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German Pages 320 [321] Year 2020
Studien zum ausländischen und internationalen Privatrecht 455 Herausgegeben vom
Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht Direktoren: Holger Fleischer, Ralf Michaels und Reinhard Zimmermann
Frederike Heitmann
Flucht und Migration im Internationalen Familienrecht Was kann und muss das IPR im Spannungsfeld zwischen Integration und kultureller Identität leisten?
Mohr Siebeck
Frederike Heitmann, geboren 1991; Studium der Rechtswissenschaften in Heidelberg und Montpellier; 2020 Promotion (Heidelberg); seit 2016 Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Kanzlei Noerr LLP in Frankfurt am Main; derzeit Rechtsreferendarin am Landgericht Frankfurt am Main. orcid.org/0000-0002-6661-0616
Zugleich: Heidelberg, Universität, Dissertation, 2020. ISBN 978-3-16-159921-7 / eISBN 978-3-16-159922-4 DOI 10.1628/978-3-16-159922-4 ISSN 0720-1141 / eISSN 2568-7441 (Studien zum ausländischen und internationalen Privatrecht) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Nädele in Nehren gebunden. Printed in Germany.
Meiner Familie
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im November 2019 von der Juristischen Fakultät der Universität Heidelberg als Doktorarbeit angenommen. Die mündliche Prüfung fand am 18. Mai 2020 statt. Die Druckfassung berücksichtigt Literatur und Rechtsprechung bis einschließlich Mai 2020. Professor Holger Fleischer, LL.M. (Michigan), Professor Ralf Michaels, LL.M. (Cambridge) und Professor Reinhard Zimmermann danke ich für die Aufnahme der Arbeit in die Studien zum ausländischen und internationalen Privatrecht. Zunächst möchte ich mich bei meinem Doktorvater, Professor MarcPhilippe Weller bedanken. Durch ihn habe ich die Idee für das hochaktuelle Thema bekommen, das Gegenstand dieser Abhandlung ist. Er hat mich bei meinem Promotionsvorhaben von Anfang an unterstützt, mich stets auf passende Publikationen aufmerksam gemacht und mir zugleich die nötigen Freiräume zur Anfertigung der Arbeit gewährt. Professor Erik Jayme, LL.M. (Berkeley) verdanke ich ein Zweitgutachten, das er nicht nur in Rekordzeit erstellt hat, sondern das vor allem äußerst lehrreich war und zudem sehr wertvolle Hinweise für die Druckfassung lieferte. Professor Christoph A. Kern, LL.M. (Harvard), hat meine mündliche Prüfung als Vorsitzender geleitet und diese durch kritische Fragen bereichert. Dafür danke ich ihm sehr. Besonderer Dank gilt auch allen regelmäßigen Teilnehmern des Jour Fixe des Lehrstuhls, deren Input mir nach Vorträgen aus meiner Dissertation in den verschiedenen Stadien der Bearbeitungszeit weitere wichtige Impulse und wertvolle Anregungen lieferte. Ganz herzlich möchte ich mich schließlich bei meiner Familie, allen voran meinen Eltern, meiner Schwester und meinen Großeltern für die bedingungslose Unterstützung und den Rückhalt während der vier Jahre Promotionszeit mit ihren Höhen und Tiefen bedanken. Zu meiner Familie zählt längst auch mein Freund Georg, der mir mit Rat und Tat zur Seite stand und mich stets bekräftigt hat. Ihnen allen ist diese Arbeit gewidmet. Frankfurt am Main, im September 2020
Frederike Heitmann
Inhaltsübersicht Vorwort ...................................................................................................... VII Inhaltsverzeichnis ........................................................................................ XI Abkürzungsverzeichnis ............................................................................... XX Erster Teil: Grundlagen der Arbeit ............................................................... 1 1. Kapitel: Aktuelle rechtliche und politische Entwicklungen ............................ 1 2. Kapitel: Forschungsstand ................................................................................ 9 3. Kapitel: Anliegen der Arbeit ......................................................................... 10 4. Kapitel: Gang der Untersuchung und Eingrenzung ....................................... 11
Zweiter Teil: Migration als Herausforderung für das IPR ............................14 1. Kapitel: Einführung in die Thematik und ihr rechtliches Umfeld ................. 14 2. Kapitel: Die verschiedenen Personengruppen ............................................... 19 3. Kapitel: Auslegung des Art. 12 Abs. 1 GFK ................................................. 56 4. Kapitel: Bestimmung des anwendbaren Rechts mit Art. 12 Abs. 1 GFK ..... 66 5. Kapitel: Wirkungsweise des Art. 12 Abs. 2 GFK ......................................... 89 6. Kapitel: Thesen im Rahmen des Personalstatuts ........................................... 94 7. Kapitel: Zusammenfassung des zweiten Teils in Thesenform .................... 140
Dritter Teil: Die familienrechtliche Problematik um unbegleitete Minderjährige ......................................................................................... 143 1. Kapitel: Einleitung ...................................................................................... 143 2. Kapitel: Vorfrage: Vorliegen von Minderjährigkeit .................................... 147 3. Kapitel: Das behördliche und gerichtliche Verfahren ................................. 153 4. Kapitel: Rechtsstellung der Minderjährigen als Folge ................................ 162 5. Kapitel: Fazit ............................................................................................... 169 6. Kapitel: Zusammenfassung des dritten Teils in Thesenform ...................... 170
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Inhaltsübersicht
Vierter Teil: Spezifische Herausforderungen im Internationalen Eherecht .................................................................................................. 172 1. Kapitel: Einführung ..................................................................................... 172 2. Kapitel: Kollisionsrechtliche Behandlung von Minderjährigenehen........... 188 3. Kapitel: Kollisionsrechtliche Behandlung polygamer Ehen........................ 249 Fünfter Teil: Ausblick ................................................................................. 275 Literaturverzeichnis ................................................................................... 279 Materialienverzeichnis ............................................................................... 292 Sachregister ............................................................................................... 295
Inhaltsverzeichnis Vorwort ...................................................................................................... VII Inhaltsübersicht ........................................................................................... IX Abkürzungsverzeichnis ............................................................................... XX
Erster Teil: Grundlagen der Arbeit ...................................................... 1 1. Kapitel: Aktuelle rechtliche und politische Entwicklungen ............................. 1 A. Zunahme der Migration als Herausforderung für das Recht .................... 1 B. Materialisierung des Internationalen Privatrechts .................................... 4 C. Die Rolle der Aufenthaltsanknüpfung für das Personalstatut .................. 5 D. Europäisches Familienkollisionsrecht und Anerkennungsprinzip ........... 6 2. Kapitel: Forschungsstand ............................................................................... 9 3. Kapitel: Anliegen der Arbeit ......................................................................... 10 4. Kapitel: Gang der Untersuchung und Eingrenzung ...................................... 11
Zweiter Teil: Migration als Herausforderung für das IPR ............14 1. Kapitel: Einführung in die Thematik und ihr rechtliches Umfeld ................. 14 A. Ursprünge des Flüchtlingsrechts und Aufgaben des IPR....................... 14 B. Die relevanten Normen .......................................................................... 15 C. Verhältnis der GFK zu anderen Staatsverträgen .................................... 17 2. Kapitel: Die verschiedenen Personengruppen .............................................. 19 A. Der Begriff des Flüchtlings ................................................................... 19 B. Überblick über die relevanten Personengruppen ................................... 21 C. Betreuung durch UNO-Stellen ............................................................... 22 D. Genfer Flüchtlingskonvention ............................................................... 22
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Inhaltsverzeichnis
I. Personen, die nach den in Art. 1 A Nr. 1 GFK genannten Vereinbarungen Flüchtlinge sind....................................................... 23 II. Der Flüchtling i.S.d. Definition des Art. 1 A Nr. 2 GFK und des Flüchtlingsprotokolls................................................................... 24 1. Persönlicher Anwendungsbereich ............................................... 24 2. Sachlicher Anwendungsbereich: Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund ........................................................................ 26 3. Beispiele ...................................................................................... 27 4. Verlust der Flüchtlingseigenschaft .............................................. 28 5. Rechtsfolgen ................................................................................ 29 6. Abgeleiteter Flüchtlingsstatus ..................................................... 30 a) Allgemeine Voraussetzungen ................................................. 30 b) Sonderproblem: kafāla ........................................................... 32 c) Perspektive aus der Praxis ...................................................... 34 E. Der Flüchtlingsschutz im nationalen Recht ........................................... 36 I. Gesetz über Maßnahmen für im Rahmen von humanitären Hilfsaktionen aufgenommene Flüchtlinge vom 22. Juli 1980 ........... 36 II. Asylberechtigung nach dem AsylG .................................................. 37 1. Voraussetzungen und Rechtsfolgen ............................................ 37 2. Familienasyl ................................................................................ 39 3. Verhältnis zum Flüchtlingsstatus ................................................ 39 III. Asylbewerber im laufenden Verfahren ........................................... 40 IV. Verwaltungsrechtsakzessorietät des IPR ?...................................... 40 F. Der subsidiäre Schutzstatus .................................................................... 42 I. Voraussetzungen der Zuerkennung ................................................... 43 II. Rechtsfolgen der Zuerkennung ........................................................ 45 1. Allgemeines ................................................................................ 45 2. Besonderheiten beim Familiennachzug ....................................... 46 3. Kollisionsrecht ............................................................................ 48 III. Beendigung des Schutzstatus .......................................................... 49 G. Personen außerhalb des Internationalen Schutzes ................................. 49 I. Personen mit Aufenthaltstitel ............................................................ 49 II. Personen ohne Aufenthaltstitel ......................................................... 51 III. Exkurs: Sog. sans-papiers als Staatenlose ...................................... 53 H. Zusammenfassendes Ergebnis zum IPR ................................................ 54 I. Exkurs: Zivilverfahrensrecht ................................................................... 55 3. Kapitel: Auslegung des Art. 12 Abs. 1 GFK .................................................. 56 A. Normzweck............................................................................................ 57 B. Der Begriff des Personalstatuts .............................................................. 58 I. Begriff als Grundlage für Art. 12 Abs. 1 GFK .................................. 58 II. Geschäftsfähigkeit als Teil des Personalstatuts ................................ 60
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C. Art. 12 GFK als Kollisionsnorm im engeren Sinne? ............................. 62 I. Überlagerungs- und Modifizierungstheorie ....................................... 62 II. Exkurs: Flüchtlinge und Inländervorschriften .................................. 64 4. Kapitel: Bestimmung des anwendbaren Rechts mit Art. 12 Abs. 1 GFK....... 66 A. „Wohnsitz“ als maßgeblicher Anknüpfungspunkt ................................. 66 I. Auslegung .......................................................................................... 66 II. Allgemeine Definition des „gewöhnlichen Aufenthalts“ ................. 70 1. Einführung .................................................................................. 70 2. Objektives Begriffsverständnis ................................................... 72 3. Subjektives Element .................................................................... 74 4. Zwischenergebnis ........................................................................ 77 III. Der gewöhnliche Aufenthalt von Schutz- und Wirtschaftsmigranten ........................................................................ 77 1. Asylbewerber .............................................................................. 78 2. Humanitärer Aufenthaltstitel und Duldung ................................. 79 3. Beispielsfall ................................................................................. 81 4. Exkurs: Freiwilligkeit bei Residenzpflicht und Wohnsitzauflage? ........................................................................ 82 B. Hilfsweise: Schlichter Aufenthalt .......................................................... 83 C. Maßgeblicher Zeitpunkt ......................................................................... 84 D. Umfang der Verweisung ........................................................................ 85 I. Sachnorm- oder Gesamtverweisung .................................................. 85 II. Teleologische Reduktion des Art. 12 GFK und sogenannter Günstigkeitsvergleich ........................................................................ 86 E. Zwischenergebnis .................................................................................. 88 5. Kapitel: Wirkungsweise des Art. 12 Abs. 2 GFK .......................................... 89 A. Problemaufriss ....................................................................................... 89 B. Auslegung des Art. 12 Abs. 2 GFK ....................................................... 91 C. Einschränkung i.S.d. ordre public nach Art. 12 Abs. 2 S. 2 GFK ......... 93 6. Kapitel: Thesen im Rahmen des Personalstatuts .......................................... 94 A. These: Kollisionsrechtliche Gleichbehandlung ..................................... 94 I. Art. 12 Abs. 1 GFK analog ................................................................ 94 1. Vergleichbare Interessenlage ...................................................... 95 a) Konventionsflüchtlinge und subsidiär Schutzberechtigte ....... 96 aa) Objektive Vergleichbarkeit der Personengruppen ........... 96 bb) Unsichere Praxis bei Abgrenzung der Migrantentypen .................................................................. 97
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Inhaltsverzeichnis
b) Sonstige humanitäre Flüchtlinge und Wirtschaftsflüchtlinge ........................................................... 100 2. Planwidrige Regelungslücke ..................................................... 101 a) Völkerrecht ........................................................................... 101 b) Europarecht .......................................................................... 103 c) Nationales Recht ................................................................... 104 aa) Asylrecht ....................................................................... 104 bb) Internationales Privatrecht ............................................ 104 3. Ergebnis zur analogen Anwendbarkeit ...................................... 105 II. Empfehlung de lege ferenda .......................................................... 105 B. Umfassende Reform des Personalstatuts ............................................. 106 I. Der „gewöhnliche Aufenthalt“ als maßgeblicher Anknüpfungspunkt .......................................................................... 107 1. Dogmatische Grundlagen .......................................................... 107 2. Zugrundeliegende Entwicklungslinien ...................................... 108 3. Praktische Vorteile der Aufenthaltsanknüpfung........................ 112 4. Die Interessen hinter den Anknüpfungspunkten ....................... 115 5. Europäische Perspektive ........................................................... 120 6. Fazit........................................................................................... 122 II. Berücksichtigung der kulturellen Identität ..................................... 125 1. Begriff ....................................................................................... 126 2. Kollisionsrechtliche Ebene ........................................................ 128 a) Rechtswahlfreiheit ................................................................ 128 aa) Bedeutung für das Personalstatut .................................. 128 bb) Vereinbarkeit mit der GFK ........................................... 130 cc) Schwierigkeiten der praktischen Umsetzung ................ 131 b) Unwandelbarkeit des Personalstatuts ................................... 132 c) Prinzip der engsten Verbindung ........................................... 133 3. Sachrechtsebene ........................................................................ 133 4. Grenzen ..................................................................................... 134 a) Ordre public ......................................................................... 134 b) Art. 10 Rom III-VO (Verbot der Geschlechterdiskriminierung) ............................................... 136 III. Allgemeine Lösungsansätze zur Umsetzung der These ................ 137 IV. Aktuelle Reformvorhaben ............................................................ 138 1. Reform des Art. 14 EGBGB ..................................................... 138 2. Reform Art. 13 EGBGB ............................................................ 139
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7. Kapitel: Zusammenfassung des zweiten Teils in Thesenform...................... 140
Dritter Teil: Die familienrechtliche Problematik um unbegleitete Minderjährige ............................................................. 143 1. Kapitel: Einleitung ...................................................................................... 143 A. Statistischer Rahmen ........................................................................... 143 B. Einfluss auf Gesetzgebung und Rechtsprechung ................................. 144 C. Begriff des „unbegleiteten Minderjährigen“ ........................................ 145 D. Europarechtlicher und völkerrechtlicher Rahmen ............................... 146 2. Kapitel: Vorfrage: Vorliegen von Minderjährigkeit ................................... 147 A. Anwendbarkeit des Art. 12 GFK und des Art. 7 EGBGB analog........ 148 B. Exkurs: Gewöhnlicher Aufenthalt des unbegleiteten Minderjährigen in Deutschland?Minderjährigen? ................................. 150 C. Praxisproblem Altersfeststellung ......................................................... 150 3. Kapitel: Das behördliche und gerichtliche Verfahren ................................ 153 A. Kinder- und jugendhilferechtlicher Kontext ........................................ 153 B. Sorgerechtsverfahren vor dem Familiengericht ................................... 155 I. Zuständigkeit deutscher Familiengerichte ....................................... 155 II. Anwendbares Recht und Entscheidungsparameter......................... 157 III. Zu berücksichtigende Verfahrensvorschriften .............................. 158 C. Das Vormundschaftsverfahren............................................................. 159 I. Zuständigkeit und anwendbares Recht ............................................ 159 II. Vormundschaftsbestellung ............................................................. 159 III. Verfahrensvorschriften ................................................................. 160 IV. Beendigung der Vormundschaft ................................................... 161 4. Kapitel: Rechtsstellung der Minderjährigen als Folge ............................... 162 A. Asyl- und ausländerrechtliche Folgen ................................................. 162 I. Positive Statusentscheidung ............................................................ 162 II. Familiennachzug ............................................................................ 163 III. Negative Statusentscheidung ........................................................ 166 B. Die Vertretung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge in asylund ausländerrechtlichen Angelegenheiten ........................................... 167 C. Leistungsansprüche des Minderjährigen .............................................. 168
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5. Kapitel: Fazit .............................................................................................. 169 6. Kapitel: Zusammenfassung des dritten Teils in Thesenform ....................... 170
Vierter Teil: Spezifische Herausforderungen im Internationalen Eherecht .................................................................. 172 1. Kapitel: Einführung .................................................................................... 172 A. Einführung zur Ehe als familienrechtlichem Rechtsverhältnis ............ 173 B. Die Entwicklung der Ehe in Europa .................................................... 173 C. Spezifische Fragen ............................................................................... 176 I. Die Ehemündigkeit .......................................................................... 177 1. Deutschland und Europa ........................................................... 177 2. Muslimisch geprägte Ehemündigkeit ........................................ 182 II. Verbot der Doppelehe .................................................................... 185 D. Fazit ..................................................................................................... 187 2. Kapitel: Kollisionsrechtliche Behandlung von Minderjährigenehen .......... 188 A. Einleitung ............................................................................................ 188 B. Die Rechtslage bis zum Gesetz vom 17. Juli 2017 .............................. 191 I. Kollisionsrechtliche Behandlung der Kinderehe bis zum Gesetz vom 17. Juli 2017 ............................................................................ 191 1. Eheschließungsstatut ................................................................. 191 a) Inlandsehe ............................................................................. 191 b) Auslandsehe ......................................................................... 193 c) Besonderheiten bei Flüchtlingen .......................................... 193 2. Die ordre public-Prüfung .......................................................... 195 a) Einleitende Gedanken ........................................................... 195 b) Herausforderungen im Rahmen der Ehemündigkeit ............ 196 aa) Maßstäbe ....................................................................... 196 bb) Prüfungsschritte ............................................................ 200 c) Beispiele aus der Rechtsprechung ........................................ 203 aa) AG Hannover, Urteil vom 7.1.2002 .............................. 204 (1) Inhalt ........................................................................ 204 (2) Bewertung ................................................................. 204 bb) AG Offenbach, Urteil vom 30.10.2009 ........................ 204 (1) Inhalt ........................................................................ 204 (2) Bewertung ................................................................. 205 cc) KG, Beschluss vom 21.11.2011 .................................... 206 (1) Inhalt ........................................................................ 206
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(2) Bewertung ................................................................. 206 dd) OLG Bamberg, Beschluss vom 12.5.2016 und sich anschließend BGH, Beschluss vom 14.11.2018 .............. 207 (1) Inhalt ........................................................................ 207 (2) Bewertung ................................................................. 208 (3) Vorlagebeschluss des BGH ....................................... 209 II. Zwischenergebnis: Reformbedürfnis ............................................. 210 C. Gegenwärtige Rechtslage .................................................................... 211 I. Gesetzgebungsverfahren und Einführung ........................................ 211 II. Kritische Würdigung des Gesetzes vom 17. Juli 2017 ................... 212 1. Heraufsetzen des Ehemündigkeitsalters in § 1303 BGB n.F. auf 18 Jahre ................................................................................ 212 a) Inhalt ..................................................................................... 212 b) Kritische Würdigung ............................................................ 213 2. Einfügung des Art. 13 Abs. 3 EGBGB n.F. .............................. 215 a) Ausgestaltung als spezielle ordre public-Klausel ................. 215 b) Kritische Würdigung ............................................................ 216 aa) Positive Kritik ............................................................... 216 bb) Negative Kritik ............................................................. 218 c) Exkurs: Anwendbarkeit des Art. 13 Abs. 3 EGBGB auf die Verlobung ........................................................................ 219 3. Rechtsfolgen bei fehlender Ehemündigkeit ............................... 221 a) Gerichtliches Aufhebungsverfahren ..................................... 221 aa) Inhalt ............................................................................. 221 (1) Zuständigkeit ............................................................ 221 (2) Verfahren und Wirkung der Eheaufhebung .............. 222 bb) Kritische Würdigung .................................................... 222 b) Unwirksamkeitslösung ......................................................... 225 aa) Systemwidrigkeit........................................................... 225 bb) Fehlende Aufhebungsfolgen als Nachteil für den Minderjährigen ................................................................ 227 cc) Verfassungswidrigkeit der Unwirksamkeitslösung – zugleich Besprechung von BGH, Beschluss v. 14.11.2018 – XII ZB 291/16............................................ 229 dd) Verstoß gegen Art. 21 AEUV? ..................................... 231 ee) Vereinbarkeit mit Art. 12 Abs. 2 GFK .......................... 232 ff) Zwischenfazit ................................................................. 233 c) Alternativer Vorschlag ......................................................... 233 aa) De lege lata ................................................................... 233 bb) De lege ferenda ............................................................. 234 4. Beschränktes Ermessen der Behörden und Gerichte ................. 235 a) Antragspflicht des Jugendamts ............................................. 235 b) Enge Härteklausel ................................................................. 236
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5. Zu weitreichende Streichungen im BGB ................................... 239 6. Sonstige Anpassungen außerhalb des BGB .............................. 240 a) Verfahrensrecht .................................................................... 240 aa) Neuerungen im FamFG ................................................. 240 bb) Jugendhilferechtlicher Kontext ..................................... 241 b) Asyl- und Ausländerrecht ..................................................... 242 aa) Änderungen ................................................................... 242 bb) Kritik............................................................................. 243 c) Wiedereinführung des religiösen Voraustrauungsverbots .... 243 aa) Inhalt ............................................................................. 243 bb) Kritik............................................................................. 244 7. Unterbliebene Reform des Ehestatuts ....................................... 245 D. Fazit ..................................................................................................... 246 E. Zusammenfassung in Thesenform ....................................................... 248 3. Kapitel: Kollisionsrechtliche Behandlung polygamer Ehen ....................... 249 A. Einführung ........................................................................................... 249 B. Behandlung polygamer Ehen nach dem geltendem Recht ................... 250 I. Eheschließung vor dem deutschen Standesamt ............................... 251 1. Aktuell polygame Ehe ............................................................... 251 2. Potentielle Polygamie ................................................................ 252 II. Polygame Eheschließung im Ausland ............................................ 252 1. Allgemeines zur Wirksamkeit ................................................... 253 2. Schutz durch Grundgesetz und EMRK? ................................... 255 III. Polygame Eheschließung in Deutschland vor einer ermächtigten Trauperson ................................................................. 257 IV. Die Rechtsfolgen einer polygamen Eheschließung ...................... 258 1. Unterhalt .................................................................................... 259 2. Stellung der Frau nach dem Tod des Mannes ........................... 259 3. Steuerrecht ................................................................................ 260 4. Ausländerrecht .......................................................................... 260 a) Entwicklung in der Rechtsprechung ..................................... 261 b) Gesetzgebung ....................................................................... 262 c) Stellungnahme ...................................................................... 263 d) Übertragbarkeit der Rechtsprechung des EuGH zur gleichgeschlechtlichen Ehe? .................................................. 264 aa) Inhalt der EuGH Entscheidung Coman ......................... 264 bb) Übertragbarkeit auf das Aufenthaltsrecht polygamer Ehepartner ........................................................................ 265 5. Zwischenergebnis ...................................................................... 265 V. Folgen faktisch polygamer Verbindungen? ................................... 266 VI. Ergebnis zur aktuellen Rechtslage ................................................ 266
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C. Der Gesetzesentwurf des bayerischen Justizministeriums ................... 267 I. Inhalt des Gesetzes und Begründung ............................................... 267 II. Kritische Würdigung ...................................................................... 269 1. Unklare Regelungslücken ......................................................... 269 2. Fehlende Einzelfallgerechtigkeit ............................................... 270 3. Keine Notwendigkeit einer Neuregelung .................................. 271 4. Vereinbarkeit mit völkerrechtlichen Verträgen ......................... 271 III. Fazit .............................................................................................. 272 D. Zusammenfassung in Thesenform ....................................................... 273
Fünfter Teil: Ausblick ......................................................................... 275 Literaturverzeichnis ................................................................................... 279 Materialienverzeichnis ............................................................................... 292 Sachregister ............................................................................................... 295
Abkürzungsverzeichnis
AALCO a.A. ABl. Abs. AcP AEUV a.F. AG AHKG AJCL Art. AsylG AsylVfG AufenthG BAMF BeckOKBGB BeckRS Begr. begr. v. BeschV BFH BGB BGBl. BGH BMJV bpb BR-Drs. BSG BT-Drs. BVerfG BVerfGE BVerwG Cass. civ. DAV ders. DFGT DGIR
Asian–African Legal Consultative Organization anderer Ansicht Amtsblatt der Europäischen Union/Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Absatz Archiv für die civilistische Praxis Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union alter Fassung Amtsgericht Gesetz der Alliierten Hohen Kommission The American Journal of Comparative Law Artikel Asylgesetz Asylverfahrensgesetz Aufenthaltsgesetz Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Beck’scher Online-Kommentar Beck-Rechtsprechung Begründer begründet von Beschäftigungsverordnung Bundesfinanzhof Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz Bundeszentrale für politische Bildung Bundesrats-Drucksache Bundessozialgericht Bundestags-Drucksache Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bundesverwaltungsgericht Cour de Cassation Chambre Civile Deutscher Anwaltverein derselbe Deutscher Familiengerichtstag Deutsche Gesellschaft für Internationales Recht
Abkürzungsverzeichnis dies. DIJuF DIN
DIV DJB DNA DNotV DP Dublin III-VO
EG EGBGB EGMR EMRK ErwSÜ et. al. EU EuEheVO
EuErbVO EuGrCh EuGüVO
EuGVVO
EuUnthVO
e.V. f. / ff.
XXI
dieselbe Deutsches Institut für Jugendhilfe und Familienrecht Deutsch-iranisches Niederlassungsabkommen (Niederlassungsabkommen zwischen dem Deutschen Reich und dem Kaiserreich Persien von 1929) Deutsches Institut für Vormundschaftswesen Deutscher Juristinnenbund Deoxyribonucleic Acid Deutscher Notarverein Displaced Persons Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, ABl. L 180 vom 29. Juni 2013, S. 31–59 Europäische Gemeinschaft Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Europäische Menschenrechtskonvention Haager Übereinkommen über den internationalen Schutz von Erwachsenen vom 13. Januar 2000 et alii/und Andere Europäische Union Verordnung (EG) 2201/2003 des Rates vom 27.11.2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungenin Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000, ABl. 2003 L 338/1 Verordnung (EU) 650/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4.7.2012, ABl. 2012 L 201/107 Europäische Grundrechtecharta Verordnung (EU) 2016/1103 des Rates vom 24.6.2016 zur Durchführung einer Verstärkten Zusammenarbeit im Bereich der Zuständigkeit, des anzuwendenden Rechts und der Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Fragen des ehelichen Güterstands, ABl. 2016 L 183/1 Verordnung (EG) 44/2000 des Rates vom 22.12.2000, ABl. 2001 L 12/1, ABl. 2001 L 307/28; neugefasst durch Art. 80 Satz 1 ÄndVO (EU) 1215/2012 vom 12.12.2012, ABl. 2012 L 351/1; Art. 1 ÄndVO (EU) Nr. 566/2013 vom 18.6. 2013, ABl. 2013 L 167/29 Verordnung (EG) 4/2009 des Rates vom 18.12.2008 über die Zuständigkeit, das anwendbare Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Zusammenarbeit in Unterhaltssachen, ABl. 2009 L 7/1 eingetragener Verein folgende
XXII FamFG FamRL
FamRZ FAZ Fn. FS GenDG GFK GG GmbH GPR Hdb. HdbSt-KirchR HKÜ Hrsg. Hs. HUP ibid. IPR IPRax IRG IRO i.S.d. i.V.m. IZVR JAmt JDI JZ Kap. KG KJ KRK KSÜ LG lit. LSG mit Anm. MPI MSA MünchKommFamFG
MünchKommGmbHG
Abkürzungsverzeichnis Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familien-zusammenführung, ABl. L 251 vom 3.10.2003, S. 12–18 Zeitschrift für das gesamte Familienrecht Frankfurter Allgemeine Zeitung Fußnote Festschrift Gendiagnostikgesetz Genfer Flüchtlingskonvention (Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951) Grundgesetz Gesellschaft mit beschränkter Haftung Zeitschrift für Gemeinschaftsprivatrecht Handbuch Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland Haager Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung Herausgeber Halbsatz Haager Unterhaltsprotokoll ebenda Internationales Privatrecht Praxis des Internationalen Privat- und Verfahrenrechts Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen International Refugee Organisation im Sinne des in Verbindung mit Internationales Zivilverfahrensrecht Das Jugendamt (Zeitschrift) Journal du droit international Juristenzeitung Kapitel Kammergericht Berlin Kritische Justiz (Zeitschrift) UN-Kinderrechtskonvention Haager Kinderschutzübereinkommen Landgericht littera Landessozialgericht mit Anmerkung von Max-Planck-Institut Haager Minderjährigenschutzabkommen Münchener Kommentar zum Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit Münchener Kommentar zum Gesetz betreffend die Gesell-
Abkürzungsverzeichnis
MünchKommZPO m.w.N. n° NGO NJ NJOZ NJW Nr. NVwZ NZFam OAU OGH OLG OVG PStG PStRG RabelsZ RdC Rev. crit. DIP RL Rn. Rom I-VO Rom II-VO Rom III-VO RR Rs. S. ScheckG s.o. SGB I SGB VIII StAZ u.a. UA UN UNO UNHCR v. VG VGH vgl. VO Vol.
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schaften mit beschränkter Haftung Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung mit weiteren Nachweisen numéro Non-governmental oranization Neue Justiz Neue Juristische Online-Zeitschrift Neue Juristische Wochenschrift Nummer Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Neue Zeitschrift für Familienrecht Organisation of African Unity österreichischer Oberster Gerichtshof Oberlandesgericht Oberverwaltungsgericht Personenstandsgesetz Personenstandsrechtsreformgesetz Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht Recueil des Cours/Collected Courses of the Hague Academy of International Law Revue critique du droit international privé Richtlinie Randnummer Verordnung(EG) 593/2008 des Rates vom 17.6.2008, ABl. 2008 L 177/6 Verordnung(EG) 864/2007 des Rates vom 11.7.2007, ABl. 2007 L 199/40 Verordnung(EU) 1259/2010 des Rates vom 20.12.2010, ABl. 2010 L 343/10 Rechtsprechungsreport Rechtssache Satz Scheckgesetz siehe oben Sozialgesetzbuch I Sozialgesetzbuch VIII Das Standesamt und andere Unterabsatz United Nations United Nations Organisation Hoher Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen von dem/von Verwaltungsgericht Verwaltungsgerichtshof vergleiche Verordnung Volume (Band)
XXIV VwGO WG ZAR z.B. ZErb ZEuP ZfJ ZJS ZPO ZRP
Abkürzungsverzeichnis Verwaltungsgerichtsordnung Wechselgesetz Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik zum Beispiel Zeitschrift für die Steuer- und Erbrechtspraxis Zeitschrift für Europäisches Privatrecht Zeitschrift für Jugendrecht Zeitschrift für das Juristische Studium Zivilprozessordnung Zeitschrift für Rechtspolitik
Erster Teil
Grundlagen der Arbeit 1. Kapitel: Aktuelle rechtliche und politische Entwicklungen 1. Kapitel: Aktuelle Entwicklungen
A. Zunahme der Migration als Herausforderung für das Recht Seit im Herbst 2015 das erste Mal von einer „Flüchtlingskrise“ gesprochen wurde, ist das Thema Migration ein zentraler Gegenstand der aktuellen gesellschaftlichen Debatte und wird in den Medien und der Politik diskutiert. Bereits im Jahr 2007 lebten in Deutschland 15 Millionen Menschen – also ca. ein Fünftel der Gesamtbevölkerung – mit Migrationshintergrund.1 Seit 1989 ist der Zuzug von Migranten 2 aus Nicht-EU-Ländern höher als das innereuropäische Bevölkerungswachstum und eine gegenläufige Entwicklung ist in näherer Zukunft nicht abzusehen.3 Infolge der „Flüchtlingskrise“ wurden im Zeitraum von Januar bis Dezember 2016 745.545 Erst- und Folgeanträge auf Asyl beim BAMF gestellt. Damit hatte sich die Zahl der Anträge im Vergleich zum Vorjahr 2015, in dem 476.649 Menschen in Deutschland Asyl beantragen, fast verdoppelt. Im Jahr 2017 ging die Zahl der Anträge mit 222.683 Erst- und Folgeanträgen auf Asyl schon wieder zurück. 2018 waren es noch 185.853 Anträge. 4 Die Gesamtschutzquote, zusammengesetzt aus der Anerkennung als Asylbe1
Vgl. den Bericht des BAMF „Grunddaten der Zuwandererbevölkerung in Deutschland“, 2009, S. 5, abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020). Insgesamt sind etwa zwei Drittel der Personen mit Migrationshintergrund selbst Migranten (erste Generation) (umfasst sind Ausländer, Eingebürgerte und Spätaussiedler), während knapp ein Drittel bereits in Deutschland geboren wurde (zweite oder dritte Generation). 2 Die vorliegende Arbeit verwendet das generische Maskulinum zur sprachlichen Vereinfachung und impliziert gleichermaßen die weibliche Form. 3 Mansel, in: Nolte u.a. (Hrsg.), Pluralistische Gesellschaften und Internationales Recht, 2008, S. 137, 151; Meng, in: ders. u.a. (Hrsg.), Das Internationale Recht im Nord-Süd Verhältnis, 2005, S. 1, 7 ff. Für aktuelle Zahlen siehe (letzter Abruf: 4.6.2020). 4 Vgl. die Erhebungen der Bundeszentrale für politische Bildung, abrufbar unter
(letzter Abruf: 4.6.2020).
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Erster Teil: Grundlagen der Arbeit
rechtigter, der Anerkennung als Flüchtling, der Zuerkennung subsidiären Schutzes und der Feststellung eines Abschiebeverbots, liegt bis einschließlich Juli 2019 bei 37,2 %. Die Zahlen sind leicht rückläufig, lag doch die Schutzquote im Jahr 2017 noch bei 43,3 %.5 Diese Migration ist auch eine Herausforderung für das Recht, das sich dynamisch an gesellschaftliche und politische Entwicklungen anzupassen hat. 6 Das Völkerrecht gewährt grundsätzlich jedem Menschen ein globales Recht auf Freizügigkeit und Bewegungsfreiheit, welches seine Grundlage in Art. 13 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 und Art. 12 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte 16. Dezember 1966 findet. Diese Abkommen gewähren hingegen nicht das Recht, einen Staat zu betreten, sondern dies liegt allein in der Souveränität der Nationalstaaten. 7 Die rechtspolitische Diskussion in Deutschland bewegt sich daher vor allem im Kontext des öffentlich-rechtlichen Asyl- und Ausländerrechts, indem etwa die Verschärfung der Abschiebepraxis und die Problematik von Kettenduldungen thematisiert werden. Als besonders problematisch hat sich erwiesen, dass die Rechtsmaterie des Asyl- und Aufenthaltsrechts auf verschiedene Gesetze aus mehreren Ebenen wie dem autonomen nationalen Kollisionsrecht, Völkerkollisionsrecht und Unionskollisionsrecht verteilt ist und daher besonders komplex ist. 8 Die komplizierte Rechtslage kumuliert sich mit dem enormen Anstieg der Flüchtlingszahlen, der die Kapazitäten der Behörden und Gerichte an ihre Grenzen bringt. 9 Dies führt auch dazu, dass die Entscheidungen der BAMF-Behörden darüber, welcher Asyl- oder Aufenthaltsstatus einem Migranten erteilt wird, in den Bundesländern trotz eigentlich
5 Vgl. die Diagramme der Bundeszentrale für politische Bildung, die die Verteilung von Flüchtlingsstatus, subsidiärem Schutz und Abschiebeverbot in den Jahren von 2006 bis Juli 2019 zeigen, abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020). 6 Dazu insgesamt v. Hein, in: Juristische Studiengesellschaft Jahresband, 2018, S. 29 ff. 7 Vgl. für einen Überblick über die völkerrechtlichen Grundlagen der Migration nur Lagrange, Rev. Crit. DIP 2017, 27 ff. 8 Vgl. Hailbronner/Thym, JZ 2016, 753 für einen Überblick über den öffentlichenrechtlichen Rahmen, bestehend aus Völkerrecht, EU-Recht und nationalem Recht, als Grundlage für die Migrationspolitik. Der Beitrag analysiert kritisch das gegenwärtige europäische Asylsystem und zeigt Mängel und Defizite verschiedenen Ursprungs auf. 9 Vgl. die Zahlen auf (letzter Abruf: 4.6.2020). Vgl. ferner die monatlich aktualisierten Statistiken des BAMF, abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020). Zur Überlastung der Justiz vgl. ferner die „Umfrage bei Länderjustiz – Überlastet ins neue Jahr“, LTO v. 31.1.2019, abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020).
1. Kapitel: Aktuelle Entwicklungen
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identischer Rechtsgrundlagen und behördeninterner Regelungen stark divergieren.10 Obwohl weniger im öffentlichen Fokus, ist auch das Internationale Privatrecht durch die Zunahme der Migration tangiert. 11 Denn jede öffentlichrechtliche Statusentscheidung über das Asyl- und Aufenthaltsrecht hat auch Auswirkungen auf die privatrechtlichen Rechtsverhältnisse einer Person. Und auch umgekehrt bedingt das Personalstatut eines Flüchtlings die Entscheidung der Verwaltungsbehörden und -gerichte über sein Asyl- und Aufenthaltsrecht z.B. bei der Frage nach einem abgeleiteten Flüchtlingsstatus oder nach einem Familiennachzug. 12 Unter das Personalstatut des Flüchtlings fallen Fragen nach der Abstammung, der Rechts- und Geschäftsfähigkeit, dem Namen sowie den familien- und den erbrechtlichen Verhältnissen. 13 Die Migrationsbewegungen führen zu Grenzübertritten und diese können wiederum zum Wechsel des auf diese persönlichen Rechtsverhältnisse des Flüchtlings anwendbaren Rechts führen. Bei Flüchtlingen besteht die besondere Schwierigkeit darin, dass der kollisionsrechtliche Rahmen für das Personalstatut ebenso wie das Asyl- und Ausländerrecht auf verschiedene Gesetze aus mehreren Ebenen wie dem Völkerkollisionsrecht, dem Unionskollisionsrecht und dem autonomen nationalen Kollisionsrecht verteilt ist. 14 Ausgangspunkt und Grundlage der Arbeit sind im Ergebnis somit die Rechtsgebiete Asyl- und Ausländerrecht sowie das Internationale Privatrecht. Beide sind von erheblicher Komplexität, bedingen und beeinflussen sich in tatsächlicher Hinsicht gegenseitig, sind aber dabei in rechtstechnischer Hi nsicht nicht aufeinander abgestimmt. Zu diesen komplexen rechtlichen Rahmenbedingungen kommt hinzu, dass sich das Anknüpfungssubjekt „Flüchtling“ in einem Spannungsfeld zwischen 10 Vgl. die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Ulla Jelpke, Frank Tempel, Sevim Dağdelen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE, BT-Drs. 18/13670, S. 1 f. 11 Ebenso v. Hein, in: Juristische Studiengesellschaft Jahresband, 2018, S. 29 f. und dies schon angesichts der Flüchtlings- und Vertriebenenbewegungen nach dem 2. Weltkrieg beobachtend Ferid, Der Neubürger im Internationalen Privatrecht, 1949, S. 13. 12 Vgl. Study for the JURI committee „Private International Law in a Context of Increasing International Mobility: Challenges and Potential” des Europäischen Parlaments, PE 583.157, June 2017, S. 12 ff., abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020). 13 Zum Bedürfnis zusätzlicher Maßnahmen im IPR auf europäischer Ebene insbesondere hinsichtlich des Personenstands von Flüchtlingen vgl. die „Declaration on the Legal Status of Applicants for International Protection from Third Countries to the European Union“, abgedruckt in IPRax 2016, 400 sowie erläuternd hierzu Kohler, IPRax 2016, 401, 402. 14 v. Hein, in: Juristische Studiengesellschaft Jahresband, 2018, S. 29, 30; Weller, DGIR 2018, 247, 249.
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Erster Teil: Grundlagen der Arbeit
seiner kulturellen Identität und dem praktischen Bedürfnis nach Vereinfachung sowie dem rechtspolitischen Anliegen der Integration bewegt. In der heutigen Zeit treffen Kontinuität und kulturelle Verwurzelung mit den Herkunftsländern auf zunehmende Mobilität und umfassende Freizügigkeit in Europa.15 Die Aufgabe des IPR ist es hier, einerseits den Schutz der wohlerworbenen Rechte des Flüchtlings sicherzustellen und dabei aber andererseits auch die inländische Werteordnung zu bewahren und einen Beitrag zur Integration zu leisten. Dieser Ausgleich wird vor allem bei der Beurteilung von Statusfragen, wie einer wirksamen Ehe oder dem Bestehen der Vormundschaft für einen Minderjährigen, relevant, die hier ausführlich behandelt werden sollen. Im Folgenden sollen kurz die der Arbeit zugrundeliegenden Parameter des IPR und des Europarechts dargestellt werden, bevor im zweiten Kapitel auf den Forschungsstand hinsichtlich der „Flucht und Migration im Familienrecht“ eingegangen wird. B. Materialisierung des Internationalen Privatrechts Zu den Einflüssen der Migration tritt eine zunehmende Materialisierung des IPR hinzu.16 Beispielhaft für diese neue Entwicklung stehen das neue „Gesetz zur Bekämpfung von Kinderehen“, das am 17. Juli 2017 in Kraft getreten ist,17 und der jüngste Vorstoß des bayerischen Justizministeriums, auch die Regelungen zur Anerkennung von Mehrehen zu reformieren. 18 Sowohl traditionelle als auch gewandelte europäische Werte im Familienrecht sollen bereits auf der Ebene des Kollisionsrechts durchgesetzt werden. Die aktuellen Reformen und Entwürfe zeichnen sich nicht durch Toleranz gegenüber fremden Rechtsordnungen aus, sondern zielen darauf ab, inländische Werte wie etwa die Gleichberechtigung von Frau und Mann und den Minderjährigen15
Vgl. Mansel, in: Nolte u.a. (Hrsg.), Pluralistische Gesellschaften und Internationales Recht, 2008, S. 137, 139 ff. sowie zur zunehmenden Mobilität auch Weller, in: Arnold (Hrsg.), Grundfragen des Europäischen Kollisionsrechts, 2016, S. 133, 147 f. 16 Beschrieben am Beispiel des Art. 17b EGBGB bei Coester, IPRax 2013, 114, 115 ff.; vgl. ferner Heiderhoff, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinkhammer/Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 9, 13 ff.; Rentsch, Der gewöhnliche Aufenthalt im System des Europäischen Kollisionsrechts, 2017, S. 169 ff.; Schwemmer, Anknüpfungsprinzipien im Europäischen Kollisionsrecht, 2018, S. 203 ff.; Weller, IPRax 2011, 429 ff.; ders., in: Arnold (Hrsg.), Grundfragen des Europäischen Kollisionsrechts, 2016, S. 133, 136; für eine zunehmende Politisierung vgl. ferner Weller/Schulz, in: v. Hein/Kieninger/Rühl (Hrsg.), How European is European Private International Law?, 2019, S. 285, 287 ff. 17 Gesetz zur Bekämpfung von Kinderehen vom 17. Juli 2017, BGBl. 2017 I 2429; siehe aber BGH, Beschluss v. 14.11.2018 – XII ZB 291/16, BeckRS 2018, 32048. 18 Gesetzesantrag des Freistaates Bayern – Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung von Mehrehen, BR-Drs 249/18.
1. Kapitel: Aktuelle Entwicklungen
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schutz möglichst umfassend durchzusetzen. 19 Den zuständigen Behörden und Gerichten kommt immer weniger Ermessen zu, was den Spielraum bei der Berücksichtigung der privaten Interessen und der Grundrechte der Betroffenen einschränkt. Statt flexibler Lösungen, die die nötige Einzelfallgerechtigkeit sicherstellen, wird zunehmend das Argument der Rechtssicherheit und klarheit für starrere Regelungen angeführt. 20 Problematisch an den Initiativen ist, dass sie den Divergenzen in den nationalen Familienrechten der Mitgliedstaaten der Europäischen Union nicht die erforderliche Aufmerksamkeit beimessen. Es kommt nicht von ungefähr, dass die Rom III-VO nur auf der Basis verstärkter Zusammenarbeit einzelner Mitgliedstaaten zustande gekommen ist. Ein Beispiel stellen diesbezüglich die unterschiedlichen Ansichten hinsichtlich der Möglichkeit einer gleichgeschlechtlichen Eheschließung dar. 21 Die jüngsten Reformen bzw. Entwürfe hinsichtlich der Anerkennung von Auslandsehen sehen sich daher auch dem Vorwurf einer Verletzung des europäischen Freizügigkeitsrechts nach Art. 21 AEUV ausgesetzt. Angesichts dieser Materialisierungstendenzen stellt sich damit letztlich die Frage, wie politisch das IPR sein muss und darf. C. Die Rolle der Aufenthaltsanknüpfung für das Personalstatut Im Rahmen des Personalstatuts wird der Fokus auf das Parteiinteresse gelegt und als Recht, mit dem die Person typischerweise am engsten verbunden ist, traditionell das Heimatrecht angesehen, zu dessen Anwendung die Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit führt. 22 Zu prüfen ist, ob diese überkommene Annahme insbesondere unter Berücksichtigung der Migrationsbewegungen der letzten Jahre und der zunehmenden Freizügigkeit und Mobilität auch innerhalb Europas noch Bestand hat oder eher der Wandel hin zu einer Mobilitätsanknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt zu befürworten ist. 23 Dies würde auch dem Trend des europäischen Kollisionsrechts entsprechen, wo in den vereinheitlichten zum Personalstatut gehörenden Rechtsgebieten 19
Vgl. Weller, in: Arnold (Hrsg.), Grundfragen des Europäischen Kollisionsrechts, 2016, S. 133, 145 f.; kritisch zu dieser Entwicklung Basedow, FamRZ 2019, 1833 ff.; Coester-Waltjen, IPRax 2017, 429, 430. 20 Vgl. BT-Drs. 18/12086, S. 1 und BR-Drs 249/18, S. 3. 21 Die gleichgeschlechtliche Ehe wurde bisher nur in 15 von 28 europäischen Mitgliedstaaten eingeführt, vgl. die Übersicht auf (letzter Abruf: 4.6.2020). Auf Malta war die Scheidung der Ehe noch bis 2011 verboten. Vgl. zum „conflit de cultures“ auch innerhalb Europas Nishitani, RdC 401 (2019), 143, 199 f. 22 Sog. „Spanier Beschluss“ vgl. BVerfG, Beschluss v. 4.5.1971 – 1 BvR 636/68, NJW 1971, 1509; Mansel, Personalstatut, 1988, Rn. 41. 23 Vgl. Nishitani, RdC 401 (2019), 143, 235 ff.; Weller, FS Coester-Waltjen, 2015, 897, 902 ff.
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Erster Teil: Grundlagen der Arbeit
wie dem Familien- und Erbrecht überwiegend an den gewöhnlichen Aufenthalt einer Person angeknüpft wird. 24 Diese unterschiedlichen Anknüpfungspunkte im nationalen und europäischen Kollisionsrecht führen zu einer Aufspaltung des auf die persönlichen Rechtsverhältnisse anwendbaren Rechts. Diese dépéҫage birgt die Gefahr, dass die materielle Harmonie des für einen einheitlichen Rechtsbereich berufenen Rechts gestört wird. Grundsätzlich ist daher die Bildung eines möglichst umfassenden Gesamtstatuts vorzuziehen. 25 Es ist aber auch zu berücksichtigen, dass mit der zunehmenden Kollisionsrechtsvereinheitlichung die Bedeutung des autonomen Familien- und Erbrechts schrumpft. Hinzu kommen die Reformen im autonomen IPR. So wurde Art. 14 EGBGB erst kürzlich durch das „Gesetz zum Internationalen Güterrecht und zur Änderung von Vorschriften des Internationalen Privatrechts vom 17.12.2018“26 reformiert und dabei der Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt ein größeres Gewicht beigemessen. Diese Entwicklung ist im Übrigen auch vor dem Hintergrund zu begrüßen, dass die Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit häufig ins ausländische Recht führt und oft in eine ordre public-Prüfung mündet, die mangels klarer Kriterien zu Rechtsunsicherheit und unbefriedigenden Ergebnissen führen kann. Die Aufenthaltsanknüpfung stellt daher auch eine gute Alternative zu der Tendenz, auf bestimmten Gebieten den negativen ordre public durch einen positiven zu ersetzen, dar. 27 Vor diesem Hintergrund sollen in dieser Arbeit die für das Personalstatut einer Person bisher maßgeblichen Wertungen und die Legitimation der Anknüpfung an das Heimatrecht insgesamt überdacht werden. D. Europäisches Familienkollisionsrecht und Anerkennungsprinzip In den neueren europäischen Instrumenten des Familienkollisionsrechts ist die Tendenz zu einer Anerkennung von Statusverhältnissen ohne Nachprüfung und eine Zurückdrängung der ordre public-Prüfung zu beobachten.28 So verzichtet im Unterhaltsrecht die EuUnthVO auf ein Exequaturverfahren und das HUP stellt für eine Anerkennungsversagung auf der Grundlage des inlän24 Zum Wandel der Anknüpfungsprinzipien im europäischen Kollisionsrecht umfassend Weller, in: Arnold (Hrsg.), Grundfragen des Europäischen Kollisionsrechts, 2016, S. 133– 162; bereits 1995 Jayme, RdC 251 (1995), 13, 206 f.; vgl. ferner Dutta, IPRax 2017, 139; v. Hein, MünchKommBGB, 2018, Art. 5 EGBGB Rn. 7–12; Rentsch, ZEuP 2015, 288, 294. 25 Mansel, Personalstatut, 1988, Rn. 43. 26 BGBl. I 2018 S. 2573, in Kraft getreten am 29.1.2019. 27 Dazu v. Hein, in: Juristische Studiengesellschaft Jahresband, 2018, S. 29, 52 f.; zur Abgrenzung von positivem und negativem ordre public vgl. Weller, in: MünchKommGmbHG, 2018, Einleitung Rn. 432 ff. 28 Zu dieser Entwicklung vgl. Basedow, FamRZ 2019, 1833, 1838 f. Nishitani, RdC 401 (2019), 143, 258 ff.
1. Kapitel: Aktuelle Entwicklungen
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dischen ordre public sehr enge Grenzen auf. 29 Zudem sind die Grundfreiheiten als Schranke der Anwendung des nationalen ordre public zu berücksichtigen.30 Gleichzeitig kann das Eingreifen des ordre public wiederum auf die Grundfreiheiten gestützt werden. 31 Diese Entwicklung passt folglich zu dem oben beschriebenen Ausnahmefall einer ordre public-Prüfung im Rahmen des Aufenthaltsprinzips, das auch im europäischen Recht vorherrschend ist. Noch weiter geht die prinzipielle Anerkennung von Statusverhältnissen auf der Basis des Primärrechts, ohne dass das Ergebnis ausländischer Rechtsanwendung nachgeprüft wird. 32 Ausgangspunkt ist die Entscheidung Grunkin Paul des EuGH, bei der es um die Anerkennung eines Namens ging, der in einem anderen Mitgliedstaat erworben wurde. 33 Die Grenzen des Primärrechts bei der ordre public-Prüfung im Namensrecht hat der EuGH mit der Entscheidung Bogendorff von Wolfersdorf konkretisiert: Der Grundsatz der Kontinuität der Namensführung im deutschen Recht steht der Anerkennung eines in England erworbenen Namens jedenfalls nicht entgegen. 34 Es zeichnet sich ab, dass diese Pflicht zur Anerkennung von Statusverhältnissen nicht auf den Namen beschränkt bleibt, sondern auch auf andere persönliche Statusverhältnisse (z.B. die gleichgeschlechtliche Ehe 35) auszuweiten ist.36 Eine besondere Herausforderung wird dabei sein, eine tragfähige Lösung zur Abgrenzung einer anerkennungsfähigen Entscheidung von einer notwendigen Ermittlung und Anwendung fremden Rechts zu finden, die bereits jetzt bei Privatscheidungen37 und Leihmutterschaftsfällen 38 nicht unumstritten ist. 39
29 Althammer, NZFam 2016, 629, 635; Dutta, ZEuP 2016, 427, 433; Mansel, in: Nolte u.a. (Hrsg.), Pluralistische Gesellschaften und Internationales Recht, 2008, S. 137, 182. 30 Helms, IPRax 2017, 153. 31 Vgl. dazu EuGH, Urteil v. 22.12.2010 – Rs. C-208/09, Sayn-Wittgenstein ./. Landeshauptmann von Wien, NJOZ 2011, 1346. 32 Grundstrukturen bei Weller, IPRax 2014, 225, 228; ders., in: Arnold (Hrsg.), Grundfragen des Europäischen Kollisionsrechts, 2016, S. 133, 149 f.; näher dazu Schwemmer, Anknüpfungsprinzipien im Europäischen Kollisionsrecht, 2018, S. 14 ff.; für die Vereinheitlichung des Namenskollisionsrechts und der Einführung eines Anerkennungsprinzips Dutta, ZEuP 2016, 427, 463. 33 EuGH, Urteil v. 14.10.2008 – Rs. C-353/06, Stefan Grunkin et. al. ./. Standesamt Niebüll, NJW 2009, 135. 34 Vgl. EuGH, Urteil v. 2.6.2016 – Rs. C-438/14, Bogendorff von Wolferdorf ./. Standesamt der Stadt Karlsruhe u.a., NJW 2016, 2093. 35 EuGH, Urteil v. 5.6.2018 – Rs. C-673/16, Coman u.a. ./. Ministerul Afacerilor Interne, NVwZ 2018, 1545. 36 Helms, IPRax 2017, 153, 159; Weller, in: Arnold (Hrsg.), Grundfragen des Europäischen Kollisionsrechts, 2016, S, 133, 150; einen Ausblick zu den noch offenen Fragen hinsichtlich des Anerkennungsprinzips, insbesondere was religiöse Statusverhältnisse angeht gibt Jayme, IPRax 2017, 179, 183. 37 Zur Abgrenzung auch Hau, in: Prütting/Helms, FamFG, 2018, § 108 FamFG Rn. 23.
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Erster Teil: Grundlagen der Arbeit
Parallel zu dieser grenzüberschreitenden Öffnung findet in Europa ein Wandel bei den familiären Lebensformen etwa mit der Anerkennung der gleichgeschlechtlichen Ehe und der zunehmenden Formalisierung rein faktischer Lebenspartnerschaften statt. 40 Problematisch daran ist, dass die wachsende innereuropäische Toleranz noch nicht in allen materiellen Familienrechten einheitlich verankert ist, was die eigentlich vorausgesetzte grenzüberschreitende Freizügigkeit behindern kann. 41 Weiteres Konfliktpotential birgt auch die steigende Immigration von Menschen außerhalb Europas, die Familienverhältnissen gegenläufige oder abweichende Werte zugrunde legen. Einen befriedigenden rechtlichen Rahmen hierfür zu finden, ist Aufgabe eines vereinheitlichten europäischen Familienkollisionsrechts. Bisher wurde dabei punktuell vorgegangen und zum Beispiel die Regelung des Familienstatus noch den Mitgliedstaaten überlassen. 42 Dieses Anliegen der Vereinheitlichung setzt ein autonomes Begriffsverständnis von „Familienverhältnis“ bzw. „Familie“ voraus, wie es bisher noch nicht existiert. 43 Als Grundlage für den erforderlichen Integrationsprozess werden der Entwurf für „Ein Familienrecht für das 21. Jahrhundert“ von Ingeborg Schwenzer44 und ein optionales Einheitsrecht diskutiert. 45 Diese spezifischen Fragen des europäischen Kollisionsrechts sind indes ein anderes Thema als das vorliegende und sollen hier nicht detaillierter behandelt werden. Dennoch dürfen auch bei einer Perspektive des autonomen Kollisionsrechts auf das Verhältnis zwischen Migrationsbewegungen und dem Internationalen Privatrecht die Entwicklungen auf europäischer Ebene nicht vollständig ausgeklammert werden. 38
Das OLG Celle, Beschluss v. 22.5.2017 – 17 W 8/16, NZFam 2017, 658 hält die Eintragung in das Geburtenregister für eine anerkennungsfähige Entscheidung; a.A. hingegen OLG München, Hinweisbeschluss v. 12.10.2017 – 31 Wx 243/16, NZFam 2018, 36 und der BGH, der jüngst entschieden hat, dass deutsches Recht auf die Abstammung Anwendung findet, wenn das Kind direkt nach der Geburt rechtmäßig nach Deutschland verbracht wurde und es nicht auf den Inhalt der ausländischen Geburtsurkunde ankommt, vgl. BGH, Beschluss v. 20.3.2019 – XII ZB 530/17, NJW 2019, 1605. Dazu ferner umfassend Engelhardt/Zimmermann, in: Ditzen/Weller (Hrsg.,), Regulierung der Leihmutterschaft, 2018, S. 1, 4 ff. 39 Vgl. zur Problematik Heiderhoff, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinkhammer/ Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 9, 16 f. 40 Dethloff, NJW 2018, 23, 25 f.; Nishitani, RdC 401 (2019), 143, 159 ff. 41 Vgl. Mansel, in: Nolte u.a. (Hrsg.), Pluralistische Gesellschaften und Internationales Recht, 2008, S. 137, 183; Nishitani, RdC 401 (2019), 143, 161 f. 42 Vgl. zur bisherigen Entwicklung Dutta, ZEuP 2016, 427; kritisch zu einer Vereinheitlichung des Europäischen Kollisionsrechts um ihrer selbst willen, bei der bisherige Erfahrungen zu wenig berücksichtigt werden Jayme, IPRax 2000, S. 165 f. 43 Vgl. Althammer, NZFam 2016, 629; Nishitani, RdC 401 (2019), 143, 163. 44 Vgl. dazu Schwenzer, in: dies./Büchler (Hrsg.), Vierte Schweizer Familienrechtstage, 2008, S. 3 ff. 45 Vgl. Althammer, NZFam 2016, 629, 635; Dethloff, ZEuP 2007, 992, 1000 ff.
2. Kapitel: Forschungsstand
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So kommt das Anerkennungsprinzip im Bereich familienrechtlicher Statusverhältnisse bei der Frage nach der Berücksichtigung der kulturellen Identität des Flüchtlings zum Tragen. 46 Innerhalb Europas funktioniert die gegenseitige Anerkennung deshalb, weil gerade das Personen-, Familien- und Erbrecht stark kulturell verankert und in den westlichen Rechtsordnungen hauptsächlich einheitlich vom kanonischen Recht geprägt sind. In diesen homogenen Wurzeln findet das Anerkennungsprinzip seine tiefergehende Rechtfertigung. Auch wenn die materiellen Familienrechte teilweise noch divergieren, geht die Entwicklung doch hin zu einer Angleichung, was an Beispielen wie der zunehmenden Liberalisierung des Scheidungsrechts 47 oder der Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare zu beobachten ist. 48 Anders ist dies aber, wenn fremde Kulturen, insbesondere basierend auf dem Koran, aber auch z.B. auf Stammesrechten afrikanischer Länder, wie in der aktuellen Hochphase von Migration, mit den europäischen Werten in ein Spannungsverhältnis treten. 49 In diesem Fall erweist es sich als Problem, dass für die klassischen Grenzen der Fremdrechtsanwendung wie der ordre public oder ein spezifisches Sonderkollisionsrecht im Rahmen des Anerkennungsprinzips kaum mehr Raum bleibt. Wird im Rahmen der Neuregelungen des deutschen Familienkollisionsrechts etwa Minderjährigen- oder Mehrehen die Wirksamkeit aus ordre public- Gründen abgesprochen, sind Kollisionen mit dem europäischen Freizügigkeitsrecht vorprogrammiert. Daher ist das klassische VerweisungsIPR hier möglicherweise besser geeignet, um einen Ausgleich zu finden, der die Interessen beider Seiten berücksichtigt. Mögliche Lösungsmodelle sollten darauf gerichtet sein, einen Konsens zwischen den unterschiedlichen Wertesystemen zu finden, die letztlich alle ein geordnetes familiäres und gesellschaftliches Zusammenleben bezwecken. 50
2. Kapitel: Forschungsstand 2. Kapitel: Forschungsstand
Die Frage der Beziehung zwischen Migration und dem Internationalen Privatrecht ist nicht neu, bereits 1994 untersuchte Christiane Wendehorst (geb.
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Vgl. Weller, IPRax 2014, 225, 228. Noch bis in die achtziger Jahre hinein war eine Scheidung z.B. in Spanien verboten, vgl. dazu auch Nishitani, RdC 401 (2019), 143, 157 f. 48 Einführung in Belgien 2003; in den Niederlanden 2001 und in Spanien 2005; siehe dazu Nishitani, RdC 401 (2019), 143, 160 ff. 49 Vgl. Mansel, in: Nolte u.a. (Hrsg.), Pluralistische Gesellschaften und Internationales Recht, 2008, S. 137, 140 f. 50 Vgl. dazu auch die „Conclusions“ bei Nishitani, RdC 401 (2019), 143, 400 ff. 47
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Erster Teil: Grundlagen der Arbeit
Lass) dieses Thema.51 Neu sind hingegen in tatsächlicher Hinsicht der zunehmende Umfang der Migration und in rechtlicher Hinsicht die Fülle an neuen Regelungen, vor allem im Bereich des europäischen Kollisionsrechts, sowie die neuen und verschiedenen Erscheinungsformen der Migration, die das Asyl- und Ausländerrecht hervorgebracht hat. Bislang ist es zudem weder international noch national geglückt, für alle Flüchtlinge gleichermaßen eine Regelung zu finden, sodass kollisionsrechtlich weiterhin zwischen den verschiedenen Flüchtlingsgruppen unterschieden werden muss, was in der praktischen Rechtsanwendung häufig zu Abgrenzungsschwierigkeiten führt. 52 Zu familienrechtlichen Themen, die das Internationale Privatrecht betreffen, existiert eine Fülle an Literatur. Dem begrenzten Umfang der Abhandlungen ist geschuldet, dass die behandelten Einzelfragen nicht ausreichend in den weiten Kontext der oben genannten Problemkreise gesetzt werden können. Dies will diese Arbeit nachholen.
3. Kapitel: Anliegen der Arbeit 3. Kapitel: Anliegen der Arbeit
Zunächst soll der Versuch unternommen werden, eine Systematisierung der Rechtsquellen und Anknüpfungssubjekte zu schaffen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass das Asyl- und Ausländerrecht auf der einen Seite und das Internationale Privatrecht auf der anderen Seite ganz eigene Regelungsmechanismen haben, die nur selten aufeinander abgestimmt sind. Darauf aufbauend soll ein Lösungsansatz für die Vereinfachung der Rechtsanwendung bezogen auf alle Rechtsfragen, die das Personalstatut des Flüchtlings betreffen, entwickelt werden. Konkret wird die These aufgestellt, dass das auf die persönlichen Rechtsfragen anwendbare Recht insbesondere bei geflüchteten Migranten an den gewöhnlichen Aufenthalt anzuknüpfen ist. Diese These wird sodann aus dogmatischer und rechtspraktischer Sicht begründet. Dabei wird auch ein besonderes Augenmerk darauf gelegt, wie dennoch die kulturelle Identität des Flüchtlings auf der Kollisionsrechts- und Sachrechtsebene berücksichtigt werden kann. Die aufgestellte Hauptthese soll spezifisch auf das familienrechtliche Statusverhältnis der Ehe angewendet werden. Die Ehe unterliegt als Rechtsinstitut erstens einem ständigen Wertewandel, was das Recht schon allein vor besondere Herausforderungen stellt. 53 Zweitens nehmen im Zuge der Migrationsbewegung die dem deutschen Recht fremden Erscheinungsformen der 51
Lass, Der Flüchtling im IPR, 1995. Vgl. dazu auch Mankowski, IPRax 2017, 40 ff. 53 Zu den bisherigen Entwicklungen vgl. z.B. Schwenzer, in: dies./Büchler (Hrsg.), Vierte Schweizer Familienrechtstage, 2008, S. 3, 5 f. 52
4. Kapitel: Gang der Untersuchung und Eingrenzung
11
Ehe zu.54 In diesem Kontext sollen die Minderjährigenehe und die Mehrehe thematisiert werden. Dabei werden auch die neuen Gesetze und jüngsten Reformen in diesem Bereich untersucht. Diese haben letztlich ihren Ursprung im Anstieg der Migration und sind mehr rechtspolitische als rechtsdogmatische Produkte. Die daraus resultierenden Mängel sollen aufgezeigt werden und jeweils mögliche alternative Lösungswege entwickelt werden, die einen besseren Ausgleich zwischen der kulturellen Identität des Flüchtlings und der inländischen Werteordnung erzielen. Die Arbeit will damit einen rechtswissenschaftlichen Beitrag zur Integration in Bezug auf personen- und familienrechtliche Statusverhältnisse im Zeitalter der Massenmigration leisten und gleichzeitig Anregungen für die Praxis geben, um die Ressourcen der Justiz zu schonen. Vor dem Hintergrund, dass insbesondere aus der Perspektive des europäischen Kollisions- und Migrationsrechts noch kein reibungsloses Zusammenspiel dieser beiden Gebiete gewährleistet ist, könnte diese Arbeit zudem für weitere Studien und Initiativen in diesem Bereich als Grundlage für die deutsche Perspektive dienen.
4. Kapitel: Gang der Untersuchung und Eingrenzung 4. Kapitel: Gang der Untersuchung und Eingrenzung
Im zweiten Teil gibt die Arbeit zunächst einen Überblick über die verschiedenen (neuen) Ausformungen des Anknüpfungssubjekts Flüchtling und das jeweils in persönlichen und insbesondere in familiären Rechtsverhältnissen anwendbare Kollisionsrecht. Zu diesem Zweck lassen sich die Migranten angelehnt an die Terminologie des Asyl- und Aufenthaltsrechts in zwei Gruppen einteilen: Schutz- und Wirtschaftsmigranten. 55 Für Schutzmigranten greift ein Sonderkollisionsrecht in Gestalt von Art. 12 Abs. 1 Genfer Flüchtlingskonvention (im Folgenden: GFK), das der Aufenthaltsanknüpfung folgt, während für Wirtschaftsmigranten im autonomen IPR noch die Staatsangehörigkeitsanknüpfung dominiert. Die Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt bei den Schutzmigranten ist primär dadurch motiviert, dass die Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit zum Recht des Verfolgerstaates führen würde. Aber auch der Integrationsgedanke streitet entscheidend für das Aufenthaltsprinzip. Gleiches gilt für die Wirtschaftsmigranten, deren Integration in die Aufnahmegesellschaft ebenfalls ein 54
Vgl. v. Hein, in: Juristische Studiengesellschaft Jahresband, 2018, S. 29, 30 f. Begriffe bei Weller, DGIR 2018, 247. Diese Einteilung entspricht dem Gemeinsamen Europäischen Asylsystem (kurz GEAS), das rechtlich zwischen aufenthaltsberechtigten Flüchtlingen und subsidiär Schutzberechtigten sowie nicht aufenthaltsberechtigten Armutsflüchtlingen trennt, vgl. Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, AsylG, 2020, Art. 16a GG Rn. 132/139. 55
12
Erster Teil: Grundlagen der Arbeit
wichtiges politisches Ziel ist. 56 Die vorliegende Arbeit will daher untersuchen, ob das Personalstatut von Schutz- und Wirtschaftsmigranten de lege ferenda gleichermaßen nach dem Aufenthaltsprinzip bestimmt werden sollte. Dabei ist die kulturelle Identität des Flüchtlings innerhalb der Grenzen, die die inländische Werteordnung vorgibt, zu berücksichtigen. 57 Ein dritter Teil behandelt die Problematik um unbegleitet einreisende Minderjährige. Das Thema wurde gewählt, da es viele Kernprobleme des Internationalen Familienrechts abdeckt. Das im vierten Teil behandelte „Gesetz zur Bekämpfung von Kinderehen“ und der bayerische „Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung von Mehrehen“ stehen exemplarisch für das im Familienrecht besonders ausgeprägte Spannungsverhältnis zwischen Toleranz gegenüber fremden Rechtsordnungen und der Berücksichtigung der kulturellen Identität des Rechtssubjekts einerseits und einer zunehmenden Tendenz zur Durchsetzung inländischer Werte bedingt durch das rechtspolitische Anliegen der Integration andererseits. Anhand dieser Diagnose wird das Vorgehen des Gesetzgebers analysiert und bewertet, bevor Alternativen aufgezeigt werden können. Diese Arbeit beschäftigt sich nur mit nach Deutschland immigrierenden Schutz- und Wirtschaftsmigranten und klammert dabei die Emigration von Inländern sowie Sonderformen der Migration, wie etwa Medizin- und Reproduktionsmigration, die mit den Phänomenen Leihmutterschaft 58, Sterbehilfe und Organtransplantationstourismus spezifische Fragestellungen aufwerfen, aus. Bis auf einzelne kollisionsrechtsvergleichende Beispiele nimmt die Arbeit zudem ausschließlich die Perspektive des deutschen IPR ein. Zugunsten der Übersichtlichkeit werden im Übrigen die volksdeutschen Flüchtlinge außer Betracht gelassen werden, die kraft Art. 116 Abs. 2 GG den Deutschen gleichgestellt sind und deren Rechtsstatus eine Besonderheit des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts und nicht des IPR ist.59 Ferner beschränkt sich die Arbeit im vierten Teil der Dissertation mit der kollisionsrechtlichen Behandlung von Kinderehen und von Mehrehen auf zwei spezifische familienrechtliche Problemkreise im Migrationskontext. Ausgenommen wird bis auf wenige Hinweise die kollisionsrechtliche Behandlung von Privatscheidungen und insbesondere der talaq, ein aktuell
56
Weller, DGIR 2018, 247, 258 f. Weller, DGIR 2018, 247, 259 f.; ders., IPRax 2014, 225, 232 ff. 58 Vgl. hierzu Engelhardt/Zimmermann, in: Ditzen/Weller (Hrsg.,), Regulierung der Leihmutterschaft, 2018, S. 1 ff.; Nishitani, RdC 401 (2019), 143, 188 ff., 340 ff., 383 ff.; Thomale, Mietmutterschaft, 2015. 59 Auf den ehelichen Güterstand volksdeutscher Flüchtlinge und Vertriebene fand das „Gesetz über den ehelichen Güterstand von Vertriebenen und Flüchtlingen“ vom 4. August 1969 (BGBl. 1969 I S. 1067) Anwendung, das gem. Art. 15 Abs. 4 EGBGB a.F. vorrangig anzuwenden war und am 29. Januar 2019 außer Kraft getreten ist. 57
4. Kapitel: Gang der Untersuchung und Eingrenzung
13
ebenfalls sehr umstrittenes Thema aus dem IPR, das gesonderter Aufmerksamkeit bedarf.60 Auch Auswirkungen des Flüchtlingsstatus auf das Internationale Zivilverfahrensrecht werden nicht explizit behandelt, sondern bei Relevanz im Kontext erwähnt.
60
Vgl. für eine Übersicht Heiderhoff, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinkhammer/ Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 9, 19 ff.; v. Hein, in: Juristische Studiengesellschaft Jahresband, 2018, S. 29, 53 ff.; Weller/Pika, IPRax 2017, 65 und zur Problematik um Art. 10 Rom III-VO Winkler von Mohrenfels, FS Martiny, 2014, 595 ff.; Weller/Hauber/Schulz, IPRax 2016, 123, 129 ff. sowie die Vorlagen des OLG München zum EuGH: OLG München, Beschluss v. 2.6.2015 – 34 Wx 146/14, FamRZ 2015, 1613 ff. und Beschluss v. 29.6.2016 – 34 Wx 146/14, FamRZ 2016, 1363 ff., zu denen der EuGH bisher noch nicht erschöpfend Stellung genommen hat, vgl. EuGH, Beschluss v. 12.5 2016 – Rs. C-281/15, Sahyouni ./. Mamisch, FamRZ 2016, 1137.
Zweiter Teil
Migration als Herausforderung für das IPR 1. Kapitel: Einführung in die Thematik und ihr rechtliches Umfeld 1. Kapitel: Einführung in die Thematik
Wie in der Einleitung angedeutet, ist das Internationale Flüchtlingsrecht auf Normen unterschiedlichsten Charakters verteilt. Im Folgenden sollen zunächst die Ursprünge und die Entwicklung des Flüchtlingsrechts unter besonderer Berücksichtigung der Rolle des IPR skizziert werden (dazu A.), um sodann den gegenwärtigen Rechtskomplex aus staatsvertraglichen, europarechtlichen und nationalen Normen zu beleuchten (dazu B.). Abschließend wird auf das Verhältnis der GFK zu anderen Staatsverträgen eingegangen (dazu C.). A. Ursprünge des Flüchtlingsrechts und Aufgaben des IPR Aus europäischer Sicht findet das Flüchtlingsrecht seinen Ursprung in den Bewegungen des 2. Weltkriegs, als zehn bis zwölf Millionen sogenannte „Displaced Persons“ (DPs) in Europa auf der Flucht waren. 1 Auch heute führen Kriege, Bürgerkriege, Aufstände und Revolutionen dazu, dass grenzüberschreitende Flüchtlingsströme ein aktuelles und weltweites Problem darstellen.2 2015 waren nach Schätzungen des UNHCR 3 weltweit rund 65,3 Millionen Menschen auf der Flucht, davon waren 21,3 Millionen Menschen Flüchtlinge im Sinne der GFK und 3,2 Millionen Asylsuchende. 4 1 Siehe Dossier der bpb „Zwangswanderungen nach dem Zweiten Weltkrieg“, 13.5.2005, abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020). Zu der Perspektive des IPR auf die Situation vgl. grundlegend Ferid, Der Neubürger im Internationalen Privatrecht, 1949. 2 v. Hein, in: MünchKommBGB, 2018, Art. 5 EGBGB Anh. II Rn. 1; Bausback, in: Staudinger, BGB, 2013, Art. 5 EGBGB Anh. IV Rn. 2; Hohloch, in: Erman, BGB, 2017, Art. 5 EGBGB Anh. IV Rn. 1 f. 3 „United Nations High Commissioner for Refugees” (UNHCR): Ihm untersteht das „Office of the United Nations High Commissioner for Refugees”, auch „The UN Refugee Agency” genannt. 4 Siehe (letzter Abruf: 6.4.2020).
1. Kapitel: Einführung in die Thematik
15
Der Zerfall und die Neugliederung von Staaten und die damit verbundene Entwurzelung von Menschen führten auch zu einer Notwendigkeit des Ausbaus rechtlichen Schutzes und staatlicher Fürsorge. 5 Die Schwerpunkte der juristischen Bewältigung von Flüchtlingsproblemen liegen im öffentlichen Ausländer- und Asylrecht, jedoch besteht auch im IPR – sind die Flüchtlinge doch ein spezielleres Anknüpfungssubjekt als der Ausländer ohne Fluchthintergrund – die Notwendigkeit einer Korrektur der Anknüpfungspunkte vor allem in Angelegenheiten, die den Flüchtling persönlich betreffen. 6 B. Die relevanten Normen Im Zentrum der Vorschriften steht das Genfer UN-Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 19517 (sogenannte Genfer Flüchtlingskonvention, kurz GFK), die in Deutschland am 24. Dezember 1953 in Kraft getreten ist. Der persönliche Anwendungsbereich wird durch das Zusatzprotokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31. Januar 1967 ergänzt.8 Die GFK enthält mit Art. 12 Abs. 1 GFK eine Kollisionsnorm und ist somit für den Flüchtling im IPR relevant. In Art. 12 Abs. 1 GFK wird geregelt, dass sich das Personalstatut jedes Flüchtlings nach dem Recht des Landes seines Wohnsitzes oder, in Ermangelung eines Wohnsitzes, nach dem Recht seines Aufenthaltslandes bestimmt. Wer in der breiten Gruppe von „Flüchtlingen“ Anknüpfungssubjekt dieser Kollisionsnorm ist, soll an späterer Stelle dargestellt werden. Neben der GFK als zentralem Instrument in Europa gibt es auch einige regionale Abkommen, die gegenüber der GFK weitergehende Definitionen enthalten, wie die Konvention der Organisation für Afrikanische Einheit von 1969 (OAU), die Cartagena Erklärung der lateinamerikanischen Staaten von 1984 und die Bangkok Prinzipien der Asian-African Legal Consultative Organization von 2001 (AALCO). 9 Nicht nur auf staatsvertraglicher Ebene, sondern auch auf EU-Ebene wird eine einheitliche rechtliche Handhabung der Flüchtlingsproblematik angestrebt. Seit ungefähr 2003 hat die EU eine Fülle an Richtlinien erlassen, die
5
Schulze, in: Nomos Kommentar, BGB, 2016, Art. 5 EGBGB Anh. II Rn. 1. Bausback, in: Staudinger, BGB, 2013, Art. 5 EGBGB Anh. IV Rn. 5; Hohloch, in: Erman, BGB, 2017, Art. 5 EGBGB Anh. IV Rn. 5; Thorn, in: Palandt, BGB, 2020, Art. 5 EGBGB Anh. Rn. 3. 7 Volltext abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020); im Folgenden „GFK“. 8 Volltext ebenfalls abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020). 9 Vgl. dazu Schmalz, KJ 2015, 390, 394 f. m.w.N. 6
16
Zweiter Teil: Migration als Herausforderung für das IPR
das Flüchtlings- und Asylrecht der Mitgliedstaaten betreffen. 10 Relevant für das IPR ist die „Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes“.11 Sie wurde ersetzt durch die sogenannte Qualifikationsrichtlinie (RL 2011/95/EU): „Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge und für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes“. 12 Obwohl für das IPR nicht relevant, seien der Vollständigkeit halber die beiden Richtlinien erwähnt, die das einheitliche Verfahren des europarechtlichen Schutzregimes für Flüchtlinge in den Mitgliedstaaten regeln: „Richtlinie 2013/32/EU des europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes“13 und „Richtlinie 2013/33/EU des europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen“.14 Die genannten europäischen Richtlinien zielen darauf ab, die Flüchtlingsdefinition in Europa zu harmonisieren und einen einheitlichen Flüchtlingsstatus zu schaffen. 15 Die Definition des Flüchtlings (im Rechtssinne) stimmt mit der in der GFK überein. Die Vereinheitlichung im europäischen Rechtsraum versteht sich nämlich immer auch als Ergänzung des Schutzregimes der GFK. So stellen die Erwägungsgründe 3, 16 und 17 der RL 2004/83/EG die GFK als zentrales Instrument für die Behandlung von Flüchtlingen im Sekundärrecht heraus und Art. 5 Abs. 3, Art. 9 Abs. 1 und Erwägungsgrund 3 der
10
Vergleiche für einen Überblick v. Hein, in: MünchKommBGB, 2018, Art. 5 EGBGB Anh. II Rn. 19 ff. 11 Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.4.2004, ABl. EU 2004 L 304/12; dazu Marx, AsylG, 2019, § 4 AsylG Rn. 4. 12 Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011, ABl. EU 2011 L 337/9, im Folgenden: „RL2011/95/EU“; dazu v. Hein, in: MünchKommBGB, 2018, Art. 5 EGBGB Anh. II Rn. 21. 13 Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.6.2013, ABl. EG Nr. L 180, S. 60–95. 14 Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.6.2013, ABl. L 180, S. 96–116. 15 Bausback, in: Staudinger, BGB, 2013, Art. 5 EGBGB Anh. IV Rn. 55; Schulze, in: Nomos Kommentar, BGB, 2016, Art. 5 EGBGB Anh. II Rn. 2; Thorn, in: Palandt, BGB, 2020, Art. 5 EGBGB Anh. Rn. 16.
1. Kapitel: Einführung in die Thematik
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RL 2011/95/EG führen dies fort. 16 Zusätzlich führt die RL 2011/95/EU einen subsidiären Schutzstatus ein, der unterhalb des sogenannten Flüchtlingsstatus der GFK steht und einen eigenen Schutz- und Rechtsstatus darstellt. Nach der Systematik der RL 2011/95/EU ist er ein Unterfall des sog. „internationalen Schutzes“ nach Art. 2 lit. a) RL 2011/95/EU und § 1 Abs. 1 Nr. 2 Hs. 2 AsylG und wird auch als „komplementärer Schutz“ (zur GFK) bezeichnet.17 Die RL 2011/95/EU enthält zwar keine Kollisionsnormen, schafft jedoch mit der Einführung des zusätzlichen Schutzstatus aus internationalprivatrechtlicher Perspektive eine weitere Gruppe möglicher Anknüpfungssubjekte. Unter den deutschen nationalen Normen sind für das IPR das AsylG 18 und das AufenthG 19 relevant, die den Schutzstatus nach der GFK ergänzen und die EU-Richtlinien umsetzen. 20 Ähnliche Formen des Flüchtlingsschutzes als eine Mischung aus internationalen und nationalen Normen gibt es im Übrigen auch im nordamerikanischen und australischen Recht, die neben der Flüchtlingsdefinition des GFK zusätzliche Schutzkategorien in ihren nationalen Rechten geschaffen haben. 21 C. Verhältnis der GFK zu anderen Staatsverträgen Neben der GFK gibt es noch weitere Staatsverträge, die für die in dieser Arbeit behandelte Personengruppe relevant sein können. Daher soll hier kurz das Verhältnis der jeweiligen in Betracht kommenden Instrumente zueinander erläutert werden. Flüchtlinge sind häufig auch Staatenlose. Auf staatenlose Personen findet gem. Art. 3 Nr. 2 EGBGB vorrangig das New Yorker UN-Übereinkommen
16
Mankowski, IPRax 2017, 40, 41; Schulze, in: Nomos Kommentar, BGB, 2016, Art. 5 EGBGB Anh. II Rn. 2. 17 Mankowski, IPRax 2017, 40, 42; Mankowski, in: Leible (Hrsg.), General Principles of European Private International Law, 2016, S. 189, 207; Marx, AsylG, 2019, § 4 AsylG Rn. 5. 18 Asylgesetz in der Fassung vom 1.12.2013 (BGBl. 2013 I S. 3474). Zuletzt geändert durch Artikel 6 Integrationsgesetz vom 31.7.2016 (BGBl. 2016 I S. 1939) und Artikel 2 Fünfzigstes Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches – Verbesserung des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung vom 4.11.2016 (BGBl. 2016 I S. 2460). 19 Aufenthaltsgesetz Neufassung vom 25.2.2008 (BGBl. 2008 I S. 162). Zuletzt geändert durch Artikel 5 Integrationsgesetz vom 31.7.2016 (BGBl. 2016 I S. 1939). 20 v. Hein, in: MünchKommBGB, 2018, Art. 5 EGBGB Anh. II Rn. 23; Heusch/Haderlein/Schönenbroicher, Das neue Asylrecht, 2016, Rn. 95; Marx, AsylG, 2019, § 4 AsylG Rn. 1. 21 Vgl. Schmalz, KJ 2015, 390, 395, die als Beispiel den US Immigration and Nationality Act § 101 (a) (42) 8 U.S.C. nennt, der neben dem Schutz nach der GFK zusätzlichen Schutz nach der Anti-Folter-Konvention gewährt.
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Zweiter Teil: Migration als Herausforderung für das IPR
über die Rechtsstellung der Staatenlosen vom 28. September 195422 Anwendung, das in Deutschland am 24. Januar 1977 in Kraft getreten ist. 23 In Art. 1 des Übereinkommens findet sich eine Definition des Staatenlosen, die mit der Definition des Art. 5 Abs. 2 EGBGB übereinstimmt. 24 So ist eine Person staatenlos, die kein Staat aufgrund seines Rechts als Staatsangehörigen ansieht (sogenannte De-iure-Staatenlosigkeit). 25 Ist die Staatsangehörigkeit einer Person aus tatsächlichen Gründen nicht positiv feststellbar spricht man von De-facto-Staatenlosigkeit. 26 Die vorliegende Arbeit behandelt die Entstehung und Umstände der Staatenlosigkeit und ihre kollisionsrechtlichen Folgen nicht im Detail. 27 Es sei nur darauf hingewiesen, dass Art. 12 Abs. 1 des New Yorker Übereinkommens für Staatenlose eine der GFK identische Kollisionsregel enthält und den Personalstatut des Staatenlosen an dessen Wohnsitz anknüpft. Aus diesem Grund braucht das Verhältnis der Abkommen zueinander kollisionsrechtlich nicht entschieden werden. 28 Grundsätzlich ist die GFK jedoch das speziellere Abkommen und geht dem New Yorker UN-Übereinkommen somit bei Überschneidungen im Anwendungsbereich vor.29 Art. 12 Abs. 1 GFK ist auch dann in kollisionsrechtlicher Hinsicht vorrangig, wenn ein älterer zweiseitiger Staatsvertrag, der das Personalstatut betrifft, besteht. So geht Art. 12 Abs. 1 GFK als lex posterior z.B. dem Art. 8 Abs. 3 des Niederlassungsabkommens zwischen dem Deutschen Reich und dem Kaiserreich Persien (sogenanntes „DIN“) vor.30
22 Volltext abrufbar unter (zuletzt abgerufen am 4.6.2020). 23 Hohloch, in: Erman, BGB, 2017, Art. 5 EGBGB Rn. 60. 24 Looschelders, IPR, 2004, Art. 5 EGBGB Anh. Rn. 10. 25 Dörner, in: Nomos Handkommentar BGB, 2019, Art. 5 EGBGB Rn. 6; Hohloch, in: Erman, BGB, 2017, Art. 5 EGBGB Rn. 10; Lorenz, in: BeckOK BGB, 2020, Art. 5 EGBGB Rn. 13. 26 Vgl. Hohloch, in: Erman, BGB, 2017, Art. 5 EGBGB Rn. 11. Zu einer weiteren Problematik im Rahmen von De-facto-Staatsangehörigkeit siehe unten 2. Teil, 2. Kap.,G.III. 27 Für einen Überblick zur Staatenlosigkeit vgl. nur v. Hein, in: MünchKommBGB, 2018, Art. 5 EGBGB Anh. II. 28 Looschelders, IPR, 2004, Art. 5 EGBGB Anh. Rn. 11; Thorn, in: Palandt, BGB, 2020, Art. 5 EGBGB Anh. Rn. 2. 29 v. Hein, in: MünchKommBGB, 2018, Art. 5 EGBGB Anh. I Rn. 3; Schulze, in: Nomos Kommentar, BGB, 2016, Art. 5 EGBGB Anh. I Rn. 1. 30 Bausback, in: Staudinger, BGB, 2013, Art. 5 EGBGB Anh. IV Rn. 64; v. Hein, in: MünchKommBGB, 2018, Art. 5 EGBGB Anh. II Rn. 24; Hohloch, in: Erman, BGB, 2017, Art. 5 EGBGB Rn. 77; Thorn, in: Palandt, BGB, 2020, Art. 5 EGBGB Anh. Rn. 16.
2. Kapitel: Die verschiedenen Personengruppen
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2. Kapitel: Die verschiedenen Personengruppen 2. Kapitel: Die verschiedenen Personengruppen
Der folgende Abschnitt soll einen Überblick über die verschiedenen Personengruppen als Anknüpfungssubjekte für das IPR geben, die landläufig alle als „Flüchtlinge“ bezeichnet werden, vom Recht her jedoch unterschiedlich behandelt werden. Dafür wird zunächst der allgemeine Begriff des Flüchtlings in den Kontext der vorliegenden Arbeit gesetzt (dazu A.). Nach einem Überblick über die relevanten Personengruppen (dazu B.) wird kurz auf die Besonderheiten bei Personen unter Betreuung durch UNO-Stellen eingegangen (dazu C.), bevor sich der nächste Teil schließlich den Flüchtlingen im Sinne der GFK zuwendet (dazu D.). Daran anschließend wird der Schutz von Flüchtlingen im nationalen Recht erläutert (dazu E.). Als letzter Unterfall der „Schutzmigranten“ sollen sodann die subsidiär Schutzberechtigten behandelt werden (dazu F.). In Abgrenzung dazu beschäftigt sich ein weiterer Abschnitt zudem mit Personen, die nicht dem internationalen Schutzregime für Flüchtlinge unterfallen, wie z.B. Wirtschaftsmigranten (dazu G.). Das dritte Kapitel schließt mit dem gefundenen Ergebnis zum Kollisionsrecht (dazu H.) und einem Exkurs zum Internationalen Zivilverfahrensrecht (dazu I.). A. Der Begriff des Flüchtlings Es gibt keine originäre Bedeutung des Flüchtlingsbegriffes, sondern er entsteht im jeweiligen Kontext, wobei grob zwischen dem rechtlichen und dem allgemein bzw. öffentlich gebräuchlichen Begriff unterschieden werden kann. An der gegenwärtigen rechtspolitischen Diskussion um die zunehmende Migration wird deutlich, dass eine gegenseitige Beeinflussung stattfindet. 31 Wie bereits in der Einführung angedeutet, können die Personen, die landläufig als „Flüchtlinge“ bezeichnet werden, aus Sicht des Rechts zunächst allgemein in die Gruppen der Schutz- und Wirtschaftsmigranten eingeteilt werden, innerhalb derer man jeweils weiter differenzieren muss. Diese Grobunterteilung hat insbesondere Bedeutung für das IPR, was an späterer Stelle ausführlich erläutert wird. 32 Vorliegend werden begriffliche Differenzierungen daher nur vorgenommen, wenn es aus Sicht des Rechts darauf ankommt und im Übrigen der Begriff des „Flüchtlings“ verwendet.33
31
Vgl. Schmalz, KJ 2015, 390 f. Siehe 2. Teil, 2.Kap., H. und 6. Kap. 33 Zur Debatte um die Begriffe „Flüchtling“ und „Geflüchteter“ im allgemeinen Sprachgebrauch siehe (letzter Abruf: 4.6.2020) und (letzter Abruf: 4.6.2020). Sie hat auf die nachfolgenden rechtlichen Ausführungen zur Person des „Flüchtlings“ keine Auswirkung. 32
20
Zweiter Teil: Migration als Herausforderung für das IPR
In der Gruppe der Schutzmigranten nimmt der Flüchtling im Sinne der GFK eine herausragende Bedeutung ein. Die GFK resultierte aus der Notwendigkeit rechtliche Rahmenbedingungen für die Fluchtbewegungen der beiden Weltkriege zu schaffen und ist somit auch Ursprung des Rechtsbegriffs.34 Sie verdrängt auf internationaler Ebene alle anderen Instrumente zum Schutz des Flüchtlings und beeinflusst maßgeblich die Rechtsakte der EU auf diesem Gebiet, wie die zahlreichen Verweise auf die GFK in der RL 2011/95/EU, die den subsidiären Schutzstatus als Ergänzung schuf, zeigen. Im Verhältnis zu Flüchtlingen im Sinne der GFK (im Folgenden: Konventionsflüchtlinge) werden andere Migranten häufig auch unter dem Begriff des De-facto-Flüchtlings zusammengefasst.35 Wie angedeutet, lassen diese sich jedoch noch weiter unterteilen, was das Bedürfnis aus rechtlicher Sicht aufzeigt, innerhalb flüchtender Personengruppen immer mehr zu differenzieren und neue Kategorien zu schaffen. Dieser Hintergrund hat seinen Ursprung in der Entwicklung der Nationalstaaten, bei der die Stärkung der Souveränität und den Rechten des Staatsbürgers eine Abgrenzung nach außen erforderte. 36 In der heutigen Situation zunehmender Migration, gar Massenmigration, lässt sich eine Stärkung eben dieser Abgrenzung und damit strengere Handhabe der Frage, wer „dazugehören“ darf, beobachten. Kants Idee eines weltbürgerlichen Rechts des Flüchtlings 37 hängt in der Realität also letztlich stark von politischen Entscheidungen und dem rechtlichen Rahmen der Aufnahmeländer ab.38 Es ist ein Anliegen dieser Arbeit, gerade die jüngsten Kategorisierungen und Differenzierungen insbesondere aus der Sicht des Internationalen Privatrechts auf ihre Legitimation hin zu überprüfen. Auch und gerade aus Sicht des Privatrechts ist das „demokratische Paradoxon“ relevant, das sich aus der Tatsache ergibt, dass die Personen, die die Festlegung verschiedener Definitionen und Schutzstatus betrifft, am Findungsprozess selbst nicht teilnehmen.39 Dieses Paradoxon lässt sich wohl nur auflösen, wenn man sich auf den Standpunkt stellt, dass der Flüchtende sich freiwillig der existierenden demokratischen Ordnung mit ihren geltenden Normen und ihrer aktuellen gesellschaftlichen Werteordnung des Zufluchtsstaates unterstellt. 40 Die bereits existierenden oder zukünftigen privaten Rechtsverhältnisse des Flüchtlings hiermit in Ausgleich zu bringen und zu gewährleisten, ist Aufgabe des Internationalen Privatrechts. 34
Schmalz, KJ 2015, 390, 392. Dazu Lass, Der Flüchtling im IPR, 1995, S. 14 f. 36 Schmalz, KJ 2015, 390, 397. 37 Kant, Zum Ewigen Frieden: Ein philosophischer Entwurf, 1795, S. 36. 38 Schmalz, KJ 2015, 390, 400 spricht davon, dass das „internationale Flüchtlingsrecht durch eine Logik der 'Kostenverteilung' geprägt“ ist. 39 Dazu Schmalz, KJ 2015, 390, 400 ff. m.w.N. 40 Schmalz, KJ 2015, 390, 402 f. 35
2. Kapitel: Die verschiedenen Personengruppen
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B. Überblick über die relevanten Personengruppen Der Übersichtlichkeit halber sollen die Personengruppen kurz dargestellt werden. Zunächst gibt es Personen, die unter besonderer Betreuung der UNO stehen. Ihre Rechtsstellung ist im AHKG 41 23 vom 17. März 1950 über die Rechtsverhältnisse verschleppter Personen und Flüchtlinge geregelt, das eine dem Art. 12 GFK vergleichbare Kollisionsnorm enthält. 42 Hinzu kommen als erste Komponente des sogenannten internationalen Schutzes die Personen, die einen Flüchtlingsstatus besitzen, der sich aus der Definition des Art. 1 A GFK oder des Flüchtlingsprotokolls ableitet. Diese Personen stehen an der Spitze des internationalen Schutzregimes für Flüchtlinge. 43 Ihr Rechtsstatus wird im deutschen Recht von § 2 Abs. 1 AsylG auf Personen erstreckt, die den Status als Asylberechtigte nach Art. 16a GG aufgrund politischer Verfolgung innehaben. 44 Die zweite Komponente des internationalen Schutzes bilden die subsidiär Schutzberechtigten, deren Status durch die RL 2011/95/EU geschaffen wurde, der in § 4 AsylG umgesetzt wurde. Sie genießen einen mit den Konventionsflüchtlingen vergleichbaren Schutz. 45 Die bisher genannten Personen verbindet, dass sie aus Angst vor politischer Verfolgung oder auch wegen Kriegen ihr Heimatland verlassen. Sie sind daher unter dem Begriff „Schutzmigranten“ zusammenzufassen. Personen ohne Flüchtlingsstatus oder subsidiäre Schutzberechtigung können einen (auch dauerhaften) Aufenthaltstitel bekommen, der verschiedene Gründe haben kann, wie beispielweise das Bestehen eines Abschiebeverbots aber auch das Absolvieren von Bildungsmaßnahmen.46 Ferner gibt es die Personengruppe der (noch) nicht anerkannten Asylbewerber, Geduldeten und Personen ohne Aufenthaltstitel. 47 Solche Migranten verlassen ihre Heimat in der Regel aus wirtschaftlichen Gründen und sind daher unter dem Begriff „Wirtschaftsmigranten“ zusammenzufassen. 48 41
Gesetz der Alliierten Hohen Kommission. Bausback, in: Staudinger, BGB, 2013, Art. 5 EGBGB Anh. IV Rn. 38 f.; v. Hein, in: MünchKommBGB, 2018, Art. 5 EGBGB Anh. II Rn. 17; Lass, Der Flüchtling im IPR, 1995, S. 66 f.; Looschelders, IPR, 2004, Art. 5 EGBGB Anh. Rn. 31; Schulze, in: Nomos Kommentar, BGB, 2016, Art. 5 EGBGB Anh. II Rn. 10 ff.; Thorn, in: Palandt, BGB, 2020, Art. 5 EGBGB Anh. Rn. 13. 43 v. Hein, in: MünchKommBGB, 2018, Art. 5 EGBGB Anh. II Rn. 6; Schulze, in: Nomos Kommentar, BGB, 2016, Art. 5 EGBGB Anh. II Rn. 16 f.; Thorn, in: Palandt, BGB, 2020, Art. 5 EGBGB Anh. Rn. 15 f. 44 v. Hein, in: MünchKommBGB, 2018, Art. 5 EGBGB Anh. II Rn. 7; Looschelders, IPR, 2004, Art. 5 EGBGB Anh. Rn. 24. 45 Mankowski, IPRax 2017, 40, 42; Marx, AsylG, 2019, § 4 AsylG Rn. 2. 46 Mankowski, IPRax 2017, 40, 45. 47 Ibid. 48 Begriffe bei Weller, DGIR 2018, 247. 42
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Zweiter Teil: Migration als Herausforderung für das IPR
C. Betreuung durch UNO-Stellen Der im AHKG 23 vom 17. März 1950 über die Rechtsverhältnisse verschleppter Personen und Flüchtlinge geregelte Status betrifft Personen, die keinen Flüchtlingsstatus nach der GFK haben, die dem AHKG 23 als lex posterior vorgeht.49 Die in Art. 1 AHKG i.V.m. § 8 HeimatlAuslG 50 enthaltenen Kollisionsnormen ersetzen die Staatsangehörigkeit im IPR vollumfänglich und setzen an die Stelle den gewöhnlichen Aufenthalt und ersatzweise den schlichten Aufenthalt. Der einzige Unterschied zu Art. 12 GFK besteht darin, dass Art. 2 AHKG das Erbrecht von seiner Regelung zum Kollisionsrecht ausnimmt. 51 Das Gesetz ist indes mittlerweile außer Kraft getreten und auch unter den Altfällen betrifft es nur eine kleine Gruppe von Personen.52 D. Genfer Flüchtlingskonvention Die GFK regelt den wichtigsten Schutzstatus für Flüchtlinge auf internationaler Ebene. Im System der RL 2011/95/EU sind die Konventionsflüchtlinge neben den subsidiär Schutzberechtigten Teil des „Internationalen Schutzes“ und nehmen dabei die stärkere Position ein. Im nationalen Recht sind die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in § 3 AsylG und die näheren Voraussetzungen in §§ 3a-3e AsylG geregelt. 53 Die dort gewählte „Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft“ ist zwar etwas irreführend, da diese, wenn die Voraussetzungen des Art. 1 GFK erfüllt sind, streng genommen nicht mehr zuerkannt werden muss. 54 Jedoch ist auch bei Flüchtlingen, die keine Asylberechtigung haben und Flüchtlinge im Sinne der Definition des Art. 1 GFK sind, für einen legalen Aufenthalt im Bundesgebiet zunächst ein behördlicher Eingliederungsakt erforderlich und eine bloße Aufenthaltsnahme als de facto-
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Bausback, in: Staudinger, BGB, 2013, Art. 5 EGBGB Anh. IV Rn. 45; Looschelders, IPR, 2004, Art. 5 EGBGB Anh. Rn. 31; Schulze, in: Nomos Kommentar, BGB, 2016, Art. 5 EGBGB Anh. II Rn. 11; Thorn, in: Palandt, BGB, 2020, Art. 5 EGBGB Anh. Rn. 13. 50 Das „Gesetz über die Rechtsstellung heimatloser Ausländer im Bundesgebiet vom 25. April 1951“ wurde in Ergänzung des AHKG 23 erlassen und enthält in § 8 eine Regelung zum Schutz wohlerworbener Rechte, abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020). 51 Bausback, in: Staudinger, BGB, 2013, Art. 5 EGBGB Anh. IV Rn. 39; Hohloch, in: Erman, BGB, 2017, Art. 5 EGBGB Rn. 70; Looschelders, IPR, 2004, Art. 5 EGBGB Anh. Rn. 30; Lorenz, in: BeckOK, BGB, 2020, Art. 5 EGBGB Rn. 47; Schulze, in: Nomos Kommentar, BGB, 2016, Art. 5 EGBGB Anh. II Rn. 12. 52 Bausback, in: Staudinger, BGB, 2013, Art. 5 EGBGB Anh. IV Rn. 8/45; Looschelders, IPR, 2004, Art. 5 EGBGB Anh. Rn. 31; Schulze, in: Nomos Kommentar, BGB, 2016, Art. 5 EGBGB Anh. II Rn. 11; Thorn, in: Palandt, BGB, 2020, Art. 5 EGBGB Anh. Rn. 13. 53 Vgl. Kluth, in: BeckOK, AuslR, 2020, § 3 AsylG Rn. 2. 54 Preisner, in: BeckOK, AuslR, 2020, § 2 AsylG Rn. 3.
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Flüchtling ist nicht ausreichend. 55 Davon unabhängig hat jedoch das Gericht im Zivilverfahren die Flüchtlingseigenschaft stets eigenständig zu prüfen. 56 Bei der Feststellung kann es unter anderem auf das Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft 57, das vom Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen herausgegeben wird, und auf Länderberichte z.B. des BAMF 58 zurückgreifen. Nach § 13 Abs. 2 S. 1 AsylG wird mit jedem Asylantrag neben der Anerkennung als Asylberechtigter daher immer auch internationaler Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG (Flüchtlingsstatus oder subsidiärer Schutz) beantragt. I. Personen, die nach den in Art. 1 A Nr. 1 GFK genannten Vereinbarungen Flüchtlinge sind Art. 1 A Nr. 1 GFK lautet: „Im Sinne dieses Abkommens findet der Ausdruck ‚Flüchtling‘ auf jede Person Anwendung, die in Anwendung der Vereinbarungen vom 12. Mai 1926 und 30. Juni 1928 oder in Anwendung der Abkommen vom 28. Oktober 1933 und 10. Februar 1938 und des Protokolls vom 14. September 1939 oder in Anwendung der Verfassung der Internationalen Flüchtlingsorganisation als Flüchtling gilt. […]“
Neben ihrer eigenen Definition des „Flüchtlings“ erweitert die GFK somit ihren persönlichen Anwendungsbereich in Art. 1 A Nr. 1 GFK auf Personen, die in verschiedenen anderen Abkommen als Flüchtlinge gelten. 59 Dies sind zunächst sogenannte Nansenflüchtlinge 60 i.S.d. Vereinbarungen vom 12. Mai 1926 und 30. Juni 1928 und zudem Personen, die nach der Verfas-
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Bausback, in: Staudinger, BGB, 2013, Art. 5 EGBGB Anh. IV Rn. 10. Arnold, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinkhammer/Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 25, 29 f. 57 UNHCR, Handbuch und Richtlinien über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft gemäß dem Abkommen von 1951 und dem Protokoll von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, 2011 (deutsche Version 2013), abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020). 58 BAMF, Migrations-Info Logistik (MIlo), abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020). 59 v. Hein, in: MünchKommBGB, 2018, Art. 5 EGBGB Anh. II Rn. 28 f.; Hohloch, in: Erman, BGB, 2017, Art. 5 EGBGB Rn. 77; Lorenz, in: BeckOK BGB, 2020, Art. 5 EGBGB Rn. 26; Schulze, in: Nomos Kommentar, BGB, 2016, Art. 5 EGBGB Anh. II Rn. 16; Thorn, in: Palandt, BGB, 2020, Art. 5 EGBGB Anh. Rn. 17. 60 Der Nansen Pass wurde 1922 unter den Auspizien des Völkerbunds eingeführt, b enannt nach Fridtjof Nansen, dem ersten Hohen Kommissar des Völkerbundes für das Flüchtlingswesen. Vgl. Bausback, in: Staudinger, BGB, 2013, Art. 5 EGBGB Anh. IV Rn. 3/54. 56
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Zweiter Teil: Migration als Herausforderung für das IPR
sung der International Refugee Organisation (IRO61) Flüchtlinge sind. Ferner Personen, die unter die Definition des Art. I des Protokolls vom 14. September 193962 fallen. II. Der Flüchtling i.S.d. Definition des Art. 1 A Nr. 2 GFK und des Flüchtlingsprotokolls Nach Art. 1 A Nr. 2 GFK findet der Ausdruck „Flüchtling“ auf jede Person Anwendung: „Die infolge von Ereignissen, die vor dem 1. Januar 1951 eingetreten sind, und aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will; oder die sich als staatenlose infolge solcher Ereignisse außerhalb des Landes befindet, in welchem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen der erwähnten Befürchtungen nicht dorthin zurückkehren will.“
Die zeitliche Beschränkung in der Definition auf Ereignisse vor dem 1. Januar 1951 wird von Art. I Abs. 2 des Flüchtlingsprotokolls revidiert: „Außer für die Anwendung des Absatzes 3 dieses Artikels bezeichnet der Ausdruck ‚Flüchtling‘ im Sinnes dieses Protokolls jede unter die Begriffsbestimmung des Artikels des Abkommens fallende Person, als seien die Worte ‚infolge von Ereignissen, die vor dem 1. Januar 1951 eingetreten sind ...‘ sowie die Worte‘ ‚... infolge solcher Ereignisse‘ in Artikel I, Abschnitt A, Absatz 2 nicht enthalten.“
1. Persönlicher Anwendungsbereich Hinsichtlich des persönlichen Anwendungsbereichs spricht die Definition in Art. 1 GFK von dem Land, dessen Staatsangehörigkeit eine Person besitzt, jedoch sind aufgrund der Spezialität der GFK auch staatenlose Personen erfasst. 63 Für die EU-Mitgliedstaaten legt die RL 2011/95/EU des Weiteren
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Die IRO wurde am 1.1.1951 aufgelöst und durch das Amt des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für das Flüchtlingswesen ersetzt (vgl. Bausback, in: Staudinger, BGB, 2013, Art. 5 EGBGB Anh. IV Rn. 3). 62 Additional Protocol to the Provisional Arrangement and to the Convention (signed at Geneva on July 4th, and February 10th, 1938), respectively, concerning the Status of Refugees coming from Germany, abrufbar unter: (letzter Abruf: 4.6.2020). 63 Lorenz, in: BeckOK BGB, 2020, Art. 5 EGBGB Rn. 26; Schulze, in: Nomos Kommentar, BGB, 2016, Art. 5 EGBGB Anh. II Rn. 21.
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fest, dass nur Drittstaaten als Herkunftsland in Betracht kommen. 64 Bei Mehrstaatern kann das Land einer jeden Staatsangehörigkeit Herkunftsland sein, wobei Mehrstaater keine Flüchtlinge sind, wenn sie noch den Schutz eines ihrer Herkunftsländer in Anspruch nehmen können.65 Art. 1 D-F GFK nennt die Personengruppen, die vom Anwendungsbereich der Konvention ausgenommen sind. Nach Art. 1 D GFK i.V.m. § 3 Abs. 3 AsylG bleiben Palästina-Flüchtlinge in der Kompetenz der UNO. 66 Art. 1 E GFK nimmt volksdeutsche Flüchtlinge, die nach Art. 116 Abs. 1 GG den deutschen Staatsangehörigen gleichgestellt sind, von der Anwendung aus. 67 Schließlich gelten gem. Art. 1 F GFK i.V.m. § 3 Abs. 2 AsylG solche Personen des Schutzes unwürdig, gegen die ein schwerwiegender Verdacht besteht, dass sie Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit o.ä. begangen haben.68 Insgesamt ist diese Regelung aufgrund des damit verbundenen Ausschlusses des Flüchtlingsschutzes für die betreffende Person eng auszulegen.69 Denn § 3 Abs. 2 AsylG ist insofern problematisch, als er den Kreis der Personen, denen die Rechtsstellung nach der GFK in Deutschland zukommt, enger zieht als die GFK selbst. Bei der Prüfung ist daher der Maßstab des Art. 33 Abs. 2 GFK anzuwenden, wonach ein Flüchtling nur dann nicht besonderen Abschiebungsschutz genießt, wenn er aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit des Landes anzusehen ist, in dem er sich befindet, oder eine Gefahr für die Allgemeinheit dieses Staates bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder eines besonders schweren Vergehens rechtskräftig verurteilt wurde. 70
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Vgl. Art. 2 lit. d) RL 2011/95/EU: „Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck [...] ‚Flüchtling‘ einen Drittstaatsangehörigen, [...]oder einen Staatenlosen [...]“; sowie erläuternd v. Hein, in: MünchKommBGB, 2018, Art. 5 EGBGB Anh. II Rn. 36. 65 Arnold, in Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinkhammer/Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 25, 32; Lorenz, in: BeckOK BGB, 2020, Art. 5 EGBGB Rn. 26; Schulze, in: Nomos Kommentar, BGB, 2016, Art. 5 EGBGB Anh. II Rn. 21. 66 Bausback, in: Staudinger, BGB, 2016, Art. 5 EGBGB Anh. IV Rn. 48; v. Hein, in: MünchKommBGB, 2018, Art. 5 EGBGB Anh. II Rn. 41; Hohloch, in: Erman, BGB, 2017, Art. 5 EGBGB Rn. 78; Looschelders, IPR, 2004, Art. 5 EGBGB Anh. Rn. 18; Lorenz, in: BeckOK BGB, 2020, Art. 5 EGBGB Rn. 28; Thorn, in: Palandt, BGB, 2020, Art. 5 EGBGB Anh. Rn. 19. 67 Looschelders, IPR, 2004, Art. 5 EGBGB Anh. Rn. 18. 68 v. Hein, in: MünchKommBGB, 2018, Art. 5 EGBGB Anh. II Rn. 40; Hohloch, in: Erman, BGB, 2017, Art. 5 EGBGB Rn. 79; Looschelders, IPR, 2004, Art. 5 EGBGB Anh. Rn. 18; Lorenz, in: BeckOK BGB, 2020, Art. 5 EGBGB Rn. 28; Schulze, in: Nomos Kommentar, BGB, 2016, Art. 5 EGBGB Anh. II Rn. 24; Thorn, in: Palandt, BGB, 2020, Art. 5 EGBGB Anh. Rn. 19. 69 Kluth, in: BeckOK, AuslR, 2020, § 3 AsylG Rn. 19. 70 Vgl. Kluth, ZAR 2016, 121, 130; Thym, NVwZ 2016, 409, 415.
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2. Sachlicher Anwendungsbereich: Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund Um als Flüchtling i.S.d. Art. 1 A Nr. 2 GFK zu gelten, muss die betreffende Person aus einem der dort aufgeführten Gründe Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder bestimmten politischen Überzeugung in ihrem Heimatstaat verfolgt werden und aufgrund dieser sein Heimatland verlassen haben. 71 Der Begriff der „Flucht“ ist weit auszulegen, sodass eine Flucht im engeren Sinne, also z.B. Exil, nicht erforderlich ist und zudem auch solche Personen erfasst werden, die unter normalen Verhältnissen ausgereist sind und denen es nicht mehr zuzumuten ist, in ihr Heimatland zurückzukehren (sog. réfugiés sur place).72 Die Verfolgung muss auf menschliches Handeln, aber nicht notwendigerweise unmittelbar auf Staatsgewalt zurückzuführen sein, sofern diese außerstande ist, Kräfte wie Milizen, Terrororganisationen etc. zu kontrollieren oder diese gar deckt.73 Die Art und Qualität der Verfolgungshandlungen sind in § 3a AsylG umschrieben. 74 Es muss sich um wiederholte, schwerwiegende Verletzung grundlegender Menschenrechte handeln (z.B. Recht auf Leben, Schutz vor Folter und Sklaverei, vgl. die Regelbeispiele in § 3a Abs. 2 Nr. 1– 6).75 Ferner muss einer der in Art. 1 A Nr. 2 GFK aufgeführten Verfolgungsgründe wie Rasse (ethnische Merkmale wie z.B. Hautfarbe), Religion (vgl. dazu § 3b Abs. 1 Nr. 2 AsylG) oder Nationalität vorliegen. Nach § 3b Abs. 2 AsylG ist es allerdings bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, unerheblich, ob er tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden. 71
Für einen Überblick über die einzelnen Voraussetzungen vgl. Ellerbrok/Hartmann, ZJS 2016, 157 f. 72 Vgl. Arnold, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinkhammer/Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 25, 31; Bausback, in: Staudinger, BGB, 2013, Art. 5 EGBGB Anh. IV Rn. 63; Budzikiewicz, StAZ 2017, 289, 291 f.; v. Hein, in: MünchKommBGB, 2018, Art. 5 EGBGB Anh. II Rn. 38; Lorenz, in: BeckOK BGB, 2020, Art. 5 EGBGB Rn. 26; Thorn, in: Palandt, BGB, 2020, Art. 5 EGBGB Anh. Rn. 18. 73 Arnold, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinkhammer/Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 25, 34; Hohloch, in: Erman, BGB, 2017, Art. 5 EGBGB Rn. 80; Lorenz, in: BeckOK BGB, 2020, Art. 5 EGBGB Rn. 26; Thorn, in: Palandt, BGB, 2020, Art. 5 EGBGB Anh. Rn. 18. 74 Zu den Voraussetzungen im Einzelnen vgl. Kluth, in: BeckOK, AuslR, 2020, § 3a AsylG Rn. 4 ff. 75 v. Hein, in: MünchKommBGB, 2018, Art. 5 EGBGB Anh. II Rn. 44; zu Umwelt- und Klimaflüchtlingen vgl. den Exkurs bei Arnold, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/ Klinkhammer/Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 25, 34 ff.
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In § 3b AsylG werden die in der GFK genannten Verfolgungsgründe näher spezifiziert und die Flüchtlingsdefinition wird in § 3c AsylG um weitere Elemente wie den Akteuren, von denen die Verfolgung ausgehen kann und bestimmte Verfolgungshandlungen ergänzt. 76 Insgesamt beurteilt das BAMF das Vorliegen der Verfolgung aufgrund einer objektiven Gefahrenprognose 77, bei der das subjektive Furchtempfinden durchaus zu berücksichtigen ist. 78 Ein rein subjektives irrationales Furchtempfinden reicht hingegen nicht aus. Kein Verfolgungsgrund im Sinne der GFK ist zudem die bloße Unzufriedenheit mit wirtschaftlichen Verhältnissen. 79 Ausgeschlossen ist der Schutzstatus nach der GFK dann, wenn die Möglichkeit des internen Schutzes im Heimatland, etwa durch politische Parteien oder NGOs besteht (sog. Subsidiarität des internationalen Schutzes). 80 Die Einzelheiten regelt im nationalen Recht § 3e AsylG. 81 Nach § 3 Abs. 1 AsylG wird Personen, die der Definition der GFK unterfallen, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Grundsätzlich ist die Flüchtlingseigenschaft (z.B. im Zivilverfahren) aber auch dann materiell an diesen Voraussetzungen zu prüfen, wenn noch keine Zuerkennung im Asylverfahren nach dem AsylG erfolgt ist.82 3. Beispiele Im Folgenden sollen kurz zwei Beispiele aus der jüngeren Rechtsprechung dargestellt werden, bei denen sich die Gerichte mit den Voraussetzungen der Flüchtlingseigenschaft nach der GFK befassen mussten.
76 Bausback, in: Staudinger, BGB, 2013, Art. 5 EGBGB Anh. IV Rn. 72; v. Hein, in: MünchKommBGB, 2018, Art. 5 EGBGB Anh. II Rn. 42; detailliert zu den einzelnen Verfolgungsgründen vgl. Kluth, in: BeckOK, AuslR, 2020, § 3b AsylG Rn. 2 ff. 77 Vgl. zu den Anforderungen an die Voraussetzungen des Art. 3 EMRK EGMR, Urteil v. 28.2.2008 – Nr. 37201/06, Saadi ./. Italien, NVwZ 2008, 1330, Rn. 125 ff. 78 Kluth, in: BeckOK, AuslR, 2020, § 3 AsylG Rn. 9. 79 Bausback, in: Staudinger, BGB, 2013, Art. 5 EGBGB Anh. IV Rn. 62; Lorenz, in: BeckOK BGB, 2020, Art. 5 EGBGB Rn. 26; Schulze, in: Nomos Kommentar, BGB, 2016, Art. 5 EGBGB Anh. II Rn. 20; Thorn, in: Palandt, BGB, 2020, Art. 5 EGBGB Anh. Rn. 18; Thym, NVwZ 2015, 1625, 1629. 80 v. Hein, in: MünchKommBGB, 2018, Art. 5 EGBGB Anh. II Rn. 48; Thym, NVwZ 2015, 1625, 1628; vgl. dazu auch §§ 3d–e AsylG, die Art. 7 RL 2011/95/EU umsetzen. 81 Vgl. ausführlich Kluth, in: BeckOK, AuslR, 2020, § 3e AsylG Rn. 2 ff. 82 BGH, Urteil v. 11.10.2006 – XII ZR 79/04, JZ 2007, 738; Bausback, in: Staudinger, BGB, 2013, Art. 5 EGBGB Anh. IV Rn. 56; Hohloch, in: Erman, BGB, 2017, Art. 5 EGBGB Rn. 81/95; Lorenz, in: BeckOK BGB, 2020, Art. 5 EGBGB Rn. 40; Mankowski, IPRax 2017, 40, 45; Rauscher, JZ 2007, 741, 742; Schulze, in: Nomos Kommentar, BGB, 2016, Art. 5 EGBGB Anh. II Rn. 19; Thorn, in: Palandt, BGB, 2020, Art. 5, EGBGB Anh. Rn. 22. Es gibt kein eigenständiges Verfahren neben dem Asylverfahren für die Zuerkennung des Flüchtlingsschutzes, vgl. Preisner, in: BeckOK, AuslR, 2020, § 1 AsylG Rn. 10.
