Flucht – Migration – Theater: Dokumente und Positionen [1 ed.] 9783737006675, 9783847106678


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German Pages [564] Year 2016

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Flucht – Migration – Theater: Dokumente und Positionen [1 ed.]
 9783737006675, 9783847106678

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Manuscripta theatralia Schriftenreihe zu raren Dokumenten und Archivalien im Fokus kulturhistorischer Grundlagenforschung

Band 1

Herausgegeben von Andreas Brandtner, Martina Cuba, Friedemann Kreuder und Birgit Peter

Birgit Peter / Gabriele C. Pfeiffer (Hg.)

Flucht – Migration – Theater Dokumente und Positionen

Mit 119 Abbildungen

V& R unipress Mainz University Press Vienna University Press

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2510-3997 ISBN 978-3-7370-0667-5 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhÐltlich unter: www.v-r.de Verçffentlichungen der Mainz University Press und der Vienna University Press erscheinen im Verlag V& R unipress GmbH. Redaktionelle Mitarbeit unter der Leitung von Jasmin Falk: Josepha Edith Andras / Mirjam Berger / Corinne Besenius / Nadine Damblon / Julia Maria Defrancesco / Moritz Hartmann / Eva Julia Hoffmann / Gabriela Susan Kielhorn / Anja Kundrat / Katharina Lehner / Imke S. Pioch / Romy Pauline Rinke / Marius Schiener / Stefanie Schimanski de Lima / Barbara Schneider / Milena von Stosch / Antonio Zapata-Mejia Lektorat: Melanie Konrad Gedruckt mit freundlicher Unterstþtzung der Kulturabteilung der Stadt Wien (MA 7), des Dekanats der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen FakultÐt und des Rektorats der UniversitÐt Wien.  2017, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Gçttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Titelbild: Antonio Zapata-Mejia unter Verwendung eines Fotos von Gin Mþller an der çsterreichisch-ungarischen Grenze in der NÐhe von Nickelsdorf, 2013.

Inhalt

Andreas Brandtner, Martina Cuba, Friedemann Kreuder und Birgit Peter Manuscripta theatralia. Schriftenreihe zu raren Dokumenten und Archivalien im Fokus kulturhistorischer Grundlagenforschung . . . . . .

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Birgit Peter und Gabriele C. Pfeiffer Flucht Migration Theater. Dokumente und Positionen . . . . . . . . . . .

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Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Initiative ergreifen „Theater auf Augenhöhe“ Gespräch mit Aslı Kıs¸lal am 08. 04. 2016 im Werk X, Wien von Julia Defrancesco, Moritz Hartmann und Gabriela Kielhorn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Gin Müller Grenzverletzer_innen und Performativität von Grenzen . . . . . . . . . .

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Matthias Karl Über den Zusammenhang von Kunstproduktion und sozialen Bewegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Mirjam Berger Blick nach Außen – „Flüchtlingstheater“ in der Schweiz. Gedanken und Beobachtungen einer Schweizer Erasmusstudierenden . . . . . . . . . . .

49

Natalie Ananda Assmann Flucht vor dem Theater!? Beobachtungen in der künstlerischen Arbeit mit Geflüchteten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

Katharina Lehner und Romy Pauline Rinke Dokumentation von Aktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Ausdruck verleihen “Theatre was my second home in Syria – here it is the only one.” An Interview with Johnny Mhanna on 31 May 2016 by Mirjam Berger and Corinne Besenius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Mirjam Berger und Corinne Besenius Das Paradox der Flüchtlingsrolle. Eine Reflexion über das Gespräch mit Johnny Mhanna . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Maria Stadlober „Schutzbefohlene performen Jelineks Schutzbefohlene“. Politisch Theater machen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Anja Kundrat „An euch klebt das Blut von Bataclan und Brüssel!“ Geflüchtete trotzen dem Hass von Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Barbara Schneider Grenzüberschreitendes Potenzial von Theater bei Schlingensief und der schweigenden Mehrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Imke S. Pioch Kurzauftritte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Nicholas Dobner Politik und Öffentlichkeit am Beispiel des „Refugee Protest Camp Vienna“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Hanna Voss Doing Refugee in Nicolas Stemanns Die Schutzbefohlenen zwischen Ästhetik und Institution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Sandra Engler Alonso Das Leiden anderer darstellen: Besetzungsmöglichkeiten bei Elfriede Jelineks Die Schutzbefohlenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177

Inhalt

Julia Maria Klös Mannheim Arrival. Ein postdramatisches Experiment zum Thema Flucht

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Christian Steiner Migration, Flucht, Asylmonologe. Zum Potenzial postdramatischer Inszenierungen als Erkenntnisinstrument . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Esther Holland-Merten, Genia Enzelberger und God’s Entertainment Niemand hat Euch eingeladen! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Gerald M. Bauer Kindheit – Migration – Theater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Thomas Hödl Antike Asylproblematiken. Euripides’ Flüchtlingsfiguren im aktuellen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Julia Danielczyk „Die Zeichen auf meiner Haut sind bindend“ (oder) Menschen sind keine Dunkelziffern. Über Julya Rabinowichs Theatertexte Tagfinsternis und Fluchtarien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Julya Rabinowich Fluchtarien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229

Bilder schaffen “I’m not interested in acting, but I like to share because there is a message to be spread.” An Interview with Ahmad and Mohammed Alian on 08 June 2016 by Jasmin Falk, Milena von Stosch and Katharina Lehner 247 Peter R. Horn „… machen Sie ein Foto, schnell, bevor sie wieder weg ist, die Menschenwürde …“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Antonio Zapata „Moros en la costa“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Petja Dimitrova „Refugee Protest Camp Vienna“. Kämpfe – Politiken – Bildproduktionen. Überlegungen zur Politik des Sehens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297

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Inhalt

Stimmen lesen „Ich sehe die Welt vielleicht ein wenig anders.“ Ein Interview mit Ibrahim Amir am 15. 04. 2016 von Josepha Andras und Marius Schiener . 311 Moritz Hartmann Von Verbindungen und Übergängen. Transkulturalität auf der Bühne . . 317 Anke Charton Wie queer ist „queer“? Zur (Un)Markiertheit europäischer Identitätsentwürfe im Migrationskontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 Markus Pusnik Stadtwanderweg #12. Ein flüchtiger Blick ins Verborgene . . . . . . . . . 327 Azelia Gülüm Opak HiÅ hikayen yok mu senin? Hast du denn keine Geschichte?

. . . . . . . 333

Milena von Stosch doyÅlender: almanci. Zugehörigkeiten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 Jutta Doppelreiter „Du hast die falschen Werte. Du darfst nicht hinein!“ . . . . . . . . . . . 345 Romy Pauline Rinke „Wir können euch nicht helfen, wir müssen euch doch spielen!“ . . . . . 351 Martha Höschel „Der fremdes Unglück sucht, wird eigenes finden.“ (Lucius Annaeus Senecio) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 Corinne Besenius We are all the same, we can grow together if we want

. . . . . . . . . . . 359

Youngmi Kim Theater an der Schnittstelle von Gesellschaft und Kunst . . . . . . . . . . 363 Jasmin Falk Wo werden wir unsere eigenen Knochen vergraben können? . . . . . . . 367

Inhalt

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Pascal Herowitsch Selbstoptimierung. Wenn Apps die Angst fördern, Schutzsuchenden zu helfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 Silke Felber und Gabriele C. Pfeiffer Schau-Plätze der Diskrepanz. Ein Essay zu Aischylos in Syrakus und Jelinek in Wien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377

Dokumente finden Senad Halilbasˇic´ „Dieses Theater hütet und schützt vor der Angst wie ein warmer Mutterleib“ – Oder auch nicht. Neuverortungen der Funktionen von Theatergebäuden im Bosnienkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 Peter Roessler Rückblick und Spiegelung. Historische Betrachtungen zu Flucht, Exil und Theater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 Fabian Wingert Georg Kreisler : Außenseitertum und internalisiertes Exil – Mittel der künstlerisch-performativen Selbstermächtigung . . . . . . . . . . . . . . 417 Armin Kirchner Die Exil-Trilogie. Fritz Hochwälder und die Flucht . . . . . . . . . . . . . 423 Elke Krafka Europäische Islamfeindlichkeit. Theater als Spiegel propagierter Ängste . 431

Definitionen befragen Korrespondenz von Ljubomir Bratic´ und Gabriele C. Pfeiffer im Mai 2016 „Es kann keinen Kapitalismus ohne Migration geben.“ . . . . . . . . . . 447 Katharina Lehner Asylpolitiken. Inszenierungsstrategien in Australien und Österreich . . . 455 Irene Messinger Szenen einer widerspenstigen Zähmung. Die Grenzen der Migrationskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471

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Inhalt

Sarah Itohan Fink Überlegungen zu „Mensch mit Migrationshintergrund“ . . . . . . . . . . 483 Hakan Gürses Der kleinste Radius des Theaters

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487

Eva Julia Hoffmann Das Theater als Ort der Fabulation

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495

Anja Kundrat Transitraum „Flüchtlingslager“. Ein Nicht-Ort?

. . . . . . . . . . . . . . 501

Katharina Danner Sehen und Gesehen Werden. Politiken der Sichtbarkeit im Kampf um die Rechte Geflüchteter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 507 Melina Marcher Verletzte Grenzen der Identität

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513

Barbara Schneider Beim Sprechen und Schreiben handeln. Gendern – aber wie jetzt? . . . . 517 Sarah Auer Repräsentation und Abwesenheit

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 521

Nadine Damblon, Imke S. Pioch und Stefanie Schimanski de Lima unter Mitarbeit von Antonio Zapata Bewegliche Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 525 Bildnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 545 Autor_innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 553

Andreas Brandtner, Martina Cuba, Friedemann Kreuder und Birgit Peter

Manuscripta theatralia. Schriftenreihe zu raren Dokumenten und Archivalien im Fokus kulturhistorischer Grundlagenforschung

Die Frage nach der Bedeutung einzelner Archivalien in einer Welt der breiten Verfügbarmachung von historischem Material stand am Anfang unserer Idee, die Reihe Manuscripta theatralia zu gründen. Durch die Forschungsansätze der Digital Humanities und technischen Innovationen zur Aufbereitung von Digitalisaten erhalten ausgewählte Bestände aus Archiven und Sammlungen eine hohe Aufmerksamkeit. Neue Möglichkeiten technikbasierter Transkriptionsverfahren sollen in Zukunft rares, schwer zu entzifferndes Material der Forschung zugänglich machen, ebenso werden große Hoffnungen in vernetzte Datenbank-Projekte und virtuelle Bibliotheken gelegt. Die einzelne Archivalie rückt dabei verständlicherweise in den Hintergrund, ebenso seltene Sammlungen und unbekannte Archive, die nicht in große Digitalisierungsprojekte involviert sind. Unsere Schriftenreihe setzt ihren Fokus genau hier, um rare kulturhistorische Dokumente aus unbekannten Archiven und Sammlungen der Forschung und einer interessierten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Zudem stellen wir uns der Frage, aus welchen Gründen Material gesammelt bzw. nicht gesammelt wird. Die Bände der neuen Reihe erschließen unbekannte Quellen aus Archiven und Sammlungen oder bringen bisher nicht in Archiven gesammelte Dokumente in den Diskurs. Intention dieses Publikationsprojektes ist, ausgewähltes seltenes Quellenmaterial der internationalen Forschung zugänglich zu machen und gleichzeitig innovative kulturhistorische Forschung anzuregen. Die Bände stellen Dokumente oder archivalische Quellen (Fotografien, Tagebücher, Regiebücher, Erinnerungsalben, Autobiografien u. a.) ins Zentrum. Der Schwerpunkt liegt auf raren zeit- und kulturhistorischen Dokumenten und Archivalien bisher nicht berücksichtigter wissenschafts- und fachhistorischer Materialien. Die Auffindung, Edition und Analyse dieses Materials ist für historische Grundlagenforschung im Feld der Theater- und Kulturwissenschaft, der Sammlungsgeschichte und Provenienzforschung ein bedeutendes Desiderat. So sind z. B. Theatralia von besonderem Interesse, da es sich hier um eine Materialsorte in Archiven handelt, deren Spezifik in ihrer Mehrdeutigkeit liegt. Zu

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Andreas Brandtner et al.

Theatralia zählen Bestände, die mit Theater im weitesten Sinn assoziiert werden, weniger an Autorenschaft gebunden sind, denn an einen komplexen historischen Zusammenhang. Des Weiteren sind Lebenszeugnisse in Form von Tagebüchern, Lebensaufzeichnungen, Briefen besonders von schwer zu dokumentierenden Lebensumständen wie Flucht, Vertreibung und Exil von großem Interesse. So startet die Reihe mit dem Band Flucht Migration Theater, einer Publikation, die Dokumentation im weitesten Sinn zur Verfügung stellt. „Der lange Sommer der Migration“ von 2015 wird in diesem Band mit dem Fokus auf Theater ins Zentrum gerückt. Die Fotos der Fluchtroute auf einem Smartphone, die Arbeit von Geflüchteten in Theaterprojekten, die Spuren, die Versuche gesellschaftlicher Partizipation hinterließen, Stimmen von Menschen, die die apostrophierte „Flüchtlingskrise“ kritisch befragen, künstlerisch perspektivieren, finden sich hier als Dokumente in einem kleinen Archiv angeordnet. Unsere Bände verstehen sich als Anregung, das Interesse auf rare Materialien zu richten, um damit neue Forschungen zu ermöglichen. Dabei leitet uns die Frage, was als rar gilt. In der Logik großer Sammlungsinstitutionen sind Rara seltene, zumeist sehr alte Drucke oder Handschriften, doch ebenso seltene Bücher oder Dokumente einer als randständig wahrgenommenen oder vergessenen Lebenspraxis. Manuscripta theatralia möchte gerade solche Materialien auffinden, transkribieren, edieren und wissenschaftlich bearbeiten. Die Bände sollen grundlegendes Material und Forschungsansätze für eine Geschichtsschreibung verleugneter, verdrängter oder vergessener kultureller Alltagspraktiken zur Verfügung stellen und weitere Forschungen in raren Gebieten anregen bzw. neue Gebiete entdecken.

Birgit Peter und Gabriele C. Pfeiffer

Flucht Migration Theater. Dokumente und Positionen

Der „lange Sommer der Migration“ 2015 war Ausgangspunkt für die Ringvorlesung Flucht Migration Theater am tfm j Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien im Wintersemester dieses Jahres. Damit erschloss sich ein Forum, das Wissenschaft und Theaterpraxis zusammenbrachte und einen öffentlichen Diskurs herzustellen vermochte, indem kritisch aktuelle Diskussionen um Flucht und Migration befragt werden konnten und die Positionierung von Universität ins Zentrum gerückt wurde. Dabei standen folgende Fragen im Mittelpunkt: Wie kann Universität ihrer Verantwortung nachkommen und Ort kritischer Auseinandersetzung sein, Öffentlichkeit herstellen und Expertise versammeln? Expertise verstanden als Wissen, als Erfahrung, als Positionierung, die Fragen um Flucht und Migration mit dem Bezugspunkt theatraler Handlungen nachgeht. Dafür traten Geflüchtete, Studierende, Aktivist_innen, Künstler_innen, Performer_innen, Dramaturg_innen und Forscher_innen in Diskussionen ein, befragten Positionen, eröffneten Perspektiven. Universität wurde zu einem Ort aktueller gesellschaftspolitischer Debatte und kritischer Reflexionen. Vorliegender Band 1 der Reihe manuscripta theatralia versteht sich als Archiv der schwer zu dokumentierenden Geschichte von Flucht, Vertreibung und theatralem Ausdruck. Die am Smartphone geretteten Theatererinnerungen des syrischen Schauspielers, Johnny Mhanna, die Bilddokumente der Flucht der Brüder Ahmad und Mohammed Alian, die politischen Bilder des kolumbianischen Künstlers Antonio Zapata, die Foto-Dokumentation des Theaterkollektivs Die schweigende Mehrheit sagt JA! durch Peter R. Horn, und der Bericht der Schauspielerin Natalie Ananda Assmann stellen grundlegendes Material einer zu schreibenden Geschichte des „langen Sommers der Migration“ und ihren unmittelbaren Auswirkungen dar. Dazu gehören insbesondere auch die Interviews der Akteure (aufgezeichnet und kommentiert von Mirjam Berger, Corinne Besenius sowie Jasmin Falk, Milena von Stosch und Katharina Lehner), die durch die Theaterarbeit im Kollektiv einen – wenn auch fragilen – Zufluchtsort im prekären Status von Schutzsuchenden gefunden haben. Kontextualisiert

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Birgit Peter und Gabriele C. Pfeiffer

werden diese Dokumente durch historische Perspektiven: antike Asylproblematik auf ihre Aktualität hin befragt (Thomas Hödl), europäische Islamfeindlichkeit vermittelt über das Barockdrama (Martha Höschel, Elke Krafka), Vertreibung durch die Nationalsozialisten und Reflexionen der Exildramatik (Armin Kirchner, Peter Roessler, Fabian Wingert), die Bedeutung von Theater während des Bosnienkriegs (Senad Halilbasˇic´), die Selbstermächtigung und das Sichtbar-Werden von „Papierlosen“ im „Refugee Protest Camp Vienna“ 2012 (Katharina Danner, Petja Dimitrova, Nicholas Dobner) und die Interventionen politischer Aktivist_innen wie no border – no nation, Zentrum für politische Schönheit, Die schweigende Mehrheit sagt JA! (Gin Müller, Matthias Karl, Jasmin Falk). Gegenwärtige Theaterproduktionen, die Flucht und Migration verhandeln, bilden einen weiteren Strang an Dokumentation und Positionsbestimmungen. Aslı Kıs¸lals Theaterarbeit (aufgezeichnet von Julia Defrancesco, Moritz Hartmann, Gabriela Kielhorn), die seit den 1990er-Jahren aus der Perspektive von (Post-)Migration erfolgt, oder etwa auch jene von Ibrahim Amir (aufgezeichnet von Josepha Andras und Marius Schiener) geben Einblick in aktuelles Theaterschaffen in Wien. So genanntes „Flüchtlingstheater“ und Fluchtdramatik (Sarah Auer, Mirjam Berger, Corinne Besenius, Julya Rabinowich und Julia Danielczyk, Milena von Stosch, Azelia Gülüm Opak, Christian Steiner) werden in ihren unterschiedlichsten Aspekten dokumentiert. Theaterproduktionen für Kinder und Jugendliche verhandeln Flucht und Migrationsproblematiken schon seit langem, mitunter früher als etablierte Theaterbühnen (Gerald M. Bauer). Deren Produktionen, wie die auf Die Schutzflehenden von Aischylos, und Die Schutzbefohlenen von Elfriede Jelinek basierenden Arbeiten an Bühnen in Deutschland, Österreich und Sizilien fordern zu Diskussion auf (Sandra Engler Alonso, Silke Felber und Gabriele C. Pfeiffer, Romy Pauline Rinke, Barbara Schneider, Maria Stadlober, Hanna Voss). Wer spricht für wen und wem wird Stimme verliehen sind Fragen, die Studierende und Dramaturg_innen sowie Theaterpraktiker_innen aufgriffen und in Essays weiterdachten (Jutta Doppelreiter, Julia Maria Klös, Esther Holland-Merten, Genia Enzelberger und God’s Entertainment). Expertise aus dem Feld kritischer Migrationsforschung und gesellschaftspolitischer Zusammenhänge (Lubomir Bratic´, Sarah Itohan Fink, Hakan Gürses, Katharina Lehner, Melina Marcher, Irene Messinger) sowie Identitätsforschung queerer und medialer Realitäten (Anke Charton, Moritz Hartmann, Pascal Herowitsch, Markus Pusnik, Barbara Schneider) bieten Materialien zur Frage, welche politischen Akteur_innen und Institutionen gesetzliche Rahmenbedingungen schaffen, zur Frage wer definiert und damit Wirklichkeiten schafft. Wie sich dabei Theater verortet, was sein Potential sein kann und wie es gesellschaftlich einzugreifen imstande ist, wird ebenfalls in unterschiedlichsten Ansätzen diskutiert (Eva Hoffmann, Youngmi Kim, Anja Kundrat, Imke S. Pioch). Damit wird eine Basis hergestellt, die kritisch perspekti-

Flucht Migration Theater. Dokumente und Positionen

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viert werden kann. Der Fragilität und raschen Wandelbarkeit von Begriffen um Flucht und Migration und deren Verortung wird ebenfalls in Beiträgen nachgegangen (Nadine Damblon, Imke S. Pioch, Stefanie Schimanski de Lima und Antonio Zapata sowie Anja Kundrat). Eine Dokumentation von Initiativen und Organisationen, die Hilfe und Unterstützung für Geflüchtete bieten, zeigt die Vielfalt an möglichen engagierten Maßnahmen auf (Katharina Lehner und Romy Pauline Rinke). Der Zusammenhang von Flucht, Migration und Theater liegt in einer spezifischen Verdichtung: Es werden Fragen nach Existenz, Überleben und Identität verhandelt und durch körperliche Präsenz vermittelt. In diesen unmittelbaren Momenten kann über theatrales Handeln eine andere Öffentlichkeit entstehen, die der durch Vorurteile geprägten scheinbaren Wirklichkeit entgegensteht. Universität und Theater werden also Orte, an denen aktuell gesellschaftspolitische Probleme verhandelt werden. Hier münden sie in ein Buch, das einen Ort möglicher Archivierung bietet und historische Kontexte miteinbezieht. Dieses Buch möchte ausgehend von der Ringvorlesung einen Einblick in die unterschiedlichen Möglichkeiten des Zusammenwirkens von Flucht, Migration und Theater aufzeigen, die repräsentative Formen wie aktuelle Bearbeitungen an Staatstheatern sein können, doch viel mehr im Feld von postmigrantischem Theater, politischen, theatralen Aktionen und Aktivismus oder historisch im Feld von Widerstand und Exiltheater zu finden sind sowie die unterschiedlichsten Stimmen und Reflexionen zu diesem Themenbereich lesbar machen. Die Beiträge in diesem Buch sind als ein imaginäres Archiv der Geschichte von Flucht unter dem Schwerpunkt Theater angeordnet. Unter den Kategorien Initiative ergreifen, Ausdruck verleihen, Bilder schaffen, Stimmen lesen, Dokumente finden und Definitionen befragen finden sich Texte, Bilder, Dokumentationen und Reflexionen als grundlegende Materialien der zu schreibenden Geschichte von Flucht und Migration. Birgit Peter und Gabriele C. Pfeiffer, Juli 2016

Dank

Das allseits große Engagement der Beiträgerinnen und Beiträger sowie die außergewöhnliche Offenheit der Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner ermöglichte es, diesen Band herausbringen zu können. Besonderer Dank gilt ebenfalls dem unermüdlichen Einsatz von Jasmin Falk, Melanie Konrad, Corinne Besenius, Katharina Lehner, Imke S. Pioch und Antonio Zapata. Gin Müller, Peter R. Horn, Gerald M. Bauer, Martina Cuba, Julia Danielczyk, Aslı Kıs¸lal, Genia Enzelberger, Esther Holland-Merten, Sara Tiefenbacher, Stefan Schweigler und Johannes A. Löcker standen mit ihrer Großzügigkeit und wertvollem Rat und Hilfe zur Seite. Friedemann Kreuder und Andreas Brandtner von der Johannes Gutenberg-Universität Mainz befürworteten von Beginn an mit Empathie und Leidenschaft dieses Projekt. Rainer M. Köppl und Christian Schulte, Vorstandsteam des tfm j Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft, das Dekanat der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät sowie das Rektorat der Universität Wien verhalfen dem Zustandekommen des Buches. Susanne Franzkeit, Oliver Kätsch, Anke Moseberg und Marie-Carolin Vondracek von V& R unipress unterstützten kompetent, stets engagiert und flexibel den Arbeitsprozess.

Initiative ergreifen

„Theater auf Augenhöhe“ Gespräch mit Aslı Kıs¸lal am 08. 04. 2016 im Werk X, Wien von Julia Defrancesco, Moritz Hartmann und Gabriela Kielhorn

Aslı holt uns bei der U6 Station Tscherttegasse ab. Es ist ein kalter und regnerischer Apriltag. Ohne Regenschirm brechen wir zum Werk X auf – „dem Theater am Arsch der Welt“. Schon bei der ersten Begegnung mit Aslı Kıs¸lal 2015 bei ihrer Vorlesungseinheit in der Ringvorlesung hat sie uns mit ihrer unverblümten Art beeindruckt. Bei aufwärmendem Tee stellt Aslı sich vor: 1970 in Ankara geboren, begann sie nach der Matura, Internationale Beziehungen in Istanbul zu studieren. Während des Studiums arbeitete sie als Journalistin. Dann kam Aslı nach Wien. Hier sammelte sie erste Theatererfahrungen im Interkulttheater, einer von Aret Güzel Aleksanyan geführten „Begegnungsstätte verschiedener Kulturen“. Schließlich entschied Aslı sich für die Schauspielerei als Beruf und schaffte es mit ihren geringen Deutschkenntnissen bis in die dritte Runde des Max Reinhardt Seminars. Sie verbesserte ihre Sprachkenntnisse und wurde 1995 im SchubertKonservatorium aufgenommen. Heute ist sie Schauspielerin, Regisseurin und Gründerin des Theater- und Kulturvereins daskunst. Ebenso gründete und leitet sie das diverCITYLAB, in dem u. a. eine Performance- und Schauspielausbildung angeboten wird.

Was waren Deine erste Stationen nach dem Abschluss der Schauspielausbildung? Als sie mir am Konservatorium mein Diplom in die Hand gegeben haben, haben sie gesagt: „Geh nach Deutschland, denn hier hast du keine Chance!“ Zum Glück hatte ich schon während der Ausbildung sehr viele offene Lehrer, die das ebenso gesehen haben. Sie haben mich wirklich gedrillt, um mir die Sprache und die richtige Aussprache beizubringen. Dann bin ich also nach Deutschland gegangen und habe jahrelang im Ensemble vom Theaterhaus Stuttgart gespielt. Irgendwann hatte ich dann das Gefühl, ich werde eine Beamtin in einem Theater – es gab nur noch Routine und mir haben innovativere Dinge oder auch Impulse vom Ensemble gefehlt. Ich habe versucht, das zu ändern, aber es hat nicht geklappt und dann bin ich wieder zurück nach Wien gegangen. Dort habe ich unter Echo, einer Plattform für die zweite und dritte Generation von Migrant_innen, ein Theaterprojekt herausgebracht: Dirty Dishes. Wir waren über 30 Leute – Tänzer_innen, Musiker_innen, Schauspieler_innen – und nachdem Echo geschlossen hat, hat sich die Kerngruppe in einen Verein um-

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„Theater auf Augenhöhe“

gewandelt. So ist daskunst entstanden. Wir haben Theater gemacht – so dachten wir jedenfalls –, aber nach dem zweiten Stück haben wir mitbekommen, dass das für die Leute anders läuft. Für die war es eher, „Aslı und ihre Türken machen Migrantentheater.“ Glaubst du, dass daskunst die Wahrnehmung von Migrant_innen verändert hat? Wie lief die erste Zeit mit der Gruppe daskunst? Erzähl doch bitte ein bisschen was von den ersten Jahren und dem zeitlichen Kontext während der Gründung! Die Theatergruppe daskunst ist zwischen 2002 und 2004 entstanden – genau zu dieser Zeit gab es einen Umbruch in der Wahrnehmung von Migrant_innen. Wir hatten den 11. September hinter uns, es gab Unruhen in Frankreich und England. Plötzlich hat sich die Politik für „Migrant_innen“ interessiert, ohne dass sie ihre eigene über Jahrzehnte verfehlte Sozial-, Bildungs- oder Wohnraumpolitik infrage gestellt hätten. Plötzlich wurden die „Multikulti“-Fantasien – bis dahin im Trend in Form von gemeinsamem orientalischen Kochen und Tanzen – für „gescheitert“ erklärt. Das Nebeneinanderleben war damit gestorben, jetzt musste über die „Integrationsfähigkeit“ von Migrant_innen geredet werden. In Deutschland waren die Projekte viel politischer. Es lag auf der Hand, politische Stücke zu machen, mit Menschen oder auch mit Künstler_innen, die aus politischen Gründen geflüchtet waren. Das Problem sehe ich dann in den ’90er-Jahren, wo sich diese Gruppierungen schon längst in gewissen beruflichen Nischen etabliert hatten, ohne sich weiter mit ihrem künstlerischem Tun zu befassen. Diese mangelnde Auseinandersetzung mit sich selbst hatte zur Folge, dass ihre Stücke Belehrungen glichen, mit einer propagandistischen Haltung. daskunst dagegen war eine neue Ausrichtung: Eine Mischung aus Künstler_innen aus aller Welt und mit jungen Talenten, die als zweite und dritte Generation österreichische Staatsbürger_innen waren und sich an Kunst versuchen wollten. Die Zuschauer_innenpalette reichte von der türkischen Community bis zu Uni-Student_innen. Dennoch wurde uns der Stempel der Vorzeige-Gruppe der Migrant_innen, die Theater machen, aufgedrückt. Den Stempel aufgedrückt – Als Aslı uns von ihren Erfahrungen berichtet, spricht sie aufgebracht. Sie selbst betrachtete sich nie als Ausländerin oder Migrantin und die Auseinandersetzung mit dem kulturell verankerten Schubladendenken treibt sie an, neue Strukturen und Umgangsweisen zu etablieren – abseits von Kategorisierungen und festgefahrenen Denkmustern.

Hat sich das auch in deiner Arbeit reflektiert? Wie bist du damit umgegangen? Ich hab die Leute von daskunst nicht gefragt, aus welchem Land sie kommen, sondern ich habe durch meine Vernetzung spannende Leute getroffen, in denen

Gespräch mit Aslı Kıs¸lal am 08. 04. 2016

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ich große Talente gesehen habe oder die in ihren Ländern schon Schauspielunterricht hatten, Theaterwissenschaft studiert, Kunst gemacht haben, und die hier keinen Zugang fanden. So hat sich die Gruppe entwickelt. Und irgendwann kam von außen dieser Stempel daher. Da war auch für mich zum ersten Mal klar, dass ich nicht als Regisseurin oder Schauspielerin gesehen werde, sondern als „die Türkin, die Theater macht“. Und auch als wir dann 2008 und 2009 nach vier, fünf Jahren auf verschiedenen Festivals gespielt hatten und in Kärnten einen Preis für das beste Stück gewonnen hatten und vom Publikum bejubelt worden waren, waren wir immer noch die Migrant_innen, die Theater machen. Für mich als Künstlerin war das grausam. Ich hatte diesen Stempel zuerst in Deutschland am Theaterhaus Stuttgart bekommen, wo ich engagiert war. Dort hat das Theater mit einem internationalen Ensemble geprahlt und neben unseren Namen standen in Klammern immer unsere Nationalitäten. Ich war noch sehr jung, als ich dorthin gegangen bin, alle anderen waren schon alte Hasen, aber das mit den Nationalitäten hat mich so irritiert, dass ich gefragt habe, ob ich hier jetzt die Türkei repräsentiere, ob mich der türkische Staat wie eine Diplomatin hierher geschickt hat, sodass neben meinem Namen die Nation stehen muss. Reicht mein Name und mein Aussehen nicht, muss man noch einen Stempel dazugeben? Da habe ich, glaube ich, das erste Mal den Ausdruck „positiver Rassismus“ verwendet. Ich wollte wenigstens für mein Ego wissen, ob ich hier bin, weil ich Türkin bin oder weil ich gut spielen kann. Das hat dann Wellen geschlagen und dann hat das Theater diese Klammern herausgenommen. Das war wahrscheinlich meine erste, unbewusst gesetzte, politische Aktion. Aslı beschreibt während des Interviews immer wieder das Potenzial des Theaters, Ängste in der Gesellschaft im Bezug auf geflüchtete Menschen abzubauen und Vorbild zu sein, im gleichwertigen Zusammenleben. Nur auf einer gleichwertigen Ebene kann Instrumentalisierung von Geflüchteten vermieden und ein echter Prozess gesellschaftlicher Veränderung eingeleitet werden.

Wie haben die großen Wiener Institutionen, wie das Burgtheater, reagiert? Als wir Pimp my Integration 2009 machten, und alle großen Institutionen um Statements gebeten haben oder aufgefordert haben, zur Diskussionsrunde zu kommen, war vom Burgtheater zum Beispiel die Antwort immer klar : „Das ist für uns kein Thema.“ Diese Antwort wurde vom Burgtheater auch vor den Ö1Redakteur_innen gegenüber vertreten. Wir waren jedoch glücklich, dass der Vertreter vom Theater der Jugend und vom Max Reinhardt Seminar unter anderem an unseren Diskussionsrunden teilgenommen haben, aber das waren auch die einzigen Theaterinstitutionen, die mitmachen wollten. Sehr süß fand ich, dass sie eigentlich gekommen waren, um zu zeigen, dass sie bereits Inte-

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gration in ihren Theatern bzw. Ausbildungsstätten betreiben und dass eben der Vertreter des Theater der Jugend gesagt hat: „Ja, wir haben einen russischen Schauspieler gehabt, der musste halt besser Deutsch lernen und so weiter.“ Am Ende dieser Diskussion jedoch meinte er : „Ich glaube, ich habe heute was gelernt – eine neue Perspektive gelernt.“ Das war einer der wichtigsten Momente. Die Diskussionsrunde war jetzt schon vor sechs Jahren und ob diese beiden Institutionen irgendetwas dementsprechend geändert haben, weiß ich nicht – immerhin verfolge ich sie nicht – leider. Wie siehst du die aktuelle Entwicklung, dass zurzeit viele kulturelle Projekte mit „Flüchtlingen“ realisiert werden? Politik versagt wieder und die Kunst übernimmt Verantwortung, zeigt Zivilcourage und zeigt Ansätze – und zwar wirklich klare Ansätze, fast wie Forderungen, wenn sich das Außenministerium äußert. Anfangs fand ich diese Verarbeitung der Kunst noch gut, weil wenigstens eine gesellschaftliche Instanz daran gearbeitet hat. In den letzten eineinhalb Jahren war ich in zwei bis drei Jurys tätig und bei jeder Jury habe ich sicherlich 130–180 Konzepte gelesen. Irgendwann kotzt es einen an, wenn jedes Thema dann mit denselben zwei, drei Sätzen so abschließt: „Da können auch Flüchtlinge mitmachen!“ oder „Wir können das auch für Flüchtlinge anbieten!“ Also das Fazit ist, dass solche Bemühungen von Seiten der Kunst am Anfang positiv zu bewerten sind, aber es ist zu bedenken, ab wann es sich dabei nur noch um eine Instrumentalisierung von geflüchteten Menschen handelt. Kunst war unglaublich elitär und jetzt gibt es Öffnungen hin zur Masse und das find ich gut, weil ich denke, dass Kunst zum Alltag gehört und zu jedem Menschenleben. Es ist Halbzeit beim Interview und auch der Regen hat sich ein wenig gelegt. Bevor wir die zweite Hälfte des Interviews beschreiten, gönnen wir uns eine Toiletten- und Zigarettenpause.

Wie hast du deinen Ansatz umgesetzt? Mit dem diverCITYLAB – mit diesem Ansatz widme ich mich auch einer Professionalisierung. Wenn man Kunst nicht nur nebenbei machen will, sondern sich dafür berufen fühlt und weitermachen will, dann sehe ich eben die Notwendigkeit zur Professionalisierung. Professionalität heißt im Grunde eigentlich nur, davon leben zu können. Wenn ich also sage, dass Kunst für alle ist, dann heißt das nicht, ich schaffe ein Berufsfeld. Es heißt lediglich, dass ich eben davon leben kann. Das ist zwar ein sehr kapitalistisches Denken, aber das ist sozusagen die Annahme auch beim AMS [Anm., Arbeitsmarktservice Österreich] – du

Gespräch mit Aslı Kıs¸lal am 08. 04. 2016

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musst beweisen, dass du irgendwann schon mal davon leben konntest. Es brodeln überall Talente, aber nicht jeder oder jede will unbedingt Künstler_in sein und es muss auch nicht jede_r Künstler_in sein. Aber wenn es jemand will und der Zugang für ihn oder sie durch die Umstände, durch sichtbare und unsichtbare Diskriminierung verwehrt bleibt, dann muss es Konzepte geben, damit sie diese Liebe, die sie für Kunst spüren, auch erleben dürfen. Wie erlebst du diese Gratwanderung hin zur Instrumentalisierung – vielleicht auch im Bezug aufs diverCITYLAB? Dazu kann ich sehr schöne Brücken schlagen. Nicht immer muss ich, nur weil ich geflüchtete Menschen vor mir habe, auch gleich deren Geschichten wissen. Wenn ich immer auf dieser Schiene fahre, dann befriedige ich nur mein MitleidsPensum, aber eine Hilfe oder Unterstützung für sie oder die Gesellschaft biete ich damit nicht und dann handelt es sich eben um Instrumentalisierung. Auf Schauspielebene gibt es da dann noch das Problem, diese Leute immer in die gleichen Rollen schlüpfen zu lassen. Ich habe jetzt zum Beispiel ein paar junge Leute und einer von denen war in einem Zwiespalt. Er wusste nicht, ob er hier zum diverCITYLAB kommen soll oder die vielen Angebote, wo er bezahlt würde, annehmen soll. Ich finde es super, dass er loslegen kann, trotzdem habe ich gefragt: „Wie oft kannst du deine Geschichte erzählen? Wie oft spielst du dann Flüchtling? Wann hast du dann die Chance etwas Anderes zu spielen?“ Das ist wieder das Stempel-Thema: „Das ist unser Flüchtling.“ Ich war jahrelang die türkische Frau mit dem Kopftuch und das türkische Mädchen im Film. Ich habe nach dem dritten, vierten Film selbst mitgekriegt, in welche Falle ich reingetappt bin. Natürlich verstehe ich den Aspekt des Geldes, wenn man, für kurz mal fünf Minuten was drehen, tausend Euro in die Hand gedrückt bekommt, ist das schon was, aber im Endeffekt verkaufe ich mit diesem Geld meine Seele und dann spiele ich ihr Spiel mit. Es braucht Zeit, Fehler zu machen und in die Fallen hineinzutappen, weil es noch keinen offenen Diskurs darüber in unserer Branche gibt. Wir sind jetzt gerade in einer Entwicklungsphase, in der wir zuerst die Maßstäbe verorten müssen. Wie kann man es besser machen? Wie machst du es? Es gab so eine Welle im Filmbereich, Darsteller_innen für bestimmte Rollen zu suchen, aber an den falschen Orten zu suchen. Wenn ich also einen Taxifahrer suche, gehe ich zur Schauspielschule, aber wenn ich einen türkischen Taxifahrer suche, dann gehe ich zum Taxistand. Das heißt nicht, dass meine Studierenden endlich mal die professionellen Schauspiel-Taxifahrer der Filmbranche werden sollen, aber durch die Diversität, die in der Branche geschaffen wird, ändern sich

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auch die Drehbücher. Wenn wir hier z. B. alle vier gemeinsam Theater machen auf einer Augenhöhe, dann ist das postmigrantisches Theater für mich, weil es dann eine neue Realität gibt. Es wird dann nicht mehr unterschieden in Deutsche, Österreicherin, Türkin, sondern es gibt dann ein Wir. Wir setzten uns gemeinsam hin und machen etwas. Das ist unser Heute – das ist unsere Geschichte, das heißt die Geschichte dieser Gesellschaft und genau darum geht es: Eben diese Geschichten dieser Menschen zu einem Wir zu machen und nicht mehr „die“ sagen. Also Gleichberechtigung zu schaffen und zu verankern. Die Geschichten sind dann gleichberechtigt, die Akteure sind gleichberechtigt und es gibt dann keine Herkunftshierarchien mehr. Theater als Spiegel der Gesellschaft – Obwohl das Theater oft in solch einen Rahmen gesetzt wird, betrachtet Aslı das sehr kritisch. Denn historisch gesehen war das Literaturund Sprechtheater ein elitäres Vergnügen und der Zugang für die Masse praktisch nicht vorhanden. Damit das Theater also den Anspruch eines Spiegels erfüllen kann, braucht es Öffnungen und Auseinandersetzung mit aktuellen gesellschaftlichen Thematiken.

Wird unsere Gesellschaft im heutigen Theater überhaupt angemessen repräsentiert? Im 17. Jahrhundert ist das schon passiert, da müsste man in Frage stellen, warum man diese Argumente heute noch bringt! Als damals in Frankreich Othello gespielt und von einem schwarzen Schauspieler dargestellt wurde, haben sich die Zuschauer_innen geweigert, ihn auf der Bühne zu sehen! Im 17. Jahrhundert! Heute müssten wir also schon ein bisschen weiter sein. Das ist natürlich eine unglaubliche Erziehungsgeschichte: „Entspricht das, was ich bisher auf der Bühne gesehen habe, dem, was ich als normal erlebe?“ Die MTV-Generation hat einen anderen Blick als die Generation zuvor, weil MTVes geschafft hat, mit ihren Moderator_innen eine Bandbreite im Publikum und der Gesellschaft darzustellen. Spiegelt Theater die Gesellschaft wider? Wenn ich hier herumgehe, dann sehe ich eine andere Welt als im Theater. Kann das sein? Darf das sein? In welchem Jahrhundert lebt dann das Theater? So zum Beispiel ist Kinder- und Jugendtheater auch ein alter Begriff. Mittlerweile hat er sich ja auch ganz neu entwickelt – also seit Anfang 2000. Vorher haben die Schulen Vorgaben gehabt: Einmal mindestens müssen Schüler_innen ins Theater gehen, aber wo sind sie ins Theater gegangen? Zu den Erwachsenenstücken oder zu den Kinderstücken? Auf der einen Seite fühlten sich die Jugendlichen einfach für blöd gehalten und auf der anderen Seite haben sie den Faden verloren. Das heißt, sie haben die Liebe zur Kunst durch die Schule, durch zwanghafte Besuche eines Theaters, verloren. Heute gibt es sehr viele Stücke genau ihrem Alter entsprechend, mit ihren Inhalten und dadurch gehen sie gern

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ins Theater. Das heißt, die Inhalte sind ganz wichtig – dadurch sind sie es auch für ein gemischtes postmigrantisches Publikum. Wenige Monate später – Die Sonne knallt auf unsere Köpfe herab, die Identitären stürmten eine Aufführung von Jelineks Schutzbefohlenen im Audimax und Großbritannien beschloss mehrheitlich den Ausstieg aus der EU, Norbert Hofer hat eine zweite Chance bekommen, Bundespräsident von Österreich zu werden. Die Veränderungen klopfen an alle Tore und Aslı fordert die politische Verantwortung in der Theaterwelt auf, endlich abseits von emotional porn zu erwachen. Es muss ein Prozess der Sensibilisierung eingeläutet werden und die Theater müssen die Diversität der Gesellschaft repräsentieren, um überhaupt Spiegel dieser sein zu können.

Gin Müller

Grenzverletzer_innen und Performativität von Grenzen

„Der Pass ist der edelste Teil eines Menschen“

Bertolt Brechts Zitat aus den Flüchtlingsgesprächen1 ist nach wie vor äußerst aktuell. Die Grenze ohne Pass zu überschreiten, kann noch immer eine große physische, tödliche oder juristische Hürde bedeuten. Doch was für einen Ort/ Nicht-Ort verkörpert eine Grenze und welche grenzverletzende Figuren und politischen Akteure_innen des Widerstands produziert sie? Diskurse um Performativität, Performance und politisches Handlungsvermögen bedingen die Infragestellung bestimmter Grenzen. Auch die Frage, wie es möglich ist, im medialisierten Zeitalter radikal demokratisch zu handeln und performativ subversiv grenzüberschreitend zu agieren, ist eine theaterspezifische und gleichzeitig politische Themenstellung. Die Auseinandersetzung mit Performativität bezieht sich in diesem Horizont auch auf die Suche nach Möglichkeiten in inszenierte gouvernementale Ordnungen einzugreifen.2 Performativität ist ein Begriff der Sprachwissenschaft mit Bezug zur Handlung,3 im Theater- und Medienbereich ist er jedoch mehr ein Echt-Zeit-Begriff bzw. ein Ereignis. Performative Praktiken bedingen demnach einen Zustand permanenter Dynamisierung und eines ständigen Wechsels.4 Die Performance bezeichnet zum einen das Prozesshafte, das Flüchtige innerhalb experimenteller Kunst, die mit dem Live-Körper im Raum arbeitet, zum anderen braucht es wiederum in den Medien eine gute „Performance“ als perfekte Inszenierung. Die verschiedenen Bedeutungen und Verwendungen der Begriffe sind, wie Perfo1 Bertolt Brecht, Flüchtlingsgespräche, Frankfurt/Main 1962, S. 7f. 2 Vgl. Michel Foucault, „Die Gouvernementalität“, in: Thomas Lemke / Ulrich Bröckling (Hg.), Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt/ Main 2000, S. 41–67. 3 Vgl. John L. Austin, Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with words), Deutsche Bearbeitung von Eike von Savigny, Stuttgart 1998. 4 Vgl. Erika Fischer-Lichte, „Vom Text zur Performance, der performative turn in den Kulturwissenschaften“, in: Was soll das Theater?, Ästhetik & Kommunikation 31/110, 2000, S. 65–69, S. 65ff.

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mance-Theoretikerin Marie Luise Lange in dem Buch Grenzüberschreitungen darlegt, je nach Blickwinkel und Anwendung zwischen Fiktionalität und Wahrhaftigkeit bzw. Authentizität situiert und verweisen auf eine gewisse Liminalität zwischen einer Handlung im Echt-Zeit-Raum und einer PseudoHandlung in den Medien. Sie referiert auf den Theatertheoretiker Victor Turner, der davon ausgeht, dass ein liminales Feld zwischen Zeiten und Orten einen Spielraum und soziales Zwischenstadium schafft, eine Schwelle zwischen alten und neuen Ordnungen herstellt.5 Jacques RanciHre analysiert im Buch Die Aufteilung des Sinnlichen (2000) Ästhetik als spezifische Ordnung des Identifizierens und Denkens von Kunst: Kunst ist in diesem Sinn keine Ausnahme gegenüber anderen Praktiken, aber sie wirkt vor allem dadurch politisch, dass sie ein Sensorium schafft (indem sie Veränderungen von Beziehungen und Aufteilungen vornimmt) und Dissens herstellt.6 Die Aufteilung des Sinnlichen bestimmt also auch die Ästhetik der Politik: Politik ist der Konflikt für die gemeinsame Bühne, wobei die Polizei eine Ordnung des Sichtbaren im öffentlichen Raum repräsentiert.7 Doch welche Rolle spielen auf dieser Bühne öffentliche Kunstpraxen und inwiefern können performative Aktionen Handlungsspielräume ändern? Wie werden in künstlerischen Projekten, Performances, Theater- und aktivistische Praktiken Grenzen und Grenzverletzer_inner dargestellt? Wie werden dramaturgisch Nationen, Räume und öffentliche Bühnen durchque(e)rt und bespielt?

Grenze – Granica – Finis – Frontiera – Limes Das deutsche Wort Grenze beruht auf dem polnischen und russischen Begriff granica und, wie Gerald Raunig in seinem Buch über Kunst und Revolution im Kapitel über „die Dilatation der Grenze“ ausführt, gibt es im lateinischen Sprachgebrauch mindestens drei Begriffe:8 Finis umschreibt die Bedeutung von Grenze, Schranke, Ziel, Ende, und steht in Zusammenhang mit dem Begriff confinis (abgrenzend, benachbart). Diese Wörter verweisen in ihrer Bedeutung gleichsam auf Zonen der Angrenzung und 5 Vgl. Marie-Luise Lange, Grenzüberschreitungen, Wege zur Performance, Körper – Handlung – Intermedialität im Kontext ästhetischer Bildung, Königstein 2002, S. 28. 6 Vgl. Jacques RanciHre, Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien (2000), übers. v. Maria Muhle et al., Berlin 2006. 7 Vgl. Ludger Schwarte, „Macht und Aktion. Zur Performanz politischer Öffentlichkeit“, in: Birgit Hass (Hg.), Macht- Performativität, Performanz und Politiktheater seit 1990, Würzburg 2005. 8 Vgl. Gerald Raunig, Kunst und Revolution. Künstlerischer Aktivismus im langen 20. Jahrhundert (= Reihe repubilcart 4), Wien 2005, S. 224–232.

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der Grenze als räumliches Ende. Der römische Feldherr Cäsar zollte in seiner Schrift bello gallico jener Stadt äußerstes Lob, die um sich herum den weitesten Streifen verwüstet hatte. Die Grenze ist bereits in dieser Umschreibung ein Grenzstreifen und breiter Rand, das Niemandsland. Der Begriff frontiera bzw. frontiHre bezeichnet hingegen die schroffe, raumlose Grenze, bzw. eine Stirn und Oberfläche, auch die militärische Front. Die Frontlinie ist demgemäß die den Feinden gebotene Stirn und durch Zusammenstöße kommt es zu Verschiebungen. Vom 15. bis zum 17. Jahrhundert verwandelten sich die militärischen Grenzen zu Landesgrenzen. Begriffe von Nation und nationalen Grenzen produzierten auch die Konstruktion nationaler Identität. Damit einher ging der Wandel und der Charakter der territorialen Grenze, hin zu einer moralischen Grenze, die das Innere der Nation schützt. Die frontiHre markiert ebenso eine Grenzlinie, wo Identitäten aufeinanderprallen und der Machtkampf zwischen Innen und Außen tobt. Der lateinische Begriff für Grenzwall: limes, verweist darüber hinaus konkret auf eine befestigte römische Expansion. Das französische Wort limit8 bezeichnete wiederum im 15. und 16. Jahrhundert Demarkationslinien zwischen verschiedenen Ländereien bzw. auch ökonomische Grenzen, die mit Steinen und Pfählen markiert wurden. Die fortschreitende Ökonomisierung der Grenzen, die heute unter Bedingungen einer neoliberalen Ökonomie unter postfordistischen Bedingungen steht, zielt auf die Selektion von Menschen, und es wird zwischen guten legalen „Flüchtlingen“, Migranten_innen und schlechten illegalen und sogenannten „Armuts- und Wirtschaftsflüchtlingen“ unterschieden. Die Rede von der Auflösung der Grenzen in der neoliberalen Globalisierung des Kapitals ist jedoch nicht für alle möglich, was immer neue Änderungen und Selektionsgesetze im Asylrecht belegen. Im Transformationsprozess der Globalisierung wurden zwar einige sichtbare Grenzen abgebaut, im Gegenzug dazu andere umso stärker militarisiert, um illegale Grenzgänger_innen abzuhalten. Die sogenannte „Flüchtlingskrise“ (nach dem langen Sommer 2015) erzählt auch vom Umgang Europas mit einer solidarischen „Willkommenskultur“, dem vermehrten Aufkommen rechtsextremer Parteien und rassistischen Übergriffen gegen Migranten_innen sowie der Schließung von Flüchtlingsrouten nach Europa. Doch von einer „rechtsextremen Krise“ wird in der Sprachperformance von Medien und Parteien kaum gesprochen. Grenzregime funktionieren, wie Politiker_innen symbolisch medial und tatkräftig zeigen nach wie vor durch den Aufbau von Stacheldrahtzäunen und bewaffneten Grenzschützer_innen. Das staatliche theatrum gouvernemental setzt Grenzen und Abschottungspolitik gegen Flüchtlinge und Migranten_innen durchaus gezielt martialisch in Szene, doch medial wird stets versucht mit hu-

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maner Geste gegen Illegale vorzugehen. In Zeiten von Biopolitik und medialen Netzwerken könnten Grenzen auch flexibel und virtuell transnational erweiterbar gedacht werden. Jedes Grenzregime produziert Grenzverletzer- und Normbrecher_innen: Exemplarische Figuren sind der/die Schmuggler_in, Schlepper_in, Flüchtling, Fluchthelfer_in, aber auch Hacker- und Whistleblower_innen.9 Grenzverletzende, performative Praktiken wie z. B. der Refugee Konvoi, der im September 2015 in einer großen Autokarawane Flüchtlinge aus Ungarn abholte und nach Wien brachte, konnten real und medial Handlungsspielräume erweitern, und Grenzregime dabei offensiv in Frage stellen. Dabei geht es auch um die Frage: Wie die Grenze zum Oszillieren bringen? Was bedeutet Grenzüberschreitung als Transgression und wie werden gewisse Grenzen auch im Inneren überwunden und Räume der Überschreitung geschaffen? Toni Negri verstand den maßlosen Grenzraum als konstituierende Macht, die Potentialität und Möglichkeit schafft, durch soziale Organisationen bestimmte Räume im Konflikt zu öffnen.10 Im September 2015 schuf der Refugee Konvoi als Schienenersatzverkehr für Flüchtlinge, die nach Deutschland und Österreich wollten, eine solche Möglichkeit: Politik und Polizei als Ordnung des Sichtbaren stoppten die öffentliche Protestaktion von sozialen und künstlerischen Aktivisten_innen nicht und der Konflikt produzierte gemeinsam mit dem Druck der Geflüchteten, die die Grenzen unentwegt zu überqueren versuchten, eine Öffnung des Handlungsraums. In den darauf folgenden Wochen beschlossen die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel und die überforderte österreichische Regierung, die Grenzen für Flüchtlinge zumindest für einen bestimmten Zeitraum zu öffnen. Das Organisationskollektiv des Refugee Konvoi wurde im Herbst bei der 2. Internationalen Schlepper- und Schleusertagung (ISS) an den Münchner Kammerspielen für ihr grenzüberschreitendes Projekt mit dem Lisa Fittko-Preis ausgezeichnet,11 der nach der Fluchthelferin vieler Jüdinnen und Juden im Dritten Reich benannt ist.12

9 Vgl. Eva Horn / Stefan Kaufmann / Ulrich Bröckling, Grenzverletzer. Von Schmugglern, Spionen und anderen subversiven Gestalten, Berlin 2002. 10 Vgl. Raunig, Kunst und Revolution, S. 230f. 11 Vgl. Münchner Kammerspiele, „2. Internationale Schlepper- & Schleusertagung 2015, Freitag 16.10. bis Sonntag 18.10., Kongresshalle der Münchner Kammerspiele“, 2015, https:// www.muenchner-kammerspiele.de/2-internationale-schlepper-schleusertagung-2015 [24. 07. 2016]. 12 Die österreichische Widerstandskämpferin Lisa Fittko (1909–2005) rettete als Fluchthelferin viele Jüdinnen und Juden vor der nationalsozialistischen Verfolgung.

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Flüchtling, Migrant_in, Exilant_in, Asylant_in, Sans Papier … Mensch Pässe ermöglichen die Kontrolle der Identität und des Raums den Personen durchschreiten, sie regeln Zugänge und Aufenthalte. Menschen mit falschen oder keinen Papieren, sans papier, stellen für Behörden in Zeiten von terroristischen Attacken eine potentielle Gefahr dar oder erscheinen in der Gruppe bereits oft als eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit. Nach 9/11 wurden Pässe verstärkt mit biometrischen Merkmalen versehen, um die Personenidentifizierung durch Fingerabdrücke und Gesichtserkennung zu erleichtern. Effekte der modernen biopolitischen Maßnahmen bekam aber auch eine politische Künstlerinnengruppe, das Critical Art Ensemble13 zu spüren – ein Truppe, die sich bereits seit 1987 mit zivilen und künstlerischen Widerstand im Feld von Cyberspace und Biotechnologie beschäftigt. 2004 wurde ein Mitglied der Gruppe aufgrund der neu geschaffenen Terrorismus-Präventiv-Gesetze verhaftet. Aber auch Grenzen thematisierende Projekte wie die VolxTheaterKarawane, die von 2001–2004 an verschiedene Plätze Europas reiste, um an noborder-Camps, Globalisierungs-Gipfeln und Kunstfestivals teilzunehmen und das Recht für Bewegungsfreiheit zu fordern, stießen mit ihren künstlerischaktivistischen Projekten an juridische Grenzen. Die Auseinandersetzung um die Performativität von Grenzen öffnete zwar spezifische liminale Handlungsfelder, geriet aber auch schnell mit repressiven staatlichen Fronten in Konflikt.14 „Ein Flüchtling zu werden“ geschieht einem Menschen, im Gegensatz zur Migration oder Emigration, die auch freiwillig passiert.15 Eine Flucht gelingt oft auch nicht. Es gibt viele Misserfolge, viele Tote, viele der Flüchtenden „verschwinden“ einfach. Diese Flüchtenden verkörpern symbolisch und real das nackte und vogelfreie Leben,16 sie brechen auf, um nicht anzukommen, sondern oft nur um wegzukommen, um zu überleben. Je geschützter die Grenzen, desto größer die Gefahr, es nicht zu schaffen. Viele Flüchtenden haben oft keine richtigen Papiere, oder sie werden vernichtet, weil sie mitunter Grund zur Flucht waren. Pässe gehen auf der Reise verloren oder werden abgenommen. Was aber tun mit einem Menschen der keinen Pass hat? Nachdem im ersten Weltkrieg viele Menschen staatenlos geworden waren, wurde vom Völkerbund nach 1921 13 Vgl. Critical Art Ensemble, http://www.critical-art.net/ [24. 07. 2016]. 14 Vgl. VolxTheaterKarawane 2001–2004, http://no-racism.net/noborderlab/ [24. 07. 2016]. 15 Vgl. Eva Horn, „Der Flüchtling“, in: diess. / Stefan Kaufmann / Ulrich Bröckling (Hg.), Grenzverletzer. Von Schmugglern, Spionen und anderen subversiven Gestalten, Berlin 2002, S. 23–40. 16 Vgl. Giorgio Agamben, Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, übers. v. Hubert Thüring, Frankfurt/Main 2002.

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ein Pass für Staatenlose geschaffen, z. B. für die Armenier im Osmanischen Reich. Sie wurden ermordet oder zur Flucht gezwungen und auch von Russland nicht anerkannt. Oder auch für Jüdinnen und Juden, denen die Staatsangehörigkeit im Deutschen Reich abgesprochen wurde. Die sogenannte völkischrassistische „Entmischung“ knüpfte den Pass immer stärker an kulturelle, ethnische und religiöse Identität. Die staatliche Auslegung der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 fällt im Vergleich sehr unterschiedlich aus und ermöglicht u. a. die Unterscheidung in Begriffe wie Kriegs- und Wirtschaftsflüchtling. Aber Fluchtgründe sind sehr individuell und komplex. Nur „privilegierte“ Flüchtlinge können freier wählen, die Heimat zu verneinen, sich bewusst von ihr abzulösen und reflexiv spielerisch damit umgehen – oder wie Flusser sagt, Migration sei zwar eine „schöpferische Tätigkeit, aber auch ein Leiden“.17 „Ins Exil gehen“ nannte man, wie Eva Horn in ihrem Text über die Figur des Flüchtlings schreibt, „die Flucht zu Zeiten wo es noch einen Hauch von freier Entscheidung gab“.18 Das Exil war in seiner ursprünglicher Bedeutung ein Ort der Verbannung und ein Ort der Abgeschiedenheit. Exil ist aber auch Chiffre für Fremd-Sein: im Exil ist der Mensch mit Heimweh konfrontiert, was mitunter eine negative Konnotation des Begriffs ausmacht bzw. auf ein Defizit verweist. Der Begriff Asyl (griechisch asylon) wirkt hingegen eher positiv : Asyl ist eine der Grundlagen des Rechtsschutzes und bietet einen Zufluchtsort. Das Asylrecht galt für viele politische Organisationen und besagt, wenn ein Mensch dem Machtbereich eines Staates entkommen ist, und sich unter den Schutz eines anderen Staates begeben möchte, dieser auch zu gewähren ist. Das antike asylon war ein sakraler Ort, ein Tempel, oder Gräber zu denen sich politisch Verfolgte, Sklav_innen u. a. flüchteten. Es bedeutete sich unter den Schutz der Götter zu begeben, der durch die Heiligkeit des Ortes garantiert war.19 Im antiken Rom und Griechenland füllte das Asylrecht bereits eine Rechtslücke und wurde pragmatisch ausgelegt. Asyl markierte einen Schutzraum für Personen außerhalb des Gesetzes: Wer ins asylon flüchtete, wollte Zeit gewinnen und so seinen Spielraum vergrößern.20 Wenn der Staat heutzutage Asyl gibt, geht es ihm in erster Linie um die Schuldlosigkeit des Schutzsuchenden. Asylrecht ist ein prekärer Begriff geworden und den Rechtsanspruch durchzusetzen stellt meist ein langwieriges und schwieriges Verfahren dar. Denn Rechtsverfahren werden immer mehr verkürzt, Drittstaatenregelungen durchgezogen und das Verfahren verlagert sich oft vom 17 Vil8m Flusser, Von der Freiheit des Migranten. Einsprüche gegen des Nationalismus, Bensheim 1994, S. 17; vgl. Horn, „Der Flüchtling“, S. 31. 18 Vgl. Horn, „Der Flüchtling“, S. 32ff. 19 Siehe auch Kirchenasyl in der Votivkirche beim Refugee Protest 2012. 20 Vgl. ebd., S. 35.

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Rechtsweg auf polizeiliche Maßnahmen gegen illegale Flüchtlinge. Nur allzu oft entscheidet der Einreiseweg den rechtlichen Verlauf. Asyl bietet also meist keinen Schutzraum mehr, sondern ist vielmehr zu einem vorläufigen „Wegsperren“ geworden, in dem verwaltungstechnische Verfahren und politischer Asylstatus erst mühsam verhandelt werden müssen. Menschen ohne Papiere haben keine Rechte, denn der Pass ist der Ausweis des Staates der sich für eine Person verantwortlich erklärt.21 Sans Papiers nannte sich eine selbstorganisierte Gruppe von Flüchtlingen und Migranten_innen, die 1996 eine Kirche in Paris besetzten, um gegen ihre Rechtlosigkeit ohne Papiere zu protestieren. Dem aktiven Widerstand der Flüchtlinge und nach wochenlangen Kirchenasyl schlossen sich auch zahlreiche Künstler_innen und Theaterleute wie beispielsweise Ariane Mnouchkine an. Erstmals konnte ein breites Solidaritätsbündnis in den Medien Aufmerksamkeit erregen und Flüchtlinge ohne Papiere in der Öffentlichkeit für sich selbst sprechen. Trotz großer Mobilisierung stürmte die Polizei nach zwei Monaten die Pariser Kirche von St. Bernard und viele der Sans Papiers wurden abgeschoben. Aber auch in vielen anderen Ländern, wie der Schweiz, Dänemark oder Belgien wurden Kirchenbesetzungen von Flüchtlingsgruppen organisiert, und in Brüssel besetzten Flüchtlinge und Aktivisten_innen sogar die somalische Botschaft, und benannten sie in Universal Embassy um.22 In Wien kam es 2012 zur ersten Kirchenbesetzung durch Aktivisten_innen der Refugee Protest Bewegung, die zuvor vom Flüchtlingsaufnahmezentrum in Traiskirchen nach Wien marschiert waren, um für positiven Aufenthaltsstatus, Bleiberecht, und Arbeitsmöglichkeit zu demonstrieren. Nach einem dreiwöchigen Protestcamp im Sigmund Freud Park beschloss die Gruppe aus Flüchtlingen und Aktivisten_innen kurz vor Weihnachten in der Votivkirche Asyl zu suchen und stellte für diese Forderung auch die Tafel auf: „Jesus was an asylumseeker too“. Nach mehr als zweimonatigem Hungerstreik in der Kirche, fanden die Flüchtlinge anschließend durch Caritas und Kirche vermittelt einen vorübergehenden Zufluchtsort im Kloster.23

21 Vgl. ebd., S. 27. 22 Vgl. Gin/i Müller, Possen des Performativen. Theater, Aktivismus und queere Politiken, Wien 2008, S. 68ff. 23 Vgl. Gin Müller, „Refugee-Protest im Spannungsfeld von Aktivismus, Institutionen und medialer Sichtbarkeit“, in: Alexander Fleischmann / Doris Guth (Hg.), Kunst Theorie Aktivismus. Emanzipatorische Perspektiven auf Ungleichheit und Diskriminierung, Wien 2015, S. 147–174.

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Kein Mensch ist illegal So lautet der Slogan und die Gruppe, die seit Ende der Neunzigerjahre aktiv für das Recht auf Bewegungsfreiheit eintritt und mit der Forderung „no border – no nation“ aktivistische Camps an den Grenzen der Festung Europas veranstaltet, gegen Abschiebungen und Grenzregime auftritt.24 „Flüchtling sein“ heißt zuerst einmal illegal zu werden. Doch kann ein Mensch als solcher illegal sein und außerhalb des Rechts stehen? Menschenrechte sind an Bürger_innenrechte gekoppelt und Flüchtling zu sein heißt in gewissen Sinn, das nackte Leben gegenüber der modernen Souveränität des Staates zu verkörpern. Dies umschreibt die Ausstoßung des Menschen aus dem Raum der Gesetze, sodass er vogelfrei wird.25 Der nackte Mensch erzeugt Ängste vor „Überfremdung“ in Europa. Die Grenzen werden folglich präventiv verstärkt und befestigt. Doch die Entrechtung und der polizeiliche Umgang mit Flüchtlingen erzeugt wesentlich gezielter den nackten Menschen, und damit eine immanent politische Figur : Weil dieser Mensch Prüfstein ist, wie weit man Rechte nicht nur für sich einfordert, sondern auch die Rechte des anderen als Instrument von Gerechtigkeit anerkennt.26 Die Kampagne „kein mensch ist illegal“ wurde im Rahmen der documenta X 1997 und des dort installierten Hybrid Workspace von anti-rassistischen Gruppen und Flüchtlingsinitiativen mit dem Ziel der Unterstützung von illegalisierten Menschen ins Leben gerufen. Mit der Kampagne wurde auch ein Netzwerk von Aktivisten_innen und Flüchtlings-Selbstorganisationen gegründet und Aktionen gegen Abschiebungen von Flüchtlingen gestartet. Die im Jahr 2000 gegründete Imagebeschmutzungskampagne stellte z. B. virtuell-konfliktiv eine Website im Lufthansa-Stil ins Netz, um die deportation class zu promoten. Besucher_innen wurden billige Flüge in der Abschiebeklasse angeboten. Damit wurde darauf aufmerksam gemacht, dass Lufthansa (wie viele andere Fluglinien auch) mithilft, Menschen gegen deren Willen abzuschieben. Die Fluglinie wurde dadurch gezwungen öffentlich dazu Stellung zu beziehen. Noborder-Aktivisten_innen und selbstorganisierte politische Geflüchteteninitiativen veranstalten seit nun mehr als 15 Jahren weltweit an sichtbaren Orten des Grenzregimes Aktions-Camps, wie zum Beispiel auch die Anfang der 24 Der politische Slogan „Kein mensch ist illegal“ stammt vom kürzlich verstorbenen Schriftsteller, Friedensnobelpreisträger und Holocaustüberlebenden Elie Wiesel, geboren 1928, verstorben am 2. Juli 2016: „No Human Being Is Illegal“. Er sagte auf einer Konferenz über Asyl in Tucson, Arizona: „Ihr sollt wissen, dass kein Mensch illegal ist. Das ist ein Widerspruch in sich. Menschen können schön sein oder noch schöner. Sie können gerecht sein oder ungerecht. Aber illegal? Wie kann ein Mensch illegal sein?“ zit. n. Francesca Falk, Eine gestische Geschichte der Grenze. Wie der Liberalismus an der Grenze an seine Grenzen kommt, München 2011, S. 105. 25 Vgl. Agamben, Homo sacer. 26 Horn, „Der Flüchtling“, S. 40.

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2000er-Jahre initiierten borderhack- Workshops zwischen Tijuana (Mexico) und San Diego (USA). Dieser brachte Grenzaktivist_innen und Hacker_innen zusammen. Ein anderes Beispiel ist das noborder-Camp in Strasbourg 2002, das gegen die größte virtuelle Datenbank Europas (das Schengen InformationsSystem) aktiv wurde.27 Auch im Sommer 2016 gibt es in Thessaloniki (Griechenland) wieder ein Grenzcamp von noborder-Aktvisten_innen und RefugeeGruppen, um gegen die Schließung der Fluchtrouten nach Europa zu protestieren und für das Recht auf Bewegungsfreiheit einzutreten.28

Figuren der Fluchthilfe Grenzen, die errichtet werden, um Menschen fern zu halten, sind auch dazu da, um überschritten zu werden. Das Paradoxe daran ist, dass je dichter Grenzen gemacht werden, umso höher ist das Risiko beim individuellen Grenzübertritt und jeder schwierige Grenzübertritt verstärkt die Grenze. Gleichzeitig filtert die Grenze, sie „läßt“ die motiviertesten und flexibelsten und oft auch zahlungskräftigsten Migranten_innen durch, die dann in Europa ankommen und zum Teil schlicht ausgebeutet werden, weil sie zuerst kaum Recht besitzen. Das Electronic Disturbance Theatre und der Mitbegründer und Professor für Visual Arts in San Diego, Ricardo Dominguez, begannen 2008 am Transborder Immigrant Tool zwischen Mexiko und den USA zu arbeiten, um Flüchtlingen per GPS-Navigation den Zugang zu Wasser bei der Durchquerung der Wüste und der Grenzzone zu ermöglichen. Übermittlungs-Codes waren gleichzeitig hörbare Poesie um Grenzschützer_innen zu verwirren.29 Transnational organisierte Netzwerke aus noborder und Boats4People-Aktivisten_innen initiierten 2013, während einer Zeit zu der besonders viele Menschen im Mittelmeer den Tod fanden, das nach wie vor immens notwendige Kommunikationsnetzwerk watch the med.30 Dieses stellt Flüchtlingen, die über das Mittelmeer fliehen, eine 24-Stunden aktive Notrufnummer zu Verfügung, um Booten, die in Seenot geraten Hilfe zukommen lassen zu können. Das Kollektiv watch the med dokumentiert aber auch das Verschwinden vieler Menschen im Mittelmeer oder die gewaltsame Abdrängung von Booten. 27 Vgl. no border, „Bordercamping2002: chain of bordercamps“, 2002, http://www.noborder. org/camps/ [24. 07. 2016]. 28 Vgl. no border, „No Border Thessaloniki, July 15–24 2016“, 2016, http://noborder2016. espivblogs.net/de/ [24. 07. 2016]. 29 Vgl. banglab, „Transborder Immigration Tool – Transition“, 2009, https://vimeo.com/ 6109723 [24. 07. 2016]. 30 Vgl. Watch the Med – Notruf für Flüchtlinge im Mittelmeer, http://www.watchthemed.net/ [24. 07. 2016].

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In Mexiko steht der Name Coyote für Fluchthelfer_in bzw. Schlepper_in. Bei mexikanischen Indigenen wird er auch als mythische Gottheit gesehen.31 Der Coyote wird doppeldeutig gesehen: Er gilt als verschlagen, überlebenswillig, aber auch als schlau und anpassungsfähig. Hacking Coyote, stellt Informationen zur Fluchthilfe bereit und arbeitet gegen „digital colonialism“.32 Überhaupt stehen, wie Florian Schneider in seinem Text über die Figur der grenzverletzenden Fluchthelfer_innen schreibt, viele Tiernamen für Fluchthelfer_in: Sharks (britische Bezeichnung bei Schiffen), chinesisch Shetou – snakehead / Schlangenkopf, Coyote u. a. Sie verweisen auf den Bezug von Flucht, Mensch und Tier, oder wie Deleuze und Guattari in ihrem Buch Tausend Plateaus komplex beschreiben: auf ein Tier-Werden,33 das Beschreiten von Fluchtlinien, das nomadisch Territorien durchschreitet, erweitert und de-territorialisiert.34 Schon die sogenannten Abolotionisten waren eine Frühform von Fluchthelfer_innen. Sie verfolgten in der Underground Railroad in Zeiten des amerikanischen Bürgerkriegs das Ziel, möglichst viele Sklav_innen vom Süden in den Norden zu schmuggeln. Mit der Proletarisierungswelle Ende des 19. Jahrhunderts brach das Grenzregime, das beim Wiener Kongress in Europa etabliert wurde, beinahe zusammen. Bis zum Ersten Weltkrieg mussten Reisende kaum einen Pass vorzeigen (ausgenommen in Frankreich und Russland). Die offizielle Fluchthilfe boomte und war ein legales Geschäft mit Auswanderung, z. B. spezialisierte sich 1901 die heute noch tätige Hamburger Hapag-Rederei darauf. Veddel nannte sich die Stadt für Ausreisewillige in die USA, die auch viele Kriegsdeserteure anzog. Die Kriegsmobilisierung führte schließlich zu verstärkter Grenzkontrolle, doch erst mit dem zweiten Weltkrieg, prägte sich das moderne Grenzregime aus. Der Vormarsch von Faschismus und deutscher Wehrmacht zwang Zigtausende in die Flucht, sodass bis 1938 viele Menschen an der deutschen Grenze als

31 Vgl. Florian Schneider, „Der Fluchthelfer“, in: Eva Horn / Stefan Kaufmann / Ulrich Bröckling (Hg.): Grenzverletzer. Von Schmugglern, Spionen und anderen subversiven Gestalten, Berlin 2002, S. 41–57, hier S. 41f. 32 Vgl. Hacking with care, „Digital Colonialism and the hacking coyotes #rp10“, 15. 05. 2016, https ://hackingwithcare.in/2016/05/digital-colonialism-and-the-hackers-coyotes-rp10/ [24. 07. 2016]. 33 Vgl. Gilles Deleuze / F8lix Guattari, Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie 2, übers. v. Gabriele Ricke und Roland Voullie, Berlin 1992. 34 In einer kleinen Ortschaft in der Nähe der US-Grenze, aus der viele Bewohner_innen von Mexiko bereits ausgewandert sind, können abenteuerlustige Mexikaner_innen und Touristen_innen bereits die Grenzüberquerung als Live-Reality-Spiel in der Nacht im offenen Territorium performativ durchspielen. Flucht wird nahe der gefährlichen Grenzzone im Vergnügungspark erlebt, Spieler_innen zahlen für das Fluchterlebnis, vgl. Vice, „Illegal Border Crossing in Mexico“, 31. 05. 2012, https://www.youtube.com/watch?v=BH_Z5B EZ5ts [24. 07. 2016].

