigung ist, rein formal betrachtet, ein Fundamentalismus.310 Auch der Kontextualist unterscheidet zwischen basalen und nicht-basalen Überzeugungen. Was allerdings inferenziell begründet werden muss (nicht-basale Überzeugungen) und was keiner inferenziellen Begründung bedarf, hängt dem Kontextualismus zufolge vom Kontext des Gesprächs oder dem Kontext der Untersuchung ab. In verschiedenen Kontexten kann also ein und derselbe Überzeugungstyp einmal basal, ein anderes Mal nicht-basal sein. Wie kann man diese Kontextrelativität genauer verstehen? In einer Gesprächssituation gibt es Dinge, die strittig sind, und andere Dinge, die von allen Gesprächsteilnehmern akzeptiert werden. Der Kontextualismus nimmt nun an, dass unstrittige Überzeugungen solange (vorläufig) gerechtfertigt sind, bis einer der Gesprächsteilnehmer plausible Gründe gegen die Wahrheit dieser Überzeugungen anführt. Unstrittige Überzeugungen und Ansichten genießen einen so genannten default-Status. Sie gelten als erkenntnistheoretisch akzeptabel, solange nichts gegen sie spricht. Es ist offensichtlich, dass dieser default-Status relativ zur Gesprächssituation ist. Eine andere Form von Kontextualismus, die vor allem vom späten Wittgenstein vertreten wurde, besagt, dass jeder Kontext der Untersuchung eigene Voraussetzungen (methodologische Präsuppositionen) mitbringt, die in diesem Kontext der Untersuchung stets begründungsunbedürftig (und damit basal) sind. Im Kontext der Geschichtswissenschaft macht es einfach keinen Sinn zu untersuchen, ob

310 Vgl. in diesem Sinne auch Williams 2001, S. 164 f.

212 

 5 Die Struktur der Rechtfertigung

die Erde länger als fünf Minuten existiert und wir möglicherweise kollektiv einer Erinnerungstäuschung unterliegen. Obwohl die Wahrheit dieser Annahme von jeder geschichtswissenschaftlichen Untersuchung vorausgesetzt wird, ist sie innerhalb der Geschichtswissenschaft nicht eigens begründungsbedürftig. Wenn man, wie Wittgenstein, zusätzlich davon ausgeht, dass Kontexte der Untersuchung autonom sind und nicht von anderen Untersuchungskontexten abhängen, dann bestimmt jeder Untersuchungskontext für sich alleine darüber, welche Überzeugungen basal und welche nicht-basal sind.

5.1 Der klassische Fundamentalismus Traditionell haben Fundamentalisten angenommen, dass das Fundament aller Rechtfertigung aus unfehlbaren und unanfechtbaren Überzeugungen besteht. Und sie haben außerdem angenommen, dass diese basalen Überzeugungen so beschaffen sind, dass sie selbst einen Grund für die Einsicht in ihre Wahrheit liefern. Eine solche Kombination aus starkem und internalistischem Fundamentalismus möchte ich als klassischen Fundamentalismus bezeichnen. Descartes ist in seinem Hauptwerk Meditationen ein paradigmatischer Vertreter des klassischen Fundamentalismus gewesen. In der Gegenwart kommt Laurence BonJour dieser Position zumindest nahe.311 Das Hauptargument* für den klassischen Fundamentalismus besteht darin, dass er verspricht, das Regressproblem der Rechtfertigung zu lösen. Das Regressproblem der Rechtfertigung wurde bereits in der Antike formuliert. Es geht wohl auf Aristoteles und in seiner ausgereiften Form auf den akademischen Skeptiker Agrippa zurück.312 Es wird auch als Agrippas Trilemma* oder – in der gegenwärtigen Diskussion – als Münchhausen-Trilemma313 bezeichnet. Das Regressproblem wirft ein prinzipielles Problem für die Möglichkeit der Rechtfertigung auf: Nehmen wir an, wir wollten die Überzeugung A rechtfertigen. Wir können das mit Hilfe einer zweiten Überzeugung B tun, wenn wir A aus B inferenziell erschließen können. Doch nun stellt sich die Frage, wodurch B gerechtfertigt ist. (i) Entweder rechtfertigen wir B durch C, C durch D und immer so weiter. Dann ergibt sich ein unendlicher Regress. Diese erste Option gibt dem Regressproblem seinen Namen. (ii) Oder wir rechtfertigen B, den Grund für A, wieder

311 Bonjour 1999 und BonJour 2002. 312 Aristoteles 1993, Buch I, Kap. 2–3; vgl. zu Agrippas Trilemma die fünf Tropen in Empiricus 1968, I, §§ 164–177. 313 Albert 1991, S. 15.



5.1 Der klassische Fundamentalismus 

 213

durch A selbst, dann entsteht ein Rechtfertigungszirkel. Der Grund für etwas wird selbst durch das, wofür er Grund ist, gerechtfertigt. (iii) Oder wir rechtfertigen B, unseren Grund für A, durch keine weitere Überzeugung, sondern brechen die Kette der inferenziellen Begründungen bei B einfach ab. Dann kommt es zum Abbruch der inferenziellen Begründungen. Agrippa war nun der Auffassung, dass alle drei möglichen Optionen keine akzeptablen Optionen sind. Weder durch einen Regress noch durch einen Zirkel noch durch einen Abbruch der Begründung kann man wirklich irgendetwas rechtfertigen. Deswegen handelt es sich um ein Trilemma*. Alle drei möglichen Wege sind inakzeptabel. Was ist an dem unendlichen Regress auszusetzen? Aristoteles hat dagegen eingewandt, dass es in einer unendlichen Kette von Gründen keinen ersten Grund gibt.314 Wenn es jedoch keinen ersten Grund gibt, dann könne man mit der Begründung gar nicht anfangen. Dieser Einwand ist jedoch nicht sehr stark. Aristoteles setzt dabei einfach voraus, dass man den Grund vor dem Begründeten angeben können muss. Aber warum sollte man nicht einfach in der Kette der Begründung vom Begründeten zum jeweiligen Grund zurückgehen? In diesem Fall wäre ein erster Grund verzichtbar. Aber es gibt bessere Einwände gegen den infiniten Regress. Erstens leistet ein Schluss von Prämissen auf eine Konklusion immer nur den Transfer der Rechtfertigung von den Prämissen auf die Konklusion. Die inferenzielle Beziehung erzeugt selbst keine Rechtfertigung. Wenn wir nun eine unendlich lange Begründungskette haben, dann würde die Überzeugung am Ende (in dem Beispiel A) nur dann gerechtfertigt sein, wenn irgendwo auch Rechtfertigung generiert würde. Ein unendlich langer Transfer alleine erzeugt jedoch keine Rechtfertigung. Man kann sich das anhand des folgenden Bildes veranschaulichen: Eine Wasserleitung kann so lang sein, wie sie will (im Grenzfall eben auch unendlich lang), sie wird nur dann Wasser führen, wenn irgendwo Wasser eingeleitet wird. Ohne Zufluss bleibt die Leitung trocken, egal wie lang sie ist. Zweitens lässt sich durch einen unendlichen Regress jede Aussage und ihre Negation rechtfertigen. Damit wird die Rechtfertigung arbiträr. Wenn alles gerechtfertigt ist, dann verliert die Rechtfertigung jedoch ihre diskriminierende Kraft. Sie kann nicht mehr bestimmte Aussagen vor anderen als erkenntnistheoretisch akzeptabel auszeichnen. Dass sich durch einen unendlichen Regress jede Aussage und ihre Negation rechtfertigen lässt, zeigt folgendes Beispiel: ‚p‘ ist wahr, wenn ‚p und q‘ wahr ist, ‚p und q‘ ist wahr, wenn ‚p und q und r‘ wahr ist usw. Andererseits ist ‚p‘ falsch, wenn sowohl ‚p‘ als auch ‚q‘ falsch sind; sowohl ‚p‘ als auch ‚q‘ sind falsch, wenn sowohl ‚p‘ als auch ‚q‘ als auch ‚r‘ falsch sind usw. Für „‚p‘ ist wahr“ und für „‚p‘ ist falsch“ lässt sich also jeweils eine regressive

314 Aristoteles 1993, Kap. 3, 72b9–15.

214 

 5 Die Struktur der Rechtfertigung

Begründungskette konstruieren. Drittens ist nicht klar, wie ein rein inferenzieller Zusammenhang zwischen Überzeugungen einen Zusammenhang mit der Wahrheit herstellen kann. Ein solcher Wahrheitszusammenhang wird jedoch, wie wir gesehen haben, durch den Begriff* der erkenntnistheoretischen Rechtfertigung gefordert. Warum ist auch eine zirkuläre* Rechtfertigung nicht akzeptabel? Aristoteles war der Auffassung, dass ein Rechtfertigungszirkel ein Grundprinzip der Begründungsrelation verletzt  – das Prinzip der epistemischen Asymmetrie.315 Dieses Prinzip besagt, dass wenn B ein Grund für A ist, A kein Grund für B sein darf. Dieses Prinzip schließt enge Zirkel, in denen B ein Grund für A und A ein Grund für B ist, direkt aus. Es ist aber nicht so klar, dass durch dieses Prinzip auch weite Zirkel ausgeschlossen werden.

Abb. 3

In diesem Beispiel ist F der Grund für A. Aber A wäre auch der Grund für F, wenn die Begründungsrelation transitiv ist. Transitiv wäre die Relation, wenn daraus, dass A ein Grund für B, B ein Grund für C, C ein Grund für D, D ein Grund für E und E ein Grund für F ist, folgen würde, dass A ein Grund für F ist. In deduktiven Begründungsketten gilt diese Transitivität. Sobald man jedoch Begründungen zulässt, in denen die Prämisse die Konklusion nur (zu einem bestimmten Grad) wahrscheinlich macht, ist die Transitivität über lange Ketten hinweg nicht mehr sicher. Nehmen wir an, dass jeder Vorgänger in der obigen Begründungskette seinen Nachfolger hinreichend* wahrscheinlich macht, um ihn zu rechtfertigen. Nehmen wir ferner an, dass dafür die bedingte Wahrscheinlichkeit* größer

315 Aristoteles 1993, Kap. 3, 72b25–32.



5.1 Der klassische Fundamentalismus 

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als 0.6 sein muss. Die folgenden bedingten Wahrscheinlichkeiten sollen gelten: W(B|A) = 0.8; W(C|B) = 0.7; W(D|C) = 0.7; W(E|D) = 0.8; W(F|E) = 0.9. Die bedingte Wahrscheinlichkeit von F relativ zu A beträgt demnach 0.28224. Diese Zahl ist das Produkt aller bedingten Wahrscheinlichkeiten. Da diese Zahl 0.6 unterschreitet, kann A kein guter Grund für F sein. Das Beispiel zeigt, dass in weiten Zirkeln probabilistischer Inferenzen die Transitivität verletzt sein kann und deshalb die epistemische Asymmetrie nicht verletzt sein muss. Aristoteles’ Einwand lässt sich also nicht auf alle Rechtfertigungszirkel anwenden. Gegen Rechtfertigungszirkel lassen sich jedoch die gleichen Einwände vorbringen wie gegen den unendlichen Regress. Erstens sieht man nicht, wie ein inferenzieller Zirkel irgendeine Rechtfertigung erzeugen kann. Auch ein Kreislauf wird solange kein Wasser führen, bis irgendwo Wasser eingeleitet wird. Zweitens lassen sich auch zu jeder Aussage und ihrer Negation zirkuläre Begründungen konstruieren. Auch der Zirkel führt also zu einer Arbitrarität der Rechtfertigung. Schließlich kann drittens ein rein inferenzieller Zusammenhang wie der Rechtfertigungszirkel nicht den für die Rechtfertigung erforderlichen Zusammenhang mit der Wahrheit herstellen. Aristoteles hat aus den Problemen des Begründungsregresses und -zirkels den Schluss gezogen, dass es Überzeugungen geben muss, die nicht-inferenziell gerechtfertigt sind. Dass an irgendeiner Stelle Überzeugungen nicht mehr weiter durch Inferenz gerechtfertigt sind, heißt ja nicht automatisch, dass sie gar nicht gerechtfertigt sind. Der Abbruch inferenzieller Rechtfertigung bedeutet nicht den Verzicht auf jegliche Form der Rechtfertigung. Insofern ist für Aristoteles nicht jeder Abbruch einer inferenziellen Rechtfertigung dogmatisch*, sondern er kann auch erkenntnistheoretisch legitim sein, wenn an die Stelle einer inferenziellen eine nicht-inferenzielle Rechtfertigung tritt. Man muss also zwei Arten des Abbruchs unterscheiden: einen dogmatischen Abbruch mit einer ungerechtfertigten Überzeugung und einen legitimen Abbruch mit einer Überzeugung, die nicht inferenziell, aber auf eine andere Art gerechtfertigt ist. Doch wie könnten solche nicht-inferenziellen Rechtfertigungen von Überzeugungen aussehen? Eine Möglichkeit wäre, die Überzeugungen durch die subjektive Stärke des Überzeugtseins autorisiert zu sehen. Doch warum sollte die subjektive Glaubensstärke eine Überzeugung erkenntnistheoretisch rechtfertigen? Wer diese Möglichkeit wählt, entscheidet sich für einen unplausiblen Dogmatismus. Eine andere Möglichkeit bestünde darin, Überzeugungen auch dann als gerechtfertigt anzusehen, wenn sie durch einen objektiv zuverlässigen Prozess gebildet werden. Doch hier protestiert der Zugangsinternalist. Aus seiner Perspektive kann ein solcher objektiv zuverlässiger Prozess allein eine Überzeugung nicht rechtfertigen, solange aus der Perspektive des Subjekts nichts für die Wahrheit dieser Überzeugung spricht. Es gibt jedoch noch eine dritte Möglich-

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 5 Die Struktur der Rechtfertigung

keit: Man kann als Gründe solche introspektiv zugänglichen mentalen Zustände zulassen, die nicht überzeugungsartig sind: Sinneserfahrungen, Intuitionen oder Erinnerungserlebnisse. Doch auch hier protestiert der Zugangsinternalist wieder. Als rechtfertigender Grund kann etwas nur gelten, wenn es aus der Perspektive des Subjekts die Wahrheit einer fraglichen Überzeugung wahrscheinlich macht. Sinneserfahrungen, Intuitionen oder Erinnerungserlebnisse machen aber aus der Perspektive des Subjekts nur dann die Wahrheit von Überzeugungen über die Außenwelt, notwendige Tatsachen oder die Vergangenheit wahrscheinlich, wenn wir zusätzlich die gerechtfertigte Überzeugung haben, dass die Sinneserfahrung, Intuition oder Erinnerung zuverlässig ist. Wir haben es also gar nicht mit einem legitimen Schlusspunkt der inferenziellen Rechtfertigung zu tun, sondern die Kette der Begründungen müsste weiterlaufen. Mit anderen Worten: Aus internalistischer Perspektive ist die Option der nicht-inferenziellen Rechtfertigung zunächst einmal ziemlich unplausibel. Auch der undogmatische Abbruch scheidet also als Ausweg aus. Das Regressproblem stellt demnach ein echtes Trilemma dar. Der klassische Fundamentalismus lässt sich nun als Versuch einer Antwort auf dieses internalistisch verschärfte Regressproblem verstehen. Der klassische Fundamentalist insistiert darauf, dass es Überzeugungen gibt, die aus internalistischer Perspektive nicht-inferenziell gerechtfertigt sind. Diese basalen Überzeugungen müssen so beschaffen sein, dass sie selbst einen Grund für die Wahrscheinlichkeit ihrer eigenen Wahrheit liefern. Jeder, der diese Überzeugungen hat, muss ohne weitere Hintergrundannahmen erfassen können, dass sie wahrscheinlich wahr sind. Es muss sich also um Gründe handeln, die sich aus der Perspektive des Subjekts selbst autorisieren. Alle Vertreter des klassischen Fundamentalismus kommen darin überein, dass nur introspektive Überzeugungen über gegenwärtige eigene mentale Erlebnisse sowie Überzeugungen aufgrund rationaler Intuition diesen besonderen Status haben können. Der Nachweis, dass es solche basalen Überzeugungen gibt, wirft das so genannte Basisproblem des Fundamentalismus auf. Descartes schlägt folgendes Kriterium* für basale Überzeugungen vor: Basal sind die Überzeugungen, von denen sich zeigen lässt, dass sie prinzipiell unbezweifelbar sind. Die Unbezweifelbarkeit von Überzeugungen wird dabei nicht als eine psychologische Eigenschaft verstanden (wir sind einfach von etwas so felsenfest überzeugt, dass wir nicht an ihm zweifeln können), sondern als rationale Unbezweifelbarkeit (es kann prinzipiell keine rationalen Gründe geben, an der fraglichen Überzeugung zu zweifeln). Wenn es Überzeugungen gibt, von denen sich nicht einmal vorstellen lässt, dass sie falsch sind, dann bedürfen sie keiner positiven Begründung mehr, um gerechtfertigt zu sein. In seinen Meditationen formuliert Descartes die stärkstmögliche skeptische Hypothese*: ein denkmögli-



5.1 Der klassische Fundamentalismus 

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ches Szenario, das mit unseren tatsächlichen Gründen verträglich ist, diese aber kausal so erklärt, dass unsere auf diese Gründe gestützten Überzeugungen alle falsch sind. Descartes verwendet dazu die sogenannte Dämonhypothese. Danach simuliert ein betrügerischer Dämon unsere Erlebniswelt derart, dass wir ausschließlich falsche Überzeugungen über die Welt haben, ohne es je bemerken zu können. Gibt es Überzeugungen, die resistent gegen solche skeptischen Hypothesen sind? Für solche Überzeugungen dürften keine skeptischen Hypothesen formulierbar sein, denen zufolge diese Überzeugungen falsch wären. Wenn es Überzeugungen gibt, die in diesem Sinne skepsisresistent sind, dann wären dies die gesuchten basalen Überzeugungen. Descartes ist der Auffassung, dass der Glaube an die eigene Existenz, introspektive Überzeugungen im Allgemeinen sowie Überzeugungen, die sich auf rationale Intuition stützen, skepsisresistent sind. Das berühmte Cogito-Argument in der 2. Meditation soll die rationale Unbezweifelbarkeit der eigenen Existenz zeigen. Hier zunächst die entscheidende Passage: Indessen, ich habe mir eingeredet, dass es schlechterdings nichts in der Welt gibt: keinen Himmel, keine Erde, keine denkenden Wesen, keine Körper, also doch auch wohl mich selbst nicht? – Keineswegs, sicherlich war ich, wenn ich mir etwas eingeredet habe. – Aber es gibt einen, ich weiß nicht welchen, allmächtigen und höchst verschlagenen Betrüger, der mich geflissentlich stets täuscht. – Nun, wenn er mich täuscht, so ist es unzweifelhaft, dass ich bin. Er täusche mich, soviel er kann, niemals wird er es doch fertig bringen, dass ich nichts bin, solange ich denke, dass ich etwas sei. Und so komme ich, nachdem ich nun alles mehr als genug hin und her erwogen habe, schließlich zu der Feststellung, dass dieser Satz: ‚Ich bin, ich existiere‘, sooft ich ihn ausspreche oder in Gedanken fasse, notwendig wahr ist.316

Descartes behauptet hier nicht, dass der Denker der Meditationen (stellvertretend für jeden mündigen Leser der Meditationen) notwendig existiert. Selbstverständlich hätte Descartes auch nicht existieren können, wenn seine Eltern ihn nicht gezeugt hätten. Menschen existieren stets kontingenterweise*. Descartes behauptet hier nur eine konditionale Notwendigkeit: Es ist notwendigerweise wahr, dass, wenn jemand einen Gedanken vollzieht oder ausspricht, dieser Denker auch existiert. Und diese Behauptung ist vollkommen damit verträglich, dass dieser Denker auch nicht hätte existieren können. Dann wäre eben auch kein Gedanke von ihm gedacht oder ausgesprochen worden.

316 Descartes 1992, AT VII 24 f.

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 5 Die Struktur der Rechtfertigung

Nach der Standardinterpretation, die Descartes sich in seinen Prinzipien auch explizit zu eigen macht, besteht das Cogito-Argument aus einem Schluss der folgenden Form: (1) (2)

Ich denke. Alles, was denkt, existiert.

Also: Ich existiere. Auch der Anfang der zitierten Textstelle legt dieses Argument durchaus nahe. Dort sagt Descartes ja: „Ich habe mir eingeredet, dass …“, und fährt dann fort „sicherlich war ich, wenn ich mir etwas eingeredet habe“. Hier muss man nur berücksichtigen, dass Descartes das Prädikat „denken“ (cogitare) in einem sehr weiten Sinne versteht, so dass es sich auf alle intentionalen* Zustände bezieht; und dazu zählt sicher auch das Sich-etwas-einreden. Außerdem wird die Prämisse (2) nicht explizit genannt. Es handelt sich um einen so genannten enthymematischen* Schluss mit einer unterdrückten Prämisse. Die Standardinterpretation des Cogito-Arguments ist jedoch unhaltbar. Erstens ist bereits aus der Textstelle selbst ersichtlich, dass Descartes diese Form des Arguments ablehnt, denn er stellt sich ja selbst den Einwand, dass dieses Argument nicht gegen die skeptische Hypothese resistent ist: „Aber es gibt einen (…) allmächtigen und höchst verschlagenen Betrüger, der mich geflissentlich stets täuscht.“ Zweitens ist dieses Argument auch sachlich gesehen nicht skepsisresistent, denn die Wahrheit seiner Prämissen lässt sich bezweifeln. Die zweite Prämisse drückt zwar eine logische Wahrheit der klassischen Prädikatenlogik aus: Wenn etwas ein Prädikat erfüllt, dann gibt es etwas, das dieses Prädikat erfüllt.317 Aber wenn man die Prämisse (2) so interpretiert, dann könnte der Skeptiker die Prämisse (1) bezweifeln. Wodurch ist die Annahme gerechtfertigt, dass ich denke? Und warum muss Denken als ein Prädikat verstanden werden, das nicht ohne einen Träger auskommt? Drittens aber könnte so niemals gezeigt werden, dass die Überzeugung „Ich bin, ich existiere“ basal ist, denn basale Überzeugungen sollen ja gerade nicht durch eine Inferenz gerechtfertigt sein. Hintikka hat in den sechziger Jahren eine nicht-inferenzielle Interpretation des Cogito-Arguments vorgeschlagen: die performative Interpretation.318 Hintikkas Grundgedanke besteht darin, dass es offenbar Sätze (und Gedanken) gibt, die sich selbst verifizieren bzw. widerlegen. Betrachten wir den Satz „Thomas Grund-

317 (P) (Pa → ƎxPx). 318 Hintikka 1962.



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mann spricht kein Deutsch“. Der von diesem Satz ausgedrückte Inhalt könnte wahr sein, wenn ich kein Deutscher wäre oder wenn ich durch einen Schlaganfall meiner Sprachfähigkeit beraubt worden wäre. Jemand anderes als ich würde etwas Wahres sagen, wenn diese Umstände eingetreten wären. Aber wenn ich selbst sage „Thomas Grundmann spricht kein Deutsch“, dann stellt sich ein Widerspruch zwischen der sprachlichen Äußerung dieses Satzes und seinem Inhalt ein. Schließlich handelt es sich ja um eine deutsche Äußerung. Widersprüche zwischen dem Äußerungsakt (oder dem Denkakt) und dem Inhalt der Äußerung (bzw. des Gedankens) nennt Hintikka „performative Widersprüche“. Es sind Widersprüche, die sich zwischen der Performanz der Äußerung (oder des Denkens) und dem Inhalt einstellen. Diesen Grundgedanken wendet Hintikka nun auf die Interpretation des Cogito-Arguments an. Er bestreitet, dass es sich um einen Schluss vom Denken auf die eigene Existenz handelt, wie die Standardinterpretation unterstellt. Vielmehr sei der Gedanke „Ich bin, ich existiere“ ein Gedanke, der sich selbst verifiziert. Seine Negation „Ich bin nicht, ich existiere nicht“ soll sich dagegen selbst widerlegen. Warum ist das so? Ganz einfach, weil dieser Gedanke das Produkt einer subjektiven Denktätigkeit ist, zu deren Existenzbedingung die Existenz eines denkenden Subjekts gehört. Das Denken des Gedankens „Ich bin, ich existiere“ verifiziert deshalb den Inhalt dieses Gedankens; und das Denken des Gedankens „Ich bin nicht, ich existiere nicht“ widerlegt performativ den Inhalt dieses Gedankens. Hintikka glaubt, dass diese Interpretation auch Descartes’ Intention sehr gut trifft. Schließlich drücke Descartes ja so etwas wie den selbst-verifizierenden Charakter des Gedankens „Ich bin, ich existiere“ aus wenn er sagt, „dieser Satz: ‚Ich bin, ich existiere‘ (ist), sooft ich ihn ausspreche oder in Gedanken fasse, notwenig wahr (…).“ Die performative Interpretation des Cogito-Arguments ist jedoch weder eine gute Interpretation der Textstelle noch kann sie ein sachlich überzeugendes Argument präsentieren. Die Interpretation ist unangemessen, weil der zitierte Satz nicht den Angelpunkt in Descartes’ Argumentation erfasst, sondern nur die Konklusion aus einer vorangehenden Argumentation ist, die Hintikka ganz unterschlägt. Das sachliche Problem ist folgendes: Es ist vermutlich richtig, dass zwischen dem Denken und dem Inhalt des Gedankens „Ich bin nicht, ich existiere nicht“ ein performativer Widerspruch besteht. Aber das kann nicht erklären, warum die entsprechende Überzeugung basal ist. Schließlich erkennen wir den Widerspruch erst, sobald wir erkennen, dass Gedanken nur aufgrund der Denktätigkeit von Denkern existieren können. Dazu brauchen wir jedoch eine Theorie des Denkens oder wir müssen schlicht und einfach Selbstwissen über unsere eigenen Gedanken voraussetzen. Doch dann ist die Überzeugung „Ich bin, ich existiere“ nicht basal. Ihre Rechtfertigung hängt von weiteren Prämissen ab, die ihrerseits gerechtfertigt werden müssen.

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 5 Die Struktur der Rechtfertigung

Neben der Standardinterpretation und der performativen Interpretation gibt es jedoch noch eine dritte Interpretation des Cogito-Arguments: die sinnkritische Interpretation.319 Ihr Grundgedanke ist der folgende: Notwendige inhaltliche Elemente jeder skeptischen Hypothese können durch keine skeptische Hypothese mehr rational bezweifelt werden, denn würde man sie bezweifeln, dann gäbe es einen inhaltlich-semantischen Widerspruch in der skeptischen Hypothese. Widersprüchliche skeptische Hypothesen können jedoch sicher keinen rationalen Grund zum Zweifel liefern. Doch gibt es notwendige inhaltliche Elemente (Sinnbedingungen) jeder skeptischen Hypothese? Descartes gibt an der oben zitierten Textstelle einen deutlichen Hinweis, wenn er sagt: „Nun, wenn er [der böse Dämon] mich täuscht, so ist es unbezweifelbar, dass ich bin.“ Jede skeptische Täuschungshypothese muss so formuliert sein, dass die Täuschung Teil ihres Inhalts ist. Doch Täuschung ohne falsche Gedanken und ohne jemanden, der getäuscht wird, ist nicht möglich. Wenn das richtig ist, dann lässt sich meine eigene Existenz durch keine skeptische Hypothese rational in Frage stellen. Das reicht aus, um die rationale Unbezweifelbarkeit der eigenen Existenz sicher zu stellen.320 Descartes hat also insofern Recht, als es mindestens eine basale Überzeugung gibt – die Überzeugung, dass man selbst existiert. Allerdings ist diese Basis absolut minimal, denn sie sagt nichts darüber aus, wie ich beschaffen bin oder gar wie lange ich existiere. Eine solche Basis reicht nicht aus, um Wissen über die Welt aufzubauen. Deshalb versucht Descartes zudem auch die Unbezweifelbarkeit unserer introspektiven Überzeugungen darüber, was wir gerade empfinden, wollen, erleben und glauben, sicherzustellen. In der 2. Meditation heißt es dazu: Ich sehe doch offenbar jetzt das Licht, ich höre das Geräusch, fühle die Wärme; aber nein – das ist falsch, denn ich schlafe ja. Aber es scheint mir doch, als ob ich sähe, hörte, Wärme fühlte, das kann nicht falsch sein, das eigentlich ist es, was an mir Empfinden genannt wird, und dies, genau so verstanden, ist nicht anderes als Bewusstsein.321

Descartes bestimmt hier das Bewusstsein als dasjenige, worüber Überzeugungen nicht mehr fehlerhaft sein können. Deshalb schließt er alle faktiven mentalen Zustände aus, die nur dann vorliegen können, wenn es in der Welt etwas gibt, worauf sie sich beziehen. Wahrnehmen kann ich nur, wenn es etwas gibt, das ich wahrnehme. Bewusstseinszustände schließen dagegen die Existenz der Objekte,

319 Vgl. Grundmann 2005. 320 Genau genommen handelt es sich hier sogar um zwei basale Überzeugungen, nämlich „Ich existiere“ und „Es gibt einen Gedanken“. 321 Descartes 1992, AT VII 29.



5.1 Der klassische Fundamentalismus 

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auf die sie sich beziehen, nicht ein. Überzeugungen über solche weltunabhängigen Zustände können nach Descartes nicht falsch sein. Ich kann mich also nicht täuschen, wenn ich glaube, dass ich gerade Schmerzen empfinde oder dass ich ein intensives Karminrot erlebe oder dass ich gerade den Gedanken denke, dass die Introspektion unfehlbar ist. Introspektive Urteile über Bewusstseinszustände sind für Descartes unfehlbar und rational nicht bezweifelbar. Sie wären deshalb gute Kandidaten für basale Überzeugungen. Warum introspektive Überzeugungen jedoch unfehlbar und unbezweifelbar sind, dafür findet sich bei Descartes kein explizites Argument. Allerdings fällt es nicht schwer, ein solches Argument im Sinne von Descartes zu formulieren: Ein böser Dämon kann mich über objektive Tatsachen in der Außenwelt täuschen, indem er in mir durch die Simulation meiner Erfahrung falsche Überzeugungen über die Außenwelt hervorruft. Dasselbe gelingt ihm jedoch nicht mit Bezug auf meine gegenwärtigen Erfahrungen und phänomenalen Erlebnisse. Wenn der Dämon in mir nämlich falsche Überzeugungen über meine Bewusstseinstatsachen hervorbringen würde, dann würde ich das sofort bemerken, weil mir die Bewusstseinstatsachen eben bewusst sind, und zwar unabhängig von meinen introspektiven Überzeugungen über sie.322 Dieses Argument ist jedoch problematisch. Dass Zustände bewusst sind, impliziert nämlich nicht, dass wir fehlerhafte Überzeugungen über sie sofort bemerken. Es gibt viele Alltagssituationen, in denen wir bewusste Erlebnisse haben, ohne sie zu bemerken. Stellen Sie sich vor, Sie sind in ein interessantes philosophisches Gespräch verwickelt, das alle Ihre Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt. Den intensiven Lärm des Presslufthammers oder der Dampframme einer Straßenbaukolonne im Hintergrund registrieren Sie nicht. Sie haben zumindest keine explizite Überzeugung darüber, dass es diesen Lärm im Hintergrund gibt. Sobald Sie jedoch auf diesen Hintergrundslärm aufmerksam werden, ist Ihnen klar, dass Sie diesen Lärm bereits die ganze Zeit über phänomenal erlebt haben. Es kann also phänomenale Erlebnisse geben, die wir nicht explizit bemerken, solange wir nicht auf sie aufmerksam sind. Sobald man jedoch einräumt, dass es einen Unterschied gibt zwischen dem, was man phänomenal erlebt, und dem, was man bemerkt, kann man die folgende skeptische Hypothese konstruieren: Ein böser Dämon könnte unsere Aufmerksamkeit systematisch von unserem bewussten Erleben ablenken, so dass wir nicht bemerken würden, dass unsere introspektiven Überzeugungen über unser bewusstes Erleben radikal falsch sind. Descartes’ Behauptung, dass unsere introspektiven Überzeugungen rational unbezweifelbar sind, ist also nicht richtig.

322 Vgl. zu dieser Interpretation von Descartes BonJour 2002, Kap. 2.

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Schlimmer noch, unsere introspektiven Überzeugungen über unsere gegenwärtigen phänomenalen Erlebnisse und Gedanken sind manchmal tatsächlich falsch. Ein Beispiel: In amerikanischen Burschenschaften gibt es mitunter recht martialische Gepflogenheiten. Dazu gehört etwa der Brauch, Neulingen mit einem Brandeisen die griechische Initiale der Burschenschaft auf den Po einzubrennen. Ein solcher Neuling erwartet die Prozedur, lässt seine Hosen herunter und sieht das glühende Eisen. Tatsächlich wird er aber, ohne dass er es sehen kann, nur mit einem eiskalten Metallstab berührt. Hinterher berichtet er, dass er für einige Sekunden eine fürchterliche Hitze gespürt habe. Die Erwartung beeinflusst also auch die introspektiven Urteile.323 Ein anderes Beispiel: Ein Vater hat den ehrlichen Eindruck, dass er seine beiden Töchter gleich gerne mag. In einem Wettbewerb schneiden beide gleich gut ab, aber der Vater ist enttäuscht darüber, dass die eine Tochter nicht gewonnen hat. Das ist ein Indiz dafür, dass sein introspektives Urteil über sein Gefühl falsch gewesen ist. Ähnliche Beispiele lassen sich für alle möglichen Arten von introspektiven Überzeugungen finden. Deshalb erfüllen introspektive Überzeugungen nicht Descartes’ Kriterium der Basalität. Descartes gelingt es also nicht, den internalistischen Regress zu stoppen. Er kann introspektive Überzeugungen nicht als basal auszeichnen, da sie sein Kriterium der rationalen Unbezweifelbarkeit nicht erfüllen. Dieses Kriterium wird nur von einer einzigen Überzeugung erfüllt, nämlich derjenigen, dass wir jetzt gerade als Denker eines Gedankens existieren. Aber diese Überzeugung reicht als alleinige Basis unserer gerechtfertigten Überzeugungen natürlich nicht aus. Gemessen an Descartes’ Kriterium für basale Überzeugungen, läuft der Fundamentalismus also auf einen weitgehenden Skeptizismus hinaus.

5.2 Neoklassischer Fundamentalismus In der gegenwärtigen Erkenntnistheorie wird die Idee des klassischen Fundamentalismus vor allem von dem amerikanischen Philosophen Laurence BonJour aufgegriffen und weiterentwickelt. Er hält daran fest, dass es Gründe gibt, die auch aus internalistischer Perspektive keiner weiteren inferenziellen Begründung bedürfen. Bei diesen Gründen handelt es sich nach BonJour jedoch nicht um basale Überzeugungen, sondern um nicht-doxastische kognitive Zustände, die er in Abhebung von den basalen Überzeugungen „epistemisch autonom“ nennt. BonJour denkt dabei an bewusste Erfahrungen und rationale Einsichten. Im Unterschied zu Descartes sind die durch diese epistemisch autonomen Gründe

323 Vgl. Pojman 1995, S. 93.



5.2 Neoklassischer Fundamentalismus 

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gerechtfertigten Überzeugungen aber stets fehlbar. Und epistemisch autonome Gründe sind auch nicht skepsisresistent. Doch wie soll dann der internalistische Rechtfertigungsregress bei diesen Zuständen stoppen? Die Grundidee ist, dass es kognitive Zustände gibt, die für ihre eigene Wahrheit sprechen und deshalb keiner unabhängigen Begründung mehr bedürfen. Ein naheliegendes Beispiel sind selbstevidente Gedanken. Betrachten Sie etwa den Gedanken „Nichts kann zugleich vollständig rot und grün sein“. Sobald Sie diesen Gedanken verstehen und sorgfältig erwogen haben, können Sie nicht umhin zu erfassen, dass er wahr, ja sogar notwendig wahr ist. Eine Situation, in der dieser Gedanke falsch sein könnte, ist nicht vorstellbar. Das Verstehen dieses Gedankens gibt Ihnen unmittelbar einen Grund, den Gedanken für wahr zu halten. Ein solcher Grund ist vollkommen erfahrungsunabhängig und deshalb a priori*. BonJour spricht auch von einer „rationalen Einsicht“ oder „rationalen Intuition“. Solche rationalen Intuitionen müssen nicht als unfehlbar verstanden werden. Sind selbst-evidente Gedanken Gründe, die sich selbst begründen? BonJour ist genau dieser Auffassung: Da diese Rechtfertigung oder dieser Grund anscheinend von nichts weiter abhängt als dem Verstehen des propositionalen Gehalts selbst, kann man eine Proposition, deren Notwendigkeit auf diese Weise erfasst wird (…) entsprechend auch als rational selbst-evident charakterisieren: ihr Gehalt liefert für denjenigen, der ihn richtig erfasst, einen unmittelbar zugänglichen Grund zu glauben, dass er wahr ist.324

Doch in dieser Beschreibung wird die psychologische mit der erkenntnistheoretischen Ebene vermischt. Wenn es selbst-evidente Gedanken gibt, dann löst in uns das Erwägen eines solchen Gedankens unmittelbar einen Anschein seiner notwendigen Wahrheit aus. Der Gedanke selbst ist also der kausale Grund für den Anschein seiner notwendigen Wahrheit. Der erkenntnistheoretische Grund für die Akzeptanz des Gedankens ist jedoch die durch das Erwägen des Gedankens ausgelöste rationale Einsicht in seine notwendige Wahrheit. Diese Einsicht ist vom Gehalt des Gedankens verschieden. Und ein Internalist müsste konsequenterweise nach erkenntnistheoretischen Gründen verlangen, die für die Wahrheit oder Zuverlässigkeit dieser Einsicht sprechen. Ohne solche zusätzlichen Gründe gibt uns der Gedanke nichts weiter als eine kausale Erklärung der rationalen Einsicht. Selbstevidenz kann jedoch nicht erklären, warum keine weiteren Begründungen der selbstevidenten Gedanken aus internalistischer Perspektive erforderlich sind.

324 BonJour 1998, S. 102, meine Übersetzung.

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Auf der anderen Seite hält BonJour auch bewusste Erfahrungen oder bewusste Überzeugungen für internalistisch akzeptable erste Gründe für unsere introspektiven Überzeugungen über diese Erfahrungen und Überzeugungen. Bewusste Erfahrungen sind nach BonJour so beschaffen, dass in die Erfahrungszustände ein Bewusstsein von ihnen „eingebaut“ ist. Für diese Zustände ist das Bewusstsein von ihnen konstitutiv. Ein bewusstes Roterlebnis ist also nicht das Erlebnis von etwas Rotem, das kontingenterweise von einem Bewusstsein dieses Erlebnisses begleitet wird. Das Bewusstsein ist für das bewusste Erlebnis selbst essentiell. Es ist nicht von ihm verschieden. Wenn das so ist, dann kann das Bewusstsein von dem Erlebnis auch nicht fehlgehen. Das wäre nur möglich, wenn eine kontingente Relation zwischen dem Erlebnis und dem Bewusstsein von ihm bestünde. Doch dann sind bewusste mentale Zustände derart, dass sie das Bewusstsein von sich selbst hervorbringen und wahr machen. BonJour sieht in ihnen Gründe, die keiner weiteren unabhängigen Begründung mehr bedürfen. Dabei räumt er ein, dass introspektive Überzeugungen über die bewussten Erfahrungen und Überzeugungen fehlerhaft sein können. Beschreibungsfehler oder Fehler durch mangelnde Aufmerksamkeit lassen sich nicht vollständig ausschließen, das hatte bereits die Kritik an Descartes gezeigt. BonJours Vorschlag, bewusste mentale Zustände als Regressstopper zu verstehen, kann jedoch nicht wirklich überzeugen. Es gibt vor allem zwei Probleme mit seiner Konzeption. Erstens ist zweifelhaft, ob man bewusste mentale Zustände tatsächlich so analysieren kann, wie BonJour es vorschlägt. Man muss nämlich zwischen dem Bewusstsein von etwas und einem bewussten Zustand unterscheiden. Bewusstsein von etwas ist ein Wissen oder zumindest eine kognitive Gegebenheitsweise von einem Ding oder einer Tatsache. Das Bewusstsein von etwas ist immer von demjenigen, von dem es handelt, verschieden. Zwischen beiden besteht nur eine kontingente Relation. So sagen wir, dass ein Verbrecher ein Bewusstsein von seiner Schuld hat oder dass dem Schüler bewusst ist, dass die Winkelsumme im Dreieck 180 Grad beträgt. In beiden Fällen handelt es sich um eine Art Wissen. Bewusste Zustände haben dagegen eine spezifische subjektive Empfindungsqualität oder sie sind dadurch ausgezeichnet, dass sie für eine Person kognitiv zugänglich sind. Sie enthalten als solche jedoch kein Bewusstsein von sich selbst. BonJour beachtet dagegen in seiner Analyse bewusster Zustände diesen Unterschied nicht, sondern analysiert bewusste Zustände durch ein eingebautes Bewusstsein von ihnen. Noch gravierender ist ein zweiter Einwand. Betrachten wir die Rechtfertigung einer introspektiven Überzeugung aus der Innenperspektive: Ich habe ein Bewusstsein davon, dass ich jetzt eine Rotempfindung habe. Auf dieses Bewusstsein stütze ich meine introspektive Überzeugung, dass ich jetzt eine Rotempfindung habe. Doch was rechtfertigt eigentlich, dass mein Bewusstsein von der



5.2 Neoklassischer Fundamentalismus 

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Empfindung zuverlässig ist? BonJours Antwort lautet: Das geschieht dadurch, dass das Bewusstsein von der Empfindung in diese Empfindung selbst eingebaut ist. Deshalb kann das Bewusstsein nicht fehlgehen. Und deshalb muss das Bewusstsein der Empfindung auch nicht weiter durch unabhängige Gründe gerechtfertigt werden. Doch diese Antwort kann nicht überzeugen, denn das Faktum, auf das sich BonJour beruft, wenn es denn überhaupt ein Faktum ist, ist aus der Perspektive des Zugangsinternalisten nur dann von Belang, wenn wir auch Gründe dafür haben, dass es wirklich besteht. Aus der Perspektive des Internalisten kann also das Bewusstsein von einer Empfindung eine introspektive Überzeugung über diese Empfindung nur dann rechtfertigen, wenn die Person auch Gründe dafür hat anzunehmen, dass BonJours Konzeption bewusster mentaler Zustände richtig ist. Jede Rechtfertigung durch bewusste Zustände hängt also von mindestens einer weiteren Prämisse ab, die nur inferenziell gerechtfertigt sein kann. Deshalb können bewusste Erfahrungen oder bewusste Überzeugungen nicht die Basis der Rechtfertigung bilden:

Abb. 4

Diese Überlegungen zeigen, dass es keine Gründe gibt, die selbst keiner Begründung bedürfen, wenn man den Maßstab des Zugangsinternalismus anlegt. Es gibt weder basale Überzeugungen325 noch epistemisch autonome Zustände, die den drohenden Regress der inferenziellen Begründung stoppen können. Weder der klassische noch der neoklassische Fundamentalismus können daher das Basisproblem lösen.

325 Mit einer Ausnahme: Die Überzeugung, dass ich jetzt gerade als Denker eines Gedankens existiere, hat sich als skepsisresistent erwiesen.

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Sowohl für den klassischen als auch den neoklassischen Fundamentalismus ergibt sich jedoch noch ein weiteres Problem: das Problem des Überbaus. Der klassische Fundamentalismus schränkt die Basis unserer gerechtfertigten Überzeugungen so weit ein, dass nicht mehr erklärt werden kann, wie ein Großteil der Überzeugungen, die wir gewöhnlich für gerechtfertigt halten (der Überbau), überhaupt gerechtfertigt werden kann. Diese Basis reicht insbesondere nicht aus, um unser Überzeugungen über die Außenwelt zu rechtfertigen. Wenn sich also das Basisproblem lösen ließe, hätte der klassische Fundamentalismus gleichwohl skeptische Konsequenzen. Zur Basis zählen die Erfahrungen und Überzeugungen eines Subjekts. Außerdem gehören dazu seine selbstevidenten Überzeugungen. Als selbstevident (und damit a priori gerechtfertigt) gelten beispielsweise die Schlussprinzipien. Doch wie sollen sich aus psychologischen Tatsachen der mentalen Innenwelt eines Subjekts (seinen Überzeugungen und Erfahrungen) mit Hilfe von selbstevidenten Schlüssen Tatsachen über die Außenwelt ableiten lassen? Aussagen über psychologische Tatsachen lassen sicherlich keinen deduktiven Schluss auf Tatsachen in der Außenwelt zu. So viele Wahrheiten man auch über die eigene mentale Perspektive anhäufen mag, sie werden niemals die Wahrheit von Aussagen über die Außenwelt garantieren können. Ein Schluss der folgenden Form kann niemals deduktiv gültig* sein: (1) (2) (3)

Ich habe ein visuelles Erlebnis von einem Tisch vor mir. Ich habe ein taktiles Erlebnis von einem Tisch vor mir. Die visuellen und taktilen Erlebnisse des Tisches verändern sich nicht.

Also: Vor mir befindet sich ein Tisch. Dieser Schluss kann nicht deduktiv gültig sein, weil es möglich ist, dass seine Prämissen alle wahr sind und die Konklusion dennoch falsch ist. Meine Erlebnisse könnten auf einer hartnäckigen Halluzination beruhen. Aber auch induktiv kann man nicht von der Innenwelt auf die Außenwelt schließen. Das hat vor allem David Hume hervorgehoben.326 Induktive Schlüsse sind Generalisierungen. Aus einer Korrelation* von Tatsachen in einem Beobachtungsausschnitt der Welt wird auf dessen generelle Korrelation geschlossen. Daraus, dass alle beobachteten Schwäne weiß sind, wird geschlossen, dass alle Schwäne weiß sind. Solche induktiven Schlüsse können im Unterschied zu deduktiven Schlüssen die Wahrheit der Konklusion nicht garantieren. Auch wenn alle

326 Hume 1978, Buch I, IV. Teil, Abs. 2, S. 280.



5.2 Neoklassischer Fundamentalismus 

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beobachteten Schwäne weiß sind, ist es nicht ausgeschlossen, dass es Schwäne gibt, die nicht weiß (sondern schwarz) sind. Induktiv können wir nun von einem Roterlebnis nur dann auf die Existenz eines roten Gegenstandes in der Außenwelt schließen, wenn wir davon ausgehen, dass bislang solche Roterlebnisse nur aufgetreten sind, wenn es einen roten Gegenstand in der Außenwelt gab. (1) (2)

Bislang sind Roterlebnisse nur aufgetreten, wenn es einen roten Gegenstand in der Außenwelt gab. Ich habe ein Roterlebnis.

Also: Es gibt einen roten Gegenstand in der Außenwelt. Der Schluss von innen nach außen setzt also bereits voraus, dass wir gerechtfertigte Überzeugungen über die Korrelation von Innen- und Außenwelt haben. Derartige Überzeugungen kommen jedoch in der Basis des klassischen Fundamentalismus nicht vor. Neben deduktiven und induktiven Schlüssen gibt es auch noch abduktive Schlüsse. Mit Hilfe eines abduktiven Schlusses schließt man von einer Wirkung auf seine Ursache oder, genauer, von einem Phänomen auf seine beste Kausalerklärung. Man spricht deshalb auch von einem Schluss auf die beste Erklärung. Um die Form dieses Schlusses besser verstehen zu können, müssen wir zunächst verstehen, was eine Erklärung ist. Nach dem klassischen, deduktiv-nomologischen Modell der Erklärung wird in einer Erklärung aus einem allgemeinen Gesetz (griech.: nomos) und spezifischen Randbedingungen, die konkrete Umstände angeben, das zu erklärende Phänomen (das Explanandum) deduktiv abgeleitet. In einer Kausalerklärung ist das Gesetz ein kausales Gesetz. Nach diesem Schema lässt sich etwa das Fallen des Barometers auf folgende Weise kausal erklären: (1) (2)

Der Sturm kommt. Wenn ein Sturm kommt, dann fällt das Barometer.

Also: Das Barometer fällt.

(Rand­bedingung) (Kausal­gesetz) (Explanandum)

Ein Schluss auf die beste Erklärung erfolgt nun in umgekehrter Richtung. Zu einem gegebenen Explanandum werden Gesetz und Randbedingung (zusammen das Explanans: das Erklärende) gesucht, so dass sich das Explanandum aus dem Explanans deduktiv ableiten lässt. Der Schluss vom Explanandum auf das Explanans ist natürlich nicht deduktiv. Es lassen sich meistens verschiedene mögliche Erklärungen desselben Phänomens angeben. Der Schluss auf die beste Erklärung hat zwei charakteristische Merkmale, die auch für die Frage, ob wir von der Innenwelt auf die Außenwelt schließen können,

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relevant sind. Erstens gibt uns dieser Schluss eine Methode an die Hand, um von Wahrheiten eines Bereiches auf Wahrheiten eines ganz anderen Bereiches zu schließen. Naturwissenschaftler können beispielsweise mit Hilfe eines Schlusses auf die beste Erklärung von experimentellen Beobachtungen auf das Verhalten von unbeobachtbaren mikrophysikalischen Teilchen schließen. Das legt die Vermutung nahe, dass dieser Schluss eine geeignete Methode sein könnte, um von der Innenwelt auf die Außenwelt zu schließen. Zweitens sind bei Schlüssen auf die beste Erklärung immer gewisse Hintergrundkriterien im Spiel, die darüber entscheiden, welche der verschiedenen möglichen Erklärungen eines Phänomens die beste ist. Zu den relevanten Gütekriterien gehören die Einfachheit einer Erklärung, ihre Sparsamkeit, sowie die Kohärenz mit bestehenden Hintergrundüberzeugungen. Der britische Empirist John Locke war wohl der erste, der versucht hat, unser Wissen über die Außenwelt durch einen Schluss auf die beste Erklärung aus unseren Sinneserlebnissen zu stützen. Diese Sinneserlebnisse weisen nämlich erklärungsbedürftige Besonderheiten auf. Sie treten erstens unwillkürlich und willentlich nicht kontrollierbar auf. Sinneserlebnisse folgen nicht immer unseren Wünschen und Erwartungen, sondern sie können uns enttäuschen und überraschen. Auch wenn man sich wünscht, jemanden nach langen Jahren wieder zu sehen, muss dieser Wunsch nicht in Erfüllung gehen. Es gehört außerdem zum Alltag der empirischen Wissenschaften, dass wissenschaftliche Prognosen durch experimentelle Beobachtungen widerlegt werden. Dass Sinneserlebnisse nicht kontrollierbar sind, zeigt sich am besten an Schmerzerlebnissen. Wir können uns noch so sehr wünschen, dass sie verschwinden mögen. Das Verschwinden des Schmerzes ist nicht direkt von uns kontrollierbar. Diese Eigentümlichkeiten unterscheiden Sinneserlebnisse von der Imagination. Was wir uns vorstellen, können wir zumindest weitgehend willentlich kontrollieren. Locke war der Auffassung, dass das unwillkürliche Auftreten und die Unkontrollierbarkeit der Sinnes­ erlebnisse nur dadurch erklärt werden könne, dass Sinneserlebnisse durch Ereignisse in der Außenwelt verursacht werden.327 Locke ist noch eine weitere Besonderheit der Sinneserlebnisse aufgefallen: Der Erfahrungsverlauf weist eine eigentümliche Kohärenz auf. Dazu gehört, dass wir mit unseren verschiedenen Sinnen die Welt ähnlich erleben. Außerdem ist der Erfahrungsverlauf konstant und beständig. Wenn wir die Augen schließen und wieder öffnen, hat sich nichts verändert. Wenn wir nach einiger Zeit an denselben Ort zurückkehren, sind viele Dinge an diesem Ort in einem ähnlichen Zustand wie zuvor. Schließlich gibt es auch eine feste Ordnung und Reihenfolge

327 Locke 1981, 4. Buch, Kap. XI, S. 313.



5.2 Neoklassischer Fundamentalismus 

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der Sinneserlebnisse. Wenn ich um einen Tisch herumgehe, dann bekomme ich zueinander passende und einander ergänzende Sinneseindrücke. Für Locke war es naheliegend, diese Kohärenz des Erfahrungsverlaufs dadurch zu erklären, dass die Erlebnisse durch Dinge und Ereignisse in der Außenwelt verursacht werden, die den Erlebnissen entsprechen.328 Doch ist Lockes Erklärung unserer Erlebnisse tatsächlich die beste? Locke hat vor allem zwei Merkmale des Explanandums hervorgehoben: Die Sinneserfahrung tritt unwillkürlich auf und weist ein beachtliches Maß an Kohärenz auf. Locke erklärt diese Merkmale des Explanandums mit Hilfe der Standardhypothese: Der Erfahrungsverlauf wird durch eine stabile, der Erfahrung entsprechende materielle Außenwelt erklärt. Es gibt jedoch Alternativen zu dieser Standardhypothese, die das Explanandum genauso erklären können. Hier sollen nur zwei weitere Erklärungen betrachtet werden. Nach der Dämonhypothese gibt es zwar eine reale Außenwelt, aber ein böser Dämon (oder ein bösartiger Neurowissenschaftler) täuscht uns über die tatsächliche Beschaffenheit dieser Welt durch einen manipulierten Strom von Sinnesdaten. Weil uns der Dämon täuschen will, gaukelt er uns durch einen kohärenten* Erfahrungsverlauf vor, dass wir in einer Welt leben, die so aussieht, wie die Standardhypothese annimmt, obwohl die Welt tatsächlich ganz anders beschaffen ist. Nach der Hypothese des Solipsismus gibt es nur ein Erfahrungssubjekt und sonst nichts. Der kohärente Verlauf unwillkürlich auftretender Sinneserlebnisse wird durch dieses Subjekt selbst hervorgebracht, ohne dass es sich dessen bewusst ist. Die Situation ist dem Traum sehr ähnlich. Wenn wir träumen, erleben wir auch eine relativ kohärente Abfolge von Sinneserfahrungen, die wir willentlich nicht kontrollieren können, obwohl der Traum keine äußeren Ursachen hat, sondern ein Produkt unserer eigenen psychologischen Mechanismen ist. Wenn man die drei alternativen Erklärungen unvoreingenommen betrachtet, lässt sich eigentlich keine als klar überlegen auszeichnen. Der Vertreter der Standardhypothese wird vielleicht für seine Hypothese ins Feld führen, dass sie am besten mit unseren Hintergrundüberzeugungen über die Außenwelt harmoniert. Aber dieser Zug ist unzulässig, denn es geht ja gerade darum, ob wir auf der Grundlage von Wahrheiten über unsere Sinneserlebnisse überhaupt Überzeugungen über die Außenwelt rechtfertigen können. Und bei der Beantwortung dieser Frage dürfen wir keine Überzeugungen über die Außenwelt voraussetzen. Die Standardhypothese ist auch nicht die sparsamste Erklärung, wenn man Sparsamkeit daran bemisst, wie viele Arten von Gegenständen die Erklärung in Anspruch nimmt. Die Standardhypothese nimmt nämlich an, dass es neben

328 Locke 1981, 4. Buch, Kap. XI, S. 315.

230 

 5 Die Struktur der Rechtfertigung

geistigen Dingen auch materielle Dinge (in der Außenwelt) gibt. Der Solipsismus würde dagegen alleine mit geistigen Dingen auskommen. Man könnte zugunsten der Standardhypothese anführen, dass sie die beste Vorhersage des Erfahrungsverlaufs erlaubt. Wir können aufgrund unserer Annahmen über die Außenwelt recht gut prognostizieren, wie unsere Erfahrungen aussehen werden. Allerdings liegt das im Wesentlichen daran, dass wir die Standardhypothese am besten ausgearbeitet haben. Weil wir die alternativen Hypothesen nicht für glaubwürdig halten, haben wir sie nicht entsprechend entwickelt. Hätten wir das getan, dann wären sie explanatorisch der Standardhypothese auch nicht unterlegen.329 Schließlich führen Vertreter der Standardhypothese häufig an, dass die Standardhypothese die einfachste der drei betrachteten Hypothesen ist. Die anderen Hypothesen können den Erfahrungsverlauf nur dann erfolgreich erklären, wenn sie die Standardhypothese in ihre Erklärung einbauen. So kann man mit Hilfe der Dämonhypothese den Erfahrungsverlauf nur dann erklären, wenn man sagt, dass der Dämon die Erfahrungen so simuliert, dass sie denen entsprechen, die auftreten würden, wenn die Standardhypothese wahr wäre. Das Verhalten des Dämons würde dadurch bestimmt, dass er sich an der Standardhypothese orientiert. Doch selbst im Falle der Dämonhypothese ist das keineswegs zwingend. Der Dämon könnte auch ganz andere Motive für sein Verhalten haben, als die Standardhypothese zu imitieren. Außerdem würde diese Kritik bestenfalls die Dämonhypothese betreffen. Im Fall der solipsistischen Hypothese kann die Intention, die Standardhypothese zu imitieren, nämlich gar keine Rolle spielen, weil Absichten in dieser Erklärung keinerlei Rolle spielen. Es sieht also so aus, als ob keine der drei erwogenen alternativen Erklärungen überlegen ist. Dann ist es jedoch unmöglich, aus Wahrheiten über die Innenwelt Wahrheiten über die Außenwelt durch einen Schluss auf die beste Erklärung abzuleiten. Es gibt offensichtlich keine Schlussform, die es ermöglichen würde, Überzeugungen über die Außenwelt auf der Basis des klassischen Fundamentalismus zu rechtfertigen. Der klassische Fundamentalismus kann deshalb das Problem des Überbaus nicht lösen. Zuvor hatten wir bereits festgestellt, dass er auch am Basisproblem scheitert. Daraus kann nur der Schluss gezogen werden, dass der klassische Fundamentalismus in allen Versionen auf ganzer Linie gescheitert ist. Probleme des klassischen Fundamentalismus 1. Basisproblem: Der internalistische Regress kann nicht gestoppt werden. 2. Problem des Überbaus: Die basalen Überzeugungen sind nicht geeignet, um unser gesamtes Wissen über die Welt zu stützen.

329 Vgl. Alston 1993, S. 80.



5.3 Kohärenztheorien der Rechtfertigung 

 231

5.3 Kohärenztheorien der Rechtfertigung Kohärenztheorien der Rechtfertigung bestreiten, dass eine Überzeugung allein gerechtfertigt sein kann. Aus ihrer Perspektive gibt es keine basalen Überzeugungen, sondern Rechtfertigung ist primär eine holistische Eigenschaft eines ganzen Systems von Überzeugungen. Die Rechtfertigung einzelner Überzeugungen hängt von der Einbettung dieser Überzeugungen in ein kohärentes Gesamtsystem ab. Im Grunde ist die Kohärenztheorie eine Erfindung des 20.  Jahrhunderts.330 Sie wurde unter anderem von Otto Neurath, Brand Blanshard, W. V. O. Quine, Wilfried Sellars, Keith Lehrer, Donald Davidson und dem frühen Laurence BonJour vertreten. Ihre Plausibilität verdankt die Kohärenztheorie vor allem dem Scheitern des klassischen Fundamentalismus. Es gibt offenbar keine basalen Überzeugungen, bei denen der Regress der Rechtfertigung legitimerweise stoppen kann. Jede scheinbar basale Überzeugung bekommt ihre erkenntnistheoretische Autorität nur durch weitere (ihrerseits rechtfertigungsbedürftige) Überzeugungen, die besagen, dass die vermeintlich basale Überzeugung zuverlässig ist.331 Außerdem hat sich als zweifelhaft erwiesen, dass es überhaupt irgendwelche Überzeugungen gibt, die eine unfehlbare oder unanfechtbare Basis bilden können. Die Kohärenztheorie scheint deshalb vergleichsweise besser abzuschneiden als der Fundamentalismus. Generell lassen sich lineare von holistischen Kohärenztheorien unterscheiden. Den linearen Kohärenztheorien zufolge muss der Zirkel der Rechtfertigung nur hinreichend groß werden, damit er zur Rechtfertigung beitragen kann. Diese Theorien sind jedoch generell von den Einwänden betroffen, die oben bereits gegen die Zirkularität vorgebracht wurden: Inferenzielle Zirkel können keine Rechtfertigung hervorbringen; es lässt sich alles zirkulär begründen und man sieht nicht, wie ein Rechtfertigungszirkel irgendeinen Zusammenhang mit der Welt sicherstellen kann. Aus diesem Grunde dominieren heute die holistischen Kohärenztheorien. Danach wird die Rechtfertigung nicht als inferenzielle Beziehung zwischen Prämissen und Konklusion verstanden, sondern sie entsteht aufgrund der Einbettung einer Überzeugung in ein System untereinander vernetzter und zusammenhängender Überzeugungen.332 Eine Darstellung der Kohärenztheorie sollte am besten im Lichte ihrer Probleme erfolgen. Das empfiehlt sich schon deshalb, weil sich die Kohärenztheorie im 20.  Jahrhundert entscheidend fortentwickelt hat und der Motor dieser

330 Vorläufer waren möglicherweise Hegel und der britische Idealist Bradley. 331 Vgl. Sellars 1999, S. 64 f.; BonJour 1985, S. 32. 332 Vgl. dazu Blanshard 1939, BonJour 1985.

232 

 5 Die Struktur der Rechtfertigung

Entwicklung der Versuch war, die Standardprobleme der Kohärenztheorie zu beheben. Von Moritz Schlick wurde 1934 erstmals der Relativismuseinwand gegen die Kohärenztheorie von Neurath formuliert. Nach Schlick muss der konsequente Kohärenztheoretiker akzeptieren, dass sich jede noch so absurde Überzeugung dadurch rechtfertigen lässt, dass man sie in ein System passender (absurder) Hintergrundüberzeugungen kohärent einbettet. Damit würde die Rechtfertigung jedoch beliebig. Wer es ernst meint mit der Kohärenz als alleinigem Kriterium der Wahrheit, muss beliebig erdichtete Märchen für ebenso wahr halten wie einen historischen Bericht oder Sätze in einem Lehrbuch der Chemie, wenn nur die Märchen so gut erfunden sind, dass nirgends ein Widerspruch auftritt.333

Schlicks Relativismuseinwand betrifft unmittelbar nur die These, dass Kohärenz ein hinreichendes Kriterium der Wahrheit ist. Er lautet dann: (1) (2)

Zu jeder Überzeugung lässt sich ein kohärentes Überzeugungssystem konstruieren, in das diese Überzeugung hineinpasst. Nicht jede Überzeugung ist wahr.

Also: Kohärenz ist kein hinreichendes Wahrheitskriterium. Klassische Vertreter der Kohärenztheorie wie Neurath und Blanshard waren tatsächlich der Auffassung, dass Kohärenz ein hinreichendes Wahrheitskriterium sei und deshalb sogar die Wahrheit definieren könne. Sie sind von Schlicks Kritik unmittelbar betroffen. Heute wird die Kohärenztheorie aber fast ausschließlich nur noch als Theorie der Rechtfertigung vertreten und nicht als Wahrheitstheorie.334 Dennoch betrifft der Relativismuseinwand auch eine Kohärenztheorie der Rechtfertigung. Wenn jede beliebige Überzeugung in ein kohärentes System von Überzeugungen eingebettet werden könnte, dann wäre nämlich Kohärenz zu relativ, um erkenntnistheoretisch akzeptable Überzeugungen von solchen unterscheiden zu können, die nicht akzeptabel sind. Außerdem könnte Kohärenz kein zuverlässiger Indikator der Wahrheit sein, denn diese Eigenschaft ließe völlig offen, ob eine Überzeugung wahr oder falsch ist. Auch für jede falsche Überzeugung ließe sich ja ein kohärentes Überzeugungssystem erfinden, in das diese Überzeugung hineinpasst.

333 Schlick 1934, S. 297. 334 Vgl. etwa Rescher 1973, BonJour 1985.



5.3 Kohärenztheorien der Rechtfertigung 

 233

Der Relativismuseinwand ist besonders stark, wenn Kohärenz als bloße Konsistenz verstanden wird.335 Konsistent* ist ein Überzeugungssystem, wenn es keine einander logisch widersprechenden Überzeugungen enthält. Diese Bedingung wäre bereits erfüllt, wenn ein Überzeugungssystem lauter Überzeugungen enthält, die inhaltlich überhaupt nicht miteinander zusammenhängen. Wenn Kohärenz derart schwach interpretiert wird, dann kann es unbegrenzt viele miteinander unverträgliche kohärente Überzeugungssysteme geben. Um die Anzahl miteinander unverträglicher kohärenter Überzeugungssysteme einzuschränken, hat Blanshard Kohärenz anspruchsvoller definiert.336 Kohärenz ist demnach eine Eigenschaft von Überzeugungen, die eine konkrete Person tatsächlich hat; sie bezieht sich nicht auf Mengen von Gedanken oder möglichen Überzeugungen. Außerdem ist Kohärenz im Unterschied zur Konsistenz eine graduelle Eigenschaft. Ein Überzeugungssystem kann mehr oder weniger kohärent sein, aber es ist entweder konsistent oder nicht konsistent. Der Grad der Kohärenz eines Überzeugungssystems hängt nach Blanshard von zwei Faktoren ab. Zum einen von seiner Systematizität. Dabei kommt es darauf an, wie eng die Überzeugungen des Systems miteinander durch deduktive, induktive, wahrscheinlichkeitstheoretische oder explanatorische Inferenzen zusammenhängen. Zum anderen hängt der Grad der Kohärenz davon ab, wie umfassend das kohärente Überzeugungssystem ist. Man kann auch von der Inklusivität sprechen. Wenn ich z. B. an ein lückenloses Märchen glaube und an ihm gegen viele meiner Wahrnehmungsüberzeugungen festhalte, dann sinkt der Grad der Rechtfertigung des Märchens in dem Maße, in dem ich meine Wahrnehmungsüberzeugungen ignoriere. Wenn man die Systematizität und die Inklusivität eines Überzeugungssystems als Kohärenzkriterien betrachtet, dann lässt sich die Relativität der kohärenten Überzeugungssysteme sehr stark reduzieren. Märchenerzählungen und paranoische Wahngebilde scheiden aus, weil sie zu wenig inklusiv sind. Skeptische Hypothesen scheiden aus, weil sie zu wenig systematisch sind. Die Motive des Dämons bleiben weitgehend unerklärt. Es könnte sein, dass sich der Relativismuseinwand durch die strengere Definition* von Kohärenz weitgehend ausräumen lässt. Ein weiterer klassischer Einwand gegen die Kohärenztheorie der Rechtfertigung ist der Isolationseinwand. Da Kohärenz allein durch die inferenzielle Vernetzung der Überzeugungen in einem System von Überzeugungen definiert ist, kann Kohärenz gar keinen Zusammenhang mit der Welt herstellen. Genau das soll die erkenntnistheoretische Rechtfertigung aber leisten, wenn man sie als wahrheitszuträglich versteht. Also kann Kohärenz keine rechtfertigende Eigenschaft sein.

335 Vgl. etwa Neurath 1934. 336 Blanshard 1939, S. 264 ff.

234 

 5 Die Struktur der Rechtfertigung

Der Isolationseinwand steht in engem Zusammenhang mit einem weiteren, häufig gegen die Kohärenztheorie erhobenen Einwand, dass nämlich für die Kohärenztheorie Erfahrungen oder Beobachtungen gar keine rechtfertigende Rolle spielen, weil die Kohärenztheorie nur die inferenziellen Relationen zwischen Überzeugungen für rechtfertigungsrelevant hält. Nennen wir diesen Einwand den Einwand von der erkenntnistheoretischen Irrelevanz der Erfahrung. Es ist geradezu offensichtlich, wie dieser Einwand mit dem Isolationseinwand zusammenhängt. Die Erfahrung stellt einen Zusammenhang unserer kognitiven Perspektive mit der Welt her, weil die Erfahrung Produkt einer kausalen Einwirkung dieser Welt auf uns ist. Isolationseinwand (1) Die Kohärenzeigenschaften eines Überzeugungssystems hängen allein von den inferenziellen Relationen zwischen den Überzeugungen des Systems ab. (2) Die inferenziellen Relationen zwischen Überzeugungen sind unabhängig von der Beziehung des Überzeugungssystems zur Welt. (3) Die Kohärenzeigenschaften eines Überzeugungssystems sind unabhängig von seiner Beziehung zur Welt.  aus (1) & (2) (4) Die Rechtfertigung eines Überzeugungssystems ist nicht unabhängig von seiner Beziehung zur Welt. (5) Die Kohärenzeigenschaften sind nicht das, was ein Überzeugungssystem rechtfertigt.  aus (3) & (4)

Da die Kohärenztheorie der Erfahrung keine rechtfertigende Rolle einräumt, verzichtet sie auch darauf, den Kontakt mit der Welt sicherzustellen. Aus der erkenntnistheoretischen Irrelevanz der Erfahrung ergibt sich also ziemlich direkt der Isolationseinwand. Von den klassischen Gegnern der Kohärenztheorie wurde insbesondere betont, dass die Erfahrung aus Sicht der Kohärenztheorie für die Rechtfertigung irrelevant wird. So hat bereits Moritz Schlick betont: „Nach der Kohärenzlehre kommt es auf irgendwelche ‚Beobachtungen‘ gar nicht an, sondern allein auf die Verträglichkeit der Aussagen.“337 Und John Pollock, ein wichtiger gegenwärtiger erkenntnistheoretischer Fundamentalist, konstruiert daraus die folgende kontraintuitive Konsequenz: Unter der Annahme einer solchen Kohärenztheorie der Rechtfertigung könnten wir uns leicht eine Person vorstellen, deren Überzeugungen so beschaffen sind, dass sie gerechtfertigt wäre, alle Belege der Sinneserfahrung zurückzuweisen. Sie könnte z. B. gerechtfertigt glauben, dass alles, was groß aussieht, in Wirklichkeit klein ist, dass alles, was rot aussieht, in Wirklichkeit blau ist, dass alles, was grün aussieht, in Wirklichkeit gelb ist, dass

337 Schlick 1934, S. 297 f.



5.3 Kohärenztheorien der Rechtfertigung 

 235

alles, was sich heiß anfühlt, in Wirklichkeit kalt ist usw. Solange ihre Überzeugungen ein kohärentes System bilden, wäre daran nichts verkehrt. Die Person wäre gerechtfertigt zu glauben, dass alle ihre Sinne sie systematisch in die Irre führen.338

Standardprobleme der Kohärenztheorie 1. Relativismuseinwand: Relativ zu verschiedenen Überzeugungssystemen sind beliebige Überzeugungen gerechtfertigt. 2. Isolationseinwand: Kohärenz stellt den Zusammenhang mit der Welt nicht her. 3. Erkenntnistheoretische Irrelevanz der Erfahrung: Kohärenz verlangt nicht die Übereinstimmung unseres Überzeugungssystems mit der Erfahrung.

Diese Einwände führten zu einer Modifikation und Verbesserung der Kohärenztheorien. Laurence BonJour hat nachdrücklich betont, dass die Eigenschaft der Kohärenz nur dann Überzeugungen rechtfertigen könne, wenn das Überzeugungssystem den empirischen Input berücksichtigt und nicht ignoriert. Diese Bedingung hat er in den Rang einer apriorischen Beobachtungsbedingung erhoben. Was als empirischer Input oder, in anderen Worten, als Beobachtung gilt, hängt allerdings von den epistemischen Überzeugungen der Hintergrundtheorie ab. Nur wenn Überzeugungen aus der Perspektive der Hintergrundtheorie als spontan entstanden klassifiziert werden und wenn sie aus der Perspektive der Hintergrundtheorie auf zuverlässigen Prozessen beruhen, gelten sie als ‚Beobachtung‘. BonJour ist zugleich der Auffassung, dass ein Überzeugungssystem, wenn es der ‚Beobachtung‘ Rechnung trägt und dennoch auf lange Sicht stabil bleibt, sehr wahrscheinlich wahr ist. Diese Auffassung versucht er durch einen apriorischen Schluss auf die beste Erklärung zu rechtfertigen.339 Dieser Schluss soll an dieser Stelle nicht genauer diskutiert werden. Wichtig ist allein, dass neuere Kohärenztheorien der Rechtfertigung alle klassischen Einwände konstruktiv aufgreifen und beantworten. Die drohende Relativität kohärenter Überzeugungssysteme wird dadurch minimiert, dass Kohärenz substanziell als systematische Vernetzung gedeutet wird und der empirische Input berücksichtigt werden muss. Die Beobachtungsbedingung stellt sicher, dass Erfahrung nicht irrelevant für die Rechtfertigung werden kann. Und wenn sich ein kohärentes System an der Erfahrung auf lange Sicht (ohne dass größere Modifikationen nötig sind) bewährt, dann ist auch der Zusammenhang des Überzeugungssystems mit der Wahrheit wahrscheinlich. Allerdings haben die Modifikationen der Kohärenztheorien auch einen Preis: Die Rechtfertigung hängt nun nicht mehr allein von der Kohärenz ab.

338 Pollock 1974, S. 28, meine Übersetzung. 339 BonJour 1985, Kap. 8.

236 

 5 Die Struktur der Rechtfertigung

Erstens spielt auch die Übereinstimmung mit der Erfahrung eine Rolle, und zweitens kann der Zusammenhang mit der Wahrheit nur a priori und nicht kohärenz­ theoretisch gerechtfertigt werden. Sonst würde eine neue Zirkularität drohen. BonJours neue Kohärenztheorie ist also unrein, insofern die Rechtfertigung auch von nicht-kohärenziellen Faktoren wie der Beobachtung und einer apriorischen Metarechtfertigung abhängt. Es ist außerdem klar, dass die Kohärenztheorie der Rechtfertigung nur eingeschränkt für den Bereich des empirischen Wissens gilt. Selbst solche moderaten Kohärenztheorien sind jedoch nicht vor weiteren und besseren Einwänden gefeit. Erstens: Das Problem des internalistischen Regresses besteht für die Kohärenztheorie fort. Wenn das richtig ist, dann würde damit die gesamte Motivation für die Kohärenztheorie wegfallen. Wie wir gesehen haben, verdankt sich ihre Attraktivität nämlich vor allem dem Umstand, dass der Fundamentalismus mit dem Regressproblem nicht fertig wird. Doch warum sollte sich auch für Kohärenztheorien ein Regressproblem ergeben? Das wird schnell deutlich, wenn man sich noch einmal vor Augen führt, dass es aus der Perspektive des Zugangsinternalismus nicht ausreicht, dass die rechtfertigenden Faktoren objektiv bestehen, sondern dass diese Faktoren auch dem Subjekt kognitiv bekannt sein müssen. Wenden wir diesen Grundsatz auf die Kohärenztheorie an: Damit eine Überzeugung M gerechtfertigt ist, genügt es dann nicht, dass M tatsächlich Element eines kohärenten Systems S ist. Das Subjekt muss außerdem die introspektive Überzeugung I haben, dass S kohärent ist und M einschließt. Ferner muss I ihrerseits gerechtfertigt sein. Wenn die Kohärenztheorie wahr ist, kann diese Rechtfertigung wiederum nur durch kohärenzielle Faktoren erfolgen, die ihrerseits dem Subjekt kognitiv bekannt sein müssen usw. Der sich abzeichnende Regress lässt sich schematisch folgendermaßen darstellen: M ← I ← I1 ← I2 ← I3 …… Dabei steht M für eine bestimmte Überzeugung über die Außenwelt, I ist eine introspektive Überzeugung mit dem Inhalt, dass M zum kohärenten Überzeugungssystem des Subjekts gehört, I1 ist eine introspektive Überzeugung mit dem Inhalt, dass I zum kohärenten Überzeugungssystem des Subjekts gehört, I2 ist eine introspektive Überzeugung mit dem Inhalt, dass I1 zum kohärenten Überzeugungssystem des Subjekts gehört usw. Der Begründungsregress im Rahmen der Kohärenztheorie scheint also unvermeidlich zu sein.340 Zweitens: Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass BonJours Beobachtungsbedingung den Isolationseinwand nur scheinbar entkräften kann. Um den Einwand wirklich zu entkräften, dürften als ‚Beobachtungen‘ nämlich nur die Überzeugungen zählen, die tatsächlich spontan (durch kausale Einwirkung

340 Bonjour 1999, Fumerton 2003, Grundmann 1999.



5.3 Kohärenztheorien der Rechtfertigung 

 237

von außen) entstehen und tatsächlich auf zuverlässigen Quellen beruhen. Die Beobachtungsbedingung fordert jedoch nur, dass das Überzeugungssystem für Überzeugungen offen ist, die aus der Perspektive des jeweiligen Überzeugungssystems für Input gehalten werden. Durch diese Relativierung ist die Relevanz echter Beobachtungen nicht sichergestellt.341 Drittens: Kohärenz als notwendige Bedingung für Rechtfertigung ist eine viel zu starke Bedingung. Das wird schnell deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass Kohärenz unter jeder Interpretation Konsistenz (Widerspruchsfreiheit) impliziert. Nun ist es aber sehr leicht möglich und oft auch real, dass sich in unser Überzeugungssystem unbemerkt Widersprüche einschleichen, und zwar einfach deshalb, weil uns viele Implikationen dessen, was wir glauben, gar nicht durchsichtig sind. Nun hätte aber nach der Kohärenztheorie eine einzige Inkonsistenz in unserem Überzeugungssystem gravierende globale Konsequenzen. Sie würde die Kohärenz und damit die Rechtfertigung des ganzen Systems aufheben. Viertens: Kohärenz ist auch in einem anderen Sinne eine viel zu starke Bedingung für Rechtfertigung. Wenn man unter Kohärenz nämlich den formalen Zusammenhang des Überzeugungssystems versteht (also mehr als bloße Abwesenheit von Widersprüchen), dann könnte keine isolierte Überzeugung je gerechtfertigt sein. Man kann sich jedoch leicht vorstellen, dass völlig unerwartete Daten aus bislang noch nicht autorisierten Quellen auftauchen. Warum sollte man diese Daten nicht auch bis zum Beweis des Gegenteils als gute Gründe betrachten? Dieser Einwand lässt sich auch verallgemeinern. Die Kohärenztheorie hat offenkundig ein viel zu holistisches Bild unserer Rechtfertigung. Fünftens: Die Komponenten der Kohärenz wie Konsistenz und inferenzielle Verknüpfung sind in umfangreichen Überzeugungssystemen sehr komplexe Eigenschaften. Da der Internalismus die Hauptmotivation für eine Kohärenztheorie ist, muss diese Eigenschaft nicht nur tatsächlich vorliegen, sondern vom Subjekt auch erfasst werden. Für Lebewesen mit begrenzten kognitiven Fähigkeiten wie uns ist es jedoch nicht möglich, solche komplexen Tatsachen zu erfassen. Wenn wir die Konsistenz von sagen wir 100 Überzeugungen mit Hilfe der Wahrheitstafelmethode prüfen wollten, dann müssten wir eine Wahrheitstafel mit 2100 Zeilen daraufhin untersuchen, ob es mindestens eine Zeile mit Wahrheitseinträgen für alle Überzeugungen gibt. Es dürfte offensichtlich sein, dass diese Aufgabe für Menschen nicht erfüllbar ist.342 Sechstens: Wenn die Kohärenztheorie wahr wäre, dann gäbe es letzten Endes nur eine einzige Quelle der Rechtfertigung: die Kohärenz. Intuitiv unterscheiden

341 Bonjour 1999, S. 129. 342 Vgl. Cherniak 1984, S. 755–56; Kornblith 2002, S. 129.

238 

 5 Die Struktur der Rechtfertigung

wir aber zwischen verschiedenen Wissensarten (und Rechtfertigungsquellen), etwa zwischen der Wahrnehmung, der Introspektion oder der Erinnerung. Aus der Perspektive der Kohärenztheorie müssen diese Unterscheidungen als reine Oberflächenphänomene abgetan werden. Sie haben auf keinen Fall erkenntnistheoretische Relevanz, sondern spiegeln bestenfalls die unterschiedlichen Inhalte der Überzeugungen wider (gegenwärtige Außenwelt, eigener Geist, Vergangenheit) oder beruhen auf einer rein kausalen Klassifikation der Genese der Überzeugungen (die aber nicht relevant für die Rechtfertigung ist). Da die Kohärenztheorie unsere vortheoretischen Unterscheidungen der Wissensarten nicht bestätigen kann, hat sie zumindest kontraintuitive Konsequenzen. Was bleibt von der Kohärenztheorie, wenn man alle vorangehenden Einwände zusammen nimmt? Das Problem des internalistischen Regresses kann von fundamentalistischen Ansätzen nicht gelöst werden, aber jetzt hat sich gezeigt, dass auch die Kohärenztheorie mit diesem Problem nicht fertig wird. Aus der Sicht des Internalisten spricht deshalb eigentlich nichts für die Kohärenztheorie, sondern alles für den Skeptizismus. Aus der Sicht des Externalisten sind jedoch beide Optionen, die Kohärenztheorie und der Fundamentalismus, wieder im Spiel. Hier erweist sich der Fundamentalismus jedoch eindeutig im Vorteil. Er entspricht nicht nur besser unserer natürlichen Vorstellung, dass Rechtfertigung eine lokale Angelegenheit sein kann, sondern ohne ihn kann der Isolationseinwand nicht entkräftet werden. Es sind von der Kohärenz unabhängige Rechtfertigungsquellen erforderlich, die einen direkten Kontakt mit der Welt herstellen. Neue Probleme der Kohärenztheorie: 1. Regressproblem kehrt wieder. 2. Problem des scheinbaren Inputs: Solange sich das Überzeugungssystem an Daten bewähren muss, die aus der Perspektive des Systems als Input gelten, ist scheinbarer Input nicht ausgeschlossen. 3. Inkonsistenz hat keine globale erkenntnistheoretische Auswirkung. 4. Atomare Rechtfertigung ist möglich. 5. Kohärenz ist für endliche Wesen unerkennbar. 6. Kollapseinwand: Die Kohärenztheorie kann nur eine Rechtfertigungsquelle zulassen.

Allerdings sollte man das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Der klassische Fundamentalismus ist davon ausgegangen, dass basale Überzeugungen unfehlbar und unanfechtbar sind. Eine wichtige Motivationsquelle für die Kohärenztheorie war die Einsicht, dass es sich dabei um ein falsches Dogma handelt. Alle basalen Überzeugungen sind fehlbar und durch widerstreitende Überzeugungen anfechtbar. Sobald wir feststellen, dass eine prima facie gerechtfertigte Überzeugung nicht in unser Überzeugungssystem hineinpasst (weil ihre Einbettung zu Inkonsistenzen führen würde oder den systematischen Zusammenhang unseres



5.3 Kohärenztheorien der Rechtfertigung 

 239

Überzeugungssystems schwächt), haben wir einen Grund für die Revision oder Korrektur dieser Überzeugung.343 Dieses Kohärenzkriterium der Revision ist jedoch sehr gut mit einem moderaten Fundamentalismus vereinbar, der die Idee der Unanfechtbarkeit ganz aufgibt, aber gleichwohl daran festhält, dass es basale Überzeugungen gibt, für deren prima facie Rechtfertigung Kohärenz nicht erforderlich ist. Man kann also eine Kohärenztheorie der gerechtfertigten Überzeugungsrevision (und Anfechtung) akzeptieren, ohne eine Kohärenztheorie der positiven Rechtfertigung zu vertreten.344 Nun liegt es nahe, noch einen Schritt weiter zu gehen und nach einer Synthese aus Fundamentalismus und Kohärenztheorie zu suchen. Könnte es nicht sein, dass wir zwar fundamentale Quellen der Rechtfertigung (wie die Sinneserfahrung) annehmen müssen, dass aber Kohärenz selbst auch eine eigene Quelle der positiven Rechtfertigung ist? Inkohärenz würde dann nicht nur die unmittelbare Rechtfertigung von Wahrnehmungsüberzeugungen unterminieren, sondern Kohärenz deren Rechtfertigungsgrad auch erhöhen können. Betrachten Sie einige Beispiele: Ein Zeuge bestätigt vor Gericht das Alibi des Angeklagten, indem er berichtet, dass er den Angeklagten zum Tatzeitpunkt weit vom Tatort entfernt gesehen hat. Doch ist dieser Zeuge zuverlässig genug, um den Angeklagten zu entlasten? Der Zeuge könnte sich einfach getäuscht haben. Oder er könnte vom Angeklagten bestochen sein. Oder er könnte aus eigenem Interesse eine Falschaussage machen. Wir hätten eine ganz andere Situation, wenn zahlreiche Zeugen unabhängig voneinander die Aussage des Angeklagten bestätigen würden. Durch die Übereinstimmung ihrer Aussagen wird die Wahrscheinlichkeit der Wahrheit dieser Aussagen erhöht. Kohärenz kann also die Zuverlässigkeit und damit den Rechtfertigungsgrad erhöhen. Ganz Ähnliches gilt für die unabhängige Überprüfung wissenschaftlicher Experimente. Oder stellen Sie sich vor, dass Indizien für eine Person als Täter sprechen, aber auch andere Täter nicht ausschließen. Das kann für jedes einzelne einer ganzen Reihe von Indizien gelten, aber wenn man sie alle zusammen nimmt, kommt nur ein einziger Täter in Frage. Auch hier erhöhen kohärenzielle Überlegungen die Zuverlässigkeit. Schließlich kann man auch an die Situation beim Lösen eines Kreuzworträtsels denken.

343 Quine 1953. 344 Pollock 1986, S. 72, unterscheidet positive von negativen Kohärenztheorien.

240 

 5 Die Struktur der Rechtfertigung

Abb. 5

Stellen Sie sich vor, dass Sie zunächst darüber nachdenken, welche griechischen Buchstaben es gibt, die im Deutschen mit zwei Buchstaben ausgedrückt werden. Ihnen fallen Xi und Pi auf Anhieb ein und Sie vermuten, dass es noch weitere griechische Buchstaben gibt, die dieses Kriterium erfüllen. Die anfängliche Wahrscheinlichkeit für den richtigen Eintrag ist also höchstens 0.5. Nehmen Sie weiter an, Sie haben keine Idee, welches Spaltwerkzeug mit drei Buchstaben geschrieben wird. Aber Ihnen fällt sofort ein, dass mit dem „irren Todeslauf“ Amok gemeint ist.