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Das VG Düsseldorf hatte über die Flüchtlingseigenschaft zweier Angehöriger der muslimischen Minderheit Rohingya in Myanmar (Vater und Sohn) zu entscheiden. Das Gericht sah drohende gravierende Menschenrechtsverletzungen durch das Militär und die Behörden an dieser muslimischen Minderheit als erwiesen an (Verfolgungshandlung) und bejahte mit dem Vorliegen des Verfolgungsgrunds (Zugehörigkeit zu den Rohingya) und der beachtlichen Wahrscheinlichkeit eines Gefahreneintritts die Voraussetzungen der Flüchtlingsdefinition, nach einer sehr ausführlichen Subsumtion und Begründung. 83 Anders urteilte das VG Augsburg, das über den Flüchtlingsstatus eines Afghanen zu entscheiden hatte, der den Hazara, einer von den Taliban verfolgten ethnischen Minderheit, angehörte. 84 Das Gericht verneinte die Flüchtlingseigenschaft mit dem Argument. dass hinsichtlich der Hazara keine hinreichende Verfolgungsdichte in Afghanistan vorläge und der Kläger zudem die individuelle Verfolgung i.S.d. § 3 Abs. 1 AsylG nicht hinreichend dargelegt habe.85 Zudem erachtete es hinsichtlich des Verfolgungsgrunds die Diskriminierung der Hazara als nicht ausreichend an und verwies auf die Möglichkeit, Schutz im eigenen Land zu finden. 86 Die beiden Urteile verdeutlichen, dass sich bei der Entscheidung über die Flüchtlingseigenschaft schablonenartige Lösungen verbieten, sondern sie vielmehr die Prüfung aller Umstände des Einzelfalls voraussetzt. Insbesondere die hierfür erforderliche sorgfältige Sachverhaltsermittlung dürfte für die Gerichte – vor allem, wenn die Flüchtlingseigenschaft „nur“ eine Vorfrage beispielsweise im Zivilprozess betrifft – auch in Zukunft mit den größten Herausforderungen und Schwierigkeiten verbunden sein. 4. Verlust der Flüchtlingseigenschaft Art. 1 C GFK erläutert näher, wie die Flüchtlingseigenschaft verloren geht, z.B., wenn der Flüchtling selbst wieder Beziehungen zu seinem Herkunftsland aufnimmt, Art. 1 C Nr. 4 GFK, oder die objektiven Gründe für die Flucht entfallen sind, Art. 1 C Nr. 5 GFK.87 Zu ersterem zählt zum Beispiel 83 VG Düsseldorf, Urteil v. 13.9.2017 – 5 K 7023/17.A; Beck RS 2017, 140565, Rn. 32 ff. 84 VG Augsburg, Urteil v. 19.1.2017 – Au 5 K 16.32053, BeckRS 2017, 101100. 85 VG Augsburg, Urteil v. 19.1.2017 – Au 5 K 16.32053, BeckRS 2017, 101100 Rn. 27 f. 86 VG Augsburg, Urteil v. 19.1.2017 – Au 5 K 16.32053, BeckRS 2017, 101100, Rn. 29. 87 Bausback, in: Staudinger, BGB, 2013, Art. 5 EGBGB Anh. IV Rn. 57; Budzikiewicz, StAZ 2017, 289, 292; Hohloch, in: Erman BGB, 2017, Art. 5 EGBGB Rn. 79; Looschelders, IPR, 2004, Art. 5 EGBGB Anh. Rn. 18; Lorenz, in: BeckOK BGB, 2020, Art. 5 EGBGB Rn. 29; Mankowski, IPRax 2017, 40, 41; Schulze; in: Nomos Kommentar, BGB, 2016, Art. 5 EGBGB Anh. II Rn. 23.
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die bewusste Ablehnung des einmal erlangten Flüchtlingsstatus und die damit verbundene Wiedererlangung des Passes vom Herkunftsland. 88 Dabei darf die Flüchtlingseigenschaft nicht vorschnell bei jedem Kontakt verneint werden. 89 So geht insbesondere das UNHCR-Handbuch zur Bestimmung der Flüchtlingseigenschaft davon aus, dass ein Kontakt in Hinblick auf bestimmte Dienstleistungen, wie z.B. Beschaffung von Abstammungsurkunden, nicht ausreicht, um von einer Wiederaufnahme der Beziehungen i.S.d. Art. 1 C Nr. 4 GFK auszugehen.90 Das UNHCR-Handbuch ist zwar rechtlich nicht bindend, liefert aber wichtige Hinweise für die Auslegung der GFK.91 Daneben ist auch bei einer Einbürgerung in Deutschland, geregelt in den §§ 8 ff. StAG i.V.m. den Bestimmungen des Aufenthaltsgesetzes, von einem Ende der Anwendbarkeit der GFK auszugehen. 92 5. Rechtsfolgen Der Status als Konventionsflüchtling bringt zahlreiche Rechte für die Betro ffenen mit sich. 93 Diese werden nicht in § 3 AsylG genannt, sondern folgen unmittelbar aus der GFK und der RL 2011/95/EU.94 In Umsetzung dieser Vorgaben normiert das innerstaatliche Recht die wichtigsten Ansprüche. 95 Dazu gehört gem. § 25 Abs. 2 S. 1 i.V.m. § 26 Abs. 1 S. 2 AufenthG der Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung für drei Jahre. Die Aufenthaltsgenehmigung berechtigt gem. § 25 Abs. 1 S. 3 AufenthG zur Erwerbstätigkeit. Nach fünf Jahren kann den anerkannten Flüchtlingen gem. 88
Zum Beispiel eines Iraners vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss v. 7.7.1995 – 16 UF 397/94, BeckRS 1995, 10093 sowie zum Beispiel eines Libanesen vgl. OLG Nürnberg, Beschluss v. 27.4.2016 – 11 W 1438/15, NJOZ 2017, 88: „Seine Flüchtlingseigenschaft hat spätestens mit der Beantragung dieses Nationalpasses geendet, weil er sich ‚unter den Schutz des Verfolgerstaates‘ begeben hat“. 89 Vgl. zur Abgrenzung BVerwG, Urteil v. 2.12.1991 – 9 C 126.90, NVwZ 1992, 679, 681: „[…] ist bei der Entscheidung, unter welchen Voraussetzungen hiernach die Rechtsstellung des Flüchtlings verloren geht, zwischen tatsächlicher erneuter Inanspruchnahme des Schutzes und gelegentlichen und beiläufigen Kontakten mit den Behörden seines Heimatstaates zu unterscheiden“. 90 UN High Commissioner for Refugees (UNHCR), Handbuch und Richtlinien über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft gemäß dem Abkommen von 1951 und dem Protokoll von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, 2011 (deutsche Version 2013), S. 29 Rn. 121, abrufbar unter https://www.refworld.org/cgi bin/texis/vtx/rwmain/opendocpdf.pdf?reldoc=y&docid=526632914> (letzter Abruf: 4.6.2020). 91 Vgl. (letzter Abruf: 4.6.2020). 92 Looschelders, IPR, 2004, Art. 5 EGBGB Anh. Rn. 18. 93 Überblick bei Preisner, in: BeckOK, AuslR, 2020, § 2 AsylG Rn. 9 ff. 94 Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, AsylG, 2020, § 3 AsylG Rn. 4. 95 Überblick bei Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, AsylG, 2020, § 3 Rn. 13 ff.
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Zweiter Teil: Migration als Herausforderung für das IPR
§ 26 Abs. 3 AufenthG eine Niederlassungserlaubnis erteilt werden. Im Gegensatz zu der Aufenthaltserlaubnis ist die Niederlassungserlaubnis ein unbefristeter Aufenthaltstitel. Neben einer Niederlassungserlaubnis, die sich nach dem nationalen Recht richtet, ist den Flüchtlingen gem. Art. 17 GFK eine Arbeitsgenehmigung zu erteilen. Zudem sind sie fürsorgerechtlich (z.B. hinsichtlich Kindergeld und Sozialleistungen) den Inländern gleichzustellen. Mit dem Recht auf Freizügigkeit aus Art. 26 GFK geht auch das Recht auf Erhalt eines Reisepasses des Aufnahmelandes gem. Art. 28 GFK einher. Zur Förderung der Integration sind den Konventionsflüchtlingen nach Art. 34 GFK die Bedingungen der Einbürgerung zu erleichtern. In Deutschland ist die Einbürgerung gem. § 8 StAG i.V.m. § 10 Abs. 3 StAG frühestens nach sechs Jahren möglich, während der Ausländer nach acht Jahren einen Anspruch auf Einbürgerung unter den in § 10 Abs. 1 StAG genannten Voraussetzungen hat. Kinder, die in Deutschland geboren wurden und einen Elternteil haben, der acht Jahre lang einen rechtmäßigen Aufenthalt in Deutschland hatte und ein unbefristetes Aufenthaltsrecht hat, haben gem. § 4 Abs. 3 StAG die deutsche Staatsbürgerschaft. 96 Für das IPR entscheidend ist schließlich, dass sich das Personalstatut der bisher erläuterten Personengruppen nach Art. 12 Abs. 1 GFK richtet, der als staatsvertragliche Kollisionsnorm gem. Art. 3 Nr. 2 EGBGB Vorrang gegenüber dem autonomen IPR genießt. 97 6. Abgeleiteter Flüchtlingsstatus a) Allgemeine Voraussetzungen Es stellt sich desweiteren die Frage, ob die Angehörigen eines Flüchtlings einen abgeleiteten Schutzstatus innehaben. Zu den Angehörigen eines Flüchtlings zählen grundsätzlich Ehegatten und rechtlich anerkannte Lebenspartner sowie leibliche und anerkannte Kinder. Man könnte dies in Hinblick auf den Wortlaut der GFK verneinen, da diese keinen Hinweis auf einen abgeleiteten Flüchtlingsstatus enthält. Möglich wäre demnach nur die Erlangung eines eigenen Flüchtlingsstatus oder die Verleihung eines vergleichbaren Schutzstatus durch die Vertragsstaaten, bei dem jedoch das autonome Kollisionsrecht oder europäisches Recht und nicht Art. 12 Abs. 1 GFK Anwendung fänden. 98 Nach aber wohl überwiegender Auffassung erwerben die Ehegatten und Abkömmlinge eines Flüchtlings
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Vgl. dazu BGH, Beschluss v. 13.9.2017 – XII ZB 403/16, BeckRS 2017, 127099. v. Hein, in: MünchKommBGB, 2018, Art. 5 EGBGB Anh. II Rn. 26; Mankowski, IPRax 2017, 40, 41. 98 Lorenz, in: BeckOK BGB, 2020, Art. 5 EGBGB Rn. 27; Schulze, in: Nomos Kommentar, BGB, 2016, Art. 5 EGBGB Anh. II Rn. 22. 97
2. Kapitel: Die verschiedenen Personengruppen
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derivativ dessen Schutzstatus. 99 Begründet wird dies trotz mangelnder ausdrücklicher Anordnung in der GFK mit dem Wesen des Flüchtlingsrechts und dem Handbuch der UNHRC, das auf die Wichtigkeit der Wahrung der Familieneinheit hinweist. 100 Auch in der Schlussakte der Konferenz zur Entwicklung der GFK findet sich eine Empfehlung zur Wahrung der Familieneinheit.101 Weiterer Vorteil eines abgeleiteten Status ist, dass den Angehörigen der Nachweis der eigenen Flüchtlingseigenschaft erspart bleiben kann, die sich ohnehin aus denselben Tatsachen ergeben dürfte wie beim originären Flüchtling. Zudem fällt kein Familienangehöriger „durchs Raster“, z.B., wenn nur das Familienoberhaupt verfolgt wird.102 Dennoch dürften die Angehörigen in der Regel allein wegen der Verwandtschaft ebenfalls verfolgt werden und damit aufgrund desselben Sachverhalts Flüchtlinge i.S.d. GFK sein, sodass der Streit um den abgeleiteten Status schon aus diesem Grund eher theoretische Bedeutung hat. 103 Zudem ordnet § 26 Abs. 5 AsylG für Konventionsflüchtlinge entsprechend an, dass Angehörigen eines Flüchtlings gem. § 26 Abs. 1 AsylG grundsätzlich ebenfalls die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist, sodass sich die Frage nach dem abgeleiteten Status nur während des Asylverfahrens oder bei Personen, die nicht zugleich politisch Verfolgte nach Art. 16a GG sind, stellt.104 In diesen Fällen sprechen im Ergebnis die Wahrung der Familieneinheit und die Verfahrensvereinfachung für die Anerkennung eines abgeleiteten Flüchtlingsstatus.
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Arnold, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinkhammer/Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 25, 39 ff.; Bausback, in: Staudinger, BGB, 2013, Art. 5 EGBGB Anh. IV Rn. 59; v. Hein, in: MünchKommBGB, 2018, Art 5 EGBGB Anh. II Rn. 51; Hohloch, in: Erman, BGB, 2017, Art. 5 EGBGB Rn. 82; Thorn, in: Palandt, BGB, 2020, Art. 5 EGBGB Anh. Rn. 21. 100 UN High Commissioner for Refugees (UNHCR), Handbuch und Richtlinien über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft gemäß dem Abkommen von 1951 und dem Protokoll von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, 2011 (deutsche Version 2013), Rn. 181, abrufbar unter 4.6.2020). 101 UN High Commissioner for Refugees (UNHCR), Handbuch und Richtlinien über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft gemäß dem Abkommen von 1951 und dem Protokoll von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, 2011 (deutsche Version 2013), Rn. 182 f., abrufbar unter 4.6.2020); vgl. ferner v. Hein, in MünchKommBGB, 2018, Art 5 EGBGB Anh. II Rn. 51 f. 102 v. Hein, in: MünchKommBGB, 2018, Art 5 EGBGB Anh. II Rn. 51 ff. 103 BVerwG, Urteil v. 22.2.2005 – 1 C 17/03, NVwZ 2005, 1191; Budzikiewicz, StAZ 2017, 289, 293. 104 Budzikiewicz, StAZ 2017, 289, 293; v. Hein, in: MünchKommBGB, 2018, Art 5 EGBGB Anh. II Rn. 54 f.; Thorn, in: Palandt, BGB, 2020, Art. 5 EGBGB Anh. Rn. 21.
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Jedoch sind einige Einschränkungen zu berücksichtigen. Zunächst muss der abgeleitete Schutzstatus ausscheiden, wenn der Angehörige eine doppelte Staatsangehörigkeit besitzt und den Schutz eines seiner Heimatländer beanspruchen kann. Auch wenn der Angehörige bereits in einem anderen Zufluchtsstaat einen Schutzstatus hat, kommt ein abgeleiteter Status nicht mehr in Betracht.105 Zudem muss der Angehörige mit dem Flüchtling im Gebiet des Vertragsstaates leben und das familiäre Verhältnis muss schon vor dem Einsetzen der Verfolgung bestanden haben. 106 Die Angehörigeneigenschaft ist dabei als kollisionsrechtliche Vorfrage zu stellen. Es ergibt sich schließlich von selbst, dass ein abgeleiteter Flüchtlingsstatus von Angehörigen dann nicht mehr möglich ist, wenn deren eigene Flüchtlingseigenschaft erlischt. 107 b) Sonderproblem: kafāla Aus Sicht des Kollisionsrechts sind hinsichtlich der beim abgeleiteten Flüchtlingsstatus zu stellenden Vorfrage vor allem solche Rechtsinstitute problematisch, die nach fremdem Recht zu einer Angehörigeneigenschaft führen, die dem deutschen Recht hingegen unbekannt sind. Beispielhaft soll hier das muslimische Institut der kafāla herausgegriffen werden. 108 Andere familienrechtliche Rechtsverhältnisse wie die polygame Ehe oder die Minderjährigenehe, die in diesem Kontext Fragen aufwerfen, werden weiter unten detailliert behandelt. 109 Im muslimischen Recht ist die Adoption verboten, stattdessen gibt es die kafāla, eine Art Pflegschaft, bei der der Umfang der übertragenen Sorge in den jeweiligen Staaten stark variiert. 110 Anders als bei der deutschen Adoption wird das rechtliche Band zu den leiblichen Eltern aber in keinem Fall gekappt.111 105
Bausback, in: Staudinger, BGB, 2013, Art. 5 EGBGB Anh. IV Rn. 59; Hohloch, in: Erman, BGB, 2017, Art. 5 EGBGB Rn. 82. 106 v. Hein, in: MünchKommBGB, 2018, Art 5 EGBGB Anh. II Rn. 55. 107 Bausback, in: Staudinger, BGB, 2013, Art. 5 EGBGB Anh. IV Rn. 59; Hohloch, in: Erman, BGB, 2017, Art. 5 EGBGB Rn. 82. 108 Vgl. dazu Jayme, Zugehörigkeit und kulturelle Identität, 2012, S. 38 ff.; Nishitani, RdC 401 (2019), 143, 185 ff., 279 ff. 109 Siehe den 3. Teil, 1. und 2. Kap. 110 Adoption zulässig in Tunesien (vgl. Yassari, AJCL 63 (2015), 927, 944 ff.) und Indonesien (vgl. Lewenton, in: Rieck (Hrsg.), Ausländisches Familienrecht, 2019, Länderteil Indonesien Rn. 76 ff.); die Übertragung des „endgültigen Erziehungsrechts“ (sarparasti) durch ein iranisches Gericht entspricht einer schwachen Adoption im deutschen Recht (vgl. OLG Köln, Beschluss v. 24.4.2012 – 4 UF 135/10, NJOZ 2012, 1341); die Legitimation eines Kindes im Irak steht dem deutschen Adoptionsverfahren gleich (vgl. AG Stuttgart, Beschluss v. 13.3.2015 – 29 F 1386/13, BeckRS 2016, 5801). 111 Zum Ganzen Borrás, in: Essay in honour of Hans van Loon, 2013, S. 77 ff.; Yassari, AJCL 63 (2015), 927, 949 ff.
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In diesem Zusammenhang hat der EGMR in seiner Entscheidung Harroudj ./. France klargestellt, dass Art. 8 EMRK die Vertragsstaaten nicht dazu verpflichtet, die kafāla der Adoption im eigenen Recht gleichzustellen und die für die Adoption geltenden inländischen Normen (hier der französische Art. 370-3 CC) auf sie anzuwenden. Zudem bestand im vorliegenden Fall die Möglichkeit, das Kind nach seiner Erlangung der französischen Staatsbürgerschaft nach französischem Recht zu adoptieren. Von dieser Konstellation ist laut EGMR jedoch die Pflicht abzugrenzen, ausländische Entscheidungen, die die Anerkennung der kafāla als Adoption zum Gegenstand haben, anzuerkennen.112 In der Entscheidung Chbihi Loudoudi führt der EGMR ferner aus, dass aus Art. 8 EMRK zudem weder die Pflicht zur rechtlichen Anerkennung der kafāla folgt, noch sich aus ihm ein Recht auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ableiten lässt. 113 Aufgrund dessen wird die kafāla in den europäischen Mitgliedstaaten häufig als nicht ausreichend für das Angehörigenverhältnis als Voraussetzung des Familienasyls oder des Familiennachzugs erachtet, obwohl es im IPR Mechanismen zur zivilrechtlichen Anerkennung gibt. 114 Aus Sicht des deutschen Verfassungsrechts ist hingegen der Nachzug gestützt auf Art. 6 GG zu gewähren, wenn das Kind mit den kāfils tatsächlich zusammenlebt. 115 Die entsprechende Anwendung des Nachzugsrechts der Sorgeberechtigten entspricht in diesem Falle auch dem Sinn und Zweck des § 36 AufenthG und der Familienzusammenführungs-Richtlinie 116 (FamRL). Zudem heißt es in Art. 20 Abs. 1 UN-Kinderrechtskonvention (im Folgenden: KRK), dass ein Kind, das von den Sorgeberechtigten getrennt wurde, einen Anspruch auf staatlichen Beistand hat und nennt in Absatz 3 explizit die kafāla als geeignete anzustrebende Betreuungssituation. 117 Im Ergebnis ist zumindest aus deutscher Sicht ein Nachzugsrecht auch beim Vorliegen einer kafāla zu gewähren. 112
EGMR, Urteil v. 4.10.2012 – Nr. 43631/09, Harroudj ./. France sowie erläuternd und kritisch hierzu Nishitani, RdC 401 (2019), 143, 185 ff. 113 EGMR, Urteil v. 16.12.2014 – Nr. 52265/10, Chbihi Loudoudi und Andere ./. Belgien. 114 Study for the JURI committee of the European Parliament: „Children on the Move: A Private International Law Perspective”, June 2017, S. 36 f., abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020). 115 Vgl. Study for the JURI committee „Private International Law in a Context of Increasing International Mobility: Challenges and Potential” des Europäischen Parlaments, PE 583.157, June 2017, S. 25, abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020). 116 Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung. 117 Vgl. Heinhold, ZAR 2012, 142, 144.
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Zweiter Teil: Migration als Herausforderung für das IPR
Besonderheiten ergeben sich bei einer kafāla, die im Verhältnis zu EUBürgern begründet wurde. So hat der EuGH in einer Entscheidung klargestellt, dass eine kafāla nach algerischem Recht zu keinem Abstammungsverhältnis zwischen dem Kind und seinem Vormund führe und damit auch nicht als „Verwandter in gerader absteigender Linie“ eines Unionsbürgers im Sinne von Art. 2 Nr. 2 Buchst. c der Richtlinie 2004/38 anzusehen sei. Allerdings unterfalle ein solches Kind laut EuGH dem Begriff eines sonstigen „Familienangehörigen“ nach Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2004/38. Daraus folge, dass eine Einreise aus einem Drittstaat in den Mitgliedstaat zu gewähren und so das faktische Zusammenleben zu ermöglichen sei. Diese Auslegung stützte der EuGH unter anderem auf Art. 7 EuGrCh, der ein Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens zuspricht, und verwies zudem auf die oben genannte Rechtsprechung des EGMR. 118 Anzumerken ist, dass es auch mit einer gewöhnlichen Adoption, die sich nach fremdem Recht richtet, Probleme hinsichtlich des Aufenthaltsrechts geben kann. In Frankreich beispielsweise stellen die Behörden trotz Anerkennung der Adoption aus Sicht des Kollisionsrechts häufig kein Einreisevisum für adoptierte Kinder aus (insbesondere bei interfamiliären Adoptionen durch z.B. die Tante oder bezüglich mancher Herkunftsländer wie Benin und Kongo). In Deutschland wird ein Visum bei einer Volladoption hingegen in der Regel erteilt. Die Visaerteilung kann aber problematisch sein, wenn noch rechtliche Bande zu den biologischen Eltern bestehen. 119 c) Perspektive aus der Praxis Neben den genannten Problemfeldern theoretischer Natur bestehen auch aus Sicht der Praxis beim abgeleiteten Flüchtlingsstatus einige Hindernisse, die bei der Thematik nicht außer Acht zu lassen sind. Sehr problematisch ist der Nachweis einer wirksamen Ehe oder der Abstammung, denn häufig tragen die Flüchtlinge keine authentischen Dokumente bei sich. Diese müssen häufig für den tatsächlichen Nachweis des Rechtsverhältnisses im Herkunftsland von dem dort zuständigen Konsulat der Mitgliedstaaten beglaubigt oder apostilliert werden. Dieses schon an sich komplexe und zeitaufwändige Verfahren dürfte gerade in Bürgerkriegsländern sogar unmöglich sein. 120 Oftmals 118
Vgl. EuGH, Urteil v. 26.2.2019 – C-129/18, FamRZ 2019, 832. Vgl. Study for the JURI committee „Private International Law in a Context of Increasing International Mobility: Challenges and Potential” des Europäischen Parlaments, PE 583.157, June 2017, S. 25, abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020). 120 Vgl. Study for the JURI committee „Private International Law in a Context of Increasing International Mobility: Challenges and Potential” des Europäischen Parlaments, PE 583.157, June 2017, S. 12, abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020) 121 Vgl. zum Ganzen nur die Study for the JURI committee „Private International Law in a Context of Increasing International Mobility: Challenges and Potential” des Europäischen Parlaments, PE 583.157, June 2017, S. 13, abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020). 122 Vgl. Study for the JURI committee „Private International Law in a Context of Increasing International Mobility: Challenges and Potential” des Europäischen Parlaments, PE 583.157, June 2017, S. 14, abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020). 123 Vgl. Study for the JURI committee „Private International Law in a Content of Increasing International Mobility: Challenges and Potential“ des Europäischen Parlaments, PE 583.157, June 2017, S. 18 sowie für einen rechtsvergleichenden Überblick für die Situation in Frankreich, Belgien und Italien S. 18 f., abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020). 124 Vgl. Study for the JURI committee „Private International Law in a Content of Increasing International Mobility: Challenges and Potential“ des Europäischen Parlaments, PE 583.157, June 2017, S. 19 sowie für einen rechtsvergleichenden Überblick für die
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Fallstricke dürfen auch bei der eher dogmatischen Beschäftigung mit dem Internationalen Familienrecht nicht außer Acht gelassen werden und sind gerade, was die Vereinheitlichung des europäischen Familienrechts angeht, im Blick zu behalten. E. Der Flüchtlingsschutz im nationalen Recht Einige deutsche Gesetze enthalten Normen, die den Flüchtlingsschutz der GFK, unabhängig von dem Vorliegen ihrer Voraussetzungen, auf bestimmte Personengruppen erweitern.125 I. Gesetz über Maßnahmen für im Rahmen von humanitären Hilfsaktionen aufgenommene Flüchtlinge vom 22. Juli 1980 Das „Gesetz über Maßnahmen für im Rahmen von humanitären Hilfsaktionen aufgenommene Flüchtlinge vom 22. Juli 1980“126 ist mit Wirkung zum 1.1.2005 aufgehoben worden. Der vor der Aufhebung des Gesetzes am 1.1.2005 erlangte Rechtsstatus bleibt jedoch bestehen. 127 Das Gesetz betraf zum vorübergehenden Schutz aufgenommene Ausländer, denen ein Aufenthaltsrecht nach § 23 AufenthG erteilt wurde.128 Nach dessen § 1 genießen Personen im Geltungsbereich des Gesetzes die Rechtsstellung nach den Artikeln 2 bis 34 des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951. Das Gesetz verlieh somit einen der GFK entsprechenden Rechtsstatus, schloss jedoch keine Asylberechtigung mit ein. 129 Auch einen abgeleiteten Flüchtlingsstatus aufgrund Abstammung oder Heirat gab es nicht.130 Die Aufhebung des Gesetzes führt dazu, dass Ausländer mit ver-
Situation in Frankreich und Belgien S. 19 f., abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020). 125 Looschelders, IPR, 2004, Art. 5 EGBGB Anh. Rn. 24. 126 BGBl. 1980 I Nr. 41, S. 1057. 127 Bausback, in: Staudinger, BGB, 2013, Art. 5 EGBGB Anh. IV Rn. 78 f.; Hohloch, in: Erman, BGB, 2017, Art. 5 EGBGB Rn. 90; Looschelders, IPR, 2004, Art. 5 EGBGB Anh. Rn. 28; Lorenz, in: BeckOK BGB, 2020, Art. 5 EGBGB Rn. 45; Schulze, in: Nomos Kommentar, BGB, 2016, Art. 5 EGBGB Anh. II Rn. 36; Thorn, in: Palandt, BGB, 2020, Art. 5 EGBGB Anh. Rn. 29. 128 Lorenz, in: BeckOK BGB, 2020, Art. 5 EGBGB Rn. 45; Schulze, in: Nomos Kommentar, BGB, 2016, Art. 5 EGBGB Anh. II Rn. 36. 129 Vgl. dazu OLG Karlsruhe, Beschluss v. 7.7.1995 – 16 UF 397/94, BeckRS 1995, 10093, Rn. 6; Looschelders, IPR, 2004, Art. 5 EGBGB Anh. Rn. 27; Lorenz, in: BeckOK BGB, 2020, Art. 5 Rn. 45; Schulze, in: Nomos Kommentar, BGB, 2016, Art. 5 EGBGB Anh. II Rn. 37/39. 130 Schulze, in: Nomos Kommentar, BGB, 2016, Art. 5 EGBGB Anh. II Rn. 38.
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gleichbarer Situation keinen besonderen Status zuerkannt bekommen, wenn sie nicht gleichzeitig Flüchtlinge i.S.d. GFK sind. 131 II. Asylberechtigung nach dem AsylG 1. Voraussetzungen und Rechtsfolgen Das AsylG gilt gem. § 1 Abs. 1 Nr. 1 AsylG für Ausländer, die einen Antrag auf Schutzgewährung nach Art. 16a Abs. 1 GG gestellt haben und nach § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG für Personen, die internationalen Schutz nach der RL 2011/95/EU, also die Anerkennung als Konventionsflüchtling i.S.d. § 3 AsylG oder als subsidiär Schutzberechtigter i.S.d. § 4 AsylG, beantragen.132 Die wichtigste nationale Erweiterung des Flüchtlingsschutzes findet sich in § 2 Abs. 1 AsylG, der den Anwendungsbereich des Art. 12 Abs. 1 GFK in Bezug auf Asylberechtigte, die politisch verfolgt werden, erweitert.133 §§ 1, 2 AsylG haben somit eher deklaratorische Bedeutung, 134 da Art. 16a Abs. 1 GG, wonach politisch Verfolgte ein Asylrecht genießen, die materielle Grundlage der Asylanerkennung ist und den Verfolgten damit ein verfassungsunmittelbares Recht gewährt. 135 Sie sind aber insofern konstitutiv, als die Rechte der Asylberechtigung weitergehend sind. 136 Die Voraussetzungen der politischen Verfolgung werden allerdings über Art. 16a Abs. 2 GG erheblich eingeschränkt: „Auf Absatz 1 kann sich nicht berufen, wer aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften oder aus einem anderen Drittstaat einreist, in dem die Anwendung des
131
Schulze, in: Nomos Kommentar, BGB, 2016, Art. 5 EGBGB Anh. II Rn. 40. Schulze, in: Nomos Kommentar, BGB, 2016, Art. 5 EGBGB Anh. II Rn. 30 ff.; für das ähnlich ausgestaltete System in Frankreich vgl. Lagrange, Rev. Crit. DIP 2017, 27, 33 f. 133 Bausback, in: Staudinger, BGB, 2013, Art. 5 EGBGB Anh. IV Rn. 71/73; Dörner, in: Nomos Handkommentar, BGB, 2019, Art. 5 EGBGB Rn. 7; v. Hein, in: MünchKommBGB, 2018, Art. 5 EGBGB Anh. II Rn. 26; Hohloch, in: Erman, BGB, 2017, Art. 5 EGBGB Rn. 92; Looschelders, IPR, 2004, Art. 5 EGBGB Anh. Rn. 25; Lorenz, in: BeckOK BGB, 2020, Art. 5 EGBGB Rn. 39; Mankowski, IPRax 2017, 40, 41; Schulze, in: Nomos Kommentar, BGB, 2016, Art. 5 EGBGB Anh. II Rn. 30. Die Rechtsstellung kann auch Personen zuerkannt werden, die nicht Flüchtlinge nach Art. 1 A GFK sind, vgl. Preisner, in: BeckOK, AuslR, 2020, § 2 AsylG Rn. 6. 134 Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, AsylG, 2020, § 1 AsylG Rn. 3; Preisner, in: BeckOK, AuslR, 2020, § 1 AsylG Rn. 7. 135 Vgl. zu den Rechten im Einzelnen Preisner, in: BeckOK, AuslR, 2020, § 2 AsylG Rn. 8. 136 Z.B. Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, vgl. Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, AsylG, 2020, § 2 AsylG Rn. 14 und Sicherung eines menschenwürdigen Daseins in Deutschland, vgl. Preisner, in: BeckOK, AuslR, 2020, § 2 AsylG Rn. 3. 132
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Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten sichergestellt ist [...].“
Da die meisten Flüchtlinge über den Landweg nach Deutschland einreisen und die Bundesrepublik nur an Staaten des Europäischen Wirtschaftsraums grenzt, wird die Zuerkennung von Schutz selten auf § 1 Abs. 1 Nr. 1 AsylG gestützt. 137 Es gibt zudem eine Reihe von Fällen, in denen das AsylG und damit der Verweis in § 2 Abs. 1 AsylG auf die Rechtsstellung der GFK keine Anwendung findet. Zunächst findet das Asylgesetz nur auf in Deutschland lebende Personen Anwendung, die weder Deutsche im Sinne des Art. 116a GG oder Unionsbürger sein dürfen. 138 Auch findet das Asylgesetz insgesamt aus historischen Gründen weder auf heimatlose Ausländer noch auf Kontingentflüchtlinge Anwendung. 139 Schließlich sind Personen ausgenommen, die aus einem sicheren Drittstaat oder einem EU-Mitgliedstaat einreisen, in dem die Geltung der GFK und EMRK sichergestellt ist. 140 Auf anerkannte Asylberechtigte werden nach § 2 Abs. 1 GFK die Rechte aus der GFK erstreckt.141 Davon unberührt bleiben gem. § 2 Abs. 2 AsylG Vorschriften, die den Asylberechtigten eine günstigere Stellung, also noch über die GFK hinausgehende Rechte, einräumen. 142 So sind auch die Regelungen für den internationalen Schutz in der RL 2011/95/EU von den nationalen Behörden zu berücksichtigen. 143 Das wichtigste Recht, das aus der Asylberechtigung folgt, ist gem. § 25 Abs. 1 S. 1 i.V.m. § 26 Abs. 1 S. 2 AufenthG ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung für drei Jahre. Die Aufenthaltsgenehmigung berechtigt gem. § 25 Abs. 1 S. 4 AufenthG zur Erwerbstätigkeit. Nach fünf Jahren kann den Asylberechtigten wie Flüchtlingen gem. § 26 Abs. 3 AufenthG eine Niederlassungser137
Anerkennungsquote von unter 2% in den Jahren 2011 bis 2020, vgl. BAMF, Aktuelle Zahlen zu Asyl, April 2020, S. 11, abrufbar (letzter Abruf: 4.6.2020). 138 Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, AsylG, 2020, § 1 AsylG Rn. 13. 139 Kontingentflüchtling sind Flüchtlinge, die im Rahmen einer humanitären Hilfsaktion in einem bestimmten Kontingent in Deutschland aufgenommen wurden ohne das asyl- oder ausländerrechtliche Verfahren zu durchlaufen und die einen mit Asylberechtigten vergleichbaren Status haben. Vgl. Bausback, in: Staudinger, BGB, 2013, Art. 5 EGBGB Anh. IV Rn. 78 ff.; v. Hein, in: MünchKommBGB, 2018, Art. 5 EGBGB Anh. II Rn. 80/82; Schulze, in: Nomos Kommentar, BGB, 2016, Art. 5 EGBGB Anh. II Rn. 37. Heimatlose Ausländer genießen sogar weitergehende Freiheitsrechte als Asylberechtigte, vgl. Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, AsylG, 2020, § 1 AsylG Rn. 21. 140 Bausback, in: Staudinger, BGB, 2013, Art. 5 EGBGB Anh. IV Rn. 72; Schulze, in: Nomos Kommentar, BGB, 2016, Art. 5 EGBGB Anh. II Rn. 32. 141 Diese Wirkung ist auf das Bundesgebiet beschränkt, vgl. Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, AsylG, 2020, § 2 AsylG Rn. 5. 142 Dazu näher im 2.Teil, 4. Kap., D.II. 143 Vgl. Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, AsylG, 2020, § 2 AsylG Rn. 16.
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laubnis erteilt werden. Zudem kann ein Asylberechtigter grundsätzlich nicht ausgewiesen (§ 53 Abs. 3 AufenthG, Art. 32 GFK), abgeschoben (§ 60 Abs. 1 AufenthG, Art. 33 GFK) oder ausgeliefert werden (§ 6 Abs. 1 IRG).144 Angelehnt an die Gründe aus Art. 1 C GFK (s.o.) erlischt die Asylberechtigung gem. § 72 AsylG kraft Gesetzes. Zudem kann die Asylberechtigung nach § 73 AsylG widerrufen oder zurückgenommen werden. 145 2. Familienasyl Für das Internationale Familienrecht insbesondere relevant ist das Familienasyl, welches nach § 26 AsylG einen Zuerkennungsakt des Bundesamts voraussetzt.146 Ob das die erforderliche Angehörigeneigenschaft begründende Rechtsverhältnis wirksam ist, richtet sich nach dem nach deutschem IPR anwendbaren Sachrecht.147 Die Angehörigeneigenschaft ist auch hier als kollisionsrechtliche Vorfrage zu stellen. Nicht ausreichend für das erforderliche Angehörigenverhältnis ist beispielsweise eine rein nach religiösem Ritus geschlossene Ehe, die vom Heimatstaat nicht als wirksam anerkannt wird. Denn Ehe im Sinne des § 26 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AsylG meint nur bereits im Verfolgerstaat geschlossene und von diesem auch anerkannte Ehen. Die Auslegung des § 26 AsylG orientiert sich damit aus Gründen der Rechtssicherheit und -klarheit streng am Wortlaut.148 Bei zuerkanntem Familienasyl haben die Angehörigen denselben Status wie der (originär) Asylberechtigte einschließlich der Anwendbarkeit des Art. 12 Abs. 1 GFK.149 3. Verhältnis zum Flüchtlingsstatus Es stellt sich die Frage, ob Asylberechtigte und Konventionsflüchtlinge folglich begrifflich gleichgesetzt werden können. 150 Zwar unterscheiden sich die 144
Zu den arbeits- und sozialrechtlichen Folgen vgl. Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, AsylG, 2020, § 2 AsylG Rn. 22 ff. 145 Bausback, in: Staudinger, BGB, 2013, Art. 5 EGBGB Anh. IV Rn. 77; Lorenz, in: BeckOK BGB, 2020, Art. 5 EGBGB Rn. 42; Mankowski, IPRax 2017, 40, 42; Schulze, in: Nomos Kommentar, BGB, 2016, Art. 5 EGBGB Anh. II Rn. 32. 146 Lorenz, in: BeckOK BGB, 2020, Art. 5 EGBGB Rn. 41; Schulze, in: Nomos Kommentar, BGB, 2016, Art. 5 EGBGB Anh. II Rn. 35. 147 v. Hein, in: MünchKommBGB, 2018, Art. 5 EGBGB Anh. II Rn. 77; vgl. zum speziellen Problem der kafāla und zu Schwierigkeiten in der Praxis oben 2. Teil, Kap., D.II.6.b. 148 Vgl. zum Fall von Kurden jezidischen Glaubens aus Syrien BVerwG, Urteil v. 22.2.2005 – 1 C 17/03, NVwZ 2005, 1191, das sich der herrschenden Meinung in der Rechtsprechung und Literatur anschließt. 149 Bausback, in: Staudinger, BGB, 2013, Art. 5 EGBGB Anh. IV Rn. 72; Thorn, in: Palandt, BGB, 2020, Art. 5 EGBGB Anh. Rn. 28. 150 Lass, Der Flüchtling im IPR, 1995, S. 54 spricht von einem Dualismus des Flüchtlingsbegriffs.
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Zweiter Teil: Migration als Herausforderung für das IPR
Voraussetzungen der Zuerkennung von Asylberechtigung und Flüchtlingseigenschaft, da politisch Verfolgte, die eine Asylberechtigung bekommen, nicht aus einem sicheren Drittstaat einreisen dürfen. Auf der Rechtsfolgenseite hingegen bestehen aufgrund der weitreichenden Gleichstellung der Personengruppen quasi keine Unterschiede mehr. 151 Im Ergebnis sind Flüchtlinge, die in den personellen und sachlichen Anwendungsbereich der GFK fallen, zwar nicht begrifflich mit Flüchtlingen, die in Deutschland als Asylberechtigte anerkannt werden, gleichzusetzen. Für die kollisionsrechtliche Perspektive und die Anwendbarkeit des Art. 12 Abs. 1 GFK ist aber indifferent, ob die Flüchtlingseigenschaft ihren konkreten Ursprung im Völkerrecht oder im autonomen Recht hat. III. Asylbewerber im laufenden Verfahren Abschließend sei noch kurz auf den Status von Asylbewerbern im laufenden Verfahren eingegangen. Das Asylverfahren einschließlich des Zweitverfahrens nach § 71a AsylG dauert solange, bis die Anerkennung als Asylberechtigter oder eine Titelsperre nach § 10 Abs. 1 AufenthG vollständig bestandskräftig geworden sind. Nach § 33 Abs. 1 AsylG gilt ein Asylantrag als zurückgenommen, wenn das Asylverfahren nicht betrieben wird, z.B. bei Untertauchen, Verletzung von Informations- und Residenzpflichten oder der Rückkehr in das Heimatland. 152 § 2 AsylG knüpft seinen Verweis auf die GFK und damit den Übergang auf die Wohnsitzanknüpfung an die Anerkennung als Asylberechtigter. Ist der Asylbewerber weder anerkannt noch abgelehnt, wird somit weiter an das Heimatrecht angeknüpft. 153 IV. Verwaltungsrechtsakzessorietät des IPR ? In der Literatur stark diskutiert wird, ob das Zivilgericht bei seiner Beurteilung der Flüchtlingseigenschaft an anerkennende Asylentscheidungen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge gebunden ist. § 6 AsylG lautet: „Die Entscheidung über den Asylantrag ist in allen Angelegenheiten verbindlich, in denen die Anerkennung als Asylberechtigter oder die Zuerkennung des internationalen Schutzes
151 OVG Weimar, Urteil v. 30.11.2017 – 3 KO 38/16, Beck RS2017, 146736; Preisner, in: BeckOK, AuslR, 2020, § 2 AsylG Rn. 12. 152 § 33 AsylG wurde durch das „Gesetz zur Einführung beschleunigter Asylverfahren“ vom 17. März 2016 (sog. Asylpaket II) weiter verschärft. 153 Die rechtliche Handhabung in Europa diesbezüglich ist nicht einheitlich: § 28 IV IPRG der Tschechischen Republik vom 25.1.2012 wendet die GFK beispielsweise schon ab der Antragstellung an, vgl. Mankowski, IPRax 2017, 40, 42.
2. Kapitel: Die verschiedenen Personengruppen
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im Sinne des § 1 Absatz 1 Nummer 2 rechtserheblich ist. Dies gilt nicht für das Auslieferungsverfahren sowie das Verfahren nach § 58a des Aufenthaltsgesetzes.“
Für rechtsbeständige positive Entscheidungen der Behörde wird dies aufgrund des Wortlauts des § 6 AsylG (§ 4 AsylVfG a.F.) überwiegend bejaht und eine erneute Überprüfung der Flüchtlingseigenschaft bei anerkannten Asylbewerbern und zuerkanntem Flüchtlingsstatus für überflüssig gehalten. 154 Dies gilt ebenso für zuerkennende Entscheidungen bezüglich des Familienasyls nach § 26 AsylG.155 Die Bindungswirkung bezieht sich dabei nur auf in Deutschland und nicht in anderen Vertragsstaaten der GFK behördlich ergangene Entscheidungen. 156 Ausländische gerichtliche Urteile entfalten Bindungswirkung, wenn sie nach dem europäischen Zivilverfahrensrecht oder nach § 328 ZPO anzuerkennen sind. 157 Es wird ferner vertreten, dass das Gericht bei Zweifeln an der Flüchtlingseigenschaft oder bei Vorliegen von Widerrufs- oder Aufhebungsgründen i.S.d. § 73 AsylG die Aufhebung bzw. Rücknahme der positiven Asylentscheidung bei der Behörde anregen und das Verfahren nach § 148 ZPO aussetzen kann. 158 Hinsichtlich des Erlöschens des Asylstatus ipso iure nach § 72 AsylG kann das Gericht entweder selbst das Erlöschen feststellen oder aber die Feststellung bei der zuständigen Behörde anregen. 159 Dennoch gibt es Stimmen, die § 6 AsylG nur eine Bindung für den Betroffenen selbst und andere Behörden entnehmen und eine erneute Prüfung der Zivilgerichte daher stets für erforderlich halten. 160 Die Entscheidung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge und ausländischer Behörden habe aber Indizwirkung. 161
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Vgl. mit ausführlicher Begründung Lass, Der Flüchtling im IPR, 1995, S. 84 ff.; vgl. ferner Arnold, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinkhammer/Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 25, 43; Bausback, in: Staudinger, BGB, 2013, Art. 5 EGBGB Anh. IV Rn. 56/74; Looschelders, IPR, 2004, Art. 5 EGBGB Anh. Rn. 25; Thorn, in: Palandt, BGB, 2020, Art. 5 EGBGB Anh. Rn. 22; für den Standesbeamten vgl. Budzikiewicz, StAZ 2017, 289, 292 f.; einschränkend Mankowski, IPRax 2017, 40, 41: Flüchtlingseigenschaft ist grundsätzlich anzunehmen. 155 Vgl. Lass, Der Flüchtling im IPR, 1995, S. 87. 156 Vgl. Bausback, in: Staudinger, BGB, 2013, Art. 5 EGBGB Anh. IV Rn. 56. 157 Schulze, in: Nomos Kommentar, BGB, 2016, Art. 5 EGBGB Anh. II Rn. 19. 158 Lass, Der Flüchtling im IPR, 1995, S. 85 f.; Lorenz, in: BeckOK BGB, 2020, Art. 5 EGBGB Rn. 40. 159 Arnold, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinkhammer/Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 25, 43; Lass, Der Flüchtling im IPR, 1995, S. 86 f. 160 Lorenz, in: BeckOK BGB, 2020, Art. 5 EGBGB, Rn. 30; Schulze, in: Nomos Kommentar, BGB, 2016, Art. 5 EGBGB Anh. II Rn. 18. 161 Schulze, in: Nomos Kommentar, BGB, 2016, Art. 5 EGBGB Anh. II Rn. 18.
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Negative Entscheidungen der Behörde und damit die Ablehnung einer Asylberechtigung sollen hingegen die Zivilgerichte nicht binden. 162 Praktisch ist es aber selten, dass die Zivilgerichte die Voraussetzung der Flüchtlingseigenschaft feststellen, obwohl die Verwaltungsbehörde die Asylberechtigung ausdrücklich verneint hat, da zu unterstellen ist, dass der behördlichen Entscheidung eine ordnungsgemäße Sachaufklärung zu Grunde lag und somit eine starke Indizwirkung entfaltet. 163 Eine abweichende Beurteilung kann vor allem dann vorkommen, wenn sich die tatsächliche Verfolgungssituation im Herkunftsland zum Zeitpunkt des Zivilgerichtsverfahrens geändert hat. 164 Im laufenden Asylverfahren ist gerade bei Fragen des Privatrechts, die Asylbewerber betreffen vom Zivilrgericht oder dem Jugendamt als Behörde eigenständig inzident zu prüfen, ob Art. 12 Abs. 1 GFK Anwendung findet, z.B. wenn etwa ein Syrer im laufenden Asylverfahren seine Nichte adoptieren will oder es um die Vormundschaft eines unbegleiteten Minderjährigen geht.165 F. Der subsidiäre Schutzstatus Nachdem der Flüchtlings- bzw. Asylstatus als höherrangige Stufe des Internationalen Schutzes in seiner völkerrechtlichen und nationalgesetzlichen Ausprägung erläutert wurde, wird nun auf den subsidiären Schutzstatus als zweites Element des Internationalen Schutzes eingegangen. Der Status als subsidiär Schutzberechtigter ist ein eigener Schutz- und Rechtstatus, der unterhalb des Status der Konventionsflüchtlinge bzw. der anerkannten Asylberechtigten steht und mit der RL 2011/95/EU geschaffen wurde.166 Zwar erfolgt keine vollständige Gleichstellung mit Flüchtlingen, 162 So BGH, Urteil v. 11.10.2006 – XII ZR 79/04, JZ 2007, 738, mit Anm. Rauscher, JZ 2007, 741, 742; Budzikiewicz, StAZ 2017, 289, 293; Hohloch, in: Erman, BGB, 2017, Art. 5 EGBGB Rn. 95; Lorenz, in: BeckOK BGB, 2020, Art. 5 EGBGB Rn. 30; Mankowski, IPRax 2017, 40, 45; Schulze, in: Nomos Kommentar, BGB, 2016, Art. 5 EGBGB Anh. II Rn. 18 f.; Thorn, in: Palandt, BGB, 2020, Art. 5 EGBGB Anh. Rn. 27; a.A.: Bausback, in: Staudinger, BGB, 2013, Art. 5 EGBGB Anh. IV Rn. 56 und mit ausführlicher Begründung Lass, Der Flüchtling im IPR, 1995, S. 92 f. 163 Mankowski, IPRax 2017, 40, 45; zur Reichweite des Ermittlungsgrundsatzes Lass, Der Flüchtling im IPR, 1995, S. 95 ff. 164 Vgl. Arnold, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinkhammer/Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 25, 44. 165 Arnold, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinkhammer/Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 25, 42 f.; Rupp, ZfPW 2018, 57, 70; für den Standesbeamten vgl. Budzikiewicz, StAZ 2017, 289, 292. 166 Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, AsylG, 2020, § 4 AsylG Rn. 1; Mankowski, IPRax 2017, 40, 42; Marx, AsylG, 2019, § 4 AsylG Rn. 3/5; zum Verhältnis von subsidiärem Schutz und Schutz nach der GFK vgl. ferner EuGH, Urteil v. 8.5.2014 – Rs. C-604/12, H.N. ./. Minister for Justice, juris Rn. 26–32.
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jedoch führt die den subsidiär Schutzberechtigten nach § 25 Abs. 2 S. 1 2. Alt. AufenthG zu erteilende Aufenthaltsgenehmigung dazu, dass die Betroffenen von De-facto-Flüchtlingen zu De-iure-Flüchtlingen werden. Der UNHCR spricht auch von „Flüchtlingen im weiteren Sinne“.167 Im Gegensatz zu der Vorgänger-Richtlinie 2004/83/EG, deren eingeführter Schutzstatus nicht in das deutsche Recht umgesetzt, sondern durch die aufenthaltsrechtlichen Abschiebeverbote in § 60 Abs. 2, Abs. 3 und Abs. 7 AufenthG erfasst wurde, ist die RL 2011/95/EU von 2011 im Jahr 2013 in §§ 1,4 AsylG konkret umgesetzt worden.168 § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG enthält eine Legaldefinition, die Art. 2 lit. a) RL 2011/95/EU entspricht: „(1) Dieses Gesetz gilt für Ausländer, die Folgendes beantragen: [...] 2. internationalen Schutz nach der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 337 vom 20.12.2011, S. 9); der internationale Schutz im Sinne der Richtlinie 2011/95/EU umfasst den Schutz vor Verfolgung nach dem Abkommen vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560) und den subsidiären Schutz im Sinne der Richtlinie; [...]“
I. Voraussetzungen der Zuerkennung Nach Art. 2 lit. f) RL 2011/95/EU bezeichnet der Ausdruck „Person mit Anspruch auf subsidiären Schutz“ einen „[...] Drittstaatsangehörigen oder einen Staatenlosen, der die Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling nicht erfüllt, der aber stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass er bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland oder, bei einem Staatenlosen, in das Land seines vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts tatsächlich Gefahr liefe, einen ernsthaften Schaden im Sinne des Artikel 15 zu erleiden […] und der den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Gefahr nicht in Anspruch nehmen will.“
Art. 15 der Richtlinie bestimmt unter der Überschrift „Ernsthafter Schaden“: „Als ernsthafter Schaden gilt: […] c) eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.
167
Mankowski, IPRax 2017, 40, 44. Heusch/Haderlein/Schönenbroicher, Das neue Asylrecht, 2016, Rn 95; Marx, AsylG, 2019, § 4 AsylG Rn. 1. 168
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[…]“
In Bezug auf die Umsetzung des deutschen Rechts wird der subsidiäre Schutzstatus gleichzeitig mit dem Asyl beantragt und § 4 Abs. 1 AsylG regelt die Voraussetzungen der Zuerkennung. 169 So muss der Ausländer nach § 4 Abs. 1 S. 1 AsylG stichhaltige Gründe für die Annahme vortragen, dass ihm in seinem Herkunftsstaat ein ernsthafter Schaden droht, wobei § 4 Abs. 1 S. 2 AsylG drei näher konkretisierende und abschließende Alternativen nennt.170 Die drohende schwere Menschenrechtsverletzung nach der RL 2011/95/EU ist von der Schwelle der Intensität her unterhalb der politischen Verfolgung und der Verfolgung i.S.d. GFK einzuordnen. 171 § 4 Abs. 3 AsylG ordnet zwar an, dass die für die Flüchtlingsanerkennung in §§ 3c–3e AsylG formulierten Regelungen auch für den subsidiären Schutz gelten.172 Der Unterschied zu den Flüchtlingen besteht jedoch darin, dass bei den subsidiär Schutzberechtigten nicht an das persönliche Merkmal der drohenden Verfolgung angeknüpft, sondern Schutz vor einem bestimmten objektiv beschriebenen Schaden unabhängig von subjektiven Merkmalen gewährt wird.173 So muss der drohende ernsthafte Schaden sich nicht individuell auf die betroffene Person beziehen, sondern generell im Herkunftsstaat durch bewaffnete Konflikte oder schwere Menschenrechtsverletzungen in Form von Todesstrafe oder Folter eine Gefahr für Leib und Leben drohen. Anhand einer Prognoseentscheidung ist festzustellen, ob das Eintreten eines ernsthaften Schadens hinreichend wahrscheinlich ist. 174 Die Voraussetzungen des „ernsthaften Schadens“ 175 und des „innerstaatlichen bewaffneten Konflikts“ 176 wur169 Die Möglichkeit einer gleichzeitigen Antragstellung bezüglich Flüchtlingsstatus und subsidiären Schutz in den Rechten der Mitgliedstaaten ist im Sinne einer effektiven Rechtsausübung europarechtlich geboten. Vgl. hierzu EuGH, Urteil v. 08.05.2014 – Rs. C604/12, H. N. ./. Minister for Justice u.a., juris Rn. 45 ff. 170 Heusch/Haderlein/Schönenbroicher, Das neue Asylrecht, 2016, Rn. 95; Marx, Aufenthalts-, Asyl-und Flüchtlingsrecht, 2017, § 5 Rn. 31. 171 Kluth, in: BeckOK, AuslR, 2020, § 4 AsylG Rn. 4. 172 Heusch/Haderlein/Schönenbroicher, Das neue Asylrecht, 2016, Rn. 97; Marx, AsylG, 2019, § 4 AsylG Rn. 8. 173 Heusch/Haderlein/Schönenbroicher, Das neue Asylrecht, 2016, Rn. 97. 174 Ellerbrok/Hartmann, ZJS 2016, 157, 159. 175 Vgl. EuGH, Urteil v. 18.12.2014 – Rs. C-542/13, M'Bodj ./. Belgischer Staat, juris Rn. 40, wonach ein Drittstaatenangehöriger hat keinen Anspruch auf einen subsidiären Schutzstatus hat, wenn er an einer schweren Krankheit leidet und eine angemessene medizinische Versorgung in seinem Herkunftsland nicht gewährleistet ist, da der drohende ernsthafte Schaden auf einen klar identifizierbaren Akteur unmittelbar oder mittelbar zurückzuführen sein muss. 176 EuGH, Urteil v. 30.1.2014 – Rs. C-285/12, Diakté ./. Commissaire général aux réfugiés et aux apatrides, juris Rn. 30 ff., wonach der Begriff des innerstaatlichen bewaffneten Konflikts autonom auszulegen ist und sich nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch
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den vom EuGH noch zu der (diesbezüglich wortlautgleichen) VorgängerRichtlinie RL 2004/83 in mehreren Entscheidungen konkretisiert. Subsidiärer Schutz wird demzufolge vor allem Bürgerkriegsflüchtlingen wie z.B. Syrern gewährt.177 Ausschlussgründe für die Schutzgewährung nennt § 4 Abs. 2 AsylG in Umsetzung von Art. 17 RL 2011/95/EU.178 Ein solcher liegt zum Beispiel vor bei Verwirklichung der in § 4 Abs. 2 S. 1 Nr. 1–3 AsylG genannten schweren Taten oder bei einer Beteiligung daran (§ 4 Abs. 2 S. 2 AsylG) oder wenn vom Antragsteller eine Gefahr für die Allgemeinheit oder Sicherheit der Bundesrepublik ausgeht (§ 4 Abs. 2 S. 1 Nr. 4).179 Nach § 4 Abs. 3 i.V.m. § 3e AsylG sind auch Personen, die zwar die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 AsylG erfüllen, jedoch internen Schutz in ihrem Heimatland finden können, vom subsidiären Schutzstatus ausgeschlossen. 180 II. Rechtsfolgen der Zuerkennung 1. Allgemeines Anders als in der RL 2011/95/EU, die die Rechtsstellung bündelt, sind die einzelnen Rechtspositionen der subsidiär Schutzberechtigten im deutschen Recht über verschiedene Fachgesetze verteilt. Der Grundsatz der Gleichbehandlung von Konventionsflüchtlingen und subsidiär Schutzberechtigten ergibt sich aus Art. 20 Abs. 2 RL 2011/95/EU sowie aus den Erwägungsgründen 9, 10 und 11 der Richtlinie, die jeweils für beide Personengruppen gelten. Dennoch unterscheiden sich die einzelnen Rechtspositionen im Detail.181 Den subsidiär Schutzberechtigten ist nach § 25 Abs. 2 S. 1 Var. 2 i.V.m. § 26 Abs. 1 S. 3 AufenthG eine befristete Aufenthaltserlaubnis von einem Jahr zu erteilen, die nach § 25 Abs. 2 S. 2 i.V.m. § 25 Abs. 1 S. 4 AufenthG
auf eine Situation bezieht, in der die regulären Streitkräfte eines Staates auf eine oder mehrere bewaffnete Gruppen treffen oder in der zwei oder mehrere bewaffnete Gruppen aufeinandertreffen. Der Grad der Organisierung oder die Dauer des Konflikts spielen keine Rolle, sondern es kommt allein auf den Grad der Gewalt an. 177 Thym, NVwZ 2015, 1625, 1632. 178 Heusch/Haderlein/Schönenbroicher, Das neue Asylrecht, 2016, Rn. 114; Marx, AsylG, 2019, § 4 AsylG Rn. 75 f. 179 Diese Ausschlussgründe sind als ultima ratio eng auszulegen, vgl. Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, AsylG, 2020, § 4 AsylG Rn. 17. 180 Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, AsylG, 2020, § 4 AsylG Rn. 16; Heusch/ Haderlein/Schönenbroicher, Das neue Asylrecht, 2016, Rn. 113 ff. 181 Zum Ergänzungszweck des subsidiären Schutzes zum Regime der GFK vgl. EuGH, Urteil v. 8.5.2014 – Rs. C-604/12, H. N. ./. Minister for Justice u.a., juris Rn. 30 ff.; Mankowski, IPRax 2017, 40, 43; Marx, AsylG, 2019, § 4 AsylG Rn. 82 f.; ders., Aufenthalts-, Asyl- und Flüchtlingsrecht, 2017, § 5 Rn. 32.
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Zweiter Teil: Migration als Herausforderung für das IPR
auch zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit berechtigt (im Vergleich: Konventionsflüchtlinge bekommen die Erlaubnis für drei Jahre). 182 Eine Niederlassungserlaubnis bekommen die subsidiär Schutzberechtigten nicht wie Konventionsflüchtlinge gem. § 26 Abs. 3 S. 1 AufenthG frühestens nach drei Jahren, sondern gem. § 26 Abs. 4 i.V.m. § 9 Abs. 2 AufenthG nach fünf Jahren. Eine Niederlassungserlaubnis nach drei Jahren ist jedoch bei besonders guter Integration möglich. 183 Zudem ordnet § 26 Abs. 5 AsylG für subsidiär Schutzberechtigte entsprechend an, dass Angehörigen eines subsidiär Schutzberechtigten gem. § 26 Abs. 1 AsylG grundsätzlich ebenfalls der subsidiäre Schutzstatus zuzuerkennen ist. Unterschiede bei der Sozialhilfe für Flüchtlinge und subsidiär Schutzberechtigte macht Art. 29 Abs. 2 RL 2011/95/EU, wonach die Mitgliedstaaten die Sozialhilfe für Personen, denen der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt worden ist, auf Kernleistungen beschränken können, die sie dann aber im gleichen Umfang und unter denselben Voraussetzungen wie für eigene Staatsangehörige gewähren müssen. 184 2. Besonderheiten beim Familiennachzug Zwar wird in § 26 Abs. 5 AsylG das Recht auf Familienasyl auf subsidiär Schutzberechtigte erstreckt, jedoch bestehen Unterschiede bezüglich des Familiennachzugs. Bis zum 31.07.2015 unterfielen subsidiär Schutzberechtigte gem. § 25 Abs. 2 S. 1 Alt. 2 AufenthG dem § 29 Abs. 3 AufenthG (i.d.F.v. 02.12.2013).185 Das heißt, dass Ehegatten und Kinder nur aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung der politischen Interessen der Bundesrepublik nachziehen durften. Das für den Nachzug erforderliche Angehörigenverhältnis ist wie beim Familienasyl grundsätzlich als kollisionsrechtliche Vorfrage zu prüfen.186 Mit Wirkung zum 01.08.2015 erfolgte eine Gleichstellung mit den Asylberechtigten und Flüchtlingen, sodass ein Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten nach § 29 Abs. 2 AufenthG (i.d.F.v. 01.08.2015) grund182
Hailbronner, Asyl- und Ausländerrecht, 2017, Rn. 488 f.; Mankowski, IPRax 2017, 40, 43; Marx, Aufenthalts-, Asyl- und Flüchtlingsrecht, 2017, § 5 Rn. 33; zu den Unterschieden zum Flüchtlingsstatus Ellerbrok/Hartmann, NVwZ 2017, 522, 526. 183 v. Harbou, NVwZ 2016, 1193, 1197; ders., NJW 2016, 2700, 2703 f.; Mankowski, IPRax 2017, 40, 43. 184 Vgl. Mankowski, IPRax 2017, 40, 43. 185 „ […] Die Aufenthaltserlaubnis darf dem Ehegatten und dem minderjährigen Kind eines Ausländers, der eine Aufenthaltserlaubnis nach den §§ 22, 23 Abs. 1 oder § 25 Absatz 2 Satz 1 zweite Alternative oder Absatz 3 besitzt, nur aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland erteilt werden.[...]“. 186 Vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 20.5.2014 – OVG 3 M 7/14, NJW 2014, 2665.
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sätzlich möglich wurde.187 In Reaktion auf den massiven Flüchtlingszustrom im Spätsommer 2015 wurde jedoch mit dem „Gesetz zur Einführung beschleunigter Asylverfahren vom 11. März 2016“ § 104 Abs. 13 S. 1 AufenthG (i.d.F.v. 17.03.2016) eingefügt, der den in § 29 Abs. 2 AufenthG geregelten Familiennachzug für zwei Jahre bis zum 16.03.2018 aussetzte. Dies galt nicht für ab dem 01.01.2016 Eingereiste, die nach dem 17.03.2016 eine Aufenthaltserlaubnis erteilt bekommen haben. 188 Die Anwendbarkeit des § 104 Abs. 13 S. 1 AufenthG wurde in seiner Neufassung vom 16.03.2018 zunächst bis zum 31.07.2018 verlängert. 189 Gleichzeitig wurde gem. § 104 Abs. 13 S. 2 AufenthG (i.d.F.v. 16.03.2018) für Angehörige von subsidiär Schutzberechtigten ein Kontingent von 1000 Aufenthaltserlaubnissen monatlich zur Verfügung gestellt. 190 Seit dem 01.08.2018 gilt für den Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten § 36a AufenthG, nach dessen Absatz 1 dem Ehegatten oder dem minderjährigen ledigen Kind eines Ausländers, der eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 S. 1 2. Alt. AufenthG besitzt, aus humanitären Gründen eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden kann. Da die Regelung den Familiennachzug auf humanitäre Gründe beschränkt und zudem kontingentiert ist, stellt sich die Frage nach der Vereinbarkeit mit dem Unions-, Völker- und Verfassungsrecht. 191 So wird vertreten, dass die Regelung mit der FamilienzusammenführungsRL unvereinbar sei, da diese einen Rechtsanspruch auf Familiennachzug normiert, der nur in engen Grenzen beschränkbar ist. 192 In Frage steht ferner die Vereinbarkeit der Ungleichbehandlung von Flüchtlingen und subsidiär Schutzberechtigten mit dem Diskriminierungsverbot nach Art. 14 i.V.m.
187
Thym, NVwZ 2015, 1625, 1627 f. Vgl. dazu Heusch/Haderlein/Schönenbroicher, Das neue Asylrecht, 2016, Rn. 442; Thym, NVwZ 2016, 409, 413 f. 189 § 104 Abs. 13 S. 1 AufenthG i.d.F.v. 16.03.2018: „Die Vorschriften von Kapitel 2 Abschnitt 6 in der bis zum 31. Juli 2018 geltenden Fassung finden weiter Anwendung auf den Familiennachzug zu Ausländern, denen bis zum 17. März 2016 eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Absatz 2 Satz 1 zweite Alternative erteilt worden ist, wenn der Antrag auf erstmalige Erteilung eines Aufenthaltstitels zum Zwecke des Familiennachzugs zu dem Ausländer bis zum 31. Juli 2018 gestellt worden ist.“ 190 Kritisch Bartolucci/Pelzer, ZAR 2018, 133, 134: „Offenbar sieht der Gesetzgeber in diesem Feld neuerdings eine von grund- und menschenrechtlichen Vorgaben losgelöste Steuerungsmöglichkeit, mittels derer politisch gewünschte ‚Obergrenzen‘ für Einwanderung realisiert werden können.“ 191 Zum Ganzen ausführlich Bartolucci/Pelzer, ZAR 2018, 133. 192 Bartolucci/Pelzer, ZAR 2018, 133, 135. 188
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Zweiter Teil: Migration als Herausforderung für das IPR
Art. 8 EMRK.193 Andererseits verneint der EuGH ein generelles Grundrecht auf Familienzusammenführung.194 Auch aus Art. 8 EMRK folgt laut EGMR kein Recht auf freie Wahl des ehelichen Wohnsitzes und damit keine Pflicht der Staaten einen Gebietszugang zu ermöglichen. Die Vereinbarkeit mit Art. 8 EMRK hängt aber jeweils von einer sorgfältigen Abwägung zwischen öffentlichen Interessen und denen der Betroffenen ab. Die Ablehnung des Familiennachzugs ist in den Augen des EGMR jedenfalls dann legitim, wenn die Familieneinheit in zumutbarer Weise in einem anderen Staat hergestellt werden kann (sogenannter elsewhere-approach).195 Die Verwehrung des Nachzugsrechts von Kindern bzw. Eltern zu ihren Kindern kann zudem unter Umständen gegen Art. 3 UN–KRK verstoßen, wenn das Ermessen der Behörden sich nicht ausreichend am Kindeswohl orientiert hat.196 Die Aussetzung des Familiennachzugs gilt als grundsätzlich konform mit Art. 6 GG, dem das BVerfG kein Individualrecht auf das Zusammenleben im Bundesgebiet entnimmt. 197 So folgt aus der Verfassung zwar kein Anspruch auf Nachzug, jedoch sind die Belange des Einzelnen stets gegen die tangierten öffentlichen und migrationspolitischen Belange abzuwägen. 198 Fällt die Abwägung zugunsten des Betroffenen aus, muss es folgerichtig eine Alternative zur vollständigen Aussetzung des Nachzugs geben. 199 Die Problematik der Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht lässt sich im Ergebnis wohl nur durch eine genaue Abwägung aller Gesamtumstände im Einzelfall, gegebenenfalls mittels richtlinien- bzw. verfassungskonformer Auslegung, auflösen. 200 3. Kollisionsrecht Für die Regelung zivilrechtlicher Sachverhalte mit Auslandsbezug enthält die RL 2011/95/EU keine Kollisionsnormen für subsidiär Schutzberechtigte und auch das deutsche IPR enthält keine Vorgabe für diese Personengruppe, so193
Vgl. Bartolucci/Pelzer, ZAR 2018, 133, 137. EuGH, Urteil v. 27. 6. 2006 – Rs. C-540/03, Europäisches Parlament ./. Rat der Europäischen Union, NVwZ 2006, 1033. 195 EGMR, Urteil v. 28.5.1985 – Nr. 9214/80, Abdulaziz u.a. ./. Vereinigtes Königreich, NJW 1986, 3007; Bartolucci/Pelzer, ZAR 2018, 133, 136. 196 Bartolucci/Pelzer, ZAR 2018, 133, 137 f. 197 BVerfG, Beschluss v. 12.5.1987 – 2 BvR 1226/83, 2 BvR 101/84 und 2 BvR 313/84, NJW 1988, 626. 198 BVerfG, Beschluss v. 12.5.1987 – 2 BvR 1226/83, 2 BvR 101/84 und 2 BvR 313/84, NJW 1988, 626, 629. 199 Vgl. Bartolucci/Pelzer, ZAR 2018, 133, 135, 138 f., die zudem §§ 22, 23 AufenthG als Ausgleich ungeeignet halten. 200 Vgl. Bartolucci/Pelzer, ZAR 2018, 133, 141. 194
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dass man den subsidiären Schutzstatus auf den ersten Blick für das IPR bedeutungslos halten könnte. 201 Jedoch kann man die Richtlinie als eine der neuen Ausformungen des Anknüpfungssubjekts „Flüchtling“ sehen, was die später behandelte Frage nach einer auch kollisionsrechtlichen Gleichstellung der subsidiär Schutzberechtigten mit den Konventionsflüchtlingen aufwirft. 202 III. Beendigung des Schutzstatus Der subsidiäre Schutzstatus ist nach § 73b Abs. 1 S. 1 AsylG zu widerrufen, wenn die Umstände, die zur Zuerkennung des subsidiären Schutzes geführt haben, nicht mehr bestehen oder sich so verändert haben, dass ein solcher Schutz nicht mehr erforderlich ist. 203 Eine Rücknahme nach § 73b Abs. 3 AsylG erfolgt, wenn der Ausländer von der Gewährung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 2 AsylG hätte ausgeschlossen werden müssen oder ausgeschlossen ist oder die Zuerkennung subsidiären Schutzes auf einer falschen Darstellung von Tatsachen, dem Verschweigen von Tatsachen oder dem Verwenden gefälschter Dokumente beruht.204 G. Personen außerhalb des Internationalen Schutzes I. Personen mit Aufenthaltstitel Personen, deren Asylantrag abgelehnt wurde und die keine subsidiäre Schutzberechtigung bekommen, können dennoch eine (auch dauerhafte) Aufenthaltserlaubnis erhalten. 205 Über die Aufenthaltserlaubnis und das Vorliegen eines Abschiebeverbots entscheidet das Bundesamt im Rahmen eines Asylantrags oder bei einem Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis die zuständige Ausländerbehörde.206 Die Ausländerbehörde ist grundsätzlich an die Entscheidungen des Bundesamts im Asylverfahren gebunden, nur wenn extreme Gefahren für Leib oder Leben drohen, hat sie eine eigenständige Prüfungskompetenz. 207
201
So Thorn, in: Palandt, BGB, 2020, Art. 5 EGBGB Anh. Rn. 20. 2. Teil, 6. Kap. 203 Mankowski, IPRax 2017, 40, 42. 204 Mankowski, IPRax 2017, 40, 43. 205 Mankowski, IPRax 2017, 40, 45. Statistisch hat in Deutschland ein erheblicher Prozentsatz der abgelehnten Asylbewerber einen (nicht) dauerhaften Aufenthaltstitel; für Zahlen siehe Fn. 9. 206 Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, AsylG, 2020, § 1 AsylG Rn. 3; Preisner, in: BeckOK AuslR, 2020, § 1 AsylG Rn. 12. 207 Heusch/Haderlein/Schönenbroicher, Das neue Asylrecht, 2016, Rn. 117; Marx, Aufenthalts-, Asyl- und Flüchtlingsrecht, 2017, § 5 Rn. 36. 202
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Die Bindungswirkung des § 6 AsylG bezieht sich hingegen nicht auf die Entscheidung über das Vorliegen eines Abschiebungsverbots. 208 In § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG finden sich die zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbote, die sich nur auf den Zielstaat beziehen, in dem die Gefahr droht. § 60 Abs. 5 AufenthG enthält einen unmittelbaren Verweis auf die Abschiebeverbote in Art. 3 EMRK, welcher insofern deklaratorisch ist, als die EMRK seit ihrer Ratifizierung den Rang eines einfachen Bundesgesetzes hat.209 Nach § 60 Abs. 7 AufenthG besteht ferner ein Abschiebungsverbot, wenn die Rechtsgüter Leben, Leib und Freiheit des Betroffenen gefährdet sind, wobei eine konkrete Gefahr und eine hohe Wahrscheinlichkeit der Rechtsgutsverletzung vorliegen müssen. 210 Haben die Angehörigen des Betroffenen einen eigenen Schutzstatus und halten sich in Deutschland auf, ist nach jüngster Rechtsprechung des BVerwG keine separate Betrachtung der Familienmitglieder vorzunehmen, sondern der inländisch gelebte Familienverband entsprechend der Vorgaben des Art. 8 EMRK und Art. 6 GG bei der Rückkehrprognose im Rahmen der Prüfung einer Abschiebungsmöglichkeit zu berücksichtigen. 211 Die Aufenthaltserlaubnis ist gem. § 25 Abs. 3 S. 2 AufenthG zu versagen, wenn schwerwiegende Gründe die Annahme rechtfertigen, dass der Ausländer Menschenrechtsverletzungen oder ähnlich schwere Straftaten begangen hat oder der Ausländer gegen Mitwirkungspflichten verstößt. 212 Rechtsfolge des Vorliegens eines Abschiebungsverbotes ist gem. § 25 Abs. 3 S. 1 AsylG in der Regel die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für mindestens ein Jahr.213 Der Ausländerbehörde kommt kein Ermessen zu, sie darf jedoch das Vorliegen eines atypischen Ausnahmefalls prüfen. 214 Der Zugang zum Arbeitsmarkt bedarf gem. § 18 Abs. 2 S. 1 AufenthG einer Erlaubnis der Ausländerbehörde.215 Grundsätzlich kann dem Ausländer nach drei Jahren unun208
Marx, Aufenthalts-, Asyl- und Flüchtlingsrecht, 2017, § 5 Rn. 37. Damit geht der nationale Gesetzgeber weiter als in Art. 33 GFK gefordert, vgl. Heusch/Haderlein/Schönenbroicher, Das neue Asylrecht, 2016, Rn. 117 f.; Marx, Aufenthalts, Asyl- und Flüchtlingsrecht, 2017, § 5 Rn. 36 f. 210 Der häufigste Grund ist eine mangelnde medizinische Versorgung im Heimatland bei schwerer Krankheit. Seit dem Asylpaket II (oben Fn. 203) sind hier verschärfte Maßstäbe anzusetzen, vgl. Heusch/Haderlein/Schönenbroicher, Das neue Asylrecht, 2016, Rn. 123; Kluth, ZAR 2016, 121, 126; Thym, NVwZ 2016, 409, 412. 211 BVerwG, Urteil v. 4.7.2019 – 1 C 45.18 u.a., BeckRS 2019, 18363. 212 Hailbronner, Asyl- und Ausländerrecht, 2017, Rn. 497 ff. 213 Hailbronner, Asyl- und Ausländerrecht, 2017, Rn. 506; Heusch/Haderlein/ Schönenbroicher, Das neue Asylrecht, 2016, Rn. 131; Marx, Aufenthalts-, Asyl- und Flüchtlingsrecht, 2017, § 5 Rn. 40. 214 Marx, Aufenthalts-, Asyl- und Flüchtlingsrecht, 2017, § 5 Rn. 38 ff. 215 Vgl. Hailbronner, Asyl- und Ausländerrecht, 2017, Rn. 494/506; Heusch/ Haderlein/Schönenbroicher, Das neue Asylrecht, 2016, Rn. 117; Marx, Aufenthalts-, Asylund Flüchtlingsrecht, 2017, § 5 Rn. 40. 209
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terbrochenen Aufenthalts eine Beschäftigungserlaubnis erteilt werden. Eine generelle Berechtigung zur Erwerbstätigkeit wie bei einem subsidiären Schutzstatus gibt es jedoch nicht. 216 Nicht nur die genannten Abschiebungsverbote führen zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. So wurde im Zuge der Bleiberechtsreform im August 2015 § 17a AufenthG eingeführt, der einen Aufenthaltstitel zur Durchführung von bestimmten Bildungsmaßnahmen im Inland zur Anerkennung einer ausländischen Berufsqualifikation zuerkennt. 217 Durch das Integrationsgesetz von 2016218 wurde zudem § 18a AufenthG eingefügt, der das Erlangen einer Aufenthaltserlaubnis zum Zweck der Beschäftigung auf qualifizierte Geduldete erweitert.219 Ein Familiennachzug zu Personen mit Aufenthaltstitel kommt gem. § 29 Abs. 3 S. 1 AufenthG nur aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung der politischen Interessen der Bundesregierung in Betracht.220 II. Personen ohne Aufenthaltstitel Neben der zuvor genannten Personengruppe, die eine gute Bleibeperspektive auf legalem Boden hat, gibt es noch die große Gruppe nicht anerkannter Asylbewerber, geduldeter und illegaler Migranten (zumeist Wirtschaftsmigranten) ohne Aufenthaltstitel. 221 Zunächst werden abgelehnte Asylbewerber trotz fehlender Aufenthaltserlaubnis häufig geduldet. Die Duldung ist im deutschen Recht ein eigener Aufenthaltstitel und muss gemäß der Voraussetzungen des § 60a Abs. S. 3 oder 4 AufenthG von der zuständigen Ausländerbehörde erteilt werden. 222 § 60a AufenthG definiert die Duldung als vorübergehende Aussetzung der Abschiebung und nennt als Voraussetzung im Gegensatz zu § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG (zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, s.o.) bestimmte inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse bei der Abschiebung, die rechtliche und tatsächliche Gründe (z.B. ärztliches Attest zur Reiseunfähigkeit) haben können. 223 Zu einer rechtlichen Duldung führt es beispielsweise, wenn der umgangsberechtigte Vater vom deutschen Kind getrennt würde224, was sogar dann gilt, wenn der (werdende) 216
Heusch/Haderlein/Schönenbroicher, Das neue Asylrecht, 2016, Rn. 131. v. Harbou, ZAR 2015, 343. 218 Integrationsgesetz vom 31. Juli 2016, BGBl. 2016 I S. 1939. 219 v. Harbou, NVwZ 2016, 1193, 1194. 220 Heusch/Haderlein/Schönenbroicher, Das neue Asylrecht, 2016, Rn. 131. 221 Mankowski, IPRax 2017, 40, 46. 222 Mankowski, IPRax 2017, 40, 46. 223 Gutmann, NJW 2010, 666; Mankowski, IPRax 2017, 40, 46. 224 Vgl. BVerfG, Beschluss v. 9. 1. 2009 – 2 BvR 1064/08, NVwZ 2009, 387; Gutmann, NJW 2010, 666. 217
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Vater illegal eingereist ist.225 Tatsächliche Vollstreckungshindernisse stellen z.B. ein internationales Flugverbot für das potentielle Ausreiseland oder auch die Reiseunfähigkeit des Betroffenen dar, für die er gem. § 60a Abs. 2c und 2d und AufenthG unverzüglich ein ärztliches Attest vorlegen muss.226 Neben Vollstreckungshindernissen bei der Abschiebung kann auch eine Ausbildung gem. § 60a Abs. 2 S. 4 AufenthG zu einem Duldungstitel führen.227 Ein dauerhafter Status als Geduldeter widerspricht dem Willen des Gesetzgebers, sodass die Duldung eigentlich längstens für sechs Monate gewährt werden soll. In der Praxis kommt es aber häufig zu Kettenduldungen, wenn die Vollstreckungshindernisse nach den sechs Monaten immer noch vorliegen.228 Wegen dieser Fälle soll gem. § 25 Abs. 5 S. 2 AufenthG nach einer Duldung von achtzehn Monaten eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden.229 Eine Beschäftigungserlaubnis der Arbeitsagentur kann nach drei Monaten (§ 32 Abs. 1 BeschV) erteilt werden, wobei die Zustimmungspflicht nach vierjährigem Aufenthalt entfällt (§ 32 Abs. 2 Nr. 5 BeschV). Die Duldung erlischt mit Wegfall des Abschiebungshindernisses bzw. mit der Ausreise des Ausländers. 230 Beruft sich der Ausländer hingegen statt auf Vollstreckungshindernisse bei der Abschiebung auf Asylgründe ist er auf das Asylverfahren zu verweisen, ihm steht insoweit keine Wahl zwischen den Verfahren bei der Asyl- oder Ausländerbehörde zu. 231 Neben den Geduldeten gibt es ferner eine große Gruppe ausländerrechtlicher Illegaler ohne gültigen Aufenthaltstitel. Die Gründe für Illegalität sind vielfältig: fehlende Ausweispapiere (daher der französische Ausdruck „sanspapiers“ für die Illegalen), Personalmangel bei den zuständigen Behörden, Nichtgreifbarkeit infolge Untertauchens und fehlender Abschiebewille. 232 Art. 14 Abs. 6 RL 2011/95/EU vermittelt diesen Migranten, die keinen Flüchtlingsstatus oder subsidiären Schutzstatus erhalten, einige Rechte nach der Konvention, die keinen rechtmäßigen Aufenthalt voraussetzen: Es finden Art. 3 GFK (Verbot diskriminierender Behandlung), Art. 4 GFK (Recht auf 225
Vgl. OVG Hamburg, Beschluss v.14. 8. 2008 – 4 Bs 84/08, NVwZ-RR 2009, 133; OVG Bautzen, Beschluss v. 2.10.2009 – 3 B 482/09, NVwZ-RR 2010, 78; OVG Hamburg, NVwZ-RR 2010, 701. 226 Die Anforderungen an ärztliche Atteste wurden durch das Asylpaket II (s.o. Fn. 203) erhöht, vgl. Mankowski, IPRax 2017, 40, 46; Thym, NVwZ 2016, 409, 412. 227 Die Ausbildungsduldung wurde durch das Integrationsgesetz von 2016 geschaffen und geht bei erfolgreichem Ausbildungsabschluss in ein zweijähriges Aufenthaltsrecht über, vgl. v. Harbou, NVwZ 2016, 1193, 1194 f.; ders., NJW 2016, 2700, 2701. 228 Gutmann, NJW 2010, 666. 229 Ibid. 230 Gutmann, NJW 2010, 666, 667 231 Gutmann, NJW 2010, 666. 232 Mankowski, IPRax 2017, 40, 46.
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Religionsausübung), Art. 16 GFK (Zugang zu den Gerichten), Art 22 GFK (Recht auf öffentliche Erziehung), Art. 31 GFK (Verbot der Bestrafung wegen illegaler Einreise), Art. 32 GFK (Ausweisungsschutz) und Art. 33 GFK (Refoulement) Anwendung. 233 III. Exkurs: Sog. sans-papiers als Staatenlose Einer der häufigsten Gründe eines tatsächlichen Abschiebungshindernisses im Sinne des § 60a AufenthG ist das Fehlen eines aufnahmebereiten Staates. Denn viele Asylbewerber werfen ihren Pass einfach weg oder er wurde ihnen von Schleppern abgenommen. Dies schützt faktisch vor einer Abschiebung, da die Behörden das Herkunftsland nicht eindeutig bestimmen können bzw. dies mit erheblichem Aufwand verbunden ist. In Zweifelsfällen sind viele afrikanische Staaten nicht gewillt, vermeintliche Staatsangehörige wieder zurückzunehmen. Ähnlich ist die Situation, wenn die Ersatzpapiere durch sog. failed states nicht ausgestellt werden können. Manche Staaten stellen auch gar keine Ausweisdokumente aus oder nur gegen „Schmiergelder“. Das IPR ist zwar nicht an Papiere gebunden, in der Regel ist dies aber die einzige Möglichkeit zur Feststellung der Staatsangehörigkeit. Gleichzeitig müssen die Gerichte je nach Möglichkeit andere Maßnahmen zur Ermittlung der Staatsangehörigkeit ergreifen, bevor sie eine Staatenlosigkeit feststellen. 234 Ist die Staatsangehörigkeit einer Person trotzdem nicht positiv feststellbar, liegt De-facto-Staatenlosigkeit vor.235 Während De-facto-Staatenlosigkeit vom New Yorker Staatenlosen-Übereinkommen nicht erfasst ist, findet die Vorschrift des Art. 5 Abs. 2 EGBGB ausdrücklich auch auf De-facto-Staatenlose Anwendung. 236 Der Betreffende hätte damit ein deutsches Personalstatut. Wenn dieses Ergebnis durch eine gezielte Manipulation (bewusste Entledigung der Ausweispapiere) herbeigeführt wurde, stellt sich die Frage, ob ihm im Wege der fraus legis entgegenzuwirken ist. Würde man jedoch anknüpfen, als hätte die Manipulation nicht stattgefunden, käme man aufgrund fehlender Feststellbarkeit der Staatsangehörigkeit indes wieder zur Anwendung des Aufenthaltsrechts. Daneben ist auch der Beweis, dass die Ausweispapiere tatsächlich absichtlich verloren wurden, schwer, wenn nicht gar unmöglich zu führen.237 233
Marx, AsylG, 2019, § 3 AsylG Rn. 85 ff. Der Grundsatz der Nichtzurückweisung, auch Nichtzurückweisungsprinzip oder Refoulement-Verbot genannt, ist ein völkerrechtlicher Grundsatz, der das Verbot der Rückführung in Staaten aufstellt, in denen Personen Folter oder andere schwere Menschenrechtsverletzungen drohen. 234 Hohloch, in: Erman, BGB, 2017, Art. 5 EGBGB Rn. 11. 235 Vgl. Budzikiewicz, StAZ 2017, 289, 295; Hohloch, in: Erman, BGB, 2017, Art. 5 EGBGB Rn. 11. 236 Vgl. Budzikiewicz, StAZ 2017, 289, 295 f. 237 Zu dieser Problematik ausführlich Mankowski, IPRax 2017, 130, 135 f.
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H. Zusammenfassendes Ergebnis zum IPR Für das Kollisionsrecht lässt sich zusammenfassend feststellen, dass bei Personen, die einen Flüchtlingsstatus besitzen, der sich aus der Definition des Art. 1 A GFK oder des Flüchtlingsprotokolls ableitet, und bei anerkannten Asylberechtigten hinsichtlich ihres Personalstatuts nach Art. 12 Abs. 1 GFK ein Umschwenken auf die Wohnsitzanknüpfung erfolgt. Möchte eine Person aus dieser Gruppe z.B. in Deutschland heiraten, findet nicht mehr nach Art. 13 Abs. 1 EGBGB das Heimatrecht, sondern über Art. 12 Abs. 1 GFK deutsches Recht auf die Eheschließung Anwendung. Auf den Rest der Ausländer (subsidiärer Schutzstatus, Aufenthaltstitel, Geduldete, Asylbewerber, Ausreisepflichtige) findet das autonome IPR Anwendung. So hat ein Aufenthaltstitel allein zunächst keine Auswirkungen auf das IPR, sodass das Personalstatut weiterhin der Regelanknüpfung unterliegt. Mithin besteht kein Unterschied beim Kollisionsrecht im Vergleich zum Ausländer ohne Fluchthintergrund.238 Im Bereich des auf die persönlichen Rechtsverhältnisse dieser Flüchtlinge anwendbaren Rechts wird somit häufig an die Staatsangehörigkeit angeknüpft. Dabei befindet sich die Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit im autonomen IPR insgesamt auf dem Rückzug, aber es gibt einige Beispiele im EGBGB, die bisher noch nicht europäisch vereinheitlicht sind, insbesondere die Rechts- und Geschäftsfähigkeit nach Art. 7 Abs. 1 EGBGB, der Name nach Art. 10 Abs. 1 EGBGB, die materiellen Voraussetzungen der Eheschließung nach Art. 13 EGBGB und die Vormundschaft nach Art. 24 EGBGB.239 Ob dies bei einer dauerhaften Aufenthaltsnahme im Inland eventuell verbunden mit Ausübung eines Berufs und Familiengründung legitim ist, bleibt zu untersuchen. Auch hinsichtlich der Geduldeten stellt sich die Frage nach der Relevanz für das Kollisionsrecht. Denn je länger die Duldung oder der illegale Aufenthalt der betreffenden Person andauert, desto stärker verfestigt sich ihr (gewöhnlicher) Aufenthalt und desto größer wird auch ihre Distanz zum Heimatland.240 Dies führt internationalprivatrechtlich zu der zwingenden Frage nach der Legitimation der Staatsangehörigkeit als maßgeblichem Anknüpfungspunkt bezüglich des Personalstatus des Ausländers. Einerseits verfestigt sich auf privater Ebene rein faktisch die Integration im Aufnahmestaat, andererseits ist der Status als Geduldeter aus ausländerrechtlicher Sicht ein eher schwacher Status ohne gefestigte Bleibeperspektive. Zudem kann die oben beschriebene Möglichkeit der Erschleichung eines deutschen Personalstatuts durch Entledigung von Ausweispapieren zu einem Ungleichgewicht in dieser Personengruppe führen. Auf der anderen Seite spielt sicherlich auch die Ent238
Mankowski, IPRax 2017, 40, 46. Vgl. Budzikiewicz, StAZ 2017, 289, 290; v. Hein, in: Juristische Studiengesellschaft Jahresband, 2018, S. 29, 35. 240 Mankowski, IPRax 2017, 40, 46, 49. 239
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scheidung des Gesetzgebers auf staatsvertraglicher und europarechtlicher Ebene, diesen Personen gerade keinen rechtlich relevanten Fluchtgrund zuzusprechen, eine Rolle. 241 Ähnliches gilt bezüglich Asylbewerbern im laufenden Verfahren. Die Verfestigung des Aufenthalts und die tatsächliche Integration in den Aufnahmestaat während des andauernden Verfahrens sprechen gegen eine Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit. Zumal ein ernsthaft gestellter Asylantrag auch noch nach der Ablehnung des Antrags für einen animus manendi der betreffenden Person spricht. Auf der anderen Seite kann aus asylrechtlicher Sicht eine unsichere Bleibeperspektive vorliegen. Diese Fragen werden im sechsten Kapitel ausführlich erörtert. I. Exkurs: Zivilverfahrensrecht Hinsichtlich des Internationalen Zivilverfahrensrechts regelt Abs. 1 GFK die verfahrensrechtliche Stellung des Flüchtlings242:
Art. 16
„1. Jeder Flüchtling hat in dem Gebiet der vertragschließenden Staaten freien und ungehinderten Zugang zu den Gerichten. 2. In dem vertragschließenden Staat, in dem ein Flüchtling seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, genießt er hinsichtlich des Zugangs zu den Gerichten einschließlich des Armenrechts und der Befreiung von Sicherheitsleistung für Prozesskosten dieselbe Behandlung wie ein eigener Staatsangehöriger.“
Damit wird der Flüchtling hinsichtlich des Zugangs zu Gerichten mit Inländern gleichgestellt. Umstritten ist, ob „Zugang“ zu den Gerichten auch die Gleichstellung mit deutschen Staatsangehörigen bezüglich der internationalen Zuständigkeit umfasst. Nach herrschender Meinung im Schrifttum wird dies unter Verweis auf den Schutzzweck der GFK bejaht. 243 Das Gegenargument, die deutsche Zuständigkeit würde unangemessen ausgedehnt, verfängt nicht, da Art. 16 Abs. 2 GFK den gegenwärtigen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland als Schranke voraussetzt. 244 Insgesamt schließt Art. 16 GFK aber nicht per se die Zuständigkeit der Gerichte des Herkunftslandes für persönli-
241
Mankowski, IPRax 2017, 40, 46. Vgl. Lass, Der Flüchtling im IPR, 1995, S. 174 f., die die Anwendbarkeit des Art. 12 GFK auch auf die verfahrensrechtliche Stellung von Flüchtlingen mit überzeugenden Argumenten verneint. Für die Auswirkungen des Flüchtlingsstatus auf Gerichtsstandsvereinbarungen vgl. Niethammer-Jürgens, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinkhammer/Niet hammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 119 ff. 243 BGH, Beschluss v. 30.6.1982 – IVb ZB 626/80 NJW 1982, 2732 sowie OLG Celle, Beschluss v. 10.9.1990 – 10 UF 178/90, NJW-RR 1991, 713: Das Gericht zieht allerdings fälschlicherweise Art. 14 EGBGB a.F. und Art. 18 EGBGB a.F. zur Bestimmung des anwendbaren (Heimat-) Rechts und nicht Art. 12 GFK heran. Dafür mit Berufung auf die Entstehungsgeschichte der Norm Raape/Sturm, IPR I, 1977, S. 151. Offengelassen von BGH, Urteil v. 18.10.1989 – IVb ZR 76/88, NJW 1990, 636. 244 Überzeugend Lass, Der Flüchtling im IPR, 1995, S. 178 f. 242
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Zweiter Teil: Migration als Herausforderung für das IPR
che Rechtsfragen des Flüchtlings aus, sondern es bedarf einer Prüfung im Einzelfall, ob die Interessen des Flüchtlings beeinträchtigt würden. Dies gilt beispielsweise, wenn es um Sorgerechtsstreitigkeiten geht und ein Elternteil noch seinen Wohnsitz bzw. gewöhnlichen Aufenthalt in seinem Heimatstaat hat.245 Erwähnt sei auch hier schon die Sonderregelung des Art. 13 EuEheVO, der an späterer Stelle bei der Behandlung der Problematik um unbegleitete mi nderjährige Flüchtlinge relevant wird. 246 Art. 13 EuEheVO regelt die Zuständigkeit aufgrund der Anwesenheit des Kindes: „(1) Kann der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes nicht festgestellt werden und kann die Zuständigkeit nicht gemäß Artikel 12 bestimmt werden, so sind die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dem sich das Kind befindet. (2) Absatz 1 gilt auch für Kinder, die Flüchtlinge oder, aufgrund von Unruhen in ihrem Land, ihres Landes Vertriebene sind.“
3. Kapitel: Auslegung des Art. 12 Abs. 1 GFK 3. Kapitel: Auslegung des Art. 12 Abs. 1 GFK
Nach der ausführlichen Auseinandersetzung mit den möglichen Anknüpfungssubjekten wird nun Art. 12 Abs. 1 GFK als maßgebliche Kollisionsnorm für die Flüchtlingsgruppe mit einem besonderen Schutzstatus, abgeleitet aus der GFK247 oder der Asylberechtigung 248, näher beleuchtet. 249 Dafür wird zunächst der Sinn und Zweck der GFK als Grundlage späterer Überlegungen erläutert (dazu A.). Hinsichtlich der Auslegungsmaßstäbe ist die GFK zwar eine auf europäischen Erfahrungen und Perspektiven beruhende Konvention, jedoch erfolgte bald eine dynamische Auslegung der Begrifflichkeiten durch die Gerichte, die vermehrt auch universelle menschenrechtliche Überlegungen einbezogen.250 Dies ist bei den zu klärenden Fragen nach dem Begriff des Personalstatuts (dazu B.) und dem Charakter des Art. 12 Abs. 1 GFK als Kollisionsnorm im engeren Sinne zu (dazu C.) zu berücksichtigen. Auf den gefundenen Ergeb-
245 Vgl. zur Anerkennung einer ungarischen Entscheidung über die Herausgabe eines Kindes BGH, Urteil v. 11.4.1979 – IV ZR 93/78, NJW 1980, 529, 530. 246 Zur EuEheVO im Flüchtlingskontext umfassend Heiderhoff/Frankemüller, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinghammer/Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 189 ff. 247 Siehe oben 2. Teil, 2. Kap., D. 248 Siehe oben 2. Teil, 2. Kap., E. 249 Zu der allgemeinen Methodik der Auslegung völkerrechtlicher Verträge sowie der Bedeutung für Art. 12 GFK vgl. Lass, Der Flüchtling im IPR, 1995, S. 99 ff. 250 Schmalz, KJ 2015, 390, 393 f.
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nissen baut die anschließende Erläuterung der Ermittlung des anwendbaren Rechts mithilfe von Art. 12 Abs. 1 GFK im fünften Kapitel auf. A. Normzweck Art. 12 Abs. 1 GFK lautet: „Das Personalstatut jedes Flüchtlings bestimmt sich nach dem Recht des Landes seines Wohnsitzes oder, in Ermangelung eines Wohnsitzes, nach dem Recht seines Aufenthaltslandes.“
In denjenigen Kollisionsnormen, die das Personalstatut regeln und an das Recht der Staatsangehörigkeit anknüpfen, wird folglich das Anknüpfungsmoment gegen den Wohnsitz und hilfsweise den schlichten Aufenthalt des Flüchtlings getauscht. 251 Auch wenn rechtstechnisch in den Vertragsstaaten (insb. des Common Law) nicht an die Staatsangehörigkeit, sondern das domicile of origin angeknüpft wird, wird dieses durch die Wohnsitzanknüpfung ersetzt.252 Im Interesse des Flüchtlings soll auf seine persönlichen Rechtsverhältnisse nicht mehr das Recht des Verfolgerstaates Anwendung finden. 253 Aus diesem Sinn und Zweck der Norm ergibt sich zudem, dass auch die Anknüpfung an das Recht des letzten gewöhnlichen Aufenthalts vermieden werden soll.254 Dies gilt auch bei Normen des Heimatrechts, die nicht konkret diskriminierend sind. 255 Gleichzeitig führt die Ersatzanknüpfung zu einer Gleichstellung mit den Einwohnern des Wohnsitzstaates, drückt damit ein mutmaßliches Interesse an der Assimilierung an die neue rechtliche Heimat aus und soll die Integration des Flüchtlings erleichtern. 256 Für internationale Flüchtlinge wird folglich aus Sicht des Kollisionsrechts die engste Verbindung für persönliche Rechtsverhältnisse nicht mehr im Recht der Staatsangehörigkeit einer Person sondern 251
Looschelders, IPR, 2004, Art. 5 EGBGB Anh. Rn. 15; Lorenz, in: BeckOK BGB, 2020, Art. 5 EGBGB Rn. 31; Mankowski, IPRax 2017, 40, 41. 252 v. Hein, in: MünchKommBGB, 2018, Art 5 EGBGB Anh. II Rn. 61. 253 Arnold, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinkhammer/Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 25, 26 f.; Dörner, in: Nomos Handkommentar, BGB, 2019, Art. 5 EGBGB Rn. 7; Lass, Der Flüchtling im IPR, 1995, S. 2 f.; Looschelders, IPR, 2004, Art. 5 EGBGB Anh. Rn. 19; Lorenz, in: BeckOK BGB, 2020, Art. 5 EGBGB Rn. 25; Mankowski, IPRax 2017, 40, 41. 254 v. Hein, in: MünchKommBGB, 2018, Art 5 EGBGB Anh. II Rn. 61; Lorenz, in: BeckOK BGB, 2020, Art. 5 EGBGB Rn. 31. 255 Arnold, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinkhammer/Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 25, 26; a.A.: Majer, StAZ 2016, 337, 339 f., der eine telelogische Reduktion auf diskriminierende Normen vorschlägt. 256 Bausback, in: Staudinger, BGB, 2013, Art. 5 EGBGB Anh. IV Rn. 47; v. Hein, in: MünchKommBGB, 2018, Art. 5 EGBGB Anh. IV Rn. 18; Lass, Der Flüchtling im IPR, 1995, S. 3; Looschelders, IPR, 2004, Art. 5 EGBGB Anh. Rn. 19; Mankowski, IPRax 2017, 40, 41; Schulze, in: Nomos Kommentar, BGB, 2016, Art. 5 EGBGB Anh. II Rn. 3.
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Zweiter Teil: Migration als Herausforderung für das IPR
in dem seines Aufenthaltsorts gesehen. 257 Diese Typisierung wurde vom Konventionsgesetzgeber trotz des Bewusstseins gewählt, dass manche Flüchtlinge möglichst schnell in die Heimat zurückkehren wollen. 258 Zudem vermeidet die Ersatzanknüpfung aus praktischer Sicht die Auseinandersetzung mit den teilweise undurchsichtigen Staatsangehörigkeitsverhältnissen, die mit der Flucht und Vertreibung und Umwälzungen in der Heimat verbunden sind. 259 Allerdings ist in diesem Kontext auch zu beachten, dass Art. 12 GFK mit dem Vormarsch der Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt im europäischen Kollisionsrecht an Bedeutung verliert. 260 B. Der Begriff des Personalstatuts Um den Anknüpfungsgegenstand in Art. 12 Abs. 1 GFK festlegen zu können, gilt es zunächst die in der Kollisionsnorm enthaltene Terminologie des Personalstatuts einer näheren Definition zuzuführen. 261 I. Begriff als Grundlage für Art. 12 Abs. 1 GFK Es gibt vier verschiedene Begriffssinne, die man dem „Personalstatut“ zugrunde legen kann. Erstens kann der persönliche Status der Person wie z.B. als Lediger gemeint sein. Dieser Begriffssinn hat jedoch für das IPR keine Bedeutung. Zweitens kann man dem „Personalstatut“ einen formellen (weiteren und uneigentlichen) Sinn zugrunde legen. Hier wird bei der Anknüpfung einer Rechtsfrage auf die davon betroffene Person abgestellt und das maßgebliche Anknüpfungsmoment (in Deutschland i.d.R. die Staatsangehörigkeit) in den Blick genommen. 262 Nach dem herrschenden Begriffsverständnis ist dem „Personalstatut“ ein dritter materieller (engerer und eigentlicher) Sinn beizumessen. Danach bezeichnet das Personalstatut diejenige Rechtsordnung, die über die persönli-
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Mankowski, IPRax 2017, 40, 41. Vgl. Hathaway, The Rights of Refugees under International Law, 2005, S. 212 f. und zu diesem grundsätzlichen Konflikt unten unter 2. Teil, 6. Kap., B.I.4. 259 Arnold, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinkhammer/Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 25, 27 f.; Bausback, in: Staudinger, BGB, 2013, Art. 5 EGBGB Anh. IV Rn. 36. 260 Vgl. Dutta, IPRax 2017, 139 ff. Für das Erbrecht vgl. Mankowski, IPRax 2015, 39, 42. 261 Mit einem Überblick über die Entstehungsgeschichte Lass, Der Flüchtling im IPR, 1995, S. 8 ff. sowie für die jeweils maßgeblichen Anknüpfungsprinzipien Rentsch, Der gewöhnliche Aufenthalt im System des Europäischen Kollisionsrechts, 2017, S. 94 ff. 262 Mansel, Personalstatut, 1988, Rn. 36. 258
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chen Rechtsverhältnisse eines Menschen entscheidet. 263 Der Blick wird somit auf die Anknüpfungsgegenstände gerichtet, die für das Personenrecht (Rechts- und Geschäftsfähigkeit, Geschlechtszugehörigkeit, Name) sowie das Familien- und Erbrecht maßgeblich sind. Dieses Begriffsverständnis wurde auch vom IPR-Gesetzgeber bei der Reform des EGBGB im Jahr 1986 zugrunde gelegt. 264 Er hat jedoch etwas unglücklich den Begriff des „Personalstatuts“ dem Art. 5 EGBGB als Überschrift vorangestellt, der wiederum die für das Personalstatut maßgeblichen Anknüpfungsmomente regelt. 265 Folge eines materiellen Begriffsverständnisses und das Abstellen auf den Anknüpfungsgegenstand ist indes, dass die Anknüpfungsmomente innerhalb des Personalstatuts und damit die anwendbaren Rechtsordnungen auseinanderfallen können. 266 Diese fehlende Konzeption des Personalstatuts als Gesamtstatut wird an späterer Stelle beim Aufstellen der These und bei möglichen Lösungsvorschlägen aufgegriffen. Viertens und letztens kann man dem „Personalstatut“ einen sachnormbezogenen Sinn geben. Trifft man beispielsweise die Aussage, dass eine Person nach ihrem Personalstatut noch nicht geschäftsfähig ist, meint man damit, dass die Person nach den Sachnormen einer bestimmten auf sie anwendbaren Rechtsordnung noch nicht geschäftsfähig ist. 267 Auch rechtsvergleichend betrachtet, wird der Begriff unterschiedlich gebraucht. In Frankreich spricht man von „statut personnel“ oder der „loi personnelle“ und legt das gleiche materielle Verständnis wie in Deutschland zugrunde.268 In England hingegen meint „status […] of a natural person“ eher den Personenstand. Zudem wird im Common Law die Geschäftsfähigkeit in der Regel aus dem Vertragsstatut bestimmt. 269 Schließlich ist der Begriff des „Personalstatut“ in Art. 12 Abs. 1 GFK in einer staatsvertraglichen Kollisionsnorm enthalten, was die Frage aufwirft, ob der Begriff nach dem Kollisionsrecht der jeweiligen Vertragsstaaten (nach der lex fori) oder vertragsautonom zu qualifizieren ist. Vor dem Hintergrund der rechtsvergleichenden Divergenz der Begriffssinne, ist die vertragsautonome Qualifikation vorzuziehen. 270 Aufschluss über den für diese Qualifikation heranzuziehenden Zweck des staatsvertraglichen Abkommens können die im Rahmen der Vorarbeiten zur Konvention 1949 herausgegebenen Be263 Lorenz, in: BeckOK BGB, 2020, Art. 5 EGBGB Rn. 1; Mansel, Personalstatut, 1988, Rn. 36; Schulze, in: Nomos Kommentar, BGB, 2016, Art. 5 EGBGB Rn. 2. 264 v. Hein, in: MünchKommBGB, 2018, Art. 5 EGBGB Rn. 2. 265 v. Hein, in: MünchKommBGB, 2018, Art. 5 EGBGB Rn. 3; Hohloch, in: Erman, BGB, 2017, Art. 5 EGBGB Rn. 1. 266 Vgl. Weller, DGIR 2018, 247, 249, 256. 267 Mansel, Personalstatut, 1988, Rn. 36. 268 Vgl. Bureau/Muir Watt, Droit international privé II, 2017, Rn. 621 f. 269 v. Hein, in: MünchKommBGB, 2018, Art. 5 EGBGB Rn. 4. 270 Lass, Der Flüchtling im IPR, 1995, S. 117 f.
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Zweiter Teil: Migration als Herausforderung für das IPR
richte liefern. 271 Danach umfasst der „personal status“ die Geschäfts- und Handlungsfähigkeit, das Familienrecht (Eheschließung Scheidung, Legitimation, Adoption, Ehegüterrecht etc.) und das Erbrecht. 272 Der Begriff des Personalstatuts ist somit ungefähr deckungsgleich mit dem oben aufgezeigten deutschen materiellen Verständnis und umfasst den Kernbestand von persönlichen Rechtsverhältnissen des Flüchtlings. 273 Für eine einheitliche Anwendbarkeit der GFK sollte der Begriff des Personalstatuts schließlich auch in Europa übereinstimmend ausgelegt werden, was auch eine grenzüberschreitende Anerkennung von Urteilen im Flüchtlingskontext noch besser legitimieren würde.274 II. Geschäftsfähigkeit als Teil des Personalstatuts Umstritten ist allerdings, ob die Geschäftsfähigkeit vom Personalstatutsbegriff des Art. 12 Abs. 1 GFK erfasst ist. Die Frage wird vor allem beim Umgang mit minderjährigen Flüchtlingen relevant, der im dritten Teil der Arbeit detailliert behandelt wird. Das OLG Karlsruhe 275 vertritt eine Mindermeinung und lehnte in einem Fall, bei dem es um die Ermittlung des auf die Geschäftsfähigkeit eines Algeriers mit Flüchtlingseigenschaft anwendbaren Rechts ging, den Vorrang der GFK ab.276 Es argumentierte, dass in der Konvention nicht geregelt sei, welche Bereiche vom Personalstatut umfasst seien. Zudem diene die Konvention nach der vorzuziehenden vertragsautonomen Auslegung vor allem dem Schutz des Flüchtlings. Die Anknüpfung an das Aufenthaltsrecht solle zur Inländergleichbehandlung führen und die Integration fördern, während gleichzeitig nicht mehr das Recht des Verfolgerstaates angewendet wird. Nach der Ansicht des Gerichts führe dies nicht zu einer pauschalen Ersetzung der Staatsangehörigkeitsanknüpfung, sondern dieser Zweck sei am Alltag des Flüchtlings auszurichten. In dem zu entscheidenden Fall würde die Anwendung der GFK auf die Frage nach der Volljährigkeit dazu führen, dass der Flüchtling seine Fluchtgeschichte bei Alltagsfragen immer wieder vortragen müsse. Zudem könne es bei Rückkehr in das Heimatland oder Nichtvertrags271
Lass, Der Flüchtling im IPR, 1995, S. 118. UNO, Department of Social Affairs (Hrsg.), A study of Statelessness, 1949, S. 18, abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020). 273 Lass, Der Flüchtling im IPR, 1995, S. 118 274 Dies anregend Study for the JURI committee „Private International Law in a Context of Increasing International Mobility: Challenges and Potential” des Europäischen Parlaments, PE 583.157, June 2017, S. 36, abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020). 275 OLG Karlsruhe, Beschluss v. 23.7.2015 – 5 WF 74/15, FamRZ 2015, 1820; a.A. aber BGH, Beschluss v. 20.12.2017 – XII ZB 333/17, NJW 2018, 613. 276 OLG Karlsruhe, Beschluss v. 23.7.2015 – 5 WF 74/15, FamRZ 2015, 1820. 272
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staaten der GFK zu einem Statutenwechsel kommen, was abhängig von der Mobilität des Flüchtlings zu einem ständigen Wechsel zwischen Volljährigkeit und Minderjährigkeit führen würde. 277 Im Ergebnis sei daher das EGBGB anzuwenden, in dessen System die Volljährigkeit dem Personalstatut untersteht und damit an die Staatsangehörigkeit anzuknüpfen ist, was vorliegend zur Anwendung algerischen Rechts führe. Nach der heute in der Literatur ganz herrschenden Meinung hingegen ist Art. 12 GFK nicht auf einen bestimmten Kreis von Anknüpfungsgegenständen beschränkt. 278 Dafür spricht vor allem die Entstehungsgeschichte der Konvention: Man konnte sich auf keine Definition des Personalstatuts einigen, sondern bestimmte einen Kernbereich des Personalstatuts, der den Vertragsstaaten noch einen gewissen Entscheidungsspielraum beließ. Zu diesem Kernbereich gehörte gerade auch die Geschäftsfähigkeit, die auch von der „UNO-Study of Statelessness“ als essentieller Bestandteil des Personalstatuts benannt wurde. 279Auch rechtsvergleichende Argumente sprechen für diese Ansicht, denn auch im Common Law wird die Geschäftsfähigkeit als Vorfrage zu familienrechtlichen (und nicht vertragsrechtlichen) Rechtsgeschäften als Teil des personal status behandelt und im französischen Recht sind état und capacité ebenfalls Teil des statut personnel. Auch die Befürchtung eines ständigen Statutenwechsels bei Anwendung des Aufenthaltsrechts verfängt nicht, da der Grundsatz semel major, semper major in Art. 7 Abs. 2 EGBGB nicht nur auf die Änderung der Staatsangehörigkeit sondern auch auf die des Personalstatuts allgemein analog anwendbar ist. 280 Der herrschenden Meinung im Schrifttum hat sich auch der BGH angeschlossen, der im Urteil vom 20.12.2017 feststellt: „Anders als das OLG meint, erfasst die Regelung in Art. 12 I GFK allerdings die Frage der Volljährigkeit des Flüchtlings. Richtig ist zwar, dass der Begriff des Personalstatuts in der Konvention selbst nicht definiert ist. Die Geschäftsfähigkeit und insbesondere die Frage der Volljährigkeit gehören jedoch sowohl aus deutscher Sicht als auch bei konventionsa utonomer Auslegung zum Kernbereich des Personalstatuts.“281
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OLG Karlsruhe, Beschluss v. 23.7.2015 – 5 WF 74/15, FamRZ 2015, 1820, 1821. Vgl. nur v. Hein, FamRZ 2015, 1822, 1823; Lass, Der Flüchtling im IPR, 1995, S. 118; Rupp, ZfPW 2018, 57, 71/73 f. 279 Vgl. UNO, Department of Social Affairs (Hrsg.), A study of Statelessness, 1949, S. 18, abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020). 280 Vgl. die Anm. zu OLG Karlsruhe von v. Hein, FamRZ 2015, 1822, 1823. 281 BGH, Beschluss v. 20.12.2017 – XII ZB 333/17, NJW 2018, 613, Rn. 23. 278
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C. Art. 12 GFK als Kollisionsnorm im engeren Sinne? I. Überlagerungs- und Modifizierungstheorie Nach der Definition des Personalstatuts in Art. 12 Abs. 1 GFK stellt sich die Folgefrage, ob die in Art. 12 Abs. 1 GFK enthaltene Ersatzanknüpfung für die Bestimmung des Personalstatuts als Kollisionsnorm im engeren Sinne zu qualifizieren ist. Eine Kollisionsnorm in diesem Sinne zeichnet sich dadurch aus, dass sie einen bestimmten Sachverhalt (Anknüpfungsgegenstand) durch Herausgreifen eines seiner Elemente (Anknüpfungsmoment) einer bestimmten Rechtsordnung unterstellt (Anknüpfungsergebnis). 282 Daneben enthält das EGBGB in seinen Art. 3–6 sogenannte allgemeine Verweisungsregeln, aus denen sich nicht unmittelbar die auf den Sachverhalt anwendbare Rechtsordnung ergibt.283 Fraglich ist, wie die in Art. 12 Abs. 1 GFK enthaltene Ersatzanknüpfung für die Bestimmung des Personalstatuts zu qualifizieren ist. Nach der in Literatur und Rechtsprechung herrschenden Ansicht handelt es sich um eine unselbstständige Kollisionsnorm und damit allgemeine Verweisungsregel, da durch Art. 12 Abs. 1 GFK lediglich selbstständige Kollisionsnormen modifiziert werden 284 (auch „Modifizierungstheorie“ genannt285). Dies gelte auch, wenn rechtstechnisch in Vertragsstaaten insbesondere des Common Law nicht an die Staatsangehörigkeit, sondern an das domicile of origin angeknüpft wird, sodass dieses ebenfalls durch den gewöhnlichen Aufenthalt ersetzt würde. 286 Zudem wird die Auffassung vertreten, bei Art. 12 Abs. 1 GFK handele es sich um eine sogenannte „überlagernde Kollisionsnorm“, bei der das autonome Kollisionsrecht des Personen-, Familien und Erbrechts durch ein Sonderkollisionsrecht in Form einer selbstständigen Kollisionsnorm „überlagert“ würde.287
282
Lass, Der Flüchtling im IPR, 1995, S. 102. Ibid. 284 OLG Karlsruhe, Beschluss v. 7.6.1990 – 18 WF 35/90, NJW-RR 1991, 966; OLG Hamm, Beschluss v. 15.1.1992 – 15 W 295/90, StAZ 1993, 77, 79; OLG Hamm, Beschluss v.25.2.1992 – 2 UF 452/91, NJW-RR 1993, 266; Bausback, in: Staudinger, BGB, 2013, Art. 5 EGBGB Anh. IV Rn. 65; Budzikiewicz, StAZ 2017, 289, 291; v. Hein, in: BGB, 2018, Art. 5 EGBGB Anh. II Rn. 58; Looschelders, IPR, 2004, Art. 5 EGBGB Anh. Rn. 15; Lorenz, in: BeckOK BGB, 2020, Art. 5 EGBGB Rn. 31; Rupp, ZfPW 2018, 57, 70; Weller, DGIR 2018, 247, 252 f. 285 Lass, Der Flüchtling im IPR, 1995, S. 102 f. 286 v. Hein, in: MünchKommBGB, 2018, Art. 5 EGBGB Anh. II Rn. 61. 287 Begriff der „Überlagerung“ bei Lass, Der Flüchtling im IPR, 1995, S. 104, die jedoch bei Fällen mit Auslandsbezug, bei denen der Fluchthintergrund keine Rolle spielt (sog. „neutrale“ Kollisionen), sowie bei Mehrpersonenverhältnissen auf die Modifizi erungstheorie zurückgreift, vgl. S. 125 ff. 283
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Bessere Argumente streiten im Ergebnis für die Modifizierungstheorie: Hinsichtlich des Wortlauts „Personalstatut“ in Art. 12 Abs. 1 GFK ist der Begriff vertragsautonom zu qualifizieren und wie bereits festgestellt von „Personalstatut“ als materiellem Begriff auszugehen. Christiane Wendehorst, die sich für die Überlagerungstheorie ausspricht, sieht einen Widerspruch darin, dass die Vertreter der Modifizierungstheorie ein formelles Verständnis des Begriffes zugrundelegen, wenn durch Art. 12 Abs. 1 GFK das Anknüpfungsmoment der Staatsangehörigkeit in allen autonomen Kollisionsnormen durch das des „Wohnsitzes“ ersetzt wird. Dem materiellen Sinn von Personalstatut, von dem auch die Anhänger der Modifizierungstheorie ausgehen, entspreche es jedoch, dass mit dem Begriff ein Kreis bestimmter Anknüpfungsgegenstände (Personen-, Familien-, und Erbrecht) definiert ist. 288 Allerdings sollte die herrschende Meinung nicht so verstanden werden, als würde sie grundsätzlich einen formellen Begriff zugrundelegen. Vielmehr ist die Staatsangehörigkeit in Kollisionsnormen, die in materieller Hinsicht dem Personen-, Familien- und Erbrecht zuzuordnen sind, durch die Aufenthaltsanknüpfung zu ersetzen. Dies stimmt mit der materiellen Definition vom Begriff des Personalstatuts überein. Hauptzweck der GFK ist es, dass auf die persönlichen Rechtsverhältnisse des Flüchtlings nicht mehr das Recht des Verfolgerstaates Anwendung findet. Diesbezüglich wird die Modifizierungstheorie problematisch, wenn das autonome Kollisionsrecht wie beispielsweise im Ehegüterrecht in Art. 26 Abs. 1 lit. b) EuGüVO auf der zweiten Sprosse der Anknüpfungsleiter eine unwandelbare Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit enthält. Bei Anwendung der Modifizierungstheorie führt dies zur Anwendung des Heimatrechts des Flüchtlings, da zwar der Anknüpfungspunkt nicht aber der Anknüpfungszeitpunkt durch Art. 12 Abs. 1 GFK ausgetauscht wird. 289 Hingegen wird auch innerhalb der Modifizierungstheorie überwiegend vertreten, dass die Ersetzung der Staatsangehörigkeit in den Kollisionsnormen, die dem Personalstatut materiell zuzuordnen sind, auch vorzunehmen ist, wenn es wie in Art. 26 Abs. 1 lit. b) EuGüVO um eine unwandelbare Anknüpfung 290 oder um die letzte gemeinsame Staatsangehörigkeit geht. 291 Auch der letzte gewöhnliche Aufenthalt im Herkunftsland wie z.B. bei Art. 14 Abs. 2 Nr. 2 EGBGB oder das Recht am Belegenheitsort einer Sache 288
Lass, Der Flüchtling im IPR, 1995, S. 105 ff. Lass, Der Flüchtling im IPR, 1995, S. 109 f. 290 Zu Art. 15 EGBGB a.F. vgl. Schurig, JZ 1985, 559, 562; zu Art. 26 EuGüVO vgl. Arnold, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinkhammer/Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 25, 55 f. 291 Zu Art. 17 Abs. 1 EGBGB a.F. vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss v. 7.7.1995 – 16 UF 397/94, BeckRS 1995, 10093, Rn. 5; zu Art. 26 EuGüVO vgl. Arnold, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinkhammer/Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 25, 56 f. 289
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können unbeachtlich sein, um dem Schutzzweck des Art. 12 Abs. 1 GFK gerecht zu werden. Bei Art. 14 Abs. 2 EGBGB und Art. 26 Abs. 1 EuGüVO kann aus diesem Grund die Anknüpfungsleiter scheitern, sodass die lex fori anzuwenden ist.292 Versteht man die Modifizierungstheorie im Ergebnis so, dass eine Modifikation immer dann vorzunehmen ist, wenn die betreffende Kollisionsnorm zur Anwendbarkeit des Rechts des Verfolgerstaates führen würde, unterscheiden sich die vorgestellten Ansichten gar nicht so sehr in ihrem tatsächlichen Anwendungsbereich.293 Letztlich ist die Modifizierungstheorie einfacher zu handhaben und führt zu mehr Rechtssicherheit in der Anwendung als die Überlagerungstheorie.294 Zudem sollte der Schutz des Flüchtlings vor der Anwendung des Rechts seines Herkunftsstaates als Hauptziel der GFK auch Konsens in der Praxis der jeweiligen Vertragsstaaten sein. Geht man von dieser Prämisse aus, ist auch aus internationaler Perspektive bei bloßer Modifizierung von autonomen Kollisionsnormen die Gefahr geringer, dass die einheitliche Anwendung der GFK in den Vertragsstaaten und damit die Schaffung eines einheitlichen Schutzstatus für Flüchtlinge nicht gewährleistet ist.295 So zwingt die Überlagerungstheorie immerhin zu einigen Ergänzungen und Korrekturen.296 Im Ergebnis handelt es sich bei Art. 12 Abs. 1 GFK nicht um eine Kollisionsnorm im engeren Sinne, sondern um eine Norm die dazu führt, dass bei allen Anknüpfungsgegenständen, die die persönliche Rechtsstellung des Flüchtlings betreffen, die Staatsangehörigkeitsanknüpfung durch die Aufenthaltsanknüpfung ersetzt wird. II. Exkurs: Flüchtlinge und Inländervorschriften Über Art. 12 Abs. 1 GFK haben Flüchtlinge ein deutsches Personalstatut, sodass sich die Frage stellt, inwieweit auch spezielle sachrechtliche oder kollisionsrechtliche Inländervorschriften (auch Exklusivnormen genannt), die in ihrem Wortlaut ausdrücklich auf die Eigenschaft als Deutscher verweisen, auf sie Anwendung finden. Inländervorschriften im Verfahrensrecht sollen hier ausgeklammert werden, da sich die vorliegende Arbeit auf das IPR be292 Arnold, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinkhammer/Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 25, 55 ff.; v. Hein, in: MünchKommBGB, 2018, Art. 5 EGBGB Anh. II Rn. 61; Lorenz, in: BeckOK BGB, 2020, Art. 5 EGBGB Rn. 31. 293 So letztlich einschränkend auch Lass, Der Flüchtling im IPR, 1995, S. 114: „Anders ausgedrückt: Art. 12 Abs. 1 GK tilgt durch seine Verweisung auf das Wohnsitzrecht den spezifischen, durch die Vergangenheit im Verfolgerstaat bedingten, Auslandsbezug.“ 294 Arnold, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinkhammer/Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 25, 53. 295 Arnold, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinkhammer/Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 25, 52 f.; kritisch aber Lass, Der Flüchtling im IPR, 1995, S. 108. 296 Vgl. Lass, Der Flüchtling im IPR, 1995, S. 120 ff.