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Fluchthelfer_innen aktiv waren. Es gab nicht nur viele Fluchthilfeorganisationen, die Flucht und erzwungene Migration waren auch ein gutes Geschäft.35 Schier unüberwindbare Grenzen wurden dann im Kalten Krieg aufgebaut und die sogenannten Todesstreifen versinnbildlichen die Gefahr der Grenzüberschreitung. 1961 riegelte Ostberlin die Grenzen total ab. Es waren über 100.000 Menschen allein in diesem Jahr geflohen, ähnlich wie in Ungarn 1956, als ca. 200.000 Mensch flüchteten. Viele österreichische Fluchthelfer_innen waren damals Heroen_innen und über ihre Geschichten wurde in Zeitungen und Medien berichtet. Spuren finden sich auch noch viel später : Beispielsweise in der österreichischen Filmproduktion Der Bockerer.36 Es werden die Ereignisse an der legendären Brücke von Andau geschildert, wo vielen Menschen aus Ungarn die Flucht nach Österreich gelang. Fluchthilfe wurde in den 1960er-Jahren zunehmend schwieriger, aber es kam nach wie vor zu Grenzverletzungen – z. B. einem spektakulären Tunnelbau: ein 26 m langer Tunnel in Berlin (geleitet von Hanno Herschel) in der Bernauerstrasse. Diesen gruben 50 Studenten_innen ausgehend von einer alten Fabrik in Wedding in den Osten, sodass 29 Menschen flüchten konnten. Die gesamte Grenzfluchtaktion wurde vom US-Sender NBC finanziert, als Gegenleistung erhielt dieser die Filmrechte. Der deutsche Westen sah zu dieser Zeit Fluchthilfe als „Widerstand“ – das Eintreten für die Wahrung oder Wiederherstellung des Rechts auf Freizügigkeit –, die DDR wiederum als Straftatbestand („staatsfeindlicher Menschenhandel“). Westliche Behörden übernahmen nach dem Mauerfall dann die Begriffe von „Schleppen“ und „Schleusen“ bruchlos aus der DDR-Terminologie.37 Denn nach der Euphorie über die Öffnung der Grenzen des eisernen Vorhangs kam bald die Angst vor der angeblichen „Asylantenflut“ aus dem Osten. In fast allen westlichen Ländern Europas wurden in den Neunzigerjahren neue Gesetze zum Kampf gegen illegale Migration und „Schlepperkriminalität“ beschlossen. In der Europäischen Union ist längst eine regelrechte Jagd auf „Schlepperbanden“ losgegangen, trotzdem gelingt es bis zu 600.000 Menschen pro Jahr in die EU zu kommen. Sogar Menschen, die Flüchtlinge auf offener See retten, an Stränden helfen oder mit Essen aushelfen, können bereits kriminalisiert werden. Das künstlerisch aktivistische Projekt Fluchthilfe und du? von Unterstützer_innen des Refugee Protest Vienna, das einen Slogan der Caritas aufgegriffen hatte und an Stelle dieser die Frage mit „Fluchthilfe“ erweiterte, begleitete einerseits den sogenannten „Schlepper-Prozess“ gegen mehrere Flüchtlinge und Aktivisten des Refugee Protest Vienna in Wiener Neustadt (2014/15), anderer-

35 Vgl. Casablanca, R: Michael Curtiz, US 1942. 36 Der Bockerer, R: Franz Antel, AT 1981. 37 Vgl. Schneider /Horn 2002, S. 51f.

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seits wurde mittels Webseite und großem Banner auf der Wiener Secession und mit Werbematerial um aktive Unterstützung geworben.38 Eine anderes aktuelles Beispiel, das in den letzten Jahren die Tendenz zu Aktion und Kunst im öffentlichen Raum bestätigt und die Transdisziplinarität von Theater/Performance, Theorie und politischen Aktivismus verfolgt, ist die Gruppe bzw. das Theaterkollektiv Zentrum für politische Schönheit, das sich in den performativen Methoden sowohl geschickt neue Medien aneignet als auch mit ihren theatralen Praktiken gezielt in öffentlichen Konflikträumen interveniert.39 Das Zentrum für politische Schönheit, eine Gruppe von Theaterleuten, Theoriemenschen und politischen Aktivisten_innen, initiiert seit 2014 geschickt performative Grenzspiele. Es gelang ihm mit seinen provokanten Aktionen für Schlagzeilen und öffentliche Debatten zu sorgen. Nachdem die Gruppe bereits über Internet und Videoclips Kampagnen zur „Kindertransporthilfe“ aus Syrien im Namen des Familienministeriums der Bundesrepublik Deutschland gestartet hatte, traten weitere grenzüberschreitende Themen in den Mittelpunkt der Interventionen sowie Mittel der Überaffirmation und Kommunikationsguerilla. Eine der spektakulärsten Aktionen war 2015 der Aufruf „Die Toten kommen“ mit dem Versuch, Massengräber vor dem deutschen Reichstag zu graben, um die Toten der Flucht an den Grenzen Europas inmitten Europas zu bestatten. Nur ein Polizeieinsatz konnte die zu Hunderten erschienenen Aktivist_innen an den wiederholten symbolischen Bestattungsversuchen hindern. An die Grenzen der Performativität von Fiktion und Wirklichkeit ging daraufhin die echte Bestattungszeremonie, die von einem Imam durchgeführt wurde, und bei der eine syrische Frau, die bei der Überschreitung der EU Grenze ums Leben gekommen war, in einem Berliner Friedhof beerdigt wurde.

Grenzverletzer_innen und que(e)re Possen des Performativen Der Kampf gegen Grenzregime und für Bewegungsfreiheit nutzt politische und mediale, aber auch verstärkt künstlerische und kreative Bühnen des Protests. Es geht dabei um konkrete Praktiken zu Fragen des Handelns und um Grenzformen von Kunst und Aktivismus, Theater, Performance, die auch gewisse risikoreiche Praktiken zur Intervention in politische Handlungsräume und die „Aufteilung des Sinnlichen“ darstellen, indem sie den Körper einsetzen. Die performativen Praktiken zur Grenzüberschreitung reichen von der Bewegung der Sans Papiers in Frankreich in den Neunzigerjahren bis zu den zahlreichen selbstorganisierten Refugee Protesten in der letzten Zeit in ganz Europa, Initiativen wie Kanak 38 Vgl. Fluchthilfe& Du?, http://www.fluchthilfe.at/ [24. 07. 2016]. 39 Vgl. Zentrum für politische Schönheit, http://www.politicalbeauty.de/ [24. 07. 2016].

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Attack, noborder-Camps/-Karawanen, dem mexikanisch-US-amerikanischen Grenzprojekt borderhacking, aber auch Theater und Festivals bespielende Aktionen wie Christoph Schlingensiefs – „Bitte liebt Österreich!-Ausländer Raus“ sowie das Zentrum für politische Schönheit. In meinem Buch Possen des Performativen (2008) beschreibe ich derartige öffentliche theatrale Praktiken bzw. aktivistische Interventionen und die performativen Strategien im sogenannten theatrum gouvernemental. Sie verweisen zum einen auf verschiedene theoretische Bezugspunkte, wie den Begriff „Posse“ (als Können, Macht haben, Witz/Lustspiel, Gang) und das „Performative“, zum anderen mehr auf humorvolle Praktiken zur Artikulation von Widerstand/ Protest/Dissens, bzw. konkrete Strategien zur Ver-que(e)rung von normativen Verhältnissen: performative Praktiken, die politisch intervenieren und in gewissem Sinn auch mit theatralen Mitteln arbeiten. In konfliktiven öffentlichen Handlungsräumen können diese Possen des Performativen Grenzverletzung als Botschaft haben und durchaus subversives Machtpotential entfalten. Die normativen Machthaber_innen und religiösen Fanatiker_innen mit Mitteln der Comedy, Comic, Satire etc. zu verspotten kann aber auch, wie im Karikaturenstreit, im Fall Jan Böhmermann um das Schmähgedicht oder bei der terroristischen Attacke auf die Satirezeitschrift Charlie Hebdo zu sehen war, in juristische oder körperliche Repressionen oder sogar Mord umschlagen. Im komplexen Horizont einer rechtsextremen Krise des islamistischen Terrors im Namen eines religiösen Jihad, aber auch den zunehmenden nationalistischen und rassistischen Angriffen gegen Flüchtlinge und Migranten_innen ist die Haltung des Humors aber für viele Geflüchtete auch eine des verzweifelnden Lachens, das den Körper erschüttert und sich vor dem ironischen sadistischen Hass (und seinen rassistischen, religiösen, sexistischen und homophoben Ausformungen) auf Minderheiten zu schützen versucht. Durch die zunehmende Selbstorganisation von Flüchtlingen und Migranten_innen, aber auch durch neue Allianzenbildungen und Interventionen in weiße hegemoniale Räume kam es seit den letzten zehn Jahren auch verstärkt zu einem Shift bzw. Wechsel in Richtung postmigrantischer Perspektiven und der Notwendigkeit von Selbstermächtigung. Die Frage des „Wer spricht?“ sehen viele aktivistische Migranten_innen als entscheidend an, denn dabei geht es auch darum, eine selbstbewusste Haltung gegen paternalistische, weiße Integrationsversuche zu erlangen und die Reduktion auf den Opferstatus zu vermeiden. Das abendländische theatrum gouvernemental erzählt die große Geschichte von einem dominanten, weißen und männlichen Schau-Spiel. Konzepten von critical whiteness und white supremacy (z. B. von bell hooks) und de- bzw. postkolonialen Theorien geht es gerade um die Untersuchung und Kritik an fortbestehenden Strukturen des Kolonialismus und Rassismus/Sexismus/Klas-

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sismus als Diskurs der Differenz, der auch ohne Kategorisierungen in der Gesellschaft funktioniert und in vielerlei Hinsicht Grenzen schafft. Performances von Künstler_innen wie Coco Fusco und Guillermo GjmezPena thematisieren seit vielen Jahren den kolonialen Blick des Westens und seine repressiven Auswirkungen auf die nicht-weiße Welt. In der gemeinsamen Arbeit. Couple in a cage. The Year of the White Bear and Two Undiscovered Amerindians Visit the West (1992–1994) stellten sich die beiden als angebliche Indigene von einem erst kürzlich entdeckten „Stamm“ auf Kunstfestivals und Museen weltweit in einen Käfig aus und ließen sich von den Zuschauer_innen bestaunen. Damit überaffimierten sie den kolonialisierten Blick und thematisierten im Kunst- und Kulturrahmen gleichzeitig das ungleiche Machtgefüge. Die queer-feministische Migrantinnen-Gruppe maiz aus Linz wählt für ihre politische, edukative und künstlerisch-aktivistische Arbeit auch als wesentliches Mittel Humor und ruft zu einer dekolonialen Politik des Lachens auf. Sowohl „Das Fest des Lachens“, als auch der Aufruf der Anthropofagischen Bewegung „Eating Europe“ (im Rahmen der Veranstaltung Rebelodrom – NoborderZone 2013) mit dem Ziel sich Europa einzuverleiben, zeugen von subversiven Praktiken, die Performance als selbstbewussten performativen Sprechakt zu gebrauchen: „Sehr geehrte Östereier! Wir werden all eure Biohändln, Ländeln und Sauschädln auffressen – live und blutig! Wir – die Kannibalistinnen – werden den ganzen Topf des Integrationsfondues und ein Fremdenrechts-Baguette ordentlich abschmecken, so dass sie Euch im Hals stecken bleiben werden! maiz sei mit Euch!“40 Ihr que(e)rer Humor richtet sich dabei mit Solidarität an diejenigen, die gemeinsam hegemoniale Herrschaftssysteme auslachen wollen und das „penetrante“ Lachen als Ausgangspunkt für performative Handlungsmacht sehen. Es ist vielleicht ein aufdringliches, aber auch umarmendes Lachen, denn es ist ebenso klar : Die Menschen lachen über unterschiedliche Dinge, und manche haben gar nichts mehr zu lachen. Die Wut auf Diskriminierung, Gewalt und Ausgrenzung beschränkt die Menschen dabei dennoch nicht auf eine Opferrolle: Que(e)rer Humor ist hier lustvoller Ausdruck körperlicher Erregung, die das unerträgliche Paradox gesellschaftlicher Rassismen, Sexismen und diskriminierende Prozesse offenlegt, sichtbar macht und vielleicht ein wenig aushebelt. Dabei geht es aber auch um die Bildung transnationaler que(e)rer Allianzen und um die Frage, inwiefern diese Figuren der Grenzüberschreitung mit postkolonialen, antirassistischen, queeren, antikapitalistischen, und kollektiven Strategien des Widerstands verbunden sind? In der „Aufteilung des Sinnlichen“ und 40 Vgl. Rebelodrom NoboderZone 2013, „Eating Europe. Join the canibalistic Prozession on 22. 9. 2013“, http://rebelodrom.blogspot.co.at/2013/09/eating-europe-join-cannibalistic.html [24. 07. 2016].

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an diesem (Nicht-)Ort der Grenze kann Theater/Performance als Aktionslaboratorium und Interpretationsfeld von liminalen Feldern und der Erprobung von Handlungsmacht jedenfalls ein wichtiges performatives Tool der Grenzverletzung sein, und … damit der Pass nicht mehr der edelste Teil vom Menschen ist.

Matthias Karl

Über den Zusammenhang von Kunstproduktion und sozialen Bewegungen

Obwohl es unzählige Beispiele für den Zusammenhang von Kunstproduktionen und sozialen Bewegungen gibt, bekommt diese Verbindung in den Sozialwissenschaften nur wenig Aufmerksamkeit. In vielen Fällen ist eine soziale Bewegung sogar der ausschlaggebende Punkt für die Entstehung einer künstlerischen Produktion. Das Zusammenspiel von Aktivismus und Kunst unter Einbeziehung der „Flüchtlingskrise“ in Europa gilt als aktuelles Beispiel. Sie dient zum einen als Beleg für den Zusammenhang von Kunstproduktion und sozialen Bewegungen und zum anderen bringt sie Formen von Grenzverletzungen mit sich. Diese Grenzverletzer_innen sind z. B. Flüchtende und Fluchthelfer_innen, aber auch Künstler_innen, Aktivist_innen, die mit ihren zum Teil illegalen Aktionen zu Grenzverletzer_innen werden. Betrachtet man künstlerische Akte jeglicher Art, sei es die Malerei, Bildhauerei, Theater oder Proteste, lässt sich in den meisten Fällen ein historischer Kontext zwischen dem künstlerischen Akt und der zu dieser Zeit herrschenden sozialen Bewegung herstellen. So zeigen z. B. Gemälde am Ende des 18. Jahrhunderts oft Abbildungen der französischen Revolution oder das Buch Five Days that Shook the World aus dem Jahr 2000 Fotografien des Fototheoretikers Allan Sekula, die die Proteste gegen das Gipfeltreffen der Welthandelsorganisation in Seattle 1999 reflektieren. Künstler_innen reagieren dabei auf von sozialen Bewegungen ausgelöste gesellschaftliche Transformationen, indem sie deren Themen, Motive und Inhalte aufgreifen und selbst ein engagierter Teil der Organisationen werden. Die Kunst betreffend sind die sozialtheoretisch relevanten Ebenen von Bewegungen durchdrungen. Dass eine soziale Bewegung und die dabei entstehenden Aktionen und Produktionen einen sozialen Wandel hervorrufen, hängt nicht nur von einzelnen Künstlern_innen und deren Arbeit ab, sondern vor allem von Gruppen von Menschen, die mittels Protest auf soziale Missstände aufmerksam machen und gegen diese vorgehen. Dies soll als Folge eine gesellschaftliche Transformation hervorrufen oder auch verhindern. Dabei mobilisieren sich diese Gruppen über einen bestimmten oder unbestimmten Zeitraum hin, ohne sich primär auf In-

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stitutionen oder Parteien zu stützen. Den Zusammenhang von Kunst und Aktivismus, wie er in sozialen Bewegungen vorkommt, kann man nun in den unterschiedlichen Zusammenhängen künstlerischer Aktivismus, Aktivismus als Kunst, Aktivismus in der Kunst und aktivistische Kunst betrachten. In der Form des künstlerischen Aktivismus spielt der/die individuell engagierte Künstler_in eine entscheidende Rolle. Dabei geht es nicht nur um dessen/ deren eigene Arbeit, sondern auch um die kollektive Kunstgeschichte und den kulturellen Wert, der in Zusammenhang mit den vorherrschenden politischen Verhältnissen gebracht wird. Im Vergleich dazu besteht der künstlerische Aktivismus darin, dass ein gemeinsames Repertoire performativer Praktiken vorherrscht. Dabei werden z. B. aus der Reflexion erstarrter Demonstrationsformen neue Protestformen entwickelt. Ein Beispiel dafür wären die Aktionen der Gruppe Pink and Silver, die mit rhythmischer Musik und Tänzen an Demonstrationen teilnehmen. Kritiker_innen des Aktivismus als Kunst sind der Meinung, dass dabei die gesamte Bewegung zum Kunstwerk erklärt wird, wodurch die Aktionen durch die Beschreibung als Kunst entpolitisiert werden. Allerdings beachtet diese Position weder die komplexen Wechselverhältnisse von Kunstproduktion und sozialen Bewegungen, noch deren politische Effekte. Die dritte Möglichkeit, den Zusammenhang von Kunst und sozialen Bewegungen darzustellen ist der Aktivismus in der Kunst: Dieser meint das Aufgreifen und Abbilden von Protagonist_innen, Themen, Situationen und Momenten aus der Geschichte und Gegenwart sozialer Bewegungen. Dabei kann die Repräsentation einer Bewegung auch in der Abwesenheit ihrer Akteur_innen stattfinden. Ein Beispiel dafür ist die Fotoserie Sommer in Italien von Lisl Ponger aus dem Jahr 2001, die Spuren einer Bewegung und der Auseinandersetzung mit der Polizei in Form verschweißter Kanaldeckel, Graffiti und Absperrbänder dokumentiert. Bei der aktivistischen Kunst werden nicht nur Themen und Motive einer sozialen Bewegung aufgegriffen, sondern auch als Materie wieder in sie eingespeist. Ein Beispiel ist die Künstler_innen Gruppe Etcetera. Sie war zunächst in der sozialen Bewegung zur Aufarbeitung der argentinischen Militärdiktatur in die Öffentlichkeit getreten. Seitdem bezieht sich die Gruppe mit Videos und Rauminstallationen direkt auf soziale Kämpfe. Dabei wird also nicht nur das Thema des sozialen Kampfs in der Kunstproduktion aufgegriffen, sondern die Kunstproduktion selbst gilt als aktivistische Aktion. Der Zusammenhang von Kunstproduktionen und sozialen Bewegungen verdeutlicht sich gegenwärtig auf Grund der Fluchtbewegung: Zum einen wird diese als soziale Bewegung gesehen, zum anderen aber ebenso auch die europaweiten gesellschaftlichen Reaktionen, die die Unzufriedenheit mit der Flüchtlingspolitik ihrer Regierung signalisieren werden als soziale Bewegung gesehen. Diese beiden zusammengenommen, also die Situation der Geflüchteten

Über den Zusammenhang von Kunstproduktion und sozialen Bewegungen

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selbst und die politische Lage in den Ländern, in denen sie Zuflucht suchen, werden in aktuellen künstlerischen Produktionen verhandelt. Beispiele dafür sind etwa die Aktionen des Zentrum für politische Schönheit, das Refugees Welcome Konzert auf dem Heldenplatz in Wien und das Theaterstück Die Schutzbefohlenen von Elfriede Jelinek, um nur ein paar wenige der zahlreichen künstlerischen Statements zu nennen, die als Antwort auf die aktuelle soziale Bewegung der „Flüchtlingskrise“ entstanden sind. Es ergeben sich dabei mehrere Formen von Grenzverletzer_innen: Flüchtlinge, Fluchthelfer_innen, Künstler_innen und Aktivist_innen.1

Flüchtling Als Flüchtling gilt eine Person, die sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt oder in dem sie ihren ständigen Wohnsitz hat, und die auf Grund rassisierenden Zuschreibungen, ihrer Religion, Nationalität, Sexualität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung hat und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht vor Verfolgung nicht dorthin zurückkehren kann. Zusätzlich dazu muss man die Umstände während der Flucht beachten, wie z. B. in Seenot geratende Flüchtlinge, die von der nordafrikanischen Küste über das Mittelmeer nach Italien übersetzen wollen. Im Gegensatz zum/zur Migranten_in oder Emigranten_in verlässt der Flüchtling sein Heimatland aufgrund einer unmittelbaren Bedrohung für Leib und Leben.

Fluchthelfer_innen Fluchthelfer_innen sind meist private Personen, die allein oder in Gruppen Flüchtlingen helfen, über eine Grenze zu gelangen. Die Fluchthelfer_innen, die seit 2013 ein Thema in der Presse und der Öffentlichkeit sind, haben als sog. „Schlepper“ ein absolut negatives Image, da es sich zumeist um Personen handelt, die ausschließlich pekuniäre Interessen verfolgen und weder Gewalt gegenüber den Flüchtenden scheuen, im schlimmsten Fall sogar ihren Tod in Kauf nehmen. Doch zeigt ein Blick auf die jüngere Vergangenheit, dass Fluchthelfer_innen oftmals couragierte Menschen waren. So während des zweiten 1 Vgl. Jens Kastner, „Kunstproduktion und soziale Bewegungen. Zur Theorie eines vernachlässigten Zusammenhangs“, in: Psychologie & Gesellschaftskritik, 2011, www.wiso-net.de: 443/document/PUGK__786D1BF7820F65E9DF5B31BAFCC58AE3 [25. 06. 2016].

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Weltkriegs, als Fluchthelfer_innen von den Nazis verfolgte Flüchtlinge etwa über die Pyrenäen nach Spanien in Sicherheit brachten. Und es waren Fluchthelfer_innen, die unter der Berliner Mauer einen Tunnel gruben, um Menschen aus der DDR nach Westberlin zu „schleusen“.

Künstler_innen und Aktivisten_innen als Grenzverletzer_innen Ein bekanntes Beispiel für eine aktivistische Aktion im Zusammenhang mit Grenzen bzw. Grenzverletzungen fand in den 1990er-Jahren statt. Auch damals sah sich Europa mit einer hohen Anzahl flüchtender Menschen konfrontiert: No Border Activism, auch No Border Netzwerk, organisierte damals „Grenzcamps“, die eine staatenfreie oder zwischenstaatliche Zone darstellten. So genannte Grenzspaziergänge fanden statt und eigene Pässe, „No-Border-Pässe“ wurden verteilt. Eine dieser e künstlerisch-aktivistischen Gruppierungen war die VolxTheaterKarawane aus Wien, die sich in den folgenden Jahren konsequent für Flüchtende engagierte. 2001 wurden die Mitglieder der VolxTheaterKarawane im Zusammenhang mit den Demonstrationen gegen den G 8 Gipfel in Genua verhaftet. Zusammenfassend möchte ich feststellen, dass durchaus ein starker Zusammenhang von Kunstproduktion und sozialen Bewegungen existiert, obwohl sich die Sozialwissenschaft noch zu wenig damit auseinandersetzt. Dabei ist dieser Zusammenhang nicht nur vor einem historischen Hintergrund erkennbar, sondern in unserer Gegenwart hoch aktuell. Die soziale Bewegung und die sozialen Verhältnisse, in denen sich geflüchtete Menschen befinden, werden zum einen von der Politik aufgegriffen, zum anderen aber auch von Künstlern_innen und Aktivisten_innen verhandelt, reflektiert, überhaupt sichtbar gemacht. Die Faktizität gesellschaftspolitischer Veränderungen sollte mit den künstlerischaktivistischen Verhandlungen, Reflexionen, Provokationen zusammengedacht werden, um Wirklichkeit in ihrer Komplexität begreifbar zu machen.

Mirjam Berger

Blick nach Außen – „Flüchtlingstheater“ in der Schweiz. Gedanken und Beobachtungen einer Schweizer Erasmusstudierenden

In Österreich betreiben die Geflüchteten einen Punschstand und bieten den neu Angekommen ein warmes Getränk an, sie werden auf Bühnen geladen und viele Wiener_innen engagieren sich um ihnen ein möglichst herzliches Willkommen zu bereiten. Werden die Grenzen geschlossen, finden Demonstrationen in Wien statt. An der Universität werden Kurse angeboten, die sich mit Islam, Flucht, Asyl und Migration beschäftigen. Und wie verhält es sich in der Schweiz mit diesen Themen? In der Schweiz sind geflüchtete Menschen aus verschiedenen Gründen nahezu unsichtbar. Nicht nur weil die Schweiz kein großes Destinations- oder Transitland ist und in absoluten Zahlen weniger Geflüchtete der aktuellen Flüchtlingswelle aufnimmt wie Deutschland oder Österreich. Andererseits ist vermutlich der seit Jahrzehnten sehr hohe Ausländeranteil der Schweiz die Ursache dafür,1 dass die Flüchtlingsthematik innerhalb des Landes, dem kein Meer vorgelagert ist, totgeschwiegen wird. Dementsprechend wenig Angebot gibt es in der Schweiz an theatralen Auseinandersetzungen oder diese Thematik betreffenden Diskussionsräume auf universitärer Ebene. Hat diese fehlende Konfrontation ihren Ursprung in der fehlenden Reflexion der Schweizer Bevölkerung? Wenn Theater dasjenige, das vorhanden ist, reflektiert, existiert dann deshalb so wenig Theater über und mit Geflüchteten, weil sich die Schweizer_innen nicht mit der Flüchtlingsthematik beschäftigen wollen? Elfriede Jelineks Die Schutzbefohlenen, ein Text, der bereits 2013 entstanden ist, wurde im März 2016 das erste Mal auf einer Schweizer Bühne aufgeführt. Wenn Othello inszeniert wird, scheint der Schwerpunkt Liebe interessanter zu sein als das Fremde. Das sind nur wenige Beispiele, die mich schlussfolgern lassen, dass die Schweizer Theaterszene weit hinter den deutschsprachigen, aktuell hochpolitischen Theateraufführungen herhinkt. Wenn man Theatergruppen mit Geflüchteten oder einer theatralen Aufarbeitung der Flüchtlingsthematik sucht, findet man nur einige wenige Projektgruppen. Zwei solcher Gruppen, die sich in der Schweiz dieser Materie auf theatraler Ebene annehmen, 1 Der Ausländer_innenanteil lag Ende 2014 bei ca. 24,3 %, vgl. www.bfs.admin.ch [13. 06. 2016].

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sind das Flüchtlingstheater Malaika2 und TheaterFlucht.3 Im Gespräch mit den beiden Projektleiter_innen Nicole Stehli und Maurus Achermann war es mir möglich, einen Einblick in ihre Arbeit zu gewinnen und eine Ahnung davon zu erhalten, wie Schweizer_innen mit dem Fremden umgehen.

Begegnungen Wie wird Theater in Verbindung mit Geflüchteten und dem Thema „Flüchtlinge“ sinnvoll eingesetzt? Beide Theaterprojekte haben auf diese Frage auf ihre Weise eine Antwort gefunden mit demselben Ziel: Sie wollen den Geflüchteten und Schweizer_innen einen Begegnungsraum bieten. Das Flüchtlingstheater Malaika stellt den Geflüchteten mehr als nur Theaterprojekte in Aussicht. Die Geflüchteten gestalten auch ihre Freizeit zusammen, kochen gemeinsam oder auch für andere und bringen ihre Kultur an sogenannten Weltschau-Abenden näher. Dabei betont Nicole Stehli, dass sich aus dem Flüchtlingstheater Malaika eine Art große Familie entwickelt hat, sodass die Kontakte tiefer gehen und Freundschaften entstanden sind. Weiter wiederholt sie ausdrücklich, dass die Malaikas – das ist die Bezeichnung für alle Teilnehmer_innen egal welcher Herkunft – gegenseitig voneinander profitieren können. Sie setzen sich gerne füreinander ein und helfen jedem, der Hilfe braucht. Außerdem versucht das Flüchtlingstheater Malaika mit anschließend angebotenen Apertif nach ihren Aufführungen oder Weltschau-Abenden auch persönliche Begegnungen zu ermöglichen. Ihre Veranstaltungen funktionieren bewusst auf Spendenbasis, damit sie auch von anderen Geflüchteten besucht werden können. Das Projekt TheaterFlucht hat ein anderes Zielpublikum. Das Angebot richtet sich an Kinder, sowohl von Schweizer Familien, als auch von Flüchtlingsfamilien. Es handelt sich um eine Art von Sommeranimation, die vom SCI seit 2009 angeboten wird.4 Dabei war Maurus Achermann von Beginn an klar : Damit „Flüchtlingskinder“ teilnehmen können, muss die Theaterwoche gratis sein. Das Projekt benutzt Theater als Mittel, um Kinder zu einem Austausch anzuregen und Kontakte zu knüpfen. Mit dem Theater als bindendes, gemeinsames Interesse wird innerhalb von einer Woche eine Aufführung für die Familien und Freund_innen der teilnehmenden Kinder erarbeitet. Im Projekt ist die Aufführung am Ende der Woche eher ein Nebenprodukt. Viel wichtiger ist das kreative Arbeiten mit den Kindern verschiedener Herkunft im Rahmen von Improvi2 Vgl. Flüchtlingstheater Malaika, http://www.fluechtlingstheater-malaika.ch [13. 06. 2016]. 3 Vgl. TheaterFlucht, http://www.theaterflucht.ch [13. 06. 2016]. 4 Der Service Civil International (SCI) ist eine internationale Freiwilligenorganisation, die seit dem Ende des ersten Weltkrieges den interkulturellen Austausch auf der ganzen Welt fördert und gemeinnützige Projekte unterstützt, vgl. www.scich.org [13. 06. 2016].

Blick nach Außen – „Flüchtlingstheater“ in der Schweiz

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sationstheater. Und auch TheaterFlucht versucht mit Begegnungsmöglichkeiten nach den Aufführungen, Annäherung zwischen den Familien zu fördern. Es sei jedoch nicht einfach, erklärt Achermann, denn die Schweizer Familien unterhalten sich untereinander, getrennt von den Flüchtlingsfamilien. Diese festgesetzten Strukturen seien nicht so leicht zu durchbrechen.

Herausforderung, mit Geflüchteten zu spielen Theater mit Geflüchteten zu machen sehen beide Projektleiter_innen als Herausforderung aus verschiedensten Gründen. Unter anderem fehlt die Erfahrung in diesem Bereich, weshalb man sich im Umgang mit den Geflüchteten sehr vorsichtig verhält. Stehli und Achermann sind sich bewusst, dass Theater keine Sozialarbeit ersetzt und sie nicht die richtige Ausbildung besitzen, um die Gruppe zum Beispiel bei Flashbacks von traumatischen Erlebnissen zu betreuen. Auch die Verständigung ist eine Herausforderung, die die Projekte jeweils unterschiedlich lösen. Die Malaikas spielen auf Deutsch, wobei sich die Geflüchteten auf sehr verschiedenen Sprachniveaus befinden. Gleichzeitig dient es auch als Motivation um Deutsch zu lernen, wenn sie gemeinsam Theater spielen oder ihre Freizeit gestalten. TheaterFlucht spielt bewusst Improvisationstheater, weil bei einem vorgegebenen Text die Schweizer Kinder mit der sicheren deutschen Sprache die Hauptrollen übernehmen würden. Dies würde dann eine massive Ungleichheit in eine Gruppe bringen, die man zusammenführen will. Deshalb werden viele verschiedene Sprachen verwendet, wobei die geflüchteten Kinder, die bereits etwas mehr Deutsch sprechen, für die anderen übersetzen. Weiter ist es nicht immer einfach, das Vertrauen dieser geflüchteten Menschen, die so viele negative Erfahrungen gemacht haben, zu gewinnen. Durch die dadurch entstandene Vorsicht leiden viele Projekte unter einem Mitgliedermangel. Doch wenn man den schweren Beginn überstehen kann, wird es leichter, neue Teilnehmer_innen zu finden, weil die bereits Teilnehmenden eine Brücke bilden. Beide Projekte proben in Intensivwochen, weil die Geflüchteten sonst zu unregelmäßig teilnehmen würden. Das Flüchtlingstheater Malaika kämpft auch so noch ab und zu mit der Zuverlässigkeit seiner Teilnehmer_innen. Es sei schon vorgekommen, dass jemand bei einer Aufführung nicht aufgetaucht ist, weil viele Geflüchtete einen anderen Bezug zu Gewissenhaftigkeit haben, als Schweizer_innen. TheaterFlucht ist mit anderen Problemen konfrontiert. Da die Geflüchteten oft hin und her geschoben werden und vor allem Familien oft aus sogenannten „Asylzentren“ in Gemeinden umgesiedelt werden, sind längere Projekte kaum möglich.

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Mirjam Berger

Inhalt der Inszenierungen Bei TheaterFlucht ist Migration und Flucht bewusst kein Thema in der Theaterwoche. Sie arbeiten mit leicht verständlichen Geschichten wie zum Beispiel einem Kinderbuch als Struktur. Die Kinder sind froh über die Möglichkeit, aus ihren üblichen Rollen auszubrechen. Meistens kommt der Anstoß von Seite der geflüchteten Kinder, die zu singen, tanzen oder erzählen beginnen. Auch das Flüchtlingstheater Malaika hatte zunächst die Intention, mit einfachen Geschichten wie Märchen zu arbeiten, doch schlussendlich wollte jede_r seine_ihre Geschichte erzählen und so entstand auch das erste Projekt. Bei den weiteren Projekten sind die eigenen Erfahrungen der Geflüchteten präsent, werden jedoch in einen anderen Rahmen gesetzt. Beim zweiten Projekt wollten die Geflüchteten beispielsweise zeigen, wie man die Schweiz erlebt, wenn man aus einem anderen Land kommt. Bei ihrem aktuellen Projekt drehten sie die Voraussetzungen um und Schweizer_innen gingen auf eine Reise durch die Herkunftsländer der Malaikas. Insgesamt seien viele lustige sowie tiefgründige Szenen entstanden, die die Unterschiede der Länder zeigen.

Keine aktiven Gegenstimmen Das Flüchtlingstheater Malaika erfährt ein großes Echo und alle Besucher_innen sind begeistert. Sie erhalten immer wieder neue Anfragen für weitere Aufführungen, unter anderem auch von Kirchen. Sie konnten bereits ein Stück im Schauspielhaus in Zürich zeigen, obwohl sie keine professionelle Theatergruppe sind. Doch unabhängig davon, wo sie spielen, versuchen sie mit ihrem Charme die Wahrnehmung der Schweizer_innen zu ändern und Begegnungen zu ermöglichen. Sie haben bis jetzt glücklicherweise keine negativen Gegenstimmen erleben müssen. Auch Maurus Achermann bestätigt, dass sie bis jetzt noch keine Probleme in diese Richtung hatten, betont jedoch, dass TheaterFlucht kein provokantes Projekt, nicht auf Konfrontation, sondern Vermittlung ausgerichtet sei. Allerdings sei es immer schwer, Schweizer Familien zu finden, die bereit sind daran teilzunehmen. Außerdem sei es auch schon vorgekommen, dass Eltern erst im Verlauf der Woche bemerkten, dass es ein Theaterprojekt mit Geflüchteten ist, und dann ihre Kinder wieder aus der Gruppe genommen haben. Achermann erzählt, dass auch schon Theatermachende mit Stereotypen auf Kindern zugegangen sind, weshalb Theaterpädagog_innen mittlerweile sehr bedächtig gewählt werden. Dass zum Beispiel teilnehmende Jugendliche die „Gegenseite“ im Projekt konfrontierten, blieb seither glücklicherweise ein Einzelfall. Im Großen und Ganzen sehe ich diese Erzählungen aber als eher passive Gegenstimmen und auch Maurus Achermann bestätigt, dass man in der

Blick nach Außen – „Flüchtlingstheater“ in der Schweiz

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Schweiz, als eine „extrem konservative Ecke“, nicht am Kontakt mit Geflüchteten und auch nicht am Thema rund um „die Flüchtlinge“ interessiert ist. Man bezeuge ständig humanitäre Tradition, doch in der Realität baut das „Schweizer Volk“ Mauern, insbesondere wenn es um private Kontakte geht. Genau das aber ist das Ziel beider Theaterprojekte. Sie stellen sich der Schwierigkeit, versuchen die Menschen in einen Austausch zu bringen und soziale Kontakte zu ermöglichen. Bleibt nur noch die Hoffnung, dass sich die Schweizer_innen überwinden und in die so geschaffenen Begegnungsraum zu den geflüchteten Menschen eintreten. Insgesamt ist zu sehen, dass mit dieser passiven Haltung die Angst vor dem Fremden auch in der Schweiz vorhanden ist. An sich ist diese Angst nichts Schlechtes, schließlich gehört sie zum Schutzreflex des Menschen. Doch ich wünsche mir, dass das Theater in der Schweiz mit der Reflexion dieser Angst fortfährt und damit die aufgerichteten Barrieren durchbrechen kann.

Natalie Ananda Assmann

Flucht vor dem Theater!? Beobachtungen in der künstlerischen Arbeit mit Geflüchteten

Das Künstler_innen-Kollektiv Die schweigende Mehrheit Sagt JA! wurde eingeladen, im Rahmen der Vorlesungsreihe „Flucht, Migration, Theater“ am tfm (Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft) über künstlerische Interventionen während des sogenannten „Sommers der Migration“ und über die Inszenierung Schutzbefohlene performen Jelineks Schutzbefohlene unter der Regie von Tina Leisch und Bernhard Dechant sowie über die Theaterarbeit mit Newcomer_innen zu berichten. Durch den Austausch mit den Studierenden empfanden wir, dass es unter den Studierenden ein gewisses politisches Interventionsdefizit gab. Unser Vorschlag dem entgegenzuwirken bestand darin, eine künstlerische Aktion im universitären Kontext durchzuführen, die eine Solidarisierung mit Geflüchteten sichtbar macht. Kurz vor Weihnachten stand dann mehrfach die Idee eines eigenen Punschstandes im Raum. Mit Unterstützung der beiden Lehrveranstaltungsleiterinnen der Ringvorlesung konkretisierte sich diese Idee und führte im wörtlichen Sinne … Zum.Flucht.Punsch., einem sogenannten Newcomer_innen-Punschstand, bei dem anstelle von überzuckertem „Weihnachtssingsang“ und pseudo-christlicher Romantik ein Zufluchtsort in den Tagen vor Weihnachten entstehen sollte. Bei diesem konnten sich Menschen über kulturelle, religiöse und soziale Grenzen hinweg – mit und sans papiers – begegnen und Raum für ein „Zusammensein“ konnte entstehen. Durch das Engagement der Lehrveranstaltungsleiterinnen gemeinsam mit der Institutsleitung des tfm wurde uns ein Standplatz am Uni Campus im Alten AKH zur Verfügung gestellt. Leider war dieser aber abseits des Rummels des Weihnachtsdorfes in Hof 1 gelegen, wodurch es zu weniger Austausch mit dem konventionellen „Standl-Publikum“ kam. Andererseits ergaben sich daraus inspirierende Voraussetzungen für ein „Punschstandl“ mit Bühnencharakter. Unser im Sinne eines Kollektivs betriebener Punschstand wurde vorwiegend von Newcomer_innen geführt. Die Österreicher_innen des Kollektivs gingen den neuen Standlbesitzer_innen hauptsächlich mit der Beschaffung von Heizpilzen, Gas und Punschgewürzen zur Hand, der laufende Betrieb wurde von

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Natalie Ananda Assmann

Newcomer_innen selbst organisiert. Was bedeutete, dass die Betreiber_innen eigenständig waren und sich ein Gefühl der Selbstermächtigung einstellen konnte. Eine Intention des Punschstandes war es, den diskriminierenden Ausschluss aus der Erwerbstätigkeit für Schutzsuchende im Asylverfahren zu umgehen und aufzuzeigen. Der Punschstand selbst wurde uns großzügiger Weise vom Verein Ute Bock zur Verfügung gestellt und von den mehr oder weniger handwerklich begabten Darsteller_innen des Kollektivs aufgebaut. Am 6. Dezember wurde mit Konzerten und Keksspezialitäten aus Syrien und Afghanistan eröffnet. Es entwickelte sich infolgedessen eine Eigendynamik: allabendlich kamen Künstler_innen, Kulturschaffende und politisch engagierte Menschen zu Besuch, um musikalische und literarische Beiträge sowie Diskussionen zum Thema Flucht mitzugestalten. Eine Soundanlage, Mikros und gut hörbare Boxen waren ein „must-have“ für unser „Zufluchtsstandl“, da wir nur mit einigermaßen lauter Musik die gefühlten tausend Weihnachtsmarktbesucher_innen aus dem vorderen Hof in unseren romantisch-abgelegenen Hof 2 locken konnten. Schnell wurden die Herren des Campus-Sicherheitsdienstes zu unseren ersten Stammgästen und ich sollte den Newcomer_innen erklären, dass in Österreich auch bei Minusgraden nicht immer und überall ein Lagerfeuer erlaubt ist. Es kam auch die Frage auf, warum der Punschstand vom Gasthaus Stiegl Ambulanz in Hof 1 denn ein Feuer haben dürfe und wir nicht? Oder was eine „Genehmigung“ sei? Und warum dürfen wir nicht überall Plakate aufhängen und Werbung für unseren Stand am Campus machen oder warum begegnete der Sicherheitsdienst uns erst nach ein paar Tagen höflich und freundlich? Ein Anruf von „Oben“ löste im ersten Zug all unsere Probleme und erklärte den „RefugeePunschstand“ zur „Unisache“. Ein System der Bürokratie, das sich beispielsweise für die beiden Newcomer Ahmad und Mohammed im ersten Moment gar nicht so unähnlich anfühlte wie die bürokratischen Herausforderungen, mit denen sie sich gerade herumschlagen mussten, um einen positiven Asylbescheid zu bekommen. Es dauerte ungefähr eine Woche bis die Startschwierigkeiten aus dem Wege geräumt und die Studierenden aus Hörsaal C1 und C2 verstanden hatten, warum hier immer orientalische Musik lief und was die Aufschrift „Angst“ auf den Luftballons zwischen den Lichterketten eigentlich genau bedeuten sollte. Welches politische Statement eine öffentliche Einrichtung wie die Universität Wien mit einem kleinen Punschstand wie unserem überhaupt abgibt, wurde auch uns erst klar, nachdem konservative Kräfte der Universitätsverwaltung hörbar waren: „der Punschstand sehe aus wie ein Slum“, oder „dieser Stand erinnere an #unibrennt!“ Wir mussten die Erfahrung machen, dass Zum.Flucht.Punsch. als ein Zeichen lebendiger Willkommenskultur, offensichtlich nicht von allen Mitarbeiter_innen der Universität so gelebt werden wollte, wie von uns. Besonders in den letzten Tagen vor Weihnachten arbeiteten solidarische und unterstützende

Beobachtungen in der künstlerischen Arbeit mit Geflüchteten

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Mitarbeiter_innen aus den Reihen der Universität eng zusammen, um die Wogen zu glätten. Der Punschstand war in diesen letzten Tagen vor Weihnachten jeden Abend gut besucht. Syrische Weihnachtslieder, die Weihnachtsgeschichte in Deutsch und Farsi gelesen, eine gemeinsame Jamsession von Musiker_innen aus aller Welt, Professor_innen, Newcomer_innen, Künstler_innen und Weihnachtsmarktbesucher_innen sangen gemeinsam „Imagine“ von John Lennon. Es mag sein, dass manche dieses Bild als kitschig bezeichnen würden, aber für die meisten der Anwesenden war gerade dies ein Moment, der unbezahlbar war und aus dem heraus neue Kraft geschöpft werden konnte. Zum.Flucht.Punsch. wurde zu einem Ort in der Weihnachtszeit, an dem sich Menschen trafen, die weiterhin für eine Gesellschaft ohne Fremdenfeindlichkeit und gesellschaftliche Exklusion eintreten. Dank engagierter Universitätsmitarbeiter_innen fühlte sich unser erster Kontakt mit der Universität Wien also positiv an, auch wenn wir geschlossen der Meinung waren, nie wieder einen Punschstand betreiben zu wollen. Über diese ersten geknüpften Kontakte wurde das Ensemble Die schweigende Mehrheit sagt JA! einige Monate später von der Österreichischen Hochschülerschaft, ÖH Uni Wien, eingeladen, Elfriede Jelineks Stück im Audimax der Universität Wien aufzuführen. Am 14. Mai 2016 wurde die Aufführung nach wenigen Spielminuten von Mitgliedern einer rechtsextremen Bewegung, der sogenannten Identitären gestürmt. Hier die Erklärung der ÖH, die kurz darauf auf Facebook veröffentlicht wurde: Heute gegen 20.45 Uhr wurde die Veranstaltung ,Schutzbefohlene performen Jelineks Schutzbefohlene‘ von 40–50 Identitären angegriffen. Sie haben die Bühne gestürmt, eine Identitärenfahne geschwenkt und mit Kunstblut Menschen angespritzt. Mehrere Personen aus dem Publikum wurden geschlagen, gestoßen und verletzt. Unter den Identitären war Martin Sellner, der Obmann der Identitären Wien. Das zeigt ganz klar, es handelt sich um eine koordinierte Aktion. Die ÖH Uni Wien hat sofort die Polizei verständigt, diese ist nun vor Ort und nimmt Zeug_innenaussagen auf. Die performenden Refugees haben sich dazu beschlossen, die Veranstaltung weiterzuführen. Weder die performenden Refugees noch die ÖH Uni Wien lassen sich von der rechten Gewalt einschüchtern. Wir werden auch weiterhin jeder Form von Faschismus entgegentreten. Refugees Welcome! Alerta Antifa!1

Tatsächlich waren es ca. 25 Identitäre, die die „Schutzbefohlenen“ verbal und physisch attackierten, einer schwangeren syrischen Frau aus dem Publikum in den Bauch schlugen, einige Zuschauer_innen hatten nach dem Angriff blaue 1 ÖH Uni Wien, https://facebook.com/oehuniwien/posts/1099861606745208 [21. 07. 2016].

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Natalie Ananda Assmann

Flecken. Aus dem darauf folgenden offiziellen Statement der Universität Wien lässt sich zwar herauslesen, dass die „Störaktion“ aufs „Schärfste“ zu verurteilen sei, die Universität aber gleichzeitig ein Raum sein sollte um gegensätzliche Standpunkte zu diskutieren. Hier stellt sich für mich die Frage, warum eine Institution mit einem gesellschaftlichen Bildungsauftrag, aber eben auch Repräsentationsverantwortung, nicht klarer Stellung bezieht, sondern gewalttätigen Rechtsextremen als Reaktion auch noch einen Dialog anbietet. Die Attacke der Identitären an der Universität Klagenfurt im Juni machte abermals deutlich, dass diesen rechtsextremen „Aktivist_innen“ keine Bühne geboten werden darf, weder im Museum Moderner Kunst, noch in ORF-Beiträgen, Diskussionsrunden mit Ö1-Journalist_innen oder an österreichischen Universitäten. Die Reaktion zweier Darsteller_innen des Kollektivs auf die Attacke zeigt deutlich, wie viel Unsicherheit dieser Vorfall ausgelöst hat. So meint etwa Basima, die mit ihrer Familie vor dem Krieg im Irak nach Österreich geflohen ist: Ich habe vieles in meinem Leben erlebt. Ich empfinde die Leute in unserer Gruppe wie meine eigenen Kinder. Ich war schockiert, dass diese Aktion in der Universität passiert ist. Ich habe immer gedacht, zur Uni kommen intelligente und offene, unkomplizierte Menschen. Wir waren sehr glücklich über dieses große Publikum. Als es passiert ist, hatten wir Angst. Wir haben gemerkt, diese Leute wollen uns Angst machen und aus Österreich wegschicken. Aber andere Österreicher haben uns bereits sehr geholfen und wir werden diese Hilfe nie vergessen.

Auch Ahmad, ein Darsteller, geboren in Syrien erzählt von seinen Eindrücken: At first glance I thought what happened being part of the play or a terrorist attack. They entered the theater from all doors eerily, which made me fear, then the fake blood and the screams of children, women. It was a tense night for me, especially when someone turned to us and started shouting in our faces and we didn’t understand what he says.

Zur Theaterarbeit mit Newcomer_innen Theatermachen mit geflüchteten Menschen ist wie ein „Tanz auf dem Vulkan“. Besonders dann, wenn die künstlerische Arbeit als gesellschaftspolitische Kritik verstanden werden möchte, sodass sie sich schnell in einem Spannungsfeld zwischen ausgespielter Provokation und Opferbetitelung wiederfindet. „Theater muss provozieren und der Gesellschaft den Spiegel vorhalten“, heißt es oft, aber hier stellt sich die Frage, ob diese viel gelebte Herangehensweise den Umständen angemessen ist. Es ist infrage zu stellen, ob diese Aussage tatsächlich auf die Situation von Geflüchteten zutrifft. Viele Geflüchtete kommen aus einer komplett anderen Lebensrealität und treffen auf „Theatermenschen“, mit mehr oder

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weniger Visionen und Hang zum Exzessiven. Manche sind sensibel und einfühlsam, manche haben den Wunsch nach Gleichstellung, jedoch am Ende des Tages sind sie sich selbst am nächsten. Dies gilt natürlich nicht für alle und nicht in jeder Situation, aber oft. Bedenklich wird es vor allem dann, wenn wir die üblichen Produktionsbedingungen für ein Theaterprojekt vorfinden: Sechs Wochen Proben, drei Wochen spielen. Und wie geht es dann weiter? Was passiert, wenn die so wichtig gewordene Begegnung einem neuem Projekt weichen muss? Während der Theaterarbeit geschieht es im Laufe eines Probenprozesses oft und schnell, dass sich Machtstrukturen entfalten und bei Einzelnen der Wunsch nach öffentlicher Profilierung vordergründig wird. Kunstschaffende, mit dem Privileg in Sicherheit geboren und aufgewachsen zu sein, müssen sich immer wieder fragen, wessen Interessen auf der Bühne vertreten werden? Wessen Ansehen steigt am Ende eines Projekts? Strukturen, Hierarchien und Rollenverteilung müssen grundsätzlich in der Theaterarbeit, aber besonders in der Arbeit mit Menschen mit Fluchthintergrund immer wieder hinterfragt und gegebenenfalls neu verhandelt werden. Die Arbeit mit Menschen, die aus Kriegsgebieten kommen, vor politischer Verfolgung, sexueller oder struktureller Diskriminierung und Armut fliehen mussten, setzt einen kritischen Umgang mit Phänomenen wie „pitty machine“, Voyeurismus, „Sensation-Seeking“ und Instrumentalisierung voraus. All das muss thematisiert und aufgebrochen werden. Für mich persönlich und als Kunst- und Kulturschaffende ist die Arbeit mit Schutzsuchenden eine absolute Herausforderung. Nach meiner Erfahrung ist es wichtig mit Menschen zusammenzuarbeiten, die sich bewusst sind, dass der Theaterraum starke Projektionsfläche ist, sie diesen Spielrahmen kennen und ihn immer bewusst, nie unbewusst überschreiten wollen. Ist dem nicht so, besteht die Gefahr einer Instrumentalisierung von Themen und Menschen. Solch eine Form widerspricht dann dem Grundtenor den meiner Meinung nach Theaterarbeit beinhalten sollte: radikale Ehrlichkeit mit sich selbst. Das Theater ist ein Ort des Austauschs und im Idealfall ein Kraftort. Solidarisches kreatives Handeln kann aber auch andere Formen annehmen. Das Theater ist für Schutzsuchende nicht der erste Zufluchtsort, aber Theater kann uns ein neu gefundenes Zuhause sein. Jedoch kann das Theater dich niemals schützen, weil es dich immer auch verletzten will, da die Verletzlichkeit im Theater unverzichtbar ist – zeigt es doch einer Gesellschaft, wie fragil und ängstlich ihre Mitglieder sind.

Katharina Lehner und Romy Pauline Rinke

Dokumentation von Aktion

Wie aus den Beiträgen dieses Sammelbandes hervorgeht, sind Flucht und Asyl, besonders im aktuellen europäischen Kontext, auf gesellschaftlicher und politischer Ebene kontrovers und viel diskutierte Themen. Während sich in Teilen der Bevölkerung Angst- und Abschottungstendenzen abzeichnen, war die Flüchtlingsthematik, die spätestens seit Herbst 2015 ein gesamteuropäisches Thema geworden ist, auch Auslöser einer großen Welle zivilgesellschaftlichen Engagements. Dieses spiegelte sich in der Bildung zahlreicher privater und öffentlicher Initiativen zur Unterstützung geflüchteter Menschen und der Aktivierung eines großen Potenzials an zwischenmenschlicher Solidarität mit den geflüchteten Menschen wider. Der folgende Beitrag ist der Versuch, den Facettenreichtum, die Kreativität und die Innovation, die das Engagement für geflüchtete Menschen dabei annimmt, in Ansätzen abzubilden. Es handelt sich um eine Dokumentation von staatlichen, nichtstaatlichen und privaten Organisationen, Initiativen und Projekten, die im Kontext der aktuellen Flüchtlingsthematik in Europa aktiv sind oder waren. Aufgrund der großen Vielfalt in diesem Bereich kann es sich nur um eine Auswahl der bestehenden Initiativen handeln, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt und sich an den folgenden Kriterien orientiert: Die Dokumentation bezieht sich auf Organisationen, Initiativen und Projekte entlang einer der wichtigsten Fluchtrouten nach Europa, der sogenannten Balkanroute. Obwohl es viele Beispiele für Projekte gibt, die sich mit dem Thema Migration im Allgemeinen beschäftigen, ist der Fokus dieser Sammlung auf Organisationen und Initiativen gelegt, in welchen der Themenkomplex Flucht an zentraler Stelle steht. Österreich und besonders Wien als Ort der Publikation stehen dabei im Zentrum der Beobachtung. Ein weiteres Auswahlkriterium stellt die Verfügbarkeit von Informationen online und auf den Sprachen Deutsch, Englisch und/oder Französisch dar. Im Falle großer Hilfsorganisationen wird nicht auf die gesamte Organisation als solche, sondern lediglich auf den Aktivitätsbereich Bezug genommen, der mit dem Fluchtthema in Beziehung steht. Die Dokumentation folgt den Stationen entlang der Balkanroute, vom Mittelmeer bis nach Deutschland.

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Katharina Lehner und Romy Pauline Rinke

Mittelmeerraum Ärzte ohne Grenzen (Médecins sans Frontières – MSF)

Ärzte ohne Grenzen ist eine internationale medizinische Hilfsorganisation, die im humanitären Bereich tätig ist. Seit Herbst 2002 ist sie auch im Mittelmeerraum aktiv und unterstützt mit ihren Leistungen Menschen, die das Mittelmeer überqueren um nach Europa zu gelangen. Die Aktivitäten umschließen Suchund Rettungseinsätze auf dem Mittelmeer, die Ausbildung tunesischer Fischer im Such- und Rettungsbereich, medizinische, psychologische und humanitäre Erstversorgung in Griechenland und Italien, Erstversorgungszentren entlang der sogenannten Balkanroute sowie medizinische und psychologische Betreuung im Flüchtlingslager „The Jungle“ in Calais. Im Mittelmeer sind Teams von Ärzte ohne Grenzen an Bord von drei Schiffen in den internationalen Gewässern nördlich von Libyen im Einsatz. In der Ägäis unternahm Ärzte ohne Grenzen in Zusammenarbeit mit Greenpeace Rettungsaktionen vor Lesbos. Nach dem Rückgang der dortigen Ankunftszahlen überwacht die Organisation die Situation und hält sich einsatzbereit. Aktionsraum: Mittelmeer / Tunesien / Italien / Griechenland / Serbien / Mazedonien / Frankreich j Unterstützungsmöglichkeit: Durch Spenden j Gründung: 1971 in Frankreich von einer Gruppe von Ärzt_innen und Journalist_innen j Finanzierung: zu 92 Prozent über Spenden, Restfinanzierung durch staatliche Regierungen und internationale Organisationen. Seit Juni 2014 nimmt Ärzte ohne Grenzen als Zeichen des Protests gegen die europäische Asylpolitik keine finanzielle Unterstützung der EU und ihrer Mitgliedsstaaten mehr in Anspruch. j Kontakt: http://www.msf.org/en/topics/mediterranean-migration

borderline-europe – Menschenrechte ohne Grenzen e. V. Borderline-europe ist ein gemeinnütziger Verein, der sich gegen die Abgrenzung Europas im Hinblick auf Asylsuchende einsetzt. Die Aktivitäten umfassen dabei Recherche-, Dokumentations- und Informationsarbeit, Vernetzung und Unterstützung europäischer Initiativen zur humanitären Hilfe an den Grenzen sowie Lobbyarbeit. Aktionsraum: Mittelmeerraum / Europa j Kooperationen und Unterstützer_innen: Zusammenarbeit mit nationalen und internationalen Nichtregierungsorganisationen j Unterstützungsmöglichkeit: Als private_r Spender_in, nach Bedarf als Praktikant_in (Palermo oder Berlin), als ehrenamtliche_r Mitarbeiter_in und/oder als Fördermitglied j Gründung: borderline-europe wurde im Jahr 2007 unter anderem von Elias Bierdel gegründet j Öffentlichkeit:

Dokumentation von Aktion

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Aachener Friedenspreis 2012 j Finanzierung: durch Spenden j Kontakt: http:// www.borderline-europe.de/; [email protected] (Deutschland); jg@ borderline-europe.de (Italien)

Cadus (Projekt Seenotrettung vor Lesbos) Cadus ist in der Rettung und Erstversorgung von in Seenot geratenen Flüchtenden mit Festrumpfschlauchboten in der Meerenge zwischen der Türkei und den griechischen Inseln in Zusammenarbeit mit Sea-Watch e.V. aktiv. Aktionsraum: Mittelmeer / Ägäis j Kooperationen und Unterstützer_innen: Zusammenarbeit mit Sea-Watch e.V. j Unterstützungsmöglichkeit: als Spender_in j Kontakt: http://www.cadus.org/de/; [email protected]

Humanitarian Pilots Initiative – HPI HPI ist eine Initiative von Schweizer Pilot_innen und Unterstützer_innen, die ihre fachlichen Fähigkeiten im Rahmen von freiwilligem Engagement für humanitäre Zwecke zur Verfügung stellen. Im Mittelmeerraum unterstützt die HPI dabei Organisationen bei der Seenotrettung, indem sie zivile Luftaufklärung betreibt. Das Ziel dabei ist es, die genaue Position und den Zustand von Flüchtlingsbooten zu ermitteln und an die Rettungsorganisationen weiterzuleiten. In Zukunft will die Initiative ihren Tätigkeitsbereich auch auf andere Gebiete ausweiten und dabei auch die Bereiche Hilfsgüterversorgung, Suchflüge und Naturschutzüberwachungsflüge mit einschließen. Aktionsraum: Schweiz / Mittelmeer j Kooperationen und Unterstützer_ innen: Zusammenarbeit mit Sea-Watch e.V., Migrant Offshore Aid Station (MOAS), Watch the Med, Schwizerchrüz und Ärzte ohne Grenzen j Unterstützungsmöglichkeit: durch Spenden j Gründung: Initiiert von Fabio Zgraggen und Samuel Hochstrasser j Finanzierung: über Spenden j Kontakt: http://www. piloteninitiative.ch/main/home/; [email protected]

Migrant Offshore Aid Station (MOAS) MOAS ist eine Hilfsorganisation, die Such- und Rettungsaktivitäten im Mittelmeer betreibt. Ein internationales Team aus Mediziner_innen, Sicherheitsfachleuten und erfahrenen Seeleuten arbeiten im Rahmen der Initiative zusammen. MOAS verfügt über ein Schiff (die MY Phoenix), zwei ferngesteuerte Drohnen und zwei Festrumpfschlauchboote und hat seit 2013 fast 12.000

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Katharina Lehner und Romy Pauline Rinke

Menschen in Seenot gerettet. Neben dem Mittelmeer ist die Organisation auch im Golf von Bengalen im Einsatz. Aktionsraum: Ägäis / Zentrales Mittelmeer / Golf von Bengalen j Kooperationen und Unterstützer_innen: Unterstützt von OGI, Schiebel, Caritas Deutschland, Unique Maritime Group und Avaaz.org j Unterstützungsmöglichkeit: durch Geld- und Materialspenden j Gründung: MOAS wurde 2013 in Folge der Schiffskatastrophe vor Lampedusa gegründet, bei der 400 Menschen ums Leben kamen. Gründungsmitglieder waren Christopher und Regina Catrambone zusammen mit einem Team von Such- und Rettungskräften. j Finanzierung: Seit 2015 ist MOAS eine privat finanzierte Hilfsorganisation, die von Privatpersonen und Unternehmen auf internationaler Ebene unterstützt wird. j Kontakt: https://www.moas.eu/de/

Operation Mare Nostrum Mare Nostrum war eine Operation der italienischen Marine und der Küstenwache zur Rettung von in Seenot geratener Flüchtlingsboote auf dem Mittelmeer bis vor die Küste Libyens. In ihrer einjährigen Laufzeit verzeichnete sie 421 Einsätze, 150.810 gerettete Geflüchtete und die Festnahme von 330 mutmaßlichen Schleppern. Aktionsraum: Mittelmeer / Italien j Gründung: Operation Mare Nostrum wurde im Oktober 2013 in der Folge zweier Schiffsunglücke von Flüchtlingsbooten vor Malta und vor Lampedusa von der italienischen Regierung ins Leben gerufen und endete genau ein Jahr später aufgrund mangelnder Finanzierungsmöglichkeiten. j Finanzierung: Italien j Kontakt: http://www.marina.dife sa.it/EN/operations/Pagine/MareNostrum.aspx

Missing Migrants Project Missing Migrants Project dokumentiert Flüchtende und Migrant_innen, die während der Flucht verschwanden. Außerdem bietet das Missing Migrants Project Hilfestellung bei der Suche nach Verschwundenen an. Das Projekt ist eine Initiative des Global Migration Data Analysis Centre (GMDAC) der International Organization for Migration (IOM). Aktionsraum: weltweit j Gründung: Oktober 2013 j Kontakt: http://mis singmigrants.iom.int/about

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Sea-Watch e.V. Sea-Watch betreibt zivile Seenotrettung von Flüchtenden in den Gebieten zwischen der libyschen Küste und Malta bzw. zwischen der türkischen Festlandküste und Lesbos. Unter dem Namen Sea-Watch Air wurden die Aktivitäten mit Juni 2016 in Zusammenarbeit mit der Humanitarian Pilots Initiative auf den Luftraum ausgeweitet. Aktionsraum: Mittelmeer j Kooperationen und Unterstützer_innen: Zusammenarbeit mit anderen Flüchtlings- und Menschenrechtsorganisationen, die im Mittelmeerraum tätig sind. j Unterstützungsmöglichkeit: Als private_r Spender_in oder als ehrenamtliche_r Mitarbeiter_in (Schifsmechaniker_innen, Schiffscrew, Mediziner_innen; nach Bedarf Praktikant_innen) j Gründung: Das Projekt Sea-Watch entstand aus einer Privatinitiative mehrerer Familien aus Deutschland. Der Verein Sea-Watch e.V. besteht seit Mai 2015 j Finanzierung: private Spender_innen sowie Vereine, Firmen und Initiativen, die das Projekt finanziell und mit Sachspenden unterstützen j Kontakt: http://sea-watch.org/; [email protected]

SOS Méditerranée SOS M8diterran8e betreibt Rettung von Flüchtenden in Seenot. Ziel der Initiative ist es, ein Einsatznetzwerk aufzubauen, das verschiedene Seerouten über das Mittelmeer bis hinauf zur Atlantikküste abdeckt. Das erste Rettungsschiff ist zwischen Sizilien, Lampedusa und Libyen auf der gefährlichsten Fluchtroute über das Mittelmeer im Einsatz. Aktionsraum: Mittelmeer j Unterstützungsmöglichkeit: Als Spender_in j Gründung: SOS M8diterran8e wurde am Europatag, den 9. Mai 2015 von Klaus Vogel, Sophie Beau und engagierten Bürger_innen aus Deutschland, Frankreich, Italien und Griechenland gegründet. j Kontakt: http://sosmediterranee.org/ ?lang=en; [email protected]

Watch The Med (WTM) Watch The Med ist eine Internetplattform, die eine Online-Karte betreibt, um die Todesfälle und Menschenrechtsverletzungen an den Seegrenzen Europas zu beobachten. Aktionsraum: Mittelmeer j Kooperationen und Unterstützer_innen: Afrique-Europe-Interact, Boats 4 People, Forschungsgesellschaft Flucht & Migration, Welcome to Europe j Unterstützungsmöglichkeit: Als Spender_in; außerdem ist

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Katharina Lehner und Romy Pauline Rinke

es möglich, WTM durch Recherche, Kontakte, Übersetzungen, Berichte und Bekanntmachung der Menschenrechtsverletzungen im Mittelmeer zu unterstützen. j Gründung: Watch The Med wurde im Rahmen der Boats4PeopleKampagne 2012 im zentralen Mittelmeerraum ins Leben gerufen und ist inzwischen Teil eines großen Netzwerks an Organisationen, Aktivist_innen und Forscher_innen. j Kontakt: http://www.watchthemed.net/index.php/page/in dex/3; [email protected]

Welcome to Europe Welcome to Europe stellt Informationen über die jeweils aktuelle Situation in den Ländern Europas in Bezug auf Flucht und Asyl zur Verfügung, um Flüchtende auf ihrem Weg nach und durch Europa zu unterstützen. Es werden auch Kontaktlisten mit Anlaufstellen in verschiedenen Ländern angeboten. Aktionsraum: Europa j Unterstützungsmöglichkeit: Als Spender_in; als Übersetzer_in (von Englisch in Französisch, Arabisch und Farsi), durch die Übermittlung von länderspezifischen Informationen, durch die Verbreitung der Website j Gründung: Entstanden im Kontext der aktuellen Flüchtlingsthematik in Europa j Kontakt: http://www.w2eu.info/overview.en.html

Griechenland Lighthouse Relief Lighthouse Relief ist eine schwedische Organisation, die mit internationalen Freiwilligen in Griechenland zusammenarbeitet, um geflüchtete Menschen in den Flüchtlingslagern Katsikas und Ritsona sowie auf Lesbos zu unterstützen. Aktionsraum: Griechenland / Schweden j Unterstützungsmöglichkeit: Als Spender_in und/oder als Freiwillige_r j Gründung: im September 2015 von einer Gruppe von Freiwilligen auf Lesbos j Kontakt: http://www.lighthouserelief.org/ home/; [email protected]

Octopus Volunteer Team Lesvos Das Octopus Volunteer Team arbeitet aktiv mit sämtlichen Organisationen zusammen, die im Norden von Lesbos im Flüchtlingsbereich tätig sind. Der Freiwilligenkoordinator Thom Vanmaanen ist dabei Bindeglied zwischen Freiwilligen und Organisationen und hilft Menschen, die sich auf Lesbos für Geflüchtete

Dokumentation von Aktion

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engagieren wollen, bei der Organisation ihres Aufenthalts. Die Freiwilligentätigkeiten reichen dabei von direkter Hilfe für geflüchtete Menschen, die mit dem Boot an der Küste von Lesbos ankommen, über Aufräumarbeiten an den Stränden bis hin zu Dolmetschtätigkeiten und Essensausgabe. Aktionsraum: Lesbos / Griechenland j Unterstützungsmöglichkeit: Als Freiwillige_r j Gründung: Koordiniert von Thom Vanmaanen (Freiwilligenkoordinator) j Kontakt: http://www.lesvosisland.com/volunteering++refugees+ on+Lesvos+/3393/default.ecms; https://www.facebook.com/Octopus-Volun teer-Team-Lesvos-593864180791265/?ref=hl; [email protected]

More than Shelters. DOMO Das Ziel von More than Shelters ist es, lebenswerte Bedingungen für Flüchtende und Bewohner_innen von informellen Siedlungen zu schaffen. Dafür wurde das flexible Shelter System DOMO entwickelt, das in der humanitären Hilfe bis zu zehn Menschen Unterkunft bieten kann. Betroffene Menschen werden ermutigt, trotz Krisensituationen aktiv ihre Zukunft zu gestalten und ein würdiges Leben zu führen. Es werden Orte für die Bedürfnisse nach Sicherheit, Geborgenheit und Privatsphäre geschaffen, die aktiv mitgestaltet werden können. Aktionsraum: Weltweit j Kooperationen und Unterstützer_innen: Das Sozialunternehmen setzte sich aus der More than Shelters GmbH und dem gemeinnützigen More than Shelter e.V. zusammen und besteht aus einem interdisziplinärem Expert_innen-Team. j Unterstützungsmöglichkeiten: Als private_r Spender_in oder als Käufer_in eines DOMOs j Gründung: im Februar 2012 in Hamburg von Daniel Kerber j Finanzierung: durch Spenden, Förderungen und eine Crowdfunding Kampagne j Kontakt: http://www.morethanshelters. org/de/; [email protected]

Starfish Foundation Die Organisation war bis Mai 2016 im Flüchtlingshilfebereich aktiv, hat sich allerdings nun aufgrund des aktuellen Rückgangs der Flüchtlingszahlen umorientiert und unterstützt nun lokale Projekte. Aktionsraum: Lesbos / Griechenland j Gründung: 2015 j Kontakt: http:// www.asterias-starfish.org/en/about/; [email protected]

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Greek Island Volunteers Die Website ist als Informationsplattform für Menschen gedacht, die sich im Rahmen von Grassroot-Initiativen im Flüchtlingsbereich auf den griechischen Inseln engagieren wollen. Neben Informationen über die Situation und den Bedarf an ehrenamtlicher Arbeit auf den jeweiligen Inseln werden auch Informationen über die Inseln selbst zur Verfügung gestellt. Aktionsraum: Griechenland / griechische Inseln j Unterstützungsmöglichkeiten: Als Freiwillige_r in vielen verschiedenen Bereichen j Finanzierung: durch Spenden j Gründung: im Herbst 2015 j Kontakt: http://www.greekis landvolunteers.com/

Faros Faros ist eine christliche humanitäre Organisation, die unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Griechenland unterstützt. Als Basis dient dabei das Faros Centre im Bezirk Exarchia in Athen. Aktionsraum: Athen/Griechenland j Unterstützungsmöglichkeit: Als Spender_in und/oder als Freiwillige_r j Kontakt: http://www.faros.org.gr/; faros @faros.org.gr

Mazedonien LEGIS LEGIS ist eine mazedonische NGO, deren Tätigkeitsbereich in der humanitären Hilfe und dem Einsatz für Menschenrechte liegt. Seit Winter 2014 leistet sie aktiv auf freiwilliger Basis humanitäre Hilfestellung für Flüchtlinge und Asylsuchende auf ihrem Weg entlang der Balkanroute in und durch Mazedonien. LEGIS versorgt die Geflüchteten mit Lebensmittelpaketen, Hygieneartikeln, Kleidung und medizinischer Ersthilfe. Außerdem setzt sich die Organisation auf nationaler Ebene für einen menschenwürdigen Umgang mit geflüchteten Menschen ein. Aktionsraum: Mazedonien / weltweit j Unterstützungsmöglichkeit: Als Spender_in und/oder als Freiwillige_r j Gründung: 2009 in Skopje j Finanzierung: Durch Spenden und Sponsoren j Kontakt: http://legis.mk/

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Osservatorio Balcani e Caucaso OBC kreiert ein Forum, um Wissen zu teilen und einen Dialog der zivilen Gesellschaftsorganisationen herzustellen. Es werden transnationale Beziehungen unterstützt und gestärkt. Aktionsraum: Südosteuropa, Türkei und Kaukasus j Gründung: 2000 in Südosteuropa j Kontakt: http://www.balcanicaucaso.org/eng; segreteria@balca nicaucaso.org

Serbien Refugee Aid Serbia (RAS) Refugee Aid Serbia ist eine zivilgesellschaftliche Initiative, die Asylsuchende und Geflüchtete in Serbien unterstützt. Die Aktivitäten umfassen das Sammeln und die Verteilung von Hilfsgütern, Bewusstseinsbildung und Solidaritätsprojekte sowie die Unterstützung von Freiwilligen in ihrer Tätigkeit. Aktionsraum: Serbien j Unterstützungsmöglichkeit: Als Spender_in und/ oder Freiwillige_r j Gründung: August 2015 in Belgrad im Kontext der aktuellen Transitfluchtthematik j Kontakt: https://refugeeaidserbia.org; info@refugeeaid serbia.org

