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German Pages 207 Year 1992
ALEXANDROS DIMAKIS
Der Zweifel an der Rechtswidrigkeit der Tat
Kölner Kriminalwissenschaftliche Schriften Herausgegeben von Hans Joachim Hirsch, Günter Kohlmann Michael Walter, Thomas Weigend Professoren an der Universität zu Köln
Band 10
Der Zweifel an der Rechtswidrigkeit der Tat Eine Untersuchung zur Problematik des bedingten Unrechtsbewußtseins
Von Dr. Alexandros Dimakis
Duncker & Humblot . Berlin
Gedruckt mit Unterstützung der Konrad-Adenauer-Stiftung
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Dimakis, Alexandros: Der Zweifel an der Rechtswidrigkeit der: Tat: eine Untersuchung zur Problematik des bedingten Unrechts bewusstseins / von Alexandros Dimakis. Berlin : Duncker und Humblot, 1992 (Kölner Kriminalwissenschaftliche Schriften ; Bd. 10) Zug!.: Köln, Univ., Diss., 1991/92 ISBN 3-428-07621-4 NE:GT
Alle Rechte vorbehalten
© 1992 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41
Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin 65 Printed in Germany ISSN 0936-2711 ISBN 3-428-07621-4
Dubium sapientiae initium Descartes
Vorwort Die Abhandlung hat im Wintersemester 1991/92 der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln als Dissertation vorgelegen. Rechtsprechung und Schrifttum sind bis Ende Januar 1992 berücksichtigt. Mein aufrichtiger Dank gilt meinem verehrten Lehrer, Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Hans Joachim Hirsch, der die Arbeit angeregt und betreut hat. Er hat mir in jeder Hinsicht mit Rat und Tat beigestanden. Für wertvolle Ratschläge möchte ich mich weiterhin bei dem Zweitgutachter, Herrn Prof. Prof. e.h. Dr. Ulrich Klug, und bei den Herren Professoren Dr. Thomas Weigend und Dr. Georg Küpper bedanken. Sehr bedeutend war für mich auch die Unterstützung durch griechische Hochschullehrer während meines gesamten Jura-Studiums. Besonders dankbar bin ich den Herren Professoren Dr. Nikolaos Androulakis, Dr. Leonidas Georgakopoulos, Dr. Dionysios Spinellis, Frau Professor Dr. Anna Benakis sowie den Herren Assistenzprofessoren Dr. Ioannis Giannidis und Dr. Nikolaos Bitzilekis. Es war mir eine Freude, meine Dissertation im KriminalwissenschaftIichen Institut der Universität zu Köln verfassen zu können. Die Hilfsbereitschaft seiner Angehörigen, aber auch die freundliche Atmosphäre, die dort herrscht, haben zum erfolgreichen Abschluß dieser Arbeit wesentlich beigetragen. Den Mitarbeitern, Doktoranden und Studenten dieses Instituts bin ich dafür zu Dank verpflichtet. Dies gilt insbesondere für die Herren Wiss. Mitarbeiter Manfred Hake und Marc Bartholomy, die mir bei der Korrektur des Manuskripts und bei der Drucklegung sehr behilflich waren. Nicht zuletzt danke ich der Konrad-Adenauer-Stiftung, die durch die Gewährung eines Promotionsstipendiums und eines Druckkostenzuschusses mein Studium in Deutschland und den Druck dieses Buchs entscheidend erleichtert hat. Athen/London, im März 1992 Alexandros Dimakis
Inhaltsverzeichnis
A. Einleitung ...............................................
1
B. Die Recbtsprecbung des Reicbsgericbts und die ältere Lebre . . . . . . . . . .
5
I. Die Diskussion seit dem Ende des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. 1. Kleinschrod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. v. Almendingen ........................................ 3. Köstlin ..............................................
5
11. Die Rechtsprechung des Reichsgerichts .........................
10
Irr. Die Vorsatztheorie .... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
14 15
............................................. 2. Die übrigen Vertreter der Vorsatztheorie - die Entwicklung bis zum Zweiten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 1. Binding
C. Die Abgrenzung des Unrecbtsbewußtseins vom Verbotsirrtum. . . . . . . .. I. Subjektive Unsicherheit und objektiv umstrittene Rechtslage - "echtes" und "unechtes" bedingtes Unrechtsbewußtsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 1. Zu den verschiedenen Wahrscheinlichkeitstheorien . . . . . . . . . . . . . . .. a) Der ,,klassische" Wahrscheinlichkeitsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . .. b) Objektive Wahrscheinlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. c) Subjektive Wahrscheinlichkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 2. Wahrscheinlichkeitstheorien und ihre strafrechtliche Anwendung - insbesondere im Bereich des Unrechtsbewußtseins . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 3. Exkurs: Die Fälle des "unechten" bedingten Unrechtsbewußtseins .. . .. a) Abgrenzung der Problematik ............................ b) Mögliche Lösungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. a) Lösungen auf der Tatbestandsebene ..................... aa) Verstoß gegen den Bestimmtheitsgrundsatz ....... . . . .. ~~) In dubio mitius - die "Vertretbarkeitslösung" .......... ~) Lösungen im Bereich der Schuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. aa) Unzumutbarkeit? .............................. ~~) Behandlung als Verbotsirrtum .....................
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9
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25
25 26 26 26 28 29 32 32 35 37 37 38 42 42 43
x
Inhaltsverzeichnis 11. Gleiche Abgrenzungskriterien für Vorsatz und Fahrlässigkeit und für Unrechtsbewußtsein und Verbotsirrtum? ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
46
III. Unterschiedliche Abgrenzungskriterien für Handlungs- und Unterlassungsdelikte? ...............................................