3. Kapitel: Auslegung des Art. 12 Abs. 1 GFK
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schränkt. Relevant können hier zudem nur die kollisionsrechtlichen nicht die sachrechtlichen Exklusivnormen sein, da Art. 12 Abs. 1 GFK nur kollisionsrechtlichen Gehalt hat und sich somit auf die kollisionsrechtliche Gleichstellung von Flüchtlingen und Inländern beschränkt, jedoch keine Aussage über das materielle Sachrecht des jeweiligen Zufluchtsstaates trifft. 297 Auch die Auswirkungen der weiteren kollisionsrechtlichen Exklusivnormen wie z.B. in Art. 7 Abs. 2 EGBGB, Art. 13 Abs. 2 Nr. 1 2. Alt. EGBGB, Art. 91 Abs. 2 S. 2 WG und Art. 60 Abs. 2 S. 2 ScheckG sind gering. Art. 7 Abs. 2 EGBGB, wonach die einmal erlangte Rechtsfähigkeit oder Geschäftsfähigkeit durch Erwerb oder Verlust der Rechtsstellung als Deutscher nicht beeinträchtig wird, beruht auf dem Gedanken des Schutzes wohlerworbener Rechte und ist nach herrschender Meinung zu verallseitigen. Art. 13 Abs. 2 Nr. 1 1. Alt. EGBGB, wonach trotz ausländischem Ehestatut nach Absatz 1 deutsches Recht Anwendung auf die Eheschließung finden kann, lässt es ausdrücklich genügen, dass ein Verlobter seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat. Die in Art. 91 Abs. 2 S. 2 WG298 und Art. 60 Abs. 2 S. 2 ScheckG299 enthaltende offene Formulierung „Inländer“ schließlich lässt auch die Auslegung zu, dass hierunter Flüchtlinge und Staatenlose mit deutschem Personalstatut fallen, wofür auch Rechtsicherheit und die grundsätzliche Weltoffenheit des IPR sprechen. 300 Hinzu kommt, dass es bei einer Anwendung von Exklusivnormen entsprechend dem Sinn und Zweck der GFK ergänzende Regeln für Flüchtlinge nur dann braucht, wenn tatsächlich an die Staatsangehörigkeit angeknüpft wird und damit eine Anwendung des Heimatrechts droht. In allen anderen Fällen findet die weitere Privilegierung der betreffenden Personengruppe keine Stütze im Gesetz, sodass sie kollisionsrechtlich wie alle anderen Ausländer auch zu behandeln ist. 301 Exklusivnormen haben ferner vor allem aufgrund des europäischen Kollisionsrechts nur noch eine geringe Bedeutung. So neigte die Rechtsprechung dazu, Flüchtlinge mit deutschem Personalstatut aus In297
Lass, Der Flüchtling im IPR, 1995, S. 170. „Wer nach dem in vorstehendem Absatz bezeichneten Recht nicht wechselfähig ist, wird gleichwohl gültig verpflichtet, wenn die Unterschrift in dem Gebiet eines Landes abgegeben worden ist, nach dessen Recht er wechselfähig wäre. Diese Vorschrift findet keine Anwendung, wenn die Verbindlichkeit von einem Inländer im Ausland übernommen worden ist.“ 299 „Wer nach dem in vorstehendem Absatz bezeichneten Recht eine Scheckverbindlichkeit nicht eingehen kann, wird gleichwohl gültig verpflichtet, wenn die Unterschrift in dem Gebiet eines Landes abgegeben worden ist, nach dessen Recht er scheckfähig wäre. Diese Vorschrift findet keine Anwendung, wenn die Verbindlichkeit von einem Inländer im Ausland übernommen worden ist.“ 300 v. Hein, in: MünchKommBGB, 2018, Art. 5 EGBGB Rn. 110. 301 Vgl. Mankowski, in: Leible (Hrsg.), General Principles of European Private International Law, 2016, S. 189, 195; ähnlich Lass, Der Flüchtling im IPR, 1995, S. 168. 298
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Zweiter Teil: Migration als Herausforderung für das IPR
tegrationsgründen unter die scheidungsrechtliche Vorbehaltsklausel nach Art. 17 Abs. 1 S. 2 EGBGB a.F. zu fassen. 302 Die Norm wurde jedoch durch die neutrale Vorbehaltsklausel in Art. 10 Rom III-VO ersetzt.303
4. Kapitel: Bestimmung des anwendbaren Rechts mit Art. 12 Abs. 1 GFK 4. Kapitel: Bestimmung des anwendbaren Rechts
Nachdem grundsätzliche Fragen bezüglich des Charakters von Art. 12 Abs. 1 GFK im kollisionsrechtlichen Gefüge geklärt wurden, soll nun die Ermittlung des anwendbaren Rechts durch Art. 12 Abs. 1 GFK erläutert werden. Es wird gezeigt, dass der in der Norm enthaltene Begriff des „Wohnsitzes“ als gewöhnlicher Aufenthalt auszulegen ist und dieser Begriff dann im Flüchtlingskontext näher definiert (dazu A.). Ferner wird kurz auf die enthaltene Ersatzanknüpfung des „schlichten Aufenthalts“ (dazu B.) sowie den maßgeblichen Zeitpunkt der Anknüpfung (dazu C.) eingegangen. Nach Klärung des Charakters der Kollisionsnorm als Gesamt- oder Sachrechtsverweisung (dazu D.), schließt das fünfte Kapitel mit einem Zwischenergebnis (dazu E.). A. „Wohnsitz“ als maßgeblicher Anknüpfungspunkt I. Auslegung Nach Art. 12 Abs. 1 GFK sind als Anknüpfungspunkt der „Wohnsitz“ oder hilfsweise das Aufenthaltsland des Flüchtlings maßgeblich. Da die GFK auf eine genaue Definition des „Wohnsitzes“ verzichtet hat, ist umstritten, ob die Definition des „Wohnsitzes“ nach der lex fori der jeweiligen Vertragsstaaten oder aber abkommensautonom zu ermitteln ist. 304 Nach der herrschenden Meinung wird der „Wohnsitz“ im Sinne des Art. 12 Abs. 1 GFK abkommensautonom als gewöhnlicher Aufenthalt des Flüchtlings ausgelegt. 305 302 BGH, Beschluss v. 12.12.1984 – IVb ZB 928/80, IPRax 1985, 292 mit Anm. v. Bar; OLG Köln, Beschluss v. 9.11.1995 – 10 UF 78/95, FamRZ 1996, 946; v. Hein, in: MünchKommBGB, 2018, Art. 5 EGBGB Rn. 109; Lorenz, in: BeckOK BGB, 2020, Art. 5 EGBGB Rn. 34. 303 v. Hein, in: MünchKommBGB, 2018, Art. 5 EGBGB Rn. 110. 304 v. Hein, in: MünchKommBGB, 2018, Art. 5 EGBGB Rn. 62 f.; von Hoffmann/Thorn, IPR, 2007, § 5 Rn. 33. 305 Arnold, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinkhammer/Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 25, 55; Hohloch, in: Erman, BGB, 2017, Art. 5 EGBGB Rn. 58/84; Looschelders, IPR, 2004, Art. 5 EGBGB Anh. Rn. 20; Mankowski, in: Leible (Hrsg.), General Principles of European Private International Law, 2016, S. 189, 204 (zum Übereinkommen über die Rechtsstellung von Staatenlosen); Rentsch, ZEuP 2015, 288,
4. Kapitel: Bestimmung des anwendbaren Rechts
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Würde man hingegen die deutsche lex fori und damit den deutschen Wohnsitzbegriff zugrundelegen, käme man vom Wortlaut des Art. 12 Abs. 1 GFK her zu einem anderen Ergebnis. Obwohl als Gemeinsamkeit beider Begriffe sowohl der Wohnsitz als auch der gewöhnliche Aufenthalt als Daseinsmittelpunkt einer Person umschrieben werden, unterscheidet sich der deutsche Begriff des Wohnsitzes vom gewöhnlichen Aufenthalt. Der Wohnsitz kann nur durch rechtsgeschäftlichen Willen begründet und aufgehoben werden (vgl. §§ 7 ff. BGB), während beim gewöhnlichen Aufenthalt ein solcher gerade nicht vorausgesetzt wird. 306 Zudem kann der Wohnsitz im Gegensatz zum gewöhnlichen Aufenthalt an mehreren Orten bestehen. 307 Bei Minderjährigen wird der Wohnsitz ferner von dem der Eltern abgeleitet (vgl. § 8 Abs. 1 BGB), während sie nach herrschender Meinung einen eigenen gewöhnlichen Aufenthalt haben.308 Aus deutscher Sicht müsste daher auch bei einer Auslegung nach der lex fori ein spezifisch kollisionsrechtlicher Wohnsitzbegriff entwickelt werden, welcher dem in den modernen Konventionen bevorzugten Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts entspricht.309 Dass dies in allen Vertragsstaaten so gehandhabt werden würde, ist jedoch angesichts der rechtsvergleichend unterschiedlichen Konzeptionen des Wohnsitzbegriffs, die eine staatsvertragliche Definition des „Wohnsitzes“ bisher scheitern ließen, unwahrscheinlich. 310 Zumal der Wohnsitz sich auch im Unions300; Schulze, in Nomos Kommentar, BGB, 2016, Art. 5 EGBGB Rn. 4. Vgl. ferner Lorenz, in: BeckOK BGB, 2020, Art. 5 EGBGB Rn. 32, der von einem „kollisionsrechtlichen Wohnsitzbegriff" spricht sowie Rentsch, Der gewöhnliche Aufenthalt im System des Europäischen Kollisionsrechts, 2017, S. 133, die diese Auslegung angesichts der neueren Entwicklung des gewöhnlichen Aufenthalts als „ex post-Korrektur“ bezeichnet. 306 OLG Hamm, Beschluss v. 5.5.1989 – 1 WF 167/89, NJW 1990, 651; Dörner, in: Nomos Handkommentar, BGB, 2019, Art. 5 EGBGB Rn. 9; Lorenz, in: BeckOK BGB, 2020, Art. 5 EGBGB Rn. 15; Rentsch, Der gewöhnliche Aufenthalt im System des Europäischen Kollisionsrechts, 2017, S. 165 f.; Schulze, in: Nomos Kommentar, BGB, 2016, Art. 5 EGBGB Rn. 16. 307 Ein mehrfacher gewöhnlicher Aufenthalt ist im Interesse eines berechenbaren Anknüpfungsergebnis abzulehnen, sondern der Daseinsmittelpunkt verweist auf einen einzigen Ort, vgl. Dörner, in Nomos Handkommentar, BGB, 2019, Art. 5 EGBGB Rn. 10; Lorenz, in: BeckOK BGB, 2020, Art. 5 EGBGB Rn. 15; a.A.: Baetge, FS Kropholler, 2008, 77, 86 f., der für eine differenzierende Betrachtung je nach Sach- und Normzusammenhang plädiert und a.A. Hohloch, in: Erman, BGB, 2017, Art. 5 EGBGB Rn. 55, der auf den effektiven gewöhnlichen Aufenthalt abstellen will. 308 Von Bar/Mankowski, IPR I, 2003, § 7 Rn. 24; Lass, Der Flüchtling im IPR, 1995, S. 121; zur Abgrenzung vom gewöhnlichen Aufenthalt und Wohnsitz auch Rentsch, Der gewöhnliche Aufenthalt im System des Europäischen Kollisionsrechts, 2017, S. 58. 309 Lorenz, in: BeckOK BGB, 2020, Art. 5 EGBGB Rn. 32; Schulze, in: Nomos Kommentar, BGB, 2016, Art. 5 EGBGB Anh. II Rn. 26; Thorn, in: Palandt, BGB, 2020, Art. 5 EGBGB Anh. Rn. 23. 310 Rohe, FS Rothoeft, 1994, 1, 19; Rentsch, ZEuP 2015, 288, 307 sowie zur Unterschiedlichkeit der Auslegung und Definition des Wohnsitzbegriffes in Art. 4 EuGVVO
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Zweiter Teil: Migration als Herausforderung für das IPR
recht und den Haager Staatsverträgen nach der lex fori richtet, während der gewöhnliche Aufenthalt hingegen häufig abkommensautonom zu bestimmen ist.311 So würde die Verwendung des Begriffs des domicile durch Vertragsstaaten, die dem Common Law angehören und ihre lex fori zugrundelegen, zu ähnlichen Schwierigkeiten führen. 312 Die englische Sprachfassung von Art. 12 Abs. 1 GFK lautet: “The personal status of a refugee shall be governed by the law of the country of his domicile or, if he has no domicile, by the law of the country of his residence.”
Das domicile ersetzt im Common Law eher die Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit.313 Ähnlich der Begründung des Wohnsitzes sind Kriterien für ein domicile of choice die persönliche Anwesenheit (physical presence) und der Wille für unbestimmte Zeit länger zu bleiben (for indefinite future time).314 Zudem haben Geschäftsunfähige und beschränkt Geschäftsfähige wie beim deutschen Wohnsitz ein von ihren gesetzlichen Vertretern abgeleitetes domicile of choice.315 Zuzugeben ist, dass der klare Wortlaut des Art. 12 GFK und die innere Systematik der Konvention, die in Art. 14 und 16 GFK den Aufenthaltsbegriff verwendet, gegen ein Zugrundelegen des Begriffes des gewöhnlichen Aufenthalts sprechen. Insgesamt ist die verwendete Begrifflichkeit aber auch inkonsistent. So wird in Art. 12 Abs. 1 GFK wiederum hilfsweise an den schlichten Aufenthalt angeknüpft. Dies ergibt jedoch bei Verwendung des „Wohnsitzes“ als Hauptanknüpfung keinen Sinn, da dieser bei mangelnder Bestimmbarkeit in den meisten Rechtsordnungen fingiert wird. 316 Zur Gewährleistung einer einheitlichen Anwendung der GFK sollte der „Wohnsitz“ im Sinne des Art. 12 Abs. 1 GFK daher im Ergebnis mit dem gewöhnlichen Aufenthalt des Flüchtlings ausgefüllt werden. 317 Damit fügt kritisch dies. Der gewöhnliche Aufenthalt im System des Europäischen Kollisionsrechts, 2017, S. 312 f. Die Ausführungen sind zwar nur bedingt übertragbar, auch bei der GFK fehlt es aber jedenfalls an allgemeingültigen Maßstäben. 311 Rentsch, Der gewöhnliche Aufenthalt im System des Europäischen Kollisionsrechts, 2017, S. 310. 312 Mankowski, in: Leible (Hrsg.), General Principles of European Private International Law, 2016, S. 189, 210 empfiehlt, auch bei Staatenlosen ausdrücklich an den gewöhnlichen Aufenthalt anzuknüpfen und domicile in internationalen Instrumenten als Begriff nicht mehr zu verwenden. 313 Lass, Der Flüchtling im IPR, 1995, S. 119. 314 Jayme, RdC 251 (1995) 13, 205; Lass, Der Flüchtling im IPR, 1995, S. 119. 315 Cheshire/North/Fawcett, Conflict of Laws, 2017, S. 165 ff. 316 Vgl. zur Wohnsitzfiktion in § 62 EStG BFH, Urteil v. 4.2.2016, III R 17/13, juris und ausführlich zum Ganzen Lass, Der Flüchtling im IPR, 1995, S. 122 f. 317 H.M.: Hohloch, in: Erman, BGB, 2017, Art. 5 EGBGB Rn. 58/84; Looschelders, IPR, 2004, Art. 5 EGBGB Anh. Rn. 20; Lorenz, in: BeckOK BGB, 2020, Art. 5 EGBGB
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sich Art. 12 Abs. 1 GFK auch besser in das deutsche und europäische IPR ein, das heute fast durchgängig den Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts verwendet.318 Dies resultiert auch daraus, dass der gewöhnliche Aufenthalt vor allem bei der Entwicklung der Haager Instrumente als einzig konsensfähiger Begriff einen Mittelweg zwischen der Anknüpfung an das domicile und der Staatsangehörigkeitsanknüpfung darstellte. 319 Diesen Gedanken kann man auf die Flüchtlingskonvention, die auch Staatsvertrag ist, übertragen. Weiterer Vorteil der Aufenthaltsanknüpfung ist, dass innerhalb Europas der EuGH die einheitliche Auslegung des gewöhnlichen Aufenthalts sicherstellt, sodass zumindest in Europa die einheitliche Anwendung der GFK verbessert wird, wenn man sich am Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts im Unionsrecht orientiert.320 Die abkommensautonome Auslegung wird zudem durch eine rechtsvergleichende Umschau bestätigt. 321 So wird auch in der französischen Literatur der gewöhnliche Aufenthalt statt des Wohnsitzes in Art. 12 Abs. 1 GFK zugrundegelegt. 322 In Belgien wird Art. 12 GFK im nationalen Recht in Art. 3, § 3 des IPR-Gesetzbuches deklaratorisch wiederholt und dabei nur der Begriff des „gewöhnlichen Aufenthalts“(résidence habituelle) verwendet.323 Zur Gewährleistung einer einheitlichen Anwendung der GFK ist im Ergebnis daher die autonome Auslegung vorzuziehen und der im Schrifttum überwiegend vertretenen Meinung zu folgen. 324 Die Auslegung als „gewöhnRn. 32; Rentsch, ZEuP 2015, 288, 300; dies., Der gewöhnliche Aufenthalt im System des Europäischen Kollisionsrechts, 2017, S. 133; Schulze, in: Nomos Kommentar, BGB, 2016, Art. 5 EGBGB Rn. 4. 318 v. Hein, in: MünchKommBGB, 2018, Art 5 EGBGB Anh. II Rn. 62; Hohloch, in: Erman, BGB, 2017, Art. 5 EGBGB Rn. 58. 319 Rentsch, Der gewöhnliche Aufenthalt im System des Europäischen Kollisionsrechts, 2017, S. 94 f. 320 Vgl. dazu im Kontext der EuGVVO Rentsch, Der gewöhnliche Aufenthalt im System des Europäischen Kollisionsrechts, 2017, S. 311 f.; den gewöhnlichen Aufenthalt als rechtskreis-, rechtskultur- und rechtsgebietsneutral bezeichnend dies., Der gewöhnliche Aufenthalt im System des Europäischen Kollisionsrechts, 2017, S. 79. 321 Vgl. den Überblick bei Study for the JURI committee „Private International Law in a Content of Increasing International Mobility: Challenges and Potential“ des Europäischen Parlaments, PE 583.157, June 2017, S. 37, abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020). 322 Vgl. nur V. Chetail, JDI 2014 (141), 447, 462 ff. 323 Vgl. Art. 3 § 3 der « Loi portant le Code de droit international privé » vom 16.7.2004: « Toute référence faite par la présente loi à la nationalité d'une personne physique qui a la qualité d'apatride ou de réfugié en vertu de la loi ou de traités internationaux liant la Belgique, est remplacée par une référence à la résidence habituelle.». 324 Bausback, in: Staudinger, BGB, Jahr, Art. 5 EGBGB Rn. 62 f.; v. Hein, in: MünchKommBGB, 2018, Einleitung zum IPR Rn. 135; von Hoffmann/Thorn, IPR, 2007, § 5 Rn. 33; Hohloch, in: Erman, BGB, 2017, Art. 5 EGBGB Rn. 84; Looschelders, IPR,
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licher Aufenthalt“ entspricht auch dem Zweck der GFK. Denn hinter der Aufenthaltsanknüpfung und der Anknüpfung an den Wohnsitz stehen im Sinne der Kegel'schen Lehre grundsätzlich die gleichen kollisionsrechtlichen Interessen: Verkehrsinteressen und der Integrationszweck verdrängen als gesetzliche Regelentscheidung das Parteiinteresse, das möglicherweise das Heimatrecht als Ausdruck kultureller Identität präferiert. Die Kollisionsnorm des Art. 12 GFK ist ferner loi uniforme, sodass der Anknüpfungspunkt unabhängig davon, ob der Flüchtling (schon) Aufenthalt oder Wohnsitz in einem Vertragsstaat hat, Anwendung findet. 325 II. Allgemeine Definition des „gewöhnlichen Aufenthalts“ Nachdem in einem ersten Schritt festgestellt wurde, dass der Wohnsitz des Flüchtlings in Art. 12 Abs. 1 GFK als „gewöhnlicher Aufenthalt“ des Flüchtlings zu lesen ist, soll zunächst eine tragfähige Konzeption des „gewöhnlichen Aufenthalts“ vorangestellt werden, um sodann den Einfluss des aktuellen Migrationskontextes auf die Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts zu erörtern. Dabei ist zu berücksichtigen, dass zur Anwendbarkeit des Art. 12 GFK der schlichte Aufenthalt des Flüchtlings im Inland grundsätzlich ausreicht und die Fragestellung daher eher theoretischer Natur ist. 1. Einführung Der Begriff des „gewöhnlichen Aufenthalts“ ist im autonomen IPR und besonders im europäischen Kollisionsrecht mittlerweile weit verbreitet. 326 Dennoch hat der deutsche IPR-Gesetzgeber bewusst auf eine Definition verzichtet, um eine harmonische rechtsaktübergreifende Auslegung zu ermöglichen.327 Auch die existierenden Definitionen aus dem Steuer-, Sozialversicherungs- und Sozialrecht können nicht ohne weiteres übernommen werden, da diese Rechtsgebiete anders als gerade das IPR den Begriff nicht nutzen, um die engste Verbindung einer Person mit einer Rechtsordnung festzustellen. 328 2004, Art. 5 EGBGB Anh. Rn. 20; Schulze, in: Nomos Kommentar, BGB, 2016, Art. 5 EGBGB Anh. II Rn. 26. 325 v. Hein, in: MünchKommBGB, 2018, Art. 5 EGBGB Anh. II Rn. 64; Kegel/Schurig, IPR, 2004, § 13 S. 462. 326 Weller/Rentsch, in: Leible (Hrsg.), General Principles of European Private International Law, 2016, S. 171, 175. 327 v. Hein, in: MünchKommBGB, 2018, Art.5 EGBGB Rn. 130; Lorenz, in: BeckOK BGB, 2020, Art. 5 EGBGB Rn. 15; Schulze, in: Nomos Kommentar, BGB, 2016, Art. 5 EGBGB Rn. 16; Schwemmer, Anknüpfungsprinzipien im Europäischen Kollisionsrecht, 2018, S. 185. 328 Vgl. OLG Hamm, Beschluss v. 5.5.1989 – 1 WF 167/89, NJW 1990, 651 (für das IZVR); Rentsch, ZEuP 2015, 288, 306; Weller/Rentsch, in: Leible (Hrsg.), General Principles of European Private International Law, 2016, S. 171, 178; Spickhoff, IPRax
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Im europäischen Kollisionsrecht gibt es zwar vereinzelt Definitionen in den verschiedenen Verordnungen, die sich jedoch auf das jeweils geregelte Sachgebiet beziehen. 329 Der EuGH hat in seiner Rechtsprechung bezüglich einzelner Rechtsgebiete insbesondere im Kindschaftsrecht zwar einige Impulse gegeben, vermeidet aber eine einheitliche, allgemeingültige Begriffsbildung. 330 Auch die in den neueren autonomen IPR-Kodifikationen (z.B. in Bulgarien und der Schweiz) enthaltenen Definitionen beanspruchen zunächst einmal nur im Rahmen der jeweiligen Kodifikation Geltung, liefern zum anderen aber auch Indizien für die rechtsvergleichende europaweit einheitliche Auslegung des Begriffs. 331 Umstritten ist, ob bei dem Begriffsverständnis des gewöhnlichen Aufenthalts den Besonderheiten des jeweiligen Rechtsgebiets Rechnung zu tragen ist.332 Dieses sogenannte funktionale Begriffsverständnis lässt sich verschiedentlich weiter differenzieren: nach dem Anknüpfungsgegenstand, nach dem Anknüpfungssubjekt, nach der Art des Rechtsverhältnisses und/oder nach dem inneren Regelungszusammenhang. 333 Innerhalb des Europäischen Kollisionsrechts wird vertreten, dass eine abstrakte begriffliche Differenzierung sich entweder wegen der durch den Gesetzgeber gewollten Interdependenzen verbietet oder aber sie aus verschiedenen Gründen entbehrlich ist. Das Verständnis des gewöhnlichen Aufenthalts darf dennoch den Sinn und Zweck des jeweiligen europäischen Instruments und das betroffene Anknüpfungssubjekt nicht außer Acht lassen. 334 Dafür spricht schon das Interesse des IPR, Einzel-
1990, 225, 226 hält eine Orientierung an der Rechtsprechung anderer Rechtsgebiete für möglich, warnt jedoch gleichzeitig vor einer unreflektierten Übernahme. 329 Baetge, FS Kropholler, 2008, 77; v. Hein, in: MünchKommBGB, 2018, Art.5 EGBGB Rn. 135. 330 v. Hein, in: MünchKommBGB, 2018, Art. 5 EGBGB Rn. 136; Schulze, in: Nomos Kommentar, BGB, 2016, Art. 5 EGBGB Rn. 16; Schwemmer, Anknüpfungsprinzipien im Europäischen Kollisionsrecht, 2018, S. 160 f. 331 Baetge, FS Kropholler, 2008, 77 f.; v. Hein, in: MünchKommBGB, 2018, Art. 5 EGBGB Rn. 132; Schwemmer, Anknüpfungsprinzipien im Europäischen Kollisionsrecht, 2018, S. 57; Weller/Rentsch, in: Leible (Hrsg.), General Principles of European Private International Law, 2016, S. 171, 178. 332 Dafür Baetge, FS Kropholler, 2008, 77, 82; Schulze, in: Nomos Kommentar, BGB, 2016, Art. 5 EGBGB Rn. 16; jeweils m.w.N.; kritisch Rentsch, Der gewöhnliche Aufenthalt im System des Europäischen Kollisionsrechts, 2017, S. 346 ff.; Seibl, Die Beweislast bei Kollisionsnormen, 2009, S. 67, 73 ff. 333 Ausführlich zu den diskutierten verschiedenen Differenzierungsmöglichkeiten und ihrer Übertragbarkeit auf das Europäische Kollisionsrecht Rentsch, Der gewöhnliche Aufenthalt im System des Europäischen Kollisionsrechts, 2017, S. 335 ff. 334 Rentsch, Der gewöhnliche Aufenthalt im System des Europäischen Kollisionsrechts, 2017, S. 346 ff.
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fallgerechtigkeit herzustellen. 335 Insbesondere ist zwischen dem Internationalen Schuldrecht auf der einen und dem Familien- und Erbrecht auf der anderen Seite zu differenzieren. 336 Dies lässt sich nach der hier vertretenen Ansicht auch auf das Begriffsverständnis im Rahmen der GFK übertragen. Hier sind also das Integrationsziel und der Schutzzweck der Konvention bei der Ermittlung des anwendbaren Rechts zu berücksichtigen. 337 Für eine europaweit einheitliche und vorhersehbare Anwendung der GFK sollte diese Annahme als Basis gesehen werden. Im Folgenden werden unter besonderer Berücksichtigung der europäischen Perspektive kurz die Grundlagen des objektiven und des subjektiven Begriffsverständnisses des gewöhnlichen Aufenthalts dargestellt. 2. Objektives Begriffsverständnis Der gewöhnliche Aufenthaltsort einer Person ist nach ganz herrschender Meinung faktisch zu bestimmen und befindet sich dort, wo sie ihren Daseinsoder Lebensmittelpunkt hat. 338 Der Daseinsmittelpunkt wird wiederum als Schwerpunkt aller sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Beziehungen umschrieben339 und setzt demnach voraus, dass sich die betreffende Person in gewissem Maße in ihre soziale Umwelt eingegliedert hat. 340 Kriterien privater und beruflicher Natur sind hier etwa Anwesenheit von Familienangehörigen, Einrichtung einer Wohnung, Schulbesuch der Kinder, Berufsausübung und
335 Weller/Rentsch, in: Leible (Hrsg.), General Principles of European Private International Law, 2016, S. 171, 183. 336 Rentsch, Der gewöhnliche Aufenthalt im System des Europäischen Kollisionsrechts, 2017, S. 427 ff. 337 Zum Sinn und Zweck der GFK und insb. des Art. 12 Abs. 1 GFK s.o. 2. Teil, 3. Kap., A. 338 OLG Hamm, Beschluss v. 5.5.1989 – 1 WF 167/89, NJW 1990, 651; Baetge, FS Kropholler, 2008, 77, 78; Von Bar/Mankowski, IPR I, 2003, § 7 Rn. 23; Dörner, in: Nomos Handkommentar BGB, 2019, Art. 5 EGBGB Rn. 8; Hohloch, in: Erman, BGB, 2017, Art. 5 EGBGB Rn. 47; Lorenz, in: BeckOK BGB, 2020, Art. 5 EGBGB Rn. 15; Schulze, in: Nomos Kommentar, BGB, 2016, Art. 5 EGBGB Rn. 16; Spickhoff, IPRax 1990, 225, 227; für einen Überblick über den Meinungsstand vgl. insb. Rentsch, Der gewöhnliche Aufenthalt im System des Europäischen Kollisionsrechts, 2017, S. 56 ff. 339 Dörner, in: Nomos Handkommentar, BGB, 2019, Art. 5 EGBGB Rn. 8; Hohloch, in: Erman, BGB, 2017, Art. 5 EGBGB Rn. 47; Lorenz, in: BeckOK BGB, 2020, Art. 5 EGBGB Rn. 15; Schulze, in: Nomos Kommentar, BGB, 2016, Art. 5 EGBGB Rn. 17. 340 OLG Hamm, Beschluss v. 5.5.1989 – 1 WF 167/89, NJW 1990, 651; Baetge, FS Kropholler 2008, 77, 80; Dörner, in: Nomos Handkommentar, BGB, 2019, Art. 5 EGBGB Rn. 8; Lorenz, in: BeckOK BGB, 2020, Art. 5 EGBGB Rn. 15; Spickhoff, IPRax 1990, 225, 227.
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Belegenheit von Vermögensinteressen. 341 Der gewöhnliche Aufenthalt setzt zudem das dauernde und beständige Verweilen der jeweiligen Person voraus.342 Als Faustformel werden häufig sechs Monate genannt. Jedoch würde eine zu starre Mindestaufenthaltsdauer dem Grundprinzip der engsten Verbindung nicht gerecht, sodass jeweils auf den Einzelfall und die Gesamtumstände abzustellen ist.343 Zum Beispiel kann ein gewöhnlicher Aufenthalt vor Ablauf der sechs Monate begründet werden, wenn er von vornherein auf längere Dauer angelegt ist. 344 Einen abgeleiteten gewöhnlichen Aufenthalt für Kinder gibt es nicht, wobei das Aufenthaltsbestimmungsrecht des Sorgeberechtigten aber zu berücksichtigen ist. 345 Für das Flüchtlingsrecht ferner relevant ist die Tatsache, dass der Aufenthalt der Person nicht rechtmäßig sein muss, sodass grundsätzlich auch illegale Flüchtlinge einen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland begründen können. 346 Die europarechtskonforme Auslegung des Begriffs schließlich stimmt mit dem oben Gesagten überein. Auch im europäischen Kontext werden für die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts eine gewisse soziale und rechtliche Integration sowie eine gewisse Dauer der Präsenz an einem Ort vorausgesetzt.347 Für die Feststellung des gewöhnlichen Aufenthalts im Einzelfall werden als relevante Gesamtumstände Nationalität, Sprache, Verweildauer 341 Baetge, FS Kropholler 2008, 77, 81; für einen Überblick über die entsprechende Rechtsprechung siehe Rentsch, Der gewöhnliche Aufenthalt im System des Europäischen Kollisionsrechts, 2017, S. 151 f. 342 OLG Hamm, Beschluss v. 5.5.1989 – 1 WF 167/89, NJW 1990, 651; Von Bar/Mankowski, IPR I, 2003, § 7 Rn. 23; Hohloch, in: Erman, BGB, 2017, Art. 5 EGBGB Rn. 48; Lorenz, in: BeckOK BGB, 2020, Art. 5 EGBGB Rn. 16; Schulze, in: Nomos Kommentar, BGB, 2016, Art. 5 EGBGB Rn. 18; Spickhoff, IPRax 1990, 225; ausführlich zur Bedeutung des Zeitmoments Rentsch, Der gewöhnliche Aufenthalt im System des Europäischen Kollisionsrechts, 2017, S. 156 ff. 343 Seibl, Die Beweislast bei Kollisionsnormen, 2009, S. 67 f.; ablehnend zur Verweildauer als taugliche Zweifelsregelung Baetge, FS Kropholler 2008, 77, 81; Rentsch, Der gewöhnliche Aufenthalt im System des Europäischen Kollisionsrechts, 2017, S.156 ff. und S. 180 ff. 344 v. Bar/Mankowski, IPR I, 2003, § 7 Rn. 23; Baetge, FS Kropholler 2008, 77, 84 f.; Hohloch, in: Erman, BGB, 2017, Art. 5 EGBGB Rn. 52; Lorenz, in: BeckOK BGB, 2020, Art. 5 EGBGB Rn. 16; Spickhoff, IPRax 1990, 225, 227. 345 Hohloch, in: Erman, BGB, 2017, Art. 5 EGBGB Rn. 54; Lorenz, in: BeckOK BGB, 2020, Art. 5 EGBGB Rn. 17; zum Zusammenhang mit dem Kindeswohl ausführlich Rentsch, Der gewöhnliche Aufenthalt im System des Europäischen Kollisionsrechts, 2017, S. 183 ff. 346 Baetge, FS Kropholler 2008, 77, 83 f.; zum gewöhnlichen Aufenthalt als Tatsachenbegriff vgl. Rentsch, Der gewöhnliche Aufenthalt im System des Europäischen Kollisionsrechts, 2017, S. 136 ff.; dasselbe gilt im Übrigen für Staatenlose, vgl. Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, AsylG, 2020, § 3 AsylG Rn. 6. 347 Hohloch, in: Erman, BGB, 2017, Art. 5 EGBGB Rn. 47a; v. Hein, in: MünchKommBGB, 2018, Art. 5 EGBGB Rn. 136.
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und Integrationswille genannt. 348 Die EuGH-Entscheidungen sind zwar fast alle im Kindschaftsrecht ergangen. 349 Für eine einheitliche europäische Begriffsauslegung ist verallgemeinerungsfähig, dass die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts eine gewisse soziale Integration und Dauer des Verweilens voraussetzt. Diese in den Urteilen zu lesende Feststellung ist daher auf die Erwachsenen übertragbar. 350 3. Subjektives Element Nach Darlegung der objektiven Definitionsmerkmale stellt sich die Frage, ob dem Begriff auch ein subjektives Element in Form eines Niederlassungswillens zugrunde liegt.351 In Literatur und Rechtsprechung wird überwiegend angenommen, dass der Wille einer Person für die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts nicht konstitutiv ist, sondern lediglich ein weiteres Indiz darstellt.352 Dem ist insoweit zuzustimmen, als dass ein rechtsgeschäftlicher Wille nicht erforderlich ist. 353 Ansonsten wären Fälle von Minderjährigen und anderen nicht oder beschränkt Geschäftsfähigen auch schwer zu erfassen bzw. abhängig vom jeweiligen gesetzlichen Vertreter, was der heutigen Sichtweise von einem selbstständig bestimmten gewöhnlichen Aufenthalt auch von Minderjährigen zuwiderliefe. 354 Aber auch die nur objektive Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts führt nicht zu ausgewogenen und einzelfallgerechten Ergebnissen. Gerade bei problematischen Fällen, wie dem Aufenthalt im Rahmen von Militäreinsätzen oder eines Schüleraustausches 348
Rentsch, ZEuP 2015, 288, 301. Vgl. insbesondere EuGH Urteil v. 2.4.2009 – Rs. C-523/07, A., BeckRS 2009, 70389; EuGH, Urteil v. 22.12.2010 – Rs. C-497/10 PPU, Mercredi ./. Chaffe, BeckRS 2011, 80085 und EuGH, Urteil v. 9.10.2014 – Rs. C 376/14 PPU, C. ./. M., BeckRS 2014, 82297; Rentsch, ZEuP 2015, 288, 301; Weller/Rentsch, in: Leible (Hrsg.), General Principles of European Private International Law, 2016, S. 171, 179 f. 350 Hohloch, in: Erman, BGB, 2017, Art. 5 EGBGB Rn. 47a; Rentsch, ZEuP 2015, 288, 301. 351 Dafür Weller, in: Leible/Unberath (Hrsg.), Rom 0-VO, 2013 S. 293, 295 und 320; sich anschließend Schwemmer, Anknüpfungsprinzipien im Europäischen Kollisionsrecht, 2018, S. 163 ff.; vgl. zur Bedeutung des Niederlassungswillens ferner Rentsch, Der gewöhnliche Aufenthalt im System des Europäischen Kollisionsrechts, 2017, S. 162 ff. 352 Vgl. nur v. Hein, in: MünchKommBGB, 2018, Art. 5 EGBGB Rn. 153 ff. m.w.N. 353 Laut BGH, Urteil v. 5.2.1975 – IV ZR 103/73, NJW 1975, 1068 ist ein subjektiver Wille nicht erforderlich; das OLG Düsseldorf, Beschluss v. 25.4.2012 – II-8 UF 59/12, juris Rn. 7 hat das objektive Begriffsverständnis im Rahmen des Art. 3 EuUnthVO zugrunde gelegt. Vgl. ferner OLG Hamm, Beschluss v. 5.5.1989 – 1 WF 167/89, NJW 1990, 651; Dörner, in: Nomos Handkommentar, BGB, 2019, Art. 5 EGBGB Rn. 9; Rentsch, Der gewöhnliche Aufenthalt im System des Europäischen Kollisionsrechts, 2017, S. 165 f.; Schulze, in: Nomos Kommentar, BGB, 2016, Art. 5 EGBGB Rn. 16. 354 Jayme, RdC 251 (1995), 13, 207; Rentsch, Der gewöhnliche Aufenthalt im System des Europäischen Kollisionsrechts, 2017, S. 168. 349
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oder aber bei Personen, die eine Form des „nomadisme“355 leben, kann der animus manendi bzw. revertendi einer Person den entscheidenden Hinweis auf die engste Verbindung geben.356 Selbst Vertreter der Gegenansicht messen dem faktischen Willen eine Bedeutung zu und wollen die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts zum Beispiel bei zwangsweisem Verbringen oder Verweilen ausschließen. 357 Einem natürlichen Niederlassungswillen einer Person kann damit über die Bedeutung als bloßes Indiz hinaus jedenfalls in Zweifelsfällen konstitutive Wirkung zukommen..358 Ein solcher Wille muss bei Erwerb und Fortführung des gewöhnlichen Aufenthalts grundsätzlich darauf gerichtet sein, länger als nur vorübergehend an einem Ort zu verweilen. Dabei muss der Aufenthalt bei seiner Begründung und beim späteren Verbleib freiwillig sein. 359 Auch im Zuge der Europäisierung des IPR wird zunehmend der (Bleibe-) Wille einer Person relevant. Nach jüngster EuGH- Rechtsprechung kommt es auch auf den natürlichen Willen einer Person an. 360 So hat der EuGH in der Barbara Mercredi–Entscheidung festgestellt, dass die Verordnung keine Mindestaufenthaltsdauer erfordert, sondern die Absicht des Betroffenen zu
355 Das Phänomen des „nomadisme“ wurde von dem französischen Soziologen Michel Maffesoli entwickelt und umschreibt die postmoderne Lebensform von Personen, die ihren Aufenthalt zwischen mehreren Wohnsitzen in unterschiedlichen Ländern häufig wechseln, wie z.B. Kinder getrennt lebender Eltern oder Angestellte internationaler Unternehmen, und daher im Laufe ihres Lebens auch mehrere und wechselnde Identitäten haben. Siehe dazu Maffesoli, Zeit kehrt wieder, 2014, S. 105 ff. sowie für die Perspektive des IPR Jayme, Zugehörigkeit und kulturelle Identität, 2012, S. 31 ff; Weller, Liber Amicorum Erik Jayme, 2019, 53, 64 f. 356 Rohe, FS Rothoeft, 1994, 1 22; Schwemmer, Anknüpfungsprinzipien im Europäischen Kollisionsrecht, 2018, S. 163 ff.; Weller/Rentsch, in: Leible (Hrsg.), General Principles of European Private International Law, 2016, S. 171 f.; für die Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls durch den Richter und gegen schematische Lösungen Jayme, RdC 251 (1995), 13, 207. 357 Dörner, in: Nomos Handkommentar, BGB, 2019, Art. 5 EGBGB Rn. 9; Hohloch, in: Erman, BGB, 2017, Art. 5 EGBGB Rn. 49. 358 Schwemmer, Anknüpfungsprinzipien im Europäischen Kollisionsrecht, 2018, S. 163 ff.; Weller, in: Leible/Unberath (Hrsg.), Rom 0-VO, 2013, S. 293, 317 und 321; für eine Zweifelsanknüpfung an den Willen Rentsch, Der gewöhnliche Aufenthalt im System des Europäischen Kollisionsrechts, 2017, S. 180 ff. 359 Zwangsweises Verbringen oder Verweilen begründet keinen gewöhnlichen Aufenthalt, vgl. Dörner, in: Nomos Handkommentar, BGB, 2019, Art. 5 EGBGB Rn. 9; Hohloch, in: Erman, BGB, 2017, Art. 5 EGBGB Rn. 49; mit überzeugendem Fallbeispiel zur Freiwilligkeit Rentsch, Der gewöhnliche Aufenthalt im System des Europäischen Kollisionsrechts, 2017, S. 164 f. 360 Hohloch, in: Erman, BGB, 2017, Art. 5 EGBGB Rn. 47a; Weller/Rentsch, in: Leible (Hrsg.), General Principles of European Private International Law, 2016, S. 171, 179 f.
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bleiben entscheidend ist, während die Dauer nur ein Indiz darstellt. 361 Hat der Betroffene hingegen einen ausdrücklichen animus revertendi, erfolgt folgerichtig auch kein Statutenwechsel durch die Aufenthaltsverlegung. 362 In Übereinstimmung mit der Entscheidungspraxis des EuGH und zur Vermeidung für Dritte nicht hinnehmbarer Rechtsunsicherheit muss der Wille sich aber nach außen objektiv manifestieren. 363 Gegen eine Berücksichtigung des Niederlassungswillens in konstitutiver Form wird häufig eingewandt, dass die Abgrenzbarkeit von Niederlassungswillen und Rechtswahl verloren gehe.364 Dagegen spricht, dass eine Rechtswahl durch das bloße willensgesteuerte Verlegen des Aufenthaltsorts der in den meisten Instrumenten begrenzten Möglichkeit einer Rechtswahl zuwiderliefe. Dort werden häufig Anforderungen an Form und Ausdrücklichkeit der Rechtswahl gestellt, wie sie ein Niederlassungswille gerade nicht erfordert. 365 Vielmehr erfährt die subjektive Seite der Aufenthaltsanknüpfung Legitimation in Hinblick auf die Parteiautonomie. So ist der objektive Anknüpfungspunkt an den gewöhnlichen Aufenthalt entweder komplementär zu einer Rechtswahl als subjektiver Anknüpfungspunkt oder aber kann als subjektiver Anknüpfungspunkt gewählt werden. Er steht somit in unmittelbarer Wechselwirkung zur Parteiautonomie. 366 Die Stärkung der Parteiautonomie insbesondere im europäischen Kollisionsrecht verdeutlicht, dass die Intention der Person beim Herstellen der engsten Verbindung zu einer Rechtsordnung eine entscheidende Rolle spielt. Ferner sind rein objektive Kriterien wie die Aufenthaltsdauer zwar für Dritte transparenter, können jedoch auch die rechtliche Akzeptanz von Migration verlangsamen.367 Letztlich führt das Ergänzen eines subjektiven Elements zudem zu keiner starken Abweichung von der derzeit herrschenden Meinung,
361 EuGH, Urteil v. 22.12.2010 – Rs. C-497/10 PPU, Mercredi ./. Chaffe, BeckRS 2011, 80085. 362 Weller, DGIR 2018, 247, 260. 363 Rentsch, Der gewöhnliche Aufenthalt im System des Europäischen Kollisionsrechts, 2017, S. 169 ff; Schwemmer, Anknüpfungsprinzipien im Europäischen Kollisionsrecht, 2018, S. 163 f.; Weller, in: Leible/Unberath (Hrsg.), Rom 0-VO, 2013, S. 293, 317 und 321. 364 M. Weller, in: Gebauer/Teichmann (Hrsg.), Europäisches Privat- und Unternehmensrecht, 2016, § 8 A. Rn. 125 f. 365 Rentsch, Der gewöhnliche Aufenthalt im System des Europäischen Kollisionsrechts, 2017, S. 178 f. 366 Für eine rechtswahlakzessorische Aufenthaltssystematik Rentsch Der gewöhnliche Aufenthalt im System des Europäischen Kollisionsrechts, 2017, S. 417 ff. 367 Weller/Rentsch, in: Leible (Hrsg.), General Principles of European Private International Law, 2016, S. 171 f.
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sondern modifiziert den Zeitpunkt des Eintretens des Statutenwechsels in Richtung einer stärkeren zeitlichen Anknüpfungsgerechtigkeit. 368 Folglich sollte der Wille einer Person neben den objektiven Kriterien ebenfalls konstitutiv für die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts auch nach einem sofortigen Aufenthaltswechsel sein, wenn nämlich die anderen Kriterien der sozialen Integration noch nicht greifen, wie es gerade im Fluchtkontext der Fall sein dürfte. 4. Zwischenergebnis Im Ergebnis hat eine Person somit ihren gewöhnlichen Aufenthalt an ihrem Lebensmittelpunkt, der im Einzelfall anhand von verschiedenen objektiven Kriterien, wie Verweildauer und Integrationsmaß zu bestimmen ist. Ergänzend ist auf der subjektiven Seite der natürliche Wille einer Person heranzuziehen. Konsens besteht darin, dass der gewöhnliche Aufenthalt einer Person an ihrem „zentralen Lebensmittelpunkt“ zu suchen ist und dass bei der Beurteilung, wo der Schwerpunkt aller sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Beziehungen liegt, alle Umstände des Einzelfalls abzuwägen sind. Ein gewöhnlicher Aufenthalt setzt in objektiver Hinsicht eine gewisse Beständigkeit voraus. Eine Mindestaufenthaltsdauer ist nicht erforderlich. Auf der anderen Seite kann aber eine lange Aufenthaltsdauer auch ein wichtiges Indiz für die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts sein. Umstritten ist, ob der Wille einer Person konstitutiv für die Begründung des gewöhnlichen Aufenthalts ist. Nach herrschender Ansicht stellt er aber jedenfalls ein wichtiges Indiz dar. Schließlich ist ein funktionales Begriffsverständnis vorzuziehen und der Begriff stets in den Kontext des jeweiligen Rechtsgebiets zu setzen. Darauf aufbauend wird der gewöhnliche Aufenthalt im Folgenden im Rahmen des Personalstatuts des Flüchtlings untersucht. III. Der gewöhnliche Aufenthalt von Schutz- und Wirtschaftsmigranten Nachdem der „gewöhnliche Aufenthalt“ definiert wurde, sind nun der „Flüchtling“ bzw. die einzelnen Personengruppen mit unterschiedlichem Schutzstatus unter den Begriff zu subsumieren. Beim gewöhnlichen Aufenthalt von Flüchtlingen ist zwischen anerkannten Flüchtlingen und Asylberechtigten sowie subsidiär Schutzberechtigten auf der einen Seite und Asylbewerbern und Personen mit humanitärem Aufenthalts- oder Duldungstitel auf der anderen Seite zu unterscheiden. Flüchtlinge im Sinne der GFK, Asylberechtigte und subsidiär Schutzberechtigte (obgleich nicht von Art. 12 Abs. 1 GFK erfasst) als erste Personengruppe haben gemeinsam, dass sie aufgrund ihres hohen Schutzstatus die Aussicht darauf haben, für einen langen Zeitraum 368 So überzeugend Rentsch, Der gewöhnliche Aufenthalt im System des Europäischen Kollisionsrechts, 2017, S. 179.
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legal im Bundesgebiet leben zu können. Sie haben daher die Möglichkeit längerfristig einen Beruf auszuüben und eine Familie zu gründen bzw. nachzuholen, um somit auch das für die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts nötige Mindestmaß an Integration und Verweildauer zu erfüllen. Zudem haben sie oft aufgrund anhaltender (politischer) Verfolgung im Heimatland die Absicht in Deutschland zu bleiben. 369 Daraus folgt, dass für die Feststellung des gewöhnlichen Aufenthalts dieser Personen grundsätzlich keine Besonderheiten bestehen und sie wie jeder andere Ausländer auch zu behandeln sind.370 Obwohl nicht von Art. 12 Abs. 1 GFK erfasst, soll kurz auf einzelne Besonderheiten bei Asylbewerbern im laufenden Verfahren und Personen mit Aufenthalts- oder Duldungstitel eingegangen werden, die an späterer Stelle Bedeutung erlangen. Zudem ist der gewöhnliche Aufenthalt eines Schutzoder Wirtschaftsmigranten nicht nur hinsichtlich Art. 12 Abs. 1 GFK relevant, sondern auch bei der Anwendung anderer europäischer Kollisionsnormen. Beispielsweise stellt sich bei der Zuständigkeit deutscher Gerichte für Scheidungssachen nach Art. 3 Abs. 1 lit. a) 5. Spiegelstrich EuEheVO bei Flüchtlingen die Frage, ob sie schon einen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland begründet haben. 1. Asylbewerber Hinsichtlich der Asylbewerber ist festzuhalten, dass ein gewöhnlicher Aufenthalt in Deutschland durch die bloße Aufenthaltsnahme zwar nicht ohne weiteres angenommen werden kann, die Legalität bzw. ein noch laufendes Asylverfahren jedoch auch irrelevant sein können. 371 Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn sich das Asylverfahren über mehrere Jahre hinzieht und mit seinem Abschluss in naher Zukunft auch nicht zu rechnen ist. Es kommt dann im Sinne der Definition des gewöhnlichen Aufenthalts, auch unabhängig von voraussichtlicher Ablehnung des Asylantrags, darauf an, ob der Asylbewerber schon fest sozial integriert ist. 372 Auch dem Abbruch der Beziehungen zum Herkunftsstaat kommt eine entscheidende Bedeutung 369
Vgl. Budzikiewicz, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinkhammer/Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 95, 113 f.; anderer Ansicht und einen überwiegend vorliegenden Rückkehrwillen annehmend Study for the JURI committee „Private International Law in a Content of Increasing International Mobility: Challenges and Potential“ des Europäischen Parlaments, PE 583.157, June 2017, S. 37, abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020). 370 Spickhoff, IPRax 1990, 225, 228. 371 Budzikiewicz, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinkhammer/Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 95, 110 f.; Jayme, RdC 251 (1995), 13, 207. 372 Hohloch; in: Erman, BGB, 2017, Art. 5 EGBGB Rn. 50; Lorenz, in: BeckOK, BGB, 2020, Art. 5 EGBGB Rn. 16; Spickhoff, IPRax 1990, 225, 227.
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zu und indiziert eine soziale Anpassung, die über die bloße Anwesenheit als durchreisender Asylbewerber deutlich hinausgeht. 373 Ferner spricht auch ein ausdrücklicher Bleibewille des Asylbewerbers für die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts.374 Teilweise wird vertreten, dass der auf Verweilen gerichtete Wille aber auch unbeachtlich sein kann, wenn der längerfristige Aufenthalt bei offensichtlich unbegründetem Asylantrag ersichtlich unzulässig ist. 375 Vielmehr ist auch in solchen Fällen der Fokus auf die tatsächliche Bleibeperspektive zu richten, sodass ausschlaggebend sein kann, dass der Asylbewerber auch nach Ablehnung seines Antrags einen Status als Geduldeter erhält.376 Neben dem laufenden Asylverfahren als Einflussfaktor sind auch bei Asylbewerbern die je nach Rechtsgebiet und Normenkomplex verschiedenen Facetten der Definition des gewöhnlichen Aufenthalts zu berücksichtigen. Beispielsweise kann die erforderliche Mindestaufenthaltsdauer, die im sozialen Leistungsrecht (Kindergeld) einerseits und bei der Zuständigkeit in Familiensachen andererseits variieren.377 Im Ergebnis ist die Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts bei Asylbewerbern zukunftsorientiert und prognoseorientiert auszulegen, wobei die objektive Aussicht auf ein Bleiberecht und der Bleibewille zu berücksichtigen sind.378 2. Humanitärer Aufenthaltstitel und Duldung Bei Personen mit Aufenthalts- oder Duldungstitel gelten ähnliche Erwägungen bezüglich des Einflusses des ausländerrechtlichen Verfahrens. 379 Da es zur Feststellung des gewöhnlichen Aufenthalts auf tatsächliche Umstände und nicht auf die Legalität des Aufenthalts ankommt, ist ein Aufenthaltstitel nicht 373
OLG Hamm, Beschluss v. 5.5.1989 – 1 WF 167/89, NJW 1990, 651, 652. Spickhoff, IPRax 1990, 225, 227. 375 Schulze, in: Nomos Kommentar, BGB, 2016, Art. 5 EGBGB Rn. 18. 376 OLG Hamm, Beschluss v. 5.5.1989 – 1 WF 167/89, NJW 1990, 651, 652; OLG Nürnberg, Beschluss v. 5.3.2001 – 11 WF 320/01, NVwZ-Beilage 2001, 119 (gewöhnlicher Aufenthalt trotz abgelehntem Asylantrag); Budzikiewicz, in: Budzikiewicz/ Heiderhoff/Klinkhammer/ Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 95, 113. 377 OLG Hamm, Beschluss v. 5.5.1989 – 1 WF 167/89, NJW 1990, 651, 652; OLG Schleswig, Beschluss v. 26.8.2015 – 8 AR 8/15, NJOZ 2016, 721: „Richtigerweise ist bei Asylbewerbern eine besonders strenge Bewertung nicht angezeigt, da die Annahme eines gewöhnlichen Aufenthalts nicht zur Festigung des Aufenthalts- ‚Rechts‘ beiträgt, sondern lediglich ermöglicht, besonders wichtige Probleme und Angelegenheiten der höchstpersönlichen Sphäre vor deutschen Gerichten zu klären und regeln.“ 378 Spickhoff, IPRax 1990, 225, 227. 379 Zur Auswirkung eines Aufenthalts- oder Duldungstitels auf die Zuständigkeit des Familiengerichts vgl. OLG Schleswig, Beschluss v. 26.8.2015 – 8 AR 8/15, NJOZ 2016, 721; vgl. ferner Rauscher, in: MünchKommFamFG, 2018, § 98 FamFG Rn. 64. 374
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per se ein Beweis fester Integration. Vor dem Hintergrund, dass die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis durch die Dublin III-VO380 nur bedingt vereinheitlicht ist und die Verfahren und materiellrechtlichen Voraussetzungen in den Mitgliedstaaten divergieren, verliert die Aufenthaltserlaubnis zudem auch im System des Europäischen Kollisionsrechts an Indizwirkung.381 Trotz alledem kann ein Aufenthaltstitel insbesondere bei Dauerhaftigkeit ebenso wie auch die Erteilung einer Arbeitserlaubnis ein starkes Indiz für die (rechtliche) Stabilität des Aufenthalts und damit für die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts sein. Beispielsweise ist nach § 18a Abs. 1a AufenthG (Aufenthaltserlaubnis zur Ausübung einer der beruflichen Qualifikation entsprechenden Beschäftigung) ein rechtlich abgesicherter Aufenthalt von zwei Jahren möglich, sodass die diskutierte Mindestgrenze von sechs Monaten deutlich überschritten wird. 382 Für welche Dauer ein Aufenthaltstitel beantragt wird, kann ferner Aufschluss über den Bleibewillen geben.383 Ein gewöhnlicher Aufenthalt von Geduldeten kann insbesondere dann angenommen werden, wenn auf lange Sicht nicht mit einer Abschiebung zu rechnen ist. Denn je länger die Duldung andauert, desto stärker verfestigt sich der Aufenthalt, desto stärker wird die Distanz zum eigentlichen Heimatland einerseits und der Bleibewille andererseits.384 Negative Auswirkungen auf die Prognose hat es aber wiederum, wenn aufenthaltsrechtliche Maßnahmen drohen (z.B. Abschiebung). 385 Auch kann der den Geduldeten verwehrte Zugang zum Arbeitsmarkt als Indiz gegen die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts sprechen, sodass jeweils der Einzelfall unter Berücksichtigung der Gesamtumstände zu prüfen ist. 386 Da es nicht auf die Berechtigung des gewöhnlichen Aufenthalts ankommt, sondern grundsätzlich die Länge der Aufenthaltsdauer und der Grad der sozialen Integration entscheidend sind,
380 Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist. 381 Rentsch, Der gewöhnliche Aufenthalt im System des Europäischen Kollisionsrechts, 2017, S. 153 f. 382 Vgl. Baetge, FS Kropholler, 2008, 77, 83 f.; Spickhoff, IPRax 1990, 225, 227 sowie im Kontext der Flüchtlingskrise Mankowski, IPRax 2017, 40, 48. 383 Mankowski, IPRax 2017, 40, 48 384 Mankowski, IPRax 2017, 40, 46 und 48. 385 Ist die Duldung für eine bestimmte Personengruppe von Asylbewerbern trotz abgelehntem Asylantrag der Regelfall, ist von einem gewöhnlichen Aufenthalt auszugehen, vgl. BSG, Urteil v. 16.12.1987 – 11a Reg 3/87, MDR 1988, 700; vgl. ferner Spickhoff, IPRax 1990, 225, 228. 386 Thym, NVwZ 2015, 1625, 1627.
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können auch Illegale oder abgelehnte Asylbewerber ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland haben. 387 3. Beispielsfall Der folgende Fall soll als (Negativ-) Beispiel der Veranschaulichung der dargestellten abstrakten Kriterien dienen: In einem vom AG Hameln388 zu entscheidenden Fall ging es um eine syrische Familie, bestehend aus Mutter, Vater und einem sechsjährigen Kind. Die Eltern waren trotz vorheriger Scheidung in Syrien Anfang 2016 mit dem gemeinsamen Kind nach Deutschland eingereist. Allen Familienangehörigen wurde subsidiärer Schutz zuerkannt und sie erhielten somit auch einen Aufenthaltstitel nach § 25 AufenthG. Nachdem der Vater wiederholt gewalttätig geworden war und schließlich wieder nach Syrien ausreiste, stellte die Mutter einen Antrag auf Übertragung des alleinigen Aufenthaltsbestimmungsrechts für das Kind. Für das AG Hameln stellte sich die Frage, ob es nach Art. 13 EuEheVO oder Art. 8 EuEheVO international zuständig ist. Das Gericht hielt sich im Ergebnis aufgrund der Eigenschaft des Kindes als Geflüchteter nach Art. 13 EuEheVO für international zuständig. Für die Anwendbarkeit des Art. 8 EuEheVO fehle es an einem gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes in Deutschland. Dies begründete das Gericht, nachdem es schulmäßig die Indizien für den gewöhnlichen Aufenthalt vorangestellt hatte, vor allem mit der unfreiwilligen Ausreise und dem bloß einjährigen Aufenthalt in Deutschland. Zudem sei der Hauptteil der Familie in Syrien verblieben und die Mutter könne kein Deutsch, was gegen eine soziale Integration spreche. 389 Die Begründung der Entscheidung widerspricht der EuGHRechtsprechung, nach der die Absicht der Eltern lediglich ein Indiz darstellt390 und der gewöhnliche Aufenthalt zudem keine Mindestaufenthaltsdauer voraussetzt. 391 Zudem vermischt das AG Hameln die Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts von Mutter und Kind, die durchaus voneinander 387
Mankowski, IPRax 2017, 40, 46 AG Hameln, Beschluss v. 28.02.2017 – 31 F 34/17 EASO, BeckRS 2017, 119285. Beispiel übernommen von Budzikiewicz, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinkhammer/ Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 95, 103 ff. 389 Vgl. AG Hameln, Beschluss v. 28.02.2017 – 31 F 34/17 EASO, BeckRS 2017, 119285, Rn. 13 ff. 390 Vgl. in diesem Sinne EuGH, Urteil v. 8.6.2017 – Rs. C-111/17, OL ./. PQ, BeckRS 2017, 117861, Rn. 47/50 und EuGH, Urteil v. 28.6.2018 – Rs. C-512/17, HR ./. KO, BeckRS 2018, 13329, Rn. 64. 391 Aus dem Urteil des EuGH v. 22.12.2010 – Rs. C-497/10 PPU, Mercredi ./. Chaffe, BeckRS 2011, 80085, Rn. 51 geht hervor, dass der Aufenthalt des Kindes in dem fraglichen Mitgliedstaat zwar „grundsätzlich von gewisser Dauer sein muss“, die EuEheVO aber keine Mindestdauer vorsieht und die Aufenthaltsdauer nur ein Indiz unter mehreren darstellt. 388
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abweichen können. 392 Insbesondere sprach das Kind im vorliegenden Fall im Gegensatz zur Mutter Deutsch und ging zudem in Deutschland zur Schule. 393 4. Exkurs: Freiwilligkeit bei Residenzpflicht und Wohnsitzauflage? Besonderheiten bestehen bei Asylbewerbern, die das beschleunigte Verfahren nach § 30a AsylG durchlaufen. Als Konsequenz der während dieses Verfahrens herrschenden Residenzpflicht (vgl. § 30a Abs. 3 AsylG) wird eine Aufenthaltsverfestigung durch freie Wohnsitzwahl verhindert, sodass fraglich ist, ob hier schon ein gewöhnlicher Aufenthalt begründet werden kann. 394 Richtigerweise kommt es trotz einer Residenzpflicht auf die Umstände des Einzelfalls und die jeweilige Bleibeperspektive an. Gibt es hinsichtlich der betreffenden Person eine positive Prognose für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und hat der Schutzsuchende keine Absicht, in sein Heimatland, in dem er möglicherweise verfolgt wird, zurückzukehren, kann ein gewöhnlicher Aufenthalt auch schon während des beschleunigten Verfahrens bejaht werden. Ähnlich verhält es sich im Ergebnis mit Wohnsitzauflagen nach § 12a AufenthG. Diese neue Wohnsitzregelung wurde mit dem Integrationsgesetz 2016 geschaffen und verpflichtet anerkannte Flüchtlinge, subsidiär Schutzberechtigte und Inhaber von humanitären Aufenthaltstiteln nach §§ 22, 23, und 25 Abs. 3 AufenthG drei Jahre in dem Land seinen gewöhnlichen Aufenthalt (Wohnsitz) zu nehmen, in das er zur Durchführung seines Asylverfahrens oder im Rahmen seines Aufnahmeverfahrens zugewiesen worden ist (vgl. § 12a Abs. 1 S. 1 AufenthG). 395 Wohnsitzauflagen sind indes in Hinblick auf Art. 26 GFK396 und Art. 33 RL 2011/95/EU397, die für Konventionsflüchtlinge bzw. subsidiär Schutzberechtigte ein Freizügigkeitsrecht normieren, nicht unproblematisch. Für Konventionsflüchtlinge hatte das BVerwG schon 2008 entschieden, dass Wohnsitzauflagen grundsätzlich mit Art. 26 GFK vereinbar sind, wenn die 392
Siehe oben 2. Teil, 4. Kapitel, A.II.2. Vgl. auch die Bewertung bei Budzikiewicz, in: Budzikiewicz/ Heiderhoff/Klinkhammer/Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 95, 104 f. 394 Vgl. zum beschleunigten Verfahren nach § 30a AsylG Thym, NVwZ 2016, 409, 410. 395 Vgl. zu dieser Neuregelung insgesamt v. Harbou, in NJW 2016, 2700, 2703. 396 „Jeder vertragschließende Staat wird den Flüchtlingen, die sich rechtmäßig in seinem Gebiet befinden, das Recht gewähren, dort ihren Aufenthalt zu wählen und sich frei zu bewegen, vorbehaltlich der Bestimmungen, die allgemein auf Ausländer unter den gleichen Umständen Anwendung finden.“ 397 „Die Mitgliedstaaten gestatten die Bewegungsfreiheit von Personen, denen internationaler Schutz zuerkannt worden ist, in ihrem Hoheitsgebiet unter den gleichen Bedingungen und Einschränkungen wie für andere Drittstaatsangehörige, die sich rechtmäßig in ihrem Hoheitsgebiet aufhalten.“ 393
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Rechtfertigung auf integrationspolitische Ziele und nicht nur auf fiskalische Gründe gestützt wird. 398 Bezüglich der Vereinbarkeit von Wohnsitzauflagen mit Art. 33 RL 2011/95/EU hatte das BVerwG dem EuGH vorgelegt. 399 Der EuGH hat geprüft, wann eine Diskriminierung im Sinne des Art. 33 RL 2011/95/EU vorliegt. 400 Der Gerichtshof stellte fest, dass Flüchtlinge und subsidiär Schutzberechtigte im Vergleich mit allen anderen Ausländern nicht schlechter behandelt werden dürfen, eine Ungleichbehandlung aber gerechtfertigt sein könne, wenn objektive Gründe gegeben seien.401 Im Ergebnis scheinen daher sowohl die Zuzugsbeschränkungen als auch die positiven Zuweisungen des deutschen Rechts rechtmäßig zu sein. 402 Hinsichtlich des Einflusses dieser Beschränkungen auf die Begründung des gewöhnlichen Aufenthalts gilt das zur Residenzpflicht Gesagte. Auch wenn den Betroffenen die Pflicht aufgelegt wird, in Deutschland bzw. in einem bestimmten Bundesland ihren Wohnsitz zu nehmen, spricht dies nicht per se gegen die Freiwilligkeit des Aufenthalts und damit der Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts. Denn auch diese Personen können schon fest sozial integriert sein und den ausdrücklichen Willen haben, sich an ihrem aktuellen Aufenthaltsort längerfristig niederlassen zu wollen. Anders stellt sich die Situation dar, wenn Flüchtlinge oder subsidiär Schutzberechtigten, z.B. wegen dort lebender Angehöriger, ihren Wohnsitz in einen anderen EU-Mitgliedstaat verlegen wollen. In solchen Fällen kann der gewöhnliche Aufenthalt zu verneinen sein. Hier kann im Sinne des Art. 12 Abs. 1 GFK dennoch an den schlichten Aufenthalt anzuknüpfen sein und sich das Personalstatut des Flüchtlings nach deutschem Recht richten. B. Hilfsweise: Schlichter Aufenthalt Lässt sich kein Lebensmittelpunkt des Flüchtlings fixieren, ist nach Art. 12 Abs. 1 GFK subsidiär an den schlichten Aufenthalt anzuknüpfen. 403 Dieser ist als jeder Ort zu definieren, an dem sich eine Person über eine ge398
BVerwG, Urteil v. 15.1.2008 – C 17/07, ZAR 2008, 270, 272 und zum Ganzen v. Harbou, NJW 2016, 2700, 2703; Lehner/Lippold, ZAR 2016, 81, 82. 399 BVerwG, Beschlüsse v. 19.8.2014 – 1 C 1.14, BeckRS 2014, 56482 und 1 C 3.14, BeckRS 2014, 56483. 400 EuGH, Urteil v. 1.3.2016 – Rs. C-443/14, Kreis Warendorf ./. Ibrahim Alo und Rs. C-444/14, Amira Osso ./. Region Hannover, NJW 2016, 1077 und zum Ganzen Lehner/Lippold, ZAR 2016, 81, 85 f. 401 EuGH, Urteil v. 1.3.2016 – Rs. C-443/14, Kreis Warendorf ./. Ibrahim Alo und Rs. C-444/14, Amira Osso ./. Region Hannover, NJW 2016, 1077, Rn. 54/61 ff. 402 Auch hinsichtlich der betroffenen Grundrechte aus Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 3 Abs. 1 GG ist eine Rechtfertigung möglich, vgl. Lehner/Lippold, ZAR 2016, 81, 88. 403 Hohloch, in: Erman, BGB, 2017, Art. 5 EGBGB Rn. 57; Lorenz, in: BeckOK, BGB, 2020, Art. 5 EGBGB Rn. 19; Schulze, in: Nomos Kommentar, BGB, 2016, Art. 5 EGBGB Rn. 20
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wisse Dauer hin aufhält, ohne dass sie an diesem Ort ihren Lebensmittelpunkt hat.404 Der Rechtsprechung genügt dabei jeder noch so flüchtige Aufenthalt an einem Ort. Nicht ausreichend sind jedoch eine bloße Durchreise, ein Ausflug oder Ähnliches. 405 Auf den schlichten Aufenthalt kann insbesondere bei der Modifikation von Kollisionsnormen, die ohnehin schon an den gewöhnlichen Aufenthalt anknüpfen, zurückgegriffen werden. So ist beispielsweise in Art. 19 Abs. 1 S. 1 EGBGB die Ratio der Aufenthaltsanknüpfung, dass das Umweltrecht des Kindes Anwendung findet. Wenn dessen gewöhnlicher Aufenthalt nicht feststellbar ist, darf auf den schlichten Aufenthalt zurückgegriffen werden. Wenn sich gar kein fester Aufenthaltsort finden lässt, etwa beim häufigen Wechsel einer Flüchtlingsunterkunft, ist auf die lex fori zurückzugreifen, was einer Hilfsanknüpfung an den letzten gewöhnlichen Aufenthalt, zu dem möglicherweise keine Verbindung mehr besteht, vorzuziehen ist. 406 C. Maßgeblicher Zeitpunkt Welcher Zeitpunkt für das Vorliegen des gewöhnlichen Aufenthalts maßgeblich ist, richtet sich bei Anwendung der Modifizierungstheorie (s.o.) nach den jeweiligen Kollisionsnormen, die durch Art. 12 Abs. 1 GFK modifiziert werden.407 Die Anknüpfung darf dabei jedoch nicht dem Regelungsziel der GFK zuwiderlaufen. Führt der festgelegte Zeitpunkt daher zur Anwendung des Verfolgerstaates, ist stattdessen auf die lex fori zurückzugreifen. 408 Wenn hingegen auf einen Zeitpunkt vor Erwerb der Flüchtlingseigenschaft verwiesen wird, bleibt es jedoch bei der Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit (z.B. beim Eheschließungsstatut nach Art. 13 EGBGB).409 Die Voraussetzungen der Aufenthaltsanknüpfung sind nach den Verhältnissen zu dem für die Anknüpfung maßgeblichen Zeitpunkt zu beurteilen. Bei einer wandelbaren Anknüpfung kommt es auf die letzte mündliche Verhandlung an.410 Materielle Rechtsänderungen im Heimatrecht des Flüchtlings, die
404
v. Bar/Mankowski, IPR I, 2003, § 7 Rn. 30; Budzikiewicz, StAZ 2017, 289, 295; Hohloch, in: Erman, BGB, 2017, Art. 5 EGBGB Rn. 57; Lorenz, in: BeckOK BGB, 2020, Art. 5 EGBGB Rn. 19. 405 v. Bar/Mankowski, IPR I, 2003, § 7 Rn. 30; Hohloch, in: Erman, BGB, 2017, Art. 5 EGBGB Rn. 57. 406 Lorenz, in: BeckOK BGB, 2020, Art. 5 EGBGB Rn. 19; Schulze, in: Nomos Kommentar, BGB, 2016, Art. 5 EGBGB Rn. 20. 407 Hohloch, in: Erman, BGB, 2017, Art. 5 EGBGB Rn. 85 f.; Lorenz, in: BeckOK BGB, 2020, Art. 5 EGBGB Rn. 33. 408 Thorn, in: Palandt, BGB, 2020, Art. 5 EGBGB Anh. Rn. 24. 409 v. Hein, in: MünchKommBGB, 2018, Art. 5 EGBGB Anh. II Rn. 65. 410 Hohloch, in: Erman, BGB, 2017, Art. 5 EGBGB Rn. 53; Lorenz, in: BeckOK BGB, 2020, Art. 5 EGBGB Rn. 15.
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nach der Flucht rückwirkend geschaffen wurden, bleiben für ihn unbeachtlich.411 D. Umfang der Verweisung I. Sachnorm- oder Gesamtverweisung Wie bereits bei der Auslegung des Art. 12 Abs. 1 GFK angedeutet, ist umstritten, ob der Verweis in Art. 12 Abs. 1 GFK auf das Recht des Wohnsitzstaates bzw. des gewöhnlichen Aufenthalts des Flüchtlings eine Gesamtnormoder Sachnormverweisung beinhaltet. Hinsichtlich der Diskussion wird angeführt, dass sie nur Sinn ergäbe, wenn Art. 12 Abs. 1 GFK eine selbstständige (überlagernde) Kollisionsnorm darstelle.412 Diese Kritik verfängt indes nicht, wenn man die Diskussion der herrschenden Meinung darauf bezieht, ob in den jeweiligen Kollisionsnormen des Personalstatuts unter Umständen auch der Charakter als Gesamtnorm- oder Sachnormverweisung zu modifizieren ist. Für eine Sachnormverweisung spricht zunächst, dass staatsvertragliche Kollisionsnormen im Zweifel renvoi-feindlich sind, um eine einheitliche Anwendung zu gewährleisten. Im Rahmen der GFK spricht hierfür insbesondere auch das Parteiinteresse des Flüchtlings, dass es nicht zu einem Rückverweis auf das Recht seines Heimatstaats kommt. 413 Andererseits ist bei der Beurteilung das jeweilige Abkommen anhand seines Zwecks und seiner Besonderheiten auszulegen. Die GFK kennt wie bereits festgestellt keinen einheitlichen Wohnsitzbegriff, sodass etwaige Divergenzen zwischen den Vertragsstaaten durch einen renvoi abgemildert werden können und so gerade durch eine Gesamtverweisung die einheitliche Anwendung der Konvention sichergestellt werden kann. 414 Die außerhalb eines Flüchtlingskontextes anwendbaren Kollisionsnormen enthalten zudem grundsätzlich Gesamtnormverweisungen und nur bei ausdrücklicher Anordnung eine Sachnormverweisung. Somit wäre mit einer Gesamtnormverweisung auch eher dem Zweck der GFK, Flüchtlinge und Ansässige des Zufluchtsstaats gleichzustellen, gedient. 415 Ein renvoi führt ferner nicht zwingend zur Anwendbarkeit des Rechts des Heimatstaates des Flüchtlings, sondern kann auch das Recht eines anderen Konventionsstaats zur Anwendbarkeit berufen. 416 Eine Rückverweisung auf 411
Bausback, in: Staudinger, BGB, 2013, Art. 5 EGBGB Anh. IV Rn. 67. Lass, Der Flüchtling im IPR, 1995, S. 103 und 124. 413 Hohloch, in: Erman, BGB, 2017, Art. 5 EGBGB Rn. 87. 414 Looschelders, IPR, 2004, Art. 5 EGBGB Anh. Rn. 21; v. Hein, in: MünchKommBGB, 2018, Art 5 EGBGB Anh. II Rn. 68. 415 v. Hein, in: MünchKommBGB, 2018, Art 5 EGBGB Anh. II Rn. 68. 416 Looschelders, IPR, 2004, Art. 5 EGBGB Anh. Rn. 21; v. Hein, in: MünchKommBGB, 2018, Art 5 EGBGB Anh. II Rn. 68. 412
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das Heimatrecht des Flüchtlings widerspricht jedenfalls dem Zweck der GFK und bliebe daher unbeachtlich. 417 Dasselbe gilt, wenn das Recht eines Konventionsstaates nicht die Staatsangehörigkeit, sondern das domicile of origin des Flüchtlings als Anknüpfungspunkt wählt. 418 Folglich ist die Verweisung in Art. 12 Abs. 1 GFK auf das Recht am „Wohnsitz“ des Flüchtlings als Gesamtnormverweisung anzusehen. 419 Zudem wird i.S.v. Art. 4 Abs. 3 EGBGB stets unmittelbar auf die maßgebliche Teilrechtsordnung verwiesen. 420 II. Teleologische Reduktion des Art. 12 GFK und sogenannter Günstigkeitsvergleich Vereinzelt wird vorgeschlagen, dass die Anwendung des Art. 12 Abs. 1 GFK auf diskriminierende Normen des Heimatrechts zu beschränken ist, sofern nicht die GFK selbst hierfür im Rahmen des Art. 12 Abs. 2 GFK heranzuziehen ist.421 In eine ähnliche Richtung geht der Streit, ob der Meistbegünstigungsgrundsatz nach § 2 Abs. 2 AsylG (§ 3 Abs. 2 AsylVfG a.F.) eine Berücksichtigung auch des Heimatrechts des Asylberechtigten und damit die Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit ermöglicht. 422 Nach § 2 Abs. 2 AsylG bleiben „Vorschriften“ unberührt, die den Asylberechtigten eine günstigere Rechtsstellung einräumen. So soll zum Beispiel, wenn der Herkunftsstaat ein höheres Volljährigkeitsalter ansetzt und eine begünstigende Inlandsnorm (Unterhalt, Sozialleistungen) an die Volljährigkeit als Grenze anknüpft, Art. 12 Abs. 1 GFK teleologisch reduziert werden und diese günstigere Norm Anwendung finden.
417
Bausback, in: Staudinger, BGB, 2013, Art. 5 EGBGB Anh. IV Rn. 68; Looschelders, IPR, 2004, Art. 5 EGBGB Anh. Rn. 21; Lorenz, in: BeckOK BGB, 2020, Art. 5 EGBGB Rn. 35; Schulze, in: Nomos Kommentar, BGB, 2016, Art. 5 EGBGB Anh. II Rn. 27. 418 Die Anknüpfung an das domicile of origin entspricht der Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit, vgl. Lorenz, in: BeckOK BGB, 2020, Art. 5 EGBGB Rn. 20; Schulze, in: Nomos Kommentar, BGB, 2016, Art. 5 EGBGB Rn. 5. 419 Vgl. Arnold, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinkhammer/Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 25, 57 f.; a.A. Lass, Der Flüchtling im IPR, 1995, S. 124 f. 420 v. Hein, in: MünchKommBGB, 2018, Art 5 EGBGB Anh. II Rn. 71. 421 So vorgeschlagen von Majer, StAZ 2016, 337, 339 ff. 422 Bejahend: Jayme, IPRax 1984, 114 f.; Schulze, in: Nomos Kommentar, BGB, 2016, Art. 5 EGBGB Anh. II Rn. 33; Thorn, in: Palandt, BGB, 2020, Art. 5 EGBGB Anh. Rn. 28; ablehnend: Bausback, in: Staudinger, BGB, 2013, Art. 5 EGBGB Anh. IV Rn. 76; Hohloch, in: Erman, BGB, 2017, Art. 5 EGBGB Rn. 93; Looschelders, IPR, 2004, Art. 5 EGBGB Anh. Rn. 26; Lorenz, in: BeckOK BGB, 2020, Art. 5 EGBGB Rn. 43; Mankowski, IPRax 2017, 40, 42.
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Die Gesetzgebungsgeschichte der Norm lässt keinen eindeutigen Schluss zu. Von den Gegnern eines Günstigkeitsvergleich wird angeführt, dass § 44 Abs. 4 AuslG a.F., an dessen Stelle erst § 3 Abs. 2 AsylVfG a.F. und dann § 2 Abs. 2 AsylG getreten sind, lediglich der Verbesserung der materiell-rechtlichen Position anerkannter Asylberechtigter diente. Dafür spricht die frühere Fassung des § 44 Abs. 4 AuslG. Dieser lautete: „Die Absätze 1 und 2 gelten nicht, soweit die Rechtsstellung der nach § 28 anerkannten Ausländer in anderen Vorschriften dieses Gesetzes günstiger geregelt sind.“
Dies unterstreiche seinen ausschließlich fremdenrechtlichen Charakter und spreche gegen eine kollisionsrechtliche bzw. internationalprivatrechtliche Bedeutung.423 Auf der anderen Seite ist der Wortlaut des § 2 Abs. 2 AsylG gerade weiter gefasst und nicht mehr auf die Vorschriften des AsylG („anderen Vorschriften dieses Gesetzes“) wie noch in § 44 Abs. 4 AuslG a.F. beschränkt. Man könnte aus der Entscheidung des Gesetzgebers, § 2 Abs. 2 AsylG gerade weiter zu fassen, also auch gewisse Ansätze zur Berücksichtigung des durch das Aufenthaltsprinzip verdrängten Heimatrechts ablesen. 424 Ein entscheidendes Argument gegen eine teleologische Reduktion und einen Günstigkeitsvergleich lässt sich aber aus dem Wortlaut des Art. 12 Abs. 1 GFK ziehen, der eine solche Einschränkung nicht vorsieht. Zudem würde es dem Sinn und Zweck des Art. 12 Abs. 1 GFK widersprechen, wenn durch eine Begünstigung die Gleichstellung mit Inländern verloren geht, sodass der Integrationsgedanke der Flüchtlingskonvention eher gegen eine eventuelle Besserstellung spricht. Auch liegt eine Diskriminierung schon allein in der abstrakten Anwendung der Normen des Herkunftslands. Schließlich würde eine Meistbegünstigung bzw. teleologische Reduktion auch aus praktischer Sicht zu einem hohen Prüfungsaufwand und auch erheblicher Rechtsunsicherheit führen, da keine einheitlichen Maßstäbe in den Vertragsstaaten existieren. 425 Der frühere Eintritt der Volljährigkeit bei Anwendung des Art. 12 Abs. 1 GFK im oben aufgeführten Beispiel spielt ferner für Leistungen nach dem SGB VIII keine Rolle, da dieses konkret an die 18-
423
Arnold, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinkhammer/Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 25, 43 f.; Bausback, in: Staudinger, BGB, 2013, Art. 5 EGBGB Anh. IV Rn. 76; Looschelders, IPR, 2004, Art. 5 EGBGB Anh. Rn. 26; Mankowski, IPRax 2017, 40, 42. 424 Jayme, IPRax 1984, 114, 115. 425 Vgl. die überzeugende Argumentation bei Arnold, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/ Klinkhammer/Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 25, 58 ff.; im Ergebnis ebenso v. Hein, in: Juristische Studiengesellschaft Jahresband, 2018, S. 29, 38; Rupp, ZfPW 2018, 57, 74.
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Jahresgrenze anknüpft und zudem bestimmte Leistungen in der Regel auch noch bei bedürftigen jungen Volljährigen zugesprochen werden können. 426 E. Zwischenergebnis Bei Art. 12 Abs. 1 GFK handelt es sich im Ergebnis um eine unselbstständige Kollisionsnorm, die das autonome Kollisionsrecht so modifiziert, dass die persönlichen Rechtsverhältnisse des Flüchtlings (sein Personalstatut im materiellen Sinne) an den gewöhnlichen Aufenthalt und hilfsweise den schlichten Aufenthalt angeknüpft werden. Hintergrund dieser Aufenthaltsanknüpfung ist, dass im Interesse des Flüchtlings auf seine persönlichen Rechtsverhältnisse nicht mehr das Recht des Verfolgerstaates Anwendung finden soll.427 Gleichzeitig führt die Ersatzanknüpfung zu einer Gleichstellung mit den Einwohnern des Wohnsitzstaates, drückt damit ein mutmaßliches Interesse an der Assimilierung an die neue rechtliche Heimat aus und soll die Integration des Flüchtlings erleichtern.428 Für Konventionsflüchtlinge und Asylberechtigte wird folglich die Vermutung aufgegeben, dass die Staatsangehörigkeit einer Person auf den Staat hinweist, mit dem die Person am engsten verbunden ist. 429 Zudem vermeidet die Ersatzanknüpfung die Auseinandersetzung mit den teilweise undurchsichtigen Staatsangehörigkeitsverhältnissen, die mit der Flucht und Vertreibung und Umwälzungen in der Heimat verbunden sind. 430 Die Ermittlung des gewöhnlichen Aufenthalts und damit Lebensmittelpunkt eines anerkannten Flüchtlings oder subsidiär Schutzberechtigten ist wie bei Ausländern ohne Fluchthintergrund anhand objektiver Kriterien, wie Verweildauer und Integrationsmaß, und ergänzend subjektiv durch den natürlichen Willen zu bestimmen. Bei Asylbewerbern und Migranten mit Aufenthaltstitel oder Duldung ist auf die tatsächliche Bleibeperspektive abzustellen, wobei ausländerund aufenthaltsrechtliche Maßnahmen die Prognose negativ oder positiv bedingen, aber auch der Bleibewille der Betroffenen zu berücksichtigen ist. An die Feststellung, dass sowohl Schutz- als auch Wirtschaftsmigranten im Zuge der Immigration auch ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland
426
Nach § 7 Abs. 1 Nr. 4 SGB VIII ist junger Mensch, wer noch nicht 27 Jahre alt ist; vgl. ausführlich zur Problematik unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge 3. Teil. 427 Dörner, in: Nomos Handkommentar, BGB, 2013, Art. 5 EGBGB Rn. 7; Looschelders, IPR, 2004, Art. 5 EGBGB Anh. Rn. 19; Lorenz, in: BeckOK BGB, 2020, Art. 5 EGBGB Rn. 25; Mankowski, IPRax 2017, 40, 41. 428 Bausback, in: Staudinger, BGB, 2013, Art. 5 EGBGB Anh. Rn. 47; v. Hein, in: MünchKommBGB, 2018, Art. 5 EGBGB Anh. II Rn. 18; Looschelders, IPR, 2004, Art. 5 EGBGB Anh. Rn. 19; Mankowski, IPRax 2017, 40, 41; Schulze, in: Nomos Kommentar, BGB, Jahr, Art. 5 EGBGB Anh. II Rn. 3. 429 Mankowski, IPRax 2017, 40, 41. 430 Bausback, in: Staudinger, BGB, 2013, Art. 5 EGBGB Anh. IV Rn. 36.
5. Kapitel: Wirkungsweise des Art. 12 Abs. 2 GFK
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begründen, schließt sich die Frage an, ob Fragen des Personalstatuts dieser Gruppen einheitlich an den gewöhnlichen Aufenthalt angeknüpft werden sollten. Gerade angesichts der Migrationsbewegungen der letzten Jahre verliert die Staatsangehörigkeit zunehmend an Legitimation, womit die hier behandelte Personengruppe in besonderem Maße betroffen ist. Positive Folge einer Aufenthaltsanknüpfung wäre, dass auch Staatenlose und sogenannte sans-papiers nicht mehr so viele Rechtsanwendungsprobleme bereiten würden. Der gewöhnliche Aufenthalt in Deutschland führt zur Anwendung des Forumrechts statt der teureren Anwendung des ausländischen Heimatrechts und schont damit zusätzlich die knappen Ressourcen der Justiz. 431 Schließlich könnte mit der Einführung des gewöhnlichen Aufenthalts als grundsätzliches Anknüpfungsmoment auch ein einheitliches Personalstatut geschaffen werden, sodass die persönlichen Lebensverhältnisse einer Einzelperson im Idealfall durch eine einzige Rechtsordnung geregelt würden. 432 Diese Fragen sind Gegenstand der Bewertung des dargestellten kollisionsrechtlichen Gefüges, die im sechsten Kapitel erfolgen wird.
5. Kapitel: Wirkungsweise des Art. 12 Abs. 2 GFK 5. Kapitel: Wirkungsweise des Art. 12 Abs. 2 GFK
Im Folgenden wird die Wirkungsweise von Art. 12 Abs. 2 GFK näher erläutert, der eine Regelung zum Schutz wohlerworbener Rechte des Flüchtlings enthält. Das Kapitel leitet mit einem Problemaufriss ein (dazu A.). Die Analyse des Absatzes 2 erfolgte bereits ausführlich bei Christiane Wendehorst (geb. Lass) in ihrer Dissertation „Der Flüchtling im IPR“433, sodass die Ausführungen zur Auslegung hier in gebotener Kürze vorgenommen werden (dazu B.). Schließlich wird noch auf den ordre public-Vorbehalt in Art. 12 Abs. 2 S. 2 GFK als insbesondere für den vierten Teil der Arbeit relevantes Thema eingegangen (dazu C.). A. Problemaufriss Wird eine Person zum Flüchtling i.S.d. GFK, tritt ein Statutenwechsel bezüglich der Anknüpfung seiner persönlichen Rechtsverhältnisse ein. Entweder, weil der Herkunftsstaat diese bereits an den gewöhnlichen Aufenthalt anknüpfte und dieser sich nun im Zufluchtsstaat befindet, oder weil der Her-
431
Vgl. Mankowski, IPRax 2017, 40, 49. Vgl. Rentsch, ZEuP 2015, 288, 294. 433 Lass, Der Flüchtling im IPR, 1995, S. 131–145. 432
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kunftsstaat dem Staatsangehörigkeitsprinzip folgt und Art. 12 Abs. 1 GFK diesen Anknüpfungspunkt gegen den gewöhnlichen Aufenthalt tauscht. 434 Art. 12 Abs. 2 GFK erfasst vom Wortlaut her nur letzteren Fall. Da er nach herrschender Meinung den umfassenden Schutz der im Herkunftsstaat wohlerworbenen Rechte des Flüchtlings erfasst, ist er jedoch auf beide Konstellationen anwendbar.435 Zudem wird angenommen, dass dies auch für vor dem Inkrafttreten der GFK erworbene Rechte gilt, die Konvention somit keine Rückwirkung entfaltet.436 Dies ergibt sich auch aus Art. 28 „Wiener Konvention über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969“, der, obgleich jüngeren Datums als die GFK, den allgemeinen Grundsatz aufstellt, dass Staatsverträge keine Rückwirkung haben. 437 Die Abfederung von Statutenwechseln insbesondere hinsichtlich der sich noch stark unterscheidenden materiellen Familienrechte auch innerhalb Europas ist kompliziert und nicht zu unterschätzen. Hinzu kommt, dass Betroffene sich oft nicht des Statutenwechsels bewusst sind, sodass ein Verbesserungsbedarf hinsichtlich angemessener und ausreichender Information der Betroffenen besteht. 438 Bisher noch nicht befriedigend diskutiert oder gelöst ist ferner die Frage, was insbesondere bezogen auf das Familienrecht konkret unter dem Schlagwort des „wohlerworbenen Rechts“ zu verstehen ist. Meint es nur Rechtsverhältnisse mit umfassenden Rechten und Pflichten wie die Ehe oder auch einzelne spezielle Rechtspositionen des ausländischen Rechts, wie z.B. das Verschuldensprinzip bei einer Scheidung, das Sorgerecht für nichteheliche Kinder oder den Unterhaltsanspruch unter Geschwistern? 439 Ebenso ungeklärt ist, wie sich diese subjektiven Rechtspositionen in zeitlicher Hinsicht zu der jeweils auf sie anwendbaren objektiven Rechtsordnung 434
Lass, Der Flüchtling im IPR, 1995, S. 131. Zum Statutenwechsel im Flüchtlingskontext schon Ferid, Der Neubürger im Internationalen Privatrecht, 1949, S. 17 ff. 435 v. Hein, in: MünchKommBGB, 2018, Art 5 EGBGB Anh. II Rn. 66; Hohloch, in: Erman, BGB, 2017, Art. 5 EGBGB Rn. 88; Looschelders, IPR, 2004, Art. 5 EGBGB Anh. Rn. 23; Lorenz, in: BeckOK BGB, 2020, Art. 5 EGBGB Rn. 36; Schulze, in: Nomos Kommentar, BGB, 2016, Art. 5 EGBGB Anh. II Rn. 28; Thorn, in: Palandt, BGB, 2020, Art. 5 EGBGB Anh. Rn. 25; Study for the JURI committee „Private International Law in a Context of Increasing International Mobility: Challenges and Potential” des Europäischen Parlaments, PE 583.157, June 2017, S. 39, abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020). 436 Schulze, in: Nomos Kommentar, BGB, 2016, Art. 5 EGBGB Anh. II Rn. 28; Thorn, in: Palandt, BGB, 2020, Art. 5 EGBGB Anh. Rn. 25. 437 Bausback, in: Staudinger, BGB, 2013, Art. 5 EGBGB Anh. IV Rn. 66. 438 Vgl. Study for the JURI committee „Private International Law in a Context of Increasing International Mobility: Challenges and Potential” des Europäischen Parlaments, PE 583.157, June 2017, S. 38 ff., abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020). 439 Vgl. hierzu mit weiteren Beispielen Lass, Der Flüchtling im IPR, 1995, S. 132.
5. Kapitel: Wirkungsweise des Art. 12 Abs. 2 GFK
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verhalten. Als Konsequenz dieser ungeklärten Fragen wird Art. 12 Abs. 2 GFK in Europa unterschiedlich angewendet. So wird er in Frankreich zum Beispiel im Gegensatz zu Deutschland auch auf das Ehegüterrecht440 und auf den Fall, dass der Flüchtling die französische Staatsbürgerschaft erwirbt, angewendet.441 B. Auslegung des Art. 12 Abs. 2 GFK Einer Auslegung des Art. 12 Abs. 2 GFK ist voranzustellen, dass dem Willen des Gesetzgebers und dessen dogmatischen Erwägungen bei der Auslegung aus der Sicht des IPR nicht allzu große Bedeutung beizumessen ist, da die Konvention völkerrechtlichen Ursprungs ist und das IPR bei ihrer Entwic klung eher im Hintergrund stand. 442 Vielmehr ist die Norm auf ihren materiellen Regelungsgehalt hin vorrangig anhand ihres Wortlauts, ihrer systematischen Stellung in der GFK und ihres Sinn und Zwecks zu untersuchen. 443 Art. 12 Abs. 2 GFK lautet: „Die von einem Flüchtling vorher erworbenen und sich aus seinem Personalstatut ergebenden Rechte, insbesondere die aus der Eheschließung, werden von jedem vertragschließenden Staat geachtet, gegebenenfalls vorbehaltlich der Formalitäten, die nach dem in diesem Staat geltenden Recht vorgesehen sind. Hierbei wird jedoch unterstellt, dass das betreffende Recht zu demjenigen gehört, das nach den Gesetzen dieses Staates anerkannt worden wäre, wenn die in Betracht kommende Person kein Flüchtling geworden wäre.“
Zu klären ist zuerst die Bedeutung der „vorher erworbenen...Rechte“ als zentralem Begriff in Art. 12 Abs. 2 GFK. Die im IPR hinsichtlich des Schutzes wohlerworbener Rechte vertretene Lehre von den droits aquis beantwortet die Frage, unter welchen Bedingungen ein bereits entstandenes subjektives Recht Wirkungen nach dem Statutenwechsel entfaltet, damit, dass es erstens nach dem alten Recht wirksam entstanden sein muss und zweitens nach neuem Recht keine Anerkennungshindernisse (beispielsweise Verstoß gegen den ordre public) entgegenstehen dürfen. 444 Wie schon angedeutet wirft die Umschreibung als „subjektives Recht“ in der Lehre der droits aquis weitere Fragen auf, da nicht klar ist, ob einzelne Rechtspositionen oder auch ganze persönliche Rechtsverhältnisse gemeint sind. Zudem steht eine persönliche Rechtsposition eines Menschen nie separat, sondern ist stets im Kontext der auf sie anwendbaren objektiven Rechtsordnung zu betrachten. Die elterliche Sorge beispielsweise setzt sich aus 440 Cass. Civ. 1ère, Urteil v. 1.12.1969, Rev. crit. DIP 1970, 95 f. mit Anm. Ponsard, JDI 1970, 306 ff. 441 Cass. Civ. 1ère, Urteil v. 28.11.2006, Rev. crit. DIP 2007, 397 mit Anm. P. Lagarde. 442 Es fehlten Experten des IPR bei den Beratungen, vgl. Lass, Der Flüchtling im IPR, 1995, S. 133. 443 Lass, Der Flüchtling im IPR, 1995, S. 133 f. 444 Siehe nur Lass, Der Flüchtling im IPR, 1995, S. 134 m.w.N.
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Zweiter Teil: Migration als Herausforderung für das IPR
vielen unterschiedlichen Rechten und Pflichten zusammen und wird im deutschen Recht nur im Kontext der §§ 1626 ff. BGB greifbar. Anstatt von „subjektiven Rechten“ sollte daher besser von Lebenssachverhalten gesprochen werden, die nach dem Statutenwechsel einer objektiven Rechtsordnung zuzuordnen sind.445 Dies führt zu der nächsten Frage, in welcher Beziehung die in Art. 12 Abs. 2 GFK genannten erworbenen Rechte zu der vor und nach dem aus Art. 12 Abs. 1 GFK resultierenden Statutenwechsel anwendbaren Rechtsordnung stehen. Bei einem Statutenwechsel gibt es grundsätzlich drei Möglichkeiten seiner zeitlichen Wirkung: die Rückwirkung des Statutenwechsels, die Sofortwirkung und die teilweise Weitergeltung des alten Rechts. 446 Da die Rückwirkung des Statutenwechsels gerade nicht zur Achtung der erworbenen Rechte des Flüchtlings i.S.d. Art. 12 Abs. 2 GFK führt, muss diese Möglichkeit ausscheiden. 447 Eine teilweise Weiteranwendung des alten Rechts verbietet sich aufgrund des Zwecks der GFK, da dies einem Totalverweis auf das Recht des Verfolgerstaates gleich käme. Zudem wäre es nicht im Sinne der Konvention, dass es zu einer Aufspaltung des Familienstatus kommen würde. 448Zwar könnte man diesem Effekt der Rückwirkung durch das Prinzip der Meistbegünstigung begegnen, sodass stets das jeweils günstigere der anwendbaren Rechte zum Zuge käme. Dagegen spricht aber, dass dieses zu unbefriedigenden Ergebnissen im Rahmen von Rechtsverhältnissen führt, an denen mehrere Personen beteiligt sind, da die Begünstigung der einen Person stets die Benachteiligung der anderen bedeuten kann. Ferner bezweckt die GFK eine Gleichstellung der Flüchtlinge mit den Inländern und keine Privilegierung. 449 Folglich ist eine Sofortwirkung des Statutenwechsels anzunehmen und gleichzeitig von einer Wandelbarkeit der Anknüpfungen auszugehen. 450 Dabei käme es mit der Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts des Flüchtlings im Zufluchtsstaat zu einer vollumfänglichen Neubewertung seiner persönlichen Lebenssachverhalte. Von der Ehe würde beispielsweise nur die Eheschließung als abgeschlossener Sachverhalt übrig bleiben und sämtliche Rechtsfragen bezüglich der noch andauernden Ehewirkungen und des Ehegüterrechts würden der neuen Rechtsordnung unterliegen. 451
445
Vgl. Lass, Der Flüchtling im IPR, 1995, S. 135. Zurückgehend auf Roubier, Le droit transitoire, 1960, S. 9 f. 447 Vgl. Ferid, Der Neubürger im Internationalen Privatrecht, 1949, S. 22 f.; Lass, Der Flüchtling im IPR, 1995, S. 136. 448 Lass, Der Flüchtling im IPR, 1995, S. 137. 449 Lass, Der Flüchtling im IPR, 1995, S. 137 f. 450 Lass, Der Flüchtling im IPR, 1995, S. 138 f. 451 Lass, Der Flüchtling im IPR, 1995, S. 139. 446
5. Kapitel: Wirkungsweise des Art. 12 Abs. 2 GFK
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Dagegen spricht jedoch schon der Wortlaut des Art. 12 Abs. 2 GFK, der von „sich aus der Eheschließung ergebenden Rechte“ spricht.452 Hier bietet sich im Rahmen der Sofortwirkung daher eine Angleichungslösung, abgeleitet aus der Transpositionslehre aus dem Sachenrecht an, nach der das neu geltende Recht die persönlichen Rechtsverhältnisse des Flüchtlings mit ihrer Prägung durch das alte Recht übernimmt. 453 Diese Lösung sei am Beispiel des Ehegüterrechts erläutert. Die Eheschließung gilt als abgeschlossener Lebenssachverhalt, der nicht abgeschlossene Lebenssachverhalt der ehegüterrechtlichen Wirkungen unterliegt jedoch mit Sofortwirkung dem neuen Recht.454 Haben die Eheleute im Herkunftsstaat im (dort) gesetzlichen Güterstand der Gütergemeinschaft gelebt, ist der Güterstand nun nach deutschem Recht zu beurteilen. Da kein Ehevertrag vorliegt, lässt dieses nunmehr die Zugewinngemeinschaft als gesetzlichen Normalfall zur Anwendung gelangen. Beachtet man jedoch mithilfe der Transpositionslehre die Prägung des Ehegüterstands durch das alte Recht, sind die Regeln zur Gütergemeinschaft nach den §§ 1415 ff. BGB auch ohne Ehevertrag anwendbar. Ähnliches gilt für dem deutschen Recht fremde Rechtsinstitute wie z.B. einem Unterhaltsrecht von Zweitfrauen im islamischen Recht. 455 Für die Angleichungslösung spricht im Ergebnis, dass der Schutz vor der Anwendung des Rechts des Verfolgerstaats, der in Art. 12 Abs. 1 GFK zum Ausdruck kommt, gewährleistet wird und zugleich ein möglichst schonender Eingriff in die persönlichen Rechtspositionen des Flüchtlings stattfindet. 456 C. Einschränkung i.S.d. ordre public nach Art. 12 Abs. 2 S. 2 GFK Art. 12 Abs. 2 GFK enthält zwei Einschränkungen zur grundsätzlichen Achtung erworbener Rechte. Zunächst spricht er die zu wahrenden Formalitäten des Zufluchtsstaats an, womit z.B. die Anerkennung durch ein Familiengericht oder Registereintragungen gemeint sind. 457 Ferner verweist Art. 12 Abs. 2 S. 2 GFK auf den allgemeinen ordre public der Konventionsstaaten 458, indem er voraussetzt, „[...] dass das betreffende Recht zu demjenigen gehört, das nach den Gesetzen dieses Staates anerkannt
452
Lass, Der Flüchtling im IPR, 1995, S. 140; zur fehlenden Rückwirkung des Art. 12 Abs. 1 GFK vgl. zudem Budzikiewicz, StAZ 2017, 289, 296. 453 Entwickelt von Lass, Der Flüchtling im IPR, 1995, S. 141. 454 So im Ergebnis auch Budzikiewicz, StAZ 2017, 289, 297. 455 Beispiele bei Lass, Der Flüchtling im IPR, 1995, S. 142 f. 456 Lass, Der Flüchtling im IPR, 1995, S. 143. 457 Lass, Der Flüchtling im IPR, 1995, S. 145. 458 Arnold, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinkhammer/Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 25, 61; Hohloch, in: Erman, BGB, 2017, Art. 5 EGBGB Rn. 88; Schulze, in: Nomos Kommentar, BGB, 2016, Art. 5 EGBGB Anh. II Rn. 28; Thorn, in: Palandt, BGB, 2020, Art. 5 EGBGB Anh. Rn. 25.
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Zweiter Teil: Migration als Herausforderung für das IPR
worden wäre, wenn die in Betracht kommende Person kein Flüchtling geworden wäre.“. Dass mit dieser Formulierung der ordre public gemeint ist, lässt sich den travaux préparatoires zur Konvention entnehmen. 459 Mögliche Konflikte mit dem ordre public im deutschen Recht auf dem Gebiet des Familienrechts sind vielfältig. Im vierten Teil der Dissertation werden in diesem Kontext die Minderjährigenehen und die Polygamie gesondert behandelt.
6. Kapitel: Thesen im Rahmen des Personalstatuts 6. Kapitel: Thesen im Rahmen des Personalstatuts
Am Ende des ersten Teils soll sich nun der zentralen Fragestellung zugewandt werden, ob die Differenzierung des IPR zwischen den verschiedenen Migrantengruppen gerechtfertigt ist. Zunächst wird das bisherige Ergebnis zum Kollisionsrecht noch einmal kurz zusammengefasst. Darauf aufbauend wird die These der kollisionsrechtlichen Gleichbehandlung aller Schutzmigranten (Konventionsflüchtlinge und subsidiär Schutzberechtigte) in Form der Anwendbarkeit des gewöhnlichen Aufenthalts als maßgeblichem Anknüpfungspunkt aufgestellt und begründet (dazu A.). Sodann wird die These um eine generelle Anwendung des Aufenthaltsprinzips im Rahmen des Personalstatuts erweitert und begründet. Dabei wird auch aufgezeigt, wie für das Anknüpfungssubjekt unerwünschte Folgen abgemildert und die kulturelle Identität von Flüchtlingen berücksichtigt werden können (dazu B.). A. These: Kollisionsrechtliche Gleichbehandlung I. Art. 12 Abs. 1 GFK analog Art. 12 Abs. 1 GFK findet keine Anwendung auf subsidiär Schutzberechtigte, Asylbewerber (der Verweis in § 2 Abs. 1 AsylG greift erst ab der Anerkennung), Personen mit Aufenthalts- oder Duldungstitel (z.B. abgelehnte Asylbewerber) sowie illegal im Land befindliche Migranten. Für Migranten, die unter keine der kollisionsrechtlichen Sonderregeln fallen, gelten damit die allgemeinen Regeln des Internationalen Privatrechts in Form des europäischen und autonomen Kollisionsrechts (EGBGB). 460
459
Vgl. UN-Doc. A/Conf.2/SR.7, S. 13, abrufbar (letzter Abruf: 4.6.2020); sowie zum Ganzen Lass, Der Flüchtling im IPR, 1995, S. 144. 460 Hohloch, in: Erman, BGB, 2017, Art. 5 EGBGB Rn. 67; Schulze, in: Nomos Kommentar, BGB, 2016, Art. 5 EGBGB Anh. II Rn. 1; Thorn, in: Palandt, BGB, 2020, Art. 5 EGBGB Anh. Rn. 5.
6. Kapitel: Thesen im Rahmen des Personalstatuts
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Für die Personengruppe der Konventionsflüchtlinge und Asylbewerber wird die gesetzgeberische Vermutung aufgegeben, dass die Staatsangehörigkeit einer Person auf den Staat hinweist, mit dem sie am engsten verbunden ist. Zählt die Person hingegen zur oben genannten restlichen Gruppe von Flüchtlingen, findet in persönlichen Rechtsfragen überwiegend das Heimatrecht Anwendung, was gerade bei starker Integration der Person zu unangemessenen Folgen führen kann. Es stellt sich daher die Frage, ob eine Differenzierung im Rahmen der Anknüpfungspunkte beim Personalstatut gerechtfertigt ist.461 Insbesondere bei den subsidiär Schutzberechtigten wirft der in der RL 2011/95/EU verankerte Grundsatz (vgl. Art. 20 RL 2011/95/EU) der grundsätzlichen Gleichbehandlung die Frage nach einer auch kollisionsrechtlichen Gleichstellung mit den Konventionsflüchtlingen und damit nach der Anwendung des Art. 12 GFK auf. Aber auch bei den Wirtschaftsmigranten erhöht die teilweise lange Aufenthaltsdauer das Integrationsbedürfnis, sodass sich hier ebenso die Frage stellt, ob eine Differenzierung beim Personalstatut gerechtfertigt ist. Die These dieser Arbeit lautet daher, dass das Personalstatut bei den verschiedenen Migrantentypen unabhängig von ihrem asyl- und ausländerrechtlichen Status einheitlich zu bestimmen sein und konkret an den gewöhnlichen Aufenthalt angeknüpft werden sollte. In der Literatur wird diskutiert, ob Art. 12 GFK im Wege einer Analogie in seiner Anwendung zumindest auf die subsidiär Schutzberechtigten erstreckt werde könnte. 462 Dafür müsste die Interessenlage der verschiedenen Migranten vergleichbar sein (dazu 1.) und zudem in Hinblick auf das Personalstatut dieser Gruppe eine planwidrige Regelungslücke vorliegen (dazu 2.). 463 1. Vergleichbare Interessenlage Die Vergleichbarkeit des ungeregelten Tatbestands mit dem geregelten als erste Voraussetzung der Analogie wurzelt im Gedanken des Art. 3 Abs. 1 GG, nach dem wesentlich Gleiches auch gleich zu behandeln ist. 464 Im vorliegenden Kontext spricht für eine fehlende Legitimation der Ungleichbehandlung in personeller Hinsicht vor allem die objektive Vergleichbarkeit der subsidiär Schutzberechtigten mit den Konventionsflüchtlingen. Insbesondere im Verhältnis dieser Typen von Schutzmigranten kommt hinzu, dass die Abgrenzung beider Migrantentypen in der Praxis mit erheblichen 461
Vgl. hierzu auch Mansel, Personalstatut, 1988, Rn. 83. Vorschlag von Mankowski, IPRax 2017, 40, 44; zustimmend Weller, DGIR 2018, 247, 255; ablehnend Arnold, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinkhammer/NiethammerJürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 25, 46 ff.; v. Hein, in: MünchKommBGB, 2018, Art. 5 EGBGB Anh. II Rn. 74. 463 Zu den Voraussetzungen der Analogie vgl. umfassend Würdinger, AcP (206) 2006, 946, 949 ff. m.w.N. 464 Vgl. Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 1983, S. 25, 183. 462
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Zweiter Teil: Migration als Herausforderung für das IPR
Schwierigkeiten verbunden ist. Die daraus erwachsende fehlende Rechtssicherheit und Unvorhersehbarkeit für Betroffene lässt die kollisionsrechtliche Ungleichbehandlung innerhalb der Gruppe der Schutzmigranten umso weniger legitim erscheinen. 465 a) Konventionsflüchtlinge und subsidiär Schutzberechtigte aa) Objektive Vergleichbarkeit der Personengruppen Hintergrund der Ersatzanknüpfung von Art. 12 Abs. 1 GFK ist die rechtliche Gleichstellung mit den inländischen Staatsbürgern. Dadurch soll sowohl die Integration des Flüchtlings erleichtert werden, als auch nicht mehr das Recht des Verfolgerstaates Anwendung finden. Diese Erwägungen streiten jedoch auch für subsidiär Schutzberechtigte. 466 So ist mindestens bei einem dauerhaften Aufenthaltstitel auch eine dauerhafte Aufenthaltsnahme im Inland verbunden mit der Ausübung eines Berufs und einer etwaigen Familiengründung zu erwarten, was eine Integration dieser Personen erforderlich macht. Zugleich wächst die Distanz zum Heimatland. Dies legt den Schluss nahe, dass auch bei diesen Personen die engste Verbindung zu einer Rechtsordnung nicht in ihrer Heimatverbundenheit, sondern vielmehr in ihrer Umweltbezogenheit zu suchen ist. Die kollisionsrechtliche Gleichstellung von Flüchtlingen und subsidiär Schutzberechtigten ist zudem konform mit der Auslegung der Entscheidungspraxis des EuGH und seiner Auslegung der RL 2011/95/EU im Kontext der GFK. Die RL 2011/95/EU hat die einheitliche Schutzkategorie des „Internationalen Schutzes“ geschaffen und bis auf wenige Ausnahmen 467 sind die aus Art. 20 Abs. 2 RL 2011/95/EU abgeleiteten Statusrechte von Konventionsflüchtlingen und subsidiär Schutzberechtigten gleich ausgestaltet. 468 Dazu gehört zunächst, dass die Freizügigkeit für beide Gruppen identisch ist. Daher ist z.B. auch Art. 33 RL 2011/95/EU so auszulegen, dass er die freie Wohnsitzwahl auch subsidiär Schutzberechtigten gewährleistet und Wohnsitzauflagen auch für subsidiär Schutzberechtigte grundsätzlich unz ulässig sind. 469 Die Ungleichbehandlung darf nur dann auf den unterschiedlichen Schutzstatus von Migranten gestützt werden, wenn objektive Gründe, 465
Ähnlich v. Hein, in: Juristische Studiengesellschaft Jahresband, 2018, S. 29, 37. So auch Arnold, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinkhammer/Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 25, 48 f.; Rupp, ZfPW 2018, 57, 74. 467 Ein Unterschied besteht in der kürzeren Aufenthaltserlaubnis subsidiär Schutzberechtigter von einem statt drei Jahren. 468 Vgl. EuGH, Urteil v. 1.3.2016 – Rs. C-443/14, Kreis Warendorf ./. Ibrahim Alo und Rs. C-444/14, Amira Osso ./. Region Hannover, NJW 2016, 1077, Rn. 32. 469 Vgl. EuGH, Urteil v. 1.3.2016 – Rs. C-443/14, Kreis Warendorf ./. Ibrahim Alo und Rs. C-444/14, Amira Osso ./. Region Hannover, NJW 2016, 1077, Rn. 37 ff.; bei Konventionsflüchtlingen folgt dies aus Art. 26 GFK. 466
6. Kapitel: Thesen im Rahmen des Personalstatuts
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z.B. tatsächlich unterschiedlich starker Integrationsbedarf, gegeben sind. 470 Vor allem wegen der vergleichbaren Bleibeperspektive ist aber nicht ersichtlich, warum dies im Verhältnis von Konventionsflüchtlingen und subsidiär Schutzberechtigten so sein sollte.471 Zudem existiert die gleiche menschenrechtliche Basis beim Refoulementschutz. 472 Wertvolle Hinweise auf eine Vergleichbarkeit liefert zudem die Argumentation im Kontext des Nachzugsrechts für Familienangehörige subsidiär Schutzberechtigter.473 Eine Ungleichbehandlung von Flüchtlingen und subsidiär Schutzberechtigen in diesem Bereich kann gegen das Diskriminierungsverbot nach Art. 14 i.V.m. Art. 8 EMRK verstoßen. So verbietet Art. 14 EMRK generell eine Ungleichbehandlung in vergleichbaren Fällen ohne objektive Rechtfertigung. 474 Dabei kann ein Einwanderungsstatus nach der Rechtsprechung des EGMR die unterschiedliche Behandlung nicht unbedingt rechtfertigen. 475 Auch im Rahmen von Art. 3 GG braucht es gewichtige Unterschiede, die eine Ungleichbehandlung von Flüchtlingen und subsidiär Schutzberechtigten rechtfertigen können. Wenn im Herkunftsland ein Zusammenleben gleichermaßen nicht mehr möglich ist, kann die Familieneinheit bei beiden Migrantengruppen nur in Deutschland hergestellt werden. 476 Diese Begründungsmuster zur fehlenden Rechtfertigung lassen sich zwar nicht eins zu eins auf das Kollisionsrecht übertragen, jedoch liefern sie wic htige Hinweise auf die objektive Vergleichbarkeit der Personengruppen. bb) Unsichere Praxis bei Abgrenzung der Migrantentypen Da sich die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus auf der einen und des subsidiären Schutzes auf der anderen Seite ähneln, erweist sich die Abgrenzung dieser Migrantentypen in der Praxis häufig als schwierig. Die Problematik beginnt auf Behördenebene und setzt sich auf Ebene der Gerichte fort.477 So gibt es zunächst unter den verschiedenen regionalen Außenstellen des BAMF erhebliche Unterschiede bei der Frage, ob ein Flücht470
Vgl. die Schlussanträge des Generalanwalts v. 6.10.2015 – Rs. C-443/14, BeckRS 2015, 81339, Rn. 98. 471 So auch Pelzer, (Anm. zu EuGH, Urteil v. 1.3.2016 – Rs. C-443/14 und Rs. C444/14), NVwZ 2016, 445. 472 Bartolucci/Pelzer, ZAR 2018, 133, 137. 473 Zum Ganzen Bartolucci/Pelzer, ZAR 2018, 133, 137 f. 474 EGMR, Urteil v. 13.11.2007 – Nr. 57325/00, D.H. u.a. ./. Tschechische Republik; EGMR, Urteil v. 29.4.2008 – Nr. 13378/05, Burden ./. Vereinigtes Königreich. 475 EGMR, Urteil v. 21.6.2011 – Nr. 5335/05, Ponomaryov ./. Bulgarien; EGMR, Urteil v. 27.9.2011 – Nr. 56328/07, Bah ./. Vereinigtes Königreich; EGMR, Urteil v. 6.11.2012 – Nr. 22341/09, Hode und Abdi ./. Vereinigtes Königreich. 476 So hat der Gesetzgeber 2015 die Angleichung der Status begründet, vgl. BT-Drs. 18/4097, S. 46; BVerfG, Beschluss v. 10.7.2012 – 1 BvL 2/10 u. a., NVwZ-RR 2012, 825. 477 Vgl. Kluth, in: BeckOK, AuslR, 2020, § 3 AsylG Rn. 7a.