Refugee Aid Miksaliste Refugee Aid Miksaliste ist ein Zentrum in Serbien, das mit Hilfe der norwegischen Botschaft Spenden für Asylsuchende und Flüchtende, die durch Serbien reisen, sammelt. Aktionsraum: Serbien j Kooperationen und Unterstützer_innen: Unterstützt von der Swiss Agency for Development and Cooperation, PRO VICTIMS Geneve und Nobel Women’s Initiative. Außerdem unterstützt durch weitere Organisationen und Personen, die Geflüchteten in Serbien ihre Hilfe anbieten. j Unterstützungsmöglichkeiten: Durch private Spenden und/oder als Freiwillige_r j Gründung: Gegründet im August 2015 in Belgrad im Kontext der Transitfluchtthematik von Ana and Vlade Divac j Kontakt: http://refugeeaidmiksa liste.rs; [email protected]

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Katharina Lehner und Romy Pauline Rinke

Ungarn Migration Aid Migration Aid ist eine zivilgesellschaftliche Organisation auf Freiwilligenbasis, die den nach Ungarn kommenden Flüchtlingen hilft, Flüchtlingsquartiere zu erreichen oder weiterzureisen. Aktionsraum: Ungarn j Unterstützungsmöglichkeiten: Als private_r Spender_in; durch das Downloaden der InfoAid App, um zu spenden j Finanzierung: Finanzierung durch private Spender_innen j Kontakt: http://www.migrationaid. net/deutsch/; [email protected]

Migrant’s Help Association Of Hungary Migrant’s Help Association Of Hungary ist eine Organisation aus Geflüchteten und ihren Unterstützer_innen, die andere geflüchtete Menschen unterstützen und Hilfestellungen in Integrationsfragen anbieten. Aktionsraum: Budapest / Ungarn j Kooperationen und Unterstützer_innen: Internationale Sponsor_innen und unterstützende Organisationen j Unterstützungsmöglichkeiten: Als private Spender_innen und/oder Freiwillige_r j Gründung: 2001 von James Peter j Kontakt: http://www.mighelp.hu/index.html; [email protected]

Migszol – Migrant Solidarity Group of Hungary Migszol ist eine unabhängige Gruppe von Ungar_innen, Migrant_innen und geflüchteten Menschen, die sich für die politischen und sozialen Rechte Asylsuchender in Ungarn einsetzen. Die Beteiligung der geflüchteten Menschen selbst an der Organisation hat dabei einen großen Stellenwert und soll ihre Sichtbarkeit und Bewusstseinsbildung bei der ungarischen Bevölkerung über die Situation geflüchteter Menschen steigern. Aktionsraum: Ungarn j Unterstützungsmöglichkeit: Als Freiwillige_r und/ oder als Mitglied j Kontakt: http://www.migszol.com/; [email protected]

Otalom Charity Society Otalom Charity Society ist eine NGO, die sich für benachteiligte Menschen einsetzt und auch im Fluchtkontext aktiv ist. Neben einem Refugee Shelter in

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Budapest und Erstversorgung an den Grenzübergängen bietet die Organisation Betreuung für Geflüchtete ohne rechtlichen Status und abgelehnte Asylsuchende an. Ein weiteres Projekt ist „Mobile Laundry for Refugees“, das sich an den spezifischen Bedürfnissen von Menschen auf der Flucht orientiert und das vor der Schließung der ungarischen Grenzen die Nutzung mobiler Waschmaschinen entlang der Fluchtrouten plante. Aktionsraum: Ungarn j Unterstützungsmöglichkeit: Durch Sach- und Geldspenden j Gründung: 1989 j Kontakt: http://oltalom.hu/index.php?lang= en; [email protected]

Österreich 50Hz (Verein für Kunst und Ausgleich) Einmal in der Woche baut das Projekt in einer Flüchtlingsunterkunft in Wien ein Radiostudio auf und lädt die Bewohner_innen ein, ihre Lieblingsmusik vorzustellen. Die Idee dahinter ist, geflüchteten Menschen Narrationsmöglichkeiten außerhalb der ihnen zugeschriebenen Identität als Geflohene zu geben. Aktionsraum: Wien j Gründung: im November 2015 von Adele Knall, Ammar Nassar, Lisa Puchner, Miriam Hübl und Teresa Schwind j Öffentlichkeit: Einmal monatlich sind die in den Flüchtlingsunterkünften entstandenen Beiträge in der Sendung 50 Hz – gefragt, gespielt, gehört auf Radio Orange zu hören. j Finanzierung: Projektfinanzierung durch das Team selbst j Kontakt: https://www.facebook.com/radio50hz/

AFC Asylum Thunder Das American Football Team Asylum Thunder besteht zu einem großen Teil aus Asylsuchenden, Flüchtlingen und Migranten und trainiert zweimal wöchentlich nach dem Motto „Sport verbindet Menschen“ in Wien Simmering. Aktionsraum: Wien j Kooperationen und Unterstützer_innen: FC Karabakh, Diakonie – Haus Neu Albern, Flucht nach Vorn, Team Alpha Bar j Unterstützungsmöglichkeit: Als Fördermitglied und/oder durch den Kauf von Fanartikeln j Kontakt: http://www.asylumthunder.at/; [email protected]

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Aktivit – Future in Life Das Ziel der Mission Future in Life ist es, aus leerstehenden Immobilien menschenwürdige Unterkünfte für geflüchtete Menschen zu schaffen. In Zusammenarbeit mit den Bundesländern und dem Bund werden dabei je nach Bedarf unterschiedliche Aufgaben von der Grundversorgung bis zur intensiven Betreuung übernommen. Aktionsraum: Österreich j Kooperationen und Unterstützer_innen: Kooperationspartner_innen: Flüchtlingskoordinationsstellen der Bundesländer und des BMI j Unterstützungsmöglichkeit: Durch das zur Verfügung stellen von Immobilien (Wohnraum); durch Geld- und/oder Sachspenden j Gründung: Initiator der Mission Future in Life: Christoph Bäckenberger j Kontakt: http:// www.aktivit.org/index.php; [email protected]

Alle zusammen miteinander (IMACTIV – Verein für Sport, Kultur, Bildung und gesellschaftliches Engagement) Durch gemeinsame Freizeitgestaltung, die Organisation von Sportevents, kulturelle Performance im öffentlichen Raum und freiwilliges Engagement sollen integrative Gemeinschaftsräume geschaffen werden, die unbegleitete minderjährige Flüchtlinge mit Gleichaltrigen aus der Mehrheitsgesellschaft in Kontakt bringen. Aktionsraum: Steiermark j Gründung: Gegründet von IMACTIV – Verein für Sport, Kultur, Bildung und gesellschaftliches Engagement j Finanzierung: Finanzierung durch Kleinprojektfonds von öffentlichen Körperschaften, Kooperationsbeiträge und aus Eigenmitteln des Projektträgers; Finanzierung der weiteren Aktivitäten über Subventionen, Kooperationen und Spendenaktionen j Kontakt: Information: http://www.sozialmarie.org/projekte/alle_zusammen_ miteinander.5030.html

AMAL ANKOMMEN Die Organisation setzt sich für eine leistbare und dauerhafte Wohnraumschaffung für Geflüchtete, subsidiär Schutzberechtigte und Asylsuchende ein. Außerdem sollen lokale Begegnungsorte geschaffen werden, in welchen neu Angekommene und die lokale Bevölkerung in Kontakt treten können. Aktionsraum: Österreich j Unterstützungsmöglichkeit: Als Freiwillige_r j Gründung: 2015 von Alexander Poschner und Carina Sacher j Kontakt: http:// www.amal-ankommen.org/; [email protected]

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AMIGO – Begleitung von AsylwerberInnen, Asylberechtigten und MigrantInnen durch Freiwillige (SOS Menschenrechte) Das Projekt AMIGO soll Geflüchteten und zugewanderten Menschen Unterstützung und Begleitung bei der Integration bieten und Österreicher_innen die Möglichkeit geben, diese Menschen im Rahmen eines Buddy-Systems ehrenamtlich zu begleiten. Aktionsraum: Oberösterreich j Unterstützungsmöglichkeit: Als freiwillige Begleitperson („Buddy“) eines geflüchteten Menschen j Gründung: von SOS Menschenrechte j Öffentlichkeit: Auswahl als eines von 13 Modellprojekten beim Ideenwettbewerb GEMA – gemeinsam aktiv 2009; Förderpreis für integrative Kulturarbeit Stadt der Kulturen der Stadt Linz 2011 j Finanzierung: durch Förderungen vom Land Oberösterreich und dem BMASK und Unterstützung durch Spenden j Kontakt: http://www.sos.at/index.php?id=46; [email protected]

Angekommen.at Angekommen.at ist eine Website, die sich an geflüchtete Menschen richtet. Sie informiert über das Leben in Österreich und beantwortet Fragen, die sich Menschen auf der Flucht bei ihrer Ankunft in Österreich möglicherweise stellen. Aktionsraum: Österreich j Gründung: Eine Initiative von Helfen. WIE WIR und dem Roten Kreuz j Kontakt: http://www.angekommen.online/

Asyl in Not Asyl in Not setzt sich für die Wahrung der Menschenrechte und für die Wiederherstellung des Rechts auf Asyl ein. Die Organisation verbindet rechtliche und soziale Hilfe mit politischem Einsatz, wobei sie gegen das Konzept der „Festung Europa“ vorgeht. Asyl in Not bietet Rechtsberatung und Rechtsvertretung in Asylverfahren an. Aktionsraum: Österreich j Unterstützungsmöglichkeiten: Als private Spender_in und durch die Teilnahme an einer Handysammelaktion, bei der Asyl in Not pro Handy 1,50 E erhält. Außerdem können Interessierte einmal im Jahr bei einer Kunstauktion Bilder erwerben. j Gründung: 1995; Obmann: Michael Genner j Finanzierung: durch private Spenden j Kontakt: http://www.asyl-innot.org/php/portal.php; [email protected]

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Asylanwalt Die Organisation ist ein Netzwerk von Rechtsanwält_innen, die eng mit den Rechtsberater_innen der regionalen Beratungsstellen zusammenarbeiten. Nach festgelegten Kriterien übernimmt sie die kostenlose Vertretung von Flüchtlingen in asyl- und fremdenrechtlichen Belangen und ist Anlaufstelle für die Rechtsberater_innen der Projektorganisation bei speziellen rechtlichen Problemen. Aktionsraum: Österreich j Kooperationen und Unterstützer_innen: Kooperation mit der Caritas und weiteren Hilfsorganisationen j Unterstützungsmöglichkeiten: Möglichkeit einer Volontariatsstelle j Gründung: 1993 vom UNHCR und der Caritas Österreich j Finanzierung: Seit 1998 unterstützen weitere Hilfsorganisationen das Netzwerk als Projektpartner_innen j Kontakt: http://www.asylanwalt.at; [email protected]

asylkoordination österreich Die asylkoordination österreich ist ein Zusammenschluss verschiedener Organisationen und unterstützt die Beratungstätigkeit von Organisationen und Einzelpersonen im Bereich Flucht und Migration. Die Aktionsschwerpunkte liegen dabei auf Projekten für geflüchtete Menschen, Bewusstseinsschaffung, Recherche, Dokumentation und Information sowie Einsatz gegen Rassismus und Intoleranz. Aktionsraum: Österreich j Unterstützungsmöglichkeit: Durch Spenden, ehrenamtliche Mitarbeit und/oder Mitgliedschaft j Gründung: 1991 j Kontakt: http://www.asyl.at/; [email protected]

Asylwohnung.at (Verein Respekt.net) Asylwohnung.at bietet einen Leitfaden für jene, die in Österreich privat Wohnraum an geflüchtete Menschen vermieten, untervermieten oder spenden wollen. Ziel dabei ist es, durch Bereitstellung der wichtigsten Informationen und einer Ansprechpartner_innen-Datenbank Unsicherheiten zu beseitigen und den Prozess der Unterbringung zu erleichtern. Aktionsraum: Österreich j Gründung: vom Verein Respekt.net j Kontakt: http://asylwohnung.at/; [email protected]

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Asylzentrum Wien (Caritas) Das Asylzentrum Wien bietet (muttersprachliche) Rechtsberatung und Vertretung im Hinblick auf Asyl- und Fremdenrecht an. Außerdem sind Sozialberatung, Begleitung bei Behördengängen und die Vermittlung von gesundheitlicher Betreuung und Ausbildungsplätzen Teil des Angebots. Das Asylzentrum ist als Servicestelle des Fonds Soziales Wien für die Grundversorgung der in Wien lebenden anspruchsberechtigten Asylsuchenden zuständig. Aktionsraum: Wien j Gründung: Betrieben von der Caritas und dem Fonds Soziales Wien j Kontakt: https://www.caritas-wien.at/hilfe-angebote/asyl-in tegration/beratung-fuer-asylwerberinnen/asylzentrum/

Austrian Responsability Partners (ARP) Das Projekt eduGate der ARP soll junge geflüchtete Menschen bei der Integration in den Arbeitsmarkt unterstützen. ARP vernetzen dabei sozialbewusste Lehrbetriebe und engagierte Geflüchtete. Aktionsraum: Purkersdorf / Österreich j Unterstützungsmöglichkeit: Durch Spenden; als Unternehmer_in: durch Ausbildung eines geflüchteten Menschen, durch Übernahme einer Patenschaft für eine geflüchtete Familie, durch die Durchführung eines sozialen Projekts im Zusammenhang mit geflüchteten Menschen j Gründung: Gegründet im Zuge der aktuellen Flüchtlingsthematik in Europa im August 2015 von den HAK-Schülern Ricardo Falchetto und Luca Fuchs j Kontakt: http://arp-people.at/; [email protected]

Baden zeigt Herz Die Aktivitäten von Baden zeigt Herz bilden drei Säulen: Informationen für private Unterkunftgeber_innen, ein Buddy-Projekt für geflohene Menschen und die Vernetzung und Bewerbung von bereits bestehenden Initiativen in der Region. Der Fokus liegt dabei auf dem Buddy-Projekt, das den Kontakt zwischen den neu angekommenen und den alt eingesessenen Menschen verbessern soll. Aktionsraum: Baden j Unterstützungsmöglichkeit: als Unterkunftgebende_r ; als „Buddy“ für geflüchtete Menschen; durch Sach- oder Geldspenden j Gründung: Stadtgemeinde Baden j Finanzierung: durch private Spenden, Unterstützung diverser Organisationen und der Stadtgemeinde Baden j Kontakt: http://www.badenzeigtherz.at/; [email protected]

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Bildungsprojekt AMOS (Don Bosco Flüchtlingswerk Austria) Das Bildungsprojekt AMOS richtet sich an junge Geflüchtete, die nicht mehr schulpflichtig sind, aber durch ihre Fluchtgeschichte größere Bildungslücken haben. Ziel des Projekts ist es, diesen Menschen durch ein akkreditiertes Bildungsangebot eine fundierte Basisbildung zu ermöglichen, wobei der Fokus auf der Vorbereitung auf die Aufnahmeprüfung für den Pflichtschulabschluss, dem Unterricht in Deutsch und Englisch, dem Bereich Informationstechnologie, dem Bewerbungstraining und dem Kochen von einfachen Speisen liegt. Aktionsraum: Wien j Kooperationen und Unterstützer_innen: Kooperation mit dem salesianischen Jugendzentrum Sale für Alle j Unterstützungsmöglichkeit: Als Spender_in j Gründung: 2015 vom Don Bosco Flüchtlingswerk Austria j Finanzierung: durch Spenden und Zuwendungen j Kontakt: https:// www.fluechtlingswerk.at/so-helfen-wir-den-jugendlichen/bildungsprojekt-amos

bockwerk bockwerk ist ein Werkstattprojekt für geflüchtete Menschen und bietet ihnen eine Perspektive während der Wartezeit auf ihren Asylbescheid, in der sie keinen Zugang zum Arbeitsmarkt haben. Die Werkstatt ist ein Ort der Begegnung, wo Kontakte geknüpft, Deutschkenntnisse verbessert und Teamarbeit praktiziert werden können. Aktionsraum: Wien j Unterstützungsmöglichkeit: Als Spender_in j Gründung: August 2015 von Christian Penz, der als Wohn- und Sozialbetreuer beim Verein Ute Bock tätig ist j Finanzierung: Über Crowdfunding und über den Verkauf der Werkstücke j Kontakt: http://www.bockwerk.at/; office@bock werk.at

Caritas-Flüchtlingshilfe Wien Die Website bietet Informationen, wie man im Rahmen der Aktivitäten und Angebote der Caritas Flüchtlingshilfe geflüchtete Menschen unterstützen kann. Aktionsraum: Wien j Unterstützungsmöglichkeit: Durch Sach-, Geld-, Wohnraum- und/oder Zeitspenden; durch Patenschaften j Kontakt: https:// www.caritas-wien.at/spenden-helfen/aktuelle-spendenaufrufe/hilfe-fuer-fluecht linge/

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CMYK_3 (funundkünste, Verein zur Förderung von Kunst im Sozialen Raum) Durch künstlerisches Gestalten sollen die Ressourcen geflüchteter Menschen gestärkt werden. Es wird künstlerisch tätigen Geflüchteten ermöglicht, mit interessierten Menschen in Kontakt zu treten, ihre Fähigkeiten einzubringen und die Ergebnisse ihrer künstlerischen Arbeit öffentlich zu präsentieren. Aktionsraum: Niederösterreich j Gründung: von Sabine Fischer, Susanne Tenner und Friederike Grühbaum j Finanzierung: Teilfinanzierung durch das Land Niederösterreich j Kontakt: Information: http://www.sozialmarie.org/ projekte/cmyk_3.5330.html

Commit Patenschaften (Caritas Wien) Commit ist ein Projekt der Caritas Wien, im Zuge dessen Menschen, die schon lange in Österreich wohnen, eine Patenschaft für unbegleitete minderjährige Geflüchtete übernehmen können, die in betreuten Wohngemeinschaften leben. Aktionsraum: Wien und Umgebung j Unterstützungsmöglichkeit: Durch eine Flüchtlingspatenschaft (Mindestalter : 21) j Kontakt: https://freiwillige.ca ritas-wien.at/taetigkeitsfelder/projekte/commit-patenschaften/commit@caritas -wien.at

Conclusio Ziel des Vereins Conclusio ist die gegenseitige Unterstützung und Integration von Asylsuchenden und Österreicher_innen, die einander bei alltäglichen Aufgaben helfen. Über ein Zeit-Tausch-System mit Stundenkonto werden die geleisteten Einsätze dokumentiert. Asylsuchende können so zum Beispiel gemeinnützige Arbeit gegen Begleitung bei Behördengängen oder Deutsch-Stunden eintauschen. Sie erleben sich dadurch nicht nur als Hilfeempfänger_innen, sondern können sich aktiv in die Aufnahmegemeinde einbringen und Kontakte knüpfen. Die allgemeine Akzeptanz wird so gestärkt während Vorbehalte und Ängste abgebaut werden. Aktionsraum: Oberösterreich j Gründung: von der SPES Zukunftsakademie in Abstimmung mit der Caritas der Diözese Linz j Öffentlichkeit: 2000 Euro Preis im Rahmen der Sozialmarie 2016; Lions-Nachhaltigkeitspreis 2015 j Kontakt: http://www.spes.co.at/bildung-beratung/angebote/conclusio/; brandl @spes.co.at

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connecting people (asylkoordination österreich) Das Projekt connecting people ermöglicht es erwachsenen Menschen, die bereits lange in Österreich leben, eine Patenschaft für einen minderjährigen geflüchteten Menschen zu übernehmen. Ziel dabei ist der Aufbau einer langfristigen und stabilen Beziehung zwischen Pat_innen und Jugendlichen. Aktionsraum: Wien / Österreich j Kooperationen und Unterstützer_innen: CARE Österreich j Unterstützungsmöglichkeit: Als Spender_in; als „Buddy“ für unbegleitete minderjährige Geflüchtete j Gründung: von der asylkoordination österreich im Jahr 2001 j Finanzierung: Connecting people wird zu ungefähr einem Drittel aus Projektförderungen des Fonds Soziales Wien und des Sozialministeriums und zu zwei Dritteln über Spenden finanziert. Seit Herbst 2013 unterstützt CARE Österreich das Projekt. j Kontakt: http://www.connecting people.at; [email protected]

Cooking.Culture.Conversation & Marmelade mit Sinn (Wiener Tafel) Im Rahmen von Kochworkshops mit integrierten Sprachtrainingseinheiten bietet das Projekt Cooking.Culture.Conversation freiwilligen Mitarbeiter_innen der Wiener Tafel und jungen Geflüchteten die Möglichkeit, miteinander in Kontakt zu treten. Marmelade mit Sinn bietet als Teilprojekt dabei die Möglichkeit zur Bewusstseinsbildung und der sinnvollen Verwertung von Lebensmitteln, indem aussortiertes Obst zu Marmelade verarbeitet wird. Aktionsraum: Wien j Kooperationen und Unterstützer_innen: Zero Waste Jam, Arena Wien j Unterstützungsmöglichkeit: Als Spender_in; als freiwillige Mitarbeiter_in der Wiener Tafel j Gründung: 2015 von der Wiener Tafel j Kontakt: http://wienertafel.at/index.php?id=583& no_cache=1; http://marmelade mitsinn.at/

Deserteurs- und Flüchtlingsberatung Die Deserteurs- und Flüchtlingsberatung bietet mithilfe ehrenamtlicher Mitarbeiter_innen Rechts-und Sozialberatung für Asylsuchende im laufenden Verfahren, illegalisierte Menschen und Menschen in Schubhaft an. Aktionsraum: Wien / Österreich j Unterstützungsmöglichkeit: Als Spender_in j Gründung: 1992 j Öffentlichkeit: Alexander Friedmann Preis des psychosozialen Zentrums ESRA 2014, Menschenrechtspreis der Liga für Menschenrechte 2010, Preis der Unruhe Privatstiftung für das Projekt „Tabiki“ 2007, erster Preis Sozialmarie der Unruhe Privatstiftung 2005 für die mehrsprachige

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Homepage, Anerkennungspreis für „online für alle“ beim InterKulturPreis 2003 in der Kategorie Neue Medien in Linz, UNHCR Preis 1998 „Hilfe für illegalisierte Schutzbedürftige“ j Kontakt: http://www.deserteursberatung.at/

Deutsch ohne Grenzen Deutsch ohne Grenzen bietet Deutschunterricht in verschiedenen Wiener Flüchtlingsunterkünften an. Abseits des Unterrichts finden außerdem Freizeitaktivitäten in Form des Kulturcaf8s, des Spielecaf8s und des Bastelcaf8s statt. Aktionsraum: Wien j Unterstützungsmöglichkeit: Durch Mitarbeit als Freiwillige_r j Gründung: im Sommer 2015 durch eine studentische Gruppe, die über das Zentrum für Translationswissenschaft zusammengefunden hat j Finanzierung: über Zeit- und Raumspenden und durch Unterstützung von Kooperationspartner_innen j Kontakt: http://www.deutschohnegrenzen.at/; info @deutschonegrenzen.at

Deutschkurs für Traiskirchen Deutschkurs für Traiskirchen ist eine Privatinitiative, die im August 2015 begonnen hat, Menschen in Traiskirchen ehrenamtlich Deutschunterricht zu geben. Ziel dabei war zum einen Spracherwerb, zum anderen aber auch, den geflüchteten Menschen rund um das Erstaufnahmezentrum Traiskirchen eine sinnvolle Beschäftigungsmöglichkeit zu bieten. Seit März 2016 ist die Gruppe aufgrund des zurückgegangenen Bedarfs offiziell nicht mehr aktiv. Aktionsraum: Traiskirchen j Unterstützungsmöglichkeit: Als Spender_in oder als freiwillige_r Mitarbeiter_in j Gründung: als Privatinitiative im August 2015 j Finanzierung: über Spenden j Kontakt: https://deutschkursfuertraiskir chen.wordpress.com/; [email protected]

Deutschkurs Klosterneuburg

Über die Website Deutschkurs Klosterneuburg sind Unterlagen zum Deutschunterricht ab dem Level Alphabetisierung gratis zum Download verfügbar. Die Unterlagen sind auch in Smartphone-optimierter Form inklusive Tonmaterial vorhanden oder können um einen Euro pro Heft bestellt werden. Außerdem bietet die Website eine Rubrik mit Tipps für Lehrer_innen und weiteren Unterrichtsmaterialien. Ein Online-Angebot für das Selbststudium ist in Arbeit. Aktionsraum: Österreich j Gründung: Entwickelt von Stephanie Schmidt,

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online verfügbar seit September 2015 j Kontakt: https://deutsch.fit/Deutsch kurs/; [email protected]

Diakonie-Flüchtlingsdienst (Wien) Der Diakonie-Flüchtlingsdienst in Wien bietet Sozialberatung für Asylsuchende in der Grundversorgung an, die privat in den Bezirken 6, 7, 13, 14, 15 und 23 leben oder in bestimmten Einrichtungen untergebracht sind. Außerdem werden Informationen zum freiwilligen Engagement im Flüchtlingsbereich unter der Rubrik „Ich möchte helfen“ der Website angeboten. Im Rahmen des freiwilligen Engagements ist es auch möglich, eine „Integrationspatenschaft“ für geflüchtete Familien zu übernehmen. Aktionsraum: Österreich j Unterstützungsmöglichkeit: Durch Geld-, Wohnraum- und/oder Sachspenden; als Freiwillige_r ; als Integrationsbuddy für Flüchtlingsfamilien j Kontakt: http://fluechtlingsdienst.diakonie.at/; http:// blog.diakonie.at/blog/integrationsbuddies-fuer-fluechtlingsfamilien; fluecht [email protected]

Die schweigende Mehrheit sagt JA! Die schweigende Mehrheit sagt JA! ist ein Künstler_innenkollektiv, das seit Sommer 2015 gesellschaftspolitische Aktionen im öffentlichen Raum setzt, um Schutzsuchende in Österreich willkommen zu heißen. Seit Ende August 2015 läuft ein Theaterprojekt, im Zuge dessen Geflüchtete aus Traiskirchen, Bürger_innen der Gemeinde und Aktivist_innen gemeinsam unter dem Titel „Schutzbefohlene performen Jelineks Schutzbefohlene“ ein Theaterstück inszenieren, das unter Bezugnahme auf aktuelle asylpolitische Entwicklungen laufend weiterbearbeitet wird. Aktionsraum: Wien / Österreich j Unterstützungsmöglichkeit: Durch Spenden j Gründung: im Juli 2015 j Kontakt: http://www.schweigendemehrheit. at; [email protected]

Displaced Im Rahmen von Displaced arbeiteten ein Team aus Architekur-Studierenden und -Lehrenden der TU Wien in der größten Flüchtlingsunterkunft Wiens mit der Hausleitung und den Bewohner_innen zusammen, um neue räumliche Qualitäten zu schaffen. Im Rahmen dieses Projekts sind unter anderem ein

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Kulturcaf8, ein Bibliotheks- und Studierzimmer, Duschkontainer und eine Nähwerkstatt entstanden. Aktionsraum: Wien – Flüchtlingsquartier Vordere Zollamtsstraße j Unterstützungsmöglichkeit: Sach-, Geld- und Zeitspenden j Gründung: Initiiert im Oktober 2015 von Studierenden und Lehrenden der Architekturfakultät der TU Wien j Öffentlichkeit: Erster Preis der Sozialmarie 2016 j Finanzierung: durch Sach-, Geld- und Zeitspenden j Kontakt: http://www.displaced.at/; office@dis placed.at

Don Bosco Flüchtlingswerk Austria Das Flüchtlingswerk bietet geflüchteten Jugendlichen ein Zuhause auf Zeit und sozialpädagogische Begleitung im Geiste Don Boscos. Es geht darum, den jungen Menschen die Voraussetzungen für ein selbstbestimmtes Leben zu bieten. Dazu zählen Spracherwerb, das Kennenlernen der österreichischen Kultur, der Kontakt zu österreichischen Jugendlichen und das Fördern der Bildung durch den Besuch einer Schule oder von Kursen. Aktionsraum: Österreich j Unterstützungsmöglichkeit: Durch Geld- und Sachspenden j Gründung: im Dezember 2002 von den Salesianern Don Boscos, den Don Bosco Schwestern und Jugend eine Welt j Kontakt: https://www. fluechtlingswerk.at/wer-wir-sind

Eine-Welt-Etage (bitterernst) Eine-Welt-Etage ist ein Projekt zur Wohnraumschaffung, an dem sich geflüchtete und nicht geflüchtete Menschen beteiligen können. Im Rahmen einer gemeinnützigen Genossenschaft wird aus leerstehenden Etagen von Neubauten temporärer Wohnraum für Geflüchtete geschaffen. Diese können freiwillig mitarbeiten und erhalten im Rahmen dieser Tätigkeit kostenlos Deutschunterricht und individuelle Betreuung durch nicht geflüchtete Freiwillige. Aktionsraum: Österreich j Unterstützungsmöglichkeit: Als Gebäudeeigentümer_in, als Handwerker_in, als Lehrer_in, als (finanzielle_r) Unterstützer_in und/oder Genossenschaftsmitglied j Gründung: Eine-Welt-Etage versteht sich als Kunstprojekt und wurde von bitterernst ins Leben gerufen j Kontakt: http:// eineweltetage.bitterernst.at/

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EngagementFIT (ULF Unabhängiges LandesFreiwilligenzentrum) EngagementFIT ist eine Workshopreihe, die sich im Rahmen des Projekts ENGAGIERT.INTEGRIERT an Asylsuchende richtet, die an freiwilligem Engagement interessiert sind. Die kostenlose fünfteilige Workshopreihe soll den Teilnehmer_innen dabei helfen, grundlegende Kenntnisse über die Freiwilligentätigkeit, Vokabular für die verschiedenen Einsatzbereiche und die unterschiedlichen Möglichkeiten des freiwilligen Engagements zu erlangen. Aktionsraum: Oberösterreich j Gründung: von ULF Unabhängiges LandesFreiwilligenzentrum j Öffentlichkeit: Linzer Integrationspreis 2014 j Kontakt: http://www.ulf-ooe.at/node3,106,engagiert.integriert.html; silcia.bartos@vsg. or.at

.EVOLve Theatre Company .EVOLve Theatre Company ist eine Theatergruppe, die über den Weg des Theaters einen langfristigen interkulturellen Austausch anregen will, der über den Theaterbereich hinausgeht. Die Gruppe entwickelt in Zusammenarbeit mit internationalen Austauschstudierenden Theaterstücke, die auf den persönlichen Erfahrungen und Perspektiven der Teilnehmber_innen basieren. Seit März 2016 nehmen auch Menschen, die in Österreich Asyl suchen, an den Projekten Teil. Das aktuelle Stück „.I THINK WE CALLED IT FAMILY“, eine Produktion mit neun Studierenden aus Österreich und Europa und acht Asylsuchenden aus Syrien, Afghanistan und dem Mittleren Osten behandelt das Thema Familie. Aktionsraum: Wien j Kooperationen und Unterstützer_innen: Zusammenarbeit mit Train of Hope, Schauspielhaus Wien, ERASMUS Student Network und Afghan Women Writings Project j Unterstützungsmöglichkeit: Durch Raumund/oder Geldspenden j Kontakt: https://evolve-esntheatrecompany.net/per formances/upcoming/

Familien für Familien Bei Familien für Familien handelt es sich um ein Integrationsprojekt, das Flüchtlingsfamilien nach einem positiven Asylbescheid unterstützt, den Alltag in ihrem neuen Leben besser bewältigen zu können. Familien aus Österreich helfen, bringen ihr Wissen ein und unterstützen ankommende Familien. Aktionsraum: Österreich j Kooperationen und Unterstützer_innen: Ein Projekt des Katholischen Familienverbandes und helfenden österreichischen Familien. j Unterstützungsmöglichkeiten: Als Patenfamilie und/oder als Eh-

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renamtliche_r j Gründung: vom katholischen Familienverband Österreichs j Kontakt: https://www.fluechtlingswerk.at; [email protected]

Flucht nach Vorn Flucht nach Vorn ist ein Verein, der Jugendlichen mit Fluchthintergrund aus verschiedenen Ländern durch Freizeitaktivitäten wie Sport, Kunst, Kultur, Musik und Bildung den friedlichen, respektvollen und vorurteilslosen Umgang miteinander ermöglichen möchte. Aktionsraum: Österreich j Unterstützungsmöglichkeiten: Lernpatenschaften, Workshop-Betreuung, Trainer_innen, Musiker_innen, Dolmetscher_innen, Praktika-Möglichkeiten j Gründung: im Winter 2012 von Anahita Tasharofi j Kontakt: http://www.fluchtnachvorn.org

Flüchtlinge Willkommen Österreich (Vielmehr für alle) Flüchtlinge Willkommen Österreich ist ein Projekt, das auf dem Konzept „Flüchtlinge Willkommen“ des Mensch Mensch Mensch e.V. aus Berlin basiert. Es bietet eine Plattform, über die Kontakt zwischen Menschen, die Wohnraum zur Verfügung stellen wollen, und geflüchteten Menschen auf Wohnungssuche hergestellt wird. Aktionsraum: Österreich j Unterstützungsmöglichkeit: Als Wohnraumgebende_r, als Spender_in oder als „Buddy“ für vermittelte Mitbewohner_innen j Gründung: Gestartet von Vielmehr für alle im Jänner 2015 j Kontakt: http:// www.fluechtlinge-willkommen.at/; [email protected]

Flüchtlingsprojekt Ute Bock Das Flüchtlingsprojekt Ute Bock ist ein gemeinnütziger Verein, der geflüchtete Menschen in Österreich und vor allem Wien durch Beratung und Betreuung unterstützt. Seit Mai 2012 gibt es das Ute Bock Haus, das gleichzeitig von 70 Asylsuchenden als Wohnraum und von den Mitarbeiter_innen als Bürogebäude genutzt wird. Aktionsraum: Wien j Unterstützungsmöglichkeit: Als Spender_in und/oder als freiwillige_r Mitarbeiter_in j Gründung: von Ute Bock im Jahr 2002 j Finanzierung: vor allem durch private Spenden, Sponsor_innen und Preisgelder j Kontakt: http://www.fraubock.at/; [email protected]

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FLUCHTpunkt (arge-Schubhaft) FLUCHTpunkt bietet anonyme und kostenlose Sozial- und Rechtsberatung für geflüchtete Menschen an, deren diesbezüglicher Bedarf im staatlichen Betreuungssystem nicht ausreichend gedeckt ist. Die Koordinations- und Beratungsstelle von FLUCHTpunkt wird von ehrenamtlichen Mitarbeiter_innen und Dolmetscher_innen unterstützt und arbeitet mit ehrenamtlich agierenden Ärzt_innen, Psychiater_innen und Psychotherapeut_innen sowie kostenlos oder -günstig arbeitenden Anwält_innen zusammen. Aktionsraum: Innsbruck j Kooperationen und Unterstützer_innen: Zusammenarbeit mit: Diakonie, Ankyra, PsychTransKult, Teestube, DOWAS, Chill out, Integrationshaus, Jugendwohlfahrt, Z6 streetwork j Unterstützungsmöglichkeit: Als Spender_in j Gründung: 2006 vom Verein arge-Schubhaft j Finanzierung: hauptsächlich über Spenden j Kontakt: http://www.fluchtpunkt. org/; [email protected]

freiwillig:info – Infomodule für Freiwillige in der Flüchtlingshilfe (Stadt Wien – MA 17) Die MA 17 (Abteilung Integration und Diversität) der Stadt Wien bietet Informationsworkshops für Menschen an, die sich freiwillig im Bereich Flüchtlingshilfe engagieren oder sich zukünftig engagieren wollen, um diese bei ihrer Tätigkeit zu unterstützen. Die Themen sind dabei breit gefächert und werden laufend durch neue Workshops erweitert. Aktionsraum: Wien j Kontakt: https://fluechtlinge.wien.gv.at/site/news/ 2016/03/31/neue-info-module/#more-1055; [email protected]

Fremde werden Freunde Fremde werden Freunde ist eine Netzwerkorganisation, deren Hauptziel Inklusion und ein gleichberechtigtes Miteinander von neu in Wien angekommenen und schon lange in Wien lebenden Menschen ist. Den Rahmen dafür bietet ein breites Spektrum an gemeinsamen Aktivitäten, die vom Deutschunterricht bis zum gemeinsamen Kochen, Handarbeiten oder Musik machen reichen. Fremde werden Freunde will Raum für ein Miteinander schaffen und so eine Begegnung auf Augenhöhe ermöglichen. „Alten“ Wiener_innen wird es dadurch möglich, Vorbehalte abzubauen während „neue“ Wiener_innen die Gelegenheit zur Teilhabe am sozialen Leben in der Stadt und zum Knüpfen von neuen Kontakten gewinnen.

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Aktionsraum: Wien j Kooperationen und Unterstützer_innen: Kooperationspartner_innen: Caritas, Diakonie, Johanniter, Samariterbund und andere Flüchtlingsinitiativen in Wien wie Train of Hope oder Refugeeswork j Unterstützungsmöglichkeit: Als Spender_in oder durch freiwillige Mitarbeit j Gründung: im Sommer 2015 j Kontakt: www.fremdewerdenfreunde.at; hal [email protected]

für mich und du Das Projekt für mich und du bietet anerkannten Asylberechtigten Starthilfe für ihr Leben in Österreich in Form von Unterstützung bei der Wohnungs- und Arbeitssuche, Mikro-Krediten und Begleitung bei Behördenwegen. Die Förderung einer Kultur der Solidarität steht dabei im Vordergrund und wird durch gemeinsame Aktivitäten, soziale Kontakte und Deutschkurse erreicht. Aktionsraum: Luftenberg, Langenstein und St. Georgen/Gusen / Oberösterreich j Unterstützungsmöglichkeit: Durch freiwillige Mitarbeit j Kontakt: Heidemarie Mahr: [email protected]; Monika Weilguni: monika.weilguni@ dioezese-linz.at

Garten der Begegnung In unmittelbarer Umgebung des Erstaufnahmezentrums Traiskirchen wird ein Garten der Begegnung geschaffen, in dem Geflüchtete und Österreicher_innen einander kennenlernen können. In der direkt anschießenden Landwirtschaft kann gemeinsam Obst und Gemüse angebaut werden. Ziel dabei ist es, den Menschen, die auf einen Asylbescheid warten, eine sinngebende und Menschen verbindende Tätigkeit anzubieten und einen Raum außerhalb der Lageratmosphäre des Erstaufnahmezentrums zu schaffen, in dem ein Ankommen und die Begegnung mit den Menschen aus Traiskirchen möglich ist. Aktionsraum: Traiskirchen j Unterstützungsmöglichkeit: Durch Beteiligung am Projekt, durch Sach- und Geldspenden und/oder als Baumpat_in j Gründung: im April 2016 j Kontakt: www.gartenderbegegnung.at; [email protected]

Georg Danzer Haus – Die Alternative zu Traiskirchen Die Vereinigung begleitet minderjährige Flüchtlinge und setzt sich für Bildung, Integration, Menschenrechte, Nächstenliebe und soziale Gerechtigkeit ein. Es werden Häuser eröffnet, in denen die Jugendlichen unterstützt werden.

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Aktionsraum: Österreich j Unterstützungsmöglichkeiten: Durch private Spenden j Gründung: im November 2015 j Finanzierung: durch private Spender_innen und aus Spenden durch Unternehmen j Kontakt: http://www.ge orgdanzerhaus.at; [email protected]

Geschichten vom Helfen (Ö1) Geschichten vom Helfen bietet eine mediale Plattform, auf der Aktivitäten, Initiativen und Projekte rund um die Themen Flucht und Asyl präsentiert und in eine interaktive Landkarte eingetragen werden können. Es ist so auch kleineren Projekten möglich, eine breitere Öffentlichkeit zu erreichen. Aktionsraum: Österreich j Kontakt: http://oe1.orf.at/miteinander_geschich ten

Gruppenpsychotherapie für traumatisierte Mütter (Niederösterreichisches Hilfswerk) Hier werden Frauen und Mütter betreut, die häufig wegen fehlender Sprachkenntnisse keine Möglichkeit zu einer Psychotherapie haben. Das Angebot wird in der Muttersprache der Klientinnen durchgeführt und alle haben die Möglichkeit, sich vorab kennen zu lernen. Psychotherapeutin und Dolmetscherin bilden ein langjährig erfahrenes Team in der gedolmetschten Gruppentherapie. Aktionsraum: Triestingtal / Niederösterreich j Kontakt: http://www.hilfs werk.at/niederoesterreich/kinderundjugend/integration/psychotherapie-fuerfrauen; [email protected]

Guarantee on tomorrow Guarantee on Tomorrow ist eine Initiative, deren Ziel es ist, dort zu helfen, wo es gerade am notwendigsten ist. Geflüchtete Menschen werden europaweit (durch Konvoifahrten) und innerhalb Österreichs unterstützt. Der Schwerpunkt liegt dabei auf den Themen Hilfe und Integration. Aktionsraum: St. Pölten / Österreich / Europa j Unterstützungsmöglichkeit: Durch Spenden; als Freiwillige_r j Kontakt: http://www.guarantee-on-to morrow.at/; [email protected]

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Habibi & Hawara Vor dem Hintergrund des für viele geflüchtete Menschen schwierigen Arbeitsmarktzugangs bietet Habibi & Hawara einigen dieser Menschen die Möglichkeit, erwerbstätig zu sein. Unter der Leitung von erfahrenen Unternehmer_innen und Gastronom_innen betreibt ein Team aus geflüchteten Menschen und Österreicher_innen ein orientalisch-österreichisches Restaurant in der Wiener Innenstadt. Einige geflüchtete Mitarbeiter_innen wurden im Vorfeld in den Restaurants „Motto am Fluss“ und „Die Liebe“ ausgebildet. Aktionsraum: Wien j Kooperationen und Unterstützer_innen: Unterstützt und begrüßt von: Flüchtlingskoordinator Christian Konrad, „Motto“-Chef Bernd Schlacher, Ex-WU-Vizerektorin Barbara Sporn, Groszer Wein Winzer Matthias Krön, „Die Liebe“-Betreiber David Kreytenberg j Gründung: Entstanden in Folge der Initiative Hostenstattposten (Juli 2015) der Stadtflucht Landmühle (Kronberg bei Wien), Eröffnung am 4. Mai 2016. j Finanzierung: von der Goodshares GmbH und dem European Angel Fund (EAF) j Kontakt: http://habibi.at; [email protected]

Happy.Thankyou.Moreplease Happy.Thankyou.Moreplease betreibt ein Spendendepot in Wien, wo Spenden entgegengenommen, sortiert, als Hilfspakete verpackt und an verschiedene Notschlafstellen und Flüchtlingsunterkünfte im Raum Wien geliefert werden. Über ein Bestellsystem können Geflüchtete ihren Bedarf bekanntgeben und bekommen die entsprechenden Artikel geliefert. Aktionsraum: Wien / Österreich j Unterstützungsmöglichkeit: Durch Zeit-, Geld- oder Sachspenden j Gründung: Die Privatinitiative wurde im Juli 2015 gegründet j Kontakt: https://www.thankyoumoreplease.at/

Haus Dominikus Savio (Verein 2getthere) Das Haus Dominikus Savio ist ein Integrationsprojekt für junge Flüchtlinge und obdachlose Jugendliche. Durch Zugang zu Wohnraum und Arbeit soll den jungen Menschen geholfen werden, sich weiterzuentwickeln, um auf eigenen Beinen stehen zu können. Aktionsraum: Mattersburg / Österreich j Gründung: Obmann: Pfarrer Günther Kroiss j Kontakt: https://www.facebook.com/Haus-Dominikus-SA VIO-1620581901540493/timeline; [email protected]

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Hawi – Wohnprojekt für Flüchtlinge und StudentInnen (Caritas) Hawi ist ein Wohngemeinschaftsprojekt für junge Menschen mit und ohne Fluchthintergrund zwischen 15 und 25 Jahren. Das Wohnprojekt ist als Ort der Begegnung konzipiert, in dem Integration nebenbei im gemeinsamen alltäglichen Miteinander stattfindet. Das räumliche Konzept stammt vom Architekturbüro The nextEnterprise Architects und wurde im Rahmen der Architekturbiennale entwickelt. Aktionsraum: Wien Favoriten j Gründung: Projektstart im Sommer 2016, organisiert von der Caritas j Kontakt: https://www.caritas-wien.at/hilfe-ange bote/asyl-integration/wohnen/wohnprojekt-fuer-fluechtlinge-und-studentinnen/

Heimatsuche.at Heimatsuche.at ist eine ehrenamtlich betriebene und kostenlose Onlineplattform für Menschen, die privat Wohnraum an anerkannte Flüchtlinge vermieten wollen und Geflüchtete, die Wohnraum suchen. Aktionsraum: Österreich j Unterstützungsmöglichkeit: Als freiwillige_r Mitarbeiter_in, durch Kooperationen, Sponsoring und/oder Spenden j Gründung: Initiiert von Philipp Babcicky und Iris Topolovec im Herbst 2015 j Kontakt: http://heimatsuche.at/; [email protected]

Helfen. WIE WIR (ORF) Helfen. WIE WIR ist die Online-Flüchtlingshilfeplattform des ORF, die auf ihrer Website in Kooperation mit Hilfsorganisationen über Unterstützungsmöglichkeiten im Bereich Flüchtlingshilfe informiert. Aktionsraum: Österreich j Kooperationen und Unterstützer_innen: Kooperation mit großen NGOs (Rotes Kreuz, Caritas, Diakonie, Hilfswerk, Samariterbund, Volkshilfe); Zusammenarbeit mit Deutschkurs Klosterneuburg, im Zuge derer die kostenlosen Unterrichtsmaterialien dieser Initiative auch auf der Website von Helfen. WIE WIR zum Download zur Verfügung gestellt werden j Unterstützungsmöglichkeit: Durch Geldspenden, Zeitspenden (im Rahmen von Team Österreich, einer Kooperation von Ö3 und Rotem Kreuz) und/oder Wohnraumspenden j Gründung: Helfen. WIE WIR ist eine Initiative des ORF j Kontakt: https://www.helfenwiewir.at/

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Helferlein-Netzwerk für Flüchtlingshilfe Die Website des Helferlein-Netzwerks für Flüchtlingshilfe bietet Freiwilligen im Flüchtlingsbereich die Möglichkeit, einen Überblick über verschiedene Angebote zu diesem Themenfeld in Wien und Umgebung zu erlangen. Aktuelle Informationen werden laufend veröffentlicht und ergänzt. Das Ziel dabei ist, Initiativen, Freiwillige und Geflüchtete zu vernetzen. Der Verein sieht diese Vernetzung als seine Aufgabe und stellt dabei Raum für Begegnung, Ideen, Kurse und Veranstaltungen zur Verfügung. Aktionsraum: Wien und Umgebung j Unterstützungsmöglichkeit: Als Freiwillige_r j Kontakt: http://www.helferleinnetzwerk.at/; https://www.face book.com/helferleinnetzwerkwien; [email protected]

Helfern Helfen Helfern Helfen ist eine vom österreichischen Flüchtlingskoordinator Christian Konrad initiierte Website, die Aktivitäten und Initiativen zum Thema Flüchtlingshilfe präsentiert. Das Ziel dabei ist, engagementbereite Menschen über Möglichkeiten der Unterstützung für Geflüchtete zu informieren. Gleichzeitig soll ein Zeichen gesetzt und gezeigt werden, dass viele Menschen in Österreich Geflüchtete unterstützen. Aktionsraum: Österreich j Kooperationen und Unterstützer_innen: Die Website präsentiert Angebote von Refugeeswork, Deutschkurs Klosterneuburg, Asylwohnung.at und New Here (#WELCOMEoida). Gründung: Initiiert von Flüchtlingskoordinator Christian Konrad j Kontakt: http://www.helfern-helfen. at/

Helping Hands Helping Hands ist eine gemeinnützige Organisation, die neu angekommene Menschen bei der Integration in Österreich unterstützt. Neben der Organisation von bedarfsorientierten Projekten liegt der Schwerpunkt vor allem auf der Rechtsberatung zum Fremdenrecht. Aktionsraum: Wien / Österreich j Kooperationen und Unterstützer_innen: Unterstützt von der MA 17 der Stadt Wien und der ÖH j Unterstützungsmöglichkeit: Als Spender_in j Kontakt: http://www.helpinghands.at/; info@hel pinghands.at

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HEMAYAT Betreuungszentrum für Folter- und Kriegsüberlebende Der gemeinnützige Verein hat ein Zentrum für dolmetschgestütze medizinische, psychologische und psychotherapeutische Betreuung von Folter- und Kriegsüberlebenden etabliert. HEMAYAT ist mit anderen Integrationseinrichtungen in Wien vernetzt und steht mit seinen speziellen Dienstleitungen anderen NGOs, Stellen von Bund und Land sowie Krankenhäusern zur Verfügung. Aktionsraum: Österreich j Unterstützungsmöglichkeiten: Als Spender_in j Gründung: 1995 j Finanzierung: durch Spenden von Unternehmen und privaten Spender_innen j Kontakt: http://www.hemayat.org; [email protected]

Hier in Wien Das Projekt Hier in Wien bespielt vier verschiedene Ebenen im Kontakt mit geflüchteten Menschen im Rahmen von vier Projektphasen. Dazu gehören Austausch und Sensibilisierung, Partizipationsprojekte, ein demokratisches Planspiel und Zukunftsworkshops sowie konkrete Arbeitsmarktintervention. Ein Beispiel für eine solche Intervention ist ein mobiler Halal Würstelstand, der geflüchteten Menschen die Möglichkeit bieten soll, Geld zu verdienen. Aktionsraum: Wien j Gründung: Das Projekt läuft von Dezember 2015 bis September 2016 und wurde von KunstSozialRaum Brunnenpassage und der Caritas ins Leben gerufen j Finanzierung: Teilfinanzierung über das Jahresbudget der Brunnenpassage j Kontakt: http://www.brunnenpassage.at/projekte/ crossover/hier-in-wien/

Hilfe für Flüchtlinge in Wien (Stadt Wien) Die von der Stadt Wien betriebene Website informiert über Neuigkeiten im Flüchtlingshilfebereich und bietet außerdem einen Anlaufstelle für Menschen, die sich freiwillig in diesem Bereich engagieren oder geflüchtete Menschen durch Spenden unterstützen möchten. Unter den Rubriken „Meine freiwillige Soforthilfe“, „meine regelmäßige Zeitspende“, „meine Wohnraumspende“ und „meine Geld- oder Sachspende“ erhält man die Möglichkeit, Geflüchtete in diesen Bereichen zu unterstützen. Außerdem wurde eine Hotline als Kontaktmöglichkeit eingerichtet. Aktionsraum: Wien j Kooperationen und Unterstützer_innen: Zusammenarbeit mit dem Fonds Soziales Wien und verschiedenen NGOs j Unterstützungsmöglichkeit: Durch freiwilliges Engagement, durch Sach-, Geld- oder

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Wohnraumspenden j Gründung: Online seit 2015 j Kontakt: https://fluecht linge.wien.gv.at/site/

Homebase Homebase setzt an den Schwierigkeiten an, die geflüchtete Menschen oftmals bei der Wohnungssuche haben. Das Projekt mietet selbst eine Wohnung an, die dann renoviert wird um sie für eine geflüchtete Familie zum Zuhause zu machen. Die Höhe der Miete wird dabei an die finanziellen Möglichkeiten der Menschen angepasst. Aktionsraum: Wien / Österreich j Kooperationen und Unterstützer_innen: Der Verein wird von verschiedenen Handwerker_innen und Firmen bei der Wohnungsrenovierung unterstützt. j Unterstützungsmöglichkeit: Als Spender_in oder durch die eigene Gründung eines ähnlichen Projekts j Gründung: als private Initiative j Finanzierung: durch die Projektteilnehmer_innen j Kontakt: http://homebase-wien.at/; [email protected]

Hope Austria (Phow OG) Hope Austria ist eine mehrsprachige Hilfe-App, die geflüchteten Menschen wichtige Informationen bei der Ankunft und Weiterreise in Österreich zugänglich macht. Das Projekt basiert auf dem Gedanken, dass das Smartphone für geflüchtete Menschen oft das einzige zugängliche Informationsmedium ist. Die App bietet Informationen über Österreich, einen News-Ticker, Übersetzungen, Piktogramme, eine Kartenanzeige von Hilfestellen (Caritas) mit Kontaktdaten und aktuelle Zugfahrzeiten. Aktionsraum: Österreich j Kooperationen und Unterstützer_innen: Zusammenarbeit mit Train of Hope und Ingenieure ohne Grenzen j Gründung: Umgesetzt von Phow OG j Kontakt: http://hope.phow.solutions/

Humanität.org Humanität.org ist eine Plattform, die eine Sammlung von Projekten und Initiativen in Wien und Traiskirchen rund um das Thema Flucht zur Verfügung stellt. Menschen, die Geflüchtete unterstützen wollen, soll so dabei geholfen werden, einen geeigneten Rahmen dafür zu finden. Aktionsraum: Wien / Traiskirchen / Österreich j Unterstützungsmöglich-

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keit: Durch Sach-, Zeit- und Wohnraumspenden j Gründung: als Privatinitiative j Kontakt: http://www.humanitaet.org/; [email protected]

Integrationshaus Das Integrationshaus ist eine Beratungsstelle für Geflüchtete und Asylbewerber_innen in der Grundversorgung, die in den Wiener Bezirken 1, 3, 5, 8, 9, 12, 17, 19, 20, 21 und 22 wohnen. Es bietet Schutz und Sicherheit und hilft Asylsuchenden und Geflüchteten durch Unterkunft, Betreuung und psychosoziale Beratung. Außerdem werden die geflüchteten Menschen bei der Ausbildung und der Integration in den Arbeitsmarkt sowie beim Spracherwerb und im Bereich Basisbildung unterstützt. Ein Patenschaftsprojekt ermöglicht es Geflüchteten, von einem Menschen, der schon länger in Österreich lebt, begleitet zu werden. Aktionsraum: Wien / Österreich j Unterstützungsmöglichkeit: Als Spender_in, als Freiwillige_r und/oder als „Flüchtlingsbuddy“ j Gründung: 1995 j Kontakt: http://www.integrationshaus.at/de/ih/; http://www.integrationshaus. at/Buddy-Wohnheim/; [email protected]

Interface Wien GmbH Interface Wien bietet Startbegleitung für Asylberechtigte und subsidiär Schutzberechtigte, Case Management, Wohnungssuche im Projekt MoWien und frauenspezifisches Case Management im Projekt LOB. Interface Wien fördert die gesamtgesellschaftliche Integration von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Aktionsraum: Wien j Unterstützungsmöglichkeit: Als Freiwillige_r j Kontakt: http://www.interface-wien.at/; [email protected]

KAMA – Kurse von Asylsuchenden, MigrantInnen & Asylberechtigten KAMA organisiert verschiedenste Kurse, die von Asylsuchenden, Migrant_innen und Asylberechtigten angeboten werden und die gegen eine freie Spende besucht werden können. Aktionsraum: Österreich j Unterstützungsmöglichkeit: Durch ehrenamtliche Mitarbeit; durch Raum-, Sach- und/oder Geldspenden j Kontakt: http:// www.kama.or.at/; [email protected]

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Kolping Flüchtlingshilfe Kolping betreibt österreichweit Einrichtungen, in denen geflüchtete Menschen wohnen können. Zusätzlich werden Beratung und Betreuung angeboten. Die Kolping-Beratungsstelle UMAKO berät Migrant_innen und Asylsuchende ohne Betreuung und bietet Sozialberatung, kostenlose Deutschkurse (Niveau A1 und A2) und muttersprachliche Rechtsberatung an. Aktionsraum: Österreich j Unterstützungsmöglichkeit: Als Spender_in j Kontakt: http://www.kolping.at/fluechtlingshilfe.html; [email protected]

Kontaktepool Sprachencafé (Verein Station Wien) Das Sprachencaf8 ist als Begegnungsraum konzipiert, der die sprachliche und kulturelle Vielfalt Wiens erlebbar machen soll. Menschen, die schon länger in Wien leben, und neu Angekommene können einander hier kennenlernen und zusammen verschiedene Sprachen üben. Das Angebot der Sprachen variiert je nach Treffen und ist sehr breit gefächert. Die hier geknüpften Kontakte sollen neu angekommenen Menschen beim Zurechtfinden in der Aufnahmegesellschaft helfen und Verständnis für die Situation von Zuwander_innen schaffen. Aktionsraum: Wien j Unterstützungsmöglichkeit: Durch Spenden und/oder Teilnahme am Sprachencaf8 j Gründung: September 2012 vom Verein Station Wien j Öffentlichkeit: 2000 Euro Preis der Sozialmarie 2016, MigAward im Rahmen der Wiener Integrationswoche 2015 in der Kategorie „Projekt des Jahres“ j Finanzierung: durch öffentliche Fördergeber, weiterer Ausbau des Angebots durch Spenden j Kontakt: http://www.stationwien.org/projekte/spra chencaf.html; [email protected]

Kontaktchor Menschen jeglicher Herkunft, alt Eingesessene und neu Angekommene treffen sich einmal wöchentlich zum gemeinsamen Chorsingen. So werden persönliche Kontakte, gegenseitiges Verstehen und das spielerische Erlernen der deutschen Sprache auf Basis des Mediums Gesang gefördert. Aktionsraum: Feldkirch / Vorarlberg j Gründung: Juni 2015 j Kontakt: http:// www.kontaktchor.at/; https://www.facebook.com/KONTAKTCHOR/?fref=ts; of [email protected]

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lobby.16 lobby.16 setzt sich für unbegleitete junge Geflüchtete und ihr Recht auf (Aus-)Bildung ein. Ziel dabei ist, jungen Menschen individuelle Förderung und das Finden ihres beruflichen Weges zu ermöglichen. Aktionsraum: Wien / Österreich j Kooperationen und Unterstützer_innen: Unterstützung von zahlreichen Unternehmen, die junge geflüchtete Menschen durch Schnuppertage, Praktika, Volontariate, Workshops und Lehrstellen unterstützen j Unterstützungsmöglichkeit: Durch Spenden; durch ehrenamtliche Mitarbeit in den Bereichen Nachhilfe und Mentoring j Gründung: im Herbst 2008 j Kontakt: http://www.lobby16.org/; [email protected]

magdas Hotel (Caritas Wien) Geflüchtete und nicht geflüchtete Menschen betreiben gemeinsam ein Hotel am Wiener Prater. magdas Hotel bietet eine Umgangsmöglichkeit mit dem sozialen Problem der fehlenden Integration Asylberechtigter am Arbeitsmarkt, indem geflüchtete Menschen direkt am Arbeitsplatz trainiert werden. Aktionsraum: Wien j Gründung: Eröffnung im Februar 2015 j Kontakt: http://www.magdas-hotel.at/home/; [email protected]

Medien-Servicestelle Neue Österreicher/innen Die Medien-Servicestelle Neue Österreicher/innen sammelt Zahlen, Daten und Fakten zu den Themenbereichen Flucht, Asyl und Migration. Ziel dabei ist es, zur Sachlichkeit in einem Bereich beizutragen, der oft von emotionaler Argumentation und Populismus geprägt ist. Aktionsraum: Österreich j Kooperationen und Unterstützer_innen: Kooperationen mit: BMEIA, Österreichischer Integrationsfonds, Statistik Austria, Europäisches Integrationsnetzwerk, Kuratorium für Journalistenausbildung, UNHCR und Verein Wirtschaft für Integration j Gründung: 2011 j Kontakt: http://medienservicestelle.at/migration_bewegt/; zarko.radulovic@medienser vicestelle.at

Migrating Kitchen (Verein BOEM) Migrating Kitchen ist ein Cateringprojekt von Gastarbeiter_innen und geflüchteten Menschen und versteht sich als Reaktion auf die Tatsache, dass es

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selbst für anerkannte Geflüchtete mit freiem Arbeitsmarktzugang oft schwierig ist, Beschäftigung zu finden. Das Projekt bietet Menschen, die aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit am Arbeitsmarkt oft benachteiligt sind, eine Verdienstmöglichkeit als Grundlage für ein selbstbestimmtes Leben. Aktionsraum: Wien j Gründung: 2015, Vollbetrieb seit Februar 2016 j Kontakt: http://migrating-kitchen.com/uber ; [email protected]

MORE (Österreichische Universitätenkonferenz) Das Projekt MORE bietet geflüchteten Menschen, die studieren möchten und/ oder ihr Studium durch die Flucht abbrechen mussten, die Möglichkeit, als außerordentliche Studierende Kurse, Vorlesungen und Angebote der österreichischen Universitäten zu besuchen. Die Universitäten stellen dafür eine bestimmte Anzahl an Plätzen in ausgewählten Lehrveranstaltungen zur Verfügung. Außerdem bietet die Plattform MORE-Perspectives geflüchteten Akademiker_innen die Möglichkeit, sich mit Angehörigen der österreichischen Universitäten zu vernetzen. Aktionsraum: Österreich j Kooperationen und Unterstützer_innen: Unterstützt von: Caritas, Diakonie, Industriellenvereinigung, Wiener Ball der Wissenschaften, Vorstudienlehrgang der Wiener Universitäten, Österreichische Orient-Gesellschaft und ÖH j Unterstützungsmöglichkeit: Durch Spenden; als „Buddy“ für eine_n MORE-Studierende_n (Unterstützung beim Spracherwerb und bei der Orientierung im Universitätsalltag) j Gründung: MORE ist ein Projekt der österreichischen Universitätenkonferenz und startete im Wintersemester 2015/16 j Kontakt: http://uniko.ac.at/projekte/more/; nadine. shovakar@ uniko.ac.at

New Here – Interaktiver Stadtplan für Flüchtlinge (#WELCOMEoida) New Here ist ein mehrsprachiger, interaktiver Stadtplan, der geflüchteten Menschen einen Überblick über Angebote in Wien ermöglichen soll. Über Piktogramme kann man aus den Kategorien Bildungsmöglichkeiten, Gesundheit, Arbeit, Geld/Administratives, Asylverfahren, Freizeitangebote und Wohnen wählen. New Here soll es leichter machen, sich selbstständig in der Stadt zu orientieren und verwendet eine Softwarelösung von 238, die auch in anderen europäischen Städten anwendbar wäre. Aktionsraum: Wien j Unterstützungsmöglichkeit: Als Spender_in und/oder freiwillige Mitarbeiter_in j Gründung: Online seit dem 20. Juni 2016 (Weltflüchtlingstag), initiiert von #WELCOMEoida, technische Umsetzung: 238 j Fi-

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nanzierung: über Crowdfunding j Kontakt: http://www.welcomeoida.at/new here; [email protected]

Nickelsdorf hilft Nickelsdorf hilft ist eine Initiative, die im Zuge der akuten Transitfluchtthematik im Herbst 2015 in Nickelsdorf gegründet wurde und Menschen, die die Dorfgemeinschaft und die geflüchteten Menschen in dieser Ausnahmesituation unterstützen wollten, eine Anlaufstelle bot. Die Initiative koordinierte dabei den freiwilligen Einsatz und war Schnittstelle zwischen Zivilbevölkerung, Hilfsorganisationen und Polizei. Nickelsdorf war durch seine geografische Lage und Infrastruktur ein wichtiger Punkt auf der Reise geflüchteter Menschen entlang der sogenannten Balkanroute von Ungarn Richtung West- und Nordeuropa. Zusammen mit der Zivilbevölkerung von Nickelsdorf und den Einsatzkräften von Polizei und Hilfsorganisationen hat die Initiative einen entscheidenden Beitrag für einen friedvollen und bestmöglichen Ablauf der Flüchtlingsbewegungen vom Herbst 2015 geleistet. Aktionsraum: Nickelsdorf / Burgenland j Gründung: 2015 im Zuge der Flüchtlingsbewegungen über Ungarn nach Österreich von der Gemeinde Nickelsdorf ins Leben gerufen j Kontakt: http://www.nickelsdorf.gv.at/nickels dorf-hilft/

Österreich hilfsbereit

Österreich hilfsbereit ist ein Verein zur Wohnraumschaffung für Asylsuchende in Kooperation mit dem Roten Kreuz, der von Flüchtlingskoordinator Christian Konrad ins Leben gerufen wurde. Aktionsraum: Österreich j Kooperationen und Unterstützer_innen: Zusammenarbeit mit dem Roten Kreuz j Unterstützungsmöglichkeit: Als Spender_in j Gründung: Initiiert vom österreichischen Flüchtlingskoordinator Christian Konrad j Kontakt: https://oesterreich-hilfsbereit.at/

Österreichischer Integrationsfonds – ÖIF Der Österreichische Integrationsfonds bietet Beratung in Integrationsfragen, besonders in den Bereichen Sprache, Bildung und Beruf, für Asylberechtigte, subsidiär Schutzberechtigte und Drittstaatsangehörige an. Das Angebot „Treffpunkt Deutsch“ in den ÖIF-Integrationszentren unterstützt Menschen, die

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ehrenamtlich Deutschunterricht geben wollen, vernetzt sie mit Deutschlernenden und stellt österreichweit Räumlichkeiten zur Verfügung. Das Sprachportal des ÖIF stellt außerdem Online-Materialien zum Deutsch lernen und Informationen zu Prüfungen und Kursen zur Verfügung. Das Angebot versteht sich als Zusatz zur Vorbereitung und/oder Vertiefung regulärer Deutschkurse. Aktionsraum: Österreich j Unterstützungsmöglichkeit: Als ehrenamtliche_r Deutschlehrer_in j Gründung: 1960 vom UNHCR und vom Bundesministerium für Inneres (BMI). Ausgliederung aus dem BMI 1991. j Kontakt: http://www. integrationsfonds.at/startseite/; http://www.integrationsfonds.at/treffpunkt-deu tsch-neu/; http://sprachportal.integrationsfonds.at/

Plattform Rechtsberatung – FÜR MENSCHENRECHTE Die Plattform Rechtsberatung fördert durch Vorträge und Informationskampagnen die Bewusstseinsbildung zu den Themen Asyl und Migration. Bei den Veranstaltungen soll ein Raum der Begegnung geschaffen werden, in dem Menschen aus verschiedenen Kulturen miteinander interagieren können. Außerdem setzt sich die Plattform für die Sicherung einer unabhängigen Rechtsberatung für Asylsuchende in Tirol ein und stellt Kontakte mit Beratungsstellen her. Sie bietet allerdings keine Beratung für Menschen auf der Flucht an. Aktionsraum: Tirol j Kooperationen und Unterstützer_innen: Mitglied im Tiroler Integrationsforum und der Initiative Bleiberecht; Partner_innen: Unabhängige Rechtsberatung Tirol, Diakonie j Unterstützungsmöglichkeit: Durch Spenden und/oder freiwillige Mitarbeit j Gründung: 2011 von Mitgliedern und Fördernden der Unabhängigen Rechtsberatung Tirol j Kontakt: http://www. plattform-rechtsberatung.at; [email protected]

Power 2 help (WU Wien) Von März bis Juni 2016 bot die WU Wien unter dem Titel Power 2 help Workshops für Menschen an, die ehrenamtlich im Flüchtlingsbereich tätig sind oder es gerne sein wollten, um sie durch Information und Weiterbildung in ihrer Tätigkeit zu unterstützen. Themen der Workshops waren interkulturelle Kommunikation, Asylrecht, Religion, Krisenintervention, Traumaerkennung und Burnout-Prävention. Aktionsraum: Wien j Gründung: Power 2 help ist eine Initiative der WU Wien in Kooperation mit fachlichen Expert_innen j Kontakt: http://www.power2help. at/; [email protected]

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Projekt [HOME] (Vielmehr für alle) [HOME] ist ein Projekt, das von Psycholog_innen initiiert wurde, die bereits länger ehrenamtlich als Unterrichtende im Rahmen des Projekts PROSA – Schule für alle aktiv waren. Im Rahmen dieser Tätigkeit stellte sich für sie der Bedarf einer psychosozial orientierten Unterstützungsstruktur für die Jugendlichen heraus. [HOME] setzt an diesem Bedarf an und will die jungen Menschen dabei unterstützen, sich in Österreich zuhause zu fühlen und ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Aktionsraum: Wien j Unterstützungsmöglichkeit: Als Spender_in bzw. als Lernbuddy, Vertrauensbuddy oder Teammitglied j Kontakt: http://projekthome.at/#homeoben

PROSA Schule für alle (Vielmehr für alle) Das Projekt PROSA begreift Bildung als Menschenrecht, das jungen geflüchteten Menschen in Österreich allerdings oft schwer zugänglich ist. PROSA ermöglicht deshalb jungen Menschen, die davon betroffen sind, den Zugang zu Bildung und hält Basisbildungs- und Pflichtschulabschlusskurse ab. Das Konzept basiert dabei auf den drei Eckpunkten Sozialarbeit, Unterricht und soziale Inklusionsarbeit. Aktionsraum: Wien j Unterstützungsmöglichkeit: Als Spender_in und/oder als Trainer_in j Gründung: 2012 von Vielmehr für alle j Öffentlichkeit: 1. Preis der Sozialmarie 2015 j Kontakt: http://www.prosa-schule.org/; david.fuelle [email protected]

Queer Base Queer Base bietet Asylberatung mit Schwerpunkt auf LGBTIQ-Themen an. Die Initiative bietet neben einem Wohnprojekt für LGBTIQ-Geflüchtete Vernetzung mit der Community und soziale Unterstützung. Aktionsraum: Wien j Kooperationen und Unterstützer_innen: Kooperation mit der Diakonie j Unterstützungsmöglichkeit: Als Spender_in j Gründung: Gegründet von der Türkis Rosa Lila Villa j Finanzierung: durch die LGBTIQ Community j Kontakt: http://queerbase.at; [email protected]

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RefugeeBuddy RefugeeBuddy ist eine Initiative, die geflüchtete Menschen in ihrem Alltag in Österreich in jenen Bereichen unterstützt, die von der staatlichen Flüchtlingsversorgungsstruktur nicht abgedeckt werden. Aktionsraum: Österreich j Unterstützungsmöglichkeit: Als „Buddy“ für geflüchtete Menschen (punktuell oder langfristig) j Gründung: als Privatinitiative j Kontakt: http://www.refugeebuddy.at/; [email protected]

Refugee Stories (whatchado) Im Rahmen der aktuellen Flüchtlingsthematik bieten Refugee Stories geflüchteten Menschen und jenen, die sie unterstützen, eine Plattform, um ihre persönlichen Geschichten an die Öffentlichkeit zu bringen. Aktionsraum: Europa j Kooperationen und Unterstützer_innen: Partner_innen: Flüchtlinge Willkommen, PROSA, Malteser j Gründung: Online seit November 2015 j Kontakt: http://refugeestories.eu/

Refugees for Refugees Refugees for Refugees ist ein Projekt von Geflüchteten und für Geflüchtete, das von einer Gruppe Asylsuchender in den Flüchtlingseinrichtungen im Geriatriezentrum Wienerwald initiiert wurde. Die Teilnehmer_innen unterstützen einander gegenseitig und auch andere geflüchtete Menschen bei Behördengängen, durch Dolmetschtätigkeiten und durch das zur Verfügung stellen ihrer Fähigkeiten – ein Beispiel dafür ist ein mobiles Friseurangebot, das geflüchtete Menschen in Wien nutzen können. Außerdem beteiligen sich Refugees for Refugees ehrenamtlich am alltäglichen Betrieb ihrer Einrichtungen, indem sie Tätigkeiten wie Essenszubereitung, Gartenarbeit und Reinigungsarbeiten übernehmen. Die Idee hinter dem Projekt ist, Asylsuchenden vom Zeitpunkt ihrer Ankunft in Österreich an die Möglichkeit zu geben, aktiv an der Gesellschaft teilzuhaben. Im Rahmen von Refugees for Refugees wurde außerdem eine Theatergruppe gegründet, die im März 2016 die erste öffentliche Aufführung eines selbst geschriebenen und inszenierten Stückes feierte. Aktionsraum: Wien j Kooperationen und Unterstützer_innen: Unterstützt von wieder wohnen / Fonds Soziales Wien j Gründung: im Winter 2015 von einer Gruppe von Geflüchteten, die in den Flüchtlingseinrichtungen im Geriatriezentrum Wienerwald (betrieben von wieder wohnen) leben j Kontakt: https:// www.facebook.com/refugees.wien/?fref=ts; [email protected]

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Refugees Welcome @ TU Wien Im Zuge der aktuellen Flüchtlingsthematik in Österreich wurden an der TU Wien von Studierenden, Lehrenden und allgemeinem Personal verschiedene konkrete Unterstützungsangebote für geflüchtete Menschen geschaffen. Die Website bietet einen Überblick über die bereits bestehenden Initiativen zu diesem Thema. Aktionsraum: Wien j Unterstützungsmöglichkeit: Als Unterstützer_in bereits bestehender Projekte, durch neue Projekte j Kontakt: http://www.tuwien. ac.at/wir_ueber_uns/universitaetsleitung/rektorat/vizerektorin_fuer_personal _und_gender/personal_gender/refugees_welcome/; [email protected]

Refugeeswork Refugeeswork ist eine Online-Plattform, die geflüchtete Menschen dabei unterstützt, Volontariate, Lehren, Praktika und Jobs zu finden. Die Website vernetzt dabei Unternehmen mit Geflüchteten. Aktionsraum: Österreich j Gründung: von Dominik Beron j Kontakt: https:// refugeeswork.at/; [email protected]

Rugby Opens Borders Rugby Opens Borders versteht sich als Initiative mit dem Ziel, Grenzen zugunsten von gelebter Toleranz aufzulösen. Im Rahmen des Rugbysports und durch gemeinsame Unternehmungen bietet das Projekt jungen geflüchteten Menschen und Migrant_innen die Möglichkeit, Inklusion zu erfahren. Aktionsraum: Wien j Unterstützungsmöglichkeit: Als Spender_in j Gründung: im Juni 2015 j Öffentlichkeit: 2. Platz beim Integrationspreis Sport 2015 j Finanzierung: über Spenden j Kontakt: http://www.rugbydonau.at/rugbyopen sborders/

SABERA (Diakonie Flüchtlingsdienst) SABERA steht für „Salzburger_innen beraten Asylwerber_innen“ und ist ein Team aus Rechtsberater_innen, die ehrenamtlich Rechtsberatung für Asylsuchende und geflüchtete Menschen anbieten. Neben der primären Beratungstätigkeit werden sie außerdem zu Ansprechpartner_innen und Multiplikator_innen für andere Projekte.