Abb. 6

Wenn Sie nun überlegen, ob ‚Xi‘ oder ‚Pi‘ besser in die Zeile für den griechischen Buchstaben passt, dann müssen Sie überprüfen, was sich in der Spalte für das Spaltwerkzeug ergeben würde. Spaltwerkzeuge mit ‚A‘ als erstem und ‚P‘ als zweitem Buchstaben fallen Ihnen nicht ein. Aber ein Spaltwerkzeug mit ‚A‘ als erstem und ‚X‘ als zweitem Buchstaben liegt nahe: die Axt. Wenn Sie jedoch ‚Axt‘ eintragen, muss ‚Xi‘ der gemeinte griechische Buchstabe sein. Es ergibt sich die folgende Lösung:



5.3 Kohärenztheorien der Rechtfertigung 

 241

Abb. 7

Auch bei der Lösung dieses Ausschnitts aus einem Kreuzworträtsel haben kohärenzielle Kriterien Sie nicht nur heuristisch auf die richtige Lösung gebracht, sondern auch die Zuverlässigkeit des Eintrags erhöht. Außerdem haben Quine, Gilbert Harman und die gegenwärtigen Vertreter von Überzeugungsrevisions-Theorien darauf hingewiesen, dass Kohärenzkriterien für die Dynamik von Überzeugungssystemen eine bedeutende Rolle spielen. Nehmen wir an, wir hätten die Inkohärenz oder Inkonsistenz zwischen einer Theorie und Beobachtungsüberzeugungen festgestellt. Wir haben nun verschiedene Möglichkeiten, die Inkonsistenz zu beheben: Wir können die Beobachtungsüberzeugungen als fehlerhaft oder ungenau verwerfen. Oder wir können die Theorie auf sehr unterschiedliche Weise modifizieren, damit sie die Implikationen verliert, die der Beobachtung widersprechen. Wir sollten uns aber in unseren Überzeugungsrevisionen in jedem Fall am Kohärenzkriterium orientieren. Wir sollten also immer die kohärenteste Auflösung des Konflikts wählen. Kann man daraus den Schluss ziehen, dass eine Synthese aus Fundamentalismus und Kohärenztheorie die richtige Option ist: die so genannte Fundhärenztheorie?345 Die Antwort lautet: nein! Selbst wenn kohärenzielle Faktoren die Zuverlässigkeit steigern können, so sind sie doch nicht notwendig für die Rechtfertigung. In vielen Fällen haben wir unmittelbar aufgrund unserer Wahrnehmung gerechtfertigte Überzeugungen, ohne uns über Kohärenz Gedanken zu machen. Kohärenzfaktoren sind jedoch auch niemals hinreichend für die Rechtfertigung von Überzeugungen, sie setzen immer fundamentale Rechtfertigungsquellen voraus. Wenn alle befragten Zeugen eine trügerische Wahrnehmung hatten oder sich abgesprochen haben, dann können auch ihre übereinstimmenden Aussagen den Angeklagten nicht entlasten. Ihre Übereinstimmung müsste nur

345 Vgl. dazu den von Haack 1993 vorgeschlagenen „foundherentism“.

242 

 5 Die Struktur der Rechtfertigung

anders erklärt werden, etwa durch eine Beeinflussung. Ähnlich verhält es sich bei den Indizien. Wenn alle Indizien irreführend sind, dann nützt es auch nichts, dass sie alle übereinstimmend auf einen bestimmten Täter hinweisen. Und auch bei der Lösung des Kreuzworträtsels lässt sich ein analoger Fall konstruieren. Die spontanen Einfälle für mögliche Einträge müssen nur abstrus genug sein, um alle gut zusammenzupassen und dennoch die richtige Lösung völlig zu verfehlen. Diese Fälle zeigen, dass Kohärenz nur die Zuverlässigkeit steigern kann, jedoch keine originäre Quelle zuverlässiger Überzeugungen ist. Vollständige Kohärenztheorien oder Fundhärenztheorien der Rechtfertigung sind deshalb unplausibel. Dennoch ist Inkohärenz ein gutes Anfechtungskriterium, und Kohärenz kann zudem eine bereits bestehende Zuverlässigkeit steigern oder ein gutes Kriterium der Überzeugungsrevision sein.346

5.4 Der Kontextualismus der Rechtfertigung Weder dem klassischen Fundamentalismus noch der Kohärenztheorie gelingt es, die Struktur der Rechtfertigung auf überzeugende Weise zu rekonstruieren. Aus internalistischer Perspektive scheitern beide am Regressproblem. Außerdem zeichnen sie ein Bild unserer Rechtfertigung, das unserer tatsächlichen Rechtfertigungspraxis so gar nicht entspricht. Was den Fundamentalismus betrifft, so gibt es keine unanfechtbaren Gründe. Jeder Grund kann durch geeignete Zusatzinformationen zweifelhaft werden. Wir fangen die Begründung aller unserer Überzeugungen über die Außenwelt auch nicht mit cartesianischen Überzeugungen über unsere gegenwärtigen eigenen Erlebnisse oder Gedanken an. Die Ausgangspunkte unserer Begründungsketten scheinen vielmehr mit dem jeweiligen Kontext zu variieren. Auf der anderen Seite entwirft die Kohärenztheorie ein viel zu holistisches Bild unserer Rechtfertigung. Offensichtlich gibt es voneinander unabhängige Quellen der Rechtfertigung. Und es ist ein intellektualistischer Mythos, dass die Kohärenz aller unserer Überzeugungen eine so zentrale Rolle für ihre Rechtfertigung spielen soll, wie die Kohärenztheorie annimmt. Der Kontextualismus der Rechtfertigung bietet nun eine elegante Alternative zum klassischen Fundamentalismus und zur Kohärenztheorie an, indem er gerade der tatsächlichen Struktur unserer Rechtfertigung besonders Rechnung trägt. Strukturell oder formal betrachtet ist dieser Kontextualismus ein Fundamentalis-

346 Olsson 2005 ist die beste weiterführende Literatur. Olsson sieht die primäre Rolle kohärenzieller Überlegungen in der rationalen Überzeugungsrevision; bezüglich der positiven Rolle der Kohärenz, Zuverlässigkeit zu steigern, ist er skeptischer.



5.4 Der Kontextualismus der Rechtfertigung 

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mus, weil angenommen wird, dass es basale Überzeugungen gibt. Ob eine Überzeugung basal ist (und damit keiner weiteren inferenziellen Begründung mehr bedarf) oder nicht, ist ihm zufolge jedoch keine feststehende Eigenschaft dieser Überzeugung, wie ein substanzieller Fundamentalist behaupten würde. Es hängt vom jeweiligen Kontext ab, ob ein und dieselbe Überzeugung basal ist oder nicht. Der Vater des modernen Rechtfertigungskontextualismus, Ludwig Wittgenstein, hat das besonders pointiert ausgedrückt. In seinem Spätwerk Über Gewissheit sagt er: „Was feststeht, tut das nicht, weil es an sich offenbar und einleuchtend ist, sondern es wird von dem, was darum herumliegt, festgehalten.“347 Es ist also nicht die Selbstevidenz oder Unbezweifelbarkeit einer isolierten Überzeugung, die sie zum Ausgangspunkt einer Begründung macht, sondern es sind variable kontextuelle Faktoren. An dieser Stelle ist es vielleicht wichtig, den Kontextualismus, von dem hier die Rede ist, ganz deutlich vom semantischen Kontextualismus, von dem bereits früher die Rede war, und von anderen Anwärtern auf diesen Titel abzugrenzen. Der Kontextualismus, um den es jetzt geht, ist ein substanzieller Kontextualismus, insofern er behauptet, dass die epistemischen Eigenschaften selbst (hier die Begründungsbedürftigkeit oder Begründungsunbedürftigkeit der Überzeugung einer ganz bestimmten Person) vom Kontext abhängen. Ein deflationärer Kontextualismus wie der semantische Kontextualismus behauptet dagegen nur, dass die Bedeutung unserer epistemischen Ausdrücke wie z. B. „Wissen“ von ihrem Verwendungskontext abhängt. Nun muss man aber im Rahmen des substanziellen Kontextualismus auch noch zwei Positionen deutlich unterscheiden: Nach dem Externalismus hängen die Rechtfertigungseigenschaften einer Überzeugung davon ab, ob die Überzeugung tatsächlich durch zuverlässige Prozesse hervorgebracht wird. Der Kontextualismus, um den es in diesem Kapitel geht, nimmt dagegen an, dass es der pragmatische Kontext einer Überzeugung ist, der über ihre Basalität entscheidet.

347 Wittgenstein 1984, § 144.

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 5 Die Struktur der Rechtfertigung

Abb. 8

Der pragmatische Kontextualismus der inferenziellen Rechtfertigung besagt, dass die Begründungsbedürftigkeit oder -unbedürftigkeit (Basalität) einer Überzeugung mit dem pragmatischen Kontext variiert, in den sie jeweils eingebettet ist. Dabei spielen verschiedene pragmatische Faktoren eine Rolle. So kann man eine Überzeugung als dialektisch basal betrachten, wenn es in der relevanten Gesprächssituation oder sozialen Gemeinschaft (Forschergruppe, Kultur oder Lebensform) keine begründeten Einwände gegen diese Überzeugung gibt. Oder man kann eine Überzeugung als methodologisch basal bezeichnen, wenn sie zu Vorannahmen einer Untersuchung mit einem bestimmten Ziel gehört. Der pragmatische Kontextualist geht dabei von der Beobachtung aus, dass es in unserer Praxis des Rechtfertigens nicht erforderlich zu sein scheint, eine Überzeugung durch Anführen positiver Gründe zu stützen, solange diese Überzeugung in der relevanten Gruppe unstrittig ist. Er beobachtet außerdem, dass bestimmte Annahmen im Rahmen spezifischer Untersuchungen gar nicht strittig werden können. Im Rahmen der Geschichtswissenschaft wird beispielsweise vorausgesetzt, dass wir Dokumente und historische Relikte richtig erkennen können. Prämissen über die Beschaffenheit und das Aussehen dieser Dinge werden von der Geschichtswissenschaft einfach in Anspruch genommen. Und es wird ebenfalls ohne weitere Begründung vorausgesetzt, dass die Erde nicht erst – wie Russell sich als skeptische Hypothese vorgestellt hat – vor fünf Minuten erschaffen wurde und alle unsere Erinnerungen auf einer grandiosen Manipulation beruhen. Wenn man diese Voraussetzungen aufgibt, wären alle historischen Rückschlüsse von gegenwärtigen Dokumenten und Relikten auf vergangene Ereignisse falsch. Aber begründungsbedürftig sind diese Voraussetzungen im Rahmen der Geschichtswissenschaft nicht mehr. Wollte man sie thematisieren oder gar problematisieren, würde man automatisch das Thema wechseln und zur kognitiven Psychologie oder gar Erkenntnistheorie übergehen. Die Vorteile des pragmatischen Kontextualismus gegenüber den bisher behandelten Positionen liegen klar auf der Hand. Erstens entspricht der Kontextualismus unserer tatsächlichen Rechtfertigungspraxis wesentlich besser.



5.4 Der Kontextualismus der Rechtfertigung 

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Er ist deskriptiv angemessen. Es sind einfach Tatsachen, dass in einer Gruppe unstrittige Annahmen ohne weitere Begründung akzeptiert werden und dass es in jedem Untersuchungskontext Voraussetzungen gibt, die in ihm weder problematisiert werden noch überhaupt problematisiert werden können. Das macht den Kontextualismus zu einer natürlichen und naheliegenden Position. Zweitens erlaubt uns der Kontextualismus eine überzeugende Antwort auf den Skeptiker. Wenn man nämlich die verschiedenen Kontexte der Untersuchung sauber auseinanderhält und nicht davon ausgeht, dass es eine Hierarchie dieser Untersuchungskontexte gibt, dann kann man dem Skeptiker einerseits zugestehen, dass skeptische Probleme im Kontext der Erkenntnistheorie ernst zu nehmende Probleme sind. Zugleich kann man die Reichweite skeptischer Probleme jedoch auch beschränken, indem man daran festhält, dass diese Probleme eben auch nur im Kontext der Erkenntnistheorie relevant sind und auf andere alltägliche oder wissenschaftliche Kontexte keinen Einfluss haben. Der pragmatische Kontextualismus kontextualisiert also das Problem des Skeptizismus und entschärft es damit, ohne es ganz zu leugnen.348 Radikale Kontextualisten bezüglich der Rechtfertigungsstruktur behaupten, dass eine Überzeugung allein aufgrund ihrer dialektischen oder methodologischen Basalität auch erkenntnistheoretisch basal ist. Was in einer Gesprächssituation oder im Rahmen einer bestimmten Untersuchung unstrittig ist, hätte dann automatisch in diesem Kontext die epistemische Autorität eines ersten Grundes. Es ist nicht schwer zu sehen, dass ein derart radikaler Kontextualismus Einwände geradezu heraufbeschwört. Erstens ist unklar, warum Überzeugungen, die einfach nur de facto in einer bestimmten Gruppe unstrittig sind, oder konstitutive Bedingungen einer Untersuchung, die per definitionem im Rahmen dieser Untersuchung nicht aufgegeben werden können, irgendeine erkenntnistheoretische Autorität haben sollen, selbst wenn diese Autorität auf die jeweilige Gruppe beschränkt würde. Schließlich muss die Akzeptanz innerhalb einer Gruppe nicht einmal rational nachvollziehbar sein; und Untersuchungen, wie etwa die Astrologie, können auch auf total unzuverlässigen Methoden beruhen.349 Ein Zusammenhang zwischen Rechtfertigung und Wahrheit, der zu den Adäquatheitsbedingungen* der erkenntnistheoretischen Rechtfertigung gehört, besteht hier also gar nicht. Häufig wird dem entgegengehalten, dass hier derselbe Grundsatz gilt wie im Strafrecht: Jemand gilt solange als unschuldig, bis seine Schuld bewiesen

348 Williams 1996, S. 359, bezeichnet das verbleibende Phänomen als ‚Instabilität des Wissens‘. 349 Hier setze ich natürlich voraus, dass Wahrheit nicht durch Konsens (einer Gruppe) definiert oder erklärt werden kann. Aber ein realistischer Wahrheitsbegriff wurde bereits in Kapitel 2 verteidigt.

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 5 Die Struktur der Rechtfertigung

ist. Warum sollte also nicht auch eine Überzeugung solange als berechtigt gelten, bis sie durch gute Gründe angefochten wird? Die Antwort darauf lautet: Eine Überzeugung gilt tatsächlich so lange als berechtigt, bis sie durch gute Gründe angefochten wird. Nur folgt daraus, dass sie als berechtigt gilt (angesehen wird), nicht, dass sie auch berechtigt ist. Genauso wenig ist jemand unschuldig, nur weil er für unschuldig gehalten wird, solange keine Beweise seiner Schuld vorliegen. Aus der Analogie lässt sich also nicht die Konsequenz ziehen, dass unstrittige Überzeugungen einen bestimmten erkenntnistheoretischen Status tatsächlich haben. Der unmittelbare Schluss vom pragmatischen Status einer Überzeugung auf ihren erkenntnistheoretischen Status ist demnach unberechtigt. Zweitens hätte ein radikaler Kontextualismus die negative Konsequenz eines Rechtfertigungsrelativismus. Eine bestimmte Gruppe von Dogmatikern könnte einfach jede externe Kritik ignorieren und bliebe dennoch in ihrem Kontext gerechtfertigt. Und methodologische Voraussetzungen einer Untersuchung blieben prinzipiell immun gegenüber externer Kritik. Betrachten wir ein Beispiel: Im Rahmen der Astrologie wird vorausgesetzt, dass der Lauf der Sterne unseren Lebensweg bestimmt. Auf diese Weise sind im Kontext der Astrologie Vorhersagen über den zukünftigen Lebensweg gerechtfertigt. Daran würde sich aus Sicht des radikalen Kontextualisten auch dann nichts ändern, wenn Wissenschaftler sagen, dass die Methode der Astrologie vollkommen inakzeptabel ist, und aus empirischen Gründen (beispielsweise aufgrund bestimmter Krankheitsdaten einer Person) einen ganz anderen Lebensverlauf prognostizieren. Im Ergebnis wären widersprechende Aussagen in unterschiedlichen Kontexten gleichermaßen gerechtfertigt. Und selbst die Kenntnis dieser Tatsache würde daran nichts ändern, solange man die Rechtfertigung auf den jeweiligen Kontext relativiert. Drittens ist die deskriptive Angemessenheit des Kontextualismus natürlich nur ein sehr schwaches Argument für seine Richtigkeit. Sicher, wir beginnen unsere Begründungen jeweils mit kontextuell unstrittigen Annahmen. Aber dass wir das tun zeigt keinesfalls, dass wir dazu auch berechtigt sind. Die normative Frage nach der richtigen Struktur der erkenntnistheoretischen Rechtfertigung kann nicht allein durch eine Untersuchung unseres tatsächlichen Verfahrens beantwortet werden. Damit soll nicht bestritten werden, dass es sicher ein Vorteil für eine normative Theorie der Rechtfertigungsstruktur ist, wenn sie mit unserem tatsächlichen Rechtfertigungsverhalten weitgehend übereinstimmt. Michael Williams, der derzeit vermutlich prominenteste Kontextualist bezüglich der Rechtfertigungsstruktur, möchte vor allem die beiden erstgenannten misslichen Konsequenzen vermeiden. Für ihn sind pragmatische Basalität und erkenntnistheoretische Basalität nicht dasselbe; und er möchte den Relativismus auf jeden Fall umgehen. Deshalb nimmt er an, dass es zwar notwendig für die Rechtfertigung einer bestimmten Überzeugung ist, dass alle im Kontext relevan-



5.4 Der Kontextualismus der Rechtfertigung 

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ten Anfechtungsgründe ausgeräumt werden. Aber er hält das nicht für hinreichend, damit diese Überzeugung gerechtfertigt ist. Die Überzeugung muss außerdem mit Hilfe einer objektiv zuverlässigen Methode zustande gekommen sein. Es ist jedoch nicht nötig, dass der Überzeugungsinhaber dies auch begründen kann. Williams verbindet den Kontextualismus also mit einer externalistischen Grundauffassung. Williams vertritt damit ein Modell der Rechtfertigung, wonach eine Überzeugung allein auf Grund ihrer objektiv zuverlässigen Erzeugung vorläufig gerechtfertigt ist. Diese Rechtfertigung kann jedoch durch Anfechtungsgründe aufgehoben werden, sofern sie im dialektischen oder methodologischen Kontext relevant sind. Erst relativ zu solchen begründeten und relevanten Einwänden ist es nach Williams erforderlich, eine fragliche Überzeugung durch angeführte Gründe zu verteidigen. Wollen wir angesichts von begründeten Einwänden gerechtfertigterweise an einer Überzeugung festhalten, dann müssen wir Gründe anführen, die die bestehenden Einwände zerstreuen. Williams bezeichnet das als die „default and challenge“-Konzeption der Rechtfertigung.350 Diese Verbindung aus erkenntnistheoretischem Externalismus und Kontextualismus kann die Hauptprobleme des Kontextualismus in der Tat lösen. Wenn pragmatisch basale Überzeugungen zusätzlich auch zuverlässig gebildet sein müssen, um basal gerechtfertigt zu sein, dann lässt sich ihre epistemische Autorität jetzt dadurch erklären, dass sie in einem geeigneten Zusammenhang mit der Wahrheit stehen. Dieser Wahrheitszusammenhang fehlt bei vielen pragmatisch unstrittigen Annahmen und Methoden. Deshalb lässt sich die drohende Relativität minimieren. Auch wenn es Williams auf diese Weise gelingt, den Haupteinwänden gegen den Kontextualismus ihre Schärfe zu nehmen, ergibt sich ein Folgeproblem: Ist der externalistische Unterbau seiner Theorie überhaupt mit seinem Anspruch verträglich, dass er eine kontextualistische Struktur der Rechtfertigung vertreten möchte? Was bleibt bei Williams vom Kontextualismus übrig? Eines ist offensichtlich, nämlich dass die Struktur der inferenziellen Rechtfertigung vollständig durch den pragmatischen Kontext bestimmt wird und damit mit den Kontexten variiert. Deshalb gibt es keine invariante Struktur der inferenziellen Rechtfertigung. Doch wenn man, wie Williams, einen Externalismus vertritt, dann genügt das nicht, um zu zeigen, dass die gesamte Rechtfertigungsstruktur kontextrelativ ist. Denn der ganze Bereich der nicht-inferenziellen Rechtfertigung durch zuverlässige Prozesse ist davon ja nicht betroffen. Die kontextuelle Struktur von Anfechtung und Verteidigung betrifft eben nur eine Seite der erkenntnistheoretischen Rechtfertigung; der ganze andere Bereich der primären positiven Rechtfer-

350 Williams 2001, S. 36.

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 5 Die Struktur der Rechtfertigung

tigung durch zuverlässige Prozesse unterliegt dieser Struktur nicht. Der Hinweis auf die kontextualistische Struktur von Anfechtung und Verteidigung genügt also nicht, um einen echten Kontextualismus zu rechtfertigen. Nun hat Williams jedoch noch ein zweites Argument dafür, dass seine Position ein echter Kontextualismus ist. Seiner Auffassung nach haben Anfechtungsgründe nämlich immer nur eine kontextuell begrenzte Durchdringungskraft. Zwei Beispiele sollen verdeutlichen, was damit gemeint ist. Betrachten wir zunächst den Fall von jemandem, der im Alltag den Voraussagen seines Horoskops glaubt. Diese Voraussagen beruhen auf der Methode der Astrologie, die unterstellt, dass der Lauf der Sterne unser Leben maßgeblich bestimmt. Nehmen wir nun ferner an, dass Wissenschaftler einen zweifelsfreien Beweis liefern können, dass diese Methode unzuverlässig ist. Wenn sie Recht haben, dann waren die Vorhersagen des Horoskops und die Überzeugungen derjenigen, die an diese Vorhersagen glauben, niemals erkenntnistheoretisch gerechtfertigt. Sie beruhen einfach nicht auf der erforderlichen zuverlässigen Methode. Dennoch wäre es nicht irrational gewesen, wenn sich die Freunde des Horoskops einfach nicht um die wissenschaftliche Kritik gekümmert hätten. Nach Williams hätten sie einfach sagen können, dass die wissenschaftlichen Anfechtungsgründe im Kontext der Astrologie nicht relevant sind. Betrachten wir den umgekehrten Fall: Jemand verlässt sich auf die Ergebnisse der renommierten Wissenschaften, aber es gibt prinzipielle Einwände gegen die Zuverlässigkeit dieser Methoden von Seiten eines Kulturrelativisten, der sich auf Erkenntnisse so genannter primitiver Kulturen beruft, die die Zuverlässigkeit wissenschaftlicher Methoden prinzipiell fraglich erscheinen lassen. Wenn es wahr ist, dass unsere wissenschaftlichen Methoden zuverlässig sind und die Erkenntnisse der besagten primitiven Kultur es nicht sind, dann ist es nach Williams vollkommen berechtigt, wenn man die Einwände der primitiven Kultur einfach ignoriert. Diese Konsequenzen von Williams’ Position erscheinen mir vollkommen unannehmbar. Sobald ein Einwand im Raum steht, der berechtigt erscheint und sich gegen die Wahrheit meiner Überzeugung richtet oder gegen die Zuverlässigkeit der Methode, auf der diese Überzeugung beruht, muss ich mich mit diesem Einwand auseinandersetzen. Dabei ist es ganz egal, in welchem Kontext dieser Einwand geäußert wird. Ich darf ihn legitimerweise nur dann ignorieren, wenn ich ihn (als falsch oder unzuverlässig) entkräften kann. Jedes andere Verhalten würde die Rechtfertigung meiner Überzeugung aufheben, und zwar selbst dann, wenn diese Überzeugung tatsächlich zuverlässig gebildet wurde. Wenn die vorangehende Überlegung richtig ist, dann gibt es keine Beschränkung der Relevanz von Anfechtungsgründen auf Kontexte. Dann gibt es jedoch auch keine Gründe mehr, die für einen Kontextualismus der Rechtfertigung sprechen. Zugleich wird Williams’ eleganter Eindämmungsstrategie gegen den Skep-



5.5 Totgesagte leben länger: Plädoyer für einen moderaten Fundamentalismus 

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tizismus der Boden entzogen. Wenn die Durchdringungskraft der Anfechtungsgründe nicht kontextrelativ ist, dann kann man das skeptische Problem, sofern man es innerhalb der Erkenntnistheorie anerkennt, nicht mehr kontextualisieren: es hätte dann unmittelbare Relevanz für alle unsere Erkenntnisansprüche, in welchem Kontext sie auch immer erhoben werden. Im Rückblick lässt sich das Problem des Kontextualismus auf das folgende Dilemma* zuspitzen: Der Kontextualismus der Rechtfertigung ist entweder radikal oder moderat. Wenn er radikal ist, hat er offensichtlich unplausible Konsequenzen. Dazu gehören der Relativismus der Rechtfertigung und die Frage, warum rein pragmatische Faktoren hinreichen sollten, um eine basale Überzeugung zu rechtfertigen. Wenn der Kontextualismus dagegen moderat ist (und d. h. mit einem externalistischen Unterbau versehen wird), erweist er sich als instabil. In einer plausiblen Version läuft er auf die These hinaus, dass jeder Grund anfechtbar ist. Doch diese These wird auch von vielen nicht-kontextualistischen Positionen akzeptiert. Mit anderen Worten: Der Kontextualismus ist nur dann plausibel, wenn er aufhört, ein Kontextualismus zu sein. Probleme des Kontextualismus 1. Relativismus: Was unstrittig ist oder von einer Methode präsupponiert wird, ist zu relativ, um gerechtfertigt zu sein. 2. Erkenntnistheoretische Irrelevanz: Die epistemische Autorität pragmatisch basaler Überzeugungen bleibt unerklärt. 3. Instabilität: Ein moderater Kontextualismus ist kein echter Kontextualismus.

5.5 Totgesagte leben länger: Plädoyer für einen moderaten Fundamentalismus Bislang hat keine der untersuchten Theorien einer genaueren Überprüfung standgehalten. Dafür gab es vor allem drei Gründe: Erstens sind weder der klassische Fundamentalismus noch die Kohärenztheorie noch der Kontextualismus dazu in der Lage, das Regressproblem zu lösen, solange es aus der Perspektive des Internalismus gestellt wird. Deshalb hat der Internalismus eine große Affinität zum Skeptizismus, genauer gesagt zu der These, dass es gar keine gerechtfertigten Überzeugungen gibt. Zweitens sind der klassische Fundamentalismus und die Kohärenztheorie Modelle, die der Struktur unserer tatsächlichen Rechtfertigung kaum entsprechen. Der Kontextualismus schneidet hier vielleicht besser ab, ist aber umso härter vom dritten Einwand betroffen: Er bleibt uns eine Erklärung dafür schuldig, warum Annahmen, von denen wir in der Praxis unangefochten ausgehen, tatsächlich eine epistemische Autorität haben. Glücklicherweise gibt

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 5 Die Struktur der Rechtfertigung

es neben den bisher untersuchten Theorien noch eine weitere – den moderaten Fundamentalismus, der – wie sich gleich zeigen wird – die Kriterien viel besser erfüllt als seine Rivalen. Der moderate Fundamentalismus hält, wie seine fundamentalistischen Kollegen, daran fest, dass es basale Überzeugungen gibt. Er unterscheidet sich jedoch in zwei wichtigen Punkten vom klassischen Fundamentalismus: Basale Überzeugungen sind nur vorläufig gerechtfertigt, aber keinesfalls unanfechtbar oder unfehlbar. Ihre Rechtfertigung kann durch angemessene Gegengründe neutralisiert werden. Außerdem beziehen sich basale Überzeugungen (Wahrnehmungsüberzeugungen, Erinnerungsüberzeugungen oder intuitive Überzeugungen) nicht bloß auf das mentale Innenleben ihres Subjekts, wie die cartesianischen Überzeugungen, sondern unmittelbar auf die Welt. Deshalb ist der moderate Fundamentalismus nicht von Standardproblemen betroffen, die seinen klassischen Vetter quälen. Der moderate Fundamentalismus kann die generelle Anfechtbarkeit und Fehlbarkeit aller Überzeugungen einfach einräumen. Außerdem kann er leicht erklären, wie unser Wissen über die Außenwelt gerechtfertigt sein kann. Wenn sich bereits die basalen Überzeugungen auf die Außenwelt beziehen, dann kann das Problem des Überbaus gar nicht erst entstehen. Doch wie erklärt der moderate Fundamentalist die epistemische Autorität der basalen Überzeugungen über die Außenwelt? Und wie kann er das Regressproblem lösen? Auf beide Fragen gibt es eine genauso einfache wie überzeugende Antwort: Der moderate Fundamentalismus ist ein Externalismus. Jede Begründungskette fängt mit Überzeugungen an, die durch nicht-inferenzielle, aber de facto zuverlässige Prozesse hervorgebracht werden. Das genügt, um die resultierenden Überzeugungen zu rechtfertigen, und zwar selbst dann, wenn sie unmittelbar von der Welt handeln. Da die basalen Prozesse (Wahrnehmung, Erinnerung, Intuition usw.) nicht perfekt zuverlässig sind, sind die auf diese Weise gerechtfertigten Überzeugungen fehlbar und können durch Gegengründe angefochten werden. Der moderate Fundamentalismus erlaubt es zudem (im Gegensatz zur Kohärenztheorie und zum Kontextualismus), an verschiedenen basalen Quellen der Rechtfertigung (wie Wahrnehmung, Erinnerung, Intuition usw.) festzuhalten. Wir haben damit eine Theorie der Struktur unserer Rechtfertigung gefunden, die unserem alltäglichen Bild sehr nahe kommt, aber gleichzeitig sehr gut die philosophischen Grundprobleme (Regressproblem und die Suche nach einer erkenntnistheoretisch überzeugenden Erklärung der epistemischen Autorität basaler Überzeugungen) lösen kann.



5.6 Studienfragen zu Kapitel 4 und 5 

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Moderater Fundamentalismus 1. Basale Überzeugungen sind anfechtbar. 2. Basale Überzeugungen beziehen sich auf die Welt. 3. Die epistemische Autorität basaler Überzeugungen verdankt sich ihrer Zuverlässigkeit.

5.6 Studienfragen zu Kapitel 4 und 5 1. Wozu brauchen wir den Begriff der erkenntnistheoretischen Rechtfertigung überhaupt? 2. Wie unterscheidet sich epistemische Rechtfertigung von epistemischer Rationalität? 3. Was unterscheidet gute Gründe von schlechten Gründen gemäß dem Modell erkenntnistheoretischer Verpflichtung? Welches ist der Unterschied im Modell instrumenteller Rationalität? 4. Was sind die zentralen Argumente für den Evidentialismus? Welches sind die Hauptschwierigkeiten? 5. Was sind die wichtigsten Argumente für den Reliabilimus? 6. Nennen Sie zentrale Einwände gegen den Reliabilismus. 7. Versuchen Sie, eine Replik auf Foleys Argument gegen den Reliabilismus zu formulieren. 8. Welche Theorie der Rechtfertigung finden Sie überzeugend? Nehmen Sie kritisch Stellung. 9. Woran scheitert der klassische Fundamentalismus? 10. Erläutern Sie den Relativismuseinwand gegen die Kohärenztheorie der Rechtfertigung.

6 Skeptizismus 6.0 Allgemeines Wir alle gehen davon aus, dass wir viele Dinge wissen. Wir glauben, dass wir eine ganze Menge über uns selbst, über unsere Umgebung, andere Menschen und die Vergangenheit wissen. Außerdem glauben wir natürlich daran, dass die Wissenschaften Wissen in großem Umfang bereitstellen. Wir scheinen auch manches über zukünftige Ereignisse zu wissen, sofern wir zuverlässige Prognosen erstellen.351 Viele Menschen glauben ferner, dass sie wissen, was moralisch richtig oder falsch ist. Manche von uns glauben sogar, dass es Wissen von Gott gibt. Es ist also sehr natürlich zu glauben, dass wir ein umfangreiches Wissen haben. Skeptiker bestreiten diese ganz natürliche Annahme. Sie behaupten, dass es gute Gründe gibt, unsere optimistische Einschätzung unseres Wissensumfangs zu bezweifeln. Ihnen zufolge gibt es gute Gründe dafür, dass wir tatsächlich nur sehr wenig wissen, vielleicht sogar nichts oder wenigstens nahezu nichts. Dies ist die Position des Wissensskeptizismus. Vielleicht wird manch einer vorsichtiger sein mit seinen erkenntnistheoretischen Ansprüchen und zugeben, dass es vielleicht doch nicht so leicht ist, etwas wirklich zu wissen, aber darauf insistieren, dass wir zumindest sehr gute Gründe für viele unserer Überzeugungen über uns selbst, die Außenwelt, Fremdpsychisches, die Vergangenheit usw. haben. Wenn wir das glauben, dann ist es natürlich plausibel anzunehmen, dass viele dieser gut begründeten Überzeugungen auch wahr sind, denn die guten erkenntnistheoretischen Gründe sprechen ja für die Wahrheit der begründeten Überzeugungen. Demnach ist es zumindest sehr plausibel, dass wir viele gerechtfertigte wahre Überzeugungen haben, auch wenn sie vielleicht die Auszeichnung als Wissen im strengen Sinne nicht verdienen. Es gibt nun auch Skeptiker, die diese zweite, selbstverständliche Annahme bestreiten. Sie meinen, dass es gute Gründe dafür gibt, dass wir nur sehr wenige (oder sogar gar keine) gut begründeten Überzeugungen haben. Dies ist die Position des Rechtfertigungsskeptizismus. Sie ist sehr viel radikaler als der Wissensskeptizismus, weil sie bestreitet, dass unsere Überzeugungen insgesamt oder doch zumindest große Bereiche von ihnen irgendeine erkenntnistheoretisch positive Auszeichnung verdienen.

351 Allerdings ist unser prognostisches Wissen bestenfalls sehr eingeschränkt. Dass selbst politische Experten keine zuverlässigen Prognosen aufstellen können, zeigt die beeindruckende Studie von Tetlock 2005. DOI 10.1515/9783110530278-006

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 6 Skeptizismus

Skeptiker behaupten also, dass wir uns gewöhnlich über den Umfang unseres Wissens oder unserer gerechtfertigten Überzeugungen radikal täuschen. Wir überschätzen diesen Umfang ihnen zufolge maßlos. Skeptiker stützen ihre Thesen auf Argumente*, in denen sehr häufig Irrtums- und Täuschungsmöglichkeiten eine große Rolle spielen. Die Täuschungsmöglichkeiten sind dabei so konstruiert, dass im Falle der Täuschung aus der subjektiven Perspektive alles genau so aussehen würde, wie es im Falle eines erfolgreichen Erfassens der Wahrheit aussieht. Wir würden es also nicht bemerken, wenn wir Opfer einer Täuschung wären. Mit Täuschungsmöglichkeiten sind wir im Alltag gut vertraut. Es gibt Fälle von optischen oder psychologischen Illusionen oder sogar Halluzinationen, in denen wir nicht bemerken und vielleicht nicht einmal bemerken können, dass wir gerade einer Täuschung unterliegen. Normalerweise glauben wir jedoch, dass wir, auch wenn wir in einer solchen Situation nicht hinter die Täuschung kommen können, im Prinzip im Nachhinein immer herausfinden können, ob wir getäuscht wurden oder nicht. Gewöhnliche Täuschungsmöglichkeiten sind also lokaler Natur. Skeptische Täuschungsmöglichkeiten (die auch „skeptische Hypothesen“* genannt werden) sind dagegen global. Sie sind also so aufgebaut, dass wir, wenn wir getäuscht würden, auch im Prinzip nicht mehr herausfinden könnten, dass wir getäuscht werden. Denken Sie noch einmal zurück an die skeptische Geschichte aus der Einleitung. Harry bekommt von seiner verbitterten Sekretärin die Information, dass sie und einige ihrer Kumpanen bereits vor Monaten Harrys Gehirn aus seinem Schädel entfernt und an einen leistungsfähigen Computer angeschlossen haben, der seit dieser Zeit alle seine Erfahrungen von der Außenwelt und seiner Interaktion mit ihr permanent simuliert. Er kann auf keinerlei Weise herausfinden, ob sie die Wahrheit sagt oder ihm bloß einen bitterbösen Streich spielt. Wenn es wahr wäre, was sie sagt, dann würde seine Erlebnisperspektive weiter vom Computer genau so manipuliert, dass alles so aussieht, als würde er in der wirklichen Welt leben. Es gibt keinen Test, der ihm Klarheit verschaffen könnte. Der Täuschungszusammenhang, wenn er denn tatsächlich bestünde, wäre so umfassend, dass Harry aus ihm nicht herauskommen könnte. Skeptische Täuschungsmöglichkeiten setzen natürlich einen realistischen Wahrheitsbegriff* voraus. Wenn auch die besten Rechtfertigungsverfahren und Kriterien nicht sicherstellen können, dass keine Täuschung vorliegt, dann kann Wahrheit nicht durch Rechtfertigungskriterien definiert sein. Aber diese Voraussetzung war ja bereits im Kapitel über Wahrheit verteidigt worden. Nur ein realistischer Wahrheitsbegriff scheint intuitiv angemessen zu sein. Skeptische Hypothesen treten in vielen verschiedenen Varianten auf, mal als permanenter Traum, mal als universelle Täuschung durch einen bösen Dämon, als Täuschung durch bösartige Neurowissenschaftler (wie im Fall von Harry) oder neuerdings als Computersimulation durch Maschinen wie in dem Film „Matrix“. Dabei handelt es



6.1 Erkenntnistheoretischer Skeptizismus 

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sich nicht immer nur um unterschiedliche, dramatische Inszenierungen desselben, sondern es gibt auch systematisch wichtige Unterschiede, auf die später noch einzugehen sein wird. Hier ist zunächst einmal nur wichtig, dass skeptische Hypothesen wichtige Instrumente in den Händen des Skeptikers sind, um zu begründen, dass wir kein Wissen oder keine gerechtfertigten Überzeugungen haben. Skeptische Hypothesen sind aber weder unverzichtbare Elemente jedes skeptischen Arguments, noch sind sie für sich alleine hinreichend*, um die skeptische These zu begründen. Weitere erkenntnistheoretische Prämissen sind dazu unbedingt nötig.

6.1 Erkenntnistheoretischer Skeptizismus 6.1.1 Was besagt der erkenntnistheoretische Skeptizismus? Bevor wir uns verschiedene skeptische Argumente genauer ansehen können, muss die Position des erkenntnistheoretischen Skeptizismus zunächst präzisiert und von anderen Positionen im Umfeld abgegrenzt werden. Im Alltag sprechen wir davon, dass jemand skeptisch eingestellt ist oder eine skeptische Haltung hat. Damit meinen wir zunächst nur, dass er kritisch und vielleicht auch selbstkritisch eingestellt ist. So jemand ist immer offen für alternative Antworten auf seine Fragen und nicht dogmatisch* auf eine einzige Position fixiert. Er wird auch stets mit der Möglichkeit eigener Fehler oder Irrtümer rechnen und deshalb Wahrheit nur vorläufig beanspruchen. Diese skeptische Haltung kommt dem ursprünglichen griechischen Wortsinn sehr nahe. Das griechische Wort skopein bedeutet „umherschauen“ und der Skeptiker wird auch als zetetike, als „suchend“, bezeichnet. Im antiken Pyrrhonismus hat sich die skeptische Haltung weiter radikalisiert zur Indifferenz, Gleichgültigkeit und Standpunktlosigkeit in allen Dingen.352 Der pyrrhonische Skeptiker zeichnet sich dadurch aus, dass er die Technik beherrscht, zu jeder These Argumente für sie und gegen sie zu finden, die ihm gleich stark erscheinen. Das soll dann zur generellen Enthaltung von Überzeugungen führen, die in einen psychologischen Zustand der Gelassenheit und Seelenruhe mündet. Die Skepsis wird deshalb als eine ethisch wertvolle Lebensform betrachtet. Inte-

352 Die beste originale Darstellung der pyrrhonischen Skepsis ist Empiricus 1968. Sextus Empiricus ist ein später, im zweiten oder dritten Jahrhundert n. Chr. lebender Chronist der pyrrhonischen Position, die ursprünglich vom historischen Pyrrhon ausgeht (360–270 v. Chr.). Vgl. dazu die ausgezeichnete Gesamtdarstellung von Ricken 1994.

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 6 Skeptizismus

ressanterweise kann der pyrrhonische Skeptiker nicht gerechtfertigt behaupten, dass keine seiner Überzeugungen gerechtfertigt ist. Diese Position würde nämlich einen erkenntnistheoretischen Selbstwiderspruch enthalten. Wenn sie wahr wäre, würde sie jede Rechtfertigung und damit auch ihre eigene Rechtfertigung ausschließen. Dieses Problem haben die Pyrrhoneer selbst gesehen und deshalb ausdrücklich darauf verzichtet zu behaupten, dass sich mit guten Gründen zeigen lasse, dass die Gründe für oder gegen jede These immer gleichstark sind. Die pyrrhonische Technik soll nur den subjektiven Eindruck erwecken, dass es keine gerechtfertigte These gibt. Sie soll nur bewirken, „dass die Dinge uns hinsichtlich ihrer Glaubwürdigkeit und Unglaubwürdigkeit gleich erscheinen. Ob sie auch gleich sind, versichern wir nicht, sondern sagen nur, was uns über sie erscheint, wenn sie uns begegnen.“353 Wenn man so will, handelt es sich also nur um eine psychologische Therapie der Befreiung von Wahrheitsansprüchen, die selbst keinerlei Anspruch auf Rechtfertigung erhebt. Der Pyrrhonismus ist nur eine Einübung in die Standpunktlosigkeit. Durch konsequente Selbstanwendung beraubt sich der Skeptiker aller seiner Überzeugungen und wird so zum „schweigenden“ Skeptiker. Die skeptische Lebensform der Pyrrhoneer ist aus verschiedenen Gründen problematisch. Zunächst ist nicht klar, wieso man in der Gleichgültigkeit eine ideale Lebensform sehen kann. Es ist sicher wahr, dass der Gleichgültige gelassener gegenüber allem wird und deshalb nicht so anfällig ist für Eifer oder Enttäuschung. Aber man müsste doch eigentlich verzweifeln, wenn man in Fragen von Leben und Tod unentschieden bleiben und in der Praxis dennoch einfach den natürlichen Impulsen nachgeben müsste. Wer das habitualisiert, wird zum Zyniker. Die Pyrrhoneer glauben, dass natürliche Impulse und Triebe sowie die Üblichkeiten der Tradition am Ende das Verhalten des Skeptikers bestimmen, da er selbst keine Entscheidungen treffen kann. Damit ist die skeptische Lebensform jedoch maximal fremdbestimmt und eigenes Handeln degeneriert letztlich zum bloßen Verhalten. Ferner hat insbesondere David Hume gegen den Pyrrhonismus eingewandt, dass ein Leben ohne Überzeugungen, wie es ja der Skeptiker anstrebt, gar nicht möglich ist, da Überleben nur durch Handeln gesichert werden kann und Handlungen auf Wünschen und Überzeugungen beruhen.354

353 Empiricus 1957, 1. Buch, § 196. 354 Vgl. Hume 1993, S. 187: „Aber ein Pyrrhoniker kann nicht erwarten, dass seine Philosophie irgend einen beständigen Einfluss auf unseren Geist ausüben, oder dass dieser Einfluss, wenn sie es täte, für die Gesellschaft wohltätig sein würde. Er muss im Gegenteil zugeben, wenn anders er überhaupt etwas zugeben will, dass alles menschliche Leben untergehen müsste, wenn seine Prinzipien allgemein und auf Dauer zur Herrschaft kämen. Jede Unterredung und jede Handlung



6.1 Erkenntnistheoretischer Skeptizismus 

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Hume war weiterhin der Auffassung, dass wir unsere Überzeugungen auch gar nicht einfach durch Urteilsenthaltung aufgeben können. Im praktischen Leben stellen sich unsere Überzeugungen einfach spontan ein, ohne dass wir über sie eine willentliche Kontrolle haben. Von der skeptischen Haltung oder Lebensform muss die These des Skeptizismus unterschieden werden. Die skeptische These kann unterschiedlich formuliert werden, je nachdem, ob sie sich auf Wissen oder Rechtfertigung bezieht, und wie weit die These reicht. Solange es jedoch keine Gründe gibt, die für die Wahrheit der skeptischen These sprechen, ist der Skeptizismus ein bloßer Pessimismus.355 Schließlich lässt sich die skeptische These, dass wir kein Wissen über einen bestimmten Bereich haben, auf eine Weise rechtfertigen, die mit dem erkenntnistheoretischen Skeptizismus nichts zu tun hat. Man kann nämlich Wissen auch dadurch bestreiten, dass man gute Gründe für die Annahme liefert, dass es die wahr machenden Tatsachen selbst gar nicht gibt. John Mackie hat in der Ethik etwa die Auffassung vertreten, dass es die Wahrmacher moralischer Aussagen nicht geben kann, weil sie ontologisch obskur sind.356 Solche Tatsachen müssten nämlich einerseits ganz unabhängig von uns sein, andererseits aber unsere Handlungen motivieren können. Und das scheint beides nicht miteinander verträglich zu sein. Mackie war also der Überzeugung, dass es aus ontologischen Gründen moralische Tatsachen nicht geben kann und dass deshalb moralische Aussagen nicht wahr sein können. Dann könnte es jedoch auch kein moralisches Wissen geben, denn Wissen erfordert Wahrheit. Eine solche Argumentation für die skeptische These beruht nicht auf erkenntnistheoretischen Überlegungen. Die Position hat deshalb nichts mit dem erkenntnistheoretischen Skeptizismus zu tun, sondern soll als „Nihilismus“ bezeichnet werden. Die vorangehenden Überlegungen legen nahe, dass der erkenntnistheoretische Skeptizismus von der skeptischen Haltung (oder Lebensform), vom bloßen Pessimismus und vom Nihilismus unterschieden werden muss. Durch diese Abgrenzung treten zumindest drei Merkmale des erkenntnistheoretischen Skeptizismus deutlich hervor: (1) Es handelt sich um eine These. (2) Diese These wird nicht bloß vertreten, sondern mit guten Gründen geglaubt. Sie ist selbst erkenntnistheoretisch gerechtfertigt.

würden sofort aufhören und die Menschen in einem vollkommenen Dämmerzustand verharren, bis die unbefriedigten Bedürfnisse der Natur ihrem elenden Dasein ein Ziel setzten.“ 355 Ein solcher Pessimismus wird etwa Empedokles zugeschrieben. 356 Mackie 1981.

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 6 Skeptizismus

(3) Die Begründung dieser These muss darauf beruhen, dass spezifisch erkenntnistheoretische Bedingungen von Wissen und Rechtfertigung nicht erfüllt sind. Darüber hinaus gibt es einige weitere wichtige Merkmale des erkenntnistheoretischen Skeptizismus:357 (4) Der erkenntnistheoretische Skeptizismus ist eine anthropozentrische These. Sie betrifft unser menschliches Wissen und unsere menschliche Rechtfertigung und nicht die Möglichkeit von Wissen und Rechtfertigung im Allgemeinen, ganz unabhängig, ob wir von Tieren, Computern, Engeln oder Göttern sprechen. (5) Der erkenntnistheoretische Skeptizismus ist eine generelle These. Danach gibt es entweder überhaupt kein menschliches Wissen oder überhaupt keine gerechtfertigten menschlichen Überzeugungen (universeller Skeptizismus). Oder es gibt wenigstens kein Wissen oder keine Rechtfertigung einer bestimmten Art (durch Wahrnehmung, durch Introspektion*, a priori* aus reiner Vernunft, durch Erinnerung usw.). In diesem Fall spricht man von „partiellem Skeptizismus“. Solange uns nur einzelne Tatsachen kognitiv nicht zugänglich sind, spricht man nicht von erkenntnistheoretischem Skeptizismus. So wäre beispielsweise die These, dass wir nicht wissen können, ob es Leben in anderen Sonnensystemen gibt, keine in diesem Sinne skeptische These. (6) Der erkenntnistheoretische Skeptizismus ist eine prinzipielle oder modale These. Behauptet wird nicht, dass Menschen unter ungünstigen kontingenten* Bedingungen Wissen einer bestimmten Art nicht haben, sondern dass sie prinzipiell kein Wissen dieser Art haben können. (7) Der erkenntnistheoretische Skeptizismus bezieht sich auf Wissen und Rechtfertigung im gewöhnlichen Sinne. Die skeptische Argumentation gegen Wissen oder Rechtfertigung muss auf unserem alltäglichen Verständnis dieser Begriffe beruhen. Sollten wir dagegen gemessen an strengeren und vielleicht von Philosophen künstlich in die Höhe geschraubten Maßstäben kein Wissen oder keine Rechtfertigung haben, dann wäre das lange nicht so dramatisch. Der erkenntnistheoretische Skeptizismus behauptet, dass wir die Art von Wissen und Rechtfertigung nicht haben, von der wir gewöhnlich ausgehen. Ein Beispiel kann den Unterschied verdeutlichen.358 Stellen Sie sich vor, jemand würde behaupten, dass es auf der Welt keine Ärzte gibt. Das

357 Vgl. auch Williams 2001, Kap. 5. 358 Das Beispiel stammt von Stroud 1984, S. 40 f.



6.1 Erkenntnistheoretischer Skeptizismus 

 259

wäre in der Tat eine ungeheuerliche Neuigkeit. Wenn jedoch als Grund angegeben wird, dass als „Arzt“ nur derjenige verstanden wird, der in weniger als zwei Minuten jede erdenkliche Krankheit heilen kann, dann wäre die These trivial. Natürlich glaubt niemand, dass es einen solchen Wunderheiler gibt. Aber das ist nicht dasselbe wie das, was wir gewöhnlich unter einem „Arzt“ verstehen. (8) Schließlich kann man zwischen einem moderaten und einem radikalen Skeptizismus unterscheiden. Moderate Skeptiker bestreiten bestimmte epistemische Auszeichnungen unserer Überzeugungen. Sie behaupten also z. B., dass es kein Wissen gibt, greifen die Rechtfertigung jedoch nicht an. Diejenigen, die bestreiten, dass es überhaupt irgendeine positive erkenntnistheoretische Eigenschaft unserer Überzeugungen gibt (also Skeptiker, die beides, Wissen und Rechtfertigung, in Frage stellen), sind dagegen radikale Skeptiker.

6.1.2 Universeller und partieller Skeptizismus Ein bedeutender Unterschied zwischen dem antiken und dem neuzeitlichen Skeptizismus besteht darin, dass Skeptiker in der Antike universelle Thesen vertreten haben („Es gibt keinerlei menschliches Wissen“ oder „Es gibt keinerlei menschliche Rechtfertigung“), während in der Neuzeit primär spezifische Wissensquellen in Frage gestellt wurden (unser Wahrnehmungswissen über die Außenwelt wurde vom skeptischen Descartes in seiner Ersten Meditation, von Hume oder neuerdings von Barry Stroud bestritten, induktives* Wissen sowie Wissen von Kausalität wurde ebenfalls von Hume bestritten, Erinnerungswissen von der Vergangenheit sowie Wissen von Fremdpsychischem wurde von Alfred Ayer bestritten, apriorisches Wissen wurde von Quine, Wissen vom Hörensagen schließlich von Locke geleugnet). Nun wurde bereits in der Antike entdeckt, dass ein universeller Skeptizismus in die Gefahr eines Selbstwiderspruchs gerät. Was hat es damit auf sich? Betrachten wir zunächst die beiden folgenden Thesen: (1) Es gibt kein menschliches Wissen. (2) Es gibt keine menschliche Rechtfertigung. Die erste These bringt einen universellen Wissensskeptizismus zum Ausdruck, die zweite These einen universellen Rechtfertigungsskeptizismus. Beide Thesen können ohne Widerspruch wahr sein. Man kann auch sagen, dass sie nicht semantisch widersprüchlich sind. Ganz anders verhält es sich mit der folgenden Aussage: (3) Sokrates weiß, dass er nichts weiß.

260 

 6 Skeptizismus

Aus dieser Aussage lassen sich die beiden folgenden Aussagen ableiten: (4) Es gibt etwas, das Sokrates weiß. (5) Es gibt nichts, das Sokrates weiß. Wenn (3) wahr ist, dann ist es der Fall, dass das Subjekt der Aussage, Sokrates, das Prädikat „x weiß, dass p“ erfüllt. Also ist (4) wahr. Aber wenn (3) wahr ist, dann ist das, was Sokrates weiß, auch wahr, weil Wissen Wahrheit impliziert. Also weiß Sokrates nichts. (3) enthält also einen semantischen Widerspruch. Diese Aussage kann im Unterschied zu (1) und (2) nicht wahr sein. Doch auch wenn weder der universelle Wissensskeptizismus noch der universelle Rechtfertigungsskeptizismus semantisch widersprüchlich sind, so werfen sie doch ein verwandtes Problem auf. Nehmen wir einmal an, jemand wüsste (1). Dann gäbe es einen Widerspruch zwischen dem, was geglaubt wird, und der epistemischen Einstellung zu (1). Wissen von (1) ist erkenntnistheoretisch inkonsistent*. Oder überlegen Sie, was passiert, wenn jemand (2) gerechtfertigt glaubt. Dann entsteht ein Widerspruch zwischen dem Inhalt dessen, was er glaubt, und seiner Rechtfertigung dieser Überzeugung. Wenn die Überzeugung wahr wäre, dann könnte sie nicht gerechtfertigt sein. Das genannte Problem tritt zwar nur auf, wenn die Thesen (1) und (2) nicht nur geglaubt werden, sondern mit einer bestimmten erkenntnistheoretischen Einstellung geglaubt werden. Damit wird man das Problem aber nicht los. Das wird deutlich, wenn man bedenkt, dass der erkenntnistheoretische Skeptizismus eben keine bloße These sein, sondern selbst begründet oder gewusst werden soll. Nun gibt es zwei verschiedene Weisen einer positiven erkenntnistheoretischen Einstellung zu einer These. Man kann diese These entweder wissen oder man kann sie wenigstens gerechtfertigt glauben. Wenden wir das auf die beiden universellen skeptischen Thesen an: Ohne erkenntnistheoretischen Selbstwiderspruch kann man offenbar nicht wissen, dass es keinerlei menschliches Wissen gibt. Das haben in der Antike die Stoiker gegen die akademischen Wissensskeptiker eingewandt. Doch die akademischen Skeptiker konnten darauf insistieren, dass der universelle Wissensskeptizismus zumindest gerechtfertigt geglaubt werden kann.359 Es gibt keinen epistemischen Widerspruch zwischen der These „Es gibt kein menschliches Wissen“ und der Tatsache, dass wir diese These gerechtfertigt glauben und sie, wenn alles gut geht, auch wahr ist.360 Der universelle Wissensskeptizismus ist also nicht vom Selbstwiderspruch bedroht, solange er nur als gerechtfertigte These auftritt und keinerlei Wissensansprüche vertritt.

359 Nach skeptischer Auffassung erfordert Wissen unfehlbare Gründe, die es nicht gibt. Fehlbare Gründe können Überzeugungen jedoch rechtfertigen. 360 Vgl. zu dieser Strategie Cicero 1997, § 110.



6.1 Erkenntnistheoretischer Skeptizismus 

 261

Wie sieht es mit der Konsistenz des universellen Rechtfertigungsskeptizismus aus? Ein erkenntnistheoretischer Selbstwiderspruch tritt auf, wenn die These, dass es keine menschliche Rechtfertigung gibt, gerechtfertigt sein soll. Dieser Selbstwiderspruch lässt sich nicht dadurch vermeiden, dass man beansprucht, sie zu wissen. Wissen impliziert nämlich nach herrschender Überzeugung Rechtfertigung. Wenn man also beansprucht zu wissen, dass es keine gerechtfertigte Überzeugungen gibt, dann beansprucht man implizit auch, gerechtfertigt zu glauben, dass es keine gerechtfertigten Überzeugungen gibt. Und schon taucht der erkenntnistheoretische Widerspruch wieder auf. Die Pyrrhoneer haben diesen drohenden Selbstwiderspruch gesehen und deshalb, wie bereits erwähnt, ihre eigene These nicht mehr als erkenntnistheoretisch gerechtfertigt, sondern nur psychologisch plausibel aufgefasst. Damit haben sie jedoch eine der notwendigen* Bedingungen des erkenntnistheoretischen Skeptizismus aufgegeben. Dieser Skeptizismus tritt nämlich mit dem Anspruch auf, eine gerechtfertigte These zu vertreten. Hält man sich das vor Augen, dann wird deutlich, dass ein universeller Rechtfertigungsskeptizismus nicht konsistent vertretbar ist. Könnte man den Rechtfertigungsskeptizismus nicht etwas schwächer verstehen und damit doch letztlich konsistent machen? In der Antike findet sich verschiedentlich die folgende Denkfigur: Die (akademischen) Skeptiker versuchen selbst gar keine positive These zu vertreten, sondern sie führen eine attackierte Position einfach ad absurdum.361 Das würde etwa so aussehen: Die Theorie T behauptet erstens, dass die Bedingungen B für die Rechtfertigung bestehen. Zweitens behauptet T, dass unsere Erkenntnisvermögen auf eine bestimmte Weise E beschaffen sind. Drittens akzeptiert T die Gesetze der Logik L. Nun lässt sich zeigen, dass, wenn E wahr ist, B nicht erfüllt sein kann, und zwar unter Anwendung von L. Der Vertreter der attackierten Theorie T kann also nicht konsistent behaupten, dass es menschliche Rechtfertigung gibt. So lassen sich skeptische Argumente als reductio ad absurdum auffassen. Diese skeptische Strategie wirft jedoch eigene Probleme auf. Sie erlaubt dem Skeptiker nämlich keine generellen Aussagen über die Möglichkeit menschlicher Rechtfertigung. Sie erlaubt ihm nur die Aussage, dass relativ zu einer bestimmten Theorie oder Auffassung Rechtfertigung unmöglich ist. Dabei bleibt offen, ob die Theorie falsch und Rechtfertigung unproblematisch ist oder ob die Theorie wahr und Rechtfertigung tatsächlich unmöglich ist. Diese Relativierung der skeptischen These auf eine Theorie vermeidet zwar den Selbstwiderspruch, relativiert damit aber den Anspruch so, dass von einem universellen Rechtfertigungsskeptizismus gar nicht mehr die Rede sein kann. Behauptet wird nicht mehr, dass es keine menschliche Rechtfertigung

361 Vgl. zu dieser Interpretation Striker 1996, Bett 1989.

262 

 6 Skeptizismus

gibt, sondern nur, dass eine bestimmte Auffassung nicht konsistent behaupten kann, dass es menschliche Rechtfertigung gibt. Der universelle Wissensskeptizismus ist erkenntnistheoretisch konsistent vertretbar. Der universelle Rechtfertigungsskeptizismus ist erkenntnistheoretisch inkonsistent.

Der partielle, auf Wissensbereiche oder Arten von Rechtfertigung beschränkte Skeptizismus scheint dagegen keinerlei Konsistenzprobleme aufzuwerfen.

6.1.3 Wie wichtig ist der Skeptizismus für die Erkenntnistheorie? In der Antike spielte der Skeptizismus vor allem als Lebensform eine wichtige Rolle. Wir haben jedoch gesehen, dass eine skeptische Lebensform weder attraktiv noch überhaupt konsistent praktizierbar ist. Ein Leben ohne Überzeugungen würde nämlich zur tödlichen Handlungslosigkeit erstarren oder zumindest zu einem bloß reflexhaften Vegetieren degenerieren. In der neuzeitlichen und gegenwärtigen Philosophie ist der Skeptizismus dagegen nur ein mögliches Resultat einer strengen Überprüfung und Bewertung unserer gewöhnlichen epistemischen Ansprüche. Er besagt, dass wir – streng genommen – unsere eigenen erkenntnistheoretischen Maßstäbe für Wissen und Rechtfertigung nicht erfüllen. Diese theoretische Einsicht hat jedoch keine unmittelbaren praktischen Konsequenzen. Von Descartes bis in die unmittelbare Gegenwart war und ist der Skeptiker ein fiktiver Gegner, gegen den die Erkenntnistheorie unsere epistemischen Ansprüche zu verteidigen versucht. Die skeptische Herausforderung wurde und wird dabei durch lebensechte skeptische Hypothesen und überzeugende Argumente so stark wie möglich gemacht, um dann zu prüfen, ob wir in der Lage sind, unsere Ansprüche im Angesicht dieser Herausforderung aufrechtzuerhalten. Dabei gibt es zwei verschiedene Strategien antiskeptischer Argumentation. Die eine Strategie läuft darauf hinaus zu zeigen, dass die skeptischen Argumente für die These, dass wir kein Wissen oder keine gerechtfertigten Überzeugungen haben, keine guten Argumente sind. Hier wird versucht, den Skeptizismus zu entkräften, indem man seine argumentative Basis angreift. Die andere Strategie greift direkt die skeptische Konklusion an, dass wir kein Wissen oder keine gerechtfertigten Überzeugungen haben, und versucht zu beweisen*, dass wir entgegen der skeptischen These doch Wissen oder gerechtfertigte Überzeugungen haben. Die erste Strategie, die ich moderaten Antiskeptizismus nennen möchte, versucht zu zeigen, dass es keine guten Gründe für den Skeptizismus gibt. Die zweite Strategie, der ambitionierte Antiskeptizismus, will den Skeptizismus widerlegen. Diese zweite Strategie ist der Versuch, gegen den Zweifel daran,



6.1 Erkenntnistheoretischer Skeptizismus 

 263

dass wir Wissen (oder gerechtfertigte Überzeugungen) haben, ein Wissen zweiter Ordnung* zu etablieren. Bis ins ausgehende 19. Jahrhundert hat die moderate oder ambitionierte Auseinandersetzung mit dem Skeptizismus eine zentrale Stellung in der Erkenntnistheorie eingenommen, und auch gegenwärtig sind viele Erkenntnistheoretiker immer noch der Auffassung, dass eine Erkenntnistheorie ohne Auseinandersetzung mit dem Skeptizismus keine echte Erkenntnistheorie ist. Die folgenden Äußerungen von Descartes, Kant und BonJour sind dafür symptomatisch: „(D)a es jedoch nur vernünftig ist, bei dem nicht ganz (…) Unzweifelhaften ebenso sorgsam seine Zustimmung zurückzuhalten wie bei offenbar Falschem, so wird es, sie alle [die bisherigen Überzeugungen] zurückzuweisen, genügen, wenn ich in einer jeden irgendeinen Grund zu zweifeln antreffe.“362 „Der Idealismus mag in Ansehung der wesentlichen Zwecke der Metaphysik für noch so unschuldig gehalten werden (…), so bleibt es immer ein Skandal der Philosophie und allgemeinen Menschenvernunft, das Dasein der Dinge außer uns (…) bloß auf Glauben annehmen zu müssen, und, wenn es jemand einfällt, es zu bezweifeln, ihm keinen genugtuenden Beweis entgegenstellen zu können.“363 „Gäbe es keine Skeptiker (…), müsste der ernsthafte Erkenntnistheoretiker sie erfinden.“364

Im 20.  Jahrhundert haben sich dagegen die Stimmen gemehrt,365 wonach die Beschäftigung der Erkenntnistheorie mit dem Skeptizismus sinnlos, völlig unfruchtbar oder zumindest bislang maßlos übertrieben war. Sehen wir uns genauer an, ob an dieser Skepsis gegenüber der Beschäftigung mit dem Skeptizismus innerhalb der Erkenntnistheorie etwas dran ist. Wieso kann man meinen, dass die Beschäftigung mit dem Skeptizismus unfruchtbar ist? Einige Philosophen halten skeptische Probleme für Scheinprobleme. Die Verifikationisten unter ihnen sind der Auffassung, dass nur solche Sätze sinnvoll sind, die verifizierbar oder falsifizierbar sind. Skeptische Hypothesen sind nun aber gerade so konstruiert, dass man niemals herausfinden kann, ob sie zutreffen oder nicht. (Wie sollte Harry herausfinden, ob die Geschichte, die seine Sekretärin ihm erzählt, tatsächlich wahr oder nur ein böser Streich ist?) Deshalb sind sie

362 Descartes 1992, S. 18. 363 Kant 1998, B XL, Anm. 364 BonJour 1985, S. 15, meine Übersetzung. 365 Vgl. die Pragmatisten (Peirce, Dewey, Rorty), Naturalisten (bereits Hume, aber neuerdings vor allem Quine, Goldman usw.), Common-Sense-Philosophen (Wittgenstein, Moore, Chisholm) und Logische Positivisten (Carnap).

264 

 6 Skeptizismus

für die Verifikationisten sinnlos. Und es ist natürlich unfruchtbar, sich mit der Widerlegung oder Entkräftung sinnloser Äußerungen zu beschäftigen.366 Wenn der Verifikationist Recht hätte mit seiner Theorie sinnvoller Sätze, dann wäre der Skeptizismus also tatsächlich ein Scheinproblem. Aber der Verifikationismus ist eine problematische Theorie. Bereits im Kapitel über Wahrheit hatte sich herausgestellt, dass Wahrheit kein epistemischer Begriff ist und deshalb nicht durch Rechtfertigungsbedingungen definiert werden kann. Dann müssen wir aber die Wahrheitsbedingungen der Sätze von ihren Rechtfertigungsbedingungen unterscheiden. Auch Sätze ohne Rechtfertigungsbedingungen (wie skeptische Hypothesen) können demnach Wahrheitsbedingungen besitzen und sinnvoll sein. Das ist auch intuitiv einleuchtend. Wir wissen sehr genau, was der Fall wäre, wenn eine skeptische Hypothese (wie Harrys permanente Täuschung durch einen Computer) wahr wäre, auch wenn wir keine Möglichkeit besitzen herauszufinden, ob das, was sie sagt, wahr ist. Es gibt daneben andere Philosophen, die skeptische Hypothesen zwar für sinnvoll halten, im skeptischen Problem jedoch gleichwohl ein Scheinproblem sehen. Sie sagen, dass der Anschein eines skeptischen Problems durch falsche oder grob verzerrende erkenntnistheoretische Grundannahmen entsteht. Wenn man dieses falsche Bild im Hintergrund einmal durchschaut hätte, dann würde sich das Problem in Luft auflösen. Eine Diagnose der Problementstehung würde uns also einen Ausweg aus unserem erkenntnistheoretischen Fliegenglas finden lassen.367 Nun mag es ja sein, dass skeptische Argumente auf falschen erkenntnistheoretischen Prämissen beruhen, aber die Diagnose erlaubt dann nicht nur die Auflösung des Problems, sondern sie ermöglicht uns auch ein besseres Verständnis unserer erkenntnistheoretischen Grundprinzipien. Deshalb wäre die Beschäftigung mit dem Skeptizismus in der Erkenntnistheorie zumindest heuristisch wertvoll. Man könnte also nicht mit Recht behaupten, dass die Beschäftigung mit dem Skeptizismus für die Erkenntnistheorie unfruchtbar ist. Eine ganze Reihe von Common-Sense-Philosophen halten den Skeptizismus zwar nicht für ein Scheinproblem, sondern für ein ernsthaftes Problem. Aber sie halten die Beschäftigung mit dem Problem für unfruchtbar, weil sich der Skeptizismus ohnehin nicht widerlegen lasse. Die philosophische Beschäftigung mit ihm würde deshalb zwangsläufig in eine Sackgasse führen, aus der man in der Erkenntnistheorie nicht mehr herauskäme. Will man dennoch konstruktive Erkenntnistheorie betreiben, so die Auffassung, dann muss man sich gegen den Skeptizismus entscheiden. Thomas Bartelborth drückt diese Auffassung beson-

366 Williams 1996, xiv ff nennt diese Strategie „therapeutische Diagnose“. 367 Williams 1996, xiv ff, bezeichnet diese Strategie als „theoretische Diagnose“.



6.1 Erkenntnistheoretischer Skeptizismus 

 265

ders pointiert aus: „Nur eine Ablehnung der radikalen skeptischen Haltung kann zu einem fruchtbaren Forschungsprogramm führen (…).“368 Man beginnt demnach einfach mit der dogmatischen Setzung, dass die meisten der Überzeugungen, die wir gewöhnlich für gerechtfertigt halten, dies auch tatsächlich sind. Diese Ignoranz gegenüber dem Skeptizismus ist jedoch aus zwei Gründen problematisch. Erstens erschöpft sich die Beschäftigung mit dem Skeptizismus ja nicht in der ambitionierten Skepsiswiderlegung. Von einer solchen Widerlegung des Skeptikers hängt die Möglichkeit einer konstruktiven Erkenntnistheorie sicherlich nicht ab. Der Skeptiker präsentiert aber auch skeptische Argumente, die gegen die Berechtigung alltäglicher Wissens- und Rechtfertigungsansprüche sprechen. Und diese Argumente kann nur ein Dogmatiker einfach ignorieren. Für eine rationale Erkenntnistheorie bleibt nur die Wahl zwischen einem moderaten Antiskeptizismus (der die skeptischen Argumente analysiert und zurückweist) oder der Anerkennung des Skeptizismus. Zweitens kann man selbst dann, wenn das skeptische Problem nicht gelöst werden kann, eine ganze Menge über unsere Erkenntnisziele und Erkenntnisprinzipien aus einer Diagnose des Skeptizismus lernen. Der Skeptizismus lässt sich also weder als Scheinproblem abtun noch einfach ignorieren. Die Möglichkeit globaler und undurchschaubarer Täuschungsmöglichkeiten macht die Suche nach einer Verteidigung unserer gewöhnlichen Wissens- und Rechtfertigungsansprüche sinnvoll. Wir wollen wissen, ob der Umfang unseres Wissens und unserer gerechtfertigten Überzeugungen so groß ist, wie wir gewöhnlich glauben. Um dieses Ziel zu erreichen, lohnt sich der Versuch, den Skeptizismus zu widerlegen. Darüber hinaus gibt es eine Reihe von skeptischen Argumenten, die eine rationale Erkenntnistheorie nicht einfach ignorieren kann, sondern entweder akzeptieren oder zurückweisen muss, indem sie fehlerhafte Prämissen oder Fehlschlüsse nachweist. Schließlich kann man diagnostisch an den Skeptizismus herangehen und die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen des skeptischen Problems aufdecken. Hier kann man zwei unterschiedliche Wege einschlagen. G. E.  Moore war der Auffassung, dass die skeptische Konklusion so absurd ist, dass es auf jeden Fall viel sicherer ist, dass sie falsch ist, als dass irgendeine Prämisse über Erkenntnisbedingungen wahr ist, die zu der skeptischen Konklusion hinführt.369 Man kann also aus der Falschheit der skeptischen Konklusion per modus tollens auf die Falschheit der skeptischen Prämissen schließen und so etwas über Erkenntnisprinzipien lernen. Oder, wie John Greco neuerdings sagt:

368 Bartelborth 1996, S. 261. Vgl. auch Chisholm 1982, S. 75. 369 Moore 1959, S. 226.

266 

 6 Skeptizismus

„Ich argumentiere dafür, dass die Analyse skeptischer Argumente philosophisch nützlich und wichtig ist. (…) Sie ist es dadurch, dass sie plausible, aber falsche Annahmen über Wissen und Gründe zum Vorschein bringt, und dadurch, dass sie uns zeigt, dass diese Annahmen inakzeptable Konsequenzen haben. Im Ergebnis sind wir gezwungen, sie durch substantielle und kontroverse Positionen zu ersetzen.“370

Man kann jedoch die Analyse skeptischer Argumente auch heuristisch benutzen, um kontroverse erkenntnistheoretische Prinzipien zum Vorschein treten zu lassen, deren Richtigkeit man anschließend diskutieren muss. Dieser zweite Weg behandelt das skeptische Problem als ein offenes Problem und betrachtet den Skeptizismus nicht von vornherein als absurde Position.371 Auch wenn der Skeptizismus selbst also sicher keine fruchtbare erkenntnistheoretische Position ist, so ist die Beschäftigung mit ihm in jedem Fall fruchtbar, und zwar ganz egal, ob wir eine antiskeptische Strategie einschlagen oder uns rein diagnostisch auf ihn einlassen. Wie man mit dem Skeptizismus fruchtbar umgehen kann: 1. Skepsiswiderlegung (ambitionierter Antiskeptizismus) 2. Widerlegung der Argumente für den Skeptizismus (moderater Antiskeptizismus) 3. Diagnose (Analyse der Prämissen, die zum Skeptizismus führen)

6.2 Eine Analyse skeptischer Argumente Im Folgenden sollen fünf verschiedene Argumentationstypen für den Skeptizismus vorgestellt, analysiert und bewertet werden. Dabei kann oftmals ein und derselbe Argumentationstyp sowohl zur Begründung des Wissens- als auch des Rechtfertigungsskeptizismus verwendet werden. Sofern die Argumente einen partiellen Skeptizismus stützen, können sie auch auf unterschiedliche Wissensbereiche bzw. Bereiche gerechtfertigter Überzeugungen angewandt werden. Jeder Argumentationstyp lässt sich aus einem klassischen skeptischen Argument rekonstruieren. Es soll nicht behauptet werden, dass sich alle skeptischen Argumente vollständig auf diese fünf Typen zurückführen lassen. Dennoch wird von ihnen sicher ein zentraler Bereich skeptischer Argumente erfasst. Die Argumentationstypen lassen sich noch einmal in drei Gruppen ordnen. Da ist zunächst die Gruppe der Argumente, in denen skeptische Hypothesen eine notwendige

370 Greco 2000, S. 3, meine Übersetzung. 371 Vgl. In diesem Sinne Stroud 1984, Grundmann 2003a.



6.2 Eine Analyse skeptischer Argumente 

 267

Rolle spielen: das Gewissheitsargument, das Geschlossenheitsargument und das Traumargument. Daneben gibt es aber noch das Regressargument und das Unterbestimmtheitsargument, in denen skeptische Hypothesen keinerlei Rolle spielen und die jeweils eine eigene Gruppe bilden.

6.2.1 Skeptische Argumente, die auf skeptischen Hypothesen beruhen Skeptische Hypothesen sind globale Täuschungshypothesen, die zum Handwerkszeug des Skeptikers gehören. Eine skeptische Hypothese beschreibt eine Situation, in der aus der Perspektive des Subjekts alles genau so aussieht, als läge keinerlei Irrtum vor, sondern als sei alles ganz normal, in der aber die subjektive Perspektive einer radikalen Täuschung unterliegt, so dass die auf sie gestützten Überzeugungen radikal falsch sind. Die skeptische Hypothese sagt nicht nur, dass eine radikale Täuschung vorliegt, sie erklärt auch kausal, warum sie vorliegt. Skeptische Hypothesen schmücken in der Regel die Täuschungssituationen mit vielen konkreten Details aus, damit sie möglichst lebensecht und realistisch erscheinen. Skeptische Hypothesen sind jedoch Hypothesen, d. h. es ist denkbar und möglich, dass sie wahr sind, aber der Skeptiker kann keine Gründe dafür anführen, dass sie tatsächlich wahr sind. Er beruft sich in seiner Argumentation auf die bloße Möglichkeit von Situationen, die durch skeptische Hypothesen beschrieben werden. Skeptische Hypothesen sind mit einem epistemischen Wahrheitsverständnis unverträglich, weil ein globaler Täuschungszusammenhang unmöglich wäre, wenn Wahrheit durch Rechtfertigungsbedingungen definiert würde. Skeptische Hypothesen implizieren also ein realistisches Wahrheitsverständnis. Dies ist eine Konsequenz, die – wie wir gesehen haben – bestens im Einklang steht mit unserem intuitiven Wahrheitsbegriff. Skeptische Hypothesen alleine reichen allerdings nicht aus, um skeptische Konsequenzen zu rechtfertigen. Um die skeptische Konklusion zu begründen, bedarf es zusätzlicher Annahmen über Wissensund Rechtfertigungsbedingungen. Skeptische Hypothesen sind also im Rahmen bestimmter skeptischer Argumente notwendig, aber keineswegs hinreichend für die Begründung des Skeptizismus. Für die Analyse skeptischer Argumente ist eine Unterscheidung zwischen zwei Arten von skeptischen Hypothesen wichtig. Der Unterschied betrifft nicht die Ursache, sondern den Umfang der Täuschung. Eine Art von skeptischen Hypothesen impliziert den vollständigen Irrtum des Subjekts. Bei dieser Art von Hypothesen werden Ursachen dafür genannt, dass das Subjekt ausschließlich falsche Überzeugungen über die Welt erwirbt, ohne es bemerken zu können. Dahinter kann ein böser, allmächtiger Dämon stehen oder ein bösartiger Neuro-

268 

 6 Skeptizismus

wissenschaftler, der das Gehirn des Subjekts an einen leistungsstarken Computer anschließt, oder es können auch die Maschinen der Matrix dahinter stehen. In diesen Hypothesen totalen Irrtums kommt es nur darauf an, dass das Subjekt keine wahren Überzeugungen hat. Solange es um Wissen über die Außenwelt geht, können wir die Dämonhypothese als paradigmatischen Fall nehmen, wonach keine materiellen Dinge in der Außenwelt existieren, aber der Dämon uns fortwährend über ihre Existenz täuscht. Davon muss eine andere Art von Hypothesen deutlich unterschieden werden, mit Hilfe derer Situationen beschrieben werden, in denen die Wahrheit bestenfalls zufällig erzielt wird. Das geschieht z. B. in der Traumsituation. Man kann träumen, dass man in seinem Bett schläft, während man es tatsächlich tut. Es ist nicht ausgeschlossen, dass manche Trauminhalte mit der Wirklichkeit übereinstimmen. Das geschieht z. B. auch, wenn laute Geräusche (wie etwa das schrille Läuten eines Weckers) den Schlaf stören und deshalb unmittelbar in den Traum selbst eingebaut werden, um als Störquelle ausgeschaltet zu werden. Aber wenn Trauminhalte wahr sind, dann sind sie es nur zufällig. Es gibt im Traum keine systematische Beziehung des Trauminhalts zum Wahrmacher. Der Traum ist deshalb eine unzuverlässige Quelle der Wahrheit. Diese Art von Hypothesen (für die der Traum der paradigmatische Fall ist) sind Unzuverlässigkeitshypothesen. Es wird sich zeigen, dass Hypothesen des totalen Irrtums und Unzuverlässigkeitshypothesen unterschiedliche Funktionen in skeptischen Argumenten übernehmen. 6.2.1.1 Das Gewissheitsargument Der Vater dieses skeptischen Arguments ist sicher Descartes in seiner Ersten Meditation. Descartes verwendet dieses Argument zwar nicht in skeptischer Absicht, sondern seine skeptische Methode dient dem Zweck, genuines von vermeintlichem Wissen zu unterscheiden. Er meint also, dass bestimmte Wissensansprüche von diesem Argument gar nicht betroffen sind. Diese Strategie spielt für die jetzigen Zwecke jedoch keine Rolle. Das Argument kann man folgendermaßen rekonstruieren: (1) (2) (3)

Um zu wissen, dass p, muss meine Überzeugung, dass p, gewiss sein, d. h. auf wahrheitsgarantierende Gründe gestützt sein. Es ist möglich, dass mich ein Dämon permanent täuscht. Wenn es möglich ist, dass mich ein Dämon permanent täuscht, dann gibt es keine Überzeugung, dass p, die gewiss ist.

Also: Es gibt keine Überzeugung, dass p, die ich weiß.



6.2 Eine Analyse skeptischer Argumente 

 269

Das Argument ist ein Argument für den universellen Wissensskeptizismus. Da aber, wie wir gesehen haben, die Täuschungsmöglichkeiten eines Dämons ihre Grenzen haben (und zwar an Überzeugungen über die eigene Existenz des Subjekts), können wir uns für den Augenblick auf empirisches Wissen über die Außenwelt beschränken. (1) scheint richtig zu sein, wenn man die Prämisse richtig interpretiert. Im Kapitel über Wissen hatte sich gezeigt, dass Wissen sichere Gründe voraussetzt. Ich kann nur dann Wissen von einer Tatsache haben, wenn meine Überzeugung von dieser Tatsache auf Gründen beruht, die nicht leicht in die Irre hätten führen können. In der aktualen Welt und in nahen möglichen Welten* muss die Tatsache vorliegen, wenn der Grund vorliegt. Wenn diese Bedingung erfüllt ist, kann man von „Gewissheit“ im objektiven Sinne sprechen. Wissen impliziert jedoch keine absolut unfehlbaren oder zwingenden Gründe. Auch Prämisse (2) scheint gut begründet zu sein, wenn wir annehmen, dass Denkbarkeit ein Kriterium* für Möglichkeit ist. Und wer wollte bestreiten, dass die Dämonhypothese des totalen Irrtums denkbar ist? Auch eine bestimmte Lesart von Prämisse (3) macht diese überaus plausibel. Wenn die Täuschung durch einen Dämon universell und unmittelbar droht, dann gibt es keine sicheren Gründe und damit auch kein Wissen. So plausibel das Argument auch auf den ersten Blick aussieht, es ist bei genauerem Hinsehen ungültig*. Wenn sich Prämisse (2) nämlich auf reine Denkbarkeit stützt und keine konkreten Gründe für die Existenz eines täuschenden Dämons sprechen, dann muss sie folgendermaßen präzisiert werden: (2’) Es ist metaphysisch möglich, dass mich ein Dämon permanent täuscht. Denkbarkeit sagt nämlich nichts darüber aus, ob die denkbaren Tatsachen in nahen möglichen Welten auftreten können. Sie besagt nur, dass die denkbaren Tatsachen in irgendeiner möglichen Welt realisiert sind  – einer Welt, die unter Umständen sehr weit abliegt. Wenn aber eine totale Täuschungsmöglichkeit aktuales Wissen aufheben soll, dann muss es sich andererseits um eine sehr naheliegende Täuschungsmöglichkeit handeln. Sichere Gründe schließen nur aus, dass ein Irrtum leicht hätte auftreten können. Also muss (3) folgendermaßen präzisiert werden: (3’) Wenn es leicht möglich ist, dass mich ein Dämon permanent täuscht, dann gibt es keine Überzeugung, dass p, die gewiss ist. Dass das Gewissheitsargument einen Fehlschluss enthält, wird offensichtlich, wenn wir in die ursprüngliche Version dieses Arguments die präzisierten Prämissen (2’) und (3’) einsetzen: (1) (2’)

Um zu wissen, dass p, muss meine Überzeugung, dass p, gewiss sein, d. h. auf wahrheitsgarantierende Gründe gestützt sein. Es ist metaphysisch möglich, dass mich ein Dämon permanent täuscht.

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(3’)

 6 Skeptizismus

Wenn es leicht möglich ist, dass mich ein Dämon permanent täuscht, dann gibt es keine Überzeugung, dass p, die gewiss ist.

Also: Es gibt keine Überzeugung, dass p, die ich weiß. Der Skeptiker könnte dem entgegenhalten, dass Wissen Unfehlbarkeit oder wenigstens zwingende Gründe impliziert. Dann würde die bloß metaphysische (im Unterschied zur nahen) Möglichkeit eines täuschenden Dämons ausreichen, um alles Wissen aufzuheben. Aber wir haben bereits im Kapitel über Wissen gesehen, dass derart starke Wissensanalysen intuitiv nicht angemessen sind. Der Skeptizismus würde damit trivialisiert. Denn es ist genauso klar, dass wir kein Wissen haben, wenn wir die Wissensbedingungen künstlich extrem anspruchsvoll machen, wie es klar ist, dass es keine Ärzte gibt, wenn wir die Bedingungen dafür, dass jemand ein Arzt ist, willkürlich in die Höhe schrauben und nur jemanden, der in zwei Minuten jede Krankheit heilen kann, „Arzt“ nennen. Das Gewissheitsargument für den Wissensskeptizismus ist also entweder ungültig oder es beruht auf einer willkürlich in die Höhe geschraubten Anforderung für Wissen. 6.2.1.2 Das Geschlossenheitsargument Häufig wird das skeptische Argument in der folgenden Form vertreten:372 (1) (2)

Wenn ich weiß, dass p, dann weiß ich, dass ich gerade nicht von einem Dämon in einer Welt ohne materielle Dinge getäuscht werde. Ich weiß nicht, dass ich gerade nicht von einem Dämon in einer Welt ohne materielle Dinge getäuscht werde.

Also: Ich weiß nicht, dass p. Dieses Argument hat zunächst einmal eine große intuitive Überzeugungskraft. Es scheint nahezu offensichtlich, was (2) behauptet. Wie sollen wir wissen, dass wir gerade nicht von einem Dämon total getäuscht werden, wenn wir nicht bemerken könnten, dass wir so getäuscht werden, wenn wir tatsächlich getäuscht würden? (1) ist auf der anderen Seite sehr plausibel, weil es auf dem Prinzip der Geschlossenheit von Wissen beruht. Dieses Prinzip besagt, dass ich, wenn ich eine Proposition* p weiß und auch weiß, dass p q impliziert, q weiß, sofern ich q aus meinem vorherigen Wissen ableite.373 Das Geschlossenheitsprinzip ist so überaus

372 Vgl. dazu Nozick 1981, S. 200–204. 373 Vgl. Abschnitt 3.5.



6.2 Eine Analyse skeptischer Argumente 

 271

plausibel, weil es sich um das Prinzip der Wissensvermehrung durch logische Schlüsse handelt. (1) ist eine unmittelbare Konsequenz aus diesem Prinzip: Nehmen wir an, ich weiß, dass vor mir ein Tisch steht. Wenn ich von einem bösen Dämon total getäuscht würde und mich tatsächlich in einer Welt ohne materielle Dinge befinden würde, dann müsste die Welt eine Welt sein, in der kein Tisch vor mir steht. Also impliziert das, was ich weiß (dass vor mir ein Tisch steht) logisch die Falschheit der Dämonhypothese totalen Irrtums: p impliziert logisch, dass die skeptische Hypothese nicht wahr ist. Wenn nun Wissen unter gewusster logischer Implikation geschlossen ist, dann muss ich wissen, dass ich mich nicht in der Situation totaler Täuschung befinde, um zu wissen, dass vor mir ein Tisch steht, wenigstens sobald mir bewusst wird, dass die Proposition über den Tisch die Negation der skeptischen Hypothese logisch impliziert*. Das Geschlossenheitsargument gegen Wissen lässt sich jedoch nicht konsistent vertreten. Die Wissensanalysen haben ergeben, dass Wissen zwar auf wahrheitsgarantierenden Gründen beruht, keineswegs jedoch infallible Gründe impliziert. Infallibilität ist eine viel zu hohe und intuitiv nicht zu rechtfertigende Bedingung. Wenn man für Wissen zwingende Gründe verlangt, d. h. Gründe, die nicht vorliegen würden, wenn die Proposition, die sie begründen, falsch wäre, dann ergibt sich daraus folgende Konsequenz: Offenkundig ist (2) wahr, denn unsere empirischen Gründe für unsere Überzeugung, dass wir durch einen bösen Dämon nicht total getäuscht werden, wären immer noch da, wenn wir getäuscht würden. Der Dämon würde uns ja dieselben Erfahrungen eingeben, die wir auch in einer normalen Welt haben. Aber wenn Wissen auf zwingenden Gründen beruht, dann folgt daraus auch automatisch, dass (1) falsch ist, weil zwingende Gründe unter gewusster logischer Implikation nicht geschlossen sind.374 Das lässt sich am vorliegenden Beispiel verdeutlichen. Ich sehe, dass vor mir ein Tisch ist. Wenn sich vor mir tatsächlich ein Tisch befindet, dann habe ich im Tischerlebnis einen zwingenden Grund für meine Überzeugung, dass sich vor mir ein Tisch befindet, denn in der nächsten Welt, in der sich der Tisch nicht mehr vor mir befindet (sondern weggeräumt wurde), habe ich auch das Tischerlebnis nicht mehr. Da meine Überzeugung auf einem zwingenden Grund beruht, weiß ich auch, dass vor mir ein Tisch steht. Ich habe jedoch keinen zwingenden Grund dafür, dass ich mich nicht in der Situation einer totalen Dämontäuschung ohne materielle Dinge außer mir befinde, weil ich selbst in der Täuschungssituation meine normale Erfahrung weiterhin hätte. Ich weiß also eine Proposition, aber nicht das, von dem ich weiß, dass es logisch durch diese Proposition impliziert

374 Vgl. Dretske 1970; Nozick 1981, S. 204–211.

272 

 6 Skeptizismus

wird. Deshalb gilt (1) nicht. Kurz: Wenn Wissen Überzeugung aufgrund von zwingenden Gründen wäre, dann wäre zwar (2) wahr, (1) aber falsch. Nun hatte die Analyse unseres Wissensbegriffes gezeigt, dass eine plausiblere Analyse Wissen als Überzeugung aufgrund von sicheren Gründen versteht. Sichere Gründe sind aber im Unterschied zu zwingenden Gründen unter gewusster logischer Implikation geschlossen. (1) ist also wahr. Aber wenn man diese Analyse zugrunde legt, dann ist nicht mehr klar, warum (2) wahr sein sollte. Nehmen wir wieder an, dass ich aufgrund meines Tischerlebnisses glaube, dass sich vor mir ein Tisch befindet, und dass dies auch tatsächlich der Fall ist. Wenn die Welt, in der ich mich befinde, eine normale Welt ist, dann ist die Welt, in der der Dämon mich total täuscht, sehr entlegen. Ich habe also sichere Gründe und weiß deshalb, dass sich vor mir ein Tisch befindet. Nun haben wir gesagt, dass das Geschlossenheitsprinzip für sichere Gründe gilt. Wenn ich also aufgrund meiner Sinneserfahrung weiß, dass vor mir ein Tisch steht, und wenn ich daraus schließe, dass ich mich nicht in einer Dämonwelt befinde, in der vor mir kein Tisch steht, dann kann ich so indirekt aufgrund meiner Sinneserfahrung und meiner Inferenz* aus der auf sie gestützten Beobachtungsüberzeugung wissen, dass ich nicht in der Dämonwelt bin. Das Geschlossenheitsprinzip sagt ja nicht, dass ich zunächst wissen muss, dass ich mich nicht in einer Dämonwelt befinde, bevor ich wissen kann, dass vor mir ein Tisch steht. Das wäre absurd, denn dann müsste ich die Konklusion jedes Arguments immer schon wissen, bevor ich die Prämissen wissen könnte. Das würde die Wissensvermehrung durch deduktive* Schlüsse natürlich unmöglich machen. Und wenn meine Sinneserfahrung ein sicherer Grund ist für eine gewöhnliche Tatsache, dann habe ich auch sichere Gründe dafür, dass ich nicht in der Dämonwelt bin. Ich würde mich nämlich mit meiner Konklusion aus dem, was ich durch Beobachtung weiß, nicht leicht täuschen können. Und deshalb weiß ich in diesem Sinne, dass ich nicht durch einen Dämon getäuscht werde. Wenn wir das Geschlossenheitsargument auf Wissen beziehen, ist es also kein gutes Argument, weil eine Wissenskonzeption, die das Geschlossenheitsprinzip plausibel macht und zugleich erklärt, wieso wir nicht wissen können, dass wir nicht getäuscht werden, nicht zur Verfügung steht. So könnte man nur argumentieren, wenn Wissen infallible Gründe (die in jeder Welt die Wahrheit garantieren) impliziert. Doch das ist eine offensichtlich zu anspruchsvolle und intuitiv wenig einleuchtende Wissensbedingung. Nun lässt sich analog zum Geschlossenheitsargument gegen Wissen auch ein Geschlossenheitsargument gegen Rechtfertigung formulieren:375

375 Vgl. Wright 1985.



(1)

(2)

6.2 Eine Analyse skeptischer Argumente 

 273

Wenn ich gerechtfertigt bin zu glauben, dass p, dann bin ich gerechtfertigt zu glauben, dass ich nicht permanent durch einen Dämon in einer Welt ohne materielle Dinge getäuscht werde. Ich bin nicht gerechtfertigt zu glauben, dass ich nicht permanent durch einen Dämon in einer Welt ohne materielle Dinge getäuscht werde.