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Zweiter Teil: Migration als Herausforderung für das IPR
lingsstatus oder subsidiärer Schutzstatus gewährt wird. Insbesondere bei Asylsuchenden aus Afghanistan, dem Irak und Iran gibt es erhebliche Schwankungen, wie aus der Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE und weiterer Abgeordneter hervorgeht. 478 Auch die Bundesregierung gibt keine eindeutige Antwort auf die Anfrage, sondern verweist als Begründung allgemein darauf, dass die Außenstellen des BAMF nicht alle Herkunftsländer zu gleichen Teilen bearbeiten, was jedoch nicht die unterschiedlichen Zuerkennungspraktiken bezogen auf die einzelnen Herkunftsländer erklärt. 479 Besonders von diesem Problem betroffen sind Syrer. 480 Bis zur sogenannten Flüchtlingskrise im Herbst 2015 wurde ihnen noch großzügig der Asylstatus zuerkannt, obwohl sie als Bürgerkriegsflüchtlinge mangels individueller Verfolgung eigentlich als subsidiär Schutzberechtigte einzustufen sind. Mittlerweile hat sich die Zuerkennungspraxis des BAMF geändert und Syrern wird subsidiärer Schutz zugesprochen, was zu einem Anstieg von Verpflichtungsklagen gerichtet auf die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus vor den Verwaltungsgerichten geführt hat. 481 Die Instanzgerichte gaben den Klagen in der Regel statt, wenn die Migranten illegal 482 aus Syrien ausgereist waren, sich schon länger im westlichen Ausland aufhielten und dort Asyl beantragt hatten.483 Die obergerichtliche Rechtsprechung zu dieser Frage ist uneinheitlich. Im Kern geht es bei den Entscheidungen darum, ob die Betroffenen tatsächlich im Sinne des Art. 1 A GFK i.V.m. §§ 3a–c AsylG individuell verfolgt werden oder die Gefahr aufgrund willkürlichen Handelns droht und daher vielmehr ein Recht auf subsidiären Schutz begründet. 484 Auch Nachfluchttatbestände, ob subjektiver (Verhalten der Person) oder objektiver Natur, können dabei gem. § 28 Abs. 1a AsylG grundsätzlich den Tatbestand der GFK und der 478
Vgl. Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Ulla Jelpke u.a. und der Fraktion DIE LINKE BT-Drs. 18/13670: Aufschlüsselung der jeweiligen Ergebnisse differenziert nach der Staatsangehörigkeit der Antragsteller (Syrien, Irak, Iran, Eritrea, Afghanistan) im 1. Halbjahr 2017 auf S. 3–7. 479 Vgl. BT-Drs. 18/13670, S. 8. 480 Zum Ganzen ausführlich Ellerbrok/Hartmann, NVwZ 2017, 522 ff. 481 Vgl. Kleine Anfrage der Abgeordneten Ulla Jelpke u.a. und der Fraktion Die Linke, BT-Drs. 18/9657. 482 Nach syrischem Recht hängt die legale Ausreise von einer Erlaubnis ab, vgl. Immigration and Refugee Board Canada, SYR105361.E, 19.01.2016, abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020). 483 VG Trier, Urteil v. 7.10.2016 – 1 K 5093/16, BeckRS 2016, 53157; VG Schleswig, Gerichtsbescheid v. 15.8.2016 – 12 A 149/16, BeckRS 2016, 50226; VG Stuttgart, Urteil v. 15.3.2013 – A 7 K 2987/12, BeckRS 2013, 48932; VG Meiningen, Urteil v. 1.7.2016 – 1 K 20205/16.Me, BeckRS 2016, 105778. 484 Vgl. für einen Überblick über die Argumentationslinie Ellerbrok/Hartmann, NVwZ 2017, 522, 523 f.
6. Kapitel: Thesen im Rahmen des Personalstatuts
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§§ 3 ff. AsylG erfüllen. 485 Insbesondere Syrern kann erst bei der Rückkehr die Gefahr der Verfolgung drohen, da sie aufgrund ihrer Flucht und dem Aufenthalt in westlichen Ländern für regimefeindliche Oppositionelle gehalten werden, was einen politischen Verfolgungsgrund i.S.d. § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG darstellt.486 Fraglich ist jedoch, ob dieser Gefahr nicht alle Rückkehrer im Allgemeinen ausgesetzt sind und sich Verfolgungsha ndlungen eben nicht konkret auf die individuellen Personen beziehen.487 Diese Auffassung vertraten das OVG Münster488, das OVG Schleswig489 und das OVG Osnabrück,490 die Syrern jeweils „nur“ subsidiären Schutz bzw. Abschiebungsschutz zuerkannten. Das OVG Koblenz491 hingegen legte die Fluchtumstände anders aus und erkannte einem Syrer den Flüchtlingsstatus zu, da viele Syrer bei Rückkehr in die Heimat damit rechnen müssten, von syrischen Geheimdiensten und Sicherheitsbehörden demokratischer oder anderer oppositioneller Neigungen verdächtigt zu werden. Die Folge seien Folter, Inhaftierung, Verschwinden oder Verhängung der Todesstrafe, sodass sowohl Verfolgungshandlung als auch -grund gegeben seien. Auch der VGH Mannheim492 verlieh einem Kurden aus Syrien den Flüchtlingsstatus. Die Gerichte haben insgesamt vor allem damit zu kämpfen, geeignete Informationen zu der Lage in Syrien zu beschaffen und sind häufig auf abstrakte Prognoseentscheidungen angewiesen. 493 Das BVerwG hat die Vornahme einer abstrakten Prognose in einer jüngeren Entscheidung grundsätzlich gebilligt. Allerdings dürfen die Tatsacheninstanzen nach der Auffassung des Gerichts keine rechtlichen Schlussfolgerungen aus einer vagen Faktenlage ziehen, wenn diese sich als „non liquet“ darstellt; die Wahrscheinlichkeit einer individuellen Verfolgung also nur zu 50% besteht.494 Ferner liege eine individuelle Verfolgung bei Rückkehrern, die beispielsweise den Militärdienst im syrischen Bürgerkrieg verweigert haben, nur vor, wenn neben die Gefahr drohender Bestrafung ein weiterer individu-
485 Vgl. dazu auch BVerwG, Urteil v. 18.12.2008 – 10 C 27/07, NVwZ 2009, 730; Ellerbrok/Hartmann, NVwZ 2017, 522, 523. 486 Ellerbrok/Hartmann, NVwZ 2017, 522, 523 f. 487 Ellerbrok/Hartmann, NVwZ 2017, 522, 525. 488 Ständige Rechtsprechung des OVG Münster: Vgl. Beschluss v. 5.1.2012, 12 – A 2484/11, BeckRS 2012, 45998; Urteil v. 7.5.2013 – 14 A 1008/13, BeckRS 2013, 50598; Beschluss v. 21.8.2013 – 14 A 1863/13, BeckRS 2013, 54763; Beschluss v. 6.10.2016 – 14 A 1852/16, BeckRS 2016, 53078 und Urteil v. 21.2.2017 – 14 A 2316/16.A, BeckRS 2017, 102213. 489 OVG Schleswig, Urteil v. 23.11.2016, 3 – LB 17/16, BeckRS 2016, 110100. 490 OVG Lüneburg, Beschluss v. 12.9.2017 – 2 LB 750/17, BeckRS 2017, 125423. 491 OVG Koblenz, Urteil v. 12.4.2018 – 1 A 10988/16.OVG, BeckRS 2018, 8337. 492 VGH Mannheim, Urteil v. 2.5.2017 – A 11 S 562/17, juris. 493 Ellerbrok/Hartmann, NVwZ 2017, 522, 523 f. 494 BVerwG, Urteil v. 4.7.2019 – 1 C 31.18, juris Rn. 18.
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eller Verfolgungsgrund, etwa politische Überzeugung, hinzutrete. 495 Entscheidungen des BVerwG, die weitere Anhaltspunkte und Maßstäbe liefern, sind allerdings rar. In den meisten Fällen ließ das BVerwG die Revision der betroffenen Syrer schon nicht zu, da es sich bei der Frage nach dem Vorliegen der Voraussetzungen des Flüchtlingsstatus nicht um klärungsbedürftige Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO handele. Vielmehr seien die Würdigung und Bewertung der Beweise und der tatsächlichen Lage in Syrien Sache des Tatrichters. 496 Die Entscheidungspraxis der Verwaltungsgerichte zeigt, dass es für die Betroffenen alles andere als vorhersehbar und rechtsicher ist, welcher Schutzstatus ihnen zuerkannt wird. Zumal es z.B. gerade im Kontext unbegleiteter Minderjähriger auch schon vom Zufall abhängen kann, welcher Schutzstatus überhaupt beantragt wird. 497 Dies wiegt umso mehr, als von der Entscheidung viele persönliche Fragen des Migranten, z.B. nach einem Nachzugsrecht für die Angehörigen, abhängen. 498 Durch die Gleichstellung in kollisionsrechtlicher Hinsicht würde dieser Effekt daher zumindest aus Sicht des internationalen Privatrechts abgemildert. Im Ergebnis ist aufgrund der objektiven Vergleichbarkeit von Konventionsflüchtlingen und subsidiär Schutzberechtigten in Hinblick auf ihren Rechtsstatus sowie ihre schwierige Abgrenzbarkeit eine vergleichbare Interessenlage zumindest innerhalb der Gruppe der Schutzmigranten gegeben. b) Sonstige humanitäre Flüchtlinge und Wirtschaftsflüchtlinge Zu prüfen ist, ob das gerade Ausgeführte auch für sonstige humanitäre Flüchtlinge und Wirtschaftsflüchtlinge mit Aufenthaltstitel oder Duldung gilt. Gerade bei Duldungen, die nur für kurze Zeit erteilt werden, ist zweifelhaft, ob sich die Verbindung zum Heimatstaat während des Aufenthalts in Deutschland abschwächt. Die betroffenen Migranten fliehen im Regelfall nicht notwendigerweise vor ihrem Heimatstaat und seinen Organen, sondern aus ökonomischen Gründen. Diese Personen haben oft noch enge Beziehungen zum Heimatstaat und dort lebenden Verwandten, denen sie auch häufig 495 BVerwG, Urteil v. 4.7.2019 – 1 C 31.18, juris Rn. 15: „An eine Militärdienstentziehung anknüpfende Sanktionen stellen, selbst wenn sie von totalitären Staaten ausgehen, nur dann eine flüchtlingsrechtlich erhebliche Verfolgung dar, wenn sie den Betroffenen über die Ahndung der Nichterfüllung einer staatsbürgerlichen Pflicht hinaus (auch) wegen seiner politischen Überzeugung – oder eines anderen flüchtlingsrelevanten Merkmals – treffen sollen“. 496 Vgl. z.B. BVerwG, Beschluss v. 3.9.2019 – 1 B 35/19, juris und BVerwG, Beschluss v. 26.6.2019 – 1 B 56.19, BeckRS 2019, 18375. 497 Vgl. unten 3. Teil sowie darauf hinweisend auch Rupp, ZfPW 2018, 57, 71. 498 Für subsidiär Schutzberechtigte stark begrenzt; siehe oben 2. Kap., F.II.2. Es wird vermutet, dass die gegenwärtige Entscheidungspraxis des BAMF letztlich der Nachzugsregulierung dient vgl. Ellerbrok/Hartmann, NVwZ 2017, 522, 526 f.
6. Kapitel: Thesen im Rahmen des Personalstatuts
101
Geld schicken.499 Manche Staaten wie z.B. Eritrea und Marokko setzen sogar auf diese Art der finanziellen Unterstützung aus dem Ausland. 500 Aus diesem Grund fallen diese Flüchtenden gerade unter keinen rechtlich anerkannten Fluchtgrund. Internationalprivatrechtlich trotzdem schon ein spezielles Sonderkollisionsrecht analog anzuwenden, während das Ausländerrecht keine Perspektive als Inländer bietet, erscheint daher nicht gerechtfertigt. Die Entscheidung des Gesetzgebers, dass erst die Zuerkennung der Asylberechtigung bzw. des Flüchtlingsstatus zur entscheidenden Änderung der Rechtslage führt, ist daher zu respektieren. 501 Das Umschwenken zur Aufenthaltsanknüpfung bei diesen Personen allein aufgrund ihres Fluchthintergrunds ist daher de lege lata nicht geboten. Davon abzugrenzen ist jedoch die Frage, ob ihr Personalstatut allgemein de lege ferenda an den gewöhnlichen Aufenthalt anknüpfen sollte. 502 Denn wie weiter oben dargestellt, können auch Wirtschaftsmigranten bei entsprechender Bleibeperspektive und Bleibewillen ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland haben. 2. Planwidrige Regelungslücke Nachdem in einem ersten Schritt die vergleichbare Interessenlage in Bezug auf Konventionsflüchtlinge und subsidiär Schutzberechtigte festgestellt wurde, ist im zweiten Schritt das Vorliegen einer planwidrigen Regelungslücke hinsichtlich des Personalstatuts subsidiär Schutzberechtigter zu prüfen. a) Völkerrecht Das Vorliegen einer planwidrigen Regelungslücke ist nicht so einfach zu begründen wie das dargelegte Vorliegen einer vergleichbaren Interessenlage. Eine Gesetzeslücke auf der Ebene des Völkerrechts ist offensichtlich gegeben. So schweigt die GFK zum Kollisionsrecht der subsidiär Schutzberechtigten. Fraglich ist indes die Planwidrigkeit dieser Lücke. Eine planwidrige Lücke setzt voraus, dass das Gesetz entgegen den Plänen des Gesetzgebers unvollständig ist. 503 Die bewusste Nichterfassung eines Sachverhalts stellt demgegenüber keine Lücke dar.504 Bezogen auf die hier behandelte Fragestellung gab es den Status des subsidiär Schutzberechtigten bei Schaffung der Konvention noch nicht. Allerdings
499
Mankowski, IPRax 2017, 40, 46. Mankowski, IPRax 2017, 40, 47. 501 Mankowski, IPRax 2017, 40, 46. 502 Siehe dazu unter B. 503 Vgl. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1983, S. 356 ff.; Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 1983, S. 183, S. 31 ff. 504 Würdinger, AcP (206) 2006, 946, 951. 500
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Zweiter Teil: Migration als Herausforderung für das IPR
gab es die nun von diesem Schutzstatus primär erfasste Personengruppe, nämlich Bürgerkriegsflüchtlinge, durchaus schon in den 1950er-Jahren. Sie war dem Konventionsgesetzgeber daher bekannt. Es ist somit davon auszugehen, dass er den Ausschluss dieser Personen aus dem Schutz der GFK, denen in der Heimat eine nicht unerhebliche Gefahr droht, die jedoch nicht gesteuert durch staatliche Autoritäten individuell ausgerichtet ist, gewollt hat. Zwar erscheint es vor dem Hintergrund der Vergleichbarkeit der Situation von GFK-Flüchtlingen und subsidiär Schutzberechtigten ungerecht(fertigt), das Personalstatut letzterer nicht auch dem Recht ihres gewöhnlichen Aufenthalts zu unterstellen. Dennoch hat das BVerfG in einer jüngeren Entscheidung noch einmal betont: „Richterliche Rechtsfortbildung darf nicht dazu führen, dass der Richter seine eigene materielle Gerechtigkeitsvorstellung an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers setzt“. 505
Die Situation ist zudem vergleichbar mit der aktuellen Problematik um die Anwendbarkeit der Rom III-VO auf Privatscheidungen. Dies hat der EuGH 506 nach zwei Vorlagen des OLG München 507 verneint. Das OLG München hatte die Entscheidung zwischen einer analogen Anwendung der ebenso wie die GFK vorrangig anwendbaren Rom III-VO oder aber einer Schaffung einer autonomen Kollisionsnorm dem Gesetzgeber überlassen: „Der Gesetzgeber […] war bei der Änderung des Art. 17 Abs. 1 EGBGB – irrtümlich – davon ausgegangen, dass die Rom III-Verordnung insgesamt, mithin als Gesamtpaket, auch bei Privatscheidungen Anwendung fände. Nach Aufklärung dieses Irrtums bedarf es einer gesetzgeberischen wertenden Willensbildung über die Ausgestaltung des Kollisionsrechts, etwa durch analoge Anwendung der Rom III-Verordnung in Gänze oder in Teilen und ggfls. in welchem Umfang oder durch Erlass einer autonomen Kollisionsnorm. Eine solche Entscheidung muss aber einem gesetzgeberischen Akt, der die bisherige Rechtslage grundlegend verändert, vorbehalten bleiben.“ 508
Zwar ist die Problematik nicht vollständig vergleichbar, da es sich bei subsidiär Schutzberechtigten um ein Anknüpfungssubjekt und bei Privatscheidungen um einen Anknüpfungsgegenstand handelt. Dennoch überzeugt der Gedanke des Gerichts, dass es sich bei dieser Art von Fragen um eine rechtspolitische Entscheidung des Gesetzgebers handelt, die nicht der Rechtsfortbil-
505
BVerfG, Beschluss v. 25.1.2011 – 1 BvR 918/10, NJW 2011, 836 Rn. 52. EuGH, Urteil v. 20.12.2017 – Rs. C-372/16, Sahyouni ./. Mamisch, BeckRS 2017, 136150; vgl. dazu ferner Coester-Waltjen, IPRax 2018, 238 ff. 507 OLG München, Beschluss v. 2.6.2015, 34 – Wx 146/14, BeckRS 2015, 12777 und OLG München, Beschluss v. 29.6.2016 – 34 Wx 146/14, BeckRS 2016, 12020. 508 OLG München, Beschluss v. 13.3.2018, 34 – Wx 146/14, BeckRS 2018, 3257, Rn. 42. 506
6. Kapitel: Thesen im Rahmen des Personalstatuts
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dung durch Gerichte und Behörden überlassen werden sollte. 509 Wenig später ist der deutsche Gesetzgeber tätig geworden und hat mit dem „Gesetz zum Internationalen Güterrecht vom 17. Dezember 2018“ hinsichtlich der abgelehnten Anwendbarkeit der Rom III-VO auf Privatscheidungen Abhilfe geschaffen. 510 Er hat an die Entscheidung des OLG München angeknüpft und den zukünftig auf Privatscheidungen anwendbaren Art. 17 Abs. 2 Nr. 1–4 EGBGB neugefasst, der sich an der Anknüpfungsleiter der Art. 5–8 Rom IIIVO orientiert.511 b) Europarecht Auch auf europäischer Ebene erstreckt sich die grundsätzliche Gleichstellung von Flüchtlingen und subsidiär Schutzberechtigten in der RL 2011/95/EU nicht auf das Kollisionsrecht, sodass eine Regelungslücke in Bezug auf das Personalstatut von subsidiär Schutzberechtigten vorliegt. Auf der einen Seite betont die RL 2011/95/EU die Gleichwertigkeit der Konventionsflüchtlinge und subsidiär Schutzberechtigten, was vermuten lässt, dass dies auch für das Kollisionsrecht gilt und den Mitgliedstaaten eine Erstreckung des Art. 12 GFK möglich ist. Schnittstellen mit der GFK gibt es vor allem in den Erwägungsgründen 4, 23 und 24, aus denen hervorgeht, dass die RL 2011/95/EU den Schutz aus der GFK ergänzen will und anstrebt, ihn unionsweit einheitlich auszugestalten. Auch der EuGH argumentiert mit dem Wechselspiel der Instrumente und zieht die Freizügigkeitsregelung des Art. 26 GFK zur Auslegung des Art. 33 RL 2011/95/EU heran. 512 Es wird zudem generell unterstellt, dass die RL 2011/95/EU nicht von der GFK abweichen will, wenn dies nicht ausdrücklich geschieht. 513 Andererseits spricht die detaillierte Regelung des subsidiären Schutzes in der Richtlinie und die durch den Gesetzgeber offensichtlich gesehene Vergleichbarkeit der beiden Personengruppen gegen eine Planwidrigkeit der Nichtregelung auch des Kollisionsrechts der subsidiär Schutzberechtigten.
509
Zu dieser verfassungsrechtlichen Schranke in Form des Rechtsstaatsprinzips vgl. BVerfG, Beschluss v. 14.5.1985 – 1 BvR 233/81, 1 BvR 341/81, NJW 1985, 2395; BVerfG, Urteil v. 3.4.1990 – 1 BvR 1186/89, NJW 1990, 1593. So auch bzgl. der analogen Anwendung des Art. 12 GFK argumentierend Arnold, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinkhammer/Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 25, 47 f. 510 BGBl. I 2018, S. 2573. 511 Vgl. v. Hein, in: Juristische Studiengesellschaft Jahresband, 2018, S. 29, 57 ff. 512 EuGH, Urteil v. 1.3.2016 – Rs. C-443/14, Kreis Warendorf ./. Ibrahim Alo und Rs. C-444/14, Amira Osso ./. Region Hannover, NJW 2016, 1077, Rn. 61 ff. 513 Mankowski, IPRax 2017, 40, 44.
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c) Nationales Recht aa) Asylrecht Bezüglich der nationalen Ebene enthält Art. 5 GFK514 eine ausdrückliche Öffnungsklausel, die es dem nationalen Gesetzgeber ermöglicht den internationalen Schutz weiter auszudehnen, sodass eine Analogie dem Regelungszweck der GFK grundsätzlich nicht zuwiderliefe. 515 § 4 AsylG enthält zwar keine Erweiterung internationalprivatrechtlicher Natur für Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz. Gegen eine Planwidrigkeit dieser Regelungslücke spricht jedoch, ebenso wie auf europäischer Ebene, dass dort die subsidiäre Schutzberechtigung im Detail geregelt ist und das Kollisionsrecht vom Gesetzgeber bewusst außen vor gelassen wurde.516 bb) Internationales Privatrecht Im autonomen deutschen IPR gibt es bezüglich des Personalstatuts in Art. 5 Abs. 1 EGBGB eine Regelung für Mehrstaater und in Art. 5 Abs. 2 EGBGB eine Regelung für Staatenlose, die nicht auf jeden subsidiär Schutzberechtigten passen. Es finden folglich die allgemeinen Regeln des deutschen IPR auf sie Anwendung. Zudem ist – wie bereits oben ausgeführt – die Überschrift „Personalstatut“ in Art. 5 EGBGB unglücklich gewählt, regelt die Norm doch weder im formellen noch im materiellen Sinne das Personalstatut umfassend. Vielmehr gehören mehrere Normen wie z.B. Art. 7 EGBGB oder Art. 13 EGBGB zum Personalstatut. Dennoch wird speziell aus Art. 5 EGBGB eine Regelung herausgelesen, die gegen eine Lücke hinsichtlich des Personalstatuts subsidiär Schutzberechtigter spricht. Vorgeschlagen wird daher, die Norm teleologisch zu reduzieren. 517 Jedoch verbliebe dann immer noch ein Anwendungsbereich der anderen Normen des EGBGB, die zum Personalstatut gehören und für dieses eben doch eine Regelung in Form der Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit enthalten, die auch auf subsidiär Schutzberechtigte anwendbar ist. 518 Da wie ausgeführt auf völkerrechtlicher Ebene eine Regelungslücke vorliegt, zielt ein weiterer Vorschlag darauf ab, die analoge Anwendbarkeit durch die Spezialität und den
514
„Rechte und Vergünstigungen, die unabhängig von diesem Abkommen den Flüchtlingen gewährt werden, bleiben von den Bestimmungen dieses Abkommens unberührt.“ 515 Mankowski, IPRax 2017, 40, 44; ablehnend Arnold, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/ Klinkhammer/Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 25, 47. 516 v. Hein, in: Juristische Studiengesellschaft Jahresband, 2018, S. 29, 38. 517 Mankowski, IPRax 2017, 40, 44. 518 So überzeugend Arnold, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinkhammer/NiethammerJürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 25, 47.
6. Kapitel: Thesen im Rahmen des Personalstatuts
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Vorrang des Art. 12 GFK gem. Art. 3 Nr. 2 EGBGB zu begründen.519 Die Tatsache, dass Art. 12 GFK zu subsidiär Schutzberechtigten trotz Vorrangs aber schweigt und zudem wie gezeigt nicht von einer Planwidrigkeit ausz ugehen ist, kann aber wohl nur der Gesetzgeber überwinden. 3. Ergebnis zur analogen Anwendbarkeit Eine planwidrige Regelungslücke ist im Ergebnis schwer zu begründen, sodass eine Analogie de lege lata abzulehnen ist. Letztlich ist die Anwendung des Art. 12 GFK auch auf subsidiär Schutzberechtigte eine rechtspolitische Entscheidung, die der Gesetzgeber zu treffen hat. Dieses Ergebnis ändert nichts daran, dass eine vergleichbare Interessenlage durchaus gegeben ist, wofür auf die Ausführungen zur Vergleichbarkeit der Personengruppen weiter oben im Kapitel zu verweisen ist: Die vergleichbare Aufenthaltsdauer und notwendige Integration beider Gruppen sprechen für die Vergleichbarkeit. 520 Eine Umsetzung kommt indes nur de lege ferenda in Betracht, was im folgenden Abschnitt dargestellt wird. Auch bei Personen ohne Flüchtlingsstatus oder subsidiäre Schutzberechtigung, die einen anderen humanitären Aufenthaltstitel haben oder bloß geduldet sind, ist eine Analogie zu Art. 12 GFK abzulehnen. Für die teilweise Erstreckung der GFK auch auf diese Migrantengruppe gibt es anders als bei den subsidiär Schutzberechtigten keine Anhaltspunkte im höherrangigen europäischen Recht, sodass die kollisionsrechtliche Gleichbehandlung einer Unterstellung eines bestimmten Willens des Gesetzgebers gleichkäme. II. Empfehlung de lege ferenda De lege ferenda wäre eine Kodifikation der Anwendung des Art. 12 Abs. 1 GFK auch auf subsidiär Schutzberechtigte wünschenswert, bei der auch über ein Wahlrecht der Flüchtlinge zugunsten der Anwendung ihres Heimatrechts nachzudenken ist.521 Dafür kommt eine Reform der RL 2011/95/EU in Betracht, die den subsidiären Schutzstatus auch kollisionsrechtlich dem Flüchtlingsstatus gleichstellt. Im Ergebnis würde der internationale Schutz durch einen europarechtlich einheitlichen Ordnungsrahmen auch im IPR ergänzt. 519
Weller, DGIR 2018, 247, 255. Es gibt aber auch Stimmen, die annehmen, dass gerade subsidiär Schutzberechtigte eher zurückkehren wollen oder sollen, um beim Wiederaufbau des Heimatlandes zu helfen und eine Vergleichbarkeit zwischen den Personengruppen daher nicht gegeben ist: Arnold, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinkhammer/Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 25, 49. 521 So Schulze, in: Nomos Kommentar, BGB, 2016, Art. 5 EGBGB Anh. II Rn. 3; zu den Problemen eines Wahlrechts jedoch Mankowski, in: Leible (Hrsg.), General Principles of European Private International Law, 2016, S. 189, 202. 520
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Möglich wäre es auch, die Verweisung in § 4 AsylG zu integrieren, der den subsidiären Schutz regelt. Vorzugswürdig ist allerdings, die Anknüpfung des Personalstatuts von Schutzmigranten in Art. 5 EGBGB aufzunehmen und direkt den gewöhnlichen Aufenthalt als Anknüpfungspunkt beim Personalstatut auch subsidiär Schutzberechtigter festzulegen. Hier ließe sich auch eine Rechtswahl integrieren, um die kulturelle Identität der Geflüchteten angemessen zu berücksichtigen. Als Vorbild könnten insoweit § 28 Abs. 4 IPRG522 der Tschechischen Republik, der die GFK auch auf Personen erstreckt, die bloß subsidiären Schutz genießen, und § 3 Abs. 2 polnIPRG 2011523 dienen, der einen erlangten Schutzstatus als Tatbestandsvoraussetzung in sein Kollisionsrechtssystem einfügt. 524 B. Umfassende Reform des Personalstatuts Während die hier aufgestellte These und der bisherige Lösungsansatz sich auf die Gleichstellung von Konventionsflüchtlingen und subsidiär Schutzberechtigten bezogen, stellt sich die Frage, ob de lege ferenda zusätzlich eine allgemeine Reform beim Personalstatut zu befürworten ist. Denn gerade Wirtschaftsmigranten wird es unabhängig von der Flüchtlingskrise und Bürgerkriegen immer geben. Deren Situation ist zudem vergleichbar mit Personen, die ein Leben des „nomadisme“ führen. Das postmoderne Phänomen des „nomadisme“ wurde von dem französischen Soziologen Michel Maffesoli entwickelt und umschreibt eine Lebensform von Personen, die ihren Aufenthalt zwischen mehreren Wohnsitzen in unterschiedlichen Ländern häufig wechseln, wie z.B. Kinder getrennt lebender Eltern oder Angestellte internationaler Unternehmen.525 Diese postmoderne Lebensform kennzeichnet sich auch dadurch aus, dass die Akteure im Laufe ihres Lebens mehrere und wechselnde Identitäten haben und verlangt daher ebenso nach einer ausgleichenden Lösung des Internationalen Familienrechts. Dass sich der Wechsel hin zur Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt für eine solche Reform am Besten eignet, wird im Folgenden gezeigt. Dazu sollen die allgemeinen hinter einem Anknüpfungspunkt stehenden Wertungen im Rahmen des Personalstatuts herausgearbeitet werden, um diese dann auf die Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit und den gewöhnlichen Aufenthalt gerade im Flüchtlingskontext zu übertragen und kritisch zu hinter522
Übersetzung des Wortlauts unten Fn. 672. Übersetzung des Wortlauts unten Fn. 669. 524 Mankowski, IPRax 2017, 40, 45. 525 Siehe das Kapitel „Der Nomadentrieb“ in: Maffesoli, Zeit kehrt wieder, 2014, S. 105 ff.; vgl. erläuternd ferner Keller, Michel Maffesoli – Eine Einführung, 2006, S. 106 ff. Zur Perspektive des IPR siehe Jayme, Zugehörigkeit und kulturelle Identität, 2012, S. 31 ff. und Weller, Liber Amicorum Erik Jayme, 2019, 53, 64 f. 523
6. Kapitel: Thesen im Rahmen des Personalstatuts
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fragen (dazu I.). Wie ein möglicher Konflikt der These mit der kulturellen Identität insbesondere des Flüchtlings und anderer Migranten aufgelöst werden kann, wird ebenfalls erörtert (dazu II.). In der Literatur werden verschiedene Lösungsmodelle zur Umsetzung der aufgestellten These diskutiert (dazu III.). Konkrete Reformen gibt es bezüglich des Ehewirkungsstatuts in Art. 14 EGBGB sowie Reformvorschläge bezüglich des Eheschließungsstatuts aus Art. 13 Abs. 1 EGBGB, die am Ende dieses Kapitels kurz vorgestellt werden (dazu IV.). I. Der „gewöhnliche Aufenthalt“ als maßgeblicher Anknüpfungspunkt 1. Dogmatische Grundlagen Bevor man sich den Wertungen hinter den Anknüpfungspunkten zuwendet, ist die Frage nach den Anknüpfungsgegenständen zu stellen, die Ausgangspunkt der IPR-Prüfung sind und quasi auf erster Ebene eine inhaltlich umschriebene Summe von Rechtsnormen (Sachverhalt) einem bestimmten Tatbestand zuordnen (z.B. die Voraussetzungen einer wirksamen Eheschließung in Art. 13 EGBGB).526 Bei der Suche nach dem richtigen Anknüpfungspunkt auf zweiter Ebene soll der Sachverhalt dann mittels Subsumtion unter eine Kollisionsnorm einem Sachrecht zugewiesen werden, wobei zurückgehend auf Savigny traditionellerweise der Sitz des Rechtsverhältnisses eine wichtige Rolle spielt. 527 Danach soll der maßgebliche Anknüpfungspunkt zu der Rechtsordnung führen, zu der der zu beurteilende Sachverhalt den engsten Bezug hat, wo er mit anderen Worten „seinen Sitz hat“.528 Es gilt dabei das Prinzip der Gleichberechtigung der Rechtsordnungen. 529 Auf den ersten Blick scheint eine nur nach räumlichen Kriterien ausgerichtete Anknüpfungsgerechtigkeit hergestellt zu werden. Jedoch ist bei der Ermittlung des Schwerpunktrechts die Wechselwirkung zwischen dem Anknüpfungspunkt und den als Anknüpfungsgegenstand zusammengefassten Sachnormen zu berücksichtigen, die ebenfalls Impulse für die Anknüpfungsgerechtigkeit gibt. 530 Die Ermittlung dieses Schwerpunktrechts ergibt sich sodann aus einer Summe von relevanten Wertungsgesichtspunkten, in Form der internationalprivatrechtlichen Interes-
526
v. Bar/Mankowski, IPR I, 2003, § 7 Rn. 5 f. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Band VIII, 1849, insb. S. 23 ff. Sowie zu der Bedeutung aus heutiger Perspektive Von Bar/Mankowski, IPR I, 2003, § 7 Rn. 6; Weller, Liber Amicorum Erik Jayme, 2019, 53, 58 ff. 528 Mansel, Personalstatut, 1988, Rn. 37; Weller, FS Coester-Waltjen, 2015, 897, 898 f. 529 Mansel, Personalstatut, 1988, Rn. 38; Weller, in: Arnold (Hrsg.), Grundfragen des Europäischen Kollisionsrechts, 2016, S. 133, 137. 530 v. Bar/Mankowski, IPR I, 2003, § 7 Rn. 11. 527
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sen, namentlich der Partei-, Ordnungs- und Verkehrsinteressen. 531 Als Begriff hierfür hat sich die „Kegel'sche Interessenlehre“ etabliert.532 Welchem von den konkurrierenden Interessen der Vorrang einzuräumen ist, ist immer auch eine rechtspolitische Entscheidung. 2. Zugrundeliegende Entwicklungslinien Im Rahmen des Personalstatuts wird der Fokus auf das Parteiinteresse gelegt und als Recht, mit dem die Person typischerweise am engsten verbunden ist, das Heimatrecht angesehen. Zu dessen Anwendung führte im römischen Recht noch die Anknüpfung an das Domizilprinzip 533 und seit der Aufklärung die Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit.534 Im 18. und 19. Jahrhundert war die Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit beeinflusst durch die Gedanken Mancinis vor allem Ausdruck der Verbundenheit der Person mit ihrer Nation und verbreitete sich in den (vor allem kontinentalen) europäischen Staaten.535 So legte das Einführungsgesetz zum Codice civile von 1865 zurückgehend auf Mancini für das IPR das Nationalitätsprinzip fest. 536 Auch in Frankreich werden Fragen, die das Personalstatut betreffen, bis heute an die Staatsangehörigkeit angeknüpft. Dabei wird Art. 3 Alinéa 3 Code Civil537 von der Rechtsprechung als allseitige Kollisionsnorm behandelt. 538 Auch im deutschen EGBGB von 1986 wurden Fragen des Personalstatuts an die Staatsan-
531 Vgl. Kegel/Schurig, IPR, 2004, § 2 S. 134 ff. Sowie im Kontext des Personalstatuts Mansel, Personalstatut, 1988, Rn. 40. Zu den Interessen als Wertungshintergrund der Anknüpfungsprinzipien vgl. nur Rentsch, Der gewöhnliche Aufenthalt im System des Europäischen Kollisionsrechts, 2017, S. 65 ff. 532 Siehe Kegel/Schurig, IPR, 2004, § 2 S. 130 ff. 533 Zur Entwicklung der Staatsangehörigkeitsanknüpfung aus dem Domizilprinzip vgl. Rentsch, Der gewöhnliche Aufenthalt im System des Europäischen Kollisionsrechts, 2017, S. 94 ff. 534 Sog. Spanier-Beschluss vgl. BVerfG, Beschluss v. 4.5.1971 – 1 BvR 636/68, NJW 1971, 1509; Mansel, Personalstatut, 1988, Rn. 41; Nishitani, RdC 401 (2019), 143, 241 f.; Rentsch, Der gewöhnliche Aufenthalt im System des Europäischen Kollisionsrechts, 2017, S. 57 f. 535 Vgl. Jayme, in: König (Hrsg.), Vico in Europa zwischen 1800 und 1950, 2013, S. 97, 99 ff., 106 ff.; ders., in: Per la costruzione dell'identità nazionale, 2020, S. 263 ff. Im Kontext der Anknüpfungspunkte vgl. ferner Mankowski, IPRax 2017, 130; Nishitani, RdC 401 (2019), 143, 241 f.; Rentsch, Der gewöhnliche Aufenthalt im System des Europäischen Kollisionsrechts, 2017, S. 98 f.; Schwemmer, Anknüpfungsprinzipien im Europäischen Kollisionsrecht, 2018, S. 72. 536 Jayme, in: König (Hrsg.), Vico in Europa zwischen 1800 und 1950, 2013, S. 97, 101. 537 « Les lois concernant l'état et la capacité des personnes régissent les Français, même résidant en pays étranger. » 538 Vgl. Bureau/Muir Watt, Droit international privé II, 2017, Rn. 629.
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gehörigkeit angeknüpft. Gerade im Familien- und Erbrecht galt diese Anknüpfung als Ausdruck kultureller Verbundenheit zum Heimatstaat. 539 Zu untersuchen ist, ob diese Annahme insbesondere unter Berücksichtigung des europäischen Kollisionsrechts Bestand hat. Mittlerweile haben sich die tatsächlichen Umstände gewandelt und bringen die alten Legitimationsmuster, auf denen die Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit bisher fußte, ins Wanken. 540 Deutschland gilt mittlerweile als Einwanderungsland und die Staatsangehörigkeitsanknüpfung ist ohnehin auf dem Rückzug. 541 Im deutschen autonomen IPR ist sie nur noch in wenigen Normen zu finden. 542 Letzte Bastion ist das IZVR, wo im FamFG in den §§ 98 ff. FamFG noch an die Staatsangehörigkeit angeknüpft wird. Dies geschieht in der Regel aber als Ersatzzuständigkeit oder die Norm ermöglicht eine zusätzliche Zuständigkeit. Daneben führt das Anerkennungsprinzip zu Durchbrechungen. 543 Auch im europäischen Rechtsraum, dessen Ausrichtung Mobilität und Freizügigkeit prägen, ist die Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit eher zweitrangig.544 Weite Teile der zum Personalstatut gehörenden Rechtsgebiete wie das Familien- und Erbrecht sind kollisionsrechtlich vereinheitlicht, wobei häufig an den gewöhnlichen Aufenthalt einer Person angeknüpft wird. 545 Die Staatsangehörigkeitsanknüpfung spielt hingegen eine untergeordnete Rolle und kommt häufig nur als Ausweichklausel oder durch eine bewusste Rechtswahl durch die Betroffenen zum Zuge. Seltener ist ein gleichrangiges Verhältnis wie in Art. 3 Abs. 1 EuEheVO.546 Nach Art. 3 Abs. 1 lit. b) EuEheVO beispielsweise kann der Gerichtsstand in Ehesachen in dem Mitgliedstaat begründet werden, dessen Staatsangehörigkeit beide Ehegatten besitzen, wobei diese nicht die jeweils effektive sein muss.547 Entsprechend erlaubt die Rom III-VO in Art. 5 Abs. 1 lit. c) Rom III-VO die Wahl der Staatsangehörigkeit eines jeden Ehegatten. Im europäischen Unterhaltsrecht können die Parteien nach Art. 4 539
Heiderhoff, IPRax 2017, 160; Mankowski, in: Leible (Hrsg.), General Principles of European Private International Law, 2016, S. 189; Rohe, FS Rothoeft, 1994, 1 f.; Weller, FS Coester-Waltjen, 2015, 897, 901 f. 540 Vgl. zur Entwicklung auch Nishitani, RdC 401 (2019), 143, 145 f. 541 Mankowski, IPRax 2017, 130, 137. 542 Vgl. oben 2. Teil, 3. Kap., H. 543 Mankowski, IPRax 2017, 130, 138 f. 544 Weller, in: Arnold (Hrsg.), Grundfragen des Europäischen Kollisionsrechts, 2016, 133, 148 f. 545 v. Hein, in: MünchKommBGB, 2018, Art. 5 EGBGB Rn. 7 ff.; Hohloch, in: Erman, BGB, 2017, Art. 5 EGBGB Rn. 45; Rentsch, ZEuP 2015, 288, 294; Schwemmer, Anknüpfungsprinzipien im Europäischen Kollisionsrecht, 2018, S. 72 f.; Weller, in: Arnold (Hrsg.), Grundfragen des Europäischen Kollisionsrechts, 2016, S. 133, 142 ff. 546 Vgl. Dutta, ZEuP 2016, 427, 434. 547 Vgl. EuGH, Urteil v. 16.7.2009 – Rs. C-168/08, Laszlo Hadadi (Hadady) ./. Csilla Marta Mesko, BeckRS 2009, 70810.
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Abs. 1 lit. b) EuUnthVO den Gerichtsstand in dem Mitgliedstaat einer ihrer Staatsangehörigkeiten wählen. Parallel dazu gestattet das Haager Unterhaltsprotokoll in Art. 8 Abs. 1 lit. a) HUP als Wahl des anwendbaren Rechts das Recht jeder Staatsangehörigkeit einer der Parteien. Eine Wahl der Staatsangehörigkeit als Anknüpfungspunkt kann vor allem dann nützlich sein, wenn der gewöhnliche Aufenthalt nicht eindeutig ist oder die Parteien eine beso ndere Kontinuität und Stabilität wünschen, die beim Wechsel des gewöhnlichen Aufenthalts und dem damit einhergehenden Statutenwechsel beeinträchtigt würde.548 Dies trifft insbesondere auf Personen zu, die eine Form des „nomadisme“ leben und deren gewöhnlicher Aufenthalt sich im Laufe ihres Lebens häufig ändert.549 Als objektiver Anknüpfungspunkt hat der gewöhnliche Aufenthalt dennoch die längste Tradition im Europäischen Familienrecht. 550 Vorreiter der europäischen Entwicklung hin zum gewöhnlichen Aufenthalt sind auch die Haager Konventionen. 551 Bereits das Haager Testamentsformüberkommen von 1961 und das Haager Minderjährigenschutzübereinkommen von 1961 knüpften maßgeblich an den gewöhnlichen Aufenthalt an. Ebenso verhält es sich mit dem Haager Kinderschutzübereinkommen von 1996 und dem Haager Erwachsenenschutzübereinkommen von 2000. Im Unterhaltsrecht knüpfen das Haager Unterhaltsübereinkommen von 1956 und 1973 und das heute maßgebliche Haager Unterhaltsprotokoll von 2007 an den gewöhnlichen Aufenthalt an.552 Die Beliebtheit der Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt in den Haager Instrumenten resultiert daraus, dass er einen Mittelweg zwischen domicile und Staatsangehörigkeitsanknüpfung darstellt, da der gewöhnliche Aufenthalt sich als einzig konsensfähiger Begriff für alle Vertragsstaaten erwies.553 Das Domizil wurde daher nach und nach durch den gewöhnlichen Aufenthalt ersetzt, auch da er ein nationaler und kein autonomer Begriff ist, sodass eine einheitliche Definition nicht sichergestellt werden kann. Im Vergleich schien der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts praktischer und einfacher bestimmbar. Seitdem ist er im europäischen Kollisionsrecht weit verbreitet, insbesondere auch im Verfahrens- und Kollisionsrecht, um einen
548 Vgl. Mankowski, in: Leible (Hrsg.), General Principles of European Private International Law, 2016, S. 190 ff. 549 Dazu insbesondere Weller, Liber Amicorum Erik Jayme, 2019, 53, 64 f., 67. 550 Nishitani, RdC 401 (2019), 143, 254 f. 551 Dutta, IPRax 2017, 139, 140 f. 552 Zur Entwicklung der Aufenthaltsanknüpfung im Haager Staatsvertragsrecht vgl. nur Rentsch, Der gewöhnliche Aufenthalt im System des Europäischen Kollisionsrechts, 2017, S. 102 ff. 553 Nishitani, RdC 401 (2019), 143, 253 f.; Rentsch, Der gewöhnliche Aufenthalt im System des Europäischen Kollisionsrechts, 2017, S. 130 f.
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Gleichlauf von Forum und Recht herzustellen und so Prozesse zu beschleunigen.554 Die geringe Bedeutung der Staatsangehörigkeitsanknüpfung lässt sich auc h darauf zurückführen, dass seit der Reform von 1986, wo der Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit noch eine hohe Bedeutung zukam, die Anzahl gemischtnationaler Ehen in Deutschland angestiegen ist. Hier ergeben sich bei der Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit immer dann Probleme bei der einheitlichen Beurteilung, wenn es sich um Personen unterschiedlicher Staatsangehörigkeit handelt. Fortgesetzt wird diese Problematik bei den Kindern, die in der Regel mehrere Staatsangehörigkeiten erwerben. 555 Zudem kommt es auch in gegenständlicher Hinsicht in der Regel zu einer Aufspaltung des auf die persönlichen Rechtsverhältnisse anwendbaren Rechts. Dies birgt die Gefahr, dass die materielle Harmonie des für einen einheitlichen Rechtsbereich berufenen Rechts gestört wird. Die Bildung eines möglichst umfassenden Gesamtstatuts ist daher grundsätzlich vorzuziehen. 556 Auch angesichts der Migrationsbewegungen der letzten Jahre und der Zunahme postmoderner Lebensformen wie dem „nomadisme“557 verliert die Staatsangehörigkeit zunehmend an Legitimation, sodass gerade die Personengruppe der Flüchtlinge ohne GFK-Status oder Asylberechtigung 558 in besonderem Maße betroffen ist. 559 Vor diesem Hintergrund lohnt es sich daher, die für das Personalstatut einer Person bisher maßgeblichen Wertungen und die Legitimation der Anknüpfung an das Heimatrecht zu überdenken. Darstellungen, die sich mit der Entwicklung der Anknüpfungsprinzipien des gewöhnlichen Aufenthalts bzw. an die Staatsangehörigkeit im Kollisionsrecht beschäftigen, gibt es in der Literatur zur Genüge. 560 Die vorliegende Arbeit will darauf aufbauend überprüfen, ob die genannten Argumente und Gegenargumente im Kontext der aktuellen und zukünftigen Migrationsbewegungen Bestand haben, anzupassen oder schlicht nicht mehr zur Argumentation heranzuziehen sind.
554
Nishitani, RdC 401 (2019), 143, 255; Weller/Rentsch, in: Leible (Hrsg.), General Principles of European Private International Law, 2016, S. 171, 174 ff. 555 Rohe, FS Rothoeft, 1994, 1 f. 556 Mansel, Personalstatut, 1988, Rn. 43; Rentsch, ZEuP 2015, 288, 590 ff. 557 Dazu Jayme, Zugehörigkeit und kulturelle Identität, 2012, S. 31 ff.; Weller, Liber Amicorum Erik Jayme, 2019, 53, 64 ff. 558 Subsidiär Schutzberechtigte und Personen mit Aufenthaltstitel. 559 Rohe, FS Rothoeft, 1994, 1, 3 f.; vgl. zum Legitimationsverlust durch Fluchtbewegungen auch Rentsch, Der gewöhnliche Aufenthalt im System des Europäischen Kollisionsrechts, 2017, S. 132 f. 560 Vgl. für die Frage nach dem „richtigen“ Anknüpfungspunkt nur Dutta, IPRax 2017, 139; Mankowski, IPRax 2017, 130; Mansel, in: Nolte u.a. (Hrsg.), Pluralistische Gesellschaften und Internationales Recht, 2008, S. 137 ff.; ders. Personalstatut, 1988, Rn. 56.
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Zweiter Teil: Migration als Herausforderung für das IPR
3. Praktische Vorteile der Aufenthaltsanknüpfung Vorangestellt sei, dass aus völker- und verfassungsrechtlicher Sicht keiner der Anknüpfungspunkte zu bevorzugen ist. 561 Die Staatsangehörigkeit rechtfertigt sich über die Achtung fremder Rechtsordnungen und Verbundenheit zum Heimatrecht. Aber auch das Aufenthaltsprinzip ist verfassungsrechtlich unbedenklich. So stellt das Bundesverfassungsgericht fest: „Allerdings verlangen weder das Völkerrecht noch das Verfassungsrecht die Anwendung des Staatsangehörigkeitsprinzips im Internationalen Privatrecht sondern würden auch die Anknüpfung an den Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt erlauben.“ 562
Zum Teil wird dennoch als Grund für die Wahl der Staatsangehörigkeit als Anknüpfungspunkt mit der Herleitung aus dem Grundgesetz argumentiert. 563 Dagegen spricht aber, dass die Grundrechte als Menschen- nicht als Deutschengrundrechte ausgestaltet sind. Eine besondere Legitimation gerade für ihre Anwendung auf Deutsche in Form der Anknüpfung zu fordern, wäre daher systemwidrig. Im Ergebnis besteht daher keine verfassungsrechtliche Notwendigkeit für die Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit. 564 Ebenso wenig spricht das europäische Primärrecht trotz Implementierung der Aufenthaltsanknüpfung in den Sekundärrechtsakten per se gegen die Staatsangehörigkeitsanknüpfung. 565 Das Ziel der Kollisionsrechtsvereinheitlichung lässt sich vielmehr unabhängig von der Wahl des Anknüpfungspunktes erreichen.566 Die Staatsangehörigkeitsanknüpfung stellt auch keinen Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot aus Art. 10 AEUV dar, da durch die bloße Anknüpfung allein niemand benachteiligt wird. 567 Vielmehr entscheiden die Nationalstaaten grundsätzlich selbst, ob eine Person einem bestimmten Staat angehört.568 Jedoch gilt es zu berücksichtigen, dass der EuGH in seinen Ent-
561
Sog. „Transsexuellen-Entscheidung“ vgl. BVerfG, Beschluss v. 18.7.2006 – 1 BvL 1/04, 1 BvL 12/04, IPRax 2007, 217 mit Anm. Röthel; Von Bar/Mankowski, IPR I, 2003, § 7 Rn. 18; Mankowski, IPRax 2017, 130, 132. 562 BVerfG, Beschluss v. 18.7.2006 – 1 BvL 1/04, 1 BvL 12/04, IPRax 2007, 217, 223. 563 Pitschas, in: Jayme/Mansel (Hrsg.), Nation und Staat im Internationalen Privatrecht, 1990, S. 93, 97 ff. 564 v. Bar/Mankowski, IPR I, 2003, § 7 Rn. 18; Rohe, FS Rothoeft, 1994, 1, 11. 565 Dazu ausführlich Schwemmer, Anknüpfungsprinzipien im Europäischen Kollisionsrecht, 2018, S. 88 ff. 566 Rentsch, Der gewöhnliche Aufenthalt im System des Europäischen Kollisionsrechts, 2017, S. 69 ff. 567 Mankowski, in: Leible (Hrsg.), General Principles of European Private International Law, 2016, S. 193 f.; differenzierend Schwemmer, Anknüpfungsprinzipien im Europäischen Kollisionsrecht, 2018, S. 88 ff. 568 Mankowski, in: Leible (Hrsg.), General Principles of European Private International Law, 2016, S. 194.
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scheidungen sowohl zum Primär- als auch Sekundärrecht bisher stets die Gleichwertigkeit der Staatsangehörigkeiten betont hat. 569 Aus praktischer Sicht spricht für die Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit vor allem die Kontinuität und Stabilität des anwendbaren Rechts, wird bei einem Aufenthaltswechsel doch ein Statutenwechsel vermieden. 570 Ferner ist die Staatsangehörigkeit einer Person grundsätzlich leicht feststellbar und nicht so leicht zu manipulieren wie der gewöhnliche Aufenthalt. 571 Diese Vorteile sind nicht von der Hand zu weisen und haben immer noch Bestand. Andererseits führt die Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit in den problematischen Fällen der Mehrstaater und Staatenlosen zu Schwierigkeiten, zumal diese Fälle im europäischen Kollisionsrecht bisher keine Vereinheitlichung erfahren haben. 572 Die Lösung des deutschen IPR, das mit Art. 5 Abs. 1 S. 2 EGBGB diese Fälle im Zweifel zugunsten der deutschen Staatsangehörigkeit auflöst, führt zu wenig befriedigenden Ergebnissen. So wird der Anwendungsbereich dadurch verringert, dass auf europäischer Ebene mehrere Staatsangehörigkeiten gleich stark gewichtet werden. 573 Zudem gibt es auch in anderen Staaten das Prinzip der Bevorzugung der Staatsangehörigkeit des Forumsstaates, sodass die Klausel in ausländischen Foren ohnehin leerläuft. 574 Hinzu kommt, dass im Zuge der Zunahme der Migration viele Staaten ihr Staatsangehörigkeitsrecht geöffnet haben, sodass die Einbürgerung weniger strenge Voraussetzung hat und die Doppelstaatsangehörigkeit erlaubt, was zu einer Zunahme von Mehrstaatern führt. 575 Die Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit erscheint zudem nur vordergründig praktikabel und rechtssicher.576 Insbesondere im Fluchtkontext verfängt das häufig vorgebrachte Argument der Manipulationsfestigkeit nicht. So haben viele der ankommenden Flüchtlinge gefälschte oder gar keine Ausweispapiere dabei, was erhebliche Täuschungsmöglichkeiten über die eigene Staatsangehörigkeit 569
Mankowski, in: Leible (Hrsg.), General Principles of European Private International Law, 2016, S. 199 f. 570 Mankowski, in: Leible (Hrsg.), General Principles of European Private International Law, 2016, S. 189; ders. IPRax 2017, 130, 132. 571 Von Bar/Mankowski, IPR I, 2003, § 7 Rn. 18; Mankowski, IPRax 2017, 130, 133. 572 Von Bar/Mankowski, IPR I, 2003, § 7 Rn. 19; Mankowski, in: Leible (Hrsg.), General Principles of European Private International Law, 2016, S. 189, 195; Rohe, FS Rothoeft, 1994, 1, 19. Zur „pluralité et la relativité de la nationalité“ in diesem Kontext vgl. Nishitani, RdC 401 (2019), 143, 246 ff. Zu den Ursachen und der kollisionsrechtlichen Behandlung von Mehrstaatern schon Ferid, Der Neubürger im Internationalen Privatrecht, 1949, S. 53 ff. 573 EuGH, Urteil v. 16.7.2009 – Rs. C-168/08, Laszlo Hadadi (Hadady) ./. Csilla Marta Mesko, BeckRS 2009, 70810, Rn. 38 ff. 574 Ähnliche Klauseln finden sich z.B. in § 9 Abs. 1 S. 2 östIPR 1978; Art. 12 UA 2 rumIPRG 1992; Art. 19 Abs. 2 S. 2 italIPRG 1995; Art. 2 Abs. 1 polnIPRG 2011. 575 Dutta, IPRax 2017, 139, 142; Nishitani, RdC 401 (2019), 143, 248. 576 Rohe, FS Rothoeft, 1994, 1.
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bietet und den Nachweis der tatsächlichen Staatsangehörigkeit bzw. Staatenlosigkeit durch die Behörden erheblich erschwert, wenn nicht gar unmöglich macht.577 Letztlich ist die als Vorteil der Staatsangehörigkeitsanknüpfung angebrachte Stabilität und Rechtssicherheit in gleichem Maße durch die Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt gewährleistet, da der Lebensmittelpunkt einer Person durch Rechtsprechung und Lehre durch einige klare Kriterien konkretisiert (s.o.) und somit leicht feststellbar ist. 578 Manipulationen an dieser Stelle kann ferner mit der Rechtsfigur der fraus legis begegnet werden.579 Neben diesen Problemen vermeidet die Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt durch einen Gleichlauf von forum und ius die oftmals zeitaufwendige und kostspielige Ermittlung ausländischen Rechts. 580 Insbesondere bei den Herkunftsländern, aus denen die Schutzsuchenden fliehen, handelt es sich häufig um Staaten, zu denen die diplomatischen Beziehungen abgebrochen wurden oder aufgrund eines Bürgerkriegs keine funktionierende Verwaltung mehr existiert, die die Behörden um Rechtshilfe ersuchen könnten. 581 Auch die Korrektur des Ergebnisses fremder Rechtsanwendung durch den ordre public, auf deren Fallstricke im internationalen Familienrecht weiter unten eingegangen wird, wird vermieden. 582 Zwar ist aus Verfassungssicht keines der Anknüpfungsmomente zwingend, jedoch ist der gewöhnliche Aufenthalt im Fluchtkontext auch deshalb zu präferieren, da die Vermeidung der ordre public Prüfung stabilere Ergebnisse auch im Sinne des Grundgesetzes erzielt.583
577
Mankowski, IPRax 2017, 130, 133 ff. Rohe, FS Rothoeft, 1994, 1, 16; a.A.: Hellwig, Die Staatsangehörigkeit als Anknüpfung im deutschen IPR, 2001, S. 137 f. 579 Rohe, FS Rothoeft, 1994, 1, 17. 580 Von Bar/Mankowski, IPR I, 2003, § 7 Rn. 19; Dutta, IPRax 2017, 139, 143; Mankowski, IPRax 2017, 130, 133; Rohe, FS Rothoeft, 1994, 1, 18/25; Schwemmer, Anknüpfungsprinzipien im Europäischen Kollisionsrecht, 2018, S. 75; Weller, in: Arnold (Hrsg.), Grundfragen des Europäischen Kollisionsrechts, 2016, 133, 159; ders., FS CoesterWaltjen, 2015, 897, 910. Kritisch hierzu Ferid, Der Neubürger im Internationalen Privatrecht, 1949, S. 42: „Die abgelehnte Auffassung kommt lediglich einem Bequemlichkeitsbedürfnis der beteiligten, dem IPR und der Rechtsvergleichung abholden Juristen entgegen, indem sie ihnen Erforschung und Anwendung ausländischen Rechts ersparen will.“ 581 Vgl. Lass, Der Flüchtling im IPR, 1995, S. 3 f. 582 Helms, IPRax 2017, 153, 155; Mankowski, IPRax 2017, 130, 134; Rohe, FS Rothoeft 1994, 1, 30; Weller, FS Coester-Waltjen, 2015, 897, 910 spricht in diesem Kontext auch von einer höheren „Richtigkeitschance“. Vgl. ferner Nishitani, RdC 401 (2019), 143, 207, deren dargestellte Beispiele eines „conflit de cultures“ häufig auf der Staatsangehörigkeitsanknüpfung beruhen. 583 Röthel, IPRax 2007, 204, 207. 578
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Hinzu kommt im Flüchtlingskontext die Notwendigkeit der Anwendung von Sonderkollisionsrecht in Form der GFK. Anstatt stets die Flüchtlingseigenschaft zu prüfen, was mit sorgfältiger Sachverhaltsermittlung und damit erheblichem Aufwand verbunden ist, wird in der Praxis wohl (wenn überhaupt) häufig auf das „normale“ IPR zurückgegriffen. 584 Verkompliziert wird die Materie zudem durch die Zusammensetzung aus Normen des öffentlichen Rechts und des Zivilrechts sowie Normen verschiedener Ebenen wie dem Völker- und Europarecht. Ausländisches Recht ist von den Behörden und Gerichten insbesondere im Rahmen der Altersfeststellung bei unbegleiteten Minderjährigen und bei der Familienzusammenführung hinsichtlich der Beurteilung der Wirksamkeit der Ehe oder eines bestehenden Abstammungsverhältnis anzuwenden. Es gibt bisher keine aussagekräftigen statistischen Erfassungen darüber, ob Asyl- und Ausländerbehörden zur Anwendung fremden Rechts verpflichtet sind, ob sie sich dem IPR stets tatsächlich auch bewusst sind und darüber, wie sie bei der Ermittlung des Inhalts ausländischen Rechts vorgehen. In Deutschland beispielsweise ist vor allem das Jugendamt mit diesen Fragen des Personalstatuts befasst. Häufig werden dabei Fälle nach der gängigen Verwaltungspraxis gehandhabt und nicht im Einzelfall alle Aspekte des ausländischen Rechts ermittelt. So werden zum Beispiel religiös geschlossene Ehen in Eritrea nicht anerkannt, ohne dass zwischen rein religiösen und staatlich registrierten religiösen Ehen unterschieden wird.585 Diese Schwierigkeiten würden durch ein einheitliches Personalstatut basierend auf dem Aufenthaltsprinzip als Grundsatzentscheidung abgemildert. Insgesamt spricht nach den vorausgehenden Ausführungen aus praktischer Sicht vieles für ein Umschwenken auf die Aufenthaltsanknüpfung auch im Personalstatut. 4. Die Interessen hinter den Anknüpfungspunkten Hintergrund der zunehmenden Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt ist vor allem die Zunahme der Mobilität innerhalb Europas sowie der Migration nach Europa hinein. Denn die rechtspolitische Bewertung der Anknüpfungsprinzipien wird überhaupt nur dort relevant, wo der gewöhnliche Aufenthalt und die Staatsangehörigkeit auseinanderfallen – also bei Aus- und Einwanderern, aber auch Personen, die eine Form des „nomadisme“ leben.586 584
Vgl. Lass, Der Flüchtling im IPR, 1995, S. 5. Für diese Praxisperspektive als Argument für das Heimwärtsstreben vgl. Study for the JURI committee „Private International Law in a Content of Increasing International Mobility: Challenges and Potential“ des Europäischen Parlaments, PE 583.157, June 2017, S. 29 ff., abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020). 586 Dazu Rohe, FS Rothoeft, 1994, 1, 25. Zum Begriff des „nomadisme“ im IPR Jayme, Zugehörigkeit und kulturelle Identität, 2012, S. 31 ff.; Weller, Liber Amicorum Erik Jay585
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Schon im 19. Jahrhundert wurde in diesem Kontext von Literatur und Juristenkongressen vertreten, dass im IPR von Ländern mit einheitlicher Bevölkerung an die Staatsangehörigkeit und solchen mit wechselnder und international gemischter Bevölkerung an den Wohnsitz angeknüpft werden sollte. 587 Vor diesem Hintergrund scheint die Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt im Rahmen des Personalstatuts eher konform mit der allgemeinen Entwicklung des internationalen und europäischen Kollisionsrechts zu sein. 588 Hinsichtlich der internationalprivatrechtlichen Interessen hatte im Zeitalter der Nationalstaaten die Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit vor allem den Zweck, auswandernde Staatsbürger an das Herkunftsland zu binden und verbreitete sich in den (vor allem kontinentalen) europäischen Staaten. 589 Der Ausdruck von Territorialität und Herrschaft über das Staatsvolk und damit ein staatliches Ordnungsinteresse war indes keine alleinige Legitimation für die Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit im IPR. 590 Als Argument wird auch auf die besondere demokratische Legitimation der Staatsangehörigkeitsanknüpfung verwiesen, da die Staatangehörigkeit das aktive und passive Wahlrecht nach sich zieht. 591 Gerade bei Staatsangehörigen, die sich seit langer Zeit im Ausland aufhalten, stellt sich jedoch die Frage, ob dieses staatsbürgerliche Band die Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit in persönlichen Rechtsfragen noch legitimieren kann. 592 Auch private Interessen dienten und dienen der Legitimation der Staatsangehörigkeit. Typischerweise wird als zentrales Argument für das Staatsangehörigkeitsrecht die oftmals Identität stiftende Verbundenheit der Person zu ihrem Heimatstaat und dessen Kultur angeführt. 593 So hat auch das Bundesverfassungsgericht in einem Urteil von 1971 festgestellt, dass die Staatsangehörigkeit der Verbundenheit einer Person zum Staat und dessen rechtlichen
me, 2019, 53, 64 ff. So auch schon Ferid, Der Neubürger im Internationalen Privatrecht, 1949, S. 38 ff. 587 Rohe, FS Rothoeft, 1994, 1, 10. 588 Vgl. zum „Modernitätstopos“ des gewöhnlichen Aufenthalts Rentsch, Der gewöhnliche Aufenthalt im System des Europäischen Kollisionsrechts, 2017, S. 74 ff. 589 Mankowski, IPRax 2017, 130; Rohe, FS Rothoeft, 1994, 1, 8. 590 Mankowski, IPRax 2017, 130, 131; Rentsch, Der gewöhnliche Aufenthalt im System des Europäischen Kollisionsrechts, 2017, S. 101 f. 591 Vgl. Rentsch, Der gewöhnliche Aufenthalt im System des Europäischen Kollisionsrechts, 2017, S. 73 m.w.N. 592 Vgl. Mankowski, IPRax 2017, 130, 132. 593 Rohe, FS Rothoeft, 1994, 1, 13; Schulze, in: Nomos Kommentar, BGB, 2016, Art. 5 EGBGB Rn. 6. Vgl. auch die Entscheidung des UN Administrative Tribunal v. 30.9.2004, Judgement No. 1183, Case No. 1276, Adrian ./. The Secretary General of the United Nations, S. 6, die die Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit als Ausdruck des Respekts der Staatensouveränität und der Kultur des Individuums ansieht.
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Regeln gerecht wird. 594 Die meisten Ausländer würden es wünschen, nach ihrem Heimatrecht behandelt zu werden. 595 Die Richtigkeit dieser Vermutung nimmt jedoch angesichts aktueller Migrationsbewegung ab. So sind die seit 1986, als die Staatsangehörigkeit vom IPR-Gesetzgeber noch als primärer Anknüpfungspunkt gewählt wurde, eingetretenen rechtlichen als auch tatsächlichen Veränderungen zu berücksichtigen. 596 Denn gerade der Flüchtlingskontext zeigt, dass es auch im Personen-, Familien- und Erbrecht nicht zwingend ist, dass Personen die engste Verbindung zum Recht ihres Heimatstaats haben. 597 Vielmehr sprechen Integrationsgesichtspunkte für eine Anknüpfung an das neue Aufenthaltsrecht, welche die wünschenswerte rechtliche Gleichstellung mit der inländischen Bevölkerung ermöglicht. 598 So erscheint es widersprüchlich, die mangelnde Integration von Migranten zu beklagen, ihre persönlichen Rechtsverhältnisse jedoch gleichzeitig ihrem Heimatrecht zu unterstellen, wenn nicht Art. 12 GFK Anwendung findet.599 Zudem kann der Bildung von Parallelgesellschaften entgegengewirkt werden. 600 Zwar ist noch keine Tendenz zu einer stärkeren Bildung solcher „kulturellen Enklaven“ erkennbar, zugleich ist wohl auch wegen negativer Reaktionen der Aufnahmegesellschaft in Deutschland eine wachsende Islamisierung zu beobachten. 601 Die Anwendung der lex fori entspricht daher auch den Verkehrs- und Ordnungsinteressen der Länder mit einem hohen Anteil von Migranten. 602 594
BVerfG, Beschluss v. 4.5.1971 – 1 BvR 636/68, BeckRS 9998, 108730. So noch 2001 unterstellt von Hellwig, Die Staatsangehörigkeit als Anknüpfung im deutschen IPR, 2001, S. 126. 596 Rohe, FS Rothoeft, 1994, 14. 597 Nishitani, RdC 401 (2019), 143, 251 f. 598 Vgl. zum Integrationsgedanken auch Dutta, IPRax 2017, 139, 141 f.; Rentsch, Der gewöhnliche Aufenthalt im System des Europäischen Kollisionsrechts, 2017, S. 67 f.; Rohe, FS Rothoeft 1994, 1, 16. Dieses Argument für Frankreich, in dem es schon länger einen hohen Migrantenanteil gibt, heranziehend: Bureau/Muir Watt, Droit international privé II, 2017, Rn. 637; ablehnend und die Einbürgerung vorziehend hingegen Hellwig, Die Staatsangehörigkeit als Anknüpfung im deutschen IPR, 2001, S. 126 ff., 162 f. 599 Rohe, FS Rothoeft, 1994, 1, 22. 600 Vgl. v. Hein, in: Juristische Studiengesellschaft Jahresband, 2018, S. 29, 34 f.; vgl. ferner kritisch zur Bildung von Parallelgesellschaften im Kontext der Schulpflicht auch BGH, Beschluss v. 11. 9. 2007 – XII ZB 41/07, NJW 2008, 369 ff. Zum Begriff des „tribalisme“ in diesem Zusammenhang vgl. auch Jayme, Zugehörigkeit und kulturelle Identität, 2012, S. 37 ff. 601 Halm/Sauer, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (Beilage zur Wochenzeitschrift Das Parlament), 2006, (1-2), S. 18 ff., 20 f.; Brettfeld/Wetzels, in: Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Schriften zur Inneren Sicherheit, 2007, S. 27 ff und 31 ff.; Mansel, in: Nolte u.a. (Hrsg.), Pluralistische Gesellschaften und Internationales Recht, 2008, S. 137, 152. 602 v. Bar/Mankowski, IPR I, 2003, § 7 Rn. 19; Dutta, IPRax 2017, 139, 143; Mankowski, IPRax 2017, 130, 133; Rohe, in FS Rothoeft, 1994, 1, 18 und 25; Weller, in: Ar595
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Gegen ein solches Heimwärtsstreben spricht auf den ersten Blick die Maxime der Gleichwertigkeit aller Rechtsordnungen, deren Anwendbarkeit sich losgelöst von einseitig nationaler materieller Überprüfung nach dem Sitz des Rechtsverhältnisses richtet. Findet über die Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt hauptsächlich die lex fori Anwendung, scheinen die Interessen der Parteien hinter denen eines möglichst effektiven Prozesses zurückzutreten.603 Verkehrs- und Ordnungsinteressen dürfen nicht als alleinige Rechtfertigung für die Aufenthaltsanknüpfung herangezogen werden, da gerade bei der Bestimmung des auf das Personalstatut anwendbaren Rechts in hohem Maße Privatinteressen berührt werden. 604 Jedoch spricht vieles dafür, dass auch bei Geltung des Aufenthaltsprinzips Ordnungs- und Privatinteressen in Ausgleich gebracht werden können. Auch aus Sicht der Flüchtlinge kann der Integrationswunsch gerade im Widerspruch mit dem oben für die Staatsangehörigkeitsanknüpfung angeführten Kontinuitätsinteresse stehen. Die Heimatverbundenheit und kulturelle Identität einer Person kann auch primär durch Sprache605, Religion und Milieu zum Ausdruck kommen und muss somit kaum mit dem Wechsel des anwendbaren Rechts aufgegeben werden. 606 Vielmehr sind Herkunft und Geschichte nur eine von pluralen Zugehörigkeitskategorien, die die Identität eines Menschen ausmachen. 607 In diesem Zusammenhang wird an Juristen vereinzelt kritisiert, dass sie dem Recht als Teil der kulturellen Identität einer Person zu viel Gewicht beimessen. 608 Auf der anderen Seite ist das Recht natürlich von den jeweiligen Werten und der Kultur der Gesellschaft, aus der es hervorgeht, geprägt und passt sich Veränderungen an, wie etwa der zunehmenden Gleichstellung von Frau und Mann, der Liberalisierung des Scheidungsrechts und der Öffnung hinsichtlich gleichgeschlechtlicher Ehen. nold (Hrsg.), Grundfragen des Europäischen Kollisionsrechts, 2016, S. 133, 159; zur Entwicklung hin zu einer stärkeren Berücksichtigung dieser Verkehrs- und Ordnungsinteressen vgl. ferner Weller/Schulz, in: v. Hein/Kieninger/Rühl (Hrsg.), How European is European Private International Law?, 2019, S. 285, 288 f.; ablehnend und stattdessen für eine Internationalisierung der Juristenausbildung Hellwig, Die Staatsangehörigkeit als Anknüpfung im deutschen IPR, 2001, S. 134. 603 Weller, FS Coester-Waltjen, 2015, 897, 911. 604 Mansel, in: Nolte u.a. (Hrsg.), Pluralistische Gesellschaften und Internationales Recht, 2008, S. 137, 172 f. 605 Siehe zu Sprache und kultureller Identität auch Jayme, Zugehörigkeit und kulturelle Identität, 2012, S. 46 ff. 606 Von Bar/Mankowski, IPR I, 2003, § 7 Rn. 21; Mankowski, IPRax 2017, 130, 134; Rohe, FS Rothoeft, 1994, 1, 13; ähnlich auch Lass, Der Flüchtling im IPR, 1995, S. 6 f. 607 Mansel, in: Nolte u.a. (Hrsg.), Pluralistische Gesellschaften und Internationales Recht, 2008, S. 137, 153; Nishitani, RdC 401 (2019), 143, 225 f.; Sen, Identity and Violence – The Illusion of Destiny, 2007, S. 33 ff. 608 Vgl. v. Bar/Mankowski, IPR I, 2003, § 7 Rn. 21; Henrich, FS Stoll, 2001, 437, 444; Mankowski, IPRax 2004, 282, 287.
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Personen können sich aber im Laufe eines Integrationsprozesses auch eher mit dem Recht ihrer Umwelt als mit dem ihrer Herkunft identifizieren. 609 Der Annahme, die Staatsangehörigkeitsanknüpfung sei allein mit der Achtung der kulturellen Identität vereinbar ist mithin entgegenzutreten und eine weniger statische Form der Berücksichtigung der kulturellen Identität zu bevorzugen. Die Frage, ob sich jemand stärker mit dem Staat seiner Umgebung oder aber seinem Herkunftsstaat identifiziert, ist stark vom subjektiven Empfinden abhängig. 610 Dies zeigt sich auch bei Migranten, die durch die zunehmende Liberalisierung des Staatsangehörigkeitsrechts mittlerweile die deutsche Staatsbürgerschaft innehaben und sich trotzdem noch dem Herkunftsstaat verbunden fühlen. 611 Der Gesetzgeber muss daher zugunsten der Rechtsklarheit typisieren. 612 Vereinzelt wird gerade im Flüchtlingskontext vorgetragen, der Aufenthalt der Personen käme einem Zwangsaufenthalt gleich, sodass ihr Interesse an einer vollständigen Eingliederung in den Aufenthaltsstaat ohnehin gering sei.613 Der Großteil dieser Personen dürfte aber bewusst ihre Heimat verlassen haben, um anderswo auch längerfristig Schutz zu finden. Grenzfällen, bei denen das Aufnahmeland nur eine vorübergehende Zufluchtsstätte sein soll, die Flüchtlinge ihre kulturelle Identität nicht aufgeben wollen und auf baldige Rückkehr hoffen, kann stets über die Berücksichtigung des animus revertendi der betreffenden Person Rechnung getragen werden. 614 Auch die Anschauungen und Zukunftsplanungen der schon länger hier lebenden Ausländer haben sich weitgehend gewandelt und insbesondere die dritte Generation ist längerfristig bleibewillig. 615 Schließlich entspricht die Anwendung der lex fori auch
609
Vgl. Mansel, in: Nolte u.a. (Hrsg.), Pluralistische Gesellschaften und Internationales Recht, 2008, S. 137, 163; ähnlich auch Nishitani, RdC 401 (2019), 143, 147, 256. 610 Vgl. Dutta, IPRax 2017, 139, 142. Zum subjektiven Bewusstsein und Definition der eigenen kulturellen Identität siehe insbesondere auch Nishitani, RdC 401 (2019), 143, 225 f. 611 Mansel, in: Nolte u.a. (Hrsg.), Pluralistische Gesellschaften und Internationales Recht, 2008, S. 137, 164. 612 Vgl. dazu Weller, Liber Amicorum Erik Jayme, 2019, 53, 54, 60 f. Ähnlich Nishitani, RdC 401 (2019), 143, 258. 613 Vgl. Hellwig, Die Staatsangehörigkeit als Anknüpfung im deutschen IPR, 2001, S. 127. 614 Dafür Rohe, FS Rothoeft, 1994, 1, 22; kritisch Study for the JURI committee „Private International Law in a Context of Increasing International Mobility: Challenges and Potential” des Europäischen Parlaments, PE 583.157, June 2017, S. 37, abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020). 615 Rohe, FS Rothoeft, 1994, 1, 28 f.
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deshalb dem Interesse des Betroffenen, da ein Verfahren ohne kostenintensive Gutachten zu ausländischem Recht auskommt. 616 Letztlich muss man sich bewusst machen, dass es auch aus Sicht der betroffenen Privatinteressen nicht den perfekten Anknüpfungspunkt gibt, dessen Verweisungsergebnis stets der engsten Verbindung einer Person vollumfänglich entspricht. Auch deshalb ist es legitim, die Verkehrs- und Ordnungsinteressen heranzuziehen und den gewöhnlichen Aufenthalt im Rahmen des Personalstatuts als den maßgeblichen Anknüpfungspunkt zu befürworten. 617 5. Europäische Perspektive Aus Sicht des europäischen Kollisionsrechts und dem generellen Bestreben der Rechtsvereinheitlichung der EU ist ein einheitlicher Ansatz hinsichtlich der Anwendbarkeit des Art. 12 Abs. 1 GFK wünschenswert. 618 Auch vor diesem Hintergrund ist die hier aufgestellte These zu befürworten. Die Praxis der Mitgliedstaaten hinsichtlich der Anwendbarkeit des Art. 12 Abs. 1 GFK auch auf subsidiär Schutzberechtigte oder auch auf nach nationalem Recht Schutzberechtigten divergiert. Dies stellt in Hinblick auf den Vereinheitlichungsgedanken insgesamt eine unbefriedigende Situation dar.619 So wendet der Cour de Cassation in Frankreich Art. 12 GFK schon seit langer Zeit nicht nur auf anerkannte Flüchtlinge im Sinne der Definition der Flüchtlingskonvention an, sondern auch auf solche Migranten, denen ein Schutzstatus nach nationalem Recht zugesprochen wurde. Der Gerichtshof stützte das französische Personalstatut dabei schlicht auf ein „droit international commun des réfugiés“, das an die Stelle eines Rechts aus der GFK treten kann. 620 Ferner wendet die französische Flüchtlingsbehörde Office Français de Protection des Réfugiés et Apatrides (OFPRA) auf Fragen des Personalsta-
616 Vgl. Lass, Der Flüchtling im IPR, 1995, S. 4 f.; Weller, FS Coester-Waltjen, 2015, 897, 910. 617 Mansel, in: Nolte u.a. (Hrsg.), Pluralistische Gesellschaften und Internationales Recht, 2008, S. 137, 154; ähnlich Lass, Der Flüchtling im IPR, 1995, S. 7, die dazu ausführt: „[...], da bei genereller Betrachtung die durch das Staatsangehörigkeitsprinzip hervorgerufenen Wertungswidersprüche größer sind als die des Domizilprinzips.“. 618 Dies hervorhebend auch Rupp, ZfPW 2018, 57, 74. 619 Vgl. zum Ganzen Study for the JURI committee „Private International Law in a Content of Increasing International Mobility: Challenges and Potential“ des Europäischen Parlaments, PE 583.157, June 2017, S. 34 ff., abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020); vgl. parallel zur Pflicht der EU als Mitglied der Konvention eine einheitliche Anwendung des HUP anzustreben Rentsch, Der gewöhnliche Aufenthalt im System des Europäischen Kollisionsrechts, 2017, S. 350 f. 620 Vgl. Cass. civ. 1ère, Urteil v. 25.6.1974, mit Anm. Deby-Gérard, JDI 1975, 330.
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tuts von subsidiär Schutzberechtigten französisches Recht an. 621 Eine Heirat in Frankeich oder einem anderen Mitgliedstaat ist somit zum Beispiel nur bei Erfüllung der Voraussetzungen des französischen Eheschließungsrechts möglich. Ähnlich gestaltet es sich in Österreich. Nach dem § 9 Abs. 3 des österreichischen IPRG 1978622 ist das Wohnsitzrecht oder hilfsweise das Recht des gewöhnlichen Aufenthalts anwendbar, wenn die betroffene Person Flüchtling ist oder aber ihre Beziehungen zu ihrem Heimatstaat aus vergleichbar schwerwiegenden Gründen abgebrochen wurden. 623 Auch Art. 3 Abs. 2 des polnischen IPRG 2011624 kann man vergleichbar interpretieren. Danach richtet sich das Personalstatut von Personen, denen der Schutz aufgrund von grundlegenden Menschenrechtsverletzungen in ihrem Herkunftsland gewährt wurde, statt nach dem Recht der Staatsangehörigkeit nach dem des Wohnsitzes oder des gewöhnlichen Aufenthalts. 625 Der subsidiäre Schutz wird gem. Art. 15 RL 2011/95/EU bei Bedrohung durch einen ernsthaften Schaden in Form der Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe oder Folter, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder einer drohenden Bestrafung im Herkunftsland zuerkannt. Diese Handlungen dürften mit den in Art. 3 Abs. 2 polnIPRG 2011 genannten Menschenrechtsverletzungen gemeint sein, sodass auch subsidiär Schutzberechtigte von seiner Aufenthaltsanknüpfung erfasst sein dürften. 626
621 « En l'absence de texte concernant la loi applicable au statut personnel des bénéficiaires de la protection subsidiaire, le protégé subsidiaire dont l'Office a établi l'état civil et qui a son domicile en France est également régi par la loi française. » Vgl. (letzter Abruf: 4.6.2020). 622 „Das Personalstatut einer Person, die Flüchtling im Sinn der für Österreich geltenden internationalen Übereinkommen ist oder deren Beziehungen zu ihrem Heimatstaat aus vergleichbar schwerwiegenden Gründen abgebrochen sind, ist das Recht des Staates, in dem sie ihren Wohnsitz, mangels eines solchen ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat; eine Verweisung dieses Rechtes auf das Recht des Heimatstaates (§ 5) ist unbeachtlich.“ (Österreichisches IPR-Gesetz v. 1978) 623 Vgl. OHG, Urteil v. 13.9.2018 – 10 Ob 28/181, ZfRV 2018, 277 (Ls.); v. Hein, in: Juristische Studiengesellschaft Jahresband, 2018, S. 29, 38. 624 Prawo prywatne międzynarodowe 2011(PMM). 625 Art. 3 polnIPRG 2011: „(1) Wenn das Gesetz die Anwendbarkeit des Rechts der Staatsangehörigkeit vorsieht und die Staatsangehörigkeit einer Person nicht festgestellt werden kann, sie staatenlos ist oder der der Inhalt des ausländischen Rechts nicht bestimmt werden kann, gilt das Recht des Staates, in dem sie ihren Wohnsitz hat. Bei fehlendem Wohnsitz gilt das Recht des Staates, in dem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat. (2) Absatz 1 gilt entsprechend für eine Person, die in einem anderen Staat als ihrem Heimatstaat Schutz erhalten hat, weil ihre Beziehungen zu ihrem Heimatstaat aufgrund einer Verletzung der grundlegenden Menschenrechte in diesem Staat dauerhaft unterbrochen wurden.“ (sinngemäße Übersetzung der Verfasserin). 626 Mankowski, IPRax 2017, 40, 45.
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Zweiter Teil: Migration als Herausforderung für das IPR
§ 28 Abs. 4 des tschechischen IPRG627 erstreckt den internationalen Schutz (inklusive Art. 12 GFK) sogar ausdrücklich auf Personen mit subsidiärem Schutz und Asylbewerber. Zudem findet die GFK schon ab der Antragstellung Anwendung. 628 Schließlich findet auch in den Niederlanden über 10:17 BW629 des niederländischen Zivilgesetzbuches das Recht des Wohnsitzes oder des gewöhnlichen Aufenthalts auf das Personalstatut von Personen Anwendung, denen eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung oder eine Aufenthaltsgenehmigung auf unbestimmte Zeit erteilt wurde. 630 Die Studie „Private International Law in a Content of Increasing International Mobility: Challenges and Potential“ des Europäischen Parlaments empfiehlt, gestützt auf diese rechtsvergleichenden Beispiele, ein einheitliches Vorgehen und zwar in Form eines Erstreckens des Art. 12 GFK auch auf subsidiär Schutzberechtigte. Die Studie führt als Begründung unter anderem aus, dass die Aufenthaltsanknüpfung auch dem Trend im europäischen Kollisionsrecht entspreche.631 6. Fazit Die Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt ist nicht frei von Kritik, gerade was seine Eignung zur Neuausformung des Personalstatuts angeht. 632 Zum einen mag dies auch an der bisherigen fehlenden Konturierung und
627
Zákon o mezinárodním právu soukromém a procesním. „Ist jemand Antragsteller auf internationalen Schutz, anerkannter Flüchtling, subsidiär Schutzberechtigter oder nach einem anderen Gesetz oder internationalen Abkommen staatenlos, so bestimmt sich sein persönlicher Status nach den Bestimmungen der internationalen Verträge über den Flüchtlingsstatus und über den rechtlichen Status von Staatenlosen.“ (sinngemäße Übersetzung durch die Verfasserin). 629 Boek 10 Artikel 17 Burgerlijk Wetboek. 630 „Der Personenstand eines Ausländers, dem eine Aufenthaltserlaubnis nach § 28 oder § 33 des Ausländergesetzes 2000 erteilt worden ist und eines Ausländers, dem ein Aufenthaltstitel ausgestellt worden ist, der einen Sichtvermerk gemäß § 45c des Gesetzes trägt, sowie eines Ausländers, der einen entsprechenden Aufenthaltsstatus im Ausland erlangt hat, unterliegt dem Recht seines Wohnsitzes oder, wenn er keinen Wohnsitz hat, dem Recht seines gewöhnlichen Aufenthalts.“ (sinngemäße Übersetzung durch die Verfasserin). 631 Vgl. Study for the JURI committee „Private International Law in a Content of Increasing International Mobility: Challenges and Potential“ des Europäischen Parlaments, PE 583.157, June 2017, S. 37, abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020). 632 Zum Ganzen Rentsch, Der gewöhnliche Aufenthalt im System des Europäischen Kollisionsrechts, 2017, S. 62 f.; eher kritisch gegenüber einer Reform der Art. 7–10 EGBGB Rauscher, FS Jayme, Band I, 2004, 719 ff.; ders., FS Coester-Waltjen, 2015, 637, 638 f. 628
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Systematisierung des Aufenthaltsbegriffs liegen. 633 Zum anderen ist das IPR nicht nur Materie zur Lösung von Souveränitätskonflikten von Staaten, so ndern betrifft primär Individualinteressen, was sich im Bereich des Personalstatuts besonders deutlich zeigt. So kann aus Sicht des Individuums durchaus die Verbindung zwischen der Anwendung des Staatsangehörigkeitsrechts auf persönliche Rechtsfragen und der demokratischen Legitimation dieser Rechtsanwendung durch die Ausübung des Wahlrechts von Bedeutung sein.634 Auch aus rechtspolitischen Gründen kann die Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit daher gerechtfertigt sein. Diese Begründungsmuster beanspruchen jedoch eher Geltung für nicht–mobile Personen, bei denen das Staatsangehörigkeitsrecht und das Aufenthaltsrecht sich ohnehin entsprechen.635 Angesichts zunehmender Migration fallen diese Gründe hingegen weniger stark ins Gewicht und es stellt sich die Frage, ob die Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt nicht sowohl aus Sicht des Individuums als auch der Aufnahmestaaten zu befriedigenderen Ergebnissen führt. Das gemäße und vertraute Recht ist nicht zwingend das der Staatsangehörigkeit, sodass auch die Privatinteressen konform mit der beschriebenen Entwicklung im Kollisionsrecht gehen können. Gleichzeitig kann der gewöhnliche Aufenthalt als Mittel der Integration dienen. 636 Der gewöhnliche Aufenthalt kann im Ergebnis sowohl Ausdruck des Verkehrs- als auch Parteiinteresses sein; es kommt auf die Perspektive an. Dies wird gerade im Flüchtlingskontext noch bestätigt. Auch angesichts der Migrationsbewegungen der letzten Jahre, der Freizügigkeit im europäischen Rechtsraum und der damit einhergehenden Zunahme postmoderner Lebensformen verliert die Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit zunehmend an Legitimation. 637 So ist mindestens bei einem dauerhaften Aufenthaltstitel auch eine dauerhafte Aufenthaltsnahme im Inland zu erwarten. Aber auch je länger eine Duldung oder ein illegaler Aufenthalt andauern, desto stärker verfestigt sich der (gewöhnliche) Aufenthalt und desto größer wird die Distanz zum eigentliche n Heimatland.638 Dies legt den Schluss nahe, dass die engste Verbindung dieser Personen zu einer Rechtsordnung nicht in ihrer Heimatverbundenheit sondern vielmehr in ihrer Umweltbezogenheit zu suchen ist. Die Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt ist daher vor allem auch notwendige Konsequenz für die Integration der Migranten in die wirtschaftlichen, sozialen und kultu633
Hierzu nunmehr aber Rentsch, Der gewöhnliche Aufenthalt im System des Europäischen Kollisionsrechts, 2017. 634 Mansel, in: Nolte u.a. (Hrsg.), Pluralistische Gesellschaften und Internationales Recht, 2008, S. 137, 166. 635 Ähnlich Rentsch, Der gewöhnliche Aufenthalt im System des Europäischen Kollisionsrechts, 2017, S. 78. 636 Rohe, FS Rothoeft, 1994, 1, 27. 637 Rentsch, ZEuP 2015, 288, 290; Rohe, FS Rothoeft, 1994, 1, 3. 638 Mankowski, IPRax 2017, 40, 45 f.
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Zweiter Teil: Migration als Herausforderung für das IPR
rellen Lebensverhältnisse in Deutschland. 639 Gleichzeitig können durch die einheitliche Rechtsgeltung auch Vorbehalte in der Bevölkerung und mögliche Diskriminierungen vermieden werden. 640 Mit der Einführung des gewöhnlichen Aufenthalts als grundsätzliches Anknüpfungsmoment könnte man damit auch das Personalstatut insgesamt reformieren, indem dessen eng benachbarte Rechtsgebiete sich nach dem gleichen Sachrecht beurteilen. Die persönlichen Rechtsfragen würden einheitlich geregelt, was insbesondere bei multinationalen Familien wünschenswert ist.641 Dies würde auch zu einem Gleichlauf des anwendbaren Rechts im Privatrecht und der Zuständigkeit im Personenstandsrecht führen. 642 So sind die deutschen Behörden unabhängig von der Staatsangehörigkeit einer Person ohnehin für Personenstandsfälle im Inland zuständig (z.B. Eheschließungen, Begründung von Lebenspartnerschaften, Geburten und Sterbefälle). 643 Ferner würden die Abgrenzungsschwierigkeiten hinsichtlich der verschiedenen Elemente innerhalb des Personalstatuts minimiert. 644 Mit den Reformvorschlägen insbesondere hinsichtlich Art. 13 EGBGB und der Neufassung von Art. 14 EGBGB durch das „Gesetz zum Internationalen Güterrecht und zur Änderung von Vorschriften des Internationalen Privatrechts vom 17. Dezember 2018“645 geht die gegenwärtige Entwicklung auch stark in diese Richtung. Im Ergebnis erscheint die Differenzierung innerhalb der Flüchtlinge im weiteren Sinne somit nicht gerechtfertigt, sodass für die persönlichen Rechtsverhältnisse von Flüchtlingen unabhängig von ihrem asyl- und ausländerrechtlichen Status der Wechsel zur Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt wünschenswert ist. Jedenfalls bei subsidiär Schutzberechtigten stellt die mit der RL 2011/95/EU bezweckte Gleichstellung ein starkes Argument dar. Die Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt bietet insgesamt eine höhere Flexibilität und Einzelfallgerechtigkeit als die starre Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit. 646 Es streiten somit die entscheidenden Argumente für einen Wandel hin zum gewöhnlichen Aufenthalt als primärem Anknüpfungspunkt beim Personalstatut.
639
v. Hein, in: Juristische Studiengesellschaft Jahresband, 2018, S. 29, 34 f. Rohe, FS Rothoeft, 1994, 1, 27 f. 641 Dutta, IPRax 2017, 139, 144; Rentsch, ZEuP 2015, 288, 294. 642 Vgl. § 1 PStG sowie zu den sich stellenden Problemen im Rahmen des Personenstandsrechts vgl. Budzikiewicz, StAZ 2017, 289 ff. 643 Dutta, IPRax 2017, 139, 143. 644 Dutta, IPRax 2017, 139, 144. 645 BGBl. I 2018 S. 2573, in Kraft getreten am 29.1.2019. 646 Baetge, FS Kropholler, 2008, S. 77, 82; vgl. ähnlich die Thesen von Mankowski, IPRax 2017, 130, 139. 640
6. Kapitel: Thesen im Rahmen des Personalstatuts
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II. Berücksichtigung der kulturellen Identität Der Wechsel hin zur Aufenthaltsanknüpfung führt in Zeiten zunehmender Mobilität und Migration zur Wandelbarkeit des Personalstatuts und damit zu einem häufigeren Statutenwechsel, der für die Betroffenen möglicherweise unerwünscht ist. Ist im Fluchtkontext der Aufenthaltsort beispielsweise als vorübergehende Zufluchtsstätte gedacht und hoffen die Flüchtlinge auf eine baldige Rückkehr in ihren Herkunftsstaat, kann die Aufenthaltsanknüpfung in Konflikt mit der kulturellen Identität der Migranten und ihrem Vertrauen in die bekannte Heimatrechtsordnung geraten.647 Zudem muss das Heimatrecht nicht zwingend die gegenwärtige politische Haltung des Verfolgerstaates widerspiegeln, vor der der Flüchtling nach der GFK geschützt werden soll. Vielmehr kann gerade das die persönlichen Rechtsfragen betreffende Recht stark traditionell und religiös geprägt und politisch unbeeinflusst sein. 648 Bei der Rückkehr in das Heimatland kann es dann sogar zu einem doppelten Statutenwechsel kommen, der die Kontinuität und Rechtssicherheit für die Betroffenen beeinträchtigt. Der Konflikt entsteht hier letztlich zwischen rechtspolitischen Erwägungen und Privatinteressen. So bezweckt die Aufenthaltsanknüpfung vor allem auch die Integration als innenpolitisches Ziel und die Vereinfachung der Rechtsanwendung und damit Schonung der Ressourcen der Justiz, während die Parteiinteressen des Einzelnen unter Umständen unberücksichtigt bleiben. 649 Das moderne IPR kennt jedoch Instrumente wie die Rechtswahl und Ausweichklausel auf der Kollisionsrechtsebene sowie Substitution, Anpassung und Datumtheorie auf der Sachrechtsebene, um die widerstreitenden Interessen in Ausgleich zu bringen und die mögliche Identifikation der Betroffenen mit ihrem Heimatrecht zu berücksichtigen. 650 Die These ist daher aufgrund des beschriebenen Spannungsverhältnisses nicht insgesamt in Frage zu stellen, wie im Folgenden gezeigt wird. Als Einstieg wird kurz der Begriff der kulturellen Identität näher umrissen und ein Recht auf Achtung der kulturellen Identität diskutiert (dazu 1.). Sodann werden die Methoden der Berücksichtigung auf der Ebene des Kollisionsrechts (dazu 2.) und des Sachrechts (dazu 3.) erläutert. Abschließend wird auf die Grenzen der Berücksichtigung der kulturellen Identität eingegangen (dazu 4.).
647
Zur Durchbrechung der Anknüpfungskontinuität Weller, IPRax 2014, 225, 226 f.; kritisch zu dieser Entwicklung Jayme, IPRax 2000, 165, 166. 648 Vgl. Lass, Der Flüchtling im IPR, 1995, S. 7. 649 Zu diesem Konflikt Weller, Liber Amicorum Erik Jayme, 2019, 53, 63 ff. 650 Jayme, IPRax 1996, 237, 242; Weller, IPRax 2014, 225; Weller, Liber Amicorum Erik Jayme, 2019, 53, 56, 66 ff.
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1. Begriff Der Begriff der kulturellen Identität wird im Kollisionsrecht seit den 90erJahren verwendet und wurde vor allem durch die Arbeiten von Erik Jayme geprägt.651 Eine prägnante Bestimmung des Begriffes erwies sich bisher als schwierig.652 Jayme definiert die kulturelle Identität als „Rückbesinnung auf die eigene Sprache, Geschichte, Tradition“ bzw. „Lebensstil, Sprache, Religion und die Kunst als [ihre] äußere Ausdrucksformen, welche durch ein Bewusstsein oder auch durch Gefühle der Menschen zusammengehalten werden.“653 Nach Heinz-Peter Mansel „[...] kann man [...] unter kultureller Identität das (mehr oder weniger bewusste) Selbstverständnis einer Person verstehen, einer Gruppe anzugehören, deren Mitglieder sich von anderen Gruppen durch sozial erworbene Faktoren wie Sprache, Religion oder Weltanschauungen, Traditionen, Sitten und Gebräuche sowie anderen geistigen Faktoren unterscheiden.“654 Die kulturelle Identität einer Person umfasst einen Lernprozess, der unter steter Entwicklung steht und von tatsächlichen Faktoren z.B. Wechsel der Umwelt nicht unbeeinflusst bleibt. 655 Dies zeigt sich insbesondere in der gegenwärtigen Phase der Postmoderne, in der die Individuen sich bedingt durch ihr Nomadentum („nomadisme“) statt einer Nation vielmehr einer bestimmten Gruppe zugehörig fühlen, sog. „tribalisme“.656 Insgesamt ist die kulturelle Identität auch aus rechtlicher Sicht als schützenswert einzustufen, wobei Kinder eine eigene kulturelle Identität entwickeln, wie auch aus Art. 30 UN-KRK657 hervorgeht.658 Es stellt sich die Frage, ob es auch ein Recht auf Achtung der kulturellen Identität gibt, das den
651 Jayme, RdC 251 (1995), 13, 56 bezeichnet die kulturelle Identität als Ausdruck eines droit postmoderne. 652 Mansel, in: Nolte u.a. (Hrsg.), Pluralistische Gesellschaften und Internationales Recht, 2008, S. 137, 143; Nishitani, RdC 401 (2019), 143, 219 ff. 653 Definition wörtlich übernommen aus Jayme, in: ders. (Hrsg.), Kulturelle Identität und Internationales Privatrecht, 2003, S. 5, 7. 654 Definition wörtlich übernommen aus Mansel, in: Nolte u.a. (Hrsg.), Pluralistische Gesellschaften und Internationales Recht, 2008, S. 137, 144 655 Mansel, in: Nolte u.a. (Hrsg.), Pluralistische Gesellschaften und Internationales Recht, 2008, S. 137, 144; Weller, IPRax 2014, 225, 227. 656 Der Begriff des „tribalisme“ wurde ebenso wie der des „nomadisme“ durch den französischen Soziologen Michel Maffesoli geprägt, siehe insb. Maffesoli, Zeit kehrt wieder, 2014, S. 68 ff. Zum „tribalisme“ im IPR siehe Jayme, Zugehörigkeit und kulturelle Identität, 2012, S. 31 ff.; Weller, Liber Amicorum Erik Jayme, 2019, 53, 64 f. 657 „In Staaten, in denen es ethnische, religiöse oder sprachliche Minderheiten oder Ureinwohner gibt, darf einem Kind, das einer solchen Minderheit angehört oder Ureinwohner ist, nicht das Recht vorenthalten werden, in Gemeinschaft mit anderen Angehörigen seiner Gruppe seine eigene Kultur zu pflegen, sich zu seiner eigenen Religion zu bekennen und sie auszuüben oder seine eigene Sprache zu verwenden.“ 658 Jayme, IPRax 1996, 237 f.
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Staat zu einem ähnlichen Schutz wie dem der Grundrechte verpflichtet. 659 Dafür wird die „Erklärung der UNESCO Generalversammlung zur kulturellen Vielfalt vom 22. November 2001“ und die Präambel der Charta der Grundrechte der EU angeführt, nach der die Union die Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen achtet. Damit ist jedoch eher eine kollektive Verpflichtung der EU gemeint und kein subjektives Recht begründet. 660 Auch Art. 8 EMRK und den Art. 1, 2, und 4 GG liegt ein kollektives Konzept zugrunde, das zwar darauf abzielt, die Belange von Minderheiten, nicht aber von konkreten Individuen zu berücksichtigen. 661 Einfachgesetzlich spricht auch § 43 Abs. 1 AufenthG gegen ein Recht auf Achtung der kulturellen Identität, der besagt: „Die Integration von rechtmäßig auf Dauer im Bundesgebiet lebenden Ausländern in das wirtschaftliche, kulturelle und gesellschaftliche Leben in der Bundesrepublik Deutschland wird gefördert und gefordert.“ 662
Dennoch spielt die kulturelle Identität als Teil der genannten Rechte bei deren Konkretisierung eine wichtige Rolle. 663 Auch ein aus Art. 3 GG abgeleitetes droit à la différence wird diskutiert, nach dem kulturelle Unterschiede durch den Gesetzgeber und Rechtsanwender berücksichtigt werden müssen und nicht pauschal auf inländisches Recht zurückgegriffen werden darf. 664 Ob diese ein durchsetzbares subjektives Recht darstellen, kann offenbleiben, da die kulturelle Identität gerade das Familienrecht stark prägt und daher jedenfalls in der Abwägung bei der Bildung von Kollisionsnormen und auf Sachrechtsebene bei der Auslegung von Generalklauseln zu berücksichtigen ist. 665
659
Dafür Jayme, Menschenrechte und Theorie des IPR, Gesammelte Schriften Bd. III, 2003, S. 95, 97; kritisch v. Hein, in: Juristische Studiengesellschaft Jahresband, 2018, S. 29, 47 f.; Mansel, in: Nolte u.a. (Hrsg.), Pluralistische Gesellschaften und Internationales Recht, 2008, S. 137, 147 f.; zum Ganzen Nishitani, RdC 401 (2019), 143, 220 f., 228 ff. 660 Mansel, in: Nolte u.a. (Hrsg.), Pluralistische Gesellschaften und Internationales Recht, 2008, S. 137, 146. 661 Mansel, in: Nolte u.a. (Hrsg.), Pluralistische Gesellschaften und Internationales Recht, 2008, S. 137, 146 f. 662 Vgl. dazu v. Hein, in: Juristische Studiengesellschaft Jahresband, 2018, S. 29, 45 f. 663 Mansel, in: Nolte u.a. (Hrsg.), Pluralistische Gesellschaften und Internationales Recht, 2008, S. 137, 147. 664 Mansel, in: Nolte u.a. (Hrsg.), Pluralistische Gesellschaften und Internationales Recht, 2008, S. 137, 148; Nishitani, RdC 401 (2019), 143, 231 ff. 665 Mansel, in: Nolte u.a., Pluralistische Gesellschaften und Internationales Recht, 2008, S. 137, 149 f.; Weller, IPRax 2014, 225, 228; ähnlich v. Hein, in: Juristische Studiengesellschaft Jahresband, 2018, S. 29, 46; zum Ganzen ausführlich Nishitani, RdC 401 (2019), 143, 228 ff.
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2. Kollisionsrechtliche Ebene a) Rechtswahlfreiheit aa) Bedeutung für das Personalstatut Insbesondere im Internationalen Familienrecht sollte der subjektiven Anknüpfung bei der Entwicklung des Kollisionsrechts besondere Aufmerksamkeit beigemessen werden. 666 Gerade in diesem Bereich ist, wie erläutert, das Konfliktpotential aus gegenläufigen privaten Interessen und staatlichen Ordnungsinteressen im Bereich der objektiven Anknüpfung sehr hoch. Die Möglichkeit der Betroffenen, ihr Heimatrecht zu wählen und so ihrem Kontinuitätsinteresse und ihrer kulturellen Identität Rechnung zu tragen, kann eine gesetzgeberische Grundentscheidung für den gewöhnlichen Aufenthalt als Idealtypisierung im Migrationskontext abmildern. 667 Denn wie bereits ausgeführt, gibt es durchaus Fälle, in denen die Flüchtlinge den Aufenthaltsort nur als vorübergehende Zufluchtsstätte sehen und die Heimat- die Umweltbezogenheit auch bei längerer Verweildauer überwiegt. 668 Und auch unabhängig vom Fluchtkontext mag es Migranten geben, die sich noch ihrem Ursprungsland verbunden fühlen. 669 Streng genommen haben diese Personen schon keinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland. Denn misst man dem Willen der Person bei Begründung des gewöhnlichen Aufenthalts entscheidende Bedeutung zu, dann überwiegt der animus revertendi und auch als Aufenthaltsrecht gilt weiterhin das Heimatrecht. 670 Da das subjektive Element der Aufenthaltsanknüpfung aber umstritten ist, erscheint ein ausdrückliches Wahlrecht dennoch vorzugswürdig. 671 Auch das Institut de Droit International empfiehlt die Einführung eines Wahlrechts im Migrationskontext und hat auf seiner 72. Tagung eine Resolution über die Différences culturelles et ordre public en droit international privé de la famille verabschiedet, die ein Wahlrecht zwischen Staatsangehörigkeit und domicile vorsieht.672 Die Ausweitung der Rechtswahlfreiheit für Flüchtlinge ist ferner ebenso wie die objektive Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt konform mit der Entwicklung im europäisch vereinheitlich-
666
Dazu insgesamt Nishitani, RdC 401 (2019), 143, 262 ff. Budzikiewicz, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinkhammer/Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 95, 117 f.; Nishitani, RdC 401 (2019), 143, 268; Rohe, FS Rothoeft, 1994, 1, 33 ff.; Weller, Liber Amicorum Erik Jayme, 2019, 53, 65. 668 Vgl. Schulze, in: Nomos Kommentar, BGB, 2016, Art. 5 EGBGB Anh. II Rn. 3. 669 Vgl. Jayme, Zugehörigkeit und kulturelle Identität, 2012, S. 32. 670 Mankowski, IPRax 2017, 40, 45; Weller, DGIR 2018, 247, 250. 671 Vgl. zur Begriffsbestimmung 2. Teil, 4. Kap., A.II.; zum Wechselspiel zwischen Parteiautonomie und Aufenthaltsanknüpfung Weller, FS Coester-Waltjen, 2015, 897, 907 f. 672 Abgedruckt in IPRax 2005, 559, 560 sowie dazu Jayme, IPRax 2005, 560 f. 667
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ten Familien- und Erbrecht.673 Hier wurde die Möglichkeit einer Rechtswahl in den Instrumenten wie der Rom III-VO, dem HUP und der EuErbVO implementiert.674 Zur Stärkung der Parteiautonomie gehört neben der Rechtswahl auch die sonstige Selbstbestimmung in persönlichen Rechtsfragen. Der EuGH hat in seinem Urteil Garcia der Selbstbestimmung hinsichtlich des Identitätsmerkmals des Namens eine hohe Bedeutung beigemessen und entschieden, dass ein spanischer Doppelname in Belgien anzuerkennen ist. 675 Bemerkenswert an der Entscheidung ist vor allem, dass die Argumentation des EuGH nicht an den objektiven Indizien des gewöhnlichen Aufenthalts, wie z.B. dem Geburtsort des Betroffenen und dem Aufenthaltsort seiner Familie, sondern subjektiv ausgerichtet war. 676 Entscheidend für den Gerichtshof waren vielmehr der Wille des Namensträgers und seine persönliche Identifizierung mit dem Staat Spanien. 677 Auch aus verfassungsrechtlicher Sicht erscheint die Stärkung des Parteiwillens wünschenswert. So hat das BVerfG in seiner Transsexuellen-Entscheidung die interkulturelle Selbstwahrnehmung einer Person betont und das Verfahren zur Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit nach dem deutschen Transsexuellengesetz auch auf Ausländer mit gewöhnlichem Aufenthalt im Inland für anwendbar erklärt. 678 Ausgeprägt sei die Geschlechtszugehörigkeit und die damit verbundene persönliche Identität vor allem dort, wo die Person lebt. Andernfalls kann das Allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG verletzt sein, vor allem wenn der Heimatstaat die Anerkennung der Transsexualität ablehnt und die Betroffenen ihren dauerhaften Aufenthalt im Inland haben. Ähnlich wie der EuGH misst auch das BVerfG der willentlichen Zuwendung des Antragstellers zum deutschen Grundrechtsschutz und zum Aufenthaltsstaat im Gegensatz zum Heimatstaat entscheidende Bedeutung bei.
673
Heiderhoff, IPRax 2017, 160, 165 und eine zunehmende Parteiautonomie im Familien- und Erbrecht generell beobachtend Jayme, RdC 251 (1995), 13, 54 f. sowie diesen Gedanken fortführend Nishitani, RdC 401 (2019), 143, 264 ff. 674 Beispiele für die Rechtswahl sind im Erbrecht Art. 22 EuErbVO, im Scheidungsrecht Art. 5 ff. Rom II-VO, im Unterhaltsrecht Art. 4 EuUnthVO und Art. 7 f. HUP, im Kindschaftsrecht Art. 12 EuEheVO sowie im Güterrecht Art. 22 EuGüVO. 675 EuGH, Urteil v. 2.10.2003 – Rs. C-148/02, Garcia Avello ./. Belgischer Staat, BeckRS 2004, 74436. 676 Siehe dazu auch Nishitani, RdC 401 (2019), 143, 265 f. 677 Mansel, in: Nolte u.a., Pluralistische Gesellschaften und Internationales Recht, 2008, S. 137, 155 f. 678 Sog. „Transsexuellen-Entscheidung“ vgl. BVerfG, Beschluss v. 18.7.2006 – 1 BvL 1/04, 1 BvL 12/04, IPRax 2007, 217.
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Zweiter Teil: Migration als Herausforderung für das IPR
bb) Vereinbarkeit mit der GFK Lehnt man wie hier eine telelogische Reduktion bzw. ein Günstigkeitsprinzip in objektiver Hinsicht ab 679, stellt sich die Folgefrage, ob sich die dadurch zu erzielenden Ergebnisse dennoch durch eine Rechtswahl verwirklichen lassen. Fraglich ist, ob entsprechend des Sinns und Zwecks des Art. 12 Abs. 1 GFK, dass nicht mehr das Recht des Verfolgerstaates Anwendung finden soll, die Norm auch bei subjektiven Anknüpfungen modifizierend wirken sollte. Zwar haben Flüchtlinge und Staatenlose bei der Rechtswahl ohnehin weniger Optionen, da der gewöhnliche Aufenthalt oft schon die objektive Anknüpfung darstellt. Dennoch kann man durch die Wahl des gewöhnlichen Aufenthalts den renvoi ausschließen und den Zeitpunkt der Anknüpfung wählen. Wenn zwei Personen beteiligt sind, kann zudem die Wahl des gewöhnlichen Aufenthalts nur einer Person eine weitere Option darstellen.680 Ein Beispiel hierfür stellt Art. 5 Rom III-VO dar, der die Wahl des auf die Scheidung anwendbaren Rechts zulässt. Neben der Wahlmöglichkeit des aktuellen oder letzten gemeinsamen Aufenthalts nach Art. 5 Abs. 1 lit. a) und b) Rom III-VO können die Ehegatten das Recht der Staatsangehörigkeit eines der Ehegatten wählen, Art. 5 Abs. 1 lit. c) Rom III-VO.681 In diesem Zusammenhang wird vorgeschlagen, dass die Ehegatten im Rahmen des Art. 12 GFK statt der letzten Optierungsmöglichkeit das Recht des gewöhnlichen Aufenthalts eines der Ehegatten wählen können sollten und Art. 5 Rom III-VO entsprechend teleologisch reduziert werden könnte. 682 Insgesamt spricht vieles dafür, sogar eine vollumfängliche Rechtswahl auch des Heimatrechts von Flüchtlingen im Rahmen von Art. 12 Abs. 1 GFK für zulässig zu halten. 683 So ist die Parteiautonomie im Europäischen Kollisionsrecht immer wichtiger geworden. Insbesondere im Rahmen des auf die 679
Siehe 4. Kap., D.II. Mankowski, in: Leible (Hrsg.), General Principles of European Private International Law, 2016, S. 189, 205 f. 681 „Die Ehegatten können das auf die Ehescheidung oder die Trennung ohne Auflösung des Ehebandes anzuwendende Recht durch Vereinbarung bestimmen, sofern es sich dabei um das Recht eines der folgenden Staaten handelt: [...]das Recht des Staates, dessen Staatsangehörigkeit einer der Ehegatten zum Zeitpunkt der Rechtswahl besitzt, [...]“. 682 Vgl. ähnlich Lugani, in: Nomos Kommentar, BGB, 2019, Art. 5 Rom III-VO Rn. 62. 683 Arnold, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinkhammer/Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 25, 53 f.; im Ergebnis für ein Wahlrecht für Konventionsflüchtlinge auch Budzikiewicz, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinkhammer/NiethammerJürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 95, 117 f.; v. Hein, in: Juristische Studiengesellschaft Jahresband, 2018, S. 29, 38; im Namensrecht Budzikiewicz, StAZ 2017, 289, 297; ablehnend insbesondere für Art. 5 Abs. 1 lit. c) Rom III-VO bei Flüchtlingseigenschaft beider Ehegatten aber Niethammer-Jürgens, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/ Klinkhammer/Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 119, 125 f. und 128 f., die sogar die Rechtswahlmöglichkeit für subsidiär Schutzberechtigte ausschließt. 680
6. Kapitel: Thesen im Rahmen des Personalstatuts
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Scheidung anwendbaren Rechts in der Rom III-VO stellt die Rechtswahl ein Herzstück dar. Selbst Mehrstaater dürfen im Rahmen von Art. 5 Abs. 1 lit. c) Rom III-VO die „nicht effektive“ Staatsangehörigkeit wählen. Würde man Flüchtlingen nicht die Wahl des Heimatrechts gestatten, würde dies eine Schlechterstellung des Flüchtlings gegenüber anderen Ausländern bedeuten, die nicht durch die Zielsetzung der GFK gerechtfertigt ist. 684 Vielmehr gebührt der Parteiautonomie schon vor dem Hintergrund der Vorrang, dass die Flüchtlinge aus Sicht des Familienrechts nicht mit ihrem Heimatrecht „verfeindet“ sind. Auch führt die Anwendbarkeit des Heimatsrechts zu einer höheren Anerkennungswahrscheinlichkeit bei möglicher Rückkehr. Bei Kindern treffen die Rechtswahl im Übrigen die Inhaber der elterlichen Sorge. Die Möglichkeit der Wahl des Heimatrechts ist von einer Vereinbarkeit mit dem Kindeswohl abhängig, das im Einzelfall die Gleichstellung mit inländischen Kindern gebieten kann. 685 cc) Schwierigkeiten der praktischen Umsetzung Auch wenn man die Möglichkeit einer Rechtswahl mit den genannten Argumenten bejaht, stellt sich die Frage nach der technischen Umsetzung. Eine Rechtswahl kann rechtstechnisch entweder unmittelbar oder auch mittelbar durch Wahl des Gerichtsstandes erfolgen. 686 Gründe für eine Rechtswahl sind aus Sicht der Parteien vor allem eine besondere Verbundenheit zu dem gewählten Recht oder das Erreichen eines bestimmten materiellen Ziels. Aber auch die vereinfachte Rechtsanwendung durch das Gericht kann von den Parteien bezweckt werden. 687 Um die Rechtswahlmöglichkeit auch hinsichtlich der Rechtssicherheit und der Vorhersehbarkeit des anwendbaren Rechts aller Beteiligten sicherzustellen, sind daher einige Beschränkungen vorzunehmen. So sind zunächst die Vorgaben aus den verschiedenen Rechtsgebieten und die Beschränkungen der jeweiligen Kollisionsnormen, bei denen Art. 12 Abs. 1 GFK modifizierend wirkt, zu übernehmen. Insbesondere die gemeinsame Verbindung der Parteien zu einer Rechtsordnung bei Fragen der Scheidung und des Unterhalts, der
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Arnold, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinkhammer/Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 25, 53 f. 685 Mansel, in: Nolte u.a., Pluralistische Gesellschaften und Internationales Recht, 2008, S. 137, 177. 686 Vgl. Gruber, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinkhammer/Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 169, 171 ff. 687 Zum Ganzen vgl. Gruber, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinkhammer/NiethammerJürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 169, 173 ff.