52
IV. Die "Willenstheorie" ...................................... 1. Überblick über die benutzten Kriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 2. Probleme der Rechtsprechung des BGH ...................... 3. Die dogmatische Begründung der Willenstheorie . . . . . . . . . . . . . . . .. a) Die Lehre Rudolphis ............. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. b) Die Natur des Sich-Abfmdens und des Ernstnehmens als Kriterien der Abgrenzung des Unrechtsbewußtseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. a) Das Ernstnehmen der Gefahr bzw. der Möglichkeit der Rechtswidrigkeit ........ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. ~) Das Sich-Abfmden mit der Tatbestandsverwirklichung als notwendige Folge des Emstnehmens der Gefahr .............. y) Folgen für die Problematik des bedingten Unrechts bewußtseins .. c) Die ,.Entscheidung für das mögliche Unrecht" im Rahmen der Lehre Rudolphis ......................................... d) Das Sich-Abfmden mit der Tatbestandsverwirklichung bzw. mit der möglichen Rechtswidrigkeit als selbständiges Willenselement ..... 4. Kritik der Willenstheorie
55 55 57 60 60
V. Die "emotionalen" Theorien .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 1. Die Billigungstheorie .................................... 2. Die Gleichgültigkeitstheorie ............................... a) Der Begriff der Gleichgültigkeit - das Gesinnungsmoment beim Unrechtsbewußtsein .................................. b) Kritik der Gleichgültigkeitstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. c) Bedingtes Unrechtsbewußtsein und "abgestumpfter Gewohnheitsverbrecher" ..........................................
79 79 81
61 63 65 67 68 71
74
81 85 88
VI. Die Möglichkeitstheorie ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 91 1. Prolegomena zur Möglichkeitstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 91 2. Die begriffliche Vereinbarkeit von Zweifel und Irrtum .......... . .. 93 3. Irrtum und Zweifel in anderen Bereichen des Strafrechts ........... 97 4. Die Motivierungskraft des Unrechtszweifels .................... 100 a) Privilegierung des Gleichgültigen? ........................ 100 b) Die Bedeutung der normativen Betrachtung für die Abgrenzung des Unrechts bewußtseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 103 VII. Die Annahme eines Verbotsirrtums in allen Fällen des Unrechtszweifels .. 110
Inhaltsverzeichnis
XI
112 112 114 116
VIII. Die Wahrscheinlichkeitstheorie .............................. 1. Die herkömmlichen Versionen der Wahrscheinlichkeitstheorie . . . . . .. 2. Wahrscheinlichkeit als Risiko ............................. 3. Wahrscheinlichkeit als Urteil des Täters über eine Möglichkeit . . . . .. 4. Unrechtsbewußtsein als Urteil über die vorgestellte Möglichkeit der Rechtswidrigkeit ..................................... 5. Einwände gegen die Wahrscheinlichkeitstheorie. . . . . . . . . . . . . . . .. 6. Die Emstnahme der Möglichkeit, rechtswidrig zu handeln - die Verdrängungs- und Gleichgültigkeitsfälle .......................... 7. Die Übernahme der vorgestellten Möglichkeit der Rechtswidrigkeit als verbindliche persönliche Sicht
132
IX. Zwischenergebnis .......................................
134
D. Die Bestrafung beim Handeln mit bedingtem Unrecbtsbewußtsein . . . ..
137
117 124 127
I. Muß das Handeln mit bedingtem Unrechtsbewußtsein immer unter Strafe gestellt sein? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 138 11. Strafmilderung beim Handeln mit bedingtem Unrechtsbewußtsein? ..... 1. Die Herleitung der Strafmilderung aus dem Schuldgrundsatz ....... 2. Die Behebbarkeit des Zweifels ............................
139 139 142
111. Zwischenergebnis .......................................
147
IV. Bedingtes Unrechtsbewußtsein und Zumutbarkeit 1. .,Zumutbarkeit" der Erkundigung . . . . . . . . . . 2. Zumutbarkeit der Nichtvomahme der Tat beim Unrechtsbewußtsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
................. 147 . . . . . . . . . . . . . . . .. 147 Handeln mit bedingtem . . . . . . . . . . . . . . . .. 149
V. Bedingtes Unrechtsbewußtsein und mangelnde Vorwerfbarkeit - der Zweifel über zwei einander ausschließende Pflichten .................. 157 VI. Bedingtes Unrechtsbewußtsein und Generalprävention
163
E. Zusammenfassung der Ergebnisse
169
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
177
A. Einleitung Die Frage nach dem Unrechtsbewußtsein gehört zu den meistdiskutierten Problemen der deutschsprachigen Strafrechtswissenschaft. Die inzwischen unübersichtlich gewordene Literatur und die reiche Rechtsprechung zu diesem Thema haben zwar wesentlich zur Klärung der Problematik beigetragen, noch gibt es aber wichtige Bereiche, in denen die Intumsdogmatik einen langen Weg vor sich hat. Zu denken wäre etwa an den Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale und die Abgrenzung des Tatbestands- vom Verbotsirrtum, an die Konkretisierung der Kriterien der Vermeidbarkeit des Verbotsirrturns sowie an die Stellung und die Funktion des Verbotsirrturns im Rahmen dei neueren Auffassungen über den funktionalen Schuldbegriff. Gleichzeitig werden alte Fragen, die als geklärt galten, erneut gestellt. Es erscheint deshalb auch nur wenig überraschend, daß sich einige Autoren weiterhin für die Vorsatztheorie aussprechen' und daß sogar auf die alte reichsgerichtliche Unterscheidung von Tatirrtum und strafrechtlichem sowie außerstrafrechtlichem Rechtsirrtum zurückgegriffen wird2• Überraschend dürfte es allerdings sein, daß über die Behandlung des Zweifels an der Rechtswidrigkeit, der Gegenstand dieser Untersuchung ist, sehr wenig geschrieben worden ist. Zwar lassen sich fast in jedem Lehrbuch oder Kommentar einige Sätze zu dem Thema finden, so etwa, daß für das Vorliegen des Unrechtsbewußtseins keine sichere Kenntnis erforderlich sei, bedingtes Unrechtsbewußtsein vielmehr ausreiche. Diese Aussage ist meistens von dem Bekenntnis zu einem der hier zu untersuchenden Abgrenzungskriterien begleitet. Eine gründlichere Analyse des Unrechtszweifels ist jedoch nur an wenigen Stellen zu finden, ganz abgesehen davon, daß eine monographische Bearbeitung des
I
Vgl. Langer, GA 1976, S. 213 ff.; Schmidhäuser, JZ 1979, S. 365 ff.
2 Vgl. etwa die Arbeiten von Kuhlen, Die Unterscheidung von vorsatzausschließendem und nichtvorsatzausschließendem Irrtum, und Tischler, Verbotsirrtum und Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale. Zum gegenwärtigen Stand der Irrtumslehre im Strafrecht vgl. Frisch, in: Rechtfertigung und Entschuldigung, Bd. 3, S. 237 ff.