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Aktionsraum: Salzburg j Kooperationen und Unterstützer_innen: Unterstützt von Helfen. WIE WIR j Unterstützungsmöglichkeit: Als freiwillige_r Unterstützer_in j Gründung: Offizielle Gründung nach Vorbereitungsphase im August 2015 nach dem Vorbild der Unabhängigen Rechtsberatung Tirol j Kontakt: https://fluechtlingsdienst.diakonie.at/einrichtung/sabera-salzburgerinnen -beraten-asylwerberinnen; [email protected]

Sachspenden für Traiskirchen Sachspenden für Traiskirchen ist eine Onlineplattform, die freiwillig Tätige und Spender_innen über den aktuellen Sachspendenbedarf im Erstaufnahmezentrum Traiskirchen informiert. Der Spendeneingang soll so bedarfsorientiert gemanagt werden. Aktionsraum: Traiskirchen j Unterstützungsmöglichkeit: Als freiwillige_r Unterstützer_in j Kontakt: http://www.sachspendentraiskirchen.at/; ma@daria daria.com

Sinnvoll Helfen Der Verein Sinnvoll Helfen entstand im Sommer 2015 als zivilgesellschaftliche Initiative rund um die Flüchtlingsakuthilfe in Traiskirchen. Die Idee dahinter war es, Menschen die Möglichkeit zu geben, ohne den Umweg über etablierte Hilfsorganisationen unbürokratisch und direkt tätig werden zu können. Sinnvoll Helfen bietet als Verein kleineren Initiativen, die selbst keinen Vereinscharakter haben, eine Plattform, um aktiv zu werden. Weiters sieht sich der Verein als Schnittstelle zwischen Freiwilligen und öffentlichen Organisationen. Für die Zukunft ist ein Supervisionsangebot für Freiwillige geplant. Aktionsraum: Wien / Traiskirchen / Österreich j Gründung: im Sommer 2015 von Alexandra Wimmer, Gabriela Markovic, Monika Fritsch, Simone Deibler, Christian Kopp, Gabriela Bungart und Roger Winandy j Kontakt: Website in Planung

SOS Kinderdorf Flüchtlingshilfe SOS-Kinderdorf betreut bereits seit 15 Jahren unbegleitete minderjährige Geflüchtete und hat sein Angebot im Zuge der aktuellen Flüchtlingsthematik in Österreich seit 2015 ausgeweitet. Das Angebot umfasst neben der Deckung der

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Grundbedürfnisse individuelle Betreuung in Wohngruppen und Familien, psychologische Betreuung, Schulbesuch und Sprachunterricht. Aktionsraum: Österreich j Unterstützungsmöglichkeit: Als Spender_in und/ oder als Pat_in für geflüchtete Kinder j Kontakt: http://www.sos-kinderdorf.at/ wie-sie-helfen-koennen/spenden/aktuelle-hilfsprojekte/neue-platze-fur-flucht lingskinder ; [email protected]

StartWien Informodule für Flüchtlinge (Stadt Wien – MA 17) Im Rahmen der Grundversorgung bietet die Initiative StartWien Integrationsbegleitung in Form von Orientierung, Beratung, Betreuung und Qualifizierungsmöglichkeiten für Asylsuchende ab dem ersten Tag an. Seit September 2015 werden in Kooperation mit dem Fonds Soziales Wien kostenlose muttersprachliche Info-Module für geflüchtete Menschen abgehalten, im Rahmen derer grundlegende Informationen zu den Themen Zusammenleben, Bildung, Gesundheit, Wohnen und Soziales zur Verfügung gestellt werden. Aktionsraum: Wien j Kontakt: http://www.startwien.at/de/asyl

Team Österreich Flüchtlingshilfe Team Österreich ist eine Plattform für ehrenamtliche Hilfe, die in Kooperation von Ö3 und Rotem Kreuz betrieben wird. Im Rahmen der aktuellen Flüchtlingsthematik in Österreich wurde der Bereich „Flüchtlingshilfe“ gegründet. Die vorhandenen Strukturen wurden so genutzt, um im Bedarfsfall schnellstmöglich ehrenamtliche Unterstützung in diesem Bereich mobilisieren zu können. Gleichzeitig wurde über die Plattform ein niederschwelliger Zugang für Menschen geboten, die sich aus konkretem Anlass zu diesem Thema engagieren wollten. Aktionsraum: Österreich j Unterstützungsmöglichkeit: Durch freiwilliges Engagement j Gründung: Team Österreich ist eine Plattform für ehrenamtliche Hilfe von Ö3 und Rotem Kreuz. Der Bereich Flüchtlingshilfe wurde 2015 ins Leben gerufen. j Kontakt: http://oe3.orf.at/teamoesterreich/stories/helfenwie wir/

The Welcoming Organization – TWO The Welcoming Organization ist eine Initiative, die im Herbst 2015 Geflüchtete mit Essen versorgt hat. Das Ziel dabei war, die geflüchteten Menschen unbü-

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rokratisch aber strukturiert mit adäquaten Nahrungsmitteln zu versorgen und Nahrungsmittelspenden gerecht zu verteilen. Der Hauptstandort dafür war eine Großküche in Traiskirchen. Eine von zwei mobilen Küchen, die von ehrenamtlichen Helfern betrieben wurden, war im Herbst 2015 auch in Spielfeld im Einsatz. Zusätzlich wurde in Wien eine Notunterkunft mit Essen versorgt. Seit Projektbeginn wurden über eine Million Essensportionen ausgegeben – dies entspricht einer Anzahl an Tellern, die aneinander gereiht die Strecke von Traiskirchen nach Spielfeld ergeben. Durch den Rückgang des Bedarfs einerseits, aber auch durch den Rückgang der medialen Aufmerksamkeit für das Fluchtthema und damit verbunden einem Rückgang an Spenden, liegt der Fokus der Initiative derzeit auf integrativen Projekten in Form von gemeinschaftlichem Kochen. Aktionsraum: Traiskirchen / Wien / Niederösterreich / Burgenland / Steiermark j Kooperationen und Unterstützer_innen: Zusammenarbeit mit Diakonie, Heilsarmee und Cuisine sans frontiHres (Schweiz) j Unterstützungsmöglichkeit: Durch Lebensmittelspenden, Sachspenden und/oder als freiwillige_r Helfer_in j Finanzierung: ausschließlich über Spenden j Kontakt: http://www.two-austria. at/; [email protected]

TheaterFlucht Österreich Junge Menschen aus Österreich nehmen zusammen mit jungen Menschen, die nach Österreich geflüchtet sind, an einem Theaterprojekt teil. Ziel dabei ist, diese beiden Gruppen von Jugendlichen miteinander zu vernetzen und einen Rahmen für Begegnung und Austausch zu schaffen. Die Teilnahme am Projekt ist für asylsuchende Jugendliche und Jugendliche, deren Familien sich die Teilnahmegebühr nicht leisten können, kostenlos. Aktionsraum: Wien / Österreich j Finanzierung: Gefördert durch WUK, Respekt.net, die LICHTFABRIK, SCI Switzerland, Die Grünen und Jugend in Aktion j Gründung: 2013 von Christina Rauchbauer, Susanna Sulig, Benedikt Söllradl und Claudia Wührer j Kontakt: https://theaterfluchtoesterreich.word press.com/; [email protected]

Train of Hope Train of Hope ist eine zivilgesellschaftliche Initiative, die sich spontan aus einer konkreten Bedarfssituation heraus gebildet hat, als Ende August 2015 eine große Zahl geflüchteter Menschen am Wiener Hauptbahnhof ankamen. Die Freiwilligen der Initiative boten diesen Menschen Erstversorgung, Information und

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Unterstützung an und hießen sie willkommen. Zu Weihnachten 2015 wurde der Einsatz am Hauptbahnhof beendet. Die Initiative arbeitet nun an integrationsorientierten Projekten, plant eine Betreuungseinrichtung und hält sich in Bereitschaft für den Fall eines erneuten Bedarfs der Erstversorgung vor Ort. Aktionsraum: Hauptbahnhof Wien j Unterstützungsmöglichkeit: Durch Sach- und/oder Geldspenden; durch freiwillige Mitarbeit j Gründung: im August 2015 j Kontakt: http://www.trainofhope.at/; [email protected]

Tshirtsrefugeeswelcome (Verein menschenSrecht. Unterstützung für Flüchtlinge) Als Reaktion auf ablehnende Tendenzen gegenüber geflüchteten Menschen in der österreichischen Gesellschaft wurde im Juni 2015 die Initiative Tshirtsrefugeeswelcome gegründet. Im Zuge des Projekts wurden T-Shirts bedruckt, um ein öffentlich sichtbares Statement für eine offene Haltung gegenüber geflüchteten Menschen zu setzen. Mit den Einnahmen wurden Projekte für Geflüchtete unterstützt. Aktionsraum: Österreich j Unterstützungsmöglichkeit: Die T-Shirt-Aktion ist seit Juni 2016 beendet. Bei einigen Kooperationspartnern (siehe Website) sind die T-Shirts immer noch erhältlich. Der Erlös kommt dabei ausgewählten Projekten für geflüchtete Menschen zugute. j Gründung: von Ute Mayrhofer, Karin Mayer und Martina Wolf im Juni 2015 j Kontakt: http://refugeeswelcome. at/

Uni Club plus (Universität Wien) Jugendliche zwischen 13 und 19 Jahren treffen sich hier, um die Alltagswelt von Wissenschaftler_innen, Studierenden und Absolvent_innen kennen zu lernen. Uni Club plus bietet geflüchteten Jugendlichen die Chance, neben den Deutschkursen, die sie besuchen, auch anderen Interessen nachzugehen. Es wird ein Raum der Begegnung und des Austausches geschaffen, wo die Jugendlichen die Universität Wien kennenlernen und mehr über das Studieren erfahren können. Aktionsraum: Universität Wien j Unterstützungsmöglichkeit: Als Spender_in; als Lernbegleitung (Studierende); als Unterstützerin (Universitätsangehörige) j Gründung: Gegründet am 6. Oktober 2015, geplant und durchgeführt vom Kinderbüro der Universität Wien j Kontakt: http://www.uniclub.at/ uniclubplus/; [email protected]

Dokumentation von Aktion

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Universität Wien – Wir helfen Die Website Wir helfen der Universität Wien bietet Informationen zu eigenen Initiativen im Themenbereich Flucht und Asyl, zum Thema Studieren für Asylsuchende und geflüchtete Menschen und Kontaktadressen für Spenden und freiwilliges Engagement. Aktionsraum: Wien j Unterstützungsmöglichkeit: Durch Unterstützung der bereits bestehenden Initiativen und/oder durch eine eigene Initiative j Kontakt: https://wirhelfen.univie.ac.at/index.php?id=873& L=0; [email protected]

Verein menschen.leben Der Verein menschen.leben bietet Wohnungen und Wohngemeinschaften an, in denen geflüchtete Menschen ihren Bedürfnissen entsprechend betreut werden. Ein Schwerpunkt liegt auf der Betreuung von unbegleiteten minderjährigen und weiblichen Geflüchteten. Aktionsraum: Österreich j Unterstützungsmöglichkeit: Durch Geld-, Sachund Zeitspenden j Gründung: 2006 j Kontakt: http://www.menschen-leben.at/ asyl/; [email protected]

Verein Menschenrechte Österreich Der Verein Menschenrechte Österreich bietet Rechtsberatung für Asylsuchende, Rückkehrberatung und Schubhaftbetreuung an. Aktionsraum: Österreich j Unterstützungsmöglichkeit: Als Spender_in j Kontakt: http://www.verein-menschenrechte.at/; wien@verein-menschenrechte. at

Vielmehr für alle Die Bildungsinitiative Vielmehr für alle ist ein Verein, der sich für die Menschenrechte geflüchteter Menschen in Österreich einsetzt. Bildung, Wohnen, Arbeit und Bewusstseinsbildung sind dabei Schwerpunkte, die in verschiedenen Projekten umgesetzt werden. Aktionsraum: Österreich j Unterstützungsmöglichkeit: Als Mitglied; durch Geld- oder Zeitspenden j Gründung: 2012 j Kontakt: http://vielmehr.at/; kontakt @vielmehr.at

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Vienna Law Clinics Vienna Law Clinics ist ein Projekt von Studierenden der Rechtswissenschaften in Wien, im Zuge dessen kostenlose rechtliche Erstberatung in den Bereichen Asylrecht und Startups angeboten wird. Das Ziel dabei ist, niederschwellige Beratungsangebote zu diesen Themen zur Verfügung zu stellen und gleichzeitig Studierenden durch die Arbeit an echten Fällen praktische Erfahrungen während des Studiums zu ermöglichen. Aktionsraum: Wien j Unterstützungsmöglichkeit: Als Studierende_r der Rechtswissenschaften: freiwillige Mitarbeit j Gründung: im Herbst 2014 von einer Gruppe Studierender der Rechtswissenschaften j Öffentlichkeit: 2000 Euro Preis der Sozialmarie 2016 j Kontakt: https://viennalawclinics.org/; [email protected]

VOBIS – Verein für offene Begegnung und Integration durch Sprache Der Verein VOBIS setzt sich dafür ein, die Lebenssituation von Asylsuchenden, Menschen auf der Flucht und Migrant_innen zu verbessern. Da Sprache als wichtige Grundlage für den Integrationsprozess verstanden wird, stehen kostenlose Deutschkurse im Zentrum der Aktivitäten. Es werden aber auch andere Bildungsangebote und Freizeitaktivitäten angeboten. Ein weiteres Anliegen ist die Sensibilisierung für die Situation neu angekommener Menschen in der Aufnahmegesellschaft und die Schaffung von Begegnungsräumen. Aktionsraum: Kärnten / Österreich j Unterstützungsmöglichkeit: Durch Spenden und/oder freiwillige Mitarbeit j Gründung: 2008 in Klagenfurt j Öffentlichkeit: Kärntner Menschenrechtspreis 2010, 3. Platz bei „Helfende Hände“ 2009, Preis der Sozialmarie 2009; ausgezeichnet mit dem Europäischen Spracheninnovationssiegel (ESIS) j Kontakt: http://verein-vobis.com/; office@verein -vobis.com

Voices of Refugees Voices of Refugees ist ein Chor für geflüchtete und nicht geflüchtete Menschen in Wien. Aktionsraum: Wien j Kooperationen und Unterstützer_innen: Voices of Refugees ist seit Mai 2016 Teil der Organisation Fremde werden Freunde j Unterstützungsmöglichkeit: Als Spender_in und/oder durch eine Patenschaft j Gründung: Aktiv seit Februar 2016 j Kontakt: http://voices-of-refugees.at/; of [email protected]

Dokumentation von Aktion

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Welcomingtours.at Welcomingtours.at ist eine österreichweite Plattform, die unter den Schlagworten Solidarität und Miteinander neu angekommene Menschen mit Menschen vernetzt, die schon lange in Österreich leben. Die Plattform unterstützt die Menschen dabei, miteinander in Kontakt zu kommen und soll gegenseitigen Respekt und Offenheit fördern. Aktionsraum: Österreich j Unterstützungsmöglichkeit: Als „Welcomer“ j Gründung: Welcomingtours.at wurde als Privatinitiative im August 2015 gegründet und versteht sich als Integrationsprojekt j Kontakt: http://welco mingtours.at/; [email protected]

Wiener Charta Gespräche in Flüchtlingsunterkünften (Stadt Wien) Die Stadt Wien bietet die bereits seit einigen Jahren existierenden Wiener Charta Gespräche nun mit muttersprachlicher Moderation für geflüchtete Menschen an. Im Rahmen dieser Gespräche wird über die Themen Demokratie und Rechtsstaat, Menschen- und Grundrechte sowie Frauen- und Kinderrechte diskutiert. Die Grundlage dafür bildet die Wiener Charta, ein Text der 2012 im Rahmen eines Bürger_innen-Beteiligungsprojekts entstanden ist und Punkte definiert, die für das Zusammenleben in Wien wichtig sind. Charta Gespräche finden regelmäßig in Wiener Flüchtlingsunterkünften statt und geben den geflüchteten Menschen Raum, über ihre eigenen Erfahrungen zu sprechen, die Charta-Themen zu diskutieren und Fragen zu stellen. Aktionsraum: Wien j Kontakt: https://fluechtlinge.wien.gv.at/site/news/20 16/03/18/charta-gespraeche/#more-1034

Wiener Kultureinrichtungen helfen Flüchtlingen Zahlreiche Wiener Kunst- und Kultureinrichtungen beteiligten sich unter dem Motto „Kultur hilft“ aktiv an der Hilfe für geflüchtete Menschen und unterstützen ihre Teilhabe an Gesellschaft und Kultur auf unterschiedliche Weise. Auf der Website der Stadt Wien ist eine Auflistung der teilnehmenden Einrichtungen zu finden. Aktionsraum: Wien / Österreich j Gründung: Online seit Oktober 2015 j Kontakt: https://www.wien.gv.at/kultur/abteilung/veranstaltungen/kulturhilft. html

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Willkommen Mensch Willkommen Mensch ist eine Gruppe von ehrenamtlich tätigen Menschen, die geflüchtete Menschen beim Ankommen in Österreich unterstützen und dabei in den Bereichen persönliche Begleitung, Deutschlernen, Sammlung von Sach- und Geldspenden, Bewusstseinsbildung und Wohnraumbeschaffung tätig sind. Aktionsraum: Österreich j Unterstützungsmöglichkeit: Durch Geld-, Sachund/oder Wohnraumspenden; als Freiwillige_r j Kontakt: http://www.willkom men-mensch.at/; [email protected]

WiR zusammen WiR zusammen begleitet Menschen, die sich aktiv in ihrer Gemeinde für die Aufnahme von geflüchteten Menschen und ein respektvolles Zusammenleben einsetzen oder einsetzen wollen. Die Leitgedanken dabei sind die Wahrnehmung von Unterschiedlichkeit als Potential und die Auffassung von Kultur als etwas Lebendiges, das in der Begegnung stattfindet. Aktionsraum: Österreich j Kooperationen und Unterstützer_innen: Kooperation mit Diakonie, Caritas, Flüchtlinge willkommen und #aufstehn j Unterstützungsmöglichkeit: Als Spender_in j Kontakt: http://www.wir-zusam men.at/; [email protected]

Work:in (Vielmehr für alle) Work:in ist ein Projekt, das junge Geflüchtete auf ihrem Weg in die Berufswelt begleitet. Im Rahmen von Berufsorientierungskursen, Betriebsbesichtigungen und Praktika wird den jungen Menschen die Möglichkeit geboten, ihr berufliches Interesse auszubauen. Sie werden dabei von Work:in-Buddies unterstützt, die ihre Berufserfahrung mit den jungen Geflüchteten teilen und ihnen bei ihrem Einstieg in die Berufswelt zur Seite stehen. Work:in ermöglicht jungen geflüchteten Menschen eine Vernetzung in der Berufswelt und bietet ihnen langfristige Unterstützung im Berufseinstiegsprozess. Aktionsraum: Österreich j Unterstützungsmöglichkeit: Als Work:in-Buddy ; als Unternehmer_in: durch die Schaffung von Lehrstellen für junge Gefüchtete; als Unterstützer_in j Gründung: von Vielmehr für alle j Finanzierung: durch Crowdfunding j Kontakt: http://www.workin.at/; [email protected]

Dokumentation von Aktion

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You are Welcome – Briefe für Traiskirchen Als Reaktion auf eine Flugblattverteilung der Identitären Bewegung an geflüchtete Menschen in Traiskirchen mit der Botschaft, dass Flüchtlinge in Österreich nicht willkommen wären, wurde die Aktion You are Welcome – Briefe für Traiskirchen ins Leben gerufen. Menschen, die Geflüchteten zeigen möchten, dass sie in Österreich willkommen sind, können Briefe mit dieser Botschaft an ein Postfach schicken. Anschließend werden die Briefe gesammelt und den geflüchteten Menschen in Traiskirchen überbracht. Aktionsraum: Traiskirchen / Österreich j Unterstützungsmöglichkeit: Durch Briefe an die geflüchteten Menschen in Traiskirchen j Gründung: Ins Leben gerufen von Hanna Herbst, mittlerweile stellvertretende Chefredakteurin von VICE Alps, im Juni 2015 j Kontakt: http://youarewelcome.at/

ZusammenHelfen in Oberösterreich Die Initiative ZusammenHelfen in Oberösterreich sammelt Informationen und Aktivitäten zum Themenbereich Flucht und Asyl und vernetzt Angebote aus der Bevölkerung mit dem Bedarf von Organisationen. So wird eine niederschwellige Möglichkeit für Menschen geschaffen, die sich in diesem Bereich freiwillig engagieren wollen, mit Einrichtungen in Kontakt zu kommen, die Unterstützung benötigen. Aktionsraum: Oberösterreich j Unterstützungsmöglichkeit: Durch Zeit-, Sach-, Wohnraum- oder Geldspenden j Gründung: Eine Initiative des Integrations-Landesrats Rudi Anschober und des Landes Oberösterreich j Kontakt: http://zusammen-helfen.at/; [email protected]

Deutschland Flüchtlinge für Flüchtlinge Flüchtlinge für Flüchtlinge ist ein Verein, in dem sich geflüchtete Menschen für andere geflüchtete Menschen einsetzen. Die Aktivitäten umfassen dabei die Begleitung bei Behördengängen, Asyl- und Rechtsberatung, Übersetzungstätigkeiten, Workshops, Recherche- und Dokumentationsarbeit zu den Herkunftsländern und Aktivitäten zur Bewusstseinsbildung in der Bevölkerung. Das Ziel ist eine gelungene Integration der geflüchteten Menschen in die Gesellschaft. Aktionsraum: Deutschland j Unterstützungsmöglichkeit: Durch Sach-,

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Geld- und Zeitspenden j Finanzierung: Finanzierung über Spender_innen und Fördernde j Kontakt: https://refugees4refugees.wordpress.com/

Refugee Phrasebook Die Website Refugee Phrasebook bietet eine ständig erweiterte Sammlung von wichtigen Sätzen, Wörtern und Links für Geflüchtete und Menschen, die diese unterstützen, in 44 Sprachen. Ein Netzwerk von freiwilligen Übersetzer_innen stellt dafür eine Vokabularsammlung in den Bereichen Grundwortschatz, Medizin und juristische Themen zusammen. Initiativen im Flüchtlingsbereich können das so entstandene Material kostenfrei für ihre eigenen Projekte nutzen. Aktionsraum: International j Kooperationen und Unterstützer_innen: Unterstützt von der Open Knowledge Foundation Deutschland j Unterstützungsmöglichkeit: Durch Spenden und/oder Mitarbeit am Wörterbuch j Gründung: im August 2015 von einigen Mitgliedern der Facebook-Gruppe Berlin Refugee Help j Öffentlichkeit: Prix Ars Elecctronica Award of Distinction 2016 in der Kategorie Digital Communities j Kontakt: http://www.refugeephrasebook.de; [email protected]

SOS for Human Rights Das Projekt besteht aus drei Teilen: einem mobilen Theaterstück über jugendliche Flüchtlinge, das bis 2012 zwei Jahre lang in Deutschland und Europa auf Tour war, einer Kampagne, bestehend aus einem zeitlich unlimitierten Programm unterschiedlicher Veranstaltungen, die die Lebensrealität junger Geflüchteter ins öffentliche Bewusstsein rücken sollen, und einem Appell der Flüchtlingsinitiative Jugendliche ohne Grenzen an die Politiker_innen der EU. Aktionsraum: Deutschland / Europa j Unterstützungsmöglichkeit: Als Spender_in; durch Unterschreiben des Appells j Gründung: Das Theaterstück und die Kampagne wurden vom GRIPS Theater, den Flüchtlingsräten Berlin und Brandenburg, Jugendliche ohne Grenzen, der Beratungsstelle WeGe ins Leben e.V., der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft und PRO ASYL initiiert. j Kontakt: http://www.sos-for-human-rights.eu/; [email protected]

Ausdruck verleihen

“Theatre was my second home in Syria – here it is the only one.” An Interview with Johnny Mhanna on 31 May 2016 by Mirjam Berger and Corinne Besenius

This title has two different stories. In 2012, after I was more or less starting my career as an actor in Syria, I had to leave Syria. On my way to Lebanon, I thought: “I will forget acting for a few years”. I wasn’t sure if I could pursue my passion in this new country full of new people. However, after a month and a half, I was playing with Lina Abyad, which is one of the most important Lebanese theatre directors. My career went on and on … Then, in 2015, I had to depart the country for the second time. And again, on my way from Lebanon to Austria I thought that now “I have to forget acting for a long time …” Austria is a complete new country. It’s a different language, different culture, everything is different! And again, theatre has caught me! The premiere of Schutzbefohlene performen Jelineks Schutzbefohlene was 15 days after I arrived in Austria! I arrived on 28th of August 2015 and the premiere was on 12th of September in the Arena. These two stories are showing so many similarities between Lebanon and here. I’m not a believer but it seems that theatre is my destiny. Admitting that you maybe have to forget it and then finding yourself on stage again, was unthinkable. It’s like a dream, it’s like a lie! After Schutzbefohlene performen Jelineks Schutzbefohlene I had another few months, I had no free day, because of all the rehearsals and plays. Since eight months I’ve played six or seven plays in Vienna. I didn’t even have time to learn German! And now since five weeks I am able to attend Deutschkurse. I hate to talk about myself, but, you know, it seems to be a lie: I mean … It happened!

On the Theatre Landscape in Syria Tell us something about the theatres and cinemas in Syria! It’s complicated because theatres and cinemas changed a lot in the new history. In Damascus there were – I don’t really know a number – many theatres and now

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there are only five left. You have two national theatres called al-qabbani and al hamra. Both are really amazing, beautiful theatres. Those are sponsored by the ministry of cultural affairs and there are three commercial theatres, which are private, they present entertainment and shows. Some people don’t like this kind of theatre or acting but I see it’s a necessity, because it has its own Publikum. Sometimes it’s really silly, but it exists as a kind of theatre. And we have also a nabil yones stage: a theatre organization with “adult” actors, about 15–20 years old. Surrounding Damascus you have a lot of small theatres, which are not always used as theatres. They use it also for presentations and meetings. They are also linked to the government. Earlier, there were about 100 cinemas, the city was full of cinemas, and now you can find two. The old cinemas are still there. They are so charming and beautiful with the smell and the balcony, but now they are closed. I don’t know why they lost their audience. Movies are not forbidden. I mean even now, films are produced. If you go back to the sixties till eighties, there were really big cinema producers and a cinema industry, which is also lost. Now you have only one producer : the national cinema institution, which is supported by the government. It produces a few films every year. Are there many political themes in the theatres? This topic is really complicated. Or at least with all the theatre people, I mean that’s not only in Syria. There were always political issues but it was hidden. It’s something in the blood of Syrian theatres. But we have something called rakabe – which means control. When you want to make any play, they have to read it and watch the Generalprobe to give you the permission. So there are political things anybody can understand but it’s hidden, it’s like hidden messages. The most important Syrian writer, which was also worldwide famous, is Saadallah Wannous. I love him more than Shakespeare, more than Tennessee Williams. On the World-Theatre-Day, every year they choose one director or writer from the whole world to write a letter for this day. And in 1996, Saadallah Wannous was the one who wrote the letter. He wrote political plays. They are published and you can find them in every library and bookstore. Instead of a poet for example called Nizam Kabani. He was a Syrian poet and wrote a lot of poems against the regime. They were forbidden. What’s the balance between female and male actors? What about foreign actors? That’s a really stupid question (laughing). There are a lot of female actors, maybe more than male. That’s the problem, when you don’t have an idea about Syria. But it’s something normal and there’s billions of actresses. And we have a good

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drama. One of the best TV-series in the whole Arabic speaking world. Syria is a really open country, but there are few foreign actors. Here in Austria, citizens are mixed. You find someone who looks like Asian but he or she is Austrian. And you find someone who looks like African but he or she is Austrian too. We don’t really have this mix. There are a lot of tourists … there were a lot of tourists, because Damaskus was a tourist-city. And there were a lot of foreign students, but they were not citizens, because Syria doesn’t give them citizenship. Here, in Austria after six years you get the nationality. But Syria doesn’t give nationalities, even after a hundred years. I don’t know why. It’s also one of the reasons why there’s no real mix between people being originally from there, being born there, or living there for a long time. In the streets you don’t really find the same mix you find in western countries. About foreign actors: we have actors from Sudan. You can find a lot of Palestinian. You can find Egyptian playing in series, as well as Syrian actors playing in Egypt. There are Lebanese, but not really a high number. I know one actor from Sudan, who was studying in Syria and also playing in Syria. He’s good. He was well known, played al lot, but then he didn’t play anymore. That’s because of his different colour, not because of any reason of racism. That’s not a problem in Syria. But in Drama it’s complicated, because we don’t have this huge number of people who are originally from Africa living in Syria. So there are not a lot of roles to play. In the end, he wasn’t playing anything, because there were no roles for him to fit into. Is language a problem for foreign actors? No, it’s Arabic. Normally they change their accent to Syrian accent so they can play. But there are a few, who are playing in Palestinian accent or Lebanese accent. But more or less they all speak the Syrian accent. If you’re from Palestine it’s not hard to learn the Syrian accent. And if you’re from Lebanon, it doesn’t take a lot of time either.

About Johnny I’ve been born in a car on 15th August 1991, on Mary-Birthday (Anm.: Assumption of Mary). It was early in the morning, in the night from 14th to 15th August. My parents lived in Damascus, but they went to Marra to visit my aunt. It’s a place far away from the city center, you need 45 minutes to get there. That’s why they were sleeping there. At four in the morning, I decided to come. There’s no hospital in Marra, so I was more or less born in the car, on the way to the next hospital.

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Abb. 17: Johnny Mhanna.

What was your first experience with theatre? I went the first time when I was eight years old. My aunt took me to a theatre called Al-qabanni. It’s a classical theatre, a stage made of wood. There was a special smell, the smell of this really old wood, which is more or less in every theatre in Damascus. I associated this scent with theatre for a long time. When did your acting career start? It started when I was 16, when I was in high school. But it started in TV actually, not in the theatre. My love for theatre came later on. If you tell me right now that I would play theatre for the rest of my life, I would be happy. Because theatre is enough for me, I love it. But first when I wanted to become an actor, it was more into cinema and TV. It changed later, in the second part of 2008 when I started to study theatre at an university theatre club in Damascus. Did you study? At that time, I studied French literature in university for four years. I wasn’t passing the first year, because I wasn’t really studying. French was hard for me

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and I was working a lot. I wasn’t interested enough. I forgot everything I learned in these years till now. At Syrian universities, you can do the first year only twice. The second year, you can do it one hundred times, as much as you need, because they know you’re seriously in university. The story is: In Syria we have a military service. When you are 18, you have to go when you’re not at the university. If you are studying, you get papers and your service will be pushed for one more year. So in 2012 I had no more possibilities to push my service. My university was a bit far away from Damascus and I was traveling by bus. One day, I was reading Tschechow and next to me sat a guy, Sakher, who was in this theatre workshop. When he saw the book, he started talking to me and told me about the workshop. It was part of the university programme. Ziad Saed, a really old famous Syrian actor was teacher in this club. But the workshop had already started two months ago. I went there and asked if I could join, but Ziad Saed said: “No, you’re late, maybe next year.” The second day I went there with my sportswear and I jumped over to the theatre and joined the group. I knew nobody, except from Sakher. Everybody was waiting that he would say : “What are you doing here?” He said nothing and I worked the whole day with his students. I continued the next six months and I was one of the people who continued till the end of the project. He was my first teacher. Before him I searched a lot, I read Stanislawski and a lot about acting history. But he was the first person as like “you’re on stage and I’m the director.” Until now there are things he has taught me that I cannot forget. I really liked him, because he helped me a lot. I really loved what he did! It’s like the first love. Tell us about your acting career in Syria! In Damascus I played two plays and four theatre plays for kids and teenagers. One of them was in Damascus and one in Tartous, that’s seven hours away from Damascus. It was a theatre called Saadallah Wannous, after the famous Syrian writer I told you about. I played in the city centre once. It was a new stage called Dummar cultural complex. It was a beautiful stage, it was newly built and in the city centre. But it’s not one of the big houses. And we played the same play in smaller houses but also in the city centre. Did you play in an ensemble? There are no ensembles in Syria. Also in Lebanon there’s nothing called ensemble. The directors choose any actors they want. I came to Austria and learned about ensembles. In the beginning I hated it, because the first thing is: You have to play in plays you don’t like. The second thing: The same audience is coming to every play. If I would be now in the ensemble of any theatre and you came today

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and see me playing a role. And then you came after a week and see me playing another role. And you came a third time … Because when you come to the theatre and you don’t know me, you believe my role. But when you see me in four or five characters you can’t believe me anymore. That’s why I don’t like ensembles. But it’s good because the actors have a profession, earn money. Is there one special play you remember? In 2010, while I was in Dar al funon I got an offer. It was my first play. I was still in the theatre workshop but I decided to play anyway. That’s not common, because you cannot manage both together. The whole play, which was called Tawasol was about the main character named Rida. He was about 20 years old, but his mind was like a seven-year-old child. I went three times to Judy – an organization where people have the same disease. The beautiful thing I remember about this place was that for the premiere some of the students and all of the teachers came to watch this play. So when I was playing on stage, suddenly a girl who was teaching in this school, shouted out loud, “Mustafa!” We continued playing as if nothing happened. After the play she came to me and said that I was like Mustafa. Mustafa is a student in this school, who has the same disease. I have never seen him, I didn’t know him. But she saw Mustafa in me. I mean this few words are more important than a big article of opinions or critics for me. One actor I learned a lot from was Othman Jebril. I played two plays with him: Tawasol and Al sabaa w nos, both in 2011. Unfortunately, he died. He was great, he was one of the most talented people I’ve ever seen. He was with one leg, the other leg was an artificial leg. He had diabetes.

Abb. 1: Johnny with Othman Jebril in “Tawasol”.

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Abb. 2: Organon group playing “Tawasol”.

Abb. 3: “Tawasol”.

Another play I remember is Sadah, which means “one echo”. It was in Beirut, Lebanon. The two female directors of the play, Sally Irany and Aya Itami, were

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Lebanese. They wanted me to play in Syrian accent, because the script was written in Syrian dialect, not in high Arabic. Lebanese and Syrian dialects are the closest. There’s nothing you cannot understand. The beautiful thing is that the writer of the play is a famous Syrian actor, Abedalmenam Amayrie. It’s a crazy script but it’s so beautiful. It’s a story about a painter, his wife and a painting. At this time, he has no job and is not earning any money. He didn’t get out of his home for four months, because he’s got nothing to do, except painting and sleeping. The painting shows his wife when she was 20 and just married to him. Now she’s ten years older and she’s different. In his imagination, the woman in the painting becomes real. He is starting to live with this painting. That’s why the painting on the wall was played by a real girl. For his wife he is lost, he’s not with her. She thinks that he’s cheating on her because he doesn’t give her any emotions. While he’s giving all his emotions to her, but to here younger appearance. In the end the both of them are old. She is dying while he is telling her the story of the first time when he met his love, the real wife. But the picture stays a picture. At the end, the painted woman disappears in her cadre. It’s just a painting.

Abb. 4: “Sadah” in Beirut, 2013.

Abb. 5: “Sadah”.

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Abb. 6: “Sadah”.

Abb. 7: “Sadah”.

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Austria via Lebanon Do you want to talk about Lebanon? Lebanon … Took part of my heart. Beirut took part of my life. I mean … living there. It was the first time I left my parents’ house. The first time I left my country. These three years and a half in Lebanon made me who I am right now. Was there one special day or one special experience when you decided to go? I left four months before I had to join the military service. So they won’t stop me on the border. And there were no problems, I left legally. I was still a student but I couldn’t push the military service anymore. I should have joined it on 15th April 2013, but I left two days before Christmas 2012. On 23rd December 2012 I left to Lebanon, exactly! I have family there. I have a cousin, who is married to a Lebanese. And my grandmother, the mother of my mother, is also Lebanese so all my mothers cousins are Lebanese as well. I lived with them for three months. Then I went to a shared apartment. How did you live there? I worked at McDonald’s for nine months, but I was missing a lot of working hours, because I was acting a lot. I had shootings and rehearsals, that’s why I left. Then I found this job in Pro’s Caf8, where I worked for one and a half year. There I could tell them day by day, if I could come the next day and it was okay. It wasn’t really much money but it was okay. Were you also shooting movies in Lebanon? Yes, I played in two official feature films, cinema films and I was playing in some short films. And I played around eight theatre plays in Lebanon and also in one play for children. Two plays were in Gulbenkian Theatre. The stage in this theatre was really beautiful, it was a half circle. The audience was sitting around the stage. I loved this place. It was so cosy. Beirut or Lebanon was different to Syria, because I had the big chance to try everything to pursue my acting career – it’s not always easy for Syrians there.

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Abb. 8: Johnny’s first play in Lebanon at the Gulbenkian Theater.

Did you need a Visa to live in Lebanon at that time? It’s not a Visa, it’s like staying-papers. I had to renew them every six months. You go to the border with your passport or ID, Ausweis, and they give you a stamp for another six months. Then they changed it and it became more or less impossible. The national airport in Damascus was closed for some months because of the war. So everybody, who was fleeing in and out of Syria was using Beirut International Airport, because it was the closest. From then on, you had to have a plane ticket or an hotel reservation to get a Visa. So if you had an hotel reservation for two days, you could stay for two days only. And if you wanted to go there for six months, you needed a Visa and a Lebanese sponsor, who signed papers that he’s responsible for you. There are many conditions and rules for this sponsor : not every Lebanese can be your sponsor. And it was the same for people who already lived there, like me. Until then, I wasn’t signed there, I was not listed as a refugee. Because if you put yourself on the list, you get papers from the UN that allow you to stay for another six months, but you are not allowed to work. And if they catch you at work, you pay three million Lebanese pound. I decided to sign because I had no other choice. First I went to the UN and assigned myself as a refugee and then I went to this place where I had to renew my papers. I remember this day. They made a line only for people who already had the UN papers. There was a Syrian guy in front of me. He signed the same paper, that he was not working. And the officer asked him: “You really don’t work?” – “No I really don’t work.” – “But how do you live?” Because in Lebanon it’s not

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like here, you don’t get anything, not even half a cent. Nothing. So he told him: “My brother gives me money.” It was obvious that he’s lying. And the officer knew it and I knew it and he also. But he had to. So the officer told him “Ok, go and bring me a paper that your brother is responsible of your living.” He took his paper, he left the line and he walked away. And I came and gave my papers to he officer. He looked at me and asked me “Hah! Do you work?” I said “Yes!” And he answered: “Okay, don’t tell anybody that you work!” How did you get from Lebanon to Vienna? My flight to Turkey was on 11th August. From there on: Zu Fuß. It’s more or less the same story for everybody. We took the rubber boat, palm, it has multi names, with a Schlepper, a smuggler from Turkey to Greece and then we went from Greece to Macedonia, Serbia. Between walking, buses and cars … No trains! Because we had no place in the trains. The smuggler forced us to leave the car next to the airport in Vienna, which is 20 km from the city centre. Then he drove off, we walked a few meters and we found policemen waiting for us. They took us to a police station, where we slept for one night. The next day, my cousin and I went to my uncle, who lives here in Vienna since 40 years. He told us that we should wait for our transfer in Traiskirchen, because it’s better than making a private address. If you make a private address it takes longer. So after two days, we went to Traiskirchen and stayed there for another 22 days. After these 22 days, I was kicked out of Traiskirchen. Normally, you wait in Traiskirchen, then they transfer you to some place and then you wait for your Bescheid there. I should have been transferred to Slowakei, but I didn’t know that. So I missed to go there. In the system of Traiskirchen, you have to wait for four or five days to get a new transfer number. So they tried to transfer me three times and I didn’t go there three times. So we were kicked out of Traiskirchen and we had no place, except my uncle’s. There I had a private address, Meldezettel and I took it back to Traiskirchen. I stayed three months in my uncle’s place. After Christmas I moved to the new Wohnung. Since then, I’m living with Uli. I got to meet her from two places. On one side from Tina (Leisch) from Die schweigende Mehrheit sagt JA! On the other side, a friend of mine in a Syrian rock-band called khebez dawle got to know Uli and stayed with her for some days. After they had moved on, Uli heard that I was looking for a place to live and she invited me to stay with her.

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Abb. 9: “Bus Number 2” in Beirut, 2014.

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Abb. 10: “Bus Number 2”.

Abb. 11: “Bus Number 2”.

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Abb. 12: “Bus Number 2”.

Abb. 20: “Istafket” at Sun Flower Theater in Beirut, 2013.

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Abb. 21: “Istafket”.

Johnny’s life in Austria as an actor Die schweigende Mehrheit sagt JA! came to Traiskirchen and asked people if they wanted to act in their play? Yes, that’s how they took more or less the whole group. But for me it was different. My uncle’s ex wife met Natalie (Assmann) at the end of August. She told Natalie about me and that I’m in Traiskirchen. So Natalie gave Johanna Bernhard Dechant’s number, she sent it to me and I called him and told him that I heard he was doing a theatre project and that I’m an actor. So he said “Okay let’s meet.” We met in Traiskirchen the day after. I went with him to the rehearsal: It was my first rehearsal but it wasn’t the fist rehearsal for Schutzbefohlene performen Jelineks Schutzbefohlene. Tell us about your role in Schutzbefohlene performen Jelineks Schutzbefohlene? Was it your creation? (Happy) The monologue I play tells the story when I was the first time at Schutzbefohlene performen Jelineks Schutzbefohlene rehearsal. I joined them

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when they were already rehearsing. There was a really big group of people and I was standing in the middle. Suddenly, when there was this scene with the circle, Bernhard asked me if I wanted to do an Interview. And I said yes! He asked me, “What do you do in your free time?” I said “Acting”. And he said “ah, play something now!” It was my first day, I knew nobody there just my cousin. I was standing in the middle of the circle and I wasn’t prepared for this … This monologue is one of my favorites. It’s Saadallah Wannous. I played it before and it’s always in my mind because I love it. (Johnny is citing the beginning of the monologue in Arabic, then he starts laughing.) I played the monologue and Tina and Bernhard liked it a lot and said: “We want to do the interview scene and the monologue in the play.” Later, show after show and rehearsal after rehearsal, a lot of things changed. My monologue didn’t change but the questions between me and Bernhard changed. They developed – we developed the scene along the questions.

Abb. 13: Johnny and Die schweigende Mehrheit.

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Abb. 14: Johnny’s monologue as a Schutzbefohlener.

Is there a chance for foreign actors here in Austria? There’s a big chance. Here in Austria I received many offers. I have a full schedule. I never had really free-time since I arrived in Austria. Look at the ensembles: That’s exactly one reason why all the Austrian ensembles are mixed, I find this very beautiful. You can find many different looks, styles and different backgrounds in Austrian ensembles. It’s all mixed, from different European origins and colours or anything. So yeah, there’s a chance. The only problem is the language, which takes time … I’ve already tried my luck with a German play. If I have the text it’s okay but I need double time or triple time to learn it. When I have the text on my mind I can play. But to improvise is something difficult in a foreign language.

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How do you consider yourself ? What makes it special for you being part of Schutzbefohlene performen Jelineks Schutzbefohlene? Yes, at the moment everybody wants me to play a “Flüchtlingsrolle”. Schutzbefohlene performen Jelineks Schutzbefohlene is something different in a positive way. They don’t want me to play just this role. It is not only theatre, it’s family. Do you want to play “Flüchtlingsrollen”? I always ask myself: “Till when or how many years from now on will I or also other foreign actors spend time playing a ‘Flüchtling’”? Otherwise maybe I want to spend my whole life playing a “Flüchtling” … (laughing). Yeah, I want to play it, but in each play? Some people think it’s easy because it is me. I mean I lived it and I’m living it. Other people think it’s hard because I get reminded of what has happened. But I’m not reminded of it because I don’t forget … In some plays, I created another level of refugee and added new things to my role that are really far away from me, so that I could play it. I created a character with a name, with thoughts, believes and other things. Maybe I don’t believe in it. I don’t. But these are my keys. These roles are interesting for me. When you’re playing something so close to yourself, it gets to a point where it’s boring and you don’t have a character any more and you are lost. So when somebody is offering me a role as “Flüchtling”, but with a new aspect, I’m living something new. I see it as a character I’m playing. I just create a new level so that I can play this. It’s a way of acting. It’s more than feeling and remembering something personal and linking to the character. You’re using technique to play it. For example, if I have to cry in a scene, I could remember something personal that happened to me and I cry. Or if it’s easier for me, I could move my eyes in a way that I start crying. And for me personally I mean … each time I play, it has a different outcome. In some places I could remember something personal and in other characters I couldn’t, so I was playing techniques. It depends on the situation, which is closer and which is more interesting for me and for the character I’m playing. But if you’re asking me, if I use my personal memories: Yes. I think everybody uses personal memories. But if somebody wants me to play what I am, it gets to a point where it gets hard for me … You think it’s easy because it’s me, but no! It’s hard! Because I have nothing to hold on. When you have a new name, a character, a script, a story, then you have something to hold on and tell or think about. But me, I have nothing to hold on, to enjoy playing.

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Is it possible to have the same emotions when you are playing in German? When you are playing in your own language you’re so … so relieved. You know, you can control everything. I played a lot in English. I know that sometimes it’s hard, but it helps to play in a foreign language. It’s already one level of playing. Personally for me it helps. Because when you start playing a character you want to get out of yourself, you need to get out of yourself and you need to step on something that can help you creating the character. And if you have a different language you already have a first step. So it helps. It helps you to play … Was it your whole life your biggest dream to become an actor? Yes! It’s something I still had in my mind when I was thinking about leaving Lebanon. In Lebanon, I was working as an actor and I had a lot of offers. I cancelled more than four or five projects to come here. Why? Because I was inbetween a good career but a bad life, or a good life … I was getting chances as an actor in Lebanon. But it was a shit life! It was really a shit life! There was no future, because there were no papers. But without the papers, I would have stayed only with the Syrian nationality but I could not go back to Syria and I couldn’t work in Lebanon. I was thinking back and forth about having a good career and a bad life or a good life and later … By coming to Austria, my only barrier would be the language and when I passed this barrier, this will be the place where I wanted to be as an actor. This was the project in my life, in my mind … For me it was like sacrificing five years of my life. Sacrificing acting to learn a language. But I know that’s how I will have a good life – that was my choice I choose this instead of having a good career, but not a good life, not a good future. And here, if you work hard, you can have both! Yes! But even here, you don’t know till when. So … Do you see a difference between foreign actors and local ones? Is it easy for foreign actors to integrate? That’s a good question, how is it for a foreign actor to integrate if he didn’t get chances? It’s about luck or about working hard. Sometimes it’s strange being a foreign actor in any play. In Outsiders (Anm.: “Theaterperformance” by Jakub Kavin) for example I didn’t play a Flüchtling. But they all worked in German and with me they worked in English. That’s exhausting sometimes. But the group was amazing, the director was nice, so it was good. The play is about differences between people. And the theatre or the cinema is telling us since they exist: There’s no difference between you and me. We’re both human beings. Until now there are people who cannot understand this idea. And those people believe that – you

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come from Luxembourg, I’m coming from Syria – we are Ausländer. But actually they are the Ausländer, because I believe for 100 percent that Ausländer is in the minds. Not about the language, where you come from or how do you look like. I lived in a city with a million refugees. Especially in the area where I was living, it was full of Iraqis. One of my best friend was Iraqi. He came after the war in Iraq. I never asked any Iraqis “What are you doing here?” It doesn’t mean that Syrian people had no problems with Iraqi. But no Syrian ever forced any Iraqi person to leave. Maybe they had problems about money, girls or work, but it was never about origins.

Abb. 15: Johnny as Gregor Samsa in “Outsiders” in Vienna, 2015.

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Abb. 16: “Outsiders” in Vienna, 2015.

Abb. 18: “Outsiders”.

An interview with Johnny Mhanna on 31 May 2016

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Abb. 19: “Intikam” at Irwin Theater in Beirut, 2015.

Do you call yourself “refugee”? Yes, I mean that’s the situation. It’s really okay now. But if you take a look at my papers, my name is “refugee”. I have Austrian papers. I have no problem with it. Maybe because I don’t feel like a stranger. But I have no problem of hearing it or saying it. It’s not a shame to be a refugee. There’s nothing you can be sure about where you come from. If you read the history about immigrants, there are no origins. It’s a lie, it’s something new. People changed places more than billions of times from everywhere to everywhere. But nowadays we hear lots of stories about people not accepting others because of their origins. It happens here in Austria too. For example if you look at Turkish people: Lots of them were born here or live here since two generations. They are Austrians. But they are still seen as foreigners. I don’t know – the human being is not changing. We’re learning, but we’re just a few. You, her, me – are a few. We can try to change, but I don’t know if we can. But we have to try. Yes, but I’m seeing that it’s not changing. I can see it in three different countries. For example in Lebanon there’s lot of racism. Here I didn’t face racism – first. What a shock, when we were performing Schutzbefohlene performen Jelineks Schutzbefohlene at the University of Vienna and we were interrupted by rightwing extremists. So here I didn’t face racism till Audimax.

Mirjam Berger und Corinne Besenius

Das Paradox der Flüchtlingsrolle. Eine Reflexion über das Gespräch mit Johnny Mhanna

Nach dem Treffen und dem intensiven Gespräch mit Johnny hatten wir viele Gedanken, Fragen und Ideen aller Art, die sich erst nach und nach – oder noch immer nicht – gelöst haben. Über Wochen haben wir uns tiefergehend mit dem Thema beschäftigt, dadurch ist vieles klarer geworden, einiges bleibt unerklärlich. Johnny ist ein positiver, bewundernswerter und selbstloser Mensch, dessen Einstellung uns fasziniert hat. Wir sind ungefähr gleich alt, sein Leben jedoch so different zu unserem. Wir sind ganz gebannt von der Vorstellung aus unfreiwilligen Gründen ein neues Leben aufbauen zu müssen und Alltag neu zu leben. Johnny sieht sich nicht als jemanden, der hervorgehoben werden müsste. Ganz im Gegenteil, er mag nicht im Mittelpunkt stehen und hat bei unserem Gespräch mehrmals betont, dass er den gleichen Hintergrund hat, wie viele andere auch. Wir haben schnell gegenseitiges Vertrauen gefasst. Wir hatten nicht das Gefühl als würden wir ein Interview führen, sondern als würden wir mit einem guten Freund sprechen. Durch seine Erzählungen ist uns die Dimension der schwierigen Verhältnisse klarer geworden, unter denen Geflüchtete versuchen den Ansprüchen einer lautstark geforderten und oft kaum ermöglichten „Integration“ gerecht zu werden. Johnny konnte rasch wieder seinem Beruf und seiner Leidenschaft, dem Schauspielen, nachgehen und hat bereits in mehreren Inszenierungen mitgespielt, seit er in Österreich ist. Doch aufgrund von Proben und Auftritten hat er in den letzten Monaten keine Zeit gefunden, die deutsche Sprache zu erlernen. Uns erschien das sehr paradox: Die Gesellschaft erwartet von allen Migrant_innen, dass sie sich möglichst rasch und gut integrieren, sofort die Landessprache erlernen und dazugehörige Kultur und Bräuche respektieren. Auch Johnny wollte unbedingt und sofort Deutsch lernen, aber er fand keine Zeit dafür. Erst nach ungefähr acht Monaten war er zum ersten Mal nicht nonstop als Schauspieler engagiert. Zu diesem Zeitpunkt war es ihm endlich möglich, Kurse zu besuchen. Was von ihm im realen Leben gefordert wird und was er im gespielten Leben, dem Theater, als Rollen angeboten bekommt, könnte nicht un-

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Mirjam Berger und Corinne Besenius

terschiedlicher sein. Jedes einzelne Engagement, das er bis jetzt in Österreich erhalten hatte, stellte ihn vor dieselbe Aufgabe: Personen zu verkörpern, die am Rande der Gesellschaft stehen, sei es in einer „Flüchtlingsrolle“ oder als „Außenseiter“. Sobald er die Bühne verlässt, werden diese sich von der Norm unterscheidenden Verkörperungen nicht mehr mit Applaus gesegnet oder gar zelebriert. Vielmehr stößt Johnny außerhalb des Theaterrahmens, in der Realität auf Ablehnung. Die Klassifizierung „Flüchtling“, „Außenseiter“, „Randfigur“ wird im Theaterraum offensichtlich begrüßt, doch abseits der Grenzen der Kunst überwiegen die Rufe nach Anpassung an die Norm. Solange die Sprachbarriere existiert, ist nicht nur die „Integration“ auf der Sprechtheaterbühne schwierig, sondern auch die Botschaft des Theaters als kulturelle Bildungsstätte eine Herausforderung. Eine Möglichkeit von Theater als Repräsentation von transkultureller Gesellschaft zeigt das postmigrantische Theater. Doch nicht nur Johnny, sondern auch wir fragen uns in diesem Zusammenhang: Ist der Wunsch nach Postmigrantismus für uns alle utopisch? Wird Johnny die Rolle eines Geflüchteten je ablegen können wie eine Theatermaske?

Maria Stadlober

„Schutzbefohlene performen Jelineks Schutzbefohlene“. Politisch Theater machen?

Wenn zu der Verbindung zwischen Theater und Flucht/Migration reflektiert wird, geht das Thema für mich in eine komplexere Richtung: Zu der Verknüpfung von Politik und Theater, hin zu Theater, dass sich mit politischen Fragen auseinandersetzt und selbst politisch agiert – in diesem konkreten und weltpolitischen Fokus der Lehrveranstaltung Flucht und Migration. Jan Deck, Politikwissenschaftler und freischaffender Regisseur, hat zusammen mit Angelika Sieburg, selbst Theatermacherin, zu diesem Stoff den Sammelband Politisch Theater machen. Neue Artikulationsformen des Politischen in den darstellenden Künsten herausgegeben.1 In seiner Einleitung postuliert er : „Dem politischen Theater wird eine andere Strategie entgegengesetzt: Politisch Theater machen“.2 Welche künstlerischen Strategien impliziert diese politische Theaterarbeit? Und inwiefern kann das Stück des Künstlerkollektivs Die schweigende Mehrheit sagt JA „Schutzbefohlene performen Jelineks Schutzbefohlene“, als politische Theaterarbeit gesehen werden? Was zeichnet dieses Stück aus, inwiefern wird hier die Möglichkeit für „andere Formen von Gemeinschaft, neue Sichtweisen und alternative Praktiken“3 erprobt? Deck nennt im Bezug darauf vier Kategorien: Recherchen, Kollaborationen/Kollektive, Performer_in/Zuschauer_in und Raum/Zeit. Die Schweigende Mehrheit arbeitete im Kollektiv mit Geflüchteten, die in Traiskirchen wohnen oder wohnten. Der Text von Elfriede Jelinek Die Schutzbefohlenen wurde für dieses Stück verwendet. Das Künstlerkollektiv selbst: „Wir arbeiten mit Sätzen aus Jelineks Text und Sätzen, die in den Proben entstehen. Und mit Sätzen, die in den Proben als Reaktion auf Jelineks Sätze entstehen“.4 In 1 Jan Deck, „Politisch Theater machen“, in: Jan Deck / Angelika Sieburg, Politisch Theater machen. Neue Artikulationsformen des Politischen in den darstellenden Künsten, Bielefeld 2011, S. 11–28. 2 Ebd., S. 14. 3 Ebd. 4 Sarah Nägele, „385 Tränen, 596 Lächeln“, in: The Gap, 16. 10. 2015, http://www.thegap.at/ creativestories/artikel/385-traenen-596-laecheln/ [15. 07. 2016].

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Maria Stadlober

Bezug auf Performer_in/Zuschauer_in sieht sich „Schutzbefohlene performen Jelineks Schutzbefohlene“ als „theatrales Wohnraumvermittlungsprojekt“,5 und durch diesen Ansatz verändern sie auch die Rollen der Zuschauer_innen: Nach jeder Aufführung gibt es die Möglichkeit für eine Diskussion und einen Dialog mit den Geflüchteten sowie die Bitte an die Zuschauer_innen, auch den eigenen Wohnraum als Unterkunftsmöglichkeit zu bedenken. Somit wird das Stück heraus aus einer fiktiven in eine reale Welt gehoben, der Bezug zur Gegenwart, hier und jetzt im Theatersaal, hergestellt und die Zuschauer_innen in eine Handlungs- und Machtposition gebracht, in gewissem Sinne zur Selbstermächtigung aufgefordert. Auch der Raum der Aufführungen spielt eine große Rolle, Deck beschreibt hierzu: In der Unterwanderung und Umwertung von vorgeschriebenen Verhaltensweisen, in der Schaffung temporärer autonomer Zonen, in der Produktion von Gegenbildern liegt die Möglichkeit, die Logik herrschender Regeln zu stören und praktisch auszusetzen. Ein solches Theater folgt der Strategie der Unterbrechung. Und verweist auf andere Möglichkeiten des Sozialen.6

„Schutzbefohlene performen Jelineks Schutzbefohlene“ wurde an einigen herkömmlichen Theaterorten aufgeführt (Dschungel Wien, Werk X, Schauspielhaus), übertritt jedoch auch Grenzen und findet bewusst in „theaterfernen“ Räumen statt: zu nennen sind die Brunnenpassage in Wien, Das Werk (eigentlich eher ein Raum für Konzerte und Partys), der Kunst-und Kulturraum mo.[ (im Bereich bildender Kunst und Musik) und schließlich das Audimax der Uni Wien, ebenso kein traditioneller Raum für Theateraufführungen. Zudem wurde im Dschungel Wien bei der Aufführung, die ich besuchen konnte,7 die Situation der Geflüchteten selbst thematisiert: Es wurde mit Bedauern erklärt, dass die Diskussion leider nicht ausgeweitet werden könne, da die Darsteller_Innen um zehn Uhr abends spätestens zurück in Traiskirchen sein müssten. Im Sinne Decks findet hier eine Grenzüberschreitung statt und genau diese Logik der herrschenden Regeln, wie er es nennt, wird gebrochen oder zumindest bloßgestellt. Die Zeit wird ebenso thematisiert: Die Zeit der meisten Darsteller_innen, eben jener, die noch in Traiskirchen wohnen, ist eine andere als „unsere“, die der Zuschauer_innen, sie durchläuft eine andere Form der Logik und folgt anderen Gesetzen. Das Theater thematisiert also sich und seine Produktions- und Herstellungsbedingungen und durch die Arbeit mit Geflüchteten natürlich auch deren Lebensbedingungen. Es sind keine großen politischen Ideen, inhaltliche 5 Ebd. 6 Deck, „Politisch Theater machen“, S. 22. 7 Die Schweigende Mehrheit sagt JA, „Schutzbefohlene performen Jelineks Schutzbefohlene“, Dschungel Wien, 18. 10. 2015.

Politisch Theater machen?

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Fragen oder Konzepte, die hier aufgeworfen werden. Es ist der Rahmen des Theater-Machens an sich, der hinterfragt wird, der gemeinsame Ort, der geteilt wird oder nicht, die Zeit, die anders verläuft, die dieses Stück zu einer politischen Theaterarbeit machen. Das führt in gewisser Weise dazu, dass größere politische Themen gedacht werden – Grenzen, Herkunft, Kommunikation, Flucht – jedoch nicht auf einer illustrativen, sondern auf einer realen Ebene. Das eigentlich Politische an diesem Stück findet für mich nach der Aufführung selbst statt und hat bereits bei der ersten Probe mit den Darstellenden stattgefunden: im Dialog, in der Aufforderung an die Zuschauer_innen, in der Kommunikation mit dem Kollektiv, in der Möglichkeit zur Selbstermächtigung, im Raum, der Personen zur Verfügung gestellt wurde, die diesen Raum politisch-strukturell bedingt selbst nicht einnehmen können. Wie viel verändert dieses Stück? Inwiefern stellt Die schweigende Mehrheit selbst nicht Geflüchtete aus, benutzt sie, denkt strategisch-wirtschaftlich, um letztlich wieder sozialer (durch größere finanzielle Mittel) lukrieren zu können? „Wir haben die Vorzeigeflüchtlinge der sich selbst feiernden Theaterwelt vorgeführt“,8 schreibt das Kollektiv selbst in einem Statement und macht damit die eigenen Verstrickungen und Hierarchien klar, die in dieser politischen Theaterarbeit inbegriffen sind. Es ist nicht leicht, innerhalb politisch konstruierter Hierarchien und Strukturen zu agieren, selbst wenn die besten Absichten und Pläne dahinterstehen. Aus eigener Erfahrung im Flüchtlingsbereich kenne ich die Anforderungen dieser Arbeit und auch die Problematiken, die die Öffentlichkeit schnell darauf projiziert: Um es mit Slavoj Zˇizˇek zu sagen, „the cause of problems which are immanent to today’s global capitalism […] projected onto an external intruder“9 – es kommt zu Anfeindungen jeglicher Art. Oder aber, eine größere Falle, die gerade bei der Arbeit in diesem Bereich oft passiert: „the humanitarian idealization of refugees“.10 Zˇizˇek kritisiert hier eine Art von Romantisierung des „Anderen“ ohne Raum für Dialog, Probleme, letztlich ohne Möglichkeit für eine echte Begegnung, soweit diese ebenso Konflikte nach sich zieht. Auch deshalb ist das oben erwähnte Statement der schweigenden Mehrheit so mutig, da sich das Kollektiv traut, auch die Komplexität und Schwierigkeit des eigenen Proben- und Arbeitsprozesses darzustellen: Für uns sind die Schutzsuchenden, mit denen wir zusammenarbeiten, zu KollegInnen geworden, manche zu FreundInnen, manche zu Nervensägen, wie in fast jeder Theaterproduktion […]. Manchmal ist uns die Arbeit an Stück und Text wichtiger als die 8 Vgl. KünstlerInnenkollektiv Die Schweigende Mehrheit, „Organspende-Nestroy“, in: Zentralorgan für Kulturpolitik. Die Zeitschrift der IG Kultur Österreich 2/2015, S. 8–12, hier S. 11. 9 Slavoj Zˇizˇek, „What our fear of refugees says about Europe“, in: New Statesman 29. 02. 2016, http://www.newstatesman.com/politics/uk/2016/02/slavoj-zizek-what-our-fear-refugeessays-about-europe [15. 07. 2016]. 10 Ebd.

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Maria Stadlober

Suche nach den verlorengegangen Wünschen […]. Wir verstehen uns schneller mit den weniger religiösen Kollegen. Wir beäugen die Strenggläubigen mit Argwohn, wir EinwohnerInnen dieses Landes der omnipräsenten Kreuze.11

„Schutzbefohlene performen Jelineks Schutzbefohlene“ ist auf jeden Fall im Sinne Decks als eine politische Theaterarbeit zu verstehen: „Hier werden Konventionen und Regelwerke gebrochen, und zwar Vereinbarungen darüber, wer agiert und wer zuschaut und darüber, dass es sich um einen geschützten, artifiziellen Raum handelt“.12 Genau dieser geschützte Raum wird durch Diskussionen mit den Zuschauer_innen nach der Aufführung unterbrochen. Das Interessante ist hier, dass sich die Zuschauenden (am Ende) nicht wie sonst im postdramatischen Theater als solche fühlen und über diese Position reflektieren, sondern letztlich dazu aufgefordert werden, ihr agitatives Potenzial (durch die Wohnraumvermittlung) zu nutzen. Sein Rahmen macht „Schutzbefohlene performen Jelineks Schutzbefohlene“ zu einem hochpolitischen Stück: Nicht nur der Probenprozess wird dargestellt, auch die Lorbeeren (Nestroy Preis) werden diskutiert, und das Stück reicht sowohl über den Abend als auch über die Position als Zuschauer_in weit hinaus. Es macht „den künstlerischen Prozess selbst zum politischen Akt“.13 Und dieser künstlerische Prozess findet permanent statt, in der Unterstützung des Kollektivs, die sie „offstage“ für die Geflüchteten leisten und in der Interaktion mit dem Publikum im Rahmen der Aufführung. Meiner Meinung nach sollte Decks Definition um einen weiteren Aspekt verstärkt werden: Politische Theaterarbeit bedeutet, Theater zu machen, das weit über seine Grenzen hinaus wirkt.

11 Die Schweigende Mehrheit, „Organspende-Nestroy“ 2015, S. 9f. 12 Deck, „Politisch Theater machen“, S. 26. 13 Ebd., S. 28.

Anja Kundrat

„An euch klebt das Blut von Bataclan und Brüssel!“ Geflüchtete trotzen dem Hass von Rechts*

Anja Kundrat studiert an der Universität Wien Theater-, Film- und Medienwissenschaft. Im Rahmen der Lehrveranstaltung „Flucht, Migration, Theater. Über Grenzen“ wurde über die Zusammenhänge von Theater und Politik im Kontext der Flüchtlingsdebatte eine Publikation von Studierenden, Lehrenden und Außeruniversitären verfasst. Die Aufführung Schutzbefohlene spielen Jelineks Schutzbefohlene lockte viele Studierende aus der Lehrveranstaltung an, die sich mit Theater und Flucht auseinandersetzen und führte zu einem regen Austausch.

Theater diente schon früh als politischer Austragungsort. Der griechische Urbegriff th8atron bezeichnete in der Antike einen „Schauplatz“, einen Ort, an dem eine Kommunikation zwischen Darstellenden und dem Publikum stattfand. Die Theaterwissenschaft setzt sich jeher mit Aufführungskultur im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Räumen auseinander. Ein eben solcher Austragungsort von Meinungsverschiedenheiten kann das Parlament, kann das Theater, kann aber auch die Straße sein. So fügt sich auch das Audimax in diese Reihe von politisierenden Räumen. Es bot dem RefugeeTheaterkollektiv Die schweigende Mehrheit am 14. 04. 2016 eine Plattform zur Inszenierung von ihres, mit dem Nestroy-Preis ausgezeichneten, Theaterstücks Die Schutzbefohlenen performen Jelineks Schutzbefohlene. Die Inszenierung, die durch die ÖH im prominentesten Saal der Uni Wien aufführbar gemacht werden konnte, setzt ein eindeutiges Zeichen für Solidarität mit Geflüchteten und gegen Rassismus. Im Saal waren 700 Menschen, darunter Geflüchtete, Studierende, Lehrende und Theaterinteressierte. Das Stück lehnt sich an das Werk Die Schutzbefohlenen von Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek an. Dieses hielt 2013 in zahlreiche staatliche Schauspielhäuser Österreichs Einzug. Bereits in den ’70er-Jahren trat die österreichische Schriftstellerin politisch für den Kulturbereich ein und musste dafür mit per* Dieser Beitrag wurde unter dem Titel „Wie viel Politik steckt in Theater?“ am 25. 05. 2016 unter dem Blog der Universität Wien veröffentlicht (http://blog.univie.ac.at/wie-viel-politiksteckt-in-theater/).

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Anja Kundrat

Abb. 1: Das Kollektiv die schweigende Mehrheit im Audimax der Universität Wien.

sönlichen Angriffen durch FPÖ-Plakate zahlen. Durch die gewaltvolle Störung des Audimax zeigt sich, dass sie auch Jahre später noch den Kern gesellschaftlicher Problematiken findet und dabei auf Widerstand von rechtsaußen trifft. Wie politisch die Einladung des Theaterkollektivs an die Universität war, bewiesen auf tragische Weise Rechtsextreme: Mitglieder der Identitären-Bewegung stürmten die Aufführung nach 20 Minuten.

„Gehört das zum Stück?“ Eindrücke der Studierenden Nach einer Viertelstunde fiel der Satz, der meine Gedanken abschweifen ließ: „Wo werden wir unsere eigenen Knochen begraben?“ Als kurz danach die Tür aufgerissen wurde, habe ich wie viele im ersten Moment nicht realisiert, was gerade passiert. „Das gehört jetzt dazu, oder?“ Erst als einige Menschen aus dem Saal reagierten, wurde auch ich wachgerüttelt und schloss mich den Sprechchören an. In mir brodelte eine Mischung aus Wut, Aggression und anderen negativen Gefühlen. Dann Stille, Rekapitulieren … Kollektiv wurde entschlossen: Es wird weitergespielt. – Corinne Besenius Eine ältere Darstellerin erzählte mir nach der Vorstellung: „Als die Gruppe die Bühne stürmte und Bernhard uns sagte, wir sollten nach hinten in die Garderobe gehen, dachte ich, wir würden dort bei lebendigem Leib verbrannt werden.“ Sie hatte in Syrien von den Schrecken der Shoa gehört. Sie war sehr mutig und ist danach wieder auf die Bühne gegangen. – Jasmin Falk

Geflüchtete trotzen dem Hass von Rechts

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Ich hatte das Gefühl, niemand wollte es anfänglich so recht glauben, aber spätestens nach der Präsentation des Banners mit der Aufschrift: „Heuchler! Unser Widerstand gegen eure Dekadenz“ wird klar, das war kein Schauspiel mehr. Sieben Minuten lang dauert die Unterbrechung durch die Gruppierung der Identitären, welche mittels Flyer-Verteilung und dem Verspritzen von Kunstblut die Vorführung des friedlichen Theaterensembles störten. Die Geflüchteten, welche in Zusammenarbeit mit dem Regisseur Bernhard Dechant das Theaterstück inszenierten, wurden von der Bühne getrieben und zahlreiche Publikumsmitglieder angeschrien, gestoßen und geschlagen.

Abb. 2: Regisseur Bernhard Dechant.

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Anja Kundrat

Wer sind die Identitären? Die rechtsextreme Organisation zeichnet sich durch Islam- und Fremdenfeindlichkeit und die Ablehnung von multikulturellen Gesellschaften aus. Sie ist vom Verfassungsschutz als „rassistisch/nationalistisch“ eingestuft worden. Ursprünglich aus Frankreich kommend, gründete sich dort 2002 die Gruppe Le Bloc Identitaire. Im Jahr 2012 etablierten sich die Aktivist_innen „Die Identitären“ in Deutschland und fanden fast zeitgleich in Wien einen Ableger. Zehn Wiener Studierende gründeten ebenfalls in 2012 die Gruppe W. I. R: „Wiener Identitäre Richtung“. Seit damals hat sich viel getan und es wird besonders auf die mediale Verbreitung von Inhalten Wert gelegt. Es wird nicht nur im Audimax der Uni Wien „ästhetisch interveniert“, sondern mit der Zeit gegangen. Im Gegensatz zum „klassischen“ Neonazismus liegt bei den Identitären eine Modernisierungstaktik vor: Die Ibster – wie sie Stefanie Sargnagel liebevoll bezeichnet – verteilen heute Flyer, Stören bei Lesungen, haben Social-Media-Accounts und drehen einschlägige YouTube-Videos.

„We are strong, let’s go!“ Wir sind aus unserem Land geflüchtet und unser Land ist zerstört nur wegen solcher radikaler Leute, die den anderen nicht akzeptieren. Sie akzeptieren andere Kulturen oder Religionen nicht. Ich habe hier in Österreich noch nicht solch rassistische Ereignisse erlebt oder solche Leute getroffen. Bis gestern. Und das war mein erster Schock, dass es in Wien solchen Rassismus gibt. – Johnny Mhanna, Neu-Wiener, davor Schauspieler in Damaskus und Beirut.1

Nachdem die Identitären mit lauten Rufen der Zuschauer_innen („Nazis raus!“) und Körpereinsatz vertrieben wurden, traten die Schauspieler_innen nur wenige Minuten nach der kurzen Unterbrechung unbeirrt wieder auf die Bühne und erhielten tobenden Applaus. Die Stimmung war ambivalent aufgeladen: Zum einen die begeisterte Menge, die die tapferen Darsteller_innen für ihr Wiederauftreten bejubelte, zum anderen die Bühnenakteure selbst, welche teilweise noch mit Tränen in den Augen auf der Bühne standen. Doch die Schauspieler_innen ließen sich nicht so leicht vertreiben und spielten ihr Stück nach der kurzen Unterbrechung zu Ende.

1 Die schweigende Mehrheit sagt JA!, „Wo werden wir unsere eigenen Knochen vergraben können?“, 16. 04. 2016, http://www.schweigendemehrheit.at/wo-werden-wir-unsere-eigenenknochen-vergraben-koennen/ [21. 07. 2016].

Geflüchtete trotzen dem Hass von Rechts

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Abb. 3: Einige Schauspieler der schweigenden Mehrheit.