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Zweiter Teil: Migration als Herausforderung für das IPR
Zeitpunkt der Rechtswahl und die Form. 688 Andernfalls würde für Flüchtlinge ein Sonderkollisionsrecht im Bereich der Rechtswahl geschaffen, das die Rechtsanwendung erheblich erschwert und ihre Vorhersehbarkeit unangemessen einschränkt. Dies liefe dem Bestreben dieser Arbeit, diesen Bereich gerade zu systematisieren und vereinfachen zu wollen, zuwider. Auch hinsichtlich einer Rechtswahlmöglichkeit, die speziell für Flüchtlinge de lege ferenda geschaffen werden könnte, sind Einschränkungen zu machen. Denn die Notwendigkeit einer Rechtswahl ergibt sich vor allem aus der Annahme, dass die Aufenthaltsanknüpfung der rechtskulturellen Verbundenheit des Flüchtlings mit seinem Heimatrecht zuwiderlaufen kann. Vor diesem Hintergrund sollte eine Rechtswahlmöglichkeit auf eine mögliche alternative Rechtsordnung beschränkt sein, nämlich die der Staatsangehörigkeit. Hinsichtlich des Wahlrechts der betroffenen Person gilt es bei der praktischen Umsetzung jedoch einige Schwierigkeiten zu berücksichtigen. Unklar ist, ob die Schutzmigranten allgemein für jede Gelegenheit das auf ihr Personalstatut anwendbare Recht oder das Recht vielmehr anlassbezogen wählen, wie zum Beispiel im Vorfeld einer geplanten Eheschließung. Auch ist fraglich, ob eine solche Wahl unter bestimmten Umständen abänderbar ist, zum Beispiel, wenn die Migranten in einen anderen Mitgliedstaat umziehen. 689 Im Rahmen der Rechtswahlfreiheit droht die Gefahr, dass den Betroffenen die Informiertheit über ihre rechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten fehlt.690 Im Fall der Flüchtlinge könnte man dem vorbeugen, indem die Asyl- und Ausländerbehörden bei der Antragstellung auf diese Möglichkeit im Privatrecht und ihre Auswirkungen hinweisen beziehungsweise bei näherem Interesse an Fachanwälte für Familien- und Erbrecht weitervermitteln.691 b) Unwandelbarkeit des Personalstatuts Auch im Bereich der objektiven Anknüpfung kann die kulturelle Identität berücksichtigt werden. Anstatt das Personalstatut wandelbar zu gestalten und stets auf den Zeitpunkt der Beurteilung abzustellen, könnte das maßgebliche Aufenthaltsmoment auf einen bestimmten Zeitpunkt fixiert werden z.B. auf den ersten oder letzten gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalt der Ehegat-
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Vgl. zu den Wirksamkeitsvoraussetzungen einer Rechtswahl im Familien- und Erbrecht Gruber, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinkhammer/Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 169, 175 f. 689 Vgl. für diese Bedenken Mankowski, in: Leible (Hrsg.), General Principles of European Private International Law, 2016, S. 202. 690 Nishitani, RdC 401 (2019), 143, 268 f. 691 Rohe, FS Rothoeft, 1994, 1, 38; zu den Risiken einer Rechtswahl, die anwaltliche Beratung erfordern vgl. Gruber, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinghammer/NiethammerJürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 169, 175 ff.
6. Kapitel: Thesen im Rahmen des Personalstatuts
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ten.692 Dies bietet sich schon wegen des Schutzes wohlerworbener Rechte bei schon abgeschlossenen Sachverhaltselementen wie etwa der Eheschließung an und erhöht dadurch auch die Rechtssicherheit für die Betroffenen. Im dynamischen Bereich der Ehewirkungen hingegen sollte es auf den Zeitpunkt der Beurteilung ankommen, da diese durch eine veränderte Umwelt mitgeprägt werden. 693 Als Vorbild für alle Migranten kann insoweit Art. 12 Abs. 2 S. 1 GFK dienen. c) Prinzip der engsten Verbindung Um die Tatsache zu berücksichtigen, dass die Betroffenen im Einzelfall ersichtlich enger mit ihrem Heimatstaat als Aufenthaltsstaat verbunden sind, bietet sich auch eine richterrechtliche Ausweichklausel oder teleologische Reduktion an, um dem Prinzip der engsten Verbindung Rechnung zu tragen. 694 Auch hier bleibt letztlich aber der Wille des Betroffenen entscheidend, sodass sein Tatsachenvortrag eindeutig in die Richtung des Heimatrechts weisen muss. 3. Sachrechtsebene Auch auf der Sachrechtsebene kann die kulturelle Identität, zum Beispiel bei der Auslegung von Generalklauseln, berücksichtigt werden. 695 Dies gilt gerade für religiöses Recht, da das klassische IPR wegen der fehlenden kollisionsrechtlichen Erfassung religiösen Rechts nicht dazu geeignet ist, Kollisionen zwischen staatlichem und religiösem Recht zu lösen. 696 Um den Besonderheiten des Auslandssachverhalts nicht nur durch die Anwendung von Kollisionsnormen (1. Stufe) sondern auch auf der Ebene des anwendbaren nationalen Rechts (2. Stufe) Rechnung zu tragen, bietet sich insbesondere die Datumtheorie an. Sie wurde ursprünglich in den USA erdacht und im deutschen Rechtsraum von Erik Jayme weiterentwickelt. 697 Nach der Datumtheorie kann ausländisches Recht als schlichtes Faktum auf der Sachrechtsebene berücksichtigt werden. Zu den Fakten gehören zum Beispiel ortsgebundene Sorgfalts- und Verhaltensstandards (sog. local data), die unabhängig vom Statut Anwendung finden und ausländische Rechts-,
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Vorbild hierfür ist das Europäische Kollisionsrecht, vgl. Schwemmer, Anknüpfungsprinzipien im Europäischen Kollisionsrecht, 2018, S. 75. 693 Vgl. zum Ganzen Weller, IPRax 2014, 225, 228 f. m.w.N. 694 Mansel, in: Nolte u.a., Pluralistische Gesellschaften und Internationales Recht, 2008, S. 137, 178; Weller, IPRax 2014, 225, 228 f. 695 Weller, IPRax 2014, 225, 229. 696 Mansel, in: Nolte u.a., Pluralistische Gesellschaften und Internationales Recht, 2008, S. 137, 204; Nishitani, RdC 401 (2019), 143, 271 ff. 697 Zu den Einzelheiten vgl. Weller, Liber Amicorum Erik Jayme, 2019, 53, 69 ff.
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Zweiter Teil: Migration als Herausforderung für das IPR
Kultur- und Moralvorstellungen (sog. moral data).698 Voraussetzung für die Anwendbarkeit ist allerdings die Offenheit der Sachnorm, sodass sich vor allem Generalklauseln eignen. Zudem ist vorab zu prüfen, ob das zu berücksichtigende Faktum mit den berührten Ordnungs- und Verkehrsinteressen und den materiellen Wertungen hinter den Kollisionsnormen in Widerspruch geraten kann.699 Gerade im Flüchtlingskontext könnte der Zweck des Art. 12 GFK, den Flüchtling vor der Anwendung des Heimatrechts zu schützen, auch durch die Berücksichtigung diskriminierender local oder moral data konterkariert werden. Zudem ist eine gewisse Auslandsnähe der Betroffenen als Rechtfertigung zu berücksichtigen. 700 Zu beachten ist ferner, dass die ausländischen Fakten nur der Konkretisierung des Tatbestands dienen, während das anwendbare Recht die Rechtsfolge bestimmt. 701 An der Datumtheorie wird vereinzelt kritisiert, dass sie einen Methodenmix darstelle. 702 Vielmehr aber handelt es sich um ein geordnetes Nacheinander der Methoden, dessen sich sogar der europäische Gesetzgeber in Art. 10 Abs. 2 Rom I-VO und Art. 17 Rom II-VO bedient. Auch die Rechtsprechung handhabt entsprechende Fälle schon auf die beschriebene Weise, nur ohne die Datumtheorie ausdrücklich zu nennen. 703 Zum Beispiel werden die ausländische Kaufkraft und die ausländischen Lebenshaltungskosten bei der Unterhaltsbemessung berücksichtigt. 704 Andersherum können auch im Rahmen eines ausländischen Deliktsstatuts deutsche local data etwa im Rahmen der Ermessensausübung bei der Bemessung des Schmerzensgelds durch das deutsche Gericht berücksichtigt werden. 705 4. Grenzen a) Ordre public Im Detail soll auf Fragen im Kontext des ordre public im vierten Teil der Dissertation eingegangen werden. An dieser Stelle sei aber verdeutlicht, dass er die Grenze der Berücksichtigung des anwendbaren ausländischen Rechts 698
Nishitani, RdC 401 (2019), 143, 273 ff.; Weller, IPRax 2014, 225, 229 f. Mansel, in: Nolte u.a., Pluralistische Gesellschaften und Internationales Recht, 2008, S. 137, 207; Weller, IPRax 2014, 225, 230; ders., Liber Amicorum Erik Jayme, 2019, 53, 75 ff. 700 Weller, Liber Amicorum Erik Jayme, 2019, 53, 73 f. 701 Weller, IPRax 2014, 225, 230; ders., Liber Amicorum Erik Jayme, 2019, 53, 78. 702 Sonnenberger, in MünchKommBGB, 2010, Einl. IPR Rn. 608; ähnlich Schurig, Kollisionsrecht und Sachrecht, 1981, S. 45; vgl. auch Pfeiffer, Liber Amicorum Schurig, 2012, 229, 234 ff. 703 Weller, IPRax 2014, 225, 231. 704 Vgl. OLG Oldenburg, Urteil v. 19.10.2012 – 11 UF 55/12, juris. 705 LG Stuttgart, Urteil v. 8.4.2013 – 27 O 218/09, juris Rn. 88 ff.; sowie erläuternd Weller, Liber Amicorum Erik Jayme, 2019, 53, 57. 699
6. Kapitel: Thesen im Rahmen des Personalstatuts
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darstellt, auch wenn dieses die kulturelle Identität der Betroffenen ausdrückt. Die Begründung der Anwendung unter Umständen diskriminierenden fremden Rechts mit der kulturellen Identität oder eine Rechtswahl sind im Falle eines Verstoßes daher nicht möglich. So hat der BGH entschieden, dass die Unscheidbarkeit der Ehe nach kanonischem Recht mit dem deutschen ordre public nicht vereinbar ist.706 Das OLG Karlsruhe hatte als Vorinstanz den ordre public-Verstoß noch wegen der kulturellen Identität und der engen Beziehung des Ehepaars zu ihrem Heimatland verneint. 707 Der BGH stellte indes klar, dass das deutsche Scheidungsrecht als wesentlicher Bestandteil der inländischen Werteordnung angesehen werden müsse, da das Grundrecht der Eheschließungsfreiheit aus Art. 6 Abs. 1 GG als wesentlicher Grundsatz deutschen Rechts tangiert sei. Dies gilt auf der Sachrechtsebene ebenso für die über die Datumtheorie zu berücksichtigenden ausländischen Fakten. So dürfen gerade moral data, deren Berücksichtigung gem. Art. 6 S. 1 EGBGB zu einem Ergebnis führt, das mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts offensichtlich unvereinbar ist, nicht durch das Gericht herangezogen werden. 708 Beispielsweise hätte das AG Frankfurt 709 im Scheidungsverfahren eines marokkanischen Ehepaars, die unzumutbare Härte gem. § 1565 Abs. 2 BGB wegen fortdauernder Gewalttätigkeit des Ehemanns nicht mit der Begründung ablehnen dürfen, dass das Züchtigungsrecht im marokkanischen Rechtskreis üblich sei. Eine „eheliche Züchtigung“ verletzt eindeutig das Grundrecht der Frau auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 GG und damit auch den ordre public gem. Art. 6 S. 2 EGBGB.710 Anders entschied das KG 711, das über die Erfüllung der Tatbestandsmerkmale in § 1666 Abs. 1 BGB zu entscheiden hatte, der lautet: „Wird das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes oder sein Vermögen gefährdet und sind die Eltern nicht gewillt oder nicht in der Lage, die Gefahr abzuwenden, so hat das Familiengericht die Maßnahmen zu treffen, die zur Abwendung der Gefahr erforderlich sind.“
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BGH, Urteil v. 11.10.2006 – XII ZR 79/04, NJW-RR 2007, 145. OLG Karlsruhe, Urteil v. 23.4.2004 – 5 UF 205/03, juris Rn. 17. 708 Für ein französisches Beispiel siehe Nishitani, RdC 401 (2019), 143, 204 f. 709 Die Entscheidung des AG Frankfurt wurde nicht veröffentlicht, vgl. jedoch die Berichterstattung in der Presse: Spiegel-Online v. 21.3.2007, abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020); FAZ-Online v. 21.3.2007, abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020). 710 Weller, IPRax 2014, 225, 232. 711 KG, Beschluss v. 14.9.1984 – 1 W 427/84, NJW 1985, 68. 707
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Zweiter Teil: Migration als Herausforderung für das IPR
Das Gericht setzte sich mit der Frage auseinander, ob bei der Beurteilung, ob die Eltern nicht gewillt oder nicht in der Lage sind, eine Gefahr abzuwenden, der Kulturkreis der Eltern, hier in Form türkischer Traditionen, zu berücksichtigen ist. Konkret hielten die Eltern ihre Tochter vom Schulbesuch ab und planten, sie zwecks Heirat in die Türkei zu verbringen. Das Gericht sprach zwar nicht von der Datumtheorie, umschrieb sie jedoch wie folgt: „Darum handelt es sich aber eigentlich nicht um eine Frage des anzuwendenden Rechts, sondern darum, ob unter Berücksichtigung der durch die Auslandsbeziehung geprägten tatsächlichen Umstände des Falles die Tatbestandsmerkmale der deutschen Eingriffsnorm des § 1666 BGB erfüllt sind, ob insbesondere den Eltern ein Missbrauch des Sorgerechts oder ein Erziehungsversagen anzuerkennen ist.“
Als Grenze der Berücksichtigung türkisch geprägter Moralvorstellungen sah das Gericht das Kindeswohl an, das in Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 GG verankert ist. Im Fall hatte sich die Tochter mehrmals an das Jugendamt gewandt und den elterlichen Haushalt bereits verlassen. Zudem gab es in der Vergangenheit einen Suizidversuch ihrerseits sowie Todesdrohungen durch den Bruder. Diese Umstände und die Tatsache, dass das Mädchen in Deutschland aufgewachsen und an die hiesige Mentalität gewöhnt war, ließen das Gericht im Ergebnis eine ernstliche Gefährdung des körperlichen und des geistigseelischen Wohls der Minderjährigen und damit elterliches Erziehungsversagen i.S.d. § 1666 BGB bejahen. b) Art. 10 Rom III-VO (Verbot der Geschlechterdiskriminierung) Art. 10 Rom III-VO wendet sich gegen Scheidungsstatute, die geschlechterdiskriminierend sind und beruft stattdessen die lex fori zur Anwendung. Der Artikel wurde zwar nicht ausdrücklich dafür geschaffen, richtet sich aber faktisch vor allem gegen Regelungen des islamischen Rechts z.B. gegen das einseitige Verstoßungsrecht (talaq).712 Stark diskutiert wurde daher in der Literatur, ob es sich bei Art. 10 Rom III-VO tatsächlich um einen abstrakten Nichtanwendungsbefehl des europäischen Gesetzgebers handelt,713 oder aber wie im Rahmen des Art. 6 EGBGB und Art. 12 Rom III-VO auf die Diskriminierungswirkung im Einzelfall abzustellen ist. 714 Nach der letztgenannten Meinung wären von Art. 10 Rom III-VO also solche Fälle nicht erfasst, in 712
Gruber, IPRax, 2012, 381, 391 spricht von einer „politisch motivierte AntiislamKlausel in dem vornehmen Gewande eines Diskriminierungsverbots“. 713 Zum Ganzen überblicksartig v. Hein, in: Juristische Studiengesellschaft Jahresband, 2018, S. 29, 54 ff. Dafür insbesondere Weller/Thomale/Zimmermann, JZ 2017, 1080, 1081 ff. und Weller, IPRax 2014, 225, 232. 714 OLG München, Beschluss v. 29.6.2016 – 34 Wx 146/14, BeckRS 2016, 12020; ferner Gruber, IPRax 2012, 381, 391; Helms, FamRZ 2011, 1765, 1772; Hohloch, in: Erman, BGB, 2017, Art. 10 Rom III-VO Rn. 6; Winkler von Mohrenfels, in: MünchKommBGB, 2018, Art. 10 Rom III-VO Rn. 1 ff.
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denen sich die Frau mit der diskriminierenden Form der Scheidung ausdrücklich einverstanden erklärt hat; ihr zum Beispiel der talaq gelegen kommt. In seinem Schlussantrag in der Rechtssache Sahyouni legt der Generalanwalt beim EuGH Art. 10 Rom III-VO allerdings eine abstrakte Wirkungsweise zugrunde.715 Der EuGH hatte über diese Frage im späteren Verfahren nicht zu entscheiden, stellte aber fest, dass Privatscheidungen nicht in den Anwendungsbereich der Rom III-VO fallen.716 Jedoch ist zu vermuten, dass er auch hinsichtlich der Wirkungsweise des Art. 10 Rom III-VO entsprechend des Schlussantrags entschieden hätte. 717 Für das deutsche autonome IPR hat der Gesetzgeber mit dem „Gesetz zum Internationalen Güterrecht vom 17. Dezember 2018“ Abhilfe geschaffen. 718 Der neu gefasste und zukünftig auf Privatscheidungen anwendbare Art. 17 Abs. 2 Nr. 1–4 EGBGB orientiert sich an der Anknüpfungsleiter der Art. 5–8 Rom III-VO. Auf eine dem Art. 10 Rom III-VO entsprechende Vorschrift hat er allerdings verzichtet, sodass im Bereich der Privatscheidungen nach Art. 17 Abs. 2 Nr. 5 EGBGB weiterhin eine Einzelfallbetrachtung i.S.d. Art. 6 EGBGB vorzunehmen ist. 719 III. Allgemeine Lösungsansätze zur Umsetzung der These Für eine praktische Umsetzung der aufgestellten These werden mehrere Reformmöglichkeiten diskutiert. Teilweise wird der Wechsel zur Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt beim Personalstatut nach erst fünf Jahren vorgeschlagen und um Rechtswahl- und Ausweichklauseln ergänzt, um so der kulturellen Identität und der Heimatverbundenheit der betroffenen Personen Rechnung zu tragen.720 Dieses Modell könnte sich insbesondere für die Personengruppen ohne 715
Vgl. die Schlussanträge des GA Saugmandsgaard Øe v. 14.9.2017 – Rs. C-372/16, Sahyouni ./. Mamisch, BeckRS 2017, 124494: Art. 10 Rom III-VO sei, „dahin auszulegen [...], dass das Rechts des Staates des angerufenen Gerichts anzuwenden ist, sofern das ausländische Recht, das nach den Art. 5 oder 8 dieser Verordnung anwendbar wäre, abstrakt – im Hinblick auf seinen Inhalt – zu einer Diskriminierung führt, und nicht nur, wenn das letztere Recht konkret – im Hinblick auf die Umstände des Einzelfalls – eine Diskriminierung verursacht.“ 716 EuGH, Beschluss v. 12.5.2016 – Rs. C-281/15, Sahyouni ./. Mamisch, BeckRS 2016, 81033. 717 So Gruber, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinghammer/Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 169, 183 f.; vgl. ferner Weller/Schulz, in: v. Hein/Kieninger/Rühl (Hrsg.), How European is European Private International Law?, 2019, S. 285, 300 ff. 718 BGBl. I 2018, S. 2573. 719 Vgl. v. Hein, in: Juristische Studiengesellschaft Jahresband, 2018, S. 29, 57 ff. 720 Vgl. den Vorschlag von Basedow/Diehl-Leitner, in: Jayme/Mansel (Hrsg.), Nation und Staat, 1990, S. 13/40 f.
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Zweiter Teil: Migration als Herausforderung für das IPR
dauerhaften Aufenthaltstitel mit Kettenduldungen anbieten, bei der die wohl schlechte Bleibeperspektive aus Sicht der Behörden in starkem Widerspruch zu teilweise langjährigen Aufenthalten im Inland steht. Das Modell versagt aber dort, wo Staatsangehörigkeit und letzter gemeinsamer Aufenthalt auseinanderfallen, da in diesem Fall die Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit perpetuiert wird, sodass im Ergebnis ein ergänzendes Wahlrecht vorzuziehen ist.721 Problematisch im Rahmen des Personalstatuts ist insbesondere, wie schon mehrfach beschrieben, das Auseinanderfallen der materiellen Regelungsbereiche in die Rechts-, Handlungs-, und Geschäftsfähigkeit, das Familienrecht und das Erbrecht.722 Ein umfassendes Gesamtstatut für persönliche Rechtsfragen der Schutzmigranten wäre auch deshalb vorzuziehen, da so die materielle Harmonie des für einen einheitlichen Rechtsbereich berufenen Rechts sichergestellt wäre. Damit würde im Ergebnis die Einheit vom Personalstatut im formellen und materiellen Sinne gewahrt, was auch den inneren Entscheidungseinklang fördert.723 Beispielsweise böte eine mögliche Rom 0-VO die Möglichkeit, einheitliche und klare Regelungen hinsichtlich der Anknüpfung des Personalstatuts bei Mehrstaatern, Staatenlosen und Flüchtlingen zu schaffen. 724 Schon die Entwicklung eines konkreten Entwurfs liegt allerdings aufgrund der verschiedenen bestehenden Hürden noch in weiter Zukunft. 725 IV. Aktuelle Reformvorhaben 1. Reform des Art. 14 EGBGB Art. 14 EGBGB wurde durch das „Gesetz zum Internationalen Güterrecht und zur Änderung von Vorschriften des Internationalen Privatrechts vom 17. Dezember 2018“ mit Wirkung zum 29.01.2019 neugefasst. 726 Die erfassten persönlichen und vermögensrechtlichen Ehewirkungen werden nun an den gewöhnlichen Aufenthalt angeknüpft. 727 Art. 14 EGBGB fand auch in seiner alten Fassung schon keine Anwendung mehr auf das Ehenamensrecht, den Trennungsunterhalt, den nachehelichen Unterhalt und sonstige scheidungsakzessorischen Vermögensfolgen außerhalb des Unterhalts- und Güterrechts, da all diese Bereiche europäisch vereinheitlicht wurden. Es verblieb ein Restanwendungsbereich hinsichtlich der 721
Rohe, FS Rothoeft, 1994, 1, 33 f. Siehe oben 1. Teil und 2. Teil, 3. Kap., B.I. 723 Mansel, Personalstatut, 1988, Rn. 43; Rentsch, ZEuP 2015, 288, 294; dies., Der gewöhnliche Aufenthalt im System des Europäischen Kollisionsrechts, 2017, S. 318. 724 So Mankowski, in: Leible (Hrsg.), General Principles of European Private International Law, 2016, S. 189, 209. 725 Vgl. das Fazit bei Wilke, GPR 2012, 334, 341. 726 BGBl. I 2018, S. 2573. 727 Vgl. die Entwurfsbegründung, BT-Drs. 19/4852, S. 30 und 37. 722
6. Kapitel: Thesen im Rahmen des Personalstatuts
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Rechtsgeschäfts- und Handlungsfähigkeit der Eheleute, der Frage des Bestehens bzw. Gültigkeit der Ehe und der Rechtsnachfolge von Todes wegen. Die Erfassung der nicht vermögensrechtlichen Wirkungen der Ehe (z.B. §§ 1353, 1356 BGB) durch Art. 14 EGBGB a.F. war angesichts des weiten Begriffs des Güterrechts in der neuen EuGüVO zudem minimal. 728 Der Deutsche Rat für IPR hatte sich im Anschluss an Dagmar CoesterWaltjen in diesem Zusammenhang bereits im Jahr 2015 hinsichtlich dieser noch von Art. 14 EGBGB erfassten persönlichen und vermögensrechtlichen Ehewirkungen für eine wandelbare objektive Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt ausgesprochen. 729 Als Begründung wurde ausgeführt, dass die Ehewirkungen eine engere Beziehung zum aktuellen Umweltrecht als zum Heimatrecht oder zum alten Aufenthaltsrecht hätten. 730 Durch den erzielten Gleichlauf mit dem Scheidungsfolgenstatut, dem Unterhaltsstatut und dem Ehegüterstatut würden zudem Abgrenzungs- und Qualifikationsprobleme vermieden.731 Auch ein Gleichlauf von Zuständigkeit und anwendbarem Recht wäre gegeben. 732 Dem hat sich nun auch der Gesetzgeber angeschlossen und formuliert in der Entwurfsbegründung: „Der Vorrang des gewöhnlichen Aufenthalts gegenüber der Staatsangehörigkeit entspricht der internationalen rechtspolitischen Entwicklung und insoweit auch dem Regelungskonzept der EuEheGüVO. Im Gegensatz zur EuEheGüVO ist jedoch in Artikel 14 Absatz 2 Nummer 1 EGBGB für den gewöhnlichen Aufenthalt der Ehegatten nicht der Zeitpunkt der Eheschließung maßgeblich. Vielmehr ist das Ehewirkungsstatut wandelbar ausgestaltet, sodass es auf den Zeitpunkt des jeweils zu beurteilenden Ereignisses a nkommt. Mit dieser dynamischen Anknüpfung soll ein Recht zur Anwendung gelangen, das den Interessen mobiler Bürgerinnen und Bürger am ehesten gerecht wird.“733
2. Reform Art. 13 EGBGB Im Rahmen von Art. 13 EGBGB entspricht die Anknüpfung an das Recht der Staatsangehörigkeit der Eheschließenden ebenso wenig dem aktuellen Trend im Kollisionsrecht.734 Auch hier gibt es daher verschiedene Reformvorschläge.735 Eine Meinung will so weit gehen und schlicht auf den Ort der Ehe-
728
Vgl. Coester-Waltjen, FamRZ 2013, 170, 171; Heiderhoff, IPRax 2017, 160, 161 f. Vgl. Mansel, IPRax 2013, 200 f. 730 So auch Coester-Waltjen, FamRZ 2013, 170, 172, die Ehewirkungen als „umgebungsgeprägt“ bezeichnet. 731 Weller, FS Coester-Waltjen, 2015, 897, 905. 732 Vgl. Rentsch, Der gewöhnliche Aufenthalt im System des Europäischen Kollisionsrechts, 2017, S. 316 f. 733 Siehe BT-Drs. 19/4852, S. 37. 734 Vgl. nur Heiderhoff, IPRax 2017, 160 und schon oben unter B.I. 735 Überblick bei Heiderhoff, IPRax 2017, 160 f. 729
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Zweiter Teil: Migration als Herausforderung für das IPR
schließung abstellen. 736 Eine andere Meinung will einem Heiratstourismus vorbeugen und verlangt beispielsweise den gewöhnlichen Aufenthalt eines der Verlobten im Inland als zusätzliche Voraussetzung. 737 Die erste Kommission des Deutschen Rates hat nach langen Diskussionen folgende begrüßenswerte Empfehlung für den zukünftigen Art. 13 Abs. 1 EGBGB-E verfasst: „Die materiell-rechtlichen und formellen Voraussetzungen der Eheschließung in Deutschland unterliegen deutschem Recht, wenn mindestens einer der zukünftigen Ehegatten in Deutschland seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat oder die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt. Andernfalls ist zusätzlich erforderlich, dass die Eheschließung nach dem Recht des Heimatstaates oder des Staates des gewöhnlichen Aufenthaltes zumindest eines der künftigen Ehegatten als wirksam angesehen wird. Eine Eheschließung kann dennoch nicht versagt werden, wenn das nach dem Heimatrecht oder dem Aufenthaltsrecht bestehende Ehehindernis dem deutschen ordre public widerspricht [...]“.738
Neben den generellen Vorzügen der Aufenthaltsanknüpfung spricht auch gerade die generelle Liberalisierung des deutschen Eherechts, wie zum Beispiel auch die Öffnung der Ehe für homosexuelle Paare und dem einfacheren Zugang zur Scheidung für eine Anwendung deutschen Rechts auf hier lebende Paare.739
7. Kapitel: Zusammenfassung des zweiten Teils in Thesenform 7. Kapitel: Zusammenfassung des zweiten Teils in Thesenform
1. Die verschiedenen Anknüpfungssubjekte Migranten lassen sich angelehnt an die Terminologie des Asyl- und Aufenthaltsrechts in zwei Gruppen einteilen: Schutz- und Wirtschaftsmigranten. Innerhalb dieser Gruppen lässt sich weiter zwischen verschiedenen Migrantentypen unterscheiden, deren rechtliche Grundlagen sich in unterschiedlichen völkerrechtlichen, europäischen und nationalen Normen finden. Nur für Konventionsflüchtlinge und Asylberechtigte greift ein Sonderkollisionsrecht in Gestalt von Art. 12 Abs. 1 GFK. Dieser bewirkt, dass in Kollisionsnormen, die zum Personalstatut gehören, die Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit durch die Anknüpfung an den Wohnsitz ersetzt wird. Für Wirt736 Sonnenberger, FS Coester-Waltjen, 2015, 787, 798 f.; vgl. ferner die These 6 des Max Planck Instituts zur Reform des Internationalen Privat- und Verfahrensrechts, RabelsZ 44 (1980), 344, 349, wo allerdings eine fraus legis als Schranke genannt wird. 737 Coester-Waltjen, StAZ 2013, 10, 14 ff.; Henrich, FS Spellenberg, 2010, 195, 201. 738 Vgl. dazu Helms, IPRax 2017, 153, 155; Mansel, IPRax 2013, 200. 739 Rentsch, Der gewöhnliche Aufenthalt im System des Europäischen Kollisionsrechts, 2017, S. 317 f.
7. Kapitel: Zusammenfassung des zweiten Teils in Thesenform
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schaftsmigranten dominiert hingegen im autonomen internationalen Familienrecht noch die Staatsangehörigkeitsanknüpfung. 2. Die Auslegung des Art. 12 Abs. 1 GFK Der Begriff des Personalstatuts, wie er bei Schaffung der Konvention zugrundegelegt wurde, ist ungefähr deckungsgleich mit dem deutschen materiellen Verständnis des Personalstatuts und umfasst im Ergebnis den Kernbestand von persönlichen Rechtsverhältnissen des Flüchtlings. Zur Gewährleistung einer einheitlichen Anwendung der GFK ist die autonome Auslegung vorzuziehen und der im Schrifttum überwiegend vertretenen Meinung zu folgen, wonach der Wohnsitz im Sinne des Art. 12 Abs. 1 GFK als gewöhnlicher Aufenthalt des Flüchtlings auszulegen ist. 3. Der gewöhnliche Aufenthalt des Flüchtlings Flüchtlinge im Sinne der GFK, Asylberechtigte und subsidiär Schutzberechtigte als erste Personengruppe haben aufgrund ihres hohen Schutzstatus die Aussicht darauf, für einen langen Zeitraum legal im Bundesgebiet leben zu können und sich sozial fest zu integrieren, sodass bei der Feststellung des gewöhnlichen Aufenthalts dieser Migranten grundsätzlich keine Besonderheiten bestehen. Im Rahmen eines laufenden Asylverfahrens und bezüglich abgelehnter Asylbewerber ist eine Prognose zugrundezulegen, bei der alle Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen sind, wobei es auf die tatsächliche Integration und den Bleibewillen ankommt. Die Prognose wird positiv durch Indizien wie einem längerfristigen Aufenthaltstitel und negativ durch drohende aufenthaltsrechtliche Maßnahmen wie z.B. einer Abschiebung beeinflusst. 4. Die Auslegung von Art. 12 Abs. 2 GFK Im Rahmen von Art. 12 Abs. 2 GFK sollte anstatt von „subjektiven Rechten“ besser von Lebenssachverhalten gesprochen werden, die nach dem Statutenwechsel einer objektiven Rechtsordnung zuzuordnen sind. Aufgrund des sofort wirkenden Statutenwechsels ist eine Angleichungslösung vorzunehmen, die sich aus der Transpositionslehre aus dem Internationalen Sachenrecht ableitet. Danach übernimmt das neu geltende Recht die persönlichen Rechtsverhältnisse des Flüchtlings mit ihrer Prägung durch das alte Recht.
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Zweiter Teil: Migration als Herausforderung für das IPR
5. Thesen zum Personalstatut Die Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt bei den Konventionsflüchtlingen ist primär dadurch motiviert, dass die Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit zum Recht des Verfolgerstaates führen würde. Auch der Integrationsgedanke streitet entscheidend für das Aufenthaltsprinzip. Gleiches gilt für die subsidiär Schutzberechtigten, deren Integration in die Aufnahmegesellschaft ebenfalls ein wichtiges politisches Ziel ist. Trotz dieser vergleichbaren Interessenlage fehlt es für eine analoge Anwendung des Art. 12 Abs. 1 GFK jedoch an einer planwidrigen Regelungslücke. Eine Gleichbehandlung ist daher nur de lege ferenda zu empfehlen. Zwecks der Bildung eines einheitlichen Gesamtstatuts und der Anpassung an die zunehmende Mobilität ist zudem eine allgemeine Reform beim Personalstatut zu befürworten. So sollte das Personalstatut de lege ferenda gleichermaßen nach dem Aufenthaltsprinzip bestimmt werden. Die Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt eignet sich deswegen am besten, da sie sowohl praktische Vorteile hat und die betroffenen Privat- und Verkehrsinteressen in Ausgleich bringt, als auch den jüngsten Entwicklungen vor allem im europäischen Kollisionsrecht entspricht. 6. Berücksichtigung der kulturellen Identität des Flüchtlings Das Anknüpfungssubjekt „Flüchtling“ bewegt sich in einem Spannungsfeld zwischen seiner kulturellen Identität und dem praktischen Bedürfnis nach Vereinfachung sowie dem rechtspolitischen Anliegen der Integration. Das moderne IPR kennt jedoch Instrumente wie die Rechtswahl und Ausweichklausel auf der Kollisionsrechtsebene sowie Substitution, Anpassung und Datumtheorie auf der Sachrechtsebene, um diese widerstreitenden Interessen in Ausgleich zu bringen und die mögliche Identifikation des Flüchtlings mit seinem Heimatrecht zu berücksichtigen. Das Ergebnis der Anwendung des Heimatrechts darf nicht mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts offensichtlich unvereinbar sein, auch wenn es die kulturelle Identität des Betroffenen ausdrückt. Aufgabe der ordre public- Prüfung ist es, die Anerkennung anderer Kulturen und ihrer Rechtsordnungen mit der Verteidigung von Werten, die in der inländischen demokratischen und rechtsstaatlichen Gemeinschaft als unabdingbar angesehen werden, auszugleichen.
Dritter Teil
Die familienrechtliche Problematik um unbegleitete Minderjährige 1. Kapitel: Einleitung 1. Kapitel: Einleitung
Der Umgang mit unbegleiteten Minderjährigen stellt das Internationale Familienrecht insbesondere in Hinblick auf die kollisionsrechtliche Beurteilung der Volljährigkeit und Vormundschaft vor einige Herausforderungen, auf die die Arbeit im dritten Teil eingeht. Die sich in diesem Rahmen stellenden Probleme bestätigen zudem die am Ende des zweiten Teils aufgestellte These eines einheitlichen Personalstatuts. Zu Beginn wird der statistische Rahmen erläutert, um Aufschluss über die angestiegenen Fallzahlen zu geben (dazu A.), die ferner Auswirkungen auf die Gesetzgebung und Rechtsprechung hatten (dazu B.). In der Einleitung werden zudem der Begriff des unbegleiteten Minderjährigen näher definiert (dazu C.) sowie der europäische und völkerrechtliche Rechtsrahmen vorgestellt (dazu D.). A. Statistischer Rahmen Seit der Flüchtlingskrise im Jahr 2015 ist die Zahl der Minderjährigen, die unbegleitet nach Deutschland einreisen, stark angestiegen. In der Hochphase Februar 2016 lebten in Deutschland 60.638 unbegleitete Minderjährige, wobei die Zahlen ab Mai rückläufig waren und bis Anfang Februar 2017 auf eine Anzahl von 43.840 sanken. Während dieser Rückgang der Zahlen auch mit dem Eintritt der Volljährigkeit zu erklären ist, stieg die Zahl der nach Deutschland Einreisenden an: Waren es im November 2015 noch 6.400 registrierte unbegleitete Minderjährige, beliefen sich die Zahlen im Dezember 2016 schon auf 14.000 Personen. 1 Dasselbe Bild ergibt sich hinsichtlich der gesamteuropäischen Situation. Während in den Mitgliedstaaten der EU im Zeitraum von 2008 bis 2013 im Schnitt etwa 12.000 unbegleitete minderjährige Asylbewerber, die internatio1
Bericht des Bundestags v. 15.3.2017, BT-Drs. 18/11540, S. 5 f.
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Dritter Teil: Die Problematik um unbegleitete Minderjährige
nalen Schutz suchten, pro Jahr registriert wurden, waren es im Jahr 2015 95.200 Personen. Im Jahr 2016 (63.200 registrierte unbegleitete Minderjährige) und im Jahr 2017 (31.400 Personen, davon 32% in Italien und 29% in Deutschland) gingen die Zahlen wieder zurück. Der größte Anteil der unbegleiteten Minderjährigen sind männlich (92% im Jahr 2016) und im Alter zwischen 16 und 18 Jahren (72% im Jahr 2016).2 Gleichzeitig ist auch die Zahl der Asylanträge von unbegleiteten Minderjährigen in Deutschland wieder zurückgegangen. Im Jahr 2016 waren es 35.939 Anträge, im Zeitraum vom 01.01.2017 bis zum 31.08.2017 hingegen nur noch 6.928 Anträge. 3 Nicht alle unbegleiteten Minderjährigen stellen aber einen Antrag auf Asyl, Flüchtlingsstatus oder subsidiären Schutz, sondern über den Aufenthalt wird von den Behörden nach dem Aufenthaltsgesetz entschieden, die z.B. eine Duldung nach § 60a AufenthG erteilen.4 Der deutliche Rückgang ab dem Jahr 2017 lässt sich auch mit der Sperrung der Balkanroute und dem Flüchtlingsabkommen mit der Türkei erklären, wodurch viele Wege nach Europa und Deutschland versperrt wurden. 5 Bei der Erfassung von statistischen Daten kommt erschwerend hinzu, dass viele Minderjährige nach einer ersten Registrierung wieder aus dem Radar der Behörden verschwinden, um zum Beispiel zu Angehörigen in anderen Mitgliedstaaten zu reisen.6 B. Einfluss auf Gesetzgebung und Rechtsprechung Der beschriebene Anstieg an Fallzahlen in Kombination mit einer komplizierten Rechtsmaterie sowie den zu erfüllenden strengen Verfahrensanforderungen der §§ 151 ff. FamFG stellt die Behörden und Rechtsprechung trotz sin-
2
Siehe (letzter Abruf: 4.6.2020). Für verschiedene Statistiken zu den Zahlen der ankommenden minderjährigen Flüchtlinge in Europa, insbesondere in Deutschland, Frankreich, Italien und Griechenland, sowie der Verteilung der verschiedenen Schutzstatus im Jahr 2017 vgl. die Aufstellungen von UNICEF, abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020). 3 Vgl. BumF e.V., Pressemitteilung v. 25.10.2017, abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020). 4 Huber, NVwZ Extra 17/2016, 1; 2015 haben etwas mehr als 50% der Minderjährigen einen Antrag auf Asyl gestellt, vgl. BT-Drs. 18/11540, S. 6. 5 Dürbeck, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinghammer/Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 65. 6 Im Jahr 2015 wurden in Deutschland 8006 Verschwinden statistisch erfasst (einschließlich Mehrfacherfassungen), wovon aber 2171 Minderjährige wieder auftauchten, vgl. BT-Drs. 18/8087, S. 3 f.
1. Kapitel: Einleitung
145
kender Zahlen weiter vor Herausforderungen. 7 Hinzu kommt, dass das Zusammenspiel von asylrechtlichen Maßnahmen und zivilrechtlichen Schutzmaßnahmen nicht austariert ist und schon die zuständigen Behörden unterschiedlich sind: Die Ausländerbehörde bzw. das BAMF auf der einen und das Jugendamt auf der anderen Seite.8 Der Gesetzgeber hat daher schon einige Maßnahmen ergriffen, um die Situation zu verbessern. So wurde das Verfahren der vorläufigen Inobhutnahme durch das Jugendamt nach § 42a SGB VIII geschaffen, um die Inobhutnahme der vielen einreisenden Minderjährigen gewährleisten zu können. Zudem wurde die Altersgrenze für die Vornahme von Verfahrenshandlungen in asylund aufenthaltsrechtlichen Angelegenheiten durch das „Gesetz vom 24. Oktober 2015“ von 16 auf 18 Jahre angehoben (vgl. § 12 Abs. 1 AsylG, § 80 Abs. 1 AufenthG), um die Unterstützung durch das Jugendamt sicherzustellen und zu gewährleisten, dass kinder- und jugendhilferechtliche Verfahren insgesamt Vorrang haben. 9 Auch das „Gesetz zur Bekämpfung von Kinderehen vom 17. Juli 2017“10 wird teilweise als Reaktion gerade auf die vermehrte Einreise verheirateter unbegleiteter Minderjähriger angesehen. 11 In der Rechtsprechung macht sich der Anstieg der Fallzahlen in Form der Zunahme von Entscheidungen des Bundesgerichtshofs und der Oberlandesgerichte in diesem Themengebiet ebenso bemerkbar. 12 C. Begriff des „unbegleiteten Minderjährigen“ Der Begriff des „unbegleiteten Minderjährigen“ wird nicht einheitlich verwendet, sondern je nach Bereich unterschiedlich. Hier wurde der Ausdruck „unbegleiteter Minderjähriger“ gewählt, da diese Formulierung im Asyl- und Ausländerrecht verwendet wird. Auch das Europarecht verwendet in Art. 2 lit. j) Dublin III-VO den Ausdruck unbegleiteter Minderjähriger, der 7 Dürbeck, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinghammer/Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 65, 67 f. 8 Study for the JURI committee of the European Parliament: „Children on the Move: A Private International Law Perspective”, June 2017, S. 7. abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020). 9 Vgl. Entwurfsbegründung des Gesetzes zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher v. 7.9.2015, BT-Drs. 18/5921, S. 2, 17. 10 Gesetz zur Bekämpfung von Kinderehen vom 17. Juli 2017, BGBl. 2017 I, S. 2429; vgl. dazu ausführlich den 4. Teil. 11 Dürbeck, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinghammer/Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 65, 67. 12 Dürbeck, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinghammer/Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 65, 67 f.
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Dritter Teil: Die Problematik um unbegleitete Minderjährige
„einen Minderjährigen, der ohne Begleitung eines für ihn nach dem Recht oder nach den Gepflogenheiten des betreffenden Mitgliedstaats verantwortlichen Erwachsenen in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten einreist, solange er sich nicht tatsächlich in der Obhut eines solchen Erwachsenen befindet [...]“
bezeichnet. Nach Art. 2 lit. i) Dublin III-VO ist zudem nur minderjährig, wer das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat. Der Vollständigkeit halber sollen hier aber auch die anderen geläufigen Begriffe erläutert werden. Neben dem „unbegleiteten Minderjährigen“ gibt es noch den Begriff „unbegleiteter minderjähriger Ausländer“ (kurz UMA), den das „Gesetz zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher vom 28. Oktober 2015“ 13 verwendet. Ferner verwendet der Bundesverband Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge e.V. den Begriff „unbegleiteter minderjähriger Flüchtling“ (kurz UmF), der streng genommen nicht ganz korrekt ist, da die Flüchtlingseigenschaft nach der Einreise erst noch festzustellen ist. 14 D. Europarechtlicher und völkerrechtlicher Rahmen Im europäischen Recht wird zwischen den von den Sorgeberechtigten getrennten Minderjährigen und den unbegleiteten Minderjährigen unterschieden.15 Der europäische Rechtsrahmen in diesem Bereich setzt sich im Wesentlichen aus den Instrumenten des europäischen Asylrechts, wie der Dublin III-VO, und dem europäisch vereinheitlichten internationalen Familienrecht, insbesondere der EuEheVO, zusammen. Die Dublin III-VO regelt zunächst, welcher Mitgliedstaat für das Verfahren bezüglich des Internationalen Schutzes zuständig ist. Nach Art. 8 Abs. 1 Dublin III-VO ist der Mitgliedstaat zuständig, in dem sich ein Angehöriger des Minderjährigen rechtmäßig aufhält, anderenfalls gem. Art. 8 Abs. 4 Dublin III-VO der Mitgliedstaat der Antragstellung. 16 Der EuGH hat aus Gründen des Minderjährigenschutzes und des Kindeswohls entschieden, dass der Mitgliedstaat zuständig ist, in dem der Minderjährige 13
BGBl. 2015 I S. 1802. Zum Ganzen Dürbeck, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinghammer/NiethammerJürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 65, 66. 15 Für einen Überblick über die Situation in den EU-Mitgliedstaaten und der unterschiedlichen Handhabe unbegleiteter bzw. von den Sorgeberechtigten/der Familie getrennten Minderjährigen vgl. das Dossier „Current migration situation in the EU: separated children“ der European Union Agency For Fundamental Rights, Dezember 2016, abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020). 16 Vgl. Study for the JURI committee of the European Parliament: „Children on the Move: A Private International Law Perspective”, June 2017, S. 7 f., abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020). 14
2. Kapitel: Vorliegen von Minderjährigkeit
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sich aufhält, nachdem er einen (weiteren) Asylantrag gestellt hat. Damit stellt er klar, dass ein Minderjähriger nicht in den Mitgliedstaat seines Erstantrags zurückzuführen ist. 17 Art. 6 Dublin III-VO regelt Garantien für Minderjährige, die während des Verfahrens zu berücksichtigten sind: „(1) Das Wohl des Kindes ist in allen Verfahren, die in dieser Verordnung vorgesehen sind, eine vorrangige Erwägung der Mitgliedstaaten. (2) Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass ein unbegleiteter Minderjähriger in allen Verfahren, die in dieser Verordnung vorgesehen sind, von einem Vertreter vertreten und/oder unterstützt wird. [...]“
Zudem ist gemäß Erwägungsgrund 13 dem Wohl des Kindes bei der Anwendung der Verordnung im Einklang mit der UN-KRK und der EuGrCh besonderes Gewicht beizumessen. 18 Nach Art. 22 Abs. 1 UN-KRK sollen gerade minderjährige Flüchtlinge besondere humanitäre Hilfe bei der Wahrnehmung ihrer Rechte bekommen. Art. 22 Abs. 2 UN-KRK misst dabei der Familienzusammenführung ein besonderes Gewicht zu, deren Verwirklichung ein vorrangiges Ziel der Behörden zu sein hat. Scheitert die Familienzusammenführung, muss dem minderjährigen Flüchtling der gleiche Schutz wie anderen in- und ausländischen Kindern gewährt werden, was insbesondere die Bestellung eines Vormunds beinhaltet. 19
2. Kapitel: Vorfrage: Vorliegen von Minderjährigkeit 2. Kapitel: Vorliegen von Minderjährigkeit
Im zweiten Kapitel soll zunächst die Anknüpfung der Abgrenzung zwischen Minderjährigkeit und Volljährigkeit einer Person erläutert werden, da dies in den betreffenden Verfahren eine selbstständig anzuknüpfende Vorfrage 20 darstellt (dazu A.). In diesem Kontext wird in einem Exkurs auf die Frage 17
EuGH, Urteil v. 6.6.2013 – Rs. C-648/11, MA u.a. ./. Secretary of State for the Home Department, BeckRS 2013, 81155 (zu Art. 6 Abs. 2 Dublin II-VO a.F.). 18 Huber, NVwZ Extra 17/2016, 1, 7; zum Ganzen ausführlich Heiderhoff/ Frankemüller, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinghammer/Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 189, 193 ff. 19 Vgl. Heiderhoff/Frankemüller, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinghammer/Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 189, 192. 20 Zu diesem Grundsatz vgl. v. Hein, in: MünchKommBGB, 2018, Einl. IPR Rn. 169 ff.; Hohloch, in: Erman, BGB, 2017, Einl. IPR Vor. Art. 3 EGBGB Rn. 53; Lorenz, in: BeckOK BGB, 2020, Einl. IPR Rn. 72 f.; für den sorge- und vormundschaftsrechtlichen Kontext vgl. BGH, Beschluss v. 20.12.2017 – XII ZB 333/17, NJW 2018, 613, Rn. 21 ff.; BGH, Beschluss v. 24.1.2018 – XII ZB 383/17, BeckRS 2018, 2069, Rn. 6; BGH, Beschluss v. 24.1.2018 – XII ZB 423/17, BeckRS 2018, 2064, Rn. 6; Rupp, ZfPW 2018, 57, 59.
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Dritter Teil: Die Problematik um unbegleitete Minderjährige
eingegangen, ab wann unbegleitete Minderjährige ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland begründen (dazu B.). Auch auf die tatsächliche Feststellung des Alters einer Person, die für die Praxis die größte Herausforderung darstellt, wird eingegangen (dazu C.). A. Anwendbarkeit des Art. 12 GFK und des Art. 7 EGBGB analog Mithilfe welcher Kollisionsnorm die Minderjährigkeit anzuknüpfen ist, hängt vom asyl- und ausländerrechtlichen Status des Minderjährigen ab. Handelt es sich um Flüchtlinge im Sinne der GFK, erfasst Art. 12 Abs. 1 GFK nach der herrschenden Meinung auch die Abgrenzung zwischen Volljährigkeit und Minderjährigkeit. 21 Fehlt dem unbegleiteten Minderjährigen demgegenüber die Flüchtlingseigenschaft, findet das autonome IPR in Form des EGBGB Anwendung. Die Feststellung, ob Minderjährigkeit gegeben ist, ist nicht direkt von dem Anknüpfungsgegenstand des Art. 7 EGBGB erfasst, der von Rechts- und Geschäftsfähigkeit spricht, welche dann erst im anwendbaren Recht (§ 106 BGB) an die Volljährigkeit anknüpft. 22 Da die Volljährigkeit aber grundsätzlich der vollen Geschäftsfähigkeit entspricht, findet nach der herrschenden Meinung Art. 7 EGBGB im Bereich der Sorge, Vormundschaft und Adoption analog auf die Frage nach der Volljährigkeit Anwendung. 23 Die analoge Anwendung des Art. 7 EGBGB führt zur Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit, sodass die Volljährigkeitsgrenze dem Heimatrecht zu entnehmen ist. 24 Die Frage nach der Anwendbarkeit der GFK ist im internationalen Kontext deswegen relevant, da nach dem gem. Art. 7 EGBGB analog anwendbaren Heimatrecht das Volljährigkeitsalter höher als 18 Jahre sein kann. 25 Die problematische Konstellation liegt vor, wenn Jugendliche schon 18 Jahre sind, aber nach ihrem Heimatrecht erst ab 19 Jahren volljährig werden. So tritt die
21
Siehe oben 2. Teil, 3. Kap., B.II. Fn. 329. Vgl. Helms, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinkhammer/Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 149; Mäsch, FS Heldrich, 2005, 857, 858. 23 H.M. vgl. BGH, Beschluss v. 20.12.2017 – XII ZB 333/17, NJW 2018, 613; BayObLG, Beschluss v. 29.3.1995 – 1Z BR 72/94, NJW-RR 1995, 1287; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 15.11.1999 – 11 Wx 113/99, NJWE-FER 2000, 52; Hausmann, in: Staudinger, BGB, 2019, Art. 7 EGBGB Rn. 42; Mäsch, in: BeckOK, BGB, 2020, Art. 7 EGBGB Rn. 23; a.A. jedoch OLG Hamm, Urteil v. 11.11.1998 – 11 UF 329/97, BeckRS 1998, 12868. 24 Rupp, ZfPW 2018, 57, 59. 25 Listen mit Eintritt der Volljährigkeit Staudinger, BGB, 2019, Art. 7 EGBGB Anh.; Mäsch, in: BeckOK, BGB, 2020, Art. 7 EGBGB Rn. 57.1 und (teilweise aber abweichend) die aktuelle „Länderübersicht zur Volljährigkeit“, abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.20). 22
2. Kapitel: Vorliegen von Minderjährigkeit
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Volljährigkeit beispielsweise in Algerien erst mit 19 Jahren 26 und in Togo mit 21 Jahren27 ein. In diesen Fällen ist die Frage nach der Vormundschaft weder von dem KSÜ, welches nach seinem Art. 2 KSÜ nur bis zum Alter von 18 Jahren gilt, noch dem ErwSÜ erfasst, das keinen Schutz für Personen bezweckt, die diesen aufgrund ihrer Minderjährigkeit bedürfen. 28 Vielmehr findet bei Jugendlichen ohne Flüchtlingsstatus Art. 24 EGBGB Anwendung, der an die Staatsangehörigkeit anknüpft. 29 Im Ergebnis brauchen damit Konventionsflüchtlinge mit 18 Jahren keinen Vormund mehr, 19-Jährige Wirtschaftsflüchtlinge aber schon.30 Dieser Widerspruch könnte durch eine Reform des Art. 7 EGBGB aufgelöst werden.31 Konkret wurde im Koalitionsvertrag vom 7. Februar 201832 beschlossen, den Anknüpfungspunkt in Art. 7 EGBGB durch den gewöhnlichen Aufenthalt zu ersetzen. Dies gilt allerdings nur für die direkte Anwendung des Art. 7 EGBGB im Bereich der Geschäftsfähigkeit und ändert nichts an seiner dargelegten analogen Anwendung bei der Abgrenzung von Minderjährigkeit und Volljährigkeit. Die diskutierte Reform stellt damit auch ein weiteres Argument für die oben aufgestellte These der allgemeinen Anwendung des Aufenthaltsprinzips im Rahmen des Personalstatuts dar. Zudem führt sie bezüglich des Asyl- und Ausländerrechts zu einem wünschenswerten Gleichlauf. So legen § 12 Abs. 1 AsylG und § 80 Abs. 1 AufenthG als spezielle Kollisionsnormen fest, dass zur Vornahme von Verfahrenshandlungen nur nach deutschem Recht Volljährige fähig sind. 33 Es kann im Einzelfall unterschiedlich sein, ob es im Interesse des Betroffenen liegt, als minderjährig oder als volljährig eingestuft zu werden. Welches Recht hingegen Anwendung findet, sollte im Rahmen der objektiven Anknüpfung der Volljährigkeit bzw. Vormundschaft gerade nicht einzelfallabhängig sein.
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Vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss v. 23.7.2015 – 5 WF 74/15, NJW-RR 2015, 1284. Vgl. OLG München, Beschluss v. 8.6.2009 – 31 Wx 062/09, juris Rn. 7. 28 Vgl. zur Problematik ausführlich Rupp, ZfPW 2018, 57, 59. 29 Dies bemängelnd v. Hein, in: Juristische Studiengesellschaft Jahresband, 2018, S. 29, 27
39. 30 Vgl. mit Beispielen Helms, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinkhammer/NiethammerJürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 149, 163 ff. 31 So Heiderhoff, IPRax 2017, 160, 166; Helms, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/ Klinkhammer/ Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 149, 166 f.; Weller, DGIR 2018, 247, 256. 32 Koalitionsvertrag v. 7.2.2018, Zeile 6239 ff.: „Wir werden unter Berücksichtigung europäischer und internationaler Vorgaben prüfen, ob sich das anwendbare Recht insb esondere im Bereich des Familienrechts stärker nach dem gewöhnlichen Aufenthalt der Beteiligten bestimmen sollte.“ 33 Zum Ganzen vgl. Rupp, ZfPW 2018, 57, 60.
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Dritter Teil: Die Problematik um unbegleitete Minderjährige
B. Exkurs: Gewöhnlicher Aufenthalt des unbegleiteten Minderjährigen in Deutschland?Minderjährigen? Steht die Minderjährigkeit fest, stellt sich die Frage, ob und wann der unbegleitete Minderjährige seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland begründet. Die Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts bei Asylbewerbern ist, wie oben festgestellt, zukunfts- und prognoseorientiert auszulegen, wobei die objektive Aussicht auf ein Bleiberecht und der Bleibewille zu berücksichtigen sind. Darüber hinaus gibt es bei unbegleiteten Minderjährigen einige weitere Besonderheiten zu berücksichtigen. Diese haben normalerweise noch keinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland, wenn sie erst kurz nach ihrer Ankunft in Obhut genommen werden. Zu Beginn wechseln sie zudem noch häufig den Aufenthaltsort innerhalb Deutschlands, was gegen eine feste soziale Integration spricht. Es ist aber auch zu berücksichtigen, dass Kinder und Jugendliche sich häufig schnell an eine neue Umgebung anpassen.34 Bei unbegleiteten Minderjährigen sind als Indizien für die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts in Deutschland vor allem langfristig ausgelegte Fürsorgemaßnahmen durch das Jugendamt, bestehende familiäre Beziehungen im Inland sowie der regelmäßige Schulbesuch anzusehen. 35 Letztlich handelt es sich bei der Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts von Kindern und Jugendlichen wie bei anderen Personen auch um eine Entscheidung im Einzelfall, die die geistige und persönliche Reife der betreffenden Person berücksichtigen muss. 36 C. Praxisproblem Altersfeststellung Hat man kollisionsrechtlich bestimmt, welche Altersgrenze für die Minderjährigkeit maßgeblich ist, muss das Alter der betreffenden Person festgestellt werden, was in der Praxis eine problematische Thematik für die beteiligten Fachkräfte und betroffenen Jugendlichen ist. 37 Reisen unbegleitete (vermeint-
34
Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, S. 98; Budzikiewicz, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinkhammer/Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 95, 115 f. 35 Budzikiewicz, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinkhammer/Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 95, 116; zur Bedeutung für Art. 8 EuEheVO vgl. Heiderhoff/Frankemüller, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinghammer/Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 189, 202 ff. 36 Überzeugend Rentsch, Der gewöhnliche Aufenthalt im System des Europäischen Kollisionsrechts, 2017, S. 404 ff. 37 Vgl. z.B. BayVGH, Beschluss v. 18.8.2016 – 12 CE 16.1570, juris; VG Schleswig, Beschluss v. 18.12.2015 – 15 B 90/15, juris; OVG Bremen, Beschluss v. 26.5.2017 – 1 B 64/17, juris; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 29.8.2017 – OVG 6 M 61.17, juris; OVG Bremen, Beschluss v. 2.10.2017 – 1 B 173/17, juris; OVG Bremen, Beschluss v.
2. Kapitel: Vorliegen von Minderjährigkeit
151
lich) minderjährige Jugendliche nach Deutschland ein, ist das Aufnahmejugendamt für die vorläufige Inobhutnahme zuständig. Dieses ist berechtigt und verpflichtet alle Rechtshandlungen für Minderjährige vorzunehmen (Notvertretungsrecht kraft öffentlichen Rechts), vgl. § 42a Abs. 3 SGB VIII. Dabei hat es sich am Kindeswohl und dem mutmaßlichen Willen der Eltern zu orientieren.38 Zu den vorzunehmenden Rechtshandlungen zählt insbesondere die Altersfeststellung, die in § 42f SGB VIII geregelt ist. Nach § 42f Abs. 1 SGB VIII ist die Ermittlung des Alters mithilfe der Ausweispapiere oder einer qualifizierten Inaugenscheinnahme vorzunehmen. In der Regel tragen die Jugendlichen keine Ausweispapiere bei sich, sodass in den meisten Fällen auf die qualifizierte Inaugenscheinnahme zurückzugreifen ist. 39 Für das sogenannte Vier-Augen-Prinzip, an das sich das Jugendamt bei der Inaugenscheinnahme zu halten hat, gibt es eine „Handlungsempfehlung zum Umgang mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen“ der Bundesarbeitsgemeinschaft Landesjugendämter von 2014. 40 Die Einschätzung des Jugendamts ist im späteren Gerichtsverfahren zwar ein Indiz, entbindet aber aufgrund des Amtsermittlungsgrundsatzes gem. § 26 FamFG nicht von der richterlichen Ermittlungspflicht. Dies gilt auch, wenn zwar Ausweispapiere vorhanden sind, aber Zweifel an deren Echtheit bestehen.41 Problematisch ist, dass es keine festen Regeln für die Familiengerichte gibt und das Vorgehen der Altersfeststellung daher innerhalb Deutschlands divergiert.42 Letztlich kann der persönliche Eindruck des Richters und Rechtspflegers nur in evidenten Fällen ausschlaggebend sein, da ihnen in Zweifelsfällen die notwendige medizinische Kompetenz fehlt. Vielmehr ist oftmals ein rechtsmedizinisches Sachverständigengutachten einzuholen. 43 Nach obergerichtlicher Rechtsprechung gibt es nur dann keinen Anlass zur ärztlichen Untersuchung, wenn zum Ergebnis der Inaugenscheinnahme durch
5.1.2018 – 1 B 242/17, juris; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 8.1.2018 – OVG 6 S 40.17, juris; für die Jugendhilfe vgl. ferner Kirchhoff/Rudolf, NVwZ 2017, 1167. 38 Huber, NVwZ Extra 17/2016, 1, 3. 39 Dürbeck, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinghammer/Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 65, 69 f. 40 Abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020). 41 Dürbeck, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinghammer/Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 65, 79. 42 Erb-Klünemann, Briefing on Potential and Challenges of Private International Law in the Current Migratory Context – Experiences from the Field, 2017, S. 6, abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020). 43 Dürbeck, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinghammer/Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 65, 80.
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Dritter Teil: Die Problematik um unbegleitete Minderjährige
das Jugendamt weitere Umstände wie etwa ein widersprüchlicher Vortrag hinzukommen.44 Eine exakte Altersfeststellung lässt sich hingegen derzeit auch aus medizinischer Sicht nicht bewerkstelligen. 45 Eine Röntgenuntersuchung kann aber wichtige Indizien liefern und es gibt Pilotprojekte bezüglich einer Altersfeststellung mittels DNA-Test (z.B. im Landkreis Hildesheim).46 In der Literatur wird teilweise vertreten, dass die Röntgenuntersuchung unzulässig sei 47, jedoch ermächtigt Art. 25 Abs. 5 S. 1 RL 2013/32/EU die Mitgliedstaaten ausdrücklich zu ärztlichen Untersuchungen. Zudem ist der Minderjährige nach § 42f Abs. 2 SGB VIII über die Folgen der Untersuchung aufzuklären und kann diese gem. § 42f Abs. 2 S. 3 SGB VIII auch verweigern. Allerdings darf nach § 42f Abs. 2 S. 4 SGB VIII i.V.m. § 66 SGB I bei Verweigerung der ärztlichen Untersuchung auch die vorläufige bzw. endgültige Inobhutnahme verweigert werden. 48 Dies ist allerdings nur zulässig, wenn keine vernünftigen Zweifel an der Volljährigkeit der betreffenden Person bestehen und zudem kein sachlicher Grund für die Verweigerung gegeben ist. 49 Bleiben trotz aller durchgeführten Methoden und Untersuchungen Zweifel, ist gem. Art. 25 Abs. 5 S. 2 RL 2013/32/EU zugunsten des Jugendlichen stets von Minderjährigkeit auszugehen. 50 Die Frage nach der Beweislast ist allerdings nicht im Gesetz geregelt. 51 Es wäre daher wünschenswert, wenn die Beweislast dort festgelegt würde und zudem geregelt würde, dass bei Zweifeln von der Minderjährigkeit des Betroffenen auszugehen ist. Wünschenswert wäre auch eine europarechtliche Regelung hierzu, da die Praxis in den
44 OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 1.4.2016 – OVG 6 S 7/16, OVG 6 M 20/16, NVwZ-RR 2016, 594; OVG Bremen, Beschluss v. 22.2.2016 – OVG 1 B 303/15, NVwZRR 2016, 592. 45 Dürbeck, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinghammer/Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 80; Study for the JURI committee of the European Parli ament: „Children on the Move: A Private International Law Perspective”, June 2017, S. 38., abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020). 46 Dürbeck, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinghammer/Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 65, 81. 47 So Klein, KJ 2015, 405 ff.; vgl. auch die ablehnende Haltung der Bundesärztekammer, Süddeutsche Zeitung v. 2.1.2018, abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020). 48 Dürbeck, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinghammer/Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 65, 70. 49 Kirchhoff/Rudolf, NVwZ 2017, 1167, 1171. 50 Dürbeck, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinghammer/Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 65, 81 f. 51 Kritisch hierzu Hüßtege, FamRZ 2017, 1374, 1377 f.
3. Kapitel: Das behördliche und gerichtliche Verfahren
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Mitgliedstaaten derzeit noch divergiert. 52 Die Kommission hat am 13.06.2016 einen Vorschlag für eine neue Asylverordnung veröffentlicht, die die Asylrichtlinie aus dem Jahr 2013 ersetzen soll. 53 Art. 24 Abs. 6 des Entwurfs sieht vor, dass Feststellungen des Alters durch Gerichte und Behörden eines Mitgliedstaats in einem anderen anerkannt werden sollen. 54 Allerdings überlässt der Vorschlag der Verordnung die Art und Weise der Altersfeststellung dem nationalen Recht, sodass die gegenwärtige Uneinheitlichkeit nicht beseitigt werden würde.55
3. Kapitel: Das behördliche und gerichtliche Verfahren 3. Kapitel: Das behördliche und gerichtliche Verfahren
Bevor das Verfahren vor den deutschen Familiengerichten erläutert wird, soll als Grundlage der kinder- und jugendhilferechtliche Kontext dargelegt werden (dazu A.). Sodann werden Probleme im Rahmen des Sorgerechtsverfahrens (dazu B.) und des Vormundschaftsverfahrens (dazu C.) erläutert. Die Frage nach der Vergütung des Vormunds oder Rechtsbeistands betrifft spezifische Fragen des Kostenrechts und wird daher nicht behandelt. 56 A. Kinder- und jugendhilferechtlicher Kontext Führt die Altersfeststellung zu dem Ergebnis, dass eine Person minderjährig ist, hat das Jugendamt, das den Minderjährigen vorläufig in Inobhutnahme genommen hat, gem. § 42a SGB VIII die weiteren Schritte einzuleiten. Die 52
Vgl. für einen rechtsvergleichenden Überblick zu der Altersfeststellung in den verschiedenen Mitgliedstaaten Study for the JURI committee „Private International Law in a Content of Increasing International Mobility: Challenges and Potential“ des Europäischen Parlaments, PE 583.157, June 2017, S. 15 ff., abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020). 53 Vorschlag für eine Verordnung des europäischen Parlaments und des Rates zur Einführung eines gemeinsamen Verfahrens zur Gewährung internationalen Schutzes in der Union und zur Aufhebung der Richtlinie 2013/32/EU vom 13.7.2016, COM(2016) 467 final. 54 „Wenn ein Mitgliedstaat auf der Grundlage einer medizinischen Untersuchung gemäß diesem Artikel und mit in seinem nationalen Recht anerkannten Methoden über das Alter eines Antragstellers entscheidet, wird diese Entscheidung von den übrigen Mitgliedstaaten anerkannt.“ 55 Kritisch hierzu Study for the JURI committee of the European Parliament: „Children on the Move: A Private International Law Perspective”, June 2017, S. 38, abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020). 5656 Vgl. hierzu Dürbeck, FamRZ 2018, 553, 562 f.
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Dritter Teil: Die Problematik um unbegleitete Minderjährige
§§ 42a ff. SGB VIII mit der Möglichkeit vorläufiger Inobhutnahme wurden geschaffen, da sich die normale Inobhutnahme nach § 42 Abs. 1 Nr. 3 SGB VIII vor allem auf die Jugendämter in Grenznähe und in Nähe zu Erstaufnahmeeinrichtungen konzentrierte, was zu einer Überlastung führte. 57 Zentraler Teil des neuen Verfahrens ist daher die Verteilung auf die verschiedenen Bundesländer innerhalb Deutschlands nach dem Königsteiner Schlüssel und die Übergabe an das (dauerhaft) zuständige Jugendamt. 58 Zudem hat das Jugendamt auf eine mögliche Familienzusammenführung hinzuwirken. Dabei hat es auch zu prüfen, ob sich Verwandte im In- und Ausland aufhalten.59 Das Verfahren der vorläufigen Inobhutnahme endet mit einer Zuweisungsentscheidung aufgrund derer das nach § 88a Abs. 2 S. 1 SGB VIII zuständige Jugendamt den Minderjährigen endgültig in Obhut nimmt. 60 Das Zuweisungsjugendamt hat das Recht und die Pflicht, alle Rechtshandlungen im Interesse des Kindeswohls vorzunehmen. Dazu gehören insbesondere die unverzügliche Stellung eines Asylantrags und die Anregung der Bestellung eines Vormunds oder Pflegers durch das Familiengericht. 61 Der Vormund hat dann, sofern noch nicht geschehen, entweder einen Antrag auf Asyl oder internationalen Schutz beim BAMF zu stellen oder ein asylunabhängiges Schutzersuchen bei der Ausländerbehörde einzureichen. Bis zur Einführung der vorläufigen Inobhutnahme war die Phase bis zur Bestellung eines Vormunds problematisch, da die Minderjährigen, um einen Asylantrag nach § 13 AsylG zu stellen, eines gesetzlichen Vertreters bedürfen. In der Hochphase 2015 konnte die Bestellung eines Vormunds mehrere Monate dauern, während ein großer Teil der Minderjährigen noch nicht ei nmal in Obhut genommen war. 62 57
Dürbeck, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinghammer/Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 65, 68 f. 58 Der Königsteiner Schlüssel regelt vor allem die Verteilung der Asylbewerber auf die einzelnen Bundesländer, vgl. (letzter Abruf: 4.6.2020). 59 Huber, NVwZ Extra 17/2016, 1, 3; Dürbeck, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/ Klinghammer/ Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 65, 68 f. 60 Vgl. Dürbeck, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinghammer/Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 65, 70 f.; Erb-Klünemann, Briefing on Potential and Challenges of Private International Law in the Current Migratory Content – Experiences from the Field, 2017, S. 3, abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020). 61 Dürbeck, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinghammer/Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 65, 71; Erb-Klünemann, Briefing on Potential and Challenges of Private International Law in the Current Migratory Content – Experiences from the Field, 2017, S. 2, abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020). 62 Huber, NVwZ Extra 17/2016, 1, 6.
3. Kapitel: Das behördliche und gerichtliche Verfahren
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B. Sorgerechtsverfahren vor dem Familiengericht Bevor sich die Frage nach der Vormundschaft stellt, muss geklärt werden, ob die gesetzliche Vertretung des Minderjährigen als Teil der elterlichen Sorge nach § 1629 Abs. 1 S. 1 BGB nicht mehr gewährleistet ist. Konkret muss das Familiengericht das Ruhen der elterlichen Sorge i.S.d. §§ 1673 ff. BGB feststellen. Dafür wird – meist auf Anregung des Jugendamts hin – amtswegig nach § 24 FamFG ein Sorgerechtsverfahren eingeleitet. 63 I. Zuständigkeit deutscher Familiengerichte Bei gewöhnlichem Aufenthalt der Jugendlichen in Deutschland ist die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte nach Art. 8 EuEheVO begründet.64 In Notfällen ergibt sich die Zuständigkeit für vorläufige Maßnahmen aus Art. 20 EuEheVO, wobei diese Zuständigkeit entfällt, sobald ein anderer Mitgliedstaat zuständig ist, der dann endgültige Maßnahmen zu ergreifen hat. In der Praxis erweist sich die Abgrenzung vorläufiger und endgültiger Maßnahmen indes häufig als schwierig. 65 Ist der gewöhnliche Aufenthalt nicht feststellbar, sind gem. Art. 13 Abs. 1 EuEheVO die Gerichte des Mitgliedstaates zuständig, in dem sich der Minderjährige tatsächlich aufhält. Zu beachten ist, dass der Minderjährige dann auch keinen gewöhnlichen Aufenthalt mehr im Herkunftsland haben darf.66 Bei Flüchtlingen und Vertriebenen kann die Zuständigkeit zudem unabhängig vom gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland aus Art. 13 Abs. 2 EuEheVO folgen, wonach bei fehlendem gewöhnlichen Aufenthalt in der EU oder einem sicheren Drittstaat die Gerichte an dem Ort zuständig sind, an dem sich der minderjährige Flüchtling befindet. 67 Teilweise wird vertreten, dass der in Art. 13 Abs. 2 EuEheVO enthaltene Ausdruck „Flüchtlinge und Vertriebene“ weit ausgelegt werden sollte und, da nicht alle einen Antrag auf Asyl oder internationalen Schutz stellen, noch andere unbegleitete Minderjährige erfassen sollte, also zum Beispiel auch bloße „Wirtschaftsflüchtlinge“. Begründet wird dies mit dem telos des Art. 13 EuEheVO, der die Zuständigkeit der Gerichte am Aufenthaltsort be63
Vgl. Hammer, in: Prütting/Helms, FamFG, 2018, § 151 FamFG Rn. 40. Vgl. z.B. OLG Karlsruhe, Beschluss v. 23.7.2015 – 5 WF 74/15, FamRZ 2015, 1820, 1822; Rupp, ZfPW 2018, 57, 61. 65 Vgl. Study for the JURI committee of the European Parliament: „Children on the Move: A Private International Law Perspective”, June 2017, S. 16 f., abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020). 66 Heiderhoff/Frankemüller, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinghammer/NiethammerJürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 189, 204. 67 Vgl. zum Ganzen Heiderhoff/Frankemüller, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinghammer/Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 189, 204 f. 64
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Dritter Teil: Die Problematik um unbegleitete Minderjährige
sonders schutzbedürftiger Personen sicherstellen will. 68 Zudem wird die Erklärung zu dem wortlautgleichen Art. 6 KSÜ herangezogen, in der es heißt: „They [the children] may indeed for example, be led to apply for asylum [...].“69
Aus der Formulierung lasse sich ableiten, dass die Minderjährigen nicht notwendigerweise Asylbewerber seien. 70 Ob der Minderjährige Flüchtling oder Vertriebener ist, ist ferner nicht leicht feststellbar und die Gerichte sind häufig auf den Bericht des Minderjährigen angewiesen.71 Zumindest Minderjährige, die aus Gebieten mit bewaffneten Konflikten kommen, wie z.B. aus Syrien, Afghanistan oder Eritrea sollten daher ebenfalls unter die Regelung des Art. 13 EuEheVO fallen.72 Die Frage nach der Auslegung des Art. 13 Abs. 2 EuEheVO ist indes eher theoretischer Natur, da die Zuständigkeit deutscher Gerichte jedenfalls auch für minderjährige Wirtschaftsflüchtlinge ohne gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland aus Art. 14 EuEheVO in Verbindung mit der autonomen Vorschrift des § 99 Abs. 1 S. 2 FamFG folgt. 73 Funktionell ist nach § 3 Nr. 2a RpflG eigentlich der Rechtspfleger für das Sorgerechtsverfahren zuständig. Da für das anschließende Vormundschaftsverfahren gem. § 14 Abs. 1 Nr. 10 RpflG jedoch der Richter zuständig ist, wird er in der Regel beide Verfahren wegen des Sachzusammenhangs an sich ziehen, auch um etwa doppelte Anhörungen der Beteiligten zu vermeiden. 74
68
Vgl. Rupp, ZfPW 2018, 57, 61 sowie die Study for the JURI committee of the European Parliament: „Children on the Move: A Private International Law Perspective”, June 2017, S. 15, abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020). 69 Vgl. P. Lagarde, Explanatory Report on the 1996 Hague Child Protection Convention, Rn. 44. 70 Vgl. Study for the JURI committee of the European Parliament: „Children on the Move: A Private International Law Perspective”, June 2017, S. 15., abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020). 71 Erb-Klünemann, Briefing on Potential and Challenges of Private International Law in the Current Migratory Context – Experiences from the Field, 2017, S. 5, abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020). 72 Heiderhoff/Frankemüller, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinghammer/NiethammerJürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 189, 204 f. 73 Dürbeck, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinghammer/Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 65, 73. 74 Dürbeck, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinghammer/Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 65, 72.
3. Kapitel: Das behördliche und gerichtliche Verfahren
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II. Anwendbares Recht und Entscheidungsparameter Ist die internationale Zuständigkeit nach einer der genannten Normen begründet, findet nach Art. 15 Abs. 1 KSÜ bzw. Art. 12 Abs. 1 GFK die lex fori also deutsches Recht Anwendung. 75 Als Voraussetzung für die Vormundschaftsbestellung hat das nach § 152 Abs. 3 FamFG örtlich zuständige Familiengericht, wenn zumindest noch ein Elternteil lebt, gem. § 1674 BGB in einem ersten Schritt über das Ruhen der elterlichen Sorge zu entscheiden. 76 Auf die Frage nach einem bestehenden Sorgerecht findet gem. Art. 16 Abs. 1 KSÜ das Recht des gewöhnlichen Aufenthalts Anwendung. Allerdings besteht ein einmal begründetes Sorgerecht gem. Art. 16 Abs. 3 KSÜ bei einem Aufenthaltswechsel fort. Bei unbegleiteten Minderjährigen ist die Feststellung häufig mit Schwierigkeiten verbunden, da ausländisches Recht Anwendung findet. 77 Insbesondere die Nachprüfung islamischen Rechts stellt das Gericht regelmäßig vor Probleme wie beispielsweise beim Vorliegen einer möglichen kafāla.78 Zudem gibt es selten aussagekräftige Urkunden bzw. Papiere als Nachweis. 79 So nehmen die Familiengerichte in den meisten Fällen einfach das Bestehen der gemeinsamen elterlichen Sorge der Eltern an. 80 Stehen die sorgeberechtigten Personen fest, ruht ihre Sorge dann, wenn ein wesentlicher Teil der Sorgerechtsverantwortung nicht mehr von einem Elternteil ausgeübt werden kann. Dafür ist grundsätzlich nicht ausreichend, dass sich die Eltern im Ausland befinden und kann nicht angenommen werden, wenn das Kind beispielsweise gut versorgt bei Verwandten lebt und die Kommunikation über Telefon oder Internet sichergestellt ist. Bei Flüchtlingen wird jedoch oft das Ruhen der Sorge anzunehmen sein, da die Eltern häufig nicht mobil, selbst auf der Flucht und mittellos sind. Zudem haben sie weder Kenntnis von der deutschen Sprache noch der hiesigen Lebensweise, was 75
Rupp, ZfPW 2018, 57, 61. Dürbeck, FamRZ 2018, 553, 555; ders., in: Budzikiewicz/Heiderhoff/ Klinghammer/Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 65, 76. 77 Vgl. Study for the JURI committee of the European Parliament: „Children on the Move: A Private International Law Perspective”, June 2017, S. 18, abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020). 78 Heiderhoff/Frankemüller, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinghammer/NiethammerJürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 189, 198 sowie zur kafāla schon oben 2. Teil, 2. Kap., D.II.6.b. 79 Dürbeck, FamRZ 2018, 553, 555; ders., in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinghammer/ Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 65, 77. 80 Erb-Klünemann, Briefing on Potential and Challenges of Private International Law in the Current Migratory Context – Experiences from the Field, 2017, S. 7, abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020). 76
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Dritter Teil: Die Problematik um unbegleitete Minderjährige
einer ausreichenden Sorge über die Entfernung entgegensteht. 81 Teilweise legen die Minderjährigen eine Sorgerechtsvollmacht vor, die zum Beispiel einen Verwandten zur Ausübung der elterlichen Sorge bevollmächtigen soll. Ihre Wirkung ist hingegen begrenzt, da oft schon nicht zu klären ist, ob sie wirklich vom Sorgeberechtigten ausgestellt wurde. Zudem ist sie jederzeit widerruflich und oft ist keine regelmäßige Rücksprache zwischen dem Sorgeberechtigten und dem Bevollmächtigten möglich. 82 Lediglich, wenn der Jugendliche angibt, die Eltern seien verstorben und das Gericht keine Zweifel an dieser Angabe hat, bedarf es einer Sorgerechtsentscheidung nicht. 83 III. Zu berücksichtigende Verfahrensvorschriften Nach § 7 Abs. 2 Nr. 1 FamFG sind das Kind und die Eltern am Verfahren zu beteiligen. Zudem ist das Kind nach § 159 Abs. 1 und Abs. 2 FamFG zwingend anzuhören. Auch die Eltern sind nach § 160 FamFG grundsätzlich anzuhören.84 Liegt ein schwerwiegender Grund vor, wie z.B. der unbekannte Aufenthalt der Eltern, kann davon eine Ausnahme gemacht werden. Ein Auslandsaufenthalt alleine hindert die Anhörung hingegen nicht. So können die Eltern auch telefonisch oder per Mail angehört werden oder aber schriftlich mittels Auslandszustellung, vgl. § 15 Abs. 2 FamFG i.V.m. § 183 ZPO. Auch das zuständige Jugendamt ist gem. § 162 Abs. 1 S. 1 FamFG anzuhören. 85 Eine Beschwerde gegen die Entscheidung des Gerichts können gem. § 60 FamFG Minderjährige ab 14 Jahren sowie nach § 59 FamFG die Eltern und das Jugendamt als zu beteiligende und anzuhörende Behörde einlegen. 86
81
OLG Hamm Entscheidung v. 20.7.2015 – 4 UF 117/15, juris; Dürbeck, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinghammer/Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 65, 77. 82 Dürbeck, FamRZ 2018, 553, 555; ders., in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinghammer/Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 65, 77 f.; ErbKlünemann, Briefing on Potential and Challenges of Private International Law in the Current Migratory Content – Experiences from the Field, 2017, S. 7, abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020). 83 Dürbeck, FamRZ 2018, 553, 555; ders., in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinghammer/ Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 65, 76. 84 Heiderhoff/Frankemüller, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinghammer/NiethammerJürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S 189, 197 f. 85 Vgl. Dürbeck, FamRZ 2018, 553, 558; ders., in: Budzikiewicz/Heiderhoff/ Klinghammer/ Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 65, 73 ff. 86 Dürbeck, FamRZ 2018, 553, 558 f.: Damit ist das Zuweisungsjugendamt und nicht das Jugendamt, das später zum Amtsvormund bestellt wird, gemeint.
3. Kapitel: Das behördliche und gerichtliche Verfahren
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C. Das Vormundschaftsverfahren I. Zuständigkeit und anwendbares Recht Auch hinsichtlich des Vormundschaftsverfahrens ist die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte bei (gewöhnlichem) Aufenthalt des Minderjährigen in Deutschland aus Art. 8 EuEheVO, Art. 13 EuEheVO oder jedenfalls nach § 99 Abs. 1 S. 2 FamFG begründet. Entsprechend ist nach Art. 15 Abs. 1 KSÜ bzw. Art. 12 Abs. 1 GFK deutsches Recht als lex fori anwendbar. Ist der Minderjährige schon über 18 Jahre, nach seinem Heimatrecht aber noch minderjährig, findet das KSÜ nach Art. 2 KSÜ keine Anwendung. Das auf das „ob“ einer Vormundschaft anwendbare Recht ist gem. Art. 24 Abs. 1 EGBGB dann das Heimatrecht. 87 Die Modalitäten der Vormundschaft richten sich gem. Art. 24 Abs. 3 EGBGB allerdings nach dem Aufenthaltsrecht und somit nach dem deutschen Recht. 88 II. Vormundschaftsbestellung Das materielle Recht der Vormundschaftsbestellung ist in den §§ 1779 ff. BGB geregelt. Eine genaue Erläuterung geht über den Rahmen der Dissertation hinaus, sodass nur kurz auf die Eckpunkte eingegangen wird. Im Verfahren ist gem. § 1779 Abs. 2 S. 1 BGB ein nach persönlichen Verhältnissen und Vermögenslage geeigneter Vormund auszuwählen. 89 Es gibt verschiedene Arten von Vormündern, z.B. Berufsvormünder, Vereinsvormünder, ehrenamtliche Vormünder und Amtsvormünder (in der Regel das Jugendamt), unter denen das Gericht auswählt. 90 Bei der Auswahl ist auch der mutmaßliche Wille der Eltern zu berücksichtigen. 91 Fraglich ist, ob primär Verwandte oder Verschwägerte als Einzelvormund in Betracht zu ziehen sind. Dafür spricht auf den ersten Blick Art. 6 Abs. 1 GG, der auch die Familie schützt. Jedoch fehlt zum einen häufig die Bereitschaft, eine so verantwortungsvolle Aufgabe zu übernehmen. Zum anderen muss der Vormund nach 87
Zum Ganzen ausführlich Rupp, ZfPW 2018, 57, 62 ff. Helms, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinkhammer/Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 149, 165. 89 Den formellen Akt der Vormundschaftsbestellung nimmt der gem. § 1789 BGB zuständige Rechtspfleger vor. 90 Dürbeck, FamRZ 2018, 553, 559; Erb-Klünemann, Briefing on Potential and Challenges of Private International Law in the Current Migratory Content – Experiences from the Field, 2017, S. 8, abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020); Huber, NVwZ Extra 17/2016, 1, 2; Rupp, ZfPW 2018, 57, 62. 91 Erb-Klünemann, Briefing on Potential and Challenges of Private International Law in the Current Migratory Context – Experiences from the Field, 2017, S. 8, abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020). 88
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Dritter Teil: Die Problematik um unbegleitete Minderjährige
Art. 6 Abs. 2 Dublin III-VO und Art. 25 Abs. 1 RL 2013/32/EU geeignete pädagogische, kulturelle und rechtliche Fähigkeiten sowie wünschenswerterweise auch Sprachkenntnisse haben. Bei Verwandten ist dies häufig nicht gewährleistet, da es ihnen als ebenfalls Geflüchteten wie den Eltern häufig an Sprachkenntnissen und an Kenntnissen der hiesigen Verhältnisse mangelt. Hinzu kommt in einigen Fällen ein ungesicherter Aufenthaltsstatus. 92 Andererseits steht bei der Auswahl des Vormunds auch das Kindeswohl im Vordergrund, sodass in Einzelfällen durchaus die Vormundschaft enger Angehöriger in Betracht kommen kann. So hat das OLG Hamm in einem Urteil vom 13.06.2017 das erstinstanzliche Urteil, das als Vormund das Jugendamt bestellt hatte, aufgehoben und die Schwester des Minderjährigen als Vormund bestellt. 93 Das Gericht begründete seine Entscheidung damit, dass unter maßgeblicher Berücksichtigung des Kindeswohls diejenige Person als Vormund zu bestellen ist, die nach ihren persönlichen Verhältnissen und ihrer Vermögenslage unter Berücksichtigung aller Lebensumstände geeignet zur Übernahme des Amts ist. Im Fall entsprach die Bestellung dem Willen des angehörten minderjährigen Jungen und auch dem mutmaßlichen Willen der Eltern, da die Schwester einen entsprechenden Brief vorlegen konnte. Das Gericht argumentierte, als nahe Verwandte kenne die Schwester den Jungen und könne so seine Interessen unter Rücksprache mit den Eltern am besten wahrnehmen. Da die Schwester stets die Hilfe eines Rechtsanwalts in Anspruch nehmen könne, stünden auch ihre mangelnden Kenntnisse der deutschen Sprache und des deutschen Rechtssystems ihrer Bestellung als Vormund der Interessenwahrnehmung nicht entgegen. Im Ergebnis ist die Auswahl des geeigneten Vormunds daher anhand einer Einzelfallprüfung unter besonderer Berücksichtigung des Kindeswohls vorzunehmen. Der ausgewählte Vormund hat dann neben der Unterstützung in asylrechtlichen Fragen auch für den Gesundheitszustand, den Zugang zum Ausbildungs- und Arbeitsmarkt und der Beantragung von Sozialleistungen des Mündels Sorge zu tragen.94 III. Verfahrensvorschriften Hinsichtlich der Beteiligung und Anhörung gelten wie im Sorgerechtsverfahren die §§ 159 ff. FamFG. Auch bezüglich des Beschwerderechts kann nach 92
Dürbeck, FamRZ 2018, 553, 559; ders., in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinghammer/ Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 83 f.; Huber, NVwZ Extra 17/2016, 1, 2. 93 OLG Hamm, Urteil v. 13.06.2017 – 4 UF 31/17, BeckRS 2017, 117086. 94 Erb-Klünemann, Briefing on Potential and Challenges of Private International Law in the Current Migratory Context – Experiences from the Field, 2017, S. 8, abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020).
3. Kapitel: Das behördliche und gerichtliche Verfahren
161
oben verwiesen werden. Eine Besonderheit besteht darin, dass nun auch das Jugendamt gegen seine Auswahl als Amtsvormund Beschwerde einlegen kann. 95 IV. Beendigung der Vormundschaft Da der Anwendungsbereich des KSÜ nur bis zum Alter von 18 Jahren eröffnet ist, ist die Frage nach der Beendigung der Vormundschaft nach Art. 24 Abs. 1 EGBGB anzuknüpfen und das Heimatrecht findet Anwendung. Bei Flüchtlingen ist gem. Art. 12 Abs. 1 GFK deutsches Recht maßgeblich, nach dem die Vormundschaft gem. § 1882 BGB durch Wegfall der in § 1773 BGB für ihre Begründung bestimmten Voraussetzungen endet, wozu auch der Eintritt der Volljährigkeit des Mündels gehört. 96 Die Vormundschaft kann aber auch dann aufgehoben werden, wenn das Mündel wieder aus Deutschland ausreist, zum Beispiel, um wieder von seinen Eltern nach erfolgreicher Familienzusammenführung in Obhut genommen zu werden. 97 Bei Minderjährigen, denen keine Flüchtlingseigenschaft zukommt, findet aufgrund des nun auf die Beendigung der Vormundschaft anwendbaren Heimatrechts ein Statutenwechsel statt, beurteilte sich die Vormundschaftsbestellung doch nach Art. 15 Abs. 1 KSÜ noch nach deutschem Recht. 98 Abgemildert wird dieser zwar dadurch, dass gem. Art. 24 Abs. 3 EGBGB auf die Durchführung der Vormundschaft durchgängig deutsches Recht Anwendung findet, dennoch birgt diese Aufspaltung des Vormundschaftstatuts einige Nachteile. Dazu zählt sowohl die kostenintensive Ermittlung des Heimatrechts als auch eine möglicherweise notwendig werdende erneute Bestellung eines (anderen) Vormunds. 99 Ferner ist die Anerkennung eines bestellten Vormunds in anderen Mitgliedstaaten mit großer Rechtsunsicherheit behaftet, weil sich dies nach dem jeweiligen nationalen Recht richtet. 100 Die europäi95
Dürbeck, FamRZ 2018, 553, 562. Vgl. dazu die anschauliche Entscheidung des BGH, Beschluss v. 20.12.2017 – XII ZB 333/17, NJW 2018, 613 sowie Dürbeck, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinghammer/ Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 65, 90 f.; Helms, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinkhammer/ Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 149, 164 ff. 97 Dürbeck, FamRZ 2018, 553, 561; ders., in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinghammer/ Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 65, 90; Erb-Klünemann, Briefing on Potential and Challenges of Private International Law in the Current Migratory Context – Experiences from the Field, 2017, S. 9, abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020). 98 Siehe unter II. 99 Dazu auch Rupp, ZfPW 2018, 57, 66 ff. 100 Für einen Überblick über die divergierenden Verfahren und Abläufe bei der Bestellung eines Vormunds in den Mitgliedstaaten vgl. Study for the JURI committee of the 96
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Dritter Teil: Die Problematik um unbegleitete Minderjährige
sche Kommission hat daher einen „Vorschlag für eine Verordnung des europäischen Parlaments und des Rates zur Einführung eines gemeinsamen Verfahrens zur Gewährung internationalen Schutzes in der Union und zur Aufhebung der Richtlinie 2013/32/EU“101 vorgelegt, in dem auch die Frage nach der Vormundschaft geregelt wird. 102 Die geschilderte Problematik verdeutlicht einmal mehr, welche Nachteile sich auf Basis der oben aufgestellten These zum einheitlichen Personalstatut vermeiden ließen.103
4. Kapitel: Rechtsstellung der Minderjährigen als Folge 4. Kapitel: Rechtsstellung der Minderjährigen als Folge
Die Frage nach der Minderjährigkeit eines Geflüchteten ist insbesondere deshalb relevant, da der Status einige asyl- und ausländerrechtliche Folgen nach sich zieht (dazu A.). Zudem soll das Problem der anwaltlichen Vertretung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge in asyl- und ausländerrechtlichen Angelegenheiten erläutert werden (dazu B.). Am Ende des Kapitels wird ein Überblick über die Leistungsansprüche des Minderjährigen gegeben (dazu C.). A. Asyl- und ausländerrechtliche Folgen I. Positive Statusentscheidung Nach einer positiven Entscheidung des BAMF oder der Ausländerbehörde erhält der Minderjährige einen aufenthaltsrechtlich sicheren Status. Als anerkannter Asylberechtigter oder Flüchtling hat er nach § 25 Abs. 1 und Abs. 2 AufenthG i.V.m. § 26 Abs. 1 S. 2 AufenthG ein humanitäres Aufenthaltsrecht von drei Jahren und als subsidiär Schutzberechtigter gem. § 25 Abs. 2 AufenthG i.V.m. § 26 Abs. 1 S. 3 AufenthG von einem
European Parliament: „Children on the Move: A Private International Law Perspective“, June 2017, S. 40, abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020). 101 Vorschlag für eine Verordnung des europäischen Parlaments und des Rates zur Einführung eines gemeinsamen Verfahrens zur Gewährung internationalen Schutzes in der Union und zur Aufhebung der Richtlinie 2013/32/EU, COM (2016) 467 final. 102 Art. 4 Abs. 2 lit. f): „[...] Neben den Begriffsbestimmungen nach Absatz 1 bezeichnet der Ausdruck: [...] ‚Vormund‘ eine Person oder Organisation, die zur Unterstützung und Vertretung eines unbegleiteten Minderjährigen bestellt wurde, um in Verfahren nach Maßgabe dieser Verordnung das Wohl und das allgemeine Wohlergehen des Minderjährigen zu schützen und für ihn, soweit erforderlich, Rechtshandlungen vorzunehmen; [...]“. 103 Zur Problematik einer Lösung de lege lata vgl. Rupp, ZfPW 2018, 57, 68.
4. Kapitel: Rechtsstellung der Minderjährigen als Folge
163
Jahr.104 Auch ohne besonderen Schutzstatus kann ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG vorliegen, was nach § 26 Abs. 1 S. 4 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis von mindestens einem Jahr nach sich zieht. Liegt lediglich ein Abschiebungshindernis nach § 60a Abs. 2 S. 1 AufenthG vor, wird der Minderjährige nur geduldet und eine Aufenthaltserlaubnis kommt gem. § 25a und § 25b AufenthG nur bei gut integrierten Jugendlichen bzw. bei nachhaltiger Integration und insgesamt erst nach mehrjährigem Inlandsaufenthalt in Betracht. 105 II. Familiennachzug Hinsichtlich des Familiennachzugs ist zwischen Flüchtlingen und subsidiär Schutzberechtigten zu unterscheiden. Nach § 36 Abs. 1 AufenthG ist den Eltern eines minderjährigen Flüchtlings oder Asylberechtigten, der einen Aufenthaltstitel oder eine Niederlassungserlaubnis hat, ebenfalls eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn sich kein personensorgeberechtigter Elternteil im Bundesgebiet aufhält. Bei minderjährigen subsidiär Schutzberechtigten sind die Voraussetzungen deutlich enger. 106 Zu ihnen dürfen die Eltern nach § 36 Abs. 1 AufenthG nur nachziehen, wenn dem Minderjährigen nach Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gem. § 25 Abs. 2 S. 1 Alt. 2 AufenthG auch bereits eine Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 4 AufenthG erteilt wurde. Zudem darf gem. § 36 Abs. 2 AufenthG sonstigen Familienangehörigen eines Ausländers zum Familiennachzug nur eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn dies zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte erforderlich ist. § 36 AufenthG setzt Art. 10 Abs. 3a der europäischen FamiliennachzugsRichtlinie 107 um, nach dem die Mitgliedstaaten die Einreise und den Aufenthalt der Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades eines unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings zum Zwecke der Familienzusammenführung gestatten sollen. Auch Art. 6 Abs. 4 Dublin III-VO trifft eine Regelung zum Familiennachzug: „[...] Zum Zweck der Durchführung des Artikels 8 unternimmt der Mitgliedstaat, in dem der unbegleitete Minderjährige einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, so bald wie möglich geeignete Schritte, um die Familienangehörigen, Geschwister oder Verwandte des unbegleiteten Minderjährigen im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten zu ermitteln, wobei er das Wohl des Kindes schützt. [...]“
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Siehe oben 2. Teil, 2. Kap., D.II.5. und F.II.1. Huber, NVwZ Extra 17/2016, 1, 10. 106 Zur Aussetzung des Nachzugsrechts bei subsidiär Schutzberechtigten 2. Teil, 2. Kap., F.II.2. 107 Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung. 105
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Dritter Teil: Die Problematik um unbegleitete Minderjährige
Für die Geltendmachung des Nachzugsrechts nach § 36 AufenthG ist keine Frist einzuhalten, sondern der Antrag muss nur vor der Vollendung der Volljährigkeit gestellt werden. Auch ein gemeinsamer Elternnachzug ist grundsätzlich möglich. Befindet sich schon ein Elternteil in Deutschland, ist es aber räumlich von dem Minderjährigen getrennt, kann der Nachzug des noch im Ausland befindlichen Elternteils geboten sein. Adoptiveltern sind gleichermaßen nachzugsberechtigt, wobei die Wirksamkeit der Adoption als kollisionsrechtliche Vorfrage nach Art. 22 EGBGB anzuknüpfen ist. 108 Für Geschwister kann das Nachzugsrecht zwar nicht aus § 36 AufenthG, aber aus § 32 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG folgen, wenn sie sich mit den Eltern im Herkunftsland aufhalten und diese nachziehen wollen. 109 Der EuGH hat in seiner Entscheidung Chakroun betont, dass aus dem Nachzugsrecht eine objektive Verpflichtung der Mitgliedstaaten und ein subjektives Recht der Betroffenen folgt, sodass den Mitgliedstaaten grundsätzlich kein Wertungsspielraum etwa in Form einer Prognose, ob der Nachzug noch sinnvoll ist, verbleibt. 110 Der Nachzug scheitert ferner nicht daran, dass dieser „missbräuchlich“ geltend gemacht, wird, weil die Eltern dem Kind gezielt zur Flucht verholfen haben, da dies typisches „Fluchtgeschehen“ sei.111 Umstritten ist, ob der Anspruch auf einen Familiennachzug bestehen bleibt, wenn der Flüchtling nach der Antragstellung und während des Verfahrens volljährig wird. Der EuGH hat auf eine Vorlage niederländischer Gerichte hin entschieden, dass der Anspruch auf Familienzusammenführung bestehen bleibt. Es ist auf den Zeitpunkt der Asylantragstellung und nicht den Tag der Entscheidung abzustellen. Der Gerichtshof stützt seine Ansicht auf das Ziel und den Regelungszusammenhang der Familienzusammenführungsrichtlinie sowie die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts, die den Mitgliedstaaten zusammengenommen eine objektive Verpflichtung ohne Ermessensspielraum auferlegen. 112 Das Auswärtige Amt ist dieser Rechtsauffassung allerdings nicht gefolgt und sieht in Deutschland einen Auslegungsspielraum bei der Umsetzung der Richtlinie. Der vom EuGH entschiedene niederländische Fall sei mit der Rechtslage in Deutschland nicht vergleichbar. So hätten Eltern nach der U msetzung der FamRL in den Niederlanden ein eigenes Aufenthaltsrecht, das nicht bei Eintritt der Volljährigkeit des Kindes erlösche. In Deutschland hingegen würde § 36 Abs. 1 AufenthG den Anspruch gerade auf den Eintritt der
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Heinhold, ZAR 2012, 142, 143. Heinhold, ZAR 2012, 142, 144. 110 EuGH, Urteil v. 4.3.2010 – Rs. C-578/08, Chakroun ./. Minister van Buitenlandse Zaken, BeckRS 2010, 90247; Heinhold, ZAR 2012, 142, 146. 111 So Heinhold, ZAR 2012, 142, 147. 112 EuGH, Urteil v. 12.4.2018 – Rs. C-550/16, A, S ./. Staatssecretaris van Veiligheid en Justitie, BeckRS 2018, 5023 Rn. 42 ff. 109
4. Kapitel: Rechtsstellung der Minderjährigen als Folge
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Volljährigkeit befristen. Da die FamRL kein unbeschränktes Nachzugsrecht vorsieht, hielt auch das Bundesverwaltungsgericht die deutsche Umsetzung bisher für europarechtskonform. 113 Das OVG Brandenburg hat demgegenüber den EuGH-Entscheid in einer jüngeren Entscheidung auch für die deutsche Rechtslage als bindend angesehen. 114 In der Praxis wird der Minderjährige in der Regel direkt nach der Einreise zu seinen Familienangehörigen befragt, um eine zügige Familienzusammenführung bestenfalls vor der endgültigen Inobhutnahme durchführen zu können. 115 Auch in der anschließenden Langzeitbetreuung durch das Zuweisungsjugendamt und den Vormund ist die Familienzusammenführung ein wichtiger Teil der pädagogischen Arbeit. Die Behörden arbeiten dafür mit Privatorganisationen und dem Roten Kreuz zusammen. Eine Hürde bei der Ermittlung von Angehörigen ist aber oftmals das Fehlen qualifizierter Dokumente, wie der Geburtsurkunde oder Eheurkunde, um Familienverhältnisse auch nachweisen zu können. 116 Und auch die in Deutschland in der Regel durchgeführten DNA-Tests erweisen sich als schwierig, wenn sich die Eltern noch in einem Drittstaat oder einem anderen Mitgliedstaat der EU aufhalten.117
113 BVerwG, Urteil v. 18.4.2013 – 10 C 9.12, ZAR 2013, 390; zur Stellungnahme des Auswärtigen Amts vgl. (letzter Abruf: 4.6.2020). 114 Vgl. OVG Berlin – Brandenburg, Beschluss v. 19.12.2018 – 3 S 98.18, NVwZ-RR 2019, 437: „[…], spricht aber Überwiegendes dafür, dass die Mutter der Antragstellerin nach ihrer Einreise in das Bundesgebiet trotz zwischenzeitlichen Eintritts der Volljähri gkeit ihres Sohnes A. gegenüber der Beigeladenen einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 36 Abs. 1 AufenthG haben wird. Der Anspruch auf Familienzusammenführung auch nach Eintritt der Volljährigkeit des zunächst noch minderjährigen Flüchtlings würde seiner praktischen Wirksamkeit (zu diesem Gesichtspunkt vgl. EuGH, Urteil vom 12. April 2018 […]) beraubt, wenn sich der Erteilung eines Visums nicht ein Aufenthalt zumindest von einer gewissen Dauer anschließen würde […].“ 115 Für einen rechtsvergleichenden Überblick über den Ablauf in Belgien, Frankreich und Italien vgl. Study for the JURI committee „Private International Law in a Content of Increasing International Mobility: Challenges and Potential“ des Europäischen Parlaments, PE 583.157, June 2017, S. 26, abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020). 116 Vgl. Study for the JURI committee of the European Parliament: „Children on the Move: A Private International Law Perspective”, June 2017, S. 44, abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020). 117 Vgl. Study for the JURI committee „Private International Law in a Context of Increasing International Mobility: Challenges and Potential” des Europäischen Parlaments, PE 583.157, June 2017, S. 26, abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020).
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Dritter Teil: Die Problematik um unbegleitete Minderjährige
III. Negative Statusentscheidung Wurde der Antrag auf Asyl oder subsidiären Schutz abgelehnt und liegt auch kein Abschiebungsverbot oder -hindernis vor, erfolgt grundsätzlich die Anordnung oder Androhung der Abschiebung in das Herkunftsland oder einen sicheren Drittstaat. Bei Minderjährigen sind jedoch die strengen Kriterien des § 58 Abs. 1a AufenthG zu erfüllen, der Art. 10 der europäischen Rückführungsrichtlinie 118 umsetzt. Danach darf der Minderjährige nur abgeschoben werden, wenn eine Rückkehr zu seiner Familie, seinem Vormund oder einer qualifizierten Einrichtung möglich ist. Daran hat das Bundesverwaltungsgericht strenge Anforderungen gestellt. So muss die Behörde sicher sein, dass die Rückkehr tatsächlich erfolgen wird und die konkrete Möglichkeit einer Übergabe prüfen. 119 Die Behörden müssen sich davon auch durch die Einschaltung von Botschaften und Konsulaten vor Ort überzeugen. 120 Hinsichtlich der Hauptherkunftsländer dürften die aufgestellten Voraussetzungen selten vorliegen. Auch die Abschiebungsverbote nach Art. 3 EMRK und § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG stehen unabhängig von der Eigenschaft als Minderjähriger einer Abschiebung entgegen. 121 Bei unerlaubter Einreise aus einem sicheren Drittstaat i.S.d. § 26a AsylG sind die Minderjährigen grundsätzlich gem. § 58 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG ausreisepflichtig. Die Ausweisung bei Verletzung geltenden Rechts kommt bei Minderjährigen allerdings selten vor, da der Minderjährigkeit ein besonderes Gewicht bei der Abwägungsentscheidung nach § 53 Abs. 1 und Abs. 2AufenthG beigemessen wird.122 Nach Art. 11 Abs. 2 RL 2013/33/EU123 (Aufnahmerichtlinie) darf eine Abschiebehaft nur in Ausnahmefällen angeordnet werden. Der BGH hat dementsprechend zu § 62 Abs. 1 S. 3 AufenthG entschieden, dass eine Abschiebehaft nur soweit in Betracht kommt, wie das Kindeswohl nicht gefährdet ist. 124 Art. 17 Abs. 1 RL 2008/115/EG (Rückführungsrichtlinie) regelt, dass die Haft nur im äußersten Falle und für die kürzest mögliche angemessene Dauer angeordnet werden darf. Im Ergebnis verlieren die Jugendlichen bei Eintritt der Volljährigkeit ihren Aufenthaltsstatus nicht, sind aber leichter abzuschieben. 125 118 Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger. 119 BVerwG, Urteil v. 13.6.2013 – 10 C 13/12, NVwZ 2013, 1489, Rn. 18. 120 BVerwG, Urteil v. 13.6.2013 – 10 C 13/12, NVwZ 2013, 1489, Rn. 20. 121 Siehe oben 2. Teil, 2. Kap., G. 122 Vgl. Huber, NVwZ Extra 17/2016, 1, 11. 123 Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen. 124 BGH, Beschluss v. 12.2.2015 – V ZB 185/14, NVwZ 2015, 840. 125 Huber, NVwZ Extra 17/2016, 1, 12.
4. Kapitel: Rechtsstellung der Minderjährigen als Folge
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B. Die Vertretung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge in asyl- und ausländerrechtlichen Angelegenheiten Ein in der Rechtsprechung umstrittenes Thema ist die Frage nach der Bestellung eines anwaltlichen Ergänzungspflegers oder eines Rechtsanwalts als Mitvormund für den Minderjährigen im Vormundschaftsverfahren, der seine asyl- und ausländerrechtlichen Angelegenheiten regelt. 126 Hintergrund ist die Annahme, dass dem zuständigen Jugendamt, das gem. § 1791b BGB häufig als Amtsvormund bestellt wird, die hinreichende eigene Sachkunde fehlt. Ein Ergänzungspfleger nach § 1909 BGB wird in der Regel für eine gegenständlich beschränkte und vorübergehende Verhinderung des Vormunds bestellt. Diesen Weg gingen bis 2013 zum Beispiel die hessischen Gerichte. 127 Der BGH hat dies für unzulässig erklärt, da eine bloße mangelnde Sachkunde für die Ergänzungspflegschaft nicht ausreiche. Diese komme grundsätzlich nur in Betracht, wenn dem Vormund gem. § 1837 Abs. 4 i.V.m. § 1666 BGB dieser Bereich seiner Vertretungsmacht durch das Familiengericht entzogen wurde. Vielmehr sei es ausreichend, dass sich der Vormund im gerichtlichen Verfahren um eine anwaltliche Vertretung für sein Mündel kümmere.128 Der 6. Senat des OLG Frankfurt ging in der Folge dazu über, stattdessen einen Rechtsanwalt als Mitvormund zu bestellen. 129 Nach § 1775 S. 2 BGB ist grundsätzlich nur ein einzelner Vormund zu bestellen, wenn nicht ein besonderer Grund vorliegt. Liegt ein solcher vor, kann das Gericht dann gem. § 1797 Abs. 2 BGB die Vormundschaft auf bestimmte Wirkungskreise unter mehreren Mitvormündern aufteilen. 130 Seinen Weg begründete der 6. Senat vor allem mit den neuen europäischen Vorgaben, namentlich Art. 6 Abs. 2 EU Dublin III-VO, Art. 25 Abs. 1 RL 2013/32 und Art. 24 Abs. 1 RL 2013/33, die allesamt vorschreiben, dass der Vertreter des Minderjährigen entsprechende Qualifikationen und Fachkenntnisse haben muss. 131 Der BGH hat wiederum am 13.09.2017 entschieden, dass auch die Bestellung eines Mitvormunds unzulässig sei, selbst wenn es dem Amtsvormund an
126
Vgl. zum Ganzen Dürbeck, FamRZ 2018, 553, 560 f.; Riegner, NZFam 2014, 150 ff. OLG Frankfurt, Beschluss v. 28.4.2000 – 20 W 549/99, BeckRS 2012, 9916; AG Gießen, Beschluss v. 16.7.2010 – 244 F 1159/09 VM, juris. 128 Vgl. die beiden Entscheidungen des BGH: Beschluss v. 29.5.2013 – XII ZB 124/12, BeckRS 2013, 10424 und Beschluss v. 29. 5. 2013 – XII ZB 530/11, NJW 2013, 3095. 129 Vgl. OLG Frankfurt, Beschluss v. 28.1.2014 – 6 UF 289/13, juris; OLG Frankfurt, Beschluss v. 19.2.2014 – 6 UF 28/14, NJW 2014, 3111; OLG Frankfurt, Beschluss v. 11.9.2014 – 6 UF 239/14, BeckRS 2014, 23239; OLG Frankfurt, Beschluss v. 8.1.2015 – 6 UF 292/14. BeckRS 2015, 6254; OLG Frankfurt, Beschluss v. 2.6.2016 – 6 UF 121/16, NJW-RR 2016, 1289; OLG Frankfurt, Beschluss v. 2.4.2016 – 6 UF 77/16, BeckRS 2016, 13975. 130 Vgl. Riegner, NZFam 2014, 150, 152. 131 Vgl. zu den Vorgaben ausführlich Dürbeck ZKJ 2014, 266, 270 ff. 127
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Dritter Teil: Die Problematik um unbegleitete Minderjährige
einschlägiger juristischer Sachkunde fehle. 132 Diese Entscheidung wird durch den neuen § 42 Abs. 2 S. 5 SGB VIII flankiert, der regelt, dass das Jugendamt unverzüglich einen Asylantrag zu stellen hat und ihm diesen Bereich der Vormundschaft somit ausdrücklich zuweist. Zudem steht ohnehin eine Streichung der Mitvormundschaft nach § 1775 S. 2 BGB zur Diskussion.133 C. Leistungsansprüche des Minderjährigen Das SGB VIII sieht einige kostenintensive jugendhilferechtliche Leistungen für Minderjährige vor, die ihren individuellen Bedürfnissen entsprechen, z.B. die Unterbringung in einer Jugendhilfeeinrichtung oder bei Pflegeeltern. 134 Zudem gewährt das Bundeskindergeldgesetz (BKGG) dem Jugendhilfeträger einen Anspruch auf Kindergeld. Auch der Minderjährige hat gem. § 1 Abs. 2 BKGG einen Anspruch auf Auszahlung des Kindergelds an sich selbst, wenn er Vollwaise ist, seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hat und nicht bei einer anderen Person als Kind zu berücksichtigen ist. An das Tatbestandsmerkmal des gewöhnlichen Aufenthalts stellt das Bundessozialgericht i.S.d. § 1 Abs. 2 BKGG besondere Anforderungen. So ist grundsätzlich ein verfestigter gewöhnlicher Aufenthalt erforderlich, wobei für eine positive Bleibeperspektive unter Berücksichtigung aller tatsächlichen Umstände auch maßgeblich ist, ob in der Zukunft ein zwangsweises oder freiwilliges Verlassen zu erwarten ist. 135 In der kurzen Zeit vor der Inobhutnahme durch das Jugendamt stehen dem Minderjährigen ferner die eingeschränkten Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz zu (vgl. § 1a Abs. 1 AsylbLG). 136 Zu diesen Leistungsansprüchen treten das oben angesprochene Nachzugsrecht der Eltern eines Minderjährigen und die eingeschränkten Abschiebungsmöglichkeiten, sodass sich unbegleitete Minderjährige im Vergleich zu volljährigen Schutz- oder Wirtschaftsmigranten in einer privilegierten Situation befinden. Dies ist angesichts der überragenden Stellung des Kindeswohls begrüßenswert.
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BGH, Beschluss v. 13.9.2017 – XII ZB 497/16, NJW 2017, 3520. Vgl. § 1776 BGB-E des Diskussionsteilentwurfs zur Reform des Vormundschaftsrechts des BMJV v. 18.8.2016, abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020); vgl. dazu auch Veit/Marchlewski, FamRZ 2017, 779 ff. 134 Huber, NVwZ Extra 17/2016, 1, 4. 135 Vgl. BSG, Urteil v. 5.5.2015 – B 10 KG 1/14 R, NVwZ 2016, 555, Rn. 15 und 33. 136 Huber, NVwZ Extra 17/2016, 1, 6. 133
5. Kapitel: Fazit
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5. Kapitel: Fazit 5. Kapitel: Fazit
Auch wenn der große „Ansturm“ aus den Jahren 2015 und 2016 vorbei sein dürfte, werden die bereits eingereisten unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge zum Großteil mehrere Jahre oder auf Dauer in Deutschland bleiben. Vor dem Hintergrund der tangierten sensiblen Bereiche wie dem Kindeswohl und dem Recht auf Familie, gepaart mit Fragen des Flüchtlingsschutzes, stellt die Materie eine große Herausforderung für die Familiengerichte und die Jugendhilfe dar. 137 Neben den erläuterten rechtlichen Problemfeldern ist vor allem die erhebliche Anzahl an Verfahren problematisch. In Fachkreisen wird daher die vermehrte Einstellung von Familienrichtern und Rechtspflegern sowie Mitarbeitern der Jugendämter angeregt. Denn auch bei der Beendigung der bestellten Vormundschaften kommt es wieder zu einem Anstieg der familienrechtlichen Verfahren. 138 Zudem gibt es noch einen Verbesserungsbedarf, was die Zusammenarbeit zwischen den Ausländerbehörden und den Jugendämtern angeht. 139 Auf europäischer Ebene ist insbesondere problematisch, dass das europäische Asylsystem bestehend aus den Dublin- Verordnungen und den verschiedenen Asylrichtlinien auf der einen und der EuEheVO auf der anderen Seite nicht aufeinander abgestimmt sind. 140 Dies wird immer dann zu einem Problem, wenn die Minderjährigen zwischen den Mitgliedstaaten hin- und herziehen. Als Lösungsansatz wird in diesem Zusammenhang eine flexiblere Anwendung des Begriffes des gewöhnlichen Aufenthalts angeregt. 141 Auch die Kooperation der Behörden zwischen den Mitgliedstaaten ist verbesserungswürdig. 142 Hier könnte man sich die Transfermöglichkeiten des
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Huber, NVwZ Extra 17/2016, 1, 12. Vgl. das Fazit bei Dürbeck, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinghammer/NiethammerJürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 65, 92 f. 139 Ein Ergebnis der Study for the JURI committee of the European Parliament: „Children on the Move: A Private International Law Perspective”, June 2017, S. 33, abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020). 140 Vgl. Study for the JURI committee of the European Parliament: „Children on the Move: A Private International Law Perspective”, June 2017, S. 12, abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020); vgl. für Beispiele Heiderhoff/Frankemüller, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinghammer/Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 189, 211 ff. 141 Heiderhoff/Frankemüller, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinghammer/NiethammerJürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 189, 219. 142 Vgl. die Key Findings der Study for the JURI committee of the European Parliament: „Children on the Move: A Private International Law Perspective”, June 2017, S. 26, 138
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Dritter Teil: Die Problematik um unbegleitete Minderjährige
Art. 15 EuEheVO besser zunutze machen. 143 Zudem sollte es in allen Mitgliedstaaten die Möglichkeit einer vorläufigen Inobhutnahme geben, da gerade für Schutzmigranten der Vorteil besteht, dass das Jugendamt sofort einen Asylantrag oder einen Antrag auf internationalen Schutz stellen kann. 144
6. Kapitel: Zusammenfassung des dritten Teils in Thesenform 6. Kapitel: Zusammenfassung des dritten Teils in Thesenform
1. Anknüpfung der Minderjährigkeit Die Feststellung, ob Minderjährigkeit gegeben ist, wird nach der herrschenden Meinung in Rechtsprechung und Literatur nach Art. 7 EGBGB analog angeknüpft. Die Tatsache, dass bei minderjährigen Wirtschaftsflüchtlingen nach Art. 7 EGBGB analog deren Heimatrecht Anwendung findet und bei Konventionsflüchtlingen nach Art. 12 Abs. 1 GFK das Aufenthaltsrecht, führt zu einem unterschiedlichen Eintrittsalter der Volljährigkeit und damit zu widersprüchlichen Ergebnissen. Dies kann jedoch durch die im zweiten Teil aufgestellte und begründete These einer Reform des Personalstatuts abgemildert werden. 2. Problematik der Altersfeststellung Eine besondere Herausforderung für die Behörden und Gerichte liegt bereits in der Altersfeststellung, da es einmal für die Methode der qualifizierten Inaugenscheinnahme nach § 42f Abs. 1 SGB VIII keine konkreten Kriterien gibt und es zum anderen auch an einer naturwissenschaftlichen Methode fehlt, mit der das Alter zweifelsfrei festgestellt werden kann. 3. Das jugendhilfe- und familienrechtliche Verfahren Um die Betreuung minderjähriger Flüchtlinge insbesondere hinsichtlich asyl und ausländerrechtlicher Fragen schnellstmöglich sicherzustellen, wurde das Verfahren der vorläufigen Inobhutnahme nach § 42a SGB VIII geschaffen. Daran schließt sich die endgültige Inobhutnahme durch das Zuweisungsjugendamt an. Dieses hat das Sorgerechts- und Vormundschaftsverfahren vor abrufbar unter (letzter Abruf: 9.10.2019). 143 Heiderhoff/Frankemüller, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinghammer/NiethammerJürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 189, 216 ff. 144 Vgl. Study for the JURI committee of the European Parliament: „Children on the Move: A Private International Law Perspective”, June 2017, S. 39 f., abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020).
6. Kapitel: Zusammenfassung des dritten Teils in Thesenform
171
dem Familiengericht anzuregen, in denen sich das Gericht unter anderem mit den im Flüchtlingskontext besonders problematischen Fragen nach dem Ruhen der Sorge bei Aufenthalt der Eltern im Ausland sowie nach einem geeigneten Vormund auseinandersetzen muss. 4. Vorteilhafte Rechtsstellung des Minderjährigen Der Status als Minderjähriger hat für die Betroffenen im asyl- und ausländerrechtlichen Kontext Vorteile, wie etwa ein grundsätzliches Recht auf den Nachzug ihrer Sorgeberechtigten nach Deutschland und erschwerte Abschiebungsbedingungen. Zudem sieht das SGB VIII einige jugendhilferechtliche Leistungen vor wie etwa die geeignete Unterbringung und Betreuung. 5. Ausblick Im Umgang mit minderjährigen unbegleiteten Flüchtlingen stellt die Kombination der hohen Anzahl an Verfahren mit der Komplexität der Rechtsfragen, auch des IPR und Völkerrechts, insgesamt hohe Anforderungen an die Gerichte und Behörden. Hinzu kommen die strengen und aufwändig zu erfüllenden Verfahrensanforderungen der §§ 151 ff. FamFG. Dies könnte durch vermehrte Einstellung von Familienrichtern und Rechtspflegern abgemildert werden. Zudem ist eine Vereinheitlichung des Rechtsrahmens auf europäischer Ebene anzustreben.