2
A. Einleitung
Themas nicht vorhanden isf. Dieser Mangel wird noch auffaIliger, wenn man den Vergleich zur Pamllelerscheinung des dolus eventualis zieht, der immer noch einen beliebten Gegenstand strafrechtlicher Untersuchungen bildet. Der Grund dafür liegt in dessen viel größerer Bedeutung; seine Vemeinung hat zumeist Straflosigkeit (oder ggf. eine erheblich mildere Fahrlässigkeitsstrafe) zur Folge. Andererseits ist für die Bejahung von Schuld das Unrechtsbewußtsein nicht unbedingt erforderlich; nur die Möglichkeit der Unrechtseinsicht ist nach der Schuldtheorie eine ausreichende Grundlage für die Bestrafung des Täters, und zwar nach § 17 S. 2 StGB ohne obligatorische Strafmilderung4 • Das hat zu der Auffassung geführt, daß es sich bei der Abgrenzung des Unrechtsbewußtseins vom Verbotsirrtum lediglich um eine "dogmatisch-kIassifikatorische Vorentscheidung" handelt; entscheidend sei vielmehr die Vorwerfbarkeit des Irrtumss. Hierzu ist zunächst anzumerken, daß der Wert elner "dogmatisch-kIassiftkatorischen" Systematisierung nicht unterschätzt werden darf. Die dogmatische Systematisierung ist eine primäre Aufgabe der Strafrechtswissenschaft und stellt natürlich keinen Selbstzweck dar. Sie dient vielmehr als Grundlage für ein rechtsstaatliches Strafrecht und als Ausgangspunkt für einen effektiven Rechtsgüterschutz6 • Die heutige Praxis, die in den Fällen des Unrechtszweifels ohne deutliche Grenzziehung zwischen Verbotskenntnis und Verbotsirrtum unmittelbar nach Vermeidbarkeitsmaßstäben urteilt, hat zu einer höchst unbefriedigenden begrifflichen Unklarheit geführt und erweckt den Eindruck, daß zumeist das Rechtsgefühl entscheidet. Über ihre systematische Bedeutung hinaus hat jedoch die Abgrenzung des Unrechtsbewußtseins vom Verbotsirrtum auch eine erhebliche praktische Relevanz. Denn während beim Handeln mit Unrechtsbe-
3 Auf das Bedürfnis einer näheren dogmatischen Ausarbeitung der Problematik weist neurdings auch Roxin hin (AT I, S. 596). 4 So hat die Abgrenzung des Bewußtseins der Rechtswidrigkeit für die Vorsatztheorie eine größere Bedeutung, weil mit seiner Verneinung der Vorsatz entfallt, was in den meisten Fällen zur Straflosigkeit führt.
5 Kienapfel, ÖJZ 1976, S. 113. Dagegen Schick, ÖIZ 1980, S. 596, 600. Vor der Gefahr einer solchen Vernachlässigung der Abgrenzung von Unrechtsbewußtsein und Verbotsirrtum hat Warda, ZStW 71 (1959), S.260, gewarnt, als er sich gegen die Möglichkeit wandte, beim vermeidbaren Verbotsirrtum in gleicher Weise zu strafen wie bei Vorliegen von Unrechtsbewußtsein (dh. ohne zwingende Strafmilderung). VgJ. auch Krümpelmann, GA 1968, S. 136, Anm. 40. . 6 VgJ. Hirsch, ZStW 93 (1981), S. 831 ff.; Welzel, FS für Maurach, S. 4 f.; Androu/akis, Strafrechtliche Studien, S. 10 ff., 21, 31 f. (auf griechisch).
A. Einleitung
3
wußtsein auf die volle Vorsatzstrafe zu erkennen isf, eröffnet sich mit der Einordnung eines psychischen Sachverhalts in den Bereich des Verbotsirrtums eine breite Strafmilderungsmöglichkeit, die im Falle der Unvermeidbarkeit bis zur Straflosigkeit reicht8 • Erst recht zeigt sich, wie wichtig diese Abgrenzung ist, wenn man die richtige, aber in § 17 StGB nicht verankerte Auffassung zugrundelegt, daß im Falle eines Verbotsirrtums eine Strafmilderung obligatorisch zu sein hat'. Man sollte weiterhin die Tatsache nicht außer acht lassen, daß die Fälle des Zweifels an der Rechtswidrigkeit im täglichen Leben durchaus nicht selten sind. Fälle eines naiven Verbotsirrtums, in denen der Täter an die Rechtswidrigkeit der Tat gar nicht denkt, sind sicherlich seltener als Fälle des Unrechtszweifels lO• Andererseits beschränkt sich das Handeln mit sicherer Unrechtskenntnis oft nur auf die wichtigsten Tatbestände des Kemstrafrechts. Bei dem ständig an Bedeutung gewinnenden Nebenstrafrecht ist der Zweifel an der Rechtswidrigkeit der Tat eine "alltägliche Situation"lI. Die vorliegende Untersuchung beginnt mit einem Überblick über die Entwicklung der Problematik des bedingten Unrechtsbewußtseins in den letzten 200 Jahren, unter besonderer Berücksichtigung der reichen Judikatur des Reichsgerichts zu diesem Thema sowie der Vorsatztheorie, für die der Unrechtszweifel von erheblicher Bedeutung war. Danach wird sie in zwei große Teile gegliedert. Der erste betrifft die Abgrenzung des Unrechtsbewußtseins vom Verbotsirrtum. Zunächst werden einige Vorfragen geklärt, und es wird
7 Ob eine Strafmilderung auch im Falle des (bedingten) Unrechtsbewußtseins angezeigt ist, ist ebenfalls Gegenstand dieser Untersuchung. Siehe unten, S. 139 ff. I Das ist die bekannte "Geschmeidigkeit" bzw. ,,Elastizität" der Schuldtheorie und des § 17 StGB, die die Gerechtigkeit im Einzelfall ermöglichen soll (Welzel, NJW 1951, S. 578; vgl. Jakobs, Studien, S. 110). Man weist andererseits darauf hin, daß hierdurch - insbesondere durch die Unklarheit, die bei der Bestimmung der Vermeidbarkeitskriterien herrscht - der Weg zur Willkür eröffnet werden kann (Arthur Kaufmann, FS für Lackner, S. 186). Vgl. auch Krümpelmann, Beiheft zur ZStW 1978, S. 36. 9 Hirsch, in: Deutsch-Spanisches Strafrechtskolloquium, S. 52; Roxin, in: DeutschSpanisches Strafrechtskolloquium, S. 82 f.; Zaczyk, JuS 1990, S. 893. Vgl. auch Roxin, ZStW 76 (1964), S. 604 ff. 10
Roxin, in: Deutsch-Spanisches Strafrechtskolloquium, S. 85.