Also: Ich bin nicht gerechtfertigt zu glauben, dass p. Die Prämisse (1) beruht auf einem Geschlossenheitsprinzip für gerechtfertigte Überzeugungen, das besagt, dass wenn ich in verschiedenen Prämissen gerechtfertigt bin und erkenne, dass diese Prämissen eine Konklusion logisch oder begrifflich implizieren, und deshalb an die Konklusion glaube, ich die Konklusion auch gerechtfertigt glaube.376 Während das Geschlossenheitsprinzip für Wissen sehr plausibel ist (wenigstens für geeignete Analysen unseres Wissensbegriffs), ist es viel weniger klar, ob auch Rechtfertigung in diesem Sinn geschlossen ist. Für dieses Prinzip spricht sicher, dass wir Konklusionen durch rationale Argumentation zu rechtfertigen versuchen, indem wir sie deduktiv aus gerechtfertigten Prämissen ableiten. Aber folgende Überlegung spricht zumindest gegen eine uneingeschränkte Geltung dieses Prinzips. Wir können Prämissen auch durch Wahrscheinlichkeitsgründe rechtfertigen. Nehmen wir einmal an, dass eine Wahrscheinlichkeit von jeweils 0.6 für die Wahrheit jeder der folgenden drei Prämissen spricht: (A) Jonas ist bei sich zu Hause. (B) Frank ist bei sich zu Hause. (C) Bettina ist bei sich zu Hause. Es ist also bezüglich jeder dieser Prämissen eher wahrscheinlich, dass sie wahr ist. Demnach kann man auch sagen, dass sie alle drei gerechtfertigt sind. Aus den drei Prämissen folgt logisch die folgende Aussage: (D) Sowohl Jonas als auch Frank als auch Bettina sind jeweils bei sich zuhause. Wenn man (D) nur aufgrund der Gründe glaubt, die für die Prämissen (A), (B) und (C) sprechen und A, B und C voneinander unabhängig sind, dann hat (D) eine Wahrscheinlichkeit von 0.216. Es ist also absolut gesprochen eher unwahrscheinlich, dass (D) wahr ist. Das legt nahe, dass Rechtfertigung durch Wahrscheinlichkeitsgründe nicht unter gewusster logischer Implikation geschlossen ist. Auch wenn diese Überlegung eine generelle Geschlossenheit von Rechtfertigung problematisch erscheinen lässt, ergeben sich vergleichbare Probleme nicht für den Fall des skeptischen Arguments. In diesem Fall wird nämlich eine der

376 Das gilt zumindest, wenn p eine Aussage über die materielle Außenwelt ist.

274 

 6 Skeptizismus

beiden Prämissen (die Instanz des Geschlossenheitsprinzips), wenn sie wahr ist, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit als wahr gerechtfertigt. Deshalb dürfte das Produkt der Wahrscheinlichkeiten (als Rechtfertigung der Konklusion) nicht unter den absoluten Schwellenwert für Rechtfertigung fallen, wenn die andere Prämisse auch gerechtfertigt ist. Nehmen wir also zumindest für den Kontext skeptischer Argumente an, dass für Rechtfertigung das Geschlossenheitsprinzip gilt. In diesem Fall muss ich gerechtfertigt sein zu glauben, dass ich mich nicht in einer skeptischen Hypothese totalen Irrtums befinde, wenn ich gerechtfertigt bin zu glauben, dass sich vor mir ein Tisch befindet. Was kann mich in meiner Überzeugung rechtfertigen, dass die skeptische Hypothese falsch ist? Die Antwort darauf fällt im Prinzip genauso leicht wie im Fall des Wissens. Wir können das anhand zweier unterschiedlicher Rechtfertigungsbegriffe durchspielen. Nehmen wir zunächst an, dass der Externalist Recht hat und eine gerechtfertigte Überzeugung dann und nur dann vorliegt, wenn sie objektiv zuverlässig gebildet wird. Wenn meine Sinneserfahrung meine Überzeugung, dass vor mir ein Tisch steht, zuverlässig stützt, dann ist das nur möglich, wenn in nahen möglichen Welten totale Dämontäuschungen nicht vorkommen. Wenn das aber der Fall ist, dann wird auch meine Überzeugung, dass ich gerade nicht durch einen Dämon total getäuscht werde, zuverlässig gebildet, wenn ich sie aus meiner Beobachtungsüberzeugung deduktiv ableite. Nehmen wir nun zweitens an, dass der internalistische Subjektivist Recht hat und die Rechtfertigung meiner Überzeugungen allein von meiner subjektiven Perspektive abhängt. Meine subjektive Perspektive legt durch meine Sinneserfahrungen nahe, dass sich vor mir ein Tisch befindet. Deshalb ist meine Beobachtungsüberzeugung, dass sich vor mir ein Tisch befindet, gerechtfertigt. Wenn ich nun daraus logisch-analytisch* ableite, dass ich mich nicht in einer Täuschungssituation ohne materielle Dinge befinde, dann legt meine Perspektive indirekt nahe, dass die skeptische Hypothese falsch ist. Für den Subjektivisten reicht das aus, um meine Überzeugung, dass die skeptische Hypothese falsch ist, zu rechtfertigen.377 Auch hier gilt wieder, dass das Geschlossenheitsprinzip nicht besagt, dass die Konklusion gerechtfertigt sein muss, bevor meine Prämissen gerechtfertigt sind, sondern umgekehrt, dass ich meine Prämissen verwenden kann, um die Konklusion, die aus ihnen folgt, zu rechtfertigen. Das Geschlossenheitsargument ist also weder in seiner Stoßrichtung gegen Wissen noch in seiner Stoßrichtung gegen Rechtfertigung überzeugend.

377 So argumentiert Pryor 2000.



6.2 Eine Analyse skeptischer Argumente 

 275

6.2.1.3 Das Traumargument Dieses Argument ist eines der spannendsten und interessantesten Argumente für den Skeptizismus. Vorläufer gibt es schon in der Antike378, in seiner klassischen Version ist es jedoch erst von Descartes in seiner Ersten Meditation formuliert worden. Es wird von Descartes als Argument für einen partiellen Skeptizismus bezüglich unseres empirischen Wissens über die Außenwelt verstanden. Bei Descartes hängt dieses Argument jedoch noch von der Annahme ab, dass Wissen infallible Gründe erfordert und lässt sich deshalb nicht streng vom Gewissheitsargument unterscheiden. In der gegenwärtigen Diskussion ist dagegen deutlich geworden, dass dieses Argument keine infalliblen Wissensgründe voraussetzt und auch nicht auf die Begründung des Wissensskeptizismus beschränkt ist.379 Sehen wir uns zunächst die Version des Traumarguments an, die sich gegen empirisches Wissen über die Außenwelt richtet, ohne vorauszusetzen, dass Wissen auf infalliblen Gründen beruht: (1)

(2)

Um aufgrund von Sinneserfahrung Wissen über die Außenwelt erwerben zu können, muss ich zuvor und davon unabhängig wissen, dass ich gerade nicht träume. Ich kann vor und unabhängig von jeder Sinneserfahrung nicht wissen, dass ich gerade nicht träume.

Also: Ich kann kein Wissen über die Außenwelt aufgrund von Sinneserfahrung erwerben. Nehmen wir hier einmal an, dass Wissen keine infalliblen, sondern sichere Gründe erfordert. Solche Gründe garantieren die Wahrheit der auf sie gestützten Überzeugung derart, dass es nicht leicht möglich gewesen wäre, dass die Überzeugung falsch gewesen wäre. Wenn ich tatsächlich gerade träumen würde, könnten meine auf meine Erlebnisse gestützten Außenweltüberzeugungen sehr wohl wahr sein. Wie bereits gesagt, was ich träume, ist tatsächlich manchmal der Fall. Aber wenn ich träume, kann ich keine sicheren Gründe für meine Außenweltüberzeugungen haben. Es wäre in jedem Fall sehr leicht möglich, dass meine Überzeugung, selbst wenn sie tatsächlich wahr ist, falsch gewesen wäre. Prämisse (1) besagt demnach, dass ich nur dann Wissen durch eine bestimmte Quelle erwerben kann, wenn ich zuvor weiß, dass dem Wissenserwerb durch

378 Vgl. Platon 1970, Theaitetos 158b-c; Cicero 1997, S. 88. 379 Vgl. dazu Stroud 1984, Kap. 1. Ähnlich auch Pryor 2000.

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 6 Skeptizismus

diese Quelle nichts im Wege steht. Wissen erfordert also ein unabhängiges Wissen davon, dass die zur Verfügung stehenden Gründe wissensgenerierend sind. Prämisse (2) besagt, dass man nicht wissen kann, dass man gerade nicht träumt. Warum sollte man das nicht wissen können? Dafür sprechen zwei naheliegende Gründe. Erstens haben Träume bekanntlich eine halluzinatorische Wirkung. Wenn man träumt, dann glaubt man in der Regel, dass man wach ist, und bemerkt nicht, dass man träumt. Alles an der Traumsequenz erscheint so lebendig und realistisch wie im wirklichen Leben. Deshalb ängstigen uns Gefahrensituationen im Traum ja auch so. Wir nehmen sie für bare Münze. Wenn man aber im Traum nicht bemerkt, dass man träumt, wie sollte man dann im Wachzustand wissen können, dass man wach ist? Schließlich würde man sich doch auch im Traum für wach halten. Zweitens kann man sich fragen, wie man denn wissen kann, dass man gerade nicht träumt, sondern wach ist. Der Volksmund sagt, dass man sich kneifen soll, um es herauszufinden. Wenn man spürt, dass man sich kneift, dann muss man wach sein, denn nur im Wachzustand erlebt man das, was dem eigenen Körper gerade widerfährt. Das Problem mit diesem Alltagskriterium ist, dass wir nicht wissen, ob wir uns wirklich kneifen oder ob wir bloß träumen, dass wir uns kneifen. Wenn wir im Traum das spüren, was uns im Traum widerfährt, dann ist das natürlich gerade kein gutes Kriterium für den Wachzustand im Gegensatz zum geträumten Wachzustand. Das Kriterium ist also offenbar zirkulär*, da es voraussetzt, dass wir wissen, dass wir uns wirklich kneifen und es nicht bloß träumen. Bei genauerem Hinsehen zeigen sich aber schnell Schwachstellen in diesem auf den ersten Blick so zwingend erscheinenden Argument. In der ersten Prämisse wird offenbar von einer Version des WW-Prinzips Gebrauch gemacht. Dieses Prinzip besagt, dass jedes Wissen ein Wissen, dass man weiß, impliziert. Doch dieses Prinzip führt unmittelbar in einen Wissensregress. Wissen erster Ordnung setzt Wissen zweiter Ordnung voraus, und dieses Wissen zweiter Ordnung setzt Wissen dritter Ordnung voraus usw. Das WW-Prinzip kann nicht gelten, weil es undenkbar ist, dass es erfüllt werden kann. Und damit ist es ein unsinniges Prinzip. Auch die zweite Prämisse hält einer gründlichen Kritik nicht stand. Es scheint nämlich durchaus plausibel zu sein, eine erkenntnistheoretische Asymmetrie zwischen Wachsein und Traum anzunehmen. Auch wenn wir im Traum normalerweise nicht wissen können, dass wir träumen und nicht wach sind, können wir im Wachzustand sehr wohl wissen, dass wir wach sind und nicht träumen. Wie ist das möglich? Naive Traumtheorien gehen davon aus, dass das Traumerleben vom Wachsein qualitativ nicht unterschieden ist. Die Traumforschung hat dagegen gezeigt, dass Träume bizarr, lückenhaft und häufig inkohärent* sind. Außerdem hat der Träumende im Traum kein episodisches Langzeitgedächtnis an



6.2 Eine Analyse skeptischer Argumente 

 277

die Lebensgeschichte vor der Traumsituation. Er lebt sozusagen im Augenblick. Im Traum fallen uns diese qualitativen Besonderheiten unserer Erfahrung nicht auf, weil unsere kritische Reflexionsfähigkeit herabgesetzt ist. Wenn wir jedoch wach sind, dann können wir bemerken, dass wir uns an unsere Vorgeschichte erinnern können und der Erlebnisstrom nicht bizarr, lückenhaft und inkohärent ist. Während also im Traum Traum- und Wacherfahrung ununterscheidbar sind, sind sie im Wachsein unterscheidbar. Deshalb macht es Sinn zu sagen, dass wir im Wachsein wissen können, dass wir gerade nicht träumen.380 Sehen wir uns jetzt das Traumargument gegen die Rechtfertigung unserer Außenweltüberzeugungen durch Sinneserfahrungen genauer an: (1) Damit Überzeugungen des Typs M durch Gründe des Typs G gerechtfertigt werden, ist es erforderlich, dass alle skeptischen Hypothesen, die dieser Rechtfertigung widersprechen und relevant sind, aufgrund unabhängiger Gründe ausgeschlossen werden. (Prämisse) (2) Es ist eine relevante Möglichkeit, dass ich jetzt gerade träume. (Prämisse) (3) Meine Überzeugungen über die Außenwelt werden durch meine Sinneserfah(Prämisse) rung nicht gerechtfertigt, wenn ich gerade träume. (4) Um Überzeugungen über die Außenwelt durch meine Sinneserfahrung rechtfertigen zu können, muss ich durch unabhängige Gründe rechtfertigen, dass ich gerade nicht träume. (aus 1&2&3) (5) Meine Überzeugung, dass ich gerade nicht träume, handelt von der Außenwelt.(Prämisse) (6) Überzeugungen über die Außenwelt können nur durch Sinneserfahrung (Prämisse) gerechtfertigt werden. (7) Ich kann aufgrund von unabhängigen Gründen nicht rechtfertigen, dass ich (aus 4&5&6) gerade nicht träume. (8) Meine Überzeugungen über die Außenwelt sind nicht gerechtfertigt.  (aus 4&7) Prämisse (1) kann man auf zwei verschiedene Weisen verstehen. Entweder (1a) kann man als Zugangsinternalist sagen, dass wir nur dann Gründe für eine Überzeugung haben, wenn wir erfassen, dass wir rechtfertigende Gründe haben, oder wenn wir wenigstens erfassen, dass nichts Naheliegendes dagegen spricht, dass wir rechtfertigende Gründe für unsere Überzeugung haben. Oder (1b) man kann (1) so auffassen, dass alle unterminierenden Anfechtungsgründe ausgeräumt sein müssen, damit wir gerechtfertigt sind, etwas Bestimmtes zu glauben. Skeptische Hypothesen würden dann als unterminierende Anfechtungsgründe ver-

380 Vgl. Grundmann 2002a.

278 

 6 Skeptizismus

standen. Das wäre auch mit der Position des Zugangsexternalismus vereinbar. Egal, ob man die Lesart (1a) oder (1b) wählt, es ist klar, dass in dieser Version des Traumarguments nur skeptische Hypothesen eine Rolle spielen können, die in unserer Welt tatsächlich realisierbar sind. Damit fallen Dämonszenarien oder Science-Fiction-Täuschungsmöglichkeiten weg. Sie alle sind keine realistischen Täuschungsmöglichkeiten. Aber Träume sind es. Sie kommen in der wirklichen Welt vor, und deshalb sind sie relevant, wie (2) sagt. Prämisse (3) setzt eine objektivistische Auffassung von Rechtfertigung voraus. Demnach liegt eine Rechtfertigung nur dann vor, wenn die vermeintlichen Gründe wirklich zuverlässig sind. Im Traum wäre diese Bedingung verletzt, weil im Traum die Gründe bestenfalls zufällig mit der Wahrheit korreliert sind. Prämisse (5) klingt zunächst etwas eigenartig. Man könnte sich fragen, warum ich etwas über die Außenwelt behaupte, wenn ich sage, dass ich mich gerade nicht in einem bestimmten kognitiven Zustand befinde. Wenn ich sage, dass ich gerade nicht träume, dann besagt das im gegenwärtigen Kontext jedoch, dass ich gerade nicht träume, sondern wach bin. Und wach bin ich nur dann, wenn ich auf geeignete Weise auf meine Außenwelt reagiere. Eine solche Interaktion mit der Außenwelt ist selbst eine Tatsache über die Außenwelt. Genau deshalb scheint (5) wahr zu sein. Schließlich ist Prämisse (6) eine plausible Annahme. Wie sollten wir Informationen über die Außenwelt erlangen, wenn nicht über unsere Sinne? Auf den ersten Blick sieht diese zweite Version des Traumarguments außerordentlich überzeugend aus. Es gibt jedoch zwei grundsätzliche Probleme mit diesem Argument. Erstens kann man sich fragen, ob Prämisse (1) wirklich plausibel ist. Wenn man die Lesart (1a) wählt, dann beruht die Prämisse tatsächlich auf einer Version des Zugangsinternalismus. Der Zugangsinternalismus beschwört jedoch automatisch das Regressproblem herauf und formuliert deshalb eine ziemlich unrealistische Rechtfertigungsbedingung. Wählt man hingegen die Lesart (1b), dann soll die skeptische Hypothese als Anfechtungsgrund aufgefasst werden, und zwar genauer als unterminierender Anfechtungsgrund, der gegen die Rechtfertigung von Außenweltsüberzeugungen durch die Sinneserfahrung spricht, weil die skeptische Hypothese die Unzuverlässigkeit der Wahrnehmung impliziert. Es ist jedoch alles andere als offensichtlich, dass skeptische Hypothesen Anfechtungsgründe sind.381 Anfechtungsgründe müssen auf jeden Fall realistische Täuschungsmöglichkeiten anführen. Ein Traum wäre eine solche realistische Täuschungsmöglichkeit. Aber das allein scheint für einen Anfechtungsgrund nicht hinreichend zu sein. Wenn mehrere Zeugenaussagen vor Gericht das Alibi des Angeklagten bestätigen, dann ist die folgende Täuschungsmöglichkeit durch-

381 Vgl. Grundmann 2003, S. 1011; Willaschek 2000, S. 169.



6.2 Eine Analyse skeptischer Argumente 

 279

aus realistisch: Die Zeugen könnten alle vom Täter bestochen worden sein. So etwas kommt in der wirklichen Welt vor. Dennoch wird das Gericht gerechtfertigterweise die Zeugenaussagen auch dann verwenden dürfen, wenn es keine positiven Indizien dafür anführen kann, dass keine Bestechung vorliegt. In der Tat liegt die Beweislast genau anders herum. Die Zeugenaussagen werden erst dadurch erschüttert, dass jemand ein Indiz dafür vorbringt, dass die Zeugen bestochen wurden. Auf die Traumsituation angewandt bedeutet das, dass es für einen Anfechtungsgrund nicht hinreicht, wenn es wirklich möglich ist, dass wir gerade träumen. Es müsste zusätzlich etwas dafür sprechen, dass diese Möglichkeit auch tatsächlich realisiert ist. Und dafür liefert der Skeptiker mit dem Traumargument keine Anhaltspunkte. Selbst realistische Täuschungsmöglichkeiten wie die Traumsituation liefern also keine echten Anfechtungsgründe, weil auch solche realistischen Möglichkeiten für sich genommen eine immer noch viel zu niedrige Wahrscheinlichkeit haben. Lassen wir diesen ersten Einwand einmal außer Acht, dann gilt in jedem Fall, dass ein Anfechtungsgrund (oder eine relevante Täuschungsmöglichkeit im Sinne von (1)) auf jeden Fall eine realistische Täuschungsmöglichkeit sein muss. Es muss also eine Täuschungsmöglichkeit sein, die in unserer aktualen Welt tatsächlich vorkommt. Deshalb sind Träume relevant, Täuschungen durch einen Dämon oder bösartigen Neurowissenschaftler jedoch nicht. Auch die letztere Hypothese gehört zumindest noch in den Bereich technologischer Science Fiction. Wenn man den Bereich zulässiger skeptischer Hypothesen jedoch auf Träume einschränkt, dann können wir zumindest eine Überzeugung über die Außenwelt, nämlich dass wir gerade nicht träumen, auch ohne Rekurs auf die Sinneserfahrung rechtfertigen. Wir können introspektiv rechtfertigen, dass wir gerade nicht träumen, wenn wir erfassen, dass unsere Erfahrungswelt weder bizarr noch inkohärent ist, und wenn wir darüber hinaus erfassen, dass wir eine episodische Langzeiterinnerung haben. Prämisse (6) ist also nicht ganz korrekt. Doch dann haben wir tatsächlich die Möglichkeit, mit unabhängigen Gründen die Traumsituation auszuschließen, wie Prämisse (1) verlangt. Man kann diesen zweiten Einwand auch etwas anders formulieren: Damit eine Täuschungsmöglichkeit relevant ist und deshalb vor jeder Verwendung der Wahrnehmung als Grund für Überzeugungen über die Außenwelt ausgeschlossen werden muss, muss diese Täuschungsmöglichkeit so realistisch wie möglich sein. Je realistischer sie aber ist, desto leichter lässt sie sich auch durch wahrnehmungsunabhängige Kriterien ausschließen. Auch das Traumargument stellt also letztendlich keine echte Bedrohung unserer epistemischen Ansprüche mit Bezug auf die Außenwelt dar.

280 

 6 Skeptizismus

6.2.2 Das Regressargument Das Regressargument für den universellen Rechtfertigungsskeptizismus ist uns schon einmal im Gewand des Regressproblems im Kapitel über die Struktur der Rechtfertigung begegnet. Dieses Problem lässt sich jedoch auch als unlösbares Problem zuspitzen. So wurde es in Form von Agrippas Trilemma* in der Antike als Argument für den Skeptizismus verwendet.382 Intuitiv lässt sich das Argument sehr leicht erfassen. Nehmen wir an, jemand will eine bestimmte Aussage rechtfertigen, dann muss er ein Argument für diese Aussage präsentieren. Dieses Argument hat nun seinerseits Prämissen, bei denen man nach Gründen fragen kann. Also muss ein weiteres Argument zur Verteidigung der Prämissen des ursprünglichen Arguments angeführt werden. Doch das enthält seinerseits Prämissen, die ihrerseits argumentativ verteidigt werden müssen usw. Aus diesem Rechtfertigungsverfahren ergibt sich unmittelbar ein Trilemma, also eine Situation, in der es nur drei alternative Optionen (drei so genannte Hörner) gibt, die allesamt nicht angemessen sind, um eine Rechtfertigung zustande zu bringen. Entweder die Argumentation wird bei irgendwelchen Prämissen abgebrochen, die nicht weiter argumentativ begründet werden: dann entwertet dieser Argumentationsabbruch die ganze bisherige Argumentation, denn die ersten Prämissen werden offenbar einfach beliebig und willkürlich angenommen. Und was argumentativ von beliebigen Annahmen abhängt, kann sicher nicht gerechtfertigt sein. Dieses ist das erste Horn des Trilemmas: die Position des dogmatischen Abbruchs. Oder die Kette der Argumentation geht immer weiter. Der Argumentierende führt für jede seiner Prämissen neue Argumente an und so geht es immer weiter ins Unendliche. Dann führt das Argumentationsverfahren in einen unendlichen Regress. Da man in diesem Fall nie an ein Ende kommt, gibt es keine echte Basis, auf der die Kette der Argumentation überhaupt ruht. Dieses ist das zweite Horn des Trilemmas: der unendliche Regress. Schließlich gibt es noch die Möglichkeit, dass die Argumentationskette in einem großen Kreis auf sich selbst zurückführt. Irgendwo spielt also genau die Aussage die Rolle einer Prämisse in der Argumentationskette, die am Ende durch die Argumentation erst gerechtfertigt werden soll. Damit setzt aber offenbar die Rechtfertigung genau das als gerechtfertigt voraus, was erst durch die Argumentation gerechtfertigt werden soll. Und das ist natürlich erkenntnistheoretisch unzulässig, auch wenn ein Schluss von einer Aussage auf sie selbst deduktiv gültig ist. Solange die Prämisse nicht bereits unabhängig gerechtfertigt ist, kann sie niemals zu einer gerechtfertigten Konklusion führen, wenn sie aber bereits gerechtfertigt ist, dann ist jede weitere Argumentation zu ihren Gunsten

382 Vgl. zur antiken Argumentation Barnes 1990.



6.2 Eine Analyse skeptischer Argumente 

 281

überflüssig. Dies ist das dritte Horn des Trilemmas: der vitiöse Zirkel. Diese Überlegung scheint Folgendes zu zeigen: Wenn man ein Rechtfertigungsverfahren nur konsequent durchführt, dann stellt sich heraus, dass eine genuine Rechtfertigung völlig unmöglich ist. Das intuitive Regressargument lässt sich auch in Form eines Schlusses rekonstruieren: (1) Rechtfertigung ist immer inferenziell. (Prämisse) (2) Jede inferenzielle Rechtfertigung beruht auf gerechtfertigten Gründen. (Prämisse) (3) Jede Rechtfertigung führt entweder in einen unendlichen Regress oder einen Zirkel. (aus 1 & 2) (4) Ein unendlicher Regress ist erkenntnistheoretisch unzulässig. (Prämisse) (5) Ein Zirkel ist erkenntnistheoretisch unzulässig. (Prämisse) (aus 3&4&5) (6) Rechtfertigung ist generell unmöglich.  In diesem Argument lässt sich das Trilemma mühelos wiedererkennen. Prämisse (2) verbietet den dogmatischen Abbruch, Prämisse (4) die Rechtfertigung durch einen unendlichen Regress und Prämisse (5) die zirkuläre Rechtfertigung. Im Folgenden sollen diese drei Prämissen noch einmal etwas genauer unter die Lupe genommen werden. Der dogmatische Abbruch ist vor allem deshalb erkenntnistheoretisch problematisch, weil er willkürlich ist und deshalb ganz relativ zum jeweiligen Standpunkt stattfindet. Annahmen, die dem einen als vollkommen selbstverständlich und ohne weitere Rechtfertigung ganz offensichtlich erscheinen, erscheinen einem anderen hochgradig problematisch oder gar falsch. Und auch die Wahrnehmungen sind jeweils relativ auf die Bedingungen, unter denen sie stattfinden. So haben bereits antike Skeptiker immer wieder auf den Fall verwiesen, dass ein Turm aus der Nähe groß und aus der Ferne klein erscheint. Mit den jeweiligen Annahmen oder sinnlichen Erscheinungen einer bestimmten Person zu einem bestimmten Zeitpunkt Begründungsketten einfach anzufangen ist also willkürlich, parteiisch und stellt keinen Zusammenhang mit der Wahrheit her, wie es für die Rechtfertigung definierend ist. Ähnliche Einwände sprechen auch gegen den unendlichen Regress der Rechtfertigung und den Rechtfertigungszirkel.383 Erstens handelt es sich in beiden Fällen um rein inferenzielle Rechtfertigungen. Inferenzen leiten die Rechtfertigung der Prämissen jedoch nur an die Konklusion weiter. Sie stellen sicher, dass die Konklusion gerechtfertigt ist, wenn die Prämissen gerechtfertigt sind. Sie

383 Vgl. zum Folgenden ausführlicher Grundmann 2003, S. 142 ff.

282 

 6 Skeptizismus

können Rechtfertigung jedoch nicht primär generieren. Die inferenzielle Begründungskette lässt sich mit einer Wasserleitung vergleichen. Im Falle des unendlichen Regresses ist diese Leitung unendlich lang. Im Fall des Zirkels ist es ein Kreislauf. Die Wasserleitung führt jedoch nur dann Wasser, wenn dieses irgendwo eingeleitet wird. Ohne Zufluss bleibt das Leitungssystem trocken, egal wie lang die Leitung oder wie groß der Kreislauf ist. Zweitens lässt sich sowohl durch einen unendlichen Regress als auch einen Zirkel alles rechtfertigen, d. h. jede Aussage und ihre Negation. Die Rechtfertigung wird dadurch völlig arbiträr. Wenn jedoch alles gerechtfertigt ist, dann kann die Rechtfertigung keine bestimmte Aussage als erkenntnistheoretisch akzeptabel vor anderen auszeichnen. Drittens stellt eine rein inferenzielle Rechtfertigung nur einen Zusammenhang zwischen Aussagen her, nicht jedoch mit der Realität selbst. Der Zusammenhang der Gründe mit der Wahrheit, wie er durch den Begriff der erkenntnistheoretischen Rechtfertigung gefordert wird, spielt also gar keine Rolle. Agrippas Trilemma hat eine so große Überzeugungskraft, dass Karl Popper und mit ihm die so genannten Kritischen Rationalisten versucht haben, das Problem zu umgehen, indem sie das ganze Paradigma der Begründung aufgegeben haben. An die Stelle einer positiven Rechtfertigung soll generell die Methode der kritischen Überprüfung treten. Popper meinte, dass Theorien sich an Basissätzen bewähren oder durch sie falsifiziert werden.384 Das Trilemma würde somit entfallen. In seiner Logik der Forschung sagt Popper: „Die Basissätze, bei denen wir jeweils stehen bleiben, bei denen wir uns befriedigt erklären, die wir als hinreichend geprüft anerkennen – sie haben wohl insofern den Charakter von Dogmen, als sie ihrerseits nicht weiter begründet werden. Aber diese Art von Dogmatismus ist harmlos, denn sie können ja, falls doch ein Bedürfnis danach auftreten sollte, weiter nachgeprüft werden. Wohl ist dabei die Kette der Deduktion grundsätzlich unendlich, aber dieser ‚unendliche Regress‘ ist unbedenklich, weil durch ihn keine Sätze bewiesen oder auch nur unterstützt werden sollen und können.“385

Popper glaubt demnach, dass durch die nachträgliche Revidierbarkeit aller Basissätze eine positive Rechtfertigung ganz umgangen werden kann. Aber Poppers Vorschlag stößt unweigerlich auf das folgende Dilemma*: Entweder die Basissätze haben keinerlei, nicht einmal eine vorläufige Rechtfertigung. Dann macht das ganze Verfahren der kritischen Überprüfung erkenntnistheoretisch keinen

384 Für Popper ist dabei auch die Idee leitend, dass generelle Theorien aufgrund des Induktionsproblems nicht durch singuläre Beobachtungssätze gerechtfertigt werden können. Dieses Problem spielt hier jedoch keine Rolle. 385 Popper 1994, S. 70 f.



6.2 Eine Analyse skeptischer Argumente 

 283

Sinn, weil die Konsistenz oder Inkonsistenz von Theorien mit Basissätzen ohne positiven epistemischen Status erkenntnistheoretisch belanglos ist. Oder Basissätze sind (durch welches Verfahren auch immer) zumindest vorläufig gerechtfertigt. Das schließt die Möglichkeit des Irrtums und eine spätere gerechtfertigte Revision dieser Sätze nicht aus, sondern ist mit kritischer Revision, so wie sie Popper vorschwebt, vollkommen verträglich. Doch dann stellt sich das Regressproblem in aller Schärfe erneut, und zwar bei der Rechtfertigung der Basissätze. Kurz: Entweder ist das Verfahren kritischer Überprüfung erkenntnistheoretisch irrelevant oder es kann das Regressproblem nicht vermeiden, sondern nur verschieben. Poppers Kritizismus bietet auf keinen Fall einen Ausweg aus dem Regressproblem.386 Um dieses Problem zu lösen, muss man sich also das Regressargument noch einmal gründlich ansehen. Die Prämissen (1) und (2) ergeben sich unmittelbar aus dem Zugangsinternalismus. Über die Wahrscheinlichkeit der Wahrheit einer Annahme kann ich dann nämlich nur aufgrund von mir zugänglichen Prämissen entscheiden. Solche Prämissen sind aber wiederum nur andere Annahmen von mir, über deren Wahrheit ich aufgrund von weiteren Prämissen entscheiden muss. Deshalb darf die Begründungskette an keiner Stelle abbrechen. Da jedoch Regress und Zirkel offenkundig auch nicht weiterhelfen, erzwingt der Zugangsinternalismus den Skeptizismus direkt. Wenn das jedoch richtig ist, dann ist das Regressargument für den Skeptizismus ein zu starkes Argument. Denn der zugangsinternalistische Rechtfertigungsbegriff macht seine Erfüllung selbst unmöglich. Damit erweist sich dieser Rechtfertigungsbegriff als inkohärent. Das ist jedoch etwas ganz anderes als der Skeptizismus eigentlich behaupten will. Ein erfolgreiches skeptisches Argument sollte zeigen, dass ein sinnvolles kognitives Ziel für den Menschen aufgrund seiner kognitiven Ausstattung nicht erreichbar ist und dass der Mensch deshalb ein kognitives Defizit hat. Es sollte nicht zeigen, dass das internalistische Rechtfertigungsverständnis inkohärent und damit absurd ist. Eine Analogie kann diese Situation vielleicht noch etwas besser verständlich machen: Wenn jemand einen exakten Kreis nicht zeichnen kann, dann sagen wir, dass er ein bestimmtes, wenn auch entschuldbares, zeichnerisches Defizit hat. Wenn jemand jedoch ein rundes Quadrat nicht zeichnen kann, wenn er also etwas nicht zeichnen kann, was gar nicht möglich ist, dann werden wir nicht von einem Unvermögen des Zeichners sprechen. In der letzteren Situation befindet sich derjenige, der mit dem Regressargument konfrontiert wird. Dieses Argument kann also nicht zeigen, dass ein kognitives Defizit besteht.

386 Vgl. in diesem Sinne auch Rutte 2000.

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 6 Skeptizismus

Diese Überlegungen zeigen, dass das Regressargument irgendwo fehlerhaft ist. Der Dogmatiker lehnt Prämisse (2) ab. Er könnte dafür folgendermaßen argumentieren: Solange wir Gründe ausschließlich als Prämissen, Überzeugungen oder Annahmen auffassen, scheinen sie relativ arbiträr zu sein und nach einer weiteren Rechtfertigung zu verlangen. Ganz anders verhält sich dagegen der Fall, wenn wir Sinneserfahrungen als Gründe betrachten. Die Sinneserfahrung, dass sich vor mir ein Tisch befindet, kann meine Überzeugung, dass sich vor mir ein Tisch befindet, unmittelbar rechtfertigen, ohne selbst noch einer weiteren Rechtfertigung zu bedürfen. Sinneserfahrungen sind keine Annahmen, die einer solchen Rechtfertigung bedürfen, und sie sind auch nicht so relativ, wie die antiken Skeptiker suggerieren. Dass z. B. ein Turm aus der Ferne klein erscheint und aus der Nähe groß, sind gar keine konfligierenden Erscheinungen. Denn dass die relative Winkelgröße eines Gegenstandes mit der Entfernung vom Objekt sinkt, ist eine völlig objektive Tatsache. Die jeweilige Winkelgröße lässt sich sogar aus der absoluten Größe eines Objekts und der Entfernung des Beobachters berechnen. Auf ähnliche Weise lässt sich die vermeintliche Relativität der Wahrnehmung in vielen Fällen auflösen. Deshalb, so der Dogmatiker, kann die Sinneserfahrung als ein Grund fungieren, der selbst keiner weiteren Rechtfertigung (durch Argumente) bedarf.387 Der Skeptiker wird dem entgegnen, dass das zwar so sein mag, dass aber der Dogmatiker nicht erklären kann, wie die Sinneserfahrung Rechtfertigung generiert. Was haftet diesem subjektiven Zustand an, dass er in der Lage ist, „Wasser“ in das System inferenzieller Verknüpfungen einzuleiten? Auf diese Frage bleibt der Dogmatiker einer Antwort schuldig. Der wirkliche Fehler im Regressargument liegt an einer anderen Stelle. Die Prämisse (1) scheint falsch zu sein. Dass nicht alle Rechtfertigung inferenziell sein kann, hatte sich bereits früher angedeutet. Wenn sie es nämlich wäre, dann könnte Rechtfertigung nur weitergeleitet, aber niemals erzeugt werden. Außerdem können, so hatten wir gesagt, inferenzielle Beziehungen den Zusammenhang mit der Realität nicht sicherstellen. Der externalistische Reliabilismus gibt eine simple Erklärung einer nicht auf Inferenzen beruhenden Rechtfertigung. Danach sind Überzeugungen (oder Gründe im weiteren Sinne) nicht-inferenziell gerechtfertigt, wenn sie durch zuverlässige Prozesse zustande kommen. Da beispielsweise Sinneserfahrungen durch solche zuverlässigen Prozesse gebildet werden, können sie gerechtfertigte Gründe bilden, ohne einer weiteren inferenziellen Rechtfertigung durch Argumente zu bedürfen. Der Reliabilismus erklärt, wie eine nicht-inferenzielle Rechtfertigung möglich ist, und er bereitet das Terrain für eine vierte (bislang übersehene) Option neben dogmatischem

387 Vgl. zur Verteidigung des Dogmatismus Pryor 2000.



6.2 Eine Analyse skeptischer Argumente 

 285

Abbruch, Regress und Zirkel. Es ist nämlich neben dem dogmatischen Abbruch der inferenziellen Rechtfertigung noch eine weitere Form des Abbruchs der inferenziellen Rechtfertigung denkbar: der gerechtfertigte Abbruch der inferenziellen Rechtfertigung. Sobald man die inferenzielle Rechtfertigung (durch Argumentation) von nicht-inferenziellen Rechtfertigungen unterscheidet, muss der Abbruch der inferenziellen Rechtfertigung nicht die Abwesenheit jeglicher Rechtfertigung bedeuten. Deshalb ist auch nicht jeder Abbruch dogmatisch. Es gibt demnach einen externalistischen Ausweg aus dem Trilemma, der auch aufgrund der vorangegangenen Analysen des Rechtfertigungsbegriffes überaus plausibel ist. Die Auflösung des Rechtfertigungstrilemmas 1. Horn: dogmatischer Abbruch der inferenziellen Rechtfertigung 2. Horn: unendlicher Regress der inferenziellen Rechtfertigung 3. Horn: Zirkel der inferenziellen Rechtfertigung Ausweg: nicht-inferenziell gerechtfertigter Abbruch der inferenziellen Rechtfertigung

6.2.3 Das Unterbestimmtheitsargument Neben dem Regressargument gibt es noch ein weiteres skeptisches Argument, in dem skeptische Hypothesen keine Rolle spielen – das Unterbestimmtheitsargument. Im Ursprung geht es auf den Britischen Empiristen David Hume zurück, hat aber seine ultimative Fassung von dem Logischen Empiristen Alfred Ayer bekommen. Das Unterbestimmtheitsargument ist ein Argument für einen partiellen Rechtfertigungsskeptizismus. Im Kern beruht dieses Argument auf der Annahme, dass es eine Rationalitätslücke zwischen unseren Gründen und dem, was wir durch diese Gründe zu rechtfertigen glauben, gibt. Oder anders formuliert: Unsere Gründe lassen unsere Überzeugungen rational unterbestimmt. Das Unterbestimmtheitsargument lässt sich auf unterschiedliche Wissensbereiche anwenden (etwa unser Wissen über die Vergangenheit, über Fremdpsychisches, induktives Wissen oder theoretisches Wissen). Hier soll aber exemplarisch nur das Argument bezüglich unseres Wissens über die Außenwelt vorgestellt werden. Dieses Argument geht informell wie folgt: Unsere Überzeugungen über die Außenwelt stützen sich auf unsere Sinneserfahrung. Diese Sinneserfahrung bezieht sich jedoch nicht unmittelbar auf die Außenwelt, sondern auf subjektive Erscheinungen, die kausal durch Tatsachen und Ereignisse in der Außenwelt hervorgerufen werden. Manchmal werden diese sinnlichen Erscheinungen auch „Sinnesdaten“ genannt. Wenn wir nun von den Sinnesdaten auf Tatsachen in der Außenwelt schließen, dann ist dieser Schluss weder deduktiv noch induktiv oder gar ein abduktiver* Schluss auf die beste Erklärung. Da es neben diesen Schluss-

286 

 6 Skeptizismus

formen keine weiteren rationalen Schlüsse gibt, sind die Konklusionen unserer Schlüsse auf die Außenwelt nicht gerechtfertigt. Dieses Argument lässt sich auch etwas formaler fassen:388 (1) (2)

(3)

(4) (5)

Alle unsere Überzeugungen über die Außenwelt werden durch Sinneserfahrung inferenziell gestützt. Es gibt keine deduktiven Beziehungen zwischen dem Inhalt unserer ­Sinneserfahrung und dem Inhalt unserer Überzeugungen über die Außenwelt. Es gibt auch keine induktiven Beziehungen zwischen dem Inhalt unserer Sinneserfahrung und dem Inhalt unserer Überzeugungen über die Außenwelt, und zwar weder im Sinne einer enumerativen Induktion noch im Sinne eines abduktiven Schlusses auf die beste Erklärung. Wenn die Beziehungen zwischen Sinneserfahrung und Überzeugungen weder deduktiv noch induktiv sind, dann sind sie auch nicht rational. Inferenzen müssen rational sein, damit sie Überzeugungen erkenntnistheoretisch rechtfertigen können.

Also: Unsere Überzeugungen über die Außenwelt sind erkenntnistheoretisch nicht gerechtfertigt. Wie plausibel sind die Prämissen dieses Arguments? Prämisse (1) gibt einfach nur unser empiristisches Verständnis unseres Zugangs zur materiellen Welt außer uns wieder. Wie sollte man sonst Informationen über sie bekommen, wenn nicht durch unsere Sinne? Prämisse (2) werden wir uns gleich noch etwas gründlicher ansehen müssen. Zunächst kann man sagen, dass alle klassischen Empiristen (Locke, Berkeley und Hume) der Auffassung waren, dass unser Kontakt mit der Außenwelt immer über unsere sinnlichen Vorstellungen von dieser Welt vermittelt ist. Unmittelbar nehmen wir nur unsere sinnlichen Vorstellungen wie Bilder auf einem Fernsehbildschirm wahr. Sie stehen wie ein undurchsichtiger Schleier zwischen uns und der Außenwelt. Daher haben klassischen Empiristen auch die Metapher eines ‚Schleiers der Vorstellungen‘ (engl. veil of ideas) verwendet. Die realen Dinge der Außenwelt können aus ihrer Sicht nicht die unmittelbaren Gegenstände unserer Wahrnehmung sein, weil sich an unserer Wahrnehmung nichts ändern würde, wenn wir einer Sinnestäuschung unterliegen würden. Wenn wir uns täuschen würden und kein entsprechender Gegenstand in der

388 Die folgende Rekonstruktion ist durch Ayer 1956, S. 81–87, inspiriert, wenn sie auch in einigen Details von Ayers Argument abweicht.



6.2 Eine Analyse skeptischer Argumente 

 287

Außenwelt existierte, würden wir dennoch dasselbe wahrnehmen. Also scheint der unmittelbar wahrgenommene Gegenstand kein Gegenstand in der Außenwelt zu sein. Phänomenalisten (wie Berkeley und Mill) haben darauf erwidert, dass sich Gegenstände in der Außenwelt zwar nicht auf isolierte sinnliche Erscheinungen reduzieren lassen, wohl aber als Komplexe aus einer Vielzahl von subjektiven Erscheinungen verstanden werden können. Der Phänomenalismus ist ein subjektiver Idealismus, der die Außenwelt als subjektabhängig auffasst. Ich möchte diese Position hier zunächst außer Acht lassen und darauf später (im Kapitel 7.1) zurückkommen. Solange wir davon ausgehen, dass die Außenwelt nicht nur ein Konstrukt aus subjektiven Erscheinungen ist und der unmittelbare Gegenstand der Sinneserfahrung nichts anderes als eine subjektive Erscheinung sein kann, kann es keine deduktiven Beziehungen zwischen Erfahrungsinhalt und unseren Überzeugungen über die Außenwelt geben. Der Inhalt einer Sinneserfahrung könnte dann z. B. der Folgende sein: Mir erscheint etwas vor mir als Tisch. Daraus lässt sich die Überzeugung mit dem Inhalt „Vor mir ist ein Tisch“ sicher nicht deduktiv ableiten. Deshalb ist Prämisse (2) plausibel. Doch warum sollte zwischen dem subjektiven Wahrnehmungsinhalt und unseren Überzeugungen über die Außenwelt nicht wenigstens ein induktiver Zusammenhang bestehen, wie er von (3) bestritten wird? Induktive Schlüsse im weiten Sinne sind gültige Schlüsse, die nicht deduktiv gültig sind. Es handelt sich um gehaltserweiternde Schlüsse, in deren Konklusion mehr enthalten ist als in der Summe der Prämissen. Deshalb sind induktive Schlüsse im weiten Sinne nicht so beschaffen, dass die Wahrheit aller Prämissen die Wahrheit der Konklusion erzwingt. Im Rahmen einer weit verstandenen Induktion kann man zwei unterschiedliche Arten von Schlüssen noch einmal unterscheiden. Die enumerative (aufzählende) Induktion schließt von einer beobachteten Korrelation* von Eigenschaften („Alle beobachteten Schwäne sind weiß.“) auf eine Korrelation dieser Eigenschaften in weiteren oder sogar allen Fällen („Alle Schwäne sind weiß.“). Die Abduktion (oder der Schluss auf die beste Erklärung) schließt dagegen von der Wirkung auf die Ursache oder Erklärung dieser Wirkung. Die Wirkung oder Erklärung kann dabei prinzipiell unbeobachtbar sein. Dies ist der Fall in wissenschaftlichen Schlüssen auf die beste Erklärung, wenn wir aufgrund von Experimenten auf das Verhalten mikrophysikalischer Teilchen schließen. Schlüsse auf die beste Erklärung wählen die beste der uns bekannten Erklärungen aus, und zwar anhand von Einfachheits-, Sparsamkeits- und Kohärenzkriterien. Wenden wir nun diese Überlegungen auf den Schluss auf die Außenwelt an: Wenn wir nur Sinnesdaten und deren Korrelation untereinander unmittelbar wahrnehmen können, dann wird uns eine enumerative Induktion nicht über den Bereich der Sinnesdaten hinausführen können. Wir können so nur auf die zukünftige Korrelation unter den Sinnesdaten schließen. Ein solcher Schluss kann uns aber

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 6 Skeptizismus

niemals den Zugang zur Außenwelt eröffnen. Das hat auch David Hume bereits ganz deutlich erkannt: Die einzigen Existenzen, deren wir (…) gewiss sind, sind die Perzeptionen [Sinnesdaten]. Weil sie uns unmittelbar durch das Bewusstsein gegenwärtig sind, fordern sie im stärksten Maße unsere Anerkennung und bilden damit die erste Grundlage für alle unsere Schlüsse. Die einzige Art nun, wie wir von der Existenz eines Dinges auf ein anderes schließen können, beruht auf (…) dem Bewusstsein, dass eine (…) Verknüpfung zwischen ihnen bestehe, dass die Existenz des einen von der des anderen abhängig sei. Die Vorstellung dieser Beziehung aber stammt aus Erfahrungen, die wir gemacht haben und die uns lehrten, dass zwei Dinge beständig miteinander verbunden und stets zu gleicher Zeit dem Geist gegenwärtig waren. Da nun nichts dem Geist je gegenwärtig ist außer seine Perzeptionen, so folgt, dass wir wohl eine Verknüpfung (…) zwischen verschiedenen Perzeptionen entdecken können, nie aber eine solche zwischen Perzeptionen und Gegenständen (in der Außenwelt, TG). Es ist deshalb ausgeschlossen, dass wir je aus der Existenz oder irgendwelchen Eigenschaften der ersteren einen Schluss auf die Existenz der letzteren ziehen (…).389

Hume hat in seiner Rechtfertigung des Außenweltskeptizismus nur deduktive Schlüsse und Schlüsse durch enumerative Induktion berücksichtigt. Es wird jedoch immer wieder die Auffassung vertreten, dass ein Schluss auf die beste Erklärung der einzig geeignete Weg sei, um von den Sinnesdaten auf die Außenwelt schließen zu können. Locke war etwa der Auffassung, dass Sinnesdaten in uns unwillkürlich und in einer kohärenten Abfolge auftreten und dass die beste Erklärung dafür sei, dass diese Sinnesdaten durch korrespondierende Tatsachen in der Außenwelt verursacht werden. Doch es gibt viele rivalisierende Erklärungen zu dieser normalen Erklärung. Vielleicht erscheint uns die normale Erklärung so naheliegend, weil sie besonders gut mit unseren Vormeinungenen über die Außenwelt übereinstimmt. So darf man jedoch nicht argumentieren, denn als Explanandum (das, was erklärt wird) dürfen nur die Sinnesdaten und ihre Eigenschaften in Betracht gezogen werden. Wenn man sich das vor Augen hält, dann kommen auch viele nicht-normale Erklärungen der Sinnesdaten in Frage, die man nicht ohne weiteres als schlechter aussondern kann. Die Sinnesdaten könnten durch einen bösen Dämon verursacht sein oder durch einen bösartigen Neurowissenschaftler mit Hilfe eines leistungsfähigen Computers oder sie könnten unbemerkt sogar durch uns selbst verursacht sein. Auch der Schluss auf die beste Erklärung kann also nicht entscheidend weiterhelfen, um von den subjektiven Bildern der Außenwelt auf diese selbst schließen zu können. Die Prämissen (4) und (5) drücken schließlich Selbstverständlichkeiten aus. Rationale Inferenzen außer Deduktion, enumerativer Induktion und Abduktion

389 Hume 1978, S. 280.



6.2 Eine Analyse skeptischer Argumente 

 289

kennen wir zumindest nicht. Außerdem mag es zwar nicht-rationale Rechtfertigungen geben. Der Externalist versucht ja gerade zu zeigen, dass die Zuverlässigkeit der Überzeugungsbildung hinreichend für die Rechtfertigung ist. Aber inferenzielle Rechtfertigungen scheinen sich an Regeln zu orientieren. Regelkonforme Schlüsse wären dann rational und gerechtfertigt. Wie gut ist dieses Argument wirklich? Die drohende Rationalitätslücke im Schluss von der Wahrnehmung auf die Außenwelt beruht im Wesentlichen auf der Annahme, dass unmittelbare Gegenstände der Wahrnehmung Sinnesdaten, sinnliche Erscheinungen oder subjektive Abbilder, aber keine Dinge und Tatsachen in der Außenwelt sind. Der Einfachheit halber soll diese Annahme als „Sinnesdatentheorie“ bezeichnet werden. Es soll jetzt gezeigt werden, dass das zentrale Argument für die Sinnesdatentheorie nicht überzeugend ist. Es soll außerdem dafür argumentiert werden, dass es eine sehr viel plausiblere Alternative zur Sinnesdatentheorie gibt – den direkten Realismus. Wenn man den direkten Realismus annimmt, entfällt jedoch das Problem der Rationalitätslücke, und damit wäre das Unterbestimmtheitsargument entkräftet. Das Hauptargument für die Sinnesdatentheorie ist das so genannte Täuschungsargument. Je nachdem, wie weitgehend die Täuschung ist, wird es auch als Illusions- oder Halluzinationsargument bezeichnet. Hier eine rekonstruierte Version dieses Arguments:390 (i) In Fällen von Sinnestäuschung erscheinen materielle Dinge anders als sie tatsächlich sind. Sie scheinen phänomenale Qualitäten zu haben, die sie tat(Prämisse) sächlich nicht haben. (ii) Wenn jemandem etwas phänomenal so erscheint, als habe es eine bestimmte Qualität, dann gibt es etwas, dessen sich das Subjekt bewusst ist und das (Prämisse) diese Qualität tatsächlich hat.  (iii) In Fällen von Sinnestäuschung gibt es etwas, dessen sich das Subjekt bewusst ist und das phänomenale Qualitäten besitzt, die das materielle Ding nicht (aus i & ii) hat.  (iv) Wenn ein Ding a eine phänomenale Qualität hat, die ein Ding b nicht hat, (Prämisse) dann sind a und b nicht numerisch identisch.  (v) In Fällen von Sinnestäuschung ist sich das Subjekt anderer Dinge bewusst als (aus iii & iv) der materiellen Dinge, die es wahrzunehmen glaubt.  (vi) Fälle von Sinnestäuschung sind von Fällen veridischer Sinneserfahrung ununterscheidbar, deshalb haben sie keine unterschiedlichen Arten von (Prämisse) Objekten. 

390 Ursprüngliche Versionen dieses Arguments finden sich bei Berkeley 2004, §§ 11 und 14; Hume 1993, 12. Abs., S. 178.

290 

 6 Skeptizismus

(vii) In allen Fällen von Sinneserfahrung ist sich das Subjekt eines nicht-materiellen Dinges bewusst.  (aus v & vi) Die Kritik am Täuschungsargument kann bereits bei Prämisse (vi) ansetzen. Nicht alle Dinge, die für uns ununterscheidbar sind, sind auch tatsächlich qualitativ gleichartig. Das gilt selbst dann, wenn es sich um mentale Phänomene handelt. Auch hier gibt es Unterschiede, die selbstverständlich unserer Aufmerksamkeit entgehen können. Doch dann könnte der Gegenstand einer Sinnestäuschung anderer Art sein als der Gegenstand veridischer Erfahrung. Im ersteren (schlechten) Fall könnte es sich um ein mentales Objekt handeln und im letzteren (guten) Fall um ein materielles Objekt in der Außenwelt, ohne dass uns dieser Unterschied auch introspektiv bewusst ist. So argumentiert beispielsweise der Disjunktivist McDowell, der bestreitet, dass es einen gemeinsamen Inhalt von täuschender und veridischer Erfahrung gibt.391 Wäre das richtig, dann könnte die Sinneserfahrung zumindest im guten Fall hinreichende Gründe für Meinungen über die Außenwelt liefern. Mir erscheint vor allem Prämisse (ii) problematisch. Sie setzt nämlich ein relationales Verständnis der Sinneserfahrung voraus. Danach muss es zu jeder Erfahrung einen existierenden Gegenstand geben, der genau so beschaffen ist, wie er phänomenal erscheint. Die Sinneserfahrung wäre also eine Relation zwischen einem existierenden Subjekt und einem existierenden Objekt. In diesem Fall spricht man auch von einem Akt-Objektmodell der Sinneserfahrung. Zu diesem Modell gibt es jedoch eine Alternative. Sinneserfahrungen lassen sich auch als intentionale* Zustände verstehen. Der intentionale Bezug auf ein Objekt ist keine Relation. Wir können also intentional auf einen Gegenstand gerichtet sein, obwohl dieser Gegenstand anders beschaffen ist als er uns erscheint (im Falle der Illusion) oder sogar überhaupt nicht existiert (im Falle der Halluzination). Im Falle der Täuschung bleibt der Gegenstand also derselbe wie im Falle des Treffens. Und genau das scheint auf viele mentale Zustände zuzutreffen. Betrachten wir das Beispiel einer Überzeugung: Auch wenn sie wegen der Nichtexistenz ihres Gegenstandes oder wegen einer unzutreffenden Charakterisierung seiner Eigenschaften nicht wahr ist, ist sie dennoch auf diesen Gegenstand gerichtet und nicht auf ein subjektives Substitut. Warum sollte die intentionale Analyse nicht ebenfalls auf die Sinneserfahrung zutreffen? Was würde eine intentionale Analyse der Sinneserfahrung genau bedeuten? Wenn diese Analyse zuträfe, dann hätte die Sinneserfahrung keinen subjektiven,

391 Vgl. McDowell 1982. Pritchard 2012 arbeitet diese Idee zu seinem epistemologischen Disjunktivismus aus.



6.2 Eine Analyse skeptischer Argumente 

 291

sondern einen vollkommen objektiven Inhalt. Sie würde sich unmittelbar auf die Außenwelt beziehen, und zwar sowohl im Falle der veridischen Erfahrung als auch im Fall der Täuschung. Die Sinneserfahrung ist also stets auf die Außenwelt gerichtet, aber sie steht nicht unbedingt in einer Relation zu ihr. Fehlrepräsentationen und Leerintentionen (wenn das Objekt, auf das die Erfahrung gerichtet ist, nicht einmal existiert) sind stets möglich, unterminieren jedoch keineswegs die Objektivität des Inhalts der Erfahrung. Für einen solchen intentionalen Realismus sprechen mindestens die drei folgenden Argumente. Erstens erlaubt im Grunde nur die intentionale Analyse streng genommen so etwas wie Sinnestäuschungen. Wäre die Sinnesdatentheorie richtig, dann gäbe es immer Sinnesdaten, die genauso sind, wie sie erscheinen. Täuschung würde also bestenfalls auf der Ebene der durch die Erfahrung nahe gelegten Überzeugungen über die Außenwelt auftreten. Die intentionale Analyse kann dagegen darauf insistieren, dass es eine Täuschung der Erfahrung selbst geben kann. Zweitens wird Intensionalität* als ein Merkmal von Intentionalität betrachtet. Ein intensionaler Kontext* liegt dann vor, wenn man im Satzzusammenhang Ausdrücke mit gleichen Referenten nicht ohne Veränderung des Wahrheitswertes austauschen kann. Überzeugungen sind intentionale Zustände und Überzeugungszuschreibungen bilden zugleich auch einen intensionalen Kontext. Betrachten Sie die folgenden drei Sätze: (A) Maria glaubt, dass der Abendstern ein Planet ist. (B) Der Abendstern ist identisch mit dem Morgenstern. (C) Maria glaubt, dass der Morgenstern kein Planet, sondern ein Fixstern ist. Die kleine Geschichte aus den drei Sätzen (A), (B) und (C) ist sicher widerspruchsfrei. Sie wäre es aber nicht, wenn Glaubenskontexte extensionale Kontexte wären. Denn dann dürften wir in (A) den Ausdruck „Abendstern“ durch den Ausdruck „Morgenstern“ ersetzen, weil beide nach (B) auf denselben Gegenstand referieren. Dann würden wir jedoch den folgenden Satz (D) ableiten dürfen: (D) Maria glaubt, dass der Morgenstern ein Planet ist. Und (D) steht im Widerspruch zu (C), so dass unsere Geschichte doch einen Widerspruch implizieren würde. Um diese kontraintuitive Konsequenz zu vermeiden, müssen wir annehmen, dass Glaubenszuschreibungen einen intensionalen Kontext bilden. Wenn wir davon ausgehen, dass Intensionalität ein gutes Kennzeichen für Intentionalität ist, wie im Falle von Glaubenssätzen, dann können wir dieses Kriterium jetzt auf die Sinneserfahrung anwenden. Und dann zeigt sich, dass auch Erfahrungszuschreibungen einen intensionalen Kontext bilden. Betrachten Sie das folgende Beispiel: (E) Franz erscheint die Flüssigkeit vor ihm als Wasser.

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 6 Skeptizismus

(F) Das Prädikat „ist Wasser“ referiert auf die gleiche Menge von Gegenständen wie das Prädikat „ist H2O“. (G) Franz erscheint die Flüssigkeit vor ihm nicht als H2O. Auch diese Geschichte aus (E), (F) und (G) scheint konsistent zu sein, sie wäre es aber nicht, wenn das phänomenale Erscheinen keinen intensionalen Kontext bilden würde. Drittens wird der objektive Inhalt der Sinneserfahrung offensichtlich, wenn wir versuchen, ihn mit Hilfe von Introspektion zu beschreiben. Wenn wir angeben, was wir erfahren, verwenden wir dabei ausnahmslos ein vollkommen objektives Vokabular, das wir sonst direkt auf die Außenwelt anwenden; und wir tun das ganz unabhängig davon, ob die Erfahrung veridisch oder täuschend ist. Auch das spricht für einen intentionalen Realismus. Damit können wir unsere Diagnose abschließen. Es ist richtig, dass wir unsere Überzeugungen über die Außenwelt nicht durch unsere Sinneserfahrung rechtfertigen könnten, wenn die Sinneserfahrung nicht unmittelbar auf die Außenwelt gerichtet wäre. Dann würde eine Rationalitätslücke zwischen unseren Gründen und den auf sie gestützten Überzeugungen bestehen. Es hat sich jedoch als plausibler erwiesen, dass die Sinneserfahrung nicht auf subjektive Erscheinungen, sondern unmittelbar auf die Außenwelt gerichtet ist. Der intentionale Realismus unterminiert deshalb das Unterbestimmtheitsargument für den Außenweltskeptizismus.

6.2.4 Ein kurzes Fazit der Analyse skeptischer Argumente Die Analyse der wichtigsten skeptischen Argumente hat gezeigt, dass keines dieser Argumente am Ende überzeugen kann.392 Es ist uns also gelungen, den Skeptizismus im Wesentlichen zurückzuweisen. Die moderate antiskeptische Strategie war somit erfolgreich. Das bedeutet jedoch keineswegs, dass in den skeptischen Argumenten offensichtliche oder leicht vermeidbare Fehler vorliegen. Wäre dies das Ergebnis unserer Untersuchung, dann wäre sicher etwas in der Analyse schief gelaufen. Die Zurückweisung der skeptischen Argumente konnte nur gelingen, weil wir auf gründliche Analysen unserer erkenntnistheoretischen Grundbegriffe zurückgreifen konnten. Die Fehler, die der Skeptiker in seiner Argumentation begeht, sind schwer zu entdeckende Fehler. Sie beruhen

392 Es gibt daneben weitere skeptische Argumente aus der internen Dissonanz einer Quelle oder aus dem Dissens, die hier nicht weiter berücksichtigt werden. Vgl. zu einer Verteidigung eines weitreichenden Alltagsskeptizismus aus dem Dissens mit Experten Frances 2005.



6.2 Eine Analyse skeptischer Argumente 

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häufig auf unzureichenden Differenzierungen: 1.) In vielen skeptischen Argumenten wird übersehen, dass erkenntnistheoretische Eigenschaften unserer Gründe und Überzeugungen in der Regel von der tatsächlichen Beschaffenheit der Welt abhängen, in der wir leben. Deshalb ist die bloß mögliche Wahrheit skeptischer Hypothesen nichts, was unserem tatsächlichen Wissen widerspricht, auch wenn wissensgenerierende Gründe relativ zu der Welt, in der wir wirklich leben, die Wahrheit garantieren müssen. Und deshalb können wir sogar wissen (bzw. rechtfertigen), dass die skeptische Hypothese nicht wahr ist – vorausgesetzt, wir leben in einer normalen Welt und skeptische Hypothesen sind sehr weit entfernte Möglichkeiten. Wir können dies wissen (bzw. rechtfertigen), obwohl wir die Täuschung nicht durchschauen würden und könnten, wenn die skeptische Hypothese wahr wäre. Und deshalb können wir schließlich rein aufgrund von objektiven Tatsachen auch gerechtfertigt sein, ohne dass wir aus unserer Perspektive noch einmal Gründe angeben müssen und damit unausweichlich in das Regress­ problem hineingeraten. 2.) Ein weiterer Fehler skeptischer Argumente besteht darin, dass skeptische Hypothesen fälschlich als Anfechtungsgründe verstanden werden. Skeptische Hypothesen sind bedrohlich und aufgrund ihrer Undurchsichtigkeit sogar wirklich beängstigend. Aber solange nichts für ihre Wahrheit spricht, müssen wir sie nicht allererst ausräumen, um überhaupt Wissen oder gerechtfertigte Überzeugungen haben zu können. 3.) Schließlich ist unser Zugang zur Außenwelt unmittelbarer, als manche philosophischen Theorien nahelegen. Sobald man erkennt, dass der intentionale Realismus durch Täuschungssituationen nicht ausgeschlossen wird, gibt es keinen Grund mehr, eine rationale Lücke zwischen unseren Gründen und unseren Überzeugungen zu befürchten. Die Analyse unserer erkenntnistheoretischen Grundbegriffe ergibt daher ein Gesamtbild, das sehr gut zu dem Umfang von Wissen und gerechtfertigter Überzeugung passt, von dem wir im Alltag für gewöhnlich ausgehen. Damit ist der Skeptizismus aber keineswegs am Ende. Skeptische Argumente können zwar nicht zeigen, dass wir kein (oder nur sehr wenig) Wissen oder gerechtfertigte Überzeugungen haben. Denn wenn wir in einer normalen Welt leben, in der globale Täuschung nicht vorkommt, dann haben wir Wissen und gerechtfertigte Überzeugungen in großem Umfang. Aber angesichts der Möglichkeit globaler Täuschung ergibt sich natürlich sofort die höherstufige Frage, ob wir denn in einer normalen Welt ohne globale Täuschung leben. Wir wollen also nicht nur unser Wissen und unsere gerechtfertigten Überzeugungen retten, sondern wir wollen auch wissen, ob wir Wissen haben, und wir wollen zu einer gerechtfertigten Überzeugung darüber kommen, ob wir gerechtfertigte Überzeugungen haben. Das skeptische Problem lässt sich also auf die Metaebene verlagern – wenigstens scheint es so. Überlegt man etwas sorgfältiger, dann wird aber schnell klar, dass es auch nicht richtig ist, dass wir kein Wissen oder keine gerechtfertigten Über-

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 6 Skeptizismus

zeugungen höherer Ordnung haben können. Weil es nämlich wahr ist, dass wir Wissen und gerechtfertigte Überzeugungen haben, wenn wir in einer normalen Welt leben, in der globale Täuschung nicht vorkommt, ist es auch wahr, dass wir wissen können, dass wir dieses Wissen haben, und dass wir rechtfertigen können, dass wir gerechtfertigte Überzeugungen haben, wenn wir in der normalen Welt leben. Wir können mit Hilfe der Wahrnehmung herausfinden, dass unsere Wahrnehmungen zuverlässig sind; und wenn das wirklich stimmt, dann können wir mit Hilfe der Wahrnehmung zu einem Wissen bzw. zu gerechtfertigten Überzeugungen zweiter Ordnung kommen. Wenn die Welt, in der wir leben, also mitspielt, dann können wir somit Wissen jeder beliebigen Ordnung auf ganz natürlichem Wege erlangen. In Wahrheit ist es etwas ganz anderes, was für uns so schwer zu erreichen ist. Wenn wir skeptische Hypothesen wirklich ernst nehmen, dann betrachten wir sie als offene Möglichkeiten. Aus unserer Perspektive könnte es dann zunächst einmal genauso gut sein, dass wir in einer normalen Welt leben, wie es sein kann, dass wir in einer globalen Täuschungssituation leben. Diese Möglichkeiten sind aber nur aus unserer Perspektive der Reflexion völlig offen. Aus dieser Perspektive suchen wir nach Entscheidungskriterien dafür, ob wir in der normalen Welt oder der skeptischen Situation leben. Aus dieser Perspektive können uns erkenntnistheoretische Eigenschaften, die von der objektiven Welt abhängen, nicht weiterhelfen. Denn es ist für uns ja gerade fraglich, in welcher Welt wir leben. Wir brauchen Gründe, die eine wirkliche Diskrimination zwischen den Welten erlauben, die wir als Kandidaten für die aktuale Welt betrachten. Diese Gründe müssten uns also in jeder Welt, ganz unabhängig von den objektiven Tatsachen, ermöglichen, herauszufinden, ob wir getäuscht werden oder nicht. Eine solche Widerlegung des Skeptizismus ist also aus der Perspektive der Reflexion ein durchaus sinnvolles Ziel; und gerade diese Widerlegung des Skeptizismus scheint so überaus schwierig zu sein. Es soll jetzt im zweiten Teil dieses Kapitels untersucht werden, ob auch eine solche ambitionierte antiskeptische Strategie Erfolg haben kann oder nicht.

6.3 Ambitionierte antiskeptische Strategien Nachfolgend sollen verschiedene Strategien untersucht werden, die skeptischen Hypothesen direkt zu widerlegen. Wenn gegen den Skeptiker gezeigt werden könnte, dass ein globaler Irrtum gar nicht vorkommen kann, und zwar ohne dass dabei genau das in Anspruch genommen wird, was der Skeptiker gerade bestreitet, dann könnten wir uns so über unsere erkenntnistheoretische Position in der Welt Orientierung verschaffen, wenn vielleicht auch keine infallible



6.3 Ambitionierte antiskeptische Strategien 

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Gewissheit. Es sollen genauer vier verschiedene Strategien der Skepsiswiderlegung untersucht werden: Semantische Argumente versuchen zu zeigen, dass es Bedingungen gedanklicher (oder sprachlicher) Bezugnahme auf die Welt gibt, die genau das als möglich ausschließen, was skeptische Hypothesen unterstellen: dass wir uns global täuschen könnten. Idealistische Strategien gehen davon aus, dass eine globale Täuschung über geistabhängige Phänomene nicht in gleicher Weise möglich ist wie über eine vollkommen geistunabhängige Außenwelt. Wenn sich also zeigen ließe, dass unsere Aussagen und Erfahrungen von der Außenwelt nicht von vollkommen geistunabhängigen Tatsachen handeln, sondern von geistabhängigen Phänomenen (das besagt die Reduktionsthese des Idealismus), dann wäre die skeptische Bedrohung wenigstens zu einem guten Teil entschärft. Selbstaufhebungsargumente versuchen in der einen oder anderen Weise zu zeigen, dass die skeptische These im Allgemeinen oder der Skeptizismus in Bezug auf bestimmte Teilbereiche oder Prinzipien unseres Wissens sich nicht ohne impliziten Selbstwiderspruch behaupten lässt. Unter diese Art von Argumenten lassen sich auch die so genannten ‚transzendentalen Argumente‘* subsumieren. Schließlich werde ich viertens auch epistemisch zirkuläre Argumente gegen den Skeptizismus untersuchen und dabei vor allem darauf eingehen, was diese Argumente leisten können und was nicht.

6.3.1 Semantische Argumente Semantische Argumente gegen die Möglichkeit dessen, was skeptische Hypothesen beschreiben, sind recht neuen Datums. Lange Zeit hatte man geglaubt, dass der semantische Bezug unserer Gedanken oder Sätze auf die Welt ontologisch relativ preiswert sei. Demnach wäre es eine rein subjektive Leistung, wenn wir uns mit unseren Gedanken auf die Außenwelt beziehen. Dass uns das gelingt, hinge dann zumindest nicht von irgendwelchen Tatsachen in der Außenwelt ab. Diese Auffassung liegt etwa Descartes’ Idee zugrunde, dass es völlig egal ist für unseren semantischen Bezug auf die Außenwelt, ob Dinge in dieser Außenwelt existieren oder nicht. Selbst wenn die gesamte Körperwelt inexistent wäre, könnten wir uns dennoch intentional* auf diese Welt beziehen. Nur würden wir uns dann eben dauernd täuschen. Der semantische Externalismus hat diese traditionelle Auffassung revolutionär umgewälzt. Danach hängt die Festlegung der Referenz unserer Ausdrücke und Begriffe (kurz: die Referenzfixierung), mittelbar aber auch die Festlegung der Wahrheitsbedingungen unserer Sätze und Gedanken, davon ab, was in der Außenwelt der Fall ist. Nach dem gängigen externalistischen Bild bestimmen die normalen Kausalursachen unserer psychologischen Begriffe oder Verwendungen von sprachlichen Ausdrücken, worauf sich diese beziehen.

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 6 Skeptizismus

Normale Kausalursachen sind dabei die Ursachen, die für den Erwerb eines Begriffes oder Ausdrucks maßgeblich sind. In den drei antiskeptischen Argumenten, die wir uns als erstes ansehen werden, spielt diese externalistische Vorstellung eine zentrale Rolle. Putnam, Davidson und Chalmers sind alle der Auffassung, dass man mit Hilfe semantischer Überlegungen direkt gegen skeptische Hypothesen argumentieren kann. Putnam ist der Auffassung, dass skeptische Hypothesen inkonsistent sind und deshalb keine metaphysische Möglichkeit zum Ausdruck bringen. Davidson versucht zu zeigen, dass skeptische Hypothesen als falsch erwiesen werden können. Chalmers will schließlich zeigen, dass selbst wenn das, was vermeintlich skeptische Szenarien beschreiben, tatsächlich der Fall ist, kein Fall globaler Täuschung vorliegt. Er ist der Auffassung, dass die vermeintlichen Täuschungshypothesen keine wirklichen Täuschungshypothesen sind. 6.3.1.1 Putnams Gehirne im Tank Putnam bezieht sich in seinen Überlegungen genau auf die Art skeptischer Hypothese, die wir von Harrys Geschichte her bereits kennen: Man stelle sich vor, ein Mensch (Du kannst Dir ausmalen, dass Du selbst es bist) sei von einem bösen Wissenschaftler operiert worden. Das Gehirn dieser Person (Dein Gehirn) ist aus dem Körper entfernt worden und in einen Tank mit einer Nährflüssigkeit, die das Gehirn am Leben erhält, gesteckt worden. Die Nervenenden sind mit einem superwissenschaftlichen Computer verbunden, der bewirkt, dass die Person, deren Gehirn es ist, der Täuschung unterliegt, alles verhalte sich völlig normal. Da scheinen Leute, Gegenstände, der Himmel usw. zu sein, doch in Wirklichkeit ist alles, was diese Person (Du) erlebt, das Resultat elektronischer Impulse, die vom Computer in die Nervenenden übergehen. Der Computer ist so gescheit, dass, wenn diese Person ihre Hand zu heben versucht, die Rückkopplung vom Computer her bewirkt, dass sie ‚sieht‘ und ‚fühlt‘, wie die Hand gehoben wird. Darüber hinaus kann der böse Wissenschaftler durch Wechsel des Programms dafür sorgen, dass sein Opfer jede Situation oder Umgebung nach dem Willen des bösen Wissenschaftlers ‚erlebt‘ (…). Er kann auch die Erinnerung an die Gehirnoperation auslöschen, so dass das Opfer den Eindruck hat, immer schon in dieser Umwelt gelebt zu haben.393

Putnam wendet nun einfach den semantischen Externalismus auf die Situation des Gehirns im Tank selbst an: Wenn die Referenz unserer Worte und Gedanken durch deren normale Ursachen bestimmt wird, dann beziehen sich die Worte (Gedanken) eines Gehirns im Tank nicht auf die Dinge in seiner Umwelt, sondern auf bestimmte Merkmale des Computerprogramms, denn das sind die normalen Ursachen seiner Worte (Gedanken). Das heißt konkret: Der Begriff GEHIRNGIT in den Gedanken des Gehirns-im-Tank bezieht sich nicht auf echte Gehirne, sondern

393 Putnam 1990, S. 21.



6.3 Ambitionierte antiskeptische Strategien 

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auf die Merkmale des Computerprogramms, die die Anwendung seines Begriffs GEHIRNGIT verursachen. Und der Begriff TANKGIT in den Gedanken des Gehirns bezieht sich nicht auf echte Tanks, sondern auf die Merkmale des Programms, die Tankerfahrungen und Aktivierungen des Begriffs TANKGIT des Gehirns-im-Tank verursachen. Mit Hilfe dieser Einsicht lässt sich nun die skeptische Gehirn-imTank-Hypothese ad absurdum führen.394 Wir haben eben gesehen, dass das Opfer der Manipulation durch den Computer nicht denken kann, dass die skeptische Hypothese wahr ist, wenn sie wahr ist. Zumindest gilt das, wenn der semantische Externalismus wahr ist. Sobald ich das auf die Perspektive der ersten Person übertrage, heißt das, dass ich nicht denken kann, dass ich selbst ein Gehirn-imTank bin, wenn ich ein solches Gehirn bin. Ich kann nur denken, dass ich das bin, was im Computer meinen Begriff GEHIRN-IM-TANKGIT verursacht, und dieser Gedanke ist falsch. Solange ich die skeptische Hypothese aber gar nicht denken kann, kann sie für mich auch keine relevante (und widerlegenswerte) Hypothese sein. Ich kann mich also als Opfer einer globalen Täuschung gar nicht denken,

394 Es gibt auch andere Rekonstruktionsversuche von Putnams Argument, die ich aber allesamt nicht für gelungen halte. Tymoczko 1989, der an Putnam 1990, S. 23, anschließt, versteht das Argument folgendermaßen: (1) Ich kann überlegen, ob ich ein Gehirn-im-Tank bin oder nicht. (2) Ein Gehirn-im-Tank könnte nicht überlegen, ob es ein Gehirn-im-Tank ist oder nicht (es könnte nur überlegen, ob es ein Gehirn-im-Tank in der Simulation ist oder nicht). Also: Ich bin kein Gehirn-im-Tank. Doch wie soll ich wissen, ob (1) wahr ist oder ob ich nur überlege, ob ich ein Gehirn-im-Tank in der Simulation bin, solange ich nicht weiß, ob ich ein Gehirn-im-Tank bin? Mein Selbstwissen ist nicht komparativ genug, um das entscheiden zu können. Nach Brueckner 1986, der sich an Putnam 1990, S. 32 f., anschließt, argumentiert Putnam wie folgt: (1) Entweder ich bin ein Gehirn-im-Tank oder ich bin kein Gehirn-im-Tank. (2) Wenn ich kein Gehirn-im-Tank bin, dann ist meine Äußerung ‚Ich bin ein Gehirn-im-Tank‘ falsch. (3) Wenn ich ein Gehirn-im-Tank bin, dann bedeutet meine Äußerung ‚Ich bin ein Gehirn-imTank‘, dass ich ein Gehirn-im-Tank in der Simulation bin. (4) Wenn ich ein Gehirn-im-Tank bin, dann bin ich kein Gehirn-im-Tank in der Simulation. (5) Wenn ich ein Gehirn-im-Tank bin, dann ist meine Äußerung ‚Ich bin ein Gehirn-im-Tank‘ falsch.  (aus 3 & 4) (6) Also ist meine Äußerung ‚Ich bin ein Gehirn-im-Tank‘ in jedem Äußerungskontext falsch.  (aus 1,2 & 5) (7) Der Satz ‚Ich bin ein Gehirn-im-Tank‘ ist notwendig falsch. (aus 6) Hier liegt das Problem des Arguments darin, dass zwar die Äußerung ‚Ich bin ein Gehirn-imTank‘ unter allen Umständen falsch ist, aber nur weil sie in den verschiedenen Kontexten verschiedene Propositionen ausdrückt. Es zeigt nicht, dass die Proposition, dass TG ein Gehirn-imTank ist, notwendig falsch ist.

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 6 Skeptizismus

wenigstens sofern der semantische Externalismus gilt. Es gibt einen Widerspruch zwischen dem Inhalt der Proposition und den Bedingungen der Denkbarkeit der Proposition für den Betroffenen. Der Skeptiker könnte nun versuchen, die Denkbarkeit skeptischer Hypothesen zu verteidigen. Er könnte erstens vorbringen, dass das antiskeptische Argument entscheidend von der Prämisse des semantischen Externalismus abhängt. Ohne sie ist überhaupt nicht zu sehen, wieso skeptische Hypothesen für die Betroffenen undenkbar sein sollten. Doch wie soll der Antiskeptiker im Angesicht der skeptischen Hypothese den Externalismus verteidigen können? Er darf dazu nur Methoden verwenden, die auch der Skeptiker nicht konsistent leugnen kann. Der Skeptiker behauptet, dass eine globale Täuschungssituation, wie sie durch die skeptische Hypothese beschrieben wird, möglich ist. Woher weiß er das? Dazu muss er sich offenbar auf modale Intuitionen über das, was möglich ist, stützen. Der Antiskeptiker könnte sich deshalb berechtigterweise auf genau diese modalen Intuitionen stützen, wenn er den semantischen Externalismus gegen den Skeptiker verteidigen wollte. Er müsste zeigen, dass ein semantischer Bezug auf die Welt nicht anders denkbar oder vorstellbar ist, als es der semantische Externalist beschreibt. Es ist nicht klar, ob eine solche Begründung des semantischen Externalismus wirklich durchführbar ist. Hier genügt es aber, darauf hinzuweisen, dass der Antiskeptiker im Prinzip diese Strategie zur Verteidigung seiner Prämisse verwenden kann. Der Skeptiker könnte nun zweitens einwenden, dass der semantische Externalismus, selbst wenn dieser wahr wäre, gar nicht hinreicht, um zu zeigen, dass skeptische Hypothesen undenkbar sind. Um das zu sehen, muss man zwei Arten von skeptischen Hypothesen unterscheiden: permanente Gehirne-im-Tank und Gehirne, die erst nachträglich in den Tank verfrachtet wurden (wie Putnam in seinem Beispiel annimmt und wie auch Harrys Geschichte unterstellt). Ein Gehirn, das im Tank aufgewachsen ist, kann über keine Begriffe von echten Gehirnen und echten Tanks verfügen, weil es niemals in dem erforderlichen kausalen Kontakt zu ihnen gestanden hat. Aber ein Gehirn, das in einem normalen Körper und in einer normalen Umwelt aufgewachsen ist, kann solche Begriffe von echten Gehirnen und echten Tanks durchaus auch dann noch behalten, wenn es in einen Tank verfrachtet worden ist. Entscheidend für den Inhalt der Begriffe sind nämlich nach der überzeugendsten Version des Externalismus nicht die aktualen Ursachen für die Begriffsverwendung, sondern die historischen Ursachen für den Begriffserwerb. Man spricht deshalb auch von einem historischen Externalismus. Wenn das jedoch so ist, dann kann ein aktuales Gehirn im Tank durchaus dazu in der Lage sein zu denken, dass es ein Gehirn im Tank ist, solange es nur unter normalen Bedingungen seine Begriffe erworben hat. Dieser zweite Einwand des Skeptikers gegen Putnam ist entscheidend und zeigt, dass selbst dann, wenn der semantische Externalismus wahr ist, das Opfer



6.3 Ambitionierte antiskeptische Strategien 

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auch skeptische Hypothesen in Betracht ziehen kann. Damit aber bleiben solche skeptischen Hypothesen relevant. 6.3.1.2 Davidsons Argument von der radikalen Interpretation Zentral für Davidsons antiskeptisches Argument ist seine Theorie der radikalen Interpretation.395 Diese Theorie erklärt, wie es uns möglich ist, die Äußerungen und Überzeugungen eines fremden Sprechers zu verstehen, ohne bereits implizit oder explizit eine Kenntnis der Bedeutung seiner Äußerungen vorauszusetzen. Das ist sicher nicht die normale Situation des Verstehens. In der alltäglichen Praxis unterstellen wir einfach, dass Sprecher, mit denen wir kommunizieren, dieselbe Sprache sprechen wie wir und dieselben Wörter mit dergleichen Bedeutung verwenden. Beim Verstehen fremder Sprachen stützen wir uns andererseits auf das, was wir über sie von Sprachlehrern und aus Sprachbüchern gelernt haben. Doch was rechtfertigt diese Annahmen und Unterstellungen letztendlich? Wenn wir diese Frage beantworten wollen, dann müssen wir künstlich von allen semantischen Vorannahmen über die Bedeutungen der Wörter eines anderen abstrahieren. Wir versetzen uns sozusagen in die Lage eines linguistischen Feldforschers, der auf einen bisher unbekannten, exotischen Stamm trifft. Diese Situation nennt Davidson die Situation der ‚radikalen Interpretation‘. In einer solchen Situation kann sich die Interpretation der Äußerungen des fremden Sprechers nur auf das stützen, was dieser Sprecher unter verschiedenen beobachtbaren Umständen äußert. Nehmen wir an, ein Eingeborener, dessen Sprache bislang unbekannt war, äußert den Einwortsatz „Xui“ immer dann, wenn er einen Baum vor sich sieht. Um diese Äußerung interpretieren zu können, muss der Interpret vom Prinzip der Nachsicht Gebrauch machen. Er muss vorläufig annehmen, dass die Überzeugungen des Sprechers durch ihre für den Interpreten wahrnehmbaren externen Kausalursachen bestimmt und mit Bezug auf sie wahr sind. Nur dann gibt es ausreichende Indizien für den Interpreten, um dem Sprecher ganz bestimmte Überzeugungen zuzuschreiben. Dann wird er sagen können, dass der Eingeborene glaubt, dass vor ihm ein Baum steht und dass er diese Überzeugung mit seiner Äußerung „Xui“ zum Ausdruck bringt. Er wäre also zu der vorläufigen Annahme berechtigt, dass „Xui“ bedeutet „Vor mir steht ein Baum“. Diese Annahme muss sich anschließend durch eine kohärente Gesamtinterpretation der Sprache des Eingeborenen bewähren. Wie dieser komplizierte Prozess im Einzelnen aussieht, muss uns hier aber nicht weiter beschäftigen. Wichtig

395 Vgl. zum Folgenden vor allem Davidson 1984. Gute Einführungen in Davidsons Theorie sind Stüber 1993, Glüer 1993.

300 

 6 Skeptizismus

ist nur, dass der Interpret einem Sprecher nur dann Überzeugungen und seinen Äußerungen nur dann Bedeutungen zuschreiben kann, wenn er davon ausgeht, dass dieser Sprecher weitgehend wahre Überzeugungen über seine Umgebung hat. Das Prinzip der Nachsicht besagt, dass ein interpretierbarer Sprecher aus der Sicht des Interpreten weitgehend wahre Überzeugungen über seine Umgebung hat. Der Schritt vom Prinzip der Nachsicht zum antiskeptischen Argument liegt nun auf der Hand.396 Aus den Bedingungen der Interpretation wird einfach abgeleitet, dass die Überzeugungen einer Person nicht weitgehend falsch sein können. Damit wäre das, was skeptische Hypothesen beschreiben, nämlich der Fall eines globalen Irrtums, tatsächlich nicht möglich. Hier ist eine formalere Version des Arguments: (1)

Ein Interpret kann einer anderen Person nur solche Überzeugungen zuschreiben, die aus seiner Perspektive (weitgehend) wahr sind.

Also: Es ist nicht möglich, dass eine Person (wir selbst) weitgehend falsche Überzeugungen hat. Dieses Argument ist in dieser Form natürlich ungültig. Selbst wenn Prämisse (1) wahr wäre, könnte die Konklusion falsch sein. Es könnte nämlich erstens sein, dass zwar alle zuschreibbaren Überzeugungen weitgehend wahr sind, dass aber nur eine Minderzahl von existierenden Überzeugungen für den Interpreten zugänglich und zuschreibbar ist. Dann wäre es möglich, dass die meisten Überzeugungen einer Person falsch sind, obwohl diejenigen ihrer Überzeugungen, die zuschreibbar sind, weitgehend wahr sind. Zweitens besagt (1) nur, dass die zuschreibbaren Sprecherüberzeugungen aus der Perspektive des Interpreten wahr sind. Was aus der Perspektive des Interpreten wahr ist, wird jedoch von diesem nur für wahr gehalten. Ob es tatsächlich wahr ist, ist dadurch nicht festgelegt. Dieser Defekt lässt sich durch die folgende Version des Arguments von der radikalen Interpretation beheben: (1) (2) (3)

Ein Interpret kann einer anderen Person nur solche Überzeugungen zuschreiben, die aus seiner Perspektive (weitgehend) wahr sind. Es gibt keine Überzeugungen, die ein Interpret nicht zuschreiben kann. Die Perspektive des Interpreten ist wahr.

396 Vgl. dazu Davidson 1996.



6.3 Ambitionierte antiskeptische Strategien 

 301

Also: Es ist nicht möglich, dass eine Person (wir selbst) weitgehend falsche Überzeugungen hat. Dieses Argument ist im Unterschied zu seinem Vorgänger offensichtlich gültig. Aber es enthält problematische Prämissen. Warum sollte es keine Überzeugungen geben, die für einen Interpreten unzugänglich sind, wie (2) behauptet? Diese Prämisse lässt sich nur dadurch plausibel machen, dass man einen Verifikationismus unterstellt. Dann wäre die Annahme unerkennbarer Überzeugungen sinnlos. Aber der Verifikationismus war ja bereits früher schon als unplausible semantische Theorie zurückgewiesen worden.397 Auch (3) wird man, zumal gegen den Skeptiker, nicht einfach voraussetzen dürfen. Warum sollte sich der Interpret nicht genauso global täuschen können wie jeder andere? Die Interpretation würde bereits dann gelingen, wenn die Überzeugungen des Sprechers und des Interpreten über die Umgebung übereinstimmen. Sie müssen nicht zusätzlich auch noch wahr sein.398 Davidson hat selbst gesehen, dass die bisherige Argumentation gegen den Skeptiker unzureichend ist. Deshalb hat er die Figur eines allwissenden Interpreten eingeführt.399 Natürlich will Davidson sich nicht auf die Existenz eines solchen gottähnlichen Wesens festlegen. Er sagt nur, dass die Überzeugungen jeder Person derart sein müssen, dass sie für einen allwissenden Interpreten interpretierbar wären, würde er existieren. Das soll der entscheidende Schritt sein, um aus der Interpretierbarkeit die weitgehende Wahrheit der Überzeugungen jeder Person ableiten zu können. Sehen wir uns das neue Argument in seiner formalen Version genauer an: (1’)

(2’) (3’)

Wenn ein allwissender Interpret existieren würde, dann könnte er einer Person nur solche Überzeugungen zuschreiben, die aus seiner Perspektive weitgehend wahr sind. Es gibt keine Überzeugungen, die ein allwissender Interpret, würde er existieren, nicht zuschreiben könnte. Wenn ein allwissender Interpret existieren würde, dann wäre seine Perspektive wahr.

Also: Es ist nicht möglich, dass eine Person (wir selbst) weitgehend falsche Überzeugungen hat.