Vierter Teil
Spezifische Herausforderungen im Internationalen Eherecht 1. Kapitel: Einführung 1. Kapitel: Einführung
An einem bisher noch nicht im Detail untersuchten Argument für die Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt, nämlich die Vermeidung von selten befriedigenden Umwegen der Rechtsanwendung über den ordre public, wird gezeigt, dass die im sechsten Kapitel des zweiten Teils aufgestellte These sich insbesondere im Internationalen Eherecht bestätigt. Dafür werden zwei familienrechtliche Probleme aus dem Eherecht besonders beleuchtet, bei dem deutsche Gerichte mit der Anwendbarkeit ausländischen Rechts konfrontiert sind: die kollisionsrechtliche Behandlung von Minderjährigenehen und von polygamen Ehen. Gerade im internationalen Eherecht zeigt sich der Konflikt mit der inländischen Werteordnung und den daraus resultierenden Herausforderungen für das IPR besonders deutlich. Das IPR, das eigentlich für Liberalität und Multikulturalismus steht, gerät hier in besonderem Maße in ein Spannungsverhältnis zur nationalstaatlichen Souveränität. Durch immer weiter zunehmende Liberalität im Familienrecht werden die Gegensätze einmal mehr verschärft. Mit der Anerkennung der gleichgeschlechtlichen Ehe, der zunehmend einfachen Scheidbarkeit der Ehe sowie der Förderung der Gleichberechtigung in der Ehe wird ein Wertewandel vollzogen, der nicht einmal innerhalb Europas kohärent ist. 1 Einführend soll die Problematik in den weiteren Kontext von Familienrecht und Migration eingeordnet werden. Dazu wird zunächst die Ehe als Rechtsinstitut mit ihren Wertungen aus einer dogmatischen und historischen Perspektive dargelegt (dazu A. und B.). Sodann werden exemplarisch die Ehemündigkeit und das Verbot der Doppelehe unter Berücksichtigung
1
Die gleichgeschlechtliche Ehe wurde bisher nur in 15 von 28 europäischen Mitgliedstaaten eingeführt, vgl. die Übersicht auf (letzter Abruf: 4.6.2020). Auf Malta war die Scheidung der Ehe noch bis 2011 verboten.
1. Kapitel: Einführung
173
rechtsvergleichender Aspekte erläutert (dazu C.). Das erste Kapitel schließt mit einem Fazit (dazu D.). A. Einführung zur Ehe als familienrechtlichem Rechtsverhältnis Der Begriff des familienrechtlichen Rechtsverhältnisses ist konkretisierungsbedürftig und wird daher im Folgenden kurz als Grundlagenbegriff des vierten Teils dieser Arbeit näher umschrieben. Familienrechtlicher Natur sind alle Rechtsverhältnisse, zu deren Entstehungstatbestand Abstammung oder Ehe gehört, und alle Rechtsverhältnisse, die Vorstufe (Verlöbnis), Ersatz (Adoption) oder Funktionsersatz (Vormundschaft, registrierte Partnerschaft, begrenzt auch die nichteheliche Lebensgemeinschaft) eines durch Abstammung oder Ehe begründeten Rechtsverhältnisses sein sollen.2 Von dem Begriff des Rechtsverhältnisses umfasst sind regelmäßig der Tatbestand und seine Rechtsfolgen. Bei der Ehe sind somit der Tatbestand der Eheschließung sowie die daraus erwachsenden Rechtsfolgen wie z.B. das Güterrecht erfasst. 3 Familienrechtliche Rechtsverhältnisse sind ferner Sonderverbindungen, die auf bestimmte – nicht notwendigerweise nur zwei – Personen zugeschnitten sind. Grundsätzlich beschränken sich die Rechtsbeziehungen aber auf nur zwei Personen. 4 Die Mehrehe hingegen, die im dritten Kapitel thematisiert werden soll, ist daher schon aufgrund ihres Ausnahmecharakters problematisch, umfasst sie doch typischerweise Dreiecksbeziehungen. Schließlich sind familienrechtliche Rechtsverhältnisse – und damit auch die Ehe – Dauerrechtsverhältnisse. Diesen Rechtsverhältnissen ist aufgrund der in Vollzug gesetzten Rechtsbeziehungen und Ansprüchen immanent, dass sie nicht problemlos rückwirkend beseitigt werden können und eine Auflösung daher grundsätzlich nur mit ex nunc-Wirkung möglich ist. 5 Die genannten Besonderheiten der Ehe als familienrechtliches Rechtsverhältnis sind bei der folgenden Untersuchung der kollisionsrechtlichen Behandlung von Minderjährigenehen und Mehrehen zu berücksichtigen. Auf sie wird daher an den passenden Stellen erneut verwiesen. B. Die Entwicklung der Ehe in Europa Bevor sich Aussagen zur Ehemündigkeit und einem Mindestalter für die Eheschließung sowie zur Anerkennung polygamer Ehen treffen lassen, sind
2
Definition wörtlich übernommen von Coester-Waltjen/Gernhuber, Familienrecht, 2010, § 3 Rn. 1. 3 Coester-Waltjen/Gernhuber, Familienrecht, 2010, § 3 Rn. 3. 4 Coester-Waltjen/Gernhuber, Familienrecht, 2010, § 3 Rn. 4 f. 5 Coester-Waltjen/Gernhuber, Familienrecht, 2010, § 3 Rn. 6 f.
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Vierter Teil: Herausforderungen im Internationalen Eherecht
diese zunächst in den weiteren Kontext des Rechtsinstituts „Ehe“ einzuordnen. Die Ehe ist auf der gesamten Welt ein wichtiger juristischer und sozialer Status und blickt auf eine lange Rechtstradition zurück, die durch den ständ igen Kampf um die Vorherrschaft zwischen der Religion, der Familie und dem Staat geprägt ist.6 Der folgende historische Überblick beschränkt sich auf den europäischen Rechtsraum, wo die zivile Ehe ihren Ursprung im römischen Recht hat. Dieses betrachtete die Ehe zunächst nicht als Rechtsverhältnis zwischen den Beteiligten, sondern als rein soziales Faktum. 7 Ab der Neuzeit hatten die Weltreligionen einen dominierenden Einfluss auf die Ehe. In der westlichen Welt wurde das Gebiet lange von der katholischen Kirche und ihrem kanonischen Recht beherrscht, das die Ehe zwar auch als Vertrag einordnete, jedoch stets das sakrale Element der Ehe betonte. 8 Mit der Aufklärung wurde es immer mehr als Aufgabe des Staates angesehen, einen normativen Rahmen für die Ehe zu schaffen. Schließlich wurde die Ehe im Jahr 1874 im Zuge des „Kulturkampfes“ Otto von Bismarcks emanzipiert („Zivilehe“). In der Folge machte die Zivilehe der katholischen Kirche zunehmend Konkurrenz. Im Verhältnis zur protestantischen Kirche, die die Ehe seit jeher als zivilen Status einordnet und über kein eigenes Regelwerk verfügt, gab es naturgemäß weniger Konflikte.9 Nach der Säkularisierung der Ehe gab es zunächst wenig strukturelle Veränderungen. Das BGB, beeinflusst durch das konservative 19. Jahrhundert, bezeichnete die Ehe in seinen Motiven als eine „vom Willen der Ehegatten unabhängige sittliche und rechtliche Ordnung“. 10 Mit Beginn des 20. Jahrhunderts wurden schließlich die Privatautonomie und damit der freie Wille der Ehegatten zunehmend ins Zentrum der rechtlichen Ausgestaltung der Ehe gestellt. 11 In Europa stehen die kirchliche und staatliche Ehe heute grundsätzlich unverbunden nebeneinander. In Deutschland wurde die bürgerliche Ehe gewöhnlich definiert als die von einer Rechtsordnung anerkannte Verbindung von Mann und Frau zur Lebensgemeinschaft 12, wobei die Beschränkung auf 6
Coester/Coester-Waltjen, in: International Encyclopedia of Comparative Law, Volume VI, 1997, 3. Kap. S. 3 f./103. 7 Kaser, Das römische Privatrecht I, 2005, § 17 I, S. 65. 8 Coester/Coester-Waltjen, in: International Encyclopedia of Comparative Law, Volume VI, 1997, 3. Kap. S. 5 f.; Henrich, in: Henrich/Jayme/Sturm (Hrsg.), Ehe und Kindschaft im Wandel, 1998, S. 31. 9 Coester/Coester-Waltjen, in: International Encyclopedia of Comparative Law, Volume VI, 1997, 3. Kap. S. 7 f. 10 Mugdan, Die gesammelten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, Band 4: Familienrecht, 1899, S. 562. 11 Coester/Coester-Waltjen, in: International Encyclopedia of Comparative Law, Volume VI, 1997, 3. Kap. S. 7 f. 12 Gernhuber/Coester-Waltjen, Familienrecht, 2010, § 4 Rn. 1 f.
1. Kapitel: Einführung
175
Geschlechterverschiedenheit seit dem „Gesetz vom 20. Juli 2017 zur Einführung des Rechts auf Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts“ nicht mehr aktuell ist.13 Die Ehe wird häufig als Institution bezeichnet, womit konkreter das Normgefüge gemeint ist, das die jeweilige staatliche Rechtsordnung der Ehe zugrunde legt. 14 Die Ehe ist als soziale Verhaltensform im persönlichen Lebensbereich eines Menschen aber mehr als ein rechtliches Konstrukt und einem ständigen Wertewandel unterworfen, der vom Gesetzgeber aufgegriffen werden muss. 15 So begannen schon in den 20er-Jahren die ersten Frauenbewegungen für mehr Gleichberechtigung auch in der Ehe (z.B. Mitentscheidungsrechte, gemeinsame elterliche Sorge und Gütertrennung) zu kämpfen und tasteten damit das erste Mal die klassische Rollenverteilung mit dem Mann als Oberhaupt der Familie an. 16 Diese Bestrebungen für mehr Freiheit und Gleichheit in der Ehe wurden durch den Nationalsozialismus unterbrochen, der die Ehe dem privaten Bereich entzog und „als Akt höchster völkischer Bedeutung“ für die eigene Ideologie fruchtbar machte. 17 Nach dem Krieg musste die deutsche Nachkriegsgesellschaft neue bzw. alte Werte für das zukünftige soziale Zusammenleben definieren. Gerade im Familienrecht standen sich alte Traditionen und neue Entwicklungen gegenüber. In diesem Zuge wurde die Ehe in Art. 6 GG verfassungsrechtlich abgesichert und unter den Schutz des Staates gestellt. Zwar gab es Strömungen, die die Ehe wieder auf ihren christlichen Ursprung zurückführen wollten und „Zersetzungserscheinungen“ wie berufstätigen Ehefrauen und der leichten Scheidbarkeit der Ehe entgegenwirken wollten. 18 Der Wertewandel war jedoch nicht mehr aufzuhalten. Einen ersten Anstoß gab die Verbürgung Gleichberechtigung von Frau und Mann in Art. 3 Abs. 2 GG, die sich der bisherigen Vorherrschaft des Mannes in der Ehe entgegengesetzte. 19 Die 13
Vgl. BGBl. 2017 I Nr. 52, S. 2787. Gernhuber/Coester-Waltjen, Familienrecht, 2010, § 4 Rn. 3. 15 Coester/Coester-Waltjen, in: International Encyclopedia of Comparative Law, Volume VI, 1997, 3. Kap. S. 107; Gernhuber/Coester-Waltjen, Familienrecht, 2010, § 4 Rn. 9. 16 Henrich, in: Henrich/Jayme/Sturm (Hrsg.), Ehe und Kindschaft im Wandel, 1998, S. 31, 32. 17 Henrich, in: Henrich/Jayme/Sturm (Hrsg.), Ehe und Kindschaft im Wandel, 1998, S. 31, 37. 18 Henrich, in: Henrich/Jayme/Sturm (Hrsg.), Ehe und Kindschaft im Wandel, 1998, S. 31, 33. 19 Beispielhaft für diese Entwicklung ist die Reform des § 1256 BGB, dessen Fassung von 1957 noch lautete: „Die Frau führt den Haushalt in eigener Verantwortung. Sie ist berechtigt erwerbstätig zu sein, soweit dies mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar ist.“ Seit der Neufassung durch das Erste Gesetz zur Reform des Ehe- und Familienrechts (1. EheRG) vom 14. Juni 1976, BGBl. I 1976, S. 1421–1463 heißt es nunmehr: „Die Ehegatten regeln die Haushaltsführung in gegenseitigem Einvernehmen.“ 14
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Vierter Teil: Herausforderungen im Internationalen Eherecht
68er-Bewegung gab schließlich weitere Impulse hin zu mehr Freiheit und Gleichberechtigung und gibt die Richtung bis heute noch vor. 20 Anders als über die lange Geschichte der Ehe hinweg haben die Familie, der Staat und die Kirche im westlichen Rechtsraum zunehmend an Einfluss verloren, vielmehr wird der Freiheit bei der Eheschließung und auch der freien Ausgestaltung der ehelichen Lebensführung ein hoher Stellenwert in unserer Gesellschaft eingeräumt, der insbesondere auch grundrechtlich in Art. 6 GG verankert ist.21 Auch den nichtehelichen Lebensgemeinschaften kommt zunehmend Bedeutung zu, was nicht die einzige Veränderung familienrechtlicher Werte darstellt. 22 So sind die Moralvorstellungen in der westlichen Gesellschaft allgemein liberaler geworden. Statt Sicherheit und fester Bindung bis an das Lebensende kommt der Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung heute eine größere Bedeutung zu. Dies zeigt sich vor allem an den sinkenden Zahlen von Eheschließungen und einem gleichzeitigen Anstieg der Scheidungsrate. 23 Zudem liegt ein besonderer Fokus auf dem Schutz des Schwächeren und der Gleichberechtigung. So soll sichergestellt sein, dass für das Eingehen der Ehe die nötige Verstandesreife vorliegt und auch während der Ehe ein gleichberechtigtes Zusammenleben gewährleistet ist. 24 C. Spezifische Fragen Eine im Ausland geschlossene Ehe wird in Deutschland genau genommen nicht anerkannt, sondern es wird geprüft, ob die Voraussetzungen der Eheschließung vorlagen, indem diese ebenfalls nach Art. 11 und 13 EGBGB kollisionsrechtlich angeknüpft werden und anschließend das so ermittelte anwendbare Recht geprüft wird. 25 Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn die Ehe in Deutschland geschieden werden soll und die deutschen Gerichte zu20
Henrich, in: Henrich/Jayme/Sturm (Hrsg.), Ehe und Kindschaft im Wandel, 1998, S. 31, 37 f.; Sturm, in: Henrich/Jayme/Sturm (Hrsg.), Ehe und Kindschaft im Wandel, 1998, S. 1 f. 21 Nishitani, RdC 401 (2019), 143, 163. 22 Coester/Coester-Waltjen, in: International Encyclopedia of Comparative Law, Volume VI, 1997, 3. Kap. S. 3 f.; Henrich, in: Henrich/Jayme/Sturm (Hrsg.), Ehe und Kindschaft im Wandel, 1998, S. 31, 44 f.; Nishitani, RdC 401 (2019), 143, 162; Schwenzer, in: dies./Büchler (Hrsg.), Vierte Schweizer Familienrechtstage, 2008, S. 3, 5 f.; Sturm, in: Henrich/Jayme/Sturm (Hrsg.), Ehe und Kindschaft im Wandel, 1998, S. 1, 4 f. 23 Vgl. Schwenzer, in: dies./Büchler (Hrsg.), Vierte Schweizer Familienrechtstage, 2008, S. 3, 5 f.; Sturm, in: Henrich/Jayme/Sturm (Hrsg.), Ehe und Kindschaft im Wandel, 1998, S. 1, 6. 24 Henrich, in: Henrich/Jayme/Sturm (Hrsg.), Ehe und Kindschaft im Wandel, 1998, S. 31, 44; Sturm, in: Henrich/Jayme/Sturm (Hrsg.), Ehe und Kindschaft im Wandel, 1998, S. 1, 25 f.; zur Entwicklung ferner auch Basedow, FamRZ 2019, 1833, 1834 ff. 25 Antomo, NZFam 2016, 1155, 1159; dies., NJW 2016, 3558, 3560; Henrich, FamRZ 2000, 819.
1. Kapitel: Einführung
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nächst die Vorfrage einer wirksamen (Auslands-)ehe klären müssen. Auch bei Unterhaltssachen stellt sich die Vorfrage einer wirksamen Ehe. 26 I. Die Ehemündigkeit Während in Deutschland und Europa der Trend hin zu mehr Selbstbestimmung des Einzelnen und Geschlechtergleichstellung geht und zu einem höheren Ehemündigkeitsalter führt (dazu 1.) ist das Ehebild in muslimischen Rechtsordnungen häufig traditioneller und mit einem von europäischen Standards abweichenden Ehemündigkeitsalter verbunden (dazu 2.). 1. Deutschland und Europa Untrennbar verknüpft mit den sich wandelnden Werten ist die Frage nach der Ehemündigkeit, die nach deutschem Begriffsverständnis mit der Ehefähigkeit gleichzusetzen ist und das Vorliegen einer der persönlichen Voraussetzungen zur Eheschließung meint. 27 Unter die persönlichen Voraussetzungen zur Eheschließung fallen je nach Rechtsordnung auch die Geschlechterverschiedenheit und die hinreichend entfernte Verwandtschaft der Ehegatten sowie das Nichtvorliegen einer schon bestehenden Ehe. 28 Für die Ehemündigkeit müssen die Nupturienten das vom Gesetzgeber festgelegte Mindestalter für die Eheschließung erfüllen. Der Gesetzgeber orientiert sich wiederum an den vorherrschenden Ansichten der Gesellschaft und daran, welche Anforderungen sie allgemein an die körperlichen und geistigen Fähigkeiten einer Person stellt.29 Blickt man zurück auf die europäische Entwicklung, findet sich rechtsvergleichend durchgehend ein geringes Mindestalter in den damaligen Fassungen der Zivilgesetzbücher. Im römischen Recht lag die Ehemündigkeit ab Eintritt der Geschlechtsreife (pubertas) vor, die typisierend für Mädchen mit 12 Jahren und für Jungen mit 14 Jahren angenommen wurde.30 Diese Altersgrenzen wurden auch vom kanonischen Recht, das an das römische Recht anknüpfte, beibehalten. Der Codex Iuris Canonici von 1083 (Canon 1083) legte als Mindestalter für eine Heirat 14 Jahre für Mädchen und 16 Jahre für Jungen fest. 31 Nach dem BGB von 1896 lag die Ehemündigkeit gem. § 1303 S. 1 BGB (1896) bei Mädchen 26 DIJUF Rechtsgutachten, JAmt 2016, 127; Antomo, NZFam 2016, 1155, 1159; dies., NJW 2016, 3558, 3560. 27 Gernhuber/Coester-Waltjen, Familienrecht, 2010, § 9 Rn. 1. 28 Coester/Coester-Waltjen, in: International Encyclopedia of Comparative Law, Volume VI, 1997, 3. Kap. S. 15. 29 Coester/Coester-Waltjen, in: International Encyclopedia of Comparative Law, Volume VI, 1997, 3. Kap. S. 15. 30 Vertiefend vgl. Kaser, Das römische Privatrecht I, 2005, § 17 I S. 66, § 20 II S. 74 und § 74 I 1 S. 268. 31 Knecht, Handbuch des katholischen Eherechts, 1928, S. 345 ff.
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Vierter Teil: Herausforderungen im Internationalen Eherecht
ab 16 Jahren und bei Jungen ab der Volljährigkeit (also gem. § 3 BGB (1896) mit 21 Jahren) vor. Jedoch sah § 1303 S. 2 BGB (1896) für Mädchen zusätzlich eine Befreiungsmöglichkeit vor. 32 Die beschränkt Geschäftsfähigen benötigten zur Eheschließung gem. § 1304 BGB (1896) zudem die Einwilligung ihrer gesetzlichen Vertreter. 33 Das EheG von 1938 veränderte die Ehemündigkeit nicht, sondern übernahm § 1303 BGB in § 1 EheG (1938).34 Nach § 3 EheG (1938) war die Einwilligung der Eltern bei der Eheschließung unter 18 Jahren erforderlich, diese war jedoch durch das Vormundschaftsgericht ersetzbar.35 Nach dem zweiten Weltkrieg sah das EheG in seiner neuen Fassung vom 1.3.1946 zunächst in § 1 EheG (1946) noch ein unterschiedliches Ehemündigkeitsalter für Mädchen und Jungen vor.36 Schließlich wurde 1974 mit Art. 2 Nr. 2 VolljkG für beide Geschlechter die Volljährigkeit ab 18 Jahren als Mindestheiratsalter festgelegt und eine Befreiungsmöglichkeit ab 16 Jahren eingeführt. 37 Anders war es in der DDR, wo das Mindestalter für die Eingehung der Ehe für beide Geschlechter einheitlich bei 18 Jahren schon am 24.11.1955 in der, das EheG ersetzenden, Verordnung über Eheschließung und Eheauflösung (EheVO), festgesetzt wurde. 38 Bis zum „Kinderehengesetz vom 1. Juli 2017“39 lag die Ehemündigkeit nach § 1303 Abs. 1 BGB a.F. grundsätzlich mit 18 Jahren vor, wobei gemäß § 1303 Abs. 2 BGB a.F. ein Dispens ab 16 Jahren möglich war. Im französischen Code Civil von 1804 wurden als Mindestalter für die Eheschließung für Mädchen 15 Jahre und für Jungen 18 Jahre festgelegt. Zudem war das Einverständnis der Eltern bis zum Alter von 21 Jahren bei Frauen und 25 Jahren bei Männern erforderlich. Das Mindestalter hat sich seit 1804 nicht geändert und entspricht der Regelung des aktuellen Code Civil. Auch das erforderliche Einverständnis der Eltern bei minderjährigen
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Mugdan, Motive des BGB Bd. IV: § 1303: „Ein Mann darf nicht vor erlangter Volljährigkeit [vor dem Eintritte der Volljährigkeit], eine Frau darf nicht vor vollendetem [vor der Vollendung des] 16. Lebensjahrs die Ehe eingehen. Einer Frau kann Befreiung von dieser Vorschrift bewilligt werden“. 33 Staudinger, BGB-Synopse 1896–2005, 2006, S. 650. 34 Es wurde lediglich Alter der Ehemündigkeit selbständig bestimmt und nicht auf die Volljährigkeit verwiesen. 35 Maßfeller, Das neue Familienrecht, 1952, S. 48 f. 36 Vgl. Staudinger, BGB-Synopse 1896–2005, 2006, S. 1213 ff.: Mit Wirkung vom 1.1.1962 wurde § 1 II EheG durch Art.2 Nr.1a FamRÄndG neu gefasst, wobei der einzige Unterschied darin bestand, dass das Vormundschaftsgericht zur Erteilung der Befreiung ermächtigt wurde. 37 Staudinger, BGB–Synopse 1896–2005, 2006, S.1213. 38 Vgl. § 1 EheVO: Die Eheschließung ist nur dann zulässig, wenn Mann und Frau das 18. Lebensjahr vollendet haben. Das Ehemündigkeitsalter von 18 Jahren ist auch im Familiengesetzbuch der DDR von 1965 beibehalten worden, vgl. § 5 FGB. 39 Gesetz zur Bekämpfung von Kinderehen vom 17. Juli 2017, BGBl. 2017 I 2429.
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Verlobten (Volljährigkeit tritt nach Art. 488 Code Civil ab 18 Jahren ein) blieb bestehen.40 Das durchgehend geringe Mindestalter rührt daher, dass weniger Wert auf Selbstbestimmung und Berufsausbildung der Jugendlichen gelegt wurde. Vielmehr hatten gerade die Familien ein Interesse an einem geringen Mindestalter zur Eingehung der Ehe, um die noch jungen und unerfahrenen potentiellen Ehepartner in ihrem Sinne beeinflussen zu können. 41 Aus Sicht der Kirche sprach für ein frühzeitiges Eingehen der Ehe ab der Geschlechtsreife die Absicherung ihrer moralischen Grundsätze und Erhaltung des sakralen Charakters der Ehe.42 Heute haben Kirche und Familie an Einfluss verloren, während der Selbstbestimmung eine immer größere Bedeutung zugemessen wird. Vorherrschend in Europa ist nun die Sichtweise, dass erst ab einem gewissen Alter die nötige körperliche und geistige Reife vorliegt, um sich selbstbestimmt und einsichtsfähig für das Eingehen einer Ehe zu entscheiden.43 So ist die auf Dauer angelegte Ehe mit ihren zahlreichen Rechten und Pflichten nicht mit den üblichen Vertragsverhältnissen selbstständiger Kontrahenten vergleichbar. 44 Ein späteres Heiratsalter ist zudem durch zunehmenden Wohlstand und vermehrte Bildungschancen bedingt, die zur Ausweitung der Konsummöglichkeiten und der Optionen, sein Leben zu gestalten, geführt haben. 45 In Europa geht der Trend daher zunehmend in die Richtung eines höheren Ehemündigkeitsalters, was auch der Tatsache geschuldet ist, dass der Selbstbestimmtheit einer Person immer größeres Gewicht beigemessen wird. In Schweden gab es bereits zum 1.5.2004 eine Reform zur Vermeidung von Zwangs- und Kinderehen. 46 In Bezug auf Inlandsehen wurde das IPR dort so angepasst, dass keine Eheschließung vor einer schwedischen Amtsperson möglich ist, wenn nach schwedischem Recht Ehehindernisse vorliegen. Zusätzlich müssen für die Ehegatten nach dem Recht ihrer Staatsangehörigkeit oder ihres Wohnsitzes die Voraussetzungen zur Eheschließung vorliegen. Das Mindestalter beträgt für In- und Ausländer 18 Jahre, jedoch können Auslän40
Coester/Coester-Waltjen, in: International Encyclopedia of Comparative Law, Volume VI, 1997, 3. Kap. S. 16 f. 41 Coester/Coester-Waltjen, in: International Encyclopedia of Comparative Law, Volume VI, 1997, 3. Kap. S. 17, 19, 23. 42 Knecht, Handbuch des katholischen Eherechts, 1928, S. 63 ff. 43 Coester, FamRZ 2017, 77, 78;Coester/Coester-Waltjen, in: International Encyclopedia of Comparative Law, Volume VI, 1997, 3. Kap. S. 26, 104 f. 44 Dürig, FamRZ 1954, 2, 4. 45 Henrich, in: Henrich/Jayme/Sturm (Hrsg.), Ehe und Kindschaft im Wandel, 1998, S. 31, 44; Sturm, in: Henrich/Jayme/Sturm (Hrsg.), Ehe und Kindschaft im Wandel, 1998, S. 1, 5. 46 Vgl. Kap. 2 § 1 des schwedischen EheG. Zur Entwicklung in Schweden siehe Nishitani, RdC 401 (2019), 143, 284 f.
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der in Ausnahmefällen eine Befreiung beantragen. Bisher wurden im schwedischen Recht Auslandsehen erst einmal für gültig gehalten, es gibt keine Nichtigkeits- oder Aufhebungsregeln, sondern nur die Scheidung als Rechtsfolge.47 Nach der neuen Regelung sind nun Ehen, die nach dem 1.5.2004 geschlossen wurden und bei denen ein Anerkennungshindernis nach schwedischem Recht vorliegt, nicht anzuerkennen, wenn einer von den Ehegatten die schwedische Staatsangehörigkeit besitzt oder seinen Wohnsitz in Schweden hat. Für Zwangsehen wurde eine gesonderte Verbotsnorm geschaffen. 48 Insgesamt sollte mit der Reform Zwangs- und Kinderehen vor allem in Parallelgesellschaften vorgebeugt werden. Ähnliche Regelungen finden sich auch in dem schweizerischen IPR-Gesetz.49 Im November 2018 hat der schwedische Gesetzgeber die Regelungen in Hinblick auf die Anerkennung ausländischer Ehen weiter verschärft. 50 Die Neuregelung, die am 1. Januar 2019 in Kraft getreten ist, erfordert für die Unwirksamkeit einer im Ausland geschlossenen Minderjährigenehe nun nicht mehr einen hinreichenden Inlandsbezug in Form der schwedischen Staatsangehörigkeit oder dem gewöhnlichen Aufenthalt in Schweden eines der Verlobten zum Zeitpunkt der Eheschließung. Vielmehr normiert die Neuregelung die Unwirksamkeit ex tunc jeder Ehe, die mit einem Beteiligten von unter 18 Jahren geschlossen wurde. Die bereits existierende Härteklausel wurde enger gefasst und ist zudem nur anwendbar, wenn beide Ehepartner bereits das 18. Lebensjahr vollendet haben. 51 In den Niederlanden und in Spanien wurden das Eheschließungsrecht und die Ehemündigkeit jeweils im Jahr 2015 reformiert. In den Niederlanden ist im Dezember 2015 das Gesetz zur Bekämpfung von Heiratszwang vom 7. Oktober 2015 in Kraft getreten. 52 Durch das Gesetz wurden zum einen die Regelungen zur Ehemündigkeit reformiert. Während bisher eine Eheschließung ab 16 Jahren möglich war, wurde das Mindestalter nun auf 18 Jahre heraufgesetzt. Eine frühere Erklärung der Volljährigkeit gem. Art. 1:253h BW ermöglicht nicht gleichzeitig auch die Eingehung der 47
Bogdan, IPRax 2004, 546, 547. Bogdan, IPRax 2004, 546, 548; ders., Journal of Private International Law 2019, 247, 249 ff. 49 Coester-Waltjen, IPRax 2017, 429 ff.; Weller/Thomale/Hategan/Werner, FamRZ 2018, 1289, 1291. 50 Gesetz 2018:1973. Siehe zum Ganzen Bogdan, Journal of Private International Law 2019, 247 ff., der die Neuregelung aufgrund der negativen Folgen der Unwirksamkeit, insbesondere für die minderjährigen Mädchen, kritisiert und Nishitani, RdC 401 (2019), 143, 285 f. 51 Bogdan, Journal of Private International Law 2019, 247, 251 f. 52 Wet van 7 oktober 2015 tot wijziging van Boek 1 en Boek 10 van het Burgerlijk Wetboek betreffende de huwelijksleeftijd, de huwelijksbeletselen, de nietigverklaring van een huwelijk en de erkenning van in het buitenland gesloten huwelijken (Wet tegengaan huwelijksdwang), (Staatsblatt 2015, 354). 48
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Ehe mit unter 18 Jahren.53 Mit derselben Reform wurden ferner die Vorschriften zur Anerkennung ausländischer Ehen unter anderem dahingehend ergänzt, dass das Vorliegen einer Minderjährigenehe ein Anerkennungshindernis darstellt.54 Nach Art. 46 des Spanischen Bürgerlichen Gesetzbuches (CC) dürfen unmündige Minderjährige (Volljährigkeit tritt nach Art. 315 CC mit 18 Jahren ein) in Spanien nicht heiraten. Bisher konnten Eheschließungswillige jedoch nach Art. 48 CC schon mit 14 Jahren heiraten, wenn sie durch einen Richter aus wichtigem Grund und auf Antrag einer Partei von dieser Grundregel befreit worden waren. Diese Dispensregelung wurde durch das Gesetz 15/2015 vom 2. Juli 2015 gestrichen. Nunmehr müssen Eheschließende volljährig sein oder für mündig erklärt worden sein. Mündig können die Jugendlichen ab 16 entweder mit Einwilligung der Eltern (Art. 317 CC), durch richterliche Entscheidung (Art. 319 CC) oder durch die Führung eines unabhängigen Lebens mit Einwilligung der Eltern (Art. 320 CC) werden. Das Mindestalter wurde somit faktisch von 14 auf 16 Jahre angehoben. 55 Ein weiteres Beispiel für den Trend in Richtung starre Altersgrenze von 18 Jahren ist Dänemark, wo das dänische Ehegesetz im Jahr 2017 dahingehend geändert wurde, dass eine Person unter 18 Jahren keine Ehe schließen kann (vgl. den neuen § 2 des dänischen EheG). Gleichzeitig wurde wie in Deutschland die bisher in den §§ 1a, 2 dänEheG geregelte Dispensmöglichkeit abgeschafft.56 In Irland wird ebenfalls erwogen, eine ähnliche Reform wie in Dänemark zu vollziehen. 57 Auffällig ist, dass es früher üblich war – heute aus Sicht der Gleichberechtigung problematisch – für Mädchen ein geringeres Mindestalter als für Jungen vorzusehen. Dies wurde teilweise durch die frühere Geschlechtsreife der Frau begründet, lässt sich aber auch mit dem damaligen Rollenverständnis und dem Bild des Mannes als Ernährer der Familie erklären, wofür die volle Geschäftsfähigkeit erforderlich schien. 58
53
Vgl. Breemhaar, FamRZ 2016, 1540. Vgl. Wissenschaftliche Dienste, Zwangsheirat und Minderjährigenehen in Deutschland v. 26.1.2017, Az.: WD 7-3000-006/17, S. 16, abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020). 55 Vgl. Ferrer I Ribba, FamRZ 2016, 1557, 1558. 56 Gesetz Nr. 81 vom 24.01.2017 änderte das dänische Ehegesetz von 1969 in der Fassung der Bekanntmachung Nr. 1818 vom 23.12.2015 (EheG). 57 Vgl. (letzter Abruf: 4.6.2020). 58 Maßfeller, Das neue Familienrecht, 1952, S. 48. 54
182
Vierter Teil: Herausforderungen im Internationalen Eherecht
Der europäische Trend59 entspricht im Übrigen der Empfehlung der Parlamentarischen Versammlung des Europarats von 2005, das Heiratsalter ausnahmslos auf 18 Jahre anzuheben. 60 2. Muslimisch geprägte Ehemündigkeit Wie einleitend dargestellt, hat in der westlichen Welt ein Wertewandel bezüglich der Ehe hin zu mehr Freiheit und Selbstbestimmung stattgefunden. Trotz der Erklärungen und Konventionen der Vereinten Nationen, die die Wichtigkeit des freien und übereinstimmenden Willens bei der Eingehung der Ehe weltweit betonen, ist nicht von einem globalen Wertewandel in diesem Sinne und in diese Richtung auszugehen. 61 Die Entwicklungen im Internationalen Familienrecht sind vielfältig und von verschiedenen Faktoren wie der Religion, dem Status der Familie und den jeweils involvierten Staatsinteressen beeinflusst. 62 Dies ist auch deshalb von Relevanz, wenn, wie gerade in Deutschland, eine zunehmende Re-Islamisierung des gesellschaftlichen Lebens der hier lebenden Muslime zu beobachten ist. Die dort herrschenden religiösen Vorstellungen wirken sich auch auf das Recht und insbesondere das wertegeprägte Familienrecht aus. 63 Muslimisch geprägtes Familienrecht kann an mehreren Stellen relevant werden: beim formellen Eheschließungsakt, bei der Prüfung des Vorliegens der materiellen Ehevoraussetzungen, im Scheidungsrecht 64 oder im Adoptionsrecht.65 Gleichzeitig nehmen diese Fälle im Zuge des Flüchtlingsstroms nach Deutschland zu und stellen das IPR daher vor neue Aufgaben und Herausforderungen. Die kollisions- oder materiell-rechtliche Berücksichtigung islamischen Rechts wird durch die Fülle an möglichen anwendbaren Rechts-
59
Ein geringeres Heiratsalter sehen lediglich Portugal: Art. 1601 Ziff. a CC (16 Jahre), Schottland: Sec. 1 Marriage (Scotland) Act 1977 (16 Jahre), Nordirland: Sec. 13 Matrimonial Causes (Northern Ireland) Act 1979 (16 Jahre) und Malta: Art. 3 Abs. 1 Marriage Act (16 Jahre) vor. 60 Vgl. die Empfehlung 1723 (2005): Zwangsheirat und Kinderehen, BT-Drs. 16/145, S. 33. 61 Coester/Coester-Waltjen, in: International Encyclopedia of Comparative Law, Volume VI, 1997, 3. Kap. S. 12; Nishitani, RdC 401 (2019), 143, 164 ff. 62 Vgl. Nishitani, RdC 401 (2019), 143, 238. 63 Busch, NJ 2011, 102 f.; Mansel, in: Nolte u.a., Pluralistische Gesellschaften und Internationales Recht, 2008, S. 137, 152 f.; Nishitani, RdC 401 (2019), 143, 251. 64 Vgl. zur Problematik der talaq Scheidung Busch, NJ 2011, 102, 110 f.; Nishitani, RdC 401 (2019), 143, 167 f.; Weller/Hauber/Schulz, IPRax 2016, 123 sowie zur Scheidung muslimischer Griechen nach islamischem Recht Jayme, IPRax 2008, 353 (Anmerkung zu OLG Hamm, Urteil v. 7.3.2006 – 7 UF 123/05). 65 Vgl. zur Problematik der kafāla: Jayme, IPRax 1996, 237, 238 und 242; ders., IPRax 1999, 49; Rohe, Das islamische Recht, 2013, S. 29 f. und 105.
1. Kapitel: Einführung
183
vorschriften erschwert.66 Der Fokus wird in dieser Arbeit daher nur auf die Regelungen zur Ehemündigkeit gelegt, die ihre Wurzeln im klassischen islamischen Recht haben. Bei der Eheschließung von muslimischen Beteiligten ausländischer Staatsangehörigkeit kann islamisches Recht kollisionsrechtlich zur direkten Anwendung berufen werden. Voraussetzung ist jedoch stets, dass es sich um staatliches Recht handelt.67 Die Regelungstechniken in den islamischen Ländern bei der Berücksichtigung religiösen Rechts in ihren Gesetzen sind vielfältig. Zum einen kann im jeweiligen Verfassungsrecht der Islam zur Staatsreligion erklärt und damit die Scharia direkt zur Hauptquelle des Rechts erhoben werden; sog. Scharia-Vorbehalt.68 Die Scharia beschreibt die von Gott gesetzte Ordnung und ist der Begriff für den normativen Bestandteil des Korans in seiner Gesamtheit. Gerade das Familienrecht ist in islamischen Staaten stark von ihr geprägt.69 Zum anderen wird die Möglichkeit einer Kodifikation der Scharia genutzt, die so unmittelbarer Bestandteil der staatlichen Gesetze wird, oder aber diese enthalten einen Verweis auf religiöse Vorschriften zur Lückenfüllung. Enthält das innerstaatliche Kollisionsrecht einen Verweis auf islamisches Recht, ist dieser gem. Art. 4 Abs. 3 EGBGB zu beachten.70 Islamisches Recht, das auf eine der beschriebenen Arten zu staatlichem Recht und anschließend durch das IPR berufen wurde, ist grundsätzlich in vollem Umfang durch die Gerichte anzuwenden und zu prüfen. Eine rein religiös geschlossene Ehe kann daher in zwei Fällen anerkannt werden. Zum einen, wenn das ausländische Familienrecht das religiöse Recht in seinen staatlichen Normenapparat eingefügt hat, aber auch dann, wenn die rein religiöse Ehe vom Herkunftsstaat – als staatlicher Zwischenschritt – für voll wirksam erklärt wurde. 71 Zwar fehlt es an einer für die Auslegung islamrechtlicher Normen zuständigen Stelle.72 Die Auslegung der zur Anwendung berufenen Normen ist jedoch als Ausfluss des Justizgewährungsanspruchs aus Art. 92 GG grundsätzlich Aufgabe des deutschen Richters, der sich mithilfe von Sachverständigengutachten in die Materie einlesen muss. Diese Komplexität und die Unterschiede zum innerstaatlichen Recht führen gerade im Familienrecht häufig zu Qualifikationsproblemen, Anpassungserfordernissen und zur Not66
Rohe, StAZ 2000, 161. Dazu insgesamt Jayme, Religiöses Recht vor staatlichen Gerichten, 1999; Nishitani, RdC 401 (2019), 143, 200 ff., 292 ff.; Scholz, StAZ 2002, 321, 322. Zum staatlichen Zwang zur Religionsausübung durch Gerichte am Beispiel der get statues siehe Mansel, in: Nolte u.a., Pluralistische Gesellschaften und Internationales Recht, 2008, S. 137, 190 ff. 68 Rohe, StAZ 2000, 161, 164. 69 Busch, NJ 2011, 102, 104 ff. 70 Rohe, StAZ 2000, 161; Scholz, StAZ 2002, 321, 322. 71 DIJUF Rechtsgutachten, JAmt 2016, 127, 128. 72 Scholz, StAZ 2002, 321, 322. 67
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Vierter Teil: Herausforderungen im Internationalen Eherecht
wendigkeit der ordre public-Anwendung. 73 So wird bezogen auf die Ehemündigkeit im islamischen Recht in der Regel ein sehr geringes Mindestalter zur Eheschließung konkret festgesetzt oder aber auf den Eintritt der Geschlechtsreife abgestellt. 74 Hintergrund sind insbesondere die Furcht vor etwaigem vorehelichem Geschlechtsverkehr und ein starker Einfluss der Familie auf die Kinder. Diese Regeln werden üblicherweise durch Dispensregelungen ergänzt, die eine Befreiung von der Altersgrenze – meist ohne Mindestalter – durch die Einwilligung des Vormunds oder gerichtliche Mitwirkung ermöglichen. 75 Dieser Dispens wird in der Regel auch erteilt, da an die islamische Ehe in der Regel keine besonderen Formerfordernisse gestellt werden und eine staatliche Beteiligung nicht zwingend ist. 76 Aus Sicht der Gleichberechtigung problematisch ist zudem ein unterschiedliches Mindestalter bei Männern und Frauen, wobei das des Mannes meist höher angesetzt wird.77 In Algerien beispielsweise wurden Ehe und Heirat stets von den Familien beeinflusst und eheliche Bindungen traditionell in einem sehr frühen Alter eingegangen. Mittlerweile legt das Familiengesetzbuch von 1985 zwar das Mindestalter für Frauen bei 18 und für Männer bei 21 Jahren fest. 78 Jedoch ist eine Ehe, die unter Verstoß gegen die Regelungen der Ehemündigkeit geschlossen wurde, nicht nichtig. Zum einen wird sie geheilt, sobald die Ehe vollzogen wurde. Zum anderen kann das Mindestalter in vielen Fällen durch den Richter gesenkt werden, wie z.B., wenn die Eltern eine Urkunde beibringen, in der ihre Tochter für geschlechtsreif erklärt wird. Sogar eine Ehe, die ohne diesen Dispens geschlossen wurde, kann durch das Gericht registriert 73
Scholz, StAZ 2002, 321, 323. Marokko: Art. 19 Gesetz Nr. 70.03 über das Familiengesetzbuch v. 3.2.2004, Tunesien: Art. 5 Abs. 2 Personalstatutsgesetz v. 13.8.1956 i.d.F. der ÄndG, Irak: Art. 7 Gesetz Nr. 188 über das Personalstatut v. 19.12.1959 i.d.F. der ÄndG, Jordanien: Art. 10 Temp oräres Personalstatutsgesetz Nr. 36 v. 26.9.2010. 75 Art. 18 SyrPStG: Dispens schon ab 13 Jahren bei Frauen, wenn die Geschlechtsreife erlangt wurde. Keine konkrete Untergrenze haben hingegen das algerische (Art. 7 AlgPStG), marokkanische (Art. 19–22 MarokkFamGB), tunesische (Art. 5 TunPStG) und iranische (Art. 1041 IranZGB) Eherecht. Das sunnitisch-afghanische Recht erlaubt für Frauen einen Dispens ab 16 Jahren (Art. 71 AfghZGB), im Irak (Art. 7 und 8 IrakPStG) und Jordanien (Art. 10 Abs. 2 JordPStG) ab 15 Jahren. Vgl. dazu Möller/Yassari, KJ 2017, 269, 272. 76 Möller/Yassari, KJ 2017, 269, 273; vgl. ausführlich zum Eheverständnis im Islam Busch, NJ 2011, 102, 109 f.; Yassari, FamRZ 2011, 1. 77 Afghanistan: Art. 70 ZGB (18 für Männer, 16 für Frauen), Iran: §§ 1041, 1210 ZGB, 1. Anmerkung (15 für Männer und 9 für Frauen), Syrien: Art. 16 PStG (18 für Männer und 17 für Frauen). Siehe dazu auch mit zahlreichen weiteren Beispielen Coester/CoesterWaltjen, in: International Encyclopedia of Comparative Law, Volume VI, 1997, 3. Kap. S. 108 und Scholz, StAZ 2002, 321, 327. 78 Zu dieser Entwicklung auch Busch, NJ 2011, 102, 110. 74
1. Kapitel: Einführung
185
werden, sobald die Ehemündigkeit erreicht ist. 79 Somit ist die gesetzliche Regelung eines hohen Mindestalters in der algerischen Praxis insgesamt letztlich wenig effektiv. 80 In Hinblick auf die Selbstbestimmung bei der Eheschließung problematisch ist zudem das Rechtsinstitut der Vormundschaft. 81 Der sog. wali ist meistens der Vater, kann aber auch ein anderer männlicher Verwandter sein. Töchter brauchen zur Eheschließung die Einwilligung des wali, auch noch über die Volljährigkeit hinaus, die in Algerien mit 19 Jahren eintritt. Ein Verheiraten gegen den Willen der Frau ist jedoch nicht mehr möglich. Die Einwilligung ist durch eine richterliche Entscheidung ersetzbar, für die die Frau jedoch nachweisen muss, dass ihr die Ehe zum Vorteil sein wird.82 Diese anhand des Beispiels Algerien gezeigte Tendenz im muslimischen Recht, das die soziale Sicherungsfunktion der Ehe in den Vordergrund stellt, lässt sich auf viele andere muslimisch geprägte Länder übertragen. Sie steht im Widerspruch zu den oben festgestellten gegenwärtigen Wertevorstellungen in Europa zum Thema Mindestalter und Selbstbestimmtheit sowie der Gleichberechtigung. Das IPR muss diesen Konflikt somit mithilfe des ordre public bewältigen, auf dessen Anwendbarkeit im Bereich der Ehemündigkeit noch an späterer Stelle eingegangen werden soll. II. Verbot der Doppelehe In den Konflikt mit dem deutschen Recht kann auch die polygame Ehe geraten. Zwar findet im internationalen Familienrecht mittlerweile ein Übergang von der Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit zur Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt statt. Das Eheschließungsstatut richtet sich jedoch noch nach dem Heimatrecht, welches mit dem im deutschen Recht verankerten Polygamieverbot kollidieren kann. Insbesondere bei Migranten ohne Flüchtlingsstatus findet gem. Art. 13 Abs. 1 EBGB noch das Heimatrecht Anwendung. Im westlichen Kulturkreis ist die monogame Ehe vorherrschend, wobei diese typischerweise auch leicht lösbar ist. 83 Neben einem zivilrechtlichen
79
Die Registrierung ist häufig erst mit der Geburt des ersten Kindes erforderlich. Coester/Coester-Waltjen, in: International Encyclopedia of Comparative Law, Volume VI, 1997, 3. Kap. S. 21 ff. 81 Zur Problematik dieser Handschuhehen vgl. auch Andrae, NZFam 2016, 923, 926. 82 Coester/Coester-Waltjen, in: International Encyclopedia of Comparative Law, Volume VI, 1997, 3. Kap. S. 22, 84. 83 Dethloff, FS Schwenzer, 2011, 409, 411. 80
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Vierter Teil: Herausforderungen im Internationalen Eherecht
Verbotstatbestand (§ 1306 BGB) ist die Polygamie in vielen europäischen Rechtsordnungen zudem strafbewährt. 84 Die Polygamie muss in diesem Kontext zunächst vom ebenfalls gängigen Begriff der Bigamie abgegrenzt werden. So meint die Bigamie das Führen einer Mehrehe bei jeweils monogamem Ehestatut der Ehegatten. Von Polygamie hingegen spricht man, wenn mindestens ein Statut der Beteiligten die Schließung einer Mehrehe erlaubt. 85 Innerhalb der Polygamie ist zwischen der Polygynie (ein Mann heiratet mehrere Frauen) und Polyandrie (eine Frau heiratet mehrere Männer) zu unterscheiden. Faktisch macht die Polygynie den entscheidenden Anteil unter den beiden Fällen aus, da sich die Unterscheidung aber nicht auf die rechtliche Behandlung auswirkt, wird im Folgenden ausschließlich der Begriff Polygamie verwendet. 86 Dabei soll zudem die sukzessive Polygamie ausgeklammert werden, welche die Wiederheirat nach dem Tod des Ehegatten oder nach der Scheidung meint. 87 Anzunehmen ist, dass das Verbot der Doppelehe trotz fehlender ausdrücklicher Regelung auch bei bestehenden registrierten Partnerschaften gilt. 88 Unter faktischen Lebensgemeinschaften kann Polygamie zwar nicht im rechtlichen Sinn vorkommen, jedoch ist in den europäischen Rechtsordnungen eine Tendenz dahin zu beobachten, auch für diese Partnerschaften einen rechtlichen Rahmen zu schaffen, der insbesondere dem Schutz des wirtschaftlich schwächeren Parts und gemeinsamer Kinder dient. 89 Dabei wird die Anwendbarkeit dieser Regelungen teilweise von einer monogam geführten Partnerschaft abhängig gemacht. 90 Polygamie kommt vor allem in vom islamischen Recht und von der Scharia geprägten Staaten vor, zum Beispiel in Marokko, Ägypten, Pakistan, Katar und Indonesien.91 Die Sure 4, Vers 3 des Korans erlaubt dem Mann bis zu vier Ehefrauen zu haben. Auch in den Stammesrechten der afrikanischen
84
Vgl. § 172 StGB sowie Art. 215 des schweiz. StGB; Kap. 7 § 1 schwed. Strafgesetz (Brottsbalken, 1962:700); Art. 433-20 des franz. Code pénal; Section 57 Offences Against the Person Act 1861 (England, Wales, Nordirland). 85 Mankowski, in: Staudinger, BGB, 2010, Art. 13 EGBGB Rn. 233. 86 Vgl. zu der Differenzierung Mankowski, FamRZ 2018, 1134. 87 Vgl. Coester/Coester-Waltjen, FamRZ 2016, 1618, 1622. 88 Mankowski, in: Staudinger, BGB, 2010, Art. 13 EGBGB Rn. 234. 89 Coester/Coester-Waltjen, FamRZ 2016, 1618, 1623. 90 Beispielsweise in Schweden: Gesetz 2003:376, § 1 (3); Serbien: Art. 4, 17 Familiengesetz v. 24.2.2005; Montenegro: Art. 12 (2), 47 (1), 270 Gesetz v. 29.12.2006; Kroatien: §§ 3, 225 Gesetz v. 14.7.2003; Italien: Gesetz v. 20.5.2016 No. 76/2016; Österreich: § 748 ABGB. 91 Für einen Überblick über die Staaten, in denen die Polygamie legal ist vgl. Mankowski, in: Staudinger, BGB, 2010, Art. 13 EGBGB Rn. 239. Ausgeklammert werden soll hier die Nebenehe im traditionellen chinesischen Recht; für Details vgl. Lasars-Wu, Die Nebenfrau im chinesischen Recht, 1987, S. 22–54.
1. Kapitel: Einführung
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Staaten ist die Polygamie verbreitet. 92 2009 wurde das Vorkommen polygamer Ehen in der islamischen Welt auf 2–12 % geschätzt.93 Gründe für diese Lebensform sind für den Mann vor allem die Erweiterung der Fortpflanzungsmöglichkeiten gerade bei erhöhter Kindersterblichkeit und auch zusätzliche helfende Hände im Haushalt spielen eine Rolle. Insbesondere in Kriegszeiten dient sie aber auch der Versorgung der Frauen. 94 Mittlerweile wird die Polygamie in den betreffenden Staaten von bestimmten formellen und materiellen Voraussetzungen abhängig gemacht. 95 Häufig ist die Erlaubnis eines Gerichts oder einer staatlichen Schiedsstelle erforderlich, die beispielsweise prüfen, ob dem Mann ausreichende wirtschaftliche Mittel zur Versorgung mehrerer Ehefrauen zur Verfügung stehen und eine Ungleichbehandlung ausgeschlossen werden kann. Auch die Einwilligung der beteiligten Frauen wird zunehmend vorausgesetzt oder der Erstfrau kommt ein besonderes Scheidungsrecht zu. 96 D. Fazit Aus den vorstehenden Erläuterungen zur Entwicklung der Ehe und ihren zugrundeliegenden Wertungen sowie den Besonderheiten hinsichtlich der Ehemündigkeit und dem Verbot der Mehrehe lässt sich Folgendes als Grundlage für weitere Ausführungen ableiten: Die Ehe wie auch die Ehemündigkeit werden von einem ständigen gesellschaftlichen Wertewandel beeinflusst, den der Gesetzgeber aufgreift und der sich daher in dem jeweiligen Normgefüge widerspiegelt. Heute ist das Leitbild der Ehe im westlichen Rechtskreis von Selbstbestimmung und Freiheit des Einzelnen und der Gleichberechtigung geprägt. Ein hohes Mindestalter bei der Ehemündigkeit sichert das Vorliegen der für das Eingehen der Ehe erforderlichen geistigen und körperlichen Reife ab. Dieses Leitbild lässt sich nicht auf die weltweit vielfältigen Entwicklungen im Familienrecht übertragen und steht teilweise sogar konträr zu den global vertretenen Sichtweisen. 97 Die dadurch erwachsenden Anpassungsprobleme treten durch die aktuelle Massenmigration in tatsächlicher Hinsicht besonders zu Tage und sind in rechtlicher Hinsicht durch das IPR auszugleichen. Dabei sind die – auch
92
Dethloff, FS Schwenzer, 2011, 409, 412; Helms, StAZ 2012, 2. Vgl. Mankowski, in: Staudinger, BGB, 2010, Art. 13 EGBGB Rn. 238. 94 Coester/Coester-Waltjen, FamRZ 2016, 1618; Mankowski, in: Staudinger, BGB, 2010, Art. 13 EGBGB Rn. 237. 95 Für Beispiele siehe Nishitani, RdC 401 (2019), 143, 166. 96 Busch, NJ 2011, 102, 110; Coester/Coester-Waltjen, FamRZ 2016, 1618, 1619; Dethloff, FS Schwenzer, 2011, 409, 412; Helms, StAZ 2012, 2; Mankowski, in: Staudinger, BGB, 2010, Art. 13 EGBGB Rn. 237. 97 Vgl. dazu auch die Conclusio bei Nishitani, RdC 401 (2019), 143, 363 ff. 93
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Vierter Teil: Herausforderungen im Internationalen Eherecht
grundrechtlich verbürgte – Einzelfallgerechtigkeit und die Ordnungsinteressen des Staates in praktische Konkordanz zu bringen.
2. Kapitel: Kollisionsrechtliche Behandlung von Minderjährigenehen 2. Kapitel: Kollisionsrechtliche Behandlung von Minderjährigenehen
A. Einleitung Gerade bei Minderjährigenehen geraten die Willensentschließungsfreiheit, die Geschlechtergleichstellung und nicht zuletzt das allgemeine sittliche Anstandsgefühl als westliche Werte in Konflikt mit abweichenden Moralvorstellungen anderer Kulturen. Laut Care Deutschland-Luxemburg e.V. werden weltweit täglich 39.000 minderjährige Mädchen zur Ehe gezwungen. 98 Dafür, dass in einer Gesellschaft Ehen Minderjähriger akzeptiert und sogar gefördert werden, kann es vielfältige Beweggründe geben: mehr Sicherheit durch die Eheschließung, Entfliehen der Armut, die erstrebenswerte Verheiratung als Jungfrau und eine allgemein kulturelle patriarchalische Prägung und mangelnde Bildung. 99 Die Flüchtlingswelle der vergangenen zwei Jahre hat auch in Deutschland zu einem Anstieg von nach ausländischem Recht geschlossenen Ehen Minderjähriger geführt. So gab es in Deutschland im Jahr 2016 insgesamt 1475 verheiratete Minderjährige, davon waren 994 Personen zwischen 16 und 18, 120 Personen zwischen 14 und 16 und 361 Personen unter 14 Jahre alt. 100 Migranten aus anderen Kulturkreisen stellen dabei den größten Anteil. 101 Insbesondere unter Syrern haben die Eheschließungen Minderjähriger zugenommen, was sich mit einem erhöhten Sicherheitsbedürfnis und finanzieller Not auf der Flucht erklären lässt. 102 Zudem sind in allen Bevölkerungsgruppen meist minderjährige Mädchen betroffen. 103
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Bericht UNICEF aus 2014: 700 Mio. minderjährige Frauen U18 verheiratet, davon 250 Mio. U15; abrufbar unter (letzter Abruf : 4.6.2020). 99 Antomo, NJW 2016, 3558 f. 100 Vgl. die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage des Abgeordneten Stefan Keuter und der Fraktion der AfD – Drucksache 19/2187, BT-Drs. 19/2532, S. 1. 101 Syrien (664); Afghanistan (157), Irak (100), Bulgarien (65), Polen (41), Rumänien (33), Griechenland (32), vgl. die Aufschlüsselung in Zeit-Online v. 9.9.2016 unter Berufung auf eine Antwort des Bundesinnenministerium auf eine Anfrage der Grünen, abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020). 102 Antomo, NJW 2016, 3558, 3559. 103 Antomo, NJW 2016, 3558, dies., NZFam 2016, 1155, 1156.
2. Kapitel: Kollisionsrechtliche Behandlung von Minderjährigenehen
189
In den Fokus der Öffentlichkeit und Politik geriet diese Frage des internationalen Familienrechts anlässlich einer Entscheidung des OLG Bamberg, das einen ordre public-Verstoß bei der Eheschließung einer 14-jährigen Syrerin und einem 22-jährigen Syrer offen ließ und die Ehe als wirksam anerkannte.104 Die Entscheidung rief eine starke Resonanz in den Medien hervor 105 und wurde sowohl aus gesellschaftspolitischer Sicht als auch in der juristischen Literatur kritisiert.106 Auf Seiten der Politik wurde im September 2016 eine spezielle Bund-Länder-Arbeitsgruppe mit dem Titel „Ehemündigkeit im internen deutschen Recht und bei der Anerkennung von Auslandsehen“ im Bundesjustizministerium eingerichtet, die sich neben dem Thema Ehemündigkeit auch mit Zwangsehen und Polygamie auseinandersetzte. Kurz darauf wurden erste Pläne zu einem „Gesetz zur Bekämpfung von Kinderehen“ bekanntgegeben. Ein erster vom damaligen Bundesjustizminister Heiko Maas ausgearbeiteter Regelungsvorschlag, der noch ausschließlich eine am Kindeswohl orientierte Aufhebungsmöglichkeit enthielt, setzte sich nicht durch. Am 17.2.2017 wurde dann der weitergehende „Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung von Kinderehen“ des BMJV in Umlauf gebracht. Er zielte darauf ab, Minderjährigenehen grundsätzlich zu verbieten. 107 Trotz überwiegender Ablehnung in Fachkreisen folgte die Bundesregierung am 17.5.2017 mit einem identischen Entwurf. 108 Mit dem neuen Gesetz wird das Ehemündigkeitsalter in § 1303 S. 1 BGB n.F. nun auf ausnahmslos 18 Jahre festgelegt und mit Einfügung eines dritten Absatzes in Art. 13 EGBGB eine spezielle ordre public-Klausel dem Kollisionsrecht hinzugefügt. 109 Bisher lag die Ehemündigkeit nach § 1303 Abs. 1 BGB a.F. grundsätzlich mit 18 Jahren vor, wobei gemäß § 1303 Abs. 2 BGB a.F. ein Dispens ab 16 Jahren möglich 104
OLG Bamberg, Beschluss v. 12.5.2016 – 2 UF 58/16, BeckRS 2011, 09621. „Phantom Kinderbraut“, Zeit Online v. 18.8.2016, abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020); „Kinderehen nach SchariaRecht spalten deutsche Justiz“, Welt Online v. 31.5.2016, abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020); „Ehen mit Minderjährigen sollen nicht mehr anerkannt werden“, Süddeutsche Zeitung Online v. 16.6.2016, abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020). 106 Coester, in: MünchKommBGB, 2018, Art. 13 EGBGB Rn. 38; Coester-Waltjen, IPRax 2017, 429 ff; v. Hein, in: Juristische Studiengesellschaft Jahresband, 2018, S. 29, 65 ff.; Hüßtege, FamRZ 2017, 1374 ff. 107 BT-Drs. 18/12086. 108 Vgl. Weller, Stellungnahme für den Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages zum „Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung von Kinderehen v. 17.5.2017, abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020). 109 BT-Drs. 18/12086, S. 5 f. und 7 f. 105
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Vierter Teil: Herausforderungen im Internationalen Eherecht
war. Gerade diese Dispensregelung ließ zumindest im Ausland geschlossene Minderjährigenehen, bei der beide Ehegatten bei der Eheschließung über 16 Jahre alt waren, in einem unproblematischen Licht erscheinen. 110 Im Laufe des parlamentarischen Verfahrens sah sich das Gesetz vielfältiger Kritik von Seiten des Bundesrats111, der juristischen Wissenschaft 112 und verschiedener Vereine113 ausgesetzt. Dennoch nahm der Bundestag, nachdem der Bundestagsausschuss am 31.5.2017 die unveränderte Annahme des Entwurfs empfohlen hatte, das Gesetz am 1.6.2017 in zweiter und dritter Lesung an.114 Durch den Beschluss des Bundesrats am 7.7.2017 – trotz vorheriger kritischer Haltung 115 – keinen Antrag auf Einberufung des Vermittlungsausschusses zu stellen, konnte das „Gesetz zur Bekämpfung von Kinderehen“ am 17.7.2017 ausgefertigt und verkündet werden sowie am darauffolgenden Tag in Kraft treten. 116 Diese finale Fassung entspricht bis auf wenige rein formale Änderungen dem Entwurf aus Februar 2017. 117 Zielsetzung des Gesetzes ist laut seiner Begründung in erster Linie die Bekämpfung von Kinderehen und der Minderjährigenschutz in Deutschland. 118 Seit dem Inkrafttreten ist ein Rückgang der registrierten Minderjährigenehen zu verzeichnen. Waren es im Jahr 2016 insgesamt noch 475 verheiratete minderjährige Ausländer, lebten 110
Für Beispiele aus der Rechtsprechung, die die deutsche Dispensregelung als Maßstab heranziehen vgl. AG Offenbach, Urteil v. 30.10.2009 – 314 F 1132/09, BeckRS 23013; KG, Beschluss v. 21.11.2011 – 1 W 79/11, FamRZ 2012, 1495; KG, Urteil v. 7.6.1989 – 18 U 2625/88, BeckRS 1989, 2838 (zum alten § 1 EheG) sowie Mankowski, FamRZ 2016, 1274, 1275. 111 Vgl. die Stellungnahme des Bundesrats zum Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung von Kinderehen v. 12.5.2017, BR-Drs. 275/17. 112 Vgl. dazu nur die Pressemitteilung der FamRZ vom 22.5.2017 zur Sitzung des BTRechtsausschusses am 17.5.2017, abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020). 113 Stellungnahme Deutscher Anwaltverein (DAV) v. 22.2.2017, abrufbar unter
(letzter Abruf: 4.6.2020); Stellungnahme von TERRE DES FEMMES e.V. v. 22.2.2017, abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020); Stellungnahme des Deutschen Juristinnenbund e.V. v. 18.4.2017, abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020). 114 Vgl. das Plenarprotokoll der 18. Wahlperiode, 237. Sitzung, S. 24182 D. 115 Vgl. Stellungnahme des Bundesrats, BT-Drs. 18/12377, S. 10. 116 Vgl. BR-Drs. 461/17. 117 Für einen Überblick über die Gesetzgebungsgeschichte vgl. ferner Schwab, FamRZ 2017, 1369, 1371 ff. 118 BT-Drs. 18/12086, S. 1 und 14 f.
2. Kapitel: Kollisionsrechtliche Behandlung von Minderjährigenehen
191
zum Stichtag des 30.4.2018 nach dem Ausländerzentralregister (AZR) 299 verheiratete minderjährige Ausländer in Deutschland. 298 der registrierten Personen waren unter 18 Jahre alt und eine Person unter 16 Jahre alt. 119 Im Folgenden wird zunächst die bisherige Rechtslage auf dem Gebiet der Minderjährigenehen erläutert und daraus ein grundsätzliches Reformbedürfnis abgeleitet (dazu B.). Darauf aufbauend wird anschließend ausführlich auf den Inhalt des neuen Gesetzes und die jeweiligen Kritikpunkte eingegangen (dazu C.). Das zweite Kapitel schließt mit einem Fazit zu der Problematik der Minderjährigenehen (dazu D.) und einer Zusammenfassung in Thesenform (dazu E.). B. Die Rechtslage bis zum Gesetz vom 17. Juli 2017 Nachdem das erste Kapitel die Zusammenhänge zwischen Ehe, Ehemündigkeit und Rechtsfolgen mangelhafter Eheschließungen beleuchtet hat, wird nun die kollisionsrechtliche Behandlung von Kinderehen bis zum Gesetz vom 17. Juli 2017 unter besonderer Berücksichtigung der ordre public-Prüfung dargestellt (dazu I.), um daraus anschließend ein grundsätzliches Reformbedürfnis abzuleiten (dazu II.). I. Kollisionsrechtliche Behandlung der Kinderehe bis zum Gesetz vom 17. Juli 2017 Bei der Prüfung der Wirksamkeit einer Ehe mit minderjährigen Beteiligten ist zunächst das Eheschließungsstatut zu ermitteln und in einem zweiten Schritt das Ergebnis der Rechtsanwendung am ordre public zu messen. Zudem ist zu berücksichtigen, ob die Ehe im Inland geschlossen oder eine bereits im Ausland geschlossene Ehe in Deutschland anerkannt werden soll. 1. Eheschließungsstatut a) Inlandsehe Die Voraussetzung der Ehemündigkeit der Eheschließenden ist materieller Natur.120 Nach Art. 13 Abs. 1 EGBGB unterliegen die materiellen Voraussetzungen der Eheschließung für jeden Verlobten dem Recht des Staates, dem er angehört.
119
Vgl. die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage des Abgeordneten Stefan Keuter und der Fraktion der AfD – Drucksache 19/2187, BT-Drs. 19/2532, S. 1 und 3. 120 Andrae, NZFam 2016, 923; Coester, in: MünchKommBGB, 2018, Art. 13 EGBGB Rn. 10; Hüßtege, FamRZ 2017, 1374; Mankowski, in: Staudinger, BGB, 2010, Art. 13 EGBGB Rn. 154 ff.
192
Vierter Teil: Herausforderungen im Internationalen Eherecht
Soll die Ehe in Deutschland geschlossen werden und haben beide Verlobten (nur) die deutsche Staatsangehörigkeit, unterliegen die materiellen Eheschließungsvoraussetzungen deutschem Recht. 121 Für die Ehemündigkeit war bis zum Gesetz vom 17. Juli 2017 nach § 1303 Abs. 1 BGB a.F. Volljährigkeit die Voraussetzung, wobei gemäß § 1303 Abs. 2 BGB a.F.122 ein Dispens ab 16 Jahren möglich war.123 Eine Ehe, die unter Verstoß gegen die in § 1303 BGB a.F. niedergelegten Voraussetzungen geschlossen wurde, blieb bis zu ihrer Aufhebung samt scheidungsähnlicher Rechtsfolgen voll wirksam.124 Eine Nichtehe lag nur vor, wenn gegen grundlegende Voraussetzungen z.B. das Vorliegen der Geschäftsfähigkeit nach § 1304 BGB a.F. verstoßen worden war. Das praktische Vorkommen war jedoch aufgrund der nach § 1310 Abs. 1 BGB a.F. erforderlichen Beteiligung eines Standesbeamten sehr unwahrscheinlich. 125 Wird die Ehe im Inland unter Beteiligung von Personen ausländischer Staatsangehörigkeit geschlossen, unterliegen die Ehevoraussetzungen ganz oder teilweise fremdem Recht. Bezüglich der Ehemündigkeit muss der Standesbeamte zunächst eine mögliche beschränkte Geschäftsfähigkeit und damit Minderjährigkeit der Verlobten feststellen, die nach Art. 7 EGBGB gesondert anzuknüpfen ist, jedoch auch dem jeweiligen Heimatrecht unterliegt. 126 Die Beteiligten müssen zu diesem Zweck ein Ehefähigkeitszeugnis i.S.d. § 1309 BGB beibringen, an das der Standesbeamte jedoch nicht gebunden ist.127 Vom deutschen Recht abweichende materielle Ehevoraussetzungen nach dem ausländischen Recht wie eine andere Altersgrenze waren bisher grundsätzlich hinzunehmen, jedoch prüfte der Standesbeamte einzelfallbezogen einen möglichen ordre public-Verstoß, wobei der hinreichende Inlands-
121
Vgl. Coester, FamRZ 2017, 77; ders., in: MünchKommBGB, 2018, Art. 13 EGBGB Rn. 10; Mankowski, in: Staudinger, BGB, 2010, Art. 13 EGBGB Rn. 48 f. 122 „Das Familiengericht kann auf Antrag von dieser Vorschrift Befreiung erteilen, wenn der Antragsteller das 16. Lebensjahr vollendet hat und sein künftiger Ehegatte volljährig ist.“ 123 Andrae, NZFam 2016, 923; Bongartz, NZFam 2017, 541; Coester, FamRZ 2017, 77; Opris, ZErb 2017, 158; Schwab, FamRZ 2017, 1369. 124 Andrae, NZFam 2016, 923; Schwab, FamRZ 2017, 1369. 125 Nach den deutschen Formvorschriften über die Eheschließung ist der Standesbeamte verpflichtet, mögliche Ehehindernisse zu prüfen, vgl. dazu § 13 PStG. 126 Siehe 3. Teil, 2. Kap. sowie Hausmann, in: Staudinger, BGB, 2019, Art. 7 EGBGB Rn. 41 f.; Hüßtege, FamRZ 2017, 1374; Lipp, in: MünchKommBGB, 2018, Art. 7 EGBGB Rn. 67; Mörsdorf, in: BeckOK BGB, 2020, Art. 13 EGBGB Rn. 26. 127 Vgl. Andrae, NZFam 2016, 923, 925; Coester, FamRZ 2017, 77, 78; Löhnig, in: Staudinger, BGB, 2015, § 1309 BGB Rn. 18; Wellenhofer, in: MünchKommBGB, 2019, § 1309 BGB Rn. 12; sowie ausführlich zur Bedeutung des Ehefähigkeitszeugnisses Rhein, NZFam 2014, 124.
2. Kapitel: Kollisionsrechtliche Behandlung von Minderjährigenehen
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bezug in der Regel aufgrund des deutschen Eheschließungsortes gegeben sein wird.128 In Bezug auf Eheschließungen mit ausländischen Beteiligten kann nach Art. 13 Abs. 3 EGBGB a.F. (jetzt Art. 13 Abs. 4 EGBGB n.F.) eine Ehe zwischen Verlobten, von denen keiner Deutscher ist, auch vor einer von der Regierung des Staates, dem einer der Verlobten angehört, ermächtigten Person geschlossen werden. Dafür muss die trauende Person ordnungsgemäß ermächtigt sein und die nach dem Recht des ermächtigenden Staates vorgeschriebene Form eingehalten werden. 129 Problematisch in Hinblick auf Minderjährigenehen ist dabei, dass die Beteiligung des Standesbeamten gem. § 1310 BGB entfällt und damit auch die nach § 13 PStG erforderliche Prüfung möglicher Ehehindernisse. Zudem stellt ein fehlendes Ehefähigkeitszeugnis bei dieser Art der Eheschließung keinen Mangel dar und erschwert ebenfalls die Vorbeugung ungewollter Minderjährigenehen in Deutschland. 130 b) Auslandsehe Bisher wurden im Ausland geschlossene Ehen in Deutschland grundsätzlich anerkannt, auch wenn sie ein geringeres Mindestalter als Eheschließungsvoraussetzung festsetzten. Die Altersgrenze war in jedem Einzelfall am ordre public zu messen. 131 Gewichtiger Unterschied zur Eheschließung in Deutschland ist dabei der – zumindest rein örtlich betrachtet – geringere Inlandsbezug bei im Ausland wirksam geschlossenen Ehen. Dies konnte mitunter auch in ansonsten ähnlich gelagerten Fällen dazu führen, dass das Ergebnis der ordre public-Prüfung verglichen mit der Inlandsehe anders ausfiel.132 c) Besonderheiten bei Flüchtlingen In Bezug auf Flüchtlinge führt die Sonderkollisionsnorm des Art. 12 Abs. 1 GFK zu einigen Besonderheiten. Dieser findet, wie oben ausführlich dargestellt, nur auf Flüchtlinge i.S.d. Definition des Art. 1 GFK oder gem. § 2 Abs. 1 AsylG auf anerkannte Asylberechtigte Anwendung. 133 Für diesen Migrantenkreis unterliegen die Voraussetzungen der Eheschließung als Teil des Personalstatuts dem Recht am gewöhnlichen Aufenthaltsort der Verlobten zum Zeitpunkt der Eheschließung. Bei subsidiär Schutzberechtigten, wie es z.B. auf Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien zutrifft, bleibt es hin128
Andrae, NZFam 2016, 923, 925 f.; Antomo, NJW 2016, 3558, 3559; dies., NZFam 2016, 1155, 1158; Hüßtege, FamRZ 2017, 1374 f. 129 Näher dazu unten 3. Kap., B.III. 130 Andrae, NZFam 2016, 923, 926; Coester, FamRZ 2017, 77, 78. 131 Coester, FamRZ 2017, 77, 78; Hüßtege, FamRZ 2017, 1374 f; Opris, ZErb 2017, 158, 165. 132 Antomo, NZFam 2016, 1155, 1159; dies., NJW 2016, 3558, 3560. 133 Vgl. oben 2. Teil, 2. Kap.
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Vierter Teil: Herausforderungen im Internationalen Eherecht
gegen de lege lata beim gewöhnlichen Kollisionsrecht und den Anknüpfungsregeln des Art. 13 EGBGB, sodass für diese Migrantengruppe auf das zur Auslandsehe Gesagte verwiesen werden kann. 134 Bei Heirat nach der Flucht und nach einer Aufenthaltsnahme im Zufluchtsstaat Deutschland durch Konventionsflüchtlinge oder anerkannte Asylberechtigte findet folglich deutsches materielles Eheschließungsrecht in Form der §§ 1303 ff. BGB Anwendung.135 Bis zum Reformgesetz vom 17. Juli 2017 konnte somit Flüchtlingen, die jünger als 18 Jahre alt waren, vor ihrer Eheschließung ein Dispens vom Volljährigkeitserfordernis nach § 1303 Abs. 2 BGB a.F. erteilt werden. Tatsächlich waren es ausschließlich Fälle mit derartigem Auslandsbezug, in denen die Familiengerichte in der jüngsten Zeit einen Dispens erteilten. 136 Bei anerkannten Asylberechtigten und Konventionsflüchtlingen besteht zudem die Besonderheit, dass sie über Art. 12 Abs. 1 GFK ein deutsches Personalstatut haben und daher § 1309 BGB (Pflicht zur Vorlage eines Ehefähigkeitszeugnisses) bei ihnen keine Anwendung findet. 137 Das Erfordernis wäre auch gerade durch Flüchtlinge schwer zu erfüllen, da in der Regel derartige Urkunden entweder auf der Flucht verloren gegangen sind oder im Herkunftsstaat wegen politischer oder tatsächlicher Gründe nicht mehr ausgestellt werden. In diesem Fall kann aber z.B. bei noch nicht anerkannten Asylbewerbern oder subsidiär Schutzberechtigten durch den Präsidenten des zuständigen OLG gem. § 1309 Abs. 2 BGB eine Befreiung vom Beibringungserfordernis erteilt werden. 138 Bei Heirat vor der Flucht im Herkunftsstaat findet hingegen aufgrund fehlender Rückwirkung des Art. 12 Abs. 1 GFK (s.o.) noch das Heimatrecht Anwendung. 139 Hier gilt für die kollisionsrechtliche Anerkennung dieser Auslandsehen das soeben Gesagte. Ein geringes Heiratsalter der Geflüchteten ist zwar grundsätzlich hinzunehmen, kann aber gegen den ordre public des Aufnahmelandes verstoßen, auf den Art. 12 Abs. 2 GFK etwas verklausuliert verweist. 140 Ein geringeres Heiratsmindestalter war folglich auch bei Flüchtlingen bis zum 17.07.2017 in jedem Einzelfall an Art. 6 EGBGB zu messen.
134 Zur wünschenswerten Gleichstellung der subsidiär Schutzberechtigten mit den Konventionsflüchtlingen vgl. oben 2.Teil, 6. Kap., A. 135 Andrae, NZFam 2016, 923, 924; Budzikiewicz, StAZ 2017, 289, 296. 136 Andrae, NZFam 2016, 923, 925. 137 Rhein, NZFam 2014, 124. 138 Andrae, NZFam 2016, 923, 925; Antomo, NZFam 2016, 1155, 1158, dies., NJW 2016, 3558, 3559; Löhnig, in: Staudinger, BGB, 2015, § 1309 BGB Rn. 37 ff.; Wellenhofer, in: MünchKommBGB, 2019, § 1309 BGB Rn. 16 ff. 139 Budzikiewicz, StAZ 2017, 289, 296. 140 Siehe oben 2. Teil, 5. Kap., C.
2. Kapitel: Kollisionsrechtliche Behandlung von Minderjährigenehen
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2. Die ordre public-Prüfung a) Einleitende Gedanken Eine Vorbehaltsklausel, wie sie Art. 6 EGBGB enthält, findet sich in nahezu allen nationalen IPR-Gesetzen und in den Instrumenten des europäischen Kollisionsrechts. 141 Auch auf Seiten des Prozessrechts gibt es Vorbehaltsklauseln in Form eines ordre public.142 Abzugrenzen ist diese Vorbehaltsklausel von Eingriffsnormen, die über eine Sonderanknüpfung ohne Zwischenschaltung einer Kollisionsnorm zur Anwendung berufen werden und denen somit eine positive (Anwendungs-)Funktion zukommt. 143 Dem ordre public, wie von Art. 6 EGBGB konzipiert, kommt hingegen nur eine negative Abwehrfunktion zu, ohne dass ein Alternativrecht zur Anwendung berufen wird.144 Der ordre public befindet sich in einem ständigen Spannungsfeld zwischen Anerkennung anderer Kulturen und ihrer Rechtsordnungen, die sich sogar als völkerrechtliche Pflicht darstellen kann, und der Verteidigung von Werten, die in der eigenen demokratischen und rechtsstaatlichen Gemeinschaft als unabdingbar angesehen werden. Dabei können insbesondere im Familienrecht staatliches und religiöses Recht miteinander in Konflikt geraten, wobei der ordre public hier grundsätzlich keinen Unterschied machen darf, zumal beispielsweise die Religionsfreiheit dem ordre public als Grundrecht wiederum auch als Maßstab dient und ihn konkretisiert. Zudem ist der ordre publicEinsatz örtlich und zeitlich relativiert, erfordert also einen hinreichenden Inlands- und Gegenwartsbezug. 145 Primärer Zweck des ordre public darf nicht die systematische Abwehr fremden abweichenden Rechts sein. Vielmehr sind in internationalen Sachverhalten die verschiedenen Rechtsordnungen zu koordinieren und die tangierten öffentlichen und privaten Interessen auszugleichen. 146 Die Erfüllung dieser Aufgabe wird durch die allgemeine Zunahme der Mobilität innerhalb und außerhalb Europas umso wichtiger, und die an sie zu stellenden Anforde141
Vgl. den Überblick in Voltz, in: Staudinger, BGB, 2013, Art. 6 EGBGB Rn. 219 ff. Vgl. Art. 45 Abs.1 lit. a) EuGVO und § 328 Abs. 1 Nr. 4 ZPO. 143 Dazu Nishitani, RdC 401 (2019), 143, 218 f.; Weller/Schulz, in: v. Hein/Kieninger/Rühl (Hrsg.), How European is European Private International Law?, 2019, S. 285, 290 ff. und 296 ff. 144 Vgl. detailliert zu den Funktionen des ordre public Weller, in: MünchKommGmbHG, 2018, Einleitung Rn. 431. 145 v. Hein, in: Juristische Studiengesellschaft Jahresband, 2018, S. 29, 40 ff.; Nishitani, RdC 401 (2019), 143, 324 ff. 146 Ähnlich das Institut de Droit International in einer Resolution vom 25.8.2005 über „Différences culturelles et ordre public en droit international privé de la famille“, vgl. IPRax 2005, 559; vgl. ferner v. Hein, in: Juristische Studiengesellschaft Jahresband, 2018, S. 29, 42. 142
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rungen werden durch eine erhebliche fluchtbedingte Migration wie etwa im Herbst 2015 noch verschärft. Hinzu kommt, dass der ordre public stets zur Ergebniskorrektur in Einzelfällen eingesetzt wird. Die Grenze zwischen noch hinnehmbaren und solchen Abweichungen, die zu den Grundgedanken der deutschen Rechtsordnung in einem untragbaren Widerspruch stehen, ist daher fließend. Gleichzeitig bietet der ordre public in seiner jetzigen Fassung den Gerichten bei ihrer Ermessensausübung keine Orientierung, was sich insbesondere am Beispiel der Ehemündigkeit zeigt. b) Herausforderungen im Rahmen der Ehemündigkeit Steht die Wirksamkeit der Ehe nach dem gem. Art. 13 Abs. 1 EGBGB zu prüfenden ausländischen Recht fest, ist im Anschluss eine ordre-publicPrüfung vorzunehmen. Dabei ist nach Art. 6 S. 1 EGBGB die Anwendung der Rechtsnorm, die ein geringeres Mindestalter vorsieht, im Einzelfall an den wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts zu messen. aa) Maßstäbe Die Maßstäbe für die ordre public-Prüfung sind aus dem Grundgesetz, den einfachgesetzlichen Vorschriften und internationalen Rechtsquellen abzuleiten.147 Bis zum sogenannten Spanierbeschluss des BVerfG148 wurde den Grundrechten bei Auslandssachverhalten zunächst keine große Bedeutung beigemessen. 149 Das BVerfG stellte in dieser Entscheidung sodann ausdrücklich fest, dass auch die Anwendung fremden Rechts durch den deutschen Richter einen Eingriff in die Grundrechte darstellen kann. 150 Zur Methode der Berücksichtigung hielt es das BVerfG für dogmatisch sachgerecht, entweder ein eigenes „internationales Grundrecht“ für Auslandssachverhalte in den jeweiligen Einzelfällen zu definieren oder die Grundrechte als Maßstab zur Konkretisierung der ordre public-Klausel heranzuziehen. Der Gesetzgeber entschied sich mit der Schaffung des Art. 6 S. 2 EGBGB für letztere Variante.151 147 Vgl. zur Berücksichtigung der Grund- und Menschenrechte im Internationalen Privatrecht umfassend Nishitani, RdC 401 (2019), 143, 210 ff. 148 BVerfG, Beschluss v. 4.5.1971 – BvR 636/68, NJW 1971, 1509. 149 Vgl. hierzu Nishitani, RdC 401 (2019), 143, 334 f. 150 BVerfG, Beschluss v. 4.5.1971 – BvR 636/68, NJW 1971, 1509: „Die Vorschriften des deutschen Internationalen Privatrechts und die Anwendung des durch sie berufenen Rechts im Einzelfall sind an den Grundrechten zu messen.“ und „Auch im Internationalen Privatrecht ist von der Leitnorm des Art. 1 Abs. 3 GG auszugehen, die im Geltungsbereich des GG alle staatliche Gewalt mit unmittelbarer Wirkung an die Grundrechte bindet.“; für eine Bestätigung dieser Rechtsprechung vgl. auch die sog. „Transsexuellen-Entscheidung“ des BVerfG: Beschluss v. 18.7.2006 – 1 BvL 1/04, 1 BvL 12/04, IPRax 2007, 217, 223. 151 Zur Entwicklung siehe auch Nishitani, RdC 401 (2019), 143, 335 ff.
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Art. 6 S. 2 EGBGB hat als speziellere Ausprägung des ordre public Vorrang vor Art. 6 S. 1 EGBGB.152 Zudem weist die Prüfung einige Besonderheiten auf, die aus dem Wesen der Grundrechte als solche resultieren. So hat sich die erforderliche örtliche Relativität in Form eines hinreichenden Inlandsbezugs laut BVerfG auch an den jeweils zu prüfenden Grundrechten zu orientieren, z.B. ob dieses überhaupt im Privatrecht Anwendung findet oder nur für Deutsche gilt. 153 Die konkrete Prüfung des Eingriffs in den Schutzbereich des Grundrechts entspricht dem Vorgehen bei Inlandssachverhalten. Bei der Beurteilung, ob ein Eingriff vorliegt, ist wie im Rahmen des Satzes 1 auf das konkrete Rechtsanwendungsergebnis im Einzelfall abzustellen. 154 Im Gegensatz zur Generalklausel in Satz 1 erfordert der Wortlaut jedoch keine Prüfung der inhaltlichen Relativität in Form einer Offensichtlichkeit des ordre publicVerstoßes.155 Wird ein Grundrechtsverstoß bei Anwendung der in Frage stehenden ausländischen Vorschrift bejaht, ist diese zunächst verfassungskonform auszulegen, bevor die Anwendungslücke entweder durch die lex causae oder lex fori geschlossen wird.156 Im Familienrecht spielen die Eheschließungsfreiheit nach Art. 6 Abs. 1 GG, das Kindeswohl nach Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG und die Gleichberechtigung nach Art. 3 Abs. 2 GG sowie die sexuelle Selbstbestimmung als Ausfluss der in Art. 2 Abs. 1 GG verbürgten allgemeinen Handlungsfreiheit 157 eine viel größere Rolle für die Konkretisierung des ordre public als das einfachgesetzliche Familienrecht. 158 Ergänzend steht auch die Berücksichtigung der Menschenrechte im Einklang mit dem Wortlaut des Art. 6 EGBGB.159 Dieser spricht von Unvereinbarkeit mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts und über 152 Zur Entwicklung in Frankreich in diesem Bereich vgl. Nishitani, RdC 401 (2019), 143, 213 ff. 153 BVerfG, Beschluss v. 4.5.1971 – BvR 636/68, NJW 1971, 1509, 1512: „[…] Vielmehr ist jeweils durch Auslegung der entsprechenden Verfassungsnorm festzustellen, ob sie nach Wortlaut, Sinn und Zweck für jede denkbare Anwendung hoheitlicher Gewalt innerhalb der Bundesrepublik gelten will oder ob sie bei Sachverhalten mit mehr oder weniger intensiver Auslandsbeziehung eine Differenzierung zuläßt oder verlangt.“ 154 Looschelders, RabelsZ Bd. 65 (2001), 463, 477 f.; Mansel, in: Nolte u.a., Pluralistische Gesellschaften und Internationales Recht, 2008, S. 137 ff.; Spickhoff, JZ 1991, 323, 324. 155 BT-Drs. 10/504, S. 44; Scholz, StAZ 2002, 321, 325; Spickhoff, JZ 1991, 323, 324. 156 Mansel, in: Nolte u.a., Pluralistische Gesellschaften und Internationales Recht, 2008, S. 203 f.; Spickhoff, JZ 1991, 323, 324; Stern, Staatsrecht III/1, 1988, S. 1242; Weller, in: MünchKommGmbHG, 2018, Einleitung Rn. 441 f. 157 Andrae, NZFam 2016, 923, 926; Bongartz, NZFam 2017, 541, 542. 158 Helms, IPRax 2017, 153, 156. 159 Zur Berücksichtigung der Menschenrechte im Rahmen des ordre public siehe Nishitani, RdC 401 (2019), 143, 337 f.
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Art. 25 GG können die Menschenrechte als Teil des Völkerrechts Bestandteil des innerstaatlichen deutschen Rechts werden. 160 Auch die Gesetzesbegründung von 1986 bei Schaffung des Art. 6 EGBGB spricht von einer Öffnung für die Menschenrechte. 161 Relevante Rechtsquellen speziell hinsichtlich der Ehemündigkeit, die dem Gericht oder Standesbeamten bei ihrer Prüfung Anhaltspunkte bieten, sind diesbezüglich das UN-Übereinkommen zum Ehewillen162, die EU-Grundrechte-Charta163 (über Art. 6 Abs. 3 EUV für alle Mitgliedstaaten bindend), die EMRK164, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UN165 sowie die UN-Kinderrechtskonvention. 166 Hervorzuheben ist bei Minderjährigenehen bzw. in Bezug auf die Ehemündigkeit insbesondere die Eheschließungsfreiheit nach Art. 12 EMRK.167 Auch völkerrechtliche Verträge können gerade in Hinblick auf ein noch zulässiges Mindestalter für die Heirat hilfreiche Anhaltspunkte für die ordre public-Prüfung liefern. So heißt es in Art. 23 Abs. 3 IPbpR, dass die Ehe nur „im freien und vollen Einverständnis der künftigen Ehegatten“ geschlossen werden darf. 168 Gemein ist diesen Vorschriften jedoch, dass sie kein konkretes Heiratsmindestalter vorgeben169, sodass anhand dieser Vorschriften vielmehr allgemeingültige Maßstäbe festzustellen sind, um diese sodann ergebnisbezogen 160
Die EMRK hat den Rang einfachen Bundesrechts, vgl. – auch rechtsvergleichend – zu diesem Rangverhältnis Nishitani, RdC 401 (2019), 143, 349 ff. 161 BT-Drs. 10/504, S. 44: „Grundrechte oder vergleichbare Menschenrechte können sich im Übrigen nicht nur aus dem Grundgesetz und den Verfassungen der Länder, sondern auch aus den menschenrechtlichen Übereinkommen ergeben; diese gehören insoweit ebenfalls zum ordre public.“ 162 Das UN-Übereinkommen über die Erklärung des Ehewillens, das Heiratsmindestalter und die Registrierung von Eheschließungen v. 10.12.1962 (am 7.10.1969 für die Bundesrepublik in Kraft getreten, vgl. BGBl. 1969 II 161, 1970 II 110) betont in seiner Präa mbel die Pflicht aller Staaten: „... die völlige Freiheit bei der Wahl des Ehegatten [zu] gewährleisten“. 163 Charta der Grundrechte der Europäischen Union v.18.12.2000, Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften – C 364/01. 164 Europäische Konvention zum Schütze der Menschenrechte und Grundfreiheiten v. 4.11.1951, welche die Bundesrepublik als für sich verbindlich anerkannt hat, vgl. BGBl. 1952 II 685, 1954 II 14. 165 „Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“, beschlossen von der Vollversammlung der Vereinten Nationen am 10.12.1948. 166 Übereinkommen über die Rechte des Kindes v. 2.9.1990. In Deutschland nach der Ratifikation am 5.4.1992 in Kraft getreten. 167 Nach Art. 12 EMRK haben „Männer und Frauen das Recht, eine Ehe einzugehen und eine Familie nach den nationalen Gesetzen, die die Ausübung dieses Rechts regeln, zu gründen“. 168 Vgl. Art. 23 Abs. 3 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR): „Eine Ehe darf nur im freien und vollen Einverständnis der künftigen Ehegatten geschlossen werden“. 169 Vgl. Voltz, Menschenrechte und ordre public im IPR, 2002, S. 348 f.
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unter Berücksichtigung aller Umstände des jeweiligen Einzelfalls zu prüfen. Dazu gehört im Übrigen auch, die in Frage stehende Rechtsnorm nicht isoliert zu betrachten, sondern in den Kontext der restlichen Rechtsordnung zu setzen.170 So kann ein geringes Heiratsmindestalter durch eine an strenge Voraussetzungen geknüpfte Dispensregelung relativiert oder die Verstoßung (talaq) im muslimischen Recht durch ein gleichwertiges Scheidungsrecht auch der Frau ausgeglichen werden. 171 Auch wenn in den Instrumenten kein festes Mindestalter festgelegt wird, scheint in der internationalen Gemeinschaft Einigkeit darüber zu herrschen, dass erst ab einer gewissen körperlichen und seelischen Reife die Eheschließung tatsächlich auch auf dem freien Willen beruht. 172 Auch Erklärungen internationaler Gremien wie des Menschenrechtsausschusses der Vereinten Nationen helfen bei der Maßstabbildung. So äußerte der UN-Menschenrechtsausschuss zum Beispiel Bedenken gegen den jüngsten Staatenbericht aus Chile, wo im Extremfall Jungen ab 14 Jahren und Mädchen sogar schon ab 12 Jahren heiraten dürfen. 173 Im Ergebnis muss folglich davon ausgegangen werden, dass eine Eheschließung unter 15 Jahren menschenrechtswidrig ist. 174 Zunehmend entwickelt auch der EGMR auf europäischer Ebene in seiner Rechtsprechung Leitlinien hinsichtlich der Berücksichtigung der Menschenrechte aus der EMRK, die den Mitgliedstaaten wichtige Anhaltspunkte für die Konkretisierung der Maßstäbe der ordre public-Prüfung liefern können. 175 Insbesondere Art. 8 EMRK, der das Familienleben schützt, wurde in einigen 170
Basedow, JZ 2016, 269, 279. Zu einem anderen Ergebnis kommt man freilich im Rahmen des Art. 10 Rom IIIVO, siehe oben 2. Teil, 6. Kap., B.II.4.b. 172 Vgl. den Wortlaut des Art. 23 Abs. 3 IPbpR. 173 Vgl. die Concluding Observations of the Human Rights Committee v. 30.3.1999, Chile, UN-Doc. CCPR/C/79/Add. 104, Rn. 21: „The minimum age for marriage, 12 years for girls and 14 years for boys, raises issues of compliance by the State party with its duty under article 24, paragraph 1, to offer protection to minors. Furthermore, marriage at such a young age would generally mean that the persons involved do not have the mental maturity to ensure that the marriage is entered into with free and full consent, as required under article 23, paragraph 3, of the Covenant. Therefore: The State party should amend the law so as to introduce a uniform minimum age for marriage of males and females, which will ensure the maturity required in order for the marriage to comply with the requirements of article 23, paragraph 3, of the Covenant”. 174 Zu diesem Ergebnis kommt auch Voltz, Menschenrechte und ordre public im IPR, 2002, S. 354. 175 Dazu Helms, IPRax 2017, 153, 157. Zu umfassenden Beispielen aus der Rechtsprechung des EGMR im Bereich des ordre public siehe Nishitani, RdC 401 (2019), 143, 338 ff. Ein weiteres Beispiel hierfür stellt auch die Leihmutterschaft dar, vgl. Engelhardt/Zimmermann, in: Ditzen/Weller (Hrsg,), Regulierung der Leihmutterschaft, 2018, S. 1, 5 f. 171
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Entscheidungen als Schranke des nationalen ordre public hervorgehoben.176 Eine rechtsvergleichende Umschau ergibt, dass ein Ehemündigkeitsalter von unter 15 Jahren mittlerweile mit europäischen Standards unvereinbar sein dürfte.177 Die vom EGMR herangezogene Methode der Rechtsvergleichung als Maßstabbildung bei der ordre public-Prüfung zielt in eine ähnliche Richtung wie die Berücksichtigung der Menschenrechte und leitet ebenfalls Anhaltspunkte aus internationalen Standards ab. 178 Hinsichtlich der Minderjährigenehe ist beispielsweise die Eheschließung unter 15 Jahren in ganz Europa nicht mehr möglich, was auf einen ordre public-Verstoß bei einer Ehe, die unter dieser Grenze geschlossen liegt, hinweist. 179 bb) Prüfungsschritte Erster Prüfungsschritt ist der hinreichende Inlandsbezug, der ein Eingreifen des ordre public und entsprechende Maßnahmen der jeweiligen deutschen Behörde erst legitimiert und in Inlands- und Auslandsehen zu unterschiedlichen Ergebnissen führen kann. 180 Die Frage, ab wann ein hinreichend intensiver Inlandsbezug vorliegt, wird von der Rechtsprechung einzelfallbezogen gehandhabt. Im Schrifttum existieren ebenfalls mehrere Ansätze. 181 Benutzte Kriterien in diesem Zusammenhang sind die deutsche Staatsangehörigkeit, der gewöhnliche Aufenthalt oder der bloße Handlungsort in Deutschland, ein deutsches Forum sowie sonstige soziale und kulturelle Faktoren der Integration. 182 Ferner ist der ordre public auch zeitlich relativ, sodass es für die Prüfung auf den Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung ankommt und eine fehlerhafte Ehe so durch Zeitablauf geheilt werden kann. 183 Im Familienrecht spielt auch Art. 6 S. 2 EGBGB eine besonders wichtige Rolle.
176 Vgl. EGMR, Urteil v. 3.5.2011 – 56759/08, Negrepontis-Giannisis ./. Griechenland (ordre public Verstoß bei Adoptionsverbot) und EGMR, Urteil v. 9.3.2010 – 51625/08, Ammdjadi ./. Deutschland (kein ordre public Verstoß bei Versagung des deutschen Versorgungsausgleichs). 177 Voltz, Menschenrechte und ordre public im IPR, 2002, S. 346 f. 178 Vgl. Basedow, JZ 2016, 269, 278 f.; Jayme, Methoden der Konkretisierung des ordre public im IPR, 1989, S. 44; Kropholler, IPR, 2006, § 36 III 2, S. 246 ff.; Spickhoff, Der ordre public im internationalen Privatrecht, 1989, S. 91 f., 149 f.; für das IZVR vgl. Martiny, Hdb. IZVR III/1, 1984, Rn. 984 ff. 179 Siehe 1. Kap., C.I.1. und insb. Fn. 979. 180 Antomo, NJW 2016, 3558, 3559 f. 181 Zum Ganze ausführlich Nishitani, RdC 401 (2019), 143, 326 ff. 182 v. Hein, in: MünchKommBGB, 2018, Art. 6 EGBGB Rn. 186 m.w.N. 183 Jayme, Methoden der Konkretisierung des ordre public im IPR, 1989, S. 33; Mansel, in: Nolte u.a., Pluralistische Gesellschaften und Internationales Recht, 2008, S. 137, 203.
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Nach der Begriffsbestimmung des BVerfG 184 müssen Ehen für den Schutz aus Art. 6 GG grundsätzlich bestimmte Strukturprinzipien erfüllen: „ […] Zum Gehalt der Ehe, wie er sich ungeachtet des gesellschaftlichen Wandels und der damit einhergehenden Änderungen ihrer rechtlichen Gestaltung bewahrt und durch das Grundgesetz seine Prägung bekommen hat, gehört, dass sie die Vereinigung eines Mannes mit einer Frau zu einer auf Dauer angelegten Lebensgemeinschaft ist, begründet auf freiem Entschluss unter Mitwirkung des Staates, in der Mann und Frau in gleichberechtigter Partnerschaft zueinander stehen und über die Ausgestaltung ihres Zusammenlebens frei entscheiden können.“
Es ist aber zu berücksichtigen, dass im IPR vom Ehebegriff zunächst einmal auch solche ausländischen Ehen erfasst sind, die von den genannten Strukturprinzipien abweichen, wie z.B. Minderjährigenehen, polygame Ehen, hinkende Ehen, postmortale Ehen sowie Ehen, bei deren Schließung nicht die erforderliche Form gewahrt wurde.185 Ob diesen Ehen trotzdem ein verfassungsrechtlicher Schutz zukommt, bemisst sich nach dem jeweiligen Inlandsbezug und danach, welche Funktionen des Art. 6 GG betroffen sind. Als Faustformel gilt: Je intensiver der Inlandsbezug, desto höhere Anforderungen sind an die strukturelle Ausgestaltung der Ehe und ihren grundrechtlichen Schutz zu stellen.186 Hinsichtlich der betroffenen Funktionen gilt: die Ehe als Institut muss sich ausländischen Strukturprinzipien nicht öffnen, das subjektive Abwehrrecht der Eheleute kann jedoch im Einzelfall die Ausweitung des verfassungsrechtlichen Begriffs erfordern. Ob konkret die ordre public-widrige Ehe vom Schutz des Art. 6 GG umfasst ist, hat das BVerfG jedoch bisher offen gelassen. 187 Der Grad, inwieweit die Auslandsehe jeweils den deutschen Strukturprinzipien entspricht, hat im Fluchtkontext zudem Auswirkungen darauf, ob ein Familiennachzug gewährt wird.188 An der in Art. 6 Abs. 1 GG verankerten Eheschließungsfreiheit lassen sich zudem weitere strukturelle Besonderheiten der Grundrechte aufzeigen, die ihre Berücksichtigung durch das IPR verkomplizieren. Jedem Grundrecht kommen grundsätzlich objektive und subjektive Funktionen zu. So enthält Art. 6 Abs. 1 GG einerseits eine objektive Institutsgarantie, die den Staat zum 184
BVerfG, Urteil v. 17.7.2002 – 1 BvF 1/01, BeckRS 2012, 55617. Coester-Waltjen, FS Henrich, 2000, 91 f. 186 Coester-Waltjen, FS Henrich, 2000, 91, 93 ff.; Looschelders, RabelsZ Bd. 65 (2001), 463, 479. 187 BVerfG, Beschluss v. 30.11.1982 – 1 BvR 818, juris Rn. 30: „Ob der Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG auch dann eingreifen würde, wenn die Ehe nach der maßgebenden ausländischen Rechtsordnung des einen Verlobten in einer Weise geschlossen würde, die dem ordre public der deutschen Rechtsordnung widerspräche, bedarf hier keiner Entscheidung.“ Dafür unter gewissen Voraussetzungen Coester-Waltjen, FS Henrich, 2000, 91, 98. 188 Zur Abstufung des verfassungsrechtlichen Schutzes einer Auslandsehe vgl. CoesterWaltjen, FS Henrich, 2000, 91, 99. Zum Nachzug bei polygam geführter Ehe siehe unten 3. Kap., B.IV.4. 185
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Schutz der Ehe als solcher verpflichtet und andererseits ein subjektives Abwehrrecht der Ehegatten gegen staatliche Eingriffe in ihre Ehe.189 Einerseits kann die Institutsgarantie daher zu einem Eingreifen des ordre public führen, weil die Anwendung der ausländischen Vorschrift den objektiv zu bestimmenden Strukturprinzipien der Ehe i.S.d. Art. 6 Abs. 1 GG widerspricht oder aber die Abwehrfunktion ein Eingreifen gerade verhindern, wenn das subjektive Abwehrrecht der Eheleute tangiert ist. Dies lässt sich anhand der Minderjährigenehe besonders gut verdeutlichen: Grundsätzlich kollidiert hier die Institutsgarantie, die zunächst nur eine Ehe schützt, die unter Beachtung des freien Willens und der Selbstbestimmung der Eheschließenden zustande gekommen ist, mit dem subjektiven Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe in eine bestehende Ehe. Je nach Einzelfall können aber auch gerade die subjektiven Abwehrrechte des minderjährigen Ehegatten in Form seiner Eheschließungsfreiheit aus Art. 6 GG und Selbstbestimmung aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG in Widerspruch mit dem Schutz der Ehe als Institut geraten, der wegen des Bestandsschutzes der Ehe zur Akzeptanz einer abweichenden Ehemündigkeit im fremden Recht führen kann. Das deutsche IPR und Verfassungsrecht sind auf Seiten der Institutsgarantie nicht gehalten, derartige Eheschließungen (und damit hinkende Ehen) zu ermöglichen. Die Ausprägung des Art. 6 Abs. 1 GG als subjektives Abwehrrecht kann aber im Einzelfall das Eingreifen des ordre public bei der Kinderehe verhindern. Dabei ist auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls abzustellen, z.B., ob die Eheleute die Ehe gutgläubig gelebt haben und Kinder aus der Ehe hervorgegangen sind. Zudem kann entscheidend sein, ob den Strukturprinzipien zumindest zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung inzwischen entsprochen wird, z.B., wenn die Ehepartner volljährig geworden sind und die Ehe weiterleben wollen oder im Falle der Polygamie, wenn die Ehe nun monogam gelebt wird. 190 In Bezug auf das noch zulässige Mindestalter für eine Eheschließung werden in der Literatur verschiedene Altersgrenzen diskutiert und auch in der bisherigen Rechtsprechung findet sich ein breites Spektrum an Entscheidungen und jeweiligen Begründungen. 191 Generell wurde eine Eheschließung mit Beteiligten unter 14 Jahren als unzulässig angesehen.192 Die Ehemündigkeit 189 Coester-Waltjen, FS Henrich, 2000, 91, 95 f; Gernhuber/Coester-Waltjen, Familienrecht, 2010, § 5 Rn 2 f. und 31; Spickhoff, JZ 1991, 323, 325. 190 Coester-Waltjen, FS Henrich, 2000, 91, 98; Looschelders, RabelsZ Bd. 65 (2001), 463, 486 f. 191 Ordre public-Eingriff verneint: KG, Urteil v. 7.6.1989 – 18 U 2625/88, BeckRS 1989, 02838; AG Tübingen, Beschluss v. 25.10.1990 – 3 GR 105/90, BeckRS 2016, 16524. Ordre public-Eingriff bejaht: AG Offenbach, Urteil v. 30.10.2009 – 314 F 1132/09, BeckRS 2010, 23013; KG, Beschluss v. 21.11.2011 − 1 W 79/11, NJOZ 2012, 165. Vgl. ferner Bongartz, NZFam 2017, 541, 542; Opris, ZErb 2017, 158. 192 Vgl. nur DIJuF-Rechtsgutachten, JAmt 2016, 127, 129.
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zwischen 14 und 16 Jahren stellt einen besonders umstrittenen Graubereich dar,193 während eine Eheschließung ab 16 Jahren vor dem Hintergrund des § 1303 Abs. 2 BGB a.F. in der Regel nicht zu einem ordre public-Verstoß führte.194 Dies liegt natürlich vor allem daran, dass jeder Einzelfall anders ist und nach Differenzierung verlangt. Aber auch fehlende einheitliche gesetzlich vorgegebene Maßstäbe führen in den jeweiligen Urteilen zu uneinheitlichen Herleitungen und Begründungsmustern. Hochproblematisch in Hinblick auf die Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit von Entscheidungen ist ferner, dass die Rechtsfolge der ordre publicAnwendung nicht geregelt ist. 195 Für eine schonendste Anwendung des ordre public spricht auf den ersten Blick die Lückenfüllung mit der lex causae. Jedoch hält das ausländische Recht nicht immer passende Alternativlösungen bereit. Dies kann vor allem daran liegen, dass das vorherige Nichtanwenden einer Norm das ausländische Gesetz derart verändert, dass eine Anwendung des verbleibenden Normgefüges aus Sicht des fremden Rechts sogar systemwidrig wäre.196 Vielmehr ist somit die lex fori als Ersatzrecht anzuwenden. 197 In jedem Fall darf die ordre public-Prüfung nicht offen gelassen werden, sondern ein Verstoß ist aus Gründen der Rechtssicherheit zu verneinen oder zu bejahen.198 c) Beispiele aus der Rechtsprechung Die einzelnen Schritte im Rahmen der ordre public-Prüfung sollen anhand von Anwendungsbeispielen aus der Rechtsprechung, speziell bezogen auf die Ehemündigkeit, verdeutlicht werden. 193 Vgl. überblicksartig Heiderhoff, IPRax 2017, 160, 161 und die Beispiele divergierender Rechtsprechung in Fn. 1102. 194 Vgl. Coester, StAZ 1988, 122, 123 f. zu §§ 1, 3 EheG; ders., ZfJ 1992, 141; ders., in: MünchKommBGB, 2015 (Altauflage), Art. 13 EGBGB Rn. 38; v. Hein, in: Juristische Studiengesellschaft Jahresband, 2018, S. 29, 59; Lorenz, in: BeckOK, BGB, 2020, Art. 6 EGBGB Rn. 25. 195 Weller/Thomale/Hategan/Werner, FamRZ 2018, 1289, 1292 f. 196 Antomo, NZFam 2016, 1155, 1161; dies., NJW 2016, 3558, 3562; Weller/Thomale/Zimmermann, JZ 2017, 1080, 1087 f. 197 Antomo, NZFam 2016, 1155, 1161; dies., NJW 2016, 3558, 3562; v. Bar/Mankowski, IPR I, 2003, § 7 Rn. 284 ff.; Mankowski, FamRZ 2016, 1274, 1276; Schulze, in: Nomos Kommentar, BGB, Jahr, Art. 6 EGBGB Rn. 53; im Ergebnis Lorenz, in: BeckOK BGB, 2020, Art. 6 EGBGB Rn. 18. Man spricht insoweit auch von einer positiven residualen Funktion des ordre public, die aber von einer generellen positiven Funktion abzugrenzen ist, vgl. Weller, in: MünchKommGmbHG, 2018, Einleitung Rn. 441 f. Vgl. in diesem Zusammenhang auch das treffende Zitat in Kegel/Schurig, IPR, 2004, § 2 S. 132: „Das eigene Recht wird gelebt, ihm vertraut man, auch ohne das konkrete Ergebnis zu kennen; ihm will man im Gutem wie im Bösen folgen.“ 198 Coester, StAZ 2016, 257, 261; Weller/Thomale/Hategan/Werner, FamRZ 2018, 1289, 1293.
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aa) AG Hannover, Urteil vom 7.1.2002 (1) Inhalt Das AG Hannover 199 hatte im Rahmen eines Scheidungsantrags als Vorfrage über die Rechtswirksamkeit einer Eheschließung zwischen zwei vietnamesischen Staatsangehörigen im Jahr 1980 zu entscheiden. Diese wies nach dem anzuwendenden vietnamesischen Recht mehrere Mängel auf. Neben einer unterbliebenen Registereintragung als Formmangel fehlte es an der Ehemündigkeit, worauf sich diese Darstellung beschränken wird. Das vietnamesische Recht sieht für Frauen ein Mindestheiratsalter von 18 Jahren und für Männer von 20 Jahren vor. Im zu beurteilenden Fall waren die Frau bei der Eheschließung 14 Jahre und der Mann 17 Jahre alt. Das vietnamesische Recht spricht in diesem Fall in Art. 9 Abs. 2 GFF200 von einer „ungesetzlichen Ehe“ und sieht als Rechtsfolge grundsätzlich Nichtigkeit vor. Allerdings kann die Ehe geheilt werden, wenn die Ehegatten mittlerweile volljährig sind, zusammengelebt haben und Kinder aus der Ehe hervorgegangen sind, was auf die vorliegend Beteiligten zutraf. Das AG Hannover überprüfte diese Heilungsregel des vietnamesischen Rechts am deutschen ordre public und verneinte einen Verstoß. Zwar wies es in seiner Begründung darauf hin, dass im europäischen Rechtsraum grundsätzlich nur eine Eheschließung ab 15 Jahren in Betracht käme, nannte jedoch als hier für die Wirksamkeit der Ehe ausschlaggebenden Einzelfallumstände den guten Glauben der Eheleute, die verstrichene Zeit und den Umstand, dass die Eheleute mittlerweile in Deutschland eingebürgert waren. (2) Bewertung Die Entscheidung ist ein Beispiel der Einzelfallrechtsprechung im Bereich des ordre public. So hätte die Abwägung in diesem Fall auch anders ausfallen können und ein anderes Gericht die Ehe vielleicht unter Bezugnahme auf die fehlende Einsichtsfähigkeit der 14-jährigen Ehefrau bei der Eheschließung aufgehoben. bb) AG Offenbach, Urteil vom 30.10.2009 (1) Inhalt Das AG Offenbach 201 setzte sich mit der Frage auseinander, ob eine nach pakistanischem Recht geschlossene Ehe aufzuheben sei, wenn die Ehefähigkeit der Frau zum Zeitpunkt der Eheschließung nicht gegeben war. Die Ehe-
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AG Hannover, Urteil v. 7.1.2002 – 616 F 7355/00, BeckRS 2002, 01869. Vietnamesisches Gesetz über Ehe und Familie vom 19.12.1986 (GEF). 201 AG Offenbach, Urteil v. 30.10.2009 – 314 F 1132/09, BeckRS 2010, 23013. 200
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leute hatten in Pakistan religiös innerhalb ihrer Glaubensgemeinschaft geheiratet, als die Ehefrau 16 Jahre alt war. Beantragt wurde nun die Scheidung und hilfsweise die Aufhebung dieser Ehe. Das Gericht prüfte zunächst den Scheidungsantrag und bejahte die Vorfrage nach einer wirksamen Ehe nach pakistanischem Recht. Auch das Vorliegen der Scheidungsvoraussetzungen des pakistanischen Rechts waren nach der Auffassung des Gerichts gegeben202, sodass es dem Scheidungsantrag in einem ersten Schritt statt gab. Als nächstes widmete sich das Gericht dem hilfsweise gestellten Aufhebungsantrag. Auch hier war die Wirksamkeit der Ehe als Vorfrage zu klären. Jedoch wendete das Gericht nicht wie innerhalb des Scheidungsantrags das pakistanische Recht an, sondern erklärte dieses für mit dem deutschen ordre public nach Art. 6 EGBGB unvereinbar. Das in Pakistan maßgebliche sunnitische Ehemündigkeitsalter 203, das mit Eintritt der Pubertät erreicht ist und das mit Vollendung des 15. Lebensjahrs vermutet wird, sei mit dem deutschen Eheschließungsrecht, das eine Ehemündigkeit ab 18 Jahren mit einer Dispensmöglichkeit ab 16 Jahren vorsehe, nicht vereinbar. Ferner führte das Gericht die Freiheit des Willens bei der Eheschließung und den Minderjährigenschutz als wesentliche Grundsätze des deutschen Rechts ins Feld. Das Eingreifen des ordre public begründete es aber nicht mit dem Alter der Braut, sondern vor allem mit der Tatsache, dass die Ehe rein religiös und ausschließlich innerhalb der Familie geschlossen worden sei, was das Vorliegen unzulässigen Drucks auf die minderjährige Frau vermuten ließe. Das Gericht verneinte ferner eine Heilung durch Bestätigung nach § 1315 Abs. 1 Nr. 1 BGB a.F., da die Ehegatten nicht das dafür erforderliche Bewusstsein für die Aufhebbarkeit ihrer Ehe gehabt hätten. (2) Bewertung Gerade im Vergleich der oben dargestellten Entscheidung in dem vietnamesischen Fall zeigt sich, dass die Gerichte im Rahmen der ordre public-Prüfung unterschiedliche Kriterien verwenden und diese auch verschieden gewichten. Auch in diesem Fall hätte beispielsweise wie oben eine Heilung, diesmal nach deutschem Recht, angenommen werden können. Zudem hätte das Gericht die im Rahmen des Aufhebungsantrags gemachten Erwägungen zum ordre public schon beim Scheidungsantrag prüfen müssen und hätte nicht nur knapp auf die Wirksamkeit der Ehe nach pakistanischem Recht verweisen dürfen.
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Vor Inkrafttreten wurden die Scheidungsvoraussetzungen an Art. 17 Abs. 1 EGBGB a.F. angeknüpft, der zum Heimatrecht der Eheleute führte. 203 Ehen in Pakistan werden nach sunnitischem Recht beurteilt, vgl. Weishaupt, in: Bergmann/Ferid, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, 2003, Länderteil Pakistan, S. 38.
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Diese Rechtsprechung zeigt mithin sowohl die Unvorhersehbarkeit der Entscheidungen im Bereich des ordre public auf, als auch eine fehlende Stringenz bei Vornahme der einzelnen Prüfungsschritte. cc) KG, Beschluss vom 21.11.2011 (1) Inhalt In der Vorinstanz hatte das AG Berlin die Beurkundung der Eheschließung zwischen einer 14-Jährigen und einem 17-Jährigen schiitischen Glaubens aus dem Libanon durch ein deutsches Standesamt angeordnet, da nach § 6 FamFG des libanesischen Familienrechts eine gültige Ehe vorläge und sie selbst bei einem Verstoß des Anwendungsergebnisses gegen den deutschen ordre public nur aufhebbar sei. Das KG 204 hob den Beschluss wieder auf und erklärte den § 6 FamFG des libanesischen Familienrechts aufgrund des Eingreifens des ordre public für unanwendbar, da das Mindestalter für eine Eheschließung in Deutschland bei 16 Jahren läge und der Schutz Minderjähriger als unverzichtbarer Bestandteil des deutschen Rechts grundgesetzlich in Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 1 GG verankert sei. Auch einen hinreichenden Inlandsbezug hielt es für gegeben, da der Ehemann mittlerweile in Deutschland eingebürgert worden war und das Paar plante, in Zukunft in Deutschland zu leben. Eine Relativierung dadurch, dass eine fehlende Ehemündigkeit auch nach deutschem Recht nur zu einer Aufhebbarkeit der Ehe führen würde, lehnte das KG im Gegensatz zum AG Berlin ab. Denn eine entsprechende in Deutschland geschlossene Ehe hätte aufgrund der Mitwirkung eines Standesbeamten gar nicht erst zustande kommen können. Bei der Rechtsfolge griff es sodann auf den § 4 FamFG des libanesischen Rechts als lex causae zurück, der die Nichtigkeit der Ehe bei fehlender Ehemündigkeit anordnet und lehnte im Ergebnis die Beurkundung der Ehe ab. Auch eine Heilung käme nicht in Betracht, da die Ehegatten zum Zeitpunkt der Entscheidung erst 16 und 19 Jahre alt waren. (2) Bewertung Die Entscheidung ist in mehreren Punkten gegensätzlich zum oben besprochenen „Vietnam-Fall“ des AG Hannover. Zum einen nimmt das KG eher den Zeitpunkt der Eheschließung in den Blick, als den Sachverhalt von der Perspektive des Entscheidungszeitpunkts zu beurteilen. Aus diesem Grund kommt es gerade bezüglich einer möglichen Heilung der Ehe zu einem anderen Ergebnis als das AG Hannover, das das bisherige Zusammenleben der Eheleute und die gemeinsamen Kinder als wichtige Umstände heranzog. Das KG hingegen betont, dass außereheliche Kinder in Deutschland nicht benach204
KG, Beschluss v. 21.11.2011 – 1 W 79/11, FamRZ 2012, 1495.