11 Schick, ÖJZ 1980, S.600. Vgl. Tiedemann, Tatbestandsfunktionen, S.306. Die Häufigkeit der Fälle des bedingten Unrechtsbewußtseins im Nebenstrafrecht zeigt sich ganz deutlich schon in der Rechtsprechung des Reichsgerichts zu der Irrtumsverordnung von 1917 sowie zu den Irrtumsvorschriften der Reichsabgabenordnung und der Devisenbewirtschaftungsgesetze. Das Reichsgericht hat, wie noch zu zeigen ist, sehr oft die Gelegenheit gehabt, sich mit dem Zweifel an der Rechtswidrigkeit der Tat zu beschäftigen. Vgl. unten, S. 10.
4
A. Einleitung
zwischen den Fällen des Zweifels an der Rechtswidrigkeit und den Fällen der objektiv umstrittenen Rechtslage unterschieden. Danach werden die bisher vorgeschlagenen Abgrenzungskriterien des Unrechtsbewußtseins vom Verbotsirrtum im einzelnen kritisch untersucht Anschließend wird im zweiten Teil die Bestrafung beim Handeln im Unrechtszweifel behandelt. Dort ist auf die Auffassungen einzugehen, die eine Strafmilderung oder sogar einen Strafausschluß beim Handeln mit bedingtem Unrechtsbewußtsein befürworten, teilweise mit Rückgriff auf Zumutbarkeits- oder Präventionserwägungen.
B. Die Rechtsprechung des Reichsgerichts und die ältere Lehre Die Abgrenzung des Unrechtsbewußtseins vom Verbotsirrtum ist vom Reichsgericht und den Straftheoretikern des 19. Jahrltunderts nicht als Problem angesehen worden. Im älteren Schriftum findet man nur wenige Hinweise zu dieser Frage. Wegen der Geltung des Grundsatzes "error iuris criminalis nocet" in der strafrechtlichen Rechtsprechung war die Diskussion über die Grenzen des Unrechtsbewußtseins überflüssig und der Streit beschränkte sich hauptsächlich darauf, ob der unverschuldete Irrtum über Strafrechtssätze den Täter entlastet oder nicht. Erst nachdem die Vorsatztheorie sich dem Bewußtsein der Rechtswidrigkeit als Bestandteil des Vorsatzes annahm, hat sich die Lehre dem Zweifel an der Rechtswidrigkeit der Handlung im Rahmen der Prüfung des dolus eventualis zugewandt.
J. Die Diskussion seit dem Ende des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts 1. Kleinschrod
Einer der wenigen Autoren der älteren Strafrechtslehre, der die Problematik des bedingten Unrechtsbewußtseins behandelt, ist Kleinschrod. Schon in der ersten Auflage seiner "systematischen Entwickelung der Grundbegriffe und Grundwahrheiten des peinlichen Rechts" aus dem Jahre 1794 befaßt er sich mit dieser Thematik. Für Kleinschrod gehört die Kenntnis des Strafverbots und das Bewußtsein, daß man Unrecht handele, "zur Essenz des Vorsatzes"·. Bei dessen Fehlen liege kein Vorsatz vor; nur Fahrlässigkeit (culpa) komme in Frage. Hier unterscheidet Kleinschrod zwischen Irrtum (positive Fehlvorstellung) und bloßer Unkenntnis der Gesetze. Letztere sei leichter zurechenbar als die erstere 2• Maßgebend für die Zurechnung der kulposen Unwissenheit seien u.a.
• Kleinschrod, Syst. Entwickelung, S. 203. 2
Kleinschrod, Syst. Entwickelung, S. 204.
2 Dimakis
6
B. Die Rechtsprechung des Reichsgerichts und die ältere Lehre
die Gedanken des Verbrechers bei der Vollendung seiner Tat. In diesem Zusammenhang findet die Abgrenzung des Unrechtsbewußtseins von der Unwissenheit statt. Kriterium hierfür sei die Wahrscheinlichkeit der Unerlaubtheit der Tatl. Interessanterweise und im Gegensatz zu späteren Varianten der Wahrscheinlichkeitstheorie (etwa bei Sauer oder H. Mayer), wonach Vorsatz bzw. Unrechtsbewußtsein schon dann vorliegen soll, wenn die Tat bzw. deren Rechtswidrigkeit dem Täter nahe möglich oder mehr als bloß möglich erscheint", soll nach Kleinschrod dolus nur dann vorliegen, wenn das Verbotensein der Tat dem Täter wahrscheinlicher erscheint als ihr Nichtverbotensein. Im gegenteiligen Fall handele es sich um culpa. Selbst wenn beide Alternativen dem Täter genauso wahrscheinlich erscheinen, haben wir es nach der Auffassung Kleinschrods mit Unwissenheit und dementsprechend mit Fahrlässigkeit zu tun, dann allerdings mit "höchster culpa". Bemerkenswert ist weiter die Abstufung der Zurechnung je nach dem Wissensgrad des Täters. Sein dolus nehme in eben dem Grade ab, "als ihm die nöthige Wissenschaft mangeIt"s. So müsse sich der Täter in den Fällen des Zweifels an der Rechtmäßigkeit, wenn das Unerlaubte als wahrscheinlicher erscheint, zwar den Vorwurf vorsätzlichen Handeins entgegenhalten lassen, gleichwohl sei er in geringerem Grade schuIdig6 • Die culpa wiederum sei in höchste, mittlere und geringe culpa geteilt. Ein Fall der höchsten culpa liege, wie bereits erwähnt, dann vor, "wenn der Verbrecher bey Begehung seiner That zweifelte, ob sie Verbrechen sey oder nicht und von beyden Seiten gleiche Gründe hatte". Mittlere culpa sei hingegen u.a. gegeben, wenn der Täter zweifelte, aber doch seine Tat für erlaubt hielt. Eine geringe culpa sei beim Unrechtszweifel ausgeschlossen.