397 Vgl. zu dieser Kritik Bittner 1989. 398 Vgl. in diesem Sinne Stroud 1999. 399 Davidson 1996, S. 270 f.

302 

 6 Skeptizismus

In dieser Version des Arguments ergeben sich die Prämissen (2’) und (3’) direkt aus dem Begriff des allwissenden Interpreten. Ein Interpret, der bestimmte Überzeugungen nicht erkennen könnte (Negation von 2’), wäre sicher nicht allwissend. Und ein Interpret, der keine weitgehend wahre Perspektive hätte (Negation von 3’), wäre sicher nicht allwissend. Aber hier ist (1’) überaus problematisch. Warum sollte ein allwissender Interpret, wenn es ihn gäbe, auf das Verfahren der radikalen Interpretation angewiesen sein, um die Überzeugungen und Äußerungen eines Sprechers herauszufinden? Er muss sich keinesfalls unserer Verfahren bedienen, sondern könnte die Überzeugungen möglicherweise direkt erkennen, z. B. dadurch, dass er alle Personen mit allen ihren Eigenschaften nach eigenem Plan erschaffen hat.400 Davidsons antiskeptisches Argument kann also in keiner Rekonstruktion überzeugen. 6.3.1.3 Chalmers Destruktion der Täuschungshypothesen David Chalmers glaubt nicht, dass wir das, was die so genannten skeptischen Hypothesen beschreiben, nicht denken können; und er glaubt auch nicht, dass die so genannten skeptischen Hypothesen nicht wahr sein können. Er hält es sehr wohl für denkbar und möglich, dass das, was diese Hypothesen beschreiben, Realität ist. Er glaubt jedoch nicht, dass die vermeintlich skeptischen Hypothesen wirklich skeptische Hypothesen sind. Seiner Auffassung nach ist es nämlich nicht wahr, dass diese Hypothesen eine globale oder massive Täuschung implizieren. Nehmen wir mit ihm einmal an, dass jemand das Opfer einer grandiosen Manipulation wird, so wie die Menschen in dem Film „Matrix“ oder Harry in unserer skeptischen Geschichte. In diesem Fall, so meint Chalmers, beziehen sich die alltäglichen Außenweltüberzeugungen des Opfers nicht mehr auf gewöhnliche Gegenstände in seiner Umgebung, sondern sein Begriff TISCH bezieht sich auf die Ursachen seiner Tischerfahrung im Computer, sein Begriff STUHL bezieht sich auf die Ursachen seiner Stuhlerfahrung im Computer und sein Begriff KÖRPER bezieht sich auf die Ursachen im Computer für seine Erfahrung von Körpern. Nach Chalmers sind die gewöhnlichen Außenweltüberzeugungen des Opfers wahr mit Bezug auf die Vorgänge im Computer, von denen sie handeln. Es sind sogar Überzeugungen über die Außenwelt, denn auch die Vorgänge im Computer sind ein Teil der geistunabhängigen Außenwelt. Wenn das Opfer ein Gehirn-imTank ist, dann hat das nur zur Folge, dass die Natur der alltäglichen Dinge etwas

400 Der allwissende Interpret wäre nur dann auf die Methode der radikalen Interpretation angewiesen, wenn sich sein Allwissen nicht auf die Überzeugungen anderer Personen erstreckte. Dann wäre (1’) wahr. Aber zugleich würde (2’) falsch. Über die tatsächlichen Überzeugungen anderer Personen könnte sich der allwissende Interpret dann nämlich täuschen.



6.3 Ambitionierte antiskeptische Strategien 

 303

anders aussieht, als das Opfer glaubt. Mikrophysikalische Prozesse in Raum und Zeit beschreiben z. B. nicht die elementaren Konstituenten der Realität. Sie sind nämlich in Wirklichkeit durch computationale Prozesse konstituiert. Wenn das Opfer ein Gehirn-im-Tank ist, dann ist auch eine andere Grundannahme der herrschenden Metaphysik nicht richtig. Der Geist ist kein Teil der physikalischen Realität (wie der Physikalismus behauptet), weil das Opfer der Computersimulation nicht selbst Teil der Vorgänge im Computer ist, die die physikalische Realität konstituierten. Wenn der Geist also durch Handlungen in die physikalische Realität eingreift oder umgekehrt durch sie kausal affiziert wird, dann gibt es eine Interaktion zwischen verschiedenen metaphysischen Bereichen. Schließlich hat die Gehirn-im-Tank-Hypothese noch eine weitere interessante metaphysische Implikation. Die physikalische Welt (der computationalen Prozesse) ist ihr zufolge nämlich durch Wesen außerhalb erschaffen worden, also entweder durch die Maschinen (in der Matrix) oder durch die bösen Neurochirurgen, die Harrys Sekretärin assistieren. Da diese Schöpfer der Computerprozesse (welche die physikalische Realität konstituieren) nicht Teil der Computerprozesse sind, handelt es sich um Ursachen, die die physikalische Realität transzendieren. Im Resultat ist die vermeintliche skeptische Matrix- oder Gehirn-im-Tank-Hypothese nach Chalmers nur eine metaphysische Hypothese, die zwar impliziert, dass einige unserer grundlegenden metaphysischen Überzeugungen falsch sind, aber keineswegs eine globale Täuschung einschließt. Diese metaphysische Hypothese ist mit der weitgehenden Wahrheit unserer Alltagsüberzeugungen über die Außenwelt sehr gut verträglich. Chalmers drückt das so aus: Wenn das richtig ist, dann folgt daraus, dass die Matrixhypothese keine skeptische Hypothese ist. Wenn ich sie akzeptiere, sollte ich daraus weder den Schluss ziehen, dass die externe Welt nicht existiert, noch, dass ich keinen Körper habe, noch, dass es keine Tische und Stühle gibt (…). Stattdessen sollte ich den Schluss ziehen, dass die physikalische Welt aus computationalen Zuständen unterhalb der mikrophysikalischen Ebene besteht. Es gibt dennoch Tische, Stühle und Körper. Sie bestehen nur aus Bits und was auch immer diese Bits konstituiert. Diese Welt wurde von anderen Wesen geschaffen, aber sie ist vollkommen real. Mein Geist ist unabhängig von physikalischen Prozessen, aber er interagiert mit ihnen. (…) Das Resultat ist ein komplexes Bild von der fundamentalen Natur der Realität. Das Bild ist merkwürdig und überraschend, aber es ist das Bild einer vollgültigen Außenwelt.401

In gewissem Sinne stimmt ein Teil dessen, was Chalmers sagt, vollkommen mit dem überein, was Putnam in seiner Analyse der Gehirne-im-Tank-Hypothese sagt. Gehirne-im-Tank beziehen sich mit ihren Begriffen und Wörtern nicht mehr auf

401 Chalmers 2003, S. 10 f., meine Übersetzung.

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 6 Skeptizismus

ihre Umwelt, sondern auf das Geschehen im Computer. Und über das täuschen sie sich nicht. Chalmers Position ist jedoch nicht ganz deckungsgleich mit der von Putnam. Im Unterschied zu Putnam hält Chalmers nämlich daran fest, dass das Gehirn-im-Tank die Gehirne-im-Tank-Hypothese in Betracht ziehen kann. Daraus ergibt sich das folgende Dilemma für seine Position: Entweder beschreibt das Opfer der Computermanipulation die Situation außerhalb der Computerwelt mit seinen gewöhnlichen Begriffen. Wenn das möglich ist, dann beziehen sich diese Begriffe jedoch auf die Welt außerhalb des Computers und nicht, wie Chalmers meint, auf die computationalen Prozesse. Dann würde sich das Opfer der Manipulation natürlich massiv über diese Welt täuschen. Gegen Chalmers müsste daran festgehalten werden, dass die Gehirne-im-Tank-Hypothese eine skeptische Täuschungshypothese ist. Oder das Opfer der Computeraktivität kann sich mit seinen gewöhnlichen Begriffen nicht auf die Welt außerhalb des Computers beziehen. Dann liegt keine massive Täuschung vor. Aber dann kann das Opfer sich gar nicht auf die Welt außerhalb beziehen. Die Gehirne-im-TankHypothese wäre dann doch eine für es undenkbare Hypothese und deshalb auch keine relevante metaphysische Hypothese. Chalmers Position ist instabil, weil sie keine Rechenschaft darüber ablegt, wie ein Bezug auf die Welt außerhalb des Computers möglich ist, wenn unsere Begriffe sich auf die computationalen Prozesse beziehen. Es hat sich gezeigt, dass keines der drei semantischen Argumente gegen den Skeptizismus erfolgreich ist. Putnam kann letztlich nicht zeigen, dass sich skeptische Hypothesen, wenn sie wahr sind, nicht denken lassen. Davidson gelingt der Nachweis nicht, dass skeptische Hypothesen nicht wahr sein können; und Chalmers scheitert schließlich mit seinem Versuch, den täuschenden Charakter so genannter skeptischer Hypothesen zu entkräften. Damit ist also die Bedrohung, die von der möglichen Wahrheit skeptischer Hypothesen ausgeht, nicht gebannt.

6.3.2 Idealistische Strategien gegen den Skeptizismus Der Idealismus ist eine ungeheuer faszinierende philosophische Position, und zwar gerade deshalb, weil er sich so radikal von unserem natürlichen Weltbild absetzt. Als Strategie gegen den Skeptizismus wurde er besonders von Berkeley und Kant eingesetzt. Er hat jedoch bis heute viele philosophische Anhänger. Seine Gegenposition, der Realismus, geht davon aus, dass sich unsere Überzeugungen und Aussagen über die Außenwelt auf Dinge oder Tatsachen beziehen, die vollkommen unabhängig vom Geist existieren, d. h. auch dann existieren würden, wenn es Lebewesen mit geistigen Zuständen nicht gäbe. Solange wir diesem natürlichen Realismus anhängen, scheinen wir nicht ausschließen zu



6.3 Ambitionierte antiskeptische Strategien 

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können, dass eine globale Täuschung, wie sie von den skeptischen Hypothesen beschrieben wird, möglich ist. Der Idealismus hält dem seine alternative Sicht der Dinge entgegen: Wenn sich unsere Überzeugungen und Aussagen tatsächlich gar nicht auf eine von unserem Geist vollkommen unabhängige Realität beziehen würden, sondern auf die Dinge, so wie sie uns subjektiv erscheinen, dann wäre die Möglichkeit globaler Täuschung über diese Tatsachen viel weniger plausibel. Schließlich ist uns die Welt der Erscheinungen ja irgendwie gegeben und es wäre zumindest sehr erstaunlich, wenn sich selbst gegen unser Wissen von diesen Erscheinungen noch skeptische Hypothesen formulieren ließen. Die idealistische Argumentation wird von dem Optimismus getragen, dass wir uns über das, was uns subjektiv erscheint, nicht radikal täuschen können. Es ist uns gewissermaßen zu nahe, um solche Täuschungen zuzulassen, und Descartes selbst meinte (wie wir bereits gesehen haben), dass selbst ein böser Dämon uns nicht darüber täuschen könnte, wie uns die Dinge erscheinen. Bevor wir tiefer in die Diskussion der idealistischen Strategie gegen den Skeptizismus einsteigen können, sind zunächst einige begriffliche Unterscheidungen nötig. Der Idealismus, so wie ich ihn bisher eingeführt habe, ist eine erkenntnistheoretische These. Sie besagt, dass dasjenige, worauf sich unsere Überzeugungen oder Erfahrungen beziehen (und was folglich auch über die Wahrheit und Falschheit dieser Überzeugungen oder Erfahrungen entscheidet), nicht geistunabhängig ist. So hat Kant die These des transzendentalen Idealismus verstanden. Von diesem erkenntnistheoretischen Idealismus muss man den metaphysischen Idealismus, der unter anderem von Berkeley vertreten wurde, streng unterscheiden. Der metaphysische Idealismus behauptet, dass es keine geistunabhängigen Dinge gibt. Kant hat dagegen zumindest erwogen und wohl auch geglaubt, dass es solche geistunabhängigen Dinge, die er „Dinge an sich“ nennt, gibt. Sie sind aber seiner Überzeugung nach für die Erkenntnistheorie irrelevant, weil wir uns mit unseren Überzeugungen oder Erfahrungen nicht auf sie beziehen. Sie spielen deshalb für die Wahrheit oder Falschheit dieser Überzeugungen oder Erfahrungen keine Rolle. Kant war also erkenntnistheoretischer Idealist und metaphysischer Realist zugleich. Für die antiskeptische Strategie des Idealisten ist nur der erkenntnistheoretische Idealismus relevant. Daneben ist noch eine weitere Unterscheidung von äußerster Wichtigkeit für alles Folgende. Der erkenntnistheoretische Idealismus besagt nicht dasselbe wie die epistemische Wahrheitstheorie.402 Der erkenntnistheoretische Idealismus ist eine These über den metaphysischen Status der Wahrmacher unserer Aussagen über die Außenwelt. Er besagt, dass diese Wahrmacher letztlich geistabhängige

402 Vgl. dazu auch Alston 1996, Kap. 2.

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 6 Skeptizismus

Entitäten* sind. Man könnte aber auch sagen, dass sich gemäß dem erkenntnistheoretischen Idealismus Aussagen über die Außenwelt in Aussagen über geistabhängige Erscheinungen übersetzen lassen. Diese These impliziert jedoch nichts darüber, ob Wahrheit mit Hilfe von Rechtfertigungskriterien definiert werden kann (wie die epistemische Wahrheitstheorie behauptet) oder ob sie durch eine metaphysische Relation der Korrespondenz definiert werden muss. Auch der erkenntnistheoretische Idealist kann behaupten, dass für die Wahrheit unserer Außenweltsüberzeugungen die Korrespondenz dieser Überzeugungen mit den subjektiven Erscheinungen verantwortlich ist. Er muss keineswegs annehmen, dass es hinreichende Wahrheitskriterien gibt, wie der Anhänger der epistemischen Wahrheitstheorie meint.403 Umgekehrt gilt auch, dass die epistemische Wahrheitstheorie keinen erkenntnistheoretischen Idealismus impliziert. Die Konsenstheorie der Wahrheit ist z. B. eine typische epistemische Wahrheitstheorie. Ihr zufolge ist ein (möglicherweise idealer) Konsens aller vernünftigen Menschen ein hinreichendes Wahrheitskriterium. Aber das ist vollkommen verträglich damit, dass sich unsere Überzeugungen über die Außenwelt auf eine Realität jenseits der subjektiven Erscheinungen beziehen. Der erkenntnistheoretische Idealismus und die epistemische Wahrheitstheorie sind also zwei verschiedene Dinge. Das bedeutet auch, dass der erkenntnistheoretische Idealismus weiterhin eine mögliche Option ist, auch wenn die epistemische Wahrheitstheorie bereits im Kapitel über Wahrheit als wenig plausibel ausgeschieden ist. Hier ist nun das antiskeptische Argument des erkenntnistheoretischen Idealisten: (1) (2)

Unsere Aussagen über die materielle Außenwelt lassen sich auf Aussagen über geistabhängige Erscheinungen reduzieren. Aussagen über geistabhängige Erscheinungen können nicht skeptisch in Frage gestellt werden.

Also: Unsere Aussagen über die materielle Außenwelt können nicht skeptisch in Frage gestellt werden. Die erste Prämisse, die Reduktionsthese des Idealisten, besagt, dass sich unsere Aussagen restlos in Aussagen über Erscheinungen für das Subjekt übersetzen lassen. Unter „Erscheinungen für das Subjekt“ kann dabei aber sehr Unterschied-

403 Kant selbst scheint übrigens beide Positionen zusammen zu vertreten. Er ist ein erkenntnistheoretischer Idealist und gleichzeitig leugnet er die Existenz hinreichender Wahrheitskriterien (KrV B 83) und bekennt sich explizit zu einer Korrespondenztheorie der Wahrheit (B 82).



6.3 Ambitionierte antiskeptische Strategien 

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liches verstanden werden. Phänomenalisten wie Berkeley halten eine Reduktion aller unserer Aussagen über die Außenwelt auf Aussagen über subjektive Empfindungen für möglich. Ein transzendentaler Idealist wie Kant möchte dagegen an der Unterscheidung zwischen subjektiven Empfindungen und objektiven Gegenständen grundsätzlich festhalten, versucht sie aber innerhalb der Erscheinungen für das Subjekt zu rekonstruieren. Die zweite Prämisse ist die These der Skepsisresistenz unseres Wissens von der Reduktionsbasis. Dahinter steht, wie bereits angedeutet, die optimistische Auffassung, dass unsere Erkenntnis von Erscheinungen nicht in gleicher Weise von skeptischen Zweifeln bedroht ist wie unsere Erkenntnis von einer völlig geistunabhängigen Realität an sich. 6.3.2.1 Berkeleys phänomenalistische Reduktionsthese Wenn man Berkeleys phänomenalistische These auf einen kurzen Nenner bringen möchte, kann man sagen, dass er glaubt, dass die Existenz von Dingen in der Außenwelt in ihrem Wahrgenommenwerden besteht. Man kann das auch umformulieren, indem man nicht über die Dinge selbst, sondern über unsere Redeweise von den Dingen spricht. Dann wären Aussagen über Dinge in der Außenwelt auf Aussagen über unsere Wahrnehmung dieser Dinge reduzierbar. In seiner Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis heißt es: „Sage ich: der Tisch, an dem ich schreibe, existiert, so heißt das: ich sehe und fühle ihn (…).“404 Allerdings ist auch Berkeley klar, dass diese einfache Gleichsetzung von Existenz und Wahrgenommenwerden nicht aufgeht. Zu unserem Grundverständnis der Dinge in der Außenwelt gehört, dass sie auch unbeobachtet weiterexistieren. Gerade das macht die Objektivität der Außenwelt aus. Berkeley trägt dieser Tatsache Rechnung, indem er eine Existenz von Dingen auch dann annimmt, wenn sie unter bestimmten kontrafaktischen* Bedingungen beobachtbar wären, selbst wenn sie faktisch nicht beobachtet werden: „Wäre ich außerhalb der Studierstube, so könnte ich seine Existenz (die Existenz des Tisches, TG) in dem Sinne aussagen, dass ich, wenn ich in meiner Studierstube wäre, ihn perzipieren (beobachten, TG) könnte (…).“405 Doch auch diese Modifikation reicht noch nicht aus, um der Eigenständigkeit der Dinge in der Außenwelt

404 Berkeley 2004, § 3, S. 26. 405 Berkeley 2004, § 3, S. 26. Alternativ erwägt Berkeley an derselben Stelle auch die permanente Wahrnehmung jedes existierenden Dinges durch Gott. Das eigentliche Problem dieses Vorschlags liegt nicht so sehr in seinen theologischen Implikationen, sondern darin, dass Berkeley damit streng genommen den Idealismus aufgibt. Aussagen über die Außenwelt lassen sich dann nämlich nicht mehr auf Aussagen über Erscheinungen des Erkenntnissubjekts reduzieren, sondern implizieren die Existenz von Dingen, die vom Erkenntnissubjekt unabhängig sind (Gott).

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 6 Skeptizismus

ausreichend Rechnung zu tragen. Für die Existenz meines Schreibtisches in der Studierstube ist es weder notwendig noch hinreichend, dass ich ihn wahrnehmen würde, wenn ich in der Studierstube wäre. Die Wahrnehmung in der kontrafaktischen* Situation ist nicht notwendig für die Existenz des Schreibtisches, weil es in dem Raum dunkel sein könnte, der Schreibtisch mir durch ungünstige Lichtverhältnisse oder optische Tricks verborgen sein könnte oder weil meine Wahrnehmungsfähigkeit durch Drogen beeinträchtigt sein könnte. Wenn ich den Schreibtisch in der Studierstube wahrnehmen würde, dann wäre es auch nicht hinreichend für seine Existenz, weil ich unter starkem Drogeneinfluss auch einer Halluzination ausgesetzt sein könnte. Wenn man alle diese Einschränkungen und Bedingungen berücksichtigt, dann kann man versuchen, eine konkrete Aussage über ein Ding in der Außenwelt auf Aussagen über Wahrnehmungen unter kontrafaktischen Bedingungen zu reduzieren. Versuchen wir eine solche Analyse für Berkeleys Beispielsatz zu geben: (1) In meinem Büro steht ein Schreibtisch. Der Phänomenalist würde die folgende Analyse vorschlagen: (1) ist wahr dann und nur dann, wenn die folgenden kontrafaktischen Sätze alle wahr sind: (1a) Wäre ich in meinem Büro und wären meine Sehfähigkeit sowie die Lichtverhältnisse in dem Raum ungetrübt, dann würde ich den Schreibtisch sehen. (1b) Wäre ich in meinem Büro und wäre meine Tastfähigkeit ungetrübt, dann könnte ich die Außenflächen des Schreibtisches ertasten. (1c) Wäre ich in meinem Büro und wären meine Sehfähigkeit und meine Hörfähigkeit ungetrübt und würde ich auf den schreibtischähnlichen Gegenstand klopfen, dann würde ich einen Ton hören, wie er beim Klopfen auf Holz entsteht. …… Es dürfte schnell klar werden, dass sich diese Konjunktion* nicht leicht abschließen lässt, sondern potenziell unbestimmt viele kontrafaktische Sätze beinhaltet. Das eigentliche Problem dieser Analyse liegt jedoch woanders. Es besteht darin, dass in der Analyse nicht nur Beschreibungen meiner Wahrnehmungserlebnisse auftauchen. Im Antezedenz der kontrafaktischen Sätze werden objektive Bedingungen für das Auftreten der potenziellen Wahrnehmung genannt: die objektive Position des Beobachters sowie die objektiven Lichtverhältnisse und die objektiven Wahrnehmungsfähigkeiten des Beobachters. Das sind implizite Aussagen

Deshalb hat der Phänomenalismus seit Mill diese Alternative verworfen und die Analyse durch mögliche Wahrnehmung oder Wahrnehmbarkeit favorisiert.



6.3 Ambitionierte antiskeptische Strategien 

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über die Außenwelt, die nötig sind, um die vorgeschlagene Analyse plausibel zu machen. Doch wenn in der phänomenalistischen Analyse von Aussagen über die Außenwelt Angaben über die Außenwelt unverzichtbar sind, dann kann das nur heißen, dass die phänomenalistische Analyse nicht erfolgreich durchgeführt werden kann. Das phänomenalistische Reduktionsprogramm scheitert also.406 6.3.2.2 Kants transzendentale Reduktionsthese Kants transzendentaler Idealismus lässt sich einerseits in Kontinuität andererseits aber auch in strikter Opposition zu Berkeleys Phänomenalismus verstehen. Die Kontinuität besteht darin, dass Kant weiterhin an der Reduktionsthese festhält. Die Opposition besteht darin, dass sich die Reduktionsbasis verändert. Kant glaubt nicht, dass sich die Objektivität der Dinge in Raum und Zeit auf ihr Wahrgenommenwerden reduzieren lässt, wie Berkeley behauptet hat. Für ihn gibt es einen strengen Unterschied zwischen unserem Strom der Erfahrungen und der Welt der erfahrenen Objekte. Dennoch hält auch Kant daran fest, dass es sich bei der raum-zeitlichen Außenwelt um ein Konstrukt aus subjektiven Daten handelt. Die Außenwelt entsteht nach Kant durch eine regelgeleitete Verknüpfung der sinnlichen Daten durch intersubjektive*, apriorische und invariante Gesetze des Verstandes. Die Außenwelt ist also demnach immer noch geistabhängig. Das sagt Kant in seiner Erläuterung des transzendentalen Idealismus in einer Deutlichkeit, die nichts zu wünschen übrig lässt: „Nun sind aber äußere Gegenstände (Körper) bloß Erscheinungen, mithin auch nichts anders, als eine Art meiner Vorstellungen, deren Gegenstände nur durch diese Vorstellungen etwas sind, von ihnen abgesondert aber nichts sein.“407 Kant behauptet also im Unterschied zu Berkeley nicht, dass sich die Außenwelt als Spielart der Innenwelt unseres Erfahrungsstroms verstehen lässt. Deshalb trifft ihn auch die Kritik am Phänomenalismus nicht. Kant behauptet vielmehr, dass Innenwelt und Außenwelt (wenigstens sofern wir uns auf sie beziehen können) beide letztlich geistabhängig sind und in diesem Sinne als Erscheinungen für das Subjekt verstanden werden können. Diese Geistabhängigkeit der Außenwelt soll ihre Objektivität jedoch keineswegs kompromittieren. Dafür, dass alles, worauf wir uns überhaupt beziehen können, geistabhängig ist, gibt es zwei grundsätzliche Argumente, die beide für Kant eine wichtige Rolle spielen: Berkeleys Meisterargument für den Idealismus und ein semantisches Argument. Diese beiden Argumente sollen jetzt genauer untersucht werden.

406 Vgl. auch Chisholm 1957, Appendix. 407 Kant 1998, A 370.

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 6 Skeptizismus

6.3.2.3 Berkeleys Meisterargument für den Idealismus Berkeleys wichtigstes Argument für den Idealismus findet sich im § 23 seiner Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis. Dieses Argument lässt sich durchaus aus dem engeren Zusammenhang seines Phänomenalismus herauslösen und als eine Verteidigung des erkenntnistheoretischen Idealismus verstehen, die auch für Kants transzendentalen Idealismus noch relevant ist. Im Kern besagt das Meisterargument, dass jede Aussage versteckt einen impliziten Bezug auf das vorstellende Subjekt enthält. Deshalb sei die Rede von vollkommen subjektunabhängigen Dingen inkonsistent. Hier ist Berkeleys Meisterargument im Wortlaut: Aber es ist doch, sagt ihr, gewiss nichts leichter als sich vorzustellen, dass z. B. Bäume im Park oder Bücher in einem Kabinett existieren, ohne dass jemand sie wahrnimmt. Ich antworte: es ist freilich nicht schwer, sich dies vorzustellen, aber was, ich bitte Euch, heißt dies alles anders als in eurem Geist gewisse Ideen zu bilden, die ihr ‚Bücher‘ oder ‚Bäume‘ nennt, und gleichzeitig zu unterlassen, die Idee von jemand, der sie perzipiert, zu bilden? Aber perzipiert oder denkt ihr selbst denn nicht unterdessen eben diese Objekte? Dies führt nicht zum Ziel; es zeigt nur, dass ihr die Macht habt, vermöge eurer Einbildungskraft Vorstellungen in eurem Geist zu bilden; aber es zeigt nicht, dass ihr es als möglich begreifen könnt, dass die Objekte eures Denkens außerhalb des Geistes existieren; um dies zu erweisen, müsstet ihr vorstellen, dass sie existieren, ohne dass sie vorgestellt werden oder an sie gedacht wird, was ein offenbarer Widerspruch ist. Wenn wir das Äußerste versuchen, um die Existenz äußerer Körper zu denken, so betrachten wir doch immer nur unsere eigenen Ideen. Indem aber der Geist von sich selbst dabei keine Notiz nimmt, so täuscht er sich mit der Vorstellung, er könne Körper denken und denke Körper, die ungedacht und außerhalb unseres Geistes existieren, obschon sie doch zugleich auch von ihm vorgestellt werden oder in ihm existieren.408

Dieses Meisterargument besagt in etwa das Folgende: Alles, worauf wir uns vorstellend beziehen können, wird von uns vorgestellt, und zwar auch dann, wenn wir uns dieser Tatsache reflexiv gar nicht bewusst sind. Wenn das jedoch richtig ist, dann ist die Vorstellung eines unabhängig von der Vorstellung existierenden geistunabhängigen Dinges gar nicht konsistent möglich. Wenn der erkenntnistheoretische Realismus aber nicht konsistent ist, dann muss der erkenntnistheoretische Idealismus wahr sein. Das Argument kann auch in eine etwas explizitere Form gebracht werden. Es lautet dann so: (1)

Was immer Gegenstand meiner Vorstellung ist, wird von mir vorgestellt.

408 Berkeley 2004, S. 37.



(2)

(3)

6.3 Ambitionierte antiskeptische Strategien 

 311

Damit es möglich ist, dass dieser Gegenstand von mir unabhängig ist, müsste ich wenigstens vorstellen können, dass er auch ohne meinen Vorstellungsbezug auf ihn existieren würde. Ein vorstellungsunabhängiger Gegenstand ist nicht ohne Widerspruch von mir vorstellbar.

Also: Es ist nicht möglich (was der erkenntnistheoretische Realismus behauptet), dass der Gegenstand meiner Vorstellung von mir unabhängig ist. Prämisse (1) formuliert eine analytische Wahrheit, die man nicht angreifen kann. Prämisse (2) setzt voraus, dass etwas nur dann möglich ist, wenn es vorstellbar ist. Dieses Kriterium haben sowohl Rationalisten (Descartes) als auch Empiristen (Hume) akzeptiert. Wenn ich mir nicht einmal vorstellen kann, dass Gegenstände unabhängig von mir existieren, wie sollte es dann möglich sein? Zumindest spräche dann nichts für diese Möglichkeit. Um Prämisse (3) besser verstehen zu können, müssen wir eine Unterscheidung wieder aufgreifen, die bereits im Zusammenhang mit dem Cogito-Argument eine wichtige Rolle gespielt hat, die Unterscheidung zwischen semantischer Inkonsistenz und existenzieller Inkonsistenz. Eine Vorstellung ist semantisch inkonsistent, wenn ein Widerspruch in ihrem Inhalt auftritt. Die Vorstellung, dass Sokrates weiß, dass er nichts weiß, ist in diesem Sinne semantisch inkonsistent. Wenn sie wahr ist, dann weiß Sokrates etwas und er weiß zugleich nichts, und das ist ein semantischer Widerspruch. Eine Vorstellung ist existenziell inkonsistent, wenn es einen Widerspruch zwischen dem Auftreten der Vorstellung und ihrem Inhalt gibt. In diesem Sinne ist die Vorstellung „Ich stelle jetzt nichts vor“ existenziell inkonsistent. Die Existenz der Vorstellung widerspricht ihrem Inhalt. Der in Prämisse (3) behauptete Widerspruch ist natürlich kein semantischer Widerspruch. Der Begriff des vorstellungsunabhängigen Gegenstandes ist nicht widersprüchlich, wie es etwa der Begriff eines runden Quadrats ist. In Prämisse (3) wird vielmehr eine existenzielle Inkonsistenz behauptet. Es soll ein Widerspruch zwischen dem Inhalt (ein vorstellungsunabhängiger Gegenstand) und der Vorstellung dieses Inhalts auftreten. So einflussreich Berkeleys Meisterargument in der philosophischen Tradition auch war und so bestechend es auch heute noch wirkt, Prämisse (3) ist angreifbar. Die behauptete existenzielle Inkonsistenz tritt nämlich in Wahrheit gar nicht auf. Das kann die folgende Überlegung zeigen: Wenn ich mir einen vorstellungsunabhängigen Gegenstand, sagen wir X, vorstelle, dann stelle ich, etwas genauer gesagt, vor, dass der Gegenstand X auch dann existiert hätte, wenn ich ihn nicht vorgestellt hätte. Wenn X auch dann existiert hätte, wenn ich X nicht vorgestellt hätte, dann hängt die Existenz von X nicht von meiner Vorstellung von ihm ab. Ich stelle mir also eine andere mögliche Welt vor, in der X existiert,

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 6 Skeptizismus

ohne dass ich (oder irgendein anderes Subjekt) in dieser anderen Welt existiere und X vorstelle. Dieser Inhalt wird von mir in der aktualen Welt vorgestellt. Doch hier liegt keinesfalls eine existenzielle Inkonsistenz vor. Meine Vorstellung dieses Inhalts in der aktualen Welt widerspricht nämlich nicht der Tatsache, dass der Inhalt dieser Vorstellung meine Existenz in der anderen Welt nicht einschließt. Im Unterschied dazu ist aber meine aktuale Vorstellung, dass ich jetzt aktual nichts vorstelle, sehr wohl existenziell inkonsistent. Diese Überlegung zeigt, dass Berkeleys Meisterargument für den erkenntnistheoretischen Idealismus am Ende ausgehebelt werden kann. 6.3.2.4 Semantisches Argument In einigen Passagen seiner Kritik der reinen Vernunft scheint Kant von der Tatsache, dass alle Objekte, sofern wir uns auf sie beziehen, im Fokus unserer subjektiven Perspektive liegen, darauf zu schließen, dass diese Objekte subjektabhängig sind. Doch diese Konsequenz folgt natürlich nicht ohne Zusatzannahmen. Sie folgt, wenn man zusätzlich annimmt, dass das Subjekt nur seine eigenen Zustände erfassen kann, also gewissermaßen immer in sich hineinschaut. Kant scheint diese Annahme tatsächlich zu machen, wie die folgende Passage belegt: Wenn wir äußere Gegenstände vor Dinge an sich gelten lassen, so ist schlechthin unmöglich zu begreifen, wie wir zur Erkenntnis ihrer Wahrheit außer uns kommen sollten, indem wir uns bloß auf die Vorstellung stützen, die in uns ist. Denn man kann doch außer sich nicht empfinden, sondern nur in sich selbst, und das ganze Selbstbewusstsein liefert daher nichts, als lediglich unsere eigenen Bestimmungen.409

Aber diese Annahme ist völlig unbegründet. Warum sollten sich die Vorstellungen, die ihrerseits natürlich subjektive Zustände sind, nicht auf von ihnen unabhängige Gegenstände als ihren Inhalt beziehen können? Wir müssen dazu die Vorstellungsrelation nur als eine echte Relation zwischen unabhängigen Relata begreifen. Der Vorstellungszustand und der Inhalt der Vorstellung sind nicht identisch. Bertrand Russell hat in seiner Kritik am Idealismus deutlich gemacht, dass ein Fehlschluss vorliegt, wenn man von der Gegebenheit eines Objekts für ein Subjekt auf die Subjektabhängigkeit des letzteren schließt. In Probleme der Philosophie sagt Russell: Wenn wir sagen, dass die erkannten Gegenstände im Bewusstsein sein müssen, schränken wir entweder unser Erkenntnisvermögen ganz unzulässig ein oder wir sprechen eine bloße Tautologie aus. Es handelt sich um eine Tautologie, wenn wir mit ‚Bewusstsein‘ dasselbe

409 Kant 1998, A 378.



6.3 Ambitionierte antiskeptische Strategien 

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meinen wie mit ‚vor dem Bewusstsein‘, d. h. wenn wir bloß sagen, dass das Bewusstsein das erfasst, was es erfasst. Aber wenn wir das sagen, müssen wir zugeben, dass, was sich in diesem Sinne im Bewusstsein befindet, darum nichts Geistiges (oder Subjektabhängiges) zu sein braucht.410

Unsere Untersuchung der Argumente für den erkenntnistheoretischen Idealismus hat gezeigt, dass die phänomenalistische Reduktion unserer Aussagen über die Außenwelt auf Aussagen über Wahrnehmungen entweder die Objektivität der Aussagen über die Außenwelt unzulässig korrumpiert oder einfach nicht vollständig und ohne Rest aufgeht. Kants transzendentaler Idealismus versucht die Objektivität unserer Aussagen über die Außenwelt zu bewahren, er klammert aber alle unsere Aussagen ein und setzt vor die Klammer einen großen Subjektabhängigkeitsoperator. Keines der beiden Argumente für die These von der Subjektabhängigkeit ist jedoch überzeugend. 6.3.2.5 Freges Widerlegung des erkenntnistheoretischen Idealismus Der erkenntnistheoretische Idealismus ist somit keine gut begründete These. Seine Position ist jedoch nicht einmal konsistent formulierbar. Das zeigt eine Überlegung von Frege in seiner Spätschrift Der Gedanke.411 Frege formuliert dort das folgende Trilemma für den erkenntnistheoretischen Idealismus: Wenn der erkenntnistheoretische Idealist behauptet, dass er sich nur auf seine Vorstellungen beziehen kann, dann lässt sich diese These unterschiedlich interpretieren. Entweder er versteht unter ‚Vorstellungen‘ geistige Zustände eines nicht-geistigen Trägers wie beispielsweise einer Person mit einem Körper. Dann impliziert seine These, dass sie nicht gedacht werden kann. Um sie zu denken, müsste der Idealist sich nämlich auf Dinge jenseits seiner Vorstellungen (wie etwa ihren nicht-geistigen Träger) beziehen können. Das wird aber durch seine These explizit ausgeschlossen. In diesem Fall gäbe es also einen Widerspruch zwischen dem Inhalt der These und dem Denken dieser These. Wir haben den Fall einer existenziellen Inkonsistenz. Oder der Idealist nimmt an, dass Vorstellungen gar nicht auf einen nicht-geistigen Träger angewiesen sind. Dann ist seine These für ihn konsistent denkbar. Aber in diesem Fall lässt sich die These des Idealisten nicht mehr von der des Realisten unterscheiden. Wenn Vorstellungen nicht von anderen Entitäten abhängig sind, dann sind sie eben selbständige Dinge, genau so, wie der Realist es von den Gegenständen unseres Denkens behauptet. Damit verliert die These des Idealisten jedoch ihre Signifikanz. Oder der Idealist nimmt schließlich

410 Russell 1967, S. 39 f. 411 Vgl. dazu Frege 2003, S. 54 f.

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an, dass der Träger, von dem seine Vorstellungen abhängen, selbst eine rein geistige Ich-Vorstellung ist. Als Vorstellung müsste sie aber selbst von einer weiteren Ich-Vorstellung abhängen usw. So ergäbe sich nicht nur ein unendlicher Regress der Ich-Vorstellungen, sondern auch eine unendliche Vervielfältigung des Ichs – eine absurde Konsequenz. Kurz: Die These des erkenntnistheoretischen Idealismus lässt sich nicht so ausbuchstabieren, dass sie einerseits aussagekräftig und andererseits konsistent denkbar ist. Frege zeigt so die Instabilität des erkenntnistheoretischen Idealismus. 6.3.2.6 Der erkenntnistheoretische Idealismus ohne Reduktionsthese Es hat sich herausgestellt, dass die Reduktionsthese des Idealisten in allen ihren Spielarten schlecht begründet und falsch ist. Die Außenwelt, auf die wir uns mit unseren geistigen Zuständen beziehen, ist kein Konstrukt aus Erscheinungen für das Erkenntnissubjekt. Und Aussagen über die Außenwelt lassen sich auch nicht übersetzen in Aussagen über geistabhängige Phänomene. Sobald die Reduktionsthese scheitert, lässt sich der erkenntnistheoretische Idealismus aber noch als eine Rückzugsstrategie begreifen: Solange wir unsere Erkenntnisansprüche auf die geistunabhängigen Dinge an sich richten, lassen sich skeptische Fragen und Probleme nicht vermeiden. Wir könnten das Opfer einer permanenten und globalen Täuschung sein. Um diese skeptischen Konsequenzen zu vermeiden, sollten wir deshalb den Umfang unserer Erkenntnisansprüche einschränken. Wir sollten deshalb nichts mehr über die geistunabhängige Außenwelt behaupten, sondern Erkenntnisansprüche nur mit Bezug auf die Erscheinungen von dieser Außenwelt erheben. So lassen sich skeptische Fragen und Probleme vermeiden. Allerdings nur um den Preis, dass wir nichts mehr über die Außenwelt selbst behaupten. In genau diesem Sinne lässt sich Kants transzendentaler Idealismus auch verstehen, wenn er sagt: Wenn wir äußere Gegenstände vor Dinge an sich gelten lassen, so ist schlechthin nicht zu begreifen, wie wir zur Erkenntnis ihrer Wirklichkeit außer uns kommen sollten […]. Also nötigt uns der skeptische Idealism [die Möglichkeit, dass die Außenwelt existiert, aber uns ein Dämon permanent über sie täuscht, TG], die einzige Zuflucht, die uns übrig bleibt, nämlich die Idealität aller Erscheinungen zu ergreifen.412

Wenn man den erkenntnistheoretischen Idealismus allerdings als eine solche Rückzugsposition versteht, dann handelt es sich in keinem Fall um eine Widerlegung des Skeptizismus, sondern eigentlich um einen Skeptizismus in Verklei-

412 Kant 1998, A 378 f.



6.3 Ambitionierte antiskeptische Strategien 

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dung. Der Idealist beschränkt sich nämlich darauf, nur noch etwas über die Welt, so wie sie ihm erscheint, zu behaupten, weil er die Welt, wie sie wirklich ist, nicht erkennen kann. Doch das ist genau das, was der Skeptiker behauptet. 6.3.2.7 Sind unsere Aussagen über subjektive Erscheinungen wirklich skepsisresistenter als Aussagen über die geistunabhängige Außenwelt? Als antiskeptisches Argument macht die reduktive Strategie des erkenntnistheoretischen Idealismus natürlich nur Sinn, wenn unsere Erkenntnisansprüche mit Bezug auf subjektive Erscheinungen skeptischen Anfechtungen nicht oder wenigstens nicht im gleichen Maße ausgesetzt sind, wie es Erkenntnisansprüche in Bezug auf eine völlig geistunabhängige Realität wären. Doch können wir uns über unsere subjektiven Erscheinungen wirklich nicht global täuschen, wie das antiskeptische Argument des Idealisten unterstellt? Warum sollte mit Bezug auf unsere bewussten Vorstellungen und Erlebnisse eine globale Täuschung nicht genauso möglich sein? In der cartesianischen Tradition gibt es zwei Antworten auf diese Frage. Erstens sind uns subjektive geistige Phänomene im Unterschied zur Außenwelt direkt gegeben. Und zweitens könnte uns ein böser Dämon schon deshalb nicht über unsere bewussten Vorstellungen täuschen, weil wir eine solche Täuschung sofort bemerken würden. Wir würden unmittelbar erfassen, dass unsere Überzeugungen über diese Phänomene mit ihnen selbst nicht übereinstimmen, weil uns diese subjektiven Phänomene eben bewusst sind. Wir haben inzwischen jedoch längst die Mittel in der Hand, um zu zeigen, dass diese beiden Auffassungen nicht richtig sein können. Zwar legt das Täuschungsargument nahe, dass wir uns mit der Sinneserfahrung unmittelbar nur auf subjektive Sinnesdaten oder phänomenale Erscheinungen beziehen und dass der Schritt zur Außenwelt dann erst sekundär auf diese Erscheinungen aufbaut. Aber unsere Analyse hatte gezeigt, dass das Täuschungsargument den erkenntnistheoretischen Vorrang der Erscheinungen nicht überzeugend beweisen kann. Die Position des intentionalen oder direkten Realismus erschien viel plausibler. Als direkte Realisten müssen wir jedoch nicht mehr annehmen, dass der Zugang zur Außenwelt nur indirekt möglich ist. Dieser Position zufolge ist unser Zugang zur Außenwelt über die Wahrnehmung genauso direkt und unmittelbar wie unser introspektiver Zugang zu unseren Vorstellungen und subjektiven Erlebnissen. Auch die Vorstellung, dass ein böser Dämon uns nicht über unser bewusstes mentales Leben täuschen kann, war bereits früher zurückgewiesen worden. Sofern wir unseren bewussten (aber nicht gewussten) Erlebnissen keine Aufmerksamkeit schenken, können sie uns entgehen. In diesem Fall ist auch eine Täuschung möglich. Wenn sich solche Fälle tatsächlich ereignen, warum sollte

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dann ein böser (und allmächtiger) Dämon nicht dazu in der Lage sein, unsere Aufmerksamkeit systematisch abzulenken und so auch eine globale Täuschung über bewusste Erlebnisse möglich zu machen? Die These, dass unser Wissen von unseren subjektiven Erlebnissen nicht von skeptischen Hypothesen bedroht ist, lässt sich deshalb nicht aufrechterhalten. Damit ist auch der Idealismus als antiskeptische Strategie auf ganzer Linie gescheitert. Unsere alltäglichen und wissenschaftlichen Aussagen über die objektive Außenwelt lassen sich nicht ohne Einbuße an Objektivität auf Aussagen über geistabhängige Phänomene reduzieren. Jeder Reduktionsversuch dieser Art kompromittiert am Ende die Objektivität der reduzierten Aussagen auf unzulässige Weise. Doch selbst wenn das nicht der Fall wäre und die Reduktion gelingen würde, ließe sich auf diese Weise die skeptische Bedrohung nicht bannen, denn skeptische Zweifel lassen sich auch innerhalb des Bereichs der Subjektivität nicht restlos ausräumen.

6.3.3 Selbstaufhebungsargumente Wenn man mit Hilfe eines deduktiven Arguments den Skeptizismus zu widerlegen versucht, dann gibt es, neben vielen Problemen im Einzelnen, die bisher zur Sprache gekommen sind, ein grundsätzliches methodisches Problem. Ein Argument dieser Art kann sein Ziel nur dann erreichen, wenn wir voraussetzen, dass wir Wissen von seinen Prämissen haben oder sie zumindest gerechtfertigt glauben. Doch genau diese Voraussetzung stellen skeptische Hypothesen ebenfalls in Frage. Antiskeptische Argumente dieser Art sind deshalb von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Aus diesem Grund hat man seit der Antike immer wieder versucht, indirekte, elenktische Argumente* gegen den Skeptizismus zu formulieren. Solche Argumente sollen zeigen, dass sich bestimmte Wissensbereiche, Prinzipien oder Aussagen nicht in Frage stellen lassen, ohne dass sich die skeptische Position selbst aufhebt. Die skeptische Position wird also einer Instabilität überführt. Wenn man die These des Skeptikers, so die Idee, nur konsequent auf sich selbst anwendet, dann kommt es zu einer Selbstaufhebung dieser These durch irgendeine Art von Widerspruch oder Inkonsistenz. Der Widerspruch, um den es dabei geht, ist kein semantischer Widerspruch wie in der Kontradiktion* „A und nicht-A“, sonst ließen sich mit dieser Methode nur logische oder analytische Wahrheiten verteidigen. Der Widerspruch ist eher von der Art eines performativen Widerspruchs (in der Äußerung „Ich spreche jetzt nicht“) oder einer existenziellen Inkonsistenz (in dem Gedanken „Ich denke jetzt nicht“). Solche Selbstaufhebungsargumente sollen im Folgenden anhand verschiedener Beispiele diskutiert werden.



6.3 Ambitionierte antiskeptische Strategien 

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6.3.3.1 Die Selbstaufhebung des uneingeschränkten Fallibilismus Der uneingeschränkte oder universelle Fallibilismus behauptet, dass es keine Aussage gibt, deren Wahrheit garantiert ist. Jede Aussage könnte demnach auch falsch sein, sie ist fehlbar. Diese Position wurde vor allem von Pragmatisten (Peirce, Dewey), Kritischen Rationalisten (Popper, Albert), aber auch von Otto Neurath oder Quine vertreten. Diese Position ist jedoch nicht ganz eindeutig. Die Möglichkeit des Irrtums kann nämlich verschieden verstanden werden. Wenn wir sagen, dass jede Aussage falsch sein könnte, so kann das einmal heißen, dass jede Aussage leicht falsch sein könnte. Dann würde es für jede tatsächlich wahre Aussage in nahen möglichen Welten Irrtumssituationen geben. Daraus würde unmittelbar folgen, dass es kein Wissen gibt, weil Wissen ausschließt, dass Irrtum leicht möglich gewesen wäre. Diese Auffassung möchte ich als starken Fallibilismus bezeichnen. Wenn wir sagen, dass jede Aussage falsch sein könnte, kann das aber auch heißen, dass in Bezug auf jede Aussage skeptische Täuschungssituationen denkbar sind. Diese Position des Fallibilismus wäre identisch mit der These, dass keine Aussage skepsisresistent ist. In diesem Fall möchte ich von einem „schwachen Fallibilismus“ sprechen. Der schwache Fallibilismus ist damit verträglich, dass wir tatsächlich Wissen in einem großen Umfang besitzen, nur können wir ihm zufolge eben keine Aussage vom skeptischen Zweifel ausnehmen. In Bezug auf jede Aussage wäre es denkbar, dass sie auf einer skeptischen Täuschung beruht. Wenn man die Skepsisresistenz wenigstens einiger Aussagen verteidigen will, dann muss man zeigen, dass der universelle schwache Fallibilismus sich selbst aufhebt. Wenn man eine skepsisresistente Aussage als ‚gewiss‘ bezeichnet, dann lautet die These des universellen schwachen Fallibilismus: (1) Keine Aussage ist gewiss.413 Nun haben die so genannten Transzendentalpragmatiker Apel und Kuhlmann in den 70er und 80er Jahren dafür argumentiert, dass diese These streng genommen inhaltslos ist und sich deshalb selbst aufhebt.414 Dann müsste es mindestens eine skepsisresistente Aussage geben. Die Transzendentalpragmatiker geben dafür folgendes Argument an: Die Aussage (1) impliziert durch Anwendung auf sie selbst, dass auch die These des universellen (schwachen) Fallibilismus nicht gewiss ist:

413 Gewissheit wird hier im objektiven Sinne verstanden, d. h. als Wahrheitsgarantie in allen denkmöglichen Welten. Davon muss man Gewissheit im subjektiven Sinne streng unterscheiden. Von Gewissheit im subjektiven Sinne sprechen wir, wenn jemand von einer Proposition felsenfest überzeugt ist. 414 Vgl. dazu Kuhlmann 1985, S. 62–71.

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(2) Es ist nicht gewiss, dass keine Aussage gewiss ist. Diese Selbstanwendung lässt sich nun wiederholen, so dass sich, nach Ansicht von Apel und Kuhlmann, der Inhalt der Aussage auf nahezu null reduziert. Bereits nach wenigen Selbstanwendungen wird nur noch behauptet: (3) Es ist nicht gewiss, dass es nicht gewiss ist, dass es nicht gewiss ist, dass keine Aussage gewiss ist. Wenn diese Aussage überhaupt noch einen Sinn hat, dann wird offenbar nur noch etwas sehr Minimales behauptet. Der universelle Fallibilismus soll sich also durch konsequente und wiederholte Selbstanwendung aufheben, indem er seiner These jeden Inhalt raubt. Selbst wenn man zugesteht, dass Aussagen wie (3) nur noch einen minimalen Inhalt haben, ist die Argumentation der Transzendentalpragmatiker dennoch nicht stimmig. Aus dem universellen Fallibilismus (1) folgt nämlich (3), aber (3) ist keineswegs äquivalent mit (1).415 Betrachten Sie die folgende Analogie: Der Satz „Alle Sätze des Deutschen bestehen aus acht Wörtern“ ist offensichtlich falsch. Es gibt sicher Sätze im Deutschen, die mehr Wörter enthalten, aber es gibt auch Sätze im Deutschen, die weniger Wörter enthalten, z. B. „Es regnet“. Der falsche Satz „Alle Sätze des Deutschen bestehen aus acht Wörtern“ bezieht sich jedoch auch auf sich selbst. Er impliziert deshalb den Satz „Der Satz ‚Alle Sätze des Deutschen bestehen aus acht Wörtern‘ besteht aus acht Wörtern“. Dieser Satz ist nun aber wahr. Es ist jedoch unmöglich, dass ein falscher Satz mit einem wahren Satz äquivalent ist. Genauso wenig sind deshalb (1) und (3) äquivalent. Deshalb folgt daraus, dass (3) fast nichts mehr behauptet, nicht, dass (1) fast inhaltsleer ist. Die Transzendentalpragmatiker haben deshalb ihr Selbstaufhebungsargument gegen den universellen Fallibilismus auch noch etwas anders formuliert. Danach nimmt die Selbstanwendung von (1) die Ausgangsthese immer weiter zurück. Kuhlmann formuliert es so: Wer behauptet: ‚Jede Überzeugung ist fallibel‘ (…), ohne dabei die eigene These ausdrücklich auszunehmen, der behauptet das dann auch von seiner eigenen damit zum Ausdruck gebrachten Überzeugung. Er nimmt damit seiner These den Anspruch, den man zunächst einmal hinter ihr erwartet, nämlich dass das, was sie aussagt, auch wirklich der Fall ist, dass sie wirklich wahr ist.416

Semantisch ist die These des universellen Fallibilismus natürlich nicht inkonsistent. Die Wahrheit dieser These ist mit ihrer Ungewissheit vollkommen verträglich. Wahrheit ist eine semantische Eigenschaft, während Gewissheit die Stärke

415 Vgl. auch Keuth 1983, S. 325. 416 Kuhlmann 1985, S. 67.



6.3 Ambitionierte antiskeptische Strategien 

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unserer Gründe betrifft. Aber vielleicht meint Kuhlmann, dass wir pragmatisch unseren Behauptungsanspruch zurücknehmen, wenn wir z. B. sagen „Der HSV hat das Spiel gewonnen. Aber ich bin mir nicht sicher.“ Dann ließe sich der universelle Fallibilismus nicht konsistent behaupten. Die Beobachtung, dass unzureichende subjektive Gewissheit und das Bewusstsein unzureichender Gründe eine Behauptung als Sprechakt unterminieren, ist ganz richtig. Ich darf nichts behaupten, von dem ich nicht ganz und gar überzeugt bin. Aber der schwache Fallibilismus stellt die subjektive Sicherheit des Sprechers oder die Qualität seiner Rechtfertigungsgründe überhaupt nicht in Frage. Er behauptet nur, dass es keine skepsisresistenten Gründe gibt. Aber auch das, was man nicht gegen den Skeptiker verteidigen kann, darf man sicher behaupten. Es gibt also auch keinen pragmatischen Widerspruch, wenn der universelle schwache Fallibilismus behauptet wird. Dieser Fallibilismus hebt sich deshalb auch nicht selbst auf. 6.3.3.2 Transzendentalpragmatische Letztbegründung Die Transzendentalpragmatiker haben noch ein weiteres Argument gegen den Skeptiker formuliert. Es beruht auf der Idee, dass die rationale Argumentation wie ein Spiel zu verstehen ist. Wie in einem Spiel gibt es gewisse konstitutive Regeln und Prinzipien, die man im Spiel nicht verletzen kann, ohne aufzuhören, das Spiel zu spielen. Innerhalb der rationalen Argumentation sind die Regeln und Prinzipien der rationalen Argumentation unhintergehbar. Nimmt man an der rationalen Argumentation teil, dann kann man diese Regeln nicht konsistent bestreiten. Bestreitet man sie dennoch, dann gibt es einen performativen Widerspruch zwischen den Regeln, denen man folgt, um etwas argumentativ zu bestreiten, und dem, was man bestreitet. Versucht man die Regeln der rationalen Argumentation umgekehrt argumentativ zu begründen, so muss man sie natürlich in dieser Argumentation selbst bereits anwenden. Deshalb ist jeder Beweis dieser Regeln zirkulär. Apel bringt diese Einsicht auf den Punkt, wenn er sagt: Wenn ich etwas nicht ohne aktuellen Selbstwiderspruch bestreiten kann und zugleich nicht ohne formallogische petitio principii deduktiv begründen kann, dann gehört es eben zu jenen (…) Voraussetzungen der Argumentation, die man anerkannt haben muss, wenn das Sprachspiel der Argumentation seinen Sinn behalten soll.417

Auf diese Weise lassen sich konstitutive Regeln und Prinzipien der rationalen Argumentation definieren. Sie sind so beschaffen, dass man sie in der rationalen Argumentation nicht ohne Selbstwiderspruch bestreiten kann. Die entschei-

417 Apel 1976, S. 72 f.

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dende Frage ist nun jedoch, wie man erkennen oder rechtfertigen kann, dass eine ganz bestimmte Regel oder ein ganz bestimmtes Prinzip zu den konstitutiven Regeln der Argumentation gehört. Apel selbst ist der Auffassung, dass wir die konstitutiven Regeln daran erkennen, dass wir erkennen, dass ein Selbstwiderspruch auftritt, wenn wir sie bestreiten. Der Selbstwiderspruch im Falle einer Bestreitung einer Regel soll also das erkenntnistheoretische Kriterium oder der Test für ihren konstitutiven Status sein. Es scheint jedoch auf der Hand zu liegen, dass wir, um einen Selbstwiderspruch bemerken zu können, bereits zuvor wissen müssen, welches die konstitutiven Regeln der Argumentation sind. Kuhlmann hat dieses Problem deutlich erkannt. Er hat deshalb die Auffassung vertreten, dass wir durch ‚strikte Reflexion‘ sicher, a priori und intuitiv von den eigenen Regeln der Argumentation wissen können.418 Erst wenn man ein solches Wissen voraussetzt, kann man den Widerspruch erkennen, der auftritt, wenn man diese Regeln rational bestreiten will. Doch damit handelt sich der Transzendentalpragmatiker zwei Probleme ein.419 Erstens wird der performative Selbstwiderspruch als Erkenntniskriterium für die Regeln der Argumentation vollkommen überflüssig. Wenn wir nämlich ein ‚strikt reflexives‘ Wissen von den Regeln bereits voraussetzen müssen, um den Widerspruch überhaupt erkennen zu können, dann kann die Erkenntnis dieses Widerspruchs nicht mehr erklären, wie wir die Regeln erkennen. Zweitens wird die antiskeptische Strategie des Transzendentalpragmatikers höchst zweifelhaft. Er muss nämlich nun dogmatisch behaupten, dass wir ein sicheres und apriorisches Wissen von den Regeln der Argumentation, an der wir teilnehmen, haben. Genau das könnte der Skeptiker jedoch bestreiten. Die von uns angeblich erfassten Regeln können uns noch so evident und einleuchtend erscheinen, es wäre stets möglich, dass unsere Evidenz selbst auf einer umfassenden Täuschung durch einen Dämon oder einen bösen Neurowissenschaftler beruht. Selbst wenn der Transzendentalpragmatiker darauf pocht, dass wir die Regeln unserer eigenen Handlungen doch gewiss nicht missverstehen können, so mag das zwar plausibel sein, es kann den Skeptiker jedoch nicht überzeugen. Können wir nicht auch die Intentionen unserer Handlungen gründlich missverstehen? Und genau solche Situationen kann der Skeptiker zu einem skeptischen Einwand gegen die Durchsichtigkeit unseres eigenen Handelns verallgemeinern.

418 Kuhlmann 1985, S. 144. 419 Vgl. zur Kritik auch Grundmann 1993, S. 323–330.



6.3 Ambitionierte antiskeptische Strategien 

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6.3.3.3 Die Unbestreitbarkeit des Widerspruchsprinzips Selbst Menschen, die den Versuch, den Skeptizismus zu widerlegen, ansonsten für aussichtslos halten, sind zumindest beim Satz vom zu vermeidenden Widerspruch (im Folgenden kurz: Satz vom Widerspruch) zu einer Konzession bereit. Vielleicht lässt sich dieses eine Prinzip nicht bezweifeln, sagen sie, aber das schließe eben eine weitgehende Skepsis gegenüber großen Wissensbereichen nicht aus. Der Skeptizismus ließe sich also praktisch, wenn man diesen Satz einmal außer Acht lässt, nicht widerlegen. Schon Aristoteles war der Überzeugung, dass es sich beim Satz vom Widerspruch um einen unbeweisbaren, aber dennoch unbezweifelbaren Satz handelt, aus dem sich andere logische Prinzipien ableiten lassen. Im Rationalismus der Neuzeit (bei Leibniz und Wolff) bekam dieser Satz zumindest zeitweilig den Status eines höchsten Prinzips der Philosophie und Wissenschaft überhaupt. Aristoteles hat den Satz vom Widerspruch als ontologisches, semantisches und psychologisches Prinzip verstanden.420 In seiner ontologischen Fassung besagt das Prinzip: (SWO) Kein Gegenstand kann dieselbe Eigenschaft in derselben Hinsicht zur gleichen Zeit haben und nicht haben.421 Warum sagt Aristoteles nicht einfach, dass kein Gegenstand dieselbe Eigenschaft haben und nicht haben kann? Es ist sehr wohl möglich, dass ein Mensch, sagen wir ein Philosoph, charismatisch und nicht charismatisch wirkt. Der Philosoph kann nämlich in einer Hinsicht, für andere Philosophen, eine große Ausstrahlung haben, während er in einer anderen Hinsicht, sagen wir auf Zuschauer einer Talkshow, eher langweilig wirkt. Es ist also wichtig, die Hinsichten zu berücksichtigen. Aber genauso wichtig ist es, die Zeitpunkte zu berücksichtigen. Es ist nämlich möglich, dass ein und dieselbe Person, sagen wir Sokrates, jung und alt ist. Darin liegt kein Widerspruch, solange Sokrates in seiner Jugend jung und kurz vor Einnahme des Schierlingsbechers alt ist. Ein Widerspruch läge nur vor, wenn wir denselben Gegenstand zum gleichen Zeitpunkt betrachten. (SWO) lässt sich auch so formulieren, dass es nicht möglich ist, dass derselbe Sachverhalt auftritt und nicht auftritt (formal: nicht (p und nicht-p)). Aristoteles formuliert den Satz vom Widerspruch manchmal auch als semantisches Prinzip: (SWS) Zwei kontradiktorische Aussagen können nicht wahr sein.422

420 Vgl. zu dieser Differenzierung auch Lukasiewicz 1971. 421 Vgl. Aristoteles 1978, Metaphysik 1005b19 f. 422 Vgl. Aristoteles 1978, Metaphysik 1011b13 f.

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Die ontologische und die semantische Fassung des Widerspruchsprinzips sind im Grunde äquivalent. Das lässt sich schnell zeigen. Wir gehen vom ontologischen Prinzip aus, das formal lautet: (SWO) Nicht (p und nicht-p) und fügen als weitere Prämisse das analytisch wahre Zitattilgungsschema hinzu: (ZTP) ‚p‘ ist wahr gdw. p. Dann folgt daraus durch Anwendung von (ZTP) in der Klammer von (SWO) (SWS) Nicht (‚p‘ ist wahr und ‚nicht-p‘ ist wahr.) Genauso lässt sich aus (SWS) und dem analytisch wahren Prinzip (ZTP) (SWO) ableiten. Das ontologische und das semantische Widerspruchsprinzip sagen also dasselbe aus. Aristoteles präsentiert das Widerspruchsprinzip aber auch noch in einer psychologischen Fassung: (SWP) Niemand kann zur gleichen Zeit zwei kontradiktorische Aussagen glauben.423 Dieses Prinzip ist natürlich nicht mit den beiden anderen Fassungen des Prinzips äquivalent und es scheint auch falsch zu sein. Wir haben oft, ohne dass wir es merken, einander widersprechende Überzeugungen und korrigieren das meistens, sobald uns der Widerspruch zwischen unseren Überzeugungen auffällt. Manchmal scheint es aber sogar rational zu sein, an widersprechenden Überzeugungen festzuhalten. Ein gutes Beispiel dafür ist die so genannte VorwortParadoxie. Der Autor eines Sachbuches wird, wenigstens sofern er redlich ist, alles, was er schreibt, für wahr halten. Handelt es sich um einen Wissenschaftler, dann wird er auch für alle Aussagen in seinem Buch gute Gründe haben. Er ist also gerechtfertigt zu glauben, dass jede Aussage in seinem Buch wahr ist. Aber gleichzeitig weiß er induktiv, dass in jedem Buch inhaltliche Fehler vorkommen. Es hat wohl noch kein Buch gegeben, in dem man nicht irgendwann irgendwo einen Fehler gefunden hätte. Der Autor ist also sowohl gerechtfertigt zu glauben, dass alle Aussagen in seinem Buch wahr sind, als auch zu glauben, dass nicht alle Aussagen in seinem Buch wahr sind. Und es scheint irrational, wenn er eine dieser Überzeugungen aufgeben würde. Es kann also rational sein, an Widersprüchen im Überzeugungssystem festzuhalten. Man kann sogar ausdrücklich und ganz bewusst eine Überzeugung mit einem widersprüchlichen Inhalt vertreten. Das beweist der Fall von Philosophen, die das Widerspruchsprinzip explizit bestreiten, die so genannten „Dialetheisten“424.

423 Aristoteles 1978, Metaphysik 1005b23 f. 424 Der Begriff stammt von dem entschiedensten Vertreter dieser Position: Graham Priest.



6.3 Ambitionierte antiskeptische Strategien 

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Während sich das psychologische Widerspruchsprinzip also als höchst fragwürdig erwiesen hat, sind die ontologische und die semantische Version des Widerspruchsprinzips hingegen extrem plausibel. Es scheint in der Tat keine echten Gegenbeispiele zu geben.425 Wenn man die Hinsichten und die Zeitpunkte sorgfältig berücksichtigt, dann erweisen sich vermeintliche Gegenbeispiele schnell als bloß scheinbare.426 Das plausible Widerspruchsprinzip ist daher ein guter Kandidat für eine selbstevidente Aussage. Aber Selbstevidenz ist nicht dasselbe wie Skepsisresistenz. Eine Aussage kann uns allein aufgrund unseres Verstehens noch so einleuchtend erscheinen, das allein schließt die Möglichkeit einer radikalen Täuschung durch einen Dämon nicht aus. Die Welt könnte so sein, dass Dinge widersprechende Eigenschaften haben, nur würde uns der Dämon in unserer Erfahrung nicht mit solchen Fällen konfrontieren und könnte in uns bewusst ein Evidenzerlebnis beim Verstehen des Widerspruchsprinzips eingeben. Das Widerspruchsprinzip lässt sich, darauf hat bereits Aristoteles hingewiesen, auch nicht zirkelfrei beweisen. Dennoch war Aristoteles der Auffassung, dass sich dieses Prinzip gegen den Skeptiker verteidigen lässt, und zwar durch einen indirekten Beweis* der Art, dass die Bestreitung des Prinzips nicht konsistent möglich ist. Im Folgenden sollen drei solche Selbstaufhebungsargumente für das Widerspruchsprinzip in seiner ontologischen (bzw. semantischen) Fassung untersucht werden. Sehen wir uns zunächst das semantische Selbstaufhebungsargument an. Es geht in etwa so: Wenn jemand das Widerspruchsprinzip bestreitet, dann widerspricht der Inhalt seiner Aussage den Bedingungen dafür, dass seine Aussage überhaupt eine Bedeutung hat. Ein Argument dieser Art scheint Aristoteles im Sinn zu haben, wenn er sagt: Doch ein widerlegender Beweis für die Unmöglichkeit der Behauptung (dass der Satz vom Widerspruch falsch ist, TG) lässt sich führen, sobald der dagegen Streitende nur überhaupt redet; wo aber nicht, so wäre es ja lächerlich, gegen den reden zu wollen, der über nichts

425 Vgl. allerdings Priest 1998, der z. B. die Antinomien als Beispiele für wahre Widersprüche anführt. 426 Ein Gegenstand kann zwar zum gleichen Zeitpunkt inkompatible Farbeigenschaften haben, aber nicht über seine ganze Oberfläche. Scheinbar bessere Gegenbeispiele lassen sich bei genauerer Analyse ebenfalls auflösen. Paradoxien sind eben notwendig falsch und nicht wahr und falsch zugleich. Und wir müssen nicht sagen, dass Sokrates zugleich sitzt und nicht sitzt, wenn er gerade dabei ist aufzustehen. Besser wäre es, in diesem Fall von Vagheit zu sprechen. Dann ist es entweder (unter der epistemischen Analyse von Vagheit) nicht klar, ob Sokrates in dieser Situation sitzt oder nicht sitzt, oder der Begriff hat (unter der semantischen Analyse von Vagheit) in diesem Grenzbereich keine eindeutige Extension.

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 6 Skeptizismus

Rede steht, gerade insofern er nicht Rede steht; denn ein solcher ist, als solcher, einer Pflanze gleich.427

Warum setzt die Bedeutung eines Satzes das Widerspruchsprinzip voraus?428 Der Gedanke hier ist einfach, dass die Bedeutung eines Satzes durch die Menge von Situationen oder Welten bestimmt ist, die durch den Satz ausgeschlossen wird. Würde aber das Widerspruchsprinzip nicht gelten, dann würde durch einen Satz eben gar nichts ausgeschlossen. Das semantische Selbstaufhebungsargument wirft jedoch verschiedene Probleme auf. Zunächst ist fraglich, ob das oben angedeutete semantische Prinzip überhaupt wahr ist.429 Warum sollte es nicht auch dann eine bestimmte Menge von Welten geben, die der Satz ausschließt, wenn es einige Welten gibt, in denen der Satz sowohl wahr als auch falsch ist? Und stimmt es überhaupt, dass Widersprüche keine Bedeutung haben? Offenbar verstehen wir sie doch recht gut, sonst würden wir sie nicht als falsch zurückweisen. Doch selbst wenn das entsprechende semantische Prinzip wahr wäre, könnten wir den Widerspruch zwischen dem Inhalt einer Behauptung und der Tatsache ihrer Bedeutung nur erkennen, wenn wir bestimmte semantische Überlegungen zugunsten dieses Prinzips für wahr halten würden. Aber wie sollen wir uns darauf gegen den Skeptiker berufen können, wenn er doch all unser Wissen in Frage stellt? Schließlich ist das vorliegende Selbstaufhebungsargument ein Widerspruchsargument, das die skeptische Position aufgrund ihrer Widersprüchlichkeit verwirft. Dabei muss jedoch methodologisch bereits die Wahrheit des Widerspruchsprinzips vorausgesetzt werden. Dieses antiskeptische Argument ist also letztlich zirkulär. Sehen wir uns ein zweites Selbstaufhebungsargument für das Widerspruchsprinzip an: das rationalitätstheoretische Selbstaufhebungsargument: Wenn jemand das Widerspruchsprinzip bestreitet, dann widerspricht der Inhalt seiner Aussage den Bedingungen dafür, dass seine Behauptung rational ist. Deshalb kann das Widerspruchsprinzip nicht rational bestritten werden. Doch warum sollte die Preisgabe des Widerspruchsprinzips mit ihrer Rationalität unverträglich sein? Nun, wenn mindestens ein Widerspruch wahr ist und wenn der Grundsatz der klassischen Logik gilt, dass aus einer Kontradiktion auf Beliebiges gültig geschlossen werden kann („ex contradictione quodlibet“), dann gibt es

427 Aristoteles 1978, Metaphysik 1006a. 428 Dazu besonders gut Sainsbury 1993, S. 201–203. 429 Zum Folgenden Priest 1998, S. 417.



6.3 Ambitionierte antiskeptische Strategien 

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schlüssige* Argumente430 für alles und sein Gegenteil. Das sprengt nun aber jede gängige Konzeption von Rationalität. Das erscheint soweit richtig. Aber es ist ganz klar, was hier zu tun ist, um das Problem zu vermeiden. Der Dialethist, der den Satz vom Widerspruch bestreitet, muss den Grundsatz, dass aus einem Widerspruch alles gültig geschlossen werden kann, aufgeben. Das tut gegenwärtig die so genannte parakonsistente Logik.431 Ohne in die formalen Überlegungen einsteigen zu müssen, kann eine ganz einfache Überlegung zeigen, warum das so sein muss.432 Gültige Argumente sind dadurch definiert, dass sie den Schluss von etwas Wahrem auf etwas Falsches vermeiden. Solange man nun annimmt, dass Widersprüche nicht wahr sein können, kann man bezüglich der Zulässigkeit von Schlüssen, die von Widersprüchen ausgehen, maximal liberal sein. Wenn die Prämissen nicht wahr sein können, kann allein deshalb der Fall nicht eintreten, dass von etwas Wahrem auf etwas Falsches geschlossen wird. Sobald man jedoch den Satz vom Widerspruch aufgibt und einräumt, dass Widersprüche wahr sein können, muss man diese Liberalität aufgeben und die Menge der zulässigen Schlüsse einschränken. Genau das geschieht durch die Aufgabe des Prinzips ex contradictione quodlibet. Neben diesem inhaltlichen Einwand ist das Argument von genau denselben methodologischen Einwänden betroffen wie das semantische Selbstaufhebungsargument. Gegen den Skeptiker kann man von einer bestimmten Rationalitätstheorie nicht einfach ausgehen. Und auch das Argument ist ein Widerspruchsargument und setzt deshalb methodisch die Wahrheit des Satzes vom Widerspruch bereits zirkulär voraus. Betrachten wir schließlich noch das Argument von der rationalen Inkorrigibilität des Widerspruchsprinzips.433 Dieses Argument versucht die Position der universellen Korrigibilität indirekt zu widerlegen. Wer an die universelle Korrigibilität aller Aussagen glaubt, der ist der Auffassung, dass im Prinzip jede Aussage unter bestimmten Bedingungen mit rationalen Gründen korrigiert werden kann. Genau dieser Auffassung ist beispielsweise Quine, wenn er behauptet, dass im Falle eines Konflikts zwischen der Erfahrung und einer Theorie im Prinzip jedes Element der Theorie rational korrigiert werden kann, und zwar einschließlich der logischen Prinzipien, zu denen auch der Satz vom Widerspruch gehört:

430 Ein schlüssiges Argument ist ein gültiges Argument mit wahren Prämissen. 431 Priest 1998, S. 412. 432 Vgl. Sainsbury 1993, S. 201. 433 Anregungen zu diesem Punkt verdanke ich der persönlichen Konversation mit Wolfgang Kuhlmann.

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 6 Skeptizismus

An der Wahrheit jeder Aussage kann festgehalten werden, egal was kommen mag, wenn wir nur ausreichend drastische Anpassungen an anderer Stelle des Systems vornehmen. Sogar eine Aussage sehr nahe an der Peripherie kann auch im Angesicht widersprechender Erfahrung weiter für wahr gehalten werden, wenn wir für eine Halluzination plädieren oder wenn wir bestimmte Änderungen unter den Aussagen, die logische Gesetze genannt werden, vornehmen. Umgekehrt ist aufgrund desselben keine Aussage immun gegen eine Revision.434

Im Gegensatz zu dem, was Quine hier behauptet, scheint es aber unmöglich zu sein, einen rationalen Grund für die Revision oder Korrektur des Satzes vom Widerspruch zu finden. Dieser Grund müsste in einem Widerspruch zwischen der Erfahrung und der Theorie, zu der auch der Satz vom Widerspruch gehört, bestehen. Aber das wäre nur dann ein guter Grund, wenn der Satz vom Widerspruch wahr ist. Wenn jedoch jeder Grund für eine rationale Revision den Satz vom Widerspruch voraussetzt, dann wäre es epistemisch inkonsistent*, den Satz vom Widerspruch aufzugeben. Wenn also die Auffassung, dass dieser Satz ungültig ist, wahr wäre, dann könnte sie nicht gerechtfertigt sein, weil die Rechtfertigung nach Quine allein darin bestehen kann, dass die Theorie, in die dieser Satz eingebettet ist, im Widerspruch zur Erfahrung steht. Mit der Aufgabe des Widerspruchsprinzips würde somit genau dasjenige Prinzip aufgegeben, das jede Korrektur (einschließlich der Korrektur dieses Prinzips selbst) rational macht. Also kann das Widerspruchsprinzip nicht rational korrigiert werden. Doch ist dem wirklich so? Das Widerspruchsprinzip besagt, dass es keine wahren Widersprüche geben kann. Man würde dieses Prinzip bereits dann aufgeben, wenn man behaupten würde, dass es einige wahre Widersprüche gibt. Diese Annahme wäre jedoch vollkommen verträglich mit dem methodischen Prinzip, Widersprüche so gut es geht zu vermeiden. Und dieses methodische Prinzip würde als Prinzip rationaler Revision völlig ausreichen.435 Aber es kommt noch schlimmer für dieses Argument. Selbst wenn es wahr sein sollte, dass das Widerspruchsprinzip (vielleicht auch in einer abgeschwächten Form) nicht rational kritisierbar ist, folgt daraus überhaupt nicht, dass es keinen skeptischen Zweifeln ausgesetzt ist. Es könnte nämlich auch ein Prinzip, das für uns rational unhintergehbar ist, auf einer globalen Täuschung durch einen Dämon beruhen und insofern falsch sein. Diese dritte Strategie reicht also selbst dann nicht aus, den Skeptiker zu widerlegen, wenn die Konklusion des Arguments wahr wäre. Der Satz vom Widerspruch ist sicher ein extrem plausibles Prinzip, das aller Wahrscheinlichkeit nach wahr ist. Wenn die skeptische Hypothese nicht realisiert

434 Quine 1953, S. 43, meine Übersetzung. 435 Vgl. in diesem Sinne Priest 1998, S. 422.



6.3 Ambitionierte antiskeptische Strategien 

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ist, dann wissen wir aufgrund von Selbstevidenz sogar, dass das Prinzip wahr ist. Aber selbst dieses punktuelle Prinzip können wir nicht gegen den skeptischen Zweifel verteidigen. Es bleibt denkbar, dass es falsch ist.436 6.3.3.4 Transzendentale Argumente Obwohl der Begriff des transzendentalen Arguments zumindest indirekt auf Kant zurückgeht, bezieht er sich primär auf antiskeptische Argumente außerhalb des kantischen Theorierahmens.437 Ende der 50er Jahre präsentierte der Oxforder Philosoph Peter Strawson in seinem Klassiker Individuals einen Argumenttyp, der Aussagen gegen den Skeptiker verteidigen sollte, ohne auf dem erkenntnistheoretischen Idealismus (oder einem epistemischen Wahrheitsbegriff) zu beruhen.438 Transzendentale Argumente in diesem Sinn beginnen mit einer Prämisse über eigene Erlebnisse oder Erfahrungen, die zumindest der Skeptizismus gegenüber der Außenwelt nicht in Frage stellt, und zeigen dann, dass zu den Bedingungen dieser Erfahrungen bestimmte Tatsachen in der Außenwelt gehören, die der Skeptiker in Frage stellen will. Nach Kants Widerlegung des Idealismus habe ich ein Bewusstsein von meinen sich in der Zeit wandelnden subjektiven Zuständen.439 Dieses innere Bewusstsein kann ich nur haben, wenn ich eine unmittelbare Wahrnehmung von beharrlichen Gegenständen in der Außenwelt habe. Also nehme ich beharrliche Gegenstände in der Außenwelt unmittelbar wahr. Das kann der Skeptiker, der unser inneres Bewusstsein unserer eigenen subjektiven Zustände anerkennt, nicht mehr konsistent leugnen. In Individuals setzt sich Strawson mit einem Skeptiker anderer Art auseinander. Dieser Skeptiker zweifelt daran, dass wir jemals in der Lage sind, einzelne Gegenstände in der Außenwelt über Beobachtungslücken hinweg als dieselben wiederzuerkennen.440 Wenn wir

436 Im Kapitel über die Struktur der Rechtfertigung hatte sich das Cogito-Argument für die Unbezweifelbarkeit der Existenz getäuschter Gedanken und eines getäuschten Denkers als gutes Argument bewährt. Was in jeder skeptischen Hypothese* explizit steht, nämlich dass es eine Täuschung gibt und ein Opfer der Täuschung, das lässt sich nicht ohne Widerspruch vom Skeptiker bestreiten. Wenn man jedoch berücksichtigt, was sich jetzt herausgestellt hat, dass nämlich auch der Satz vom Widerspruch nicht absolut skepsisresistent ist, dann ist auch das CogitoArgument nicht dazu in der Lage, dem Skeptiker etwas entgegenzusetzen, sei es auch noch so punktuell. 437 Vgl. dazu allgemein Grundmann 2003b. 438 Vgl. zur realistischen Interpretation transzendentaler Argumente Strawson 1966, S. 22, 42, 262; Harrison 1974, S. 27; Harrison 1982, S. 222. 439 Vgl. Kant 1998, B 274 ff.; eine ausgezeichnete Interpretation findet sich in Stern 2000, S. 142– 164. 440 Vgl. dazu Strawson 1959, S. 35 f.

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 6 Skeptizismus

also unsere Augen kurz schließen, eine Zeit lang schlafen, für einen Moment anderswo hinschauen oder vorübergehend abwesend sind, dann können wir hinterher bestenfalls sagen, dass wir einen Gegenstand sehen, der genauso ist oder qualitativ sehr ähnlich aussieht wie der Gegenstand, den wir vorher gesehen haben. Beide Gegenstände wären also rein qualitativ identisch. Dass es sich tatsächlich um denselben (numerisch identischen) Gegenstand handelt, lässt sich dem Skeptiker zufolge niemals gerechtfertigt behaupten. Gegen diesen Skeptiker wendet Strawson nun ein, dass sein Zweifel an der numerischen Identität von Einzeldingen über Beobachtungslücken hinweg nur im Einzelfall möglich ist, wenn Einzeldinge im Allgemeinen völlig unproblematisch über Beobachtungslücken hinweg als numerisch identisch wiedererkannt werden können. Auch der Skeptiker muss nämlich die Einzeldinge, deren numerische Identität er bezweifelt, in einem einheitlichen objektiven raumzeitlichen Rahmen identifizieren. Einen solchen Rahmen kann er angesichts seiner diskontinuierlichen Wahrnehmung jedoch nur besitzen, wenn er die wahrgenommenen Ausschnitte der Welt durch regelmäßiges Wiedererkennen von Einzelgegenständen in eine objektive räumliche Beziehung zueinander setzt. Der lokale Zweifel an der Wiedererkennung von Einzeldingen setzt also das Wiedererkennen solcher Einzeldinge in anderen Fällen bereits voraus. Ein genereller Zweifel an der Wiedererkennbarkeit von Einzeldingen über Beobachtungslücken hinweg ist deshalb nach Strawson unmöglich. Wären Argumente dieses Typs erfolgreich, dann könnte der Skeptiker, sofern er Tatsachen über das subjektive Bewusstseinsleben anerkennt, nicht konsistent das bezweifeln, was er bezweifeln möchte. Etwas formaler betrachtet, sehen die transzendentalen Argumente folgendermaßen aus: (1) Ich habe Erfahrungen oder Überzeugungen (eines bestimmten Typs). (2) Wenn (1) wahr ist, dann muss ich die Erfahrung haben (oder glauben), dass q. (3) Ich habe die Erfahrung (oder glaube), dass q. Von (3) gehen die Argumente dann stillschweigend zu folgender Konklusion über: (4) Es ist wahr, dass q. Barry Stroud hat Ende der 60er Jahre den klassischen Einwand gegen die Möglichkeit transzendentaler Argumente dieser Art formuliert.441 In diesem Einwand kommt Stroud dem Antiskeptiker zunächst sehr weit entgegen. Er akzeptiert (1) als skepsisresistent und geht also davon aus, dass Selbstwissen nicht bezweifelbar ist. Er gesteht auch zu, dass (2) a priori erkennbar ist, z. B. durch die Analyse unseres Begriffsrahmens. Problematisch erscheint Stroud dagegen der Übergang von (3) nach (4), also der Übergang von der Art und Weise, wie meine

441 Vgl. dazu Stroud 1968. Stern 2000, S. 43–65, gibt eine hervorragende Überblicksdarstellung.



6.3 Ambitionierte antiskeptische Strategien 

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Erfahrungen aussehen bzw. was ich glauben muss, zu bestimmten objektiven Tatsachen in der Außenwelt. Dieser Übergang wird nach Stroud plausibel, wenn man als weitere Prämisse so etwas wie das Verifikationsprinzip der Bedeutung in Anspruch nimmt. Dieses Prinzip besagt, dass eine Aussage nur dann Bedeutung hat, wenn wir ihren Wahrheitswert allein aufgrund von Erfahrung ermitteln können. Wenn die Erfahrung, dass q, ein notwendiges Element unserer Erfahrung ist, dann müsste es demnach auch wahr sein, dass q. Doch nach Stroud ist für die Möglichkeit eines transzendentalen Arguments selbst dann nicht viel gewonnen, wenn das Verifikationsprinzip den Schluss von (3) auf (4) gültig macht. Erstens ist dieses Prinzip fragwürdig. Das haben wir bereits in der früheren Diskussion des Verifikationismus gesehen. Zweitens würde es transzendentale Argumente bei der Bekämpfung des Skeptizismus überflüssig machen. Wenn das Verifikationsprinzip gilt, dann werden skeptische Hypothesen nämlich automatisch sinnlos. Skeptische Hypothesen sind ja, wie wir bereits früher gesehen haben, gerade dadurch definiert, dass sie sich weder empirisch bestätigen noch widerlegen lassen. Mit dem Verifikationsprinzip werden dem Skeptiker also direkt seine Waffen aus den Händen geschlagen. Nach Stroud bleibt nur eine andere Möglichkeit übrig, um den Argumentationsschritt von (3) nach (4) gültig zu machen. Man muss eine Form des erkenntnistheoretischen Idealismus akzeptieren. Wenn die Außenwelt, auf die wir uns mit unseren Urteilen beziehen, nicht unabhängig von unseren Erfahrungen (oder Überzeugungen) ist, dann wird der Übergang zwingend. Nun hatte sich jedoch bereits in der Untersuchung des Idealismus herausgestellt, dass sich unsere Urteile über die Außenwelt nicht auf Urteile über Erfahrungen reduzieren lassen. Der Idealismus kann also für eine Skepsiswiderlegung gar nicht in Anspruch genommen werden, weil er dem Skeptiker im Grunde darin Recht gibt, dass wir von einer geistunabhängigen Außenwelt kein Wissen haben können. Genau dieser Auffassung ist auch Stroud in seiner Diagnose. In Reaktion auf Strouds Einwand könnte man nun versuchen, das ursprüngliche transzendentale Argument zu reparieren, indem man die Prämisse (2) so stärkt, dass sie einen ontologisch notwendigen Zusammenhang zwischen unseren Erfahrungen bzw. Gedanken einerseits und der Außenwelt andererseits zum Ausdruck bringt. Wir würden dann die folgende Prämisse bekommen: (2’) Damit (1) möglich ist, muss es wahr sein, dass q. Das modifizierte transzendentale Argument würde dann folgendermaßen lauten: (1) Ich habe Erfahrungen oder Überzeugungen (eines bestimmten Typs). (2’) Damit (1) möglich ist, muss es wahr sein, dass q. (4) Es ist wahr, dass q.  (aus 1 & 2’) Diese Modifikation ist jedoch höchst problematisch. Erstens ist es nicht klar, ob es solche ontologisch notwendigen Wahrheiten, wie sie von (2’) ausgedrückt

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 6 Skeptizismus

werden, überhaupt gibt. Zweitens müssten sie a priori gerechtfertigt werden, und zwar so, dass ihre Rechtfertigung nicht vom Skeptiker angegriffen werden kann. Wie das möglich sein soll, ist aber nicht so leicht zu sehen. Und selbst wenn es möglich wäre, dann gäbe es offenbar skepsisresistente apriorische Erkenntnisse über die Welt und transzendentale Argumente wären wiederum völlig überflüssig. Strouds Einwand hat deshalb in letzter Konsequenz zu einer Rückzugsstrategie der Vertreter transzendentaler Argumente geführt. Solche Argumente können demnach keine Tatsachen über die Außenwelt gegen den Skeptiker rechtfertigen, sondern bestenfalls begründen, was wir notwendigerweise erfahren (oder glauben) müssen, wenn wir überhaupt etwas erfahren oder glauben. Wir müssen folglich die Idee anspruchsvoller, auf die Wahrheit gerichteter transzendentaler Argumente zugunsten bescheidener, auf Erfahrung bzw. Überzeugungen gerichteter transzendentaler Argumente aufgeben.442 Im Argumentationsschema bedeutet das, dass wir über die Konklusion (3) niemals hinauskommen. Genau das hat Strawson in Skepticism and Naturalism schließlich eingeräumt. Er hat damit die Idee antiskeptischer transzendentaler Argumente aufgegeben.