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teiligt würden. Dies zeigt die unterschiedliche Wertung vergleichbarer Tatsachen durch zwei Gerichte im Rahmen der ordre public-Prüfung beispielhaft auf. Neben dieser Uneinheitlichkeit bei der Bewertung von Einzelfallumständen durch die Gerichte treten die Unklarheiten in der Handhabung der Rechtsfolgen der ordre public-Prüfung deutlich hervor. So wendet das KG das libanesische Recht an. Dieses normiert zwar generell für eine fehlende Ehemündigkeit die Nichtigkeit als Folge, jedoch lag aus seiner Sicht in diesem konkreten Fall gar kein solcher Mangel vor. Eine Schließung der Lücke durch die lex causae erscheint somit inkohärent. Gleichzeitig bedeutete die Anwendung libanesischen Rechts auch eine Schlechterstellung der Auslandsehe im Vergleich zur Inlandsehe, die im Fall des KG nur aufhebbar gewesen wäre und zudem nach § 1315 Abs. 1 BGB a.F. bestätigt hätte werden können. Zudem hätte das Gericht auch die hypothetische Folgeregelung des ausländischen Rechts einer ordre public-Prüfung unterziehen müssen. dd) OLG Bamberg, Beschluss vom 12.05.2016 und sich anschließend BGH, Beschluss vom 14.11.2018 (1) Inhalt Als letztes Beispiel dient die äußerst medienwirksame und vielfach diskutierte Entscheidung des OLG Bamberg zur Wirksamkeit einer Kinderehe. 205 Das Gericht hatte im Rahmen einer Vormundschaftssache die Vorfrage der Wirksamkeit einer Eheschließung zwischen einem 22-jährigen Syrer (im Folgenden Antragsteller) und einer zum Zeitpunkt der Eheschließung 14-jährigen Syrerin, die vor ihrer Flucht nach Deutschland in Syrien stattgefunden hatte, zu entscheiden. Die Ehefrau wurde als minderjähriger unbegleiteter Flüchtling vom zuständigen Jugendamt in Obhut genommen, vom Antragsteller getrennt und in einer Jugendhilfeeinrichtung untergebracht. In der Folge stellte das Amtsgereicht das Ruhen der elterlichen Sorge fest und bestellte das Jugendamt als Vormund. 206 Das OLG Bamberg hatte über die Beschwerde des Antragstellers zu entscheiden, die sich gegen die Beschränkung des Umgangsrechts durch den Vormund richtete. Der Umfang der Sorgepflicht des Vormunds hing gem. § 1800 i.V.m. § 1633 BGB a.F. von der Wirksamkeit der Ehe des Antragstellers ab. Nachdem das Gericht festgestellt hatte, dass die Eheschließung nach dem gem. Art. 13 Abs. 1 EGBGB auf die Eheschließung anwendbaren syrischen Recht wirksam war, hatte es einen möglichen Verstoß dieser Rechtsanwendung gegen den deutschen ordre public zu prüfen. 205
OLG Bamberg, Beschluss v. 12.5.2016 – 2 UF 58/16, BeckRS 2011, 9621. Zu den Problematiken bei der verfahrensrechtlichen Bestellung eines Vormunds für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge siehe oben 3. Teil, 4. Kap., B. 206
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Das Gericht ließ einen Verstoß gegen Art. 6 EGBGB jedoch offen, da nach beiden Rechtsordnungen im Ergebnis bei der Nichteinhaltung des Ehemündigkeitsalters eines Ehegatten nicht die Unwirksamkeit, sondern die bloße Aufhebbarkeit der Ehe in Betracht käme. Das Gericht hob daher die Entscheidung der Vorinstanz auf, da dem Vormund keine Entscheidungsbefugnis hinsichtlich des Umgangsrechts des Antragstellers und seiner minderjährigen Ehefrau zukäme. (2) Bewertung Die Entscheidung hat zu Recht nicht nur positive Kritik durch die Literatur erfahren.207 Bei seinem Vergleich des syrischen und deutschen Rechts ließ das OLG Bamberg im Gegensatz zum KG mit seinem libanesischen Fall außer Acht, dass im deutschen Recht gem. § 1310 BGB zwingend ein Standesbeamter zu beteiligen ist, der vor der Eheschließung die materiellen und formellen Voraussetzungen dieser prüft. Eine inländische Eheschließung zwischen einer 14-Jährigen und einem 22-Jährigen, die nachträglich wegen Eheunmündigkeit nach den §§ 1313, 1314 BGB a.F. aufgehoben wird, kam somit praktisch nicht vor.208 Dies spiegelt erneut die Uneinheitlichkeit der ordre public-Prüfung in der Rechtsprechung wider. Zudem steht die Vorgehensweise des Gerichts, einen ordre public-Verstoß offen zu lassen sowohl im Widerspruch zum Gesetzestext als auch zu der Literatur und Rechtsprechung zum ordre public.209 So bleibt unklar, ob die Ehepartner nach deutschem Recht bei der zuständigen Verwaltungsbehörde die Aufhebbarkeit ihrer Ehe beantragen könnten oder aber syrisches Fehlerfolgenrecht Anwendung finden würde, dessen Voraussetzungen und Verfahren möglicherweise konträr zum deutschen Recht laufen. Derartige Unklarheiten sind jedoch gerade bei wichtigen Statusfragen wie der Wirksamkeit einer Eheschließung in Hinblick auf die Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit von Entscheidungen zu vermeiden. Zwar begründet das OLG Bamberg seine Entscheidung sehr gründlich, jedoch wurde kritisiert, dass es dem im Grundgesetz und verschiedenen internationalen Texten verbürgten Minderjährigenschutz und dem Schutz der sexuellen Selbstbestimmung nicht genug Gewicht beigemessen habe. 210
207
Andrae, NZFam 2016, 923, 927 f.; positiver hingegen Heiderhoff, IPRax 2017, 160, 161; Mankowski, FamRZ 2016, 1274 ff. 208 Vgl. Hilbig-Lugani, Anm. zu OLG Bamberg v. 12.5.2016– 2 UF 58/16, NZFam 2016, 897. So argumentiert auch das KG in seinem Beschluss v. 21.11.2011 – 1W 79/11, BeckRS 2011, 27003. 209 Coester, StAZ 2016, 257, 261; Majer, NZFam 2016, 1019, 1021; Weller/Thomale/Hategan/Werner, FamRZ 2018, 1289, 1293. 210 Andrae, NZFam 2016, 923, 927 f.; Majer, NZFam 2016, 1019.
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Die Entscheidung wurde rechtspolitisch stark diskutiert, da sie die sensiblen Bereiche der deutschen Werteordnung wie das Kindeswohl und das sittliche Anstandsgefühl berührt. Sie war daher auch Anlass für die Entscheidung des Bundesjustizministeriums, eine Arbeitsgruppe zum Thema Kinderehen einzurichten, die über mögliche Gesetzesentwürfe beraten sollte.211 (3) Vorlagebeschluss des BGH Das OLG Bamberg hatte die Rechtsbeschwerde zugelassen, die das zuständige Jugendamt als Vormund eingelegt und eine Regelung zur Beschränkung des Umgangsrechts der Eheleute beantragt hatte. Der BGH hat am 14.11.2018 das Verfahrens nach Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG ausgesetzt und dem BVerfG die Regelung des Art. 13 Abs. 3 Nr. 1 EGBGB n.F. des neuen „Gesetzes zur Bekämpfung von Kinderehen“, dessen Verfassungsmäßigkeit er bezweifelt, zur konkreten Normenkontrolle vorgelegt.212 Die diesbezüglichen Ausführungen des Gerichtshofs werden weiter unten bei der kritischen Würdigung des Gesetzes erläutert.213 Bemerkenswert ist, dass der BGH erstmals die Vereinbarkeit der Anwendung einer vom deutschen Recht abweichenden ausländischen Regel der Ehemündigkeit mit dem ordre public prüft. Er identifiziert dafür das bei Sorgerechtsentscheidungen zu berücksichtigende Kindeswohl als wesentlichen Grundsatz des deutschen Rechts, verneint aber einen Verstoß im vorliegenden Fall. Zwar lag das Heiratsalter bei nur 14 Jahren, im konkreten Fall war aber die Ehefähigkeit durch ein syrisches Gericht festgestellt worden. Der BGH gibt sodann einen Überblick über das in der bisherigen Rechtsprechung und Literatur für zulässig gehaltene Mindestalter für die Eheschließung. Er legt sich jedoch nicht auf eine feste Altersgrenze fest und argumentiert, dass im Sinne des Kindeswohls stets eine Prüfung des Einzelfalls vorzunehmen sei und beruft sich dabei auch auf die UN-KRK und EMRK, die jeweils kein Mindestalter vorsehen. Eine am Kindeswohl orientierte Einzelfallprüfung ist sicherlich sinnvoll. Es ist jedoch fraglich, ob ausländische Gerichte, wie hier ein syrisches, dabei dieselben strengen Maßstäbe anlegen, wie es deutsche Gerichte zu tun pflegen. Vorzugswürdig erscheint eine noch weiter auszuführende Lösung dahingehend, zwar ein Mindestalter festzulegen, diese Grenze jedoch durch eine Ausnahmevorschrift weniger starr zu konzipieren. 214 Zudem wären Ausführungen des BGH zu den genaueren Kriterien der Einzelfallwürdigung wünschenswert gewesen, an denen sich die Instanzgerichte orientieren und so starke Abweichungen der Gerichte untereinander vermieden werden könnten. 211
Vgl. (letzter Abruf: 4.6.2020). 212 BGH, Beschluss v. 14.11.2018 – XII ZB 291/16, BeckRS 2018, 32048. 213 Siehe unten C.II.3.b.cc. 214 Siehe unten C.II.4.
210
Vierter Teil: Herausforderungen im Internationalen Eherecht
II. Zwischenergebnis: Reformbedürfnis Aufgrund der vorherigen Ausführungen zum ordre public und seiner uneinheitlichen Handhabung durch die Rechtsprechung im Bereich der Minderjährigenehe lässt sich ein Reformbedürfnis feststellen, das auch der Gesetzgeber gesehen und in Form des „Gesetzes gegen Kinderehen vom 17. Juli 2017“ reagiert hat. Angesichts fehlender klarer Linien in der Rechtsprechung sind auch die Behörden im Umgang mit minderjährigen Eheleuten überfordert. Zum Beispiel bestehen Unklarheiten bei der Frage, ob ein Minderjähriger, der verheiratet ist, als unbegleitet einzustufen ist. Verstärkt wird das Problem durch den gleichzeitigen Anstieg der problematischen Fälle bei gleichbleibender personeller Besetzung und Ausstattung der Behörden. 215 In der Literatur wird vereinzelt eingewandt, mit der jetzigen ordre publicKlausel ließen sich die Fälle in Anwendung richterlichen Ermessens im Einzelfall zufriedenstellend lösen.216 Jedoch zeigen die regional schon jetzt divergierenden Entscheidungen, dass es gerade im sensiblen Bereich des Minderjährigenschutzes klarer gesetzlicher Regelungen bedarf, die gleichzeitig typisieren und klare Linien aufzeigen, aber auch noch Raum für eine Ermessensausübung bieten, um den Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalls Rechnung tragen zu können. Im Bereich der Minderjährigenehen kommt hinzu, dass de facto mehr minderjährige Mädchen als Jungen betroffen sind, sodass ein Reformbedürfnis sich auch aus dem staatlichen Auftrag nach Art. 3 Abs. 2 GG, die Gleichberechtigung von Frau und Mann herzustellen, ergibt.217 Hinsichtlich dieser Probleme bei der ordre public-Prüfung bei Auslandsehen bieten auch die Reformvorschläge hinsichtlich Art. 13 EGBGB keine Lösung, wenn sie sich auf Inlandsehen beschränken. 218 Selbst bei einer generellen Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt bei Auslandsehen wäre an den gewöhnlichen Aufenthalt zum Zeitpunkt der Eheschließung anzuknüpfen, was wiederum zur Fremdrechtsanwendung führen würde. 219 Als Zwischenfazit steht somit ein grundsätzliches Reformbedürfnis fest. Wünschenswert wäre in diesem Zusammenhang auch, dass die zunehmende Vereinheitlichung des europäischen Kollisionsrechts auch vor dem ordre public nicht Halt macht und in Zukunft gemeinsame Konkretisierungsmethoden entwickelt werden. Zunächst stellt sich aber die Frage, ob die Umsetzung 215
Ebenso für ein generelles Reformbedürfnis im Bereich der Minderjährigenehen: Antomo, NJW 2016, 3558, 3563; Coester, FamRZ 2017, 77, 80; Majer, NZFam 2017, 537. 216 Vgl. die Stellungnahme des DAV Nr.: 7/2017 zur Kinderehe v. Februar 2017, abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020); Basedow, FamRZ 2019, 1833, 1837; Heiderhoff, IPRax 2017, 160, 161. 217 Bongartz, NZFam 2017, 541, 543. 218 Helms, IPRax 2017, 153, 155. 219 Ibid.
2. Kapitel: Kollisionsrechtliche Behandlung von Minderjährigenehen
211
des deutschen Gesetzgebers in Form des „Gesetzes zur Bekämpfung von Kinderehen“ vom 17. Juli 2017 im Bereich der ordre public-Prüfung im Ehekollisionsrecht in die richtige Richtung geht. Dieser Frage widmet sich der nächste Abschnitt. C. Gegenwärtige Rechtslage I. Gesetzgebungsverfahren und Einführung Die durch den Anstieg der Migration bedingte Zunahme von Minderjährigenehen in Deutschland und die Überforderung von Behörden sowie der beschriebene divergierende Umgang der Gerichte mit diesen, die sich auch auf unzureichende rechtliche Grundlagen zurückführen lassen, haben den Gesetzgeber dazu veranlasst, das „Gesetz zur Bekämpfung von Kinderehen“ 220 zu verabschieden. Die Ziele des neuen Gesetzes sind sowohl der Schutz der Minderjährigen vor vermögensrechtlichen Folgen der Ehe, die sie nicht absehen können, als auch vor unzulässigem (vor allem familiärem) psychischen Druck und die Geschlechtergleichstellung. 221 Um diese Ziele insbesondere im Hinblick auf die Auslandsehe durchzusetzen, liegt ein besonderer Fokus auf der internationalen Wirkungsweise der neuen Regelungen. 222 Insbesondere aufgrund der weiter oben beschriebenen unbefriedigenden ordre public-Lösung soll das neue Gesetz zudem mehr Rechtsklarheit im Bereich der Minderjährigenehen schaffen. Ein klarerer rechtlicher Rahmen soll gleichzeitig dazu beitragen, den Arbeitsaufwand bei Behörden und Gerichten zu verringern. 223 Im Folgenden wird der Inhalt der neuen gesetzlichen Regelungen erläutert und einer ausführlichen kritischen Würdigung unterzogen, die auch auf Verbesserungsvorschläge und Alternativen eingeht.
220
Gesetz zur Bekämpfung von Kinderehen vom 17. Juli 2017, BGBl. 2017 I 2429. Bisweilen wird der Titel kritisiert: So sei das Wort „Kind“ missverständlich, da das Gesetz nicht nur Unter-14-Jährige, sondern allgemein Minderjährige betreffe, vgl. CoesterWaltjen, IPRax 2017, 429. Vgl. aber demgegenüber die Definition des Begriffs „Kind“ in Art. 2 Nr. 7 des Vorschlages der EU-Kommission für eine Verordnung des Rates über die Zuständigkeit, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und über internationale Kindesentführungen (Neufassung) v. 30.6.2016, COM(2016), 411 final: „Für die Zwecke dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck (...) Kind jede Person unter 18 Jahren.“ Hiernach befindet sich das „Gesetz zur Bekämpfung von Kinderehen“ im Einklang mit dem europäischen Begriffsverständnis. 221 Vgl. die Gesetzesbegründung, BT-Drs. 18/12086, S. 19. 222 Weller/Thomale/Hategan/Werner, FamRZ 2018, 1289, 1290. 223 Vgl. die Gesetzesbegründung, BT-Drs. 18/12086, S. 20.
212
Vierter Teil: Herausforderungen im Internationalen Eherecht
II. Kritische Würdigung des Gesetzes vom 17. Juli 2017 1. Heraufsetzen des Ehemündigkeitsalters in § 1303 BGB n.F. auf 18 Jahre a) Inhalt Als zentrale Regelung wird in § 1303 S. 1 BGB n.F. das Ehemündigkeitsalter auf 18 Jahre angehoben und die Dispensregelung des § 1303 Abs. 2 BGB a.F. gestrichen. Während Ehen, für die vor Inkrafttreten des Gesetzes noch eine Befreiung erteilt wurde, wirksam bleiben (vgl. Art. 229 § 44 Abs. 2 EGBGB n.F.), erledigen sich noch anhängige Befreiungsverfahren. 224 Für Ehen, die unter Verstoß gegen die neue Regelung zur Ehemündigkeit geschlossen wurden, sieht das neue Gesetz ein zweigleisiges Rechtsfolgensystem vor. War zumindest einer der Ehegatten bei der Eheschließung unter 18, aber über 16 Jahre alt, ist die Ehe in Zukunft gem. § 1303 S. 1 BGB n.F. i.V.m. § 1314 Abs. 1 Nr. 1 BGB n.F. durch richterliche Entscheidung aufhebbar. 225 Den Antrag können gem. § 1316 Abs. 1 Nr. 1 BGB n. F. beide Ehegatten (auch Minderjährige bedürfen gem. § 1316 Abs. 2 S. 2 BGB n.F. nicht der Genehmigung ihrer gesetzlichen Vertreter) oder gem. § 1316 Abs. 1 Nr. 2 BGB n.F. die zuständige Behörde (i.d.R. das Jugendamt) stellen. Für die Behörden besteht eine Antragspflicht, es sei denn die Ehe wurde durch den mittlerweile volljährigen Ehegatten bestätigt, § 1316 Abs. 3 S. 2 BGB n.F.226 Die gerichtliche Aufhebung stellt den Regelfall dar, der nach § 1315 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 a) BGB n.F. nur durch Bestätigung (auch konkludent z.B. durch Fortsetzung ehelichen Zusammenlebens nach Volljährigkeit) oder das Vorliegen eines Härtefalls nach § 1315 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 b) BGB n.F. durchbrochen wird. 227 Eine Eheschließung mit Beteiligung von Minderjährigen, die das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, kann gem. § 1303 S. 2 BGB n.F. nicht wirksam eingegangen werden und ist damit ipso iure unwirksam. Dies gilt entsprechend des Rückwirkungsverbots gem. Art. 229 § 44 Abs. 1 EGBGB n.F. nicht für Ehen, die vor Inkrafttreten des Gesetzes geschlossen wurden. 228 Die Neuregelung des Mindestalters zur Eingehung der Ehe und der Rechtsfolgen fehlender Ehemündigkeit haben weitere Anpassungen im BGB und anderen Gesetzen erforderlich gemacht. So entfällt in § 8 BGB n.F. der gemeinsame Wohnsitz verheirateter Minderjähriger und auch in den Vorschriften der §§ 1603 – 1649 BGB n.F. wurden Regelungen, die sich auf verheira224
Vgl. Art. 229 § 44 Abs. 3 EGBGB. Vgl. die Gesetzesbegründung, BT-Drs. 18/12086, S. 4, Art. 1 Nr. 4. 226 Vgl. die Gesetzesbegründung, BT-Drs. 18/12086, S. 5, Art. 1 Nr. 6. 227 Vgl. die Gesetzesbegründung, BT-Drs. 18/12086, S. 4, Art. 1 Nr. 5. 228 Vgl. die Gesetzesbegründung, BT-Drs. 18/12086, S. 7, Art. 2 Nr. 2. 225
2. Kapitel: Kollisionsrechtliche Behandlung von Minderjährigenehen
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tete Minderjährige beziehen, gestrichen. 229 Weitere Gebiete, in denen sich Regelungen in Bezug auf verheiratete Minderjährige nun erübrigen, sind die Adoption, vgl. §§ 1749, 1757, 1767 BGB n.F., und das Erbrecht, vgl. §§ 2275, 2282, 2290, 2347 BGB n.F.230 b) Kritische Würdigung Das Anheben des Ehemündigkeitsalters auf 18 Jahre ist zu begrüßen. Voreheliche sexuelle Aktivität ist in der modernen Gesellschaft akzeptiert, sodass aus gesellschaftlicher Sicht kein Bedürfnis für die frühe Eingehung einer Ehe besteht.231 Minderjährigen werden insbesondere vom Zivilrecht bereits zahlreiche Rechte eingeräumt, wie z.B. das Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung, die Testierfähigkeit, die Möglichkeit in medizinische Eingriffe einzuwilligen und die Mündigkeit in religiösen Angelegenheiten. 232 Vor dem Hintergrund, dass Minderjährige eventuell noch keine ausreichende Reife besitzen, um derart folgereiche Entscheidungen zu treffen, gibt es aber auch vielfältige Schutzvorschriften und auch die volle Geschäftsfähigkeit tritt erst mit 18 Jahren ein (argumentum e contrario aus §§ 2, 106 BGB).233 Eine Übertragung dieses Gedankens auf die Fähigkeit zur Eheschließung erscheint insbesondere in Hinblick auf die kaum absehbaren vermögensrechtlichen Konsequenzen der Ehe als Dauerschuldverhältnis nur konsequent. Dass die Eheschließung das Eingehen einer potentiell lebenslangen Pflichtengemeinschaft bedeutet, unterscheidet sie von den genannten anderen Rechten, die bereits der Minderjährige ausüben darf. 234 Zwar sind Minderjährigen- und Zwangsehen grundsätzlich zu unterscheiden, jedoch kann kaum außer Acht gelassen werden, dass gerade Minderjährige leichter zu beeinflussen sind. So besteht vor allem bei einer Eheschließung im muslimischen Kulturkreis die 229
Vgl. die Gesetzesbegründung, BT-Drs. 18/12086, S. 5, Art. 1 Nr. 9–15. Vgl. Schwab, FamRZ 2017, 1369, 1372 f. 231 So die Erwägungen des Reformgesetzgebers in BT-Drs. 18/12086, S. 14: „Die Erwägungen des Gesetzgebers bei der Einführung der Befreiungsmöglichkeit vom Erfordernis der Ehemündigkeit in § 1303 Absatz 2 BGB im Jahr 1974 insbesondere im Hinblick auf nichteheliche Mutterschaft sind weitgehend überholt.“ Anders im Verständnis des Islams (vgl. Yassari, FamRZ 2011, 1), sodass z.B. der Deutsche Juristinnenbund eingewandt hat, die bisherige Dispensmöglichkeit wäre – insbesondere vor dem Hintergrund der Wiedereinführung des Voraustrauungsverbots – ein Weg für junge Muslime gewesen, den ihrer Beziehung anhaftenden „Makel“ zu beseitigen, vgl. die Stellungnahme v. 18.4.2017 abrufbar unter (letzter Abruf : 4.6.2020). 232 Für einen Überblick über die Fälle zunehmender Selbstbestimmung vor Erreichen der Volljährigkeit vgl. Schwab, Familienrecht, 2019, Rn. 80/835 ff. 233 Weller/Thomale/Hategan/Werner, FamRZ 2018, 1289, 1291. 234 So auch Opris, ZErb 2017, 158, 162, zum Charakter der Ehe als Dauerschuldverhältnis vgl. Gernhuber/Coester-Waltjen, Familienrecht, 2010, § 12 Rn. 10 f. 230
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Vierter Teil: Herausforderungen im Internationalen Eherecht
Gefahr der Ausübung familiären Drucks auf den Minderjährigen, wovor ein gerichtliches Befreiungsverfahren nicht genügend Schutz bieten kann. Zwar wird eingewandt, dass z.B. die Heirat einer 17-Jährigen mit einem 18Jährigen begrifflich keine Kinderehe darstelle, jedoch ist diesen Paaren ein Abwarten bis zur Volljährigkeit zumutbar. 235 Neben dem Schutz des freien Willens und der Selbstbestimmtheit des Minderjährigen, spielen auch sozialpolitische Aspekte eine Rolle. So ist eine Heirat auch häufig mit dem Abbruch der Ausbildung verbunden.236 Hinzu kommt, dass die Eheschließung auch nicht mehr zum Schutz gemeinsamer Kinder erforderlich ist, da nichteheliche Kinder seit dem Inkrafttreten des Gesetz über die rechtliche Stellung der nichtehelichen Kinder (sog. Nichtehelichengesetz) am 1. Juli 1970 ehelichen Kindern gleichgestellt sind.237 Auch aus Sicht des Grundgesetzes ist die frühere Befreiungsmöglichkeit keine Notwendigkeit. Denn das Grundrecht des Art. 6 Abs. 1 GG verlangt nicht die Möglichkeit einer Eheschließung bereits vor dem Erreichen der Volljährigkeit. Vielmehr überwiegt hier der Minderjährigenschutz, der auch aus Art. 6 Abs. 1 GG folgt.238 Aus dem Gleichstellungsgebot des Art. 3 Abs. 2 GG239 lässt sich angesichts der Tatsache, dass mehr minderjährige Frauen als Männer betroffen sind, eher im Gegenteil ein staatlicher Auftrag zur Korrektur dieser faktischen Ungleichbehandlung ableiten. 240 Nicht zuletzt spricht die Empirie für die Abschaffung der Dispensmöglichkeit: Von ihr wurde zuletzt nur noch durchschnittlich 92-mal pro Jahr Ge-
235 236
So auch Opris, ZErb 2017, 158, 163. BT-Drs. 18/12086, S. 15; Weller/Thomale/Hategan/Werner FamRZ 2018, 1289,
1290. 237
Gesetz erlassen am 19.8.1969, vgl. BGBl. I S. 1243. Für einen Rechtsvergleich diesbezüglich siehe Nishitani, RdC 401 (2019), 143, 218 f. 238 AG Offenbach, Urteil v. 30.10.2009 – 314 F 1132/09, BeckRS 2010, 23013. 239 BT-Drs. 12/6000, S. 50: „Ziel dieser Änderung [Schaffung des Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG] ist es, dem bereits bestehenden Grundsatz des Grundgesetzes, ‚Männer und Frauen sind gleichberechtigt‘, zur stärkeren Durchsetzung in der Lebenswirklichkeit zu verhelfen. Durch die Ergänzung des Artikel 3 Abs. 2 GG wird ein Staatsziel normiert, durch das die zuständigen staatlichen Organe angehalten werden, Maßnahmen zur Erreichung der tatsächlichen Gleichberechtigung zu ergreifen.“ Auch im EU-Primärrecht ist die Geschlechtergleichstellung in den Art. 2, 3 EUV, 10 AEUV verankert. 240 Von 1.475 im Ausländerzentralregister gespeicherten verheirateten Minderjährigen waren 1.152 weiblich (ca. 78 %), vgl. BT-Drs. 18/9595, S. 20 f. In eine ähnliche Richtung, wenn auch unspezifischer BT-Drs. 18/12086, S. 21: „In der Praxis dürfte aber der Anteil der Frauen, die bei der Eheschließung minderjährig sind und damit von der Unwirksamkeit ihrer Ehe oder einem Verfahren zur Aufhebung der Ehe betroffen sind, deutlich überwi egen.“
2. Kapitel: Kollisionsrechtliche Behandlung von Minderjährigenehen
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brauch gemacht 241, sodass auch der Einwand fehlender Einzelfallwürdigung – besonders in Abwägung zur Rechtsklarheit – hier geringeres Gewicht hat. 242 Insgesamt wird durch die Anhebung der Ehemündigkeit somit ein wichtiges Signal gesetzt, das der europäischen Entwicklung auf diesem Gebiet entspricht.243 2. Einfügung des Art. 13 Abs. 3 EGBGB n.F. a) Ausgestaltung als spezielle ordre public-Klausel Mit Art. 13 Abs. 3 EGBGB n.F. wurde ein spezieller bzw. positiver ordre public geschaffen, durch den die im Entwurf besonders fokussierte Gleichstellung von Inlands- und Auslandsehen realisiert wird. 244 Art. 13 Abs. 3 EGBGB n.F. verweist auf Art. 13 Abs. 1 EGBGB n.F. und setzt die Anwendung ausländischen Rechts voraus. Ist danach ausländisches Recht auf die Eheschließung anwendbar, erstreckt Art. 13 Abs. 3 Nr. 1 EGBGB n.F. die Unwirksamkeitsregel des § 1303 S. 2 BGB n.F. auch auf Auslandsehen. Zudem erstreckt Art. 13 Abs. 3 Nr. 2 EGBGB n.F. die Regelung des § 1314 Abs. 1 Nr. 1 BGB auf Auslandsehen, die somit ebenfalls nach deutschem Recht aufhebbar sind, wenn ein Ehepartner bei der Eheschließung zwischen 16 und 18 Jahre alt war. Art. 13 Abs. 3 Nr. 1 EGBGB n.F. gilt nach der engen Ausnahmevorschrift des Art. 229 § 44 Abs. 4 EGBGB n.F. nur dann nicht, wenn der minderjährige Ehegatte vor dem 22. Juli 1999 geboren worden ist (Nr. 1), oder die nach ausländischem Recht wirksame Ehe bis zur Volljährigkeit des minderjährigen Ehegatten geführt worden ist und kein Ehegatte seit der Eheschließung bis zur Volljährigkeit des minderjährigen Ehegatten seinen gewöhnlichen Aufenthalt in 241 Dies entspricht unter 1 % der insgesamt im Jahr 2016 geschlossenen Ehen (400.115), vgl. (letzter Abruf: 4.6.2020). 242 So die Statistik für 2015, vgl. BT-Drs. 18/12086, S. 13. 243 Ein geringeres Heiratsalter sehen lediglich Portugal: Art. 1601 Ziff. a CC (16 Jahre); Schottland: Sec. 1 Marriage (Scotland) Act 1977 (16 Jahre); Nordirland: Sec. 13 Matrimonial Causes (Northern Ireland) Act 1978 (16 Jahre) und Malta: Art. 3 Abs. 1 Marriage Act (16 Jahre) vor. In manchen Ländern ist ein der bisherigen deutschen Fassung vergleichbarer Dispens unter richterlicher Würdigung zulässig: Belgien: Art. 144, 145 CC (mit Dispens ohne Altersgrenze); England: Sec. 3 i. V. mit sec. 30 Marriage Act 1949; Frankreich: Art. 144, 145 CC; Italien: Art. 84 i.V.m. Art. 2 CC; Luxemburg: Art. 144, 145 CC (mit Dispens ohne Altersgrenze); Polen: Art. 10 § 1 FVGB; Rumänien: Art. 272 ZGB. 244 Vgl. die Gesetzesbegründung, BT-Drs. 18/12086, S. 16. Zur Unterscheidung von positivem und negativem ordre public vgl. Weller, in: MünchKommGmbHG, 2018, Einleitung Rn. 431 ff. und Weller/Schulz, in: v. Hein/Kieninger/Rühl (Hrsg.), How European is European Private International Law?, 2019, S. 285, 290 ff. Vgl. hingegen Coester-Waltjen, IPRax 2017, 429, 432, die Art. 13 Abs. 3 EGBGB n.F. als „Sonderanknüpfung“ bezeic hnet.
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Deutschland hatte (Nr. 2). Die Wirksamkeit dieser Ehen ist jedoch am allgemeinen ordre public des Art. 6 EGBGB zu messen. 245 Als Konsequenz für im Inland zu schließende Ehen muss der Standesbeamte künftig gem. § 1310 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 n.F. seine Mitwirkung verweigern, wenn das Eingreifen des Art. 13 Abs. 3 EGBGB n.F. in Betracht kommt. 246 Ehen von Konventionsflüchtlingen, die vor der Flucht im Herkunftsland geschlossen wurden, unterliegen gem. Art. 13 Abs. 1 EGBGB i.V.m. Art. 12 Abs. 2 GFK dem ausländischen Heimatrecht der Eheschließenden. Bei diesen Ehen ist der sachliche Anwendungsbereich des Art. 13 Abs. 3 EGBGB n.F. somit ebenfalls eröffnet. Schließen Konventionsflüchtlinge nach ihrer Flucht im Inland die Ehe, findet nach Art. 12 Abs. 1 GFK ohnehin deutsches Recht auf die Eheschließung Anwendung. 247 Es stellt sich ferner die Frage, ob Art. 13 Abs. 3 EGBGB n.F. auch in Rahmen von Vorfragen Anwendung findet. Nämlich dann, wenn eine wirksame Ehe Voraussetzung für die Prüfung der Hauptfrage, zum Beispiel einer Scheidung, ist. Vorfragen sind nach herrschender Meinung selbstständig anzuknüpfen.248 Bei diesem Vorgang kommt Art. 13 Abs. 3 EGBGB n.F. richtigerweise zum Einsatz. Ansonsten käme die Prüfung der Vorfrage zu einem anderen Ergebnis als die Prüfung der Wirksamkeit der Auslandsehe als Hauptfrage. Dies wäre im Ergebnis widersprüchlich. 249 Ferner spricht für die uneingeschränkte Anwendung der speziellen ordre public-Klausel, dass auch das Eingreifen des allgemeinen ordre public gem. Art. 6 EGBGB bei Vorfragen zu prüfen wäre. b) Kritische Würdigung aa) Positive Kritik Im Gegensatz zum negativen ordre public in Art. 6 EGBGB werden über die neuen Regelungen inländische Normen ohne die oben aufgezeigten Prüfungsschritte direkt zur Anwendung berufen. 250 Hinsichtlich der vorausgesetzten Ehemündigkeit und der Rechtsfolgen bei Nichtbeachtung dieser sind die §§ 1303 ff. BGB n.F. somit auch bei Auslandsehen zwingend anzuwenden. 251 Dies ist grundsätzlich zu begrüßen. Angesichts des starken Inlandsbezugs und der zunehmenden Internationalisierung von Inlandssachverhalten als 245
Hüßtege, FamRZ 2017, 1374, 1375. Vgl. die Gesetzesbegründung, BT-Drs. 18/12086, S. 23. 247 Siehe oben 2. Teil, 2. Kap., H. und 3. Kap. 248 Zum Meinungsstreit vgl. nur Thorn, in: Palandt, BGB, 2020, Vor. Art. 3 EGBGB Rn. 29 m.w.N. 249 So auch Hüßtege, FamRZ 2017, 1374, 1377. 250 Vgl. oben B.I.2.b.bb. 251 Weller/Thomale/Hategan/Werner, FamRZ 2018, 1289, 1293. 246
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Folge der Migration erscheint die zwingende Anwendbarkeit deutschen Rechts konsequent und notwendig, um die Durchsetzung der hinter den neuen deutschen Regelungen stehenden Wertungen zu gewährleisten. Gerade bei von Ausländern im Inland geschlossenen Ehen kann so dem Entstehen von Parallelgesellschaften entgegengewirkt werden. 252 Die Gleichstellung inländischer und ausländischer Frauen ist zudem gem. Art. 3 Abs. 2 GG geboten, der eine „kulturelle Relativität“ der Gleichberechtigung von Mann und Frau nicht kennt. 253 Im Kontext der Gleichberechtigung wird auch vertreten, dass die Verweisung des Art. 13 Abs. 1 EGBGB bereits dann zu „cupieren“ sei, wenn das ausländische Recht z.B. bezüglich der Ehemündigkeit ein unterschiedliches Mindestalter von Frau und Mann und damit eine diskriminierende Regelung enthält. Als Rechtsfolge dieser teleologischen Reduktion des Verweisungsbefehls fände stattdessen deutsches Recht als lex fori Anwendung. 254 Allerdings wurde Art. 13 Abs. 3 EGBGB n.F. auch dafür geschaffen, die Gleichberechtigung und damit die Nichtanwendung diskriminierender Normen sicherzustellen, sodass sich das Ergebnis zumindest in Hinblick auf die Ehemündigkeit bereits über den gesetzgeberisch gewählten Weg erzielen lässt. Von Kritikern des speziellen ordre public wird indes eingewandt, dass die Parteiinteressen, insbesondere die Eheschließungsfreiheit, missachtet würden. So war ein Mindestalter von 18 Jahren für die Eheschließung bisher noch nicht einmal im deutschen Recht vorgeschrieben. Ferner wird die Notwendigkeit eines speziellen ordre public wegen der existierenden Generalklausel in Art. 6 EGBGB bezweifelt.255 Dagegen lässt sich einwenden, dass die oben ausführlich dargestellte unsichere Handhabung des ordre public die Gefahr divergierender Entscheidungen birgt – besonders fatal, wenn z.B. in einem Unterhaltsverfahren ein Verstoß und in einem Umgangsrechtsverfahren kein Verstoß festgestellt wird. Zudem bestünden die regionalen Unterschiede bei Entscheidungen über Minderjährigenehen fort. 256 Vielmehr wird durch die klare Neuregelung ein erhebliches Maß an Rechtssicherheit bei einer Statusfrage geschaffen, die für viele Folgesachen (Ausländer-, Unterhalts-, Erb-, und Sozialsachen) relevant ist. Im Übrigen überwiegt der Minderjährigen252
Bongartz, NZFam 2017, 541, 545; Opris, ZErb 2017, 158, 165. Weller/Thomale/Hategan/Werner, FamRZ 2018, 1289, 1291; Weller/Schulz, in: v. Hein/Kieninger/Rühl (Hrsg.), How European is European Private International Law?, 2019, S. 285, 292 f. 254 Weller/Thomale/Zimmermann, JZ 2017, 1080, 1081 und 1085 ff. 255 Vgl. Coester, FamRZ 2017, 77, 80; Coester-Waltjen, IPRax 2017, 429, 434; DAV, Stellungnahme Nr. 7/2017 zur Kinderehe v. Februar 2017, abrufbar unter 9.10.2019). 256 Vgl. Antomo, ZRP 2017, 79, 80 f.; Majer, NZFam 2017, 537; Opris, ZErb 2017, 158, 162. 253
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Vierter Teil: Herausforderungen im Internationalen Eherecht
schutz regelmäßig das Parteiinteresse der Beteiligten an einer wirksamen Ehe.257 Entgegen kritischer Stimmen stellt ein spezieller ordre public im „werteblinden“ IPR auch keinen Fremdkörper dar, sondern fand sich zum Beispiel auch bisher schon in Art. 13 Abs. 2 EGBGB.258 Da die Vorschrift nur bei hinreichendem Inlandsbezug (gewöhnlicher Aufenthalt der Ehegatten in Deutschland) greift, verbietet sich ebenso der Vorwurf eines „Rechtskolonialismus“. 259 Vereinzelt findet man die Ansicht, dass der spezielle ordre public, der die Altersgrenze in § 1303 BGB n.F. zur Anwendung beruft, der UN-KRK widersprechen würde, da diese eine feste Altersgrenze gerade nicht vorsehe. Jedoch verbietet die Konvention nicht per se die Festlegung einer konkreten Altersgrenze für die Ehemündigkeit, sondern überlässt dies gerade den Vertragsstaaten. 260 bb) Negative Kritik Trotz einem grundsätzlich positiven Fazit gibt es einige offene Problempunkte im Bereich der Neuregelung: Unklar ist zunächst, nach welchem Recht sich die Volljährigkeit 261 sowie die sich anschließende praktische Problematik der Altersfeststellung bestimmt.262 Zudem besteht die Gefahr, dass aus Sicht des Heimatrechts eine Doppelehe angenommen wird, wenn die Betroffenen erneut heiraten. Um diese Gefahr einzudämmen, könnte ein Antrag auf Feststellung des Nichtbestehens der Ehe gem. § 121 Nr. 3 FamFG gestellt werden. Die resultierende richterliche Entscheidung unterliegt dabei aber auch der Anerkennung des Heimatstaates, der diese verweigern könnte. Art. 13 Abs. 3 EGBGB n.F. sollte daher im Ergebnis so ausgelegt werden, dass sich die Ehegatten in der Heimat scheiden lassen müssen. Damit könnte auch das Problem der Pönalisierung außerehelichen Geschlechtsverkehrs bei der Rückkehr umgangen werden.263 Es ist jedoch fraglich, ob die Ehegatten, die sich vielleicht noch nicht einmal über die Unwirksamkeit ihrer Ehe im Klaren sind, dies tun. 257
Ähnlich Majer, NZFam 2017, 537, 540. Weller/Thomale/Hategan/Werner, FamRZ 2018, 1289, 1294. Zur Natur des Art. 13 Abs. 2 EGBGB als spezieller ordre public vgl. BT-Drs. 10/504, S. 53. Vgl. ferner Coester MünchKommBGB, 2018, Art. 13 EGBGB Rn. 26 ff. m.w.N. 259 Majer, NZFam 2017, 537, 539. 260 Coester, in StAZ 2016, 257, 258; Frank, StAZ 2012, 129, 130; Voltz, Menschenrechte und ordre public im IPR, 2002, S. 349. Zur innerstaatlichen Bindung an die UNKRK vgl. Sturm, in: Henrich/Jayme/Sturm (Hrsg.), Ehe, und Kindschaft im Wandel, 1998, S. 1, 21. 261 Siehe zur Anknüpfung der Volljährigkeit schon 3. Teil, 2. Kap., A. 262 Siehe dazu schon 3. Teil, 2. Kap., C. und die Kritik bei v. Hein, in: Juristische Studiengesellschaft Jahresband, 2018, S. 29, 66. 263 Hüßtege, FamRZ 2017, 1374, 1377. 258
2. Kapitel: Kollisionsrechtliche Behandlung von Minderjährigenehen
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Zu bemängeln ist auch die Ausnahmeregelung in Art. 229 EGBGB, die viel zu eng formuliert ist und nur einen von vielen denkbaren Ausnahmefällen regelt. Das Eingreifen der Ausnahmeregelung ist durch die starre Altersgrenze zudem eher zufallsabhängig, was, insbesondere nachdem viel Zeit vergangen ist, willkürlich erscheint. Nicht zuletzt gewähren die Ausdrücke „das Führen einer Ehe“ und der „gewöhnliche Aufenthalt“ dem Rechtsanwender einiges an Auslegungsspielraum. 264 Systematisch läuft Art. 229 EGBGB zudem der durch Art. 13 Abs. 3 EGBGB n.F. bezweckten Gleichbehandlung mit inländischen Minderjährigen zuwider: Nach Art. 229 § 44 Abs. 2 EGBGB ist die Aufhebung einer Ehe wegen eines Verstoßes gegen § 1303 BGB ausgeschlossen, wenn sie nach Befreiung vom Erfordernis der Volljährigkeit nach § 1303 Abs. 2 bis 4 BGB in der bis zum 21. Juli 2017 geltenden Fassung und vor dem 22. Juli 2017 geschlossen worden ist; er greift indes vom Wortlaut her nur bei der Inlandsehe. 265 Neben diesen Problempunkten hätte sich die Formulierung der Ausnahmeregelung klarer auf die §§ 1315, 1316, 1318 BGB beziehen und damit klarstellen können, dass Art. 13 Abs. 3 EGBGB n.F. auch auf die Rechtsfolgen des deutschen Rechts in § 1318 BGB verweist, was von der herrschenden Meinung so anerkannt ist. Zudem hätte Art. 13 Abs. 3 (jetzt Abs. 4) EGBGB gestrichen werden können, da es für ihn keinen Bedarf mehr gibt und er sich wegen des Trauungsverbots des Standesbeamten gem. § 1310 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 BGB ohnehin erübrigt bzw. diesem widerspricht. 266 c) Exkurs: Anwendbarkeit des Art. 13 Abs. 3 EGBGB auf die Verlobung Als kurzer Exkurs wird auf die Frage eingegangen, ob die Neuregelung auch bereits im Rahmen einer Verlobung von Ausländern Anwendung findet. Vom Wortlaut her ist dies zu verneinen. Jedoch wird zumindest Art. 13 Abs. 1 EGBGB nach herrschender Meinung auch zur Bestimmung des auf die Verlobung anwendbaren Rechts herangezogen. 267 Im Flüchtlings264
Zur Kritik an Art. 229 § 44 EGBGB n.F. vgl. Antomo, ZRP 2017, 79, 81; Bongartz, NZFam 2017, 541, 545; Coester-Waltjen, IPRax 2017, 429, 432 f.; v. Hein, in: Juristische Studiengesellschaft Jahresband, 2018, S. 29, 66 f.; Stellungnahme des Deutschen Juristi nnenbund v. 18.4.2017, abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020); Stellungnahme des Deutschen Familiengerichtstags (DFGT) v. 23.2.2017, S. 1, abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020). 265 So BGH, Beschluss v. 22.7.2020 – XII ZB 131/20, juris, Rn. 21 ff., der auch eine analoge Anwendbarkeit auf Auslandsehen mangels planwidriger Regelungslücke und vergleichbarer Interessenlage ablehnt. Vgl. auch Coester-Waltjen, IPRax 2017, 429, 433. 266 Antomo, ZRP 2017, 79, 82. 267 Vgl. BGH, Urteil v. 21.11.1958 – IV ZR 107/58, NJW 1959, 529; Mankowski, in: Staudinger, BGB, 2010, Art. 13 EGBGB Anh. Rn. 10 ff.; Schurig in: Soergel, BGB, 1996,
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kontext findet Art. 12 GFK im Übrigen auch im Rahmen der Analogie Anwendung. 268 Hinsichtlich Art. 13 Abs. 1 EGBGB hatte das KG im Rahmen einer Klage auf Rückforderung von Verlobungsgeschenken zunächst die Frage nach der Wirksamkeit der Verlobung zu beantworten und dafür zu klären, nach welchem Recht sich die Wirksamkeit der Verlobung einer 15-Jährigen Türkin bestimmt. Es kam zu dem Schluss, dass Art. 13 Abs. 1 EGBGB analog heranzuziehen sei, welcher aufgrund türkischer Staatsangehörigkeit der Beteiligten zur Anwendbarkeit türkischen Rechts führe. In einem zweiten Schritt prüfte es, ob das Alter der Verlobten einen Verstoß gegen den deutschen ordre public in Form von § 1303 Abs. 2 BGB a.F. darstellt, der eine Eheschließung erst ab 16 Jahren erlaubte, was es im Ergebnis verneinte. 269 Übertragen auf die Anwendbarkeit des neuen Art. 13 Abs. 3 EGBGB n.F. könnte man den Standpunkt vertreten, dass auch dieser analog heranzuziehen ist, insbesondere, um die innere Systematik des Art. 13 EGBGB n.F. zu wahren. Andererseits ist Art. 13 Abs. 3 EGBGB n.F. keine Kollisionsnorm im engeren Sinne wie Art. 13 Abs. 1 EGBGB. Vielmehr wird wie bei einer Sachnorm direkt deutsches Recht über ihn zur Anwendung berufen. Es stellt sich daher die Frage, ob die ihm zugrundeliegenden Schutzerwägungen auch schon für die Verlobung Geltung beanspruchen und auch diese daher bei Unterschreiten des Ehemindestalters schon unwirksam zu sein hat. Dafür spricht zunächst die Entscheidung des KG zur alten Rechtslage, in der das Gericht schon die Wirksamkeit der Verlobung am deutschen Mindestalter gemessen und damit eine ordre public-Prüfung vorgenommen hat. Zudem wäre die Verlobung als Vorstufe der Ehe sinnlos, wenn die spätere Ehe wegen fehlender Ehemündigkeit nicht geschlossen werden kann. 270 Auf der anderen Seite ist das Verlöbnis keine Wirksamkeitsvoraussetzung der Eheschließung und es kann gem. § 1297 Abs. 1 BGB nicht auf Teilnahme am Eheschließungsakt geklagt werden. 271 Würde man ihre Wirksamkeit in Hinblick auf das Eingreifen des speziellen ordre public des Art. 13 Abs. 3 EGBGB n.F. verneinen, hätte dies somit keine Auswirkung auf eine spätere Eheschließung. Vor allem ist nicht ausgeschlossen, dass die Mündigkeit bei der Eheschließung in Zukunft vorliegen wird. Zudem bleibt der Wortlaut der §§ 1297–1302 BGB von dem Reformgesetz unberührt. Insgesamt ist
Vor. Art. 13 EGBGB Rn. 14; Thorn, in: Palandt, BGB, 2020, Art. 13 EGBGB Rn. 36 jeweils m.w.N. 268 Lass, Der Flüchtling im IPR, 1995, S. 118; daran anschließend Arnold, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinkhammer/Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 25, 52. 269 Vgl. KG, Urteil v. 07.06.1989 – 18 U 2625/88, BeckRS 1989, 02838. 270 Gernhuber/Coester-Waltjen, Familienrecht, 2010, § 8 Rn. 23. 271 Gernhuber/Coester-Waltjen, Familienrecht, 2010, § 8 Rn. 27.
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die praktische Bedeutung der Verlobung gering, sodass teilweise sogar die Streichung der Verlobung aus dem BGB befürwortet wird. 272 Im Ergebnis ist die Anwendbarkeit des Art. 13 Abs. 3 EGBGB n.F. daher zu bejahen, wenn es für die Entscheidung auf die Wirksamkeit speziell der Verlobung ankommt, etwa bei der Entscheidung über die rechtlichen Verlöbnisfolgen der §§ 1297 ff. BGB. In allen anderen Fällen hat die (ohnehin nur rechtstheoretische) Unwirksamkeit nach der hier vertretenen Ansicht keine Auswirkung auf eine spätere Eheschließung der mittlerweile volljährigen Verlobten.273 3. Rechtsfolgen bei fehlender Ehemündigkeit Hinsichtlich der Rechtsfolgen fehlender Ehemündigkeit hat sich der Gesetzgeber für ein zweigleisiges System von Aufhebbarkeit auf der einen und Unwirksamkeit auf der anderen Seite entschieden. Während die Aufhebbarkeit der Ehe der bisherigen Rechtsfolge bei fehlender Ehemündigkeit entspricht (dazu a.), passt die Rechtsfolge der Unwirksamkeit von Ehen, die mit Beteiligung von Unter-16-Jährigen geschlossen wurden, nicht in das System des BGB (dazu b.). a) Gerichtliches Aufhebungsverfahren aa) Inhalt Das gerichtliche Aufhebungsverfahren für Ehen, die unter Verstoß gegen die Regelung der Ehemündigkeit geschlossen wurden, ist kein Novum. Die durch das „Gesetz zur Bekämpfung von Kinderehen“ eingeführten Neuerungen werden hier kurz vorgestellt. (1) Zuständigkeit Im Bereich der Ehesachen bestimmt sich die internationale Zuständigkeit des Gerichts nach Art. 1 Abs. 1 lit. a) EuEheVO, wobei in der Regel auf den Ort des gewöhnlichen Aufenthalts der Ehegatten abgestellt wird, vgl. Art. 3 Abs. 1 lit. a) EuEheVO.274 Ergibt sich nach Prüfung der Art. 3 bis 5 EuEheVO kein Gerichtsstand in einem Mitgliedstaat, verweist Art. 7 EuEheVO auf das nationale Zuständigkeitsrecht. Im deutschen Prozessrecht ist nach § 98 Abs. 2 FamFG n.F. die Zuständigkeit für Fälle des 272
Zum Beispiel in §§ 2275 Abs. 3, 2276 Abs. 2, 2290 Abs. 3 S. 2, 2347, 2351, 2352 BGB. Vgl. ferner Gernhuber/Coester-Waltjen, Familienrecht, 2010, § 8 Rn. 1 zur geringen Bedeutung der Verlobung. 273 Ähnlich Schwab, FamRZ 2017, 1369, 1373. 274 Zur Frage, ob Flüchtlinge ihren gewöhnlichen Aufenthalt noch im Heimatland oder schon im Zufluchtsstaat haben vgl. 2. Teil, 4. Kap., A.III.
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Art. 13 Abs. 3 Nr. 2 EGBGB n.F. begründet, wenn der minderjährige Ehegatte einen (schlichten) Aufenthalt in Deutschland hat. Für die örtliche Zuständigkeit ist ebenfalls gem. § 122 Nr. 6 FamFG n.F. der Aufenthaltsort des minderjährigen Ehegatten maßgeblich. Sachlich ist das Amtsgericht als Familiengericht zuständig, §§ 23a Abs. 1 S. 1 Nr. 1, 23b Abs. 1 GVG.275 (2) Verfahren und Wirkung der Eheaufhebung Die für den Antrag gem. § 1316 Abs. 3 S. 2 BGB n.F. zuständige Behörde wird von den Ländern bestimmt, wobei die Begründung des Gesetzesentwurfs darauf hinweist, dass im Interesse des Kindeswohls das Jugendamt gewählt werden sollte. 276 Der Aufhebungsbeschluss wird mit Eintritt der formellen Rechtskraft materiell-rechtlich wirksam, § 116 Abs. 2 FamFG. Er wirkt ex nunc und erga omnes und ist daher mit den Rechtsfolgen eines Scheidungsurteils vergleichbar. Die Entscheidung entfaltet Bindungswirkung für alle daran anschließenden Fragen, wie z.B. für Unterhaltszahlungen und für erbrechtliche Fragen. 277 bb) Kritische Würdigung Das in § 1313 S. 1 BGB n.F. i.V.m. § 1314 Abs. 1 Nr. 1 BGB n.F. geregelte Aufhebungsverfahren für Eheschließungen mit Beteiligung von Unter-18aber Über-16-Jährigen deckt sich in der ex nunc Wirkung der richterlichen Aufhebung mit der Lehre vom fehlerhaften Dauerschuldverhältnis und führt zu den Rechtsfolgen der §§ 1318 ff. BGB n.F., die ähnlich der Scheidung ausgestaltet sind. 278 Insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Aufhebung der Ehe nach der Gesetzesbegründung den gesetzlichen Regelfall darstellen soll, sind diese Rechtsfolgen jedoch nicht immer sachgerecht. 279 Hinsichtlich des Unterhalts ist § 1318 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 BGB so ausgestaltet, dass dieser nur bei Gutgläubigkeit der Ehegatten eingreift: „Die §§ 1569 bis 1586b finden entsprechende Anwendung [...] zugunsten eines Ehegatten, der bei Verstoß gegen die §§ 1303, 1304, 1306, 1307 oder § 1311 oder in den Fällen des § 1314 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 die Aufhebbarkeit der Ehe bei der Eheschließung nicht gekannt hat [...]“.
Diese Regelung schränkt den Schutz der Mädchen, die eine laienhafte Kenntnis ihrer Eheunmündigkeit haben, unangemessen ein. Hinzu kommt, dass die
275
Vgl. die Gesetzesbegründung, BT-Drs. 18/12086, S. 16, 28. Vgl. die Gesetzesbegründung, BT-Drs. 18/12086, S. 17. 277 Gernhuber/Coester-Waltjen, Familienrecht, 2010, § 14 Rn. 16 ff. 278 Antomo, NJW 2016, 3558, 3563; Weller/Thomale/Hategan/Werner, FamRZ 2018, 1289, 1294 f. 279 Vgl. BT-Drs. 18/12086, S. 2; BR-Drs. 275/17, S. 1. 276
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Nupturienten die Beweislast hinsichtlich der Unkenntnis der deutschen Rechtslage tragen.280 Auch in Bezug auf mögliche Erbansprüche trifft § 1318 BGB n.F. keine Regelung, sodass diese nur bis zur Aufhebung bestehen bleiben. Zwar ist die praktische Relevanz gering, da die Erbansprüche im Prinzip nur bei einem Versterben während der Minderjährigkeit eintreten, weil bei Volljährigkeit eine Bestätigung der Ehe gem. § 1315 Abs. 1 S. 1 Nr. 1a) BGB n.F. oder schlicht eine Neuheirat möglich ist. 281 Dafür müsste der Minderjährige sich aber über seine erbrechtliche Lage im Klaren sein, was zumindest bei minderjährigen Migranten, bei denen eine Kenntnis der deutschen Rechtslage im Ganzen schon zweifelhaft ist, nicht der Fall sein dürfte. Nach der vorzugswürdigen Ansicht ist den Gerichten daher im Rahmen der Aufhebungsentscheidung nach § 1313 S. 1 BGB n.F. i.V.m. § 1314 Abs. 1 Nr. 1 BGB n.F. ein Ermessen einzuräumen, das sich schon aus dem Wortlaut der Vorschrift („kann“) ergibt. 282 Es stellt sich ferner die Frage, ob der angeordnete Regelfall einer Aufhebung mit dem europäischen Freizügigkeitsrecht vereinbar ist. Denn Eheschließungen von Über-16-Jährigen, die noch nicht volljährig sind, sind in Europa vor allem wegen der unterschiedlichen Dispensregelungen noch vereinzelt zulässig. 283 Das europäische Freizügigkeitsrecht aus Art. 21 AEUV erfordert auch eine grenzüberschreitende Anerkennung von Statusfragen. Zwar hat der EuGH dies bisher zunächst nur im Namensrecht in dem bekannten Grunkin-Paul Urteil entschieden, 284 jedoch sind die Grundsätze dieser Rechtsprechung auf die Anerkennung von Statusfragen allgemein übertragbar.285 Das Verweigern der Anerkennung von im europäischen Ausland ge280
Coester-Waltjen, IPRax 2017, 429, 431; Schwab, FamRZ 2017, 1369 1371; Stellungnahme des Deutschen Juristinnenbund v. 18.4.2017, abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020). 281 So Majer, NZFam 2017, 537, 540. 282 BGH, Beschluss v. 22.7.2020 – XII ZB 131/20, juris, Rn. 34 ff.; AG Frankenthal, Beschluss v. 15.2.2018 – 71 F 268/17, juris, Rn. 11; Weller/Thomale/Hategan/Werner, FamRZ 2018, 1289, 1297 f. 283 Siehe Fn. 979. 284 EuGH, Urteil v. 14.10.2008 – Rs. C-353/06, Stefan Grunkin et. al. ./. Standesamt Niebüll, NJW 2009, 135, Rn. 39: „Nach alledem ist auf die vorgelegte Frage zu antworten, dass Art. 18 EG unter Bedingungen wie denen des Ausgangsverfahrens dem entgegensteht, dass die Behörden eines Mitgliedstaats es unter Anwendung des nationalen Rechts ablehnen, den Nachnamen eines Kindes anzuerkennen, der in einem anderen Mitgliedstaat bestimmt und eingetragen wurde, in dem dieses Kind – das wie seine Eltern nur die Staatsangehörigkeit des erstgenannten Mitgliedstaats besitzt – geboren wurde und seitdem wohnt.“ 285 KG Berlin, Beschluss v. 23.9.2010 – 1 W 70/08, NJW 2011, 535, 537; Henrich, IPRax 2005, 422, 423 f.; Leifeld, Das Anerkennungsprinzip im Kollisionsrechtssystem, 2010, S. 81 ff.; Weller/Schulz, in: v. Hein/Kieninger/Rühl (Hrsg.), How European is European
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schlossenen Ehen stellt damit grundsätzlich einen Eingriff in das Freizügigkeitsrecht dar, kann aber bei Vorliegen eines legitimen Grunds für das Verweigern der Anerkennung gerechtfertigt sein. Dies hat der EuGH in der Sayn Wittgenstein Entscheidung festgestellt: „Eine „Beeinträchtigung der Freizügigkeit von Personen [lässt sich] (...) rechtfertigen, wenn sie auf objektiven Erwägungen beruht und in einem angemessenen Verhältnis zu dem mit dem nationalen Recht legitimerweise verfolgten Zweck steht.“286
Für eine mögliche Rechtfertigung des Eingriffs in die Freizügigkeit aus Art. 21 AEUV lassen sich bezogen auf die angeordnete Aufhebung der Ehe Gründe des Minderjährigenschutzes, des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung der Jugendlichen und der Geschlechtergleichstellung anführen. 287 Eine Rechtfertigung der Anwendung der Neuregelung auch auf innereuropäische Ehen scheint somit gegeben zu sein. Fraglich erscheint indes aufgrund der aufgeführten erheblichen Nachteile für die Minderjährigen die Angemessenheit. Jedoch gibt es die Härtefallklausel des § 1315 BGB n.F., die nach der Gesetzesbegründung gerade dann eingreifen soll, wenn das europäische Freizügigkeitsrecht tangiert ist. 288 Insgesamt können die Gerichte daher von einer Aufhebung der Ehe absehen, wenn sie geprüft haben, ob der Eheschließungsstaat die Belange Minderjähriger und die Geschlechtergleichstellung hinreichend berücksichtigt hat. Vor diesem Hintergrund ist die Neuregelung der Rechtsfolgen auf Seiten der Aufhebungsvariante bis auf die genannten Problemfelder grundsätzlich zu begrüßen. Die Aufhebung war auch bisher schon als Rechtsfolge beim Eheschließungsmangel der fehlenden Ehemündigkeit vorgesehen. Veränderungen bringt nur die in legitimer Weise nach oben verschobene Altersgrenze.289
Private International Law?, 2019, S. 285, 295 f.; Siehe beispielsweise für die Parallelkonstellation der Leihmutterschaft Gruenberg, AJCL 60 (2012), 475, 492 f.; Thomale, Mietmutterschaft, 2015, S. 57. Zurückhaltender, wenn auch im Ergebnis ebenso für die Übertragbarkeit Duden, Leihmutterschaft, 2015, S. 258. Kritisch zur Übertragung Funken, Das Anerkennungsprinzip, 2009, S. 180; v. Hein, in: MünchKommBGB, 2018, Art. 3 EGBGB Rn. 122 ff. 286 EuGH, Urteil v. 22.12.2010 – Rs. C-208/09, Sayn-Wittgenstein ./. Landeshauptmann von Wien, NJOZ 2011, 1346, Rn. 81. 287 Weller/Thomale/Hategan/Werner, FamRZ 2018, 1289, 1297. 288 Vgl. die Gesetzesbegründung, BT-Drs. 18/12086, S. 23 sowie erste Entscheidungen auf dieser Basis AG Frankenthal, Beschluss v. 15.2.2018 – 71 F 268/17, juris, Rn. 12; AG Nordhorn, Beschluss v. 29.1.2018 – 11 F 855/17 E1, juris, Rn. 9 mit obergerichtlicher Bestätigung OLG Oldenburg, Hinweisbeschluss v. 18.4.2018 – 13 UF 23/18, FamRZ 2018, 1152. 289 Siehe oben unter II.1.
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b) Unwirksamkeitslösung Angesichts ihrer Prämisse, dass Kinder unter 16 Jahren einem hohen Beeinflussungsrisiko unterlägen, erscheint die Unwirksamkeitslösung durchaus legitim.290 Zudem ist die Lösung ohne notwendiges Aufhebungsverfahren auch kostengünstiger. 291 Nicht zuletzt setzt das Gesetz ein klares politisches Zeichen gegen Minderjährigenehen und ist in der Gesellschaft somit gut vermittelbar.292 Im Folgenden soll jedoch gezeigt werden, dass die Unwirksamkeit der Ehe als Rechtsfolge für die fehlende Ehemündigkeit ungeeignet ist. aa) Systemwidrigkeit Die Nichtigkeit bzw. Unwirksamkeit293 ist die schärfste Sanktion im Zivilrecht, wirkt sie doch ex tunc und ipso iure. Sie ist deshalb im gesamten BGB die Ausnahme unter den Rechtsfolgen und tritt nur bei gravierenden Verstößen gegen die Rechtsordnung ein, wie zum Beispiel der Sitten- und Gesetzeswidrigkeit (vgl. §§ 134, 138 BGB) oder bei besonderer Schutzbedürftigkeit der am Rechtsgeschäft Beteiligten, wie zum Beispiel bei Geschäftsunfähigkeit (vgl. § 105 Abs. 1 BGB).294 Selbst bei Täuschung und Drohung – also erheblichen Angriffen auf die Willensfreiheit des Vertragspartners – ist das betreffende Rechtsgeschäft „nur“ anfechtbar, vgl. §§ 119 ff. BGB. Hinsichtlich des Eherechts, das den rechtlichen Rahmen für ein Dauerschuldverhältnis vorgibt, stellt sich die Unwirksamkeit als Rechtsfolge so mit erst recht als Fremdkörper dar. Bei Dauerschuldverhältnissen werden die Rechtsfolgen einer Nichtigkeit z.B. im oben genannten Fall der Sittenwidrigkeit vielmehr abgemildert. Im Rahmen der Lehre vom fehlerhaften Dauerschuldverhältnis wie im Arbeits- und Gesellschaftsrecht wird die Rückabwicklung des Rechtsverhältnisses ex tunc nach den §§ 812 ff. BGB und §§ 985 ff. BGB oft als unpassend empfunden, da das einmal in Vollzug gesetzte Rechtsverhältnis Vertrauens- und Bestandsschutz genießt. 295 Auch bei der Ehe ist das bisher geführte eheliche Leben grundsätzlich irreversibel, sodass eine Auflösung von vornherein nur für die Zukunft Bedeutung haben 290
Vgl. Opris, ZErb 2017, 158, 163. Zur Kostenersparnis durch das neue Gesetz vgl. die Entwurfsbegründung, BT-Drs. 18/12086, S. 20 ff. 292 Vgl. Bongartz, NZFam 2017, 541, 545. 293 Es empfiehlt sich, in Bezug auf die Neuregelung nicht von „Nichtigkeit“ zu sprechen. Dieser Begriff ist zu sehr mit der historischen Gesetzesfassung korreliert, wonach die Ehe durch ein Gericht für nichtig erklärt werden konnte, also nicht schon ipso iure nichtig war. Vgl. dazu auch Schwab, FamRZ 2017, 1369, 1370. 294 Weller/Thomale/Hategan/Werner, FamRZ 2018, 1289, 1294. 295 Köth, Die fehlerhafte Ehe, 2002, S. 19; für das Gesellschaftsrecht vgl. Schöne, in: BeckOK BGB, 2020, § 705 BGB Rn. 82 ff.; für das Arbeitsrecht vgl. Klappstein, in: Nomos Kommentar, BGB, 2016, § 611 BGB Rn. 57 f. 291
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kann. 296 Auch systematisch steht die Unwirksamkeit bei einem Verstoß gegen § 1303 S. 2 BGB n.F. in keinem Verhältnis zu den anderen Ehemängeln wie der Doppel- und Verwandtenehe oder der Eheschließung unter Täuschung oder Drohung, die allesamt nur aufhebbar sind. 297 Die Wiedereinführung der Unwirksamkeit widerspricht zudem der historischen Entwicklung. So wurde die Ehenichtigkeit im BGB von 1900 nur normiert, wenn krasse Eheschließungsmängel wie etwa fehlende Form oder Geschäftsunfähigkeit vorlagen. Auch das Verbot der Verwandten- und der Doppelehe wurden von dieser Sanktion flankiert. 298 Bei fehlender Ehemündigkeit bzw. beschränkter Geschäftsfähigkeit der Eheschließenden war die Ehe hingegen nur anfechtbar und damit vorerst wirksam. 299 Auch das EheG von 1938 sah noch je nach Mangel unterschiedliche Rechtsfolgen für die fehlerhafte Eheschließung vor. 300 Nichtig war die Ehe vor allem auch aus rassischen und erbgesundheitlichen Gründen. 301 § 34 des EheG von 1938 normierte erstmals die Rechtsfolge der Aufhebung, die zur Unwirksamkeit der Ehe ex nunc führte. Diese Zweispurigkeit der Rechtsfolgen wurden im EheG von 1946 nach der Streichung der nationalsozialistischen Elemente aus dem EheG beibehalten. Erst mit dem „Entwurf des Gesetzes zur Neuordnung des Eheschließungsrechts vom 13. Juni 1996“302, das das Eheschließungsrecht in das BGB zurückführte, wurde die Zweispurigkeit beendet und die Nichtigerklärung durch eine nur für die Zukunft wirkende Aufhebung ersetzt. 303 Begründet wurde dies in den Gesetzesmaterialien mit der ohnehin geringen Anzahl an Nichtigkeitsfällen und damit, dass eine einheitliche Folge rechtsfehlerhafter Eheschließungen die Überschaubarkeit und Handhabbarkeit des Rechts verbessere und so die Belastung von Verwaltung
296
Gernhuber/Coester-Waltjen, Familienrecht, 2010, § 12 Rn. 10. Vgl. zur historischen Entwicklung der Rechtsfolgen im Eherecht zusammenfassend Weller/Thomale/Hategan/Werner, FamRZ 2018, 1289, 1294 f. 298 Siehe die §§ 1323 ff. BGB (1900). Vgl. ferner Voppel, in: Staudinger, BGB, 2018, Vor. §§ 1313 ff. BGB Rn. 5. 299 § 1331 BGB (1900) besagte: „Eine Ehe kann von dem Ehegatten angefochten werden, der zur Zeit der Eheschließung oder im Falle des § 1325 zur Zeit der Bestätigung in der Geschäftsfähigkeit beschränkt war, wenn die Eheschließung oder die Bestätigung ohne Einwilligung seines gesetzlichen Vertreters erfolgt ist.“ 300 Vgl. §§ 20, 21 EheG a.F. (Nichtigkeit ohne Heilungsmöglichkeit bei Bigamie oder Verwandtenehe) sowie §§ 17, 18 EheG a.F. (Nichtigkeit mit Heilungsmöglichkeit bei fehlender Geschäftsfähigkeit oder Formfehlern). 301 Voppel, in: Staudinger, BGB, 2018, Vor. § 1313 ff. BGB Rn. 7. 302 BT-Drs. 13/4898. 303 Vgl. BT-Drs. 13/4898, S. 1: „Die Folgen rechtsfehlerhafter Eheschließungen sollen vereinheitlicht werden; insbesondere soll die in ihrer Rückwirkung bereits von zahlreichen Ausnahmen durchbrochene Nichtigerklärung von Ehen durch die Möglichkeit einer nur für die Zukunft wirkenden Aufhebung solcher Ehen ersetzt werden.“ 297
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und Rechtspflege mindere. 304 Zudem wurde auf den Charakter der Ehe als Dauerschuldverhältnis verwiesen, das, einmal in Verzug gesetzt, grundsätzlich nur mit Wirkungen für die Zukunft zu beseitigen sei. 305 Rechtsvergleichend haben die im westlichen Rechtskreis existierenden Modelle grundsätzlich gemeinsam, dass die Aufhebung oder Nichtigerklärung einer Ehe weder ipso iure eintreten kann, noch der Parteiautonomie überlassen ist, sondern einer behördlichen oder gerichtlichen Mitwirkung bedarf.306 Insgesamt aber sind Regelungsmodelle und Verfahren, die die Ehe rückwirkend auflösen, auf dem Rückzug. Dies beruht vor allem auf dem Gedanken, dass gutgläubige Beteiligte der Eheschließung und im Besonderen aus der Ehe hervorgegangene Kinder schutzwürdig sind. 307 bb) Fehlende Aufhebungsfolgen als Nachteil für den Minderjährigen Durch die ex tunc-Wirkung der Unwirksamkeitsrechtsfolge wird das tatsächliche Eheleben einschließlich der – im Flüchtlingskontext – emotionalen Bindung nach der Flucht negiert und der gute Glaube der Ehegatten in die Gültigkeit des Formalakts, der zunächst nur aus deutscher Sicht unwirksam ist, ignoriert.308 Auch die rechtlichen Nachteile, die die Minderjährigen erfahren, sind umfassend. So können gerade minderjährige Mädchen nicht mehr von den vermögensschützenden Normen des ehelichen Güterrechts profitieren: Es entfallen die absoluten Verfügungsverbote der §§ 1365, 1369 BGB und die Gläubigerschutzfunktion des § 1357 BGB.309 Zudem gehen die gesetzlichen Unterhalts-, Erb- und Rentenansprüche verloren, was den jeweils materiell schlechter gestellten Ehegatten, der sich durch die Eheschließung auch eine materielle Absicherung erhoffte, in besonders hartem Maße trifft. Beim Unterhalt wird der volljährige Ehegatte
304
Vgl. BT-Drs. 13/4898, S. 2. Vgl. BT-Drs. 13/4898, S. 14. 306 Coester/Coester-Waltjen, in: International Encyclopedia of Comparative Law, Volume VI, 1997, 3. Kap. S. 95. 307 Coester/Coester-Waltjen, in: International Encyclopedia of Comparative Law, Volume VI, 1997, 3. Kap. S. 111 f. 308 Bongartz, NZFam 2017, 541, 545; Coester-Waltjen, IPRax 2017, 429, 435; v. Hein, in: Juristische Studiengesellschaft Jahresband, 2018, S. 29, 64; Schwab, FamRZ 2017, 1369, 1371; Stellungnahme des Bundesrates v. 12.5.17, BR-Drs. 257/27. Kritisch gegenüber der Gutgläubigkeit Opris, ZErb 2017, 158, 164. Dies an der sehr ähnlichen schwedischen Neuregelung (Gesetz 2018:1973) vom 1. Januar 2019 kritisierend Bogdan, Journal of Private International Law 2019, 247, 252. 309 Bongartz, NZFam 2017, 541, 542; v. Hein, in: Juristische Studiengesellschaft Jahresband, 2018, S. 29, 64. Zur ähnlichen schwedischen Regelung Bogdan, Journal of Private International Law 2019, 247, 252. 305
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Vierter Teil: Herausforderungen im Internationalen Eherecht
begünstigt, da er dem minderjährigen Ehegatten keinen Unterhalt schuldet. 310 Zudem kann er ohne Scheidung und Unterhaltspflichten erneut heiraten. Dies wurde daher in der Literatur als „billiger Modellwechsel“ bezeichnet.311 Während die Vermutungsregel des § 1592 Nr. 1 BGB bei aufhebbaren Ehen Anwendung findet, besteht bei nichtigen Ehen hinsichtlich der Abstammung keine rechtliche Vaterschaft gemeinsamer Kinder. Vor dem Hintergrund des Zwecks der Vorschrift ist dies nicht nachvollziehbar. Die Ratio des § 1592 Nr. 1 BGB ist nämlich nicht die Anerkennung der Ehe, sondern die Vermutung der Sexualgemeinschaft in der Ehe. Diese sollte zumindest dann auch gelten, wenn aus Sicht des Heimatrechts (und der Eheleute) eine wirksame Ehe besteht und § 1592 Nr. 1 BGB bei der unwirksamen Ehe somit entsprechend angewandt werden. 312 An das Problem der Abstammung schließt sich das Folgeproblem der elterlichen Sorge an: Sind die gemeinsamen Kinder im Ausland geboren, besteht diese nach Art. 16 Abs. 3 KSÜ fort. Sind die Kinder (nach der Flucht) in Deutschland geboren, so muss die Abstammung gem. Art. 16 Abs. 1 KSÜ i.V.m. § 1626a BGB vor einer Entscheidung über die elterliche Sorge gesondert geklärt werden, was den Aufwand in diesen ohnehin schon komplexen Verfahren noch weiter steigert. 313 Bei all diesen Nachteilen ist vor allem nicht ersichtlich, warum die aufhebbare und die unwirksame Ehe nicht gleich behandelt werden. Ziel beider Rechtsfolgen ist vor allem die (legitime) Beseitigung der Ehe, die von Minderjährigen geschlossen wurde und nicht eine „Bestrafung“ der größtenteils gutgläubigen Beteiligten. Zudem liegen häufig gleichgelagerte Sachverhalte zugrunde. Es erscheint daher ungerecht, dass den (faktisch verheirateten) Minderjährigen, die bei der Eheschließung (zufällig) unter 16 Jahre waren, noch nicht einmal eine Bestätigungsmöglichkeit zukommt oder sie von einer Härtefallregelung wie bei der aufhebbaren Ehe profitieren können. 314 Neben diesen rechtlichen Konsequenzen bedeutet die Trennung nach einer häufig dramatischen Flucht ein erneutes Trauma für die Minderjährigen. Zudem können Mädchen durch die Unwirksamkeit die Anerkennung in ihrer islamisch geprägten Umwelt verlieren und auch die Kinder hätten faktisch unter der Aberkennung der Ehelichkeit zu leiden. 315
310 v. Hein, in: Juristische Studiengesellschaft Jahresband, 2018, S. 29, 64; Hüßtege, FamRZ 2017, 1374, 1378. 311 So wörtlich Coester-Waltjen, IPRax 2017, 429, 435. 312 Majer, NZFam 2017, 537, 540. 313 v. Hein, in: Juristische Studiengesellschaft Jahresband, 2018, S. 29, 64; Hüßtege, FamRZ 2017, 1374, 1378. 314 Antomo, ZRP 2017, 79, 81; Schwab, FamRZ 2017, 1369, 1373 f. 315 Basedow, Interview mit dem MPI für ausländisches und internationales Privatrecht v. 17.3.2017, abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020);
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cc) Verfassungswidrigkeit der Unwirksamkeitslösung – zugleich Besprechung von BGH, Beschluss v. 14.11.2018 – XII ZB 291/16 Wegen der erheblichen nachteiligen zivilrechtlichen und sozialen Folgen für die Minderjährigen ist die Vereinbarkeit der „Unwirksamkeitslösung“ mit deutschem Verfassungsrecht und der EMRK zweifelhaft. So werden von der Institutsgarantie des Art. 6 GG auch Auslandsehen sowie nach der Rechtsprechung des BVerfG auch hinkende Ehen geschützt. 316 Art. 8 EMRK schützt ebenfalls das Familienleben, sodass eine Trennung der Ehegatten einen Verstoß gegen die Menschenrechtskonvention nahe legt. Neben dem Eheschutz kann die Trennung der minderjährig Verheirateten auch eine Verletzung des Kindeswohls bedeuten, dessen aus Art. 1, 2 und 6 GG resultierende Schutz ebenfalls Verfassungsrang hat. 317 Ferner steht die Lösung im Widerspruch zur UN-KRK, die in Art. 12 Abs. 1 UN-KRK auf die Reife und Autonomie des Minderjährigen im Einzelfall abstellt und nach Art. 3 UNKRK eine Berücksichtigung des individuellen Wohls erfordert. 318 Dieser in der Literatur vertretenen Meinung hat sich auch der BGH angeschlossen. Er hat in seinem Beschluss vom 14.11.2018 das Verfahren nach Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG ausgesetzt und dem BVerfG die Regelung des Art. 13 Abs. 3 Nr. 1 EGBGB n.F. („Unwirksamkeitslösung“) zur konkreten
Stellungnahme des Deutschen Juristinnenbund v. 18.4.2017, S. 2, abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020). 316 BVerfG Beschluss v. 30.11.1982 – 1 BvR 818/81, juris, Rn. 28: „Unter diesen Voraussetzungen erstreckt sich der Schutz des Grundrechts aber nicht allein auf die nach deutschem Recht geschlossenen Ehen. Das Bundesverfassungsgericht hat Art. 6 Abs. 1 GG wiederholt als Schutznorm für verheiratete Ausländer angewandt, ohne der Frage nachzugehen, ob deren Ehe nach deutschem Recht oder nach dem Recht ihrer Heimatländer geschlossen worden war (BVerfGE 35, 382 (407 f.); 51, 386 (396)). Auch hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden, dass die gesetzliche Regelung in Art. 13 Abs. 1 EGBGB über Eheschließungen zwischen Deutschen und Ausländern nicht zu beanstanden ist, nach der das Zustandekommen der Eheschließung für jeden Verlobten nach seinem Heimatrecht zu beurteilen ist (BVerfGE 31, 58 (79)). Dabei kann es – wie im vorliegenden Fall – zu dem Ergebnis kommen, daß nach dem für den ausländischen Verlobten maßgebenden Heimatrecht eine rechtsgültige Ehe vorliegt, während für den deutschen Verlobten die Verbindung als ‚Nichtehe‘ zu beurteilen ist. Grundsätzlich unterliegt auch eine so zustandegekommene sogenannte hinkende Ehe dem Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG.“ Ob sich dieser Schutz auch auf ordre public-widrige Ehen erstreckt, hat das BVerfG jedoch ausdrücklich offengelassen, vgl. juris, Rn. 30: „Ob der Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG auch dann eingreifen würde, wenn die Ehe nach der maßgebenden ausländischen Rechtsordnung des einen Verlobten in einer Weise geschlossen würde, die dem ordre public der deutschen Rechtsordnung widerspräche, bedarf hier keiner Entscheidung“. 317 Coester, FamRZ 2017, 77, 79; Coester-Waltjen, IPRax 2017, 429, 431. 318 Vgl. zum Grundsatz der vorrangigen Berücksichtigung des Kindeswohls im internationalen Recht Heiderhoff/Frankemöller, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinkhammer /Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 189, 190 ff.
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Vierter Teil: Herausforderungen im Internationalen Eherecht
Normenkontrolle vorgelegt, da die Verfassungsmäßigkeit dieser Regelung für seine Entscheidung maßgeblich sei. Dem Beschluss liegt der oben besprochene Sachverhalt und Verfahrensgang der „Kinderehen-Entscheidung“ des OLG Bamberg 12.05.2016 zugrunde.319 Ebenso wie das OLG hatte der BGH hinsichtlich der Entscheidung zu den Befugnissen des bestellten Vormunds die Vorfrage einer wirksamen Ehe zu beantworten. Bejaht man die Verfassungsmäßigkeit des „Gesetzes zur Bekämpfung von Kinderehen“, ist die Ehe der Beteiligten nach Art. 13 Abs. 3 Nr. 1 EGBGB n.F. i.V.m. § 1303 S. 2 BGB n.F. unwirksam und damit eine Beschränkung des Umgangsrechts durch den Vormund zulässig. Hält man hingegen wie der BGH diese Gesetzesänderung für verfassungswidrig, wäre die Ehe der beiden entsprechend der vom OLG Bamberg vorgenommenen Einzelfallprüfung wirksam und damit gem. §§ 1800, 1631, 1632 BGB keine Einschränkung des Umgangsrechts durch den Vormund möglich. Der BGH schließt sich hinsichtlich der internationalen Zuständigkeit der deutschen Gerichte, dem anwendbaren (deutschen) Recht und der ordre public- Prüfung weitgehend den Ausführungen des OLG Bamberg an.320 Sodann prüft der BGH, ob die Neuregelung verfassungskonform auszulegen ist. Laut BGH lasse die Auslegung aber ausgehend vom Wortlaut der Norm und der Gesetzgebungshistorie kein anderes Ergebnis als die Unwirksamkeit der Ehe im zu entscheidenden Fall zu.321 Mit dem Ergebnis der Anwendung von Art. 13 Abs. 3 Nr. 1 EGBGB n.F. sieht der BGH einen Verstoß gegen die Eheschließungsfreiheit aus Art. 6 Abs. 1 GG als gegeben an. Die Unwirksamkeit der Ehe ohne Rücksicht auf den konkreten Fall stelle einen Eingriff in den besonderen Schutz der öffentlichen Ordnung dar, den Art. 6 Abs. 1 GG auch ausländischen Ehen zukommen lasse. Dieser Schutz verbiete auch das Aufstellen zu starker Hürden für die Eheschließung z.B. ein festes Mindestalter wie es Art. 13 Abs. 3 Nr. 1 EGBGB n.F. i.V.m. § 1303 S. 2 BGB n.F. vorschreibe. Hinzu komme, dass die Neuregelung den Rechtsanwender und die Betroffenen über die Rechtsfolgen hinsichtlich der Abstammung gemeinsamer Kinder und der elterlichen Sorge sowie des Ehegattenunterhalts im Unklaren lasse. 322 Zudem liege im Zusammenhang mit Art. 6 Abs. 1 GG ein Verstoß gegen den aus Art. 20 Abs. 3 GG abgeleiteten Vertrauensschutz vor. Art. 13 Abs. 3 Nr. 1 EGBGB n.F. treffe rückwirkende Regelungen für die künftigen Rechtsfolgen einer ausländischen Ehe als zurückliegendem Sachverhalt und stelle damit eine „unechte“ Rückwirkung („tatbestandliche Rückanknüpfung“) und 319
Siehe oben B.I.2.c.dd. Vgl. zur ordre public-Prüfung oben unter B.I.2.c.dd.und BGH, Beschluss v. 14.11.2018 – XII ZB 291/16, BeckRS 2018, 32048, Rn. 39–49. 321 BGH, Beschluss v. 14.11.2018 – XII ZB 291/16, BeckRS 2018, 32048, Rn 55–66. 322 BGH, Beschluss v. 14.11.2018 – XII ZB 291/16, BeckRS 2018, 32048, Rn 68–70. 320
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keine „echte“ Rückwirkung dar, die eine Rückbewirkung von Rechtsfolgen bedeute und stets verfassungswidrig sei. Aber auch bei einer „unechten“ Rückwirkung müsse der Gesetzgeber den Vertrauensschutz berücksichtigen und gegen die mit dem Gesetz bezweckten Interessen der Allgemeinheit abwägen. Bis zum Inkrafttreten wären ausländische Ehen gem. § 1314 BGB lediglich aufhebbar gewesen. Das Vertrauen der Eheleute in die Wirksamkeit ihrer Ehe sei somit betroffen und auch nicht durch einen zwingenden Gesetzeszweck gerechtfertigt. Dies zeige die Übergangsregelung des Art. 229 § 44 Abs. 1 EGBGB n.F., der für nach deutschem Recht geschlossene Ehen die „unechte“ Rückwirkung ausschließe. 323 Aufgrund dieser abweichenden Regelung für Inlandsehen sieht der BGH – vorbehaltlich der Ausnahmeregelung des Art. 229 § 44 Abs. 4 EGBGB n.F. – ferner einen Verstoß gegen das Gleichbehandlungsgebot in Art. 3 Abs. 1 GG als gegeben an. Für diese Ungleichbehandlung sei ein sachlicher Grund ebenso wenig gegeben wie bei der Differenzierung zwischen dem Eintritt der Volljährigkeit in Deutschland bzw. im Ausland wie sie Art. 229 § 44 Abs. 4 Nr. 2 EGBGB n.F. vorsähe.324 Schließlich führt der BGH aus, dass ein festes Mindestalter für die Heirat die Berücksichtigung des Rechts des Minderjährigen auf freie Entfaltung und Entwicklung seiner Persönlichkeit im Einzelfall ausschließe und somit dem aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 GG abgeleiteten Schutz des Kindeswohls widerspreche.325 Der Beschluss schließt sich damit den bereits in der juristischen Literatur geäußerten Bedenken hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes an und stützt die – auch hier bereits geübte – generelle Kritik hinsichtlich der „Unwirksamkeitslösung“. Letztlich sind die genannten Eingriffe in die Grundrechte aber auch mit dem durch den Gesetzgeber bezweckten Minderjährigenschutz und der Schaffung von mehr Rechtsklarheit abzuwägen. Es bleibt daher abzuwarten, wie das BVerfG über die vorliegende Frage entscheiden wird. dd) Verstoß gegen Art. 21 AEUV? Ebenso wie bei der Aufhebungslösung stellt sich auch hinsichtlich der Unwirksamkeit der Ehe die Frage nach der Vereinbarkeit mit Art. 21 AEUV. Dieses Problem bestand schon vor Inkrafttreten des „Gesetzes zur Bekämpfung von Kinderehen“, nämlich bei Ehen, die innerhalb Europas unter Beteiligung von Unter-14-Jährigen geschlossen wurden. Solche Ehen verstießen
323
BGH, Beschluss v. 14.11.2018 – XII ZB 291/16, BeckRS 2018, 32048, Rn 71–75. BGH, Beschluss v. 14.11.2018 – XII ZB 291/16, BeckRS 2018, 32048, Rn 76–80. 325 BGH, Beschluss v. 14.11.2018 – XII ZB 291/16, BeckRS 2018, 32048, Rn 81–85. 324
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Vierter Teil: Herausforderungen im Internationalen Eherecht
schon damals nach ganz herrschender Meinung gegen den deutschen ordre public.326 Auch die Eheschließung von Unter-16-Jährigen ist in Europa selten327, kann aber vereinzelt vorkommen. So gilt für Westthrakientürken, einer muslimischen Minderheit in Griechenland, muslimisches Eheschließungsrecht, 328 das eine Eheschließung unter 14 Jahren erlaubt. Fraglich ist, ob die Nichtanerkennung dieser Ehen auf Basis des neuen Kinderehengesetzes noch einen gerechtfertigten Eingriff in das Freizügigkeitsrecht aus Art. 21 AEUV darstellt. Denn auch bezogen auf die Ehe von Unter-16-Jährigen liegen ebenso wie bei der Aufhebungslösung mit dem Minderjährigenschutz, dem Schutz der sexuellen Selbstbestimmung der Jugendlichen und der Geschlechtergleichstellung objektive Gründe und damit ein berechtigter Zweck der Anerkennungsverweigerung vor.329 Eine Rechtfertigung der Anwendung der Neuregelung auch auf innereuropäische Ehen scheint somit gegeben zu sein. Fraglich erscheint indes aufgrund der aufgeführten erheblichen Nachteile für die Minderjährigen die Angemessenheit. 330 Teilweise wird daher vorgeschlagen, Art. 13 Abs. 3 Nr. 1 EGBGB n.F. nur auf Fälle mit Drittstaatenbezug anzuwenden. 331 ee) Vereinbarkeit mit Art. 12 Abs. 2 GFK Hinsichtlich anerkannter Asylberechtigter und Konventionsflüchtlinge stellt sich zudem die Frage, ob die Regelungen zur Aufhebbarkeit bzw. Unwirksamkeit von Auslandsehen im Widerspruch zu Art. 12 Abs. 2 GFK stehen, der den Schutz wohlerworbener Rechte, insbesondere der Eheschließung, normiert.332 Wie bereits weiter oben erläutert, gilt dies nur insoweit, als die Rechte sich im Rahmen des ordre public des jeweiligen Vertragsstaates der Konvention halten. 333 Die mit dem „Gesetz zur Bekämpfung von Kinderehen“ eingeführten Regeln zur Ehemündigkeit definieren gleichzeitig den Rahmen des deutschen ordre public auf diesem Gebiet neu. Folglich geht der in Art. 12 Abs. 2 GFK enthaltene Schutz nicht so weit, dass die Ehen von Konventionsflüchtlingen grundsätzlich als gültig anzusehen sind und nicht aufgehoben werden dürfen. 326
Vgl. oben Fn. 1103. Für einen Rechtsvergleich siehe oben 1. Kap. C.I.1. 328 Zurückgehend auf den Vertrag von Lausanne von 1923. 329 Weller/Thomale/Hategan/Werner, FamRZ 2018, 1289, 1297. 330 Dies wird ebenso für die Neuregelung im schwedischen IPR bezweifelt, vgl. Bogdan, Journal of Private International Law 2019, 247, 255. 331 Weller/Schulz, in: v. Hein/Kieninger/Rühl (Hrsg.), How European is European Private International Law?, 2019, S. 285, 298 f. 332 Siehe oben 2. Teil, 6 Kap., B. 333 2. Teil, 5. Kap., C. 327
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ff) Zwischenfazit Insgesamt überzeugt die Unwirksamkeitslösung nicht. Sie stellt nicht nur einen Fremdkörper im deutschen Ehe- und Familienrecht dar, sondern ist auch mit dem deutschen Verfassungsrecht, der EMRK und dem europäischen Freizügigkeitsrecht kaum vereinbar. Zudem ist die als Vorteil angeführte Rechtssicherheit bei näherer Betrachtung und unter Berücksichtigung eines zugrundeliegenden grenzüberschreitenden Sachverhalts nicht überzeugend. So werden hinkende Rechtsverhältnisse geschaffen, die gleichzeitig die Gefahr der Schließung von Doppelehen aus Sicht des Heimatsrechts erhöhen. Die Unwirksamkeit der Ehe ipso iure führt also eher zu Rechtsunsicherheit als zu Rechtsklarheit. c) Alternativer Vorschlag Aufgrund der dargestellten Mängel in der jetzigen Zweispurigkeit der Rechtsfolgen werden im Folgenden Verbesserungsvorschläge gemacht wie sie sich de lege lata (dazu aa.) und de lege ferenda (dazu bb.) darstellen. aa) De lege lata De lege lata sollte zumindest § 1318 BGB, der die Rechtsfolgen nach Aufhebung der Ehe regelt, auf die unwirksame Ehe entsprechend Anwendung finden. Für die Analogie bedarf es einer planwidrigen Regelungslücke und trotz der unterschiedlichen Altersgruppen einer vergleichbaren Interessenlage zwischen den Paaren, deren Ehe unter Verstoß von § 1303 BGB n.F. geschlossen wurde. Die planwidrige Regelungslücke ist auf den ersten Blick hin zu verneinen. Denn der Gesetzgeber wollte die beiden Fälle ausdrücklich separat behandeln und eine Abstufung vornehmen, sodass die nichtige Ehe gerade keine Rechtsfolgen nach sich ziehen soll. Dieser Widerspruch löst sich indes auf, wenn man die Rechtsfolge funktional als eine antizipierte Aufhebung betrachtet und die Erklärung der Unwirksamkeit kraft Gesetzes daher nur die Einzelfallwürdigung und das Verfahren entbehrlich machen soll. 334 Zweck des Gesetzes ist es vorrangig, dass Minderjährige von unter 16 Jahren vor einem unzumutbaren Aufhebungsverfahren, das bis zu sechs Monate dauern kann, geschützt werden.335 Betrachtet man die oben genannten Nachteile einer unwirksamen Ehe für den Minderjährigen, entspricht es gerade dem Schutzzweck des Gesetzes, diese abzumildern. 336
334
Weller/Thomale/Hategan/Werner, FamRZ 2018, 1289, 1296. Vgl. Hoffmann in der zweiten Lesung im Bundestag, Plenarprotokoll 18/237, S. 24178 f. sowie BT-Drs. 18/12086, S. 1, 15, 17. 336 Weller/Thomale/Hategan/Werner, FamRZ 2018, 1289, 1296. 335
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Auch die historische Entwicklung macht die heutige separate Sichtweise auf rechtliche und tatsächliche Wirkungen einer Ehe deutlich. Während das EheG von 1938 noch nach Mängeln differenzierte, wurde im Zuge der Reform des Eherechts 1998 eine Anwendbarkeit des § 1318 BGB (1998) unabhängig vom Aufhebungsgrund festgelegt. 337 Im Ergebnis ist eine planwidrige Regelungslücke daher zu bejahen. Gleiches gilt für die vergleichbare Interessenlage. So besteht unabhängig vom Alter bei der Unwirksamkeit der Ehe, die mit einer tatsächlich gelebten Lebensgemeinschaft und einem guten Glauben der Eheleute einhergeht, ein Bedürfnis für eine Regelung der Rechtsfolgen dieser Verbindung. Gerade bei nach ausländischem Recht geschlossenen Ehen existiert ein soziales Faktum, das von der Rechtsordnung nicht negiert werden darf. Dafür spricht auch eine verfassungskonforme Auslegung der Neuregelung, schützt Art. 6 Abs. 1 GG doch auch die hinkende Ehe vor unverhältnismäßigen Eingriffen durch den Staat.338 § 1318 BGB n.F. ist daher auf die nichtige Ehe entsprechend anzuwenden. Im Ergebnis wird dadurch dem oben dargestellten Dauercharakter der Ehe hinreichend und besser Rechnung getragen als durch eine pauschale Unwirksamkeit. 339 bb) De lege ferenda Statt der jetzigen starren Altersgrenzen mit festen Rechtsfolgen, kombiniert mit stark eingeschränktem Ermessen auf Seiten der Gerichte und Behörden, könnte man die Rechtsfolgenseite fehlender Ehemündigkeit wie folgt gestalten: Eine Ehe von Unter-14-Jährigen, die auch bei ihrer Einreise diese Altersgrenze nicht überschritten haben, sollte entsprechend dem schon bisher herrschenden Konsens unwirksam sein. In diesem Altersbereich bietet § 176 StGB nicht ausreichend Schutz, da der sexuelle Missbrauch erst einmal zur Anzeige gebracht werden muss, was in einem familiären Umfeld von Kulturen, in der frühe Eheschließungen auch in einem sehr jungen Alter gebilligt werden, unwahrscheinlich ist. In diesen extremen Fällen würde statt eines längeren Aufhebungsverfahrens die Inobhutnahme und Betreuung durch das Jugendamt gem. § 42 Abs. 1 SGB VIII ausreichen.340 Auch in diesen Fällen sollte es aber zumindest eine Bestätigungsmöglichkeit von mittlerweile volljährig gewordenen Ehegatten geben und zudem die Rechtsfolgen des § 1318 BGB Anwendung finden. Um dies konkret umzusetzen, wäre ein 337
Voppel, in: Staudinger, BGB, 2015, § 1318 BGB Rn. 9. Siehe oben B.I.2.b).bb). 339 Ebenso Majer, NZFam 2017, 537, 539 f.; Weller/Thomale/Hategan/Werner, FamRZ 2018, 1289, 1296. 340 Antomo, NZFam 2016, 1155, 1161. 338
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Nichtigkeitsverfahren ähnlich dem § 23 EheG a.F. wünschenswert gewesen, das die Rechtsklarheit vor allem für die Beteiligten erhöhen würde und in dem Feststellungen gem. § 26 FamFG für alle Folgesachen getroffen werden könnten. 341 Eine weitere Anpassung an das Aufhebungsverfahren, wie eine einzelfallbezogene Heilungsmöglichkeit, sollte es jedoch nicht geben, damit die mit der Unwirksamkeit bezweckte Rechtssicherheit nicht verloren geht. 342 In allen anderen Altersklassen (ab 14 Jahren) sollte stets ein gerichtliches Aufhebungsverfahren durchgeführt werden, in dem erga omnes alle ehe-, vermögens-, unterhalts-, und kindschaftsrechtlichen Folgefragen abschließend geklärt werden könnten. Bei einer Ehe, die unter Beteiligung von Unter16-Jährigen geschlossen wurde, könnte die gerichtliche Aufhebung dabei als „Soll“-Vorschrift den gesetzlichen Regelfall darstellen. Sind die Ehegatten unter 18, aber über 16 Jahre alt, sollte eine Aufhebung für mehr Einzelfallgerechtigkeit in diesem nicht ganz so sensiblen Bereich im freien Ermessen des Richters stehen und, wenn nicht zwingende Gründe des Kindeswohls entgegenstehen, eher die Ausnahme sein. 343 4. Beschränktes Ermessen der Behörden und Gerichte a) Antragspflicht des Jugendamts Die in § 1316 Abs. 1 Nr. 1 BGB n.F. geregelte Pflicht des Jugendamts, den Antrag auf Aufhebung der Ehe zu stellen, geht sowohl zulasten des Kindeswohls als auch der prozessualen Effizienz. So muss die Behörde den Antrag stellen, selbst wenn die Betroffenen bereits volljährig geworden sind oder wenn die Behörde ein Eingreifen der Härtefallregelung des § 1315 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 b) BGB n.F. annimmt. Die Regelung erscheint mithin überschießend und wenig durchdacht und verschiebt den Schwerpunkt des Aufhebungsverfahrens noch stärker auf die anschließend damit befassten Gerichte.344 Bereits auf Behördenebene ist nicht ersichtlich, warum auf der sozialen Seite von Familienangelegenheiten den ausgebildeten Experten im Jugendamt kein größerer Beurteilungsspielraum zugebilligt wird. So könnten nach einer sorgfältigen Prüfung Fälle, in denen die Beteiligten mittlerweile volljährig geworden sind, ein Zwang bei der Eheschließung ausgeschlossen werden kann und beide Ehepartner zu verstehen geben, zusammenbleiben zu wollen von vorneherein einer gerichtlichen Aufhebung entzogen werden. 345 Als Al341
Hüßtege, FamRZ 2017, 1374, 1377. Vgl. die Gesetzesbegründung, BT-Drs 18/12086, S. 15; Opris, ZErb 2017, 158, 165. 343 Dazu näher unten unter 4.b). 344 Vgl. Bongartz, NZFam 2017, 541, 543. 345 Vgl. zum Vorrang des Kindeswohls auch bei abstrakt gegen den deutschen ordre public verstoßenden ausländischem Recht Heiderhoff, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/ Klinkhammer/Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 9, 21 f. 342
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ternative zur jetzigen Antragspflicht sollte der § 1316 BGB daher, wenn nicht sogar als „Kann“-Vorschrift, zumindest als „Soll“-Vorschrift ausgestaltet werden.346 b) Enge Härteklausel Auch die mit der Sache befassten Familiengerichte haben im nächsten Verfahrensschritt kaum Möglichkeiten zur Ermessensausübung. So stellt eine Aufhebung der Minderjährigenehe nach der Gesetzesbegründung den gesetzlichen Regelfall dar, wenn nicht die sprachlich eng gefassten Voraussetzungen der Härtefallklausel des § 1315 BGB n.F. vorliegen. 347 Diese ist sehr eng gefasst: Es müssen erstens „außergewöhnliche Umstände“ vorliegen, zweitens muss eine „schwere Härte“ gegeben sein und drittens darf eine Aufhebung nur „ausnahmsweise“ erfolgen. 348 Auf der einen Seite fördert die Regel die Rechtsklarheit und Bestimmbarkeit auf dem Gebiet der Eheaufhebung als Statusfrage. Zumal es für die befassten Gerichte ohnehin schwer zu beurteilen ist, ob eine Liebesbeziehung vorliegt oder aber unzulässiger Zwang auf den Minderjährigen ausgeübt wurde. Hier kommt insbesondere hinzu, dass sich die betreffenden Sachverhalte oft vor längerer Zeit im Ausland ereignet haben.349 Auf der anderen Seite besteht angesichts des eingeschränkten Ermessens die Gefahr, dass zu wenig Raum für die vom Gericht zu beachtende Einzelfallgerechtigkeit verbleibt. Dies liegt zunächst auch an der sprachlich unglücklichen Fassung der Härteklausel. So findet sich der Ausdruck „unzumutbare Härte“ auch in § 1568 Abs. 1 Hs. 2 BGB, der eine Ausnahme von der Scheidbarkeit der Ehe regelt.350 Dessen Voraussetzungen sind jedoch in 346 So die Stellungnahme des Deutschen Familiengerichtstags (DFGT) v. 23.2.2017, S. 1 abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020) und Weller, Stellungnahme für den Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages zum „Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung von Kinderehen“ v. 17.5.2017, abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020). 347 Vgl. BT-Drs. 18/12086, S. 2; BR-Drs. 275/17, S. 1. Für ein Ermessen im Rahmen des § 1314 Abs. 1 Nr. 1 BGB n.F.aber: BGH, Beschluss v. 22.7.2020 – XII ZB 131/20, juris, Rn. 34 ff.; AG Frankenthal, Beschluss v. 15.2.2018 – 71 F 268/17, juris, Rn. 11; Weller/Thomale/Hategan/Werner, FamRZ 2018, 1289, 1297 f. 348 Vgl. § 1315 Abs. 1 Nr. 1b) BGB n.F.: „Eine Aufhebung der Ehe ist ausgeschlossen bei Verstoß gegen § 1303 Satz 1, wenn [...] auf Grund außergewöhnlicher Umstände die Aufhebung der Ehe eine so schwere Härte für den minderjährigen Ehegatten darstellen würde, dass die Aufrechterhaltung der Ehe ausnahmsweise geboten erscheint [...]“. 349 Hüßtege, FamRZ 2017, 1374, 1380. 350 „Die Ehe soll nicht geschieden werden, obwohl sie gescheitert ist, [...] wenn und solange die Scheidung für den Antragsgegner, der sie ablehnt, auf Grund außergewöhnlicher Umstände eine so schwere Härte darstellen würde, dass die Aufrechterhaltung der Ehe
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der Praxis äußerst selten gegeben. 351 Zudem nennt die Entwurfsbegründung als Beispiele für das Vorliegen eines Härtefalls neben einem Eingriff in die europäische Freizügigkeit nur eine schwere Krankheit und eine Suizidgefahr.352 Andere weniger spezielle soziale und psychologische Belange der Minderjährigen und das Kindeswohl allgemein sind unter diese Fallgruppen schwer subsumierbar und können in Anbetracht der jetzigen Fassung der Ausnahmeregelung kaum ausreichend berücksichtigt werden. Dazu zählen insbesondere Umstände wie die Motive für das Eingehen einer frühen Ehe, die Dauer der Ehe, ob gemeinsame Kinder aus der Ehe hervorgegangen sind oder ob die Aufhebung angesichts einer auf der gefährlichen Flucht entstandenen Bindung ein erneutes Trauma auslösen würde. Auch ein Fortsetzungswille der Minderjährigen sollte, wenn (inzwischen) eine hinreichende Reife gegeben ist, Berücksichtigung finden. 353 Ferner ist nicht einleuchtend, warum Unionsbürger, bei sonst vergleichbaren äußeren Umständen, gegenüber minderjährigen Ehegatten aus Nicht-EU-Staaten privilegiert werden. Die Erfassung der Fallgruppen erscheint daher formalistisch und im Kern nicht durchdacht.354 Summiert man diese Aspekte, wird die Härteklausel in der Praxis im Ergebnis selten eingreifen. Das nach der hier vertretenen Ansicht aus Gründen des Kindeswohls und der Einzelfallgerechtigkeit eigentlich gebotene Regel-Ausnahme-Verhältnis „Aufhebung nur unter besonderen Umständen“ wird daher umgekehrt in „Aufhebung als Regelfall“. Wie aber ist das klassische Dilemma zwischen Rechtsklarheit und Vorhersehbarkeit auf der einen Seite und der zu berücksichtigenden Einzelfallgerechtigkeit auf der anderen Seite in Bezug auf die Eheaufhebung aufzulösen? Statt der praktischen Ermessensreduzierung auf Null 355 sollten die Aufhebungsvorschrift des § 1314 BGB n.F. und die Heilungsmöglichkeit in § 1315 BGB n.F. so ausgestaltet sein, dass die Gerichte alle Umstände des Einzelfalls berücksichtigen und so der Vielschichtigkeit des tatsächlichen Lebens in ihren Entscheidungen Rechnung tragen können. 356 Dass dies insbesondere auf sensiblen Gebieten des Minderjährigenschutzes legitim ist, zeigen die Regelungen der Art. 3 Abs. 1357 und Art. 12 Abs. 1 UN-KRK358, die auch unter Berücksichtigung der Belange des Antragstellers ausnahmsweise geboten erscheint.“ 351 Vgl. Coester-Waltjen, IPRax 2017, 429, 431; Schwab, FamRZ 2017, 1, 2. 352 BT-Drs. 18/12086, S. 17. 353 Stellungnahme des Bundesrates v. 12.5.17, BR-Drs. 257/27. 354 Antomo, ZRP 2017, 79, 82. 355 Vgl. etwa Antomo, ZRP 2017, 79, 80. 356 BGH, Beschluss v. 22.7.2020 – XII ZB 131/20, juris, Rn. 34 ff.; Weller/Thomale/Hategan/Werner, FamRZ 2018, 1289, 1298; Schwab, FamRZ 2017, 1369, 1370. 357 Art. 3 Abs. 1 UN-KRK: „Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwa l-
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auf die jeweiligen Einzelfallumstände abstellen. Defizite auf Seiten der Rechtssicherheit sind hinzunehmen und werden sich mit zunehmender Festigung der Rechtsprechung abmildern. Diese Entwicklung ist auch de lege lata schon zu beobachten: So hat das Amtsgericht Frankenthal kurz nach Inkrafttreten des neuen Gesetzes die Aufhebung einer Minderjährigenehe von zwei Bulgaren abgelehnt und seine Entscheidung auf sein Ermessen im Rahmen des § 1314 BGB n.F. und auf die Härtefallregelung des § 1315 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 b) BGB n.F. gestützt: „§ 1314 BGB ist indes als ‚Kann-Vorschrift‘ ausgestaltet und räumt daher dem Familiengericht ein Ermessen dahingehend ein, ob die Ehe aufgehoben wird.“. 359
Es begründete die Ablehnung des Aufhebungsantrags damit, dass die Ehe ohne Zwang und nach bulgarischem Recht wirksam zustande gekommen sei. Ferner hätten die Eheleute bereits ein gemeinsames Kind und die Ehefrau benötige vor dem Hintergrund fehlender Schul- und Berufsausbildung eine wirtschaftliche Absicherung. 360 Auch ein Eingriff in die EU-Freizügigkeit wurde als Begründung angeführt.361 Eine ähnliche Entscheidung hat jüngst das OLG Frankfurt getroffen, das ebenfalls den Antrag auf Aufhebung der Ehe zweier Bulgaren, von denen die Ehefrau bei der Eheschließung erst 17 Jahre alt war, ablehnte. Als Begründung führte es unter Berufung auf das europäische Freizügigkeitsrecht aus, dass eine Aufhebung beim Vorhandensein gemeinsamer Kinder und dem Wunsch weiter zusammenzuleben eine unangemessene Härte darstelle. 362 Ähnlich entschied das AG Nordhorn, das das Eingreifen der Härteklausel ebenfalls auf familiäre Gründe – einvernehmliche Heirat, gemeinsames Kind und Vollwaisenstellung der minderjährigen Ehefrau – und das europäische Freizügigkeitsrecht stützte.363 Die Entscheidung wurde durch einen Hinweisbeschluss des OLG Oldenburg bestätigt, das ausführte:
tungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.[...]“. 358 Art. 12 Abs. 1 UN-KRK: „Die Vertragsstaaten sichern dem Kind, das fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden, das Recht zu, diese Meinung in allen das Kind berührenden Angelegenheiten frei zu äußern, und berücksichtigen die Meinung des Kindes angemessen und entsprechend seinem Alter und seiner Reife. [...]“. 359 AG Frankenthal, Beschluss v. 15.2.2018 – 71 F 268/17, juris, Rn. 11. 360 AG Frankenthal, Beschluss v. 15.2.2018 – 71 F 268/17, juris, Rn. 11 ff. 361 AG Frankenthal, Beschluss v. 15.2.2018 – 71 F 268/17, juris, Rn. 11: „ [...] sind im EU-Ausland wirksam geschlossene Ehen grundsätzlich anzuerkennen.“ 362 OLG Frankfurt am Main, Beschluss v. 28.7.2019 – 5 UF 97/19, juris. 363 AG Nordhorn, Beschluss v. 29.1.2018 – 11 F 855/17 E1: „Ein solcher Ausnahmefall [i.S.d. § 1315 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 Buchst. b BGB, Anm. d. Verf.] ist gegeben, wenn die minderjährige Ehefrau in 11 Monaten volljährig wird, Mutter eines knapp 3 Monate alten Kindes und zudem Vollwaise ist.“.
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„Im vorliegenden Einzelfall ergibt sich die außergewöhnliche Härte für die Ehefrau daraus, dass für den Fall der Aufhebung der Ehe ihr über die Ehe vermitteltes unbedingtes Recht auf Arbeitnehmerfreizügigkeit und Aufenthalt in Deutschland nach Art. 45 Abs. 3 lit. b und c AEUV verletzt wäre.“
Das Gericht verneinte zudem eine Rechtfertigung der Verletzung mit dem Minderjährigenschutz als ausgewiesenem Gesetzeszweck: „Denn im vorliegenden Fall bestehen keine tragfähigen Anhaltspunkte dafür, dass sie zur Eheschließung gezwungen wurde und die Aufrechterhaltung der Ehe ihre Entwicklungschancen beeinträchtigen kann.“364
Nunmehr wurde die bisherige Vorgehensweise der Gerichte und die hier vertretene Meinung auch höchstrichterlich bestätigt. In einem Beschluss vom 22.07.2020 hat der BGH ausgeführt: „Daher ist die vom Gesetzeswortlaut gedeckte Auslegung geboten, wonach dem Gericht von § 1314 Abs. 1 Nr. 1 BGB ein Ermessen eingeräumt ist. Dies widerspricht auch nicht dem den Materialien zu entnehmenden Willen des Gesetzgebers, sondern wird im Gegenteil sogar in besonderer Weise der erklärten gesetzgeberischen Zielsetzung des Minderjä hrigenschutzes [...] gerecht.“365
5. Zu weitreichende Streichungen im BGB Aufgrund der Befreiungsmöglichkeit in § 1303 Abs. 2 BGB a.F. gab es vielfältige Sonderregelungen und Begünstigungen für verheiratete Minderjährige, über die jedoch in der Regel das Familiengericht zu entscheiden hatte. Durch den Wegfall der Dispensregelung wurden die entsprechenden Vorschriften, vor allem im Familien- und Erbrecht des BGB, größtenteils gestrichen. 366 Zudem fallen diesbezüglich verschiedene Richtervorbehalte im Rechtspflegergesetz weg. 367 Es stellt sich jedoch die Frage, ob der Gesetzgeber übersehen hat, dass durch die Härteklausel und für die Zeit bis zur Aufhebungsentscheidung des Gerichts noch Fälle verbleiben, auf die die gestrichenen Vorschriften Anwendung finden würden. 368 Zudem stellen die Vorschriften nicht nur bloße Folgeregelungen dar, sondern sind häufig gesetzgeberische Grundentscheidungen. Insbesondere das Streichen des § 1633 BGB a.F., wonach die Personensorge für einen Minderjährigen, der verheiratet ist oder war, sich auf die Vertretung in den persönlichen Angelegenheiten beschränkt, erscheint verfehlt. So ist
364
OLG Oldenburg, Hinweisbeschluss v. 18.4.2018 – 13 UF 23/18, FamRZ 2018, 1152,
1153. 365
BGH, Beschluss v. 22.7.2020 – XII ZB 131/20, juris, Rn. 49. Für einen detaillierten Überblick vgl. Schwab, FamRZ 2017, 1369, 1372 f. 367 Vgl. die Gesetzesbegründung, BT-Drs. 18/12086, S. 28. 368 Huber, in: MünchKommBGB, 2020, § 1633 BGB a.F. Rn. 1; Veit, in: BeckOK BGB, 2019, § 1633 BGB a.F. Rn. 1.1. 366
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nicht ersichtlich, warum den verheirateten Minderjährigen diese Autonomie plötzlich entzogen wird und sie unter die vollständige Sorge der Eltern bzw. des Jugendamts gestellt werden, die diesen vor allem ein Aufenthaltsbestimmungsrecht zuspricht. 369 Die Vorschrift hatte immerhin seit ihrer Fassung von 1975 den Sinn und Zweck, den jungen Verheirateten von seinen Eltern zu emanzipieren und Einmischungen in die persönlichen Angelegenheiten der Ehegatten zu verhindern. Sie galt zudem nach herrschender Meinung sogar bei einer Aufhebbarkeit der Ehe.370 6. Sonstige Anpassungen außerhalb des BGB a) Verfahrensrecht aa) Neuerungen im FamFG Die Zuständigkeit deutscher Gerichte für das Aufhebungsverfahren ist nach § 99 Abs. 1 S. 2 FamFG schon bei einem schlichten Aufenthalt in der Bundesrepublik begründet, z.B. bei bloßer Durchreise eines minderjährig Verheirateten. Diese Regelung führt zu einer ausufernden internationalen Zuständigkeit, deren Voraussetzung zumindest der Wohnsitz oder der gewöhnliche Aufenthalt eines der Ehegatten in Deutschland sein sollte, um ein berechtigtes Interesse der deutschen Justiz für die Auflösung der betroffenen Verbindungen zu begründen. Aufgabe einer Norm, die die internationale Zuständigkeit regelt, ist es nämlich, in positiver Hinsicht zu bestimmen, welchem Staat die Gerichtsbarkeit in einem konkreten Fall zukommt und gleichzeitig in negativer Hinsicht auszuschließen, dass in die Justizhoheit eines anderen Staates eingegriffen wird. 371 Zudem wurde zusätzlich in § 129a FamFG ein Vorrang- und Beschleunigungsgebot für die Aufhebungsverfahren eingeführt, das zu einer noch höheren Auslastung der ohnehin schon stark belasteten Behörden und Familiengerichte führt. Die Verfahren zur Eheaufhebung sind ohnehin sehr aufwendig, da die Zusammenarbeit von Gerichten und Jugendämtern ein höheres Maß an Koordination erfordert und zudem in den überwiegend internationalen Fällen häufig noch ein Dolmetscher zu beteiligen ist. 372 Auch die tatsächliche Eilbedürftigkeit der Verfahren ist fraglich. Das allgemeine Vorrang- und Beschleunigungsgebot in § 155 FamFG erfasst typischerweise Fälle, deren Dringlichkeit eine rasche Bearbeitung erfordert, wie z.B. Kindschaftssachen, Herausgabe des Kindes oder Fälle, die das Kindes369
Vgl. Bongartz, NZFam 2017, 541, 544 der in der Streichung sogar eine Verletzung der Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 1 GG sieht. 370 Huber, in: MünchKommBGB, 2020, § 1633 BGB a.F. Rn. 1; Rakete-Dombek, in: Nomos Kommentar, BGB, 2014, § 1633 BGB a.F. Rn. 1. 371 Vgl. Patzina, in: MünchKommZPO, 2016, § 12 ZPO Rn. 17. 372 Hüßtege, FamRZ 2017, 1374, 1379.
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wohl allgemein betreffen. 373 Diesem Ziel dürfte in Fällen fehlender Ehemündigkeit hingegen bereits durch die vorläufige Inobhutnahme gem. § 42a Abs. 1 SGB VIII Genüge getan sein. Einzelne eilbedürftige Fälle können dann immer noch mit dem allgemeinen Vorrang- und Beschleunigungsgebot des § 155 FamFG aufgefangen werden. In allen anderen Fällen erscheint ein Vorrang indes nicht sachgerecht, bedeutet es doch eine Nachrangigkeit aller anderen vielleicht eher eilbedürftigen Fälle. 374 Sinnvoller wäre eine Regelung zur Beiordnung eines Verfahrensbevollmächtigten für den Minderjährigen gewesen. Dieser kann in Familiensachen ohne Anwaltszwang gem. § 78 Abs. 2 FamFG auf Antrag dann bestellt werden, wenn es wegen der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage erforderlich scheint. Dies ist typischerweise der Fall, wenn komplexe Sachverhalte zugrundeliegen oder die rechtliche Lage umstritten ist und bisher nicht höchstrichterlich geklärt wurde. 375 Die Komplexität des Sachverhalts ergibt sich im Falle der Minderjährigenehe häufig schon aufgrund des Auslandsbezugs. Bezüglich des Umgangs der Gerichte mit der neuen Aufhebungslösung und der Härteklausel ist auch die Rechtsprechung noch nicht gefestigt. Auch subjektive Einschränkungen aufseiten der Beteiligten können eine Bestellung rechtfertigen; etwa mangelnde Sprachkenntnisse, was im Migrationskontext ebenfalls häufig zutreffen dürfte.376 bb) Jugendhilferechtlicher Kontext Mit dem im dritten Teil bereits erläuterten § 42a SGB VIII n.F. wird künftig klargestellt, dass Minderjährige grundsätzlich auch dann als unbegleitet anzusehen sind, wenn sie durch Ehepartner begleitet werden. Allerdings sollte eine Trennung nur bei kindeswohlgeleiteter Einzelfallentscheidung in Betracht kommen. Bei dieser Entscheidung ist dem Willen der Minderjährigen große Bedeutung beizumessen, um deren Persönlichkeitsrecht auf Selbstbestimmtheit und Selbstverantwortung gerecht zu werden. 377 Nur dann entspricht die Neuregelung im Übrigen auch den Vorgaben des Art. 3 und 12 UN-KRK.378 373 Vgl. § 155 Abs. 1 FamFG: „Kindschaftssachen, die den Aufenthalt des Kindes, das Umgangsrecht oder die Herausgabe des Kindes betreffen, sowie Verfahren wegen Gefährdung des Kindeswohls sind vorrangig und beschleunigt durchzuführen.“ 374 Hierauf hinweisend Stellungnahme des Deutschen Juristinnenbund e.V. v. 18.4.2017, abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020). 375 Bumiller/Harders, in: Bumiller/Harders/Schwab, FamFG, 2019, § 78 FamFG Rn. 2 f.; Viefhus, in: MünchKommFamFG, 2018, § 78 FamFG Rn. 7. 376 Viefhus, in: MünchKommFamFG, 2018, § 78 FamFG Rn. 19. 377 So auch Antomo, ZRP 2017, 79, 80 und 82; Bongartz, NZFam 2017, 541, 546. 378 Vgl. Fn. 1264 und Fn. 1265.