2. v. Almendingen
Zehn Jahre später wurde das Problem des Zweifels an der Rechtswidrigkeit erneut, aber diesmal aus einer ganz anderen Sicht, von v. Almendingen in seinen "Untersuchungen über das kulpose Verbrechen" behandelt. In dieser Schrift vertritt v. Almendingen u.a. die Ansicht, daß das Wesen der Fahrlässig-
3
Kleinschrod, Syst. Entwickelung, S. 210.
4
Siehe unten, S. 112 ff.
~ Kleinschrod, Syst. Entwickelung, S. 199. 6
Kleinschrod, Syst. Entwickelung, S. 210 f.
I. Die Diskussion bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts
7
keit nicht in der fehlerhaften WiUensbestimmung bestehe, wie z.B. Feuerbach behauptet hatte7 , sondern in einem Fehler des Verstandes. Der böse Wille sei kein Merkmal des kulposen Deliktes. Grund dafür sei, daß der Wille den Irrtum, der für die culpa bezeichnend sei, nicht beeinflussen könne8 • Die Akte des Erkenntnisvennögens seien nicht durch Willkür, sondern durch Notwendigkeit bestimmt9• Dies sei der Fall, weil der Irrende gerade wegen seines Irrtums, den er aber für Wahrheit halte 10, nicht in der Lage sei, seinen Willen zu betätigen und den Trugschluß zu vernichtenlI. v. Almendingen versteht hier als Irrtum die volle Abwesenheit einer MöglichkeitsvorsteUung, daß die Dinge anders sein könnten. Der Zweifel gehöre nicht dazu. Denn "sobald ich meinen Irrthum ahne, bin ich auf dem Weg zur Erkenntnis der Wahrheit. Der Trugschluß ist aufgelöst, und ich bin nur noch über den besseren Schluß im Zweifel"12. Übertragen auf den strafrechtlichen Bereich heiße dies, daß die Vorstellung der Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit eines gesetzwidrigen Erfolges mit dem Irrtum oder Trugschluß, der bei allen und jeden kulposen Verbrechen zugrundeliege, unvereinbar sei l3 • "Wer mit diesem Bewußtseyn handelt, hat den bösen Vorsatz, möglicher- oder wahrscheinlicherweise einen gesetzwidrigen Effekt hervorzubringen"14. Anläßlich der Annahme Feuerbachs, daß eine Verbindlichkeit bestehe, sich mit dem Strafgesetz bekannt zu machen 1s , führt v. Almendingen weiterhin das Beispiel eines Täters an, der trotz Kenntnis dieser
7
FeuerbachlMittermaier, Lb., S. 99, 102.
B Die These lautet: ,,Es gibt keinen Irrthum, welchen man, wenn man gewollt hätte, hätte einsehen können. Jeder Akt des Erkenntnisvermögens ist völlig unwillkürlich. ( ... ) Gleich dem körperlichen Auge sieht der Verstand nicht, weil er will, sondern weil er muß' (v. Almendingen, Untersuchungen, S. 54).
9
Zust. v. Bar, Gesetz und Schuld, Bd. 2, S. 440 f.
,,Jeder Irrthum ist dem Irrenden Wahrheit" (v. Almendingen, Untersuchungen, S.55). 10
11
v. Almendingen, Untersuchungen, S. 59.
12
v. Almendingen, Untersuchungen, S. 56 f.
13
v. Almendingen, Untersuchungen, S. 63.
14
v. Almendingen, Untersuchungen, S. 64.
15 Nach heutiger Terminologie wäre das eine Art Erkundigungspflicht. Die Problematik des Unrechtsbewußtseins kommt hier in Frage, weil bei Feuerbach eine Erscheinungsform der Fahrlässigkeit die "culpa durch Unwissenheit des Gesetzes - durch unterlassene Erweckung der Erkenntnis des Strafgesetzes" ist. Zu bemerken ist hier noch, daß v. Almendingen sich dieser These Feuerbachs grundsätzlich nicht anschließt, obwohl hierauf das von ihm angeführte Beispiel beruht.
8
B. Die Rechtsprechung des Reichsgerichts und die ältere Lehre
Verbindlichkeit ohne sich zu erkundigen handelt, und zwar, um sich nachher mit Gesetzesunkenntnis entschuldigen zu können l6• Hier meint v. Almendingen, indem der Verbrecher im Zeitpunkt der Handlung weiß, daß eine Pflicht besteht, sich über den Inhalt der Strafgesetze zu informieren, vermutet er wohl, daß das Strafgesetz seine Handlung für rechtswidrig erachtet. Dann handele er schon mit dolus: "Der Verbrecher begehrte mit dem Bewußtseyn, daß er vielleicht eine strafbare Handlung vornehme ein mögliches Verbrechen als solches. Indem er nicht hören wollte, höfte er würklich. Indem er sein inneres Auge absichtlich verschloß, hat er würklich gesehen. Es war allerdings eine Unterordnung der Handlung unter ein Gesetz vorgegangen; allein eben so gewiß, war die Handlung mit allem bezeichnet, was karakteristisch das dolose vom kulposen Verbrechen unterscheidet"17. Auffallend ist hier, wie weit v. Almendingen den Begriff des Bewußtseins der Gesetzwidrigkeit faßt: jede Vorstellung, daß die Tat möglicherweise oder wahrscheinlich gesetzwidrig ist, soll den dolus malus begründen. Damit nähert sich v. Almendingens Standpunkt dem der Vertreter der Möglichkeitstheorie l8• Aber er geht noch weiter: Aus der allgemeinen Kenntnis des Täters über die Verbindlichkeit, sich über den Inhalt der Strafgesetze zu erkundigen, zieht er den Schluß, daß der Täter vermutet, seine Handlung sei gesetzwidrig. Damit arbeitet v. Almendingen mit einer dolus-Fiktion. Denn die Kenntnis von einer solchen Informationspflicht (ganz abgesehen davon, daß nach der heute herrschenden Lehre eine solche Pflicht nicht besteht) könnte nach heutigem Verständnis nur einen "Anlaß" bieten, um über die rechtliche Qualität der Handlung nachzudenken oder sich zu erkundigen, keineswegs ist sie aber mit einer Vermutung der Gesetzwidrigkeit der Tat identisch. Und so kommt v. Almendingen in Widerspruch zu seiner eigenen Auffassung. Denn einerseits wendet er sich gegen die Gleichsetzung eines Bewußtseins der notwendigen oder möglichen Folgen der Tat mit der bloßen Möglichkeit eines solchen Bewußtseins l9 • Andererseits aber führt seine Lehre dazu, daß er sich im Ergebnis mit der bloßen Möglichkeit eines Bewußtseins der Gesetzwidrigkeit begnügt.