Die schweigende Mehrheit sagt JA! Doch schenken wir der Störaktion durch die Identitären nicht zu viel Beachtung. Das Ensemble der schweigenden Mehrheit hat an diesem Abend gezeigt, wie stark das Theater auch heute noch Aufmerksamkeit auf politische Debatten richten kann. Die Künstler_innen setzen sich seit Juli 2015 für Geflüchtete ein und suchen mithilfe von performativen Akten einen Weg zu finden, um eine humane Flüchtlingshilfe zu ermöglichen. Sie haben bereits im Juli 2015 eine Nonstop-Mahnwache vor der Oper und im August „Erstaufnahmestellen für Flüchtlinge“ in Wiener Fußgängerzonen inszeniert. Es soll vor allem auf die

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Anja Kundrat

politische Situation in Österreich aufmerksam gemacht werden. Wer ebenfalls helfen möchte, findet hier einige Links zum Thema Flüchtlingshilfe. Es werden noch zahlreiche Unterkunftsplätze gesucht, aber auch einfache Sachspenden in Form von Lehrmaterialien oder Gebrauchsgegenständen werden benötigt, um einen relativ normalen Lebensalltag zu ermöglichen. Lassen wir nicht zu, dass friedsame Versammlungen gestört, Kinder und Geflüchtete verletzt und beleidigt werden! Tun wir etwas und helfen gemeinsam!2 „Die Schweigende Mehrheit sagt JA! JA zur Solidarität mit Menschen in Not! JA zu einem Dach überm Kopf für alle! JA zu einer humanen Flüchtlingspolitik!“3

Fazit Theater und Politik sind zwei eng miteinander verbundene Instanzen, welche jeher im Kampf um Einfluss und Aufmerksamkeit ringen. Hautnah zu erfahren was es bedeutet, wenn zwei konträre Positionen aufeinandertreffen, hat mir gezeigt wie kritisch die gegenwärtige politische Situation in Österreich ist und wie Situationen performativ verarbeitet werden können. Die schweigende Mehrheit und das Publikum haben an diesem Tag gezeigt, dass sie stark genug sind, um den radikalen Rechten zu trotzen ohne sich aus dem Konzept bringen zu lassen. Von meiner Seite gibt es dafür großen Applaus!4

2 Die Schweigende Mehrheit sagt JA!, „Über uns“, http://www.schweigendemehrheit.at/ueberuns/ [21. 07. 2016]. 3 Ebd. 4 Links: http://no-racism.net/article/4788; https://www.thankyoumoreplease.at/; https://deutsch kursfuertraiskirchen.wordpress.com/; http://www.schweigendemehrheit.at/wir-brauchen/; http:// refugeeswelcome.at/.

Barbara Schneider

Grenzüberschreitendes Potenzial von Theater bei Schlingensief und der schweigenden Mehrheit

Im Theater liegt das Potenzial eines geschützten und utopischen Raums. In diesem können Ängste und Vorurteile abgebaut und eine ideale, auf kultureller Vielseitigkeit beruhende Gesellschaft dargestellt werden. Ebenso birgt Theater das Potenzial, für alle zugänglich zu sein und eine öffentliche Sicht zu reflektieren, diese zu verändern und nach außen zu wirken. Eine diskriminierende Haltung gegenüber fremden Kulturen und die vermeintliche Bedrohung der eigenen Kultur kann diskursiv verhandelt werden. Mit welchen Mitteln aber kann Theater Menschen unterschiedlicher Herkunft und Interessen zusammenbringen? Wie können neue Publikumsgruppen erreicht werden? Und wie können dadurch Denk- und Verhaltensmuster aufgebrochen und alternative Denkweisen geschaffen werden? Innerhalb der interkulturellen Philosophie wird davon ausgegangen, dass Menschen Kulturen entwickelt haben, um Probleme des Lebens bewältigen zu können. Nicht als Lösung, sondern als eine Art Hilfe, um in der Gesellschaft zurechtzukommen. Laut Raul Fornet-Betancourt setzt die Entwicklung von Kultur „Erinnerung und gemeinsame Erfahrungen voraus“,1 worauf wiederum Tradition aufbaut. Die Entwicklung endet aber nicht an diesem Punkt. FornetBetancourt geht auch immer von einer „Pluralität“ und einem „Konflikt“ von Traditionen innerhalb einer einzelnen Kultur aus, die wiederum zu einer Weiterentwicklung dieser beitragen. Er betont, dass Kultur ja nicht vererbt, sondern vermittelt wird und diese Vermittlung ebenso zur Entwicklung beiträgt. Kultur ist also kein homogenes, sondern ein heterogenes Gebilde, das selbst innerhalb der eigenen Kultur und Tradition Unterschiede aufweist. Die Suche nach Lösungen für die vor allem in den Medien so oft angeprangerte „Flüchtlingskrise“ dreht sich in der Politik und der Gesellschaft auch immer wieder um die Frage nach der Möglichkeit zur Integration von anderen Kulturen in eine „bestehende“ Kultur. Es geht somit um die Schwierigkeit mit1 Raul Fornet-Betancourt, Beitra¨ ge zur interkulturellen Zeitdiagnose (Concordia Reihe Monographien Bd. 52), Mainz 2010, S. 12f.

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einander auszukommen, obwohl man einander fremd ist. Anstatt von einem sich ständig wandelnden Prozess auszugehen, wird Kultur oft als feststehend und unveränderbar begriffen. Dabei ist die Vermittlung des Verständnisses von Kultur als Prozess wichtig für die Loslösung von diskriminierenden und ausgrenzenden Denkweisen. Mit der Forderung nach „Anpassung“ bzw. Integration von Zugewanderten geht oft eine Angst vor dem Fremden einher, die vor allem dann gefährlich wird, wenn sie politisch instrumentalisiert wird. Die eigene, gemeinsame kulturelle Identität wird über das Fremde bestätigt. Auf die Betonung der Unterschiede folgt ein herablassendes Verhalten gegenüber den „anderen“. Die Sorge um den Untergang der eigenen Kultur und das Ziel ihrer „Bewahrung“ spielen dabei eine besonders große Rolle. Diese Denkweisen funktionieren nur in der bereits erwähnten Betrachtung von Kultur als ein sich nicht veränderbarer Zustand. Ein Grund dafür, das Fremde abzulehnen, ist neben der Bestätigung der eigenen Identität wohl auch die Angst vor dem Unbekannten – ist etwas oder jemand fremd, fällt es schwerer, es oder ihn/sie zu verstehen und zu akzeptieren. Die Betonung der Unterschiede gewinnt meist Überhand und diese werden aus der starren Sicht der eigenen Perspektive, vor dem eigenen kulturellen Hintergrund und mit den eigenen kulturellen Kategorien, bewertet. Die Auffassung von Integration als einseitiger Prozess, bei dem die Aufgaben der Gesellschaft des Aufnahmelandes zu wenig bis gar nicht miteinbezogen werden und die Anpassung an die gegebenen Verhältnisse einzig und allein von den Zugewanderten erwartet wird, trägt maßgeblich zu Diskriminierung und Abwertung anderer Kulturen bei. Diesen eingeschriebenen Denkmustern muss eine alternative Sichtweise geboten werden und hier können Kunst und Theater ansetzen: Nicolas Bourriaud schreibt über eine „relationale Ästhetik“, in der es um die Macht der Kunst geht, soziale Beziehungen und Gemeinschaften herzustellen. Kunst soll demnach als Vermittlerin zwischen den Rezipient_innen agieren. Der Gedanke, das Publikum zu sozialen Akteur_innen zu machen ist vielversprechend. Geht es nach Bourriaud sollte all dies aber nur im Rahmen der institutionellen Kunsträume geschehen und gerade darin liegt ein Problem. Juliane Rebentisch kritisiert an Bourriauds Theorie, dass in diesen Kunst-Institutionen die Verbindung von Kunst und Leben nicht zustande kommen kann, denn es wird eine soziale Differenz hergestellt, zwischen den Menschen, die das Privileg haben, Kunst zu konsumieren und denen, die dieses nicht haben.2 Welche Menschen haben überhaupt dieses „Privileg“ und warum? Wie kann man unterschiedliche Publikumsgruppen ins Theater bringen und zum Austausch anregen? Welche Rolle 2 Vgl. Juliane Rebentisch, Theorien der Gegenwartskunst zur Einführung, Hamburg 2013, S. 60f.

Grenzüberschreitendes Potenzial von Theater

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spielt dabei der aus Bühne und Publikumsraum bestehende, konventionelle Theaterraum? Laut Christopher Balme ist der verdunkelte Publikumsraum des Theaters durch die Abspaltung des Publikums aus dem öffentlichen Raum entstanden. Das Theater wurde damit von einem öffentlichen zu einem privaten Ort und für einen breiten Teil der Gesellschaft uninteressant: „The darkened auditorium has become to all intents and purposes a private space“.3 Denke ich an meine persönlichen Theaterbesuche, ist es für mich plausibel, Theater als einen (semi-)privaten Raum, der nur von bestimmten Gruppen besucht wird, zu begreifen: Schaue ich im Theater um mich, kommt es mir vor, als würde ich immer nur das gleiche Publikum sehen (von dem auch ich ein Teil bin). Für die meisten Bevölkerungsgruppen gehört der Theaterbesuch nicht zur Freizeitgestaltung, im Gegenteil, für viele besteht sogar eine „Hemmschwelle beim Betreten des Theatergebäudes“,4 wie Barbara Mundel und Josef Makert die Unerreichbarkeit kultureller Angebote beschreiben. Was hält andere Menschen davon ab ins Theater zu gehen? Die Journalistin Mely Kiyak hat eine sehr treffende Antwort für diese Frage formuliert: Als sie bei einem Theaterbesuch mit ihrem Vater bemerkte, dass sich dieser langweilte, wurde ihr bewusst, wie wenig das konventionelle Theater mit ihren eigenen Bedürfnissen und denen ihrer Familie zu tun hatte. Dass ihr Vater nicht viel mit Theater anfangen konnte, begründete sie damit: „Nicht weil ihn Theater nicht interessiert, sondern weil ihn dieses Theater nicht interessiert“.5 Kiyaks Erklärung für das Desinteresse vieler Menschen an „diesem“ Theater ist einleuchtend, weil es sie nicht betrifft. Damit das Theater die breite Öffentlichkeit und auch neue Publikumsgruppen erreichen kann, muss es aus den bestehenden Konventionen ausbrechen und Grenzen in mehreren Bereichen überschreiten. Dadurch kann es wiederum Regeln und Verhaltensweisen destabilisieren. Heutzutage gibt es genügend Künstler_innen, die sich dieser Aufgabe angenommen haben und auch in der Vergangenheit finden sich Beispiele. Christoph Schlingensief ist hier zu nennen, der mit seinen Projekten oft den konventionellen Theaterraum verlassen hat und im öffentlichen Raum agierte. Mit der Aktion „Bitte liebt Österreich – Erste Österreichische Koalitionswoche“,6 schuf er innerhalb der Wiener Festwochen im Jahr 2000 eine Aktion gegen den da3 Christopher B. Balme, The Theatrical Public Sphere, Cambridge 2014, S. 3. 4 Josef Mackert / Barbara Mundel, „Das Prinzip für die ganze Gesellschaft“, in: Theater heute 8/ 9 2010, (Orig. Impulsvortrag Jahrestagung Deutscher Bühnenverein, Freiburg 27. 05. 2010), S. 38–43, hier S. 43. 5 Mely Kiyak, „Kultur, eingewickelt in Wolldecken, flauschig warm. Warum sich in der Kulturszene nicht bemerkbar macht, was sonst noch los ist“, in: Olaf Zimmermann / Theo Geißler (Hg.), interjkultur. Deutscher Kulturrat, Politik & Kultur 2009/5, Beilage, S. 1. 6 Christoph Schlingensief, „Bitte liebt Österreich. Erste Österreichische Koalitionswoche“, Aktion bei den Wiener Festwochen 2000.

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Barbara Schneider

maligen Einzug der FPÖ in die Regierungskoalition und gegen die fremdenfeindliche Asylpolitik. Für eine Woche zogen von Schlingensief als „Asylwerber“ bezeichnete Menschen in einen Container neben der Wiener Staatsoper. Die Passant_innen waren durch das bloße Vorbeigehen gezwungen, sich mit der Thematik auseinanderzusetzen. In dem Schlingensief das Theatergebäude verlassen hat, ist es ihm gelungen, Menschen abseits der zahlenden Theaterbesucher_innen zu erreichen. Ein immer wiederkehrender Aspekt in Schlingensiefs Werken war außerdem das Miteinbeziehen von Minderheiten als Darsteller_innen. Weiters war der Ausgang seiner Aktionen meist ungeplant und somit offen für Unterbrechungen und das Mitwirken von Seiten des Publikums. Schlingensief nutzte zudem die aggressiven Slogans der damaligen medialen Berichterstattung und des Wahlkampfes der FPÖ. So wurde z. B. ein Schild mit der Aufschrift „Ausländer raus!“ am Schauplatz angebracht. Dadurch zog Schlingensief eben jene fremdenfeindlichen Parolen ins Lächerliche. Ähnliche Mittel finden sich auch in der Inszenierung „Schutzbefohlene performen Jelineks Schutzbefohlene“ des Kollektivs Die schweigende Mehrheit sagt JA!: Die Darstellung behördlicher und politischer Unfähigkeit im Bezug auf die derzeitige Situation in Österreich wird lächerlich gemacht und somit Fehler und Problematiken sichtbar. Das Kollektiv Die schweigende Mehrheit und ihr Stück ist für mich ein weiteres Beispiel dafür, wie eine Grenzüberschreitung des Theaters funktionieren kann. Wie bei Schlingensief spielt auch hier das Verlassen des konventionellen Theaterraums eine Rolle. Die Einnahme von öffentlichen Räumen fordert das Publikum dazu auf, sich mit Themen wie Flucht und Migration außerhalb eines Theatergebäudes auseinanderzusetzen und erreicht Menschen, die ein solches vielleicht nicht betreten hätten. Die Aufführungsstätten variieren zwischen bekannten, aber dezentralen Theaterräumen (z. B. Schauspielhaus und Werk X), Schulen, Hörsälen von Universitäten, Kunsträumen (z. B. mo.[) und auch öffentlichen Plätzen (z. B. Siebenbrunnenplatz). Die Vereinnahmung von unkonventionellen Aufführungsorten unterstreicht die Auffassung von Theater als öffentlichem Gut, welches allen zugänglich sein sollte. Es muss hier erwähnt werden, dass diese öffentliche Zugänglichkeit jedoch auch Raum für Ausschreitungen bietet. So stürmte bei einer Vorstellung im Audimax an der Universität Wien im April 2016 eine rechtsextreme Gruppe die Bühne. Die darauf folgende von der Stadtregierung ausgehende Einladung in das Wiener Rathaus stellte eine wichtige, ebenfalls öffentliche Positionierung gegen solche fremdenfeindliche Aktionen dar. Von wichtiger Bedeutung ist auch das Zusammentreffen unterschiedlicher Interessensgruppen sowie die Aktivitäten und Gespräche, die Die schweigende Mehrheit außerhalb der Performances, davor und danach, organisiert: Eine neue Gemeinschaft wird gebildet, Rezipient_innen werden zu sozialen Akteur_innen. Die schweigende Mehrheit versteht ihr Stück „Schutzbefohlene

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performen Jelineks Schutzbefohlene“ als eine Art Prozess – „ein Theaterabend, der sich laufend weiter entwickelt, so wie sich die Geschehnisse in Österreich entwickeln, die unsere Rahmenhandlung bilden“.7 Wie bei Schlingensiefs Arbeiten entsteht auch hier eine Offenheit, denn das Stück funktioniert nur als sich ständig wandelnder Prozess. Es repräsentieren nicht andere Menschen geflüchtete Menschen, sondern die „Geflüchteten“ sprechen selbst. Das betrachte ich deshalb als so wichtig, weil es in die Richtung eines Theaters geht, das nicht mehr fragt: Wie sehen und repräsentieren wir bestimmte Gruppen? Wie sehen wir die aktuelle Situation aus unserer Sicht? Sondern fragt: Wie werden wir und „unsere“ Kultur von anderen wahrgenommen, wie wird die Situation von einem anderen Blickpunkt aus betrachtet? In den genannten Beispielen sehe ich das Potenzial von Theater, bestehende Denk- und Verhaltensmuster aufzubrechen, indem der Theaterraum verlassen und ein prozesshafter und offener Charakter der Aufführung zugelassen wird. Betroffene werden miteinbezogen und die ausschließlich von unserer eigenen Kultur ausgehende Sicht kann abgelegt werden. Ein solches Theater bietet einen Raum, in dem ein Zugang zu fremden Kulturen geschaffen werden kann, ohne dass die Angst überhandnimmt. Es bietet Möglichkeiten der Kommunikation und Vorurteile können (theater-)spielend abgebaut werden. Menschen mit ihren Ängsten zu konfrontieren und ihnen einen Spiegel vorzuhalten war seit jeher Bestandteil des Repertoires des Theaters. Heutzutage ist es wichtig, diese Möglichkeiten weiter zu nutzen – Theater anderen, unterschiedlichen Publikumsgruppen näherzubringen und einen sozialen und kulturellen Austausch zwischen den Menschen zu ermöglichen, um schließlich die Möglichkeit eines funktionierenden (auch utopischen) Miteinanders aufzuzeigen.

7 Die schweigende Mehrheit sagt JA, Schutzbefohlene performen Jelineks Schutzbefohlene, www.schweigendemehrheit.at/schutzbefohlene-performen-jelineks-schutzbefohlene/ [15. 07. 2016].

Imke S. Pioch

Kurzauftritte

Sommer 2015. Die Lage an den Grenzen beginnt medial und real zu eskalieren. Schutzsuchende kommen nach Europa und werden auf den Bühnen der Öffentlichkeit zu Flüchtlingen und auf manchen Theaterbühnen zu Schutzbefohlenen.1 November 2015. Der Nestroy, so der Name des Wiener Theaterpreises, wird verliehen. Der Spezialpreis geht an Glanzstoff.2 Und an Die schweigende Mehrheit? Auch wenn eine Trophäe an das Künstler_innenkollektiv verliehen wurde, ist Die schweigende Mehrheit nicht auf der offiziellen Preisträger_innenliste vertreten.3 Auf der Internetpräsenz des Preises findet sich zwar ein Foto mit dem Schriftzug des Kollektivs, zentral positioniert, doch so unterschiedlich zu den anderen Bildern der Gewinner_innen. Auf der Website erfahren Interessierte, dass sich der Nestroypreis nicht nur auf den lokalen und nationalen Bühnen des Landes, sondern ebenso in den gesamten deutschsprachigen Raum eingebettet fühlt.4 Doch welche Auftritte und Künstler_innen gehören zu den und auf die österreichischen oder deutschsprachigen Theaterbühnen? Kann ein Theater von und mit Flüchtlingen im österreichischen Diskurs der Repräsentation Einfluss nehmen? In diesem Essay stelle ich mir die Frage, was ich als Vertreterin der den Diskurs der Repräsentation vorgebenden Mehrheitsgesellschaft über „uns“ wahrnehme, als der Nestroypreis vom Künstler_innenkollektiv Die schweigende Mehrheit entgegengenommen wurde. Ich begebe mich zurück an den Abend des 02. Novembers 2015 und richte den Blick in das ehrwürdige Ronachertheater. 1 Vgl. Die schweigende Mehrheit sagt JA, „Schutzbefohlene performen Jelineks Schutzbefohlene“. 2 Vgl. Felix Mitterer, „Glanzstoff“, inszeniert von Renate Aichinger. 3 Vgl. Website des Nestroypreises, Nestroy 2015. Die Preisträgerinnen und Preisträger, 2015, http://www.nestroypreis.at/show_content.php?sid=109 [14. 07. 2016]. 4 Vgl. Website des Nestroypreises, Der Preis, 2015, http://www.nestroypreis.at/show_content. php?sid=3 [22. 03. 2016].

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Imke S. Pioch

Der Österreichische Rundfunk ist live vor Ort, hält den Abend für die Fernsehbildschirme fest.5 Der Vorhang ist bereits viele Preisträger_innen und Dankesreden lang geöffnet. Erneut erklingt Applaus. Im Raum sitzen Menschen in Anzug und Abendkleid. Auf die Bühne treten Menschen in Anzug und Abendkleid – und mit Lederjacke. Weitere Menschen strömen in die Gänge – in Anzug, mit Lederjacke, in T-Shirt und Pullover. Auf der Bühne wird Dank ausgesprochen. Deutschsprachiger Dank.6 Erst alleine, dann im Chor. Ein Vorsprecher, viele, die ihm die Worte nachsprechen. Im Publikum wird andächtig gelauscht. Vereinzelt steigen Zuschauer_innen mit in den Chor ein. Bekennen sich möglicherweise zum „Wir“ der neu eingetretenen Menschen in Anzug, mit Lederjacke, in T-Shirt und Pullover? Sehen womöglich keine Grenze zwischen auftretenden und zusehenden Menschen im geschützten Theaterraum. Fordern Teilhabe? Die meisten Zuschauer_innen haben ihren Blick, europäischen Theatertraditionen folgend, auf die Bühne gerichtet. Die Fernsehkamera nimmt einzelne Gesichter in den Fokus. Große Kinderaugen und Arme, die um Schultern liegen. Einzelne, wenige Kopftücher umranden einzelne, wenige Tränen. Ein letzter Dank im Rampenlicht. Der Innenraum des traditionsreichen Theaters wird gezeigt. Die stehende Menge zieht sich zurück, die sitzende Menge applaudiert. Dann noch mehr Applaus. Der Auftritt ist vorbei. Das Programm geht weiter. Ohne die Worte des Chores zu kennen oder die Bilder der Darbietung vor Augen zu haben, erzeugt bereits die narrative Ebene vielfältige Fragen. Der besagte Ausschnitt betrifft lediglich die Inszenierung der Überreichung eines Preises. Ein kurzer Auftritt, der dennoch Inhalte vermittelt und Aufmerksamkeit erregt. Ein Kompromiss, wie Bernhard Dechant von Die schweigende Mehrheit in seinem Vortrag an der Universität Wien klarstellte.7 Ein Kompromiss aus dem vom Organisationsteam des Nestroypreises geäußerten Vorschlag, zwei Österreicher_innen den Preis zu übergeben und dem Wunsch des Kollektivs, alle Akteur_innen auf die Bühne des Ronacher zu bringen. Ein Kompromiss, dem traditionellen Theaterverständnis der Mehrheitsgesellschaft und dem Begehren nach einem sichtbaren Zeichen für die Unterstützung der Minderheitsgruppe gerecht zu werden. Ein Kompromiss, der gleichermaßen kritische Stimmen als auch Bekundungen des Zuspruchs weckte. In Form einer Performance, die die Ordnung nicht erschüttert, keine Ängste schürt sowie ein verdauliches Maß von 5 Vgl. Schweigende Mehrheit, Nestroy Spezialpreis geht an die Schweigende Mehrheit, 03. 11. 2015, https://www.youtube.com/watch?v=szpovhVppxw [14. 07. 2016]. 6 Vgl. Tina Leisch, Dankesrede zum Nestroy Spezialpreis, 03. 11. 2015, http://www.schweigen demehrheit.at/dankesrede-zum-nestroy-spezialpreis/ [14. 07. 2016]. 7 Vgl. Nathalie A. Assmann et al., „Migrantentheater. Lage(r)bericht von Assmann, Dechant und den ,Neuen‘“, Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung Flucht Migration Theater, Universität Wien am 09. 11. 2015.

Kurzauftritte

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Emotionalität und Protest bereithält, wurde für die Veranstalter_innen ein „Flüchtlingsprogramm“ geboten, wie Bernhard Dechant formulierte. Diese „Flüchtlingsprogramm“ in der repräsentativen Preisverleihungs-Inszenierung garantierte Aktualität und Brisanz, ohne aus dem Ufer zu laufen. Die Geflüchteten durften in geringem Maße in den Saal und in noch geringerem Maße auf die Bühne. Statt einer „reißenden Flüchtlingswelle“, die das Publikum verschrecken könnte, wurde eine „künstlerische Fontäne“ fasziniert betrachtet und nach kurzem Staunen wieder ausgeschaltet. Der mediale „Flüchtlingsstrom“ wurde ästhetisch verpackt tröpfchenweise ausgestrahlt. Die schweigende Mehrheit durfte in einem festgelegten Rahmen von Raum, Zeit und Möglichkeiten auftreten – sie wurde für kurze Zeit hörbar und sichtbar, die Initiator_innen jedoch mit der „österreichischen Halblösung“ nicht glücklich. „Herz- und Nierenpreis“, so lautet der Name für die Kategorie im Wiener Theaterpreis – manchen Zuschauer_innen ging er ans Herz, anderen an die Nieren. Kritische Unterstützer_innen lehnten den Auftritt im Dankesspektakel ab: Das Ausstellen der Geflüchteten, die Instrumentalisierung von Betroffenheit, so die Bedenken. Den Geflüchteten werde keine Stimme gegeben, sondern Worte vorgegeben. Andere nahmen im Auftritt der schweigenden Mehrheit einen Wendepunkt in der Darstellung von Flüchtlingen wahr, eine markante Zeichensetzung auf Fernseh- und Theaterbühnen. Einige blieben unberührt, gelangweilt. Manche spendeten mit neuen Impressionen, andere dachten gegen neue Impressionen. Alle gingen nach Hause. Doch was hatte jede_r gesehen? Eine Preisverleihung eines Spezialpreises, einer unter vielen Preisen an diesem Abend und doch so unterschiedlich. Eine kleine Aufführung ohne Bezug zur Realität? Eine kleine Aufführung, die die Realität künstlerisch ästhetisiert? Worte, die die Realität widerspiegeln oder alleine Kunst sind? Spiel, Schauspiel, emotionaler Appell? Das Aufzeigen von Leid und der Aufruf um Spenden? Einen Menschen, der den Mut besitzt, für eine Gruppe das Wort zu ergreifen? Einen Menschen, der erst alleine spricht und dann unterstützt wird? Oder einen Anführer, der immer alleine entscheidet, und dessen Aussprüche keine Widerworte erlauben? Eine Gruppe, die zusammenhält, aber im Theatergefüge fremd erscheint? Eine Gruppe, die als Menge beisammen steht, und sich im Rampenlicht zu arrangieren versucht? Eine Gruppe, der man gerne beitreten würde? Eine Gruppe, die aus einzelnen Individuen besteht oder nur als Menge wahrgenommen wird? Eine Gruppe, die gefürchtet werden sollte? Menschen, die flohen, und voller Stärke über ihren Weg berichten oder Menschen, die in der „neuen Heimat“ als hilflose Opfer inszeniert werden? Menschen, die in Gruppen aus österreichischen Staatsbürger_innen und Flüchtlingen, die in gebürtige und neue Österreicher_innen oder richtige Österreicher_innen und unbekannte Fremde eingeteilt werden können? Einige Frauen tragen Kopftücher. Markiert sie das Kopftuch als „fremd“? Andere tragen

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eine Brille – und entsprechen sie deshalb der nationalen Norm gebildeter Bürger_innen? Soll auf die Bühne geschaut werden und mit einem Blick in zwei Österreicher_innen und zwei Flüchtlinge unterteilt werden? Soll die Nuance der Haut- und Augenfarbe dazu einladen, in „bekannt“ und „unbekannt“ einzuteilen? Inwiefern kann ein solcher Auftritt von Diversität berichten, ohne geläufige Stereotypen und vorhandene Grenzkonstruktionen zwischen konstruiertem „Heimisch“ und „Fremdartig“ zu verstärken? Identitäten werden über verschiedene Interaktionsprozesse und vielschichtige Diskurse hergestellt, doch vor allem aus Fremdwahrnehmungen erschaffen. Stereotypen, Klischees und Vorurteile sind vereinfachte und schematische Zuschreibungen, die zumeist Gruppen von individuellen und kollektiven Identitäten abgrenzen. Stereotype wirken unabhängig von eigener Erfahrung, basieren mehr auf Vermutungen, denn auf realen Erfahrungen. Der Germanist Jochen Neubauer spricht von mentalen Bildern, die sich tief in das kollektive Gedächtnis eingegraben haben. Des Weiteren gibt er zu bedenken, dass Migrant_innen als Repräsentant_innen ihrer Kultur mit der Verpflichtung, mit bestimmten Bildern übereinzustimmen, konfrontiert sind.8 Dieses alltägliche Problem führt zu den bereits angesprochenen Herausforderungen von Theater zurück: Inwiefern kann (empfundene und reale) Fremdheit dargestellt werden, ohne stigmatisierend zu wirken? Stuart Hall beispielsweise erkennt Unterschiede im Aussehen von Menschen an, die erst durch die Aufladung mit (negativ konnotierter) Bedeutung zur Gefahr werden können.9 Abschließend stelle ich mir die Frage, wie Theater von und mit Geflüchteten als Darsteller_innnen, mit diesen Stereotypen und vorurteilsbehafteten Klischees arbeiten sollte, um ein Überdenken, Umdenken, Neudenken in und außerhalb von Theaterräumen, auf den Straßen und insbesondere in den Köpfen zu bewirken. Wie können künstlerische Kurzauftritte langfristig fassbare Wirkungen entfalten? Laut Hall gibt es keinen Raum, in dem Repräsentation gänzlich von Ideologien befreit ist. Es besteht dennoch die Möglichkeit, sich im Prozess der Bedeutungsgebung gegen dominante Lesarten zu wehren.10 Ein Auftritt, wie die Annahme des Nestroypreises durch Die schweigende Mehrheit, bietet Ansatzpunkte für unterschiedliche, widersprüchliche Lesarten. Blickpunkte sind so verschieden wie die einzelnen Menschen, die diese ein8 Vgl. Jochen Neubauer, Türkische Deutsche, Kanakster und Deutschländer. Identität und Fremdwahrnehmung in Film und Literatur. Fatih Akin, Thomas Arslan, Emine Sevgi Özdamar, Zafer Senocak und Feridun Zaimoglu, Würzburg 2011. 9 Vgl. Media Education Foundation, Race, the floating signifier. Featuring Stuart Hall, 1997, http://www.mediaed.org/transcripts/Stuart-Hall-Race-the-Floating-Signifier-Transcript. pdf [01. 06. 2016]. 10 Vgl. Stuart Hall, „Decoding / Encoding“, in: Paul Marris / Sue Thornham (Hg.), Media Studies. A Reader, Edinburgh 1999, S. 51–61.

Kurzauftritte

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nehmen. Auf der Bühne, neben der Bühne, vor der Bühne. Im Rampenlicht und im Schatten der Auftritte. Mit oder ohne Fluchtgeschichte. Indem Menschen, die im Privilegium leben, nicht fliehen zu müssen, aus ihrer Perspektive von Geflüchteten und Flucht berichten, wird ein weiterer westlicher Diskurs geöffnet. Doch sobald jenen Menschen, die heute angekommen sind, morgen die Möglichkeit geboten wird, ihre Geschichte zu erzählen und Teil einer gemeinsamen Theatertradition zu werden, könnte Solidarität entstehen, wechselseitiges Verständnis für Unterschiede ermöglicht werden, erste Schritte ein Gemeinsames herzustellen, gegangen werden.

Nicholas Dobner

Politik und Öffentlichkeit am Beispiel des „Refugee Protest Camp Vienna“

Es lässt sich nicht bestreiten, dass die derzeitige Asylpolitik der EU-Staaten und die Verhältnisse, welche diese Politik für Geflüchtete schafft, von Problemen und Widersprüchen durchzogen sind. Immer striktere Regulierungen erschweren es flüchtenden Menschen, Asyl zu erhalten. Ilker AtaÅ skizziert in seinem Text „Die Selbstkonstituierung der Flüchtlingsbewegung als politisches Subjekt“ die Asylpolitik Österreichs und Europas: Es sind „Maßnahmen wie Visapflicht, Sichere-Drittstaaten-Regelungen, Bekämpfung irregulärer Migration durch bilaterale Abkommen, Verlagerungen der Grenzpolitiken auf Transitstaaten und Grenzkontrollen“,1 die es den Asylsuchenden erschweren, in den westlichen Ländern aufgenommen zu werden. Den Status, den Flüchtende „genießen“, wenn sie Schutz in westlichen Staaten finden, beschreibt AtaÅ folgendermaßen: Wenn Asylsuchende in ein Land einreisen wollen, von dem Asyl beantragt werden soll, „fordern sie das System der nationalstaatlichen Einwanderungskontrolle heraus“,2 woraufhin der/die Geflüchtete als ein „widerständiges Subjekt, das die territoriale Ordnung des souveränen Staates provoziert“3 betrachtet wird. Trotz Inanspruchnahme eines uneingeschränkten Flüchtlingsschutzes werden die Schutzsuchenden innerhalb der Gesellschaft als negativ konnotierte Subjekte dargestellt. Anfang der 1990er-Jahre wurden asylpolitische Maßnahmen verabschiedet, die Flüchtlinge vermehrt als „Wirtschaftsmigrant_innen“ darstellten. Dieser Begriff wird für Asylsuchende verwendet, die den Flüchtlingsschutz (vermeintlich) missbrauchen und aufgrund wirtschaftlicher Interessen versuchen, Asyl zu bekommen. Angesichts der Tatsache, dass der Begriff des Flüchtlings aus historischer Sicht mit der Idee des Widerstands verbunden ist, stellt aber bereits das Flüchten vor politischen Repressionen sowie „uner-

1 Ilker AtaÅ, „Die Selbstkonstituierung der Flüchtlingsbewegung als politisches Subjekt“, in: transversal 3/2013, http://eipcp.net/transversal/0313/atac/de [16. 02. 2016]. 2 Ebd. 3 Ebd.

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Nicholas Dobner

trägliche[n] soziale[n] und politische[n] Umstände[n]“4 einen politischen Akt dar. Geflüchtete organisieren und vernetzen sich eigenständig, um für ihr Bleiberecht zu kämpfen. Dabei wurden Strategien angewendet, die auf Probleme der Asylpolitik hinweisen und gleichzeitig die Forderungen der Flüchtenden darstellen. AtaÅ behandelt in seinem Text die Selbstkonstituierung der Flüchtlinge, die sich durch Strategien des Protests gegen die Asylpolitik als politische Subjekte generieren. Er führt dafür zwei Merkmale der Flüchtlingsbewegung an: Durch die Forderungen der Geflüchteten und durch Öffentlichkeitsarbeit, die aus politischen Aktionen wie Demonstrationen oder Protestcamps besteht, wird auf Probleme und Widersprüche in europäischen Asylverfahren aufmerksam gemacht und die bestehende Asylpolitik kritisiert. In vielen europäischen Städten organisieren Geflüchtete Aktionen an zentralen und für die Öffentlichkeit gut sichtbaren Plätzen und errichten Protestcamps. Dabei werden Kirchenasyl, Hungerstreik, Pressekonferenzen und soziale Medien genutzt. Protestmärsche wie der vom Erstaufnahmezentrum in Traiskirchen nach Wien am 24. 11. 2013 erregten mediale Aufmerksamkeit. Das in der Folge errichtete Flüchtlingscamp im zentral gelegenen Votivpark verstärkte die Sichtbarkeit des Protests. Banner mit Protest-Slogans und Forderungen der Geflüchteten zielten darauf ab, die Öffentlichkeit auf ihre aktuelle Lage aufmerksam zu machen. Die Flüchtlingsbewegung konstituiert sich so als politisches Subjekt. Die Geflüchteten nutzten die historisch bedeutende Kirche, die als Zeichen des Dankes für die Rettung aus einer Notlage erbaut worden war,5 als Symbol ihres Protestes. Gleichzeitig wurde die Bedeutung des Kirchengebäudes erweitert: Begriffe wie „Votivkirchenprotest“ wurden von den Medien aufgegriffen, wobei die Reaktionen „von Internetforen über die Berichterstattung in etablierten Medien bis hin zu den Presseerklärungen des Innenministeriums“6 reichten. Sogar der damalige österreichische Bundespräsident antwortete mit einem Schreiben auf einen Brief eines protestierenden Schutzsuchenden. Anhand des „Refugee Protest Camp Vienna“ wird deutlich, wie nervös die Politik auf die Ankunft der Flüchtenden und deren Proteste reagierte. Von beiden Seiten wurde der Druck durch Beschlüsse der Unterstützer_innengruppen und polizeilichen Maßnahmen stetig erhöht. Einerseits hatten Hungerstreiks der Refugees Verhaftungen zur Folge, andererseits erhielten sie aufgrund weitreichender medialer Präsenz Unterstützung aus der Zivilgesellschaft, was den Druck auf die Politik erhöhte. Die politisch Verantwortlichen reagierten 4 Ebd. 5 Vgl. Felix Czeike, Wien. Kunst, Kultur und Geschichte der Donaumetropole, Köln 1999, S. 219. 6 Stefan Nowotny, „Zynismus und Flucht“, in: transversal 3/2013, http://eipcp.net/transversal/ 0313/nowotny/de [16. 02. 2016].

Politik und Öffentlichkeit am Beispiel des „Refugee Protest Camp Vienna“

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jedoch kaum und ignorierten die schlechten Verhältnisse, in denen sich die Flüchtlinge befanden. Dies hatte auch zur Folge, dass der Diskurs sich weiter auf asylspezifische Kernproblematiken wie zum Beispiel die zu dem Zeitpunkt bestehende Dublin-II–Verordnung ausweitete. Der Theaterwissenschaftler und Aktionist Gin Müller weist darauf hin, wie groß die Spannung zwischen beiden „Parteien“ war : „Die vergitterte und bewachte Tür, die die Refugees in der Kirche sichtbar von der Außenwelt trennt, verbildlicht die Gefangennahme des Protests in der Kirche, die durch karitatives Kontrollmanagement erzeugt wurde“.7 Die Selbstorganisation von Geflüchteten stellt eine neue Dimension des Protests dar, die bei den Flüchtlingsbewegungen in den 1990er-Jahren noch nicht existierte. Anstelle der Opferrolle, die Geflüchtete standardgemäß durch ihren „illegalen“ Aufenthalt und wegen des ausstehenden Asyls einnahmen, treten sie vermehrt als politische Subjekte auf. Der Vorwurf, die Flüchtlinge würden von Aktivist_innen oder Unterstützer_innengruppen instrumentalisiert, wird somit obsolet. Im Falle des „Refugee Protest Camp Vienna“ betonten die Geflüchteten immer wieder bleiben zu wollen, bis ihre Forderungen erfüllt würden. Doch die Selbstkonstituierung der Geflüchteten als politische Subjekte zog auch negative Folgen nach sich. Das öffentliche Auftreten dieser stößt nicht ausschließlich aufgrund von vordeterminiertem Rassismus auf Ablehnung in immer größeren Teilen der Gesellschaft. Die Gründe für diese Kategorisierung liegen auf der einen Seite in den restriktiven Gesetzen, die gegen Asylsuchende angewandt werden, auf der anderen Seite besteht ein verwurzelter, auf nationalistischem Denken beruhender Rassismus. Auch in der bürgerlichen Mitte lassen sich rassistische Tendenzen erkennen, welche sich allerdings nicht mit einer gefestigten Ideologie erklären lassen, sondern eher mit irrationalen (sozialen) Ängsten verbunden sind. Diese Ängste können wiederum in Hass und Gewalt umschlagen, da sich diese Menschen in ihrer (nationalen) Identität angegriffen fühlen. Es werden Feindbilder erschaffen, um nationale Identitäten zu erhalten.

7 Gin Müller, „Rettung in der Votivkirche. Eindrücke eines_r Unterstützers_in des RefugeeProtests in der Votivkirche“, in: transversal 3/2013, http://eipcp.net/transversal/0313/muel ler/de [16. 02. 2016].

Hanna Voss

Doing Refugee in Nicolas Stemanns Die Schutzbefohlenen zwischen Ästhetik und Institution

1.

Mannheim: „Wir können euch nicht helfen, wir müssen euch doch spielen!“

Am 24. April 2014 erschien in Die Zeit ein aufschlussreicher Artikel über die erste Bühnenprobe für Nicolas Stemanns Die Schutzbefohlenen-Inszenierung – eine Produktion des Hamburger Thalia Theaters in Kooperation mit dem Festival Theater der Welt in Mannheim: Die vier Schauspieler haben drei Tage gelesen und diskutiert, jetzt kommen sie mit Kraushaarperücken auf die Bühne. […] Innerhalb von drei Stunden entwickelt sich […] etwas, das an Komplexität durch kein Gespräch einzuholen ist. Die Themen, die sich kreuzen, sind: Jelineks Text, in dem pakistanische Flüchtlinge aus der Wiener Votivkirche zu Wort kommen. Die Hamburger Lampedusa-Flüchtlinge in der St.-PauliKirche. Deutscher Rassismus und österreichischer Rassismus. […] Die BlackfacingDebatte: Dürfen sich weiße Schauspieler auf der Bühne schwarz anmalen? Die Bedeutung von Political Correctness. Und im Hintergrund die Frage: Wie, verdammt noch mal, spielt man als Weißer Schwarze? […] Stemann wirft Sätze auf die Bühne oder spielt ein Lied. „Lasst uns doch erst mal alles falsch machen, was geht“, sagt er. „Ist ja nur Theater. […] Schon nach ein paar Minuten haben sich die Schauspieler schwarz angemalt. Barbara Nüsse redet als Pakistani Österreichisch. Felix Knopp beschimpft sie als Nazi. Einen St.-Pauli-Kirchen-Flüchtling spielt Daniel Lommatzsch als krassen Styler. Alle dozieren etwas naseweis über Blackfacing. Dann ziehen sie Sebastian Rudolph eine weiße Maske an und malen auch die schwarz an.“1 1 Peter Michalzik, „Wahrheit im Bruch“, 24. 04. 2016, http://www.zeit.de/2014/18/stemann-je linek-theater-mannheim/komplettansicht [23. 07. 2016]. Auslöser für die „Blackfacing-Debatte“ waren Anfang des Jahres 2012 H. Gardners Inszenierung von Ich bin nicht Rappaport mit D. Hallervorden am Berliner Schlossparktheater (insbesondere das dazugehörige Werbeplakat) sowie M. Thalheimers Unschuld-Inszenierung am Deutschen Theater in Berlin. Durch die öffentliche Intervention und den Verweis auf (post-)koloniale Kontexte wurde die bislang routinisiert vollzogene Praktik quasi von einem Tag auf den anderen begründungspflichtig bzw. illegitim, vgl. Hanna Voss, Reflexion von ethnischer Identität(szuweisung) im deutschen Gegenwartstheater, Marburg 2014, S. 85–130 und Christopher B. Balme, The Theatrical Public Sphere. Cambridge 2014.

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Die Darstellung von „Flüchtlingen“, welche in Elfriede Jelineks Theatertext die „Ich“- bzw. „Wir“-Position des Sprechens innehaben, durch die Schauspieler_innen des Thalia Theaters wird hier nämlich offenbar primär als ein Problem der adäquaten Repräsentation von „Schwarze[n]“ begriffen.2 Und am 12. Mai 2014 erreichte das theaterwissenschaftliche Institut der Johannes GutenbergUniversität Mainz eine E-Mail mit dem Betreff: „Statisten bei Stemann“ – mit der Bitte um Weiterleitung. Der beigefügte „Castingaufruf“ lautete wie folgt: Mind. 20 Statisten gesucht für die Eröffnungsinszenierung von Theater der Welt! Für die Inszenierung ,Die Schutzbefohlenen‘ von Elfriede Jelinek sucht der Regisseur Nicolas Stemann dringend Statisten. Wir suchen eine gemischte Gruppe, also alle Altersgruppen, Geschlechter und ethnischen Zugehörigkeiten sind willkommen. Das Stück verhandelt die Flüchtlingskatastrophe von Lampedusa. […] Voraussetzungen: – flexible Verfügbarkeit […] – Lust auf der Bühne zu stehen, in der Gruppe einen Text zu sprechen (keine Sprechausbildung notwendig) und wahrscheinlich auch physisch anspruchsvolle Aktionen auszuführen. Die Tätigkeit wird vergütet entsprechend der am Nationaltheater üblichen Sätze für Statisten.

Neben für solche Aufrufe gängigen Kriterien wie Alter, Geschlecht und körperlicher Fitness wird hier auch Ethnizität als ein individuelles (körperliches) Merkmal der potentiellen Statist_innen benannt und somit relevant gemacht. Ausgehend von einer pointierten Beschreibung der Uraufführung am 23. Mai 2014 wird daher im Folgenden der Frage nachgegangen, mit welchen inszenatorischen Mitteln „Flüchtlinge“ in dem sich hier andeutenden Spannungsfeld zwischen Ethnizität und Professionalität zur Darstellung gebracht bzw. als solche performativ hervorgebracht werden.3 Während des Einlasses befinden sich bereits acht Personen auf der ansonsten weitgehend leeren Bühne, wobei sich ein Mann und eine Frau aufgrund ihrer dunkleren Hautfarbe deutlich von den anderen abheben. Hinter einer übergroßen Leuchtanzeige mit einer fortlaufenden fünfstelligen Zahl ist an der Bühnenrückwand eine lange Reihe roter Stühle aufgestellt. Auf die Bühnenfront, aber zum Teil auch auf den gesamten Bühnenraum, werden Bilder von Flüchtlingsprotesten projiziert, begleitet von einer entsprechenden Tonspur. Dann tritt eine ältere weiße Frau (Barbara Nüsse) mit der Ankündigung „Die Schutzbefohlenen. Von Elfriede Jelinek“ an die Rampe, was den eigentlichen Beginn der 2 Während D. Lommatzsch, B. Nüsse und S. Rudolph zu diesem Zeitpunkt reguläre Mitlieder des Ensembles des Thalia Theaters waren, ist F. Knopp als Gast engagiert worden. Er war hier jedoch zuvor langjährig im Ensemble. 3 Die Formulierung der „performativen Hervorbringung“ ist als dezidierter Verweis auf Erika Fischer-Lichtes Ästhetik des Performativen zu verstehen, vgl. Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt/Main 2004, S. 127ff.

Hervorbringung von „Flüchtlingen“ in Nicolas Stemanns Die Schutzbefohlenen

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Aufführung markiert. In den folgenden rund 25 Minuten performen jedoch allein drei weiße Männer (Felix Knopp, Daniel Lommatzsch und Sebastian Rudolph) den jelinekschen Text, betont lässig mit dem Textbuch in der Hand und zeitweise auch aus dem Off. Relativ unvermittelt kommt dann der als schwarz kategorisierbare Mann vom Beginn (Ernest Allan Hausmann) wieder auf die Bühne und beginnt im gleichen Duktus zu sprechen: „Ich bin geflohen, inzwischen der Letzte, der Allerletzte meiner großen lieben Familie …“ Das Trio unterbricht ihn jedoch bereits nach kurzer Zeit: „Hello, we do this theatre project at the Thalia Theatre, it’s in a big city in Hamburg, and we need authentic people to tell … your story.“ Der so als „fremd“ gerahmte Hausmann entgegnet: „Ja, ja, ich erzähl meine Geschichte, aber könnt ihr das nicht auf Deutsch sagen?“ Doch stattdessen fragen die drei auf Englisch weiter nach seinem Namen und missverstehen seine Rückfrage „Wollt ihr mich verarschen?“ als Vornamen. Daraufhin Hausmann: „Meint ihr das jetzt ernst? Ja, ja, ich weiß schon… Spüler, Dealer, Gangster, Rapper, Fremder … das ist das was ihr euch vorstellt … aber niemals Apotheker!“ Die anderen stimmen begeistert in diese Aufzählung mit ein. Im Anschluss an diese „Initiation“ nimmt Hausmann den Platz von Knopp in dem vormaligen Trio ein, das den jelinekschen Text nun mit verschiedenen Akzenten vorträgt bzw. diese einübt. Währenddessen versucht Knopp jedoch seinen Platz wieder zu erlangen: zunächst freundlich nachfragend („Tschuldigung, warum hat er jetzt plötzlich meinen …?“) und zuletzt mit schwarz verschmiertem Gesicht einfach hinzutretend – wobei er auf die empörten Blicke hin auf Hausmann deutet und äußert: „Was denn? Er hat doch auch.“ Dadurch wird dieser explizit als „Schwarzer“ gekennzeichnet. Mit dem Auftritt von Nüsse gliedert Knopp sich wenig später wieder in die jelinekschen Texte rezitierende Gruppe ein, weitere zehn Minuten später stößt auch die schwarze Frau vom Beginn (Thelma Buabeng) hinzu, jedoch ohne, dass dies besonders ausgestellt würde. Lediglich die in dieser Szene verhandelte Diskriminierung von „Ausländern“ und Frauen kann als latente Thematisierung wahrgenommen werden; die Szene endet in einem „Selfie“ der schwarz, rot, gelb oder weiß bemalten oder mit Vollbart und Perücke ausstaffierten Akteur_innen. Es folgt der Pop-Song „Freiheit kann ein Gefühl sein“, an dessen Schluss endlich jene circa zwanzig Personen tanzend und singend nach vorne kommen, die in den vergangenen rund 50 Minuten nacheinander die Stuhlreihe an der Bühnenrückwand besetzt haben. Genau wie der 6er-Chor ist auch diese vom äußeren Erscheinungsbild her ethnisch-heterogene Gruppe mit Turnschuhen, Jeans- oder Stoffhosen und verschiedenfarbigen Shirts bekleidet, die alle mit dem gleichen Stacheldraht-Motiv bedruckt sind. Doch die sich mischenden beiden Gruppen werden durch große Stacheldrahtelemente rasch wieder voneinander getrennt, unterstützt durch die als Frontex-Personal kostümierten Bühnenarbeiter_innen. Mit Zetteln in der Hand treten die so als „Flüchtlinge“

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gekennzeichneten Personen nun teilweise hinter dem Stacheldraht hervor und sprechen in ihren Muttersprachen, in gebrochenem Englisch oder Deutsch jelineksche, aber teilweise auch scheinbar autobiografische Texte zum Thema „Flucht“; die Sprechanteile sind dabei proportional zum Pigmentierungsgrad von Haut und Haaren verteilt. Ihr Auftreten wirkt im Vergleich zu den zuvor agierenden, offensichtlich „professionellen“ Akteur_innen unsicher und unroutiniert. Dieser Eindruck wird durch verschiedene Hilfestellungen seitens der „Profis“, – z. B. Mikrophon richten oder paralleles Übersetzen – verstärkt. Als plötzlich Geschenkpakete herabfallen, bedanken sich die „Flüchtlinge“ beim Publikum und ziehen die darin enthaltenen „Flüchtlingsuniformen“ über : aus verschiedenen alten Kleidungsstücken zusammengenähte Overalls, deren durchgehender Reißverschluss die Kapuze auch über dem Gesicht verschließen lässt. In den folgenden Szenen liegen die so dehumanisierten „Flüchtlinge“ auf dem Boden, während die nun in Abendroben gekleideten „Profis“ die jelinekschen Texte performen. Ein Sprechchor der sechs wird jedoch durch die zunächst noch abgewehrte, vorsichtige, stumme Bitte zweier „Flüchtlinge“ gestört und dann durch jene aller unterbrochen. Die nun auch körperlich bedrängten „Profis“ schreien daher an die „Flüchtlinge“ gewandt: „Wir können euch nicht helfen, wir müssen euch doch spielen!“, woraufhin diese schlagartig zu Boden fallen. Erst gegen Ende des melodisch fröhlichen „Bärli-Songs“ treten sie wieder in Erscheinung, indem sie sich und ihre Stühle vor einem mittlerweile zugezogenen weißen Vorhang platzieren. Dieser wurde während des Songs als Projektionsfläche für Bilder von weißen Kindersärgen genutzt, auf denen je ein Stoffteddy sitzt. In die plötzliche Stille hinein rufen die „Flüchtlinge“ fremd klingende Namen von Vermissten. Nach rund 100 Minuten endet das Stück mit den sechs „Profis“ auf der ansonsten menschenleeren Bühne. Die performative Hervorbringung von „Flüchtlingen“ vollzieht sich in Stemanns Inszenierung in drei Schritten: Erstens wird durch das professionelle Auftreten von Hausmann sowie auch Buabeng die Verbindung von äußeren ethnischen Merkmalen und Flüchtlingsstatus stillgestellt. Zweitens wird zwischen den beiden auf den ersten Blick homogenen Gruppen eine scheinbar willkürliche (räumliche) Grenze gezogen. Drittens werden die beiden Gruppen, die sich hinsichtlich ihrer Sprach- und künstlerischen Darstellungskompetenzen stark voneinander unterscheiden, durch individualisierende versus uniformierende Bekleidung separiert. Und diese durch „autobiographische“ Elemente beglaubigte Authentifizierung als „Flüchtlinge“ gipfelt in der Thematisierung der Spielebene seitens der „Profis“: „Wir können euch nicht helfen, wir müssen euch doch spielen!“ Das Prinzip der Relationalität ist damit konstitutiv für die performative Hervorbringung von „Flüchtlingen“. Das doing refugee vollzieht sich dabei im Zusammenspiel von ethnischen Merkmalen auf sprachlicher Ebene und offensichtlicher Unprofessionalität bzw. einem Mangel

Hervorbringung von „Flüchtlingen“ in Nicolas Stemanns Die Schutzbefohlenen

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an professioneller Darstellungskompetenz. Äußere ethnische Merkmale treten dagegen trotz der anfänglichen Fokussierung in den Hintergrund – sowohl im Probenprozess als auch in der Aufführung. Die Annahme, dass es sich bei dem „Flüchtlingschor“ um Statist_innen handelt, hat sich für die Analyse insofern als produktiv erwiesen, als so der Prozess der Herstellung von „Flüchtlingen“ verstärkt in den Blick gerät.4 In dem im Anschluss an die zweite Aufführung am 24. Mai 2014 angebotenen Publikumsgespräch wurde die Inszenierung durchaus kontrovers diskutiert. Neben der zu erwartenden Kritik an der Praktik des Blackfacing war der „Flüchtlingschor“ zentraler Gegenstand der Diskussion, so wurde u. a. moniert, dass dieser auf dem Podium nicht vertreten sei. Ein Großteil der Zuschauer_innen war bis zu diesem Zeitpunkt nämlich anscheinend davon ausgegangen, es hierbei mit „echten Flüchtlingen“ zu tun zu haben. So schreibt auch ein Rezensent: Stemann „bestreitet den Abend nicht nur mit den vertrauten Protagonisten des Thalia Theaters, sondern holt auch Experten des Asylalltags auf die Bühne. In der Uraufführung waren das reale Asylsuchende aus Mannheim“.5 Der Regisseur erklärte daraufhin aber, dass es sich nur bei etwa der Hälfte der Beteiligten um (ehemals) „Asylsuchende“ und bei den anderen um „normale“ Statist_innen handelte. Thematisiert wurde in diesem Kontext auch, dass die beiden schwarzen Schauspieler_innen erst während des laufenden Probenprozesses und somit lediglich als Gastschauspieler_innen für diese Produktion engagiert worden waren – zunächst Hausmann und eine Woche vor der Uraufführung schließlich auch Buabeng. Und diese institutionellen Logiken der Inund Exklusion spiegelten sich nicht nur auf der Ebene der Aufführung wider, wie etwa in der Auftrittsreihenfolge der „professionellen“ Akteur_innen, sondern bildeten in den Folgemonaten einen konstitutiven Bestandteil des Diskurses.

4 Der vorliegende Beitrag entstand im Rahmen des DFG-Projekts „Praktiken der ethnischen Ent/Differenzierung im zeitgenössischen deutschen Sprechtheater“, das mit der DFG-FOR 1939 „Un/doing Differences“ an der JGU Mainz assoziiert ist. Diesem Forschungsverbund liegt die Erkenntnis des Soziologen Stefan Hirschauer zugrunde, dass „[e]in jedes ,Doing Difference‘ […] eine sinnhafte Selektion aus einem Set konkurrierender Kategorisierungen“ darstellt und geschehen oder (zugunsten anderer) auch nicht geschehen kann, womit Humandifferenzierungen als in zweifacher Weise kontingent begriffen werden, vgl. Stefan Hirschauer, „Un/doing Differences. Die Kontingenz sozialer Zugehörigkeiten“, in: Zeitschrift für Soziologie 43/3/2014, S. 170–191, hier S. 170ff. 5 Jürgen Berger, „Im Zentrum der Menschenrechtskatastrophe“, in: Schwäbische Zeitung 27. 05. 2014, S. 5. Der Vergleich von Geflüchteten auf der Bühne mit Rimini Protokolls „Experten des Alltags“ erscheint hinsichtlich der Frage nach Professionalität und Darstellungsstil durchaus als produktiv, vgl. Jens Roselt, „In Erscheinung treten. Zur Darstellungspraxis des SichZeigens“, in: Miriam Dreysse / Florian Malzacher (Hg.), Rimini Protokoll. Experten des Alltags. Das Theater von Rimini Protokoll, Berlin 2007, S. 46–63.

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2.

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Hamburg: „Echte Flüchtlinge gesucht“6

Auf die Premiere von Die Schutzbefohlenen im Hamburger Thalia Theater am 12. September 2014 folgten bis Ende April 2015 dreizehn weitere Aufführungen, die an drei Abenden von Podiumsdiskussionen begleitet sowie durch ein ganztägiges Symposium wissenschaftlich gerahmt wurden. In einem öffentlichen Gespräch äußerte Stemann hier, dass die Blackfacing-Debatte einerseits eine „total wichtige Debatte“ sei, aber andererseits auch „ein bisschen schwierig“, da sie gemäß ihrem Ursprung mit einem „angelsächsischen Realismusbegriff“ operiere. Für seine Arbeit – so Stemann weiter – stelle sich die Frage nach Identität erst mal gar nicht, weil ich im Grunde ein nicht-identitäres Theater mache. Also eine Frau kann Faust spielen und vier Männer können Franz Moor spielen. […] Und diese Frage: ,Kann ein Schwarzer am deutschen Stadttheater den Hamlet spielen?‘ stellt sich bei dieser Ästhetik eigentlich nicht. […] Die Frage, die sich stellt, ist: ,Warum passiert das denn so wenig auch in meinen Inszenierungen?‘, die dann wieder auf die realen Produktionsbedingungen verweist. Und das ist dann etwas, was ich hier vorfinde. […] Gar nicht mal so sehr, dass es da keine Leute gibt, die einen Migrationshintergrund haben […]. Die sind dann aber interessanterweise alle blond und blauäugig. Sie merken, was das für ein merkwürdiger Zufall ist. Das sind Dinge, die einen bestimmten Status Quo darstellen. […] Von daher wusste ich, dass ich dieses Problem nicht irgendwie elegant lösen, sondern dass ich es einblenden will. Ich will es vielleicht auch größer machen […], um strukturelle Probleme zu zeigen.7

Damit verortet er sich in dem aktuellen Diskurs um legitime Einstellungs- und Besetzungspraktiken, der sich seit der Blackfacing-Debatte ab 2012 und der Übernahme des Berliner Maxim Gorki Theaters durch Shermin Langhoff und Jens Hillje im Herbst 2013 zunehmend etabliert. Die Produktionsbedingungen – wie das laut Stemann „doch sehr reinrassige Ensemble“ – beeinflussen hier jedoch nicht nur die Ästhetik der Aufführung, sondern sie wurden im Laufe des Produktionsprozesses auch thematisiert bzw. reflektiert. So berichtete der Schauspieler Lommatzsch in dem Gespräch: Am Anfang der Proben habe es eine Fassung des Textes gegeben, bei der als Sprecherangabe immer „DWH“ gestanden habe – „die Drei Weißen Heteros“ –, womit Sebastian, Felix und er gemeint gewesen seien und was ja bereits relativ viel erzähle. Außerdem wurde die in Mannheim gut zweiminütige Szene der „Initiation“ von Hausmann in Hamburg auf rund vier Minuten ausgedehnt. Auf das Angebot, seine „authentic refugee story“ zu erzählen, antwortet Hausmann jetzt explizit: „Ich bin hier in Hamburg geboren, ich lebe jetzt in Berlin, ich bin Schauspieler, ruft meine 6 MATT, „Echte Flüchtlinge gesucht“, in: die tageszeitung 16. 09. 2014, S. 23. 7 Das Gespräch fand im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Theater und Universität im Gespräch“ am 11. Januar 2015 in der Spielstätte des Thalia Theaters in der Hamburger Gaußstraße statt. Protokoll, Privatarchiv H.V.

Hervorbringung von „Flüchtlingen“ in Nicolas Stemanns Die Schutzbefohlenen

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Agentur an.“ Dieses ostentative doing professionality bzw. undoing refugee wird von den „DWHs“ natürlich grundlegend missverstanden, so kombinieren sie: „Arbeitsagentur“, „die Arbeitsagentur verbietet ihm zu arbeiten“, „der hat Angst in ein Arbeitslager zu kommen“.8 Die Frage „Wollt ihr mich verarschen“ wird hier zudem als „Stammesname“ und somit ethnisch gedeutet. Damit thematisiert die Inszenierung tradierte Rezeptionsweisen im Theater, die von einem Zusammenhang zwischen Ethnizität und Professionalität ausgehen. Dies beschreibt ein Zuschauer, nach der Erkennbarkeit professioneller Schauspieler_innen gefragt, wie folgt: Es gab Grenzen, es gab Grauzonen … und die verliefen tragischer Weise entlang der Hautfarbe. […] Mir war eigentlich relativ schnell klar, dass – anhand der rhetorischen Mittel und anhand des Auftretens und auch anhand der Einführung auf die Bühne – die drei weißen Männer alle drei deutsche Schauspieler waren. […] Bei dem schwarzen Schauspieler hat man es auch […] direkt gemerkt […], dass er professioneller Schauspieler ist. Man hat einfach seine Ausbildung gesehen. Einen Moment länger habe ich gebraucht bei der schwarzen Schauspielerin […]. Man hatte im Unterbewusstsein erstmal den Verdachtsmoment, sobald ein schwarzer Schauspieler auf die Bühne kommt – und das ist natürlich unterschwelliger Rassismus […] – […] ist das jemand mit Fluchterfahrung.9

Und anlässlich der Hamburg-Premiere berichtete Theater der Zeit nicht etwa über das Thema „Flucht“, sondern titelte mit „Blackfacing“ – die erste Wortmeldung rund eineinhalb Jahre nach dem Beginn der Debatte im Januar 2012. In einem von drei Artikeln geben Hausmann und die Schauspielerin Elizabeth Blonzen hier auch Auskunft über ihre „afrodeutschen Erfahrungen im Theater“.10 Der Diskurs um Stemanns Die Schutzbefohlenen war in der Fachwelt – wie auch die Berichterstattung in Theater heute zeigt – somit primär durch als illegitim wahrgenommene Darstellungs- und zu Teilen den diesen zugrundeliegenden Einstellungs- und Besetzungspraktiken geprägt.11 Diese Beispiele verweisen zum einen darauf, dass individuelle körperliche Merkmale und insbesondere ethnische im deutschen Sprechtheater in Bezug auf 8 Vgl. zum Begriffspaar doing vs. undoing Hirschauer, „Un/doing Differences“, S. 182ff. 9 „Exploratives Interview mit eine Hamburger Zuschauer“, überarbeitetes Transkript nach Mitschnitt, 09. 03. 2015, Privatarchiv H.V. 10 Vgl. Elizabeth Blonzen / Matthias Dell / Ernest A. Hausmann, „Anders geht’s ja nicht!“, in: Theater der Zeit 10/2014, S. 18–21, hier S. 18. 11 Auch Theater heute berichtete anlässlich dieser Inszenierung erstmalig über „Blackfacing“, vgl. Franz Wille, „Nur die ganze Welt“, in: Theater heute 7/2014, S. 6–10. In diesem Umstand ist eine ähnliche Logik zu erkennen wie in der von D. Brandenburg in Die Deutsche Bühne vertretenen Ansicht, dass erst als die „Blackfacing-Debatte“ das Deutsche Theater erreicht und dieses darauf reagiert hatte, zu erkennen war, dass die Kritik verdiene, ernst genommen zu werden, vgl. Detlef Brandenburg, „Baustelle Kulturnation“, in: Die Deutsche Bühne 5/ 2012, S. 14–17, hier S. 14.

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Schauspieler_innen nicht einmal versuchsweise professionell übersehen oder überhört werden, sondern stattdessen zentrale Merkmale der funktionalen Anforderung darstellen. Die aus dieser Institutionalisierung resultierende latente Reproduktion von Ethnizität steht einerseits dem „Transgressionsversprechen“ von Theater gegenüber, denn solche individuellen körperlichen Merkmale sollten auf der Bühne reflektiert und überwunden werden können, und andererseits den meritokratischen Prinzipien, die im Bereich der Erwerbsarbeit auf formaler Ebene bzw. idealtypisch gelten.12 So geht die Soziologin Bettina Heintz, die sich mit Geschlechterdifferenzierungen im Kontext der Erwerbsarbeit beschäftigt, davon aus, dass in modernen Gesellschaften und insbesondere in den Professionen individuelle physische Merkmale wie Geschlecht oder Ethnizität keine relevanten Faktoren sein sollten, da dies gesellschaftlich und gesetzlich nicht mehr legitim ist. Den illegitimen Status einer solchen Institution beschreibt sie als De-Institutionalisierung.13 Und obwohl Humandifferenzierungen nach Ethnizität im deutschen Sprechtheater grundsätzlich institutionalisiert sind, ist an den oben angeführten Beispielen zum anderen eine langsam einsetzende De-Institutionalisierung ablesbar. Dies ist laut Heintz jedoch nicht einfach mit der Auflösung der Institution gleichzusetzen, sondern verweise nur auf eine Veränderung ihrer Reproduktionsmechanismen – nämlich von direkt zu indirekt und von routinisiert zu bewusst – und die Reproduktion hänge nunmehr insbesondere von bestimmten „Bedingungskonstellationen“ ab.14 Im Sinne einer Erweiterung des traditionellen Gegenstandsbereiches der Theaterwissenschaft – die Aufführung15 – gilt es daher empirisch zu erforschen, welche historisch gewachsenen „Bedingungskonstellationen“ begünstigen, dass sich Humandifferenzierungen nach Ethnizität im deutschen Sprechtheater als relevant und behäbig erweisen – aber auch situativ überwunden werden können oder schlichtweg irrelevant sind. Hierfür ist es zielführend, die Institution des 12 Vgl. zum Begriff der „Institutionalisierung“: Pamela S. Tolbert / Lynne G. Zucker, „The Institutionalization of Institutional Theory“, in: Stewart R. Clegg / Cynthia Hardy / Walter R. Nord (Hg.), Handbook of Organization Studies, London / New Delhi 1996, S. 175–190, S. 180ff. Die daraus resultierende Institution wird hier im Sinne „standardisierte[r] und relativ stabile[r] Verhaltensmuster“ begriffen, vgl. Bettina Heintz / Eva Nadai, „Geschlecht und Kontext. De-Institutionalisierungsprozesse und geschlechtliche Differenzierung“, in: Zeitschrift für Soziologie 27/2/1998, S. 75–93, S. 77f. 13 Vgl. Bettina Heintz, „Ohne Ansehen der Person? De-Institutionalisierungsprozesse und geschlechtliche Differenzierung“, in: Sylvia M. Wilz (Hg.), Geschlechterdifferenzen – Geschlechterdifferenzierungen. Ein Überblick über gesellschaftliche Entwicklungen und theoretische Positionen, Wiesbaden 2008, S. 231–251, hier S. 231ff. 14 Vgl. Heintz, „Ohne Ansehen der Person?“, S. 233ff. 15 Vgl. Corinna Kirschstein, „Ein ,gefährliches Verhältnis‘ – Theater, Film und Wissenschaft in den 1910er und 1920er Jahren“, in: Stefan Hulfeld / Andreas Kotte / Friedemann Kreuder (Hg.), Theaterhistoriographie. Kontinuitäten und Brüche in Diskurs und Praxis, Tübingen 2007, S. 179–189, insb. S. 186f.

Hervorbringung von „Flüchtlingen“ in Nicolas Stemanns Die Schutzbefohlenen

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deutschen Sprechtheaters, deren Ursprung im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts liegt und die heute von einer Vielzahl an Organisationen und individuellen Akteuren alltäglich re/produziert wird, mit dem Konzept des organisationalen Feldes zu analysieren: By organizational field, we mean those organizations that, in the aggregate, constitute a recognized area of institutional life: key suppliers, resource and product consumers, regulatory agencies, and other organizations that produce similar services or products […] [or] the totality of relevant actors. […] The process of institutional definition, or ,structuration‘, consists of four parts: an increase in the extent of interaction among organizations in the field; the emergence of sharply defined interorganizational structures of domination and patterns of coalition; an increase in the information load with which organizations in a field must contend; and the development of a mutual awareness among participants in a set of organizations that they are involved in a common enterprise.16

Paul J. DiMaggio and Walter W. Powell, die mit diesem Beitrag von 1983 wesentlich zu einer Neuausrichtung der Organisationstheorie beitrugen – dem Neoinstitutionalismus –, gehen dabei davon aus, dass durch die Strukturation eines solchen organisationalen Feldes eine spezifische Umwelt mit spezifischen institutionalisierten Regeln und Erwartungen entsteht. Diese begrenze wiederum die Veränderungsmöglichkeiten der einzelnen Organisationen in formaler Hinsicht. In Folge dessen würden die Unterschiede zwischen den Organisationen immer kleiner, was zu einem zunehmenden Ismorphismus führe. Denn die Konformität mit den Regeln und Erwartungen der Umwelt diene dazu, deren Legitimität zu erlangen bzw. zu bewahren, welche mit dem Erhalt von Ressourcen verknüpft ist und daher als wichtig für das Überleben der Organisationen bewertet wird.17 Das organisationale Feld des deutschen Sprechtheaters besteht dabei mit Blick auf Schauspieler_innen aus Schauspielschulen, Künstlervermittlungen, den (öffentlichen) Theaterhäusern und professionellen und nicht-professionellen Zuschauer_innen. Auf der Ebene der Theaterhäuser sind das Ensemblesystem und das Repertoireprinzip, aber aktuell auch die Einrichtung von speziellen Flüchlingsprogrammen offensichtliche Beispiele für solche (formale) Isomorphismen, die die Kontingenz von Ethnizität beeinflussen. So hat Stemann seine Inszenierung in Hamburg um „Tischgespräche“ mit Expert_innen und „Flüchtlingen“ erweitert, die jeweils im Anschluss an die Aufführungen stattfinden. In seiner Premieren-Ansprache wurde dies seitens 16 Paul J. DiMaggio / Walter W. Powell, „The Iron Cage Revisited. Institutional Isomorphism and Collective Rationality in Organizational Fields“, in: American Sociological Review 48/2/ 1983, S. 147–160, hier S. 148. 17 Zu dieser stark vereinfachenden Darstellung vgl. ebd., S. 148ff.

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des Intendanten Joachim Lux wie folgt gerahmt: „Das Theater ist ein öffentlicher Versammlungsort und sein vornehmlichster Zweck ist, Diskussionen, Gespräche, Auseinandersetzungen, aber auch Streit zu ermöglichen […]. Das ist unsere Chance und unsere Möglichkeit mit der Kunst“.18 Im Kontext dieser strategischen gesellschaftlichen Legitimierung von Theater ist es keineswegs zufällig, dass in Hamburg der ganze „Flüchtlingschor“ aus Geflüchteten besteht, deren Aufenthaltsstatus zum Zeitpunkt der Premiere überwiegend ungeklärt war. In einem von mir geführten Interview im Herbst 2014 bezeichnete der Schauspieler Rudolph das Vorgehen in Mannheim als einen „große(n) Fehler“, weil letztlich die Authentizität des Flüchtlingschors nicht groß genug war. Das war zu stark Statisterie. Das hatte einfach damit zu tun, […] dass das länger gebraucht hat für uns, diese ganzen Arbeitsverhältnisse zu durchschauen und die Gruppen kennenzulernen, […] und man dadurch auf Ressourcen aus dem Theaterbereich zurückgegriffen hat. Und letztlich auch Statisten geholt hat, die halt einfach ausländisch aussehen.19

Paradoxerweise besteht der „Flüchtlingschor“ nun fast ausschließlich aus Schwarzen, da es sich bei vielen um „Lampedusa-Flüchtlinge“ handelt. Diese neue Besetzungspraktik geht einher mit kleinen, aber entscheidenden inszenatorischen Änderungen: So befindet sich während des Einlasses bereits der gesamte „Flüchtlingschor“ auf der Bühne und markiert den Beginn der Aufführung mittels eines wiederholt skandierten Schlachtrufes: „We are here, we will fight, for freedom of movement is everbody’s right!“ Darunter haben sich quasi inkognito auch die Schauspieler_innen Hausmann und Buabeng gemischt. In diese rezeptive „Falle“ tappte dann auch Lux im Rahmen einer Podiumsdiskussion. So äußerte er bezüglich des damals geltenden Arbeitsverbots für Asylsuchende Folgendes: diese Freiheit der Kunst ist auch für uns relativ kompliziert […]. Weil wenn wir uns vollständig auf dem Boden dessen bewegen würden, was absolut abgesichert ist, dann hätte heute Abend kein einziger Schwarzer auf der Bühne gestanden, sondern (Zwischenruf von Hausmann: „Ich schon!“; Lachen und Applaus im Publikum) deutsche … Ja, genau, das stimmt, da fängt schon die Begriffsschwierigkeit an. Ich meine, kein einziger Lampedusa hätte auf der Bühne gestanden, sondern es hätten deutsche Schauspieler simuliert, dass sie so tun, als ob sie Lampedusa spielen könnten, die sie nicht sind.20 18 „Premierenansprache von Joachim Lux, Hamburger Thalia Theater“, Protokoll, 12. 09. 2014, Privatarchiv H.V. 19 „Exploratives Interview mit Sebastian Rudolph“, überarbeitetes Transkript nach Mitschnitt, 11. 10. 2014, Privatarchiv H.V. 20 Thalia Theater, „Was darf die Kunst? – Was darf die Gesellschaft?“, Podiumsdiskussion vom 16. Dezember 2014, 18. 12. 2014, https://www.youtube.com/watch?v=xHKyuw7ttYM [14. 07. 2016], 38:45–39:30.