6.3.4 Erkenntnistheoretisch zirkuläre Argumente gegen den Skeptiker Zum Abschluss unseres Durchgangs durch die verschiedenen antiskeptischen Strategien möchte ich die so genannten erkenntnistheoretisch zirkulären Argumente betrachten. Wenn wir uns fragen, ob beispielsweise unsere Wahrnehmung zuverlässig ist oder ob sie uns vielleicht systematisch in die Irre führt, weil ein böser Dämon sie manipuliert oder sie Produkt einer grandiosen Computersimulation ist, dann könnte man sich doch einfach, so die Überlegung, auf die Wahrnehmung selbst stützen. Ein gutes Beispiel für eine solche Strategie ist die evolutionäre Erkenntnistheorie. Sie stützt sich auf die allgemeine Einsicht der Evolutionstheorie, dass nur solche Lebewesen sich fortpflanzen können, die an ihre Umwelt in ausreichendem Maße angepasst sind. Zu einer solchen Anpassung gehört unter anderem auch die Ausstattung mit kognitiven Fähigkeiten. Wenn ein Lebewesen durch Wahrnehmung seine Umwelt nicht korrekt erfasst, dann würde es sich in dieser Umwelt nicht gut orientieren können, keine Nahrung finden und seine Handlungen nicht zweckmäßig einsetzen können und deshalb aussterben. Zur Anpassung gehört also auch die Ausstattung mit zuverlässigen Wahrnehmungsfähigkeiten. Da Menschen sich nun offensichtlich

442 Zur Unterscheidung vergleiche Stroud 1994, S. 241 f.



6.3 Ambitionierte antiskeptische Strategien 

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als Art fortpflanzen können, können wir daraus ableiten, dass sie zuverlässige Wahrnehmungsfähigkeiten besitzen müssen. Deshalb kann die skeptische Hypothese nicht zutreffen. Die evolutionäre Erkenntnistheorie kommt zu ihrem Ergebnis allerdings aufgrund von empirischen Erkenntnissen über die Mechanismen der Evolution. Insofern setzt sie die Zuverlässigkeit der Wahrnehmung bereits voraus. Sie rechtfertigt und erklärt die Zuverlässigkeit unserer Wahrnehmung also mit Hilfe der Methode der Wahrnehmung. Eine solche Rechtfertigung kann man auch als ‚erkenntnistheoretisch zirkuläre Rechtfertigung‘ bezeichnen. Sind solche Rechtfertigungen überhaupt akzeptabel? Und wenn sie es sind, kann man mit ihrer Hilfe den Skeptizismus widerlegen? Insbesondere bezüglich der zweiten Frage kommen einem spontan Zweifel. Wenn unsere Wahrnehmung nämlich systematisch getäuscht würde (z. B. durch böse Neurowissenschaftler mit Hilfe einer Computersimulation) und die Evolutionstheorie tatsächlich falsch wäre, dann hätten wir global falsche Überzeugungen über unsere Umwelt und würden trotzdem überleben, weil die Neurowissenschaftler unser Gehirn auf eine Weise am Leben erhalten würden, die ganz unabhängig vom Erfolg unseres Handelns in der realen Welt wäre. Tatsächlich wären wir ja ganz inaktiv (weil wir gar keinen handlungsfähigen Körper mehr hätten) und würden nur fälschlich glauben, dass wir handelnd auf die Welt einwirken. In einem bestimmten Sinne kann also die evolutionäre Erkenntnistheorie diese Möglichkeit gar nicht ausschließen. Bevor wir diesen Zweifeln an der antiskeptischen Leistungsfähigkeit erkenntnistheoretisch zirkulärer Argumente näher auf den Grund gehen, wollen wir uns die Struktur und die Probleme der erkenntnistheoretischen Zirkularität zunächst etwas genauer ansehen.443 Üblicherweise wird zwischen logischer und epistemischer Zirkularität unterschieden. Ein logisch zirkuläres Argument enthält die Konklusion explizit unter seinen Prämissen. In diesem Sinne wäre etwa das folgende Argument logisch zirkulär: (1) Sokrates ist sterblich. (2) Sokrates ist sterblich. Solche Argumente beruhen zwar auf gültigen Schlüssen, weil die Konklusion wahr sein muss, wenn die Prämisse wahr ist. Sie sind aber erkenntnistheoretisch wertlos, weil sie entweder überflüssig sind, wenn bereits die Prämisse gerechtfertigt ist, oder weil sie zu keinem im erkenntnistheoretischen Sinne positiven Ergebnis führen, wenn die Prämisse nicht unabhängig von der Konklusion bereits gerechtfertigt ist.

443 Vgl. dazu den ausgezeichneten Artikel Alston 1989e.

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 6 Skeptizismus

Von dieser logischen Zirkularität muss die epistemische Zirkularität unterschieden werden. Betrachten wir das folgende induktive Argument für die Zuverlässigkeit der Wahrnehmung: P1 P2 P3 K

Zum Zeitpunkt t hat S (ein Mensch) die Wahrnehmungsüberzeugung, dass p, und p. Zum Zeitpunkt t’ hat S die Wahrnehmungsüberzeugung, dass q, und q. Zum Zeitpunkt t’’ hat S’ (eine andere menschliche Person) die Wahrnehmungsüberzeugung, dass r, und r. Die menschliche Wahrnehmung ist zuverlässig.

Wenn die Häufigkeit wahrer Wahrnehmungsüberzeugungen unter genügend variierenden Bedingungen bei zufällig ausgewählten menschlichen Personen S hoch genug ist, dann ist der induktive Schluss auf (K) berechtigt. Logisch zirkulär ist dieses Argument offenbar nicht, denn die Konklusion taucht ja unter den Prämissen nicht auf. Es ergibt sich jedoch dennoch eine gewisse Art von Zirkel, wenn die Prämissen durch Wahrnehmung gerechtfertigt sind und Wahrnehmungsüberzeugungen nur dann gerechtfertigt sind, wenn die Wahrnehmung zuverlässig ist. In diesem Argument gibt es einen epistemischen Zirkel zwischen der Wahrheit der Konklusion und der Rechtfertigung ihrer Prämissen. Die Rechtfertigung der Prämissen setzt die Wahrheit der Konklusion voraus. Epistemisch zirkuläre Argumente sind nicht auf die gleiche Weise trivial und uninformativ wie logisch zirkuläre Argumente. Es ist nämlich keineswegs sicher, dass auf der Grundlage von Wahrnehmungsbelegen die Zuverlässigkeit der Wahrnehmung gerechtfertigt werden kann. Es könnte ja sein, dass wir mit Hilfe unserer Wahrnehmung feststellen, dass Wahrnehmungsüberzeugungen häufig falsch sind. In Bezug auf die Induktion gibt es sogar das Argument der pessimistischen Metainduktion: Betrachtet man die Erfolgsbilanz vergangener induktiver Schlüsse (auf Theorien), so wird man schnell feststellen, dass noch alle früher oder später falsifiziert wurden. Wir können also induktiv darauf schließen, dass Induktion unzuverlässig ist. Da stets das Risiko der Widerlegung einer Methode durch sie selbst besteht, ist die Bestätigung einer Methode durch Selbstanwendung ein tatsächlicher Erkenntnisgewinn. Ein prinzipielles Problem für epistemisch zirkuläre Argumente ergibt sich vor dem Hintergrund eines bestimmten Verständnisses von Rechtfertigung. Der Zugangsinternalismus macht nämlich aus einem epistemisch zirkulären Argument sofort ein logisch zirkuläres Argument, das aus den genannten Gründen vollkommen wertlos ist. Aus der Perspektive des Externalismus ergibt sich dagegen nicht die Konsequenz, dass epistemisch zirkuläre Argumente logisch zir-



6.3 Ambitionierte antiskeptische Strategien 

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kulär sind. Epistemisch zirkuläre Argumente sind deshalb für den Externalisten im Prinzip akzeptabel. Warum das für den Zugangsinternalisten nicht so ist, kann anhand des oben dargestellten Arguments für die Zuverlässigkeit der Wahrnehmung gezeigt werden. Dieses Argument ist nur dann gut, wenn seine Prämissen gerechtfertigt sind. Für den Zugangsinternalisten ist das nur dann der Fall, wenn er gerechtfertigt glaubt, dass seine Gründe für die Prämissen zuverlässig sind. Aus seiner Sicht ist eine Metarechtfertigung erforderlich. Der Zugangsinternalist muss also als gerechtfertigte Prämisse voraussetzen, dass die Wahrnehmung zuverlässig ist, um mit Hilfe der Wahrnehmung die Zuverlässigkeit der Wahrnehmung zu rechtfertigen. Die logische Zirkularität in diesem Argument ist nun offensichtlich. Der Externalist kann sie dagegen aus folgendem Grund vermeiden: Damit die Prämissen des Arguments gerechtfertigt sind, genügt es, dass die Wahrnehmungsprozesse tatsächlich zuverlässig sind. Er muss nicht zusätzlich noch die Zuverlässigkeit der Wahrnehmung als Prämisse in Anspruch nehmen. Für den Zugangsinternalisten sind deshalb epistemisch zirkuläre Argumente vollkommen inakzeptabel. Der Externalist darf sie dagegen verwenden. Wenn epistemisch zirkuläre Argumente für den Externalisten akzeptabel sind, kann er sie dann auch zur Widerlegung des Skeptikers verwenden? Das sieht zunächst ganz so aus. Der externalistische Reliabilist verlangt für das Gerechtfertigtsein von Überzeugungen nichts weiter, als dass sie durch objektiv zuverlässige Methoden erzeugt werden. Wahrnehmungsüberzeugungen sind also einfach dadurch gerechtfertigt, dass die Wahrnehmung tatsächlich auf eine angemessene Weise mit der Welt verbunden ist. Und unsere Metaüberzeugung, dass die Wahrnehmung zuverlässig ist und nicht durch einen bösen Dämon getäuscht wird, können wir ebenfalls mit Hilfe der Wahrnehmung rechtfertigen, wenn diese tatsächlich zuverlässig ist. Diese reliabilistische Metarechtfertigung ist zwar epistemisch zirkulär. Aber das beeinträchtigt die Rechtfertigung der Konklusion nicht, wenn die Wahrnehmung tatsächlich zuverlässig ist. Das Vorliegen skeptischer Täuschungssituationen lässt sich also einfach mit Hilfe der Wahrnehmung widerlegen, wenn man Externalist ist.444 Dieses Ergebnis ist allerdings nur die halbe Wahrheit. Wenn der Externalismus zutrifft, dann haben wir gerechtfertigte Wahrnehmungsüberzeugungen über die Außenwelt und wir können mit Hilfe der Wahrnehmung rechtfertigen, dass unsere Wahrnehmung zuverlässig ist und wir deshalb nicht global getäuscht werden, wenn wir tatsächlich in einer normalen Welt ohne globale Täuschung leben. Sobald wir aber kritisch darüber nachdenken, ob wir in einer solchen

444 Für viele Erkenntnistheoretiker ist diese Konsequenz so kontra-intuitiv, dass sie sie als reductio ad absurdum des Externalismus verstehen. Vgl. etwa Fumerton 1995, S. 177.

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normalen Welt leben oder ob die skeptische Hypothese real ist, sobald wir also entscheiden wollen, ob das eine oder das andere zutrifft, das heißt sobald wir skeptische Hypothesen als offene Möglichkeiten betrachten, kann uns diese Rechtfertigung nicht weiter helfen.445 Dann suchen wir auch als Externalisten nach einer epistemisch nicht-zirkulären Rechtfertigung. Wir wollen dann Gründe dafür angeben können, dass die skeptische Hypothese nicht real ist, die in ihrem epistemischen Wert nicht davon abhängig sind, dass diese Hypothese falsch ist. Wir suchen nach unabhängigen Gründen. Die skeptische Möglichkeit ernst zu nehmen, bedeutet also gerade nicht, epistemisch zirkulär gegen sie zu argumentieren. Dieses skeptische Kernproblem können wir deshalb durch epistemisch zirkuläre Argumente auch nicht bewältigen. Es bleibt demnach richtig, dass wir keine unvoreingenommene, unparteiische Widerlegung des Skeptikers mit Hilfe von epistemisch zirkulären Argumenten zustande bringen.

6.3.5 Das wirkliche skeptische Problem Unser langer Weg durch den Skeptizismus führt zu zwei interessanten Ergebnissen. Erstens hat sich herausgestellt, dass keines der klassischen skeptischen Argumente wirklich zeigen kann, dass wir kein Wissen oder keine gerechtfertigten Überzeugungen (in einem bestimmten Bereich) haben. Die These des Skeptikers lässt sich also in keiner Version rational begründen. In diesem Sinne verschwindet das skeptische Problem vor dem Hintergrund einer gründlichen Analyse unserer erkenntnistheoretischen Grundbegriffe. Zweitens aber hat sich ebenfalls herausgestellt, dass es uns nicht gelingt, die Möglichkeit, dass wir, ohne es zu bemerken oder je bemerken zu können, in einer skeptischen Situation leben, überzeugend auszuräumen. Wenn die Welt mitspielt, dann können wir rechtfertigen, dass diese Situation faktisch nicht besteht. Wenn wir die skeptische Möglichkeit jedoch als wirklich offene Möglichkeit betrachten, dann haben wir keine unabhängigen Mittel, um sie auszuschließen. In diesem Sinne ist das skeptische Problem unlösbar und der Skeptizismus nicht zu widerlegen. Das ist vermutlich der tiefere Grund, warum Laien auch ohne größere erkenntnistheoretische Vorbildung sehr leicht in den Strudel des Skeptizismus hineinzuziehen sind. Denn wir haben in der Tat keine Chance, den Skeptizismus von einem unparteiischen Standpunkt aus zu widerlegen. Dieser Umstand ist letzlich zwar unbefriedigend, gehört aber unvermeidbar zur conditio humana hinzu.

445 Vgl. in diesem Sinne auch Alston 1993, S. 17.



6.5 Literaturempfehlungen 

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6.4 Studienfragen 1. Was unterscheidet den erkenntnistheoretischen Skeptizismus vom Nihilismus? 2. In welcher Hinsicht kann die Diskussion des Skeptizismus für die Erkenntnistheorie fruchtbar sein? 3. Worin liegt der entscheidende Fehler von Descartes’ Gewissheitsargument? 4. Woran scheitert das Geschlossenheitsargument, wenn man zwingende Gründe für Wissen verlangt? 5. Kann man wissen, dass man gerade nicht träumt, und, wenn ja, wie kann man das wissen? 6. Was ist Agrippas Begründungstrilemma und welche Lösung gibt es für dieses Problem? 7. Warum ist der Satz „Ich bin ein Gehirn im Tank“ nach Putnam notwendig falsch? Und wo liegen die Grenzen seiner antiskeptischen Argumentation? 8. Welches sind die Hauptprobleme einer idealistischen Erwiderung auf den Skeptizismus? 9. Warum sollte der Zweifel am Widerspruchsprinzip selbstaufhebend sein? 10. Wo liegt das wirkliche skeptische Problem?

6.5 Literaturempfehlungen Sanford Goldberg 2016 (Hg.): The Brains in a Vat, Cambridge (neue Texte zu einem zentralen skeptischen Szenario).

7 Quellen des Wissens 7.0 Allgemeines Wenn wir Wissen von einer Tatsache haben, dann gibt es immer eine bestimmte Weise, auf die wir dieses Wissen erlangen. Genauso verhält es sich mit gerechtfertigten Überzeugungen: Wenn wir in einer Überzeugung gerechtfertigt sind, dann gibt es immer eine bestimmte Weise, auf die wir in dieser Überzeugung gerechtfertigt sind. Hinter diesen Aussagen steht mehr als die allgemeine Wahrheit, dass jedes Ereignis (in diesem Fall: das Auftreten von Wissen oder von gerechtfertigter Überzeugung) eine Ursache hat. Wenn wir eine Überzeugung als Wissen oder als gerechtfertigt charakterisieren, dann charakterisieren wir sie im Licht ihrer kausalen Vorgeschichte. Wir behaupten, dass die Überzeugung (im Fall von Wissen) auf sicheren oder (im Fall von gerechtfertigter Überzeugung) auf guten Gründen beruht. Die Überzeugung muss also durch Gründe hervorgebracht werden, die die Wahrheit der Überzeugung sicherstellen oder (im Fall von Rechtfertigung) zumindest wahrscheinlich machen. Im Kapitel über den Begriff* der erkenntnistheoretischen Rechtfertigung ist deutlich geworden, dass diese Gründe nicht unbedingt bewusste, introspektiv* zugängliche Zustände sein müssen. Es muss sich nicht um ‚evidentielle‘ Gründe wie Sinneserlebnisse handeln, sondern Gründe können ganz einfach Prozesse oder Methoden der Überzeugungsbildung sein, die dem Subjekt selbst gar nicht introspektiv bekannt sind. Selbst ohne Evidenzen kann es also Gründe für Überzeugungen in diesem externalistischen Sinn geben. Quellen des Wissens (oder der Rechtfertigung) hängen nun aufs Engste mit dieser Charakterisierung von Überzeugungen im Licht ihrer kausal-ursächlichen Gründe zusammen. Während Gründe jedoch sehr spezifisch sind (die Gründe für verschiedene Wahrnehmungsüberzeugungen sind sehr unterschiedlich), bezeichnen wir als Quelle von Wissen (oder Rechtfertigung) den allgemeinen Typ von Grund, auf den ein spezifisches Wissen oder eine bestimmte gerechtfertigte Überzeugung gestützt ist. Gründe von Wissen oder Rechtfertigung lassen sich ganz allgemein klassifizieren. Sie bilden natürliche Arten* von Gründen: Wahrnehmung, Erinnerung, Introspektion und dergleichen. Sehen wir uns das an einem Beispielfall etwas genauer an. Nehmen wir einmal an, dass ich vor mir die Tastatur, den Bildschirm und andere Teile meines Computers sehe und deshalb glaube, dass vor mir mein Computer steht. Mein visuelles Wahrnehmungserlebnis ist mein Grund für diese Überzeugung. Wenn die Umstände günstig sind, dann ist meine Überzeugung durch diesen Grund gerechtfertigt und ich weiß sogar, dass vor mir mein Computer steht, weil unter den gegenwärtigen Umständen meine Überzeugung nicht leicht hätte falsch sein DOI 10.1515/9783110530278-007

338 

 7 Quellen des Wissens

können. Als Quelle der Rechtfertigung und des Wissens werde ich in diesem Fall die Wahrnehmung angeben. Damit charakterisiere ich den Grund auf eine sehr allgemeine Weise, die aber dennoch den signifikanten natürlichen Unterschieden (etwa gegenüber introspektiven Gründen) Rechnung trägt. Wenn wir Quellen des Wissens (oder der Rechtfertigung) angeben, dann charakterisieren wir Wissensarten nicht über den Gegenstandsbereich, sondern über natürliche Arten von Methoden des Wissenserwerbs. Es ist deshalb sehr unglücklich, wenn in diesem Zusammenhang immer wieder von „Wissen über die Außenwelt“, „Wissen über die Vergangenheit“, „Selbstwissen“ oder „mathematischem Wissen“ gesprochen wird. Diese Redeweise lässt die Quelle nicht nur unerwähnt, sondern auch unterbestimmt. Häufig gibt es nämlich unterschiedliche Quellen unseres Wissens über ein und denselben Gegenstandsbereich. So kann ich über die Vergangenheit etwas durch Erinnerung oder durch Rückschlüsse aus gegenwärtig beobachtbaren Zeugnissen der Vergangenheit wissen. Über eigene mentale Zustände kann ich etwas durch Introspektion, aber auch durch Rückschlüsse aus der Beobachtung meines Verhaltens wissen. Und ich kann etwas über mathematische Tatsachen wissen, indem ich auf empirische Weise Dinge abzähle oder einen mathematischen Beweis* durchführe. Die meisten Wissensquellen sind also keine exklusiven Quellen von Wissen über einen bestimmten Gegenstandsbereich.446 Quellen des Wissens (oder der Rechtfertigung) charakterisieren eine Überzeugung im Licht von erkenntnistheoretisch guten Gründen. Wenn Gründe eines bestimmten Typs niemals Wissen (oder gerechtfertigte Überzeugungen) hervorbringen (wie etwa Hellseherei oder Wahrsagen), dann liegt keine Quelle des Wissens (oder der Rechtfertigung) vor, sondern nur eine Quelle von Überzeugungen. Wenn wir von einer Wissensquelle sprechen, beinhaltet das also eine positive erkenntnistheoretische Bewertung der beteiligten Prozesse. Allerdings können wir auch dann von einer Wissensquelle sprechen, wenn nicht jede Überzeugung, die durch diese Quelle hervorgebracht wird, ein Fall von Wissen ist. Wir sagen etwa, dass die Sinneswahrnehmung eine Quelle des Wissens ist, obwohl viele Wahrnehmungsüberzeugungen kein Wissen konstituieren. Damit meinen wir, dass die Wahrnehmung unter geeigneten Umständen Wissen hervorbringen kann. Die Umstände sind geeignet, wenn die Wahrnehmung unter günstigen externen Umständen ohne psychologische Störungen abläuft und die erforderlichen Begriffe zur Verfügung stehen. Wissensquellen sind also kognitive

446 Audi 2002, S. 75

7.0 Allgemeines 

 339

Vermögen, Wissen hervorzubringen.447 Wenn das richtig ist, dann impliziert zwar jedes Wissen (jede gerechtfertigte Überzeugung), dass es eine entsprechende Quelle des Wissens (der Rechtfertigung) gibt. Wahrnehmungswissen impliziert also, dass Wahrnehmung eine Quelle des Wissens ist. Aber umgekehrt gilt nicht: Wenn Wahrnehmung eine Wissensquelle ist und ich die Überzeugung, dass p, auf Wahrnehmungsgründe stütze, dann weiß ich auch, dass p. Wissensquellen garantieren weder, dass jede durch sie hervorgebrachte Überzeugung ein Fall von Wissen ist, noch, dass in einer bestimmten Situation überhaupt eine Überzeugung hervorgebracht wird. Quellen der Rechtfertigung beziehen sich immer auf die vorläufige (prima facie) Rechtfertigung von Überzeugungen. Es spricht also nicht gegen die Existenz einer bestimmten Rechtfertigungsquelle, dass die Rechtfertigung von Überzeugungen durch diese Quelle durch Gründe aus anderen Quellen angefochten werden kann. Der Fall einer Quelle der Rechtfertigung, die durch andere Quellen unanfechtbar ist, ist eher ein Sonderfall.448 Kommen wir nun zu der Frage, welche Quellen des Wissens (der Rechtfertigung) es überhaupt gibt. In der Antike hat man, wenn Quellen des Wissens überhaupt thematisiert wurden, in der Regel zwei mögliche Quellen, nämlich die Sinneswahrnehmung und den Verstand bzw. die Vernunft angenommen.449 In der neuzeitlichen Philosophie haben die Quellen des Wissens in der Erkenntnistheorie zunehmend an Bedeutung gewonnen. So will Descartes seinen methodischen Zweifel nicht einfach gegen jede einzelne Überzeugung richten, sondern „den Angriff auf eben die Prinzipien richten, auf die sich alle meine früheren Überzeugungen stützen“.450 Was Descartes hier „Prinzipien“ nennt, sind natürlich Quellen des Wissens. Die Quellen des Wissens wurden aber auch immer weiter ausdifferenziert. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit kann man zumindest die folgenden Quellen des Wissens unterscheiden: – Sinneswahrnehmung – rationale Intuition – Introspektion – Erinnerung – Imagination

447 Manchmal, wie etwa im Fall des Zeugnisses anderer, hängt dieses Vermögen vom Zusammenwirken mehrerer Personen ab. 448 Audi 2002, S. 84, spricht in diesem Fall von „negativer Autonomie“ einer Quelle. 449 Vgl. etwa Empiricus 1968, 2. Buch, § 16, wo Sinne und Verstand als die zwei möglichen Kriterien der Erkenntnis angeführt werden. 450 Descartes 1992, S. 31, meine Hervorhebung.

340 

 7 Quellen des Wissens

– das Verstehen anderer – das Zeugnis anderer (Wissen durch Informanten) Hinzu kommen eine Reihe von inferenziellen* Quellen des Wissens: – Deduktion* – enumerative oder generalisierende Induktion* – Abduktion* (Schluss auf die beste Erklärung) Versuchen wir, durch einige grundlegende Unterscheidungen etwas Ordnung in die Vielfalt dieser Wissensquellen zu bringen. Die meisten der oben angeführten Quellen sind psychologisch individuiert. Sie beruhen allein auf psychologischen Prozessen des Erkenntnissubjekts. Aber im Fall des Wissens durch einen Informanten ist das anders. Ob ich dadurch Wissen erwerbe, dass ich Informationen von einer anderen Person bekomme, hängt auch davon ab, ob das, was sie mir mitteilt, von ihr durch zuverlässige Quellen erworben wurde. In diesem Fall ist die Wissensquelle kein intrasubjektiver, sondern ein intersubjektiver* Prozess. Eine weitere nützliche Unterscheidung ist die zwischen evidenziellen und nichtevidenziellen Wissensquellen. Wenn wir Wissen durch Wahrnehmung gewinnen, dann beruht dieses Wissen auf evidenziellen Gründen. Es ist auf eine bewusste Sinneserfahrung gestützt. Anders ist es im Fall von introspektivem Selbstwissen: Um introspektiv zu wissen, dass ich gerade einen bestimmten Gedanken denke, stütze ich mich nicht auf ein bestimmtes Erlebnis von diesem Gedanken. Ich weiß es direkt bzw. nicht-evidenziell. Man kann außerdem zwischen basalen und nicht-basalen Wissensquellen unterscheiden. Eine basale Wissensquelle ist eine solche, die von keiner anderen Wissensquelle abhängt.451 Es ist offensichtlich, dass inferenzielle Wissensquellen nicht-basal sind. Durch Inferenzen kann man in der Regel nicht zu Wissen gelangen, wenn die Prämissen nicht bereits unabhängig davon gewusst werden. Inferenzielle Wissensquellen sind also typischerweise abhängig von anderen (nicht-inferenziellen) Wissensquellen und deshalb nicht-basal.452 Sinnliche Wahrnehmung, rationale Intuition und Introspektion scheinen dagegen basale Wissensquellen zu sein. Durch sie können wir Wissen erwerben, ohne dadurch von anderen Wissensquellen abzuhängen. Sehen wir uns den Fall der Sinneswahrnehmung einmal etwas genauer an. Gegen den basalen Charakter dieser Wissensquelle wird häufig eingewandt, dass wir Erfahrungen meistens im Licht von Hintergrundtheorien bewerten, die wir größtenteils durch das Zeugnis anderer

451 Vgl. Audi 2002, S. 72. 452 Dass das nicht immer so sein muss, zeigt z. B. die reductio ad absurdum, bei der man Wissen gewinnt, indem man zeigt, dass aus Annahmen ein Widerspruch folgt. Vgl. zu weiteren Fällen dieser Art Balcerak Jackson und Balcerak Jackson 2013.

7.0 Allgemeines 

 341

(z. B. Lehrer, Experten) erworben haben. Das mag zwar faktisch oft so sein, scheint mir aber dennoch nicht notwendig*. Die Wahrnehmung ist so beschaffen, dass wir uns auf sie allein stützen können, um Wissen über die Außenwelt zu gewinnen. Manchmal wird auch eingewandt, dass Wahrnehmungswissen Wahrnehmungsüberzeugungen voraussetzt. Wenn man ferner annimmt, dass Wahrnehmungsüberzeugungen sprachabhängig sind und dass man eine natürliche Sprache nur durch andere erlernen kann, dann scheint Wahrnehmungswissen das Verstehen anderer bereits vorauszusetzen, weil die Bildung von Wahrnehmungsüberzeugungen das Verstehen anderer voraussetzt. Dieser Einwand ist jedoch aus gleich mehreren Gründen nicht stichhaltig. Erstens ist die generelle Sprachabhängigkeit von Gedanken unplausibel. Zweitens kann eine Sprache nur dann durch das Verstehen anderer erlernt werden, wenn bereits vorausgesetzt wird, dass wir unabhängig vom Spracherwerb denken können. Wir müssen ja die anderen bereits vor dem Spracherwerb in irgendeiner Form verstehen können. Drittens, und das ist in diesem Zusammenhang der wichtigste Einwand, mag es sein, dass das Denken eines Gedankens von bestimmten anderen Quellen abhängt. Daraus folgt jedoch nicht, dass aus diesem Gedanken nur dann Wissen wird, wenn bereits andere Wissensquellen vorausgesetzt werden. Wenn es um die Frage basaler Wissensquellen geht, dann interessiert nur dieser letzte Aspekt, nämlich ob die Quelle hinreicht, um aus bloßen Überzeugungen Wissen zu machen. Die Sinneswahrnehmung scheint eine basale Wissensquelle in diesem Sinne zu sein. Ähnliches gilt für rationale Intuition und Introspektion. Doch wie steht es mit der Erinnerung? Können wir nicht nur das aufgrund von Erinnerung wissen, was wir bereits zuvor durch Wahrnehmung (Tatsachen der Außenwelt) oder durch Introspektion (innere mentale Episoden) gewusst haben? Dann wäre Erinnerung eine nicht-basale Quelle des Wissens. Bei genauerem Nachdenken zeigt sich jedoch, dass wir auch durch Erinnerung von Dingen wissen können, die wir zuvor noch nicht gewusst haben. Es kann einfach sein, dass wir zu einem früheren Zeitpunkt Dinge wahrgenommen oder Erlebnisse gehabt haben, über die wir uns damals noch keine Überzeugungen gebildet haben. Da es kein Wissen ohne entsprechende Überzeugung gibt, haben wir in diesem Fall auch noch kein Wissen gehabt. Dennoch können wir uns zum Zeitpunkt des Erinnerns die früher wahrgenommenen Dinge oder die früheren Erlebnisse wieder vergegenwärtigen. In diesen Fällen können wir demnach durch Erinnerung basales Wissen erwerben.453 Gleichwohl ist Erinnerung keine basale Quelle des Wissens.454 Wir können nämlich durch Erinnerung nur dann Wissen erwerben, wenn wir davon unab-

453 Vgl. dazu Lackey 2010. 454 Vgl. auch Audi 2002, S. 74.

342 

 7 Quellen des Wissens

hängige Vermögen zum Wissenserwerb besitzen. Selbst wenn wir zu einem früheren Zeitpunkt keine explizite Überzeugung über eine wahrgenommene Tatsache haben mussten, um zu einem späteren Zeitpunkt durch Erinnerung Wissen von dieser Tatsache zu erwerben, so ist es doch zumindest erforderlich, dass wir zum früheren Zeitpunkt Wissen von dieser Tatsache erworben hätten, wenn wir eine entsprechende Wahrnehmungsüberzeugung gebildet hätten. Wir mussten also zumindest das Vermögen besitzen, durch Wahrnehmung Wissen zu erwerben. Deshalb hängt Erinnerung als Wissensquelle von Wahrnehmung oder Introspektion ab. Ähnlich ist es im Fall des Wissens durch das Zeugnis anderer. Nehmen wir einmal an, jemand behauptet irgendeine Tatsache. Ich glaube ihm das und erwerbe auf diese Weise neues Wissen. Das setzt weder in mir noch in meinem Informanten irgendein früheres Wissen voraus. Es kann beispielsweise sein, dass mein Informant selbst über sichere Informationen verfügt. Nun traut er diesen Informationen aber aus irgendwelchen Gründen nicht, gibt sie aber dennoch (vielleicht um mich zu täuschen) an mich weiter. Er hat also kein Wissen, weil er seinen eigenen Informationen nicht traut. Dennoch kann ich, als Dritter, Wissen durch genau diese Informationen erwerben, eben weil sie sicher sind. Allerdings muss ich dafür zunächst die Äußerung meines Informanten durch Wahrnehmung registrieren und auch verstehen. Wird damit nicht zumindest ein Wahrnehmungswissen meinerseits vorausgesetzt, dass der Informant eine entsprechende Äußerung vollzogen hat? Nein, denn es genügt, wenn ich aufgrund meiner Wahrnehmung verstehe, was mein Informant meint. Ich muss nicht außerdem noch glauben, was ich wahrnehme. Durch das Zeugnis anderer kann also tatsächlich basales Wissen erworben werden  – dennoch ist es keine basale Wissensquelle.455 Hätte mein Informant nämlich nicht ein Vermögen besessen, aufgrund der ihm zur Verfügung stehenden Informationen Wissen zu erwerben, und hätte ich wiederum nicht das Vermögen gehabt, aufgrund von Wahrnehmung Wissen zu erwerben, dann hätte ich durch sein Zeugnis auch kein Wissen erwerben können. Die Erinnerung und das Zeugnis anderer (sowie das Verstehen anderer) scheinen also neben den inferenziellen Wissensquellen ebenfalls nicht-basale Quellen zu sein. Nun anzunehmen, dass nur die basalen Wissensquellen wichtig sind und alle anderen Quellen bestenfalls zweitrangige Bedeutung haben, wäre jedoch ein gravierender Fehler. Es ist ganz offenkundig, dass alle oben aufgeführten nichtbasalen Quellen von essenzieller Bedeutung für den Umfang unseres Wissens sind.456 Man kann sich diese Bedeutung vor Augen führen, wenn man für einen

455 Vgl. Audi 2002, S. 79. 456 Zum Begriff der essenziellen Quelle vgl. Audi 2002, S. 74.

7.0 Allgemeines 

 343

Moment überlegt, was passieren würde, wenn wir diese Quellen nicht hätten. Ohne Erinnerung könnten wir unser Wissen nicht über die Zeit hinweg bewahren und durch Schlussfolgerungen für uns nutzbar machen. Ohne das Zeugnis anderer wäre die Bewahrung von Wissen von Generation zu Generation unmöglich. Wir könnten nicht vom Wissen von Experten profitieren, und die arbeitsteiligen modernen Wissenschaften würden kollabieren. Auch hier wäre ein weitgehender Skeptizismus die Folge. Ohne inferenzielle Wissensquellen gäbe es weder empirische Wissenschaften und Theorien (die vor allem auf Abduktion und Induktion beruhen) noch Formalwissenschaften (die vor allem auf deduktiven Beweisen beruhen) und auch kein historisches Wissen oder handlungsleitendes Wissen über die Zukunft. Wissensquellen auf einen Blick Basale Wissensquellen: – Sinneswahrnehmung – rationale Intuition – Introspektion – Imagination Nicht-basale Wissensquellen: – Deduktion – enumerative Induktion – Abduktion – Erinnerung – Zeugnis anderer – Verstehen anderer

In der gegenwärtigen Erkenntnistheorie ist die Existenz von Wissensquellen im Sinne natürlicher Arten von Michael Williams als Mythos des „erkenntnistheoretischen Realismus“ heftig angegriffen worden.457 Nach Williams beruht nicht jede Art von Wissen auf Gründen, die von dem, was gewusst wird, unabhängig sind. Damit greift Williams genau genommen aber nur die These an, dass Wissen immer auf evidenziellen Gründen beruht, wie vom Internalismus behauptet wird. Da Wissensquellen nicht dasselbe wie Arten von evidenziellen Gründen sind, trifft der Einwand von Williams nicht generell auf jede Konzeption von Wissensquellen zu. Williams nimmt außerdem an, dass der Rechtfertigungsstatus einer Überzeugung davon abhängt, ob diese Überzeugung gegen alle relevanten Anfechtungsgründe verteidigt wurde. Unangefochtene Überzeugungen sind insofern (durch ihre so genannte „Default-Position“) gerechtfertigt. Doch damit ist

457 Vgl. dazu Williams 1996.

344 

 7 Quellen des Wissens

der Rechtfertigungsstatus jeder Überzeugung natürlich vollkommen kontextrelativ und es gibt keine robusten Quellen der Rechtfertigung. Dieser Einwand lässt sich jedoch zurückweisen, wenn man die wichtige Unterscheidung zwischen der Prima-facie-Rechtfertigung und der Rechtfertigungsbilanz unter Berücksichtigung von Anfechtungsgründen beachtet. Williams zeigt sicher, dass die Anfechtung eine kontextrelative Angelegenheit ist, die vor allem davon abhängt, welche Einwände jeweils auf den Tisch gebracht werden. Daraus folgt jedoch nicht, dass es keine robusten natürlichen Quellen der Prima-facie-Rechtfertigung gibt. Die Metapher von den Quellen des Wissens und der Rechtfertigung lässt sich also sehr präzise ausformulieren und gegen verschiedenste Einwände gut verteidigen. Mit Hilfe einer Untersuchung der Quellen unseres Wissens und unserer Rechtfertigung können wir zudem besser verstehen und erklären, was spezifische Arten des Wissens und der Rechtfertigung unterscheidet und wie sie jeweils möglich sind. Außerdem gewinnen wir so ein allgemeines Bild von der Struktur und vom Zusammenhang der unterschiedlichen Arten des Wissens.

7.1 Sinneswahrnehmung Nur Skeptiker können leugnen, dass die Sinneswahrnehmung eine Quelle unseres Wissens (und gerechtfertigter Überzeugungen) über die Außenwelt ist. Nichts scheint naheliegender als die Annahme, dass sich die Außenwelt unverfälscht und unmittelbar präsentiert, indem sie kausal auf unsere Sinnesorgane einwirkt und Sinneseindrücke in uns hervorbringt, die gewissermaßen wie die Abdrücke eines Stempels auf einer leeren Wachstafel sind. Auch wenn diese Vorstellung bei genauerem Hinsehen naiv ist, weil unseren bewussten Sinneserlebnissen offenbar komplexe informationsverarbeitende Prozesse in unserem Gehirn vorhergehen, selbst wenn wir diese gar nicht bemerken, und weil manche der in der Erfahrung repräsentierten Eigenschaften (wie Farben, Gerüche und Geschmackseigenschaften) eher Wirkungen der Dinge auf uns sind als objektive Eigenschaften der Umwelt, so erweist sich die Vorstellung, dass wir durch die Wahrnehmung einen mehr oder weniger unverfälschten Zugang zu vielen makroskopischen Oberflächeneigenschaften der Dinge in unserer Umwelt haben, dennoch als äußerst beharrlich. Strittig ist dagegen, in welchem Umfang die Sinneswahrnehmung Quelle unseres Wissens ist. Radikale Empiristen (wie John Stuart Mill und W. V. O. Quine) behaupten, dass die Sinneswahrnehmung die alleinige Quelle von all unserem Wissen ist. Gemäßigte Empiristen behaupten dagegen nur, dass unser gesamtes Wissen über die aktuale raumzeitliche Außenwelt auf Sinneswahrnehmung gestützt ist. Wissen über Bedeutungen und abstrakte Gegenstände wie Zahlen

7.1 Sinneswahrnehmung 

 345

oder logische Beziehungen kann dagegen durchaus auch apriorische Quellen haben. Daneben gibt es noch einen schwachen Empirismus, der behauptet, dass jedes Wissen von Sinneswahrnehmungen abhängt, aber nicht allein von ihm. Dahinter steht die These, dass unser Wissen immer ein Produkt mehrerer Quellen ist. Es hängt also nicht nur von der Sinneswahrnehmung ab, sondern auch noch von anderen Quellen (wie etwa dem Verstand). Kant war ein schwacher Empirist in diesem Sinne, weil ihm zufolge auch das empirische Wissen ein Produkt aus Sinneswahrnehmung und Verstandesprozessen ist. In diesem Abschnitt soll vor allem der Frage nachgegangen werden, wie die Sinneswahrnehmung die Quelle unseres Wissens über die Außenwelt sein kann. Hinter dieser Frage versteckt sich ein ganzes Bündel weiterer Fragen: 1. Was ist der unmittelbare Gegenstand der Sinneswahrnehmung? Wenn es sich dabei nicht um die objektive Außenwelt handelt, dann scheint es von vornherein sehr schwer erklärbar zu sein, wie wir dann mit ihrer Hilfe Wissen über diese Außenwelt erlangen können. 2. Um welche Art mentalen Zustand handelt es sich bei der Sinneswahrnehmung bzw. Sinneserfahrung? Hier gibt es, soweit ich sehe, drei mögliche Antworten: Sinneserfahrung ist entweder eine Überzeugung (epistemische Theorie der Wahrnehmung) oder sie ist ein propositional*-begrifflicher Zustand, aber keine Überzeugung, oder sie ist schließlich ein nicht-begrifflicher phänomenaler Zustand. 3. Wie kann die Sinneswahrnehmung Überzeugungen über die Außenwelt rechtfertigen oder zu Wissen über die Außenwelt führen, wenn man dabei auch die Antwort auf Frage 2 berücksichtigt? Genauer gesagt: Wie kann die Sinneswahrnehmung eine Basis oder ein Fundament unseres Wissens über die Außenwelt darstellen? Bevor auf diese Fragen genauer eingegangen werden kann, erscheinen ein paar allgemeine Vorbemerkungen zur Sinneswahrnehmung hilfreich. In den paradigmatischen Fällen von Wahrnehmung entsteht durch kausale Einwirkung auf unsere Sinnesorgane eine Sinneserfahrung, ein sinnliches Erlebnis oder ein Perzept in uns. Normalerweise verwenden wir Wahrnehmungszuschreibungen im faktiven Sinne. Wenn wir also sagen „Jens hat wahrgenommen (gesehen), dass ein rotes Licht aufgeleuchtet hat“, dann ist diese Äußerung nur dann wahr, wenn ein rotes Licht tatsächlich aufgeleuchtet und dieses Jens’ sinnliches Erlebnis von dem Licht kausal verursacht hat. Man kann jedoch auch in einem engeren Sinn von Sinneswahrnehmung sprechen, wenn man sich nur auf das sinnliche Erlebnis oder die Sinneserfahrung selbst bezieht, die auch im Fall einer Illusion oder sogar Halluzination vorliegen könnte. Sinneserlebnisse dieser Art stellen sich bei allen fünf klassischen Sinnesmodalitäten (die bereits Aristoteles kannte) ein: beim Sehen, Hören, Tasten, Riechen und Schmecken. Hier gibt es auch jeweils entsprechende Sinnesorgane. Es gibt jedoch noch einige weitere Wahrnehmungsarten: das Körpergefühl (Propriozeption), zu dem es kein entspre-

346 

 7 Quellen des Wissens

chendes Sinnesorgan gibt, der vestibulare Sinn (unsere räumliche Orientierung aufgrund der Gravitation) und der vomeronasale Sinn (Detektor für geschlechtsspezifische Pheromone), bei denen sich keine spezifischen Sinneserfahrungen einstellen, sondern Informationen auch ohne sie verfügbar sind und verarbeitet werden. Es ist ferner nicht ausgeschlossen, dass noch weitere Wahrnehmungsarten entdeckt werden. Sinneswahrnehmung ist also ein offener Begriff, dessen Extension* nicht abschließend a priori* fixiert werden kann. Es zeigt sich auch, dass weder Sinnesorgane noch Sinneserlebnisse für alle unsere Wahrnehmungen notwendig sind. Dennoch werde ich mich im Folgenden an den klassischen Sinnesmodalitäten orientieren und dabei primär die Sinneserfahrung untersuchen. Wenn man die klassischen Sinne betrachtet, dann könnte es so aussehen, als ob jeder Sinn ganz spezifische Informationen liefert: Wir können Farben zwar sehen, aber nicht hören, tasten, riechen oder schmecken. Wir können Geräusche hören, aber nicht sehen oder schmecken. Wir können Gerüche riechen, aber nicht hören oder tasten.458 Aber es gibt andere Eigenschaften (die so genannten primären Eigenschaften), die wir sehr wohl mit verschiedenen Sinnen erfassen können. So können wir die Form einer Skulptur sehen, aber auch im Dunkeln ertasten. Wir können die Position eines Dings im Raum sehen, ertasten und sogar aufgrund von Geräuschen, die es von sich gibt oder reflektiert, erfassen. Dasselbe gilt für Bewegungen.

7.1.1 Was ist der unmittelbare Gegenstand der Sinneserfahrung? Wenn wir uns fragen, worauf wir uns mit unseren sinnlichen Erfahrungen unmittelbar beziehen, dann scheint nichts näher zu liegen als die Antwort „Auf Gegenstände in unserer unmittelbaren Umgebung“. Danach sehen wir unmittelbar Tische, Stühle, Autos und Wiesen. Aber wir sehen sie nicht nur einfach so, sondern wir sehen auch, dass sie bestimmte Eigenschaften haben. Wir sehen, dass der Tisch braun ist, wir ertasten, dass die Oberfläche des Stuhls glatt ist, wir hören, dass der Motor unseres Autos läuft, und wir riechen, dass die Wiese blüht. Häufig nehmen wir nicht nur wahr, dass bestimmte Dinge bestimmte Eigenschaften haben, sondern wir nehmen auch Veränderungen dieser Eigenschaften wahr. Wir sehen, dass das Licht erlischt. Wir hören, dass die Streicher im Orchester einsetzen. Wir spüren einen plötzlichen Stoß. Dies ist die Auffassung des so genannten naiven Realisten.

458 Wenigstens im Normalfall. Vom pathologischen Fall des Synästhetikers kann hier abgesehen werden.

7.1 Sinneswahrnehmung 

 347

Spätestens seit Beginn des Britischen Empirismus (mit seinen klassischen Vertretern Locke, Berkeley und Hume) ist dieser naive Realismus der Wahrnehmung heftig attackiert worden. Nicht objektive Dinge, Tatsachen und Ereignisse in der Außenwelt sind demnach die unmittelbaren Gegenstände der Sinneserfahrung, sondern subjektive Ideen, Vorstellungen, Erscheinungen, Bilder oder Sinnesdaten. In diesem Zusammenhang spricht man auch von einem Schleier der Ideen, weil die Außenwelt unserer unmittelbaren Wahrnehmung genauso verborgen ist wie die Dinge, die sich hinter einem Schleier verbergen. Hier einige Passagen der Britischen Empiristen, die diesen Punkt untermauern: [A]lles, was der Geist in sich selbst wahrnimmt oder was unmittelbares Objekt der Wahrnehmung […] ist, das nenne ich Idee […].459 Jedem, der einen Blick auf die Gegenstände der menschlichen Erkenntnis wirft, leuchtet ein, dass sie […] den Sinnen gegenwärtig eingeprägte Ideen sind […].460 Die Philosophie lehrt, dass alles, was sich dem Geist darstellt, lediglich eine Perzeption, also in seinem Dasein unterbrochen und vom Geist abhängig ist, während die Menge Wahrnehmungen und Gegenstände [in der Außenwelt, TG] identifiziert […].461

Die Britischen Empiristen waren also der Überzeugung, dass sich die Sinneserfahrung unmittelbar nur auf subjektabhängige Gegenstände bezieht und nicht auf die Außenwelt. Alles, was wir über die Außenwelt annehmen, kann nur indirekt* durch einen Schluss aus dem unmittelbar Gegebenen gefolgert werden. Deshalb spricht man in diesem Zusammenhang auch von einem indirekten Realismus. Da allen diesen Positionen gemeinsam ist, dass der unmittelbare Gegenstand der Sinneserfahrung etwas Subjektives, Geistabhängiges ist, möchte ich hier lieber von perzeptuellem Subjektivismus sprechen. Was hat die Britischen Empiristen dazu bewogen, die intuitiv so überaus plausible Position des naiven Realismus aufzugeben und die zunächst äußerst kontraintuitive Position des perzeptuellen Subjektivismus zu vertreten? Ausgangspunkt für die Überlegungen ist hier die Erfahrung der Sinnestäuschung. Es gibt viele Arten von Sinnestäuschungen. Da wären zunächst die Illusionen. Eine Illusion liegt vor, wenn die Sinneserfahrung einige Eigenschaften eines wahrgenommenen Gegenstandes falsch darstellt. Ein typischer Fall ist die optische Illusion des gebrochen aussehenden Stabes im Wasser. Hier wird durch die Lichtbre-

459 Locke 1981, Bd. I, 2. Buch, Kap. viii, Abs. 8 460 Berkeley 2004, § 1. 461 Hume 1989, Bd. 1, I, vi, 6, S. 258.

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 7 Quellen des Wissens

chungseigenschaften verschiedener Medien die räumliche Anordnung der Teile des Stabes falsch wiedergegeben. Es gibt aber auch psychologische Illusionen, deren Ursachen nicht in optischen Gesetzen liegen, sondern vielmehr in der kognitiven Informationsverarbeitung. Ein typischer Fall ist hier die Müller-Lyer-Illusion. Zwei gleich lange Linien erscheinen einem unterschiedlich lang, wenn die Pfeilspitzen am Ende einmal nach außen und einmal nach innen zeigen. Dieser Effekt tritt sogar dann ein, wenn man weiß, dass die Linien gleich lang sind.

Abb. 9: Die obere waagerechte Linie erscheint kürzer als die untere.

Neben den Illusionen gibt es auch noch die Halluzinationen. Hier erleben wir sinnlich einen Gegenstand, der gar nicht existiert. Typische Fälle von optischen Halluzinationen sind die Fata Morgana oder das Hologramm. Psychologische Halluzinationen treten beispielsweise bei psychischen Erkrankungen auf (der Schizophrene hört Stimmen, die nicht da sind) oder unter Drogeneinfluss. Häufig wird auch angenommen, dass die Relativität der Erfahrung ein Täuschungsphänomen ist. So erscheint ein Turm aus der Nähe groß, aber aus der Ferne klein. Ein Teller sieht von oben kreisförmig aus, aber von der Seite elliptisch usw. Schließlich gibt es auch noch ein wissenschaftliches Täuschungsargument*, das für den Britischen Empirismus eine wichtige Rolle gespielt hat. Dieses Argument geht davon aus, dass die Naturwissenschaften (allen voran die Physik) das Maß aller Dinge sind. Demnach existieren nur die Dinge und Eigenschaften in der Außenwelt, die die Naturwissenschaften postulieren. Dazu gehören jedoch keine Farben, Gerüche oder Geschmäcker. In der Sinneserfahrung beziehen wir uns also teilweise auf so genannte sekundäre Qualitäten, die in der Außenwelt selbst nicht vorkommen, erleben diese jedoch so, als ob sie den Dingen in der Außenwelt selbst zukommen würden. Es scheint also im Wesentlichen vier Arten von Sinnestäuschungen zu geben: – Illusionen – Halluzinationen

7.1 Sinneswahrnehmung 

 349

– relative Sinneserlebnisse – sekundäre Qualitäten Allerdings ist umstritten, ob es sich in den letzten beiden Fällen wirklich um Täuschungen handelt. Was die perspektivische Relativität der Sinneserfahrung betrifft, so kann man sagen, dass hier gar keine inkompatiblen Eigenschaften erlebt werden, sondern einfach unterschiedliche relationale Eigenschaften desselben Gegenstandes. Dass ein Gegenstand aus der Ferne betrachtet eine kleinere Winkelgröße hat als aus der Nähe, ist kein Widerspruch. Dasselbe gilt etwa für die Relativität der Wärmeempfindung. Laues erscheint einem warm, wenn die Hand vorher in einen Eimer mit Eiswasser getaucht war. Dagegen kalt, wenn die Hand vorher mit heißem Wasser überspült wurde. Auch hier werden keine absoluten Temperaturen, sondern nur Temperaturdifferenzen wahrgenommen.462 Auch dagegen, dass es Farbeigenschaften in der objektiven, physikalischen Außenwelt gar nicht gibt, sind einige gute Einwände vorgebracht worden. So kann man beispielsweise sagen, dass die Farbe eines Objekts auf bestimmte, relativ komplexe physikalische Eigenschaften reduzierbar ist. Vorgeschlagen wurde unter anderem, die Farbe eines Objekts als das Reflektanzprofil dieses Gegenstandes zu verstehen. Das Reflektanzprofil gibt für jede Wellenlänge des sichtbaren Spektrums an, wie viele Prozentpunkte des einfallenden Lichts von der Oberfläche des Objekts reflektiert werden.463 Allerdings lassen sich nicht alle Täuschungsphänomene auf diese oder ähnliche Weise wegerklären. Die Existenz von Illusionen und Halluzinationen ist unstrittig. Doch warum sollte aus der Existenz von Sinnestäuschungen folgen, dass sich die Sinneserfahrung unmittelbar nur auf subjektive Gegenstände wie Sinnesdaten bezieht? Berkeley und Hume haben dafür das klassische Täuschungsargument formuliert,464 das in einer rekonstruierten Fassung wie folgt aussieht: Täuschungsargument: (1) In einigen Fällen von Sinneserfahrung erscheinen die Dinge in der Außenwelt anders, als sie tatsächlich sind. Sie scheinen sinnliche Qualitäten zu besitzen, die sie tatsächlich nicht haben. (2) Wenn etwas jemandem so erscheint, als habe es eine Sinnesqualität, dann gibt es etwas, dessen sich das Subjekt bewusst ist und das diese Eigenschaft tatsächlich hat.

462 Vgl. dazu Huemer 2001, S. 119–24. 463 Vgl. dazu Byrne/Hilbert 1997. 464 Vgl. Berkeley 2004, §§ 11, 14; Berkeley 2005, S. 30 f.; Hume 1993, 12. Abschnitt, S. 178.

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 7 Quellen des Wissens

(3) In einigen Fällen von Sinneserfahrung gibt es etwas, dessen sich das Subjekt bewusst ist und das Sinnesqualitäten besitzt, die die Dinge in der Außenwelt nicht besitzen. (aus 1 & 2) (4) Wenn a eine Sinnesqualität besitzt, die b nicht hat, dann sind a und b nicht identisch. (5) In einigen Fällen von Sinneserfahrung ist sich das Subjekt etwas anderem bewusst als der Dinge in der Außenwelt, die es wahrzunehmen glaubt.  (aus 3 & 4) (6) Sinnestäuschungen sind jedoch von Fällen veridischer Sinneserfahrung subjektiv ununterscheidbar. (7) Daher ist sich das Subjekt in allen Fällen von Sinneserfahrung eines Dinges (aus 5 & 6) bewusst, das nicht in der Außenwelt existiert. Aus diesem Täuschungsargument ergibt sich der perzeptuelle Subjektivismus unmittelbar. Wenn die unmittelbaren Gegenstände der Wahrnehmung keine Dinge in der Außenwelt sind, dann handelt es sich somit um geistabhängige, subjektive Gegenstände, die als Erscheinungen, Ideen oder Sinnesdaten bezeichnet werden. Aus dem perzeptuellen Subjektivismus ergeben sich zwei Arten von Problemen: metaphysische Probleme bezüglich der Beschaffenheit der subjektiven Sinnesdaten und erkenntnistheoretische Probleme. 7.1.1.1 Metaphysische Probleme des perzeptuellen Subjektivismus Wenn man den perzeptuellen Subjektivismus ernst nimmt, dann handelt es sich bei den unmittelbaren Gegenständen der Sinneserfahrung um sehr ungewöhnliche Gegenstände. Sie existieren nicht in der Außenwelt, sondern nur geistabhängig. Sie sind außerdem in einem doppelten Sinne privat. Sie gehören immer einer ganz bestimmten Person exklusiv an. Ein Sinnesdatum ist also meines, Ihres oder das Sinnesdatum einer dritten Person, aber nicht im Besitz von mehreren Personen. Zugleich sind solche Sinnesdaten auch erkenntnistheoretisch nur exklusiv zugänglich, und zwar nur für die Person, um deren Sinnesdatum es sich handelt. Schließlich gilt für Sinnesdaten der Grundsatz esse est percipi (das Sein ist identisch mit dem Wahrgenommenwerden). Das bedeutet, dass jeder Erfahrung ein entsprechendes Sinnesdatum korrespondiert und Sinnesdaten, sofern sie existieren, als solche durch die Erfahrung exakt erfasst werden. Berkeley und Hume haben dieses Transparenzprinzip für geistige Gegenstände eingeführt. „Weil alle (…) Eindrücke des Geistes uns durch Bewusstsein bekannt sind, müssen sie not-

7.1 Sinneswahrnehmung 

 351

wendigerweise in jeder Einzelheit so erscheinen, wie sie sind, und sein, wie sie erscheinen.“465 Daraus ergeben sich nun eine Reihe von metaphysischen Problemen. Da ist zunächst das Problem der unbestimmten Gegenstände. Wirklich existierende Gegenstände scheinen vollkommen bestimmt zu sein. Nehmen wir an, ein Gegenstand würde unter die Kategorie von Gegenständen fallen, die Gewicht haben. Dann kann es nicht sein, dass dieser Gegenstand kein bestimmtes Gewicht hat. Nun gilt aber nach dem Transparenzprinzip auch, dass die Sinnesdaten so sind, wie sie uns erscheinen. In der Sinneserfahrung erscheinen uns die Dinge aber manchmal unscharf und unbestimmt. Wir sehen z. B. einen gesprenkelten Hahn, aber keine genaue Anzahl von Punkten auf seinem Gefieder. Weil Sinnesdaten also das ontologische Prinzip der Bestimmtheit verletzen, können sie keine Gegenstände sein. Kurz: Es gibt sie nicht. Ein zweites metaphysisches Problem betrifft die räumliche Lokalisierung der unmittelbaren Gegenstände der Erfahrung.466 Ich sehe den Tisch beispielsweise vor mir im Raum. Dinge im Raum sind jedoch physikalische Dinge in der Außenwelt. Sinnesdaten sind jedoch per definitionem* geistabhängige Dinge ohne Platz in der Außenwelt. Also können die unmittelbaren Wahrnehmungsgegenstände keine Sinnesdaten sein. Auf diesen Einwand gibt es verschiedene Erwiderungen, die aber allesamt nicht überzeugend sind. So kann man (wie Berkeley) bestreiten, dass die Erfahrungsgegenstände unmittelbar im Raum gegeben sind. Das ist jedoch phänomenologisch betrachtet äußerst unplausibel. Unsere Raumerfahrung beruht nicht auf einem Schluss aus unmittelbar zweidimensional gegebenen Erscheinungen, wie Berkeley meint. Eine andere mögliche Erwiderung auf den Einwand lautet, dass der Erfahrungsraum ein subjektives Feld ist, das mit dem objektiven, öffentlichen Raum nichts zu tun hat. Aber auch diese Erwiderung ist nur ein letztes verzweifeltes Aufbäumen gegen das Offensichtliche. Hier noch ein weiteres metaphysisches Problem mit Sinnesdaten. Alles, was wir als existierend annehmen, muss klare Identitätsbedingungen haben. Wir müssen Kriterien dafür haben, ob es sich bei verschiedenen Vorkommnissen um ein und dasselbe Ding oder verschiedene Dinge handelt. Gegenstände müssen abzählbar sein. Mit diesen Identitätskriterien hat der Sinnesdatentheoretiker jedoch notorische Probleme. Wie lange existiert ein Sinnesdatum? Wenn ich die Augen kurz schließe und danach wieder öffne, sehe ich dann noch dasselbe Sinnesdatum? Verändern sich Sinnesdaten, oder bedeutet jede Veränderung, dass ein Sinnesdatum verschwindet und ein neues entsteht? Aus wie vielen Sinnes-

465 Hume 1989, I, iv, 2; vgl. auch Berkeley 2004, Einleitung, § 22; §§ 25, 87. 466 Vgl. eine Version dieses Argument bereits bei Berkeley 2004, § 42.

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 7 Quellen des Wissens

daten besteht ein komplexes Erscheinungsbild? Sind Sinnesdaten modalitätsunspezifisch, oder gibt es für jeden Sinn eigene Sinnesdaten? Auf diese Fragen lassen sich nur sehr schwer gut begründete Antworten geben. Es scheint sich eher so zu verhalten, dass wir die Identitätskriterien für Sinnesdaten von den Identitätskriterien der wahrgenommenen Dinge in der Außenwelt ableiten. Um diese Schwierigkeiten mit der Vergegenständlichung von sinnlichen Erscheinungen zu vermeiden, hat Roderick Chisholm mit seiner adverbialen Theorie der Wahrnehmung vorgeschlagen, die Redeweise von Sinnesdaten gänzlich neu zu interpretieren.467 Nach Chisholm kann man die Rede von Sinnesdaten auf die Rede von Arten und Weisen des phänomenalen Erlebens reduzieren. Betrachten wir hierzu ein Beispiel. Wenn jemand sagt „Ich sehe ein rotes Sinnesdatum“ lässt sich das problemlos auch durch den folgenden Satz paraphrasieren: „Ich empfinde auf rötliche Weise“ (allgemeiner ausgedrückt: „Der Gegenstand X erscheint auf die-und-die Weise für S.“). Der Gehalt der Sinneserfahrung wird somit als Art und Weise des phänomenalen Erlebens (also adverbial) verstanden. In dieser Beschreibung des Erfahrungsgehalts kommt ein Bezug auf einen Gegenstand nicht mehr vor. Mit ihm verschwinden auch die metaphysischen Probleme des perzeptuellen Subjektivismus. Allerdings scheint eine vollständige adverbiale Analyse von Sinneserfahrungen mit komplexem Gehalt erhebliche Schwierigkeiten aufzuwerfen.468 Betrachten wir zum Beispiel die beiden folgenden Sätze: (1) Ich sehe ein rotes, quadratisches Sinnesdatum und ein grünes, rundes Sinnesdatum. (2) Ich sehe ein grünes, quadratisches Sinnesdatum und ein rotes, rundes Sinnesdatum. Beide Sätze scheinen klarerweise unterschiedliche Erfahrungen zu beschreiben. Aber dieser Unterschied geht in der adverbialen Analyse verloren. Beide Erfahrungen werden nämlich dieser Analyse zur Folge durch den folgenden Satz beschrieben: (3) Ich empfinde visuell rötlich und quadratisch und grünlich und rund. Dieser Satz klingt nicht nur sehr eigenartig und gewunden, sondern er bringt auch den intuitiven Unterschied zwischen den beiden Erfahrungen zum Verschwinden. Vertreter der adverbialen Theorie können hier vielleicht noch ein Stück weit nachbessern, aber das Beispiel macht bereits deutlich, dass diese Theorie bei komplexen Erfahrungen schnell an ihre Grenzen kommt. Als Ergebnis lässt sich festhalten, dass der perzeptuelle Subjektivismus vor dem folgenden Dilemma* steht: Entweder er versucht, subjektive Gegenstände

467 Vgl, Chisholm 1957, Kap. 8 und 10. 468 Vgl. dazu die hervorragende Kritik von Jackson 1977, S. 63 ff.

7.1 Sinneswahrnehmung 

 353

(Sinnesdaten) als unmittelbare Objekte der Sinneserfahrung anzugeben. Dann verwickelt er sich in unlösbare metaphysische Probleme. Oder er versucht, eine Vergegenständlichung des Erfahrungsgehalts zu vermeiden. In diesem Fall wird die Analyse aber der Komplexität des Erfahrungsgehalts nicht gerecht. 7.1.1.2 Erkenntnistheoretische Probleme des perzeptuellen Subjektivismus Wenn man, wie der perzeptuelle Subjektivist, davon ausgeht, dass wir uns in unserer Erfahrung unmittelbar nur auf subjektive Erscheinungen beziehen, dann stellt sich unweigerlich die Frage, wie wir überhaupt einen Blick hinter den Schleier der Ideen werfen können. Die Außenwelt, über die wir durch die Sinneserfahrung Wissen erwerben wollen, verbirgt sich weitgehend hinter diesem Schleier. Ein Zugang zu ihr scheint bestenfalls indirekt durch Inferenzen möglich. Es gibt nun drei mögliche Antworten auf das Problem der Erkennbarkeit der Außenwelt für den perzeptuellen Subjektivisten. Diese Antworten wurden historisch durch die drei klassischen Vertreter des Britischen Empirismus verkörpert. Der indirekte Realist akzeptiert, dass wir uns durch die Wahrnehmung unmittelbar nur auf subjektive Erscheinungen beziehen. Aber er glaubt, dass wir aufgrund der besonderen Charakteristika dieser Erscheinungen kausale Rückschlüsse auf die Beschaffenheiten der verursachenden Dinge in der Außenwelt ziehen können. Es ist zwar klar, dass wir von subjektiven Erscheinungen weder deduktiv noch durch generalisierende Induktion auf die Außenwelt schließen können. Der indirekte Realist glaubt jedoch, dass uns abduktive Schlüsse auf die beste Erklärung hier weiterhelfen. John Locke war der klassische Vertreter des indirekten Realismus. Er betont, dass unsere Sinneserfahrungen unwillkürlich (unbeabsichtigt und unkontrollierbar) auftreten und ein hohes Maß an Kohärenz untereinander aufweisen. Die beste Erklärung für diese Eigenschaften sieht er darin, dass sie durch von uns unabhängige Dinge in der Außenwelt verursacht werden, die mit unseren Erscheinungen von ihnen übereinstimmen. Der Phänomenalist stellt den unmittelbaren erkenntnistheoretischen Zusammenhang zwischen unserer Erfahrung und der Außenwelt wieder her, indem er die Außenwelt subjektiviert und die Dinge in der Außenwelt als Konstrukte oder Bündel aus subjektiven Erscheinungen analysiert. Der Phänomenalist ist also ein Idealist, der die Annahme einer subjektunabhängigen Existenz der Außenwelt aufgibt. George Berkeley war der klassische Vertreter dieses phänomenalistischen Idealismus. Schließlich gibt es noch den Skeptiker, der angesichts der Unzugänglichkeit der Außenwelt durch die Sinneswahrnehmung einräumt, dass wir letztlich keinerlei Wissen von der Außenwelt haben können. Diesen skeptischen Standpunkt hat beispielsweise David Hume vertreten.

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 7 Quellen des Wissens

Lockes indirekter Realismus wirft allerdings verschiedene Probleme auf. Erstens ist fraglich, ob er das Explanandum, also die menschliche Sinneserfahrung, wirklich richtig charakterisiert. Es stimmt zwar, dass die menschliche Sinneserfahrung unwillkürlich auftritt. Aber es ist alles andere als klar, ob sie auch wirklich kohärent*, regelmäßig und beständig ist, wie Locke annimmt.469 Denn durch die Positionsveränderungen des Beobachters sowie seine Kopfdrehungen, Augenbewegungen und das Schließen und Öffnen seiner Augen ist der Erfahrungsverlauf eher ungeordnet. Erst wenn wir die erfahrenen Gegenstände vom Verlauf unserer Erfahrungen von ihnen unterscheiden, können wir eine Ordnung und Regelmäßigkeit in die Erfahrung hineinbringen. Dieser Zug steht dem perzeptuellen Subjektivisten jedoch nicht offen, weil er Erfahrung und erfahrenen Gegenstand gerade nicht unterscheidet. Auch sehr lokal betrachtet gibt es keine Regelmäßigkeit auf der Ebene der Sinnesdaten. Das zeigen bereits die Lichtreflexe und Schattierungen auf der monochromen Oberfläche eines Tisches. Zweitens schließt Locke unzulässigerweise bestimmte Erklärungen unserer Erfahrung aus der Menge möglicher Erklärungen aus. Er meint nämlich, dass unwillkürlich auftretende mentale Zustände nur durch Ursachen in der Außenwelt verursacht sein können.470 Das ist jedoch nicht richtig. Dabei muss man gar nicht unbedingt an Freuds unbewusste Motive für mentale Ereignisse denken. Traumerfahrungen sind normalerweise ebenfalls vollkommen unkontrollierbar und werden dennoch typischerweise nicht durch äußere Ursachen hervorgerufen. Wenn man sich drittens die gesamte Bandbreite möglicher Erklärungen unseres Erfahrungsverlaufs vor Augen führt, dann ist schwer zu sehen, warum die optimistische Hypothese, wonach die Außenwelt mit unseren Erfahrungen übereinstimmt, tatsächlich die beste sein soll. Sehen wir uns hier nur kurz einige alternative Erklärungshypothesen an: – Standardhypothese: Unsere Erfahrungen werden durch eine stabile, den Erfahrungen korrespondierende materielle Außenwelt verursacht. – Hypothese des bösartigen Neurowissenschaftlers: Unsere Erfahrungenwer­ den durch einen Neurowissenschaftler hervorgebracht, der unser Gehirn mit Hilfe elektrischer Impulse manipuliert und täuscht. – Traumhypothese: Unsere Erfahrungen sind ein lebenslanger Traum, der mit der Außenwelt nicht übereinstimmt. – Dämonhypothese: Es gibt keine materielle Außenwelt, sondern nur einen rein geistigen, bösen Dämon, der uns die Existenz einer materiellen Außenwelt durch direkte Manipulation unseres Geistes vorgaukelt.

469 Vgl. Locke 1981, Buch IV, xi, 7, S. 315. 470 Locke 1981, S. 313.

7.1 Sinneswahrnehmung 

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– Solipsismus: Es gibt nur ein Erfahrungssubjekt, dessen Sinneserfahrungen durch unbewusste Vorgänge in ihm hervorgebracht werden. Angesichts dieser Vielfalt von möglichen Erklärungen unserer Erfahrung ist es bereits schwer, dafür zu argumentieren, dass tatsächlich externe Ursachen für den Verlauf unserer Erfahrung verantwortlich sind. Noch spekulativer ist die Annahme, dass die Standarderklärung die beste Erklärung darstellt. Sie kommt uns nur deshalb so selbstverständlich und plausibel vor, weil wir uns bei der Hypothesenauswahl von unserem Hintergrundwissen über die Außenwelt leiten lassen. Doch dann kann es nicht richtig sein, dass unser gesamtes Wissen über die Außenwelt inferenziell auf unseren subjektiven Erscheinungen beruht. Der indirekte Realismus ist also keine plausible Option. Wie sieht es mit Berkeleys Phänomenalismus aus? Ich werde im Folgenden den Phänomenalismus als eine metaphysische Position verstehen, die besagt, dass die normalen Dinge in der Außenwelt durch Bündel von Erscheinungen oder Sinnesdaten konstituiert sind. In diesem Sinne ist der Phänomenalismus ein metaphysischer Idealismus. Berkeley selbst bekennt sich zu dieser metaphysischen Interpretation des Phänomenalismus: Da nun beobachtet wird, dass einige von diesen Empfindungen einander begleiten, so geschieht es, dass sie mit einem Namen bezeichnet und infolge hiervon als ein Ding betrachtet werden. Ist z. B. beobachtet worden, dass eine gewisse Farbe, Geschmacksempfindung, Geruchsempfindung, Gestalt und Festigkeit auftreten, so werden sie für ein bestimmtes Ding gehalten, welches durch den Namen Apfel bezeichnet wird. Andere Gruppen von Ideen […] bilden einen Stein, einen Baum, ein Buch und ähnliche sinnliche Dinge […].471

Mit diesem metaphysischen Phänomenalismus gibt es jedoch ein zentrales Problem, das bereits von Berkeley frühzeitig erkannt wurde. Dinge in der Außenwelt können unbeobachtet weiterexistieren oder existieren, ohne jemals beobachtet zu werden. Sinnliche Erscheinungen haben diese Eigenschaft dagegen nicht. Schon Berkeley hat gesehen, wie man dieses Problem des Phänomenalismus lösen kann. Man muss sagen, dass existierende Dinge in der Außenwelt mit Möglichkeiten der Wahrnehmung identisch sind: „Sage ich: der Tisch, an dem ich schreibe, existiert, so heißt das: ich sehe und fühle ihn; wäre ich außerhalb meiner Studierstube, so könnte ich seine Existenz in dem Sinne aussagen, dass ich, wenn ich in meiner Studierstube wäre, ihn perzipieren könnte (…).“472 Dieser Vorschlag wurde dann später konsequent von John Stuart Mill ausgearbeitet, der

471 Berkeley 2004, § 1. 472 Berkeley 2004, S3.

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 7 Quellen des Wissens

sagt, dass Dinge Mengen aus aktualen und möglichen Erscheinungen sind.473 In diesem Sinne kann man sagen, dass ein Blatt Papier auf dem Tisch liegt genau dann, wenn der Gegenstand mir so-und-so erscheinen würde, wenn ich vor dem Tisch stünde, und wenn der Gegenstand mir so-und-so erscheinen würde, wenn ich neben dem Tisch stünde usw. Aussagen über Dinge in der Außenwelt werden also auf eine sehr komplexe Konjunktion* von kontrafaktischen* Sätzen zurückgeführt. Das Programm des Phänomenalismus lässt sich trotz anfänglicher Plausibilität nicht durchführen und kann heute als endgültig gescheitert betrachtet werden. Von den unzähligen Einwänden sollen hier nur zwei hervorgehoben werden. Erstens: Wenn Tatsachen über die Außenwelt auf Tatsachen über aktuale und mögliche sinnliche Erscheinungen reduzierbar sein sollen, dann müssen Aussagen über die Außenwelt mit Konjunktionen aus faktischen und kontrafaktischen Aussagen über Erscheinungen äquivalent sein. Diese Äquivalenz besteht jedoch nicht. Wahrheiten über Erscheinungen (egal, wie komplex sie auch sind) können allein niemals hinreichen für Wahrheiten über die Außenwelt. Ob ein Ding so ist, wie es erscheint, hängt immer auch von den objektiven Wahrnehmungsbedingungen und dem objektiven Zustand des Beobachters ab. Und diese objektiven Umstände sind wiederum Wahrheiten über die Welt. Nehmen wir die Aussage „Mir erscheint die Wand rot“. Die Wahrheit dieser Aussage erzwingt nur dann die Wahrheit der Aussage „Die Wand ist rot“, wenn das Licht normal ist (also die Wand nicht rot beleuchtet wird), wenn ich keine Drogen genommen habe usw. Eine vollständige Analyse von Aussagen über die Außenwelt durch Aussagen über Erscheinungen ist deshalb unmöglich. Soll die Analyse korrekt sein, dann müssen in ihr immer wieder objektive Tatsachen auftauchen. Auch die Frage, ob angesichts bestimmter objektiver Tatsachen notwendigerweise bestimmte Erscheinungen beim Beobachter auftreten, hängt von weiteren objektiven Tatsachen ab wie der Position des Beobachters, den Lichtverhältnissen und dem Zustand seiner Sinnesorgane. Deshalb können Tatsachen der Außenwelt nicht ohne Rest auf Tatsachen über aktuale und mögliche Erscheinungen zurückgeführt werden.474 Zweitens: Unbeobachtete Dinge können zweifellos kausal wirksam sein. Oft bemerken wir ihre Existenz ja gerade aufgrund ihrer Wirkungen. Um kausal wirksam zu sein, müssen die Ursachen jedoch aktual existieren. Der metaphysische Phänomenalist führt unbeobachtete Gegenstände nun auf bloß Mögliches zurück (nämlich mögliche Erscheinungen). Aktuale Existenz

473 Mill 1979, S. 179 f. 474 Vgl. Chisholm 1957, Appendix.

7.1 Sinneswahrnehmung 

 357

kann jedoch nicht auf bloß mögliche Existenz zurückgeführt werden. Deshalb ist die Analyse, die der Phänomenalist vorschlägt, nicht angemessen.475 Die vorangehenden Überlegungen zu den erkenntnistheoretischen Problemen des perzeptuellen Subjektivismus kann man folgendermaßen zusammenfassen: Für den perzeptuellen Subjektivisten sind prinzipiell drei verschiedene erkenntnistheoretische Positionen denkbar: der indirekte Realismus, der Phänomenalismus und der Skeptizismus. Es hat sich gezeigt, dass weder der indirekte Realismus noch der Phänomenalismus eine vertretbare Position sind. Deshalb ist der erkenntnistheoretische Skeptizismus für den perzeptuellen Subjektivisten unausweichlich. Probleme des perzeptuellen Subjektivismus (1) Dilemma für die Analyse des Erfahrungsgehalts: Entweder der Gehalt der Sinneserfahrung wird durch die unmittelbaren subjektiven Gegenstände der Wahrnehmung analysiert. Dann ergeben sich unlösbare metaphysische Probleme. Oder man verzichtet auf eine vergegenständlichende Analyse des Erfahrungsgehalts wie die adverbiale Theorie, dann ist die Analyse nicht angemessen. (2) Aus dem perzeptuellen Subjektivismus ergibt sich zwingend das Problem eines erkenntnistheoretischen Skeptizismus bezüglich unseres empirischen Wissens über die Außenwelt.

7.1.1.3 Das Täuschungsargument auf dem Prüfstand Angesichts der schwerwiegenden metaphysischen und erkenntnistheoretischen Probleme, die aus der Auffassung resultieren, dass sich die Sinneswahrnehmung unmittelbar nur auf subjektive Erscheinungen bezieht, lohnt es sich, noch einmal genauer zu überprüfen, wie stark das Täuschungsargument für diese Auffassung tatsächlich ist. Hier zunächst noch einmal das Argument: (1) In einigen Fällen von Sinneserfahrung erscheinen die Dinge in der Außenwelt anders, als sie tatsächlich sind. Sie scheinen sinnliche Qualitäten zu besitzen, die sie tatsächlich nicht haben. (2) Wenn etwas jemandem so erscheint, als habe es eine Sinnesqualität, dann gibt es etwas, dessen sich das Subjekt bewusst ist und das diese Eigenschaft tatsächlich hat. (3) In einigen Fällen von Sinneserfahrung gibt es etwas, dessen sich das Subjekt bewusst ist und das Sinnesqualitäten besitzt, die die Dinge in der Außenwelt nicht besitzen. (aus 1 & 2)

475 Whiteley 2003, S. 107.

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 7 Quellen des Wissens

(4) Wenn a eine Sinnesqualität besitzt, die b nicht hat, dann sind a und b nicht identisch. (5) In einigen Fällen von Sinneserfahrung ist sich das Subjekt etwas anderem bewusst als der Dinge in der Außenwelt, die es wahrzunehmen glaubt.  (aus 3 & 4) (6) Sinnestäuschungen sind von Fällen veridischer Sinneserfahrung ununterscheidbar. (7) In allen Fällen von Sinneserfahrung ist sich das Subjekt eines Dinges bewusst, (aus 5 & 6) das nicht in der Außenwelt existiert.  Gegen das Täuschungsargument sind vor allem zwei Einwände vorgebracht worden. Dem ersten Einwand zufolge ist der Argumentationsschritt von (5) und (6) zu (7) ungültig*. Vertreter dieses Einwands gestehen zwar zu, dass sich im Fall einer Täuschung die Sinneserfahrung nur auf subjektive Erscheinungen bezieht. Sie bestreiten aber, dass im Fall einer veridischen Erfahrung ein mentaler Zustand mit derselben Art von Inhalt wie in der Täuschungssituation vorliegt. Sinnestäuschungen und veridische Sinneserfahrungen haben demnach einen unterschiedlichen Inhalt. Die ersteren beziehen sich auf subjektive Phänomene und die letzteren auf die reale Außenwelt. Weil Sinneserfahrungen also je nachdem ob es sich um Täuschungen oder veridische Zustände handelt, unterschiedliche Inhalte haben, spricht man hier auch von einer disjunktiven* Theorie der Sinneswahrnehmung. Sinnestäuschungen und veridische Sinneserfahrungen sind demnach für uns zwar aus der Innenperspektive ununterscheidbar, wie Prämisse (6) korrekt feststellt. Daraus, dass wir introspektiv keinen Unterschied zwischen diesen Zuständen bemerken können, folgt aber nicht, dass ein solcher Unterschied nicht objektiv vorliegen kann.476 Der disjunktivistische Einwand wirft allerdings selbst einige Probleme auf. Auch wenn mentale Zustände nicht in dem Sinne transparent sind, wie Hume vermutet hat, nämlich dass uns kein Unterschied zwischen mentalen Phänomenen unbemerkt bleibt, so wäre es doch eigenartig, wenn wir gegenüber unterschiedlichen mentalen Inhalten systematisch ignorant wären, wie der Disjunktivist annehmen muss, um den täuschenden Charakter von Sinnestäuschungen zu erklären. Wir bemerken ja niemals aus der Innenperspektive, dass eine Sinnestäuschung, aber keine veridische Wahrnehmung vorliegt. Was noch gravierender ist: Wenn der Inhalt von Sinnestäuschungen und veridischen Wahrnehmungen wirklich verschieden wäre, jedoch Wahrnehmungen unter Berücksichtigung entsprechender Wünsche unser Verhalten erklären können, dann müsste man

476 Vgl. etwa McDowell 1982 und Pritchard 2012.

7.1 Sinneswahrnehmung 

 359

erwarten, dass sich Personen im Falle einer Sinnestäuschung anders verhalten als im Falle einer veridischen Wahrnehmung. Doch tatsächlich verhalten sich Personen in beiden Situationen gleich. Deshalb ist es sehr plausibel, für beide Fälle auch dieselbe Art von Erfahrungsinhalt zu unterstellen. Sehen wir uns nun den zweiten Einwand gegen das Täuschungsargument an. Die Prämisse (2) besagt, dass sinnliche Erscheinungen als Relationen zu Trägern der erscheinenden Eigenschaften aufgefasst werden müssen. Relationen gibt es jedoch nur, wenn die Dinge, zwischen denen die Relation besteht, auch wirklich existieren. So kann eine bestimmte Entfernung zwischen zwei Dingen nur dann bestehen, wenn beide Dinge auch existieren. Wenn sinnliche Dinge also als Relationen zu Trägern von Eigenschaften verstanden werden, dann müssen diese Träger mitsamt ihren Eigenschaften existieren. Man spricht in diesem Zusammenhang vom Akt-Objekt-Modell der Wahrnehmung, weil der Gehalt der Wahrnehmung durch das existierende Objekt bestimmt wird, auf das die Wahrnehmung bezogen ist. Nun gibt es allerdings Arten von mentalen Zuständen, deren Gehalt eindeutig nicht durch den existierenden Gegenstand bestimmt wird, auf den sie bezogen sind. Menschen können sich vor Hexen fürchten, auch wenn es diese gar nicht gibt. Menschen können glauben, dass Einhörner im Wald leben, auch wenn es keine Einhörner gibt. Und Menschen können natürlich Dinge über existierende Gegenstände glauben, die falsch sind. In diesen Fällen sprechen wir von intentionalen* Zuständen, deren Gehalt unabhängig von der Existenz eines Gegenstandes ist, der die entsprechende Eigenschaft besitzt. Den Gehalt intentionaler Zustände gibt man häufig durch die Erfüllungsbedingungen dieser Zustände an. Ein intentionaler Zustand hat seine Erfüllungsbedingungen ganz unabhängig davon, ob er tatsächlich erfüllt ist und ob es einen entsprechenden Gegenstand gibt oder nicht. Intentionale Zustände müssen deshalb strikt von relationalen Zuständen unterschieden werden. Aus dieser Einsicht lässt sich nun ein Einwand gegen Prämisse (2) des Täuschungsarguments konstruieren. Sollten nämlich Sinneserfahrungen einen intentionalen Gehalt haben (wie Überzeugungen oder Emotionen), dann könnte sich die Erfahrung auch im Falle einer Täuschung intentional auf die Außenwelt beziehen. Ihr Gehalt wäre nur nicht erfüllt. Es gäbe dann keinen entsprechenden Gegenstand. Im Fall der veridischen Erfahrung wäre dagegen der unmittelbare Gegenstand ein Gegenstand in der Außenwelt. Der intentionale Realismus hat gegenüber dem perzeptuellen Subjektivismus den Vorteil, dass er einen unmittelbaren Gegenstand in der Außenwelt zulässt, und er hat gegenüber dem Disjunktivismus den Vorteil, dass er daran festhalten kann, dass der Inhalt täuschender und veridischer Erfahrung identisch sein kann.

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 7 Quellen des Wissens

7.1.1.4 Argumente für den intentionalen Realismus Der intentionale Realismus schreibt der Sinneserfahrung einen objektiven Gehalt in der Außenwelt zu. Das heißt nicht, dass sie sich immer korrekt auf existierende Dinge in dieser Außenwelt bezieht, sondern nur, dass ihre Erfüllungsbedingungen in der objektiven Außenwelt liegen. Wenn der objektive Gehalt der Sinneserfahrung erfüllt ist, dann bezieht sich die Erfahrung unmittelbar auf ein existierendes Objekt und repräsentiert es so, wie es tatsächlich ist. Aber die Objektivität des Gehalts allein garantiert seine Erfüllung nicht. Die Sinneserfahrung ist zwar unmittelbar auf die objektive Außenwelt gerichtet und zielt intentional auf sie ab, aber sie steht nicht notwendigerweise in einer Relation zu ihr. Was spricht für diesen intentionalen Realismus? Im Folgenden sollen drei Hauptargumente für diese Position vorgestellt werden. Das neue Täuschungsargument: Das Akt-Objekt-Modell der Wahrnehmung schließt eigentlich aus, dass es in der Wahrnehmung selbst irgendeine Täuschung gibt. Wenn der unmittelbare Gegenstand der Erfahrung immer genauso ist, wie er erscheint, dann gibt es hier keinen Spielraum für Täuschung. Der Irrtum entsteht erst auf der Ebene von Überzeugungen über die Außenwelt, die auf die Erfahrung gestützt werden. Es ist jedoch sehr plausibel, die Täuschung in der Erfahrung selbst zu verorten. Selbst wenn wir beispielsweise wissen, dass die Linien in der Müller-Lyer-Illusion gar nicht unterschiedlich lang sind, und deshalb gar nicht glauben, dass sie unterschiedlich lang sind, ist es dennoch völlig natürlich, davon zu sprechen, dass uns die Linien nicht korrekt erscheinen, wenn wir sie unterschiedlich lang erleben. Wenn wir in diesem Fall von Täuschung sprechen, dann müssen wir die Täuschung in der Erfahrung selbst lokalisieren. Die intentionale Analyse kann dieser Intuition Rechnung tragen. Sobald wir der Erfahrung nämlich einen intentionalen Gehalt zuschreiben, kann sie dadurch fehlgehen, dass die Dinge nicht genauso beschaffen sind, wie die Erfahrung sie repräsentiert. Das Intensionalitätsargument:477 Ein Merkmal intentionaler Zuschreibungen ist deren Intensionalität*. Von einem intensionalen Kontext* sprechen wir, wenn sich der Wahrheitswert eines Satzes auch dann ändern kann, wenn wir Ausdrücke durch einander ersetzen, die denselben Referenten besitzen. Dass intentionale Zuschreibungen intensionale Kontexte erzeugen, lässt sich am Beispiel von Überzeugungszuschreibungen zeigen. Nehmen wir an, die folgenden drei miteinander konsistenten* Sätze sind alle wahr: (1) Thomas glaubt, dass die Venus ein Planet ist. (2) Die Venus = der Abendstern.

477 Vgl. Tye 1995, S. 111 ff.

7.1 Sinneswahrnehmung 

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(3) Thomas glaubt, dass der Abendstern ein Stern und kein Planet ist. Wenn wir nun in Satz (1) den Ausdruck „die Venus“ durch den Ausdruck „der Abendstern“ ersetzen, der denselben Referenten hat, dann erhalten wir den Satz (4) Thomas glaubt, dass der Abendstern ein Planet ist. Und (4) muss klarerweise falsch sein, da wir bereits (3) als wahr angenommen haben und Thomas keine unverträglichen Meinungen zuschreiben sollten. Also erzeugen intentionale Zuschreibungen intensionale Kontexte, denn der Wahrheitswert von (1) hat sich durch die Ersetzung eines referenzgleichen Ausdrucks verändert. Wenn man die Zuschreibung von Sinneserfahrungen betrachtet, zeigt sich sehr schnell, dass auch sie intensionale Kontexte bilden. Betrachten Sie die drei folgenden Sätze, die alle zugleich wahr sein können: (5) Thomas erscheint der Gegenstand vor ihm als ein Tisch. (6) Ein Tisch = eine Konfiguration von Molekülen. (7) Thomas erscheint der Gegenstand vor ihm nicht als eine Konfiguration von Molekülen. Durch Ersetzung des Ausdrucks „ein Tisch“ in (5) durch „eine Konfiguration von Molekülen“ erhalten wir einen falschen Satz, weil dieser Satz (7) widerspricht. Zuschreibungen von Sinneserfahrungen bilden also genau wie Überzeugungszuschreibungen intensionale Kontexte. Und die beste Erklärung dafür lautet, dass Zuschreibungen von Sinneserfahrungen intentionale Zuschreibungen sind. Das Transparenzargument:478 Versuchen wir den Gehalt einer bestimmten Sinneserfahrung zu beschreiben: Wir sehen eine flaschenförmige Tomate mit einer kräftigen Rotfärbung an einem grünen Zweig vor uns in einer Blumenschale hängen. Diese Beschreibung der Erfahrung ist sicher nicht vollständig, aber sie artikuliert wesentliche Details des wahrgenommenen Szenarios. Es fällt auf, dass wir bei der Beschreibung unserer Erfahrung ausschließlich Begriffe verwenden, die wir auf Dinge in der Außenwelt anwenden, darunter räumliche Begriffe und Gestaltbegriffe. An der reinen Objektivität dieser Beschreibung würde sich auch dann nichts ändern, wenn wir beliebige weitere Details des Erfahrungsinhalts angeben würden. Der beschriebene Erfahrungsinhalt ist vollkommen objektiv oder durchsichtig (transparent) auf die Außenwelt hin. Indem wir ihn beschreiben, beschreiben wir die Außenwelt, so wie wir sie erfahren. Das spricht eindeutig für den intentionalen Gehalt der Sinneserfahrung.