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Insbesondere problematisch aus Sicht der behördlichen und gerichtlichen Praxis ist, dass das neue Gesetz keine Regelung zum Verfahren der Altersfeststellung bei den (vermeintlich) minderjährig Verheirateten enthält. 379 Dies ist umso unverständlicher, wenn man sich bewusst macht, dass es gerade für die Aufhebbarkeit oder Unwirksamkeit der Ehe auf das exakte Alter der Ehegatten ankommt. Gleichzeitig wird bei den Flüchtlingen aus muslimischen Kulturkreisen, wenn überhaupt Ausweispapiere vorhanden sind, häufig der 1. Januar als Geburtstag angegeben, sodass eine exakte Altersbestimmung gar nicht möglich ist. 380 Wie bereits im dritten Teil ausgeführt wäre eine Regelung wünschenswert und sogar notwendig gewesen, wie die Behörden und Gerichte mit solchen Fällen verfahren sollen, z.B. wie es sich mit der Beweislast verhält. Hier besteht Nachbesserungsbedarf. b) Asyl- und Ausländerrecht aa) Änderungen Ferner kam es zu einigen Anpassungen im Asyl- und Ausländerrecht, damit betroffene Minderjährige in diesem Bereich keine Nachteile durch die Unwirksamkeit oder Aufhebung ihrer Ehe erleiden. So ist es im Rahmen des § 26 AsylG n.F., der das Familienasyl regelt, für die Vorfrage einer wirksamen Ehe unerheblich, ob diese nach deutschem Recht unwirksam oder aufhebbar ist. Zudem stellt die Unwirksamkeit oder Aufhebbarkeit der Ehe gem. § 73 AsylG n.F. keinen Grund für den Widerruf der asylrechtlichen Stellung dar.381 Weniger vorteilhaft sind hingegen die Neuerungen im Aufenthaltsgesetz: Dort liegt das Mindestalter für den Ehegattennachzug gem. § 30 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AufenthG n.F. nun ausnahmslos bei 18 Jahren. Zudem ist der minderjährige Ehegatte nicht mehr gem. § 30 Abs. 1 S. 2 AufenthG privilegiert. Danach konnte eine Ausnahme von dem Mindestalter von 18 Jahren gemacht werden, wenn der minderjährige Ehegatte eine besondere Qualifikation vorweisen konnte. Die Privilegierung des § 30 Abs. 1 S. 3 AufenthG a.F. bei Nachweis von Sprachnachweisen wurde ebenfalls gestrichen. Eine letzte Ausnahme besteht nur noch dann, wenn gem. § 30 Abs. 2 S. 1 AufenthG ein Härtefall gegeben ist oder die Betroffenen bereits nach § 38a AufenthG eine Aufenthaltsgenehmigung aus einem anderen EU-Staat haben. In § 31 Abs. 2 S. 2 AufenthG wird das Vorliegen eines Härtefalls dahingehend konkretisiert, dass die Ehe nach deutschem Recht
379
Dies ebenfalls bemängelnd Hüßtege, FamRZ 2017, 1374, 1377. Zu den Schwierigkeiten der Altersfeststellung vgl. oben 3. Teil, 2. Kap., C. 381 Vgl. die Gesetzesbegründung, BT-Drs. 18/12086, S. 27. 380
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wegen Minderjährigkeit des Ehegatten zum Zeitpunkt der Eheschließung unwirksam ist oder aufgehoben worden ist. Für den Kindernachzugs gem. § 32 AufenthG müssen die Kinder minderjährig und ledig sein. Die Fälle des Ausschlusses des Kindernachzugs aufgrund anerkannter Kinderehen dürften sich daher durch das neue Gesetz minimieren. 382 bb) Kritik Die Anpassungen im Asyl- und Ausländerrecht zur Abwendung von Nachteilen, die den Minderjährigen durch die Unwirksamkeit oder Aufhebung ihrer Ehe entstehen würden, sind zu begrüßen. Problematisch ist jedoch, dass sich die Anwendung der vorteilhaften Vorschriften nur auf den jeweils minderjährigen Ehegatten beschränkt. 383 Dem Partner hingegen wird das Familienasyl nach § 26 AsylG aberkannt und er verliert seinen Asylstatus und eventuell sogar seinen Aufenthaltstitel. Diese Konsequenzen treffen wiederum dann in tatsächlicher Hinsicht doch den minderjährigen Ehegatten, der eigentlich keine Nachteile durch die neuen Regelungen erfahren sollte. Vor allem würde durch die mögliche Ausreisepflicht des Partners auch ein mögliches Umgangsrecht für gemeinsame Kinder vereitelt, das ihm im Sinne des Kindeswohls zusteht.384 c) Wiedereinführung des religiösen Voraustrauungsverbots aa) Inhalt Mit dem neuen § 11 Abs. 2 PStG n.F. wird das religiöse Voraustrauungsverbot wieder eingeführt, das mit Gesetz vom 31. Dezember 2008385 abgeschafft worden war. Danach ist eine religiöse oder traditionelle Handlung künftig untersagt, die darauf gerichtet ist, eine der Ehe vergleichbare dauerhafte Bindung zweier Personen zu begründen, von denen eine das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat. Adressiert sind gem. § 11 Abs. 2 S. 3 Nr. 1 PStG n.F. insbesondere Geistliche und gem. § 11 Abs. 2 S. 3 Nr. 2 PStG n.F. die Sorgeberechtigten der minderjährigen Betroffenen. Gleiches gilt nach § 11 Abs. 2 S. 2 PStG n.F. für den Abschluss entsprechender Verträge.386
382
Tewocht, in: BeckOK, Ausländerecht, 2020, § 32 AufenthG Rn. 5a. v. Hein, in: Juristische Studiengesellschaft Jahresband, 2018, S. 29, 65. 384 Kritisch hierzu Bongartz, NZFam 2017, 541, 546; v. Hein, in: Juristische Studiengesellschaft Jahresband, 2018, S. 29, 65. 385 Vgl. Art. 5 Abs. 2 S. 2 PStRG/2007. 386 Vgl. die Gesetzesbegründung, BT-Drs. 18/12086, S. 8, Art. 3. 383
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Das Verbot ist gem. § 70 PStG bußgeldbewährt und ein Verstoß begründet gem. § 54 Abs. 2 Nr. 6 AufenthG n.F. ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse.387 bb) Kritik Die Regelung ist vor dem Hintergrund ihres Schutzzwecks grundsätzlich zu begrüßen. Auch durch eine rechtlich unwirksame religiöse Ehe wird faktisch Druck auf die Eheleute ausgeübt, ein eheliches Leben zu führen und eventuell auch noch die Zivilehe einzugehen. 388 Zwar ist das Verbot in tatsächlicher Hinsicht schwer durchsetzbar, jedoch wird gleichwohl der Schein der Legalität solcher Ehen zerstört und gibt Behörden und Gerichten einen Anlass, wegen Gefährdung des Kindeswohls frühzeitig einzuschreiten. 389 Zudem können zumindest die gutgläubig gelebte rein religiöse Ehe und ihre nachteiligen Folgen verhindert werden. 390 Zum Beispiel ist im Aufenthaltsrecht nach § 12a Abs. 5 S. 1 Nr. 1 lit. b) AufenthG nicht Ehegatte, wer nur nach religiösem Recht angetraut ist. 391 Nicht umsonst hält auch Terre de femmes, deren Mitarbeiter mit den alltäglichen Auswirkungen religiös geschlossener Ehen konfrontiert sind, die Regelung für notwendig und sinnvoll. 392 Die durch das Verbot notwendige Überwachung des religiösen und privaten Bereichs wirft indes die Frage nach der Vereinbarkeit mit der Religionsfreiheit auf. Schon vor der Abschaffung des Voraustrauungsverbots im Jahr 2009393 gab es viele Stimmen in der Literatur, die den § 67 PStG a.F.394
387
Vgl. die Gesetzesbegründung, BT-Drs. 18/12086, S. 9, Art. 5. Antomo, ZRP 2017, 79, 80, 82; kritisch hingegen die Stellungnahme des Deutschen Notarvereins v. 22.2.2017, S. 5, abrufbar unter: (letzter Abruf: 4.6.2020); zu den Motiven einer rein religiösen Heirat vgl. Menne, FamRZ 2016, 1223, 1224 f. 389 Coester, FamRZ 2017, S. 77, 78. 390 Majer, NZFam 2017, 537, 540; zu den nachteiligen zivilrechtlichen Folgen und Missbrauchsmöglichkeiten gerade auch bei Fällen mit Auslandsbezug vgl. Schüller, NJW 2008, 2745, 2748 f; vgl. ferner Bosch/Hegenauer/Hoyer, FamRZ 1997, 1313, die neben dieser Gefahren bei einer erlaubten kirchlichen Voraustrauung (S. 1316) auch darauf hi nweisen, dass § 67 PStG a.F. rechtlich und gesellschaftlich überholt sei (S. 1320 ff.). 391 Vgl. VG Bayreuth, Beschluss v. 15.8.2018 – B 6 K 17.987, BeckRS 2018, 24061. 392 Stellungnahme von TERRE DES FEMMES e.V., S. 3, abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020). 393 Vgl. zur fehlenden Diskussion der Abschaffung in der juristischen Literatur und zu den Folgen der Abschaffung: Schüller, NJW 2008, 2745. 394 Gesetz über die Beurkundung des Personenstandes und die bürgerliche Eheschließung, RGBl. S. 23. 388
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für verfassungswidrig hielten. 395 Allerdings bezog sich das frühere Verbot nicht nur auf die religiöse Trauung mit minderjährigen Beteiligten, sondern generell darauf, die kirchliche vor der standesamtlichen Trauung durchzuführen.396 Die aus dem Verbot resultierende Pflicht, die Zivilehe vor der religiösen Ehe zu schließen, wurde jedoch nicht als Eingriff in die Religionsfreiheit der Ehegatten aus Art. 4 Abs. 1 GG gewertet.397 Anders hingegen sollte es sein, wenn den Ehegatten die zivilrechtliche Eheschließung, etwa wegen fehlender Ehemündigkeit oder bereits bestehender Ehe, verwehrt würde und sie somit durch das Voraustrauungsverbot auch an der religiösen Eheschließung gehindert wären. 398 Dies ist aber gerade der Fall, auf den der neue § 11 PStG zielt. Der Eingriff in Art. 4 Abs. 1 GG könnte dennoch durch das wiedereingeführte Verbot verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein. Nach der hier vertretenen Ansicht ist dies zu bejahen, da hier der Schutz – gerade von minderjährigen Frauen – vor Zwangsehen einen legitimen Zweck darstellt und das Verbot, wie oben unter dem Reformbedürfnis dargestellt, grundsätzlich auch erforderlich ist. Im Übrigen steht auch Art. 12 EMRK der obligatorischen Zivilehe nicht entgegen. 399 7. Unterbliebene Reform des Ehestatuts Schlussendlich hätte man das neue Gesetz, das ohnehin Veränderungen im EGBGB vornimmt, zum Anlass nehmen können, Art. 13 Abs. 1 EGBGB zu reformieren und die Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit durch die Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt zu ersetzen. 400 Wie bereits im zweiten Teil dieser Arbeit festgestellt, spricht dafür auch die zunehmende grenzüberschreitende Mobilität und das sich daran anpassende europäische Kollisionsrecht, das vermehrt auch im Familien- und Erbrecht dem Aufenthaltsprinzip folgt.401 Zudem wird durch die Anwendung des Aufenthaltsprin-
395
Vgl. zur alten Rechtslage Coester, StAZ 1996, 33, 38 ff. und Tillmanns, NVwZ 2003, 43 (jeweils m.w.N.), die eine Verfassungswidrigkeit des § 67 PStG a.F. annehmen, ohne auf die Verfassungswidrigkeit gesondert einzugehen. Für die Abschaffung von § 67 PStG a.F., da dieser mittlerweile aufgrund der historischen Entwicklung und veränderten gesellschaftlichen Struktur obsolet sei Renck. NJW 1996, 907. 396 „Wer eine kirchliche Trauung oder die religiösen Feierlichkeiten einer Eheschließung vornimmt, ohne daß zuvor die Verlobten vor dem Standesamt erklärt haben, die Ehe miteinander eingehen zu wollen, begeht eine Ordnungswidrigkeit [...].“ 397 Vgl. nur Pirson, in: Listl/Pirson, HdbSt-KirchR I, 1994, S. 822; Tillmanns, NVwZ 2003, 43, 45. 398 Tillmanns, NVwZ 2003, 43, 46, m.w.N. 399 Vgl. EGMR, Urteil v. 18.12.1974 – Nr. 6167/73, X ./. Deutschland. 400 So auch Coester Waltjen, StAZ 2013, 10. 401 Siehe 2. Teil, 6. Kap., B.I.
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zips der Raum für die Anwendung des ordre public verringert.402 Wie am Beispiel der Ehemündigkeit gezeigt, ist seine Anwendung oft mit Rechtsunsicherheit verbunden. Hinzu kommt, dass der ordre public auch europaweit uneinheitlich gehandhabt wird: Deutschland ist z.B. verglichen mit Frankreich zurückhaltender bei der Anwendung des ordre public.403 Problematisch können diese Unterschiede insbesondere angesichts des sich immer weiter ausbreitenden Anerkennungsprinzips im europäischen Recht werden. 404 D. Fazit Eine Reform des deutschen Ehemündigkeitsrechts und der ordre publicRegelung in diesem Bereich war notwendig. Die Umsetzung in der Form des Gesetzes zur Bekämpfung von Kinderehen vom 17. Juli 2017 weist jedoch einige (zum Teil verfassungsrechtlich bedenkliche) Schwachstellen auf. So trägt das Gesetz mit der Unwirksamkeit der Ehe von Unter-16-Jährigen und der starken Verkürzung des Ermessens von Behörden und Gerichten den Positionen der Minderjährigen nicht genügend Rechnung und setzt daher das Ziel der Neuregelung überschießend um. Wegen der erheblichen nachteiligen zivilrechtlichen und sozialen Folgen für den Minderjährigen ist ferner die Vereinbarkeit der „Unwirksamkeitslösung“ mit dem deutschen Verfassungsrecht und der EMRK zweifelhaft. Auch gibt es Stimmen, die vor einem zunehmenden „Rechtskolonialismus“ auch im IPR warnen. So hat insbesondere das Anheben der Ehemündigkeit auf 18 Jahre letztlich auf Inlandsehen wenig Auswirkungen 405, sondern wird hauptsächlich indirekt zur Abwehr von Auslandsehen benötigt. 406 Der Minderjährigenschutz als gesellschaftspolitisches Anliegen und das Kindeswohl rechtfertigen angesichts zunehmender Migration jedoch grundsätzlich Maßnahmen dieser Art. Eine großzügigere Anerkennung von Auslandskinderehen würde de facto auf eine Schlechterstellung von ausländischen minderjährigen Mädchen hinauslaufen, was einen Verstoß gegen das Gebot der Geschlechtergleichbehandlung in Art. 3 Abs. 2 GG darstellen würde. Die weniger geglückten Punkte wie die nachteiligen Folgen der syste mwidrigen Unwirksamkeitslösung für den Minderjährigen, lassen sich ferner de lege lata durch Analogien abfedern.407
402
Dies zeigt auch ein rechtsvergleichender Blick in Staaten wie die USA oder Großbritannien, wo das lex fori-Prinzip dominiert, vgl. Mansel, in: Nolte u.a. (Hrsg.), Pluralistische Gesellschaften und Internationales Recht, 2008, S. 137, 189. 403 Ibid. 404 Siehe die Einführung im 1. Teil, Kap. 1, D. 405 Vgl. zum Gebrauch der Dispensmöglichkeit in jüngster Zeit oben Fn. 1152. 406 Coester-Waltjen, IPRax 2017, 429, 430. 407 Weller/Thomale/Hategan/Werner, FamRZ 2018, 1289, 1296.
2. Kapitel: Kollisionsrechtliche Behandlung von Minderjährigenehen
247
So zählt zum gelungenen Teil des neuen Gesetzes der neue spezielle ordre public, der insgesamt mehr Rechtssicherheit und Rechtsklarheit schafft. Insgesamt ist der den Diskussionen um das neue Gesetz innewohnende zentrale Konfliktpunkt des Widerspruchs zwischen mehr Rechtssicherheit und klarheit und der Einzelfallgerechtigkeit in diesem sensiblen Bereich zugunsten ersterer aufzulösen. Nur so kann ein wichtiges politisches Zeichen gegen Kinderehen gesetzt und sich der europäischen Entwicklung auf dem Gebiet der Ehemündigkeit angepasst werden. Problematisch bei der Diskussion um den Entwurf des Gesetzes war vor allem ihre emotionale Aufgeladenheit. Umso wichtiger ist es, dass es nun bei seiner Umsetzung den Betroffenen hinreichend kommuniziert wird und eine Aufklärung über die Rechtsfolgen und fachkundige Beratung über die Möglichkeiten der jungen Paare – z.B. dass die Unwirksamkeit der Ehe keine zwingende Trennung bedeutet – gewährleistet ist. Ansonsten besteht die Gefahr, dass sich der Zweck des Gesetzes, unter anderem auch Integration, in sein Gegenteil verkehrt und es beispielsweise zu einem Untertauchen der Beteiligten kommt und so die Entstehung von Parallelgesellschaften gefördert wird. Aus europäischer Perspektive ist problematisch, dass Kinderehen zwar in den meisten Mitgliedstaaten als ordre public-widrig angesehen werden, die Handhabung im konkreten Fall jedoch keinen einheitlichen Maßstäben unterliegt. Zudem gibt es Unterschiede bezüglich des zulässigen Mindestalters für die Eheschließung. Diese Uneinheitlichkeit führt insgesamt zu Problemen hinsichtlich der Anerkennung von Statusverhältnissen bei einem Statutenwechsel durch innereuropäische Grenzübertritte. 408 In Belgien beispielsweise kann die Ehe, obwohl nach anwendbarem ausländischen Recht wirksam, die Anerkennung wegen ordre public-Verstoßes versagt werden. Allerdings erlaubt das belgische Recht selbst die Eheschließung Minderjähriger nach einem familiengerichtlichen Verfahren. Zuletzt hatte der belgische Justizminister im Juni 2016 im Parlament zu einer sorgfältigen Abwägung im Einzelfall unter Berücksichtigung der involvierten Interessen aufgerufen. Als problematisch wird im Flüchtlingskontext zudem empfunden, dass Paare, die aus einem Minderjährigen und einem Erwachsenen bestehen, häufig zunächst in unterschiedlichen Asylunterkünften untergebracht werden. Über die aktuelle konkrete Praxis der belgischen Behörden im
408 Vgl. Study for the JURI committee „Private International Law in a Context of Increasing International Mobility: Challenges and Potential” des Europäischen Parlaments, PE 583.157, June 2017, S. 20 f., abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020).
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Vierter Teil: Herausforderungen im Internationalen Eherecht
Umgang mit minderjährigen Verheirateten lässt sich aber mangels statistischer Daten keine Aussage treffen. 409 In Frankreich gibt es in Art. 145 Code Civil eine vergleichbare Dispensregelung wie in Belgien und auch die Anerkennung ausländischer Minderjährigenehen wird eher großzügig gehandhabt. Es gibt jedoch keine statistischen Daten. Anders als in Deutschland und Schweden wird die Thematik aber bisher weder in der Öffentlichkeit noch rechtspolitisch diskutiert. 410 Angesichts dieser doch unterschiedlich scheinenden Praxis in den Mitgliedstaaten wäre es daher auch wünschenswert, dass der Unionsgesetzgeber die Problematik von Kinderehen einer einheitlichen Lösung zuführt. E. Zusammenfassung in Thesenform 1. Reformbedarf auf dem Gebiet der Ehemündigkeit Die uneinheitliche Handhabung der ordre public-Prüfung durch die Rechtsprechung im Bereich der Minderjährigenehe mündet in die Feststellung eines Reformbedürfnisses und stützt zudem die These aus dem zweiten Teil der Arbeit, dass das Personalstatut von Schutzmigranten einheitlich an den gewöhnlichen Aufenthalt angeknüpft werden sollte. 2. Anhebung des Ehemündigkeitsalters Die Anhebung des Ehemündigkeitsalters auf achtzehn Jahre in § 1303 S. 1 BGB sowie das Erstrecken der Neuregelung auf Auslandsehen durch den speziellen ordre public des Art. 13 Abs. 3 EGBGB ist aus Gründen des Minderjährigenschutzes, der Geschlechtergleichstellung und der erzielten Rechtssicherheit zu begrüßen. 3. Ungeeignete Unwirksamkeitslösung Kritikwürdig ist hingegen die pauschale Unwirksamkeit von Ehen Minderjähriger, die das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, da sie keinen Raum für Einzelfallgerechtigkeit lässt. Wegen der erheblichen nachteiligen zivilrechtlichen und sozialen Folgen für den Minderjährigen ist zudem die Vereinbarkeit der „Unwirksamkeitslösung“ mit dem deutschen Verfassungsrecht und der EMRK zweifelhaft. 409
Vgl. Study for the JURI committee “Private International Law in a Context of Increasing International Mobility: Challenges and Potential” des Europäischen Parlaments, PE 583.157, June 2017, S. 21, abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020). 410 Vgl. Study for the JURI committee „Private International Law in a Context of Increasing International Mobility: Challenges and Potential” des Europäischen Parlaments, PE 583.157, June 2017, S. 21 f., abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020).
3. Kapitel: Kollisionsrechtliche Behandlung polygamer Ehen
249
4. Vorschlag de lege lata De lege lata sollte § 1318 BGB n.F. mit seiner Scheidungsfolgenanwendung im Rahmen der Aufhebung daher auf die nichtige Ehe entsprechend angewendet werden. Dadurch wird dem dargestellten Dauercharakter der Ehe hinreichend und besser Rechnung getragen als durch eine pauschale Unwirksamkeit. 5. Vorschläge de lege ferenda De lege ferenda sollte es statt der jetzigen starren Altersgrenzen mit festen Rechtsfolgen ein gerichtliches Aufhebungsverfahren für alle Minderjährigen ab 14 Jahren geben. Auch bei der Unwirksamkeit von Ehen von Unter-14Jährigen sollte zur Feststellung von Folgesachen ein familienrechtliches Verfahren durchgeführt werden. Insgesamt ist den Behörden zudem bei der Entscheidung über eine Antragstellung und den Gerichten im anschließenden Verfahren mehr Ermessen einzuräumen.
3. Kapitel: Kollisionsrechtliche Behandlung polygamer Ehen 3. Kapitel: Kollisionsrechtliche Behandlung polygamer Ehen
A. Einführung Bisher standen polygame Ehen kaum im Fokus der Öffentlichkeit, was sich aber durch ihre zunehmende Präsenz seit der sogenannten Flüchtlingskrise von 2015 geändert hat. Daher hat der Gesetzgeber wie auch hinsichtlich der „Kinderehen“ Handlungsbedarf gesehen und die polygame Ehe als Widerspruch zu den „auf Gleichberechtigung ausgelegten Grundwerten unserer Rechtsordnung“ identifiziert.411 Das bayerische Justizministerium hat am 05.06.2018 einen „Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung von Mehrehen“ vorgelegt, der sich hinsichtlich der technischen Ausgestaltung stark am „Gesetz zur Bekämpfung von Kinderehen“ orientiert. Ebenso wie bei einer Minderjährigenehe soll in Zukunft auch die Anerkennung einer polygamen Ehe in Deutschland ausgeschlossen sein. Begründet wird dies vor allem mit einem zunehmenden Auftreten des Phänomens der Mehrehe. 412 Der Rechtsausschuss des Bundesrats hat am 25.06.2018 die Einbringung des Entwurfs in den Bundestag empfohlen.413
411 Gesetzesantrag des Freistaates Bayern – Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung von Mehrehen, BR-Drs. 249/18. 412 BR-Drs. 249/18, S. 1. 413 Vgl. Empfehlungen der Ausschüsse, BR-Drs. 249/18, 1 sub A 1 und B 2.
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Vierter Teil: Herausforderungen im Internationalen Eherecht
Die Schließung einer Mehrehe ist in Deutschland gem. § 1306 BGB414 grundsätzlich nicht möglich und bei Verstoß gegen dieses Verbot nach den §§ 1313 ff. BGB aufhebbar. Trotzdem gibt es in Deutschland gelebte Mehrehen, wenn deren Wirksamkeit sich gem. Art. 13 Abs. 1 EGBGB nach einem Heimatrecht der Eheschließenden richtet, das die Polygamie erlaubt und die Anerkennung nicht gem. Art. 6 EGBGB zu versagen ist. Laut der Gesetzesbegründung ist gerade im Umgang mit dem ordre public die Rechtsprechung uneinheitlich, sodass der Bedarf nach klareren Rechtsregeln bestehe.415 Zudem widerspreche die Anerkennung von Mehrehen der in Art. 3 Abs. 2 GG geschützten Gleichberechtigung. Diese insgesamt unbefriedigende Rechtslage begründe einen Reformbedarf. 416 Als Lösung wird eine Regelung zur Aufhebbarkeit aller nach ausländischem Recht geschlossenen Mehrehen vorgeschlagen, sofern die Ehepartner ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland haben. 417 Bei dem „Gesetz zur Bekämpfung von Kinderehen“ standen der Minderjährigenschutz und die Schaffung von Rechtssicherheit im Vordergrund, sodass seine Intention grundsätzlich begrüßenswert war (s.o.). Bevor ein solches weitgehend positives Fazit zum bayerischen Entwurf gezogen werden kann, ist zu untersuchen, ob die in dem Entwurf genannten Gründe für einen Änderungsbedarf tatsächlich verfangen. Im Rahmen der Darstellung der aktuellen Rechtslage wird die herrschende Literaturmeinung ausgewertet und unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung zu den Rechtsfolgen polygamer Ehen untersucht (dazu B.). Vor diesem Hintergrund wird anschließend der Gesetzesentwurf einer kritischen Würdigung unterzogen (dazu C.). Das Kapitel schließt mit einer Zusammenfassung in Thesenform (dazu D.). B. Behandlung polygamer Ehen nach dem geltendem Recht Bei der rechtlichen Behandlung polygamer Ehen de lege lata sind verschiedene Konstellationen zu unterscheiden: die polygame Eheschließung vor dem deutschen Standesamt (dazu I.), im Ausland (dazu II.) und in Deutschland vor einer ermächtigten Trauperson (dazu III.).
414
„Eine Ehe darf nicht geschlossen werden, wenn zwischen einer der Personen, die die Ehe miteinander eingehen wollen, und einer dritten Person eine Ehe oder eine Lebenspartnerschaft besteht.“ 415 BR-Drs 249/18, S. 2. 416 BR-Drs 249/18, S. 3. 417 BR-Drs 249/18, S. 3 f.
3. Kapitel: Kollisionsrechtliche Behandlung polygamer Ehen
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I. Eheschließung vor dem deutschen Standesamt 1. Aktuell polygame Ehe Die Eheschließung, die zur Polygamie führen würde, ist für Inländer vor dem Standesamt wegen § 1306 BGB nicht möglich. Für Mehrstaater mit deutscher Staatsangehörigkeit gilt dies ebenso, da gem. Art. 5 Abs. 1 S. 2 EGBGB das deutsche Eheschließungsstatut Anwendung findet. 418 Auch bei Konventionsflüchtlingen und anerkannten Asylberechtigten findet gem. Art. 12 Abs. 1 GFK nunmehr deutsches Recht Anwendung, wenn sie zum Zeitpunkt der Eheschließung bereits ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hatten.419 Das Polygamieverbot umfasst im Rahmen des § 1306 BGB sowohl die erneute Heirat eines Deutschen als auch die Heirat einer bereits verheiraten Person, auch wenn diese ein polygames Ehestatut hat (zweiseitiges Ehehindernis).420 Das Verbot greift auch dann ein, wenn die erste Ehe zwar geschieden wurde, die Scheidung aus Sicht des deutschen Rechts jedoch nicht wirksam ist. 421 Insbesondere hinsichtlich einer bestehenden Erstehe stellen sich auch praktische Hürden. So ist bei fehlender Registrierung oder nicht registrierter Privatscheidung kein Nachweis möglich, ob die Erstehe tatsächlich besteht.422 Selbst wenn beide Partner ein ausländisches Ehestatut haben, welches die Mehrehe erlaubt, ist eine Eheschließung in Deutschland wegen des Verstoßes gegen „wesentliche Grundsätze des deutschen Rechts“ (Art. 6 EGBGB) und aufgrund des zu beteiligenden Standesbeamten ausgeschlossen. Der Monogamiegrundsatz findet Ausdruck in Art. 6 GG, dem das Bild der Einehe zugrunde liegt sowie im familienrechtlichen § 1306 BGB und im strafrechtlichen Verbot des § 172 StGB. Auch Art. 3 Abs. 2 GG spielt eine Rolle, da oft nur Männern die polygame Ehe offensteht. Daran ist der Standesbeamte als Vertreter der Exekutive gem. Art. 1 Abs. 3 GG stets gebunden. 423 Gleiches gilt für die deutschen Gerichte, sodass auch die Klage auf Herstellung einer aktuell polygamen ehelichen Gemeinschaft ausgeschlossen ist. 424 418
Dethloff, FS Schwenzer, 2011, 409, 413. Für die Auslegung von Art. 12 Abs. 1 GFK siehe oben 2. Teil, 3. Kap. 420 Coester-Waltjen/Heiderhoff, JZ 2018, 762; Helms, StAZ 2012, 2 f. 421 Coester/Coester-Waltjen, FamRZ 2016, 1618, 1622. 422 Zur offenen Rechtslage vgl. Antomo, NJW 2018, 435; Coester-Waltjen, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinkhammer/Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 131, 144. 423 Ganz h.M.: Coester/Coester-Waltjen, FamRZ 2016, 1618; CoesterWaltjen/Heiderhoff, JZ 2018, 762 f.; Coester-Waltjen, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/ Klinkhammer/Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 131, 135; Dethloff, in FS Schwenzer, 2011, S. 409, 413; v. Hein, in: Juristische Studiengesellschaft Jahresband, 2018, S. 29, 67; Helms, StAZ 2012, 2 f. 424 Mankowski, in: Staudinger, BGB, 2010, Art. 13 EGBGB Rn. 252. 419
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Vierter Teil: Herausforderungen im Internationalen Eherecht
Im Rahmen eines deutschen Ehestatuts ist die Ehe bei einem Verstoß gegen das Verbot gem. § 1314 Abs. 1 Nr. 2 BGB aufhebbar, wenn sie nicht nach einem weiteren beteiligten Ehestatut bereits nichtig ist. 425 Der Verstoß kann auch nicht gem. § 1315 BGB (etwa durch Auflösung der ersten Ehe) geheilt werden.426 Wenn schon ein Scheidungs- oder Aufhebungsurteil existiert, dem nur noch die Rechtskraft fehlt, kann das Aufhebungsverfahren der Zweitehe aber gem. § 1315 Abs. 2 Nr. 1 BGB ausgesetzt werden.427 Die dargestellte Sichtweise ist zudem mit den Grundrechten der betroffenen Personen vereinbar. Die Eheschließungsfreiheit aus Art. 6 Abs. 1 GG schützt nur die Eingehung der Einehe und die polygame Eheschließung stellt keine Religionsausübung dar, sodass auch ein Eingriff in die Religionsfreiheit nach Art. 4 GG zu verneinen ist. 428 In anderen europäischen Rechtsordnungen wird die aktuell polygame Ehe ähnlich gehandhabt, zum Beispiel in Schweden, wo sogar stets schwedisches Recht auf die Inlandseheschließung Anwendung findet. 429 2. Potentielle Polygamie Anders liegt der Fall bei einer potentiellen Polygamie, nämlich, wenn das Heimatrecht beider oder eines Verlobten die Polygamie zulässt, sie jedoch noch nicht verheiratet sind bzw. eine frühere Ehe bereits aufgelöst wurde. Hier würde die Verweigerung der Anwendung des ausländischen Rechts durch den Standesbeamten die Eheschließungsfreiheit aus Art. 6 Abs. 1 GG unverhältnismäßig einschränken. 430 II. Polygame Eheschließung im Ausland Dass ein rechtlicher Status im Ausland nach fremdem Recht begründet wurde, verhindert grundsätzlich nicht die Anerkennung dieses Status. Einen größeren Begründungsaufwand erfordern allerdings Rechtsfiguren wie die Polygamie, die dem deutschen Recht an sich fremd sind. 425
Coester-Waltjen, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinkhammer/Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 131, 145; Mankowski, in: Staudinger, BGB, 2010, Art. 13 EGBGB Rn. 257 f. 426 Hahn, in: BeckOK, BGB, 2020, § 1315 BGB Rn. 10; Wellenhofer, in: MünchKommBGB, 2019, § 1315 BGB Rn. 1. 427 Hahn, in: BeckOK BGB, 2020, § 1315 BGB Rn. 10 f. 428 Mankowski, in: Staudinger, BGB, 2010, Art. 13 EGBGB Rn. 252. 429 Dethloff, FS Schwenzer, 2011, 409, 414; für weitere rechtsvergleichende Beispiele vgl. Nishitani, RdC 401 (2019), 143, 193 f. 430 Coester-Waltjen, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinkhammer/Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 131, 133 f. m.w.N.; Mankowski, in: Staudinger, BGB, 2010, Art. 13 EGBGB Rn. 247 f.; zur Entwicklung der Rechtslage in England diesbezü glich vgl. Nishitani, RdC 401 (2019), 143, 195.
3. Kapitel: Kollisionsrechtliche Behandlung polygamer Ehen
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1. Allgemeines zur Wirksamkeit Bei der Beteiligung von deutschen Staatsangehörigen greift § 1306 BGB als zweiseitiges Ehehindernis ein, allerdings wegen Art. 6 Abs. 1 GG, wie oben ausgeführt, nicht bei einer potentiell polygamen Ehe. 431 Haben beide Ehepartner ein ausländisches Eheschließungsstatut, ist eine ordre public-Prüfung vorzunehmen, die bei Flüchtlingen aus Art. 12 Abs. 2 S. 2 GFK und im Übrigen aus Art. 6 EGBGB folgt. 432 Im Rahmen dieser Prüfung ist festzustellen, ob die Wirksamkeit der Ehe im konkreten Fall mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts vereinbar ist. Dabei ist zu berücksichtigen, dass deutsche Gerichte mit der Wirksamkeit einer im Ausland geschlossenen polygamen Ehe häufig nur im Rahmen der kollisionsrechtlichen Vorfrage konfrontiert sind, wenn es um die Rechtsfolgen einer wirksamen Ehe etwa aus dem Unterhalts-, Güter-, Abstammungs- oder Erbrecht geht. Eine Vorfrage weist in der Regel einen geringeren Inlandsbezug auf, als wenn darüber als Hauptfrage zu entscheiden wäre, sog. effet atténué des ordre public.433 Zudem weist die Eheschließung im Ausland per se einen geringeren Inlandsbezug auf. Aufgrund dieser räumlichen Relativität des ordre public434 wird in der Rechtsprechung und herrschenden Literatur die Wirksamkeit bejaht, wenn folgende Voraussetzungen kumulativ gegeben sind: Zunächst muss die polygame Ehe aus Sicht des nach Art. 13 Abs. 1 EGBGB anwendbaren Rechts, also nach dem Eheschließungsstatut beider Verlobten, wirksam sein. 435 Ferner muss die Ehe unter Einverständnis aller Beteiligten (insbesondere der Erstfrau) im Ausland geschlossen worden sein, sodass auch ein hinreichender Inlandsbezug ausscheidet. 436
431 Coester-Waltjen, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinkhammer/Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 131, 136. 432 Coester-Waltjen/Heiderhoff, JZ 2018, 762, 765. 433 v. Hein, in: MünchKommBGB, 2018, Art. 6 EGBGB Rn. 190 f.; Nishitani, RdC 401 (2019), 143, 330 ff. 434 v. Hein, in: Juristische Studiengesellschaft Jahresband, 2018, S. 29, 67 bezeichnet die im Ausland geschlossene polygame Ehe als „Schulbeispiel“ der örtlichen Relativität des ordre public. 435 Dabei darf es sich nur um staatliches Recht handeln, vgl. Coester/Coester-Waltjen, FamRZ 2016, 1618, 1624. 436 H.M.: BVerwG Urteil v. 30.4.1985 – 1 C 33/81, NJW 1985, 2097; Coester/CoesterWaltjen, FamRZ 2016, 1618, 1624 f.; Dethloff, FS Schwenzer, 2011, 409, 414; Helms, StAZ 2012, 2, 3; Mankowski, in: Staudinger, BGB, 2010, Art. 13 EGBGB Rn. 251; Mansel, in: Nolte u.a. (Hrsg.), Pluralistische Gesellschaften und Internationales Recht, 2008, S. 137, 198 f.; Spickhoff, JZ 1991, 323, 326; a.A. Weller/Thomale/Zimmermann, JZ 2017, 1080, 1081 ff. nach denen die Verweisung auf ein nur die Polygynie zulassendes ausländisches Recht wegen der abstrakten Geschlechterdiskriminierung zu „cupieren“ wäre.
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Vierter Teil: Herausforderungen im Internationalen Eherecht
Sind diese Bedingungen erfüllt, wird die Ehe steuerrechtlich und sozialversicherungsrechtlich anerkannt. Auch einer Einbürgerung steht das Führen einer polygamen Ehe grundsätzlich nicht entgegen, da es ein Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung im Sinne des § 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StAG nicht ausschließt.437 Andernfalls würde durch die Nichtanerkennung ein hinkendes Rechtsverhältnis erzeugt, unter dessen Folgen vor allem die zweite Ehefrau, die gutgläubig auf die Wirksamkeit ihrer Ehe vertraut, und aus der Zweitehe hervorgegangene Kinder zu leiden hätten. 438 Dem steht auch der Tatbestand des § 172 StGB nicht entgegen, da er nicht das bigamische Zusammenleben sondern die Schließung der bigamischen Ehe unter Strafe stellt. 439 Zu beachten ist aber, dass auch, wenn ein ordre publicVerstoß verneint wurde, eine Klage auf Herstellung der ehelichen Lebensgemeinschaft in Deutschland dennoch unzulässig bleibt. 440 Anders kann die Einzelfallbewertung hingegen ausfallen, wenn mit der Eheschließung im Ausland das Verbot des § 1306 BGB gezielt umgangen wurde und das spätere Führen der Ehe in Deutschland feststand. In diesem Fall ist eine im Ausland geschlossene Mehrehe auch zum Schutz der Erstfrau aufhebbar, wobei auch die zuständige Behörde gem. § 1316 Abs. 1 Nr. 1 BGB den Aufhebungsantrag stellen kann. 441 Ähnlich liegt es, wenn alle Beteiligten ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland haben und die zweite Ehe mittels Ferntrauung im Heimatstaat geschlossen wird. 442 Das BVerwG sieht ein solches Verhalten zudem als Hinweis auf eine fehlende Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse an, was einer privilegierten Einbürgerung von Ehegatten gem. § 9 StAG entgegenstehe. 443 Bei Flüchtlingen scheidet diese Konstellation aus, da sie ohnehin ein deutsches Eheschließungsstatut haben und somit schon § 1306 BGB greift.444 In Schweden wurde dieser Aspekt des hinreichenden Inlandsbezugs in der Reform des Eherechts von 2004 für alle Ausländer normiert. So ist nach schwedischem Kollisionsrecht die Anerkennung einer ausländischen Ehe zu versagen, wenn zum Zeitpunkt der Eheschließung ein Ehehindernis nach schwedischem Recht (Verbot
437
VGH Mannheim, Urteil v. 25.4.2017 – 12 S 2216/14, NVwZ 2017, 1212, Rn. 34. Vgl. Dethloff, FS Schwenzer, 2011, 409, 414 f.; Helms, StAZ 2012, 2, 3. 439 Helms, StAZ 2012, 2, 3. 440 Coester/Coester-Waltjen, FamRZ 2016, 1618, 1625; Coester-Waltjen/Heiderhoff, JZ 2018, 762, 765; Mankowski, in: Staudinger, BGB, 2010, Art. 13 EGBGB Rn. 252. 441 AG Hanau, Urteil v. 7.6.2002 – 60 F 1451/01 E1, juris Rn. 22 ff. 442 Coester-Waltjen/Heiderhoff, JZ 2018, 762, 765. 443 BVerwG, Urteil v. 29.5.2018 – 1 C 15/17, juris Rn. 21 ff. 444 Coester-Waltjen/Heiderhoff, JZ 2018, 762, 764. 438
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der Doppelehe, fehlende Ehemündigkeit) vorlag und mindestens ein Ehegatte Schwede bzw. in Schweden ansässig war. 445 Es kann zudem problematisch sein, wenn die in erster Ehe verheiratete Frau einem monogamen Ehestatut unterliegt und der Mann im Heimatland eine Zweitfrau heiratet, deren Statut die Mehrehe ebenfalls erlaubt. Diese Frau sollte dann wegen der Verletzung der monogamen Erstehe und der Gleichberechtigung die Scheidung auch ohne das Trennungsjahr einreichen können. Wird die polygame Ehe in Deutschland gelebt, ist der Inlandsbezug ausreichend, um die Ehe wegen eines ordre public Verstoßes aufheben zu lassen. Das Recht zur Antragstellung kommt beiden Frauen und den zuständigen Behörden zu. Sind hingegen alle Beteiligten mit der Führung einer Mehrehe einverstanden, sollte auch aufseiten der Behörde von einem Aufhebungsantrag abgesehen werden.446 2. Schutz durch Grundgesetz und EMRK? Das Ergebnis der herrschenden Meinung könnte zudem eine Stütze im Grundgesetz und in der EMRK finden. Der Schutz der Eheschließungsfreiheit aus Art. 6 GG kommt prinzipiell auch Ausländern zugute und der Ehebegriff der Verfassung ist nicht mit dem des BGB gleichzusetzen, der eindeutig die Einehe voraussetzt (vgl. § 1306 BGB).447 Unter den Ehebegriff des Grundgesetzes können grundsätzlich auch hinkende Ehen fallen, deren Anerkennung jedoch vom jeweiligen Einzelfall abhängt. 448 Das Bundesverfassungsgericht erkennt hinkende Ehen in Bezug auf ihre Rechtsfolge in Form eines Anspruchs auf Witwenrente als wirksam an. So stellte es in einem Urteil aus dem Jahr 1983 fest: „Grundsätzlich unterliegt auch eine so zustande gekommene sogenannte hinkende Ehe dem Schutz des Art. 6 I GG. Der in § 13 EheG [a.F.; jetzt § 1310 BGB] vorgesehenen Mitwirkung eines Standesbeamten als Voraussetzung für eine wirksame Eheschließung nach deutschem Recht kommt als Ordnungselement zwar wesentliche Bedeutung zu. Nicht minder wesentlich ist aber auch die Willensübereinstimmung der Verlobten, miteinander die Ehe eingehen zu wollen […]. Partner, die bei Abschluß einer ‚hinkenden Ehe‘ ihre Verbindung als dauernde Gemeinschaft beabsichtigen und versprechen, haben insoweit die 445
Kap. 1 § 8a Abs. 1 des schwed. Gesetz über gewisse internationale Rechtsverhältnisse hinsichtlich Ehe und Vormundschaft (1904:26 S. 1); vgl. dazu Dethloff, FS Schwenzer, 2011, 409, 416. 446 Vgl. zum Ganzen Coester-Waltjen, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinkhammer/ Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 131, 143 f.; Mankowski, in: Staudinger, BGB, 2010, Art. 13 EGBGB Rn. 253 f. 447 Vgl. bereits den „Spanierbeschluss“ des BVerfG, Beschluss v. 4.5.1971 – BvR 636/68, NJW 1971, 1509 sowie zum Ehebegriff BVerfG Urteil v. 17.7.2002 – 1 BvF 1/01, BeckRS 2012, 55617; Coester-Waltjen, FS Henrich, 2000, 91 f.; Mankowski, FamRZ 2018, 1134, 1135. 448 Vgl. dazu nur BVerfG, Beschluss v. 30.11.1982 – 1 BvR 818/81, NJW 1983, 511.
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Voraussetzungen für eine Ehe erfüllt. Da ihre lebenslange personale Gemeinschaft zudem durch die für den anderen Verlobten maßgebliche Rechtsordnung anerkannt wird, kann dieser Verbindung der Schutz des Art. 6 GG I GG jedenfalls dann nicht versagt werden, wenn es sich um den Anspruch auf Versorgung nach dem Tode eines Partners handelt.“449
Diese Rechtsprechung hat auch das Ziel, den wirtschaftlichen Zusammenhalt einer Familie zu fördern.450 So ist der Unterhalt für Ehefrauen oder eine Rente für viele Witwen von existenzieller Bedeutung. Ohne eine solche Sicherung wäre ihre wirtschaftliche Situation auch während der bestehenden Ehe, wenn die Frau z.B. wegen Kindererziehung keiner Erwerbstätigkeit nachgeht, erheblich belastet.451 Gerade die Ehefrauen bedürfen daher des Schutzes aus Art. 6 Abs. 1 GG. Ob die Zweitfamilie darüber hinaus aber über den ebenfalls in Art. 6 Abs. 1 GG enthaltenen weiter auszulegenden Begriff der Familie Schutz erhält, ist von den Umständen des Einzelfalls abhängig, etwa dem Vorhandensein gemeinsamer Kinder. 452 Auf der anderen Seite kann der Gesetzgeber im Rahmen seiner Gestaltungsfreiheit bestimmen, auf welche Weise er den ihm aufgetragenen Schutz der Ehe verwirklichen will. 453 So unterliegt der verfassungsrechtliche Ehebegriff auch den gewandelten gesellschaftlichen Anschauungen. 454 Dabei ist auch der Anstieg ausländischer Ehen zu berücksichtigen, deren Beteiligte in die Wirksamkeit ihrer Ehe auch nach einer Grenzüberschreitung vertrauen. 455 Dem verfassungsrechtlichen Begriff liegen nach wie vor Strukturmerkmale zugrunde, die von den europäischen Werten geprägt sind und zu denen die Monogamie und Gleichberechtigung gehören. Die Polygamie prinzipiell zuzulassen, widerspräche daher der in den europäischen Verfassungen verankerten Gleichberechtigung von Mann und Frau, da sie patriarchalische Strukturen in der Familie befördert. Zudem sind die psychischen Folgen, die aus dem Zusammenleben in der polygamen Gesellschaft resultieren, gerade für die beteiligten Frauen oft negativ (Ungleichbehandlungen, Rivalität, etc.). 456 Die Untersuchung des Ehebegriffs des Art. 12 EMRK führt zu keinem abweichenden Ergebnis, da es für die Wahrung der Eheschließungsfreiheit genügt, zu gewährleisten, dass man heiraten und sich seinen Ehepartner auswählen darf. Im Detail dürfen die jeweiligen Mitgliedstaaten die Eheschließungsvoraussetzungen und Ehehindernisse in ihrem nationalen Recht frei regeln, wobei über das Bigamieverbot in den europäischen Staaten weitge449
BVerfG, Beschluss v. 30.11.1982 – 1 BvR 818/81, NJW 1983, 511, 512. 450 BVerfG, Beschluss v. 18. 3. 1970 – 1 BvR 498, NJW 1970, 1176; BVerfG, Beschluss v. 10.2.1982 – 1 BvL 116/78, NJW 1982, 1863. 451 Coester-Waltjen/Heiderhoff, JZ 2018, 762 ff.; Dutta, FamRZ 2018, 1141 ff. 452 Vgl. z.B. BVerwG, Urteil v. 30.4.1985 – 1 C 33/81, NJW 1985, 2097. 453 BVerfG, Urteil v. 6.6.1978 – 1 BvR 102/76, NJW 1978, 1849, 1851. 454 Dethloff, FS Schwenzer, 2011, 409, 419; Mankowski, FamRZ 2018, 1134, 1135 f. 455 Mankowski, FamRZ 2018, 1134, 1135. 456 Dethloff, FS Schwenzer, 2011, 409, 420.
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hend Konsens herrscht. 457 Aber auch im Rahmen der EMRK legt der in Art. 8 EMRK enthaltene weitere Familienbegriff zumindest einen Teilschutz der Zweitfamilie nahe. 458 Die Religionsfreiheit aus Art. 4 Abs. 2 GG und Art. 9 EMRK wird nicht tangiert. Zum einen werden Rechte Dritter (hier der Frau auf Gleichberechtigung) beeinträchtigt und zum anderen ist die Mehrehe in den Religionen wie zum Beispiel im Koran erlaubt, aber nicht verlangt. Zusammenfassend enthalten weder Art. 6 GG noch Art. 12 EMRK ein Abwehrrecht bezogen auf Eingriffe in polygame Ehen und gebieten auch nicht die Ermöglichung einer polygamen Eheschließung für den Einzelnen. 459 Ein anderes Ergebnis verstieße gegen die verfassungsrechtlich in Art. 3 Abs. 2 GG und menschenrechtlich in Art. 14 EMRK abgesicherte Gleichberechtigung von Mann und Frau. Der Schutz der Familie als tatsächliche Gemeinschaft und der Respekt vor fremden Rechtsordnungen erfordern jedoch die Gewährleistung eines Mindestschutzes für die Beteiligten und die teilweise Anerkennung der Rechtsfolgen einer Mehrehe, auf die weiter untern gesondert noch einmal eingegangen wird. 460 III. Polygame Eheschließung in Deutschland vor einer ermächtigten Trauperson Nach Art. 13 Abs. 4 EGBGB kann eine Ehe zwischen Verlobten, von denen keiner Deutscher ist, vor einer von der Regierung des Staates, dem einer der Verlobten angehört, ordnungsgemäß ermächtigten Person in der nach dem Recht dieses Staates vorgeschriebenen Form geschlossen werden. Die staatliche Ermächtigung, insbesondere für religiöse Personen, kann nur eine staatliche Stelle erteilen und diese erfolgt stets personenbezogen nicht pauschal. 461 Die materiellen Voraussetzungen richten sich auch bei dieser Form der Eheschließung nach Art. 13 Abs. 1 EGBGB, sodass für die Wirksamkeit einer polygam geschlossenen Ehe zunächst beide Statute die Möglichkeit der Mehrehe vorsehen müssen. Hinsichtlich eines möglichen ordre publicVerstoßes kann auf die Ausführungen zur Eheschließung im Ausland verwiesen werden, da auch der Inlandsbezug wie bei Auslandsehen und nicht wie
457 458
Mankowski, FamRZ 2018, 1134, 1140. Vgl. Dethloff, FS Schwenzer, 2011, 409, 418 f.; Mankowski, FamRZ 2018, 1134,
1139. 459
So im Ergebnis Mankowski, FamRZ 2018, 1134, 1140. Dethloff, FS Schwenzer, 2011, 409, 418 f.; Helms, StAZ 2012, 2, 4; Mankowski, FamRZ 2018, 1134, 1140. 461 Die generelle gesetzliche Ermächtigung durch den ausländischen Staat kommt nur hinsichtlich konsularischer und diplomatischer Vertreter sowie für Truppenoffiziere, Militärstandsbeamte und Truppengeistliche in Betracht (vgl. Henrich, Internationales Familienrecht, 2000, S. 31). Für Geistliche hingegen ist eine personenbezogene Ermächtigung erforderlich (vgl. BGH, Beschluss v. 22.1.1965 – IV ZB 441/64, NJW 1965, 1129). 460
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Vierter Teil: Herausforderungen im Internationalen Eherecht
bei einer Eheschließung vor dem deutschen Standesamt zu beurteilen ist. 462 Greift der ordre public dennoch aus anderen Gründen ein, ist die Ehe nach § 1314 BGB aufhebbar.463 Von den Beteiligten darf keiner Deutscher im Sinne des Art. 116 GG sein. Auf Konventionsflüchtlinge mit gewöhnlichem Aufenthalt in Deutschland erstreckt sich dieser Ausschluss nicht. 464 Dennoch scheidet diese Art der Trauung für sie aus, da der Bezug auf die Staatsangehörigkeit gem. Art. 12 Abs. 1 GFK durch den gewöhnlichen Aufenthalt ersetzt wird und sie ein deutsches Personalstatut haben.465 Es greift daher das zweiseitige Ehehindernis aus § 1306 BGB. Nehmen Flüchtlinge diesen Eheschließungsakt vor, stellt sich zudem die Frage, ob sie sich im Sinne des Art. 1 C GFK wieder dem Schutz ihres Heimatlands unterstellen. Dagegen spricht jedoch, dass die Eheschließung nach Art. 13 Abs. 4 EGBGB eher eine kulturelle Verbundenheit ausdrücken dürfte als ein bewusster Akt in Richtung des Herkunftslands und seinem politischen Regime zu sein. 466 Der Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen, dass es sich bei der Eheschließung vor nicht ermächtigten Trauungspersonen um eine Nichtehe handelt, die nicht als Ordnungswidrigkeit sanktioniert wird und mangels Tatbestands auch keine Mitwirkung am § 172 StGB darstellt. 467 IV. Die Rechtsfolgen einer polygamen Eheschließung Zur Darstellung des Teilschutzes, der den polygamen Ehen durch das einfache Recht zukommt, werden einige Entscheidungen aus der Rechtsprechung vorgestellt. Sie befassen sich mit den einzelnen Rechtsfolgen bezüglich des Sozialrechts, des Abstammungsrechts, des Ausländerrechts und des Steuerrechts. Es sei zudem darauf hingewiesen, dass auch die Mehrehe bis zu ihrer Aufhebung durch ein deutsches Gericht alle Rechtsfolgen einer Ehe nach sich zieht und die Ehepartner auch personenstandsrechtlich als verheiratet anzusehen sind.468
462 Vgl. Coester, in: MünchKommBGB, 2018, Art. 13 EGBGB Rn. 68; Schurig, in: Soergel, BGB, 1996, Art. 13 EGBGB Rn. 127. 463 Coester-Waltjen, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinkhammer/Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 131, 142. 464 Coester-Waltjen, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinkhammer/Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 131, 140. 465 Siehe oben 2. Teil. 466 Coester-Waltjen, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinkhammer/Niethammer-Jürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 131, 142. 467 Vgl. Coester-Waltjen/Heiderhoff, JZ 2018, 762. 468 Vgl. Coester-Waltjen, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinkhammer/NiethammerJürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 131, 145 f.
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1. Unterhalt Unterhaltsbeziehungen aus der Mehrehe werden in der Rechtsprechung grundsätzlich anerkannt, wenn die Ehe im Heimatstaat wirksam zustande gekommen ist und im Inland anerkannt wird. 469 Das liegt vor allem daran, dass, wenn kein Unterhaltsanspruch bestünde, notfalls der Staat „einspringen“ müsste. Die Geltendmachung von vermögensrechtlichen Wirkungen der Mehrehe, wie Unterhaltsansprüchen während der Ehe und Trennungsunterhalt nach der Ehe, verletzen den ordre public daher nicht.470 Das gilt vor allem dann, wenn es um die Legitimität von Kindern aus solchen Ehen geht.471 So wurde zum Abstammungsrecht bereits entschieden, dass aus der Ehe hervorgegangene Kinder in Deutschland als ehelich anzusehen sind, auch wenn die Ehe dem hier herrschenden Monogamieprinzip widerspricht. 472 2. Stellung der Frau nach dem Tod des Mannes Das Bundessozialgericht hat in einem deutsch-marokkanischen Fall entschieden, dass es im Falle des Todes des Ehemanns von zwei Frauen trotz der Wiederheirat einer der Ehefrauen bei der anteiligen Aufteilung der Witwe nrente bleibt. Dies folge aus dem Deutsch-Marokkanischen Abkommen über Soziale Sicherheit vom 25. März 1981, das eine anteilige Aufteilung der Witwenrente vorsehe und im Übrigen der Regel des § 34 Abs. 2 SGB I entspreche. Dieser lege fest, dass Ansprüche mehrerer Ehegatten auf Witwenrente oder Witwerrente anteilig und endgültig aufgeteilt werden. 473 Ein vom LSG Hessen zu entscheidender Fall war ähnlich gelagert. Ein Marokkaner war mit einer Deutschen verheiratet und heiratete in Marokko mit dem Einverständnis der Erstfrau eine zweite Frau (Marokkanerin). Nach dem Tod der deutschen Ehefrau hatte das LSG zu entscheiden, ob der Ehemann in diesem Fall einen Anspruch auf Witwerrente hat. Das Gericht verneinte dies mit dem Argument, dass die Mehrheirat einer Wiederheirat gleichstehe und die Unterhaltsfunktion der Witwerrente dann durch die neue bzw. parallele Heirat erfüllt werde.474 Anders wäre der Fall allerdings zu entscheiden gewe469 Anerkannt z.B. von BVerwG, Urteil v. 30.4.1985 – 1 C 33/81, NJW 1985, 2097; VG Gelsenkirchen, Urteil v. 18.7.1974 – 2 K 763/72, FamRZ 1975, 338; LG Frankfurt, Beschluss v. 12.1.1976 – 2/9 T 2/76, FamRZ 1976, 217 f. 470 Andrae, Internationales Familienrecht, 2019, § 1, Rn. 131 ff.; Hohloch, in: Erman, BGB, 2017, Art. 13 EGBGB Rn. 32. 471 Anm. Jayme zu VG Gelsenkirchen, Urteil v. 18.7.1974 – 2 K 763/72, FamRZ 1975, 338, 341; Mankowski, in: Staudinger, BGB, 2010, Art. 13 EGBGB Rn. 251. 472 LG Frankfurt, Beschluss v. 12.1.1976 – 2/9 T 2/76, juris. 473 BSG, Urteil v. 30.8.2000 – B 5 RJ 4/00 R, IPRax 2003, 267 mit Anm. Jayme: „Denn damit werden – […] – die Rechtsanschauungen des Kulturkreises übernommen, dem die Bet. (Versicherter, zwei Ehefrauen) angehören“. 474 LSG Hessen, Urteil v. 29.6.2004 – L 2 RA 429/03, IPRax 2005, 43 mit Anm. Jayme.
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sen, wenn sich das Gericht auf den Standpunkt gestellt hätte, dass das monogame Ehestatut der Erstehe der weiteren Eheschließung entgegenstand, die Zweitehe daher unwirksam wäre und ein Anspruch auf Witwerrente nur aus der wirksamen Erstehe bestünde. 475 3. Steuerrecht Auch die vermögensrechtliche Anknüpfung an die Zweitehe ist laut Bundesfinanzhof zulässig. So hat er schon 1984 entschieden, dass auch der Ehemann und seine zweite Frau unter den Begriff der Ehegatten i.S.d. § 26 Abs. 1 S. 1 EStG fallen können. 476 Neben der Ehe enthalte § 26 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 EStG als gleichrangiges Tatbestandsmerkmal auch das „Nichtdauerndgetrenntleben“ und die darin enthaltende Lebens- und Wirtschaftsgemeinschaft liege auch bei einer polygamen Ehe vor. 477 Eine Zusammenveranlagung eines Steuerpflichtigen mit seiner Zweitfrau sei danach jedenfalls dann zulässig, wenn die erste Ehefrau nicht ebenfalls unbeschränkt einkommenssteuerpflichtig sei. Zudem dürfe die zweite Ehe nicht in Deutschland geschlossen worden sein, da in diesem Fall aufgrund des starken Inlandsbezugs ein ordre public-Verstoß vorliegen würde.478 4. Ausländerrecht Die Frage nach der Anerkennung einer polygamen Ehe durch die Rechtsprechung hat im Fluchtkontext eine entscheidende Auswirkung darauf, ob der Familie bzw. Ehefrau eines Konventionsflüchtlings oder subsidiär Schutzberechtigten ein Nachzugsrecht zukommt oder ihnen ein Aufenthaltstitel gewährt wird. Hinsichtlich Konventionsflüchtlingen wird Familienasyl nach § 26 AsylG auch gewährt, wenn die Ehe nach deutschem Recht unwirksam ist. Voraussetzung ist nur das Vorliegen einer Ehe, die „schon in dem Staat bestanden hat, in dem der Asylberechtigte politisch verfolgt wird“, wofür eine polygame Ehe ausreicht. 479 Komplizierter gestaltet sich hingegen das Nachzugsrecht. Weder Art. 6 Abs. 1 GG noch Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG begründen einen Anspruch von ausländischen Ehegatten oder Familienangehörigen auf Nachzug. 480
475
Str.: Für einen ordre public Verstoß: Gaaz StAZ 1997, 141, 142 f. Manche gehen lediglich von einem Scheidungsrecht der Erstfrau aus: Mankowski, in: Staudinger, BGB, 2010, Art. 13 EGBGB Rn. 254. 476 BFH, Urteil v. 6.12.1985 – VI R 56/82, juris, Rn. 7 ff. 477 BFH, Urteil v. 6.12.1985 – VI R 56/82, juris, Rn. 12. 478 BFH, Urteil v. 6.12.1985 – VI R 56/82, juris, Rn. 10. 479 Coester-Waltjen/Heiderhoff, JZ 2018, 762, 767. 480 BVerfG, Beschluss v. 12.5.1987 – 2 BvR 1226/83, 2 BvR 101/84, 2 BvR 313/84, NJW 1988, 626, 627.
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a) Entwicklung in der Rechtsprechung Die Rechtsprechung der Gerichte hat sich über die Jahre stark einzelfallabhängig entwickelt. Im Jahr 1974 hatte das VG Gelsenkirchen 481 über den Antrag eines Jordaniers über ein Nachzugsrecht seiner zweiten Ehefrau aus Jordanien zu entscheiden. Das Gericht sah den Antrag als begründet an, stimmte der Familienzusammenführung zu und argumentierte mit dem Wohl der gemeinsamen Kinder. Schließlich stellte es fest: „Es kann daher nicht angehen, auf dem Umweg über das Ausländerrecht einer solchen Ehe praktisch dadurch die Anerkennung zu versagen, dass man sie als Beeinträchtigung der Belange der Bundesrepublik Deutschland ansieht und damit die eigene Sitten- und Moralvorstellungen als alleinigen Wertmaßstab durchsetzt.“482
Zehn Jahre später wurden zunehmend einwanderungspolitische Aspekte thematisiert. Das BVerwG verwies einen Fall im Jahr 1985 zur Neubescheidung zurück. Die Behörde dürfe bei ihrer Ermessensentscheidung berücksichtigen, dass Deutschland nicht alle Ausländer aufnehmen könne und die Zuwanderung für eine angemessene Integration zu begrenzen sei. Zudem sei die Polygamie unserem Rechtskreis fremd und widerspreche der Gleichberechtigung von Mann und Frau. In diese Richtung hatte die Behörde aus Sicht des Gerichts keine ausreichenden Ermessenserwägungen angestellt. 483 Das mit diesen Entscheidungen aufgezeigte Spannungsverhältnis zwischen dem Schutz des Familienlebens und dem Respekt vor fremden Rechtsordnungen auf der einen Seite und integrationspolitischen Bedenken auf der anderen Seite spiegelt sich auch in den Abwägungen zweier weiterer Entscheidungen des OVG Rheinland-Pfalz von 2004 und des OVG Lüneburg von 2005 wider. Im Falle eines Konventionsflüchtlings aus dem Irak, der zwei irakische Ehefrauen hatte, klagte die zweite Frau nach vorheriger Ablehnung durch die Ausländerbehörde und das Verwaltungsgericht vor dem OVG RheinlandPfalz auf Erteilung einer ehegattenbezogenen Aufenthaltserlaubnis. 484 Das OVG urteilte im Jahr 2004, dass die Ausländerbehörde auch der Zweitfrau eine Aufenthaltserlaubnis erteilen müsse, wenn die polygame Heirat nach ausländischem Recht wirksam und die zweite Frau schon aufgrund von (Ketten-) Duldungen mehrere Jahre mit den anderen beiden in Deutschland lebe. Zwar gewähre § 17 AuslG a.F. den Nachzug nur für Ehepartner i.S.d. Art. 6 Abs. 1 GG und der schütze grundsätzlich nur die Einehe. 485 Der Klägerin sei es jedoch wegen des langen in Deutschland verlebten Zeitraums nicht 481
VG Gelsenkirchen, Urteil v. 18.7.1974 – 2 K 763/72, FamRZ 1975, 338, 339. VG Gelsenkirchen, Urteil v. 18.7.1974 – 2 K 763/72, FamRZ 1975, 338, 340. 483 BVerwG, Urteil v. 30.4.1985 – 1 C 33/81, juris, Rn. 22. 484 OVG Rheinland-Pfalz, Urteil v. 12.3.2004 – 10 A 11717/03. 485 OVG Rheinland-Pfalz, Urteil v. 12.3.2004 – 10 A 11717/03, juris, Rn. 22. 482
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mehr zuzumuten, die Lebensgemeinschaft mit ihrem Ehegatten aufzugeben. Sie könne sich mittelbar auf den Schutz der Familie in Art. 6 Abs. 1 2. Var. GG berufen und direkt auf Art. 2 GG. Zudem bestünde aufgrund des Familienlebens ein Abschiebungshindernis i.S.d. § 53 Abs. 4 AuslG a.F. i.V.m. Art. 8 EMRK.486 Auch ein Zusammenleben im Heimatstaat sei wegen der politischen Flüchtlingsstellung des Ehemanns nicht möglich. 487 Das OVG Lüneburg hingegen verneinte in seinem Urteil ein überwiegendes Interesse der Kläger an einem Nachzugsrecht der Zweitfrau. Einerseits genieße die familiäre Bindung insbesondere wegen des gemeinsamen Kleinkindes Schutz über Art. 6 Abs. 1 GG.488 Andererseits käme auch dem öffentlichen Interesse daran, den ausländischen Bevölkerungsanteil in Hinblick auf angemessene Integration zu begrenzen, ein erhebliches Gewicht zu. Das Gericht wies daher die Klage ab und führte aus: „Das gilt umso mehr, als die polygame Ehe dem europäischen Kulturkreis fremd ist, insbesondere der gleichberechtigten Stellung von Mann und Frau im Sinne des Art. 3 Abs. 2 S. 1 GG nicht entspricht und dem staatlichen Förderungsauftrag der tatsächlichen Durc hsetzung der Gleichberechtigung nach Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG widerspricht, und deshalb integrationspolitischen Bedenken begegnet.“489
b) Gesetzgebung Diese in der Rechtsprechung herrschende Einzelfallbetrachtung weicht zunehmend den strengeren Maßstäben des europäischen und nationalen Nachzugsrechts. Obwohl Art. 6 GG auch ausländische Ehen und Familien schützt, sind die aktuellen Regelungen zum Nachzug auf die Einehe zugeschnitten. So ist die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nur bei grundrechtlichem Schutz aus Art. 6 GG möglich, was bei polygamen Ehen wie gezeigt nicht der Fall ist, vgl. § 30 Abs. 4 AufenthG.490 Zudem zählt die Einehe zu den Grundprinzipien der EG-Richtlinie zum Familiennachzug in Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 1 FamRL, wonach ein Nachzug weiterer Ehefrauen (unionsweit) verboten ist.491 Bezüglich gemeinsamer Kinder können die Mitgliedstaaten eigene nationale Regeln für das Nachzugsrecht schaffen. Im deutschen Recht wird ein Nachzugsrecht nach § 32 Abs. 1 AufenthG nur gewährt, wenn beide 486
OVG Rheinland-Pfalz, Urteil v. 12.3.2004 – 10 A 11717/03, juris, Rn. 28. OVG Rheinland-Pfalz, Urteil v. 12.3.2004 – 10 A 11717/03, juris, Rn. 31. 488 OVG Lüneburg, Urteil v. 29.11.2005 – 10 LB 84/05, juris, Rn. 43 489 OVG Lüneburg, Urteil v. 29.11.2005 – 10 LB 84/05, juris, Rn. 44. 490 § 30 Abs. 4 AufenthG: „Ist ein Ausländer gleichzeitig mit mehreren Ehegatten verheiratet und lebt er gemeinsam mit einem Ehegatten im Bundesgebiet, wird keinem weiteren Ehegatten eine Aufenthaltserlaubnis nach Absatz 1 oder Absatz 3 erteilt.“ 491 RL 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung: „Lebt im Falle einer Mehrehe bereits ein Ehegatte gemeinsam mit dem Zusammenführenden im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats, so gestattet der betreffende Mitgliedstaat nicht die Familienzusammenführung eines weiteren Ehegatten“. 487
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Elternteile ein entsprechendes Aufenthaltsrecht haben. Die Kinder einer zweiten Ehefrau ohne Aufenthaltstitel sind bei gemeinsam ausgeübtem Sorgerecht folglich nicht nachzugsberechtigt. Aus Kindeswohlgesichtspunkten und in einer besonderen familiären Situation kann aber eine besondere Härte vorliegen und ein Nachzugsrecht ausnahmsweise zu gewähren sein, vgl. § 32 Abs. 4 AufenthG. 492 c) Stellungnahme Angesichts der doch divergierenden Rechtsprechung auf dem Gebiet des Nachzugsrechts ist eine gesetzliche Regelung grundsätzlich begrüßenswert. Die strenge Regelung des Nachzugsrechts soll sicherstellen, dass Polygamiefälle in Migrantenkreisen gering gehalten werden und damit die Chancen auf Herstellung von Gleichberechtigung auch als integrationspolitisches Ziel nicht vermindert werden. Zumal die Familieneinheit, wenn kein Fluchtgrund oder Gründe für den subsidiären Schutz vorliegen, auch im Heimatland hergestellt werden kann. In solchen Fällen besteht kein schutzwürdiges Vertrauen auf ein Nachzugsrecht auch der Zweitfrau. 493 Auf der anderen Seite wirkt sich eine restriktivere Handhabung des Nachzugsrechts faktisch häufig zulasten der betroffenen Frauen und gemeinsamen Kinder aus. Wenn Kinder oder die Zweitfrau als Mutter dieser Kinder nicht nachziehen dürfen, kann dies einen Eingriff in Art. 8 EMRK darstellen. Dort muss im Rahmen der möglichen Rechtfertigung stets eine Abwägung im Einzelfall zwischen dem legitimen Ziel, die Monogamie und Gleichberechtigung in der Familie zu schützen und dem Schutz der Frau und dem Wohl des Kindes vorgenommen werden. Auch die Möglichkeit des Zusammenlebens im Ausland kann sich entscheidend auswirken. Daher ist das strikte Verbot in Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 1 FamRL in Hinblick auf Art. 8 EMRK bedenklich, bietet es doch kaum den entsprechenden Auslegungsspielraum für derartige Erwägungen.494 Allerdings ist die Situation eine andere, wenn der Zweitfrau ein eigener Schutzstatus zukommt. Dies ist bei einer der des Ehemanns vergleichbaren Lebenssituation nicht unwahrscheinlich, wenn sie, etwa wegen ihrer Familienzugehörigkeit oder Angehörigkeit derselben Minderheit, ebenfalls verfolgt wird oder als Bürgerkriegsflüchtling subsidiären Schutz genießt. 495
492
Vgl. Dethloff, FS Schwenzer, 2011, 409, 417 f. Vgl. Helms, StAZ 2012, 2, 4. 494 Vgl. Dethloff, FS Schwenzer, 2011, 409, 418 f. 495 Siehe oben 2. Teil, 3. Kap., D.II.6. 493
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d) Übertragbarkeit der Rechtsprechung des EuGH zur gleichgeschlechtlichen Ehe? Es stellt sich ferner die Frage, in welchen Konstellationen ein Verweigern der Anerkennung einer polygamen Ehe einen Eingriff in das europäische Freizügigkeitsrecht darstellen kann. aa) Inhalt der EuGH Entscheidung Coman Der EuGH hat in der Rechtssache Coman496 festgestellt, dass Art. 21 Abs. 1 AEUV einem Mitgliedstaat (hier: Rumänien) verbiete, einem Drittstaatenangehörigem (hier: USA), der in einem anderen Mitgliedstaat (hier: Belgien) einen EU-Bürger (Rumäne) gleichgeschlechtlich geheiratet hat, den Aufenthalt zu verweigern. 497 Es sei keine ausreichende Begründung, dass das nationale Recht die gleichgeschlechtliche Ehe nicht kenne. 498 Ein gefestigtes Familienleben erfordere die gemeinsame Aufenthaltsnahme, die Ausdruck des Freizügigkeitsrechts sei. Andernfalls würde das Freizügigkeitsrecht gar nicht erst ausgeübt und damit seiner praktischen Wirksamkeit beraubt.499 Eine Rechtfertigung mit der eigenen öffentlichen Ordnung, die eine tatsächliche und hinreichende Gefährdung voraussetze, liege nicht vor. Zumal das Freizügigkeitsrecht nicht die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe im eigenen nationalen Recht erfordere. 500 Der EuGH stützt dieses Ergebnis auch auf eine analoge Anwendung der RL 2004/38. Diese bezieht sich zwar auf die Aufenthaltsnahme eines EU-Bürgers mit seinen Familienangehörigen in einem anderen Mitgliedstaat als dem Herkunftsstaat, deren Wertungen, in der Form des Schutz und der Gewährleistung des Familienlebens, seien aber übertragbar.501 Die Gewährung eines Aufenthaltsrechts für den gleichgeschlechtlichen Ehepartner entspreche zudem der Achtung des Privat- und Familienlebens in Art. 7 EuGRCh und Art. 8 EMRK, zu dem der EGMR entschieden hat, dass er auch homosexuelle Beziehungen schützt.
496
EuGH, Urteil v. 5.6.2018 – Rs. C-673/16, Coman u.a. ./. Ministerul Afacerilor Interne, NVwZ 2018, 1545. 497 Vgl. zum Ganzen auch Nishitani, RdC 401 (2019), 143, 161 f. 498 EuGH, Urteil v. 5.6.2018 – Rs. C-673/16, Coman u.a. ./. Ministerul Afacerilor Interne, NVwZ 2018, 1545, Rn. 45. 499 EuGH, Urteil v. 5.6.2018 – Rs. C-673/16, Coman u.a. ./. Ministerul Afacerilor Interne, NVwZ 2018, 1545, Rn. 24. 500 EuGH, Urteil v. 5.6.2018 – Rs. C-673/16, Coman u.a. ./. Ministerul Afacerilor Interne, NVwZ 2018, 1545, Rn. 37. 501 EuGH, Urteil v. 5.6.2018 – Rs. C-673/16, Coman u.a. ./. Ministerul Afacerilor Interne, NVwZ 2018, 1545, Rn. 23.
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bb) Übertragbarkeit auf das Aufenthaltsrecht polygamer Ehepartner Die Entscheidung bezieht sich zwar auf die gleichgeschlechtliche Ehe, hat aber Grundsatzcharakter, was die Anerkennung dem eigenen Recht fremder Statusverhältnisse angeht. Der EuGH hat erstmals in seiner Entscheidung Grunkin Paul im Namensrecht klargestellt, dass die Nichtanerkennung eines in einem anderen Mitgliedstaat wirksam begründeten Status einen ungerechtfertigten Eingriff in das europäische Freizügigkeitsrecht darstellen kann. 502 Hingegen bestehen bei der Polygamie im Gegensatz zur gleichgeschlechtlichen Ehe aus Sicht der öffentlichen Ordnung der europäischen Mitgliedstaaten erhebliche Bedenken, da wie oben ausgeführt, die Gleichberechtigung von Frau und Mann tangiert ist.503 Die grenzüberschreitende Anerkennung von Mehrehen, könnte aber auf den aufenthaltsrechtlichen Kontext beschränkt bleiben, sodass der Zweitfrau ein Aufenthaltsrecht zu gewähren wäre.504 Aufgrund der zunehmenden innereuropäischen Mobilität kombiniert mit einem Anstieg der Migration aus Drittstaaten wäre ein europäisches einheitliches Familienstatusrecht wünschenswert, wobei dies wohl aufgrund der bestehenden Differenzen unter den Mitgliedstaaten im Familienrecht noch in ferner Zukunft liegt. 505 5. Zwischenergebnis Insgesamt steht aus Sicht der Gerichte einer Anerkennung polygamer Ehen nach dem deutschen Sozial- und Steuerrecht der ordre public nicht entgegen, was zeigt, dass gerade in Bezug auf Mehrehen zwischen Eheschließung und Ehewirkung differenziert werden muss. Im Ausländerrecht hingegen wird die Anerkennung polygamer Ehen restriktiver gehandhabt und es besteht grundsätzlich kein Nachzugsrecht für betroffene Ehefrauen. Auch in Bezug auf die Möglichkeit einer Familienversicherung wird ein strengerer Maßstab angelegt. Bis 2005 waren auch alle Mitglieder der Zweitfamilie familienversichert. Nunmehr wird § 34 Abs. 1 SGB I restriktiver ausgelegt und erfasst nur noch Ehen, die einer im Geltungsbereich des SGB wirksam geschlossenen Ehe entsprechen. Bei der Renten- und Krankenversicherung sind daher nur der erste Partner und seine Kinder mitversichert. 506
502
Vgl. EuGH, Urteil v. 14.10.2008 – Rs. C-353/06, Stefan Grunkin et. al. ./. Standesamt Niebüll, NJW 2009, 135. 503 Diesen Gegensatz herausstellend auch Dethloff, NJW 2018, 23, 25 f. 504 Vgl. Dutta, FamRZ 2018, 1141, 1142. 505 Vgl. Dutta, FamRZ 2018, 1067. 506 Vgl. Coester-Waltjen, in: Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinkhammer/NiethammerJürgens (Hrsg.), Migration und IPR, 2018, S. 131, 147; Dethloff, FS Schwenzer, 2011, 409, 416 f.
266
Vierter Teil: Herausforderungen im Internationalen Eherecht
V. Folgen faktisch polygamer Verbindungen? Es ist ferner zu berücksichtigen, dass das Verbot polygamer Ehen die Entstehung polygamer Verbindungen nicht verhindern kann. So wird beispielsweise eine erste (zivile) Ehe mangels einer religiösen Scheidung aus Sicht der B eteiligten fortbestehen und aus muslimischer Sicht würde eine weitere zivile Eheschließung dann eine Zweitehe darstellen. Wird in der umgekehrten Konstellation die zweite Ehe nur religiös geschlossen, bietet es für die Beteiligten den Vorteil, dass eine im Ausland verbliebene Erstfrau, die eine zivile Ehe mit dem Ehemann verbindet, nachziehen kann. 507 Die Folgen solcher Verbindungen gehen stets zu Lasten der Frauen, denn in jedem Fall bleibt einer der beiden Frauen der Schutz der staatlichen Rechtsordnung versagt, was insbesondere bei einer Trennung gravierend sein kann, wenn kein Anspruch auf Unterhalt und Vermögensausgleich besteht und z.B. auch eine Morgengabe keinen äquivalenten und effektiven Schutz bietet. Es ist jedoch Aufgabe einer Familienrechtsordnung den Schutz des Schwächeren zu gewährleisten. 508 Für bestimmte vermögensrechtliche Schutzmechanismen sollten daher eigene familienkollisionsrechtliche Regelungen gefunden werden, um diese faktisch polygamen Lebensgemeinschaften kollisionsrechtlich zu erfassen. 509 Diskutiert werden in Anlehnung an Art. 13 EGBGB das gemeinsame Heimatrecht oder das Recht des bis zur Trennung gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalts. Auf spezielle Rechtsfragen aus dem Unterhalts- und Erbrecht könnten die besonderen Kollisionsnormen wie etwa Art. 15 EuUnthVO oder Art. 21 EuErbVO entsprechend Anwendung finden. Der ordre public steht auch bei der Beteiligung Deutscher einem Mindestschutz nicht entgegen, da entweder der deutsche Partner durch die Nichtanwendung der Schutzmechanismen benachteiligt würde oder aber er in umgekehrter Konstellation ungerechtfertigt aus der Verantwortung auch des rein faktischen Zusammenlebens entlassen würde.510 VI. Ergebnis zur aktuellen Rechtslage Die rechtliche Behandlung polygamer Ehen kommt aus kollisionsrechtlicher Sicht wie gezeigt nicht ohne problematische Konstellationen aus. Grundsätzlich besteht jedoch Konsens darüber, dass eine im Ausland wirksam geschlossene polygame Ehe, zumindest was ihre vermögensrechtlichen Folgen angeht, in Deutschland Anerkennung findet. Das Ehe- und Familienbild wird durch die zunehmende Migration beeinflusst und auch dem deutschen Recht 507
Dethloff, NJW 2018, 23, 26. Dethloff, FS Schwenzer, 2011, 409, 422 f. 509 Dethloff, NJW 2018, 23, 26. 510 Coester/Coester-Waltjen, FamRZ 2016, 1618, 1626. 508
3. Kapitel: Kollisionsrechtliche Behandlung polygamer Ehen
267
fremden, aber gelebten Paar- und Familienformen sollte rechtlicher Schutz zukommen. Dies gebietet schon der Schutz der Familie, der über Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK gewährt wird. Dabei dürfen auf der anderen Seite nicht die europäischen Werte wie die Gleichberechtigung aus den Augen verloren werden. Auch aus integrationspolitischen Gründen sollte das Bestreben darauf gerichtet sein, der Einwanderung polygamer Paare entgegenzuwirken bzw. etwa Maßnahmen für den Schutz der Frauen zu ergreifen, die aus der Beziehung ausbrechen wollen. 511 Auch die grundsätzlich restriktive Ausgestaltung des Nachzugsrechts ist in diesem Zusammenhang begrüßenswert, wobei jedoch bei der Gewährung eines Aufenthaltstitels im Rahmen einer umfassenden Interessenabwägung alle Umstände des Einzelfalls berücksichtigt werden sollten, um etwa dem Kindeswohl Rechnung tragen zu können. Schwieriger stellt sich die Situation bei der faktischen Polygamie dar, da sie die Gefahr der Schutzlosigkeit des wirtschaftlich schwächeren Partners (meistens der Frau) birgt. Zwar gibt es in den europäischen Familienrechtsordnungen schon eine Tendenz der Schaffung rechtlicher Regelungen für faktische Lebensgemeinschaften. Ihrer Anwendbarkeit steht jedoch häufig eine andere Ehe oder registrierte Partnerschaft entgegen.512 Es ist daher eine wichtige Aufgabe des Gesetzgebers, familienrechtliche Regeln für den Schutz des schwächeren Teils in faktischen Lebensgemeinschaften zu entwickeln. Ziel solcher Regelungen könnte ein wirtschaftlicher Mindestschutz bei Trennung in nichtehelichen Lebensgemeinschaften sein, der unabhängig von schon bestehenden Partnerschaften gewährt wird. 513 C. Der Gesetzesentwurf des bayerischen Justizministeriums I. Inhalt des Gesetzes und Begründung Mit Art. 13 Abs. 4 EGBGB-E soll neben Art. 13 Abs. 3 EGBGB n.F. ein weiterer spezieller ordre public in Art. 13 EGBGB eingefügt werden, durch den die Gleichstellung von Inlands- und Auslandsehen hinsichtlich des Verbots der Doppelehe gem. § 1306 BGB realisiert wird: „Haben beide Ehegatten ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland, so ist eine nach ausländischem Recht geschlossene Ehe nach deutschem Recht aufzuheben, wenn bei der Eheschließung zwischen einem der Ehegatten und einer dritten Person bereits eine Ehe oder Lebenspartnerschaft bestand.“514
511
Vgl. Dethloff, FS Schwenzer, 2011, 409, 425. Vgl. nur Irland, Section 172 Civil Partnership Cohabitation Act; Asturien, Art. 3 Ley del Principado de Asturias 4/2002, de 23 de mayo de parejas estables. 513 Coester/Coester-Waltjen, FamRZ 2016, 1618, 1627; Dethloff, FS Schwenzer, 2011, 409, 423 f. 514 Vgl. Art. 2 des Gesetzesentwurfs, BR-Drs. 249/18, S. 1. 512
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Vierter Teil: Herausforderungen im Internationalen Eherecht
Mit der Voraussetzung, dass beide Ehegatten ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland haben, werden der Eingriff in ein bestehendes Statusverhältnis und die Schaffung hinkender Rechtsverhältnisse gerechtfertigt. 515 Entsprechend wird § 1310 Abs. 1 S. 3 Nr. 2 BGB-E angepasst, nach dem der Standesbeamte nun auch die Mitwirkung bei einer Eheschließung zu verweigern hat, wenn diese nach dem neuen Art. 13 Abs. 4 EGBGB-E aufhebbar wäre.516 Da die polygame Eheschließung in Deutschland auch bei einem ausländischen Ehestatut nach ganz herrschender Meinung schon bisher nicht möglich war, ist der neu aufgenommene Passus rein deklaratorisch. 517 Den Aufhebungsantrag können neben den jeweiligen Ehegatten auch die nach den Landesvorschriften zuständigen Behörden stellen. Gem. Art. 3 lit. a) erster Spiegelstrich EuEheVO sind deutsche Gerichte bei gewöhnlichem Aufenthalt der Ehegatten in Deutschland für das Aufhebungsverfahren international zuständig.518 Ziel der Regelung ist es, auch auf dem Gebiet der Mehrehen mehr Rechtsklarheit zu schaffen und insbesondere den Behörden mehr Möglichkeiten zu geben, in polygame Beziehungen einzugreifen. So wird in der Entwurfsbegründung kritisiert, dass zwar die betroffenen Frauen ein Antragsrecht nach § 1316 BGB für das Aufhebungsverfahren hätten, aber den Behörden kein ausreichender Handlungsspielraum zur Verfügung stehe. Der Entwurf soll diese Unsicherheiten beseitigen und den Behörden einen Rechtsgrund zum Einschreiten geben. 519 Auch sei es der Gesellschaft schwer vermittelbar, dass die Eingehung einer Mehrehe nach § 172 StGB strafbar sei, jedoch gelebte ausländische Mehrehen anerkannt würden. Zur Auflösung dieses Widerspruchs seien die aufenthaltsrechtlichen und sozialgesetzlichen Sondervorschriften nicht ausreichend, sondern die zivilrechtliche Wirksamkeit einer Mehrehe müsse beseitigt werden.520 Verfassungsrechtlichen Bedenken und der Tatsache, dass Kinder aus der Ehe hervorgegangen seien, könne man mit den Ausschlussgründen und Härtefallregelungen der §§ 1315, 1316 BGB Rechnung tragen. Die Rechtsfolgen des § 1318 BGB, wie etwa Anspruch auf Unterhalt der betroffenen Frauen, würden die Aufhebungsfolgen zudem abmildern.521
515
BR-Drs. 249/18, S. 5. Vgl. Art. 1 des Gesetzesentwurfs, BR-Drs 249/18, S. 1. 517 Vgl. Coester-Waltjen/Heiderhoff, JZ 2018, 762. 518 BR-Drs. 249/18, S. 4. 519 BR-Drs. 249/18, S. 3. 520 BR-Drs. 249/18, S. 5. 521 Bemerkenswerterweise hält der Gesetzgeber noch im Gegensatz zum Kinderehengesetz die Unwirksamkeit der Mehrehe für nicht interessengerecht, vgl. BR-Drs. 249/18, S. 5. 516
3. Kapitel: Kollisionsrechtliche Behandlung polygamer Ehen
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II. Kritische Würdigung Im Folgenden wird überprüft, ob die genannten Ziele mit den entwickelten Gesetzesänderungen erreicht werden können und ob der Gesetzgeber möglicherweise gesetzestechnische Hürden übersehen hat. 1. Unklare Regelungslücken Der Gesetzgeber könnte übersehen haben, dass die Neuregelung des Art. 13 Abs. 4 EGBGB-E ausdrücklich nur gilt, wenn beide Ehegatten ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland haben. Die Formulierung wirft die Frage auf, ob der Standesbeamte nach dem neuen Wortlaut des § 1310 Abs. 1 S. 3 Nr. 2 BGB-E wie bisher die ordre public-Prüfung nach Art. 6 EGBGB vorzunehmen hat, wenn einer der Ehegatten seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland hat. Diese Ungereimtheit steht im Widerspruch zum im Entwurf genannten Bestreben, Rechtsklarheit zu schaffen. 522 Ferner äußert sich der Entwurf nicht zu dem auf die Rechtsfolgen der Aufhebung anwendbaren Recht und geht wohl stillschweigend von einer Anwendbarkeit des § 1318 BGB aus. Jedoch sind im System des Kollisionsrechts die Aufhebung der Ehe und die Folgen der Auflösung der Ehe unterschiedlich anzuknüpfen. So gibt es sowohl im Güterrecht mit Art. 26 EuGüVO als auch für den nachehelichen Unterhalt mit Art. 5 HUP besondere Kollisionsnormen, mit denen die verschiedenen Folgen der Eheaufhebung anzuknüpfen sind. Auch wenn man annimmt, dass sich die Rechtsfolgen einheitlich nach § 1318 BGB richten, ist seine Anwendung auf seine einzelfallabhängigen Tatbestandsmerkmale, wie der Kenntnis von der Aufhebbarkeit und der Billigkeit im Einzelfall von Rechtsunsicherheit geprägt.523 Abgesehen von diesen gesetzestechnischen Ungereimtheiten berücksichtigt der Entwurf nicht, dass bei einer Trennung der Familienangehörigen eine erhöhte finanzielle Belastung auf den Staat zukommt, etwa wenn ein zivilrechtlicher Unterhaltsanspruch nicht besteht oder nicht befriedigt werden kann. 524 Eine weitere Regelungslücke tut sich hinsichtlich gleichgeschlechtlicher Ehen und allgemein eingetragener Lebenspartnerschaften auf. Auf diese fi ndet Art. 13 Abs. 4 EGBGB-E vom Wortlaut her keine Anwendung und auch der Entwurfsbegründung lässt sich keine Erläuterung entnehmen. Ebenso wenig wird die Anwendbarkeit auf das Verhältnis zwischen einer Ehe und einer bestehenden Lebenspartnerschaft im Entwurf geklärt. Sind diese parallel wirksam oder greift auch hier das Verbot des Art. 13 Abs. 4 EGBGB-E?525
522
Coester-Waltjen/Heiderhoff, JZ 2018, 762, 763 f.; Dutta, FamRZ 2018, 1141 f. Coester-Waltjen/Heiderhoff, JZ 2018, 762, 766. 524 Coester-Waltjen/Heiderhoff, JZ 2018, 762, 766; Jayme, IPRax 2018, 473, 474. 525 Dutta, FamRZ 2018, 1141; Jayme, IPRax 2018, 473, 474. 523
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Vierter Teil: Herausforderungen im Internationalen Eherecht
2. Fehlende Einzelfallgerechtigkeit Zunächst sieht der neue Art. 13 Abs. 4 EGBGB-E zumindest keine Unwirksamkeitslösung wie das „Gesetz zur Bekämpfung von Kinderehen“ vor und erfordert mit dem gewöhnlichen Aufenthalt als Tatbestandsmerkmal einen hinreichenden Inlandsbezug für seine Anwendung. 526 Im Gegensatz zu den Minderjährigenehen, wo die Behörden den Antrag auf Aufhebung immer stellen müssen, haben die zuständigen Behörden bei der Mehrehe mehr Ermessen. So heißt es in § 1316 Abs. 3 S. 1 BGB: „Bei Verstoß gegen die §§ 1304, 1306, 1307 sowie in den Fällen des § 1314 Abs. 2 Nr. 1 und 5 soll die zuständige Verwaltungsbehörde den Antrag stellen, wenn nicht die Aufhebung der Ehe für einen Ehegatten oder für die aus der Ehe hervorgegangenen Kinder eine so schwere Härte darstellen würde, dass die Aufrechterhaltung der Ehe ausnahmsweise geboten erscheint.“527
Auf der anderen Seite scheint auch die angeordnete Aufhebung der Zweitehe als Regelfall ohne Berücksichtigung der Einzelfallumstände und einer sehr engen Härtefallklausel ohne Heilungsmöglichkeit kaum gerechtfertigt. So soll nach dem Wortlaut der Vorschriften die zeitlich spätere Ehe offenbar selbst dann aufhebbar sein, wenn die erste Ehe mittlerweile schon aufgelöst ist. Die Beteiligten müssen also jederzeit damit rechnen, dass die zuständige Behörde einen Aufhebungsantrag stellt, was die Rechtssicherheit erheblich beeinträchtigt.528 Auch die Tatsache, dass von beiden Ehen stets die zweite aufgelöst werden muss, erscheint wenig einzelfallgerecht. So wird der Ehemann häufig die Beziehung zur jüngeren zweiten Frau aufrechterhalten wollen. Kommt es zu einer Aufhebung, verliert die zweite Ehefrau ihre Unterhalts- und Erbansprüche und ist auf die Versorgung durch den deutschen Sozialstaat angewiesen. Oder aber der Ehemann lässt sich von seiner ersten Frau scheiden und heiratet seine zweite Frau erneut. Beide Möglichkeiten erscheinen für die Staatskasse sehr kosten- und zeitintensiv. 529 Insgesamt hat die ordre public-Prüfung nach Art. 6 EGBGB zu sachgerechteren Lösungen geführt und ermöglichte zudem die Berücksichtigung der Grundrechte der Beteiligten. Denn sind Kinder beteiligt, ist zumindest der Schutzbereich der Familie aus Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK eröffnet. Ein Eingriff kommt hier zu seiner Rechtfertigung nicht ohne eine Interessen-
526
Dutta, FamRZ 2018, 1141. Vgl. den Wortlaut des § 1316 Abs. 3 S. 2 BGB: „Bei einem Verstoß gegen § 1303 Satz 1 muss die zuständige Behörde den Antrag stellen, es sei denn, der minderjährige Ehegatte ist zwischenzeitlich volljährig geworden und hat zu erkennen gegeben, dass er die Ehe fortsetzen will.“ 528 Coester-Waltjen/Heiderhoff, JZ 2018, 762, 765; v. Hein, in: Juristische Studiengesellschaft Jahresband, 2018, S. 29, 71. 529 Coester-Waltjen/Heiderhoff, JZ 2018, 762, 766. 527
3. Kapitel: Kollisionsrechtliche Behandlung polygamer Ehen
271
abwägung im Einzelfall aus. 530 Auch die Vereinbarkeit mit dem europäischen Freizügigkeitsrecht wird im Entwurf pauschal bejaht, ist aber, wie oben erläutert, nicht so einfach zu beantworten. 531 3. Keine Notwendigkeit einer Neuregelung Wie oben dargestellt, ist es sowohl in Rechtsprechung als auch Literatur herrschende Meinung, dass im Heimatland wirksam geschlossene polygame Verbindungen in Deutschland in Hinblick auf ihre vermögensrechtlichen Folgen anzuerkennen sind. Auch die Rechtslage hinsichtlich des Nachzugsrechts ist aufgrund des klaren Wortlauts des Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 1 RL 2003/86/EG eindeutig.532 Es ist daher fraglich, ob die im Entwurf angeführten abweichenden (Minder-) Literaturmeinungen tatsächlich einer Klarstellung in Form einer Gesetzesreform benötigen. Vielmehr verlangt die bloße Zunahme der Migration keine Neuregelung des ordre public, bei dessen Prüfung die Rechtspraxis bisher überzeugende Lösungen hinsichtlich der Fragen des Ausländer-, Sozial- und Steuerrechts im Einzelfall finden konnte. 533 Der Gesetzgeber hätte sein Augenmerk eher auf die ungeklärten praktischen Problemfelder, wie etwa die Behandlung faktisch polygamer Verbindungen, legen müssen. 4. Vereinbarkeit mit völkerrechtlichen Verträgen Neben den beschriebenen Regelungslücken scheint der Gesetzgeber bei seiner Reform des EGBGB zudem übersehen zu haben, dass es auf dem Gebiet des Eherechts vorrangig anzuwendende internationale Verträge gibt (vgl. Art. 3 Nr. 2 EGBGB). Das deutsch-marokkanische Abkommen über die soziale Sicherheit enthält in Art. 25 Nr. 6 S. 1 eine Regelung zur anteiligen Aufteilung der Witwenrente, was – zumindest die vermögensrechtliche – Anerkennung polygamer Ehen in Deutschland voraussetzt. 534 Die Vorgaben des Abkommens werden im deutschen Sozialrecht mit § 34 Abs. 2 SGB I umgesetzt, den der Gesetzesentwurf aber nicht antastet oder erwähnt. 535 Auch das Deutsch-Iranische Niederlassungsabkommen legt hinsichtlich personen- und familienrechtlicher Fragen die Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit fest. Die Grenze ausländischer Rechtsanwendung stellt die ordre public-Prüfung 530
Coester-Waltjen/Heiderhoff, JZ 2018, 762, 767 f.; v. Hein, in: Juristische Studiengesellschaft Jahresband, 2018, S. 29, 71 f. 531 Siehe oben 2. Kap., C.II.3. und Dutta, FamRZ 2018, 1141, 1142. 532 Kritisch in Hinblick auf eine unsichere Rechtslage ebenso Jayme, IPRax 2018, 473. 533 Siehe unter B.IV. und vgl. Basedow, FamRZ 2019, 1833, 1837 f. und Jayme, IPRax 2018, 473, 474 f. 534 Abkommen zwischen BRD und Königreich Marokko vom 25.3.1981, BGBl. 1986 II, 552. Vgl. zudem BGH, Beschluss v. 10.7.2013 – IV ZR 209/12, juris. 535 Dutta, FamRZ 2018, 1141, 1142; Jayme, IPRax 2018, 473, 474.
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Vierter Teil: Herausforderungen im Internationalen Eherecht
nach Art. 6 EGBGB dar, dessen Eingreifen nicht stets mit Art. 13 Abs. 4 EGBGB-E begründet werden kann. 536 Von der Entwurfsregelung werden somit, anders als die Begründung es vermuten lässt, nicht alle Mehrehen in Deutschland erfasst. III. Fazit Insgesamt lässt sich konstatieren, dass durch die Veränderungen des bayerischen Gesetzesentwurfs nicht mehr Rechtssicherheit geschaffen wurde, sondern mehr Unklarheiten geschaffen wurden. Zu nennen sind etwa die angesprochene fehlende Folgenregelung und die beidseitige Voraussetzung des gewöhnlichen Aufenthalts, die Fragen über den Anwendungsbereich des neuen Art. 13 Abs. 4 EGBGB-E offen lassen.537 Für die Neuregelungen besteht indes kein Bedarf, da die Schließung polygamer Ehen im Inland bisher ohnehin schon verboten ist und sich auch hinsichtlich der Anerkennung ausländischer Ehen eine feste Rechtsprechungspraxis etabliert hat, die zudem der herrschenden Meinung im Schrifttum entspricht. 538 Im Gegenteil bedeutet die Reform für die überlasteten deutschen Gerichte und Behörden nicht die angestrebte Vereinfachung, sondern eine Konfrontation mit noch mehr komplizierten Fragen auf dem Gebiet des IPR. 539 Die Ergänzung des Art. 13 EGBGB um einen weiteren speziellen ordre public-Vorbehalt bleibt zudem hinter der Flexibilität, die die ordre publicPrüfung nach Art. 6 EGBGB den Gerichten bietet, zurück. Bisher konnten über die Generalklausel das Vertrauen auf den Bestand einer wirksam geschlossenen Ehe und die Interessen vor allem der betroffenen Frauen und Kinder, denen über die Familiengemeinschaft Schutz aus Art. 6 GG und Art. 8 EMRK zukommt, angemessen berücksichtigt werden. 540 Vor dem Hintergrund, dass der BGH den jüngsten Vorstoß des Gesetzgebers hinsichtlich des Familienkollisionsrechts in der Form des Kinderehengesetzes in Teilen für verfassungswidrig hält, sollte zu erwarten sein, dass die Kritik dieses Mal erhört wird und der Entwurf entsprechend angeglichen wird.541 Auf dem Gebiet des IPR wäre eher eine generelle Reform des
536
Vgl. Coester-Waltjen/Heiderhoff, JZ 2018, 762, 767 f. Coester-Waltjen/Heiderhoff, JZ 2018, 762, 769; Dutta, FamRZ 2018, 1141, 1142. 538 Siehe oben unter B.IV. und vgl. Coester-Waltjen/Heiderhoff, JZ 2018, 762, 764; Dutta, FamRZ 2018, 1141, 1142. 539 Jayme, IPRax 2018, 473, 475. 540 Coester-Waltjen/Heiderhoff, JZ 2018, 762, 769. 541 Für konstruktive Verbesserungsvorschläge siehe v. Hein, in: Juristische Studiengesellschaft Jahresband, 2018, S. 29, 72 ff. 537
3. Kapitel: Kollisionsrechtliche Behandlung polygamer Ehen
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Art. 13 EGBGB wünschenswert gewesen, die das Aufenthaltsprinzip statt der Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit implementiert. 542 D. Zusammenfassung in Thesenform 1. Konfliktpotential der Polygamie Die polygame Ehe bildet einen Gegensatz zum inländischen Grundsatz der monogamen Ehe und widerspricht zudem in ihrer Form der Polygynie der Gleichberechtigung von Frau und Mann. 2. Rechtspolitisch motivierter Gesetzesentwurf Während deutsche Gerichte in der Vergangenheit eher selten mit polygamen Ehen befasst waren, tritt das Phänomen im Zuge des Flüchtlingsstroms vermehrt auf. Dies hat die bayerische Landesregierung dazu bewogen, auch auf diesem Gebiet den Entwurf einer speziellen ordre public-Klausel vorzulegen, die hinsichtlich ihrer technischen Ausgestaltung stark an dem „Gesetz zur Bekämpfung von Kinderehen“ orientiert ist. 3. Kein Reformbedürfnis Anders als im Bereich der Minderjährigenehen ist die Rechtslage hier jedoch von mehr Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit geprägt: Während eine polygame Eheschließung im Inland grundsätzlich nicht möglich ist, besteht aufgrund der räumlichen Relativität des ordre public in der Rechtsprechung und der Literatur Konsens darüber, dass eine im Ausland wirksam geschlossene polygame Ehe, zumindest was ihre vermögensrechtlichen Folgen angeht, in Deutschland Anerkennung findet. So steht aus Sicht der Gerichte der ordre public einer Anerkennung polygamer Ehen im deutschen Sozial- und Steuerrecht nicht entgegen, während im Ausländerrecht die Anerkennung polygamer Ehen restriktiver gehandhabt wird und grundsätzlich kein Nachzugsrecht für betroffene Ehefrauen besteht. Der Wandel vom negativen zum positiven ordre public ist bei polygamen Ehen – anders als bei der Problematik der Minderjährigenehen – folglich nicht gerechtfertigt. Der Gesetzesentwurf lässt zudem einige Fragen offen 542
Zu den Vorteilen bereits oben ausführlich 2. Teil, 6. Kap., B.I.; für ein Tätigwerden des europäischen Gesetzgebers spricht sich auch eine europäische Studie aus, vgl. Study for the JURI committee „Private International Law in a Content of Increasing International Mobility: Challenges and Potential“ des Europäischen Parlaments, PE 583.157, June 2017, S. 20 ff., abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020).
274
Vierter Teil: Herausforderungen im Internationalen Eherecht
und schafft somit insgesamt nicht mehr Rechtssicherheit, sondern führt im Gegenteil zu mehr Rechtsunsicherheit.
Fünfter Teil
Ausblick Die Zunahme der Migration wird insgesamt eine Herausforderung für das Recht bleiben. Problematisch sind insbesondere die aufgezeigten komplexen rechtlichen Rahmenbedingungen wie die Verteilung der (kollisionsrechtlichen) Normen auf die Ebenen des Völker- und Europarechts sowie des nationalen Rechts. Hinzu kommt eine uneinheitliche Handhabung der Normen auf Seiten der Gerichte und Behörden, was sich insbesondere bei den divergierenden Entscheidungen hinsichtlich des Schutzstatus von Syrern zeigt. Ähnlich liegt es bei der ordre public-Prüfung. Ferner sind die Themen rund um die Flüchtlingsproblematik nicht aus einer rein rechtsdogmatischen, sondern erst aus einer auch rechtspolitischen Perspektive vollständig erfassbar und bewertbar. So ist der zentrale Konflikt zwischen dem Wunsch nach Integration der Migranten auf der einen und der Berücksichtigung ihrer kulturellen Identität auf der anderen Seite den in dieser Arbeit erörterten Fragen stets immanent. 1 Als Fazit aus dem vierten Teil lässt sich ableiten, dass der Gesetzgeber diese Problemfelder zwar erkennt und aufgreift, ihm die Umsetzung jedoch sowohl aus dogmatischer Sicht als auch bezüglich des Interessenausgleichs auf der Einzelfallebene nicht immer gelingt. Insbesondere die jüngsten Gesetzesentwürfe fördern die Kritik derjenigen, die seit geraumer Zeit einen Rückgang der Toleranz für die multikulturell bedingten Unterschiede im anwendbaren Recht in der – auch europäischen – IPR-Gesetzgebung beklagen. So diene das IPR als Teil des Privatrechts vor allem dazu, das für die privaten Interessen der Beteiligten passendste anwendbare Recht zu finden. 2 Mit dem „Gesetz zur Bekämpfung von Kinderehen“ und dem aktuellen bayerischen Entwurf zu Mehrehen werden hingegen insbesondere öffentliche Interessen wie die Durchsetzung der Gleichberechtigung und des Minderjährigenschutzes aber auch die Vereinfachung der Rechtslage und die praktische Umsetzung fokussiert. Dabei werden die öffentlichen Interessen nicht wie bisher mit dem Vertrauensschutz und der kulturellen Identität im Wege der 1
Vgl. dazu auch die „Conclusions“ bei Nishitani, RdC 401 (2019), 143, 400 ff. Coester-Waltjen/Heiderhoff, JZ 2018, 762, 768 sprechen von einer „Störung der Funktionen des IPR“. 2
276
Fünfter Teil: Ausblick
einzelfallbezogen ordre public-Prüfung abgewogen, sondern es wird vielmehr einseitig deutsches Recht ohne Ermessensspielraum zur Anwendung berufen. Die IPR-Grundsätze des Schutzes wohlerworbener Rechte und der Vermeidung hinkender Rechtsverhältnisse scheinen demgegenüber in den Hintergrund zu rücken.3 Es sieht zunehmend danach aus, dass der Wunsch nach einer restriktiven Migrationspolitik auch im Privatrecht verwirklicht werden soll und dabei die fundamentalen Rechte des Kindeswohls und des Schutzes des Familienlebens in Gefahr geraten. 4 Dabei sind eine grundsätzliche Materialisierung des IPR und eine zune hmende Durchsetzung europäischer Werte wie der Gleichberechtigung, wie es etwa mit Art. 10 Rom III-VO oder auch der Anhebung des Ehemündigkeitsalters geschieht, nicht zu bemängeln. Denn eine weitgehend grenzenlose Akzeptanz fremder Kulturerscheinungen durch das inländische Recht birgt auch die Gefahr des Rückgangs der Toleranz in der Gesamtgesellschaft gegenüber Immigration im Allgemeinen.5 Die geschaffenen Regeln müssen jedoch für die befassten Behörden und Gerichte noch ein so hohes Maß an Flexibilität bieten, dass sie die privaten Interessen der Beteiligten ausreichend berücksichtigen können. 6 Dem Vertrauensschutz der Betroffenen sollte durch den Schutz wohlerworbener Rechte, insbesondere auch im Kontext von dem deutschen Recht unbekannten Statusverhältnissen, deshalb innerhalb der Grenzen des ordre public bestmöglich Rechnung getragen werden.7 Ein erster Schritt in die richtige Richtung wäre die hier vorgeschlagene umfassende Reform des Personalstatuts hin zu einer Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt im Rahmen des auf die persönlichen Rechtsverhältnisse anwendbaren Rechts. Nicht nur in Zeiten der Massenmigration, sondern auch allgemein in der heutigen Zeit zunehmender Mobilität erscheint die Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt, wie ausführlich im zweiten Teil begründet, am besten geeignet, um Privat- und Verkehrsinteressen in Ausgleich zu bringen und das beschriebene Spannungsverhältnis zwischen Integration und kultureller Identität abzumildern. In diesem Kontext ist ferner zu berücksichtigen, dass noch ein erheblicher Vereinheitlichungs- und Koordinierungsbedarf auf europäischer Ebene be-
3
Dies kritisierend auch Jayme, IPRax 2018, 473 ff. So die Kritik in der Study for the JURI committee „Private International Law in a Content of Increasing International Mobility: Challenges and Potential“ des Europäischen Parlaments, PE 583.157, June 2017, S. 24, abrufbar unter (letzter Abruf: 4.6.2020). 5 Dazu eingehend Weller, DGIR 2018, 247, 261 ff. m.w.N. 6 So identifiziert sie Jayme, RdC 251 (1995), 13, 58 als einen der Garanten für den Frieden in der Welt („une des garanties de la paix mondiale“). 7 Jayme, RdC 251 (1995), 13, 58. 4
Fünfter Teil: Ausblick
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steht, insbesondere beim Zusammenspiel des IPR und seiner Instrumente auf der einen Seite mit dem Asyl- und Ausländerrecht und seinen Mechanismen auf der anderen Seite. Um hier Abhilfe zu schaffen, bedarf es zunächst weiterer empirischer Studien. Es ist indes nicht ausgeschlossen, dass es innerhalb Europas zu einer verstärkten Rückbesinnung auf die Nationalität bzw. die Nationalstaatlichkeit kommt oder in Zukunft auch ein Rückgang von Migration insgesamt zu verzeichnen sein wird. Es ist daher der Aktualität und Dynamik des behandelten Themas geschuldet, dass die vorliegende Argumentation anhand solcher äußerer Faktoren stets erneut überprüft und durchdacht werden muss.
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Materialienverzeichnis Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF): Migrations-Info Logistik (MIlo), (letzter Abruf: 9.10.2019) –: Statistik, Stand: Oktober 2019 (letzter Abruf: 9.10.2019) –: Aktuelle Zahlen zu Asyl, Mai 2018, (letzter Abruf: 9.10.2019) –: Grunddaten der Zuwandererbevölkerung in Deutschland, 2009, (letzter Abruf: 9.10.2019) Bundeszentrale für politische Bildung (bpb): Asylanträge in Deutschland, Stand 12.09.2019, (letzter Abruf: 9.10.2019) –: Asylentscheidungen und Klagen, Stand 12.9.2019, (letzter Abruf: 09.10.2010) –: Zwangswanderungen nach dem Zweiten Weltkrieg, Dossier v. 13.5.2005, (letzter Abruf: 9.10.2019) Deutscher Anwaltverein (DAV): Stellungnahme zum Gesetz zur Bekämpfung von Kinderehen, 22.2.2017, (letzter Abruf: 9.10.2019) –: Stellungnahme Nr. 7/2017 zur Kinderehe, Februar 2017, (letzter Abruf:9.10.2019) Deutscher Familiengerichtstag (DFGT): Stellungnahme zum Gesetz zur Bekämpfung von Kinderehen, 23.2.2017, (letzter Abruf: 9.10.2019) Deutsches Institut für Jugendhilfe und Familienrecht (DIJuF): DIJuF-Rechtsgutachten 13.1.2016, V 1.100 Ho/An – Internationales Familienrecht: Anerkennung der Eheschließung eines nach ausländischem staatlichen bzw. religiösem Recht verheirateten minderjährigen Flüchtlings, JAmt 2016, 127–129 Deutscher Juristinnenbund e.V. (DJB): Stellungnahme zum Gesetz zur Bekämpfung von Kinderehen, 18.4.2017, (letzter Abruf: 9.10.2019) Deutscher Notarverein (DNotV): Stellungnahme zum Gesetz zur Bekämpfung von Kinderehen, 22.2.2017, (letzter Abruf: 9.10.2019) Europäisches Parlament: Study for the JURI committee – Private International Law in a Content of Increasing International Mobility: Challenges and Potential, PE 583.157, Juni 2017, (letzter Abruf: 9.10.2019) –: Study for the JURI committee of the European Parliament – Children on the Move: A Private International Law Perspective, Juni 2017, (letzter Abruf: 9.10.2019) Hoher Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR): Statistiken, (letzter Abruf: 9.10.2019) –: Handbuch und Richtlinien über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft gemäß dem Abkommen von 1951 und dem Protokoll von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, 2011 (deutsche Version 2013), , (letzter Abruf: 9.10.2019) Institut de Droit International: Neuvième Commission Différences culturelles et ordre de public en droit international privé de la famille Institut de droit international, Session Cracovie 2005, IPRax 2005, 559 Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht: Der Gesetzentwurf zur Minderjährigenehe und das Internationale Privatrecht: Institutsdirektor Jürgen Basedow im Interview, 17.3.2017, (letzter Abruf: 9.10.2019) TERRE DES FEMMES e.V.: Stellungnahme zum Gesetz zur Bekämpfung von Kinderehen, 22.2.2017, (letzter Abruf: 9.10.2019) Vereinte Nationen: Bericht „Ending Child Marriage – Progress and Prospects“, 2014, abrufbar unter (letzter Abruf : 9.10.2019) –: A study of Statelessness, hrsg. v. der Hauptabteilung Wirtschaftliche und Soziale Angelegenheiten, 1949, (letzter Abruf: 9.10.2019) Wissenschaftliche Dienste des Bundestags: Zwangsheirat und Minderjährigenehen in Deutschland, 26.1.2017, Az.: WD 7 – 3000 – 006/17, S. 16, (letzter Abruf: 9.10.2019)
Sachregister Abschiebung 25, 50–53, 80 f., 99, 163, 262 Altersfeststellung 150–153, 218, 242 − Inaugenscheinnahme 151 f. − Röntgenuntersuchung 152 Anerkennungsprinzip 6–9, 109, 246 Asylberechtigung 36–42 Asylverfahren 40–42 − Abgrenzung zum Flüchtlingsstatus 39 f. Aufenthaltsberechtigung − siehe Aufenthaltserlaubnis Aufenthaltserlaubnis 30, 33, 45, 47–52, 80, 163, 261 f. Aufhebung 180, 189, 205, 219–224, 233– 239, 252–254, 267–270 − siehe auch Ehe Duldung 51–54, 79 f., 88, 100, 123 Ehe − Aufhebung 180, 189, 205, 219–224, 233–239, 252–254, 267-270 − Unwirksamkeit 225–233 − Ehemündigkeit 196–203, 212–215 Ehemündigkeit 196–203, 212–215 − siehe auch Ehe Familienasyl 30–36, 39, 41, 242 Familiennachzug 46–48, 163–166, 262– 263 Genfer Flüchtlingskonvention − Anwendungsbereich 22–27 − Auslegung 56–66 − Flüchtlingsdefinition 23–26 − Schutz wohlerworbener Rechte 89–94 Gesamtnormverweisung 85 gewöhnlicher Aufenthalt − animus manendi 74 − Asylverfahren 78 f. − autonome Auslegung 66-70
− Begriffsbestimmung 72–77 − Minderjährige 150 − Widerrechtlichkeit 81 − Wohnsitzauflage 82 f. gleichgeschlechtliche Ehe 7 f., 178, 264 f. Haager Kinderschutzübereinkommen (KSÜ) 149, 156 f., 159, 161, 228 Haager Unterhaltsprotokoll (HUP) 110, 269 Inaugenscheinnahme 151 f. − siehe auch Altersfeststellung Inobhutnahme 145, 151–154, 165, 170, 234 Interessenlehre 108 kafāla 32–34, 157 Kegel’sche Interessenlehre − siehe Interessenlehre Kinderehengesetz − Anhebung der Ehemündigkeit 212– 215 − BGH, Beschluss v. 14.11.2018 – XII ZB 291/16 209 f., 229–231 − OLG Bamberg, Beschluss v. 12.5.2016 – 2 UF 58/16 207–209 − spezieller ordre public 215–221 − siehe auch ordre public Kindeswohl 48, 131, 136, 151, 160, 166, 197, 209, 231, 237 kulturelle Identität − Kollisionsrechtsebene 128–133 − „nomadisme“ 75, 110 f., 126 − ordre public 158–161 − Sachrechtsebene 133 f. − „tribalisme“ 126 Lebenspartnerschaft 8, 124, 269 lex fori 59, 64, 66–68, 84, 117–119, 157 f. 197, 217
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Sachregister
Minderjährigenehe 188–249 − siehe auch Kinderehengesetz Niederlassungserlaubnis 30, 39, 46, 163 „nomadisme“ 75, 110 f., 126 ordre public − Begriff 195 − Maßstäbe 196–203 − Rechtsprechung 203–210 Personalstatut − Aufspaltung 6, 111 − Begriff 58–62 − Flüchtlinge 54 − Reform 105, 138 f. − subsidiär Schutzberechtigte 54 Polygamie − Anerkennung 250–257 − Rechtsfolgen 257–266 − Reformentwurf 267-273
UN-Kinderrechtekonvention (UN-KRK) 126, 147, 209, 229, 241 Unwirksamkeit 225–233 − siehe auch Ehe Unwirksamkeitslösung − siehe Unwirksamkeit vorläufige Inobhutnahme − siehe Inobhutnahme Vormundschaftsverfahren 159–162 Wohnsitz 57 f. Wohnsitzauflage 82 f. − siehe auch gewöhnlicher Aufenthalt
Rechtswahlfreiheit 128–132 Ruhen der elterlichen Sorge 155–159 Sachnormverweisung 85 Schutz wohlerworbener Rechte 89–94 Staatenlosigkeit 18, 53, 114 Staatsangehörigkeitsprinzip − Entwicklung 108–110 − Interessen 115–120 − Mehrstaater 25, 104, 113, 131, 251 − Statutenwechsel 61, 76 f., 89–92, 110, 125, 161, 247 subsidiärer Schutz 42–49 − Analoge Anwendung des Art. 12 Abs. 1 GFK 94–106 − Familiennachzug 46–48, 163–166, 262–263 talaq 136 f., 199 „tribalisme“ 126 − siehe auch kulturelle Identität unbegleitete Minderjährige − Altersfeststellung 150–153, 218, 242 − Ruhen der elterlichen Sorge 155–159 − vorläufige Inobhutnahme siehe Inobhutnahme − Vormundschaftsverfahren 159–162