Hervorbringung von „Flüchtlingen“ in Nicolas Stemanns Die Schutzbefohlenen

3.

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Berlin: Nicolas, der Hospitant

„Ohne Reden, Danksagungen und Blumen eröffnet das Theatertreffen. Nicht in diesem Jahr, nicht vor ausgerechnet dieser Produktion“.21 Hierauf sowie auf die Weiterführung der Tradition der „Tischgespräche“ hatte Stemann bei der Einladung seiner Die Schutzbefohlenen-Inszenierung zum Berliner Theatertreffen bestanden. So diskutierten die Zuschauer_innen am 1. Mai 2015 auf der Bühne der Berliner Festspiele mit Expert_innen und den an der Produktion Beteiligten; der Hamburger „Flüchtlingschor“ war hier durch vier Geflüchtete vom Berliner Oranienplatz ergänzt worden. Für Aufregung sorgte an diesem Abend lediglich der Umstand, dass Wagner Carvalho, künstlerischer Leiter des Ballhaus Naunynstraße, „die Eröffnungsvorstellung der ,Schutzbefohlenen‘ nach rund 45 Minuten im Protest verlassen“22 hatte. Hierzu bezog Carvalho auf dem Blog des Theatertreffens folgendermaßen Stellung: Wenn Rassismus (auch) auf der Bühne praktiziert wird, reagiere ich sofort. Dies geschah in der Vorstellung von ,Die Schutzbefohlenen‘ von Nicolas Stemann am 1. Mai. Blackface ist Rassismus pur und das Theatertreffen ist diesbezüglich Wiederholungstäter. ,Die heilige Johanna der Schlachthöfe‘ von Sebastian Baumgarten in 2013 war die letzte Mittäterschaft, zum Beispiel.23

Ähnlicher Ansicht war anscheinend auch eine Gruppe junger Aktivist_innen. Bekleidet mit orangefarbenen Warnwesten mit der Aufschrift „Rassismuszertifizierung“ durchzogen sie das Festspielhaus während des Thementags zu Flucht, Einwanderungspolitik und Asylgesetzgebung am 2. Mai 2015 mit rotweißem Absperrband und veranstalteten kurz vor Beginn der zweiten Vorstellung von Die Schutzbefohlenen draußen eine Kundgebung. An deren Ende wurde ein überdimensionierter Stempel enthüllt und ausgelegten Papierbahnen quasi stellvertretend für das Theatertreffen und Stemanns Inszenierung aufgedrückt: „Name it Racism!“ Und die sich anschließenden „Tischgespräche“ entwickelten sich zu einer Podiumsdiskussion um Stemann und den künstlerischen Leiter des Berliner JugendtheaterBüros Ahmed Shah. Ein junger Zuschauer aus diesem Kreis, der auch an der Kundgebung beteiligt war, äußerte sich hierbei wie folgt: Ich bin mit einer wirklich krassen Wut aus dem Stück rausgegangen. […] Ich habe das Gefühl, das dreht sich alles um dich (Stemann ansprechend) in dem Stück. Das sind 21 Janis El-Bira, „Verzweiflungstaten: Die Schutzbefohlenen“, 02. 05. 2015, http://theater treffen-blog.de/tt15/verzweiflungstaten-die-schutzbefohlenen/ [14. 07. 2016]. 22 Vgl. Janis El-Bira, „,Geht’s noch?‘ – Ein Zwischenruf von Wagner Carvalho“, 03. 05. 2015, http ://theatertreffen-blog.de/tt15/gehts-noch-ein-zwischenruf-von-wagner-carvalho/ [14. 07. 2016]. 23 El-Bira, „,Geht’s noch?‘“.

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Hanna Voss

deine Fragen, deine Phantasie zu Jelinek […]. Ich verstehe überhaupt nicht, was deine Motivation ist. Also, ich würde sagen, ich fange nicht mit einem Text an, weil ich irgendeinen Text habe, sondern weil ich was verändern will. Weil wir in einer verschissen rassistischen Gesellschaft leben und sich das ändern muss. Und da reicht es mir nicht, dass du deine Unsicherheiten so krass auslebst. […] Ich hätte mir gewünscht, du hättest Hospitanz gemacht bei einem Stück, wo es um Geflüchtete geht […]. Bei einem Stück, das Leute machen, die davon einen Plan haben und deren Kampf es ist. […] Es hat mich richtig angekotzt.24

Darauf entgegnete eine ältere Zuschauerin jedoch: Also ich als Spießbürger aus Wilmersdorf, ich fand dieses Stück ausgesprochen gut. Es macht auch Spießbürger mal ein bisschen wach. Du (zu dem jungen Zuschauer gewandt) bist wahrscheinlich jemand, der sich damit beschäftigt, jedenfalls siehst du so aus (ein Teil des Publikums lacht und auch sie selbst sichtlich verlegen). […] Ich möchte dem Regisseur jetzt einfach mal gratulieren, dass er – also für die Schicht, die er vielleicht auch ansprechen wollte, nämlich die Spießbürgerschicht aus Wilmersdorf […] – das hat mich auf jedenfalls sehr gepackt. Man schiebt doch diese ganze Problematik immer so ein bisschen weg, damit man abends wieder gut schlafen kann […]. Also, ich finde einfach, dass es unterschiedlich ist, wen Sie da ansprechen wollen und ich glaube, diese Schicht ist angesprochen worden.25

Dieser Gesprächsauszug zeigt abschließend, dass die Legitimität bestimmter inszenatorischer Praktiken höchst unterschiedlich wahrgenommen wird und es sich bei dem organisationalen Feld des deutschen Sprechtheaters um ein relativ geschlossenes, in sich homogenes System handelt. Dieses wird derzeit jedoch durch die aufgezeigten, sich auch innerhalb des Feldes zunehmend etablierenden Diskurse herausgefordert, was im Sinne der Neoinstitutionalisten die Bedingung für strukturellen Wandel ist.26 Bei Stemann jedoch beruht die performative Hervorbringung von „Flüchtlingen“ im Spannungsfeld zwischen Ethnizität und Professionalität auf den aufgezeigten Logiken der In- und Exklusion des deutschen Sprechtheaters, die er nicht zu kaschieren sucht, sondern offen zur Schau stellt. Zwischen Ästhetik und Institution gerät das Schicksal der Geflüchteten dabei aber zumindest in der Fachpresse zeitweise aus dem Blick.

24 „Wortmeldung eines Zuschauers bei den ,Tischgesprächen‘, Foyer der Berliner Festspiele“, überarbeitetes Transkript nach Mitschnitt, 02. 05. 2015, Privatarchiv H.V. 25 „Wortmeldung einer Zuschauerin bei den ,Tischgesprächen‘, Foyer der Berliner Festspiele“, überarbeitetes Transkript nach Mitschnitt, 02. 05. 2015, Privatarchiv H.V. 26 Vgl. Tolbert / Zucker, „The Institutionalization of Institutional Theory“, S. 184.

Sandra Engler Alonso

Das Leiden anderer darstellen: Besetzungsmöglichkeiten bei Elfriede Jelineks Die Schutzbefohlenen

„Repräsentation“ als Begriff, welcher Inklusion von und Gerechtigkeit und Solidarität für minoritäre soziale Gruppen fordert, ist in der englischsprachigen, vor allem US-amerikanischen, Medienwelt schon seit Jahren omnipräsent. Bei den Debatten um „korrekte-Repräsentation“ wird nach Gleichstellung und -wertung in einer Medienlandschaft gefordert, welche in allen ihren Milieus, sei es das Theater, der Film, das Fernsehen, oder jegliche andere, die Geschichte und das Leben eines bestimmten Menschen bevorzugt: die des weißen Mannes. Mit der Forderung nach Repräsentation wird, im einfachsten Sinne, nach einer korrekten, respektvollen, würdigen Darstellung von sozialen Minderheiten, die sich ethnisch, religiös, sprachlich oder von ihrer sexuellen Identität her von diesem Standardkonzept des „weißen Mannes“ unterscheiden, gefragt. Im englischsprachigen Raum taucht in diesem Kontext auch das heutzutage stark politisch konnotierte Wort „visibility“ (die Sichtbarkeit) auf. Sichtbarkeit, wie Theaterwissenschaftlerin Stephanie Lein Walseth argumentiert, ist einer der Grundsätze für Theater : Das Wort selbst stammt vom griechischen Begriff „theatron“, auf deutsch „Ort des Sehens“ – im Theater zeigt man sich und man wird gesehen.1 Diese Zweischichtigkeit des Theaters spiegelt sich auch im Wunsch minoritärer Gruppen nach Repräsentation wider. Es handelt sich um Gruppen, die im Laufe der Geschichte aus den unterschiedlichsten Gründen in der Öffentlichkeit unsichtbar gemacht worden sind – zum Beispiel dadurch, dass sie auf der Bühne entweder gar nicht oder nur aus der Sicht von mächtigeren Gruppen dargestellt worden sind. Um heutzutage sowohl auf sozialer als auch auf politischer Ebene wahrgenommen und vertreten zu werden, wird deswegen in den öffentlichen

1 Vgl. Stephanie Lein Walseth, „Staging Race in a ,Post-Racial‘ Age. Contemporary Collaborations Between Mainstream and Culturally Specific Theatres in the United States“, Diss., University of Minnesota 2014, S. 110.

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Sandra Engler Alonso

Medien nach einer größeren, inklusiveren Bandbreite an Darstellungen gefordert.2 Die Asian American Performers Action Coalition, kurz AAPAC, sammelt auf ihrer Internetpräsenz seit 2006 Daten zu der Rollenverteilung auf Broadway- und in den Non-Profit-Theatern New Yorks. Die Zahlen für die Theatersaison 2014/ 15 sind zwar marginal besser als in den Jahren zuvor, doch sind 70 % aller Rollen immer noch an weiße Schauspieler_innen gegangen, der Rest ist zwischen afroamerikanischen (17 %), asiatisch-amerikanischen (9 %), Latino- (3 %) und Schauspieler_innen anderer Ethnien (>1 %) verteilt worden3 – eine massive Disparität, vor allem, wenn man die unbestrittene Multikulturalität der Stadt New York bedenkt. Bei dem Wunsch nach Repräsentation in Amerika geht es also darum, die eigenen Geschichten, die eigene Herkunft, die eigenen Gefühle nicht immer nur durch den Filter des sozialen Standards zu sehen, sondern sich auch auf der Bühne, auf der Leinwand, im Fernseher zu entdecken. Jedoch auch in einer (Medien-)Welt, die ihre Fremdenfeindlichkeit und Intoleranz immer wieder aufs Neue beweist. Es geht um zwei Seiten derselben Münze – sehen und gesehen werden. Der Status Quo des weißen Mannes, der Heterosexualität (unter vielen anderen Charakteristika) soll herausgefordert und überholt werden, um zu einer gerechteren, akkurateren Darstellung von sozialen Minderheiten zu gelangen. Ein Beispiel dafür wäre das von Elfriede Jelinek geschriebene Kunstsprachwerk Die Schutzbefohlenen, welches seit seiner Uraufführung in Hamburg im Mai 2014 auf verschiedenen Bühnen auf unterschiedlichste Weise inszeniert worden ist. Dennoch scheint eine Tatsache die meisten dieser Produktionen zu verbinden: Es werden Laien, weiße Deutsche ohne Migrationshintergrund, eingesetzt, um die Geschichten von geflüchteten Menschen zu erzählen. Elfriede Jelinek schrieb Die Schutzbefohlenen im Jahr 2013 als Antwort auf die Besetzung der Wiener Votivkirche im November desselben Jahres von Seiten einer Gruppe von Geflüchteten, die zuvor im Flüchtlingslager Traiskirchen aufgenommen worden waren. Von dort aus sind sie nach Wien marschiert, haben vor der Votivkirche ein Zeltlager aufgestellt und sind in einen Hungerstreik getreten, um so gegen die Zustände im Lager und die für sie geltenden Arbeits- und Wohnungsmarktregelungen zu protestieren. In ihrem Werk setzt sich Jelinek mit der Thematik auseinander, indem sie in 27 Textabschnitten unterschiedliche Themen behandelt, welche alle die derzeitige Flüchtlingspolitik kritisch hinterfragen. Dabei benutzt sie eine sehr gehobene, künstliche Sprache, 2 Vgl. ebd., S. 111. 3 AAPAC – The Asian American Performers Action Coalition, Ethnic Representation on New York City Stages 2014–2015, April 2016, http://www.aapacnyc.org/uploads/1/1/9/4/11949532/ aapac_2014–2015_report.pdf [12. 07. 2016].

Besetzungsmöglichkeiten bei Elfriede Jelineks Die Schutzbefohlenen

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mischt ältere Texte zu ähnlichen Themen mit ihren eigenen Worten und kontrastiert beides mit umgangssprachlichen Ausdrücken. Esther Holland-Merthen hat innerhalb der Ringvorlesung über ihre eigene Erfahrung mit Aufführungen, die sich mit dem Thema Flucht und Migration auseinandersetzen berichtet. Dabei hat sie unter anderem von einer Leipziger Inszenierung der Schutzbefohlenen erzählt, in der, genauso wie in Wien, ausschließlich Laien Geflüchtete porträtierten. In diesem Fall wurde Die Schutzbefohlenen zusammen mit jenem Werk, welches es „quasi [überschreibt]“,4 nämlich Aischylos Die Schutzflehenden, aufgeführt.5 Es geht hier also nicht nur um eine, sondern zweierlei Geschichten über Flucht, die auf der Bühne jedoch von Laien dargestellt werden. Regisseur Enrico Lübbe hat sich bei der Leipziger Inszenierung nach langem Überlegen dazu entschieden, ausschließlich mit Leipziger Bürger_Innen und Mitgliedern des Leipziger Ensembles zu arbeiten. Nichtsdestotrotz stellt sich die Frage, „ob es nicht eigentlich konsequenter wäre, dass man mit Flüchtlingen tatsächlich auf der Bühne auch arbeitet“.6 Lübbe hat sich schlussendlich dazu entschieden, weil er sich als Künstler und […] als deutscher Mensch […], aus einem Wohlstandskontinent kommend, das Leid der Flüchtlinge nicht ermessen [kann]. [Er möchte] ihnen […] ihre eigene Sprache lassen, weil [sie] auch [im] Jelinektext vor allen Dingen mit einer Kunstsprache umgehen, und einer Reflexion dessen, was geschehen ist.7

Nach Holland-Merthens Aussage seien es in Jelineks Text nicht Geflüchtete, die sprechen, sondern eine Autorin – eine Stimme, die sich in viele Stimmen aufspaltet. Jelinek überschreibt Gefühle, Dokumentarisches, Erfahrenes, mit ihrem Denken und Sprechen und wandle es zu einer polemischen Wortattacke um.8 Bei dieser Inszenierung fällt die Begründung also auf das Persönliche – Regisseur Lübbe sieht sich nicht in der Lage, ein Stück über Flucht zu inszenieren, da er selber keine Erfahrung damit hat. Auf den ersten Blick könnte diese Entscheidung dadurch als respektvoll und bedachtsam angesehen werden, jedoch halte ich das für einen Denkfehler : Regisseur_innen und Künstler_innen allgemein, die solche Entscheidungen treffen, scheuen sich meistens nicht davor, andere minoritäre sozialen Gruppen darzustellen, zu welchen sie auch keinen persönlichen Bezug haben. Ein Blick in Lübbes bisherigen Inszenierungen zeigt, 4 Genia Enzelberger / Esther Holland-Merten, „Performance Kunst & Migration“, Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung Flucht Migration Theater, Universität Wien am 30. 11. 2015, Mitschnitt, Privatarchiv von Sandra Engler Alonso, 00:40:41. 5 Vgl. ebd., 00:40:00. 6 Ebd., 00:47:10. 7 Ebd., 00:47:20. 8 Vgl. ebd., 00:47:40.

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Sandra Engler Alonso

dass er sich schon mit aus ärmeren Milieus kommenden Figuren, mit Frauen, mit Portraits jeglicher Berufe und mit in den unterschiedlichsten Sprachniveaus geschriebenen Texten auseinandergesetzt hat. Die bei ihm aufkommende Hemmung also, nicht mit Geflüchteten zusammenzuarbeiten, weil er ihre Situation, ihr Leid, nicht rechtmäßig ermessen kann, erscheint nicht allzu glaubwürdig, wenn man bedenkt, dass er auch Shakespeares Romeo und Julia und King Lear auf die Bühne gebracht hat. Die Frage, inwiefern sich ein im 21. Jahrhundert in Deutschland lebender Mensch mit Jugendlichen aus dem 14. Jahrhundert und Königsgeschlechtern aus dem 8. Jahrhundert v. Chr. identifizieren kann, bleibt offen. Als zweiten Grund wird Jelineks Sprache genannt, die als extrem künstlich und teilweise sehr gehoben wahrgenommen wird. Es stimmt, dass Jelineks Ausdrücke, ihre Formulierungen, ihre Benützung der Sprache für eine Person, die gerade dabei ist, Deutsch zu lernen, nicht besonders einfach zu begreifen sind. Jedoch wird hier nicht beachtet, dass Flucht und Migration nicht Phänomene sind, welche in den letzten paar Jahren aufgekommen sind. Es leben einerseits mittlerweile genug „Migrant_innen erster Generation“ im deutschsprachigen Raum, welche mit einem solchen Text umgehen könnten. Andererseits wäre es auch eine Möglichkeit, sogenannte „Migrant_innen der zweiten oder dritten Generation“, die zwar im deutschsprachigen Raum auf die Welt gekommen und aufgewachsen sind, aber deren Leben stark von ihrem Migrationshintergrund geprägt ist, für solche Rollen zu finden. Auch bei der österreichischen Uraufführung des Stückes im Burgtheater in Wien ist die Entscheidung dafür gefallen, das Stück ausschließlich mit Schauspieler_innen aus dem schon bestehenden Ensemble des Burgtheaters zu besetzen. Bei der Sichtung der Besetzung auf der Onlinepräsenz des Burgtheaters geben alle diese Schauspieler_innen den Eindruck, aus dem deutschsprachigen Raum zu kommen und keine eigene Erfahrung mit Flucht oder Migration zu haben. Regisseur Michael Thalheimer, der die Inszenierung des Werkes im Burgtheater übernommen hat, trennt sich von dieser persönlichen Begründung für die Besetzung des Stückes und geht zu einer grundsätzlich ästhetischen über : Er strebe Perfektion durch Simplifizierung an.9 In Till Brieglers Kritik an dem Stück behauptet dieser, die Geflüchteten, um die es im Stück geht, treten vollkommen in den Schatten der Ästhetik und des Kunstvollen10 – „[sie] kommen

9 Vgl. Barbara Burckhardt, „Die Heimholung. Michael Thalheimer lässt Elfriede Jelineks Die Schutzbefohlenen im Wiener Burgtheater im Reich der Kunst verschwinden“, in: Theater heute 5/2015, S. 26. 10 Vgl. Till Briegler, „Formstreng, schmerzfrei. Chorvortrag mit geliebten Burgschauspielern: Elfriede Jelineks Flüchtlingsdrama Die Schutzbefohlenen in Wien“, in: Süddeutsche Zeitung 75/2015, S. 12.

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nicht vor, weder in Person noch in Kostüm noch in Spielweise“.11 Dadurch vermeide Thalheimer „alle Brüche, Konfrontationen und schwierige Annäherungen an die Realität“.12 Er selbst begründet diese Entscheidung mit der Aussage, dass ihm in erster Linie das Chorische interessieren würde: „16 tolle Schauspieler sprechen chorisch. Da musste natürlich gekürzt werden, damit es keine Überforderung wird. Wir streben Perfektion an“.13 Bei Thalheimer werden also Geflüchtete vollkommen zur Seite gelegt, um den Ziel einer ästhetisch makellosen Inszenierung zu verfolgen. Dabei wird jedoch die Grundaussage Jelineks Werkes für die Kunst geopfert – es handelt sich hierbei um keine Inszenierung, die wegen ihrer aktuellen Relevanz Aufmerksamkeit erregen will, sondern durch ihre künstlerische Umsetzung. Die dieser Entscheidung zugrunde liegende Ansicht ist, man könne mit geflüchteten Menschen keine Kunst schaffen. Genauso wie bei Lübbes Inszenierung wird demzufolge hier nochmals implizit gesagt, dass ihr Leben zu kompliziert, zu politisch, zu „überfordernd“ sei, um ein Kunstwerk zu schaffen, und dass es schon gar nicht möglich sei, sich mit ihnen der gesuchten Perfektion zu nähern. In Kontrast dazu kann man die Inszenierung des Stadttheaters in Mannheim setzen, bei welcher sich der Regisseur stark für die Mitarbeit von Geflüchteten eingesetzt hat: Der Chor bestand hier aus Schauspieler_innen unterschiedlichster Herkünfte. Die wenigen deutschen Laienschauspieler_innen, die mitgespielt haben, mussten vor allem „aus Gründen des Ausländerrechts“14 diese Rollen übernehmen. Regisseur Nicolas Stemann hat es sich zielstrebig zur Aufgabe gesetzt, Geflüchtete in seinen Inszenierungen nicht auszugrenzen, sondern sie zu einem Teil des Stückes zu machen, welches letztendlich vom Kampf um ihre Rechte handelt. Jede_r Künstler_in lässt die eigenen Erfahrungen und Begegnungen mit anderen Menschen in die Arbeit einfließen. Wer sind die Akteur_innen? Wer spricht? An welches Publikum richtet sich die Produktion? Dies alles sind Fragen, die man sich im Laufe der Vorbereitung und Aufarbeitung einer Inszenierung stellt und die jeder der in diesem Essay genannten Regisseure auf seine eigene Art und Weise beantwortet hat. Jedoch geben ihre Antworten zu bedenken, wie geflüchtete Menschen und die Thematisierung ihrer Probleme wahrgenommen werden: In den Augen Lübbes und Thalheimers sind genau jene Leben, die sie doch auf der Bühne darstellen möchten, im „echten“ Leben zu kompliziert, um sie dem Publikum begreiflich zu machen. Durch den Ausschluss von Geflüchteten aus kulturellen Ereignissen wird ihr 11 12 13 14

Ebd., S. 12. Ebd., S. 12. Burckhardt, „Die Heimholung“, S. 26. Peter Laudenbach, „Gegen die Gefälligkeiten! Peter Laudenbach und Stephan Reuter sprechen über die Entscheidungen der Theatertreffen-Jury“, in: Theater heute 5/2015, S. 32.

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Sandra Engler Alonso

Leben eingeschränkt – es wird die Nachricht gesendet, dass sie es weder verdient haben, auf der Bühne zu stehen, noch sich selbst auf der Bühne repräsentiert zu sehen. Außerdem werden somit etliche Facetten, die durch ihre Mitarbeit aufkommen könnten, gänzlich aus dem Spiel gelassen. Dabei entsteht kein vollständiges Bild ihrer Leben, sie werden durch die Reduktion in der Inszenierung selbst zu Menschen reduziert, die „nur“ ums Überleben kämpfen, „nur“ hungern, „nur“ in Armut leben müssen, anstatt das ihre Wünsche, Träume, Anliegen, die nicht unbedingt mit ihrer Flucht zu tun haben müssen, gewürdigt werden.

Julia Maria Klös

Mannheim Arrival. Ein postdramatisches Experiment zum Thema Flucht

Im Nationaltheater Mannheim fand in der Spielzeit 2015/16 eine bemerkenswerte Inszenierung zum Thema Flucht statt. Der Schauspielintendant Burkhard C. Kosminski entwickelte dafür den Doppelabend Ein Blick von der Brücke/ Mannheim Arrival. Das 1955 entstandene Sozialdrama Ein Blick von der Brücke von Arthur Miller bildete den ersten Teil. In Anlehnung an das Mannheimer Saison-Leitmotiv „Integration durch kulturelle Teilhabe“1 wurde in der Inszenierung der „reale Flüchtlingskörper“ auf die Bühne gebracht, um einen ersten Hinweis auf das zweite Stück des Abends zu geben. Dieser zweite Teil, Mannheim Arrival, präsentiert das aus Befragungen und Interviews hervorgegangene Theaterstück des Autors und Journalisten Peter Michalzik. Letzterer befragte im Zuge seiner Recherchearbeit in Mannheim lebende Geflüchtete. Das Ergebnis ist ein Bühnentext, welcher auf sechs Schauspieler_innen aufgeteilt wurde, die zuvor bereits in Ein Blick von der Brücke mitgewirkt haben und nun den einzelnen Geflüchteten ihre Stimme leihen.2 Michalziks Stück erzählt die Lebensgeschichten von sechs Geflüchteten aus verschiedenen Ländern. Dabei handelt es sich um sechs Einzelgeschichten, die er zu einem Dramentext verdichtete. Dieser stellt nicht nur das Leid während der Flucht, sondern auch die, vornehmlich, bürokratischen Schwierigkeiten dar, mit welchen die Geflüchteten ab ihrer Ankunft in Deutschland zu kämpfen haben. Bevor die Geflüchteten auf die Bühne begleitet werden, stellen sich die Schauspieler_innen einzeln vor. Sie stehen nebeneinander auf die Bühne, nennen ihren Namen und Geburtsort, verweisen so auf ihre eigene Biografie. Hierbei betonen sie die individuelle Herkunft, insbesondere dass auch sie aus anderen Städten oder Ländern kommen. Es hat etwas „Nummernhaftes“, wie die 1 Nationaltheater Mannheim, „RNF Bühnenlichter Okt. 2015: »Ein Blick von der Brücke/ Mannheim Arrival«“, 09. 10. 2015, https://www.youtube.com/watch?v=KxStZ2qqx3k [21. 07. 2016]. 2 Vgl: Nationaltheater Mannheim, „Ein Blick von der Brücke / Mannheim Arrival“, 03. 10. 2015, https ://www.nationaltheater-mannheim.de/de/schauspiel/stueck_details.php?SID=2265 [21. 07. 2016].

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Julia Maria Klös

einzelnen „Flüchtlinge“ zusammen mit dem Schauspieler_innen die Bühne betreten und nach der Erzählung ihrer Geschichte wieder hinunterbegleitet werden. Die Geflüchteten sprechen nicht selbst und werden dem Publikum abgewandt auf der Bühne positioniert. Der Text ist in der Ich-Form geschrieben, wodurch die Wahrnehmung der Zuschauer_innen automatisch auf die Schauspieler_innen gelenkt wird, welche(r) den Text vorlesen. Die Schauspieler_innen dienen als Sprachrohr, geben den Geflüchteten „Gesicht und Stimme“,3 wodurch der/die einzelne Geflüchtete die eigene Stimme verliert, sie ihm/ihr genommen wird. Durch Gesten oder Blicke stellt der/die Schauspieler _in eine Verbindung zwischen dem/der Geflüchtete_n und dem vorgetragenen Text her. Dadurch wird die räumliche Distanz, welche zwischen der Person und ihrer Geschichte entsteht, deutlich – der geflüchtete Mensch wird zum/zur Repräsentant_in, zum/ zur Stellvertreter_in seiner/ihrer eigenen Geschichte. Auf das Geschehen blickt das Publikum stets von außen mit großem Abstand. Diese räumliche Distanz wirkt sich auf die Wahrnehmung aus. Es soll Teilhabe, Mitgefühl entstehen, jedoch sind die Geschehnisse auf der Bühne so kurzweilig inszeniert, dass mit dem Wechsel des Fotos auf der Leinwand, mit dem Wechsel des Schauspielers oder der Schauspielerin die soeben gehörte Geschichte und das dazugehörige Gesicht wieder vergessen wird. Sowohl die Interaktion mit den Zuschauer_innen als auch die Identifikation dieser mit den präsentierten Geschichten bleibt aus. Der „Flüchtling“ wird zu einem Objekt, das hochambivalent erscheint: Auf der einen Seite geschieht eine Hervorhebung, ein „Aufzeigen des Anderen“,4 indem der „Flüchtling“ abseits positioniert wird. Dabei geht das Subjekt verloren. Sobald der „Flüchtling“ die Bühne verlässt bleibt für das Publikum keine Zeit, das Gehörte und Gesehene zu verarbeiten, da es unmittelbar mit der nächsten Geschichte konfrontiert wird. Was übrig bleibt, ist eine Art Bilder- und Informationsreigen; der geflüchtete Mensch auf der Bühne ist nicht mehr „Einer“ sondern geht in der Masse vieler unter. Die Länge des Abends, die schnelle Abfolge der Geschehnisse,5 all dies sorgt für eine zunehmende Überflutung mit Informationen, „[w]obei die Überforderung mancher Zuschauer*innen […] sichtbar wurde, indem bei der Premiere gegen Mitte des langen zweiten Teils mit ,Mannheim Arrival‘ ein kleiner Exodus einsetzte“.6 3 Nationaltheater Mannheim, „RNF Bühnenlichter Okt. 2015“. 4 Azar Mortazavi, „Über das Bekenntnis zur Uneindeutigkeit. Die Konstruktion des ,Anderen‘ und was die Theaterkunst dem entgegensetzen kann“, in: Wolfgang Schneider (Hg.), Theater und Migration. Herausforderungen für Kulturpolitik und Theaterpraxis, Bielefeld 2011, S. 73–76, hier S. 75. 5 Jeden Abend erscheint eine andere „prominente“ Persönlichkeit, die als „Sprachrohr“ agiert. 6 Sophie Diesselhorst, „Werden die Theater in der ,Flüchtlingskrise‘ wieder wichtig? Die Demut des Theaters“, 05. 10. 2015, http://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content& view=article& id=11590:die-theater-reagieren-auf-die-fluechtlingsdebatte& catid=53& Ite mid=83 [21. 07. 2016].

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Den Schluss der Inszenierung bildet ein Chor, welcher die Geschichte eines Kindersoldaten erzählt, der nach seiner Flucht wieder zurück in seine Heimat geschickt wird: Der Chor bildet auch den größten Aufwand, den die Inszenierung betreibt. Ihre Ästhetik ist aus Demut gemacht, Demut der Illusionsmaschine Theater vor den Realitäten, um die es hier geht. Auch wenn die „Demuts-Ästhetik“ also gerade schwer en vogue ist: Sie hat eine Halbwertszeit, zumal mit dem Genre „Flüchtlingsporträt“ gerade jedes Medium, das etwas auf sich hält, experimentiert.7

Was die Journalistin Sophie Diesselhorst hier anspricht, scheint das grundlegende Problem der Inszenierung zu sein: An irgendeinem Punkt ist die Performance gescheitert. Es stellt sich die Frage, an welchem. Der „Flüchtling“ auf der Bühne wird durch unterschiedliche Mittel, wie die Positionierung im Raum, die dadurch und durch sein Schweigen entstehende Entfernung zu seiner eigenen Geschichte ausgestellt. So rückt ein zum Objekt degradierter „Flüchtlingskörper“ in den Mittelpunkt der Inszenierung. Hier greifen postdramatische Kategorien – die veränderte Bedeutung von Körper und Zuschauer_in: „Nicht als Träger von Sinn, sondern in seiner Physis und Gestikulation wird der Körper zum Zentrum“.8 Der Körper als Zentrum der Postdramatik? – „Das Prinzip der Ausstellung ergreift neben Körper [sic], Gestik, Stimme auch das Sprachmaterial und greift die Darstellungsfunktion der Sprache an“.9 Der Körper erfährt in der Postdramatik eine neue Stellung, eine neue, veränderte Aufmerksamkeit auf der Bühne. Es geht nicht mehr um die ideale Seinsweise des Körpers, sondern um, man könnte fast sagen, das genaue Gegenteil: um die Imperfektion des Körpers auf der Bühne. Indem ihm der Akteur als individuelle, verletzbare Person gegenübertritt, wird der/die Zuschauer_in sich einer Wirklichkeit bewußt, die im traditionellen Theater überspielt wird, obwohl sie der Beziehung des Blicks zum ,Schauplatz‘ unvermeidbar anhaftet: des Seh-Akts, der voyeuristisch dem ausgestellten Akteur wie einem skulpturalen Objekt gilt.10

Es geschieht aber auch eine Hervorhebung des/der „anderen“. Damit befindet sich der nach Hans-Thies Lehmann in den Vordergrund gerückte Körper in einer schwierigen Situation: Er wird zwar in den Mittelpunkt gerückt und damit „ausgestellt“, damit aber auch deutlich als „anders“ markiert. Die Dramatikerin Azar Mortazavi merkt im Kontext der Hervorhebung des „anderen“ auf der Bühne an, die „anderen“ werden „um ihr Potenzial beraubt, die Individuen hinter den Begriffen zu zeigen und damit um die Vielschichtigkeit, die ein 7 8 9 10

Diesselhorst, „Werden die Theater in der ,Flüchtlingskrise‘ wieder wichtig?“ Hans-Thies Lehmann, Postdramatisches Theater, Frankfurt/Main 2005, S. 163. Ebd., S. 266. Ebd., S. 381.

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Julia Maria Klös

einziges Individuum ausmacht“.11 Weiter führt sie aus, dass es notwendig sei, nicht das „Fremde“ zu betonen, sondern als „selbstverständlichen Bestandteil“12 auch auf den Bühnen zu integrieren.13 Die Körper wirken als Träger von Geschichte(n). Die „Flüchtlinge“ auf der Bühne dienen als Anschauungsmaterial. Dadurch, dass sie stellvertretend, hier durch die stimmliche Entfernung von ihrer eigenen Geschichte sogar im doppelten Sinn, für ihre Geschichte, für die Geschichte einer geflüchteten Person stehen, erscheint ein Raum, in dem das Eigene und das Fremde für die Zuschauer_innen besonders sichtbar wird. Mehr noch: Das „Fremde“ und das „Eigene“ werden so nicht nur sichtbar gemacht, sondern festgeschrieben. Die Problematik, die hierbei entsteht, macht der Journalist Thomas Hahn in seinem Artikel deutlich: Flüchtling. Dieser Begriff ist mittlerweile so sehr in den deutschen Alltag hineingewachsen, dass jeder zu wissen glaubt, was sich dahinter verbirgt. Er haftet den Menschen nach ihrer Flucht an wie ein Etikett. Ein Flüchtling ist ein Fremder, der Teil eines großen Problems ist. Wer genau diese Neuankömmlinge sind, was sie für Qualitäten haben, was für politische Ansichten, das geht unter in den ausführlichen Debatten, in denen sich die Europäer vor allem um sich selbst drehen.14

Was Hahn zum Schluss des Zitats beschreibt, ist sehr gut auf die Mannheimer Inszenierung übertragbar. Bevor die Geflüchteten von den Schauspieler_innen auf die Bühne gebracht werden, stellen sich diese, wie gesagt, zunächst selbst und ihre individuelle Lebensgeschichte vor. Hier geschieht also noch einmal eine Hervorhebung des „anderen“: Indem die Schauspieler_innen ihre eigene Geschichte erzählen, auf sich selbst verweisen, passiert damit auch indirekt eine Abgrenzung zu den Geflüchteten, den „anderen“. Sehr eng damit verbunden ist das Publikum als „Voyeur_in“. Denn die Ausstellung des Körpers verändert nicht nur das Geschehen auf der Bühne, sondern auch die Wahrnehmung bei den Zuschauer_innen. Die „Blicke auf den Körper“15 differieren. Der Akteur oder die Akteurin auf der Bühne wird zum Objekt, wird ausgestellt und angestarrt.16 Genau dies trifft auf Mannheim Arrival zu. Denn auch hier agieren die Zuschauenden als Voyeur_innen, da die Geflüchteten auf der Bühne auf Grund der Ambivalenz zwischen Hervorhebung im Raum und Abkopplung von ihrer Geschichte als Objekte angestarrt werden. Dennoch gilt den Geflüchteten nicht die Mortazavi, „Über das Bekenntnis zur Uneindeutigkeit“, S. 75. Ebd. Vgl. ebd. Thomas Hahn, „Sogar die Vögel wollen weg aus Hohms“, 28. 02. 2016, http://www.sued deutsche.de/kultur/menschenrechte-sogar-die-voegel-wollen-weg-aus-homs-1.2883544 [21. 07. 2016]. 15 Lehmann, Postdramatisches Theater, S. 361. 16 Vgl. ebd., S. 381. 11 12 13 14

Mannheim Arrival. Ein postdramatisches Experiment zum Thema Flucht

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ganze Aufmerksamkeit – irritiert von der dezentralen Positionierung und von ihrem Schweigen, starren die Zuschauenden die Geflüchteten zwar an – können aber das Geschehen nur indirekt mit ihnen verbinden. Es stellt sich an diesem Punkt die Frage: Ist das ein „richtiges“, ein „sinniges“ Vorgehen? Sollte man den einzelnen „Flüchtlingskörper“ auf einer Bühne ausstellen? Der Theaterwissenschaftler Benjamin Wihstutz merkt in seinem Buch Der andere Raum (2012) an, dass „[j]ede Sichtbarmachung des Unsichtbaren, jede öffentliche Präsentation sozial Benachteiligter als ,kulturell Andere‘ […] in ein ,Ausstellen auf der Schwelle‘ (Agamben) oder eine Begünstigung der Schaulust kippen [kann]“.17 Der Grat zwischen postdramatischer Ästhetik und einem museumsartigen „Ausstellungsstück“ scheint also schmal zu sein. Anstelle einer Darstellung, die dem Thema gerecht wird, einem Abend an dem das Publikum durch den direkten Austausch mit den Geflüchteten etwas über ihre Geschichten erfährt, geschieht das, was Nassehi „Zwangsauthentisierung“18 nennt: „Der sprechende Flüchtling wird damit zum funktionalen Äquivalent für den klassischen politischen Flüchtling, der immer schon eine Geschichte mit sich herumgetragen hat, allerdings eher eine kollektive Geschichte“.19 Und der „sprechende Flüchtling“ hat in Mannheim, wie bereits erwähnt, keine eigene Stimme, die Schauspieler_innen geben ihm „Stimme und Gesicht“. So geraten Schauspieler_innen, die als „Sprachrohr“ dienen, auch an dieser Stelle in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Mit der Aufgabe, die Geschichten der Geflüchteten künstlerisch auf die Bühne zu bringen, hat sich die Inszenierung letztendlich sowohl künstlerisch als auch politisch selbst überfordert. Denn die gegenwärtigen Aufführungspraktiken und die hier zugrunde liegenden Kategorien sind meiner Meinung nach nicht geeignet, wie sich am Beispiel der Mannheimer Inszenierung gezeigt hat, um einen sowohl ästhetischen als auch einem dem Thema gerecht werdenden Abend zu konzipieren. Es ist also nötig, sich bei der Auseinandersetzung mit dem Thema noch weiter umzuschauen und gängige Kategorien neu zu überdenken.20 Denn, um Diesselhorst erneut zu zitieren, „[l]ieße sich nicht echte Teilhabe viel wirkungsvoller vorführen auf der Bühne, indem man die Türen öffnete für die Ästhetiken, die die ,neuen Deutschen‘ mitbringen?“21 17 Benjamin Wihstutz, Der andere Raum. Politiken sozialer Grenzverhandlung im Gegenwartstheater, Berlin/Zürich 2012, S. 161. 18 Armin Nassehi, „Der Hass auf den ,Wirtschaftsflüchtling‘“, 31. 08. 2015, http://www.faz.net/ aktuell/feuilleton/debatten/hass-auf-wirtschaftsfluechtlinge-in-deutschland-13776696-p2. html?printPagedArticle=true#pageIndex_3 [21. 07. 2016]. 19 Ebd. 20 Esther Boldt, „Theater und Flüchtlinge. Perspektivwechsel und Trauertänze“, Juli 2015, https://www.goethe.de/de/kul/tut/gen/tup/20561753.html [23. 07. 2016]. 21 Diesselhorst, „Werden die Theater in der ,Flüchtlingskrise‘ wieder wichtig?“

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Julia Maria Klös

Die „Flüchtlingskrise“ stellt das Theater vor neue Herausforderungen, welche es zu bewältigen gilt. Der Körper der Darstellenden, ob aktiv oder passiv und die Zuschauenden sind Kategorien, welche auch in Mannheim versucht wurden, unter postdramatischen Zügen zu realisieren: Der Körper als Ausstellungsstück, das Publikum als Voyeur. Somit ist die Aufgabe, einen postdramatisch ästhetischen Abend zu gestalten auf den ersten Blick erfüllt. Sollte man Geflüchtete auf der Bühne ausstellen? Ist es sinnig, das „andere“ dieser Personen hervorzuheben und sie damit als etwas „Fremdes“, als etwas was nicht zu „uns“ gehört zu stigmatisieren? Die Herangehensweise, einen geflüchteten Menschen so offensichtlich als, „den anderen“ zu präsentieren, ihm ein „Gesicht und eine Stimme“ zu geben, führt zum entscheidenden Fehler der Inszenierung: Es geht letzten Endes doch um Theater. Gerahmt wird der ganze Abend vom typischen Prozedere eines Theaterabends: Das Klingeln ertönt kurz vor Beginn der Vorstellung und lässt die Zuschauer_innen ihre Plätze einnehmen. Es gibt eine 30minütige Pause, und nach der Premiere wird, wie es üblich ist, zur Premierenfeier geladen.22

22 Vgl. Diesselhorst, „Werden die Theater in der ,Flüchtlingskrise‘ wieder wichtig?“

Christian Steiner

Migration, Flucht, Asylmonologe. Zum Potenzial postdramatischer Inszenierungen als Erkenntnisinstrument

Migration und Medien Seit den 1990er-Jahren rücken Themen wie „Sicherheit“ und „Gefahr“ innerhalb der EU vermehrt ins Zentrum der politischen und medialen Diskussion um Migration. Letztere sind eng mit tatsächlichen migrationspolitischen Entscheidungen verbunden, wie der Migrationsforscher Kenneth Horvath unterstreicht.1 Gleichzeitig wird immer mehr auf das ökonomische Potenzial verwiesen, das bestimmte Gruppen von Migrant_innen mit sich bringen können. Unter dieser Prämisse werden migrationspolitische Systeme gerechtfertigt, die bestimmte Migrant_innen, die sich durch ihre Qualifikation und Ausbildung als ökonomisch wichtig für eine Aufnahmegesellschaft erweisen, bevorzugen.2 Im Zuge dieser Diskurse werden Migrationsregime unterstützt, die Migration möglichst kontrollierbar machen sollen. Es liegt nun in den Händen der jeweiligen Aufnahmestaaten zu entscheiden, welche Migrant_innen für die nationale Wirtschaft vermeintlich „nützlich“ erscheinen und daher einwandern dürfen. Eine Folge davon ist, dass die Einwanderungsbedingen in unterschiedliche europäische Gesellschaften immer mehr eingeschränkt werden. Insgesamt ist Migration als sehr heterogenes Phänomen zu verstehen, was für eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit dem Thema „Flucht“ als besonders wichtig erscheint. Die zentrale Rolle, die Medien in Bezug auf Entscheidungen auf gesellschaftlicher und politischer Ebene spielen verdeutlicht, dass diese Thematik für eine kritische Medienwissenschaft von höchster Bedeutung ist.

1 Vgl. Kenneth Horvath, Die Logik der Entrechtung. Sicherheits- und Nutzendiskurse im österreichischen Migrationsregime, Göttingen 2014, S. 222. 2 Vgl., ebd. S. 300.

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Christian Steiner

Flucht und Migration Wichtig ist festzuhalten, dass Migration eine Bandbreite an unterschiedlichen Phänomenen umfasst: Wieso Menschen migrieren, ist ebenso unterschiedlich, wie der Umgang von Aufnahmegesellschaften mit Migrant_innen. Eine genaue Definition von „Flucht“ erscheint vor dem Hintergrund dieser Feststellung als essenziell, besonders weil in medialen Darstellungen Flucht und andere Formen von Migration oft gleichgesetzt werden. So stellt Hermann Mückler fest, dass Flucht immer eine aus äußeren Umständen heraus forcierte Form der Migration darstellt.3 Er unterscheidet Fluchtgründe, die durch menschliche Handlungen hervorgerufen werden von umweltbedingten.4 Weiter trennt Mückler wirtschaftliche von politischen Wanderungsbewegungen. Seine Definition von Flucht erscheint für den Kontext dieses Essays besonders wichtig, da sie auf eine Bandbreite an Fluchtgründen verweist, die medial und im gesellschaftlichen Diskurs häufig. Politische, wirtschaftliche und umweltbedingte Fluchtgründe klar abzutrennen, funktioniert allerdings lediglich in der Theorie, praktisch überlappen sich diese Ebenen meistens.

Die mediale Resonanz der Fluchtthematik Seit 2010 hat sich die Anzahl asylsuchenden Menschen weltweit um fast ein Drittel (28 %) erhöht.5 Den größten Anteil an vertriebenen und geflüchteten Menschen stellte im Jahr 2013 Syrien mit 3,88 Millionen Menschen.6 Syrien, Afghanistan (2,59 Mio.) und Somalia (1,11 Mio.) sind laut UNHCR-Bericht die Ursprungsländer für 53 % aller Geflüchteten weltweit. Obwohl kein Land der Europäischen Union im Jahr 2014 zu den Top zehn der Aufnahmeländer von Flüchtlingen gezählt hat (in Bezug auf die absolute „Flüchtlingspopulation“ [im Orig.: „refugee population“]),7 befanden sich 2013 doch sechs EU-Staaten unter den ersten zehn der primären Zielländer von Asylwerbenden.8 In Österreich kamen auf 1.000 Einwohner_innen im Jahr 2014 9,0 Asylwerber_innen. Damit lag das Land an weltweit siebenter Stelle.9 Medial wird das Thema „Flucht“ 3 Vgl. Hermann Mückler, „Ethnohistorie und Migration – ein historisches Beziehungsverhältnis. Eine Annäherung“, in: Karl R. Wernhart / Werner Zips (Hg.), Ethnohistorie. Rekonstruktion, Kulturkritik und Repräsentation. Eine Einführung, Wien 2014, S. 120f. 4 Vgl. ebd., S. 121. 5 Vgl. UNHCR, UNHCR Asylum Trends 2013. Levels and Trends in Industrialized Countries, Genf 2013, http://tinyurl.com/hz6jbmm, [15. 07. 2016], S. 8. 6 Vgl. ebd., S 3. 7 Ebd., S. 12. 8 Vgl. ebd., S. 11. 9 Vgl. UNHCR, World At War – UNHCR Global Trends. Forced Displacement in 2014. 2014,

Zum Potenzial postdramatischer Inszenierungen als Erkenntnisinstrument

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spätestens seit dem Jahr 2015 intensiv diskutiert. Winfried Schulz bemerkt dazu: „Zwischen Realität und Medienrealität entstehen nicht selten dynamische Wechselwirkungen, die das Geschehen in eine medial bestimmte Richtung lenken“.10 Aufgrund der subjektiven Erfahrung von steigenden Migrant_innenzahlen in Österreich und der heftigen politischen Diskussion über das „Asylthema scheint es nicht verwunderlich, dass dem Thema ,Asylwerber_innen‘“ ein besonderes Gewicht in medialen Formaten zukommt: einerseits in den „klassischen“ Medienformaten wie den Printmedien und dem Fernsehen, andererseits in den sozialen Netzwerken wie Facebook oder Twitter. Während die „klassischen“ Medien, insbesondere die öffentlich-rechtlichen, weitgehend versuchen, das Thema möglichst differenziert zu behandeln, besteht in den sozialen Netzwerken ein stark divergierender Meinungspluralismus, der sich, mitunter durch rechtspopulistische Propaganda instrumentalisiert, auch immer öfter gegen etablierte Medienformen zu richten scheint (Stichwort „Lügenpresse“). Für die Theater-, Film- und Medienwissenschaft stellt sich hier die Frage, wie andere Medien, zum Beispiel das Theater, mit der Thematik umgehen. Denn auch theatrale Formate können ein Forum für die Verhandlung und unmittelbare Auseinandersetzung mit den Themenkomplexen Flucht, Asyl und Migration bieten. Die Asylmonologe sind ein Beispiel für das Potenzial und den essentiellen Einfluss, den innovative Inszenierungen auf gesellschaftliche Wahrnehmung und politische Debatten haben können.

Migration und Theater Betrachtet man Theater als Medium, so stellt sich vor dem Hintergrund all dieser Überlegungen die Frage, inwieweit es gerade die Möglichkeit besitzt, das Thema Flucht anders zu verhandeln, als andere audiovisuelle Medienformate. Besonders postdramatische und performative theatrale Prozesse unterscheiden sich von klassischen Theaterformaten dadurch, dass neue Ästhetiken und in weiterer Folge auch Sichtweisen auf gesellschaftliche Phänomene implementiert werden. Nach Hans Thies Lehmann wohnt besonders postdramatischen Theaterformen das Potenzial inne, „das Politische“ auf neue und unorthodoxe Arten zu verhandeln, da es „in einem schrägen Winkel“11 erscheint. Die Mitarbeit der_s Zuschauers_in ist auf einer völlig neuen Ebene gefordert: Die Betrachtenden

https://www.uno-fluechtlingshilfe.de/fileadmin/redaktion/PDF/UNHCR/Global_Trends_ 2014.pdf [15. 07. 2016], S. 15. 10 Winfried Schulz, Politische Kommunikation. Theoretische Ansätze und Ergebnisse empirischer Forschung, Wiesbaden 2009, S. 73. 11 Hans-Thies Lehmann, „Unterbrechung“, in: Das Politische Schreiben, Berlin 2002, S. 16.

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Christian Steiner

würden zu Autor_innen von „ selbst erlebten Ereignisse“.12 Wahrnehmungsweisen werden im postdramatischen Theater gestört, Konventionen gebrochen und neue Deutungsräume eröffnet.13 Genau hierin kann ein Potenzial liegen, komplexe gesellschaftliche Prozesse und Phänomene auf neue Arten sicht- und verstehbar zu machen. Das deutsche Theaterkollektiv Bühne für Menschenrechte führt seit einigen Jahren in unterschiedlichen deutschen Städten die so genannten Asylmonologe auf.14 Sie handeln von den Lebensgeschichten von Asylwerber_innen und Geflüchteten, die zuerst detailliert protokolliert und im Anschluss unverändert (bzw. geringfügig gekürzt) von professionellen Schauspieler_innen erzählt werden. Die Aufführungen kommen ohne Bühnenbild und meist ohne Musik oder Sound aus. Im Mittelpunkt stehen Schauspieler_innen und Publikum. Die Spielenden scheinen während ihrer Erzählungen eine gewisse Distanz zum Gesagten zu wahren. Mit respektvoller Zurückhaltung gewähren sie Einblick in die Lebensgeschichten von geflüchteten Menschen. Gerade diese Distanz zu den Geschehnissen und Lebensgeschichten der Erzählungen ermöglicht den Zuschauer_innen eine besonders unmittelbare Erfahrung. Das Publikum wird gezwungen, die Erzählung selbst im Geiste mit eigenen Bildern und Emotionen zu vernetzen. Den Zusehenden wird keine konventionelle Inszenierung geboten, die mit audiovisuellen Reizen überfrachtet ist und die Sinne des Publikums in eine bestimmte Richtung drängt, sondern es entstehen um die Geschichte und die Schauspieler_innen enorme Lücken in Bezug auf diese audiovisuellen Reize. Das Füllen dieser Lücken erfordert von Seiten des Publikums ein besonders hohes Maß an Imagination. Gleichzeitig schafft die Präsentationsform eine respektvolle Distanz zu jenen Menschen, die hinter den Geschichten stehen. Diese werden nicht, so wie häufig in Fernsehnachrichten, durch Close-ups von weinenden Kindern auf der Flucht ikonisiert und ausgestellt, sondern durch die Vertretungsfunktion der Schauspieler_innen geschützt. Die Betroffenen selbst entziehen sich damit der Möglichkeit, Projektionsfläche der Vorerfahrungen und Vorurteile der Zuschauer_innen zu werden. Im Zentrum stehen die Geschichten der Individuen. Es werden die Umstände und Hintergründe einer Flucht verstehbar gemacht, wodurch die Tragweite und Komplexität von Fluchtgeschichten im Fokus steht und medial verkürzte Schlagworte wie „Wirtschaftsflüchtling“ obsolet werden. Inszenierungen wie diese schaffen es, Denkprozesse auszulösen, weil sich die Zusehenden, im Sinne Lehmanns, besonders stark in die Aufführung involvie12 Ebd., S. 287. 13 Vgl. ebd., S. 290. 14 Vgl. Bühne für Menschenrechte, „Die Asyl-Dialoge“, http://www.buehne-fuer-menschen rechte.de/index.php?option=com_content& view=article& id=58 [15. 07. 2016].

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ren müssen. Das Bewusstsein des Publikums oszilliert dabei zwischen der Wahrnehmung der Schauspieler_innen, der Vorstellung der Protagonist_innen, der Imagination des Erzählten und der empathischen Projektion auf die eigene Lebensrealität. Eine persönliche Auseinandersetzung mit dem Erzählten scheint dadurch beinahe unvermeidbar. Diese geschieht jedoch auf eine überaus respektvolle Art und Weise, da Geflüchtete nicht im Mittelpunkt stehen, sondern alleine ihre Geschichten.

Medien, Migration, Theater Die Themenkomplexe Flucht, Migration, Asyl und Fremdheit werden im Rahmen der Asylmonologe mit Lebensgeschichten, -bedingungen und Schicksalen von Menschen verknüpft, die dem Publikum zwar nicht bekannt sind, aber durch die Art und Weise der Präsentation vertraut gemacht werden. Besonders relevant werden solche performativen und theatralen Strategien im aktuellen gesellschaftlichen Klima rund um den Themenkomplex Flucht, Migration, Asyl und Fremdheit. Knut Hickethier weist auf den starken emotionalisierenden Charakter von Bildmaterial in Fernsehnachrichten hin.15 Das Narrativ eines „ewigen Antiklimax“ (ein ständig bestehendes Problem, dessen Lösung unbegrenzt verzögert wird) in Fernsehnachrichten hat in Verbindung mit Bildern von flüchtenden Menschen aufgrund der starken Emotionalisierung potenziell Einfluss auf gesellschaftliche und politische Meinungsbildung.16 Nicht zuletzt die Faktizität der ausbleibenden Lösung der präsentierten Situation kann allerdings dazu beitragen, dass sich Rezipient_innen zunehmend machtlos und frustriert fühlen. In Ermangelung einer Lösung können bzw. werden negative Emotionen paradoxerweise auf jene Gruppe projiziert, die den geringsten Einfluss auf eine Auflösung der komplexen Situation hat: die Flüchtenden selbst. Nationalistische und populistisch-rassistische Ideologien instrumentalisieren diese emotionale Bewegung der Menschen, um sich damit Unterstützung gegen das vermeintliche politische Establishment zu verschaffen, welches wiederum von diesen Kräften für das Ausbleiben einer Lösung verantwortlich gemacht wird. Theatrale, performative, aber insbesondere alternative theatrale Strategien der Darstellung, die den Menschen Einblick in Umstände und Hintergründe von Flucht geben und von professionellen Schauspieler_innen vermittelt werden, ¨ berlegungen zu einer Narrationstheorie der Nachricht“, in: Bun15 Vgl. Knut Hickethier, „U deszentrale fu¨ r politische Forschung (Hg.), Tele-Visionen. Fernsehgeschichte Deutschlands in West und Ost, http://www.bpb.de/gesellschaft/medien/deutsche-fernsehgeschichte-in-ostund-west/146988/hintergrund-informationen, S. 10. 16 Vgl. ebd., S. 8.

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bieten wenig Angriffsfläche für populistische Verschwörungstheorien und von nationalistischer und rassistischer Propaganda geprägten Angstkonstruktionen. Hier zeigen sich die besondere Wirkungsmacht und das Potenzial, das alternative Theaterformen bieten, um in der Gesellschaft Verständnis zu schaffen, Angst zu nehmen und möglicherweise Deradikalisierungsarbeit zu leisten. Fremdenfeindlichen Allüren in der Gesellschaft kann mit derartigen Strategien auf einer Ebene entgegengetreten werden, die einen Wahrheitsanspruch vermittelt, der nicht von Ideologien, sondern von Erlebnissen und Biographien geprägt ist. Nicht die politische Botschaft steht im Vordergrund, sondern die realen Erfahrungen von Menschen und deren Emotionen. Die Bilder, die die Zusehenden selbst konstruieren, rücken ins Zentrum dieser Inszenierungen und zeigen, welche zentrale Funktion dem Theater als Medium, das Verständnis schafft und verhärteten Positionen entgegenwirkt, heute immer noch zukommt. Es wäre notwendig, das Format der Asylmonologe, aber auch ähnlich ausgerichtete theatrale Formate, weiter auszubauen und einem breiteren Publikum niederschwelliger zugänglich zu machen.

Esther Holland-Merten, Genia Enzelberger und God’s Entertainment

Niemand hat Euch eingeladen!

Das 2005 gegründete künstlerische Kollektiv God’s Entertainment (GE) mit Hauptsitz in Wien verhandelt aktuelle politische Themen in einem sich ständig weiterentwickelnden Forschungsprozess. Das Resultat sind vielfältige, genreübergreifende Produktionen und theatrale Formate. GE arbeitet in den Bereichen Performance, Happening, Visual-Arts und Sound. Das ständig wachsende Team setzt sich sowohl aus Mitgliedern mit künstlerischem oder wissenschaftlichem Background, als auch aus den unterschiedlichsten Lebensbereichen zusammen. Als Spielfeld nützt GE nicht nur die Theaterbühne für Performances, Aktionen finden laufend im öffentlichen Raum statt. Wesentliches Spezifikum ihrer Produktionen ist die Partizipation des Publikums. Das Kollektiv arbeitet von Wien ausgehend auch mit zahlreichen nationalen wie internationalen Kooperationspartnern zusammen. Dazu zählen etwa die Wiener Festwochen, Holland Festival, Donaufestival, das Spielart Festival, Theaterfestival Impulse, Schauspiel Leipzig, HAU Berlin, Sophiensäle Berlin, Kampnagel Hamburg, HNK Rijeka, Gessnerallee Zürich, Liverpool Biennial, CA2M Madrid oder Divus Prag. Im Herbst 2015 realisierte GE am Schauspiel Leipzig den ersten Teil einer Trilogie der Neuen europäischen Tragödie. Bereits in diesem Titel macht sich die Tragweite des künstlerischen Schaffens der Performancegruppe bemerkbar. Die Akteur_innen sind eine Bande, eine an den Rändern institutioneller Kunstproduktion agierende Künstler_innenkombo. Sie sind Underdogs, die sich in die Kulturtempel begeben, um dort für Unruhe zu sorgen. So geschehen in ihrem Projekt, das im Artists-in-Residence-Programm für performative Künstler_innen, das Teil des Stadttheaters in Leipzig ist, realisiert wurde. In ihrer Tragödie benennt GE das traurige Verhängnis europäischen Handelns angesichts flüchtender Menschen, die aufgrund von Verfolgung und Krieg den Tod in Kauf nehmen, um Sicherheit und Frieden zu finden. Die Akteur_innen von GE sind sich für ihr Vorhaben des Ortes ihres Agierens sehr wohl bewusst und sie befragen den Raum, der nach wie vor dem Gedanken einer bürgerlichen Selbstverständigung gilt, kritisch. Nicht wie in anderen ihrer

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Performances, haben sie sich in ihrer Arbeit in Leipzig gegen „Experten des Alltags“, in diesem Fall wären diese Geflüchtete gewesen, entschieden. GE über den ersten Teil der Neuen europäischen Tragödie: Die künstlerische Kraft und der politische Wille, sich innerhalb der künstlerischen Tätigkeit mit gesellschaftspolitischen Themen auseinanderzusetzen, lässt sich nicht dadurch begründen, über etwas zu sprechen oder in der Belehrung des Publikums oder in der Absicht, Mitleid im Zuschauerraum zu erzeugen, ob durch Fiktion oder durch dokumentarisches Theater, indem beispielsweise die Realität von Lampedusa und das neue Flüchtlingsdrama auf den staatsubventionierten Brettern nachgestellt wird. Im Gegensatz dazu wäre es sinnvoller, die unverzichtbare Rolle der Betroffenen bei der Sichtbarmachung der Perspektiven jener, die sich nicht selbst repräsentieren können, zu thematisieren. Die Transformation des Hier und Jetzt ist nur dann möglich, wenn die Repräsentation und hierfür das Theater selbst hinterfragt wird. Infolgedessen ist der Zuschauer auch derjenige, der sich dabei positionieren muss. Das Bestreben, aus einem üblichen einen emanzipierten Zuschauer zu machen, ist die neue Dramaturgie, die zugleich vom Zuschauer verlangt, sich zu fragen: Wie verhalte ich mich dazu, was passiert mit mir?

Die Repräsentation selbst wird im Verlauf ihrer Performance zum Mittelpunkt der Auseinandersetzung. Kein Authentizitätsabgleich erwartet die Zuschauer_innen auf der Bühne, denn es wird sich kein Geflüchteter dort finden. Viel-

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mehr sind Performer_innen eingeladen, gemeinsam Aktionen, Situationen und Sinnzusammenhänge zum Thema zu bearbeiten. GE ladet Akteur_innnen ein, mit ihnen zu denken, gemeinsam mit ihnen zu agieren, zu fragen, nicht zu verstehen, und sich letztlich abzumühen, körperlich zu verausgaben, um zu erzählen, wovon sie erzählen wollen. Sie versagen durch die Abwesenheit der „Besprochenen“ das kathartische Moment, das das Publikum bräuchte, um sich aus der Täter_innenschaft erheben zu können. GE über Repräsentation: Kernstück gegenwärtiger Diskurse im Theater soll zweifelsohne die Politik der Repräsentation sein. So wie in der postkolonialen Theorie, sollte es innerhalb repräsentativer Theaterpraxis insofern nicht nur um die Frage gehen, über was gesprochen wird, sondern auch um die Frage, wer für wen spricht? „Theater politisch machen“ bedeutet nicht, die Schauspieler oder die sogenannten Alltagsexperten über politische Themen sprechen zu lassen, sondern die Frage zu stellen: wer ist derjenige, der spricht und für wen spricht er? Wer wird hier durch wen repräsentiert? Zum Beispiel: wie können die Ausgegrenzten innerhalb der Theaterpraxis erreicht werden, ohne ihnen dabei gleichzeitig eine spezifische Perspektive aufzuzwingen? Es genügt nicht mehr, Regisseure oder Künstler einzuladen, damit sie dem Publikum in ihren Inszenierungen von ihrer Sicht der politischen Lage und dementsprechenden (realen oder fiktiven) Fällen erzählen.

Empfangen werden die Zuschauer_innen an diesem Abend von einer Meute Hunde, nackte Menschenkörper, die sich animalisch auf die Eintretenden stürzen, nur zurückgehalten durch dünne Leinen. Eine erste Verstörung lässt das Publikum innehalten. Es nimmt Platz, wo immer sich eine Sitzgelegenheit bietet. Doch noch ist es nicht in Sicherheit. Maja Degirmendzic, eine Performerin, beruhigt die Hunde, aber nur kurz, um sogleich die Zuschauer_innen einzeln nach ihren Pässen bzw. Ausweisdokumenten zu befragen. Wer nichts dabei hat, um sich auszuweisen, muss gehen, muss den Raum verlassen. Wer notdürftig seine Existenz beteuern kann, muss zumindest umgesetzt werden. Was passiert mir nun, die ich meinen Platz verlassen musste? Bin ich nun auf der Seite derjenigen, die auch weiterhin mit Willkür behandelt werden? Oder bin ich inmitten derjenigen, die doch noch Teil des Abends sein dürfen? Es bleibt unbestimmt, vage, bis zum Schluss. Nach dieser an das Mischen von Karten erinnernden Neupositionierung des Publikums, geht der Vorhang auf. Bilder von flüchtenden Menschen erscheinen auf einer Leinwand. Sind diese Bilder von heute? Von gestern? Sind sie gar noch älter? Und was mache ich nun mit meinem voyeuristischen Blick auf diese Menschen, durch den kleinen Ausschnitt hindurch, den mir der Vorhang bietet. Leicht beklommen wandert die Aufmerksamkeit auf eine Eisenkarre, mit der auf Schienen säckeweise Erde in den Raum gefahren und auf dem Boden verteilt wird. Und wieder türmen sich Assoziationen auf. Erinnerungen an Konzentra-

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tionslager scheinen auf, der Geruch der Erde ist nicht friedvoll, vielmehr haftet ihm Blut-und-Boden-Ideologie an, verstärkt, als drei Performer_innen mit Sprühflaschen Wasser auf der Erde verteilen. Auf den Flaschen finden sich die Etiketten: „Refugees Welcome“, „Identität“ und „Deutsche Werte“. Dann wird es dunkel. Wie eine Geistererscheinung tritt etwas Hörbares in den Raum. „Sie kommen. Sie kommen. Sie kommen“ tönt es aus einem Lautsprecher, der, an einem fast geisterhaft sich bewegenden Performer, sich mal näher mal weiter entfernt angsteinflößend durch den Raum bewegt und ihn wie eine unwirkliche Erscheinung auch wieder verlässt. Und dann der Atem eines Menschen. Er scheint zu rennen, er wird gehetzt, er bekommt keine Luft mehr. Ein Dröhnen erschüttert den Raum und eine in weiße Ku-Klux-Klan-Gewänder gehüllte Gruppe tritt auf. Die Bässe, die ihr Erscheinen begleiten, dringen

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durch den Körper. Auf die weißen Kleider sind verschiedene Nationenflaggen – deutsche, österreichische, ungarische – projiziert.

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Die Akteur_innen von GE wollen nicht „nur“ das Zuschauen. Sie setzen das Publikum einer Ganzkörpererfahrung aus. Sich zu entziehen ist nicht möglich, außer man verließe den Saal, doch niemand geht. Plötzlich wird es hell. Die Erde wird zu Beeten zusammengerecht. Samen werden gestreut. Eine Toncollage aus Fragmenten der Berichterstattung über alles, was mit den aktuellen Flüchtlingsbewegungen in Zusammenhang steht, wird hörbar. Bedrückendes gibt es zu hören, kaum aushaltbar, Tondokumente von Hass, von Angst und Abwehr des „Fremden“, des Unbekannten. Hörbar werden Vertreter_innen verschiedenster Gesellschaftsschichten, auch Politiker_innen aller Couleurs, kein Unterschied lässt sich mehr ausmachen. Eine Wand wird hineingeschoben, direkt in die Mitte, die nun das Publikum in zwei Seiten trennt. Es folgt eine Zäsur. Die Smiths singen vom Band und alle Performer_innen stehen still und bewegen lautlos die Lippen zu „Please, please, please, let me get what I want“. Endlich ein Moment der Befriedung, der Hoffnung. Ein Wunsch. Doch schon lösen sich die Akteur_innen wieder aus ihrem Innehalten, sie schwärmen zur nächsten Aktion aus. Und ab jetzt existieren nur noch ein Jen-

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seits und ein Diesseits der Mauer. Auf der einen Seite wird Sekt ausgeschenkt, auf der anderen Seite hört man die Geschichte der Mauer, jedweder Mauer.

Vor der Mauer, hinter der Mauer T God’s Entertainment.

Es gibt eine Chance, am Geschehen weiter teilnehmen zu dürfen, nämlich wenn man sich schleusen lässt, von der einen Seite der Mauer zur anderen. Akteur_innen begeben sich unter die Zuschauer_innen, sie verführen zu einem Zwiegespräch, in verschiedenen Sprachen, aber immer mit Fragen wie „Können Sie mir sagen, wie ich mich am besten integrieren kann?“ oder „Können Sie mir helfen, mich mit Deutschland zu identifizieren?“. Das Geschehen löst sich in viele kleine Einzelstücke auf. Hier intime Rendezvous, dort das Ersticken im Wasser, daneben ein Flüchtlingsgipfel, bei dem sich eine Performerin körperlich völlig verausgabt, indem sie eine Schräge hoch und runter läuft und aktuelle Integrationsdiskurse ad absurdum führt. Angeschmiegt an Nationalflaggen begeben sich Akteur_innen einzeln in einen orgiastischen Rausch mit diesem Symbol wirkmächtiger Abgrenzung. Zuletzt gipfelt die an einen Alptraum erinnernde Inszenierung in einer Verleihungszeremonie: Tote erhalten die Staatsbürgerschaft. Was die Akteur_innen von GE in ihrer Performance tun, ist anarchisch und jenseits einfach zu verhandelnder Fakten. Ihr Agieren eröffnet einen Raum höchster Ambivalenz, sie verweigern eine Erlösung daraus. Sie bieten keine Grautöne an, sondern drängen das Publikum mitten hinein in eine unausweichliche Situation, die ihnen etwas abverlangt, nämlich sich zu entscheiden

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Vor der Mauer, hinter der Mauer T God’s Entertainment.

und sich zu bewegen. Der fragmentierte Blick auf das Geschehen, den die Mitglieder von GE kreieren, entspricht einer Gegenwart, die unüberblickbarer kaum sein kann. Doch GE finden sich mit diesem Status quo nicht ab. Sie geben ihren Abend frei, sodass sich das Publikum selbst zusammensetzen muss, was es sehen will und was nicht. Jede_r einzelne Zuseher_in muss sich ihren_seinen Abend selbst erarbeiten, muss sich in Bewegung setzen und sich auf unsicherem Terrain vorwärts tasten. Das ist eine der unumgänglichen Situationen, die dieser Abend mit sich bringt: Sich aus der Masse lösen zu können und sich individuell verantwortungsbewusst, zumindest um ein Handeln zu bemühen. Nur dann gibt es die Möglichkeit mehr zu sehen als die graue Wand. In einer letzten Aktion werden alle Zuschauer_innen wieder ein gemeinsames Erlebnis haben: Es ergeht die Bitte bzw. der Appell, gemeinsam die deutsche Nationalhymne zu singen, es wird ruhig im Saal. Keine_r steht auf, als wäre diese

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Aufforderung ein witziges Anhängsel. Die Aufforderung wird wiederholt und wiederholt. Es scheint GE ernst zu sein. Da beginnt das Publikum zu raunen. Einzelne Stimmen werden hörbar, von Zumutung ist die Rede. Einzelne erheben sich, damit die bedrückende Stimmung ein Ende findet. Andere wechseln auf die andere Seite der Mauer, um sich der unangenehmen Situation zu entziehen. Aber niemand verlässt den Saal. Das Publikum setzt sich der Situation aus, harrt aus. Als wüssten alle, dass es nun um sie geht, um jede_n, um ihr individuelles Verhältnis zur Gegenwart, um ihr persönliches Handeln im Hier und Jetzt. Und dann wird die Hymne gesungen, als ca. zwei Drittel des Publikums steht. Doch bis dahin ist eine Viertelstunde vergangen. Für diesen Abend muss man keine Übersetzungsarbeit leisten. Keine Zuschauer_in braucht dafür Kenntnisse eines Bildungskanons oder spezielle Kulturtechniken, um die theatralen Formen und Mitteln zu dekonstruieren. Die Akteur_innen von GE tun, was sie tun und immer ist es das, was es ist. Ihre Aktionen sind ohne Umwege verstehbar, führen dicht an Emotionen, kein symbolhaftes Wissen steht dazwischen. In ihrem zweiten Teil der Tragödie, den GE beim Donaufestival in Krems im Frühjahr 2016 realisierten, verwendete das Kollektiv Versatzstücke aus dem ersten Teil, verdichteten diese, führten sie weiter bzw. erweiterten sie um neue Elemente. Unter der Überschrift „Niemand hat Euch eingeladen“ herrschte bereits vor Beginn der Performance Unsicherheit vor : Wird sie stattfinden? Werde ich eingelassen, werde ich rausgeschmissen? So ruft gleich zu Beginn die Performerin Maja Degirmendzic eine Polizeistelle an. Sie fragt um Rat, was sie tun solle, wenn Menschen zu einem kommen, die man gar nicht eingeladen hat. Darf sie alle wieder rauswerfen? Ist das gesetzlich in Ordnung? Es haben ja alle Karten gekauft, fügt sie hinzu. Eine unauflösliche Situation. Es ist verblüffend, wie GE mit solchen Mitteln die Reflexion des Zeitgeschehens und der eben erzeugten theatralen Situation miteinander verbindet. Auch an diesem Abend arbeitet das Kollektiv wieder mit Perfomer_innen, die sie in Wien und Umgebung kennen gelernt hat. Doch diesmal erscheinen diese mehr als nur die Mitschöpfer_innen des Abends zu sein. Durch eine neue Bühnensetzung werden die Agierenden zu chamäleonartigen Wesen vor einem düsteren Geschehnishorizont. In einem Haus, das nur durch Holzstäbe als solches angedeutet ist, ruhen sich die Spieler_innen zwischen den Aktionen aus. Wie eine graue Masse sitzen sie müde und träge in diesen fragilen vier Wänden, essen und trinken, wie Arbeiter_innen, die abgestumpft auf die Sirene warten, die den Anfang oder das Ende einer Arbeitspause setzt. Und sobald sie den transparenten Ort verlassen, werden sie zu Erfüllungsgehilf_innen der Aktionen. Eine düstere, schaurige Situation: Das Publikum wird Zeuge von Transformationen, nicht nur die der Agierenden, sondern auch die der Aktionen. Auch wenn in Krems wieder mit Gleichzeitigkeit von Aktionen gearbeitet wird, so scheinen diese einer Mutation anheim zu fallen, sie finden nicht nebenein-

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ander statt, sondern gehen mehr von einem ins andere über. Eine Aktion fließt in die andere, realisiert von scheinbar assimilierten Menschen, die nicht mehr tun als zu tun, ganz ohne innerlichen Beweggrund, ohne ein Wissen um die Wirkungsmacht ihres Handelns. Es ist unheimlich. Die Hunde verändern sich in grausige Gärtner, in ekelhaft agierende Beschmutzer hilflos Ausgelieferter, hin zu Schnittern, die den Tod bringen. Und dann wirkt der Song von den Klängen der Smiths, der auch hier lautlos aus den Mündern klingt, nicht mehr heilsversprechend oder hoffnunsvoll. Der Song gerät zum Abgesang auf das Unabänderliche. Kein Wünschen mehr. Das war einmal. Aber auch diese kurze Gewissheit wird verunsichert. Der Wunsch taucht auf, und verschwindet, vielleicht eine Erinnerungsspur. Jetzt ist es jedenfalls vorbei mit wünschen. Die Agierenden von GE haben die Schrauben angedreht und setzen die Zuschauer_innen in diesem der Tragödie zweitem Teil nur wenige Monate später einer neuen Erfahrung aus: Nicht mehr jener, in der die Bewegung für Veränderung sorgen kann, sondern einer Des-sich-nicht-Bewegens, die uns hinabzieht in einen klebrigen Morast aus Hass und Mitläufertum. Entsprechend einer Politik, in der Konsens zur Starre verkommt und Verantwortung mit Abgrenzung gleichgesetzt wird. So wandeln die Mitglieder von GE jedes ihrer Projekte in einen Akt, der das Kommende fast schon zu antizipieren scheint. Sie haben der Gegenwart immer etwas voraus und sie treffen im Akt des Entstehens ihrer Projekte genau den Punkt, der wahrhaftiger und schmerzhafter nicht sein kann. Weil sie von sich erzählen. GE sprechen nicht für jemanden oder über jemanden, nicht über etwas, sondern inmitten der Dinge sprechen sie mit ihnen. Indem sie Material sampeln, das sie aus verschiedenen Wirklichkeiten gesammelt haben (u. a. Medien, Kunst, Literatur, Politik) verorten sie sich in ihren Performances immer in einen größeren Sinnkontext hinein. So begeben sie sich mit ihren Fragen, mit ihrer Verzweiflung, mit ihrer Hoffnung hinein in die Schieflagen und Problemfelder, als deren Teil sie sich immer sichtbar machen.