478 Vgl. Tye 1995, S. 30 f.

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 7 Quellen des Wissens

7.1.2 Was für eine Art mentaler Zustand ist die Sinneserfahrung? Aufgrund der vorangegangenen Überlegungen ist es plausibel, dass Sinneserfahrungen einen intentionalen Gehalt haben. Es gibt jedoch sehr unterschiedliche Zustände mit intentionalem Gehalt. Um was für einen intentionalen Zustand handelt es sich bei der Sinneserfahrung? Auf diese Frage gibt es drei alternative Antworten: Sinneserfahrungen sind Überzeugungen (Armstrong 1961, Pitcher 1971), sie sind begrifflich-propositionale Zustände besonderer Art (Kant, Sellars 1999, McDowell 1994) oder sie sind nicht-begriffliche intentionale Zustände (Dretske 1969, Tye 1995). Die so genannte epistemische Theorie der Wahrnehmung behauptet, dass Sinneserfahrungen identisch mit Überzeugungen sind. Das hört sich zunächst extrem unplausibel an. Wenn ich irgendeine beliebige Überzeugung habe, z. B. dass der Kosmos durch den Urknall entstanden ist, dann habe ich sicher keine Sinneserfahrung von dieser Tatsache. Die epistemische Theorie gewinnt ihre Plausibilität erst, wenn man sie weiter spezifiziert. Sinneserfahrungen wären demnach solche Überzeugungen, die unmittelbar durch die Einwirkung auf unsere Sinnesorgane entstehen. Sinneserfahrungen sollen also mit Wahrnehmungs- oder Beobachtungsüberzeugungen identifiziert werden.479 Und das liegt deshalb besonders nahe, weil Überzeugungen die paradigmatischen Fälle von intentionalen Zuständen sind. Wenn Sinneserfahrungen mit Wahrnehmungsüberzeugungen identisch sind, dann müssen beide notwendig miteinander korreliert sein. Zwei Dinge sind nämlich nur dann identisch, wenn das eine notwendigerweise immer dann auftritt, wenn das andere auftritt. Aus der epistemischen Theorie der Wahrnehmung folgt deshalb, dass immer dann, wenn ein Gegenstand a von einem Subjekt S als F sinnlich erfahren wird, S auch glauben muss, dass a F ist. Und umgekehrt muss a von S immer dann als F sinnlich erfahren werden, wenn S die Wahrnehmungsüberzeugung hat, dass a F ist. Untersuchen wir zunächst, ob im Falle einer Sinnes­ erfahrung immer eine entsprechende Überzeugung vorliegt. Dagegen sprechen zwei Beobachtungen. Erstens gibt es Fälle, in denen sich eine Sinneserfahrung robust gegenüber widerstreitenden Überzeugungen erweist. Ein solcher Fall ist die bereits vorgestellte Müller-Lyer Illusion. Selbst wenn wir wissen (und folglich auch der Überzeugung sind), dass die Linien gleich lang sind, erleben wir sie dennoch als unterschiedlich lang. Die Sinneserfahrung stellt sich also offenbar auch ohne korrespondierende Überzeugung ein. Zweitens gibt es Fälle, in denen wir aufgrund von Erinnerung an früher wahrgenommene Situationen

479 Vgl. Jackson 1977, S. 47.

7.1 Sinneswahrnehmung 

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neue Überzeugungen erwerben. Stellen Sie sich vor, Sie fahren konzentriert Auto und achten dabei nicht auf die Farbe der Ihnen entgegenkommenden Autos. Wenn Sie nun vom Beifahrer gefragt werden, ob da nicht eben ein gelber VW entgegengekommen ist, dann können Sie sich oft eine Überzeugung zu dieser Frage bilden. Sie erinnern sich einfach an das zurück, was Sie wahrgenommen haben, worüber sie aber früher keine Überzeugung gebildet haben. Die von Ihnen erinnerte Sinnes­erfahrung muss also umfangreicher gewesen sein als der damalige Umfang Ihrer Überzeugungen. Umgekehrt lässt sich auch zeigen, dass es Wahrnehmungsüberzeugungen ohne entsprechende Sinneserfahrungen geben kann. Das Phänomen der Blindsicht kann diesen Fall besonders gut illustrieren. Blindsichtige Patienten haben in einer Hälfte ihres Gesichtsfeldes keine bewussten visuellen Erlebnisse. Dennoch sind sie in der Lage, auf Nachfrage relativ korrekt anzugeben, welche Objekte in derjenigen Hälfte des Gesichtsfeldes platziert sind, in der sie keine Seherlebnisse haben. Psychologen erklären dieses Phänomen damit, dass in unserem visuellen System eine unbewusste Informationsverarbeitung stattfinden kann. Blindsichtige Patienten bilden vielleicht keine echten Überzeugungen über die von ihnen nicht bewusst erlebten Gegenstände aus, sie raten eher nur auf Nachfrage. Aber es lässt sich leicht der Fall eines Superblindsichtigen denken, der ohne bewusste visuelle Erlebnisse unmittelbar korrekte Überzeugungen ausbildet. Dieser denkbare Fall widerlegt die These, dass Wahrnehmungsüberzeugungen notwendigerweise entsprechende Sinneserfahrungen implizieren. Die epistemische Theorie der Wahrnehmung ist deshalb falsch. Sehen wir uns nun Theorien an, die der Sinneserfahrung einen begrifflichpropositionalen Gehalt zuschreiben. Von deren Vertretern wird keineswegs behauptet, dass es eine rohe, unstrukturierte Empfindung, die keinen begrifflichpropositionalen Gehalt hat, nicht geben kann. Bereits Kant spricht ja davon, dass es Anschauungen ohne Begriffe gibt. Nur sind sie ihm zufolge eben „blind“ (KrV, B 75). Diese Formulierung lässt sich so verstehen, dass Erfahrungen ohne begrifflichen Gehalt nicht intentional, also keine Erfahrungen im eigentlichen Sinne sind. Wenn wir sehen, dass die Sonne untergeht, dann machen wir eine Erfahrung mit einem intentionalen und deshalb begrifflich-propositionalen Gehalt. Es sind diese Erfahrungen im eigentlichen Sinne, die für uns kognitive Relevanz besitzen. Sie können nämlich auch als Gründe für unsere Überzeugungen fungieren. Die Vertreter der begrifflichen Theorie sagen also in etwa Folgendes: Wenn wir Gegenstände in unserer Umgebung als so-und-so beschaffen erfahren, dann muss diese Erfahrung begrifflich artikuliert sein, weil sonst die Gegenstände nicht als so-und-so beschaffen repräsentiert werden könnten. Die Klassifikation der erfahrenen Gegenstände ist ohne Begriffe nicht möglich. Der begrifflich-propositionale Gehalt tritt im Fall einer Sinneserfahrung nicht zusammen mit einer

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Überzeugungseinstellung, sondern vielmehr mit einer Erfahrungseinstellung auf. Deshalb handelt es sich bei Sinneserfahrungen um propositionale Einstellungen besonderer Art, die von Überzeugungen zu unterscheiden sind. Um die These vom begrifflichen Gehalt der Sinneserfahrung richtig einschätzen zu können, müssen zunächst einige wichtige Merkmale von Begriffen beachtet werden. Allgemeinbegriffe sind Konstituenten von wahrheitsfähigen Gedanken (Propositionen), die einen Bezug auf Klassen von Dingen oder Eigenschaften haben. Sie klassifizieren Dinge so wie sprachliche Prädikate, sind aber als mentale Repräsentationen zu verstehen, die auch ohne eine natürliche Sprache vorliegen können. Es gibt nun mindestens zwei epistemische Bedingungen, die jemand erfüllen muss, damit man sagen kann, dass er über einen Begriff verfügt. Zunächst die Generalitätsbedingung: Wer über einen Begriff verfügt, der muss diesen Begriff im Prinzip auf unterschiedliche Dinge anwenden können. Dann die Wiedererkennungsbedingung: Wer über einen Begriff verfügt, der muss in der Lage sein, über die Zeit hinweg zu erfassen, ob verschiedene Dinge unter denselben Begriff fallen. Es genügt also nicht, dass er einen Gegenstand als F klassifiziert, sondern er muss zu einem unabhängigen Zeitpunkt auch sagen können, dass ein anderer Gegenstand ebenfalls unter denselben Begriff F fällt. Sehen wir uns jetzt das Hauptargument der Anhänger der Begrifflichkeitsthese an, das vor allem von John McDowell vertreten wird:480 (P1) (P2) (K)

Erfahrung im eigentlichen Sinne muss als rechtfertigender Grund für unsere Überzeugungen fungieren können. Als rechtfertigender Grund für Überzeugungen kann etwas nur dann fungieren, wenn es einen begrifflichen Gehalt hat. Erfahrung im eigentlichen Sinne hat einen begrifflichen Gehalt.

Warum meint McDowell, dass etwas als rechtfertigender Grund nur dann fungieren kann, wenn es einen begrifflichen Gehalt hat? Warum hält er also (P2) für zutreffend? Dafür lassen sich im Wesentlichen zwei Argumente identifizieren: Erstens ist McDowell der Auffassung, dass etwas nur dann ein rechtfertigender Grund für eine Überzeugung sein kann, wenn es in einer logisch-inferenziellen Beziehung zu dieser Überzeugung steht. Daher muss sich die gerechtfertigte Überzeugung also wie die Konklusion eines Arguments ableiten lassen. Solche inferenziellen Beziehungen bestehen nun nach McDowell nur zwischen propositionalen Zuständen, die aber immer einen Gehalt haben, der aus Begriffen

480 McDowell 1994.

7.1 Sinneswahrnehmung 

 365

zusammengesetzt ist. Deshalb müssen Erfahrungen als rechtfertigende Gründe einen begrifflichen Gehalt haben. Was ist von diesem Argument zu halten? Die Analyse des Rechtfertigungsbegriffs hat deutlich gemacht, dass inferenzielle Rechtfertigung nicht die einzige Art der Rechtfertigung ist. Deshalb muss man nicht akzeptieren, dass nur dasjenige ein rechtfertigender Grund für eine Überzeugung sein kann, was in einer inferenziellen Beziehung zu dieser Überzeugung steht. Es genügt, wenn der Grund die Überzeugung tatsächlich wahrscheinlich wahr macht. Doch selbst wenn man nur inferenzielle Rechtfertigungen akzeptiert, ist keinesfalls klar, dass nur begrifflich-propositionale Zustände die Rolle von Gründen übernehmen können. Wenn sich zeigen ließe, dass nicht-begriffliche Sinneserfahrungen dieselben Wahrheitsbedingungen haben können wie begrifflich strukturierte Propositionen, dann wäre eine inferenzielle Beziehung auch zwischen nicht-begrifflichen Zuständen und Überzeugungen möglich. Darauf werde ich gleich noch zurückkommen. Zweitens vertritt McDowell das so genannte Artikulationsargument. Danach müssen Gründe im Prinzip sprachlich artikulierbar sein, weil sie im Gespräch auf Nachfrage anführbar sein sollen. Um sprachlich artikulierbar zu sein, müssen sie nach McDowell jedoch begrifflich strukturiert sein. „Gründe, die das Subjekt angeben kann, insofern sie artikulierbar sind, müssen innerhalb des Raums der Begriffe liegen.“481 Auch dieses Argument kann nicht wirklich überzeugen. Erstens scheint es nicht zwingend zum Begriff des rechtfertigenden Grundes zu gehören, dass wir ihn gegenüber Gesprächspartnern auch angeben können. Zweitens folgt die Konklusion einfach nicht. Aus der Begrifflichkeit der Artikulation der Gründe folgt nicht die Begrifflichkeit der Gründe selbst. Wäre dem so, dann könnte man aus der sprachlichen Artikulierbarkeit der Welt durch Beschreibungen die unsinnige Schlussfolgerung ableiten, dass die Welt selbst sprachlich verfasst ist. Sehen wir uns jetzt die Theorien nicht-begrifflichen Erfahrungsgehalts an. Danach erfahren wir Gegenstände z. B. als rot oder rundlich, ohne dass dafür der Besitz der Begriffe ‚rot‘ oder ‚rund‘ erforderlich wäre. Sinneserfahrungen haben also objektive Wahrheits- oder Korrektheitsbedingungen in der Außenwelt, ohne dass dafür Begriffe notwendig sind. Für diese Auffassung spricht eine ganze Reihe von Gründen: Erstens können wir sinnlich sehr feine Rotschattierungen an gleichzeitig erfahrenen Gegenständen unterscheiden, die wir über die Zeit hinweg nicht wiedererkennen können. Wir können also zu einem Zeitpunkt erfahren, dass der Gegenstand a einen spezifischen Rot-Ton R1 hat und ein Gegenstand b einen anderen spezifischen Rot-Ton R2, auch wenn wir zu einem späteren Zeit-

481 McDowell 1994, S. 165, meine Übersetzung.

366 

 7 Quellen des Wissens

punkt niemals sagen können, ob ein weiterer Gegenstand R1 oder R2 ist. Das zeigt, dass wir Gegenstände als so-und-so beschaffen erfahren können, ohne dass wir die Wiedererkennungsbedingung für den Begriffsbesitz erfüllen. Zweitens scheint die Sinneserfahrung in ihrem Gehalt feingradiger und differenzierter zu sein, als es überhaupt durch Begriffe erfasst werden kann. Die sinnliche Differenziertheit von Farbschattierungen übersteigt beispielsweise unsere begrifflichen Ressourcen bei weitem.482 McDowell hat gegen dieses Argument eingewandt, dass man doch demonstrative Farbbegriffe zu jeder Farbschattierung bilden könne, indem man z. B. von „dieser Rotschattierung“ spricht.483 Solche demonstrativen Farbbegriffe können zweifellos gebildet werden. Aber ihr Bezug hängt davon ab, dass die jeweilige Farbschattierung unabhängig von diesem Begriff phänomenal gegeben ist. Solche Begriffe setzen also einen nicht-begrifflichen phänomenalen Gehalt der Erfahrung bereits voraus. Drittens scheint die Annahme überaus plausibel, dass höher entwickelte Tiere und Kleinkinder dieselben Sinneserfahrungen wie wir haben können, ohne oder bevor sie die entsprechenden Begriffe besitzen. Das zeigt, dass der Erfahrungsgehalt nicht vom Begriffsbesitz abhängen kann.484

7.1.3 Wie kann die Sinneserfahrung ein basaler Grund für unsere Überzeugungen über die Außenwelt sein? Fassen wir die Ergebnisse der bisherigen Überlegungen noch einmal kurz zusammen: 1. Die Sinneserfahrung hat einen intentionalen Gehalt mit Bezug auf die Außenwelt (intentionaler Realismus). 2. Die Sinneserfahrung hat einen nichtbegrifflichen Gehalt. Wenn es sich bei Sinneserfahrungen um nicht-begriffliche intentionale Zustände handelt, dann stellt sich nun die erkenntnistheoretisch entscheidende Frage: Wie kann die so charakterisierte Sinneserfahrung die Rechtfertigungsbasis für unser Wissen über die Außenwelt bilden? Diese Frage soll im Folgenden durch eine Auseinandersetzung mit drei inzwischen klassischen Einwänden gegen die These, dass Sinneserfahrungen basale Gründe für unser Wissen über die Außenwelt sind, beantwortet werden. Der erste Einwand besagt, dass Sinneserfahrungen überhaupt keine erkenntnistheoretischen Gründe sein können. Davidson hat ihn daraufhin zugespitzt, „dass nichts als Grund für eine Überzeugung in Frage kommt, was nicht selbst

482 Evans 1982, S. 229. 483 McDowell 1994, S. 56 f. 484 Evans 1982, S. 124.

7.1 Sinneswahrnehmung 

 367

eine Überzeugung ist.“485 Da Sinneserfahrungen, wie wir gesehen haben, keine Überzeugungen sind, scheiden sie folglich nach Davidson als plausible Kandidaten für rechtfertigende Gründe aus. Davidsons Argument lässt sich kurz wie folgt zusammenfassen: (P1) (P2) (K)

Ein Grund steht zu der Überzeugung, die durch ihn begründet wird, in einer logisch-inferenziellen Beziehung. Nur Überzeugungen stehen in logisch-inferenziellen Beziehungen zu Überzeugungen. Nur Überzeugungen können Überzeugungen begründen.

Davidson glaubt, dass es zwischen Sinneserfahrungen und Überzeugungen nur einen kausalen, aber eben keinen erkenntnistheoretischen Zusammenhang gibt.486 Dafür fehlt die logisch-inferenzielle Beziehung zwischen beiden. Was ist von diesem Argument zu halten? Beide Prämissen lassen sich angreifen. Man muss nicht akzeptieren, dass jeder rechtfertigende Grund die auf ihn gestützte Überzeugung inferenziell rechtfertigt. Der Externalismus lehnt eine solche Bedingung jedenfalls mit guten Gründen ab. (P2) ist also angreifbar. Aber selbst wenn man Internalist ist und die Auffassung vertritt, dass Gründe evidenziell sein müssen und deshalb in einer logisch-inferenziellen Beziehung zu den auf sie gestützten Überzeugungen stehen müssen, kann man (P2) dennoch ablehnen. Denn Davidson glaubt offenbar, dass nur Überzeugungen (und möglicherweise andere propositionale Einstellungen) intentional auf die Außenwelt gerichtet sind. Wir haben jedoch im letzten Abschnitt gesehen, dass auch nichtpropositionale Zustände wie eine nicht-begriffliche Sinneserfahrung intentional auf die Außenwelt gerichtet sein können. Wenn das so ist, dann kann es einen quasi-inferenziellen Zusammenhang zwischen Sinneserfahrungen und Überzeugungen geben, und zwar in dem Sinne, dass in jeder Situation, in der die Erfahrung korrekt ist, auch die auf sie gestützte Überzeugung korrekt sein muss. Wenn die Korrektheit der Erfahrung die Wahrheit der auf sie gestützten Überzeugung erzwingt, dann impliziert die erstere die letztere logisch. Selbst wenn man also

485 Vgl. Davidson 1996, S. 256. 486 Vgl. Davidson 1996, S. 259: „Die Beziehung zwischen einer Empfindung und einer Überzeugung kann nicht logischer Natur sein, denn Empfindungen sind weder Überzeugungen, noch lassen sie sich mit irgendwelchen anderen propositionalen Einstellungen identifizieren. Aber um was für eine Beziehung handelt es sich dann? (…) Es handelt sich um eine Kausalbeziehung. Empfindungen sind Ursachen einer Reihe von Überzeugungen und in diesem Sinne bilden sie tatsächlich das Fundament oder die Basis für jene Überzeugungen.“

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 7 Quellen des Wissens

eine inferenzielle Theorie der Gründe vertritt, muss man die nicht-begriffliche Sinneserfahrung keineswegs aus dem logischen Raum der Gründe ausschließen. Der zweite Einwand richtet sich nicht prinzipiell gegen Sinneserfahrungen als Gründe. Er bestreitet nur, dass sie basale Gründe sein können, wenn sie denn überhaupt Gründe sind. Jeder Grund bedarf demnach seinerseits einer (inferenziellen) Begründung. Dieser Einwand hängt eng mit Wilfried Sellars so genanntem Mythos des Gegebenen zusammen. Sellars drückt sich auch so aus, dass es im logischen Raum der Gründe keine „unbewegten Beweger“ gibt.487 Man kann den Einwand in Form eines Dilemmas für den empirischen Fundamentalismus wiedergeben:488 Dilemma für den empirischen Fundamentalismus Entweder die Sinneserfahrung hat einen intentionalen Gehalt oder sie hat keinen solchen Gehalt. Wenn sie einen intentionalen (und wahrheitsfähigen) Gehalt hat, dann kann sie Überzeugungen über die Außenwelt inferenziell rechtfertigen  – allerdings nur konditional. Wenn es wahrscheinlich wahr ist, was die Sinneserfahrung über die Welt sagt, dann ist eine aus dieser Erfahrung inferenziell abgeleitete Überzeugung über die Außenwelt gerechtfertigt. Allerdings muss dann die wahrscheinliche Wahrheit der Sinneserfahrung ihrerseits noch inferenziell gerechtfertigt werden. In diesem Fall ist die Sinneserfahrung kein basaler Grund mehr. Oder die Sinneserfahrung hat keinen intentionalen Gehalt. Dann kann sie eine Überzeugung über die Außenwelt nicht mehr inferenziell rechtfertigen und ist deshalb gar kein Grund. Auch in diesem Fall ist die Erfahrung kein basaler Grund, eben weil sie überhaupt kein Grund ist.

Auch dieses Argument lässt sich zurückweisen. Man kann beide Hörner des Dilemmas angreifen. Wenn Sinneserfahrungen einen intentionalen Gehalt haben und Überzeugungen über die Außenwelt inferenziell rechtfertigen, dann müssen sie dennoch nicht selbst durch weitere inferenzielle Gründe gerechtfertigt werden. Es gibt doch unbewegte Beweger im logischen Raum der Gründe. Dabei handelt es sich um Gründe, die selbst zuverlässig gebildet wurden und deshalb im externalistischen Sinne gerechtfertigt sind. Man kann aber auch das zweite Horn des Dilemmas angreifen und sagen, dass perzeptuelle Prozesse Überzeugungen über die Außenwelt nicht-inferenziell rechtfertigen können, wenn die auf diese Weise gebildeten Überzeugungen zuverlässig sind. Auch dieser Ausweg aus dem Dilemma ist externalistisch begründbar. Da sich jedoch der intentionale Realismus als die vielversprechendste Wahrnehmungstheorie herausgestellt hat, empfiehlt sich ein Angriff auf das erste Horn des Dilemmas. Die Sinneswahrneh-

487 Sellars 1999, S. 67. 488 Vgl. dazu Sellars 1999, Abschnitt 8; BonJour 1985, S. 69, hat Sellars Mythos als Dilemma generalisiert.



7.2 Apriorisches Wissen 

 369

mung ist demnach eine basale Quelle des Wissens und der Rechtfertigung, weil Sinneserfahrungen aufgrund ihrer Zuverlässigkeit erste (unbewegte) inferenzielle Gründe für unsere Überzeugungen über die Außenwelt sind. Das Dilemma setzt nämlich einen Zugangsinternalismus voraus, der nach allem, was wir über den Begriff der Rechtfertigung herausgefunden haben, eher unplausibel ist. Der dritte Einwand räumt schließlich ein, dass Sinneserfahrungen basale Gründe sein können, insistiert jedoch darauf, dass diese Gründe nicht unser gesamtes Wissen über die Außenwelt stützen können, weil sie es radikal unterbestimmt lassen. Dieser Einwand verliert schnell seine Plausibilität, wenn man berücksichtigt, dass die basalen empirischen Gründe Informationen über die Außenwelt enthalten, wenn der intentionale Realismus richtig ist. Die Basis ist zwar nicht absolut fest und unanfechtbar, sondern nur zuverlässig. Deshalb sind Rechtfertigungen durch Sinneserfahrungen stets auch offen für gerechtfertigte Revisionen. Die Basis ist jedoch breit genug, um mit Hilfe von deduktiven, induktiven und abduktiven Schlüssen auch theoretisches Wissen über die Welt zu fundieren. Wahrnehmung kann somit als basale Quelle des Wissens und der Rechtfertigung verteidigt werden. Sinneserfahrungen beziehen sich intentional unmittelbar auf die Außenwelt. Es handelt sich bei ihnen um nicht-begriffliche Zustände, die auch als fehl- und anfechtbare erste Gründe verstanden werden können, wenn man einen erkenntnistheoretischen Externalismus akzeptiert.

7.2 Apriorisches Wissen In vielen Fällen erwerben wir unser Wissen mehr oder weniger direkt durch Sinneswahrnehmung. Dass heute ein sonniger Tag ist, weiß ich, weil ich es gerade durch das Fenster meines Arbeitszimmers sehe. Dass ein Haus einstürzt, wenn man seine Fundamente untergräbt, weiß ich zwar auch ohne es im konkreten Fall empirisch zu beobachten. Ich weiß es jedoch nur aufgrund von früheren Erfahrungen. Es gibt jedoch eine Reihe von Dingen, die wir offenbar unabhängig von jeglicher Erfahrung wissen oder zumindest gerechtfertigt glauben. Um herauszubekommen, dass 2+2=4 ist, muss ich keine wahrnehmbaren Dinge abzählen, ich weiß es allein durch Nachdenken. Einen ähnlichen Status haben die folgenden Aussagen: (1) Keine Aussage ist zugleich wahr und falsch. (Satz vom Widerspruch) (2) Junggesellen sind unverheiratet. (3) Nichts kann zugleich ganz rot und ganz grün sein. (4) Was man weiß ist wahr.

370 

 7 Quellen des Wissens

Jede dieser Aussagen kann ich wissen, ohne ihre Gegenstände zuvor empirisch zu untersuchen oder mich auf allgemeines empirisches Wissen zu stützen. Ich weiß, was ich weiß, ganz unabhängig von jeglicher Erfahrung, das heißt rein a priori. Logiker, Semantiker, Mathematiker und natürlich auch Philosophen interessieren sich besonders für dieses Wissen, das zumindest auf den ersten Blick keine sinnliche Quelle hat. Kant gilt als der erste, der den Begriff a priori zur Charakterisierung einer erfahrungsunabhängigen Quelle des Wissens oder der Rechtfertigung verwendet hat und analog den Begriff a posteriori* zur Charakterisierung erfahrungsbasierten Wissens und erfahrungsbasierter Rechtfertigung. In seiner Kritik der reinen Vernunft heißt es: [O]b es ein dergleichen von der Erfahrung und selbst von allen Eindrücken der Sinne unabhängiges Erkenntnis gebe [das ist die entscheidende Frage, TG]. Man nennt solche Erkenntnisse a priori, und unterscheidet sie von den empirischen, die ihre Quellen a posteriori, nämlich in der Erfahrung haben.489

Zwar gab es Philosophen, die solche nicht-empirischen Erkenntnisquellen annehmen, die so genannten Rationalisten, bereits in der Antike (Platon, Plotin, vermutlich auch Aristoteles) und in der frühen Neuzeit (Descartes und Leibniz), aber der Begriff a priori hatte vor Kant eine ganz andere Bedeutung: Eine Erkenntnis galt als a priori, wenn sie auf einem Schluss von der Ursache auf ihre Wirkung beruhte, und als a posteriori, wenn von den Wirkungen auf die Ursache zurück geschlossen wurde.490 Wenn man sagt, dass apriorisches Wissen eine erfahrungsunabhängige Quelle hat, dann heißt das nicht unbedingt, dass wir dieses Wissen haben können, ohne je irgendwelche Erfahrungen gemacht zu haben. Um nämlich die Wahrheit einer der oben angeführten Aussagen erkennen zu können, müssen wir diese Aussagen zunächst einmal verstehen und entsprechende Gedanken denken können. Dazu ist das empirische Erlernen einer Sprache oder zumindest (wenn man die Fähigkeit zu denken nicht vom Sprachbesitz abhängig macht) der Erwerb empirischer Begriffe wie ‚Wissen‘, ‚Junggeselle‘ oder ‚rot‘ erforderlich. Diese empirischen Voraussetzungen unseres Wissens soll seinen apriorischen Status jedoch nicht in Frage stellen. Wenn man sagt, dass jemand etwas a priori weiß, will man damit nur sagen, dass man, wenn man den Gedanken bereits

489 Kant 1998, B 2. 490 Allerdings wurde ‚a priori‘ gelegentlich auch schon vor Kant als Begriff für nicht-empirische Erkenntnisquellen verwendet. Vgl. dazu Leibniz 1996, Band 3.2., S. 429, oder Hume 1993, S. 37. Kant hat jedoch diese neue Bedeutung in der Philosophie durchgesetzt.



7.2 Apriorisches Wissen 

 371

denken kann, keine zusätzliche Erfahrung benötigt, um daraus Wissen oder eine gerechtfertigte Überzeugung zu gewinnen. Im näheren Umfeld des Begriffspaares a priori – a posteriori gibt es andere Begriffe, die von ihnen sorgfältig unterschieden werden müssen, um Verwirrungen zu vermeiden. Wie wir gesehen haben, charakterisieren a priori und a posteriori die Quellen unseres Wissens. Wenn man dagegen von notwendigen oder kontingenten* Tatsachen spricht, wird damit etwas über den metaphysischen Status dieser Tatsachen ausgesagt. Notwendige Tatsachen hätten nicht anders sein können, als sie tatsächlich (d. h. aktual) sind. Dass Wasser H2O ist, ist z. B. eine notwendige Tatsache. Wasser hätte nicht etwas anderes als H2O sein können. Sonst wäre es eben kein Wasser gewesen. Dass ich jetzt gerade existiere, ist dagegen eine kontingente Tatsache. Ich hätte auch nicht existieren können, und zwar dann, wenn meine Eltern mich nicht gezeugt hätten. Ein weiteres wichtiges Begriffspaar im Umfeld ist die semantische Unterscheidung zwischen analytischen* und synthetischen* Sätzen (oder Gedanken). Auch diese Unterscheidung geht terminologisch auf Kant zurück. Allerdings gibt es bereits bei Locke und Hume Überlegungen, die in eine ähnliche Richtung weisen. Ein analytischer Satz ist demnach wahr allein aufgrund seiner Bedeutung (so wäre der Satz „Junggesellen sind unverheiratet“ auch dann wahr, wenn die Welt ganz anders beschaffen wäre, als sie aktual beschaffen ist), ein synthetischer Satz ist dagegen wahr aufgrund der Bedeutung und der Welt (so wäre der Satz „Heute ist ein sonniger Tag“ nicht wahr, wenn das Wetter anders gewesen wäre).491 Kant hat angenommen, dass es zwischen den eben genannten Begriffspaaren einige interessante Beziehungen gibt: (K1) Apriorisches Wissen liegt dann und nur dann vor, wenn Wissen von einer notwendigen Tatsache vorliegt.492 (K2) Alle analytischen Aussagen sind a priori erkennbar.493

491 Locke 1988, Band 2, 4. Buch, Kap. 8, S. 281–293, spricht von ‚inhaltslosen Sätzen‘ (trifling propositions), die wahr sind und gewiss erkannt werden können, aber durch die wir nichts über die Welt lernen können, weil sie entweder aufgrund ihrer logischen Form (A = A) wahr sind oder weil „ein Teil einer komplexen Idee von dem Namen der ganzen ausgesagt wird“ (ebd. S. 286), wie etwa in dem Satz „Gold ist gelb“. Hume antizipiert die Kategorie analytischer Sätze, indem er von Sätzen spricht, die nicht aufgrund von Tatsachen in der Welt wahr sind, sondern aufgrund der „Beziehung zwischen Ideen“ (relations of ideas). Vgl. Hume 1993, S. 35. 492 Kant 1998, B 3–5. Eine ähnliche Auffassung findet sich schon bei Leibniz 1996 (Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand) Band I, Vorwort, S. XI. 493 Kant 1998, B 11 f.

372 

 7 Quellen des Wissens

(K3) Es gibt neben synthetischen Aussagen a posteriori auch synthetische Aussagen, die a priori erkannt werden können.494 Alle drei Thesen sind vor allem im 20. Jahrhundert heftig angegriffen worden. Saul Kripke war wohl der erste, der darauf hingewiesen hat, dass es sehr wohl empirisches Wissen von notwendigen Tatsachen geben kann.495 Wir wissen nämlich beispielsweise durch die empirischen Wissenschaften, dass Wasser H2O ist, obwohl es sich dabei um eine notwendige Tatsache handelt. Kripke hat umgekehrt auch zu zeigen versucht, dass es kontingente Tatsachen gibt, von denen wir apriorisches Wissen haben. Sein berühmtestes Beispiel ist das Wissen, dass der Urmeter in Paris einen Meter lang ist.496 Es ist klar, dass es sich dabei um eine kontingente Tatsache handelt. Denn der Stab hätte selbstverständlich auch länger oder kürzer sein können, als er tatsächlich ist. Aber nach Kripke weiß zumindest derjenige, der diesen Maßstab einführt, a priori, dass dieser Stab aktual einen Meter lang ist, weil er selbst mit Hilfe dieses Stabes festlegt, was es bedeutet, einen Meter lang zu sein. Er muss also nicht noch zusätzlich irgendetwas durch Erfahrung über den Stab herausfinden, um zu wissen, dass er einen Meter lang ist. Die Einführung der Maßeinheit des Meters durch den Metermaßstab reicht dafür aus. Apriorisches Wissen dieser Art hat aber nur derjenige, der die Referenz von „einem Meter“ festlegt, und zwar auch nur in der Situation, in der er diese Festlegung vornimmt. Sollte er zu einem späteren Zeitpunkt den Maßstab vorfinden, so muss er erst einmal durch empirische Untersuchungen über die Geschichte des Stabes sicherstellen, dass es sich um den echten Urmeter handelt und dass dieser in der Zwischenzeit seine Länge nicht verändert hat, damit er wissen kann, dass der Stab wirklich einen Meter lang ist. Es lassen sich jedoch noch andere Beispiele für das anführen, was Kripke zeigen möchte. Wenn wir nämlich über den Begriff Wasser verfügen, dann wissen wir a priori, dass Wasser eine durchsichtige Flüssigkeit ist, weil diese Eigenschaft festlegt, worauf der Begriff ‚Wasser‘ in der aktualen Welt referiert. Dennoch hätte Wasser unter ganz anderen Umweltbedingungen völlig andere Eigenschaften haben können. Über unsere Kenntnis der referenzfixierenden Eigenschaften von Begriffen können wir also apriorisches Wissen von kontingenten Tatsachen erwerben. Diese Überlegungen legen nahe, dass (K1) falsch ist. Aber auch (K2) ist nicht unproblematisch. Das kann eine einfache Überlegung zeigen. Wenn analytische Aussagen wahr aufgrund ihrer Bedeutung sind, dann können wir ihre Wahrheit offenbar erkennen, indem wir ihre Bedeutung erkennen. Doch wenn Bedeutungen einer natürlichen Sprache von den gelten-

494 Kant 1998, B 19 f. 495 Kripke 1981, S. 118 ff. 496 Vgl. dazu Kripke 1981, S. 68.



7.2 Apriorisches Wissen 

 373

den Konventionen einer Sprachgemeinschaft abhängen, dann ist offenbar empirisches Wissen von diesen Konventionen erforderlich, um die Wahrheit analytischer Aussagen zu erfassen. Es ist also sehr fraglich, ob analytische Sätze a priori erkennbar sind. Kant würde hier sicher einwenden, dass seine These (K2) sich nicht auf linguistische Aussagen in einer natürlichen Sprache bezieht, sondern auf mentale Gedanken bzw. Urteile. Bezüglich analytischer Gedanken ist seine These viel plausibler. Denn um die Bedeutung der eigenen Gedanken zu erfassen, braucht man vermutlich kein empirisches Wissen. Man versteht sie unmittelbar. Wie steht es hingegen mit Kants These (K3)? Unter den Beispielsätzen für apriorisches Wissen am Beginn dieses Abschnittes gibt es offenbar auch solche, die eher nicht wie analytische Sätze aussehen, z. B. die Aussage (3). Wenn ich erfasse, dass nichts zugleich ganz rot und ganz grün ist, dann nicht einfach deshalb, weil die Begriffe ‚rot‘ und ‚grün‘ einander ausschließen. Bei diesen Begriffen handelt es sich offenbar um phänomenale Begriffe, die primär durch die entsprechenden Erfahrungen erworben werden und somit nicht weiter definierbar sind. Dennoch scheinen wir durch reines Nachdenken allein dazu fähig, die Wahrheit von (3) zu erkennen. Die apriorische Erkenntnis synthetischer Wahrheiten wirft jedoch mindestens zwei Probleme auf. Erstens: Wir können vielleicht verstehen, wie wir analytische Wahrheiten erkennen können, nämlich durch das Verstehen ihrer Bedeutung. Aber synthetischen Erkenntnissen a priori scheint eine sehr rätselhafte und unbekannte Erkenntnisquelle zugrunde zu liegen, die wir nur schwer erklären können. Zweitens: Wir können sehr gut verstehen, wie wir durch Sinneswahrnehmung Wissen über die Außenwelt gewinnen können. Wahrnehmung ist nämlich das Produkt einer kausalen Einwirkung der Welt auf uns. Aber rationale Einsichten sind nicht das Produkt einer kausalen Einwirkung der Welt auf unser Denken. Deshalb bleibt es rätselhaft, wie wir durch solche Einsichten einen erkenntnistheoretischen Zugang zur Welt bekommen sollen.

7.2.1 Präzisierungsversuche der Kantischen Definition Kants Definition des apriorischen Wissens ist rein negativ. Sie sagt ausschließlich, um was für eine Wissensquelle es sich dabei nicht handelt, nämlich um Sinneserfahrung. Seine Definition sagt jedoch nichts positiv darüber aus, wie diese Quelle genauer beschaffen ist. Eine solche negative Definition ist jedoch zu unspezifisch, um all das auszuschließen, was wir üblicherweise nicht als Wissen a priori bezeichnen. Viele Konzeptionen des privilegierten Selbstwissens nehmen beispielsweise an, dass Selbstwissen nicht auf irgendwelchen evidenziellen Gründen beruht, sondern unmittelbar und direkt ist. Doch wenn das Wissen von den gegenwärtigen eigenen Erlebnissen und Gedanken nicht auf evidenziellen

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 7 Quellen des Wissens

Gründen beruht, dann beruht es gewiss auch nicht auf Erfahrung. Dennoch ist es unplausibel, solches Selbstwissen als a priori zu bezeichnen.497 Ein ähnliches Problem taucht im Zusammenhang mit der Erinnerung auf. Erinnerung beruht nicht immer auf Erinnerungserlebnissen, sondern besteht manchmal einfach darin, dass Informationen in einem kognitiven System über die Zeit hinweg erhalten und weitergeleitet werden. Das passiert beispielsweise regelmäßig, wenn Schlüsse gezogen werden. In diesem Fall gibt es keine evidenziellen Erinnerungsgründe. Dennoch bezeichnen wir diese Art von Erinnerung nicht als apriorische Wissensquelle. Diese Probleme mit der rein negativen Definition des apriorischen Wissens machen eine positive Ausgestaltung wünschenswert. Dazu gibt es eine Reihe von Vorschlägen, die im Folgenden nacheinander diskutiert werden sollen. Angeborenes Wissen: Bereits in Platons Anamnesislehre finden sich Ansätze zu einer Theorie angeborenen Wissens. Genau genommen wird das Wissen von den Ideen bei Platon vorgeburtlich erworben. In der frühen Neuzeit wird die These angeborenen Wissens u. a. von Descartes und Leibniz vertreten. Für apriorisches Wissen scheint es aber nicht notwendig zu sein, dass Wissen angeboren ist. Die Angeborenheit ist nicht notwendig, weil wir unbeschränkt viel neues apriorisches Wissen etwa in der Mathematik durch die Anwendung von spezifischen Methoden oder durch neue empirische Begriffe erwerben können. Es ist weder manifest noch dispositional als Wissen angeboren. Dass Wissen angeboren ist, scheint auch nicht hinreichend dafür zu sein, dass dieses Wissen nicht-empirisch ist. Nach der Evolutionstheorie wird Wissen vererbt, wenn es durch Mutation zufällig erworben wurde und sich im Wettbewerb um die besten Fortpflanzungsmöglichkeiten bewährt hat. Der empirische Prozess der Selektion spielt hier also eine entscheidende Rolle für den Überzeugungserwerb und ist mit der Erfahrungsunabhängigkeit apriorischen Wissens nicht in Einklang zu bringen. Vertreter der evolutionären Erkenntnistheorie sprechen deshalb auch davon, dass angeborenes Wissen zwar individualgeschichtlich a priori, aber stammesgeschichtlich a posteriori ist. Dieses Argument beruht jedoch auf einer Verwechselung. Mutation und Selektion sind sicher Prozesse, die empirisch entdeckt wurden. Aber sie beruhen nicht auf Sinneserfahrung. Das aber müssten sie, damit das angeborene Wissen einen aposteriorischen Status bekäme. Der Evolutionstheoretiker müsste also Lamarckist sein (d. h. annehmen, dass durch Erfahrung erworbene Merkmale und Kompetenzen vererbt werden), um dafür argumentieren zu können, dass angeborenes Wissen letztlich empirisch ist. Aber diese Auffassung wider-

497 Anderer Auffassung ist dagegen Burge 1993.



7.2 Apriorisches Wissen 

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spricht der Darwinschen Evolutionstheorie. Dennoch lässt sich festhalten, dass Angeborenheit zumindest nicht notwendig für apriorisches Wissen ist.498 Infallibilität: In der rationalistischen Tradition wurden apriorische Gründe vielfach mit unfehlbaren Gründen gleichgesetzt. Descartes ist etwa der Auffassung, dass alles, „was ich klar und deutlich [a priori, TG] einsehe (…) wahr ist“.499 Und für Kant ist apriorische Erkenntnis „das Beispiel der apodiktischen (…) Gewissheit“.500 Auch für Frege wäre es geradezu ein Kategorienfehler, von einem falschen Urteil a priori zu sprechen, weil der apriorische Grund ihm zufolge die Wahrheit des Urteils garantiert: „Ein Irrtum a priori ist dann ebensolches Unding wie etwa ein blauer Begriff.“501 Unfehlbarkeit ist jedoch weder notwendig noch hinreichend für apriorische Gründe. Sie ist nicht notwendig, weil die als a priori charakterisierten Gründe primär durch ihre Quelle, nicht aber durch ihre Stärke charakterisiert werden.502 Es gibt eine Vielzahl von Beispielen für Gründe, die wir intuitiv als a priori klassifizieren, die aber dennoch fehlbar sind. So können uns z. B. in mathematischen Beweisen, die nirgendwo von Erfahrung abhängen, stets Rechenfehler unterlaufen. Ferner würde kaum jemand bestreiten, dass Frege seine Grundgesetze der Arithmetik durch reines Nachdenken gerechtfertigt hat. Als Russell dann später herausfand, dass Freges Theorie einen Widerspruch enthält, hat er damit vielleicht gezeigt, dass sie falsch ist und Frege deshalb kein apriorisches Wissen haben konnte. Aber das zeigt keineswegs, dass Freges Überlegungen seine Theorie nicht a priori gerechtfertigt haben. Sofern wir Mathematik und Logik für rein apriorische Disziplinen halten und einen Fortschritt in diesen Disziplinen annehmen, müssen wir unterstellen, dass auch apriorische Rechtfertigungen fallibel sind. Es scheint damit klar, dass es weder systematische noch intuitive Gründe gibt, von einer apriorischen Rechtfertigung eine maximale

498 Konrad Lorenz 1941 wird immer wieder als Vater des problematischen Arguments genannt. Tatsächlich hat er es aber gar nicht vertreten. Er meint nur, dass angeborene Strukturen in dem Sinne stammesgeschichtlich aposteriori sind, dass sie nicht absolut notwendig, sondern kontingenterweise entstanden sind. Hier wird also „apriori“ nicht erkenntnistheoretisch verwendet, sondern mit „absoluter Notwendigkeit eines Phänomens“ unzulässig gleichgesetzt. Vgl. Lorenz 1941, S. 96: „Etwas in stammesgeschichtlicher Anpassung an die Gesetze der natürlichen Aussenwelt Entstandenes ist in gewissem Sinne aposteriori entstanden, wenn auch auf durchaus anderem Wege als dem der Abstraktion oder aber Deduktion aus vorangegangener Erfahrung. Die funktionellen Ähnlichkeiten, die viele Forscher zu lamarckistischen Anschauungen über das Entstehen erblicher Reaktionsweisen aus vorangegangener „Arterfahrung“ führten, sind heute als völlig irrig erkannt.“ 499 Vgl. Descartes 1992, S. 63. 500 Kant 1998, A XV. 501 Frege 1987, S. 27. 502 Vgl. Casullo 2003, Kap. 2.

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 7 Quellen des Wissens

Stärke im Sinne der Unfehlbarkeit zu fordern.503 Unfehlbarkeit ist jedoch auch nicht hinreichend für Apriorität. Es gibt vermutlich sehr unterschiedliche Wege, wie wir uns von unserer eigenen Existenz überzeugen können. Eine Möglichkeit besteht darin, dass wir uns auf unser Köpergefühl stützen. Wenn wir uns auf diese Quelle stützen, dann erlangen wir ein empirisches Wissen von unserer eigenen Existenz. Unsere Gründe dafür sind jedoch unfehlbar, denn über die eigene Existenz kann man sich nicht täuschen. Doch unser Wissen davon kann nicht a priori sein, weil wir es auf empirischem Weg erlangt haben. Empirische Unanfechtbarkeit: Eine andere Möglichkeit, die Erfahrungsunabhängigkeit der apriorischen Rechtfertigung auszubuchstabieren, besteht darin, dass man nur solche Rechtfertigungen als a priori bezeichnet, die durch Erfahrung nicht anfechtbar sind.504 Zunächst einmal lässt sich schnell einsehen, dass eine solche Unanfechtbarkeit für apriorische Rechtfertigung nicht notwendig ist. Überzeugungen können nämlich generell auch dann durch eine Art von Quelle gerechtfertigt sein, wenn ihre Rechtfertigung durch eine Quelle anderer Art angefochten werden kann. Nehmen Sie folgendes Beispiel: Sie erinnern sich daran, dass Sie Ihr Auto gestern Abend vor Ihrem Haus abgestellt haben. Diese Erinnerung und einige plausible Zusatzannahmen rechtfertigen Ihre Überzeugung, dass Ihr Auto am nächsten Morgen immer noch vor Ihrem Haus steht. Sollten Sie jedoch nachsehen und das Auto nicht mehr vorfinden, dann würde Ihre frühere Rechtfertigung durch neue Sinneswahrnehmungen neutralisiert. Doch obwohl Erinnerungsüberzeugungen durch Wahrnehmung widerlegt werden können, folgt daraus nicht, dass sie nicht durch Erinnerung gerechtfertigt sind, solange es keine tatsächlichen Anfechtungsgründe gibt. Andererseits ist es auch nicht hinreichend für die apriorische Rechtfertigung, wenn eine Überzeugung empirisch nicht anfechtbar ist. Nehmen Sie einmal an, Sie würden durch psychologische Untersuchungen auf notwendige Strukturmerkmale jeder Erfahrung stoßen. Wenn es sich tatsächlich um notwendige Strukturmerkmale der Erfahrung handelt, dann ist Ihre diesbezügliche Überzeugung durch Erfahrung nicht anfechtbar. Doch eine psychologisch gerechtfertigte Überzeugung ist sicher nicht a priori gerechtfertigt. Intellektuelles Scheinen der Notwendigkeit: Die so genannten neuen Rationalisten in der gegenwärtigen Erkenntnistheorie sind überwiegend der Auffassung, dass apriorische Gründe uns eine fragliche Aussage immer als notwendig wahr erscheinen lassen.505 Aber eine solche Bedingung scheint klarerweise zu stark

503 Vgl. auch BonJour 1998, S. 110 ff. 504 Vgl. in diesem Sinne auch Kitcher 2000. 505 Vgl. Bealer 1998, S. 207; BonJour 1998, S. 101.



7.2 Apriorisches Wissen 

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zu sein. Wenn wir mathematisches Wissen a priori erwerben, dann erfassen wir z. B., dass 2+2=4 ist, aber nicht unbedingt, dass diese Tatsache notwendig ist. Dasselbe gilt auch für unsere intuitiven Urteile über Gettierfälle. Sie scheinen apriori zu sein, doch wir urteilen nicht, dass die Protagonisten im Gettierfall notwendigerweise kein Wissen haben, sondern nur, dass sie kein Wissen haben. Selbstevidenz: Häufig wird auch die Auffassung vertreten, dass a priori gerechtfertigte Überzeugungen selbstevident sind. Eine Überzeugung ist selbstevident, wenn einem ihre Wahrheit allein aufgrund des Verstehens des durch sie ausgedrückten Gedankens unmittelbar einleuchtet. Damit ist in etwa das gemeint, was bereits Descartes mit dem Kriterium* der Klarheit und Deutlichkeit im Sinn hatte. Rechtfertigungen durch Selbstevidenz sind deshalb nicht-empirisch, weil zur Rechtfertigung nichts weiter erforderlich ist als das Verstehen des Gedankens selbst. Nun könnte man vielleicht einwenden, dass nicht alle a priori gerechtfertigten Überzeugungen selbstevident sind. So kann man beispielsweise in der Logik durch Beweise Überzeugungen a priori rechtfertigen, die für sich genommen nicht unmittelbar einleuchten. Das ist jedoch kein schlagender Einwand. Wir fassen nämlich generell Inferenzen so auf, dass sie die Rechtfertigung der Prämissen auf die Konklusion transferieren. Auch Theorien, die durch induktive oder abduktive Schlüsse auf Erfahrung gestützt sind, bezeichnen wir als durch Erfahrung gerechtfertigt, selbst wenn wir den Inhalt theoretischer Überzeugungen natürlich nicht direkt wahrnehmen können. Man müsste also genauer sagen, dass diejenigen Überzeugungen, die unmittelbar a priori gerechtfertigt sind, selbstevident sind. Das Phänomen der Selbstevidenz wird häufig auch als rationale Einsicht oder rationale Intuition bezeichnet. Dies scheint die bestmögliche Charakterisierung apriorischer Rechtfertigung zu sein.506

7.2.2 Argumente für apriorische Erkenntnis Die Existenz apriorischen Wissens oder apriorischer Rechtfertigung wird zumeist durch indirekte Argumente verteidigt. Indirekte Argumente verteidigen etwas, indem sie zeigen, dass es verheerende Konsequenzen hätte, wenn dasjenige, was verteidigt werden soll, nicht der Fall wäre. Es gibt zwei verschiedene Arten von indirekten Argumenten für apriorisches Wissen: Exklusivitätsargumente und Selbstaufhebungsargumente. Exklusivitätsargumente argumentieren dafür, dass wir von bestimmten Gegenstandsbereichen, von denen wir klarerweise Wissen

506 Vgl. dazu ausführlicher Audi 1999.

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 7 Quellen des Wissens

haben, nur auf eine exklusive Art und Weise wissen können, nämlich a priori. Diese Argumente haben die folgende Form: (P1) (P2)

Wir haben Wissen von X. X können wir nur a priori wissen.

(K)

Also haben wir apriorisches Wissen.

Es gibt nun zumindest drei Gegenstandsbereiche, bei denen nicht zu erkennen ist, wie wir empirisches Wissen von ihnen haben können. Da ist zunächst unser Wissen von logischen und mathematischen Wahrheiten.507 Ferner können wir offenbar nicht nur Tatsachen erkennen, die de facto notwendig sind, sondern wir können auch erkennen, dass sie notwendig sind. Wir können also den modalen Status notwendiger Tatsachen erkennen. Auch hier sieht man nicht, wie wir diese anders erkennen könnten, als dadurch, dass sich das jeweilige Gegenteil nicht denken lässt.508 Denkbarkeit ist aber eine apriorische Methode, um Möglichkeiten und (über das, was in allen denkbaren Situationen der Fall ist) auch Notwendigkeiten als solche zu erkennen. Schließlich können wir auch philosophisches Wissen nicht ohne weiteres empirisch erklären. George Bealer meint sogar, dass der Rekurs auf rationale Intuitionen die Standardmethode der Philosophie ist.509 Wenn wir z. B. verstehen wollen, was Willensfreiheit, Wahrheit oder Wissen ist, dann untersuchen wir diese Phänomene nicht wie Aluminium oder Stickstoff mit Hilfe von empirischen Methoden, sondern wir bewerten hypothetische Fälle in Gedankenexperimenten daraufhin, ob sie unter den jeweiligen Begriff fallen. Das geschieht offenbar ganz aus dem Lehnstuhl des Philosophen heraus allein durch Nachdenken und erfordert keine empirische Forschung. Diese Prozedur wird im analytischen Teil der Erkenntnistheorie z. B. angewandt, um zu klären, was Wahrheit, Wissen oder Rechtfertigung ist. Radikale Empiristen, die jegliche Form von apriorischem Wissen leugnen, können zwei unterschiedliche Strategien gegen solche Exklusivitätsargumente einschlagen: die skeptische Strategie oder die reduktionistische Strategie. Sie können erstens einfach leugnen, dass wir Wissen von X haben. Das ist die skeptische Strategie. Vielleicht kann man diesen Weg gegenüber unserem modalen Wissen einschlagen, denn, so könnte

507 Kant und Frege haben nachdrücklich einen logischen und mathematischen Rationalismus vertreten, aber auch die meisten moderaten Empiristen haben eingeräumt, dass hier die Grenzen des empirischen Wissens erreicht sind. Anderer Auffassung sind die radikalen Empiristen Mill, Quine und Kitcher 1985. 508 Vgl. Kripke 1981, S. 126; Casullo 2003, Kap. 4.3. Kritisch dazu Anderson 1995. 509 Vgl. Bealer 1998, S. 204 f.



7.2 Apriorisches Wissen 

 379

man sagen, es hängt nicht besonders viel davon ab, dass wir ein solches Wissen haben. Auch gegenüber der Philosophie als Wissenschaft gibt es Vorbehalte. Gerade therapeutische Konzeptionen wie die des späten Wittgensteins lassen sich so verstehen, dass Philosophie keine echten Erkenntnisse hervorbringt, sondern uns bestenfalls bei der Auflösung von Scheinproblemen hilft. Aber letztendlich erscheint es eher problematisch, philosophisches Wissen insgesamt aufzugeben. Mathematisches oder logisches Wissen wird dagegen kaum jemand aufgeben wollen. Deshalb ist die zweite Strategie der radikalen Empiristen etwas attraktiver, bei der versucht wird, unser Wissen von X trotz allem empirisch zu erklären. Es gibt Ansätze dazu für die Logik, die Mathematik, für die Philosophie seitens der methodologischen Naturalisten und auch in der Modaltheorie. Insgesamt muss man jedoch sagen, dass diese Strategie bislang äußerst programmatisch geblieben ist.510 Selbstaufhebungsargumente sind die anderen indirekten Argumente zur Verteidigung apriorischer Erkenntnis. Sie haben die folgende Form: (P3) (P2) (K2)

Um apriorisches Wissen widerlegen zu können, müssen wir X wissen können. X können wir nur a priori wissen. Also können wir apriorisches Wissen nur dann widerlegen, wenn wir es als existent voraussetzen. (Selbstwiderspruch)

Unter den neuen Rationalisten gibt es gegenwärtig zwei prominente Vertreter von Selbstaufhebungsargumenten. BonJour ist der Auffassung, dass jede Art von Widerlegung argumentativer Natur ist und dass ein Argument nur dann gerechtfertigte Konklusionen hervorbringt, wenn die im Argument angewandte Schlussregel als gültig erkannt wird; und das ist offenbar nur a priori möglich.511 Wenn das richtig wäre, dann wäre jedes Argument gegen die Existenz apriorischer Erkenntnis erkenntnistheoretisch inkonsistent: Wenn die Konklusion wahr wäre, dann wäre sie nicht gerechtfertigt (bzw. könnte sie nicht gewusst werden). BonJours Argument kann allerdings nur erkenntnistheoretische Zugangsinternalisten überzeugen. Nur Zugangsinternalisten können nämlich sagen, dass objektiv gültige Schlüsse nicht ausreichen, um von gerechtfertigten Prämissen zu gerechtfertigten Konklusionen zu gelangen. Nur sie können also mit Recht behaupten, dass man zusätzlich noch die Gültigkeit der Schlüsse erkennen muss. Wir hatten

510 Paradigmatisch für den programmatischen Charakter dieser Strategie ist z. B. Devitt 2004. 511 Vgl. BonJour 1998, S. 4 f.

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 7 Quellen des Wissens

aber in der Diskussion des Internalismus und des Externalismus in der Erkenntnistheorie gesehen, dass der Internalismus sich letztlich nicht verteidigen lässt. Damit verliert auch BonJours Selbstaufhebungsargument seine Überzeugungskraft. Interessanterweise hängt das Selbstaufhebungsargument von George Bealer nicht vom Internalismus ab.512 Bealer ist Externalist. Sein Argument geht wie folgt: Jedes Argument gegen apriorisches Wissen (oder apriorische Rechtfertigung) hängt von Prämissen ab, die wir nur a priori rechtfertigen können. Die meisten dieser Argumente enthalten bestimmte Annahmen über erkenntnistheoretische Prinzipien; und die lassen sich nach Bealer nur a priori erkennen. Sehen wir uns ein Beispiel an. Oben ist bereits darauf hingedeutet worden, dass Gegner eines synthetischen Apriori durch rationale Intuition immer wieder einwenden, dass eine solche Form der Welterkenntnis unerklärlich und deshalb obsolet ist. Dieses Argument von der Erklärungslücke lässt sich etwa folgendermaßen rekonstruieren:513 (P5) (P6)

Nur wenn sich die Zuverlässigkeit einer Methode auch erklären lässt, handelt es sich um eine legitime Erkenntnisquelle. Die Zuverlässigkeit rationaler Intuition lässt sich nicht erklären.

(K)

Also ist rationale Intuition keine legitime Erkenntnisquelle.

Nehmen wir einmal an, die Zuverlässigkeit rationaler Intuitionen ließe sich tatsächlich nicht erklären. Bealer würde trotzdem sagen, dass das Argument der Erklärungslücke kraftlos ist, weil es nur dann zu einer gerechtfertigten Konklusion führt, wenn auch (P5) gerechtfertigt ist. Erkenntnisprinzipien, wie sie in (P5) formuliert werden, lassen sich ihm zufolge jedoch nur durch rationale Intuition rechtfertigen und setzen damit schon das voraus, was mit Hilfe des Arguments eigentlich angegriffen werden soll. Radikale Empiristen können diese Argumentation letztlich nur angreifen, indem sie leugnen, dass Prinzipien wie (P5) nur a priori durch rationale Intuition erkennbar sind. Allerdings hängt der Erfolg ihres Angriffs davon ab, ob es ihnen wirklich gelingt, das fragliche Wissen ohne Rückgriff auf apriorische Quellen zu erklären. Bislang bleiben sie diese Erklärung aber noch schuldig.

512 Vgl. Bealer 1992; Pust 2000. 513 Vgl. dazu Pust 2000; Grundmann 2007.



7.2 Apriorisches Wissen 

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7.2.3 Probleme apriorischer Erkenntnis Radikale Empiristen haben eine Reihe von fundamentalen Einwänden gegen die Möglichkeit apriorischer Erkenntnis zusammengetragen: Da ist zunächst der Fallibilitätseinwand von W. V. O. Quine aus seinem berühmten Aufsatz Two Dogmas of Empiricism, der besagt, dass es keine apriorische Erkenntnis geben könne, weil jede gerechtfertigte Überzeugung fehlbar und durch Erfahrung widerlegbar sei. Dieser Einwand hatte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine ungeheure Wirkung und hat rationalistische Positionen in der Philosophie über viele Jahrzehnte fast völlig zum Verschwinden gebracht. Er beruht jedoch im Grunde auf einem Missverständnis darüber, was apriorische Erkenntnis eigentlich ist. Im Zusammenhang mit der Suche nach einer positiven Definition des Apriori sollte deutlich geworden sein, dass weder die Unfehlbarkeit noch die Unanfechtbarkeit durch Erfahrung zu den essenziellen Eigenschaften apriorischer Rechtfertigung gehören. Deshalb verfehlt der Fallibilitätseinwand im Grunde sein Ziel – es gibt heute fast nur noch Vertreter eines fehlbaren Apriori. Ein anderer empiristischer Einwand ist der Obskurantismusvorwurf514 oder auch das Problem der Erklärungslücke. Empiristen haben immer wieder darauf hingewiesen, dass apriorische Erkenntnisse letztlich vollkommen rätselhaft und unerklärlich sind. Erstens ist weitgehend unklar, welche psychologischen Prozesse diesen Erkenntnissen zugrunde liegen. Als empiristisch akzeptabel galt bestenfalls der Vorschlag, dass apriorisches Wissen auf dem Verstehen der in einem Gedanken enthaltenen Begriffe beruht. In diesem Fall wird apriorisches Wissen also vollkommen auf das Wissen von analytischen Wahrheiten beschränkt. Versteht man analytische Wahrheiten so, dass sie wahr allein aufgrund von Bedeutung sind, dann würde damit die Idee einer substanziellen apriorischen Erkenntnis über die Welt ganz aufgegeben. Empiristen haben dieses minimale analytische Apriori deshalb in der Regel als mehr oder weniger trivial angesehen. Es ist jedoch nicht klar, ob diese Auffassung richtig ist. Analytische Aussagen handeln nämlich nicht auf eine erkennbare Weise von Bedeutungen oder Relationen zwischen Begriffen, sondern sie handeln von der Welt, so wie andere Aussagen mit der gleichen logischen Form auch. So sagt der Satz „Junggesellen sind unverheiratet“ etwas über Junggesellen aus und nicht über unseren Begriff von Junggesellen. Auch bei analytischen Wahrheiten scheint der Wahrmacher also in der Außenwelt zu liegen. Wenn das richtig ist, dann kann man allerdings analytische und synthetische Sätze gar nicht mehr anhand ihrer Wahrmacher unterscheiden. Beide Arten von Sätzen werden zugleich durch ihre Bedeutung

514 Devitt 2004.

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 7 Quellen des Wissens

und die Tatsachen in der Welt wahr gemacht. Wenn man weiterhin am Begriff der Analytizität festhalten möchte, dann kann man ihn daher nur noch erkenntnistheoretisch definieren. Als analytisch würden dann diejenigen Arten von Aussagen (oder Gedanken) bezeichnet, deren Wahrheit sich allein aufgrund unseres Verstehens erkennen lässt. Dieser epistemische Begriff der Analytizität fällt dann aber einfach mit dem der Apriorität zusammen.515 Doch wenn das richtig ist, dann kann die Möglichkeit apriorischer Erkenntnis natürlich nicht durch Analytizität erklärt werden. In der Tradition des Logischen Empirismus (Wittgenstein, Carnap) wurde die Bedeutung von Sätzen über die Menge von denkbaren Welten bestimmt, in denen diese Sätze wahr sind. Denkbare Welten ergeben sich dabei aus den maximalen Kombinationsmöglichkeiten der elementaren Ausdrücke in Sätzen und dieser Sätze in Satzmengen. Synthetische Sätze sind danach solche Sätze, die in einer echten Teilmenge aller denkbaren Welten wahr und in einer anderen echten Teilmenge dieser Welten falsch sind. Sätze, die in allen denkbaren Welten wahr sind, sind dagegen analytisch. Ihre notwendige Wahrheit ergibt sich so aus der Bedeutung der Ausdrücke. Die logischen Empiristen hielten analytische Aussagen für inhaltsleer oder tautologisch. Es ist nicht klar, ob denkbare Welten in dieser Interpretation überhaupt echte mögliche Welten sind oder bloß semantische Konstruktionen. Wenn es sich um echte Welten handelt, dann wären analytische Wahrheiten notwendige Wahrheiten, die aufgrund unseres Verstehens der Bedeutung a priori als notwendig wahr erkannt werden. So lässt sich nicht erklären, wieso man notwendige Wahrheiten a priori erkennen kann. Nur wenn denkbare Welten maximale konsistente Konstruktionen aus Glaubensoder Aussagegehalten sind, lässt sich verstehen, wieso man allein aufgrund des Verstehens der Bedeutung erfassen kann, dass bestimmte Aussagen in allen diesen Welten wahr sind. Aber dann ist es höchst fraglich, ob man so überhaupt die Wahrheit der Sätze erklärt, die man erklären wollte, nämlich dass beispielsweise der Satz „Junggesellen sind unverheiratet“ wahr ist. Was man eigentlich erklärt hat, ist doch nur, dass wir notwendig denken müssen, dass Junggesellen unverheiratet sind. Der zweite Aspekt der Unerklärlichkeit apriorischer Erkenntnis betrifft den Zusammenhang zwischen den rationalen Intuitionen und der Welt, von der sie handeln. Im Fall von apriorischer Erkenntnis gibt es offenbar keinen kausalen Zusammenhang zwischen dem Bereich der logischen, mathematischen und philosophischen Tatsachen und unseren rationalen Intuitionen. Damit stellt sich jedoch unweigerlich die Frage, wie unsere rationalen Intuitionen zuverlässig von einem Gegenstandsbereich handeln können, der keinen kausalen Einfluss auf unser rationales Denkvermögen hat. Wenn beide durch einen bloßen

515 Vgl. Boghossian 1997.



7.2 Apriorisches Wissen 

 383

Zufall miteinander übereinstimmen, dann widerspricht das der Idee eines zuverlässigen Zusammenhangs.516 Kant hat dieses Problem in aller Schärfe gesehen. Und seine Antwort darauf ist der transzendentale Idealismus. Der zuverlässige Zusammenhang zwischen unseren Verstandeserkenntnissen und der Außenwelt wird demnach dadurch sichergestellt, dass die Außenwelt selbst durch die Verstandeshandlungen konstituiert wird. Diese Antwort ist natürlich, von einem realistischen Standpunkt aus betrachtet, nicht sehr überzeugend. Doch damit wird umso deutlicher, dass es eine überzeugende Antwort des Rationalisten auf das Problem der Erklärungslücke bislang nicht gibt. Schließlich wird neuerdings verstärkt der Relativitätseinwand gegen die Zuverlässigkeit von Intuitionen erhoben.517 Wenn rationale Intuitionen zuverlässig Auskunft über die Welt geben sollen, dann muss es eine gewisse Konvergenz unter ihnen geben. Zu viel Widerstreit innerhalb einer Quelle deutet auf ihre Unzuverlässigkeit hin. Nachdem schon seit längerem der Verdacht gehegt wurde, dass die so genannten rationalen Intuitionen relativ zu Kulturen, dem jeweiligen Bildungsniveau oder empirischen Hintergrundtheorien sind, wurde das in den letzten Jahren durch die Experimentelle Philosophie anhand von empirischen Umfragen genauer überprüft. Die Ergebnisse dieser Umfragen sind zum Teil wirklich verblüffend. Ich möchte nur ein besonders drastisches Beispiel herausgreifen, und zwar die Intuitionen darüber, ob in den bereits ausführlich behandelten Gettier-Fällen Wissen vorliegt oder nicht. Experimentelle Philosophen haben Studenten von der Rutgers University, die Englisch als Muttersprache beherrschen, eine bestimmte Version des Gettier-Falls zur intuitiven Bewertung vorgelegt und kamen dabei zu einem überraschenden Ergebnis. Studierende mit einem amerikanisch-europäischen Hintergrund waren mit deutlicher Mehrheit der Auffassung, dass im Gettier-Fall kein Wissen vorliegt. Sie kamen also genau zu dem Ergebnis, das wir als Philosophen erwarten. Studierende mit einem ostasiatischen Hintergrund kamen dagegen überraschenderweise mehrheitlich zum entgegengesetzten Ergebnis: Sie waren überwiegend der Überzeugung, dass auch im Gettier-Fall Wissen vorliegt. Das folgende Diagramm belegt das eindrucksvoll:

516 Vgl. auch Field 1989, S. 26. Der Einwand geht zurück auf Benacerraf 1973. 517 Vgl. dazu Weinberg/Nichols/Stich 2001.

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 7 Quellen des Wissens

Abbildung 10: Aus Weinberg/Nichols/Stich 2001 (übersetzt)

Diese deutliche und drastische Divergenz und Relativität der Intuitionen über den Gettier-Fall kann nun nicht einfach dadurch erklärt werden, dass Intuitionen fehlbar und nicht sicher sind. Das Ausmaß der Divergenz ist nämlich so groß, dass dadurch die Zuverlässigkeit der rationalen Intuition als Methode in Frage gestellt wird. Und das würde natürlich auch die Legitimität der Intuition als Erkenntnisquelle untergraben. Traditionelle Philosophen haben auf diese empirischen Untersuchungen zunächst relativ gelassen reagiert. Die Experimente von Weinberg, Nichols und Stich leiden offensichtlich noch an verschiedenen methodischen Schwächen: Die befragten Studentengruppen waren zu klein und zu ungleichgewichtig, um wirklich repräsentativ zu sein. Auch fehlten in der Befragung die üblichen Kontrollfragen, also die Nachfrage, ob die Probanden sich überhaupt für eine der Antwortalternativen „hat Wissen“ oder „hat kein Wissen“ entscheiden können und wie sicher sie sich in ihrer Bewertung sind. Außerdem ist nicht klar, ob hier überhaupt philosophische Intuitionen abgefragt wurden, die sich allein aufgrund des Verstehens der Szenarien ergeben müssten, oder ob nur Alltagsintuitionen im Sinne von Vormeinungen mobilisiert werden. Ferner wurde nicht in ausreichendem Maße sichergestellt, dass die komplizierten, keineswegs aus dem Alltagsleben gegriffenen Situationen von den Probanden überhaupt mit allen relevanten Details erfasst und verstanden wurden. Dazu braucht man sicher etwas mehr Zeit zum sorgfältigen Überlegen und eine geschärfte Sensibilität für kontrafaktische Fälle. Und schließlich könnte die Divergenz in der Beurteilung auch darauf zurückgeführt werden, dass die Situationsbeschreibungen die Fälle in manchen Details unterbestimmt lassen, so dass sie von den verschiedenen Personen unterschiedlich ausgemalt und deshalb natürlich auch verschieden bewertet werden.

7.3 Selbstwissen 

 385

Trotz all dieser Kritikpunkte ist kaum bestreitbar, dass die Zuverlässigkeit von philosophischen Intuitionen im Prinzip empirisch überprüft werden kann, indem wir die Konvergenz dieser Intuitionen unter optimalen Bedingungen testen. Es gibt gewisse Indizien, die auf eine beträchtliche Divergenz und Relativität hindeuten. Allerdings haben neuere, wesentlich umfangreichere experimentelle Studien von Jennifer Nagel gezeigt, dass der Einfluss des kulturellen Hintergrundes auf die Gettier-Urteile doch weit geringer ist, als die ursprüngliche Studie nahegelegt hatte.518 Umgekehrt könnte es auch sein, dass die Intuitionen von ausgebildeten Philosophen (und zwar auch von solchen, die diametral entgegengesetzte Auffassungen über das fragliche Phänomen vertreten) sehr viel stärker konvergieren als die Intuitionen von Nicht-Philosophen. Vielleicht ist unter optimalen Bedingungen die Divergenz von Intuitionen also doch nicht so groß, wie die meisten experimentellen Philosophen behaupten.519 Ob philosophische Intuitionen tatsächlich relativ sind, scheint daher gegenwärtig eine offene Frage zu sein, die wir zum jetzigen Zeitpunkt noch gar nicht abschließend beantworten können. Im Augenblick scheint es also schwierig, den Streit zwischen Empiristen und Rationalisten endgültig zu entscheiden. Auf der einen Seite gibt es zentrale Bereiche unseres Wissens, bei denen wir nicht erklären können, wie sie auf empirischem Wege zustande gekommen sein sollen. Hier drängt sich eine rationalistische Antwort geradezu auf. Auf der anderen Seite sind die zentralen Probleme des Rationalismus nach wie vor ungelöst. Es scheint bislang keinen wirklich überzeugenden Vorschlag der Rationalisten zu geben, wie man das Problem der Erklärungslücke lösen könnte. Außerdem muss noch weiter geklärt werden, in welchem Ausmaß rationale Intuitionen tatsächlich relativ sind.

7.3 Selbstwissen Es ist eine ziemlich verbreitete Auffassung, dass man von sich selbst eine Art von privilegiertem Wissen hat. Das Privileg soll erstens darin bestehen, dass dieses Wissen von einem selbst auf einer besonderen Quelle beruht, die anderer Art ist als die Quellen, auf die sich andere stützen, wenn sie von einem selbst wissen. Und zweitens soll diese Quelle eine besondere erkenntnistheoretische Autorität haben. Selbstwissen soll irgendwie epistemisch höherwertig sein als das Wissen,

518 Vgl. Nagel 2012. Zu ähnlichen Ergebnissen kommen Kim und Yuan 2015. 519 Allerdings geben neue experiementelle Studien zu den Intuitionen von erkenntnistheoretischen Experten keinen Anlass zum Optimismus. Vgl. etwa Horvath und Wiegmann 2016.

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 7 Quellen des Wissens

das man über andere hat. Selbstwissen beruht demnach auf einer spezifischen Quelle und es hat eine besondere erkenntnistheoretische Autorität.520 Es ist jedoch klar, dass vieles Wissen über einen selbst nicht von dieser privilegierten Art ist. Wenn jemand etwa weiß, wie viel er wiegt oder welchen Beruf er hat, dann weiß er das auf dieselbe empirische Weise, auf die auch andere es wissen. Privilegiertes Selbstwissen bezieht sich also sicher nicht auf öffentliche physikalische oder soziale Tatsachen über einen selbst. Wesentlich plausibler ist dagegen die Annahme, dass wir einen privilegierten erkenntnistheoretischen Zugang zu unseren psychologischen Zuständen haben. Aber auch das stimmt nicht ohne Einschränkung. Was ich früher einmal gedacht oder gefühlt habe, kann ich oft durch Erinnerung herausfinden (eine Quelle, durch die mir auch vergangene Tatsachen in der Außenwelt zugänglich sind). Aber manchmal, wenn ich meine früheren Gedanken und Gefühle nicht mehr erinnern kann, muss ich auch meine Freunde oder Verwandten befragen oder in alten Tagebüchern und Briefen nachschauen. Auch hier gibt es weder eine besondere Quelle noch eine besondere Autorität. Spätestens seit Descartes ist es deshalb üblich geworden, von einem privilegierten Selbstwissen über gegenwärtige eigene mentale Zustände zu sprechen. In Bezug auf diesen eingeschränkten Gegenstandsbereich scheint die Annahme eines solchen privilegierten Zugangs ziemlich plausibel zu sein. Wenn Sie wissen wollen, was Sie jetzt gerade denken oder empfinden, dann brauchen Sie offenbar nicht Ihr äußeres Verhalten beobachten. Sie wissen es irgendwie direkt und unmittelbar, während sich andere Menschen ihre Überzeugungen über Ihre Gedanken und Gefühle indirekt aus dem, was Sie sagen und wie Sie sich verhalten, erschließen müssen. Hier gibt es offenbar eine besondere Quelle des Selbstwissens.521 Außerdem genießt dieses privilegierte Selbstwissen auch eine besondere erkenntnistheoretische Autorität, die sogar sozial anerkannt wird. Beispielsweise wird ein Arzt, der untersucht, ob bestimmte Glieder von Ihnen immer noch taub sind, am Ende trotz aller Instrumente, die er konsultieren kann, Sie persönlich fragen, ob Sie wieder etwas fühlen. Genauso ist es auch im Fall von Sehtests. Wir behandeln Personen offenbar als besondere Autoritäten bezüglich des Wissens über ihre gegenwärtigen mentalen Zustände.

520 Diesen Doppelaspekt des Privilegs von Selbstwissen hebt besonders gut Byrne 2005 hervor. 521 Allerdings keine exklusive Quelle, denn Sie können Ihre gegenwärtigen Gedanken und Empfindungen mitunter auch herausfinden, indem Sie Ihr eigenes Verhalten interpretieren. Allerdings ist Interpretation immer mit einer Zeitverzögerung verbunden, d. h. so wird kaum ein Wissen über gegenwärtige mentale Zustände in einem strengen Sinn zustande kommen.

7.3 Selbstwissen 

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Dabei ist es überaus wichtig, zu beachten, dass die Eigentümlichkeit einer Quelle vollkommen unabhängig von ihrer besonderen Autorität ist. Der Logische Behaviorist Gilbert Ryle war beispielsweise der Überzeugung, dass unser Wissen über uns selbst eine besondere erkenntnistheoretische Autorität besitzt, aber er hat vehement bestritten, dass es dafür (außer der Verhaltensbeobachtung) eine besondere Quelle gibt. Dass der Sprecher besser weiß, was er tut, als der Zuhörer, bedeutet nicht, dass er privilegierten Zugang zu Tatsachen einer bestimmten Art hat, die dem Zuhörer notwendig unzugänglich sind, sondern nur, dass er in einer sehr günstigen Lage ist zu wissen, was zu wissen der Zuhörer oft in einer sehr ungünstigen Lage ist. Die Eigenheiten der Unterhaltung eines Mannes erschrecken oder verwirren seine Frau nicht so, wie sie einst seine Verlobte überrascht und verblüfft haben, und alte Kollegen brauchen einander nicht alles ausführlich auseinandersetzen, wie sie das für ihre neuen Schüler tun müssen.522

Nach Ryle ist die erkenntnistheoretische Autorität also eine Sache des Grades, die dadurch erklärt wird, wie viele Erfahrungen man mit dem Gegenstand aufgrund derselben Quelle (in diesem Fall der Verhaltensbeobachtung) gemacht hat. Umgekehrt könnte es auch sein, dass eine besondere Quelle des Selbstwissens keine größere, sondern eine geringere Autorität hat als das Wissen durch Verhaltensbeobachtung. Worin genau besteht nun die besondere Autorität des privilegierten Selbstwissens?523 Zunächst wurde von Descartes der Vorschlag gemacht, dieses Selbstwissen als unfehlbar aufzufassen: „Aber es scheint mir doch, als ob ich sähe, hörte, Wärme fühlte, das kann nicht falsch sein (…).“524 Descartes glaubte also, dass unsere Überzeugungen über unsere gegenwärtigen Sinnesempfindungen unfehlbar sind. Wenn man diese Auffassung etwas verallgemeinert, dann kann man sagen, dass unsere Überzeugungen über die eigenen gegenwärtigen mentalen Zustände unfehlbar sind. Ist das richtig? Als These über einschränkungslos alle gegenwärtigen mentalen Zustände scheint die Unfehlbarkeitsthese offensichtlich falsch zu sein. Wir täuschen uns sogar häufig über unsere gegenwärtigen Gefühle, Wünsche oder die Motive unseres Handelns. So mag ein Vater glauben, dass er seine Kinder gleich liebt, und muss später einsehen, dass er sich getäuscht hat, wenn er bemerkt, dass er enttäuscht ist, dass seine Kinder alle die gleichen Leistungen in der Schule zeigen. Doch was ist mit eigenen Empfindungen wie Schmerz, eigenen Sinneserfahrungen oder eigenen Überzeugungen?

522 Ryle 1969, S. 242. 523 Verschiedene Auffassungen von epistemischer Autorität unterscheidet Alston 1989g. 524 Descartes 1992, S. 51.

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 7 Quellen des Wissens

Ist auch hier ein Irrtum möglich? Auch wenn die Unfehlbarkeitsthese in Bezug auf diese Phänomene zunächst plausibler aussieht, ist sie dennoch falsch. Das Beispiel des Burschenschaftlers, der einen Schmerz durch ein glühendes Eisen erwartet und deshalb kaltes Eis als heiß empfindet, hat das deutlich gezeigt.525 Erwartungen können also zu falschen Überzeugungen über gegenwärtige Empfindungen führen. Ablenkung und Autosuggestion wären hier andere mögliche Fehlerquellen. Die Unfehlbarkeitsthese scheint also auch für einen Kernbereich des gegenwärtigen eigenen mentalen Lebens nachweislich falsch zu sein. David Hume hat einen zweiten Vorschlag gemacht, um die besondere erkenntnistheoretische Autorität des Selbstwissens zu erklären. Hume hat angenommen, dass unser gesamtes gegenwärtiges mentales Leben für uns in dem Sinne transparent ist, „dass alle sinnlichen Wahrnehmungen von dem Geist so aufgefasst werden, wie sie wirklich sind.“526 Demnach kann uns kein gegenwärtiger mentaler Zustand und keine seiner Eigenschaften entgehen. Es ist gar nicht so einfach, diese Transparenzthese genauer auszubuchstabieren. Man könnte z. B. sagen, dass Menschen allwissend bezüglich ihrer eigenen gegenwärtigen mentalen Zustände sind. Aber diese These wäre viel zu stark. Wenn der eigene Geist transparent für einen ist, dann kann man nur dann entsprechendes Wissen besitzen, wenn einem auch die erforderlichen Begriffe zur Verfügung stehen. Außerdem ergibt sich aus der Allwissenheitsthese streng genommen ein Regress­ problem. Wenn wir Wissen von allen gegenwärtigen eigenen mentalen Zuständen haben sollen, dann auch von diesem Wissen selbst usw. Um solche Probleme zu vermeiden, sollte man die Transparenzthese daher im folgenden Sinne verstehen: Wenn mentale Zustände gegenwärtig in einem selbst bestehen, dann ist man in einer Position zu wissen, dass sie bestehen.527 Hat man also die erforderlichen Begriffe, dann kann man auch zu richtigen Überzeugungen über alle diese Zustände kommen. Auch die Transparenzthese ist schwerwiegenden Einwänden ausgesetzt. Spätestens die moderne Psychologie seit Freud hat plausibel gemacht, dass es verdrängte und unbewusste Wünsche gibt. Unabhängig davon beweist auch das bereits erwähnte Phänomen der Blindsicht, dass es mentale Zustände gibt, die dem Subjekt vollkommen unbewusst sind. Doch selbst im Bereich der Empfindungen gibt es keine vollständige Transparenz. Es kann hier so minimale Unterschiede z. B. in Temperaturempfindungen geben, dass wir diese nicht bewusst bemerken, sondern einen Unterschied erst nach einer ganzen Reihe von

525 Vgl. dazu in diesem Buch S. 222. 526 Hume 1989, S. 253. 527 Williamson 2000, S. 95, nennt das Luminosität.

7.3 Selbstwissen 

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unmerklichen Veränderungen in unseren Empfindungen erfassen. Die Transparenzthese kann deshalb auch als widerlegt gelten. Die epistemische Autorität des privilegierten Selbstwissens lässt sich noch auf eine dritte Weise ausbuchstabieren. Ist es denn nicht wenigstens klar, dass die Berichte aus der Perspektive der ersten Person immer eine Autorität gegenüber Zuschreibungen aus der Beobachterperspektive der dritten Person besitzen? Dann wäre privilegiertes Selbstwissen zumindest negativ autonom gegenüber Anfechtungsgründen aus der Perspektive der dritten Person. Selbstwissen dieser Art ließe sich dann niemals durch Berichte aus der Perspektive der dritten Person widerlegen. Folgendes Szenario scheint für eine negative Autonomie dieser Art zu sprechen: Nehmen Sie an, Sie haben einen leichten Kopfschmerz, haben aber gute Gründe dafür, dies niemanden erkennen zu lassen. Deshalb verzerren Sie nicht das Gesicht, klagen nicht und zeigen auch sonst keinerlei Verhalten, das Ihren Schmerz verraten würde. Aus der Perspektive der dritten Person scheint nichts dafür zu sprechen, dass Sie Schmerzen haben. Dennoch würde dieses Urteil eines Beobachters nicht Ihr eigenes Wissen um Ihren Schmerz anfechten. Doch selbst durch diesen extremen Fall wird nicht gezeigt, dass es aus der Perspektive der dritten Person prinzipiell keine Anfechtungsgründe geben kann. Nehmen Sie an, dass Sie eine Person sind, die hypochondrisch veranlagt ist, und dass Sie sich leicht Beschwerden einbilden, wenn keine vorhanden sind. Und nehmen Sie außerdem an, dass sich auch durch eine Tomographie Ihrer Gehirnareale keine für Schmerzen typische Gehirnaktivität auffinden lässt. In diesem Fall könnte man schwerlich leugnen, dass es aus der Perspektive der dritten Person aufgrund von Beobachtung Anfechtungsgründe für Ihre Überzeugung gibt, dass Sie leichte Kopfschmerzen haben. Auch in vielen alltäglicheren Fällen sagen wir mitunter, dass ein Beobachter uns besser kennt, als wir uns selbst. Privilegiertes Selbstwissen scheint also auch nicht absolut negativ autonom zu sein. Es lässt sich also festhalten, dass keine der klassischen Charakterisierungen der erkenntnistheoretischen Autorität des Selbstwissens zutreffend ist. Privilegiertes Selbstwissen ist weder unfehlbar noch transparent und auch nicht negativ autonom gegenüber Anfechtungsgründen aus der Perspektive der dritten Person. Dennoch muss man den Eindruck einer besonderen Autorität im Falle des Selbstwissens nicht ganz aufgeben. Es könnte einfach sein, dass diese Quelle des Wissens zuverlässiger ist als gewöhnliches Beobachtungswissen über einen selbst. Dann wäre der Unterschied letztlich aber nur gradueller Natur. Was heißt es nun andererseits, dass wir eine besondere Art des Zugangs zu unseren gegenwärtigen eigenen Empfindungen, Erfahrungen und Gedanken haben? Welcher Art ist diese besondere Quelle des Selbstwissens? Offenbar erfassen wir unmittelbarer oder direkter, was wir empfinden, erfahren oder denken, als es andere Leute erfassen können, die sich auf Schlussfolgerungen aus den

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 7 Quellen des Wissens

Beobachtungen unseres Verhaltens stützen müssen. Doch was geht dabei genau vor sich? Die klassische Antwort, die z. B. Locke und Hume gegeben haben, lautet: Wir können direkt in unseren eigenen Geist hineinsehen, während andere Leute dies nicht tun können. Unser eigener Zugang zu unserem Geist beruht also auf einer inneren Wahrnehmung, während andere auf die äußere Wahrnehmung unseres Körpers angewiesen sind und aus beobachtbarem Verhalten Rückschlüsse auf die für sie unbeobachtbaren inneren Zustände ziehen. Privilegiertes Selbstwissen beruht danach auf innerer Wahrnehmung oder, um einen technischen Begriff zu benutzen, auf Introspektion. Betrachten wir das introspektive Modell des Selbstwissens etwas genauer. Historisch gesehen lautete der Haupteinwand gegen dieses Modell, dass es geistige Zustände zu rein innerlichen, erkenntnistheoretisch privaten Entitäten* macht, die folglich öffentlich nicht mehr zugänglich sind. Dieser Einwand wurde hauptsächlich von den Behavioristen und Wittgenstein vertreten. Er ist aber keineswegs so zwingend, wie er zunächst aussieht. Selbst wenn man fordert, dass auch mentale Zustände öffentlich zugänglich sein müssen, so kann man dennoch die Auffassung vertreten, dass dieselben Zustände auf zwei ganz unterschiedliche Weisen zugänglich und zuschreibbar sind. Das ist auch in anderen Zusammenhängen häufig der Fall. So können wir organische Erkrankungen erkennen, indem wir uns die inneren Organe direkt ansehen (durch Ultraschall oder Operationen), aber genauso auch dadurch, dass wir Rückschlüsse aus äußerlich beobachtbaren Symptomen ziehen. Genauso könnte es auch im Fall des Selbstwissens sein. Was wir selbst introspektiv beobachten, müssen andere sich eben durch Rückschlüsse aus äußerlich beobachtbarem Verhalten erschließen. Äußere Beobachter müssen aus den Verhaltenswirkungen auf deren geistige Ursachen schließen. Viel schwerer wiegt ein anderer Einwand gegen die Introspektion.528 Das privilegierte Selbstwissen erfüllt nämlich offenbar nicht die typischen Charakteristika von Wahrnehmungswissen. Erstens beruht Wahrnehmungswissen auf bewussten Sinneserfahrungen. Wir sehen etwas zunächst und die darauf beruhende Überzeugung ist dann im günstigen Fall Wissen. Aber beim Selbstwissen ist es anders. Wir haben nicht zunächst eine Erfahrung zweiter Ordnung von unseren Empfindungen, Erfahrungen und Gedanken erster Ordnung, auf die wir dann unsere Überzeugung zweiter Ordnung über unsere geistigen Zustände stützen, sondern diese Überzeugung zweiter Ordnung stellt sich irgendwie direkt und unmittelbar ein. Selbstwissen ist im Unterschied zur Wahrnehmung nicht-

528 Vgl. zum Folgenden Shoemaker 1996, S. 201–268, die wohl beste Kritik am Modell des inneren Sinns.

7.3 Selbstwissen 

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evidenziell.529 Zweitens nehmen wir normalerweise Eigenschaften an Gegenständen wahr, die wir zuvor identifizieren müssen. Wir nehmen also etwa von einem Haus wahr, dass es gelb gestrichen ist. Doch dann kann es natürlich auch Fehler aufgrund von Fehlidentifikation geben. Gegen solche Fehler ist das Selbstwissen jedoch immun. Fehler dieser Art können nicht auftreten, weil das Selbstwissen keine Identifikation eines Gegenstandes einschließt. Als Gegenstand käme zunächst das Selbst oder Ich in Frage. Aber Selbstzuschreibungen oder IchGedanken (wie in dem Satz „Ich habe jetzt Hunger“) beinhalten keine vorherige Identifikation des Referenten. Ansonsten müsste ich mir sinnvoll die Frage stellen können: Jemand hat Hunger, aber bin ich es? Das scheint aber unmöglich zu sein. Außerdem kann ein Objekt niemals anhand rein objektiver Kriterien als Ich identifiziert werden. Ich muss immer schon Ich-Gedanken haben, um ein Objekt mit mir selbst identifizieren zu können.530 Ich muss also, wie es Ernst Mach einmal geschehen ist, bereits wissen, dass ich unrasiert und schäbig aussehe, damit ich erkennen kann, dass es sich bei dem schäbigen Schulmeister, den ich im Spiegel sehe, um mich selbst handelt. Jede Identifikation eines Objektes mit mir selbst setzt also ein identifikationsfreies Selbstwissen bereits voraus, wenn man einen Regress vermeiden möchte. Nun könnte es sich bei den zu identifizierenden Gegenständen des Selbstwissens natürlich um die mentalen Zustände selbst handeln. Aber die Empfindungen, Erfahrungen oder Überzeugungen identifizieren wir gar nicht als innere Gegenstände, sondern wir erfassen nur ihren Inhalt, der auf die Welt bezogen ist. Drittens gibt es einen Konflikt zwischen dem Modell der Introspektion und der vorherrschenden Theorie des mentalen Inhalts, dem Externalismus.531 Diesem semantischen Externalismus zufolge wird der Inhalt eines intentionalen Zustands wesentlich durch die externe Umwelt bestimmt. Die historischen Externalisten sagen z. B., dass die kausale Vorgeschichte des Begriffserwerbs den Inhalt eines Begriffes bestimmt. Wenn Oskar also auf der Erde seinen Wasserbegriff in einer Umwelt erwirbt, in der Wasser H2O ist, dann ist der Inhalt des Begriffs H2O. Wenn dagegen Zwillingsoskar seinen Wasserbegriff in einer Umwelt erwirbt, in der nur XYZ und kein H2O vorkommt, dann bezieht sich sein Wasserbegriff auf XYZ. Wenn nun der semantische Externalismus für Sinneserfahrungen, Gedanken und vielleicht sogar Empfindungen ebenfalls wahr ist, dann kann man nicht mehr verstehen, wie einem der Blick nach innen verraten sollte, was für einen Inhalt die eigenen mentalen Zustände haben. Aber offenbar können wir genau dies durch Selbstwissen erfassen. Ähnliches gilt auch

529 Shoemaker 1996, S. 207. 530 Shoemaker 1996, S. 211. 531 Vgl. Shoemaker 1996, S. 218.

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 7 Quellen des Wissens

für die jeweilige Einstellung zum intentionalen Inhalt. Ob wir einen bestimmten Inhalt glauben, erfahren, wünschen oder fürchten, wird vermutlich auch durch Faktoren in der Umwelt mitbestimmt. Aber dann kann uns ein Blick nach innen auch nichts darüber verraten, welche Einstellung wir zu einem bestimmten Inhalt haben. Solange wir privilegiertes Selbstwissen als innere Wahrnehmung oder Introspektion verstehen, können wir also genau das nicht erklären, was wir eigentlich erklären wollten. Gegenwärtig werden einige Alternativen zum Modell des inneren Sinns diskutiert. Von externalistischer Seite wurde vor allem das Einbettungsmodell vorgeschlagen. Danach gewinnen wir nicht dadurch Selbstwissen, dass wir zunächst identifizieren, um was für einen mentalen Zustand es sich gerade handelt, sondern indem wir den Inhalt des Gedankens erster Ordnung direkt in einen Gedanken zweiter Ordnung einbetten. Der Gehalt des Gedankens erster Ordnung wird sozusagen konstitutiver Teil des Gedankens zweiter Ordnung. Wenn wir also Selbstwissen haben, dann denken wir im Grunde den indexikalischen* Gedanken Ich denke dies. Wobei sich der indexikalische Ausdruck auf den Gehalt des Gedankens erster Ordnung bezieht, ohne ihn zuvor identifizieren zu müssen.532 Das Einbettungsmodell vermeidet alle oben genannten Schwierigkeiten der Introspektion. Allerdings hat dieses Modell seine eigenen Probleme. Zunächst ist klar, dass man mit seiner Hilfe nicht erklären kann, wie man von der spezifischen Einstellung wissen kann, die man zu einem Inhalt unterhält. Man kann also so nur erkennen, dass man irgendeine intentionale Einstellung unterhält (also den Gedanken denkt), aber nicht, ob man ihn erwägt, glaubt, wünscht usw. Wir können aber offensichtlich auch solche Einstellungen durch privilegiertes Selbstwissen erkennen. Das Einbettungsmodell kann also keine vollständige Erklärung liefern. Seine Erklärungskraft ist auch in anderer Hinsicht beschränkt. Wir können nämlich durch Selbstwissen auch von phänomenalen nicht-begrifflichen mentalen Zuständen wissen (z. B. von Sinneserfahrungen). Doch hier versagt das Modell der Einbettung. Der Gedanke zweiter Ordnung, dass ich jetzt das-und-das denke, hat nämlich einen rein begrifflichen Gehalt. Dieser Gehalt kann deshalb nicht einfach durch den phänomenalen Gehalt erster Ordnung konstituiert werden. Alex Byrne533 hat neuerdings einen interessanten Vorschlag gemacht, wie man unser Selbstwissen von propositionalen Einstellungen erster Ordnung

532 Vgl. die Vorschläge von Burge 1988, Heil 1992, Kap. 5 sowie Shoemaker 1996. 533 Vgl. Byrne 2005. Nach der hier vorgeschlagenen Transparenzmethode erfassen wir zuverlässig unsere Überzeugungen, indem wir mit unseren Meinungen über die Welt starten. Die Methode geht ursprünglich auf Gareth Evans zurück.