16
v. Almendingen, Untersuchungen, S. 67.
17
v. Almendingen, Untersuchungen, S. 70.
11
Zu dieser Theorie vgl. unten, S. 91.
19
v. Almendingen, Untersuchungen, S. 14 ff.
I. Die Diskussion bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts
9
3. Köstlin
Die Problematik des Zweifels an der Rechtswidrigkeit taucht weiterhin bei Köstlin auf. Er steht der Möglichkeit, den Täter im Falle einer Rechtsunwissenheit zu entschuldigen, sehr skeptisch gegenüber. Das gelte nicht nur bei Verbrechen, sondern auch bei Polizeivergehen20• Relative Ausnahmen seien jedoch in beiden Fällen möglich. Besonders wird von ihm der Fall des Subsumtionsirrtums erörtere l • Hier will er keine Strafmilderung oder -befreiung annehmen, "da die Kenntnis des allgemeinen (des Gesetzes) notwendig die Besonderheiten, die es enthält (die Fälle der Anwendung des Gesetzes) in sich schließt". Gleichwohl erkennt Köstlin an, daß es manche umstrittenen Fälle gebe, in denen es zweifelhaft sei, ob sie unter ein bestimmtes Strafgesetz zu subsumieren seien oder nicht. Auch hier soll der Täter beim Vorliegen von Zweifeln nicht entschuldigt werden. Die Begründung, die Köstlin dafür anführt, erscheint seitdem immer wieder bei der Behandlung des Problems: "Allein gerade die Zweifelhaftigkeit solcher Fälle fordert den Handelnden doppelt zur Vorsicht, zur Bezähmung seines Kitzels auf,n. Handelt er gleichwohl seinem subjektiven Meinen und Belieben gemäß, so liege ein eventueller dolus oder zumindest die höchste luxuria vor (Köstlin unterscheidet hier nicht klar zwischen den beiden). Der einzige Weg zur Straflosigkeit für den Täter wäre in Fällen dieser Art die Begnadigung. Köstlin ist mit seiner Auffassung nicht allein geblieben. Ständig wird von den Anhängern der Möglichkeitstheorie betont, daß die Zweifel an der Rechtswidrigkeit der Tat zugunsten der Pflicht zu lösen seien oder daß der Täter sich durch seinen Zweifel hätte motivieren sollen, die Tat zu unterlassen. Inwieweit dem gefolgt werden kann, bleibt zu untersuchen 23 •
20
Köstlin, AT, S. 376 f.
2\
Köstlin, AT, S. 383.
22
Köstlin, ebenda; dagegen v. Bar, Gesetz und Schuld, Bd. 2, S. 426.
Daß der Zweifel über die Strafbarkeit das Vorliegen eines Rechtsirrtums ausschließt, behauptet auch Luden, Handbuch, S. 248, Anm. 5. Bei ihm aber spielt das Problem kaum eine Rolle, weil er meint, das Unrechtsbewußtsein sei kein Bestandteil des Vorsatzes (Handbuch, S. 245), so daß der strafrechtliche Rechtsirrtum keine entschuldigende Kraft besitze. 23
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B. Die Rechtsprechung des Reichsgerichts und die ältere Lehre
ß. Die Rechtsprechung des Reichsgerichts Bekanntlich war für das Reichsgericht der strafrechtliche Rechtsirrtum unbeachtlich, während der außerstrafrechtliche vorsatzausschließend wirken sollte. Deshalb hat das Reichsgericht zunächst nur selten Anlaß gehabt, über die Zweifel an der Rechtswidrigkeit der Tat zu entscheiden. So heißt es in einer Entscheidung aus dem Jahre 1877: "Nur der irrige gute Glaube von der Berechtigung würde das rechtswidrige Bewußtsein ausschließen, das Gebiet des Zweifels über die Berechtigung dagegen fallt ebenmäßig wie das ,volle Bewußtsein', die, volle Überzeugung der Nichtberechtigung' in die Verschuldung, wenn trotz dieses Zweifels die TafA gewollt war"2S. Hier ist allerdings anzumerken, daß "das Gebiet des Zweifels über die Berechtigung" im Rahmen der Vorsatzfrage bei § 352 StGB a.F. (Gebührenüberhebung) geprüft wird26. Mit den Problemen, die mit der Anerkennung der strafbefreienden Wirkung des unverschuldeten Verbotsirrtums entstehen, hat sich die Rechtsprechung des Reichsgerichts erst ab 1917 intensivauseinandergesetzt. Anlaß war das Inkrafttreten der "lrrtumsverordnung" am 18. Januar 191721. Diese Verordnung erklärte Zuwiderhandlungen gegen Vorschriften über Wirtschaftsmaßnahmen, die während des Ersten Weltkriegs erlassen worden waren, für straffrei, falls der Täter in unverschuldetem Irrtum über das Bestehen oder die Anwendbarkeit der übertretenen Vorschriften die Tat für erlaubt gehalten hatte. Eine ähnliche Bestimmung betreffend die Übertretung von steuerrechtlichen Vorschriften enthielt auch § 358 der Reichsabgabenordnung vom 13.12.1919 (= § 395 RAbgO i.d.F. vom 22.5.1931). Diese Vorschrift wurde um einen zweiten Absatz ergänzfS, wonach der Täter, der im verschuldeten Rechtsirrtum handel-
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Hervorhebung von mir.
2S
RGSt 16, 363 (365).
In dieser Vorschrift war die Rede von einer Gebühren- oder Vergütungenüberhebung durch einen Beamten, Anwalt oder sonstigen Rechtsbeistand, der "weiß, daß der Zahlende sie überhaupt nicht oder nur in geringerem Betrag verschuldet". Es kann hier dahingestellt bleiben, ob ein solcher Irrtum nach heutigem Verständnis als Tatbestandsoder Verbotsirrtum zu bezeichnen wäre; es kommt nur auf die Einordnung des ,,zweifels über die Berechtigung" in den Bereich des Vorsatzes an. Dieses "etwas schroffe" Urteil kritisiert Binding, Normen, Bd. 2, S. 869 f., 976 f., um zu dem Schluß zu gelangen, das Reichsgericht sei sich über das Verhältnis von Rechtszweifeln und dolus eventualis "doch nicht ganz klar geworden". 2fi
rT "Bekanntmachung über die Verfolgung von Zuwiderhandlungen gegen Vorschriften über wirtschaftliche Maßnahmen". 28
Eingeführt durch § 21 Nr. 35 des Steueranpassungsgesetzes vom 16.10.1934.