Gerald M. Bauer

Kindheit – Migration – Theater

Kindheit als ideologisch-soziale Konstruktion der Aufklärung Kindheit – das ist ein Begriff, so möchte man meinen, der sich in unserer heutigen Kultur als Selbstverständlichkeit aus unserem kollektiven Gedächtnis erklärt. Denn wenn wir das Wort „Kindheit“ hören, so vermeinen wir schnell zu wissen, was damit gemeint ist: Kindheit erklärt sich von selbst als ein zeitlich begrenzter Lebensabschnitt, der besonderen Schutzbedürfnissen durch mündige Erwachsene – also Nicht-Kindern – unterliegt, ihnen so lange Obsorge bietet, bis sie selbst als erwachsene Menschen in die Welt integriert sind. Wie alle gesellschaftlich geprägten Phänomene bedingt der soziale Wandel das Verständnis von Kindheit. Kindheit und das Aufwachsen von Kindern ist in geographische Besonderheiten, soziale Disparitäten, in politische Machtverhältnisse eingebunden.1 Eine allgemeine, interkulturelle und global gültige Definition lässt sich maximal auf ein äußerst kleines gemeinsames Diminutiv herunterbrechen, wie die UN-Kinderrechte es versuchen: Generalisierungen und Auslassungen bilden dabei die Basis. Und selbst, wenn wir einzig unseren eurozentristischen Blickwinkel von Kindheit betrachten, so stellt sich schnell heraus, dass es maximal zahlreiche Dispositive von Kindheiten gibt, keinesfalls aber ein einheitliches Bild, das diesem Phänomen nahe kommt. Denn historisch betrachtet dürfen wir unseren Kindheitsbegriff als recht jung bezeichnen. Der französische Anthropologe Philippe Ari8s hat 1960 in seiner nach der Veröffentlichung methodisch als bahnbrechend gefeierten Studie die Geschichte der Kindheit nachgewiesen,2 dass Kindheit, verstanden als Lebensabschnitt, der 1 Sabine Andresen, „Konstruktionen von Kindheit in Zeiten gesellschaftlichen Wandels“, in: Christine Hunner-Kreisch /Stephan, Manja (Hg.), Neue Räume, neue Zeiten. Kindheit und Familie im Kontext von (Trans-)Migration und sozialem Wandel, Wiesbaden 2013, S. 21–32, hier S. 21f. 2 Oft kritisiert wurde der Totalitätsanspruch, den die deutsche Übersetzung dieser Studie suggeriert. Der Originaltitel „L’enfant et la vie familiale sous l’ancien r8gime“, erschienen

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besonderem Schutz durch Erwachsene unterliegt, einer Idee der Aufklärung entstammt.3 Davor – also bis in die frühe Neuzeit waren junge Menschen, sobald sie essen und einigermaßen motorisch versiert waren, kleine Erwachsene. Weder wurde spezielles Wissen vor ihnen tabuisiert noch unterlagen sie anderer, besonderer Schutzbedürfnisse, die wir heute in unserem Common Sense als selbstverständlich erachten würden. Ab dem Zeitpunkt, an dem Kinder „stubenrein“ waren, waren sie Erwachsene, also im Alter von maximal drei bis vier Jahren. Die Ikonographie bis in die frühe Neuzeit hinein beweist: Es fehlen in der Zeit des Mittelalters die Bilder, die – mit Ausnahme des Jesuskindes – eine Abgrenzung von Kindern und Erwachsenen erlauben würden. Dass Kindheit heute als längerer Zeitraum definiert wird als man bis dahin annahm, ist dem Erstarken zweier Institutionen zu verdanken, die untrennbar mit der Ideenwelt der Aufklärung verbunden sind: einerseits der Schule, die durch jahrelange kontinuierliche und zeitintensive Wissensvermittlung Kindheit verlängerte, andererseits dem Erstarken der patriarchal geprägten Institution Familie als kleinste Keimzelle staatlicher, bürgerlicher Ordnung. Was wir „Familie“ nennen – die Gemeinschaft von Eltern und Kindern – entwickelte sich in Europa erst im 15. und 16. Jahrhundert allmählich aus den größeren Sippenund Stammesverbänden. Familie wird erst dann zur moralischen Institution umgewandelt. Es darf also festgestellt werden, dass, wenn wir diesen historischen Gedanken einfließen lassen, unser europäischer Begriff von Kindheit eine höchst junge Genese besitzt. Kaum war das Kind „erkannt“, wurde es innerhalb des aufklärerischen Kontextes moralisch beladen. Aufklärung, als europäische Errungenschaft, die sich unter dem darunterliegenden Etikett der moralischen Überlegenheit favorabel zur Abgrenzung gegenüber anderen Kulturen eignet – so kennen wir das Phänomen aus zahlreichen Schriften der Moralisten des 18. Jahrhunderts. Gemeinsam ist ihnen die Überzeugung der überlegenen Rationalität des Menschen: Wenn wir uns die Welt nicht erklären können, dann liegt es nicht daran, dass die Welt nicht rational erklärbar wäre, sondern vielmehr an der Tatsache, dass unsere menschliche Ratio noch nicht den Schlüssel gefunden hat. Toleranz und Gleichheit, die unantastbare Würde des Menschen und der unabdingbare Fortschrittsglaube durch die empirischen Erkenntnisse menschlicher Ratio – dies sind nur einige Schlagwörter, die das „westliche Denken“ prägen und in weiterer Folge die wohlfahrtstaatliche Organisation des Aufwachsens und des Generationenverhältnisses bestimmen werden. 1960, widmet sich hier bedeutend bescheidener dem Zeitabschnitt des absolutistischen Herrschaftssystems in Frankreich vom 16. Jahrhundert bis zur französischen Revolution von 1789. 3 Philippe AriHs, Geschichte der Kindheit, übers. v. Caroline Neubauer und Karin Kersten, München 111994.

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Unter dem Stichwort „schwarze Pädagogik“ wurde das Ideal frühaufklärerischer Erziehung retrospektiv zusammengefasst:4 Der willenlose Gehorsam des Kindes gegenüber der erwachsenen Autorität, das Anerkennen, dass Strafe nicht nur ein probates, sondern gerechtes Mittel der Erziehung sei, wurde Programm und blieb es, bis Anfang des 20. Jahrhunderts reformpädagogische Bewegungen dieser allumspannenden Ideologie andere Konzepte entgegensetzten. Dies ermöglichte das Offenlegen der Gefährdung von Kindheitsräumen und deren Brüchigkeit.5 Denn nach wie vor erweist sich das Verhältnis Kind–Erwachsene_r als interdependentes Geflecht, das in Fragen sozialer Abhängigkeiten keinesfalls gleichwertig rangieren kann und wo Reversibilität streng genommen eine Utopie darstellen muss.

Kindheit als „psychosoziales Moratorium“ Wie ließe sich also in Zeiten gesellschaftlichen Wandels, der augenblicklich massiv durch eine der größten Migrationsbewegungen in Europa geprägt ist und vor der Kulisse eines wiedererstarkten nationalstaatlichen Denkens stattfindet, ein anderer Zugang zum Phänomen Kindheit finden, als die oben in Andeutungen ausgeführten historischen Determinanten einer eurozentristischen Gedankenwelt? Der Psychoanalytiker und Jugendforscher Erik H. Erikson der auf der Flucht vor der NS-Diktatur das Phänomen Vertreibung und Emigration persönlich erlebte, hielt den Begriff „Kindheit“ für eine spezifisch gestaltete Zeit der Entpflichtung und beschrieb diese mit dem von ihm geprägten Begriff des „psychosozialen Moratoriums“, der heute immer mehr Akzeptanz und Relevanz in der Kindheitsforschung findet: Ein Moratorium ist eine Aufschubsperiode, die jemandem zugebilligt wird, der noch nicht bereit ist, eine Verpflichtung zu übernehmen, oder die jemandem aufgezwungen wird, der sich selbst Zeit zubilligen sollte. Unter einem psychosozialen Moratorium verstehen wir also einen Aufschub erwachsener Verpflichtungen oder Bindungen und doch handelt es sich nicht nur um einen Aufschub. Es ist eine Periode, die durch selektives Gewährenlassen seitens der Gesellschaft und durch provokative Verspieltheit seitens der Jugend gekennzeichnet ist.6

Der Terminus „Moratorium“ ist dem juristischen Vokabular entlehnt und zielt dort auf die (zeitlich begrenzte) Entpflichtung eines Schuldners von seinen 4 Katharina Rutschky (Hg.), Schwarze Pädagogik. Quellen zur Naturgeschichte der bürgerlichen Erziehung, Berlin 1997. 5 Vgl. Andresen, „Konstruktionen von Kindheit in Zeiten gesellschaftlichen Wandels“, S. 26. 6 Zit. nach ebd.

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Schulden ab. Für eine bestimmte zeitliche Frist und unter bestimmten Auflagen kann der Schuldner (das wäre in unserem Fall das Kind) von seinen Aufgaben befreit werden, um später wieder umfassend in seine Pflichten und somit in die Gesellschaft integriert zu werden – ganz im Sinne der Aufklärung. Die Familie – also meist die übermächtige Vaterfigur – übernimmt die Aufgabe, das Kind zum wertvollen Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft zu erziehen, und das über Jahrhunderte gerne mit den oben angedeuteten gewaltsamen Mitteln der sogenannten schwarzen Pädagogik. Es versteht sich von selbst, dass diesem Prozess mehr Zeit eingeräumt werden musste, als den im Mittelalter und der Frühneuzeit veranschlagten ersten drei bis vier Lebensjahre eines Menschen. Kindheit und Jugend sind dementsprechend durch retardierende Momente gekennzeichnet, das heißt durch Bildungsinstitutionen werden junge Menschen auf den Arbeitsmarkt oder die Familienarbeit vorbereitet und sind idealerweise vorläufig vom Gelderwerb befreit. Der Begriff des psychosozialen Moratoriums kann seine wirtschaftliche Komponente nicht verleugnen, ebenso die darin eingeschriebene utilitaristische Konzeption einer „Menschwerdung“ als Zoon socialis. Was ist also dieser Aufschub, den das Moratoriumskonzept beinhaltet? Den Maßstab bildet „die Perspektive des produktiven männlichen Erwachsenenalters, das weitgehend durch die Verpflichtungen zur Arbeit, durch zunehmende politische Partizipation und durch wohlfahrtstaatlich organisierte soziale Integration gekennzeichnet ist“.7 Das ist also die Zielsetzung, dafür, dass dieser gesellschaftlich akkordierte „Aufschub“, das Moratorium, gewährt wird. Es kann also von einer höchst deterministischen Einschätzung des Konzepts „Kindheit“ ausgegangen werden, auf die man sich jedoch, bei realistischer Betrachtung einigen könnte. Gleichzeitig ist anzumerken, dass dem Terminus Moratorium aus dem Geist der Aufklärung eine autoritäre Konstruktion eingeschrieben ist. Begriffe wie Mündigkeit und damit verbundene Selbstbestimmtheit sind in der Moratoriumsphase ausgeschaltet; vermutlich umso mehr, wenn Familien beschließen oder gezwungen werden, die Heimat zu verlassen.

Die juristischen Grundlagen für die Rechte des Kindes Aus all diesen gedanklichen Diskursen entwickelte sich am Ende des letzten Jahrtausends eine Rechtslage für Kinder – quasi als in den Befugnissen erweiterte Ergänzung zu den Menschenrechten. Dessen Resultat ist ein gewissermaßen universalistisches Konzept von Kindheit, das sich in den Formulierungen 7 Ebd., S. 24.

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der UN-Kinderrechtskonvention niederschlägt. Es handelt sich dabei um einen eurozentristischen Wertekanon, der global Akzeptanz und Anwendung finden soll, nachdem sämtliche Staaten mit einer Ausnahme, den USA, die UN-Kinderrechte ratifiziert haben. Dieses Übereinkommen über die Rechte des Kindes, kurz (UN-Kinderrechtskonvention, Englisch: Convention on the Rights of the Child, CRC), wurde am 20. November 1989 von der UN-Generalversammlung angenommen und trat am 2. September 1990, dreißig Tage nach der 20. Ratifizierung durch ein Mitgliedsland, inkraft. Neben der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ stellt die UN-Kinderrechtskonvention ein erweiterndes umfassendes, für alle Vertragsstaaten völkerrechtlich verbindliches Übereinkommen zum Schutz der Menschenrechte dar. In der Kinderrechtskonvention wird den speziellen Bedürfnissen der Kinder als besonders schutzbedürftige Gruppe Rechnung getragen. In 54 Artikeln werden darin jedem Kind (in der Kinderrechtskonvention sind alle Menschen unter 18 Jahren als „Kind“ definiert) grundlegende politische, soziale, ökonomische, kulturelle und bürgerliche Rechte zugesichert. Erstmalig soll damit jedes Kind als selbstständige_r Träger_in von Rechten anerkannt und respektiert werden. Zusammenfassend basieren die 54 Artikel auf vier wesentliche Themen: 1. Diskriminierungsverbot: Alle Kinder haben die gleichen Rechte. Kein Kind darf – egal aus welchen Gründen (Hautfarbe, Herkunft, Staatsangehörigkeit, Sprache, Geschlecht, Religion, Behinderung, Vermögen der Eltern etc.) – benachteiligt werden. 2. Vorrang des Kindeswohls: Bei Entscheidungen, die Kinder betreffen, muss das Wohl des Kindes ein vorrangiges Kriterium sein. 3. Entwicklung: Alle Kinder haben ein Recht auf Leben, Existenzsicherung und bestmögliche Entfaltungsmöglichkeiten. 4. Beteiligung: Kinder sollen bei Entscheidungen, die sie selbst betreffen, angemessen eingebunden werden und ihre Meinung äußern können.8 Ebenso festgeschrieben ist die Verpflichtung des Staates, Zugang zu Bildung zu gewährleisten, das Recht auf die Gesundheit zu achten, dem Kind ein Recht auf Spiel und Erholung einzuräumen, für eine gewaltfreie Erziehung zu sorgen und – last but not least – Schutz im Krieg und auf der Flucht zu bieten. In § 22 ist zu lesen: Die Vertragsstaaten treffen geeignete Maßnahmen, um sicherzustellen, dass ein Kind, das die Rechtsstellung eines Flüchtlings begehrt oder als Flüchtling angesehen wird, 8 UNICEF Österreich, „Die UN-Kinderrechtskonvention“, o. A., https://www.unicef.at/kinder rechte/die-un-kinderrechtskonvention/ [23. 07. 2016].

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angemessenen Schutz und humanitäre Hilfe bei der Wahrnehmung der Rechte erhält und zwar unabhängig davon, ob es sich in Begleitung seiner Eltern oder einer anderen Person befindet oder nicht.9

Weiters wird festgehalten, dass das Kind bei der Suche nach seinen Familienangehörigen zu unterstützen ist: Können die Eltern oder andere Familienangehörige nicht ausfindig gemacht werden, so ist dem Kind im Einklang mit den in diesem Übereinkommen enthaltenen Grundsätzen derselbe Schutz zu gewähren wie jedem anderen Kind, das aus irgendeinem Grund dauernd oder vorübergehend aus der familiären Umgebung herausgelöst ist.10

Damit wäre nun also ein breites rechtliches Fundament gelegt, und der Anspruch des Kindes auf „Schutz und Beistand des Staates“ festgelegt.11 Aufgrund der gegenwärtigen Fluchtbewegung wird sehr wenig Bedacht auf die Einhaltung der auch durch Österreich im Jahr 1992 ratifizierten Rechte des Kindes genommen; davon wissen zahlreiche NGOs zu berichten.12 In ihrem Artikel zum 25 jährigen Jubiläum der Ratifizierung der UN-Kinderrechte, meint die Rechtsexpertin für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (UMF) Katharina Glawischnig: In Österreich hat man die Frage nach der Rechtsstellung von Flüchtlingskindern wohl dadurch beantwortet, dass der Begriff mit dem Wort Flüchtling beginnt, daher werden sie vorrangig der Kategorie Flüchtlinge zugeordnet, erst dann sind sie irgendwie auch Kinder – in jedem Fall aber andersartige Kinder.13

Und als äußeres Zeichen für ihre Feststellung wittert sie in einer merkwürdigen österreichischen Ressortaufteilung den Beweis ihrer Aussage: Flüchtlinge fallen nämlich in die Kompetenz des Bundesinnenministerium, für Kinder allerdings ist das Ministerium für Familie und Jugend zuständig.14 Diskriminierungstendenzen, welche die UN-Konvention eindeutig untersagt, gibt es selbstverständlich, und am offensichtlichsten werden diese, wie könnte es anders sein, in finanziellen Belangen: Einrichtungen, die sich auf die Betreuung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen spezialisiert haben, erhalten einen Tagessatz von 39 bis 77 Euro, dazu kommen Kosten für einen Deutschkurs in der Höhe von 726 Euro, die natürlich binnen kürzester Zeit verbraucht sind15 und 9 Praetor Intermedia UG, „Übereinkommen über die Rechte des Kindes“, o. A., http://www. kinderrechtskonvention.info/uebereinkommen-ueber-die-rechte-des-kindes-370/ [23. 07. 2016]. 10 Ebd. 11 Ebd., § 2, Abs. 2. 12 Vgl. Katherina Glawischnig, „Kein Kind wie du und ich“, in: Asyl aktuell 3/2014, S. 2–6. 13 Ebd., S. 3. 14 Vgl. ebd., S. 5. 15 Vgl. ebd.

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womit bewiesen wäre, dass das in der Kinderrechtskonvention ebenfalls festgeschriebene Recht auf Bildung für geflüchtete Kinder ebenfalls als höchst begrenzt gilt. Fremd untergebrachte Kinder mit österreichischer Staatsbürgerschaft erhalten im Gegensatz dazu in allen Bundesländern einen Tagessatz beginnend mit 120 Euro nach oben hin offen.16 Allein also beim Vergleich dieser Zahlen erwacht man recht schnell aus dem Tagtraum von der Existenz von Kinder- und Menschenrechten, und das Luftschloss des Diskriminierungsverbots verblasst ebenso rasch. Es liegt also nahe, zu folgendem Fazit zu kommen: Kinder, die den Asylstatus beantragen sind die Marginalisierten der Marginalisierten. Erwähnt sei in diesem Zusammenhang noch das äußerst problematische Feld der Altersfestsetzung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen. Die Untersuchungsmethoden dazu werden von sämtlichen NGOs geschlossen abgelehnt, da die Ergebnisse wissenschaftlich nicht verifizierbar sind und eine Irrtumsamplitude von – oftmals recht entscheidenden – drei Jahren nicht auszuschließen ist. Im Zweifelsfall soll es also vorkommen, dass man die Jugendlichen einfach zu volljährigen Erwachsenen mutieren lässt; etwas, was einer Schlechterstellung mit dem 18. Geburtstag ohnehin gleichkommt.

Überlegungen zum Diskurs für Kinder und Jugendliche in der zeitgenössischen Dramatik „Migration ist in der öffentlichen Meinung ein Problem, obwohl sie längst historisch eine Normalität darstellt, auch wenn sich Deutschland erst seit 2004 selbst als Einwanderungsland bezeichnet“.17 Die einleitende Feststellung der Dramaturgin Annett Israel dürfte mit großer Bestimmtheit auf das Theater im gesamten deutschsprachigen Raum anzuwenden sein: Migration, Flucht und Vertreibung sind im Theater für junge Menschen keinesfalls Themen des Alltäglichen, sondern sie bekommen das Etikett „Problemstück“. Das Thema Migration wird auf deutschsprachigen Kinder- und Jugendtheaterbühnen zwar verhandelt, aber fast immer problematisierend. Von der erwähnten „Normalität“ in der Behandlung migrantischer Zusammenhänge ist man, mit ganz wenigen Ausnahmen, weit entfernt. Dramaturgin Israel meint dazu: Migration wird im Theater meist entlang des öffentlichen Meinungsbildes reflektiert. Insbesondere Jugendliche der zweiten oder dritten Einwanderungsgeneration, die hier 16 Vgl. ebd. 17 Annett Israel, „Kulturelle Identitäten als dramatisches Ereignis. Beobachtungen aus dem Kinder- und Jugendtheater“, in: Wolfgang Schneider (Hg.), Theater und Migration. Herausforderung für Kulturpolitik und Theaterpraxis, Bielefeld 2011, S. 47–63, hier S. 56.

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leben, werden in der Öffentlichkeit nur allzu häufig stigmatisiert: entweder (sic) als die Täter also Kriminelle oder als Opfer von Flucht, Vertreibung und Schlepperbanden, aber auch als Opfer mangelnder Integration durch verfehlte Bildung und daher sozial unterprivilegiert.18

Mehr als im Theater für Kinder sind Theaterstücke für Jugendliche meist Problemstücke, die vor Aktualisierungen und realistischer Darstellung wenig Scheu zeigen: In Anlehnung an die Dramaturgie des Berliner Grips-Theaters wird monolithisch oft ein konkretes „Problem“ auf der Bühne verhandelt. Dass gegenwärtig zu Krieg, Flucht und Vertreibung zahlreiche Stücke vorliegen, hat seine Wurzeln in den Jugoslawienkriegen – zahlreiche Texte entstanden in den 1990er-Jahren bis zur Jahrtausendwende,19 und es darf spekuliert werden, dass nun zum Thema Migration erneut ein Boom zu erwarten ist. Die Gefahr dieser Herangehensweise ist evident: Denn bei allzu konkreter inhaltlicher Problemstellung tritt die Frage, mit welchen ästhetischen Mitteln man einem Thema gerecht werden könne, in den Hintergrund. Übertreibungen, künstlerische Überhöhungen erweisen sich oft als unangemessen in Anbetracht des zu verhandelnden „schwierigen“ Themas. Betrachtet man die Spielpläne der deutschsprachigen Kinder- und Jugendtheater, so darf festgestellt werden, dass diese zwar international, aber nicht zwangsläufig interkulturell ausgerichtet sind.20 Es dominieren Stücke aus Westeuropa, und sie bilden meist (west-)europäische Identitäten ab. Natürlich hängt dies auch mit dem hohen Stellenwert von Theater innerhalb der europäischen Kultur zusammen, andererseits mit der Verlegenheit, sich auf andere Kulturen einlassen zu wollen oder zu können. Im Zusammenhang mit Migration brachte es ein Stück in den vergangenen Jahren zu beträchtlichen Aufführungszahlen, weil es prononciert eine Fluchtgeschichte thematisiert: Mike Kennys Der Junge mit dem Koffer agiert bereits im Titel mit dem Symbol des Koffers als Zeichen einer von außen herangetragenen und problematischen Stigmatisierung für Flüchtende und Asylsuchende. Erzählt wird die Geschichte des zwölfjährigen Jungen Naz, der aus einem nicht näher spezifizierten nordafrikanischen Land als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling nach London zu seinem Bruder fliehen möchte. Dessen Postkarte aus London macht ihm Hoffnung, dass es auch für Naz eine bessere Welt gibt. Analog zu den Geschichten des Seefahrers Sindbad ist der Text in sieben Reisen eingeteilt. Der Seefahrer wird dramaturgisch doppelt eingeführt, weil die Ge18 Ebd. 19 Exemplarisch darf Ad de Bonds Mirad, ein Junge aus Bosnien, 1993 von der niederländischen Wederzijds-Kompanie uraufgeführt, dass auch im deutschsprachigen Raum mehrmals produziert wurde. 20 Israel, „Kulturelle Identitäten als dramatisches Ereignis“, S. 57f.

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schichten aus 1001 Nacht dem Jungen vom Vater vorgelesen worden waren, als Naz noch jünger war. Nun erzählt Naz aus der Ich-Perspektive dem/der Zuschauer_in seine sieben Reisen. Man könnte dem Text unterstellen, dass dieses vermutlich als poetisches Korrektiv zur harten Wirklichkeit ausgewählte Stilmittel nahe am Kitsch vorbeischrammt, quasi als interkulturelles Versöhnungsangebot von Geschichten. Kenny lässt am Ende keinen Zweifel daran, dass in Westeuropa niemand auf Naz gewartet hat, am wenigsten sein eigener Bruder, der sich in einem fünf Quadratmeter großen Zimmer in London durchschlägt und in Anbetracht der Härte seiner Lebensumstände auf den kleinen Bruder gerne verzichtet hätte. Die Angaben auf der Postkarte, die er der Familie geschickt hatte, waren eher zur Beruhigung gedacht, als dass sie der gelebten Wirklichkeit entsprächen. Trotz des Versuches, eine poetische Metaebene einzuziehen, kann das Stück seine eurozentristische Weltsicht kaum verbergen. Der Vergleich mit Sindbad schlägt doppelt zurück, indem er mehr an ein westeuropäisches kulturelles Gedächtnis appelliert als dass es Verständnis für eine andere Kultur erhellen möchte. Die Frage, was vom Autor intendiert wird, ist evident: durch Identifikation mit dem schwierigen Schicksal des Protagonisten soll Empathie evoziert werden. Um der Falle einer prächtig florierenden „Flüchtlingsfolklore“ zu entkommen, unternahm das Kinder- und Jugendtheater Schnawwl Mannheim einen interessanten Versuch mit Kennys Der Junge mit dem Koffer: Sie verließen für eine Produktion den Kontinent, um sich mit dem südindischen Theater Ranga Shankara in Bangalore einen Koproduktionspartner zu suchen. Gespielt wurde von dem internationalen Ensemble auf Deutsch, Hindi und Englisch. Dann tourte die Produktion durch Indien, wurde schließlich auch wieder in Deutschland gezeigt und geriet damit zu einem wichtigen interkulturellen Gesprächsangebot. Wer erzählt wem was? – Diese Frage darf zentral bewertet werden und stellt ganz bestimmt die größte Herausforderung nicht nur in der künstlerischen Produktion dar, sondern auch in Fragen der Kulturvermittlung. Wer kann konkret mit diesem Projekt erreicht werden? Abschließend soll noch eine grundsätzliche Überlegung aus produktionsästhetischer Hinsicht angestellt werden. Es darf nicht übersehen werden, dass institutionalisierte Theaterbetriebe nach wie vor rigorosen Hierarchien unterliegen. Das Verhältnis zwischen Schauspieler_in und Regisseur_in ist kaum als reversibel beschreibbar, selbst wenn die Abhängigkeiten durch klare Arbeitsaufträge bestimmt werden und ein meist stilles Agreement zwischen den beiden herrscht. In der Arbeit selbst werden diese Hierarchien schon aus Gründen einer professionellen Herangehensweise kaum hinterfragt. Das bedeutet aber nicht, dass ein gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis nicht gegeben wäre. Problematischer wird dies schon, wenn Menschen in einer solchen Konstellation zusammenkommen, die nicht den gleichen rechtlichen Status besitzen. Wie lässt

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sich dann noch diese (zumeist nicht reflektierte) Hierarchie im Rahmen einer mehrmals wiederholten Repertoireaufführung am Theater rechtfertigen ohne in eine doppelte Stigmatisierungsfalle zu geraten? Bemühungen und Angebote, diesen Autoritätsdiskurs zwischen Leiter_in und Spieler_in hinterfragbar zu machen, finden sich seit vielen Jahren im Aufgabenbereich der Theaterpädagogik. Denn hier geht es zumeist mehr um einen prozessorientierten Vorgang, als dass ein Resultat (also eine öffentliche Aufführung) als einzig zu beurteilendes Produkt erwartet würde. Seit Jahren gibt es in diesem Arbeitsfeld gleichermaßen ambitionierte wie engagierte Projekte, sich dem Thema Migration zu stellen, sei es in den Schulen selbst, wo Migration Alltag bedeutet, oder in diversen Workshops zu unterschiedlichsten Themen einer Lebensrealität, die uns umgibt. Der/die Spieler_in, ob migrantisch oder nicht, ist zumindest in der Ausgangssituation gleichgestellt. Je nach Aufgabenstellung können bei theaterpädagogischen Projekten selbst sprachliche Barrieren in den Hintergrund treten, wodurch die Gefahr einer unmittelbaren Stigmatisierung minimiert wird. Theaterpädagogik bietet also eine ungemeine Chance, Migration als das zu begreifen, was sie ist: kein Problem, sondern Alltag, Wirklichkeit.

Thomas Hödl

Antike Asylproblematiken. Euripides’ Flüchtlingsfiguren im aktuellen Kontext

Kaum ein Thema pulsiert in der gegenwärtigen Tagespolitik so sehr wie die aktuelle Flüchtlingssituation in Europa. Heftig diskutierte politische Entschlüsse, fremdenfeindliche Aktionen Rechtsextremer oder kriminelle Handlungen durch Asylsuchende füllen tagtäglich die Zeitungen. Trotz der besonderen Aktualität und Spezifik der derzeitigen Situation finden sich bereits in den 2.500 Jahre alten Werken des griechischen Dramatikers Euripides Überlegungen, die mit dem aktuellen Diskurs zusammen gedacht werden können. Es lassen sich auffallende Parallelen der gegenwärtigen Situation von flüchtenden Menschen und Beispielen aus der Antike erkennen, die Euripides in seinen Dramen mit beachtenswerter Aktualitätsrelevanz behandelt. Flüchtlinge nehmen in Euripides’ Werk eine bedeutende Position ein. Das persönliche Asyl (im Gegensatz zum sakralen) war zu seiner Zeit eine relativ neue Einrichtung und Asyl im Allgemeinen wurde zu einem kontrovers diskutierten Phänomen.1 Insbesondere in den Tragödien Medea,2 Iphigenie bei den Taurern3 und Helena4 greift Euripides die Themen Flucht und Asyl auf. Die Titelheldinnen der behandelten Stücke sind drei Frauen, die aus ihrer Heimat fliehen mussten. Unterschiede finden sich jedoch in den Gründen ihrer Flucht: Die Mörderin Medea flieht zusammen mit ihrem Geliebten Iason vor der Bestrafung ihrer Verbrechen; Iphigenie flieht vor ihrer ungerechtfertigten Hinrichtung;5 und die verheiratete Helena flieht vor der Entführung durch einen

1 Vgl. Gerhard Thür, „Gerichtliche Kontrolle des Asylanspruchs“, in: Martin Dreher (Hg.), Das Antike Asyl, Köln 2003, S. 23 sowie Martin Dreher (Hg.), „Hikesie und Asylie in den Hiketiden des Aischylos“, in: Das Antike Asyl, Köln 2003, S. 75. Letzterer bespricht mit den Hiketiden des Aischylos zudem die Asylthematik im Stück eines anderen griechischen Tragödienschreibers. 2 Euripides, Medea, übers. v. Paul Dräger, Stuttgart 2015 [2011]. 3 Euripides, Iphigenie bei den Taurern, übers. v. Paul Dräger, Stuttgart 2011. 4 Euripides, Helena, übers. v. Peter Handke. Berlin 2010. 5 Obwohl in den drei behandelten Stücken die Flucht selbst lediglich als Vorgeschichte berichtet wird, findet sie sich in Iphigenies Fall auch als Finale von Euripides’ anderem Stück Iphigenie in Aulis.

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fremden Mann und der damit einhergehenden Schande. So setzt Euripides dezidiert weibliche Flüchtende ins Zentrum der Stücke. Patriarchale Strukturen und mangelnde Gleichberechtigung, die Frauen aus gegenwärtigen Fluchtländern heute noch in eine starke Abhängigkeit zu ihrer Familie und männlichen Vormündern setzen, kommen bei dieser Disposition in den Sinn. Die eigentlichen Fluchtgründe liegen stets bei männlichen Verwandten. So flieht Medea wegen des für ihren Geliebten begangenen Brudermords vor ihrem Vater ; Iphigenies Vater ist es, der ihre Hinrichtung veranlasst; und Helena flieht, um ihrem Gatten die Treue halten zu können. Ein breiteres Spektrum an Flüchtlingen einführend versieht Euripides auch einige Nebenfiguren mit Fluchthintergrund: Iason in Medea, Orestes und Pylades in Iphigenie, Teukros in Helena sowie die Chöre in Iphigenie und Helena. Mit den Figuren der Könige Kreon, Thoas und Theoklymenos verleiht der Autor den Repräsentanten der Asyl gewährenden Staaten eine Stimme. Bedenkt man die häufig wechselnden Konnotationen, mit denen Fluchthelfer_innen im Lauf der Geschichte verbunden werden, ist es interessant anzumerken, dass diese Rollen in allen drei Stücken verschiedenen Göttern zufallen. Anstelle Gefahr zu laufen, ein verallgemeinerndes Flüchtlingsbild zu zeichnen, führt Euripides verschiedene Stadien der Integration vor. Medea spricht zwar von der Wichtigkeit, sich den Landesbürgern anzupassen (vgl. Vers 222) und bezeichnet den Chor der Korintherinnen mehrmals als Freundinnen (vgl. Vers 227, 377 sowie 765), dennoch bleibt sie eindeutig eine Fremde, die die „Sitten“ ihrer neuen Heimat nicht übernehmen kann. Für ihre Lage zeigt Euripides zwar Empathie, führt mit anderen Flüchtlingsfiguren jedoch Gegenbeispiele vor: Iphigenie bekleidet in ihrer neuen Heimat als Priesterin ein hohes Ehrenamt. Aus ihren Reden ist zu schließen, dass sie Einfluss auf den Landesfürsten hat (vgl. Vers 742), und dieser ist wiederum überzeugt, dass sich die ehemalige Asylsuchende gut um seine Stadt kümmere (vgl. Vers 1212). Iason und Helena bietet sich die Möglichkeit, in das Herrscherhaus ihrer neuen Heimat einzuheiraten. Im letzten Auftritt von Helena wird selbst das Land, das sie willkommen geheißen hat, auf göttlichen Beschluss nach ihr benannt. Euripides zeigt großes Verständnis für die Opfer, die mit einer Flucht verbunden sind. So wird der Verlust der Familie von allen drei Protagonistinnen thematisiert: Medea beklagt, dass sie im Leben ihrer Kinder keine Rolle mehr spielen kann (vgl. Vers 1024–1027), Iphigenie plagt die Unsicherheit, was mit ihrem Bruder während ihrer Abwesenheit geschieht (vgl. Vers 229–235) und Helena muss in der Fremde vom Tod ihrer ganzen Familie erfahren (vgl. Vers 130–141).6 Die Trennung von den Verwandten quält die drei Frauen aus unterschiedlichen Gründen, die auch im heutigen Kontext relevant sind. 6 Bei der verwendeten Version der Helena handelt es sich um die aktuellste Übersetzung, die

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Zwei weitere aktuelle Hindernisse, denen sich Geflüchtete damals wie heute stellen müssen, werden von Medea angesprochen: Auf der einen Seite hat sie Schwierigkeiten, die Gesetze und Regeln einer ihr unvertrauten Kultur zu erlernen, da sie nicht mit diesen aufgewachsen ist (vgl. Vers 238–240). Was die Bürger_innen Korinths als selbstverständliche Normen ansehen, Normalzustände, die nicht zu hinterfragen sind, erscheint der Asylsuchenden fremd und ungewohnt. Zudem ist sie, aufgrund ihrer fehlenden Bürgerschaft, Ungerechtigkeiten schutzlos ausgeliefert (vgl. Vers 253–258). An anderer Stelle betont sie nochmals den Schutz, den ihr nur eine feste Bleibe bieten könne (vgl. Vers 287–288). Während in Medea damit vor allem die Nachteile der Fremde betont werden, findet sich in Iphigenie die Sehnsucht nach der verlorenen Heimat. Das Heimkehren wird von verschiedenen Figuren als höchstes Gut betrachtet: Iphigenie besiegelt einen Schwur damit, dass sie, wenn sie ihn bräche, „niemals mehr des Fußes Spur nach Argos setzen [möchte]“ (Vers 752). Die Aussicht Pylades’ wiederum, in ebenjenes Argos zurückzukehren, begrüßt der Chor mit einem freudigen Ausruf: „Dich aber – wegen deines glückseligen Schicksals – o Jüngling, achten wir ehrfurchtsvoll, weil du einst dein Vaterland wieder betreten wirst“ (Vers 647–649). Besonders das zweite Chorlied zeigt auf ergreifende Weise das Zurücksehnen nach vertrauten Zuständen, so nichtig diese auch scheinen mögen. Der Chor, bestehend aus jungen Frauen, die wie Iphigenie als Fremde im Tempel der Taurer dienen, beklagt den Verlust verschiedener Bezugspunkte, die er mit Griechenland in Verbindung bringt. Diese schließen Orte und Vegetation sowie gesellschaftliche und religiöse Gebräuche ein (vgl. Vers 1089–1105). Das mehr oder weniger abstrakte Konzept „Heimat“ wird dadurch auf wehmütige Weise mit konkreten Erinnerungen in Verbindung gebracht. Muss diese Stelle auf das griechische Publikum, für das Euripides seine Dramen verfasste, eine besondere Wirkung gehabt haben, bleibt sie auch in der Gegenwart eine eindrucksvolle Passage. Der Text bietet die Möglichkeit, die Varianten der geschilderten Aspekte des eigenen Heimatlandes zu erkennen und sich darüber klar zu werden, was der Verlust dieser vertrauten Elemente bedeutet. Die Sehnsucht nach Heimat erscheint durch den erzeugten Dualismus zwischen Heimat und Fremde umso stärker : Da alle nichtgriechischen Kulturen – wie in der griechischen Antike üblich – gemeinhin als „Barbaren“ bezeichnet werden, erscheinen die Fluchtziele nicht als einzelne, unterschiedliche Orte, von Peter Handke angefertigte wurde und im Insel Verlag erschienen ist. Ich greife für meine Untersuchung des Stücks hauptsächlich auf diese Übersetzung zurück. Da sie jedoch über keine Versangaben verfügt und die Formatierung das Zählen der Verse erschwert, sei angemerkt, dass die betreffende Stelle dort auf den Seiten 18ff. zu finden ist.

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sondern verallgemeinert als die Fremde, als Gegenteil der Heimat. Potenzielle Vorzüge, welche diese Länder für ihre Bewohner_innen haben mögen, werden quasi von der Tatsache überschattet, dass es nicht die vertrauten Vorzüge des eigenen Herkunftslandes sind. Der Verlust der alten überwiegt damit den Wunsch zur Integration in eine „neue“ Heimat. Obwohl die Könige Kreon, Thoas und Theoklymenos den Protagonistinnen der jeweiligen Stücke Asyl gewährten, herrscht in ihren Staaten Fremdenfeindlichkeit vor. Thoas lässt Fremde als Opfer für die Götter hinrichten und ebenso Theoklymenos, allerdings ohne einen Grund dafür zu geben. Selbst Kreon, der nicht so weit geht, will Medea aus seinem Land verbannen, bevor sie sich dort eines Verbrechens schuldig gemacht hätte. Anstatt diese Haltungen zu dämonisieren, zeigt Euripides in seinen Tragödien verschiedene Gründe für die Vorurteile auf. Iphigenie – welche als Priesterin die Opferungen der Fremden im Land der Taurer leitet – erklärt, dass sie Fremden gegenüber stets nachsichtig gesinnt war, bis sie ihr eigenes Unglück und ihre Verbitterung umstimmten: O Herz, elendes, früher warst du gegen Fremdlinge stets sanftmütig und mitleidsvoll, […] [d]och jetzt aufgrund der Träume, wegen welcher wir verbittert sind, im Wähnen, dass Orestes nicht mehr schaut die Sonne, werdet ihr mich übelwollend antreffen, wer ihr auch seid, die ihr je kommt. (Vers 344–350)

Diesen Gedanken fasst sie verallgemeinernd zusammen: „Die Unglücklichen sind ja denen, die noch mehr im Unglück, wenn ihnen selbst es schlecht ergangen ist, nicht wohlgesinnt“ (Vers 352–353). Ihre Gewaltakte gegen Fremde werden damit zu einem Akt der eigenen Frustration. Eine andere Motivation gibt Kreon an, als ihn Medea fragt, warum er sie des Landes verweist. Er gesteht ihr geradeheraus, dass er Angst vor ihr habe (vgl. Vers 281–291). Für diese Furcht nennt er mehrere Ursachen, unter anderem Drohungen der Medea gegen ihn, die an späterer Stelle auch von Iason als Anlass ihrer Vertreibung genommen werden (vgl. Vers 454–458). Euripides zeichnet damit ein höchst ambivalentes Bild der Fluchtsituationen. Die Verbannung Medeas durch Kreon schildert er als ungerecht, zeigt aber auf, dass sie aus nachvollziehbaren Gründen vollstreckt wurde. Ich denke, dass dies eine Sichtweise auf Flüchtlingsgegner_innen ist, die sich auch in der gegenwärtigen Lage anwenden lässt. Wenn im Gespräch ist, die Grenzen zu schließen oder Hilfeleistungen zu versagen, ist dies in einer sozialen Gesellschaft sehr wohl inhuman, kann aber auch in Frustration, negativen Erfahrungen mit Flüchtlingen oder Angst vor dem Fremden/Anderen verwurzelt sein. Dezidiert auf diese Ursachen von Verhetzung einzugehen, die vorurteilsbehafteten Flüchtlingsbilder zu berichtigen, ist damals wie heute essenziell. Um bei Kreon zu bleiben, gilt es zu bedenken, dass nicht nur seine Härte

Antike Asylproblematiken. Euripides’ Flüchtlingsfiguren im aktuellen Kontext

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gegenüber Medea sein eigenes Unglück heraufbeschwört, sondern auch seine Milde. Er selbst gibt zu, schon vieles aus Rücksicht verdorben zu haben (vgl. Vers 348–349) und wenig später wird Medea eindeutig feststellen, dass Kreons mitleidiges Nachgeben – sie bezeichnet es als „Torheit“ – für ihre kommenden Morde verantwortlich ist (vgl. Vers 371–375). Auf den Flüchtlingsdiskurs bezogen könnte dies so gedeutet werden, dass Euripides weder ein ungerechtfertigtes Abweisen noch ein ungerechtfertigtes Entgegenkommen von Seiten der Schutzgebenden für richtig hält. Die zielführende Alternative wäre ein menschliches, verständnisvolles Eingehen auf die konkreten Probleme und die Individualität der einzelnen Schutzbedürftigen. Obwohl dies natürlich einen zeit- und kostenintensiven Prozess bedeuten würde, vertritt der antike Dramatiker damit eine sehr vernunftbetonte Position. Wenn auch nicht so deutlich wie in Medea, verwirft Euripides auch in den anderen beiden behandelten Stücken sowohl ungerechtfertigte Härte als auch ungerechtfertigte Milde von Seiten der Landesfürsten. Erstere fördert Widerstand und den Wunsch, sich mitunter gewaltsam aus einer Opferrolle zu befreien, letztere ermöglicht es schließlich. Iphigenie ist verbittert, weil sie auf Thoas’ Befehl Menschenopfer durchführen muss, doch erst als er ihr vertrauensvoll zwei dieser Opfer sowie ein Götterbild übergibt, flieht sie und stiehlt seinem Land dabei die Götterstatue. Helena ist entrüstet, weil Theoklymenos sie zwingen will, seine Gemahlin zu werden, doch erst als er ihr erlaubt, ein Beerdigungsritual durchzuführen, entkommt sie mit ihrem angetrauten Gatten, was vielen von Theoklymenos’ Gefolgsleuten das Leben kostet. In allen drei Stücken hat die Aufnahme von Flüchtenden zwar negative Konsequenzen, doch es wird deutlich gemacht, dass diese – auch wenn ein Entgegenkommen der Könige sie letztendlich ermöglicht – in begangenen Ungerechtigkeiten begründet sind. In der gegenwärtigen Situation tut sich eine immer größere Kluft zwischen einer bewundernswerten aber auch häufig kritisierten Willkommenskultur auf der einen und einer bestürzenden Fremdenfeindlichkeit auf der anderen Seite auf. Euripides scheint in seinen Stücken mit keinem dieser Extreme zu sympathisieren. Es ist bemerkenswert, wie bei ihm sowohl die Asylsuchenden als auch die Landesfürsten zutiefst menschlich mit positiven wie negativen Eigenschaften geschildert werden. Zusätzlich wird selbst für die erschreckendsten Handlungen von beiden Gruppen Verständnis gesucht. Die Verbannung Medeas durch Kreon erscheint genauso grausam wie Kreons Ermordung durch Medea, aber beide Handlungen haben nachvollziehbare Ursachen. Für eine unparteiische Beachtung beider Seiten bietet sich die diskursive Struktur der griechischantiken Tragödie besonders an. Gleichzeitig wird der Wunsch geweckt, auch im Hier und Jetzt statt vorschnellen Verurteilungen den Dialog und gegenseitiges Verständnis zu suchen. Euripides vermeidet eine Verallgemeinerung, eine Typologisierung des

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„Flüchtlings“, ganz im Gegensatz zu gegenwärtigen Imagines einer entindividualisierten Masse an Hilfesuchenden oder potentieller Terrorist_innen. Stattdessen legt er ein Hauptaugenmerk auf die Individualität und eine höchst differenzierte Zeichnung einzelner Charaktere. Manche integrieren sich in ihre neue Heimat und bringen ihr großen Nutzen, bei anderen hat ihre Aufnahme negative Folgen. Doch sie alle haben nachvollziehbare Gründe für ihr Handeln. Der Dichter zeigt Empathie für ihre Probleme und präsentiert seine Asylsuchenden und Asylgebenden als Individuen in einer Ausnahmesituation, jenseits von Gut und Böse mit jeweils eigenen Hintergründen und Charaktereigenschaften. Zeigen die gegenwärtigen öffentlichen Diskussionen einen erschreckenden Mangel an Differenzierung, ist es umso beeindruckender, wie stark eine solche in Euripides’ Tragödien vorhanden ist. Zu beobachten, wie verständnisvoll er seine Flüchtlingsfiguren als Individuen, Menschen, Mitmenschen behandelt, evoziert geradezu die Reflexion über unseren heutigen Umgang mit Asylsuchenden.

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„Die Zeichen auf meiner Haut sind bindend“ (oder) Menschen sind keine Dunkelziffern. Über Julya Rabinowichs Theatertexte Tagfinsternis und Fluchtarien

„Ich bin nicht daheim. Ich bin angekommen.“1 So lauten die beiden letzten Sätze der poetischen Ouvertüre in Julya Rabinowichs Debütroman Spaltkopf. Sie erzählt darin von Verdrängung und Traumatisierung, von der Suche nach Identität zwischen den Kulturen und Sprachen. Inspiriert hat sie dabei auch ihre Arbeit als Übersetzerin, Rabinowichs Muttersprache ist Russisch, in Wien studierte sie außerdem Dolmetsch. Die Autorin, 1970 in Leningrad (heute St. Petersburg) geboren, kam 1977 mit ihren Eltern nach Wien, wo sie seither lebt, schreibt und malt. Als ahnungslose Siebenjährige wurde sie „entwurzelt & umgetopft“,2 wie sie es bezeichnet. Diese Erfahrung sowie jene als Simultandolmetscherin im Rahmen von Psychotherapiesitzungen für Geflüchtete sind u. a. Themen ihrer Prosa und Theaterstücke. Rabinowich geht es in ihrer Arbeit häufig um den Moment des Übergangs, des Versuchs, neu anzukommen. Differenziert fächert sie etwa in ihrem Theaterstück Tagfinsternis (2014) die Situation einer geflüchteten Familie auf, die – wie es die Autorin bezeichnet „auf der Schwelle steht“,3 die Flucht bewältigt hat, aber noch nicht angekommen ist. „Ankommen“ bedeutet für Rabinowich wenn man durch die Straßen einer Stadt geht, diese Straßen so gut kennt wie seine Wohnung, dass man sie blind abgehen kann und weiß, wo man sich befindet, dass man weiß, welche Stimmung in welchen Bezirken und welchen Teilen dieser Stadt herrscht, dass man weiß, welche Art von Leuten man in welchen Lokalen trifft, dass man versteht, was angedeutet, aber nicht ganz ausgesprochen wird…Wenn man beginnt, innerhalb der Gesellschaft einen solchen Platz einzunehmen, der einem sowohl das Beobachten als auch das Kommentieren ermöglicht. Solange man ein bloßer Beobachter ist, ist man natürlich noch nicht angekommen. […] Das Ankommen unterscheidet sich – für mich–vom Daheimsein in dem, dass es sehr bewusst gemacht werden muss. Es braucht 1 Julya Rabinowich, Spaltkopf, Wien 2011, S. 12. 2 Julya Rabinowich, „Es muss verändert werden“, in: Brigitte Schwens-Harrant (Hg.), Ankommen. Gespräche mit Dimitr8 Dinev, Anna Kim, Radek Knapp, Julya Rabinowich, Michael Stavaric, Wien [u. a.] 2014, S. 53–87, hier S. 55. 3 Ebd., S. 58.

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eine Aktivität, eine Konzentration und eine Arbeit, das passiert nicht unbewusst, man kommt nicht unbewusst wo an. Aber man kann sich unbewusst heimisch fühlen.4

Die geflüchtete Familie in Tagfinsternis ist zwar bereits angekommen, aber noch nicht heimisch geworden, geschweige denn hat sie ein neues Zuhause gefunden. Seit zwei Jahren wohnt sie in einer Asylunterkunft am Berg und wartet auf einen Bescheid (gemeint ist vermutlich das Asylwerberheim Wölfnitz, bekannt auch als Asylwerberheim auf der Saualm in Kärnten). Die Situation stagniert, es gibt nur vage Hoffnungen, ein Ankommen zwar, aber schon lange kein Weiterkommen mehr. Bewegung sucht Eli, der Vater, im Sport, doch nach den Monaten des Wartens nehmen Ungeduld und das Bedürfnis, etwas Sinnvolles zu tun und dazuzugehören, überhand. „Arbeiten will ich. In einer eigenen Wohnung wohnen. […] Jeder Bissen erinnert mich daran, dass wir hier fremd sind. Alles ist seltsam. […] Hier ist alles eintönig“, sagt Eli am Beginn zu seiner Frau Petimat. „Besser eintönig, als dass dein Sohn einrücken und gegen seine eigenen Landsleute kämpfen muss“,5 repliziert sie. Nachts werden sie von den Erinnerungen an früher heimgesucht, ihr Zuhause haben sie verloren, das Haus wurde abgefackelt, Petimats Schwager, der Mann ihrer Schwester Zagran, umgebracht und diese vergewaltigt. Das Leben an der Schwelle in eine neue Sprache, neue Umgebung ist undefiniert und für sie voller Ängste. Die Charaktere der einzelnen Familienmitglieder stehen für verschiedene Positionen, die Rabinowich aufmacht und miteinander in Beziehung setzt. Da sind die – man möchte sagen – ganz „normalen“ Konflikte der pubertierenden Tochter Madina und des zwölfjährigen Sohnes Abubakar mit den Eltern sowie die zukunftsorientierte Mutter Petimat, die zwischen Anpassung und Unterwerfung optimistisch bleibt, nach vorne blickt, Sprachkurse besucht und die Familie zusammenhalten möchte. Sie steht bei Rabinowich für das Leben: „Es sterben Hunderte jeden Tag in diesem Land. Jeden Morgen. Jeden Abend. Aber ich will leben. Und ich will, dass du lebst. Und die Kinder“.6 Als Antagonistin zeichnet Rabinowich ihre Schwester Zagran, die die Regeln brach, ihren Geliebten gegen den Willen der Eltern heiratete und nun, früh verwitwet, Rache sucht. Als einziger Mann gilt Eli nun als Familienoberhaupt: Er ist Vater, Ehemann, Schwager, Sohn und Bruder. In seiner Heimat gilt er „als Staatsfeind, weil er als Krankenpfleger auch Widerstandskämpfer verarztet hat“.7 In Österreich 4 Ebd. 5 Julya Rabinowich, Tagfinsternis, Wien 2014, S. 3f. Die Strichfassung vom Landestheater Niederösterreich wurde von der Autorin für vorliegenden Beitrag dankenswerterweise zur Verfügung gestellt. 6 Ebd., S. 20. 7 Barbara Mader, „,Du hast dich viel zu schnell angepasst!‘ Dominic Wildam, Marion Reiser, Michael Scherff“, 18. 01. 2014, http://kurier.at/kultur/tagfinsternis-kammerspiel-auf-dersaualm/46.767.854 [22. 07. 2016].

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wird sein Selbstverständnis als muslimischer Mann in Frage gestellt bzw. er selbst stellt es angesichts der Situation in Frage. Eli erfährt, dass sein Bruder inhaftiert wurde und nur er – als älterer Bruder – helfen kann. Er fühlt sich verpflichtet, in sein Herkunftsland zurückzukehren, um den Bruder und die Eltern zu unterstützen, zugleich bringt ihn eine Rückkehr in Gefahr. Rabinowich etabliert ein auswegloses Dilemma. Entweder versagt Eli als Sohn und Bruder oder als Vater und Ehemann. Angesichts fehlender Orientierung und der über Jahre bestehenden Ungewissheit bezieht er sich auf die Traditionen seines Herkunftslandes und seiner Religion und orientiert sich an bestehenden Hierarchien. Rabinowich bezieht sich auf die Dramaturgie der antiken Tragödie, indem die Wiederherstellung der Ordnung erreicht werden muss, auch wenn die Zweifel an dieser längst überwiegen. Tatsächlich zieht die Autorin eine Parallele zwischen realen Flüchtlingsbiographien und der griechischen Tragödie, oft handelt es sich um eine „unauflösliche Situation, die, egal wofür man sich entscheidet, im Unglück endet“.8 Der Konflikt besteht zu einem großen Teil darin, das Alte abschließen bzw. verarbeiten zu können und traditionelle Muster in neuen Situationen anzuwenden, die jedoch auf ein anderes Wertesystem stoßen. Fehlende Sprachkompetenzen unterstützen die Problematik. Eli etwa lehnt in seinem patriarchalen Selbst- und Familienbild den Spracherwerb ab (hier spielt Rabinowich ein autobiographisches Moment ein). Vor allem die 15-jährige Tochter leidet unter diesen scheinbar nicht zu vereinbarenden Vorstellungen und Lebenswelten. Dass sie – ohne Begleitung ihres Bruders – Freundinnen im Gasthaus trifft, heizt die Konflikte mit der Mutter weiter an: „Du hast überhaupt keine Ahnung vom Leben hier! Du lässt mich ständig vorgehen, alles übersetzen, mich alles erledigen! Das darf ich dann schon, das stört dich dann nicht. Und Papa auch nicht“.9 Rabinowich durchbricht Klischees und Vorurteile, da die einzelnen Familienmitglieder im Grunde dieselben Probleme mit sich und miteinander haben wie andere Familien ohne Fluchterfahrung und Migrationshintergrund. Sie schildert die Konflikte als grundsätzlich menschliche; Aspekte von Herkunft, Flucht und Migration erschweren die bestehenden Schwierigkeiten jedoch um ein Vielfaches. Dies zeigt sie besonders deutlich an der Beziehung zwischen den Schwestern Petimat und Zagran: Bestimmend sind hier Geschwisterneid, Eifersucht und Konkurrenz: „Denk an unsere Feste. Beim Tanz warst du immer die Schönste […]. Jeder junge Mann wollte dich als Braut haben. Nur dich“.10 Zugleich geht es Rabinowich um die Unmenschlichkeit autoritärer Regime, in welchen Ehrenkodizes und Traditionen mehr gelten als das Individuum. So darf 8 Rabinowich, „Es muss verändert werden“, S. 71. 9 Rabinowich, Tagfinsternis, S. 10. 10 Ebd., S. 14.

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sich Madina in ihrem Verhalten nicht den Mädchen der neuen Umgebung anpassen, sondern muss die Regeln der Heimat aufrechterhalten. Bei Zagran zeigt sich das diskriminierende Frauenbild noch deutlicher : „Eine anständige Frau hätte sich aus der Familie entfernt. Und diese Last nicht den anderen überlassen!“,11 wirft ihr der Schwager Eli vor. Der Chauvinismus Elis ist unmenschlich, Misogynie grundlegender Bestandteil seines Denkens. Zagran setzt dem zwar zuerst das Argument der Gleichberechtigung entgegen: „Ich wollte nur, was jeder haben will: ein Leben zusammen mit einem geliebten Menschen! Jeder Mann darf das. – Warum nicht ich?“, besinnt sich in ihrer Trauer um den verlorenen Mann jedoch auf die Gesetze der Rache, um die Ordnung wiederherzustellen. Sie ist Opfer und Täterin. Doch ihre Rache ist dem System nach Blutrache. Die Möglichkeit, den ihr zugefügten Schmerz zu bearbeiten, zu transformieren, intellektuell zu reflektieren, fehlt der jungen Frau. Wegen mangelnder Unterstützung bezieht auch sie sich auf Bekanntes, Althergebrachtes. Rabinowich zeigt Menschen, die in ihren individuellen Bedürfnissen in Konflikt mit der Welt geraten. Damit sind Eli, Petimat, Zagran, Madina und Abubakar nicht die anderen, auf die der/die Leser_in von außen blickt, sondern sie sind vor allem Menschen mit Gefühlen und Bedürfnissen. Damit spiegelt sie den/die Leser_in, schafft Identifikation, Empathie und Verständnis. Dass ihre Charaktere die Erfahrung von Flucht, Entwurzelung und Traumatisierung gemacht haben, bedeutet keineswegs, dass sie besser oder schlechter sind. Rabinowichs Literatur erzählt zwar von Migration, lässt sich allerdings nicht unter der Kategorie Migrationsliteratur führen, denn Migration mag zwar immer wieder Thema ihrer Prosa und Dramatik sein, im Wesentlichen geht es um andere Fragen, nämlich: Was bedeutet Verantwortung? Worauf beziehen sich Menschen in der Not? Welche Gefühle stehen hinter den Worten und was treibt den Menschen zu seinen Handlungen? Das Ankommen in einem anderen Land bedeutet, dass sich diese Fragen anders stellen und überprüft werden müssen, es bedeutet Neudefinition und Neuorientierung. Rabinowich blickt auf diesen Prozess, analysiert und reflektiert menschliches Leid und zwischenmenschliche Beziehungen vor dem Hintergrund politischer und kultureller Systeme. In dieser Auseinandersetzung hat sie die Charaktere bzw. die Positionen in ihrem Theatertext Fluchtarien. Monolog für drei Stimmen und eine Tastatur12 zugespitzt. Auch hier stehen wieder drei Frauen einem Mann gegenüber, dieser tritt jedoch nicht als Figur „aus Fleisch und Blut“ auf, sondern als Stimme rechter Verhetzungsrhetorik. Rabinowich bleibt gleichsam beim Wort, indem sie einen 11 Ebd., S. 25. 12 Die Uraufführung von Fluchtarien fand 2009 am Wiener Volkstheater statt.

Über Julya Rabinowichs Theatertexte Tagfinsternis und Fluchtarien

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Poster sprechen lässt, der die Biographien der drei geflüchteten Frauen mit Hass und Zynismus kommentiert. Bei den von Rabinowich ausgewählten Zitaten handelt es sich um Postings von User_innen der Online-Ausgabe der österreichischen Tageszeitung Der Standard im O-Ton. Diesen Kommentaren setzt sie die Erzählungen einer Tschetschenin, einer Nigerianerin und einer Chilenin gegenüber, allesamt Verfolgte und Vertriebene, Frauen, die schwere Verluste erlitten haben und unter Traumatisierungen leiden. Fluchtarien vermittelt affektive Momente der drei Asylsuchenden, ebenso wie jene des Posters. In der Replik auf die Rede der Frauen – die die Autorin aus verschiedenen realen Biographien zusammengetragen hat und fiktiv ergänzt – desavouiert sich die brutale Rhetorik der Rechten, die Kälte und Inhumanität dieses Denkens. In der ersten Szene lässt Rabinowich die tschetschenische Frau sprechen, sie verlor auf der Flucht durch die Slowakei ihr jüngstes Kind. Viel später werden wir uns wieder erwärmen, wir drei, der ältere Bub, die Tochter und ich. Und die kleinen Finger werden so bleiben wie sie sind, ich werde meine eigenen kaum aus ihnen lösen können, nur mit Gewalt, und ich werde nicht weinen, weil ich ja noch zwei Kinder weiterbringen muss und keine Zeit ist für solche Kinkerlitzchen wie stehen bleiben. Ich geh also und geh, und meine Augen werden Stein, ich kann die Lider nicht senken, ich kann den Blick nicht lösen von dem Ziel, und das Ziel heißt: vorwärts. Das Ziel heißt: nicht Innehalten.13

Der Poster kommentiert: „Alles Schönreden hilft nichts, wenn ich von zu Hause wegrenne, weil ich hart für meine Heimat arbeiten müsste und lieber vom Wohlstand anderer mitnasche bin ich arm?“14 Um die beiden älteren Kinder zu retten, bleibt ihr keine Zeit, den Buben zu begraben. Später, in Traiskirchen ,angekommen‘, ergreift entsetzliche Trauer Besitz von ihr und das Bedürfnis, dem verstorbenen Kind eine Grabstätte zu geben. „Und dann wird mir klar, mein Kleiner hat nicht mal ein Grab, das sich Grab nennen könnte, während wir hier in Traiskirchen –“. Der Poster repliziert: „wie die Maden im Speck.“15 Wieder stellt Rabinowich den Bezug zur griechischen Tragödie her, eröffnet die Assoziation zu Antigone, die ihren Bruder Polyneikes bestatten muss, um ihm den Einzug in den Hades zu ermöglichen. Sie ist besessen von dieser Idee, verstößt damit aber gegen die Weisung Kreons. Rabinowich bringt hier ihre Erfahrungen als Übersetzerin in Psychotherapiesitzungen ein. Verdrängte Trauer macht obsessiv, so erlebt sie es.16 Rabinowich erzählt in Fluchtarien von den Auswirkungen der Bedingungen, unter welchen die Frauen leben, denen zumeist kein emotionaler Raum zur Verarbeitung der 13 14 15 16

Julya Rabinowich, Fluchtarien, in diesem Band, S. 229–244, hier S. 230. Ebd. Ebd. Vgl. Rabinowich, „Es muss verändert werden“, S. 56.

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Schrecken zur Verfügung steht. Sie erzählt vom Alltagssexismus in Österreich, dem asylsuchende Frauen besonders ausgeliefert sind. In der zweiten Szene zeigt sie eine Nigerianerin, die auf ihren Asylbescheid wartet. Das ersehnte Papier wird zum Erpressungsmittel. Ein Zuhälter und eine Bordellbesitzerin versprechen ihr, sich um den Bescheid zu bemühen. Die nigerianische Frau wird zwangsprostituiert, ihr Körper ist der Preis und die Ware, der Lohn das lebensrettende Papier. „Ich darf legal arbeiten. Legal verkaufen. Mich ganz legal verkaufen, bis ich verdorben bin. Dann kriegt man mich zum halben Preis. Oder im Doppelpack. Später werde ich dann unauffällig entsorgt. Ablaufdatum Negativbescheid.“ Eigentlich hieß es, dass sie putzen soll: „Dreck wegmachen sollt ich… Dann bin ich selbst zum Dreck geworden“.17 Der Kommentar des Posters demonstriert den Zynismus einer chauvinistischen, verhetzenden Rhetorik: „Prostitution ist ein normaler Parameter der menschlichen Gesellschaft wer da nicht mitkommt soll abhauen, da er sich sonst nur lächerlich macht“.18 Im anonymen digitalen Raum wird das Vorurteil ungehemmt zu Schrift, scheinbar verbindlich. Wirksam werdend führt es in eine gewalttätige Realität. Diese Erfahrung hat die nigerianische Frau längst gemacht: „Der gute Vater, er hat viele Gesichter und auch andere Körperteile, er ist meine vielschwänzige Katze, die Striemen auf meine Haut setzt, so wie zuvor schon auf die Haut der Mutter, Voodoozeichen, und ich bin sein Buch, aufgeschlagen vor ihm, und er wendet mich und füllt den nächsten Absatz, er beschreibt mich in vielen Zungen, er besingt mich in fremden Sprachen […] ich mache tatsächlich alles, weil die Zeichen auf meiner Haut bindend sind, und ich beschworen und meinem Hexenmeister ergeben, bis dass der Negativbescheid uns trenne“.19 Ein Wort entscheidet über ihr Leben, ein Wort, das ihr alles bedeutet und ihre Existenz als „Dunkelziffer“ beenden könnte. In der dritten Szene schreibt Rabinowich direkt über die Kraft, die Macht und auch die Gefahr der Sprache und der Schrift. Eine chilenische Frau erinnert sich an Folterungen: Schriftzeichen im Dunkel, Sätze, Absätze, Seiten voll Buchstaben, die ich im Geist von immer neuem auf imaginäre Papieroberfläche setze […]. Sie tunken meinen Kopf lange in kaltes Wasser, brechen meinen Arm und lassen mich allein mit meiner endlosen Schrift, die sich hinter meinen Augenlidern im rötlichen Dunkel weiter webt. Ich warte weiter auf den Tag an dem ich sie auf reales Papier bannen werde. Ich weiß, dass er kommen wird.20

17 18 19 20

Rabinowich, Fluchtarien, in diesem Band, S. 234. Ebd., S. 234. Ebd., S. 236. Ebd., S. 237.

Über Julya Rabinowichs Theatertexte Tagfinsternis und Fluchtarien

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Rabinowichs Fluchtarien lesen sich als Plädoyer für das Erzählen, für die Sprache, auch im Sinne der Selbstermächtigung. „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold“, hat die junge Nigerianerin gelernt. Doch das Schweigen reduziert sie auf ihren Körper, über den sie schon längst nicht mehr selbst bestimmt. Sie ist auf den „Körperdialog“21 beschränkt, so bezeichnet sie es. Trotz Verfolgung und Folter endet Rabinowich mit der Perspektive der Chilenin. Sie teilt sich mit, lernt die neue Sprache, kommt nicht nur als Körper an, sondern als ganzer Mensch: „Das gesprochene Wort ist nicht mal halb so gefährlich wie das geschriebene. Das geschriebene Wort hat Macht. Hör auf, sagte mein Mann […] Hör auf damit, sagte er. Hör auf, wir haben Kinder, du solltest lernen zu schweigen.“ Doch sie schreibt weiter, denn „die Schrift webt sich weiter, immer weiter, auch wenn die Zellentür hinter mir geschlossen ist“.22 Sie setzt der Sprache des Hasses die der Erzählung entgegen. Wie auch die Autorin selbst: Julya Rabinowich macht aus Dunkelziffern Individuen, entlarvt falsche Metaphern und Analogien, vor allem aber gibt sie jenen eine Stimme, die stumm gemacht wurden.

21 Ebd., S. 239. 22 Ebd., S. 239.

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Fluchtarien

handelnde Personen: Tschetschenin Nigerianerin Chilenin der Poster

1. Szene Tschetschenin (murmelnd): Slowakei ist eine Glocke. Slowakei ist eine Glocke. Slowakei ist eine Glocke … P: Geh bitte. T: Dunkelheit vor mir. Feuerschein hinter mir. Schweigen in mir und Stille rundum. Das eine Kind an einer Hand, das andere im Arm, der Bub geht vor, vorsichtig im Dunklen. P: Geh bitte. T: Rucksack schneidet ein, ist schwer, die ganze Vergangenheit zusammengezurrt auf einen Rucksack, und die will man nicht loslassen, irgendwas muss man festhalten, sonst wird man zu leicht, und immer leichter, ausgedünnt von Geschichte, bis man halb durchsichtig ist und dann ganz weg. P: Zu uns in die soziale Hängematte. geh bitte. T: Der Rucksack ist wichtig, er verankert mich auf fremder Erde, die wir unter unseren Füßen weiter schieben, wir stoßen uns ab, wie Schlittschuhläufer stoßen wir uns ab, und gleiten, gleiten aus dem Bekannten ins Ungewisse, und es ist kalt,

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wie beim Schlittschuhlaufen, aber kein heißes Teeglas in unseren Fingern, die ich kaum noch spüre, weder meine, noch die vom Kind. Ich atme sie an, ich stoße alle Hitze hervor, die mir noch gehört, ich will ein Drache werden, ich werde rasend vor Wut, weil meine Wärme so eine erbärmliche kleine Wärme ist im großen Dunkel des Waldes, wütend wie ein Drache, aber nicht Mal halb so warm, das Feuer ist hinter uns, kein Widerschein gegen den Nachthimmel. Ich schnappe nach der kalten Luft, stoße die kalte Luft hervor, und die Finger vor mir bleiben wie sie sind. P (lachend): WirtschaftsKURflüchtlinge. Keine Existenzsorgen zu haben, befreit ungemein! ;-) T: Viel später werden wir uns wieder erwärmen, wir drei, der ältere Bub, die Tochter und ich. Und die kleinen Finger werden so bleiben wie sie sind, ich werde meine eigenen kaum aus ihnen lösen können, nur mit Gewalt, und ich werde nicht weinen, weil ich ja noch zwei Kinder weiterbringen muss und keine Zeit ist für solche Kinkerlitzchen wie stehen bleiben. Ich geh also und geh, und meine Augen werden Stein, ich kann die Lider nicht senken, ich kann den Blick nicht lösen von dem Ziel, und das Ziel heißt: vorwärts. Das Ziel heißt: nicht Innehalten. P: Alles Schönreden hilft nichts, wenn ich von zu Hause wegrenne, weil ich hart für meine Heimat arbeiten müsste und lieber vom Wohlstand anderer mitnasche bin ich arm? T: Und während ich so geh und geh, hör ich meinen Mann, und er sagt mir, wo ich langgehen soll, und er verspricht, das alles gut wird, und als er mich umarmt, und ich meinen Kopf endlich anlehnen kann an seine Brust, und mich wieder beschützt fühle, wie früher, als ich alle seine Entscheidungen mittrug, so, wie ich es gewohnt bin, und als ich aufatme, weil ich ihm endlich alles überlassen kann, rüttelt mich mein Sohn, rüttelt mich ganz brutal, mit so viel Kraft, wie ich sie ihm nicht zugetraut hätte, und sagt: Mama steh auf. Und seine Stimme hat auf einmal einen Klang, den ich von den Soldaten kenne, von unseren und von den feindlichen. Heiser, ängstlich, brutal. P: Ein Großteil jener die bei uns um Zuflucht ansuchen, sind keine Unschuldslämmer sondern schlicht kaltblütige Kriminelle vor deren Gegenwart uns der Staat eigentlich schützen sollte.