7.4 Wissen durch das Zeugnis anderer 

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relativ leicht erklären kann. Nach Byrne sollen wir uns vorstellen, dass wir uns an der folgenden Regel orientieren: Wenn p, dann glaube, dass Du p glaubst. Diese Regel formuliert natürlich keinen wahrheitserhaltenden gültigen Schluss. Nicht immer, wenn etwas der Fall ist, glaubt auch jemand, dass es der Fall ist. Aber damit jemand diese Regel anwenden kann, muss er glauben, dass der Vordersatz des Konditionals wahr ist. Damit wird jedoch der Hintersatz in allen Fällen der Regelanwendung wahr. Man sollte sich hier nicht daran stören, dass Byrne von einer Regel spricht. Regeln können letztlich natürlich nur Handlungen regulieren, und Überzeugungen sind, wie wir früher gesehen haben, keine solchen Handlungen. Man sollte besser annehmen, dass hier nur im übertragenen Sinne von einer Regel die Rede ist. Nichts spricht dagegen, dass die von Byrne angegebene Regel im Grunde einen automatisierten Prozess der Überzeugungsbildung beschreibt. Durch diesen Prozess werden entsprechende Überzeugungen zweiter Ordnung zuverlässig hervorgebracht, wenn Überzeugungen erster Ordnung vorliegen. Doch auch dieses Modell kann unser privilegiertes Selbstwissen nur im Hinblick auf Überzeugungen erklären. Welche Konsequenzen sollten wir daraus ziehen? Es scheint ein schwer zu leugnendes Faktum zu sein, dass wir im doppelten Sinne privilegiertes Selbstwissen von vielen unserer gegenwärtigen mentalen Zustände haben. Dieses Selbstwissen ist zwar weder unfehlbar noch transparent oder absolut negativ autonom, aber es besitzt eine größere erkenntnistheoretische Autorität als unser Wissen von Fremdpsychischem. Dieses Selbstwissen beruht auf einer besonderen Quelle, weil wir eben nicht unser Verhalten beobachten müssen, um herauszubekommen, was wir empfinden, erfahren und denken. Bei dieser besonderen Quelle kann es sich nicht um Introspektion handeln. Andere Modelle wie das Einbettungsmodell können zwar einen Teil unseres Selbstwissens erklären, aber sie können dieses Phänomen nicht vollständig erklären. Da sich das Phänomen jedoch schwer leugnen lässt, müssen wir weiter nach einer Erklärung des Selbstwissens in seiner ganzen Breite suchen. Wir müssen vielleicht sogar damit rechnen, dass es hier keine einheitliche Erklärung gibt. Dann wäre es bereits irreführend, von dem privilegierten Selbstwissen im Singular zu sprechen.

7.4 Wissen durch das Zeugnis anderer Sehr vieles von dem, was wir wissen, wissen wir, weil wir es von anderen wissen. Wir können unseren eigenen Horizont enorm erweitern, indem wir den Berichten von Augenzeugen aus fernen Ländern, anderen Kulturen oder Lebensformen, aber auch längst vergangenen Zeiten Glauben schenken. Wir wissen aber auch ganz persönliche Dinge wie unseren Namen, unseren Geburtstag oder unseren

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 7 Quellen des Wissens

Geburtsort nur, weil wir uns auf die Informationen von Dritten verlassen. Unsere Bildung beruht größtenteils auf dem, was wir in Büchern gelesen haben oder was uns Eltern und Lehrer beigebracht haben. Eigene Erfahrungen spielen auch hier nur eine untergeordnete Rolle. Über die Medien und aus Büchern bekommen wir zudem eine Fülle von Informationen von Experten oder epistemischen Autoritäten, die wir niemals alleine hätten erlangen können.534 Selbst in den Wissenschaften beruhen große Erfolge zumeist auf einer erkenntnistheoretischen Arbeitsteilung.535 Kein Naturwissenschaftler führt alle Experimente und Berechnungen alleine durch, sondern er verlässt sich in seiner Arbeit auf das über Jahrhunderte angehäufte Wissen anderer. Selbst in der Philosophie wird nicht jedes Argument von jedem Philosophen neu durchdacht, sondern es gibt Autoritäten, auf die man sich im eigenen Denken zumindest ein Stück weit verlassen kann. Würden wir alles, was wir durch Informanten wissen, für einen Moment einklammern, dann würde unser gesamtes Wissen so weit zusammenschrumpfen, dass wir fast nichts mehr wüssten. Die Preisgabe dieser Wissensquelle käme also fast einem universellen Skeptizismus gleich. Wenn man Wissen durch andere erwirbt, dann spricht man auch vom Wissen durch das Zeugnis anderer. Dabei ist der Begriff Zeugnis (engl.: testimony) viel weiter zu verstehen als das förmliche Zeugnis, das ein Zeuge etwa vor Gericht oder bei der Polizei ablegt. Durch das Zeugnis anderer können wir etwas dadurch wissen, dass es uns jemand erzählt, dass wir die Gespräche anderer belauschen, dass wir es in Büchern, Zeitschriften, Briefen oder Tagebüchern lesen oder dass wir es aus den elektronischen Medien erfahren. Hier gibt es natürlich noch viele weitere Möglichkeiten. Ein solches Zeugnis anderer kann auch dann vorliegen, wenn es vom Informanten selbst nicht beabsichtigt ist. In all diesen Fällen erwerben wir Wissen, indem wir dem Glauben schenken, was wir gesagt bekommen oder was wir lesen. Angesichts der eminenten Bedeutung des Zeugnisses anderer für unser Wissen ist es erstaunlich, dass die Bedeutung dieser Wissensquelle von Erkenntnistheoretikern erst sehr spät entdeckt worden ist. Die traditionelle Position der westlichen Erkenntnistheorie war eindeutig individualistisch. Danach kann man nur dasjenige wissen, was durch die eigenen Erkenntnisquellen autorisiert ist. Natürlich konnte nicht bestritten werden, dass man durch Informationen Dritter zu wahren Überzeugungen gelangen kann. Das ist genau dann der Fall, wenn der Informant wahre Überzeugungen (oder sogar Wissen) hat und einen nicht belügt (sondern aufrichtig ist). Doch diese so über Dritte erworbenen wahren Überzeugungen konnten nach traditioneller Auffassung niemals den Status von Wissen

534 Vgl. zum Phänomen epistemischer Autorität Zagzebski 2012. 535 Vgl. Kitcher 1990.



7.4 Wissen durch das Zeugnis anderer 

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oder gerechtfertigter Überzeugung erlangen. Diese Auffassung ist keineswegs eine Erfindung der Neuzeit, sondern wird bereits von Platon sehr dezidiert vertreten. So sagt etwa Sokrates im Theaitetos: Wenn also Richter so wie es sich gehört überredet worden sind in Bezug auf etwas das nur wer es selbst gesehen hat wissen kann, sonst aber keiner: so haben sie dieses nach dem bloßen Gehör urteilend vermöge einer richtigen Überzeugung, aber ohne Erkenntnis (epistéme) abgeurteilt (…).536

Sokrates akzeptiert hier also, dass man durch Augenzeugen wahre Überzeugungen erlangen kann, aber er bestreitet, dass man so Wissen erwerben kann. Descartes steht in seinen Meditationen natürlich auf einem ganz ähnlichen Standpunkt. Um zu identifizieren, was wir wirklich wissen, müssen wir von allem abstrahieren, was wir bloß aufgrund von Autoritäten glauben. Wir müssen als einsame Denker eine Reflexion auf den Umfang unseres Wissens durchführen. Und in dieser Reflexion dürfen wir uns nach Descartes von niemand anderem abhängig machen. Am nachdrücklichsten wird das Credo des erkenntnistheoretischen Individualismus von John Locke formuliert: Denn ich meine, wir könnten ebenso gut hoffen, mit den Augen anderer zu sehen, wie wir erwarten können, mit ihrem Verstande zu wissen. In dem Maße, wie wir selbst die Wahrheit und die Vernunft betrachten und erfassen, besitzen wir auch reales und wahres Wissen. Dass in unserem Hirn die Meinungen anderer auf und ab wogen, macht uns keinen Deut wissender, mögen sie auch zufällig wahr sein. Was bei jenen Leuten Wissen war, ist bei uns nur Starrsinn, solange wir unsere Zustimmung nur berühmten Namen geben, nicht aber wie jene Personen selbst unsere eigene Vernunft üben, um die Wahrheiten zu verstehen, denen jene ihren Ruf verdanken.537

Locke bestreitet hier entschieden, dass es einen Transfer von Wissen von einem Denker zum nächsten geben kann. Alles, was wir wissen, müssen wir ihm zufolge durch unsere eigenen kognitiven Leistungen erwerben. Wie ist es zu erklären, dass die traditionelle Erkenntnistheorie Wissen durch das Zeugnis anderer radikal abgelehnt hat, obwohl wir in unserem Wissen tatsächlich so offensichtlich von diesem Zeugnis anderer abhängen? Zunächst einmal scheint es viel riskanter zu sein, dem Zeugnis anderer zu glauben, als seinen eigenen Überlegungen oder Sinneswahrnehmungen zu trauen. Wenn wir etwas lesen oder gesagt bekommen, dann ist uns die Quelle dieser Information in der Regel vollkommen verborgen. Die Information kann vom Informanten oder

536 Platon 1991, 201b-c, meine Hervorhebung; Übersetzung leicht abgewandelt. 537 Locke 1981, S. 102 f., Übersetzung leicht abgewandelt.

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 7 Quellen des Wissens

wenigstens von einem Glied in der Kommunikationskette auf zuverlässige Weise durch Wahrnehmung oder Nachdenken erworben worden sein. Aber sie kann auch durch ein bloßes Gerücht entstanden sein. Oder sie ist eine bewusste Fehlinformation eines Informanten, der uns täuschen oder manipulieren will. Wir wissen es nicht. Und deshalb erscheint es naiv, leichtgläubig und auch unverantwortlich, dem Informanten einfach so zu glauben. Es gibt aber noch ein grundsätzlicheres systematisches Argument, das gegen das Zeugnis anderer als Wissens- oder Rechtfertigungsquelle spricht. Solange man nämlich annimmt, dass eine gerechtfertigte Überzeugung (oder Wissen) nur zustande kommt, wenn man selbst die Gründe kennt, die die Wahrheit der Überzeugung zumindest wahrscheinlich machen, dann fehlen genau diese Gründe im Fall der Information durch Dritte. Unsere Informanten mögen zwar vielleicht Gründe haben, die für die Wahrheit der fraglichen Information sprechen, aber demjenigen, der die Information erhält, sind diese Gründe nicht direkt zugänglich. Hinter der Ablehnung des Zeugnisses anderer als Wissens- und Rechtfertigungsquelle steht also der erkenntnistheoretische Zugangsinternalismus. Erst David Hume hat erkannt, dass sich die internalistische Wissens- und Rechtfertigungsbedingung durchaus damit verbinden lässt, dass man das Zeugnis anderer als Quelle für den Wissenserwerb nutzen kann. Hume hat eine reduktionistische Position vertreten. Reduktionismus Der Reduktionismus besagt, dass ein Hörer (oder Leser) nur dann eine gerechtfertigte Überzeugung oder Wissen von dem, was der Sprecher (oder Autor) behauptet, erwirbt, wenn er gerechtfertigt glaubt, dass der Sprecher (oder Autor) zuverlässig und aufrichtig in dem ist, was er sagt (oder schreibt).

Dem Reduktionismus zufolge kann das Zeugnis anderer nur dann als Quelle für den Wissenserwerb dienen, wenn es als zuverlässige Quelle durch den Rezipienten autorisiert wird. Hume selbst glaubte, dass die Zuverlässigkeit des Zeugnisses anderer im Allgemeinen durch Erfahrung und Induktion gerechtfertigt werden kann. Nachdem er zunächst betont, „dass es keine so allgemeine, so nützliche und selbst zu unserem Leben so notwendige Art der Vernunfttätigkeit gibt, wie die, welche von dem menschlichen Zeugnis und den Berichten von Augenzeugen und Zuschauern ausgeht“, heißt es in seiner Untersuchung über den menschlichen Verstand weiter: Es genügt die Bemerkung, dass unsere Sicherheit irgend einer derartigen Begründung gegenüber aus keinem anderen Prinzip stammt, als aus unserer Beobachtung der Wahrhaftigkeit menschlichen Zeugnisses und der gewöhnlichen Übereinstimmung der Tatsachen mit den Berichten der Zeugen. […] Wäre nicht das Gedächtnis bis zu gewissem Grade treu,



7.4 Wissen durch das Zeugnis anderer 

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neigten nicht die Menschen für gewöhnlich der Wahrheit und den Prinzipien der Redlichkeit zu; wären sie nicht der Scham zugänglich, wenn sie bei einer Lüge ertappt werden; wäre dies alles nicht durch Erfahrung als wesentliche Eigenschaft der menschlichen Natur bekannt, – so würden wir niemals das geringste Vertrauen in menschliches Zeugnis setzen.538

Hume meint also, dass unser Vertrauen in das Zeugnis anderer darauf beruht, dass wir aus der wiederholten Beobachtung einer häufigen Korrelation* zwischen Zeugnissen anderer und deren Wahrheit induktiv auf eine globale Korrelation dieser Art schließen. Unser Vertrauen in das Zeugnis anderer beruht nach Hume also auf einer Erfahrung der allgemeinen Zuverlässigkeit dieses Zeugnisses.

7.4.1 Probleme des Reduktionismus Wäre Humes reduktionistische Position richtig, dann könnte damit erklärt werden, warum wir Wissen durch das Zeugnis anderer erwerben können, auch wenn dieses Zeugnis keine echte und eigentliche Erkenntnisquelle bildet. Was uns nach Hume wirklich rechtfertigt, dem Zeugnis anderer Glauben zu schenken, ist nicht dieses Zeugnis selbst, sondern unsere Erfahrung von der Zuverlässigkeit solcher Zeugnisse im Allgemeinen. Dennoch werden wir dadurch autorisiert, Zeugnisse anderer als zuverlässige Informationen zu verwenden. Es gibt jedoch mindestens zwei schwerwiegende Einwände gegen Humes Position: Erstens ist seine Position psychologisch unrealistisch. Kinder und Jugendliche lernen einfach eine ganze Menge von Dritten, lange bevor sie sich eine Überzeugung über die Zuverlässigkeit des Zeugnisses anderer bilden. Hätte Hume Recht, dann würden keine der so erworbenen Informationen als Wissen oder gerechtfertigte Überzeugung gelten können. Schlimmer noch, Kinder und Jugendliche würden ihren Lehrern in dieser Phase überhaupt keinen Glauben schenken, was offensichtlich falsch ist. Zweitens hat C. A. J. Coady in seiner bahnbrechenden Monographie zum Wissen durch das Zeugnis anderer gezeigt, dass sich für Humes Position unweigerlich das folgende Dilemma ergibt:539 Hume sagt, dass niemand eine gerechtfertigte Überzeugung (Wissen) durch das Zeugnis anderer erwerben kann, solange wir nicht die Erfahrung gemacht haben, dass dieses Zeugnis im Allgemeinen zuverlässig ist. Dass wir zuvor die Erfahrung gemacht haben müssen, dass das

538 Hume 1993, S. 130 f. 539 Vgl. zum Folgenden Coady 1992, S. 80 ff.

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 7 Quellen des Wissens

Zeugnis anderer im Allgemeinen zuverlässig ist, lässt sich nun unterschiedlich interpretieren. Entweder verstehen wir es so, dass alle Menschen gemeinsam diese Zuverlässigkeit erfahren. Wenn wir die Einzelbeobachtungen korrekter Zeugnisse aller Menschen zusammennehmen, ist es durchaus möglich, dass so kollektiv die Zuverlässigkeit des Zeugnisses anderer gerechtfertigt werden kann. Doch für den einzelnen kann daraus nur ein zugänglicher Grund werden, wenn er die Erfahrungen aller anderen kennt. Das setzt jedoch bereits voraus, dass man Wissen über die Erfahrungen anderer durch das Zeugnis dieser anderen erwerben kann. Und das sollte ja erst dadurch möglich werden, dass wir die Zuverlässigkeit dieses Zeugnisses im Allgemeinen erkennen. Hier droht also ein Zirkel in der Argumentation. Oder wir verstehen Hume so, dass jeder für sich allein zunächst die Zuverlässigkeit des Zeugnisses anderer im Allgemeinen empirisch rechtfertigen muss, damit er sich auf dieses Zeugnis stützen kann. Doch das erscheint unmöglich. Wie sollte ein einzelner Denker dazu in der Lage sein, die Zeugnisse anderer im Allgemeinen aufgrund von eigener Erfahrung zu bewerten? Dazu müsste er sich bereits in all den Wissensbereichen auskennen, über die er durch das Zeugnis anderer ja allererst etwas lernen soll. Deshalb kann die allgemeine Zuverlässigkeit des Zeugnisses anderer empirisch gar nicht gerechtfertigt werden. Coady selbst glaubt, dass man die allgemeine Zuverlässigkeit des Zeugnisses anderer gar nicht empirisch überprüfen muss, weil sich a priori zeigen lässt, dass sich dieses Zeugnis im Allgemeinen gar nicht als falsch herausstellen kann. Coady hält die Hypothese einer Welt, in der Personen einander permanent fehlinformieren, für inkonsistent. Er versucht das am hypothetischen Fall der Marsianer zu zeigen.540 Nehmen wir an, in dieser Welt würden Leute einander bewusst dauernd falsch informieren. Nach Coady ist eine solche Welt gar nicht konsistent denkbar und deshalb auch nicht möglich. Erstens hätten die Äußerungen der Sprecher in dieser Welt nämlich gar keine identifizierbare Bedeutung, wenn man mit Davidson annimmt, dass sich Sprecher nur dann interpretieren lassen, wenn die weitgehende Wahrheit ihrer Äußerungen unterstellt wird. Und zweitens gäbe es in dieser Welt auch keine öffentliche Sprache, weil eine solche Sprache nur dann erlernt werden kann, wenn der Lehrer den Schüler korrekt über die Referenz der gelernten Ausdrücke informiert. Gegenüber Coadys Argumentation ist jedoch Vorsicht angebracht. Es hatte sich bereits im Zusammenhang mit antiskeptischen Argumenten gezeigt, dass Äußerungen bereits dann eine im Prinzip identifizierbare Bedeutung haben können, wenn es in der Spracherwerbssituation eine robuste Korrelation zwischen den Äußerungen und der Welt gab. Daraus folgt keineswegs, dass diese Äußerungen im Allgemeinen (also auch außerhalb

540 Vgl. Coady 1992, S. 85 ff.



7.4 Wissen durch das Zeugnis anderer 

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dieser Situation) mehrheitlich wahr sein müssen. Zweitens setzt Coady einfach voraus, dass es ein Zeugnis anderer nur geben kann, wenn es eine von vielen Personen geteilte Sprache gibt. Doch selbst wenn alle Personen Idiolekte sprechen würden, wäre ein intersubjektives Verstehen nicht ausgeschlossen. Es scheint überaus schwer zu sein, ein überzeugendes apriorisches Argument für die Zuverlässigkeit des Zeugnisses anderer im Allgemeinen zu geben.

7.4.2 Die antireduktionistische Alternative Doch brauchen wir überhaupt irgendein Argument (sei es empirisch oder a priori) für die Zuverlässigkeit des Zeugnisses anderer, damit wir durch dieses Zeugnis Wissen (oder gerechtfertigte Überzeugungen) erwerben können? Der Antireduktionist bestreitet das. Er kann sich dabei auf die zwei folgenden, komplementären Argumente stützen. Zunächst ein Symmetrieargument. Es ist um die Autorität des Zeugnisses anderer offenbar nicht schlechter bestellt als um andere, allgemein akzeptierte Quellen unseres Wissens. Für keine dieser Quellen gibt es eine überzeugende allgemeine Metarechtfertigung, die sich nicht selbst wieder auf die besagte Quelle stützen müsste. Wenn das kein Einwand gegen andere basale Quellen unseres Wissens ist, warum sollte es dann ein Einwand gegen das Zeugnis anderer sein? Zweitens beruht die Forderung des Reduktionisten auf einem internalistischen Verständnis von Rechtfertigung und Wissen. Wenn man dagegen Externalist ist (und diese Position hatte sich ja im analytischen Teil des Buches als die richtige erwiesen), dann können wir allein dadurch gerechtfertigt sein, dass wir unsere Überzeugung auf eine zuverlässige Quelle stützen. Das Zeugnis anderer ist dann eine zuverlässige Quelle, wenn der Informant aufrichtig ist und seine Äußerungen seinerseits auf zuverlässige Quellen stützt. Sobald diese Bedingungen objektiv erfüllt sind, kann das Zeugnis anderer Wissen oder gerechtfertigte Überzeugungen liefern, auch wenn der Rezipient davon kein explizites Wissen besitzt. Etwas allgemeiner kann man sagen, dass erkenntnistheoretische Internalisten das Zeugnis anderer nur dann als Mittel des Wissenserwerbs betrachten können, wenn es ihnen gelingt, den Reduktionismus auf die eine oder andere Weise plausibel zu machen. Selbst eingefleischte Internalisten sind hier eher pessimistisch.541 Erkenntnistheoretische Externalisten können dagegen einen Antireduktionismus vertreten, nach dem eine Metarechtfertigung der Zuverläs-

541 Vgl. BonJour 2002, S. 169–77; Fumerton 2006.

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 7 Quellen des Wissens

sigkeit des Zeugnisses anderer nicht nötig ist, um durch dieses Zeugnis Wissen oder gerechtfertigte Überzeugungen erwerben zu können. In der Geschichte der Philosophie wurde der Antireduktionismus erstmals vom schottischen Philosophen Thomas Reid vertreten. Reid war im Gegensatz zu Hume der Überzeugung, dass unser Vertrauen in das Urteil anderer nicht durch Erfahrung erworben, sondern angeboren ist. „Ein anderes ursprüngliches Prinzip, das uns durch das höchste Wesen mitgegeben wurde, ist die Neigung, auf die Zuverlässigkeit anderer zu vertrauen und zu glauben, was sie uns sagen.“542 Reid nennt dieses Prinzip das Prinzip des Glaubens (principle of credulity). Da nach Reid außerdem das Prinzip der Wahrheit (principle of veracity) gilt, wonach Menschen von Natur aus meistens die Wahrheit sagen, sind unsere Überzeugungen meistens wahr, wenn wir das glauben, was uns andere sagen. Und diese Tatsache rechtfertigt unsere so erworbenen Überzeugungen. Antireduktionisten wie Reid müssen nicht der unkritischen Leichtgläubigkeit das Wort reden. Selbst wenn eine Überzeugung dadurch prima facie gerechtfertigt ist, dass sie de facto auf dem aufrichtigen und kompetenten Urteil eines Dritten beruht, auch ohne dass der Rezipient von diesen Eigenschaften weiß oder überhaupt über sie nachgedacht hat, kann diese Rechtfertigung dadurch angefochten werden, dass der Rezipient Informationen bekommt, die nahe legen, dass der Informant unaufrichtig oder inkompetent ist. Reid selbst sagt, dass Kinder zunächst grenzenloses Vertrauen in das Zeugnis anderer haben, bis sie Unaufrichtigkeit und Irrtümer hinter diesen Zeugnissen bemerken. Es kann auch Situationen geben, in denen der Generalverdacht der Unzuverlässigkeit (beispielsweise von Meldungen einer bestimmten Zeitung) ein stehender Anfechtungsgrund ist, der zunächst ausgeräumt werden muss, damit wir uns auf Zeugnisse der fraglichen Quelle verlassen können. Aus der Perspektive des Antireduktionismus erscheint das folgende Modell des Wissens durch das Zeugnis anderer plausibel: Es gibt einen Informanten, der über Wissen oder gerechtfertigte Überzeugung verfügt und diese durch sein Zeugnis an denjenigen transferiert, der dem Zeugnis Glauben schenkt. Dieses Modell legt nahe, dass die Überzeugungen des Rezipienten den epistemischen Status der Überzeugungen des Informanten einfach „erben“. Sie scheinen auf derselben Rechtfertigungs- oder Wissensquelle zu beruhen, wie die Überzeugungen des Informanten. Bei genauerer Betrachtung erweist sich dieses Modell jedoch als zu einfach. Nehmen Sie an, ein Mathematiker beweist einen mathematischen Satz streng a priori. Er informiert Sie über sein Ergebnis. Sie vertrauen seinem Urteil und glauben das, was er sagt. Ist Ihre Überzeugung ebenfalls a

542 Reid 1997, S. 194, meine Übersetzung.



7.4 Wissen durch das Zeugnis anderer 

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priori gerechtfertigt? Aus externalistischer Sicht spricht nichts dagegen zu sagen, dass Ihre Überzeugung gerechtfertigt ist. Sie ist es nicht durch Ihre eigene Leistung, sondern durch die eines anderen. Aber sie ist gerechtfertigt. Die Überzeugung des Mathematikers ist offenbar a priori gerechtfertigt. Aber wenn Sie hören oder lesen, was er behauptet, dann verlassen sie sich dabei offenbar auch auf Ihre eigene Wahrnehmung. Dann scheint Ihre Überzeugung jedoch wenigstens zum Teil durch Erfahrung gerechtfertigt zu sein und wäre damit nicht mehr rein a priori. Dagegen hat Burge eingewandt, dass die Erfahrung in diesem Fall nur eine Ermöglichungsbedingung dafür ist, dass das, was der Mathematiker glaubt, auch von Ihnen geglaubt wird. Mit der eigentlichen Rechtfertigung dessen, was Sie am Ende glauben, hat diese Erfahrung dagegen nichts zu tun.543 Diese Auffassung ist jedoch nicht unumstritten.544 Ferner scheint es Beispiele zu geben, die eindrucksvoll belegen, dass durch das Zeugnis anderer Wissen erworben werden kann, das weder dem unmittelbaren Informanten noch irgendeinem früheren Glied in der Informationskette zur Verfügung steht. Dann würde Wissen innerhalb dieser Kette nicht einfach von einem Glied zum anderen transferiert, sondern manchmal auch im Durchgang durch sie erst ursprünglich erzeugt. Das erste Beispiel dieser Art handelt von einer kreationistischen Biologielehrerin, die ihren Schülern die Evolutionstheorie Darwins auf der Grundlage eines Buches beibringt, ohne selbst an diese Theorie zu glauben.545 Die Lehrerin hat selbst natürlich kein Wissen von der Evolutionstheorie, weil sie ja nicht an diese Theorie glaubt. Sie bringt ihren Schülern aber die Theorie im Unterricht bei. Die Schüler glauben an das, was sie hören; und da die Evolutionstheorie wahr ist und das Buch, an dem sich ihre Lehrerin orientiert, eine zuverlässige Quelle ist, erwerben die Schüler auf diesem Wege auch Wissen. Sie erwerben Wissen durch einen Informanten, das dieser selbst nicht besitzt. Das klingt allerdings spektakulärer, als es wirklich ist. Hier entsteht kein völlig neues Wissen. Es wird nur früheres Wissen, das bei dem Autor des besagten Biologiebuches vorlag, durch einen Überbringer vermittelt, der dieses Wissen selbst nicht besitzt. Das Wissen könnte allerdings nicht auf diese Weise vermittelt werden, wenn es nicht irgendwo früher bereits vorgelegen hätte. Ein zweites Beispiel546 soll zeigen, dass durch das Zeugnis anderer Wissen auch völlig neu entstehen kann, ohne irgendwo in der Informationskette bereits früher existiert zu haben. Nehmen Sie an, jemand erwirbt aus einer perfekt zuverläs-

543 Vgl. Burge 1993. 544 Zur Kritik von Burge vgl. Malmgren 2006. 545 Vgl. dazu Lackey 1999, S. 477. 546 Lackey 1999, S. 484.

402 

 7 Quellen des Wissens

sigen Quelle, beispielsweise durch Wahrnehmung, Überzeugungen, besitzt jedoch (irreführende) Anfechtungsgründe, die seine Rechtfertigung (und sein Wissen) unterminieren. Dennoch teilt er die ursprüngliche Überzeugung jemand anderem mit, der an das glaubt, was ihm gesagt wird. Er verschweigt jedoch die Anfechtungsgründe. In diesem Fall soll der Rezipient Wissen oder gerechtfertigte Überzeugungen über die Sache erwerben können, die der Informant aufgrund seiner Anfechtungsgründe nicht hatte. Dieses vermeintliche Beispiel für einen ursprünglichen Erwerb von Wissen oder gerechtfertigter Überzeugung durch das Zeugnis anderer ist jedoch ebenfalls nicht sehr überzeugend. Wenn der Rezipient einfach das glaubt, was sein Informant sagt, dann erwirbt er so keine gerechtfertigte Überzeugung, weil der epistemische Gesamtstatus der Überzeugung des Informanten an ihn transferiert wird. Die Anfechtung der Rechtfertigung im Informanten überträgt sich auch auf den Rezipienten, und zwar auch dann, wenn der Rezipient von dieser Anfechtung nichts weiß. Hier ist die Sache genau analog zu den positiven Gründen, die der Rezipient auch nicht kennen muss, damit sie seine Überzeugung rechtfertigen. Der Rezipient könnte allenfalls dadurch neues Wissen oder eine neue gerechtfertigte Überzeugung erwerben, dass er Anfechtungsgründe gegen die Anfechtungsgründe seines Informanten erwirbt. Doch dann wären diese Anfechtungsgründe für den Erwerb neuen Wissens verantwortlich und nicht das Zeugnis anderer. Es scheint nur einen möglichen Fall zu geben, wie in der Informationskette neues, basales Wissen entstehen kann. Wenn jemand etwas zuverlässig wahrnimmt, aber ohne gute Gründe sehr skeptisch eingestellt ist, dann kann es passieren, dass er nicht glaubt, was er sieht. Wenn er es dennoch jemand anderem mitteilt, ohne seine eigenen Zweifel zu artikulieren, und wenn der andere glaubt, was er vom Informanten hört, dann erwirbt der Rezipient eine völlig neue gerechtfertigte Überzeugung (oder sogar Wissen). In diesem Sinne kann es sein, dass Wissen ursprünglich neu durch das Zeugnis anderer entsteht. Aber das beweist nicht, dass das Zeugnis anderer eine basale Quelle des Wissens ist. Denn Wissen durch das Zeugnis anderer kann auch in diesem Fall nur dann erworben werden, wenn das Zeugnis des Informanten auf einer zuverlässigen Wahrnehmung beruht. Von dieser Quelle möglichen Wissens hängt das Wissen durch das Zeugnis anderer in jedem Fall ab. Deshalb handelt es sich dabei nicht um eine basale Wissensquelle.

7.5 Studienfragen 1. Warum sind Inferenzen, Erinnerung und das Zeugnis anderer keine basalen Wissensquellen? 2. Was macht Sinnesdaten zu fragwürdigen Existenzen?

7.6 Literaturempfehlungen 

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3. Warum sind Sinneserfahrungen keine perzeptuellen Meinungen? 4. In welcher Beziehung stehen apriorisches Wissen und notwendige Wahrheiten? 5. Warum ist apriorisches Wissen nicht dasselbe wie angeborenes Wissen? 6. Welches ist das beste Argument für apriorisches Wissen? 7. Nennen Sie die beiden Aspekte des erkenntnistheoretischen Sonderstatus von Selbstwissen. Erläutern Sie das mit Hilfe von Beispielen. 8. Warum kann Introspektion Selbstwissen nicht erklären? 9. Was sagt der Reduktionismus über Wissen durch das Zeugnis anderer? Wie erklärt der Reduktionist den Erwerb von Wissen durch Experten? 10. Nehmen Sie an, ein mathematischer Experte berechnet eine Aufgabe korrekt und nennt Ihnen das Ergebnis. Welchen erkenntnistheoretischen Status hat Ihre Meinung, wenn Sie ihm glauben? Erlangen Sie so Wissen und, wenn ja, ist es apriori?

7.6 Literaturempfehlungen Duncan Pritchard 2012: Epistemological Disjunctivism, Oxford (unter günstigen Bedingungen können Wahrnehmungen uns faktive, welteinschließenden Gründe liefern). Albert Casullo 2003: A Priori Justification, Oxford (immer noch beste Gesamtdarstellung der Argumente für und Einwände gegen apriorische Rechtfertigung, aber schwierig zu lesen). Albert Casullo und Joshua Thurow 2013 (Hg.): The A Priori in Philosophy, Oxford (aktueller Sammelband). Brie Gertler 2011: Self-Knowledge, London/New York (beste Gesamtdarstellung zu verschiedenen Theorien des Selbstwissens). Axel Gelfert 2014: A Critical Introduction to Testimony, London/New York (sehr elementare Einführung in die Theorie des sozialen Wissenstransfers). Alvin Goldman 1999: Knowledge in a Social World, Oxford (Klassiker der sozialen Erkenntnistheorie, sehr verständlich und anwendungsbezogen). Jennifer Lackey 2014 (Hg.): Essays in Collective Epistemology, Oxford (Sammelband zu Gruppenwissen). Paul Boghossian 2013: Angst vor der Wahrheit. Ein Plädoyer gegen Relativismus und Konstruktivismus (wichtige kritische Argumentation in deutscher Übersetzung). Bernd Irlenborn 2016: Relativismus, Berlin/Boston (gut verständliche kritische Diskussion des Rechtfertigungs- und Wahrheitsrelativismus, berücksichtigt die Geschichte und Anwendungen). Richard Feldman und Ted Warfield 2010 (Hg.): Disagreement, Oxford (darf man an seinem Urteil im Angesicht eines Dissenses mit Ebenbürtigen festhalten oder muss man sich des Urteils enthalten? Klassischer Sammelband mit Vertreter beider Seiten). Bryan Frances 2014: Disagreement, Cambridge (UK)/Malden (gute grundlegende Einführung in die Epistemologie des Dissenses).

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 7 Quellen des Wissens

Sven Bernecker 2010: Memory. A Philosophical Study, Oxford (Standardwerk zu kognitiven, epistemologischen und metaphysischen Aspekten der Erinnerung, greift auch neuere psychologische Erkenntnisse auf). David Coady 2012: What to Believe Now – Applying Epistemology to Contemporary Issues, Malden/Oxford (erkundet erkenntnistheoretische Aspekte des Alltags: Experten, Gerüchte, Demokratie und das Internet). David Coady 2006 (Hg.): Conspiracy Theories. The Philosophical Debate, Ashgate (Sammlung der wichtigsten Aufsätze zur Erkenntnistheorie der Verschwörungstheorien). Miranda Fricker 2007: Epistemic Injustice. Power and the Ethics of Knowing, Oxford (Stereotypen und begrenzte Vokabulare führen zu Glaubwürdigkeitsdefiziten und anderen epistemischen Ungerechtigkeiten, eine innovative Studie).

8 Naturalistische Erkenntnistheorie Der Naturalismus in der Erkenntnistheorie ist eine philosophische Strömung, die ursprünglich auf David Humes Traktat über die menschliche Natur (1739) zurückgeht, aber vor allem in der gegenwärtigen Erkenntnistheorie im Anschluss an Quines Aufsatz von 1969 einerseits Furore gemacht hat, andererseits jedoch heftig umstritten ist. Der Naturalismus ist eine Reaktion auf grundlegende Probleme und Einseitigkeiten in der traditionellen Erkenntnistheorie. Er lässt sich also nur vor dem Hintergrund der Zielsetzung und Programmatik dieser traditionellen Erkenntnistheorie verstehen. Zum Selbstverständnis der traditionellen Erkenntnistheorie gehört, dass sie alle unsere alltäglichen und wissenschaftlichen Erkenntnisbemühungen fundiert. Sie geht ihnen zwar nicht zeitlich voran, denn sicher steht die Erkenntnistheorie nicht am Anfang allen Wissenserwerbs. Aber sie hat die Aufgabe, alle genuinen Quellen des Wissens und der Rechtfertigung unabhängig zu legitimieren und alle Grundbegriffe der Erkenntnis (wie Wissen, Rechtfertigung und Wahrheit) grundlegend zu klären. Wenn alle Erkenntnisquellen von einem unabhängigen Standpunkt legitimiert werden sollen, dann liegt es nahe, dass es eine autonome (eigenständige) Methode der Erkenntnistheorie geben muss, die eine solche voraussetzungslose Bewertung aller Erkenntnisquellen ermöglicht. Traditionell ist man deshalb von einer apriorischen Methode der Erkenntnistheorie ausgegangen. Eine unabhängige und grundlegende Erkenntnistheorie konnte nicht von den Ergebnissen derjenigen Wissenschaften abhängen, die sie ja allererst, nicht zuletzt auch gegen den Skeptizismus, legitimieren sollte. Deshalb durften empirische und insbesondere psychologische Erkenntnisse keine Rolle spielen. Dies ist das Bild einer von Descartes und Kant geprägten Erkenntnistheorie, die vor allem von den Neukantianern Ende des neunzehnten und Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts zur Perfektion getrieben wurde. Rudolf Eisler, der u. a. auch durch sein Kant Lexikon berühmt geworden ist, drückt diese Sichtweise der traditionellen Erkenntnistheorie besonders pointiert aus: Erkenntnistheorie ist nicht Psychologie, ist nicht Anwendung der Psychologie, hat Psychologie nicht zur Grundlage, nicht zum Ausgangspunkt, ja nicht einmal als Hilfsmittel. […] Die Psychologie, weit entfernt, zur Grundlage der Erkenntnistheorie dienen zu können, setzt diese Wissenschaft oder wenigstens die Geltung ihrer Sätze voraus, sie ist die Abhängige der Erkenntnistheorie.547

547 Eisler 1907, S. 9 f. DOI 10.1515/9783110530278-008

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[Erkenntnistheorie ist] souverän, sie schöpft ihre Gewissheit aus sich selbst, aus ihrer reinen logischen Tätigkeit, mittels welcher sie, in ‚apriorischer‘ Weise, die Grundbegriffe und Grundsätze der Wissenschaften deduziert oder doch legitimiert.548

Daraus ergibt sich das folgende Bild der traditionellen Erkenntnistheorie: Die traditionelle Erkenntnistheorie hat die Aufgabe, alle vermeintlichen menschlichen Erkenntnisquellen normativ zu bewerten und die erkenntnistheoretischen Grundbegriffe zu klären; und sie stützt sich dabei auf eine autonome, von allen nichtphilosophischen Erkenntnisquellen unabhängige Methode apriorischer Einsicht. Für Naturalisten ist dieses Projekt der traditionellen Erkenntnistheorie von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Nach Hume reichen unsere spärlichen empirischen Gründe, die von nichts anderem als unseren Sinneserscheinungen handeln, nie und nimmer aus, um unsere Überzeugungen über die Außenwelt wirklich zu rechtfertigen. Eine Legitimation unserer Erkenntnis über die Außenwelt hält er schlicht für unmöglich. Außerdem erkennt er ein prinzipielles Problem in dem Versuch, alle Erkenntnisquellen voraussetzungslos gegen den Skeptiker zu legitimieren. Jeder Versuch einer erkenntnistheoretischen Legitimation beruht bereits auf vorausgesetzten Erkenntnisquellen und kann deshalb nicht vollkommen voraussetzungslos sein. Es macht also keinen Sinn, nach einer unabhängigen Legitimation aller Erkenntnisquellen zu suchen.549 Quine schließt sich in seinem Aufsatz von 1969 diesem Skeptizismus gegenüber der traditionellen Erkenntnistheorie einschränkungslos an: Was ist mit der (…) Rechtfertigung unseres Wissens von Wahrheiten über die Natur? Hier ist Hume verzweifelt. (…) Ich sehe nicht, dass wir heute auch nur ein Stück weitergekommen sind als Hume. Die Humesche Zwangslage ist die menschliche Zwangslage.550

Sowohl Hume als auch Quine haben aus dem vermeintlichen Scheitern der traditionellen Erkenntnistheorie radikale Konsequenzen gezogen. Sie haben die Suche nach einer Rechtfertigung und Legitimation unserer Überzeugungen als fruchtlos aufgegeben und sie durch eine Untersuchung der kausalen Genese unserer Überzeugungen ersetzt. Die traditionelle Erkenntnistheorie wurde durch empirische Erkenntnispsychologie ersetzt. Deshalb kann man auch von einem ersetzenden Naturalismus sprechen. Quine beschreibt die Nachfolgedisziplin der traditionellen Erkenntnistheorie wie folgt:

548 Eisler 1907, S. 11. 549 Das ist der Kern von Humes Kritik an Descartes ‚vorangehendem‘ Skeptizismus; vgl. Hume 1993, S. 175 f. 550 Quine 1969, S. 17; meine Übersetzung.



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Die Reizung der Sinnesrezeptoren sind die einzigen Belege, die wir letztlich haben, um zu unserem Bild über die Welt zu kommen. Warum sollen wir uns nicht einfach ansehen, wie diese Konstruktion wirklich von statten geht? Warum sollten wir uns nicht der Psychologie zuwenden? (…) Wenn es das Ziel des Erkenntnistheoretikers ist, die Gründe der empirischen Wissenschaften zu legitimieren, dann untergräbt er dieses Ziel natürlich durch die Verwendung der Psychologie oder empirischer Wissenschaften im Zuge dieser Legitimation.551 Es ist wahrscheinlich nützlicher zu sagen, dass die Erkenntnistheorie weiterhin fortbesteht, wenn auch in einem neuen Rahmen und mit einem geklärten Status. Erkenntnistheorie oder etwas Ähnliches wird einfach zu einem Kapitel der Psychologie und damit der Naturwissenschaften.552

Quines ersetzender Naturalismus lässt sich also durch die folgenden drei Thesen charakterisieren:553 EN1 Der Untersuchungsgegenstand der naturalistischen Erkenntnistheorie ist die kausale Genese unserer Überzeugungen aufgrund von Sinnesreizungen. EN2 Die Legitimation von Methoden und Gründen spielt keine Rolle für die naturalistische Erkenntnistheorie. EN3 Die naturalistische Erkenntnistheorie ist die Nachfolgedisziplin der traditionellen Erkenntnistheorie. Der von Quine propagierte ersetzende Naturalismus ist von traditionellen Erkenntnistheoretikern heftig angegriffen worden. Ich möchte hier einige der häufigsten Einwände wiedergeben. Erstens sind die Argumente* von Quine keineswegs ausreichend, um das Scheitern der traditionellen Erkenntnistheorie nachzuweisen. Quine beruft sich nämlich auf das skeptische Argument der erkenntnistheoretischen Kluft. Und wie wir gesehen haben, handelt es sich dabei um kein überzeugendes Argument für den Skeptizismus. Und selbst wenn es das wäre, betrifft dieses Argument nur empiristische Positionen, schließt jedoch keinesfalls aus, dass die Rationalitätslücke zwischen Sinnesdaten und Außenweltüberzeugungen durch ein apriorisches Brückenprinzip geschlossen werden könnte.554 Allerdings bleiben Humes (und Quines) Bedenken gegen eine voraussetzungslose Legitimation aller Erkenntnisquellen bestehen. Eine solche Legitimation erscheint unmöglich, weil wir einen voraussetzungslosen Standpunkt niemals einnehmen können. Jeder Erkenntnisanspruch (auch der der Erkenntnistheorie) beruht auf der Legitimität der verwendeten Methoden und setzt diese voraus.

551 Quine 1969, S. 20; meine Übersetzung. 552 Quine 1969, S. 25; meine Übersetzung. 553 Allerdings hat Quine später anerkannt, dass es in der Erkenntnistheorie Raum für normative Fragen geben muss. Vgl. Quine 1986. 554 Vgl. BonJour 1994, S. 286.

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Zweitens folgt aus dem Scheitern einer voraussetzungslosen Erkenntnistheorie jedoch nicht ohne weiteres, dass alle normativen Fragen der Erkenntnistheorie aufgegeben werden müssen und als einziger Ausweg die Psychologie bleibt. Dies scheint einfach eine Überreaktion zu sein. Drittens: Wenn die normative Erkenntnistheorie tatsächlich komplett scheitern würde, wie Quine behauptet, dann wäre der ersetzende Naturalismus mit Sicherheit kein Nachfolger der traditionellen Erkenntnistheorie, sondern eine Disziplin würde in diesem Fall durch eine ganz andere ersetzt. Es findet offensichtlich ein Themenwechsel statt, bei dem etwas Wesentliches der ursprünglichen Disziplin verloren geht. Während die traditionelle Erkenntnistheorie nämlich zwischen guten und schlechten Gründen bzw. Erkenntnisquellen unterscheidet, spielen solche evaluativen Unterschiede in der Psychologie, die an die Stelle der traditionellen Erkenntnistheorie treten soll, überhaupt keine Rolle.555 Die Psychologie kann erkenntnistheoretische Normativität ganz und gar nicht erklären. Quines ersetzender Naturalismus ist also nicht ausreichend begründet. Vor allem jedoch lässt er sich nicht als legitimer Nachfolger der traditionellen Erkenntnistheorie verstehen; er verfolgt einfach eine ganz andere Fragestellung, wenn er die kausale Genese unserer Überzeugungen und nicht mehr deren rechtfertigende Gründe untersucht. Es gibt jedoch andere Versionen des Naturalismus, die in dieser Beziehung wesentlich besser abschneiden. Alle Positionen, die mit den normativen Fragen genuine erkenntnistheoretische Tatsachen im Blick behalten, gleichzeitig jedoch annehmen, dass erkenntnistheoretische Tatsachen Teil der natürlich-deskriptiven Welt sind, die sich letztlich auch mit Hilfe empirischer Methoden untersuchen lässt, sollen als Versionen eines erhaltenden Naturalismus bezeichnet werden. Im Gegensatz zum ersetzenden Naturalismus verfolgt der erhaltende Naturalismus weiter die Aufgabe einer Bewertung unserer Gründe und vermeintlichen Erkenntnisquellen. Allerdings soll diese Bewertung im Rahmen und mit Hilfe der empirischen Wissenschaften stattfinden. Im Rahmen des erhaltenden Naturalismus lassen sich wiederum zwei unterschiedliche Versionen unterscheiden: der ontologische und der methodologische Naturalismus. Der ontologische Naturalismus in der Erkenntnistheorie behauptet, dass erkenntnistheoretische Tatsachen von deskriptiven und damit im weitesten Sinne natürlichen Tatsachen abhängen. Was ist damit gemeint? Franz weiß, dass

555 Kim war einer der ersten Kritiker Quines, der nachdrücklich auf diesen Punkt hingewiesen hat. Vgl. Kim 1993, S. 227: „Es ist schwer zu sehen, wie eine ‚Erkenntnistheorie‘, die von jeglicher Normativität gereinigt wurde und der ein angemessen normativer Begriff der Rechtfertigung oder des Grundes fehlt, irgendetwas zu tun haben sollte mit den Zielen der traditionellen Erkenntnistheorie.“ (meine Übersetzung) Vgl. auch Bartelborth 1996, S. 37, 107; O’Brien 2006, S. 135.



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Napoleon die Schlacht bei Waterloo verloren hat und Judith ist gerechtfertigt zu glauben, dass sie ihre Prüfung bestanden hat sind typische Kandidaten erkenntnistheoretischer Tatsachen. Solche Tatsachen enthalten eine Bewertung. Franz und Judith haben ihre Sache erkenntnistheoretisch gut gemacht. Wenn man nun sagt, dass erkenntnistheoretische Wissens- und Rechtfertigungstatsachen von deskriptiven Tatsachen abhängen, dann bedeutet das, dass evaluative Tatsachen aufgrund von deskriptiven Tatsachen bestehen. Wenigstens gilt das, wenn man unter „Abhängigkeit“ hier keine kausale, sondern eine metaphysische Beziehung der Realisierung* versteht. Eine derartige Abhängigkeit zwischen deskriptiven und evaluativen Tatsachen ist sicher keine triviale Sache. Vom ontologischen Naturalismus muss man den methodologischen Naturalismus unterscheiden. Dieser behauptet etwas über die Methode der Erkenntnistheorie. In seiner starken Form behauptet er, dass die Methode der Erkenntnistheorie rein empirisch ist. Das muss allerdings nicht heißen, dass bereits bestehende empirische Wissenschaften die Erkenntnistheorie übernehmen (wie der Szientismus sagt). Der starke methodologische Naturalismus lässt es im Prinzip offen, ob auch empirisches Alltagswissen oder noch zu entwickelnde empirische Wissenschaften für die Erkenntnistheorie eine grundlegende Rolle spielen. Der schwache methodologische Naturalismus besagt im Unterschied zu seinem starken Bruder, dass die Ergebnisse der empirischen Wissenschaften, also der Psychologie, Neurowissenschaften, Kognitionswissenschaft, Biologie oder Soziologie, für die Erkenntnistheorie relevant sind. Das schließt nicht aus, dass es wesentliche nicht-empirische Methoden der Erkenntnistheorie gibt.

Abb. 11

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Sehen wir uns zunächst den ontologischen Naturalismus etwas genauer an. Wenn man sagt, dass erkenntnistheoretische Wissens- und Rechtfertigungstatsachen von deskriptiven Tatsachen abhängen, dann möchte man damit sagen, dass die erkenntnistheoretischen Tatsachen allein aufgrund der ihnen zugrunde liegenden deskriptiven Tatsachen bestehen, so wie die Tatsachen über einen Getränkeautomaten allein aufgrund der physikalischen Mechanik des Geräts bestehen. Tatsachen einer Art werden durch Tatsachen einer anderen Art realisiert. Um dieses Verhältnis exakt zu beschreiben, verwendet man üblicherweise den Begriff der Supervenienz*. Tatsachen einer Art B supervenieren metaphysisch auf Tatsachen einer Art A, wenn es im stärksten Sinne unmöglich ist, dass es eine Differenz der B-Tatsachen ohne eine Differenz der A-Tatsachen gibt.556 So superveniert die Darstellung eines Bildes metaphysisch auf die Verteilung der Farbenpigmente an den einzelnen Bildpunkten. Ohne eine Veränderung dieser Verteilung kann sich auch die Darstellung nicht ändern. Wenn die metaphysische Supervenienzbeziehung zwischen deskriptiven Tatsachen und erkenntnistheoretischen Tatsachen ausdrückt, dass die erkenntnistheoretischen Tatsachen durch deskriptive Tatsachen realisiert werden und von ihnen abhängig sind, was spricht dann für eine solche Abhängigkeit im metaphysischen Sinne?557 Hier sind zwei Überlegungen wichtig. Erstens wird ein Naturalist immer skeptisch gegenüber Tatsachen sein, die irreduzibel evaluativ oder normativ sind. Wo existieren solche Tatsachen? Wie passen sie in unsere natürliche Welt hinein? Das bleibt für den Naturalisten rätselhaft. Zweitens erklären wir in vielen alltäglichen Kontexten Handlungen eines Akteurs durch sein Wissen. Wir sagen etwa „Der Einbrecher suchte weiter nach dem Schmuckkästchen, weil er wusste, dass Juwelen im Haus waren.“ Wenn Wissen jedoch kausal Handlungen bewirkt, die ihrerseits in die natürliche (deskriptive) Welt hineinwirken, und wenn wir ferner annehmen, dass die natürliche Welt kausal geschlossen ist, d. h. nur natürliche Ursachen in sie hineinwirken, dann muss Wissen durch natürliche Tatsachen realisiert sein. Wenn wir auf die Ergebnisse des analytischen Teils dieser Einführung zurückblicken, dann bietet sich der Reliabilismus an, um die These des ontolo-

556 Wenn man diesen stärksten Sinn von „unmöglich“ in der Sprache möglicher Welten ausdrückt, dann sagt man, dass es über alle metaphysisch möglichen Welten hinweg keine Differenz der B-Tatsachen ohne eine Differenz der A-Tatsachen gibt. Auf diese Weise wird ausgeschlossen, dass die B-Tatsachen nur kausal von den A-Tatsachen abhängen. Kausale Abhängigkeiten gelten nämlich nur in einer Teilmenge aller möglichen Welten: den nomologischen möglichen Welten. 557 Es gibt inzwischen eine ganze Reihe von Einwänden dagegen, metaphysische Abhängigkeiten der relevanten Art mit Hilfe von Supervenienzbeziehungen zu erklären. Wer hier skeptisch ist, kann gerne auch den Fundierungsbegriff („grounding“) verwenden. Zu den Grundlagen von grounding vgl. Bliss und Trogdon 2016.



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gischen Naturalismus zu rechtfertigen. Eine reliabilistische Theorie des Wissens besagt, dass Wissen perfekt reliable wahre Überzeugung ist (also eine Überzeugung, die durch sichere Gründe verursacht wird). Eine reliabilistische Theorie der Rechtfertigung besagt, dass es notwendig* und hinreichend* für eine prima facie gerechtfertigte Überzeugung ist, wenn diese Überzeugung durch einen reliablen Prozess verursacht wird. Da die reliabilistischen Theorien des Wissens und der Rechtfertigung auf einer begrifflichen Explikation beruhen, gelten sie einschränkungslos für alle möglichen Welten*, denn begriffliche Wahrheiten sind notwendig wahr. Wenn die Begriffsexplikation wahr ist, supervenieren erkenntnistheoretische Tatsachen also metaphysisch auf Tatsachen über die reliable Genese von Überzeugungen. Tatsachen über die reliable Genese von Überzeugungen sind jedoch rein deskriptive Tatsachen. Sie beruhen auf kausalen Tatsachen der Überzeugungsgenese und Tatsachen über die Häufigkeit der Wahrheit (von Resultaten eines Prozesstyps). Die reliabilistische Analyse unserer epistemischen Begriffe impliziert also, dass erkenntnistheoretische Tatsachen metaphysisch auf deskriptive Tatsachen supervenieren.558 Deshalb ist der ontologische Naturalismus in der Erkenntnistheorie eine natürliche Konsequenz aus dem Reliabilismus. Er ist jedoch auch mit anderen Theorien des Wissens und der Rechtfertigung verträglich. Das zeigt ein kurzer Blick auf den Subjektivismus der Rechtfertigung. Nehmen wir einmal an, die Überzeugung einer Person wäre dann gerechtfertigt, wenn diese Überzeugung den grundlegenden Prinzipien entspricht, die diese Person aufgrund von sorgfältigster Reflexion für wahr hält. Auch in diesem Fall supervenieren Rechtfertigungstatsachen metaphysisch auf psychologische Tatsachen, wenn der Subjektivismus auf Begriffsanalyse beruht. Der ontologische Naturalismus in der Erkenntnistheorie ist z. T. sehr heftig attackiert worden. Wilfrid Sellars erhebt beispielsweise folgenden Einwand: Meiner Überzeugung nach ist es ein schwerer Irrtum zu glauben, dass sich epistemische Tatsachen restlos in nicht-epistemische Tatsachen zerlegen lassen, und sei es auch nur im ‚Prinzip‘. […] Und wer glaubt, dass so etwas möglich ist, der irrt sich. Sein Irrtum kommt dem gleich, was man in der Ethik einen ‚naturalistischen Fehlschluss‘ nennt.559

558 Goldman 1979 macht von vornherein ganz klar, dass seine reliabilistische Analyse der Rechtfertigung in nicht-epistemischen Begriffen erfolgt. Vgl. ebd., S. 1, meine Übersetzung: „Ich möchte eine Theorie gerechtfertigter Überzeugung, die in nicht-epistemischen Begriffen angibt, wann eine Überzeugung gerechtfertigt ist.“ 559 Sellars 1999, S. 8.

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Sellars Anspielung auf den naturalistischen Fehlschluss in der Ethik560 lässt vermuten, dass Sellars folgendes Argument im Sinn hat: (1)

(2)

Epistemische Aussagen lassen sich begriffsanalytisch nicht aus deskriptiven Aussagen ableiten, weil epistemische Aussagen ein normatives Element enthalten, das deskriptive Aussagen nicht enthalten. Wenn sie sich jedoch nicht begrifflich ableiten lassen, dann lassen sich die entsprechenden Tatsachen auch ontologisch nicht aufeinander reduzieren.

Also: Epistemische Tatsachen lassen sich nicht auf deskriptive Tatsachen reduzieren. Obwohl häufig gegen antireduktionistische Überlegungen eingewandt wird, dass eine ontologische Reduktion keine begriffliche voraussetzt und deshalb eine ontologische Reduktion damit verträglich ist, dass die supervenierenden Aussagen nicht aus der Supervenienzbasis begrifflich abgeleitet werden können, möchte ich Prämisse (2) hier nicht angreifen.561 Ich brauche das auch nicht, denn Prämisse (1) ist falsch, zumindest wenn man die reliabilistische Analyse des Rechtfertigungsbegriffs unterstellt. Epistemische Aussagen enthalten nämlich gar keine kategorische Normativität, sondern sie beschreiben nur, ob eine Überzeugung auf ein nützliches Mittel in Bezug auf das Ziel der Wahrheit gestützt ist. In solchen Aussagen sind letztlich alle evaluativen Ausdrücke ohne Verlust durch deskriptive ersetzbar. Und deshalb unterläuft den Naturalisten hier nicht der von Sellars unterstellte Fehlschluss. Das hat bereits Quine selbst in einer Verteidigung des Naturalismus gegen seine Kritiker sehr pointiert formuliert: Für mich ist die normative Erkenntnistheorie ein Zweig der Technik. […] Hier gibt es keine Frage letzter Werte, wie in der Ethik, sondern es handelt sich um eine Sache der Zweckdienlichkeit relativ zu einem letzten Ziel, der Wahrheit. […] Das Normative wird hier […] deskriptiv, wenn der letzte Parameter ausformuliert ist.562

560 Von einem solchen Fehlschluss spricht man seit Hume dann, wenn ethische Sollensaussagen aus rein deskriptiven Aussagen abgeleitet werden. 561 Vgl. dazu die Debatte zwischen Chalmers und den so genannten Aposteriori-Physikalisten über den ontologischen Status des phänomenalen Bewusstseins. In diesem Streit sind sich beide Seiten einig, dass sich Aussagen über phänomenales Bewusstsein nicht aus physikalischen Aussagen ableiten lassen. 562 Quine 1986, S. 664 f.; meine Übersetzung.



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Damit lässt sich festhalten, dass der ontologische Naturalismus aus der Perspektive ganz unterschiedlicher Analysen epistemischer Begriffe (unter ihnen der Reliabilismus) sehr plausibel ist. Der starke methodologische Naturalismus macht dagegen zunächst einmal keine Aussage über die Ontologie seines Gegenstandsbereichs, sondern behauptet, dass die Erkenntnistheorie auf rein empirischen Methoden beruht.563 Im Folgenden sollen die Stärken und Schwächen dieser Position im Lichte von einigen grundlegenden Einwänden bewertet werden. Hier ein erster Einwand: Wenn die Erkenntnistheorie rein empirisch ist, dann ist sie zirkulär*. Diese Zirkularität wird deutlich, wenn man sich klar macht, dass die Erkenntnistheorie eine Theorie aller erkenntnistheoretischen Quellen des Wissens und der Rechtfertigung sein soll. Wenn sie eine Theorie aller Quellen ist, dann ist sie auch eine Theorie aller empirischen Quellen. Sofern die Erkenntnistheorie auf empirischen Erkenntnisquellen beruht, ist sie damit auch eine Theorie ihrer eigenen Quelle. Sie ist also zirkulär. Um diesen Einwand bewerten zu können, sollte zunächst zwischen einem logischen und einem epistemischen Zirkel unterschieden werden.564 Ein logischer Zirkel tritt in Argumenten auf, wenn die Konklusion explizit unter den Prämissen vorkommt. Wenn ich also beispielsweise argumentiere „Ich habe Recht mit meiner Behauptung, weil ich mit meiner Behauptung Recht habe.“, dann haben wir einen Fall einer solchen logischen Zirkularität.565 Logisch zirkuläre Argumente sind auf jeden Fall gültig*. In einem solchen Argument erzwingt die Wahrheit der Prämisse die Wahrheit der Konklusion, wie es die Definition* von deduktiv* gültigen Argumenten vorsieht. Aber logisch zirkuläre Argumente sind erkenntnistheoretisch wertlos. Sie stehen nämlich vor folgendem Dilemma*: Entweder ihre Konklusion ist bereits als Prämisse des Arguments gerechtfertigt. Dann ist das Argument überflüssig, weil wir es ja gar nicht zur Rechtfertigung der fraglichen Proposition* benötigen. Oder die Prämisse ist nicht gerechtfertigt. Dann ist das Argument unzureichend, um die Konklusion zu rechtfertigen. Denn selbst ein gültiges Argument ist ohne gerechtfertigte Prämisse nicht dazu in der Lage, die Konklusion zu rechtfertigen. Von logisch zirkulären Argumenten müssen epistemisch zirkuläre Rechtfertigungen unterschieden werden. Sie liegen vor, wenn die Prämisse des Arguments nur dann gerechtfertigt ist, wenn die Konklusion des Arguments wahr ist. Hier ein Beispiel: Nehmen Sie an, Sie wollten rechtfertigen, dass es Rechtfertigungen gibt, indem Sie Beispiele aufzählen. Sie zählen

563 Vgl. besonders dezidiert Kornblith 2002. 564 Vgl. dazu sehr gut Alston 1989e. 565 Die abstrakte Form ist hier: p, also p.

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also einzelne Instanzen von Rechtfertigungen auf, die Sie kennen, und folgern daraus, dass es Rechtfertigungen gibt. Ein solches Argument ist epistemisch zirkulär, weil Sie, um die Prämissen rechtfertigen zu können, bereits die Wahrheit der Konklusion voraussetzen müssen. Wenn es keine Rechtfertigung gäbe, dann könnten Sie nicht rechtfertigen, dass es Rechtfertigung gibt. Mit welchem Fall haben wir es beim starken methodologischen Naturalismus zu tun? Eine empirische Erkenntnistheorie fängt offensichtlich nicht mit der Prämisse an, dass empirische Methoden zuverlässig sind. Es liegt also kein offensichtlicher logischer Zirkel vor. Allerdings kann die empirische Erkenntnistheorie keine gerechtfertigten Ergebnisse hervorbringen, wenn empirische Erkenntnis nicht zuverlässig ist. Zumindest gilt das, wenn man eine Version des Rechtfertigungsobjektivismus unterstellt. Die empirischen Methoden müssen also zuverlässig sein, damit die naturalistische Erkenntnistheorie rechtfertigen kann, dass empirische Methoden zuverlässig sind. Diese Rechtfertigung setzt die Wahrheit der Konklusion voraus. Der starke methodologische Naturalismus verwickelt sich also in einen epistemischen Zirkel. Wie schädlich dieser Zirkel ist, hängt nun ganz davon ab, ob man Zugangsinternalist oder Externalist ist. Für den Zugangsinternalisten ist der epistemische Zirkel verheerend. Der Zugangsinternalist ist nämlich der Auffassung, dass eine zuverlässige Methode nur dann Überzeugungen rechtfertigen kann, wenn man gerechtfertigterweise glaubt, dass diese Methode zuverlässig ist. Um also mit Hilfe einer Methode M die Zuverlässigkeit von M zu rechtfertigen, müsste der Zugangsinternalist bereits vorab die gerechtfertigte Überzeugung haben, dass M zuverlässig ist. Für den Internalisten ergibt sich also aus dem epistemischen Zirkel automatisch ein logischer Zirkel, der – wie wir gesehen haben – erkenntnistheoretisch problematisch ist. Der Externalist kann dagegen die epistemische Zirkularität akzeptieren. Um mit Hilfe der Methode M die Zuverlässigkeit von M zu rechtfertigen, muss der Externalist nicht von der gerechtfertigten Prämisse ausgehen, dass M zuverlässig ist, sondern es muss nur tatsächlich der Fall sein, dass M zuverlässig ist. Deshalb ergibt sich für ihn keine vergleichbare logische Zirkularität wie für den Internalisten. Kurz: Für einen Externalisten ergibt sich aus der epistemischen Zirkularität des starken methodologischen Naturalismus kein ernsthaftes Problem. Allerdings muss er zugeben, dass man im Rahmen des methodologischen Naturalismus den Skeptizismus nicht widerlegen kann. Um nämlich strittige Fragen zu entscheiden, darf man sich auf keine der Methoden stützen, die in Frage stehen. Der epistemisch zirkuläre Nachweis des Naturalisten, dass unsere basalen Methoden zuverlässig sind, ist also keine echte Widerlegung des Skeptikers.



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Zweitens ist gegen den starken methodologischen Naturalismus eingewandt worden, dass er epistemisch inkonsistent* ist.566 Eine Position ist epistemisch inkonsistent, wenn ihre Wahrheit ihrer Rechtfertigung widerspricht. Die These, dass es keine Rechtfertigung gibt, ist in diesem Sinne epistemisch inkonsistent. Sie kann wahr sein, aber wenn sie wahr ist, dann ist sie selbst nicht gerechtfertigt. Eine epistemisch inkonsistente Position kann man rationalerweise nicht vertreten, denn man kann nicht konsistent glauben, dass sie zugleich wahr und gerechtfertigt ist. Doch was spricht dafür, dass der starke methodologische Naturalismus epistemisch inkonsistent ist? Der Gegner des starken methodologischen Naturalismus argumentiert wie folgt: Nehmen wir einmal an, der starke methodologische Naturalismus wäre wahr, dann gäbe es keine Rechtfertigung a priori*. Wenigstens dürfte der Naturalist für erkenntnistheoretische Rechtfertigungen keine apriorischen Rechtfertigungen verwenden. Nun lassen sich aber Theorien generell nur dadurch rechtfertigen, dass wir mit Hilfe eines induktiven* Schlusses oder eines Schlusses auf die beste Erklärung über das, was wir unmittelbar wahrnehmen, hinausgehen. Wenn wir solche erfahrungstranszendierenden Schlüsse beim Theorieaufbau vollziehen, dann müssen wir Gründe haben zu glauben, dass die Konsequenzen dieser Schlüsse zumindest wahrscheinlich wahr sind. Die Erfahrung kann uns hier nicht weiterhelfen, weil wir ja gerade Schlüsse ziehen, die über die Erfahrung hinausführen. Also können wir die Zuverlässigkeit erfahrungstranszendierender Schlüsse nur a priori einsehen. Theorien sind also nur dann gerechtfertigt, wenn wir diese Schlüsse a priori als zuverlässig rechtfertigen können. Eine solche Rechtfertigung schließt der methodologische Naturalist jedoch aus. Wenn er Recht hat, gibt es also keine gerechtfertigten Theorien. Da es sich beim starken methodologischen Naturalismus jedoch selbst um eine Theorie handelt, ergibt sich, dass dieser Naturalismus nicht gerechtfertigt ist, wenn er wahr ist. Der starke methodologische Naturalismus ist also epistemisch inkonsistent. Es lässt sich leicht erkennen, dass dieser Einwand gegen den methodologischen Naturalismus wiederum den Zugangsinternalismus voraussetzt. Wenn der Zugangsinternalismus korrekt ist, dann können wir erfahrungstranszendierende Schlüsse nur dann gerechtfertigt vollziehen, wenn wir einsehen, dass sie zuverlässig sind. Und dafür ist eine apriorische Einsicht unverzichtbar. Aus der Perspektive des Externalisten ist jedoch nichts dergleichen erforderlich. Seine erfahrungstranszendierenden Schlüsse sind gerechtfertigt, wenn sie tatsächlich zuverlässig sind. Irgendeine apriorische Einsicht ist dafür nicht nötig. Und

566 Vgl. BonJour 1994, 1998, S. 5.

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deshalb ist der starke methodologische Naturalismus aus der Perspektive des Externalismus auch nicht epistemisch inkonsistent. Die Antworten auf die beiden ersten Einwände, den Zirkularitätseinwand und den Inkonsistenzeinwand, zeigen, dass man als methodologischer Naturalist Externalist sein sollte. Im Rahmen dieser Position tauchen die angemahnten Probleme nicht auf. Und bei der Untersuchung des Rechtfertigungsbegriffs hatte sich ja bereits aufgrund unabhängiger Überlegungen herausgestellt, dass der Externalismus der plausiblere Standpunkt ist. Gibt es nun weitere Einwände gegen den starken methodologischen Naturalismus, die auch die Position des Externalisten betreffen? Der folgende Einwand liegt auf der Hand: In der Erkenntnistheorie sollen die erkenntnistheoretischen Grundbegriffe wie Wahrheit, Wissen und Rechtfertigung geklärt werden. Das gehört zu ihren analytischen Aufgaben. Doch worauf sollte man hier zurückgreifen, wenn nicht auf die Methode der Begriffsanalyse? Und wenn wir diese Methode praktizieren, dann stützen wir uns auf apriorische begriffliche Intuitionen. Zumindest im analytischen Teil der Erkenntnistheorie sind apriorische Methoden also unverzichtbar. Das übersieht der starke methodologische Naturalismus.567 Was ist von diesem Einwand zu halten? Der wohl konsequenteste Vertreter des starken methodologischen Naturalismus, Hilary Kornblith, hat sich damit ganz explizit auseinandergesetzt.568 Kornblith weist zunächst einmal darauf hin, dass wir im analytischen Teil der Erkenntnistheorie nicht primär unsere erkenntnistheoretischen Begriffe klären wollen, sondern verstehen wollen, was Wahrheit, Wissen und Rechtfertigung selbst sind.569 Es geht uns also primär um ein Verständnis grundlegender erkenntnistheoretischer Phänomene und nicht so sehr um unsere Begriffe von ihnen. Er zieht einen Vergleich zu den Naturwissenschaften. Wenn die Natur bestimmter Steine oder eines Metalls wie Aluminium geklärt werden soll, dann analysieren wir nicht unsere Begriffe dieser Substanzen, sondern wir untersuchen die Steine und das Metall selbst. Warum sollte es nicht in der Erkenntnistheorie genauso sein? Und wenn es so wäre, dann könnte diese Untersuchung der erkenntnistheoretischen Grundkategorien selbstverständlich ganz empirisch durchgeführt werden, so wie die Untersuchung der Natur der Steine und des Metalls auch empirisch von statten geht. Kornblith ist genauer der Auffassung, dass Begriffe über die Sache selbst wenige Informationen enthalten und oft sogar irreführend sind. Diese Informa-

567 Ganz ähnlich argumentieren Bealer 1998, Feldman 1999. 568 Vgl. Kornblith 2002. 569 Kornblith 2002, S. 1.



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tion beruht ihm zufolge immer auf empirischem Hintergrundwissen, ist also niemals a priori. Und wir brauchen uns auf die in den Begriffen enthaltenen Informationen gar nicht zu stützen, wenn wir etwas über die Sache selbst herausfinden wollen. Dazu sollten wir diese Sache selbst besser direkt untersuchen. Dieses Bild des Verhältnisses zwischen Begriff und Welt trifft sehr gut auf Natürliche-Art-Begriffe zu.570 Solche Begriffe werden eingeführt durch eine direkte Bezugnahme auf paradigmatische Beispielfälle und nicht durch eine Beschreibung der Referenzgegenstände. Unter den Begriff ‚Aluminium‘ fallen bestimmte Metallstücke nicht deshalb, weil sie eine bestimmte Beschreibung erfüllen, sondern weil sie derselben natürlichen Art* angehören wie die paradigmatischen Beispielfälle. Dazu muss die natürliche Art dem Sprecher gar nicht bekannt sein. Und so ist es ja auch im Fall von Aluminium. Der von uns verwendete Aluminiumbegriff trifft auf bestimmte Dinge aufgrund bestimmter atomarer Eigenschaften zu, auch wenn wir diese gar nicht kennen und über Aluminium nur wissen, dass es ein graues und leichtes Metall ist. Bei Natürliche-Art-Begriffen wird die Referenz daher oft durch einen komplizierten kausalen Mechanismus fixiert, der mit unserem vermeintlichen Wissen über die Sache nichts zu tun hat. Dieses vermeintliche Wissen wird empirisch mit dem Begriff assoziiert und wird in den meisten Fällen wenig aussagekräftig und manchmal sogar irreführend sein. Mit dem Begriff ‚Fisch‘ wurde sehr lange assoziiert, dass es sich um im Wasser lebende Tiere mit einer bestimmten Körperform und Fortbewegungsart handelt. Später fand man heraus, dass diese Charakterisierung der Fische irreführend ist, da manche dieser im Wasser lebenden Tiere gar keine Fische, sondern Säugetiere sind. Wenn erkenntnistheoretische Grundbegriffe also Natürliche-Art-Begriffe wären, dann hätte Kornblith mit seiner Behauptung Recht, dass unser mit diesen Begriffen verknüpftes Wissen empirisch, fehlbar und unnötig ist, um zu klären, worum es sich bei Wahrheit, Wissen und Rechtfertigung wirklich handelt. Doch sind erkenntnistheoretische Begriffe tatsächlich Natürliche-Art-Begriffe? Um diese Frage zu beantworten, sollen zunächst einige wenige alternative Kategorien von Begriffen eingeführt werden. Betrachten Sie z. B. den Begriff ‚Junggeselle‘. Referenten dieses Begriffs werden nicht durch paradigmatische Fälle eingeführt, sondern offenbar durch eine Beschreibung. Wenn es sich um einen deskriptiven Begriff handelt, dann ist diese Beschreibung nicht bloß kontingent* mit dem Referenten assoziiert, sondern sie fixiert den Referenten auf definitorische Weise. Deshalb kann sie uns über den Referenten auch nicht täuschen, sondern verrät uns etwas über seine tatsächlichen Eigenschaften. Junggesellen sind unverhei-

570 Kornblith 2002, S. 12.

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ratete Männer, weil diese Beschreibung festlegt, welche Gegenstände unter den Begriff ‚Junggeselle‘ fallen. Wenn man zusätzlich die Auffassung vertritt, dass wir die referenzfixierende Beschreibung zumindest implizit auch kennen müssen, um den Begriff überhaupt verwenden zu können, dann ist klar, dass uns im Fall von deskriptiven Begriffen unser assoziiertes Wissen a priori etwas über ihre Referenten selbst verrät. Betrachten Sie des Weiteren noch Idealbegriffe, wie etwa den Begriff eines exakten Kreises. Dieser Begriff kann kein Natürliche-Art-Begriff sein, weil es keine paradigmatischen Fälle in der Realität gibt. Es gibt bekanntlich keine exakten Kreise, sondern jeder wirkliche Kreis ist bestenfalls eine Approximation an einen exakten Kreis. Also kann die Referenz eines solchen Begriffes nicht über paradigmatische Fälle festgelegt werden. Ich möchte nun drei Einwände gegen Kornbliths These vorbringen, dass es sich bei erkenntnistheoretischen Grundbegriffen um Natürliche-Art-Begriffe handelt. Erstens ist es bei Natürliche-Art-Begriffen sinnlos zu fragen, ob sie auf wenigstens einige Dinge zutreffen. Worauf solche Begriffe zutreffen wird durch die Klasse von paradigmatischen Beispielsfällen festgelegt. Solche Fälle muss es folglich geben, damit der Begriff seine Identität bekommt. Nun ist es aber durchaus sinnvoll zu fragen, ob es Wissen bzw. gerechtfertigte Überzeugungen überhaupt gibt. Das zeigt die Verständlichkeit von skeptischen Überlegungen. Man muss ihnen gar nicht zustimmen, sondern sie nur für sinnvoll halten, um zu glauben, dass es wenigstens möglich ist, dass es keine Fälle von Wissen bzw. gerechtfertigter Überzeugung gibt. Eine solche Möglichkeit wäre jedoch semantisch ausgeschlossen, wenn ‚Wissen‘ bzw. ‚Rechtfertigung‘ Natürliche-Art-Begriffe wären.571 Zweitens: Wenn ein erkenntnistheoretischer Grundbegriff wie ‚Wissen‘ ein Natürliche-Art-Begriff wäre, dann müsste es zumindest denkbar sein, dass keine der Eigenschaften, die wir mit Wissen assoziieren, bei einer genaueren Untersuchung der paradigmatischen Fälle von Wissen tatsächlich vorliegt. Da bei Natürliche-Art-Begriffen unser vermeintliches Wissen keine Rolle für die Referenzfestlegung spielt, könnte es sich herausstellen, dass unser vermeintliches Wissen über die Referenten vollkommen irreführend ist. Aber gerade im Fall von Wissen scheint es vollkommen ausgeschlossen zu sein, dass wir bei einer genaueren empirischen Untersuchung paradigmatischer Fälle von Wissen herausfinden könnten, dass z. B. Wissen ohne Überzeugung oder ohne Wahrheit vorliegt. Würde eine solche Untersuchung wirklich zum Ergebnis haben, dass keine Überzeugung vorliegt oder dass die betreffende Überzeugung falsch ist, dann würden

571 Vgl. Grundmann 2003, S. 34 f.



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wir nämlich den Schluss ziehen, dass diese Fälle niemals echte Fälle von Wissen waren. Drittens: Wäre ‚Wissen‘ ein Natürliche-Art-Begriff, dann wäre unser mit diesem Begriff vermeintlich assoziiertes Wissen tatsächlich das Resultat unserer bisherigen empirischen Theorien über Wissen. Man würde also erwarten, dass unsere „begrifflichen Intuitionen“ diese herkömmlichen Wissenstheorien einfach abbilden. Nun bilden beispielsweise unsere Intuitionen über die Gettierfälle unsere bisherige Auffassung von Wissen als wahre, gerechtfertigte Überzeugung nicht einfach ab, sondern stehen vielmehr in einem deutlichen Widerspruch zu ihr. Solche revolutionären Intuitionen falsifizieren deshalb die These, dass unsere Intuitionen einfach nur das Resultat unserer bisherigen Hintergrundtheorien sind.572 Die vorangehenden Einwände legen nahe, dass es sich bei erkenntnistheoretischen Begriffen nicht um Natürliche-Art-Begriffe handelt, sondern um Begriffe mit einem deskriptiven Kern. Das erklärt, warum wir im Unterschied zum Chemiker oder Biologen wichtige Eigenschaften der erkenntnistheoretischen Grundkategorien durch eine Begriffsanalyse herausfinden können. Eine Alternative dazu scheint es nicht zu geben, da wir ohne Begriffsanalyse nicht wissen können, ob es paradigmatische Fälle überhaupt gibt und, wenn es sie gibt, was an ihnen wir genauer untersuchen müssen, um die Natur der erkenntnistheoretischen Grundkategorien besser zu verstehen. Wenn jedoch die apriorische Begriffsanalyse ein unverzichtbares Hilfsmittel der Erkenntnistheorie bleibt, dann lässt sich der starke methodologische Naturalismus nicht verteidigen. Der schwache methodologische Naturalismus schließt dagegen nicht aus, dass Erkenntnistheorie wenigstens z. T. mit apriorischen Methoden betrieben wird. Er betont nur, dass die Ergebnisse vieler empirischer Einzelwissenschaften relevant für die Erkenntnistheorie sind und dass man deshalb Erkenntnistheorie ohne Rücksicht auf die Resultate empirischer Wissenschaften nicht vernünftig betreiben kann. Doch was heißt das konkret? An welchen Stellen sind die Ergebnisse empirischer Wissenschaft für die Erkenntnistheorie relevant? Hier lohnt es sich, auf die Ergebnisse der früheren Analysen zurückzugreifen. Erstens hatte die Analyse der Stützungsbeziehung zwischen dem Grund und der durch ihn gestützten Überzeugung ergeben, dass ein Grund eine Überzeugung nur dann rechtfertigen kann, wenn eine kausale Beziehung zwischen beiden besteht. Daraus folgt jedoch unmittelbar, dass die Rechtfertigung immer auch von der kausalen Genese abhängt, die von der Psychologie untersucht wird. Die Psychologie kann zwar nicht die Frage beantworten, ob ein Grund ein guter Grund ist,

572 Vgl. Grundmann 2007, S. 74.

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sie kann jedoch klären, welches die tatsächlichen Gründe für die Überzeugung einer Person sind. Die Psychologie kann auch dazu beitragen, die grundlegenden Quellen des Wissens zu individuieren. Sie kann nämlich zeigen, welche psychologischen Prozesse der Überzeugungsbildung genügend Gleichartigkeit aufweisen, um einen bestimmten Typ von Prozess zu bilden. Auch hier wird die Psychologie nicht entscheiden können, ob eine vermeintliche Wissensquelle wirkliches Wissen hervorbringt. Aber sie kann Quellen identifizieren, die dann in einem zweiten Schritt erkenntnistheoretisch bewertet werden müssen. Zweitens lässt sich in vielen Fällen auch die Bewertung von Rechtfertigungsund Wissensquellen empirisch durchführen, insbesondere dann, wenn man von einer reliabilistischen Position ausgeht. Die Erfolgsbilanz einer Methode ist nämlich einer empirischen Bewertung prinzipiell zugänglich. In vielen Fällen wird man die Zuverlässigkeit einer Art von Methode mit Hilfe einer anderen Methode bewerten können. Aber epistemische Zirkularität ist nicht immer vermeidbar. Wie wir jedoch zuvor gesehen haben, ist sie kein prinzipieller Einwand, solange man einen erkenntnistheoretischen Externalismus vertritt. Wenn man die Erfolgsbilanz einer Methode als Gütekriterium* zugrunde legt, wird man in manchen Fällen sogar mit Hilfe empirischer Methoden eine Verbesserung der erkenntnistheoretischen Methoden erzielen können. Drittens wäre es auch in der Erkenntnistheorie wünschenswert, dass die epistemischen Normen und Vorschriften wenigstens im Prinzip durch die Erkenntnissubjekte erfüllbar sind, für die sie gelten. In der Ethik formuliert man diesen Grundsatz so, dass das Sollen ein Können impliziert. Wenn dieser Grundsatz auch in der Erkenntnistheorie gilt, dann ist jedoch klar, dass sich die epistemischen Normen an den realen kognitiven Fähigkeiten des Menschen orientieren müssen. Sollte sich aufgrund psychologischer Untersuchungen herausstellen, dass Menschen bestimmte Fähigkeiten nicht besitzen, die von einer erkenntnistheoretischen Norm vorausgesetzt werden, dann würde folgen, dass irgendetwas mit der Norm nicht stimmen kann. Um das mit einem Beispiel zu illustrieren: Nehmen wir an, ein Zugangsinternalist vertritt eine Kohärenztheorie der Rechtfertigung. Aus der Sicht dieser Position kann eine Person eine ihrer Überzeugungen nur dadurch rechtfertigen, dass sie introspektiv* erfasst, dass diese Überzeugung kohärent* zu ihrem gesamten Überzeugungssystem passt. Nun sprechen jedoch viele psychologische Untersuchungen und allgemeine Komplexitätsüberlegungen dafür, dass Menschen nicht ihr gesamtes Überzeugungssystem introspektiv erfassen können. Völlig unmöglich wäre es, dessen Kohärenz introspektiv zu erfassen. Das wäre



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nun ein psychologisches Argument gegen die internalistische Kohärenztheorie der Rechtfertigung.573 Es stellt sich also heraus, dass die These des schwachen methodologischen Naturalismus sehr plausibel ist. Psychologisches Wissen ist relevant für die Entdeckung der Gründe und Quellen unseres vermeintlichen Wissens. Die Psychologie kann auch bei der Überprüfung epistemischer Prinzipien von Bedeutung sein. Und selbst bei der kritischen Bewertung unserer vermeintlichen guten Gründe und Wissensquellen kann empirisches Wissen eine wichtige Rolle spielen. Allerdings muss der Vertreter des schwachen methodologischen Naturalismus zwei sehr basale Annahmen der traditionellen Erkenntnistheorie aufgeben. Die Erkenntnistheorie kann keine erste und fundamentale Wissenschaft mehr sein, da sie auf vielfältige Weise von den empirischen Einzelwissenschaften abhängt. Und sie kann zweitens auch den Skeptiker bezüglich unseres Wissens über die Außenwelt nicht überzeugend widerlegen, denn wenn die Erkenntnistheorie in wichtigen Teilen von unserem Wissen über die Welt abhängt, dann muss sie dieses Wissen immer schon voraussetzen und kann es nicht mehr unparteiisch gegen den Skeptiker verteidigen. Sieht man von diesen sehr ambitionierten Zielen ab, die in der traditionellen Erkenntnistheorie sicher eine wichtige Rolle gespielt haben, so kann eine gemäßigte naturalistische Erkenntnistheorie, die einen ontologischen Naturalismus mit einem schwachen methodologischen Naturalismus verbindet,574 durchaus den Anspruch vertreten, ein legitimer Nachfolger der traditionellen Erkenntnistheorie zu sein.

573 Vgl. dazu Kornblith 2002, S. 120–132. 574 Tatsächlich sind der ontologische und der methodologische Naturalismus in der Erkenntnistheorie vollkommen unabhängig voneinander. Der ontologische Naturalismus lässt sich zumindest ohne einen starken methodologischen Naturalismus vertreten. Denn selbst wenn man etwa als Reliabilist die These vertritt, dass erkenntnistheoretische Tatsachen metaphysisch auf deskriptive Tatsachen supervenieren, kann man gleichzeitig behaupten, dass die Wahrheit des Reliabilismus und des ontologischen Naturalismus sich nur durch apriorische Begriffsanalyse erfassen lässt. Dieser Position kommt Goldman 1992 sehr nahe. Andererseits kann man einen methodologischen Naturalismus ohne ontologischen Naturalismus vertreten. Ein Beispiel wäre Bartelborth 1996. Er glaubt, dass man erkenntnistheoretische Prinzipien nur durch ein empirisches Überlegungsgleichgewicht zwischen Annahmen über gerechtfertigte Überzeugungen und Annahmen über erkenntnistheoretische Prinzipien rechtfertigen kann. Diese empirische Rechtfertigung erkenntnistheoretischer Prinzipien verpflichtet ihn jedoch nicht auf die metaphysische Supervenienzthese, die er strikt ablehnt.