II. Die Rechtsprechung des Reichsgerichts
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te, wegen Fahrlässigkeit zu bestrafen war. Eine entsprechende Regelung hinsichtlich Zuwiderhandlungen im Bereich des Devisenrechts sah auch § 36a der Verordnung über die Devisenbewirtschaftung vom 23.5.193229 vor, der später durch die gleichlautenden Vorschriften des § 44 des Gesetzes über die Devisenbewirtschaftung vom 4.2.1935 und des § 71 des Gesetzes über die Devisenbewirtschaftung vom 12.12.1938 ersetzt wurde. Auf diese Weise ist ein Netz von Vorschriften entstanden, die das Reichsgericht dazu veranlaßt haben, sich über die Bedeutung des strafrechtlichen Irrtums und seine Abgrenzung zum außerstrafrechtlichen hinaus mit weiteren Problemen der Irrtumslehre zu beschäftigen. Die umfangreiche Judikatur zu diesem Thema hatte sich ab 1917 u.a. mit Fragen wie der Teilbarkeit des Unrechtsbewußtseins, der Voraussetzungen des unverschuldeten Rechtsinturns. dem Inhalt der Erkundigungspflicht sowie der Kausalität der Nichterkundigung zu befassen 30• Auch die Frage des Unrechtszweifels und der Abgrenzung des Bewußtseins der Rechtswidrigkeit vom Verbotsirrtum war Gegenstand reichs gerichtlicher Rechtsprechung. Zunächst hat das Reichsgericht die Zweifel des Täters im Rahmen einer •.Erkundigungspflicht" beim verschuldeten Rechtsirrtum geprüft. Der Zweifel des Täters schließe den Irrtum nicht aus. vielmehr solle der Täter Auskunft einholen. um die Zweifel zu beseitigen. Tue er das nicht. dann sei der Irrtum verschuldeei. Eine genaue Abgrenzung des Bewußtseins der Rechtswidrigkeit vom Verbotsirrtum hat das Reichsgericht zunächst nicht vorgenommen. Sie spielte auch praktisch keine große Rolle. weil das Reichsgericht entschieden hatte. daß nur der unverschuldete Irrtum den Täter entlaste. Dagegen sei der verschuldete Irrtum - und das war beim Vorliegen von Unrechts-
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Eingeführt durch § 27 StAnpG von 1934.
30 Anzumerken ist hier. daß das Reichsgericht den Standpunkt vertreten hat, der Irrtum des Angeklagten sei unverschuldet. wenn er auch bei Erkundigung an maßge· benden Stellen keine richtige Auskunft. sondern lediglich eine Bestätigung seiner eigenen irrigen Auffassung erhalten hätte (RGSt 51. 34 (35); 52. 325 (328)). Dagegen besteht der BGH trotz Kritik des Schrifttums darauf. daß es für die Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums nur auf das Unterlassen der Erkundigung ankomme. nicht hingegen darauf. welche Auskunft dem Täter erteilt worden wäre (vgl. BGHSt 21. 18 (21)). Eine entgegengesetzte Stellungnahme in der Judikatur erfolgte im Jahre 1988 durch das BayObLG (BayObLGSt 1988. 139. (141); vgl. hierzu die zustimmende Anmerkung von Rudolphi. JR 1989. S. 388; so auch schon OLG Celle. NJW 1977. 1644 (1645)).
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RGSt 50.309 (312); 51. 34 (35); 51. 91 (92); 52. 331 (333); 53. 55 (57); 57. 329.
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B. Die Rechtsprechung des Reichsgerichts und die ältere Lehre
zweifeln meistens der Fall - unbeachtlich, so daß mit der vollen Vorsatzstrafe zu bestrafen sei 32• RGSt 58, 321 (329) war die erste Entscheidung, in der das Reichsgericht eine Grenze zwischen dem Bewußtsein der Rechtswidrigkeit und dem Verbotsirrtum zu ziehen versucht hae 3. Gestützt auf den Wortlaut der Irrtumsverordnung, die Straffreiheit nur für den Fall vorsah, daß der Täter die Tat im unverschuldeten Irrtum ,für erlaubt gehalten hat', hat das Reichsgericht für die Straflosigkeit des Täters dessen Überzeugung verlangt, daß die Tat nicht verboten ist. Dagegen sollte das Vorliegen von Zweifeln die Anwendbarkeit der Irrtumsverordnung ausschließen, wodurch die bisherige Rechtsprechung aufgegeben wurde. Dem schloß sich dü~ spätere Judikatur des Reichsgerichts zu § 44 DevG 1935 an: Für das Vorliegen des Bewußtseins der Rechtswidrigkeit wurde ..die Vorstellung, das Geschäft verstoße möglicherweise gegen eine Vorschrift der Devisengesetzgebung, und der Wille, gleichwohl zu handeln" für ausreichend erachtef'...Es würde nicht genügen, daß er (scil. der Angeklagte) sich über das Unerlaubte seiner Handlung nicht im klaren gewesen wäre. Eine solche Feststellung ließe die Möglichkeit offen, daß der Angeklagte mit der Strafbarkeit seines Tuns gerechnet hätte"3s. Damit hat das Reichsgericht die Ansicht der Möglichkeitstheorie vertreten, wonach alle Fälle des Unrechtszweifels dem Unrechtsbewußtsein zuzuordnen sind36. Das Reichsgericht hat hier die Parallele zum bedingten Vorsatz gezogen. Zwar war es so, daß nach seiner Rechtsprechung die Kenntnis der Rechts-
32 RGSt 50, 309 (312 f.); 51, 91 (93). Erst 1934 wurden durch das Steueranpassungsgesetz Vorschriften eingeflihrt, wonach im Falle eines verschuldeten Verbotsirrturns wegen Fahrlässigkeit zu bestrafen sei (vgl. die Ausflihrungen im Text).
)) Zuvor hatte RGSt 47, 270 (279) aus dem Jahre 1913 schon erklärt, daß der innere Tatbestand schon dann erflillt sei, wenn der Täter sich im Zweifel über die Rechtmäßigkeit seines Tuns befinde, wenn er also damit rechnete, daß ihm ein Recht zur Vornahme der Handlung nicht zur Seite stehe. Es ging allerdings hier um die Feststellung des Vorsatzes der §§ 123 und 113 StGB a.F., wobei das Reichsgericht davon ausging, daß die Widerrechtlichkeit des Eindringens beim Hausfriedensbruch und die Rechtmäßigkeit der Amtsausübung beim Widerstand vom Vorsatz des Täters mitumfaßt sein müssen. Ebenso hatte RGSt 49, 140 (143 f.) bei der Prüfung der Absicht der rechtswidrigen Zueignung beim Diebstahl festgestellt, daß das erforderliche Bewußtsein der Rechtswidrigkeit der Zueignung schon vorhanden sei, wenn der Täter zweifele, ob er ein Recht auf die Zueignung hat. 34
RGSt 70, 141 (142) (Hervorhebung von mir). Zust Schäfer, DJ 1936, S. 610.
3~ RGSt 72, 119 (123); so auch RGSt 72, 82 (85). 36
Zur Möglichkeitstheorie siehe unten, S. 91 ff.
H. Die Rechtsprechung des Reichsgerichts
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widrigkeit kein Bestandteil des Vorsatzes sein sollte und deshalb sämtliche Vorschriften über den strafbefreienden Rechtsirrtwn keine Schuldausschließungsgründe darstellten. Vielmehr sollte es sich dabei um persönliche Strafausschließungs- bzw. Strafmilderungsgründe handeln 37 . Trotzdem hat das Reichsgericht die Frage als eine vorsatzähnliche Problematik behandelt. Einerseits stellte es fest: "Bedingter Vorsatz kann im Rahmen des § 44 DevG nicht mehr in Frage kommen"38. Andererseits wurde "in Anlehnung an den Begriff des bedingten Vorsatzes bei der Schuldfrage, auch zwn § 44 DevG von einem bedingten Vorsatz - einer bedingten Kenntnis" gesprochen 39 . Bemerkenswert ist hierbei der Gegensatz zur späteren BGH-Rechtsprechung zum bedingten Unrechtsbewußtsein, in der nach Unterstellung eines Willenselementes beim Unrechtsbewußtsein von der Aufnahme der als möglich vorgestellten Rechtswidrigkeit in den Willen des Täters die Rede ist40• Dagegen spricht das Reichsgericht von einem Willen zur Tat oder von einem Willen zu handeln41 • Der Wille wird also nur auf die Tatausführung, aber in keiner Weise auf die Zweifel an der Rechtswidrigkeit bezogen42 • Für die Bejahung der Ver-
37 RGSt 53, 81 (83 ff.); 57, 179 (181); 59, 363; 72, 82 (84); 72, 119 (123, 125); ebenso OLG Bremen, HESt Bd. 2, S. 208 (210) aus dem Jahre 1948. Mag dieser Standpunkt flir die Rechtslage bis 1934 noch vertretbar erscheinen, so dürfte er als völlig unhaltbar betrachtet werden, nachdem durch das Steueranpassungsgesetz folgende gleichlautende Vorschriften eingeflihrt worden waren: "Wer aus Mangel an der Sorgfalt, zu der er nach den Umständen verpflichtet und nach seinen persönlichen Verhältnissen flihig war, die Tat für erlaubt gehalten hat, wird wegen Fahrlässigkeit bestraft" (§ 395 Abs. 2 RAbgO 1931; § 36 Abs. 2 DevVO 1932 = § 44 Abs. 2 DevG 1935 = § 71 Abs. 2 DevG 1938). Der eigentliche Grund für die Auffassung des Reichsgerichts, bei den Irrtumsvorschriften handele es sich um persönliche Strafausschließungsgründe, ist nach Vianden-Grüter, NJW 1955, S. 1058, und Welzel, JZ 1956, S. 239, Anm. 8, in der Teilnahmelehre zu finden: Weil das Reichsgericht von der strengen Akzessorietät ausgegangen war, sah es sich gezwungen, den Rechtsirrtum als Strafausschließungsgrund anzusehen, damit der Teilnehmer an einer im unverschuldeten Rechtsirrtum begangenen Tat nicht straflos blieb. 38
RGSt 72, 119 (123).
39
RGSt 72, 82 (85).
40
Vgl. unten, S. 55 ff.
RGSt 16, 363 (365); 70, 141 (142). Eine Ausnahme bildet die Entscheidung RGSt 51, 161 (165), die das Vorliegen eines Irrtums verneint, weil der Täter bewußt auf die Gefahr hin gehandelt hat, daß sein Tun unerlaubt sei, und die Gesetzesverletzung als solche ,,mit in seinen Willen aufgenommen hat". 41
42 Das hat ausdrücklich RGSt 49, 140 (142 f.) bei der Prüfung der Absicht rechtswidriger Zueignung festgestellt: "Unmittelbar gewollt sein muß deshalb nur die Zueignung (...). Die Rechtswidrigkeit kommt lediglich als eine Eigenschaft der Zueignung
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B. Die Rechtsprechung des Reichsgerichts und die ältere Lehre
botskennblis soll der bloße Unrechtszweifel, die bloße Vorstellung, die Tat sei möglicherweise rechtswidrig, ausreichen. Schließlich noch ein Wort zur Beweis/rage. Das Reichsgericht hat den Grundsatz "in dubio pro reo" in Fällen, in denen nicht festzustellen war, ob der Angeklagte mit Verbotskennblis oder im Irrtum befindlich gehandelt hat, nicht angewandt. Gestützt auf den Wortlaut der Irrtumsvorschriften hat es den Nachweis verlangt, daß der Täter die Tat für erlaubt gehalten hat. Blieb dagegen noch zweifelhaft, ob der Täter sich im Irrtum befand oder ob dieser unverschuldet war, dann war die Straflosigkeit des Täters ausgeschlossen43 • Ganz deutlich formuliert hierzu RGSt 72, 82 (84): "Den Täter trifft zwar keine Beweislast; vielmehr muß der Tatrichter auch insoweit gemäß den §§ 155 Abs. 2, 244 Abs. 2 StPO die bestmögliche Aufklärung versuchen. Aber Lücken im Beweisergebnisse gehen zu Lasten des Täters'