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8.1 Literaturempfehlungen Dirk Koppelberg und Stefan Tolksdorf 2015 (Hrsg.): Erkenntnistheorie – wie und wozu?, Münster (grundlegender Diskussionsband über die Ziele und Methoden der Erkenntnistheorie). Daniel Cohnitz 2005: Gedankenexperimente in der Philosophie, Paderborn (konstruktive Analyse von philosophischen und wissenschaftlichen Gedankenexperimenten, geht auch auf Fallbeispiele ein). Herman Cappelen 2014: Philosophy without Intuitions, Oxford (vertritt die provokante These, dass in der Philosophie/Erkenntnistheorie Intuitionen und Gedankenexperimente methodisch keine Rolle spielen). Colin McGinn 2012: Truth by Analysis. Games, Names, and Philosophy, Oxford (eine Verteidigung der Begriffsanalyse als Methode der Philosophie gegen eine Reihe von gegenwärtigen Einwänden). Thomas Grundmann, Joachim Horvath und Jens Kipper 2014 (Hrsg.): Die Experimentelle Philosophie in der Diskussion (Sammelband mit Klassikern und neuen Texten zur Experimentellen Philosophie, die Intuitionen in kritischer oder konstruktiver Absicht empirisch erforscht). Nikil Mukerji 2016: Einführung in die experimentelle Philosophie, Paderborn (gute, relativ breit angelegte deutsche Einführung).

9 Anhang : Seminarpläne Seminarplan: Wahrheit und Theorien der Wahrheit 1. Sitzung Thema Einführung. Gegenstände der Wahrheit Textgrundlage Grundmann (2017), S. 33–38 Zusätzliche Materialien: Wrenn (2015), S. 1–9

In dieser Sitzung wird erörtert, was für Dinge Träger von Wahrheit sein können und an welcher Art von Wahrheit wir, in der Philosophie, interessiert sind. Insbesondere wird propositionale Wahrheit von Sachwahrheit unterschieden.

2. Sitzung Thema Adäquatheitsbedingungen für eine Theorie der Wahrheit und unstrittige Merkmale Textgrundlage Grundmann (2017), Kap. 2.1

Hier werden Merkmale von Wahrheitstheorien, wie die Erfüllung des Zitattilgungsschemas, Subjektunabhängigkeit und andere, erläutert und als Adäquatheitsbedingungen für Theorien der Wahrheit im Allgemeinen diskutiert.

3. Sitzung Thema Epistemische Theorien der Wahrheit: erkenntnistheoretische und semantische Argumente Textgrundlage Grundmann (2017), Kap. 2.2 und 2.2.1 (Anfang)

In dieser Sitzung wird die Verteidigung einer epistemischen Theorie der Wahrheit gegenüber einer realistischen Theorie motiviert und verteidigt. Die Argumente sollen kritisch geprüft werden.

4. Sitzung Thema Spielarten und Einwände gegen epistemische Theorien der Wahrheit Textgrundlage Grundmann (2017), Kap. 2.2.1 zuende

In dieser Sitzung werden Evidenztheorien, Kohärenztheorien und Konsenstheorien der Wahrheit grundsätzlich voneinander und hinsichtlich ihrer auf realen und idealen Geltungsbedingungen basierenden Spielarten unter-

DOI 10.1515/9783110530278-009

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 9 Anhang : Seminarpläne

schieden. Außerdem wird eine Reihe von fundamentalen Einwänden gegen sie eingeführt und diskutiert. 5. Sitzung Thema Evidenztheorie der Wahrheit Textgrundlage Husserl (1992), Bd. IV, Kap. 5

Ziel dieser Sitzung ist es, einen genaueren Einblick in die Evidenztheorie der Wahrheit zu gewähren und die in der vorherigen Sitzung besprochenen Einwände konkret am Primärtext zu diskutieren.

6. Sitzung Thema Konsenstheorie der Wahrheit Textgrundlage Beckermann (1972), S. 63–80

Ziel dieser Sitzung ist es, einen genaueren Einblick in die Konsenstheorie der Wahrheit zu gewähren und die in der 4. Sitzung besprochenen Einwände direkt auf die Theorie zu beziehen.

7. Sitzung Thema Kohärenztheorie der Wahrheit Textgrundlage Rescher (1961), S. 361–380

Ziel dieser Sitzung ist es, einen genaueren Einblick in die Kohärenztheorie der Wahrheit zu gewähren und die in der 4. Sitzung besprochenen Einwände konkret am Primärtext zu diskutieren.

8. Sitzung Thema Deflationäre Wahrheitstheorie: Übersicht Textgrundlage Grundmann (2017), Kap. 2.2.2 Zusätzliche Materialien: Wrenn (2015), S. 103–121

In dieser Sitzung wird die grundsätzliche Motivation von deflationären Wahrheitstheorien vorgestellt. Weiterhin wird besprochen, inwiefern diese metaphysisch minimalistisch sind und welche Vor- und Nachteile sie bieten.

9. Sitzung Thema Deflationäre Wahrheitstheorie: Minimalismus Textgrundlage Hofmann (2008), S. 13–19





9 Anhang : Seminarpläne 

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In dieser Sitzung wird vertiefend auf deflationäre Theorien der Wahrheit eingegangen, insbesondere auf ihren minimalistischen Charakter und den Zusammenhang mit dem Zitattilgungsschema. Sie werden zudem mit neuen Einwänden konfrontiert.

10. Sitzung Thema Korrespondenztheorie der Wahrheit Textgrundlage Hofmann (2008), S. 19–30 Zusätzliche Materialien: Wrenn (2015), S. 72–88

Im Kontrast zum Minimalismus wird in dieser Sitzung die Korrespondenztheorie der Wahrheit besprochen, die zunächst in ihrer klassischen Form diskutiert und mit Erweiterungen und anderen Spielarten kontrastiert wird.

11. Sitzung Thema Argumente gegen die Korrespondenztheorie der Wahrheit und Repliken Textgrundlage Grundmann (2017), Kap. 2.2.3

Die zuvor eingeführte Korrespondenztheorie der Wahrheit wird in dieser Sitzung mit diversen Einwänden konfrontiert und zumindest gegen einige davon verteidigt.

12. Sitzung Thema Die Wahrmachertheorie als Variante der Korrespondenztheorie Textgrundlage Hofmann (2008), S. 30–49 Zusätzliche Materialien: Wrenn (2015), S. 88–103

In dieser Sitzung wird spezifisch auf die Wahrmachertheorie als eine der populärsten Varianten der Korrespondenztheorie eingegangen. Es wird genauer erklärt, was Wahrmacher sind, und es wird untersucht, ob und wie diese Theorie den in der vorherigen Sitzung besprochenen Einwänden entgehen kann.

13. Sitzung Thema Objektivität: Realismus, Relativismus, Anti-Realismus Textgrundlage Wrenn (2015), S. 11–30

In der abschließenden Sitzung soll noch einmal ganz allgemein auf den Begriff der Objektivität im Zusammenhang mit Wahrheit eingegangen

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 9 Anhang : Seminarpläne

werden. Im Lichte der vorangegangenen Sitzungen sollen Realismus, Relativismus und Anti-Realismus grundlegend gegenübergestellt werden.

Literatur Beckermann, Ansgar, 1972: Die realistischen Voraussetzungen der Konsenstheorie von J. Habermas, In: Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie 3 (1), S. 63–80. Grundmann, T., 2017: Analytische Einführung in die Erkenntnistheorie, Berlin/New York. Hofmann, F., 2008: Die Metaphysik der Tatsachen, Paderborn. Husserl, E., 1992: Gesammelte Schriften (herausgegeben von E. Ströker), Hamburg. Puntel, L., 1987: Der Wahrheitsbegriff: Neue Erklärungsversuche, Darmstadt. Rescher, N. 1961: Die Kriterien der Wahrheit, In: Gunnar Skirbekk (Hrsg.), Wahrheitstheorien – Eine Auswahl aus den Diskussionen über Wahrheit im 20. Jahrhundert, Berlin. Wrenn, C., 2015: Truth (Key Concepts in Philosophy), Cambridge.

Seminarplan: Wissen 1. Sitzung Thema Die Standarddefinition Textgrundlage Grundmann (2017), Kap. 3.0 und 3.1

In dieser Sitzung soll zunächst das Phänomen propositionalen Wissens von anderen Formen des Wissens abgegrenzt werden. Aufbauend auf dieser Abgrenzung sollen dann die Studierenden die schon bei Platon angelegte traditionelle Definition propositionalen Wissens als wahre, gerechtfertigte Meinung kennenlernen und verstehen, warum diese Definition auf den ersten Blick sehr vielversprechend ist.

2. Sitzung Thema Probleme der Standarddefinition Textgrundlage Grundmann(2017), Kap. 3.2; Brendel (2013), Kap. 4.1

In dieser Sitzung sollen anhand der von Edmund Gettier präsentierten Gegenbeispiele grundlegende Probleme der Standarddefinition propositionalen Wissens diskutiert werden.

3. Sitzung Thema Die Unanfechtbarkeitsdefinition Textgrundlage Grundmann (2017), Kap. 3.3.1





9 Anhang : Seminarpläne 

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In dieser Sitzung sollen sich die Studierenden kritisch mit der Einführung einer Unanfechtbarkeitsbedingung als Reaktion auf die Probleme der Standardanalyse beschäftigen.

4. Sitzung Thema Die Kausaltheorie des Wissens Textgrundlage Grundmann (2017), Kap. 3.3.2.1; Goldman in Bieri (1987)

In dieser Sitzung soll die von Alvin Goldman vorgeschlagene Kausaltheorie propositionalen Wissens erarbeitet und problematisiert werden.

5. Sitzung Thema Kontextualistische Theorien des Wissens Textgrundlage Grundmann (2017), Kap. 3.4

In den Sitzungen 5 und 6 sollen verschiedene Möglichkeiten untersucht werden, durch eine modifizierte Semantik von Wissenszuschreibungen eine adäquate Definition propositionalen Wissens zu ermöglichen.

6. Sitzung Thema Relativismus und Subjektsensitiver Invariantismus Textgrundlage Brendel (2013), Kap. 6.2 – 6.5 7. Sitzung Thema Zuverlässigkeitstheorien Textgrundlage Grundmann (2017), Kap. 3.3.2.2

In dieser Sitzung sollen verschiedene Ausformulierungen der Idee vorgestellt werden, dass eine Überzeugung auf wahrheitsgarantierenden Gründen basieren muss, um Wissen zu konstituieren.

8. Sitzung Thema Wissen durch sichere Gründe Textgrundlage Grundmann (2017), Kap. 3.6

In dieser Sitzung soll die Einführung einer Sicherheitsbedingung in die Definition propositionalen Wissens vorgestellt werden.

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 9 Anhang : Seminarpläne

9. Sitzung Thema Wissen durch sichere Gründe: Probleme Textgrundlage Pritchard (2009)

In dieser Sitzung soll die Sicherheitsbedingung problematisiert werden, indem verschiedene in der erkenntnistheoretischen Forschung präsentierte Gegenargumente genauer diskutiert werden.

10. Sitzung Thema Tugenderkenntnistheorie Textgrundlage Zagzebski (1999)

In dieser Sitzung soll eine tugenderkenntnistheoretische Charakterisierung propositionalen Wissens als Resultat epistemisch verantwortlichen Verhaltens diskutiert werden.

11. Sitzung Thema Wissen und epistemische Intuitionen Textgrundlage Brendel (2013), Kap. 8

In den Sitzungen 11 und 12 sollen Ergebnisse experimenteller Philosophie und ihre mögliche Relevanz für das Problem einer erfolgreichen Definition propositionalen Wissens skizziert werden.

12. Sitzung Thema Wissen und epistemische Intuitionen Textgrundlage Dohrn in: Grundmann/Horvath/Kipper (2014) 13. Thema Der Wert des Wissens Textgrundlage Bernecker in: Kompa/Schmoranzer 2014.

In dieser Sitzung soll abschließend die Relevanz propositionalen Wissens für erkenntnistheoretische Forschung und epistemische Praxis diskutiert werden.



9 Anhang : Seminarpläne 

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Literatur Bernecker, Sven: Der Wert des Wissens. In: Nikola Kompa, Sebastian Schmoranzer (Hrsg.): Grundkurs Erkenntnistheorie. Münster: mentis 2014. S. 109–119. Brendel, E. 2013: Wissen, Berlin. Dohrn, Daniel: Empirie, Expertise, Analyse. Der Fall Gettier. In: Thomas Grundmann, Joachim Horvath, Jens Kipper (Hrsg.): Die Experimentelle Philosophie in der Diskussion. Berlin: Suhrkamp 2014. S. 213–234. Gettier, Edmund L.: Ist gerechtfertigte, wahre Meinung Wissen? Deutsche Übersetzung von Ralf Stoecker. In: Peter Bieri (Hrsg.): Analytische Philosophie der Erkenntnis. Frankfurt am Main: Athenäum 1987. S. 91–93. Goldman, Alvin I.: Eine Kausaltheorie des Wissens. Deutsche Übersetzung von Heike Bieri-Quentin. In: Peter Bieri (Hrsg.): Analytische Philosophie der Erkenntnis. Frankfurt am Main: Athenäum 1987. S. 150–166. Grundmann, T. 22017: Analytische Einführung in die Erkenntnistheorie, Berlin/New York. Lehrer, Keith/Paxson, Thomas: Wissen. Unwiderlegt gerechtfertigte, wahre Meinung. Deutsche Übersetzung von Birgit Jenner. In: Peter Bieri (Hrsg.): Analytische Philosophie der Erkenntnis. Frankfurt am Main: Athenäum 1987. S. 94–107. Pritchard, D. 2009: Safety-Based Epistemology: Wither Now? In: Journal of Philosophical Research 34, S. 33–45. Zagzebski, Linda: What is Knowledge? In: John Greco/Ernest Sosa (Hrsg.): The Blackwell Guide to Epistemology. Oxford: Blackwell 2001. S. 92–116.

Seminarplan: Theorien und Struktur der Rechtfertigung 1. Sitzung Thema Einführung. Was ist erkenntnistheoretische Rechtfertigung? Textgrundlage Grundmann (2017), Kap. 4.0–4.2 Zusätzliche Materialien: Goldman in: Bieri (1987) zur kausalen Struktur von Gründen.

In dieser Sitzung soll erkenntnistheoretische Rechtfertigung in Relation zur Wahrheit und zu Gründen erörtert werden. Dabei wird besprochen, was Gründe eigentlich ausmacht und welche Adäquatsheitskriterien eine Theorie der Rechtfertigung erfüllen sollte.

2. Sitzung Thema Was ist ein guter Grund? Textgrundlage Grundmann (2017), Kap. 4.3 Zusätzliche Materialien: Alston (1988) zur deontologischen Auffassung von Gründen.

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 9 Anhang : Seminarpläne

In dieser Sitzung wird auf die zentralen Unterschiede zwischen dem Verpflichtungsmodell und dem Modell instrumenteller Rationalität von Gründen eingegangen.

3. Sitzung Thema Internalismus und Externalismus Textgrundlage Grundmann (2017), Kap. 4.4

In dieser Sitzung soll ein Überblick über die grundlegenden internalistischen und externalistischen Positionen zur Rechtfertigung gegeben werden. Mit diesem Vorwissen können die folgenden Texte im Original angegangen werden. Dabei wird der Fokus auf einige Probleme der zentralen Theorien gelegt. Diese Debatte erstreckt sich über die Sitzungen 3 bis 10.

4. Sitzung Thema Evidentalismus 1 Textgrundlage Conee/Feldman (1985)

In dieser Sitzung soll der Evidentialismus als Vertreter einer internalistischen Theorie im Original studiert werden.

5. Sitzung Thema Evidentialismus 2 Textgrundlage Goldman (1999) Zusätzliche Materialien: Conee/Feldman (2001) zur Verteidigung des Evidentialismus.

In dieser Sitzung soll Goldmans Kritik am Internalismus besprochen werden.

6. Sitzung Thema Reliabilismus 1 Textgrundlage Goldman (1979)

In dieser Sitzung soll Goldmans Darstellung der erkenntnistheoretischen Rechtfertigung besprochen werden.

7. Sitzung Thema Reliabilismus 2 Textgrundlage Foley (1985)





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Foley wendet gegen den Reliabilismus ein, dass er keine notwendige Bedingung für erkenntnistheoretische Rechtfertigung liefert. In dieser Sitzung soll das zentrale Argument zur Dämonenwelt-Intuition besprochen werden.

8. Sitzung Thema Reliabilismus 3 Textgrundlage BonJour (1980)

Bonjour argumentiert, dass der Reliabilismus keine hinreichende Bedingung für erkenntnistheoretische Rechtfertigung darstellt. In dieser Sitzung soll das Gedankenexperiment von Norman, dem Hellseher, im Detail besprochen werden.

9. Sitzung Thema Reliabilismus 4 Textgrundlage Conee/Feldman (1998) Zusätzliche Materialien: Grundmann (2003), Kap. 5.2.2 als Antwort.

In dieser Sitzung soll das Argument gegen den Reliabilismus besprochen werden, das als Referenzklassenproblem bekannt ist. Danach ist die Beschreibung des Prozesses der Überzeugungsbildung relevant für den erkenntnistheoretischen Status der Überzeugung, so dass er zunächst unterbestimmt bleibt.

10. Sitzung Thema Phänomenaler Konservatismus Textgrundlage Huemer (2007)

In dieser Sitzung soll darauf aufmerksam gemacht werden, dass die bisher behandelten Theorien das Feld nicht erschöpfen. Stellvertretend soll hier Huemers Text zum phänomenalen Konservatismus behandelt werden.

11. Sitzung Thema Struktur der Rechtfertigung 1: Klassischer und Neo-klassischer Fundamentalismus Textgrundlage Grundmann (2017), Kap. 5.0–5.2 Zusätzliche Materialien: Alston in: Bieri (1976) zur Vertiefung.

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 9 Anhang : Seminarpläne

In dieser Sitzung wird auf die Struktur der Rechtfertigung eingegangen. Zuerst sollen fundamentalistische Theorien der Struktur der Rechtfertigung untersucht werden.

12. Sitzung Thema Struktur der Rechtfertigung 2: Kohärenztheorien Textgrundlage: Grundmann (2017), Kap. 5.3 Zusätzliche Materialien: BonJour in: Bieri (1976) zur Vertiefung.

In dieser Sitzung soll die Kohärenztheorie zur Struktur der Rechtfertigung genauer untersucht werden.

13. Sitzung Thema Struktur der Rechtfertigung 3: Kontextualismus und abschließender Vergleich Textgrundlage: Grundmann (2017), Kap 5.4; 5.5

In dieser Sitzung wird noch alternativ der Kontextualismus als Theorie der Struktur der Rechtfertigung untersucht. Zusätzlich kann diese Sitzung als Abschlussdiskussion dienen und einen vergleichenden Überblick über die bisher erarbeiteten Positionen liefern.

Literatur BonJour, L. 1980: Externalist Theories of Empirical Knowledge. In: Midwest Studies in Philosophy 5, S. 53–73. Conee, E. und Feldman, R. 2008 [1985]: Evidentialism. In: E. Sosa, J. Kim, J. Fantl und M. McGrath (Hrsg.): Epistemology. An Anthology, Oxford, S. 310–321. Conee, E. und Feldman, R. 1998: The Generality Problem for Reliabilism. In: Philosophical Studies 89, S. 1–29. Goldman, A. 2008 [1979]: What Is Justified Belief? In: E. Sosa, J. Kim, J. Fantl und M. McGrath (Hrsg.): Epistemology. An Anthology, Oxford, S. 340–353. Goldman, A. 2008 [1999]: Internalism Exposed. In: E. Sosa, J. Kim, J. Fantl und M. McGrath (Hrsg.): Epistemology. An Anthology, Oxford, S. 379–393. Grundmann, T. 2017: Analytische Einführung in die Erkenntnistheorie, Berlin. Foley, R. 1985: What’s Wrong With Reliabilism? In: The Monist 68, S. 188–202. Huemer, M. 2007: Compassionate Phenomenal Conservatism. In: Philosophy and Phenomenological Research 74, S. 30–55.



9 Anhang : Seminarpläne 

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Ergänzende Literatur Alston, W. 1987 [1976]: Zwei Arten von Fundamentalismus. Deutsche Übersetzung von Robin A. Cackett. In: Peter Bieri (Hrsg.): Analytische Philosophie der Erkenntnis. Frankfurt a. M., S. 217–238. Alston, W. 1988: The Deontological Conception of Justification. In: Philosophical Perspectives 2, S. 257–299 BonJour, L. 1987 [1976]: Die Kohärenztheorie empirischen Wissens. Deutsche Übersetzung von Uta Müller-Koch. In: Peter Bieri (Hrsg.): Analytische Philosophie der Erkenntnis. Frankfurt a. M., S. 239 – 270 Conee, E. und Feldman, R. 2001: Internalism Defended. In: American Philosophical Quarterly 38, S. 1–18. Grundmann, T. 2003: Eine Verteidigung des Erkenntnistheoretischen Externalismus. Paderborn.

Seminarplan: Skeptizismus 1. Sitzung Thema Was ist erkenntnistheoretischer Skeptizismus? Textgrundlage Grundmann (2017), Kap. 6.0–6.1.3

In dieser Sitzung sollen die Studierenden die allgemeinen Merkmale des erkenntnistheoretischen Skeptizismus in Abgrenzung zu verwandten Phänomenen und in seiner historischen Entwicklung kennen lernen und mit unterschiedlichen Formen und Reichweiten des Skeptizismus vertraut gemacht werden. Darüber hinaus soll ein Verständnis dafür geweckt werden, warum die Beschäftigung mit dem Skeptizismus fruchtbar sein kann.

2. Sitzung Thema Voraussetzungen 1: Skeptische Hypothesen und Wahrheitsrealismus Textgrundlage Grundmann (2017), Kap. 2.1–2.2.1; 6.2.1

In den Sitzungen 2 bis 4 werden unterschiedliche Voraussetzungen skeptischer Argumente vermittelt: in Sitzung 2 wird der Wahrheitsrealismus motiviert, in Sitzung 3 geht es um eine Analyse des Wissensbegriffs und in Sitzung 4 um die Bedingungen epistemischer Rechtfertigung.

3. Sitzung Thema Voraussetzungen 2: Was ist Wissen? Textgrundlage Grundmann (2017), Kap. 3.3.2.2; 3.6

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 9 Anhang : Seminarpläne

4. Sitzung Thema Voraussetzungen 3: Was ist Rechtfertigung? Textgrundlage Grundmann (2014) 5. Sitzung Thema Skeptische Argumente 1: Das klassische Gewissheitsargument und seine Kritik Textgrundlage Descartes in: Grundmann (1996) und Grundmann (2017), Kap. 6.2.1.1

In dieser Sitzung soll Descartes’ klassisches Argument für den Skeptizismus im Original studiert werden und vor allem anhand der in Sitzung 3 entwickelten Wissensanalyse kritisiert werden.

6. Sitzung Thema Skeptische Argumente 2: Das Traumargument Textgrundlage Stroud in: Grundmann (1996)

Barry Stroud hat mit seiner Rekonstruktion des Traumarguments von Descartes ein ganz neues, von Gewissheitsbedingungen völlig unabhängiges Argument präsentiert. In dieser Stunde soll dieses Argument durch sorgfältige Analyse des Originaltextes nachvollzogen werden.

7. Sitzung Thema Skeptische Argumente 2: Kritische Diskussion des Traumarguments Textgrundlage Grundmann (2017), Kap. 6.2.1.3

In dieser Sitzung sollen verschiedene Einwände gegen Strouds Traumargument erkundet und diskutiert werden.

8. Sitzung Thema Skeptische Argumente 3: Das Geschlossenheitsargument und seine Kritik Textgrundlage Grundmann (2017), Kap. 3.5; 6.2.1.2

In dieser Sitzung soll ein skeptisches Argument thematisiert werden, wonach wir skeptische Alternativen dessen, was wir vermeintlich wissen, nicht ausschließen können, dies aber leisten müssten, um zu wissen. In der Sitzung wird ausführlich motiviert, warum Wissen unter logischer Implikation



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geschlossen ist und warum wir dennoch das Geschlossenheitsargument angreifen können. 9. Sitzung Thema Skeptische Argumente 4: Das Regressargument und seine Kritik Textgrundlage Grundmann (2017), Kap. 6.2.2

Im Zentrum dieser Sitzung stehen Agrippas Begründungstrilemma, seine internalistischen Voraussetzungen und wie man den drohenden Regress auf legitime Weise stoppen kann.

10. Sitzung Thema Skeptische Argumente 5: Das Unterbestimmtheitsargument und seine Kritik Textgrundlage Grundmann (2017), Kap. 6.2.3

In dieser Sitzung sollen skeptische Argumente diskutiert werden, wonach unsere Gründe nicht hinreichend für unsere Meinungen über die Welt sind. Am Beispiel von Humes Argument soll gezeigt werden, dass die skeptischen Argumente auf einer fehlerhaften Theorie über den Inhalt unserer Wahrnehmung beruhen.

11. Sitzung Thema Skepsiswiderlegung 1: Putnams Gehirne im Tank Textgrundlage Putnam in: Grundmann (1996)

In dieser Sitzung sollen semantische Argumente gegen die Möglichkeit von skeptischen Hypothesen studiert werden, und zwar anhand einer gründlichen Analyse von Putnams modernem Klassiker.

12. Sitzung Thema Skepsiswiderlegung 1: Kritische Diskussion von Putnams Argument Textgrundlage Grundmann (2017), Kap. 6.3–6.3.1.1

In dieser Sitzung sollen unterschiedliche Einwände gegen Putnams Argument analysiert und diskutiert werden.

13. Sitzung Thema Skepsiswiderlegung 2: Selbstwiderlegungsargumente und ihre Kritik Textgrundlage Grundmann (2017), Kap. 6.3.3–6.3.3.3

436 

 9 Anhang : Seminarpläne

In dieser Sitzung sollen verschiedene, z. B. transzendentalpragmatische Strategien untersucht und kritisch diskutiert werden, wonach die skeptische Position instabil ist oder sich selbst unterminiert.

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Glossar Abduktion Schluss auf die beste Erklärung. (→ Induktion) Adäquatheitsbedingungen Eine Menge von Bedingungen, die jede Theorie zu einem bestimmten Gegenstandsbereich erfüllen muss. Sie steckt den Rahmen dafür ab, was eine Theorie erklären muss, und stellt sicher, dass es sich bei verschiedenen Theorien auch um Theorien zu dem gleichen Gegenstand handelt. Eine Theorie, die nicht die für ihren Gegenstand spezifischen Adäquatheitsbedingungen erfüllt, ist demnach entweder eine unzulängliche Theorie oder handelt von einem anderen Gegenstand. aktuale Welt Die tatsächliche Welt, in der wir leben, im Gegensatz zu anderen, bloß möglichen (→ kontrafaktischen) Welten. (→ Mögliche Welten) analytisch Als analytisch wahr oder auch wahr aufgrund von Bedeutung gelten Sätze bzw. Urteile wie „Junggesellen sind ledig“ oder „Häsinnen sind weiblich“. Kant hat ihren besonderen, quasi-definitorischen Charakter so erklärt, dass dabei der Prädikatsbegriff bereits im Subjektbegriff enthalten ist, also z. B. der Begriff des Ledig-Seins im Begriff des Junggesellen. Bereits Frege hat aber darauf hingewiesen, dass dieses Modell viel zu eng gefasst ist, da es viele intuitiv analytische Sätze gibt, die sich logisch nicht nach dem Subjekt-Prädikat-Schema analysieren lassen, z. B. der Satz „Wenn jemand ein Junggeselle ist, dann ist er nicht verheiratet“. Freges eigener Vorschlag war, dass sich analytische Sätze durch eine geeignete Ersetzung von synonymen Ausdrücken in logische Wahrheiten überführen lassen. Damit wären analytische Sätze allerdings nicht wahr allein aufgrund von Bedeutung, sondern vielmehr wahr aufgrund von Bedeutung und Logik (vgl. BonJour 1998, S. 33 f.). Die genaue Charakterisierung von Analytizität bleibt daher bis heute umstritten. a priori/a posteriori Die Begriffe a priori und a posteriori geben an, auf welche Weise eine Proposition gewusst (oder gerechtfertigt) wird. Propositionen, die unabhängig von Erfahrung gewusst werden, sind a priori, während Propositionen, die aufgrund von Erfahrung gewusst werden, a posteriori sind. Die Begriffe a priori/a posteriori unterscheiden also verschiedene Quellen des Wissens (der Rechtfertigung). Argument Eine Menge von Propositionen, die aufgeteilt ist in (1.) eine Anzahl von Propositionen, die als Prämissen bezeichnet werden, und (2.) eine einzelne Proposition, die man Konklusion nennt. Gemeinsam stellen die Prämissen einen Grund dar, die Wahrheit der Konklusion zu glauben. Atomismus des Wissens Theorie, die besagt, dass es möglich ist, nur eine einzige Tatsache zu wissen. Sie steht im Gegensatz zu Theorien, die behaupten, dass man eine Tatsache nur dann wissen kann, wenn man auch irgendwelche anderen Tatsachen weiß.

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 Glossar

Axiom Eine → Proposition, die als → basal betrachtet wird und nicht bewiesen werden muss. Bei Aristoteles: ein unmittelbar einleuchtendes Prinzip, wie z.B der Satz vom zu vermeidenden Widerspruch. basale/nicht-basale Überzeugungen Überzeugungen, deren Rechtfertigung basal ist, sind nicht durch andere Überzeugungen gerechtfertigt. Nicht-basale Überzeugungen hingegen sind durch andere Überzeugungen gerechtfertigt. Wenn ich zum Beispiel eine Überzeugung → inferenziell dadurch rechtfertige, dass ich sie aus zwei anderen meiner Überzeugungen folgere, dann ist diese Überzeugung nur insofern gerechtfertigt, als auch die Überzeugungen, aus denen sie folgt, gerechtfertigt sind. Um jedoch einen → infiniten Regress zu vermeiden (siehe: Kapitel 4), muss man zeigen, dass Rechtfertigung nicht immer nur weitergegeben wird (wie in → Inferenzen), sondern dass sie auch irgendwo generiert wird. Manche Philosophen lassen als basale Rechtfertigungsquellen nur die Wahrnehmung gelten (Empirismus), andere nur apriorische Intuitionen (radikaler Rationalismus) und wieder andere sind der Überzeugung, dass sowohl Wahrnehmung als auch apriorische Rechtfertigung basal sind (gemäßigte Rationalisten). Begriff Mentale Repräsentation, mittels derer wir uns intentional auf die Welt beziehen. Begriffe sind Teile von Gedanken (und damit etwas Mentales) und im Gegensatz zu Wörtern nicht relativ zu Einzelsprachen. Das heißt, Wörter verschiedener Einzelsprachen können denselben Begriff ausdrücken (z. B. Wasser, water, aqua etc.). Fodor nennt fünf → Adäquatheitsbedingungen, die jede Begriffstheorie erfüllen muss: Begriffe sind 1. mentale Einzeldinge, 2. Kategorien: Dinge in der Welt „fallen unter sie“, 3. kompositional: zwei (oder mehr) verschiedene Begriffe lassen sich zu einem Begriff zusammenfügen (wie z. B. Haus + Tür = Haustür). Der Inhalt des neuen Begriffs ergibt sich vollständig aus dem Inhalt seiner Teile. So können wir mit einer endlichen Anzahl von elementaren Begriffen eine unendliche Anzahl von Begriffen sowohl bilden als auch verstehen (Produktivität), 4. viele Begriffe sind erworben (d. h.: nicht angeboren) und 5. Begriffe sind öffentlich, d. h. viele Menschen besitzen den gleichen Begriff. (dazu Fodor 1998) Siehe auch: → Extension/Intension bedingte Wahrscheinlichkeit Die bedingte Wahrscheinlichkeit P(A|B) (lies: die Wahrscheinlichkeit von A gegeben, dass B) ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Ereignis A eintritt unter der Voraussetzung, dass das Ereignis B schon eingetreten ist. Beweis Deduktive Ableitung einer Konklusion oder eines → Theorems aus einer Menge von Prämissen oder → Axiomen. Deduktion (lat. deducere, ableiten, herleiten) Ein bestimmter Typ von → Inferenz, bei dem die Konklusion von den Prämissen (logisch) impliziert wird. Ein klassischer deduktiver Schluss ist ein Syllogismus, der aus zwei Prämissen und einer durch diese Prämissen gemeinsam implizierten Konklusion, besteht. Bsp.: Alle Menschen sind sterblich → Prämisse 1

Glossar 

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Sokrates ist ein Mensch → Prämisse 2 Sokrates ist sterblich → Konklusion Wenn in diesem Beispiel die Prämissen wahr sind, so folgt daraus, dass auch die Konklusion wahr ist. Es gibt aber auch einfachere gültige deduktive Schlüsse wie p, also p. Allgemein ist jeder Schluss deduktiv, bei dem Prämissen und Konklusion in dem Verhältnis zueinander stehen, dass die Konklusion wahr sein muss, wenn die Prämissen wahr sind. Definition Man unterscheidet Nominaldefinitionen und Realdefinitionen. 1. Nominaldefinition: Satz, der die Bedeutung eines Ausdrucks bestimmen soll. Man unterscheidet in einem Definitionssatz das Definiendum (der Ausdruck, der definiert werden soll) vom Definiens (der Teil, der das Definiendum definiert). Beide Bestandteile der Definition sollen die gleiche Bedeutung haben. Zum Beispiel bestimmt der Satz „Ein Junggeselle ist ein unverheirateter Mann“ die Bedeutung von „Junggeselle“, insofern dieser Ausdruck mit dem Definiens „unverheirateter Mann“ synonym ist. Man kann verschiedene Formen der Nominaldefinition unterscheiden: In stipulativen Definitionen wird die Bedeutung eines Ausdrucks lediglich festgesetzt (Bsp.: Das Ass ist die höchste Karte beim Poker). Dagegen legt eine analytische Definition die Bedeutung eines Ausdrucks nicht willkürlich fest, sondern versucht, die Bedeutung, die ein Ausdruck hat, korrekt zu beschreiben. Die Analyse der Bedeutung kann richtig oder falsch sein. 2. Realdefinition: Hier wird die Natur, die Essenz einer Sache festgehalten, die durch wissenschaftliche Untersuchungen (und nicht bloß Bedeutungsuntersuchung) ermittelt wurde. Ein Beispiel für Realdefinitionen ist „Wasser ist H2O“. Deontologie (von griech. deon, „das Erforderliche“, „die Pflicht“, und logos, „Lehre“) Pflichtenlehre. Dilemma/Trilemma Eine Situation, in der verschiedene Wahlmöglichkeiten vorliegen, die jedoch alle zu einem unerwünschten Ergebnis bzw. kontraintuitiven Konsequenzen führen. Liegen zwei Wahlmöglichkeiten vor, spricht man von einem Dilemma, bei drei Wahlmöglichkeiten von einem Trilemma. Disjunktion Ein aus zwei mit ‚oder‘ verbundenen Teilsätzen bestehender Satz. Man unterscheidet dabei die ausschließende Disjunktion, die wahr ist, genau dann, wenn einer der beiden Teilsätze wahr ist, und die nicht-ausschließende Disjunktion (Adjunktion), die sowohl dann wahr ist, wenn einer der beiden Teilsätze wahr ist, als auch, wenn beide Teilsätze wahr sind. Dogma (griech. Dògma, „Überzeugung“, „Lehrsatz“), hier: Behauptung, die ohne rationale Begründung und oft auch trotz rationaler Gegenargumente vertreten wird. Ein Dogmatiker ist demnach jemand, der für rationale Kritik nicht zugänglich ist. Ellipse In der Logik: Argument mit einer Prämisse, die nicht extra aufgeführt wird (weil sie z. B. unkontrovers ist), die jedoch notwendig ist, um das Argument gültig zu machen.

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 Glossar

enthymematischer Schluss Schluss mit einer ausgelassenen Prämisse. → Ellipse Entität (lat.entitas, Wesen, Seiendes) hier: ein Seiendes, ein Gegenstand. Extension/Intension Die Extension eines Begriffes (bei Frege: Bedeutung) ist die Menge aller Referenten, also aller Gegenstände, auf die der Begriff sich bezieht oder die unter ihn fallen. So ist z. B. die Extension des Individualbegriffs Abendstern der Planet, der mit diesem Begriff bezeichnet wird, die Venus. Darüber, was die Intension eines Begriffes ist, besteht hingegen weniger Einigkeit. Neben der Extension eines Begriffes gibt es die kognitiv-psychologische Gegebenheitsweise (also etwa eine Beschreibung, die wir mit dem Begriff assoziieren) und es muss etwas geben, das die Extension des Begriffes festlegt. Bei Frege (und bei semantischen Internalisten) fallen beide in der Intension (bei Frege: Sinn) zusammen: so ist zum Beispiel „der hellste Himmelskörper am Abendhimmel“ unsere psychologische Gegebenheitsweise des Begriffs Abendstern und die Extension dieses Begriffes wäre demnach der Gegenstand, der diese Beschreibung erfüllt. Kripke und Putnam haben jedoch gezeigt, dass Gegebenheitsweise und Referenzfixierung auseinanderfallen können. Sie argumentieren, dass das, was tatsächlich die Extension unserer Begriffe fixiert, eine unmittelbare Kausalrelation zwischen Referent und Begriff sein kann oder eine Beschreibung, die uns bei der gegenwärtigen Verwendung des Begriffs nicht oder nicht mehr bekannt ist. Da in diesem Fall die Referenz nicht durch etwas Internes (die psychologische Gegebenheitsweise), sondern durch etwas Externes fixiert wird, spricht man auch vom semantischen Externalismus. (siehe: Frege 1962, Putnam 1975, Kripke 1981) extensionaler/intensionaler Kontext Ein Satz stellt für einen Begriff, der in ihm vorkommt, einen extensionalen Kontext dar, wenn dieser Begriff durch einen koextensionalen Begriff (einen Begriff mit gleicher → Extension) ersetzt werden kann, ohne dass sich der Wahrheitswert des Satzes ändert. Bsp.: In dem Satz Der Abendstern ist ein Planet kann man den Ausdruck Abendstern durch den Ausdruck Morgenstern ersetzen, ohne dass der Wahrheitswert des Satzes sich ändert. Ein Satz stellt für einen Begriff, der in ihm vorkommt, einen intensionalen Kontext dar, wenn koextensionale Ausdrücke nicht ersetzt werden können, ohne dass sich der Wahrheitswert ändert. Bsp.: Peter glaubt, dass der Abendstern ein Planet ist. Wenn dieser Satz wahr ist, kann der Satz Peter glaubt, dass der Morgenstern ein Planet ist immer noch falsch sein, denn vielleicht weiß Peter nicht, dass Abendstern und Morgenstern auf denselben Gegenstand referieren. Intensionale Kontexte nennt man auch „opake“ Kontexte. gültig Ein Argument ist gültig, wenn die Konklusion unter korrekter Anwendung der Schlussfolgerungsregeln aus den Prämissen abgeleitet worden ist. Die Gültigkeit eines Arguments sagt jedoch nichts über den Wahrheitswert der Konklusion aus, sie besagt nur, dass die Konklusion wahr sein muss, wenn die Prämissen wahr sind. Ein gültiges Argument mit wahren Prämissen nennt man → schlüssig.

Glossar 

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hinreichend B ist hinreichend für A, wenn es der Fall ist, dass immer, wenn B, dann auch A. Wenn B jedoch nicht auch → notwendig ist für A, kann es Fälle geben, in denen zwar A, nicht jedoch B der Fall ist. Implikation, logische Eine Proposition P wird genau dann von einer Menge von Propositionen P1…Pn logisch impliziert, wenn a priori einsehbar ist, dass wenn P1…Pn alle wahr sind, es → notwendig ist, dass P wahr ist. Indexikalität/indexikalisch Indexikalische Ausdrücke sind kontextabhängige Ausdrücke, wie ich, hier, jetzt, du, heute, dieses, jenes usw. Die Referenz (→ Extension) solcher Ausdrücke sowie der Wahrheitswert von Sätzen, die solche Ausdrücke beinhalten, sind abhängig von Sprecher, Sprechzeitpunkt und Äußerungsort (also vom Kontext). indirekter Beweis/indirektes Argument Man kann die Wahrheit eines Satzes p indirekt dadurch beweisen, dass man aus der Prämisse nicht-p und weiteren, unstrittigen Prämissen entweder eine widersprüchliche oder eine unplausible Konklusion ableitet. Da diese Konklusion jedoch wahr sein muss, wenn die Prämissen wahr sind, und alle Prämissen außer nicht-p unstrittig wahr sind, muss nicht-p falsch sein, um die widersprüchliche (oder unplausible) Konklusion zu vermeiden. Wenn jedoch nicht-p falsch ist, folgt daraus die Wahrheit ihres → kontradiktorischen Gegenteils, p, zumindest wenn das Prinzip der Bivalenz gilt (dass entweder ,p‘ oder ,nicht-p‘ wahr ist). Kurz: Um zu beweisen, dass ein Satz p wahr ist, reicht es aus zu zeigen, dass das kontradiktorische Gegenteil von p, nicht-p, falsch ist, denn die Falschheit von nicht-p impliziert die Wahrheit von p. Induktion (von lat. in, in, ein, und ducere führen, leiten) bezeichnet jene Art von Schlüssen, bei denen die Prämissen die Konklusion stützen, ohne sie jedoch logisch zu implizieren (wie es beim → deduktiven Schluss der Fall ist). D. h., es ist bei einem induktiven Schluss immer möglich, dass die Konklusion falsch ist, obwohl alle Prämissen wahr sind. Man unterscheidet bei induktiven Schlüssen enumerative und → abduktive Schlüsse. Enumerative Schlüsse sind Schlüsse, bei denen aus einer Korrelation in einer begrenzten Menge von Einzelfällen auf eine streng allgemeine Korrelation geschlossen wird, z. B.: Alle Schwäne, die ich bisher gesehen habe sind weiß. Alle Schwäne sind weiß. Abduktive Schlüsse (von lat. ab-ducere, wegführen) sind Schlüsse auf die beste Erklärung. In einer Erklärung folgt das zu Erklärende (Explanandum) deduktiv aus der erklärenden Hypothese (Explanans). Der Schluss auf die beste Erklärung schließt in umgekehrter Richtung vom Explanandum auf das Explanans. Diese Schlussrichtung ist nicht deduktiv. Bei der Entscheidung zwischen konkurrierenden Hypothesen spielen Kriterien wie Einfachheit, Sparsamkeit und Kohärenz mit anderen Überzeugungen eine Rolle. Manche Autoren (z. B. Peirce) klassifizieren abduktive Schlüsse nicht als Spezialform von Induktion, sondern als eigene Schlussform neben Deduktion und Induktion.

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 Glossar

Inferenz Eine Inferenz ist ein gedanklicher Prozess, durch den man von einem oder mehreren Gedanken zu einem neuen Gedanken gelangt. In gültigen Inferenzen hängt die Wahrheit des abgeleiteten Gedankens (Konklusion) von der Wahrheit der Gedanken ab, die die Grundlage einer Inferenz bilden (Prämissen). Man spricht auch von einem Schluss. Solche Schlüsse lassen sich sprachlich auch als Beziehungen zwischen Sätzen objektivieren. Die wichtigsten Schlussverfahren sind → Deduktion, → Induktion und → Abduktion. Inkonsistenz, epistemische Ein Schluss / Argument ist epistemisch inkonsistent, wenn die Konklusion nur unter der Bedingung wahr ist, dass die Prämissen nicht gerechtfertigt sind. Intentionalität (von lat. intendere, sich wenden gegen, zielen) Intentionalität bezeichnet ein Strukturmerkmal des Psychischen. Intentionalität bedeutet die Gerichtetheit des Bewusstseins auf ein davon unabhängiges Objekt oder einen davon unabhängigen Sachverhalt (dies können auch mentale Tatsachen sein). Intentionale Zustände sind demnach mentale Zustände, die dadurch charakterisiert sind, dass sie auf etwas gerichtet sind, das unabhängig von diesem Zustand besteht, und dieses Objekt mental repräsentieren. Dabei muss man unterscheiden zwischen dem, was repräsentiert wird (dem Referenten/Objekt) und der Art und Weise, wie es repräsentiert wird (dem repräsentationalen Gehalt). Bei Brentano dient Intentionalität als Unterscheidungsmerkmal zwischen Psychischem und Physischem. Das Psychische (Mentale) ist dabei dadurch charakterisiert, dass es sich mittels eines Inhalts auf ein Objekt bezieht, das nicht existieren muss, damit der intentionale Bezug auf es möglich ist. So können z. B. Kinder Hexen fürchten, obwohl es keine Hexen gibt. Mit der Unterscheidung von Referent/Objekt und Inhalt kann man Fehlrepräsentationen erklären. intersubjektiv (von lat. inter zwischen, und subjectum zugrunde liegend) 1. Dasjenige, was prinzipiell für mehrere oder sogar alle Subjekte zugänglich, erkennbar oder begreifbar ist (erkenntnistheoretische Dimension). In diesem Fall spricht man auch von ‚öffentlich‘ (im Gegensatz zu ‚privat‘). Tatsachen in der Außenwelt sind klarerweise für mehrere Subjekte unter geeigneten Umständen zugänglich. Strittig ist das für Bewusstseinsinhalte wie etwa Schmerzempfindungen, die möglicherweise nicht für Außenstehende zugänglich sind. 2. Das, was in seiner Existenz davon abhängt, dass es mehrere Subjekte gibt (ontologische Dimension). Kommunikation, Gemeinschaften oder Rituale gibt es z. B. nur, wenn es mehrere Subjekte gibt. Davon zu unterscheiden sind subjektive Dinge (z. B. Schmerzen), deren Existenz von einem einzelnen Subjekt abhängt, oder objektive Dinge (z. B. Elektronen), die unabhängig von irgendwelchen Personen existieren. 3. Ein bestimmter Geltungsstatus einer Auffassung. Intersubjektiv gültig ist eine Auffassung, wenn sie von allen Personen (zu einem Zeitpunkt) akzeptiert wird, d. h. wenn es einen Konsens in Bezug auf sie gibt. Bloß subjektiv gültig ist eine Auffassung, wenn sie nur von einzelnen akzeptiert wird, und objektiv gültig ist eine Auffassung, wenn sie wahr ist. Dass die Sonne gar nicht existiert, ist bestenfalls subjektiv gültig. Dass die Sonne sich um die Erde dreht, war (vor Kopernikus) intersubjektiv gültig, aber es war niemals objektiv gültig.

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Introspektion (lat. intra, „nach innen“ und spicere, „schauen“) Introspektion ist ein psychologischer Prozess, durch den man zu Überzeugungen über eigene mentale Zustände (z. B. Gedanken, Gefühle etc.) kommen kann. So wird die Überzeugung, dass ich mich freue, in aller Regel so erworben, dass ich mir über meinen Gemütszustand introspektiv gewahr werde. Es ist strittig, ob man Introspektion als eine empirische Erkenntnisquelle analog zur Sinneswahrnehmung von äußeren Tatsachen („Ich sehe dort einen Tisch“) verstehen sollte oder ob introspektiv erworbene Überzeugungen eine → a priori Quelle haben und die ganze Wahrnehmungsanalogie irreführend ist. Introspektion gilt außerdem als eine besonders zuverlässige Erkenntnismethode. Die These des privilegierten Zugangs besagt, dass ein bestimmtes Subjekt in einer besseren epistemischen Position ist als alle anderen Erkenntnissubjekte, um Wissen über seine eigenen mentalen Zustände zu erlangen. kohärent ein System von Überzeugungen ist kohärent, wenn die in ihm enthaltenen Überzeugungen (1.) → konsistent sind und (2.) sich gegenseitig stützen (deduktiv, induktiv oder explanatorisch). Konjunktion Eine Konjunktion ist ein Satz, der aus zwei mit und verbundenen Sätzen besteht. Eine Konjunktion ist nur dann wahr, wenn beide Teilsätze für sich genommen wahr sind. konsistent Ein System von Überzeugungen ist konsistent, wenn alle in ihm enthaltenen Überzeugungen gleichzeitig wahr sein können, d. h., wenn es keine einander widersprechenden Überzeugungen enthält. kontingent/notwendig Eine wichtige Unterscheidung in der Ontologie. Eine Proposition (dictum) ist kontingent wahr, wenn sie auch hätte falsch sein können. Es ist zum Beispiel wahr, dass Sie gegenwärtig ein Buch lesen, es hätte aber auch anders sein können. Propositionen sind notwendig wahr, wenn sie unmöglich falsch sein können. Typische Beispiele dafür sind Propositionen wie „2+2=4“ oder „Junggesellen sind unverheiratete Männer“. In der Terminologie der möglichen Welten ausgedrückt würde man sagen: Kontingente Propositionen sind wahr in mindestens einer möglichen Welt. Notwendige Propositionen sind wahr in allen möglichen Welten. Von diesen de dicto Notwendigkeiten müssen de re Notwendigkeiten sorgfältig unterschieden werden. In ihnen wird nicht einer Proposition, sondern einem Gegenstand (res) eine Eigenschaft als notwendig (oder essenziell) zugeschrieben. Im Begriffsrahmen möglicher Welten lässt sich das folgendermaßen interpretieren: In jeder Welt, in welcher der besagte Gegenstand existiert, besitzt er auch die besagte Eigenschaft. So ist z. B. Wasser notwendigerweise H2O. kontradiktorisch Zwei Aussagen sind kontradiktorisch, wenn sie weder beide falsch noch beide wahr sein können. D. h., die Falschheit der einen Aussage erzwingt die Wahrheit der anderen (und umgekehrt). Z. B. sind die Sätze p: a ist farbig und q: a ist nicht farbig kontradiktorisch, weil

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aus der Falschheit des einen die Wahrheit des anderen folgt: Wenn ich weiß, dass es nicht zutrifft, dass a farbig ist, weiß ich, dass es zutrifft, dass a nicht-farbig ist. kontrafaktisch Nicht den Tatsachen entsprechend. Normalerweise spricht man von kontrafaktischen Situationen als von Situationen, die nicht der Fall sind, aber der Fall hätten sein können. Maximale mögliche kontrafaktische Situationen werden auch als nicht-aktuale → mögliche Welten bezeichnet. konträr Zwei Aussagen sind konträr, wenn sie nicht beide zugleich wahr sein können (wie → kontradiktorische Aussagen), jedoch (im Gegensatz zu kontradiktorischen Aussagen) beide zugleich falsch sein können, z. B. Alle Schwäne sind weiß und Kein Schwan ist weiß. Korrelation Zwei Entitäten oder Eigenschaften sind korreliert, wenn die eine nie auftritt, ohne dass auch die andere auftritt. Wenn eine Korrelation besteht, ist damit noch nichts darüber gesagt, ob ein Kausalzusammenhang zwischen den beiden Größen besteht oder nicht. So sind z. B. Temperatureigenschaften und Druckeigenschaften bei Gasen bloß korreliert: steigt die Temperatur, dann steigt auch der Druck (und umgekehrt). Allerdings kann hier keine kausale Beziehung vorliegen, weil eine Ursache immer ihrer Wirkung in der Zeit vorausgeht. Bei bloßen Korrelationen muss das nicht der Fall sein. Eine metaphysisch notwendige Korrelation ist ein gutes Indiz für eine Identität zwischen den Korrelaten, auch wenn sie diese nicht verbürgt. Kriterium (griech. krinein, „scheiden“, „urteilen“) Das Kennzeichen oder der Prüfstein der Wahrheit oder auch Unterscheidungsmerkmal. mögliche Welt Mögliche Welten sind Welten, die der Fall sein könnten. Man unterscheidet zwischen nomologisch möglichen Welten (die nur unter der Bedingung möglich sind, dass unsere Naturgesetze gelten) und metaphysisch möglichen Welten, für die diese Bedingung nicht gilt. Die Menge der metaphysisch möglichen Welten beinhaltet alle möglichen Welten, sie ist somit größer als die Menge der nomologisch möglichen Welten, und beinhaltet diese. Unklar beim Begriff der möglichen Welten ist deren ontologischer Status. So nimmt der Modale Realismus (vertreten z. B. von Lewis 1986) mögliche Welten als existierend ernst, wohingegen Ersatztheorien sie als Konstrukte aus maximal → konsistenten Satzmengen (Carnap 1956) oder als Rekombinationen tatsächlich instantiierter Eigenschaften betrachten (z. B. Armstrong 1997). Natürliche Art Entitäten, die zu einer Natürlichen Art gehören, bilden eine Menge von Dingen, die wichtige theoretische Eigenschaften gemeinsam haben. Standardbeispiele für Natürliche Arten sind biologische Arten, chemische Stoffe oder Arten von mikrophysikalischen Teilchen (Hase, Aluminium, Elektron). Eine semantische Besonderheit bilden Begriffe, die sich auf natürliche Arten beziehen: Diese Natürliche-Art-Begriffe haben (zumindest nach dem semantischen Externalismus) keinen deskriptiven Kern. Deshalb können die hinreichenden und notwendigen Charakteristika der Art nicht durch Begriffsanalyse ermittelt werden, sondern müssen

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empirisch erforscht werden. (dazu: Putnam 1975, Kripke 1981). Erkenntnistheoretische Naturalisten, die behaupten, dass erkenntnistheoretische Kernbegriffe wie Wissen oder Rechtfertigung Natürliche-Art-Begriffe sind, fordern daher eine Abkehr von der Methode der Begriffsanalyse hin zu empirischer Forschung. notwendig → kontingent/notwendig Proposition Eine Proposition ist, allgemein gesprochen, der Inhalt eines Satzes, einer Überzeugung oder eines Wunsches. Verschiedene Sätze können die gleiche Proposition ausdrücken, z. B. der englische Satz „Snow is white“ und der deutsche Satz „Schnee ist weiß“. Man unterscheidet den propositionalen Gehalt eines Satzes oder einer Überzeugung von der propositionalen Einstellung. Bei dem propositionalen Gehalt handelt es sich um Gehaltseigenschaften konkreter Sätze und Überzeugungen, durch die diese zu Wahrheitswertträgern werden. Der propositionale Gehalt von Sätzen sagt, dass etwas so-und-so beschaffen ist. Propositionen sind wahr, wenn ihr Gehalt erfüllt ist und falsch, wenn ihr Gehalt nicht erfüllt ist. Erfüllt wird ihr Gehalt durch Tatsachen, also dadurch, dass etwas Bestimmtes, von dem sie handeln, der Fall ist. Nach einer Auffassung sind Propositionen feiner individuiert als Tatsachen. So drücken die Sätze „Der Abendstern ist ein Planet“ und „Der Morgenstern ist ein Planet“ verschiedene Propositionen aus, die aber beide durch dieselbe Tatsache (dass die Venus ein Planet ist) wahr gemacht werden. Es gibt jedoch auch Russells grobkörnige Auffassung von Propositionen, derzufolge Propositionen durch die Referenten und Eigenschaften konstituiert sind. Demnach würden die Sätze „Der Abendstern ist ein Planet“ und „Der Morgenstern ist ein Planet“ dieselbe Proposition ausdrücken. Die propositionale Einstellung ist die Einstellung, die ein Sprecher zu einer Proposition einnehmen kann. Zu ihnen zählen glauben, sich fragen ob, wünschen etc. So drücken z. B. die Sätze „Es regnet“ und „Ich möchte, dass es regnet“ denselben propositionalen Gehalt, aber verschiedene propositionale Einstellungen aus. Der propositionale Gehalt, dass es regnet, wird einmal geglaubt („Ich glaube, dass es regnet“) und einmal gewünscht („Ich möchte, dass es regnet). Realisierung Mit dem Begriff ‚Realisierung‘ wird der Umstand beschrieben, dass → supervenierende Eigenschaften ontologisch von grundlegenderen Eigenschaften (der Supervenienzbasis) abhängig sind. So besagt die so genannte „Realisierungsthese“ in der Philosophie des Geistes, dass alle mentalen Eigenschaften durch physikalische Eigenschaften realisiert sind. Höherstufige Eigenschaften einer Art B werden demnach von basalen Eigenschaften einer anderen Art A erzwungen. Dadurch ist es unmöglich, dass es für zwei unterschiedliche supervenierende Eigenschaften B denselben Realisierer A gibt. Die metaphysische Beziehung der Realisierung impliziert allerdings nicht, dass sich B-Eigenschaften auf A-Eigenschaften reduzieren lassen und Aussagen über B-Eigenschaften überflüssig sind. Im Gegenteil: B-Eigenschaften können vielfältig realisiert sein. Dies ist die These der Multirealisierbarkeit, die besagt, dass eine supervenierende Eigenschaft B durch verschiedene Eigenschaften der Art A realisiert werden kann (z. B. Schmerz durch Gehirnzustände und Computeraktivität). (→ Supervenienz)

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schlüssig ein → gültiges Argument mit wahren Prämissen. skeptische Hypothesen mögliche Situationen, in denen uns unsere kognitiven Vermögen global täuschen, weil sie nicht auf die normale Weise aktiviert werden, sondern durch Dämonen oder Neurowissenschaftler mit einer Täuschungsabsicht, ohne dass wir die Täuschung bemerken. Supervenienz Supervenienz ist eine Relation zwischen zwei Mengen von Eigenschaften, den supervenierenden Eigenschaften und der Supervenienzbasis, die nicht unabhängig von einander variieren können. Allgemein gilt, dass eine Menge von B-Eigenschaften über einer Menge von A-Eigenschaften superveniert, wenn es keinen Unterschied auf der Ebene der B-Eigenschaften (der supervenierenden Eigenschaften) geben kann, ohne dass es auch einen Unterschied auf der Ebene der A-Eigenschaften (der Supervenienzbasis) gibt. So superveniert z. B. die mittlere Dichte eines Gegenstandes auf Masse und Volumen des Gegenstandes: zwei Gegenstände können nicht verschiedene mittlere Dichten haben, ohne dass sie sich auch entweder in Masse oder Volumen (der Supervenienzbasis) unterscheiden. Man unterscheidet verschiedene Arten von Supervenienz, so z. B. lokale und globale sowie logische und nomologische Supervenienz. (Vgl. dazu Chalmers 1996, S. 32ff; Jackson 1998, S. 9ff; McLaughlin, http://plato.stanford.edu/entries/supervenience/) (→ Realisierung) synthetisch Ein Satz ist synthetisch, wenn er nicht → analytisch ist, d. h. wenn er nicht allein aufgrund seiner Bedeutung wahr ist, sondern zu seiner Erkenntnis über begriffliche Kompetenz hinaus auch noch empirische Informationen nötig sind. Im Gegensatz zu analytischen Sätzen wie „Junggesellen sind ledig“, die von kompetenten Sprechern als trivial empfunden werden, gelten synthetische Sätze wie „Junggesellen sind gesellig“ als informativ und erkenntniserweiternd. Wenn allerdings Frege damit Recht hat, dass die Arithmetik insgesamt aus analytischen Sätzen besteht, dann kann es auch hochinformative analytische Sätze geben, wie z. B. Goldbachs Vermutung, dass jede gerade Zahl die Summe zweier Primzahlen ist. Theorem Eine Proposition, die innerhalb eines wissenschaftlichen Systems logisch abgeleitet wurde (im Gegensatz zu → Axiomen). transzendentales Argument Ein transzendentales Argument soll zeigen, dass die Bedingungen der Möglichkeit einer Position im Widerspruch stehen zu ihrem Inhalt. Dabei kann es sich um semantische, existentielle oder methodologisch/erkenntnistheoretische Bedingungen der Möglichkeit handeln. Type/Token Die Unterscheidung zwischen Vorkommnis und Typ (auf Englisch ‚Token‘ und ‚Type‘) wird in der Ontologie vorgenommen, um zwischen einem einzelnen Vorkommnis und dem allgemeinen Vorkommnistypen zu unterscheiden. So enthält zum Beispiel das Wort „Boot“ vier Buchstaben. Diese Buchstaben sind Token, also konkrete Vorkommnisse von Buchstaben, die ein Wort

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bilden. Das Wort „Boot“ besteht allerdings nur aus drei verschiedenen Typen von Buchstaben, nämlich b,o und t. Wissen erster/zweiter Ordnung Eine Person S hat Wissen erster Ordnung, wenn sie eine Überzeugung, dass p, hat, die die Kriterien des Wissens erfüllt (welche das auch sein mögen). Eine Person S hat Wissen zweiter Ordnung, wenn sie die Überzeugung q: ich weiß, dass p hat, und diese Überzeugung q die Kriterien des Wissens erfüllt. Wissen zweiter Ordnung einer Proposition p ist, kurz gesagt, zu wissen, dass man p weiß. Zirkularität (epistemische; logische), Ein Argument ist zirkulär, wenn eine Prämisse eines Arguments bereits die Wahrheit der Konklusion voraussetzt. Es lassen sich unterschiedliche Arten der Zirkularität in Argumenten unterscheiden. Logische Zirkularität liegt vor, wenn die Konklusion (oder eine Variation davon) schon explizit in den Prämissen vorkommt und daraus inferenziell die Konklusion abgeleitet wird: P, also p Ein solches Argument ist zwar gültig, aber trivial, denn ein beliebiger Satz p, der zuerst in den Prämissen behauptet wird, muss natürlich auch in der Konklusion daraus folgen. Bei der epistemischen Zirkularität hingegen kommt die Konklusion gar nicht explizit in den Prämissen vor. Der Zirkel besteht vielmehr darin, dass die Rechtfertigung der Prämissen von der Wahrheit der Konklusion abhängig ist: (P1) S1 hat die Wahrnehmungsüberzeugung, dass p1, und p1 (P2) S2 hat die Wahrnehmungsüberzeugung, dass p2, und p2 (P3) S3 hat die Wahrnehmungsüberzeugung, dass p3, und p3 … (K) Wahrnehmung ist zuverlässig Unter anderen hat W. P. Alston dieses epistemisch zirkuläre Argument zur Begründung der Zuverlässigkeit der Sinneswahrnehmung etabliert und diese Form der Zirkularität verteidigt (Alston 1989d).

Sachregister Abduktion (siehe Schluss auf die beste Erklärung) Abbruch der (inferenziellen) Rechtfertigung ––dogmatischer (ungerechtfertigter) 197, 213, 280 f., 285 ––gerechtfertigter 215 f., 285 f. Adäquatheitsbedingungen ––für Rechtfertigung 171, 185 f., 245 ––für Wahrheit 29–31, 46 ––für Wissen 133 Adverbiale Theorie der Wahrnehmung (siehe Wahrnehmung) Akt-Objekt-Modell (siehe Wahrnehmung) Agrippas Trilemma 212, 216, 280–285 Analytizität 45, 382 Anti-Reduktionismus (vgl. Reduktionismus) Antiskeptizismus (vgl. Skeptizismus) ––ambitionierter 262, 266 ––moderater 262, 265, 266 Anfechtbarkeit ––von Wissen 94 ––von Rechtfertigung 161, 169 f., 185, 199, 250 Anfechtungsgründe 95, 168, 169 f., 199, 246 f., 248 f., 293, 343 f., 376, 389, 400, 402 ––widerlegend 74, 86 ––unterminierend 74, 85, 170, 195, 277 f. ––irreführend 86 f., 94 ––Unanfechtbarkeit 84 f., 239, 376, 381 Apriori 14, 21, 210, 235 f., 259, 309, 320, 330 ––angeborenes Wissen 374 ––Exklusivitätsargumente für 377 f. ––Fallibilitätseinwand gegen 381 ––kontingentes Apriori 372 ––Problem der Erklärungslücke 381 f. ––Selbstaufhebungsargumente für 379 f. ––Relativitätseinwand gegen 383 f. Artikulationsargument 365 f. Asymmetrie, epistemische 214 f. Aufmerksamkeit 221 f., 224, 290, 315 Außenweltskeptizismus (siehe Skeptizismus) Autonomie der Erkenntnistheorie 15

Basisproblem (siehe Fundamentalismus) Basissätze 282 f. Begriffe ––demonstrative 366 ––deskriptive 417 ––Idealbegriffe 418 ––Natürliche-Arten-Begriffe (siehe darunter) Begriffsanalyse 7 f., 12, 142, 154, 167, 411, 416, 419 Bewusstsein 220, 312 f. ––bewusster Zustand 224 f. ––Bewusstsein von etwas 224 f. Blindsicht 363, 388 ––Superblindsicht 363 f. Cogito-Argument 217–222 ––performative Interpretation 218 f. ––sinnkritische Interpretation 220 ––Standardinterpretation 218 Definition ––analytisch 8 ––stipulativ 8 Definitionszirkel 40, 41, 50 f., 158, 196 Deflationismus der Wahrheit (siehe Wahrheitstheorien) Default-Status 211, 247, 343 Denkbarkeit 162, 269, 298, 378 Deontologismus (siehe Rechtfertigung) Diagnose 23, 118, 123, 127, 137, 264, 265, 266, 329 ––theoretische 264 ––therapeutische 264 Dialethismus 325 Disjunktivismus (siehe Wahrnehmung) Diskriminationsfähigkeit 101, 104, 109 Dogmatismus 215, 282, 284 Entsprechungsrichtung 29, 68 Erkenntnistheorie ––als Fundamentalwissenschaft 20 ––als methodologisches Kriterium 22 ––als philosophische Disziplin 6–12 ––als Widerlegung des Skeptizismus 21 f.

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 Sachregister

––analytische Aufgaben der 5, 7 f. ––Autonomie der 15 ––diagnostischer Ansatz der 23 ––evolutionäre 330 f. ––Grundfragen der 6 ––normative Aufgabe der 5, 8 f. Erklärung, deduktiv-nomologisches Modell der 227 f. Erklärungslücke, Argument der (siehe Apriori) Ethik des Glaubens 179 Evidentialismus 187, 188–190 Evidenz 37, 144, 320, 323, 337, 340, 343, 367, 373 f., 391 Externalismus ––epistemischer 187, 244, 247, 250, 278, 332 f., 367, 369, 379, 416, 420 ––historischer 298 ––Objektivismus 187 ––semantischer 295 f., 298 f., 391 ––Zugangsexternalismus (vgl. Internalismus, Reliabilismus) 187, 197 f., 278 Fallibilismus (vgl. Infallibilismus) 317–319 ––schwach 317 f. ––stark 317 ––universell 317 Fundamentalismus 208–210 ––Basisproblem des 216, 225 f., 230 ––empiristischer 210 ––externalistischer 210 ––internalistischer 210 ––klassischer 212–222 ––moderater 210, 249–251 ––neoklassischer 222–230 ––Problem des Überbaus 225 f., 230, 250 ––psychologischer 210 ––rationalistischer 210 ––starker 210 Fundhärenztheorie 241 Funktion, ordnungsgemäße (proper function) 138–140 Gedankenexperimente 378 Gegengründe (siehe Anfechtungsgründe) Gehirne im Tank 10 f., 36, 97, 100, 105 f., 110 f., 116 f., 296–299, 303 f. Generalitätsbedingung (für Begriffe) 364

Geschlossenheitsargument (siehe skeptische Argumente) Geschlossenheitsprinzip ––der Rechtfertigung 272–274 ––des Wissens 102 f., 109, 112 f., 117 f., 123–133, 270–272 Gettierfälle 76–81 Gewissheit 80 f. ––objektiv 3, 72 f., 75, 80 f., 87 f., 97, 99 f., 104, 156 f., 161, 162, 268–270, 294 f., 317 f., 319 ––subjektiv 3, 81, 319 Gewissheitsargument (siehe skeptische Argumente) Gründe ––als Tatsachen 192 f. ––als Ursachen 172 f. ––gute (adäquate) 171 f. ––Prima-facie-Grund 238 f., 339, 344 ––sensitive (siehe Wissen) ––sichere (siehe Wissen) ––stützende 171 f. ––Transitivität der 214 f. ––zwingende (siehe Wissen) Hellseher Norman 194 f. Hintergrundwissen 355, 417 Holismus 231 f., 237, 242 Idealismus 127, 135, 304 f. ––erkenntnistheoretischer 304–316 ––metaphysischer 305 ––Reduktionsthese des 295, 306 f. ––transzendentaler 22, 305, 307, 309 f. Individualismus 395 Induktion 16, 73, 282, 286, 287 f., 332, 340, 343, 353, 396 Informant 163 f., 340, 342, 394, 396, 399 f., 401 f. Inkonsistenz 117, 155, 237, 238, 241, 283 ––epistemische 379 ––existenzielle 311 f., 316 ––performative 219, 316 ––semantische 311, 316 Instrumentelle Rationalität, Modell der 178, 184–186

Sachregister 

Intellektualistische Legende 60 ––Argumente gegen die 60–65 Internalismus 186–198, 343, 380 f., 396 ––Zugangsinternalismus 187, 191 f., 210, 225, 236, 277, 369, 414 f. ––schwach 197 ––Regressproblem des 278, 283, 332 ––Subjektivismus 187, 188 f. Interpret, allwissender 301 f. Interpretation, Argument von der radikalen 299 f. Introspektion 337, 343, 385–393 ––innere Wahrnehmung 390, 392 Intuition, rationale 217, 339, 343, 377, 378, 380 f. Jackpot, erkenntnistheoretischer 151 f. Kausalprinzip 21 Kognitionswissenschaften 4, 15, 409 Kohärenztheorie der Rechtfertigung (der Wahrheit siehe Wahrheitstheorien) ––Begriff der Kohärenz 233 f. ––Kohärenztheorie der Überzeugungsrevision 238 f. ––erkenntnistheoretische Irrelevanz der Erfahrung 234 f. ––Isolationseinwand 233 f. ––holistische 231 ––lineare 231 ––Problem des internalistischen Regresses 236 ––Relativitätseinwand 232 f. ––unreine 236 Konjunktionsfehlschluss 207 Konsistenz 38, 233, 237 Kontextualismus ––deflationärer 243 f. ––der Rechtfertigung 242–249 ––pragmatischer 243 f. ––semantischer 110–123, 244 ––substanzieller 243 f. ––Zuschreibungskontextualismus 113 f. Kritizismus 283 Lotteriefall 89

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Marsianer-Fall 398 f. Matrix 254 f., 268, 302 f. Meisterargument für den Idealismus 310–312 Menon-Intuition 147 f., 152 f. Methodismus 22 Möglichkeit (vgl. Notwendigkeit) 269 f., 293, 295, 378 Mögliche Welten 97, 105, 136, 382 Moore-Strategie 117 Münchhausentrilemma (siehe Agrippas Trilemma) Müller-Lyer-Illusion 348, 360, 362 Mythos des Gegebenen 368 Naturalismus 405–421 ––erhaltender 408 ––ersetzender 407 ––Fehlschluss des 411 f. ––methodologischer 409 ––schwacher 409 ––starker 409 ––ontologischer 409 Natürliche-Art-Begriffe 417–419 Nihilismus 257 Normativität 5, 185, 408, 412 Notwendigkeit (vgl. Möglichkeit) 217, 223, 376, 378 Objektivismus (siehe Externalismus) Paradox der Analyse 8 Partikularismus 22 Perzept 345 Pessimismus 257 Pflichten, epistemische 178–184 Phänomenale Begriffe 373 Phänomenalismus 37, 287, 308, 309 f., 355–357 Platonismus 22 f., 27 f., 94 Prinzip des Glaubens 400 Prinzip der Wahrheit 400 Problem des Intellektuellen 65 Problem des Kriteriums 12 f. Problem des Überbaus (siehe Fundamentalismus) Problem der Unbestimmtheit 112, 115 Propositionen 2, 27–29, 48, 55, 168

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 Sachregister

Psychologismus 14, 158 Quellen ––(nicht-)basale 340 f., 368 f., 399, 402 ––(nicht-)evidenzielle 340 ––(nicht-)psychologische 340 ––exklusive 338 ––der Rechtfertigung 337 ––des Wissens 337 ––unanfechtbare 339 Rationalismus 321, 378, 385 Realismus ––direkter (siehe intentionaler) ––erkenntnistheoretischer 310 f., 343 ––indirekter 347, 353 f. ––intentionaler 289, 291 f., 315, 360 f. ––naiver 347 ––der Wahrheit 32 Rechtfertigung ––(nicht-)inferenzielle 71, 168, 215, 281 f., 284 f., 289, 364 f. ––(nicht-)kausale Analyse der 172–178 ––apriorische (siehe Apriori) ––Arten der 41 f., 169, 185 ––Fundamentalismus der (siehe Fundamentalismus) ––Gewissheitsmodell der 72 f., 75, 77, 80 f., 88, 97 ––interne 71 f., 90 f. ––Kohärenztheorie der (siehe Kohärenztheorie) ––kontextualistische (siehe Kontextualismus) ––normative Dimension der 169 ––personenrelative 167–169 ––pragmatische 41, 185 ––Quellen der (siehe Quellen) ––Regress der 13, 156, 168, 182, 192 f., 196–198, 205, 206, 212 f., 215 f., 222, 224, 225, 236, 250, 278, 280–285 ––Relativität der 167 ––Struktur der 207–251 ––Transitivität der 214 f. ––Wahrheitsverbindung (Wahrheitszuträglichkeit) der 167 f., 185 ––Wahrscheinlichkeitsmodell der 73 f., 75, 77, 78, 80 f.

––zirkuläre 12, 204, 213, 214 f., 231, 281 f. Rechtfertigungsskeptizismus 253 ––partieller 262 ––universeller 259–261 Reductio ad absurdum 51, 63, 124, 261, 333, 340 Reduktionismus (vgl. Anti-Reduktionismus) 396, 397–399 Referenzklassenproblem (siehe Reliabilismus) Reflexion ––kritische 71, 183 f., 185, 277 ––strikte 320 Regressargument (siehe skeptische Argumente) Regressstopper 224 Relativismus 232 f., 235, 246 f., 249 Relativität der Erfahrung 348 f. Reliabilismus 198–206 ––Generalitätsproblem des 202 ––Lokalisationsproblem des 202 f. ––Referenzklassenproblem des 201–203 ––Problem der allzu leichten Metarechtfertigung 200, 203–205 Satz vom Widerspruch 321–327 ––ontologisches Prinzip 321 f. ––psychologisches Prinzip 321 f. ––semantisches Prinzip 321 f. Scheinproblem 8, 149, 263 f., 379 Scheunenfassadenfall 82 f. Schleier der Vorstellungen 286, 347 Schluss auf die beste Erklärung 209, 227 f., 230, 235, 285, 288, 340 Sekundäre Qualitäten 348 Selbstaufhebungsargumente 295, 316–330, 379 f. Selbstevidenz 223, 243, 323, 377 Selbstwissen 385–393 ––besondere erkenntnistheoretische Autorität 385, 387–389 ––Luminosität 388 ––negativ autonom 389 ––Transparenz 388 f. ––unfehlbar 387 f. ––Einbettungsmodell des 392 ––nicht-evidenzielles 390–391

Sachregister 

––spezifische Quelle des 387 Sinnesdaten 229, 285, 287–289, 291, 315, 347, 349–353, 407 Sinnestäuschungen ––Illusion 73, 159, 193, 198, 254, 289, 345, 347–349, 360 ––Halluzination 73, 132, 159 f., 193, 226, 254, 289, 290, 308, 345, 348–349 Skeptische Argumente ––Geschlossenheitsargument 270–274 ––Gewissheitsargument 268–270 ––Regressargument 280–285 ––Traumargument 275–279 ––Unterbestimmtheitsargument 285–292 Skeptische Haltung 255 Skeptische Hypothesen 216 f., 254 f., 263, 267–268, 277 f., 293, 295, 329 ––Dämonhypothesen (Hypothesen des totalen Irrtums) 268 ––Unzuverlässigkeitshypothesen (Traumhypothesen) 268 Skeptisches Paradox 115, 117–118 Skeptizismus (vgl. Antiskeptizismus) ––akademischer 260 ––der Außenwelt 288, 292 ––erkenntnistheoretische Skepsis 257–259 ––partieller 262 ––pyrrhonischer 255–256 ––Rechtfertigungsskeptizismus (radikaler) 259 ––universeller 260–262 ––Wissensskeptizismus (moderater) 259, 268–270 Skepsiswiderlegung ––epistemisch zirkuläre Argumente 330–334 ––idealistische Strategien 304–316 ––Selbstaufhebungsargumente 316–330 ––semantische Argumente 295–304 ––transzendentale Argumente (siehe darunter) Slingshot-Argument 51 Solipsismus 229 f., 355 Standardhypothese 229 f., 354 Subjektivismus (siehe Internalismus) ––perzeptueller 347, 350–357 Supervenienz 410, 412, 421 Szientismus 409

 465

Täuschungsargument (für die Sinnesdatentheorie) 289 f., 315, 348, 349 f., 357–359 Transparenzthese 388 f. Transzendentale Argumente 327–330 ––anspruchsvolle 330 ––bescheidene 330 Transferprinzip 126–131 Transzendentalpragmatik 317–320 Traumargument (siehe skeptische Argumente) Trilemma der Begründung (siehe Agrippas Trilemma) Truth-Tracking-Theorie (siehe Wissen) Tugenderkenntnistheorie 138–142 Überdeterminierung, kausale 175 f. Überlegungsgleichgewicht 22, 421 Überzeugungen ––als Handlungen 64, 181–183 ––basale 208 f., 209 f., 211 f., 216, 238 f.  –dialektisch 244 –methodologisch 244 –pragmatisch 246 f. ––dispositionale 62 Unfehlbarkeitsthese 387 Unterbestimmtheitsargument (siehe skeptische Argumente) Verifikationismus 36, 264, 301, 329 Verpflichtung, Modell der 178–184 Voluntarismus, doxastischer 180–183, 195 Vorstellung ––Inhalt der 48, 311, 312 f. Wahrheit ––Begriff der 25 f., 27, 31 ––Definition der 50 ––Kriterien der 33 ––Natur der 33 ––noetischer Sinn 26 ––ontologischer Sinn 25 ––propositionale 26 f. Wahrheitstheorien ––Adäquatheitsbedingungen für 29–31 ––Evidenztheorie 37 ––deflationäre 32, 42–46 ––epistemische 33–42

466 

 Sachregister

Einwände Einwand von den skeptischen Konsequenzen 40 Einwand vom Primat der Wahrheit 41 f. Parasitismuseinwand 40 f. Relativitätseinwand 38 f. Transzendenzeinwand 39 Zirkularitätseinwand 39 f. ––ideale Theorie 39 ––Kohärenztheorie 38 ––Konsenstheorie 37 ––Korrespondenztheorie 32, 46–52 ––nicht-epistemische 32 ––Primitivismus 33 ––realistische 32 Wahrheitswertträger 26–29 Wahrheitszuträglichkeit (siehe Rechtfertigung) Wahrmacher 30, 47 f. Wahrnehmung ––adverbiale Theorie der 352 f. ––Akt-Objekt-Modell der 359 ––disjunktive Theorie der 290, 358 f. ––epistemische Theorie der 362 ––nicht-begrifflicher Gehalt der 365 f. ––veridische 358 Widerspruch (siehe Inkonsistenz) Widerspruchsprinzip (siehe Satz vom Widerspruch) Wiedererkennungsbedingung (für Begriffe) 364, 366 Wissen ––als Zielbegriff 146, 153 f. ––Anfechtbarkeit von 90 f.

––Bedeutung für die Erkenntnistheorie 143–164 ––durch Gewissheit 97 ––durch Sensitivität 98 f. ––durch Sicherheit 99 ––durch truth-tracking 105–107 ––durch Zuverlässigkeit 109 f. ––durch zwingende Gründe 107–109 ––Formen von 55–66 ––Geschlossenheit von 123–133 ––Indexikalität von 115, 121 f. ––kausale Theorie von 92–95  ––Mehrwertthese des (vgl. Menon-Intuition) 66–67 ––methodologische Rolle des 162–164 ––Rechtfertigungsbedingung von 70–72 ––Standardanalyse von 66–75 ––Stabilität des 67, 71 f., 144 ––Stabilitätsbedingung des 105–107 ––Überzeugungsbedingung von  67–69 ––Wahrheitsbedingung von 69 f. ––Wissen aufgrund von Bekanntschaft 56–57 ––Wissen-dass 55 ––Wissen-wie 59–65 ––Wissen-wie-es-ist 57–59 ––WW-Prinzip 276 Zebra-Fall 127–130 Ziel, epistemisches 146, 161 f. Zirkularität ––epistemische 12, 331 f., 332 f., 413 f. ––logische 12, 331 f., 332 f., 413 f. Zitattilgungsschema 30, 32, 43, 45 f., 322

Namenregister A Agrippa 212–213, 280, 282 Albert, H. 212, 317 Alston, W. 29, 34, 36, 45, 145, 167, 171, 181, 186–187, 196–197, 199, 202, 230, 305, 331, 334, 387, 413 Apel, K. O. 317–320 Aquin, T. v. 32 Aristoteles 16, 26–27, 32, 68, 72, 146, 154, 173, 212–215, 321–324, 345, 370 Armstrong, D. M. 47, 52, 82, 362 Audi, R. 338–342, 377 Ayer, A. J. 210, 259, 285–286 B Balcerak Jackson, B. 340  Balcerak Jackson, M. 340  Barke, A. 123 Barnes, J. 280 Bartelborth, T. 22, 176, 264–265, 408, 421 Baumann, P. 76, 100, 112 Bealer, G. 21, 376, 378, 380, 416 Beckermann, A. 40, 59, 145, 153, 163–164 Berkeley, G. 17, 33, 37, 210, 286–287, 289, 304–305, 307, 309–312, 347, 349–351, 353, 355 Bett, R. 261 Bieri, P. 85, 176 Bittner, R. 301 Blanshard, B. 34, 37–40, 231–233 Boghossian, P. 382 BonJour, L. 21, 124, 145, 167, 183–187, 193–194, 196, 199, 212, 221–225, 231–232, 235–237, 263, 368, 376, 379, 399, 407, 415 Bradley, F. H. 231 Brandom, R. 100, 112, 202 Brendel, E. 113, 121–122 Brueckner, A. 297 Burge, T. 374, 392, 401 Byrne, A. 349, 386, 392–393 C Carnap, R. 263, 382 Casullo, A. 375, 378

Chalmers, D. 296, 302–304, 412 Cherniak, C. 237 Chisholm, R. M. 22, 263, 265, 309, 352, 356 Cicero, M. T. 260, 275 Clifford, W. 179 Coady, C. 397–399 Code, L. 140 Cohen, S. 112, 115–116, 187, 190 Conee, E. 187, 202 Craig, E. 76, 164 D David, M. 146 Davidson, D. 31, 33, 46, 51, 231, 296, 299–301, 304, 366–367, 398 Davis, W. 120–122 DePaul, M. 147, 150, 153 DeRose, K. 23, 112–113, 116, 119, 124 Descartes, R. 17, 21, 32, 72–73, 81, 179, 210, 212, 216–222, 224, 259, 262–263, 268, 275, 295, 305, 311, 339, 370, 374–375, 377, 386–387, 395, 405–406 Devitt, M. 379, 381 Dewey, J. 263, 317 Dretske, F. 67, 91, 107–108, 113, 123–124, 126–133, 202, 271, 362 Dummett, M. 33 E Eisler, R. 15, 21, 405–406 Empedokles 257 Empiricus, S. 13, 32, 212, 255–256, 339 Epikur 16 Evans, G. 366, 392 F Feldman, R. 124, 187, 202, 416 Field, H. 23, 383 Foley, R. 173, 187, 189 Frege, G. 18, 27–28, 30, 33, 43–44, 47–51, 55, 144, 176, 313–314, 375, 378 Fumerton, R. 41, 197, 204, 236, 333, 399

468 

 Namenregister

G Gettier, E. 76–80, 108, 113, 133–134, 143 Glock, H. 19, 22 Glüer, K. 299 Goldman, A. 6, 82, 92–93, 102, 109–110, 134, 187, 192, 197–200, 263, 411, 421 Greco, J. 23, 140, 265–266 Grundmann, T. 113, 116, 121, 147, 149, 169, 186, 194, 199–200, 203, 218–220, 236, 266, 277–278, 281, 320, 327, 380, 418–419 H Haack, S. 241 Habermas, J. 33, 37–38, 40 Harman, G. 86, 87, 241 Harrison, R. 327 Hawthorne, J. 132–133 Hegel, G. F. 13, 25, 33, 231 Heidegger, M. 26, 49 Heil, J. 392 Hintikka, J. 218–219 Hofmann, F. 145–146, 148–152 Horwich, P. 43 Huemer, M. 349 Hume, D. 14, 17, 32–33, 210, 226, 256–257, 259, 263, 285–286, 288–289, 311, 347, 349–351, 353, 358, 370–371, 388, 390, 396–398, 400, 405-407, 412 Husserl, E. 37 J Jackson, F. 46, 57, 59, 352, 362 K Kahneman, D. 207 Kant, I. 2, 14, 16–18, 21–22, 33, 182, 263, 304–307, 309, 312, 314, 327, 345, 362–363, 370–373, 375, 378, 383, 405 Kaplan, M. 162 Karneades 32 Karttunen, L. 58 Keuth, H. 318 Kim, J. 408 Kim, K. 183 Kim, M.  385 Kirkham, R. 38, 41

Kitcher, P. 6, 376, 378, 394 Klein, P. 123, 130 Koppelberg, D. 6, 147, 149, 174  Kornblith, H. 6–7, 118, 186, 237, 413, 416–418, 421 Kripke, S. 372, 378 Kuhlmann, W. 317–320, 325 Kvanvig, J. 147, 200 L Lackey, J. 142, 341, 401 Lehrer, K. 85, 173–176, 231 Leibniz 32, 321, 370–371, 374 Levin, M. 141 Lewis, D. 59, 112 Locke, J. 17, 32, 73, 179–180, 210, 228–229, 259, 286, 288, 347, 353–354, 371, 390, 395 Lukasiewicz, J. 321 Luper, S. 123–124, 129, 133–134 M Mackie, J. 257 Malmgren, A. 401 McDowell, J. 290, 358, 362, 364–366 Mill, J. S. 287, 308, 344, 355–356, 378 Montaigne, M. de 13 Montmarquet, J. 140 Moore, G. E. 117, 135, 263, 265 Moser, P. 144–145 N Nagel, T. 59 Nagel, J.  385 Neale, S. 51 Nelson, L. 13 Nemirow, L. 59 Neurath, O. 33, 37–38, 211, 231–233, 317 Newton, I. 17, 49 Nichols, S. 383–384 Nozick, R. 105–106, 124, 270–271 O O’Brien, D. 408 Olson, K. 51 Olsson, E. 200, 242 Oppy, G. 46

Namenregister 

P Paxson, T. 85 Peacocke, C. 8, 20 Peirce, C. S. 33, 37, 40, 73, 263, 317 Pinker, S. 62 Pitcher, G. 362 Plantinga, A. 95, 138–140, 142, 178 Platon 3, 16, 66–68, 71–73, 143, 147, 210, 275, 370, 374, 395 Plotin 370 Pojman, L. 179, 222 Pollock, J. 11, 74, 234–235, 239 Popper, K. 15, 168, 282–283, 317 Priest, G. 322–326 Pritchard, D. 113, 134, 137, 142, 192, 197, 290, 358 Pryor, J. 274–275, 284 Pust, J. 380 Putnam, H. 33, 37, 296–298, 303–304 Q Quine, W. V. 6, 14–15, 33, 43, 211, 231, 239, 241, 259, 263, 317, 325–326, 344, 378, 381, 406–408, 412 R Radford, C. 69 Ramsey, W. 33, 43–44 Reid, T. 400 Rescher, N. 232 Ricken, F. 255 Riggs, W. 147 Rorty, R. 14–16, 23, 263 Russell, B. 18, 39, 47–48, 52, 55–56, 76, 157, 210, 244, 312–313, 375 Rutte, H. 283 Ryle, G. 60–63, 65, 387 S Sainsbury, R. 137, 324–325 Sartwell, C. 145, 153–155 Schantz, R. 186 Schiffer, S. 118, 121 Schlick, M. 33, 210, 232, 234 Searle, J. 68

 469

Sellars, W. 211, 231, 362, 368, 411–412 Shoemaker, S. 390–392 Smith, M. 8, 46 Sokrates 48, 66–67, 177, 259–260, 311, 321, 323, 331, 395 Sosa, E. 129, 134–135, 138, 140, 149, 186 Stanley, J. 63, 65, 113 Stern, R. 327–328 Steup, M. 184 Stich, S. 142, 383–384 Strawson, P. F. 47, 327–328, 330 Striker, G. 261 Stroud, B. 21, 118, 258–259, 266, 275, 301, 328–330 Stüber, K. 299 T Tidman, P. 183–184 Tugendhat, E. 19 Tversky, A. 207 Tye, M. 59, 360–362 Tymoczko, T. 297 V Vaihinger, H. 16 Vogel, J. 204 W Walker, R. 37, 41 Weinberg, J. 383–384 Whiteley, C. 357 Willaschek, M. 278 Williams, M. 23, 31, 40, 42, 113, 118, 123–124, 126, 211, 245–248, 258, 264, 343–344 Williamson, T. 30, 63, 65, 76, 129, 134, 137–138, 142–143, 157–161, 187, 192–193, 388 Wittgenstein, L. 8, 18, 23, 27, 36, 52, 211–212, 243, 263, 379, 382, 390 Wright, C. 123, 272 Z Zagzebski, L. 138, 140, 147, 149, 200, 394 Zeller, E. 16