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T: Und mir wird klar, dass ich diese Stimme aus seinem Kindermund nicht hören will, und das bedeutet, dass ich General werden muss, um ihn vor dem Soldatendasein zu bewahren. P: Sie kommen nach Österreich, wollen sofort Unterstützung, über 1000 E sind ihnen zu wenig, da liegen sie lieber im Bett, frieren + hungern angeblich. Alle sind so böse zu ihnen. T: Und ich lache, und sage, alles wird gut, und ich stehe auf, schüttele den Schnee ab und setze wieder einen Fuß vor den andern. P: tja, Pech, hättens eben net dauernd kriege angezettelt dann würde es ihnen jetzt net so dreckig gehen. T: An der Grenze fangen sie uns ab, fangen sie uns auf, ich falle, falle in ihre helfenden Hände, in ihre wärmenden Decken, in ihren Bus, und ich denke, mein Mann hatte recht, alles wird wieder gut. T: Und als wir schon in Wien sind, und alle gegessen haben, und geschlafen, und sogar beim Arzt, als mir ganz klar ist, dass wir leben, da fällt mir der Wald wieder ein. Und der Schnee. Die Stille. Und dann wird mir klar, mein Kleiner hat nicht mal ein Grab, das sich Grab nennen könnte, während wir hier in Traiskirchen – P: wie die Maden im Speck T: – ein Bett haben und ein Dach über dem Kopf und billiges Essen. Es geht uns gut. P: so mancher Pensionist würde gerne tauschen. T: Uns geht es gut, aber der Wald liegt hinter der Grenze, die wir überwunden haben, der Wald gehört nicht zu Österreich, wie mein Kind nicht zu mir gehört mehr, es ist hinter uns zurückgeblieben und ich habe nicht mal einen Stein für sein Grab. P: zuenden’s ein Kerzerl an! ein frommes Gebet schadet auch nicht, also bitte drei mal den Rosenkranz rauf und runter leiern… GOTT wird es ihnen danken, he he.. T: und ich werde von vielen Unbekannten befragt, und ich rede und rede, und je mehr ich rede, desto sinnloser kommen mir die Worte vor, weil sie der Realität

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nicht standhalten können, weil „Weg“ und „Kälte“ und „Wald“ sinnlos sind. Und weil es so sinnlos ist, lache ich und lache und lache, und meine Kinder finden das nicht lustig, und wollen auch reden, und ich hasse die Worte, die mir fehlen und die ich sorgsam verteilen muss, damit ein jeder zufrieden ist, ich lache also und dann schweige ich. P: – nur damit wir wieder mal deppert herzeigen müssen, wie sozial unser dummer staat ist. T: und dann kommen andere, die wissen wollen, wo dieser Wald denn ist, und ich weiß es natürlich nicht, und ich lache wieder und sie geben mir Medizin, ich nehme sie statt den Worten in meinen Mund und schlafe. Und dann fragen sie mich wieder, und wieder, wo, warum, weshalb, woher. Wo ich über die Grenze gekommen bin. Ich wüsst es selber gerne, weil ich in den Wald zurück will. Unbedingt zurück will. Dann bin ich artig, weil ich soviel erzählt habe, und sie sagen mir das Zauberwort: Slowakei. Und ich weine gleich wieder, vor Freude diesmal, weil der Wald kein namenloser mehr ist, sondern ein bekannter, fast ein verwandter. Sl-owa-kei. Und sie geben mir Blätter zum unterzeichnen, ich mach so, als ob ich die Zeichen deuten könnte, weil es mir peinlich ist, ich habe es nie gelernt, und mach eine Wellenlinie drunter, die wie Zeichen, ja nicht wie ein Kreuz aussehen soll und sie lassen mich in Ruhe. P: Schwachsinn. T: Slowakei ist eine Glocke. Deren Klang breitet sich in mir aus und schwingt und lässt mich beben. Und ich erkläre meinen Kindern, dass ich unbedingt in die Slowakei muss, ihr Geschwister holen, damit es endlich wieder bei uns ist. Sie klammern sich an mich, sie lassen mich gleich darauf nicht mehr alleine aufs Klo, in die Küche, nirgendwohin, ich gehe mit einer Traube Kinderkörper an mir umher, meine Zimmernachbarin meint: so ein großer Junge, schäm dich, und mein Sohn kritzelt Zeichnungen an ihre Tür, und wird natürlich ertappt und es gibt Ärger, weniger mit ihr, aber mit der Hausverwaltung, weil die Tür kostbar ist und der Lack auf ihr erst recht. P: Geh bitte. T: Unser Lack ist jedenfalls ab. Das wird auch Ärger geben. Ich erfahre: wir sind mutwillig aus der- Slowakei- weiter gezogen. Jetzt sind wir hier. Lange sind wir hier schon hier, ich würde sagen: fast zu lange, meine Kinder versuchen aus allen Kräften, hier zu sein. Ich will in die Slowakei. Nur einmal.

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In die Slowakei! Mit Kerzen und Blumen. In die Slowakei! Mit allem was dazu gehört. Wenn ich wieder über die Grenze gehe, dürfen wir nicht mehr rein. Hier dürfen wir nicht rein. Wir müssen dann leider draußen bleiben. Mein Sohn kommt mit neuen Worten, immer neuen. Ich lerne heimlich mit ihm mit, ich bitte ihn, die Worte zu lesen und die Zeichen zu zeigen und während ich ihn lobe, versuche ich mir alles zu merken P: statt dass man der eigenen Jugend mal helfen würde. T: Meine Tochter hat Freundinnen. Ältere. Sie mag keine kleinen Kinder mehr sehen. Wenn sie nicht zu Hause sind, setze ich mich still in eine Ecke und läute innen die große Glocke Slowakei.

2. Szene N: Dunkelheit unter mir, über mir, links und rechts. In der Dunkelheit über meinem Kopf Sterne. In der Dunkelheit unter mir Wellen. In der Dunkelheit hinter mir Schreie. In meiner Dunkelheit Stille. P: Geh bitte. N: Lange war’s dunkel. Noch länger still. Meine Lippen sind aufgesprungen, weil ich zu viel geredet habe, früher einmal habe ich gerne und viel geredet. P: Geh bitte. N: Im Boot habe ich begriffen, dass das Reden Silber, das Schweigen aber Gold ist. Durch mich gewonnen, durch mich geronnen. Wenn ich Lust bekomme zu reden, streichen meine Finger über die Zeichen, aufgedrückt auf meine Haut, und dann bin ich wieder Gold. Weil ich eine Oma habe und Geschwister. Weil ich geschworen habe. Ich bin eine ganze Goldader. Ich werde zügig abgebaut. Ablaufdatum Negativbescheid. Ich bin die Goldgräberin. P: In Afrika sind die Höhlen nicht kalt. N: Ich bin die Goldgräberin, ich bin die Dunkelziffer, ich habe eine Zahl, ich bin ein Mensch mit Zeichen, ich darf arbeiten.

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P: Prostitution ist ein normaler Parameter der menschlichen Gesellschaft wer da nicht mitkommt soll abhauen, da er sich sonst nur lächerlich macht. N: Ich darf legal arbeiten. Legal verkaufen. Mich ganz legal verkaufen, bis ich verdorben bin. Dann kriegt man mich zum halben Preis. Oder im Doppelpack. Später werde ich dann unauffällig entsorgt. Ablaufdatum Negativbescheid. Schauen Sie doch, ob ich noch tauge. Sehen sie. Fühlen sie. Ich will es nicht. Exotic Moments. P: Ich hab’s gewusst und mir isses wuascht. Ich schaue primär darauf selbst gut zu leben. N: Nach Wien! Nach Wien! Dorthin hat man mich eingeladen, dort zahlt man gut, hat man gesagt, da kann man arbeiten und nebenbei studieren. Nach Wien! In Wien werden Putzfrauen gebraucht, weil die Menschen gerne sauber sind in Wien. P: Ab in den Käfig, ein paar Bananen und unfrankiert zurück! N: Dreck wegmachen sollt ich… Dann bin ich selbst zum Dreck geworden. P: Es ist mir wurscht ob prostitution ein produkt von borderline persönlichkeitsstörung ist, kokainabhängigkeit, schizophrenie, etc… N: Soviel Sand auf dem Weg, genug für viele Sanduhren, deren Zeit läuft und läuft und steht immerzu still, am gleichen Fleck wie beim Beginn, und die Schulden werden nicht weniger und nicht weniger. P: Die wissen doch, auf was die sich einlassen. Bitte. N: Soviel Wasser auf dem Weg, hätte gereicht für Stunden waschen, für Tage, für Jahre abwaschen. Ablaufdatum Negativbescheid. P: …Alles was mich interessiert, ist ob ich Lust habe Sex zu kaufen, bzw verkaufen. N: Wenn ich ganz dreckig bin, kann ich bequem zurück fliegen. Muss nicht mehr im Boot sitzen. Manchmal werfen die Bootsführer uns ohne Vorwarnung ins tiefe Wasser, das haiverseucht ist, und schließen Wetten ab, wer von uns es bis zum Ufer schafft. Der, der auf mich gesetzt hat, hat gewonnen. Der andere hat gelacht.

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P: Was heißt „von haien verseucht“? die Tiere befinden sich in ihrem natürlichen Habitat. Haie sind keine Seuche, während der Mensch mit jedem Dieselkutter sehr wohl…:-( . verseuchen tut nur der Mensch….. N: Nach Wien! Wir saßen alle im selben Boot, das ziemlich voll war. Das hinter uns war so voll, dass ich es nicht mehr wieder gesehen habe. P: stimmt wir hätten Geld spenden sollen damit die Menschen schwimmen lernen in der wüste….. N: Das Boot ist voll. Immer. Ob man jetzt auf hoher See ist oder an Land. Hier bin ich das Boot, das sie füllen und füllen, und das niemals untergeht, ich nicht. Bis ich abbezahlt habe, darf ich nicht untergehen. P: Jedes kleine Mädchen in Nigeria weiß um was es geht wenn man in die EU billiges Geld verdienen geht. N: Ich hab doch Verwandte. Ich hab doch eine Oma und eine Schwester. P: Die sollen endlich in Afrika was ändern, und nicht bei uns Forderungen stellen. N: Alles kann man bezahlen. Vor allem die Hoffnung. P: Würde sie ihren Körper verkaufen, würde er ja nachher auf Dauer dem Kunden gehören. Warum müssen dann Freier beim zweiten Besuch wieder zahlen? N: Wenn man ins Kino geht, muss man ja auch zahlen. Auch wenn man den Film schon mal gesehen hat und er nicht mehr so spannend ist! P: ..die eine machts für Geld, N: Zuerst gibt man Haar und Blut und ein Versprechen. P: …die andere weils lustig ist, N: Dann gibt man den Rest in Scheibchen. P: …die andere für einen Karrieresprung, die andere aus Wut…………

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N: Die Seele ist unverkäuflich. Aber die will meistens sowieso keiner. P: … ist da jetzt jede eine Hure?, denn dann gäb’s keine „Damen“ mehr. N: Waren will man, mit Funktionstüchtigkeit. Verdorben, aber funktional. Mit Umtauschgarantie. Die gibt’s ab dem ersten Tag, weil ich ausgetauscht und umgetauscht werde, spätestens nach vier Jahren, und da können sie mich sowieso nicht mehr brauchen, es ist also sehr praktisch. Ob man will oder nicht. Und es wird ein Schiff, werden neue Waren kommen, im stillen Dunklen übers Meer… Ob man will oder nicht. Nach Wien! Nach Wien! Ob man will oder nicht. NachP (nachdenklich): zum Beispiel bei einer Negerin die kaum deutsch kann, würde ich die Freiwilligkeit anzweifeln. N: Arbeiten ist gut fürs Gemüt. Für das Gemüt meiner Madame ist es sogar unentbehrlich, denn ihr Gemüt bestimmt über mein Schicksal. Sie ist wie eine Mutter für mich. Wie eine Mutter, Wenn die Mutter beschließt, das kleine Kind nicht mehr zu stillen. Wenn die Mutter es in einen dunklen Raum sperrt und den Strom abdreht und den Schlüssel im Schloss. Dann kann der Vater kommen. Der gute Vater, er hat viele Gesichter und auch andere Körperteile, er ist meine vielschwänzige Katze, die Striemen auf meine Haut setzt, so wie zuvor schon auf die Haut der Mutter, Voodoozeichen, und ich bin sein Buch, aufgeschlagen vor ihm, und er wendet mich und füllt den nächsten Absatz, er beschreibt mich in vielen Zungen, er besingt mich in fremden Sprachen, 18 Jahre jung, Anfängerin! Naturgeil! Das alles macht er aber auf Geheiß der Madame, der großen Mutter. Das Hohelied der Ware. Von Frauen gesungen, von Frauen gezwungen. Macht alles! Und ich mache tatsächlich alles, weil die Zeichen auf meiner Haut bindend sind, und ich beschworen und meinem Hexenmeister ergeben, bis dass der Negativbescheid uns trenne. P: wenn ich einen Nigerianer sehe und keine Vorurteile habe, bin ich unwissend oder blöd. N: Das Hohelied der Ware. „Wie ein Karmesinband sind deine Lippen, und dein Mund voll Anmut.“ … Ablaufdatum Negativbescheid. Wenn der Asylantrag, den neuer Vater und neue Mutter uns diktieren, abgelehnt wird. Und er wird na-

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türlich abgelehnt. Die sind ja nicht blöd. Für Blödheit muss man nämlich zahlen. Für den Weg muss man zahlen und für den Aufenthalt, für das, was sie sagen, was wir sagen sollen. Danach, dürfen wir tun und sagen, was wir wollen. Sagen sie. Und wir hören zu. Und tun. Bis der Antrag durch ist, bis man selber durch ist. Zwischengelagert. In Wien. Ablaufdatum Negativbescheid. P: wieso lassen sich auch heutzutage noch Frauen auf diese Märchenerzähler ein? N: Als Ware verwahrt. Man sagt, in London ist es besser… P: In Afrika sind die Höhlen nicht kalt. Die wissen, worauf sie sich einlassen. N: Nach London, nach London! P: In Afrika sind die Höhlen nicht kalt… N: Nach London! P: Verseuchen tut nur der Mensch.

3. Szene C: Schriftzeichen im Dunkel, Sätze, Absätze, Seiten voll Buchstaben, die ich im Geist von immer neuem auf imaginäre Papieroberfläche setze. Stille vor mir unter mir neben mir über mir. die Schriftzeichen weben ein Kettenhemd um mich, verdichten sich zum Panzer. Nächtelang Stille. Tagelang Dunkel. Dann kommen sie und wollen auch Schriftzeichen von mir haben. Unterschreib, sagen sie, dann lassen wir dich gehen. Nenne uns Orte. Namen. Wir haben die Beweise. Wenn ihr Beweise habt, warum braucht ihr mich dann. Meine Schrift gehört nur mir allein. Sie tunken meinen Kopf lange in kaltes Wasser, brechen meinen Arm und lassen mich allein mit meiner endlosen Schrift, die sich hinter meinen Augenlidern im rötlichen Dunkel weiter webt. Ich warte weiter auf den Tag an dem ich sie auf reales Papier bannen werde. Ich weiß, dass er kommen wird. P (höhnend): geh bitte. die sind alle schwerst traumatisiert.

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C: Diese Stille ist ab und zu wieder da, plötzlich um mich verdichtet zu nachtschwarzem Abgrund, in Wien, wenn ich in der Nacht in meinem Bett hochfahre, und nicht weiß, ob der Weg wirklich schon gegangen ist. Manchmal denke ich, der Weg zum Lichtschalter ist unendlich lang, so lang wie mein Warten damals, und ich werde es nicht schaffen. Ich habe immer eine Taschenlampe neben dem Bett liegen. Damit ich weiß, wie lang der Weg zum Lichtschalter ist. Der Weg zurück in die Gegenwart. Ich leuchte ihn mir immer wieder aufs Neue, denn der schmale Streifen Licht, der schmale Streifen Weg ist sehr unstet. Im Spiegel seh ich dann mein Gesicht, fahre die Linien der Brauen nach, der Nase, des Mundes. Setze mich wieder zusammen. Und wenn ich wieder ganz bin, weiß ich, dass ich stolz bin. Auf die vielen Bögen Papier, schwarz auf weiß die Wahrheit. P: Nach dem 3. Gutachten hat so ein durchschnittlicher Asylant schon einige Übung im Traumaerzählen. C: Neben der Taschenlampe steht eine Fotografie im Metallrahmen. Mein Mann, wir lachen, wir drehen uns in unserer Umarmung, mein Haar fliegt, lang, dunkel. Hinter uns ein schief aufgeklebtes Plakat. Immer wieder die Schriftzeichen. Auf Flugblättern, im Pass, auf Briefpapier, mein Leben ist getränkt mit Druckerschwärze und Tinte, dunkler als der längste Tag in der Zelle, und beständiger als alle Angst und Schmerz. Wenn ich nicht schlafen kann, schreibe ich abermals. Was unsere Kinder machen und wovon er nicht weiß. Sie sprechen Deutsch, besser als Chilenisch mittlerweile, sein ältester Sohn hat eine Freundin namens Sabine. Sie wollen zusammenziehen. P: Geh bitte. C: Ich sag den Kindern immer : lernt. Lernt viel, speichert Wissen in euch wie Wasser, Wasser sucht sich immer einen Weg, man kann es nicht aufhalten. Als ich Studentin war, als ich nach Wissen hungerte, war das Studium von einem Tag auf den anderen nicht mehr möglich. Und bald darauf nicht nur das Studium. Wie ein Kettenhund, dessen Kette jeden Tag gekürzt wird, schrumpften die Möglichkeiten und Rechte. Erst kein Studium. Keine Selbstbehauptung. Keine freie Meinungsäußerung. Dann keine Sicherheit fürs Leben. Die ersten verschwanden. Wir machten weiter. Dann verschwanden mehr, auch Bekannte, schließlich wirklich nahe stehende, junge, alte, ohne Ausnahmen. Mein Mann bekam Angst.

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Ich wurde trotzig. Sammelte die Schriften zu Hause, verbreitete sie heimlich. Er hatte Angst, erst Angst um den Arbeitsplatz in seiner Bibliothek, dann Angst, die Flugblätter zu entsorgen, um uns nicht zu verraten. Das gesprochene Wort ist nicht mal halb so gefährlich wie das geschriebene. Das geschriebene Wort hat Macht. Hör auf, sagte mein Mann. Weder die Hinterhöfe, noch die Mistkübel waren noch sicher. Hör auf damit, sagte er. Hör auf, wir haben Kinder, du solltest lernen zu schweigen. P: Nun, leider gibt es SEHR VIELE Latinos, die trotz langer Aufenthaltsdauer in Europa sich NICHT MAL die Mühe machen, die jeweilige Landessprache zu erlernen… Diese Erfahrungen als Vorurteil zu verunglimpfen ist der eigentliche Skandal. C: Ich habe schweigen gelernt. Später, als er nichts mehr davon hatte. Jetzt könnte ich zurückgehen. Ich könnte. P: Nachdem es in Südamerika keine Kriege gibt können es ja nur Wirtschaftsflüchtlinge sein. C: Hier in Wien haben sie mich empfangen. Mich vom Flughafen geholt. Freundlich und distanziert. Bleiben konnten wir, nur zuhören wollte mir keiner. Sie gaben mir eine Wohnung, einen Deutschkurs, das Gefühl, ein Opfer zu sein. P: die Zuwanderungslobby formiert sich immer stärker……und langsam kommen die Proponenten aus ihren löchern hervor… C: In Wien habe ich all meine Aufzeichnungen gesammelt, geordnet, beendet, obwohl es nie beendet ist, denn die Schrift webt sich weiter, immer weiter, auch wenn die Zellentür hinter mir geschlossen, und meine Vergangenheit, die nicht und nicht vergehen will. Nach Chile ! Nach Chile! P: Ohne Europäer gäbe es keine Lateinamerikaner. Ohne Lateinamerikaner gibt es aber sehr wohl Europäer. C: Worte tauschen wir keine, nicht mal Blicke. N: – Ich habe einen Dialog, einen Körperdialog, mit mir tauschen sie sich gern aus.

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P: Geh bitte. C: Nur Papiere tauschen wir, tauschen wir immerzu, Berge von Papieren. Wälder von Papieren. T: (Gehen vorbei als hätte es mich nie gegeben). Mein Kopftuch ist eine Tarnkappe. C: Nach Chile… N: Nach London! Nach London! T: In die Slowakei… P (brüllt): Geh bitte! N: Die Zeichen auf meiner Haut sind bindend. C: Ein ganzer schwarzweißer LabyrinthT: Ich will die Zeichen kennen, alle, eins nach dem andernP: Das Boot ist voll! N: Ich bin das Boot, das sie füllen und füllen, und das niemals untergeht… T: Setze eine Wellenlinie darunter. C: Hör auf, sagt mein Mann, hör auf. T: die ganze Vergangenheit zusammengeschnurrt auf einen Rucksack, und die will man nicht loslassenP: Die Wirtschaftskurflüchtlinge… N: Die Menschen sind sehr sauber in Wien. P: Mir isses wuarscht. N: Reden ist Silber, Schweigen ist Gold.

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C: Ich habe schweigen gelernt. T: Mein Sohn kommt mit immer neuen Worten, mit immer neuenP: Statt dass man für die eigene Jugend was macht. C: Speichert Wissen wie Wasser, Wasser sucht sich seinen Weg. N: So viel Wasser auf dem Weg, genug für Jahre waschen im sauberen Wien. T: Rucksack! P: Hängematte! T: Rucksack! P. Hängematte! C: Schweigen! N: Gold! C: Schweigen T: Rucksack! P: Hängematte! C: Hör auf!!! T: Weil ich ja noch zwei Kinder habe, die ich weiterbringen muss. N: Man sagt, in London ist es besser… P: geh bitte. T: in die Slowakei! N: Nach London, nach London! P: geh bitte.

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C: Nach Hause, hinter die Eisentür mit der Nummer drauf. P: persönliche Einzelschicksale sind für mich im Prinzip des Ganzen recht egal. N: ich bin die Zahl, ich bin die Dunkelziffer. P: Die wissen doch alle auf was die sich einlassen!!Bitte!!! T: Die große Glocke Slowakei … P: Geht, bitte!!! N, T, C: Wenn wir wieder über die Grenze gehen, dürfen wir hier nicht mehr rein. Hier dürfen wir nicht rein. Wir müssen dann leider draußen bleiben. P: Ich sag ja nicht dass wieder ein Volk am Watschenbaum rüttelt das wird die Zukunft zeigen. Allerdings für die Juden hat’s ähnlich/genauso angefangen und heute stehen die besser da als je zuvor. C: Ein ganzer weißschwarzes Labyrinth. N: Das Hohelied der Ware. P: Mir ist es wuarscht mir ist es wuarscht mir ist es wuarscht!!! C: Meine Schrift gehört nur mir allein. P: Das größte Vorurteil…Ist jenes, dass Vorurteile zwingend falsch sein müssen. T: Ein Fuß vor den andern mit einer Traube Kinderkörper an mir, ein Fuß vor den anderen. P: „flüchten“ kann nur wer eingesperrt ist – um dies war nicht der Fall. N: Mache alles, bis dass der Negativbescheid uns trenne. P: In Afrika sind die Höhlen nicht kalt. C: Lebe nun seit so vielen Jahren hier, seine Freundin heißt Sabine, sie wollen zusammenziehen …

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T: Und sie hüllen uns in Decken in ihrem stinkenden Bus. P: Was kostet das den Steuerzahler?! N: Ablauf Datum Negativbescheid Ablauf Datum Negativbescheid Ablauf Datum Negativbescheid C: Anerkannt als Flüchtling, nicht als Mensch. P: was kostet Demokratie den Steuerzahler?! T: so ein großer Junge, schäm dich. N: Wasser und Sand, Gold und Silber. C: Meine Zeichen gehören mir. P: Was kosten Menschenrechte den Steuerzahler?! T: In die Slowakei! N: Nach London! C: Schweigen! P: Menschenrechte muss man sich erst verdienen!!!!

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“I’m not interested in acting, but I like to share because there is a message to be spread.” An Interview with Ahmad and Mohammed Alian on 08 June 2016 by Jasmin Falk, Milena von Stosch and Katharina Lehner

Summer 2015: Protest and Theatre in Traiskirchen I was in Traiskirchen for 45 days and I didn’t get transferred to another city. There weren’t enough rooms or tents, we had to sleep in the garden. I met Tina (Leisch) and she interviewed me. We started to e-mail each other and I sent her reports and photos from Traiskirchen – journalists weren’t allowed to come inside. But I thought somebody ought to tell people about what was happening in Traiskirchen – like that there were people living in the garden, who didn’t have rooms, so Tina connected us with journalists. One of them called me and we started to talk about the situation in Traiskirchen. I didn’t want to start a protest because I had just come to this country and I didn’t know the rules. But the situation was very bad, so I thought this was the solution. I was afraid then … but not anymore. In August 2015, a friend, who had been staying there for a long time, and I decided to start a hunger strike. We arranged a church in which we could do it. But then my friend got scared as we were already getting hungry (laughs). So we changed the idea: we now wanted to protest in front of the camp with drums and shout human rights slogans such as “All people have human rights” (laughs). After that we changed the idea again and came up with the theatre play. So we started to look for refugees from Traiskirchen and we hung up notes in Arabic, Farsi and English in order to find people who wanted to join us. There is a school near Traiskirchen and we got a room there for our rehearsals – and that was how we started. Some people came to the rehearsals … In the beginning we were missing translators, especially for Farsi, because I could only translate Arabic. Some people came just to have fun for one hour, only the people who understood the idea of the play stayed with us until now. During the first three months we changed the play three times. We developed it. The result depended upon who participated – like Johnny (Mhanna), who is an actor – so we had some talent we could use. I know that, as a refugee, I will not go to jail for protesting. But in Traiskirchen, it was like being caught in a Mafia, even

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Fig. 1: This is the story of two brothers who fled Syria and became actors in Vienna. A selfie on track – Ahmad and Mohammed Alian in the front …

the police there … I remember, one day, ORS, the organisation that manages Traiskirchen, offered me a room. They told me this room was empty and usually used for sick people, but I could stay for this one night with my cousin who is underage. I said, okay, thank you. One hour later, security came and they asked me to leave the room. I said: “Come on, I can stay until tomorrow morning, you can go and ask.” But without saying anything else they just went and brought the

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police. When I saw them, I told them that this room was for my uncle, my cousin and my brother. The police were very aggressive. One started to talk with me in German. He was shouting and I asked: “Can you speak in English?”, so he started to speak English with me. I said: “Okay, I will go, give me one minute to collect my things”, but he started shouting again and he took our bags, everything, and threw it out of the window. I had been taking a video of all that. I said: “You are not polite, I didn’t do anything!”, and he said: “Come on, shut up, if you say anything, I will send you back.” I told him that I had recorded everything on video and that I would go to Vienna the next day and complain about him, and after that he started to apologise (laughs). Later, I met Johanna Mikl-Leitner in some meeting for the ÖVP party and I showed her this video. She said: “I know you are coming from the war, but we have problems with refugees coming from countries like …” I said: “Come on, this is not my problem.” Some people that arrive stay for just one day and then get a transfer, and some families who have children stay two months, three months … I know one person who stayed more than six months! Those were bad days (laughs).

Die schweigende Mehrheit Working in the theatre now is a good thing for me. From the beginning, we tried to send a message to Austrian people: We are refugees and we are all humans. I’m not interested in acting, but I like to share because there is a message to be spread, and I and other refugees benefited from this work. Working with Tina Leisch, Bernhard Dechant and the others helps us get information – we receive aid from these people, for example, German courses. I don’t have any money to support myself, but Bernhard has organised a room, which is close to his place, for my brother and me to live in. When we moved to this room, we got support from the government because we lived privately.

To demonstrate in Syria In Syria we participated in demonstrations against the regime at our university in Aleppo – but not in my faculty, because everyone knew each other and they knew my family … If I had taken part in a demonstration where people knew who I was, they would have sent complaints to the police, so I tried to take part in demonstrations in other faculties or buildings of my university. It was dangerous. I only have one photo from those times. There were messengers from the United Nations who came to Syria to ensure that nothing happens when people

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demonstrate. I didn’t know about these messengers. So I came from another part of the city and saw thousands of people in the square. I didn’t know what was happening, it looked like the regime was about to end. Then I saw the car of the United Nations, so I understood that the police couldn’t attack us at that time because they were there and they would record everything. There was a hospital close by, and when I went there, it was full of police. They’d wait there for the messengers to leave so they could attack us. So I got this photo, it was thousands of people in this square – I can show you. This photo was taken when we were all at a demonstration … This is coke, we filled it in water bottles … On this day, if you were going to the supermarket asking for a bottle of coke, everyone would think that you were going to demonstrate.1 If you had a bottle of coke, police would know. Here, the police don’t arrest you until you do something – over there, in Syria, it is like, “maybe, maybe you will do something, so let’s arrest you” (laughs). So we filled it in a normal water bottle. That was in 2012, and until 2013 there were peace demonstrations in the city all the time. The regime tried to supply people with guns to provoke violence, but thousands of people went to demonstrate peacefully instead. But still, a minimum of 50 people were killed by snipers.

Fig. 2: … Ahmad at the square in the middle of a demonstration …

We didn’t use phones to record the demonstrations, because if you walked in the street with a phone during a demonstration, the police would stop you and they would start looking through the photos, your Facebook, your chats … and if you said one word, they would take your life. So we bought pens or watches which could record videos.

1 Cola wird nach einer Tränengas-Attacke zum Auswaschen der Augen verwendet. Dieser Tipp ist aus dem Arabischen Frühling bekannt und verbreitete sich 2010 schnell über die sozialen Netzwerke. Vgl. Schlüter Fabian, “Mit Cola gegen Tränengas”, 11. 05. 2011, http://www.tages spiegel.de/politik/arabische-revolution-mit-cola-gegen-traenengas/4158850.html [22. 07. 2016].

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Life before war. “Everything was beautiful, but don’t talk about politics!” Before the war, life was normal. We’d go to university, we had work, we had a car, we had … everything. Life was normal, really, and nice. We were born in the Emirates and we lived there for 20 years. When we started University, we went back to Syria, because studying in the Emirates is very expensive. Life there was very good. But from 2000 on, people who worked for the government were getting very rich. Before Bashar al-Assad, the salary for government staff would be around 3.000 lire. When he came, their minimum salary was 20.000! From 3.000 to 20.000 … Even tissues were expensive now, everything was expensive. When he first came to power, everything was good, but you couldn’t do everything in Syria. Everything was beautiful, but don’t talk about politics! When I was a student, I would work for export and import companies that imported products from China. I’d make calculations for these companies and get about 20.000 lire. I was a student, but I was earning the salary of an engineer. Rent was only 2.500 lire, so 17.000 lire were left for me, it was more than enough. Everything was cheap, but if you wanted to get some documents or you had to make a payment to the government, you had to pay money under the table. It was like that in Syria. Everyone working for the government was a family member of the president …

Turkey and Cyprus I still had two courses left until graduation and I was about to sit the last exam when the war started in Aleppo. Everyone who came from another city, like me, but lived in Aleppo was arrested by the police. So we travelled to Turkey, and there I tried to complete my studies. It was difficult for me, because in order to complete my last two courses, I would have had to learn a new language … I then heard about a university in Cyprus that might give me a scholarship between 25 and 50 % of the tuition fee, so I applied. I got the scholarship for 50 % and completed my studies there. I studied for a year and a half and also worked at a bank inside the university for 1.200 $. But then I needed to renew my passport. That was in 2013, and by this time the government would not renew it for people who were supposed to do military service. I went to the embassy in Cyprus and in Turkey, but they would not renew it – “You should go and do military service”, they said. It was impossible. I could have recieved a fake passport, but that was too dangerous for me. If they had discovered that I had a fake passport when I travelled from Turkey to Cyprus, they would have sent me back to Syria. So I

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decided to go back to Turkey to look for work. We lived in Istanbul, near Atatürk. It’s a beautiful city. Life is similar to Syrian life, so it was nothing different. Even the language is close to our language.

Europe!? “If you leave, I cannot see you again!” After one month, we thought about going to Europe … Turkey is a beautiful country, you know, we could work – and really, I was ready to do any kind of work – but we would get a salary that was not even enough to pay the rent of our room. Or you would work for one month and they would not give you any money. The government was okay with Syrian people working in Turkey, but there were no contracts between them and the employer. Because if we had a contract, they would have to pay insurance for us. And even if we got paid, it wasn’t enough to live on.

Fig. 3: … family Alian in a Turkish taxi …

Then we left for Europe, with my uncle and my cousin. In Syria they had money, but he had expenses for rent and so on. He didn’t find work in Istanbul, but he wanted to earn some money to travel. There were people who were really rich – like the brother of my mother – but when the war came, they didn’t have money to leave. There was no work …

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There were many families in Syria – like my family, my parents – who didn’t want to leave Syria. When we were planning to come to Austria, we said: “Let’s all go together.” And my father and mother said: “We were born here and we will die here”. But then our home was destroyed and they had to follow us. My father didn’t want to come here. I talked to him, I said: “I don’t have any other solution, I don’t have any work”. And he said: “Don’t worry, I will send money, but don’t travel to Europe!” He thought that it was impossible to return later, because there were many Syrians who had already travelled to Europe and the flights to return were very expensive. He said: “If you leave, I cannot see you again.” He thought that it would be difficult for us to meet our family again. So all the time he said: “No, stay in Turkey and I will send you money.” But that is no long term solution. I knew my father had money, but it was not enough. Also, our family’s place was under the control of both the government and IS and it was really difficult to live there. When somebody lived in the government district, IS would say that he’s not good and should die, but if someone from IS lived there, it was different … It was like having a wall in our city, similar to the Berlin wall. There is a sniper, and if people cross, they die. But the city is under the control of IS, they don’t have food or anything. And the parts of the city controlled by the government are only inhabited by women because all the men were taken to do military service – even the old men. If you lived in the government-controlled part, you had to pay money. And for that money you didn’t even get food or water! Sometimes the government or the Russian military sent support to the people who lived under the control of the government, they’d throw food and other things from a plane and the people would go and try to get this food. But the government would take it first and sell it to the people. Our aunt only ate grass (hashish) for a year. She’d cook it or make salad out of it. And she had a child. We collected money from my uncles, about 20.000 dollars, only to pay the government so that she could travel from her city to Damascus. She had cancer and she needed to go to the hospital. She then travelled on a plane which belonged to the military and was used to carry dead bodies, and she was supposed to sit next to these bodies. That was in Tartus. Now, about 90 % of the city is destroyed. It is not a famous city. The media only talks about Aleppo or Damascus. But there are many smaller cities, which no one talks about. They are under the control of IS and the government. Our family is now in Kilb, south of Melk. They arrived two or three months after we came to Austria. They took the same route, but it was easier than when we came. They were able to cross Croatia directly by train, back then it was illegal. When we came, there was police everywhere, and if they caught you, they would send you back to another country. By train it was easier – it takes only three days. For us it was so difficult, it took us one month to arrive here. We walked. Spazieren (laughs). Most people wanted to go to Germany, but we didn’t.

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“I’m not interested in acting, but I like to share because there is a message …”

When we crossed the border in Spielfeld, many people said: “Germany, Germany, Germany …” It’s because the people have some idea about it. They want to go to Germany, they think it’s very good there. I just wanted to get to the first country where they’d accept me as a refugee. Also, my uncle went to Austria two years before us. But in Arabic, the name for Austria is not Austria, it’s “alnnamsa”.

Fig. 4: … Refugee route of the Alian-brothers from Turkey to Vienna (printed from Google Maps) …

Refugee Routes From Istanbul we travelled to Bodrum (looks for Bodrum on google maps). In the beginning, I didn’t need GPS, only when we started to cross the sea. And from here we travelled to … Yeah, it’s this island, Kos, a Greek island. It’s like 15 kilometres away from the coastline … On the 10th of July, we had arrived in Kos. So … to Kos, and from Kos there was a big ship going directly to Athens … a big ship. After staying in Kos for eleven days. Eleven days, because we needed to get some documents and we couldn’t move around Greece before that. But when I arrived in Athens, it was – how do I say this – I imagined Athens to be different. At school we studied Greek history all the time – and here I was, all the shops were closed and the police were in the streets because of the economic crisis … the smell in the streets was very bad … even famous sites were all closed and all

An Interview with Ahmad and Mohammed Alian on 08 June 2016

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dark. After that we travelled from Athens to Idomeni, it’s at the border of Macedonia. It should be here … (looking for Idomeni). We went to Thessaloniki by train and then we walked to Idomeni, because transportation, like a taxi or a bus, was not allowed. We walked it all. Then we sat at the border for twelve hours. The Macedonian police then sent us to the closest train station. We arrived at that station and we slept one night until the train came and took us to the Serbian border. Here, I think it was here, the Serbian border, I think it should be here …

Fig. 5: … in Greece.

When we arrived, we knew there were two villages: one village was very dangerous – if you are a refugee, they would take all that you have, your money, everything. But the second village was very good, the people of this village helped the refugees. So we arrived in that second village of Serbia. We walked for about 20 kilometres until we arrived at the camp … On the walk we didn’t have any water. So really, when we arrived in this village, we really only wanted to drink. Dry … so dry … really, I couldn’t talk. And sometimes we were told: “Don’t go this way, there’s the Mafia, and if you go that way, there is the police” … We had to walk on soft sand – soft sand is very difficult to walk on. But we arrived … and now I am here with you (laughing). In Serbia, we were able to get papers and travel to Belgrade, but in order to get these papers, we had to wait three days outside on the street and it was very cold at night. I found a bus which took us. But because we travelled illegally, we had to

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“I’m not interested in acting, but I like to share because there is a message …”

pay more money. That was in July 2015. When we got to Belgrade, we stayed for another three days while looking for a Schlepper. We found one who took us by taxi. We were eight people in two taxis and we drove to the Serbian-Hungarian border where we had to cross on foot. On the other side another car came and took us to Austria. It was a five or six hours drive because the Schlepper didn’t take the highway, he’d go through villages to avoid the police. When we arrived at the Hungarian border, he was driving 100 km/h and then suddenly he hit the break and someone opened the doors from outside. There were some people waiting and they took us (laughs). We tried to stop and go back to the car because the border of Hungary was clear. But then we crossed the street and we started to walk for one hour, or two hours … These two hours were very bad … We couldn’t see anything ahead of us … I just followed the people who walked in front of me. My uncle has Asthma – he couldn’t breathe – so I started to push him: “Come on!” (laughs). We were split into two groups. You could not even see your own hands in the dark. I followed the other group and later I stayed back and waited for the others. There was this small river which we didn’t see … it was a dirty river. The smell was very bad. I fell down and my cousin caught me … We crossed and there was another car. We sat in that car – we were eight people, nine with the driver, in a minivan. And he drove us to Spittelau. They had organised everything, from Belgrade to Austria … the Schlepper, he organised everything and he took 1.550 E from each of us. From Belgrade to Austria. We can’t say what we think about them … okay, they helped us, but at the same time they are a Mafia – but for us they were a good Mafia. Really, sometimes you feel scared that some Schlepper might kill some people … that they might take the people to sell them, or sell parts of their bodies … But of course we used their “service”. The Schlepper buys a boat for 1.000 E, puts a minimum of 40 people on it and gets 1.000 E for each of them … imagine, he gets 39.000 E – that’s the profit he makes with only one boat! It’s a rubber boat, you know. And it is only made for 20 people, but he puts 40 on it – not even 20, it’s for seven, eight people. We didn’t go via Bulgaria. It wasn’t closed yet, but it was just too dangerous. Even if you are lucky and the Bulgarian police does not catch you, it would have been similar to Hungary. When our family came, they went via Serbia to Croatia and Slovenia … That was in November. They arrived at Bodrum on the second day the border with Hungary was closed. I thought it would be difficult, because my parents are old – they closed this border and you can’t cross … But after that I heard that another way was open and so they crossed Hungary but went directly to Croatia from there. And from Croatia to Slovenia, and from there to Austria. If you remember, there was that train going directly from border to border … they didn’t have to get off in Croatia or Slovenia. A friend of mine came via Italy, it was really, really dangerous. He said it was

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50 kilometres or more at sea. They brought them to a small boat and said: “Come on, go!” And you know, there was some water inside already, no food, nothing. If you are lucky another ship will find you. And if you refuse to get into this boat, they will kill you … It is the same in Turkey because they don’t like others to know the exact place where they send off the boats – one Schlepper uses a specific place, he pays money to use it, I don’t know to whom. But the other Schlepper can’t know about this place. They tell you: “If you don’t go, you will die here and nobody will know.” It would be easy for them, they have a knife, they have a gun and people are put in a group and have to wait. Until four, five in the morning. Everyone has different stories. For example, I know a woman from Iraq … she had big problems back there. Her husband as well – I think he died, but he had worked for the government. So the IS wanted to kill her daughter … Every day we listen to a different story … from people. At the moment I don’t follow the news. I will start to follow it again, but when I think about all the people, I can’t sleep. So sometimes I try not to follow any news.

Theatre Die schweigende Mehrheit: “If something happens, where should we go?” We don’t actually speak German and then someone has to play a role with Bernhard, speak in English or in Arabic. And there is Bana, she’s Syrian, but she’s been living here for 15 years, and she translates. We started to read together, everyday (laughs). Before a lecture and after a lecture, all refugees have one question: If something happens, where should we go? Before, we didn’t imagine that this would happen. Did you see Syrian refugees in Europe before? Before, we received refugees in Syria, from Iraq, from Lebanon … And now … A long time ago there were refugees from Morocco, Algeria; they came for economic reasons. In Syria, I didn’t know anyone who had gone to Europe. Some Syrian people went to Europe for studies and then came back to work in Syria. Five years ago, we never thought about coming to Europe, illegally or legally … really, it never crossed my mind. We had everything, but when the war started, everything changed. But we are still young and we continue our life … I will start my own business. Even with no one beside me, I will start. I cannot sit around without work for a long time, you know? Now I’m waiting for permission. It’s normal that for someone who has worked all his life, it is difficult to sit around not working. I found a friend who will help me, he said he’ll find a place for me to work. Also, I’m going to start a small kitchen in our house, I will make Syrian food, sweets – for parties. Anna from the project #WELCOMEoida called me today, there might be an opportunity for us to prepare sweets or something like that. There are

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“I’m not interested in acting, but I like to share because there is a message …”

many success stories of Syrian people who opened restaurants. Some of them are so crowded you have to wait 30 minutes to find a place to sit. I will make a caf8 … with sweets – Syrian sweets, Arabic sweets, Shisha … I want to work, like a normal person does … we should work. We have to learn the language in order to work, and it is very difficult for us. We started a German course now. In Syria we studied Finance and Accounting. One last question, maybe about the theatre play: Because you performed it so many times already – is there one performance that you will always remember or something that made it special? Yeah of course. (laughter) (Everyone knows they are referring to the performance at Audimax, University of Vienna.) It was a stupid question. Maybe tonight will be even more special [at the city hall]. I think today the police will be there from the beginning because there are also some members of parliament. What happened in the Audimax was very strange for us. We didn’t know what was happening. We thought: Okay, this is not normal. Maybe in Austria, if people don’t like our show, they will write a bad review in the newspaper and they might do something else – but not this. At the moment it happened, we thought that Bernhard had changed the play without telling us. During our last performance at the Technical University, a couple of months after the Audimax situation, there were police and a security company. And before we started, there were some students, they sat in the audience and they were wearing something orange. They said if something happened, we should follow them quickly. It confused me.

Peter R. Horn

„… machen Sie ein Foto, schnell, bevor sie wieder weg ist, die Menschenwürde …“

Refugees Welcome? (Wien 2016, T Peter R. Horn)

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dignity #1 (Wien 2016, T Peter R. Horn)

dignity #2 (Wien 2016, T Peter R. Horn)

„Vor der Kamera sind alle gleich, wenn sie auch nicht alle die gleiche Kamera haben, aber sie haben alle eine, ja, auch die Kinder, und auch die Kinder haben Rechte und ihre Handykamera dazu und ihren Wisch-Schirm dazu, das werden einmal brave Putzer werden, die werden alles putzen, was sie sehen, wisch und weg, und damit machen sie jetzt auch noch ein Foto, Achtung, die Menschenwürde! Achtung, die Menschenwürde kommt jetzt auch, da kommt sie!, machen Sie ein Foto, schnell, bevor sie wieder weg ist!“ (Elfriede Jelinek, Die Schutzbefohlenen, http://www.elfriedejelinek.com/)

„… machen Sie ein Foto, schnell, bevor sie wieder weg ist, die Menschenwürde …“

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dignity #3 (Wien 2016, T Peter R. Horn)

dignity #4(Wien 2016, T Peter R. Horn)

Aufführung Schutzbefohlene performen Jelineks Schutzbefohlene des Kollektivs Die schweigende Mehrheit im Audimax der Universität Wien am 14. 04. 2016. Während der Aufführung stürmt eine Gruppe von Rechtsextremen die Bühne, die Vorstellung geht nach einer kurzen Unterbrechung weiter (Abbildungen linke Seite). Als Reaktion und politische Antwort der Wiener Stadtregierung wird das Ensemble eingeladen, das Stück am 08. 06. 2016 im Arkadenhof des Wiener Rathaus zu spielen (Abbildungen rechte Seite).

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Peter R. Horn

WE DEMAND OUR RIGHTS! Unter diesem Titel findet während der Besetzung der Votivkirche (Dezember 2012 bis Februar 2013) an der Universität Wien eine gemeinsame Diskussionsveranstaltung von Aktivist_innen und dem Institut für Politikwissenschaft statt (Neues Institutsgebäude, 30. 01. 2013). „Universitäten sind Orte von Lehre, von Forschung, von wissenschaftlichen Dienstleistungen und manchmal sind sie auch Orte von öffentlichen Diskussionen, wo Wissenschaft und auch andere gesellschaftliche Gruppen und Akteure zusammenkommen, über Probleme sprechen, über aktuelle Entwicklungen, vielleicht auch Alternativen andenken, Lösungsmöglichkeiten für Probleme. Wir haben in den letzten Monaten sehr stark gelernt, daß es in diesem Land ein ganz zentrales Problem ist, wie mit Flüchtlingen und Aslywerbern umgegangen wird, dass ihnen das vorenthalten wird, was selbstverständlich sein sollte in einem Land wie Österreich: das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben.“ (Ulrich Brand, Institut für Politikwissenschaft)

Stills aus dem Livestream vom 30. 1. 2013 (CC NC-SA Peter R. Horn / ZIGE TV, https:// youtu.be/P6EHuBffgdU)

Refugees Welcome! (Wien 2013, T Peter R. Horn)

Antonio Zapata

„Moros en la costa“

Abb. 1: Antonio Zapata, Oro y sangre, 2013, Öl auf Leinwand, 3 x 3 m.

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Antonio Zapata

*Sprichwörter auf Spanisch:1 „Moros en la costa“ (Mauren an der Küste): „Es gibt ,Feinde‘ in der Nähe“ „Como moros sin seÇor“ (Wie Mauren ohne Herr): „Eine uneinige, chaotische Gruppe von Menschen“ „A m#s moros, m#s ganancias“ (Je mehr Mauren desto mehr Gewinn): „Mut haben, Risiken einzugehen“ „Moros van, moros vienen“ (Mauren gehen, Mauren kommen): „Ich bin (schon) betrunken“ „El oro y el moro“ (Das Gold und der Maure): „Übertrieben viel versprechen“ „O todos moros, o todos cristianos“ (Entweder alle Mauren oder alle Christen): „Gleiche Behandlung für alle“ „A moro muerto, gran lanzada“ (Einen toten Mauren mit der Lanze treffen): „Feige sein“ „Haber moros y cristianos“ (Es gibt Mauren und Christen): „Es gibt gerade einen großen Streit“ „De mal moro, nunca buen cristiano“ (Aus einem schlechten Mauren wird kein guter Christ): „Kleider machen keine Leute“ ALGARAB2A heißt heute auf Spanisch Geschrei, Gejohle, Geschwätz, Kauderwelsch, Stimmengewirr, auf alle Fälle etwas Unangenehmes für die Ohren. Ursprünglich hieß es „die arabische Sprache“.

Abb. 2: Cristianos contra Moros, 13. Jh.

„Moros en la costa“, schrie Anfang des 16. Jahrhunderts der Soldat aus Granada von seinem hohen Turm, als die maurischen Schiffe aus Marokko sich der Küste Gibraltars näherten in ihrem Versuch, Granada und Cordoba zurückzuerobern.

1 Diccionario de la Lengua EspaÇola, Madrid 232014.

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„Moros en la costa“, schreit Anfang des 21. Jahrhunderts der Frontex-Mann aus Brüssel von seiner Schnellpatrouille, als die Schlauchboote aus Afrika sich der Küste Lampedusas nähern in ihrem Versuch, Dürre und Krieg in Eritrea zu entkommen.

Abb. 3: Antonio Zapata, Du, du und du. Und du auch. Afrika.

„Moros en la costa“, flüstern wir, Leute aus Spanien und Lateinamerika, einander seit 500 Jahren als Warnsignal zu, wenn jemand unerwünschtes/ein Unerwünschter in unserer Nähe ist, der uns daran hindert, frei zu sprechen oder zu handeln.2 Furchterregende Mauren, angsteinflößende Muslime; Islamfeindlichkeit und Rassismus in unserer alltäglichen Sprache: „ich bin Neger, hab kein Geld“, „Kruzitürkn“. In Kinderspielen: „Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?“, „Ist die schwarze Köchin da?“. In Kulinarischem: „Mohr im Hemd“.

2 Lucila Iglesias, Moros en la costa (del Pac&fico). Im#genes e ideas sobre el musulm#n en el Virreinato del Perffl, Arica 2014.

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Antonio Zapata

Abb. 4–6: Eskimo-Werbung und Mehlspeise.

Im Theater : Die Kerker von Algier von Cervantes oder Othello, der Mohr von Venedig von William Shakespeare.

Abb. 7: Othello, der Mohr von Venedig.

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In der Oper : Die Entführung aus dem Serail von Wolfgang Amadeus Mozart.

Abb. 8: Mozart-Gedenktafel.

Im Circus und in Zoos: Ashantee-Schaustellung von 1896/97, Menschenschauen im Prater oder Senegalnegerkolonie im Prater (Neues Wiener Journal von 07. 09. 1929).3

Abb. 9: Völkerschau, Stuttgart 1928.

Abb. 10: Menschen im Zoo, Hamburg 1909.

3 Poldl Berndl, … es wird ein Wein sein, Wien 1939.

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In der Malerei: Portrait Angelo Soliman nach Johann Nepomuk Steiner.

Abb. 11: Angelo Soliman, Der „Mohr“ von Wien, 1750.

In der Literatur : Das afrikanische Wien. Ein Führer zu Bieber, Malangatana, Soliman. Im Film: American Sniper,4 Fitna von Geert Wilders.5 In den Medien: „Vom Kindersklaven zum ausgestopften ,Hofmohr‘ von Wien“.6 In der Politik: „Daham statt Islam, Wien darf nicht Istanbul werden“ von der FPÖ. In neuen Jugendbewegungen: Identitäre „Wir, die Jugend ohne Migrationshintergrund“.

4 Vgl. American Sniper, R: Clint Eastwood, USA 2014. 5 Vgl. Fitna, R: Geert Wilders, NE 2008. 6 Vgl. Der Standard, „Vom Kindersklaven zum ausgestopften ,Hofmohr‘ von Wien“, 28. 09. 2011, http://derstandard.at/1317018701652/Schicksal-Vom-Kindersklaven-zum-ausgestopf ten-Hofmohr-von-Wien [19. 07. 2016].

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Abb. 12: FPÖ-Anzeige, 2016.

Abb. 13: Identitäre Bewegung, Logo.

Trotz Warnungen des Soldaten aus Granada haben die Mauren an der Küste angelegt, schreibt 1601 der spanische Priester Fra Diego de OcaÇa (1570–1608) in Potos&, Bolivien, in seinem Theaterstück Crjnicas de la Virgen de Guadalupe für die Evangelisierung der Indios in Amerika.7

Abb. 14: Antonio Zapata, Virgen de Guadalupe.

7 Beatriz Carolina PeÇa NuÇez, Fray Diego de OcaÇa. Olvido, mentira y memoria, Alicante 2016.

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Antonio Zapata

Abb. 15: Antonio Zapata, Migraciones (Detail).

„Indios en la costa“ hatten hundert Jahre zuvor auf Kolumbus und seine drei Schiffe La Pinta, La NiÇa und La Santa Mar&a gewartet; „Indios y Costa“, die die Europäer im Namen der Krone und des Kreuzes in Besitz nahmen. Europa, das damalige Zentrum der Welt, breitete sich weiter aus, auf der Suche nach Eldorado, jenem Gold, das den Bau dieser „Festung“ ermöglichte. Gold, Silber und Indios fanden sie reichlich in Bolivien; Indios, die nur eine christliche Seele brauchten, um Menschen zu werden.

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Abb. 16: Antonio Zapata, Migraciones (Detail).

Das Theaterstück Fra Diego de OcaÇas diente der „Errettung“ der Arbeiter der größten Silber-Mine, die die Spanier je hatten. Mit dem Silber aus Potos& hätte man eine silberne Brücke über den ganzen Atlantik, zwischen Amerika und Europa, bauen können.

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Abb. 17: Antonio Zapata, Oro y sangre (Detail).

Weiter erzählt das erste Theaterstück Boliviens, dass die Mauren Granada belagern, wo ein Abbild der Jungfrau Maria verehrt wird, ein Geschenk des Papstes Gregor an Leander, Erzbischof von Granada, nachdem das Gnadenbild die Pest aus Rom verbannt hatte.8 ¿Adjnde podr8 esconderos, Que de los moriscos fieros Ninguno pueda hallaros? Wo kann ich Euch verstecken, sodass Euch keiner von den wilden Mauren findet?,

lässt der schreibende Priester seinen Helden sagen, der das Abbild der Jungfrau Maria vor den Mauren rettet und mit ihm bis zum Tal des Flusses von Guadalupe flüchtet, wo er es vergräbt und sagt: Os determino dejar en este oculto lugar, que temo la turba mora. An diesen geheimen Orten muss ich Euch lassen; ich fürchte die maurischen Horden. 8 Carlos Cordero Barroso, Guadalupe en la literatura espaÇola, Guadalupe 1993.

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Abb. 18: Santiago Matamoros (Hl. Jakob, der „Maurentöter“),17. Jh.

Viele Jahre später, als die Kastilier die Mauren nach Afrika zurückdrängen, findet ein Hirte seine verlorene Kuh, tot, genau an dem geheimen Ort. Als er gerade anfängt seine Kuh zu häuten, steht sie lebendig auf und gleich erscheint die Jungfrau Maria, die ihm aufträgt, an dieser Stelle zu graben, das Bild herauszuholen und an diesem Ort eine Kirche zu erbauen. Von dem Fund wird dem König berichtet, der vor kurzem in Afrika gelandet ist und sich in der Wüste in einer Schlacht gegen die Mauren befindet, eine Schlacht, die er zu verlieren im Begriff ist. In seiner Not bittet der König die neu entdeckte Jungfrau Maria von Guadalupe um Hilfe.9 Sie erscheint mit einer Schüssel voll Sand, den sie den Muslimen in die Augen streut und sie so zur Flucht zwingt. Ein flüchtender blinder Kämpfer erklärt es seinem König Abu l-Hasan so: Una mujer me cegj, hermosa m#s que la luna, la cual, sin defensa alguna, polvo en los ojos me echj. No soy yo solo, que todos tus moros ciegos est#n. Eine Frau blendete mich, schöner als der Mond war sie, mir Schutzlosem, warf sie Staub in die Augen. Alle, nicht nur ich, alle deine Mauren sind blind.

9 Mar&a Eugenia Diaz Tena, „La leyenda y milagros de la Virgen de Guadalupe en el teatro hispanoamericano de principios del XVII“, in: Via Spiritus 10, Porto 2003, S. 139–171.

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Abb. 19: Virgen de Guadalupe.

Ein spanischer Soldat wird auch gleich von der Virgen de Guadalupe aus seinem maurischen Gefängnis gerettet. Fra Diego de OcaÇa lässt seinen neuen Helden die Indios von Potos& informieren, was ein spanischer Christ von den Mauren denkt: Moro cruel, pues me pones en el extremo del mal en que estoy, vi8ndome tal ¿no aliviar#s las prisiones? No, que eres tanto cruel, cuanto tu condicijn fiera. Grausamer Maure, der du mich bis an die Grenze des Verderbens zwingst, wirst du nicht, bei meinem Anblick, meine Gefangenschaft erleichtern? Nein, da du so grausam bist, wie es deinem Wesen als Wilder entspricht.

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Abb. 20: Santiago Mataindios (Hl. Jakob, der „Indiotöter“).

Sogar Erfrischungen wurden bei der Uraufführung des Stücks in der Pause von den Priestern an die Indios verteilt. Der große Applaus bestätigte die Eignung des Theaters nicht nur als Unterhaltung, sondern vor allem zur Evangelisierung. Evangelisierung, die dann auf afrikanische Sklaven erweitert werden musste, da die Indios für die Schwerstarbeit in den Minen untauglich waren. So kamen drei Jahrhunderte lang unzählige mit Negros vollgeladene Schiffe aus Afrika, in Amerika an; Negros, die Europa auch zu christianisieren hatte.

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Abb. 21: Antonio Zapata, Blanco y negro.

Negros en la costa erblickten die Überlebenden des Floßes der Medusa aber nicht, als sie sich endlich der Küste Afrikas näherten.10 Negros waren seit langem nicht mehr leicht zu fangen, die mussten im Landesinneren gejagt werden.

10 Helmut Mayer, „Das Floß der Medusa“, in: Kunstpresse Nummer 2, Wien 1989.

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Abb. 22: Antonio Zapata, Das Floß der Meduse I, nach G8ricault.

Die französische Fregatte Meduse war unterwegs vom Mutterland zur Kolonie Senegal, als sie im Sturm Schiffbruch erlitt. Aus Masten und anderen brauchbaren Teilen des gestrandeten Schiffs zimmerten die Männer ein improvisiertes Floß mit riesigen Ausmaßen, das „Floß der Medusa“, das zur Rettung der einfachen Soldaten und Siedler dienen sollte; die wenigen Rettungsboote hatten Gouverneur, Beamte und Adelige für sich beansprucht.

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Abb. 23: Antonio Zapata, Das Floß der Meduse II, nach G8ricault.

Ein Mohr ohne Hemd steht ganz hoch im Zentrum des Bildes von Th8odore G8ricault, eines der größten Gemälde des Pariser Louvre-Museums (4,91 x 7,16 m). Dreizehn Tage konnte eine kleine Gruppe von fünfzehn Menschen auf offenem Meer überleben, nachdem sie sich auf dem Floß der Medusa von ihren Toten ernährt hatten; ursprünglich hatten sich einhundertfünfzig Schiffbrüchige auf dem Floß befunden. Viele andere „Medusen“ aus England, Holland, Portugal, Spanien, Belgien, Italien und Deutschland landeten vierhundert Jahre lang in ganz Afrika auf der Suche nach Sklaven und Gold. Europa-Afrika-Amerika, das neue goldene Handels-Dreieck am Atlantik: Europa oben an der Spitze, Afrika und Amerika unten an der Basis.

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Abb. 24: Antonio Zapata, Frontex (Detail).

Auf einem Schreibtisch, oft nur mit Stift, Lineal und Zirkel teilten sich die Europäer Meer und Landkarte, ohne Rücksicht auf die Völker, die durch ihre Linien getrennt wurden, dabei halfen ihnen Meridiane als Vertikalen, Parallelen des Äquators als Horizontale, Diagonalen und Bogen als Hilfsgrenzen, wenn Flüsse und Bergzüge fehlten. Mit der Entdeckung von Erdöl in den Wüsten der „Alten Welt“ wurden diese Teile der Erde neuerlich attraktiver für Europa. Die Achsen der Macht änderten sich wieder, aber Europa blieb immer noch oben an der Spitze der neuen geometrischen Figur, einer Raute, mit Afrika ganz unten, an der unteren Spitze, während Lateinamerika und Asien die zwei seitlichen Winkel einnahmen.

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Abb. 25: Afrika 1812.

Die Grenz-Geometrie der Europäer im Mittleren Osten und in Nordafrika – unsere Verwestlichung der Wüste – ihre Ölquellen – unsere Abhängigkeit davon – ihre unterschiedliche Weltauffassungen – unsere ökonomischen Interessen und noch unzählige Unsere-Ihre brachten die Waage wieder ins Ungleichgewicht. Dass die meisten Bewohner an der Erdoberfläche über den darunterliegenden Gas- und Ölhorizonten Muslime sind, ist nur Zufall.

Abb. 26–30: Antonio Zapata, Abu Ghraib.

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Abb. 31: Antonio Zapata, Eurocentrismo, 2013, Öl auf Leinwand, 3,7 x 2,5 m.

Abb. 32: Antonio Zapata, Europa y el Mediterraneo.

Am 11. September 2001 teilte George W. Bush die Welt in Gut und Böse, in WirChristen und Die-Moslems. Ein orientalistischer Diskurs wurde kreiert, um die Militärpolitik des Westens im Kampf gegen den Terrorismus zu legitimieren. Dabei haben, seit Jahrhunderten, alltägliche Sprache, Kunst, Literatur und, etwas weniger lang zurück, Zeitungen und Fernsehen den Boden vorbereitet für die Entstehung unseres kollektiven Bildes vom Islam: exotisch, erotisch, fanatisch, Männer-dominiert, grausam, zügellos, ignorant, unfähig zur Demokratie,

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rückständig, irrational, unberechenbar … Stereotype, Vorurteile, Vorannahmen, die den kollektiven Konsens unserer Gesellschaft gegen den Islam stärken:

Abb. 33: Meinl.

Abb. 34: Völkertafel, 1725.

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Abb. 35: Harem, 1824.

Ein gefährliches muslimisches einheitliches Konstrukt, wo viele Länder, Kulturen, Ethnien und Teile von Kontinenten hineinpassen, gegenüber einem guten, vom Islam attackierten christlichen Westen. Europa identifiziert sich jetzt als Einheit, als gemeinsame Festung gegenüber dem Islam und benützt dafür eine ähnliche Parolen-Strategie wie die Fundamentalisten: „wir“ – „unsere Werte“ – „unsere Zivilisation“ – „unsere Demokratie“. Wie die Sprachwissenschaftlerin Ruth Wodak 2016 erklärt, wird „Politik mit der Angst“ konstruiert.11

Abb. 36: H.C. Strache, 2010.

11 Vgl. Ruth Wodak, Politik mit der Angst, Wien 2016.

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Beide Positionen, Islamischer Staat und Wir-Europa, sind gleichermaßen fundamentalistisch und nähern sich einander an, wachsen zusammen. Nur eine Dekonstruktion beider Positionen wäre eine Hoffnung. „Islam“ und „Westen“ sind nur unsere Konstruktionen: die Reduzierung eines ökonomischen und politischen Problems auf die Religion. Der Fundamentalismus einiger weniger (Al-Qaida, IS) wird auf über eine Milliarde Muslime übertragen. Ein paar Millionen von diesen sind mittlerweile Europäer, viele in 2. und 3. Generation, einige davon Fundamentalisten. Ja, es entstanden auch radikale Zellen, begünstigt durch den komplizierten sozio-politischen Kontext: Integrationsschwierigkeiten, Ghettos, Arbeitslosigkeit, Diskriminierung, Rassismus, Kriminalisierung, Identitätsprobleme, Einsamkeit, Leere … Wie? Warum?

Abb. 37: Antonio Zapata, Grenzen.

Ich, Kolumbianer, lebe seit 30 Jahren in der Diaspora, bin „el otro“, „der Andere“, und konstruiere hier in Österreich „mein Kolumbien“ aus Fragmenten meiner Nostalgie und solchen, die Europa mir in seiner eigenen Konstruktion von Lateinamerika anbietet, mir zeigt, von dem, was das „Latino-Sein“, von „dem Anderen“ ausmacht.

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Abb. 38–41: Antonio Zapata, Brief meines Großvaters, Foto meiner Großmutter, Foto meines Vaters, Miss Colombia (Detail).

So wie Canclini (2009) sagt: „La im#gen de Latinoam8rica viene de los espejos regados en los espacios de la di#spora“.12 („Das Bild Lateinamerikas baut sich zusammen aus den in den Räumen der Diaspora verstreuten Spiegeln.“)

12 Garcia Canclini, Nestor. Latinoam8ricanos buscando lugar en este siglo, Buenos Aires 2002, S. 19.

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Abb. 42: Antonio Zapata, Hier entlang.

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Abb. 43: Antonio Zapata, Medellin-Kartell.

Ich habe wenigstens konkrete Grundlagen für mein Bild: Das ferne Land, wo ich geboren bin, plus die „schöne“ Visualisierung Lateinamerikas durch die Österreicher : Salsa-Tango/Strand-Sonne/Urwald-Alpakas; sogar das KokainKartell von Medellin und Pablo Escobar sind für Österreicher etwas Folkloristisches. Trotz dieses positiven Lateinamerika-Bildes Österreichs tut mir oft die Seele weh. Aber welche Bausteine besitzt ein hier in Europa geborener muslimischer Mensch für die Konstruktion des „Zuhauses seiner Seele“? Ein FataMorgana-Land, wo sein Großvater geboren ist, aber nicht er, ein sehr scharf abgegrenzter Status des „Anderen“ gegenüber einem verzerrten, negativen Bild der Europäer von der islamischen Welt. Weder von hier noch von dort ist er, weder ein echter Entwurzelter noch ein Verbannter. Sein Zuhause könnte so eine Art Limbo sein, wo er schwebt; seine Wurzeln suchen Erde … Wurzeln eines

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Jugendlichen voll Testosteron, ungenügend gebildet, voll Ressentiments, ohne eigene Identität, für die er endlich Nährboden in der Wüste des Islamischen Staates zu finden meint. Der Junge braucht Hilfe. So ein Mensch hat noch dazu viel Potenzial für uns. Sein Limbo könnte der „dritte Raum“ von Homi K. Bhabha sein, dieser „Kein-Raum“ zwischen den Übergangsorten des subjektiven und des historischen Heims.13 Dieser Raum für sozialen Wandel; ein hybrider Raum, wo Identitäten und Bedeutungen re-interpretiert werden. Der Raum, wo viel Neues entsteht, ein Uterus für Kunst, Theorien, neue Visionen, Blickwinkel und Perspektiven; ein Ort voll Wahrheiten und Schönheit. Vorausgesetzt es ist ein geschützter Dritt-Raum, wo der Mensch sich entfalten darf, und nicht einer, wo allein seine bloße Gegenwart, weil sie uns einen hier nicht erwünschten Islam zeigt, stört und irritiert. Der tolerante Westen wird zunehmend intoleranter angesichts der Kennzeichen dieser Kultur: Minarette, Burkas, Tücher, Bärte, betende Männer mit ihrem „Mini-Rosenkranz“… Nein, Europa muss geschützt werden und dafür wachsen die Zäune in Höhe und Länge; ja, der gesamte reiche Norden soll vom armen Süden getrennt werden; der Zaun fängt zwischen den beiden Kalifornien an, läuft entlang von Wüste und Rio Grande, über den Atlantik bis zum Mittelmeer, bis Melilla und Ceuta, über Malta und Lampedusa bis Lesbos und weiter durch den ganzen Balkan. Der Damm soll die Überschwemmung aufhalten. Aber die Schere zwischen Reichen und Armen wird breiter. Die 62 reichsten Personen der Welt besitzen so viel Geld wie die ärmste Hälfte der gesamten Weltbevölkerung: 62 gegen 3,5 Milliarden Menschen, das heißt das Hochwasser kommt erst …

13 Vgl. Homi K. Bhabha, El lugar de la cultura, Buenos Aires 2002.

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Abb. 44: Antonio Zapata, Kleine Isabelle nach Vel#zquez.

Reich-Arm: da sollten Europa, der Westen, der Norden ansetzen. „Unsere“ Werte sind ziemlich bequem in Geld eingebettet. Es geht um Geld, um Energie. Ich betrachte meine zarten Hände und frage mich, was haben diese Hände so Wertvolles für Andere geschaffen, dass ich das Recht auf das alles habe, was ich genieße? Die Baumwolle und Wolle meiner zahlreichen Kleider, das Leder meiner Schuhe, das Papier meiner Bücher, Metall für Scharniere, Geräte und Handys, Plastik, Farben, Holz, Kaffee, Reis. Was hat der Minenarbeiter Boliviens von mir bekommen? Der Gerber, der Bauer? Von mir? Von uns? Zahle ich wirklich, was es kostet? NEIN in Großbuchstaben ist die Antwort. Die pakistanische Näherin und die mexikanische Maquiladora an der Grenze zu den USA nähen meine Hosen und Hemden mit Hunger und Angst. Angst, ein dauernder Begleiter des Volkes in vielen Ländern mit vom Westen unterstützten korrupten Regierungen, die erst „unsere“ Zivilisation, „unsere“ Demokratie und „unsere“ Werte, „unsere“ Freiheit mit ihren billigen Rohstoffen und ihrer unterbezahlten Arbeit garantieren.

„Moros en la costa“

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Abb. 45: Antonio Zapata, Evente (Detail).

Mexiko, das Land der Jungfrau von Guadalupe, die lateinamerikanische Grenze zum reichen Norden, der Hinterhof Amerikas, spiegelt am besten die Spannung zwischen Erster und Dritter Welt: Maquiladoras und Clusters, Mauern und Stacheldraht, Kojote-Schlepper und Homeland Security, Drogen-Kartelle und korrupte Strukturen …

Abb. 46: Antonio Zapata, In die schöne neue Welt (Detail).

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Und Menschen, Menschen und Menschen. Menschen, die versuchen die Grenze zu überqueren. In Mexiko landete Fra Diego de OcaÇa 1605 mit seiner Virgen de Guadalupe, die aber auch schon lang davor in Mexiko erschienen war. Den Indio Juan Diego bat sie auch, eine Kirche „an jener Stelle“, dem Tepayac-Hügel, zu bauen. Mit der Zeit wurde die Mutter Gottes so dunkel wie die Indios selbst: „La Virgen Morenita“, die Dunkle Madonna, Schutzpatronin Mexikos.

Abb. 47: Virgen de Guadalupe, 1895.

Noch dunkler, in jeder Hinsicht, wurde in Haiti die synkritische afrikanischchristliche Mutter Gottes Erzuli Dantor, oder Erzuli de los Errores, („der Fehler“), Virgen de los Milagros, eine schwarze Madonna mit drei Narben im Gesicht, Gegen-Spiegelbild der weißen sauberen Erzuli Freda, eine Virgen de la Soledad einer heilen weißen Welt.14 Rabenschwarz ist dagegen die Welt von Erzuli Dantor, Herrin der dunklen Triebe des Menschen, wie Rache, Zorn, Hass, Macht, Gewalt, Lüge, Feuer, Blut, Schmerz und Angst. Schwert und Machete sind ihre Symbole, wie auch von allen Gottheiten der Schwarzen Nachon; ein Reich voller Ketten, Schlangen, Grabkreuze, gehörnter Köpfe, Skelette, Säbel und Waffen; ein Reich in Schwarz, Violett, Gold, Rot, Kupferrot und Blutrot; ein Reich durstig nach schwarzen Hähnen, Innereien, Rum, Likör, Tabak, Parfüm, Schießpulver und Krieg.

14 Manfred Kremser (Hg.), „Ay BoBo“, Afro-Karibische Religionen. Teil 2: VOODOO, Wien 2000.

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Abb. 48: Erzuli Dantor.

Wie das angstvolle blutrote Reich der Latinos an der Grenze zu den USA, beherrscht von Gesetzlosigkeit und Chaos, von Banden und Kartellen, welche auch von der Jungfrau Maria von Guadalupe, Lupe, Lupita beschützt werden, wie die Hip-Hop Gruppe „Cartel de Santa“ in ihrem Lied „Guadalupe“ singt: maltrecho gasto mis suelas en el pavimento / robo, miento, engaÇo; no hay pretexto […] / Guadalupe, Lupe, Lupe dame el perdjn / Guadalupe, Lupe, Lupe s#lvame por favor / Ella me protege, me da su ayuda / cuando voy por las calles y sin control – völlig erledigt laufe ich meine Sohlen kaputt am Asphalt / stehle, lüge, betrüge; eine Ausrede gibt es nicht / Guadalupe, Lupe, Lupe vergib mir / Guadalupe, Lupe, Lupe rette mich, ich bitte dich / Sie ist es, die mir Schutz und Hilfe gibt / wenn ich gesetzlos durch die Straßen gehe15

15 Cartel de Santa ft.celso pina-guadalupe, 21. 08. 2010, https://www.youtube.com/watch?v= 3wvcbIooQLg [19. 07. 2016].

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Abb. 49: Antonio Zapata, Welt des Verwaltungsvollstreckungsgesetzes.

Noch ein Dialogausschnitt aus der Schlussszene des Films Once Upon a Time in Mexico (2003):16 - Qu8 quieres de la vida? / – Libertad. - Es simple! / – No!

Freiheit: Ein Luxus. Unser Luxus. Luxus nur für uns.

16 Once upon a time in Mexico, R: Robert Rodriguez, MX 2003.

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Abb. 50: Antonio Zapata, A la luz.

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Abb. 51: Antonio Zapata, Libertad.

Antonio Zapata

„Moros en la costa“

Abb. 52: Antonio Zapata, Civilizacion.

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Abb. 53: Antonio Zapata, Antonio Zapata beim Malen.

Antonio Zapata

Petja Dimitrova

„Refugee Protest Camp Vienna“. Kämpfe – Politiken – Bildproduktionen. Überlegungen zur Politik des Sehens

Soziale Bewegungen, kollektive Widerstandskämpfe und Proteste finden statt – im privaten und im öffentlichen Bereich, in der Ferne und Nähe. Wie aber werden sie dargestellt, welche Bilder bilden diese Bewegungen ab, wie sehen wir diese Bilder? Eine der jüngsten und somit aktuellsten Refugeeproteste in Österreich war jene Bewegung, die sich in den Jahren 2012–13 organisierte. Innerhalb der sogenannten „entwickelten Demokratie“ in Europa trugen sie die fundamentale Forderung nach einem „Recht auf Rechte“ vor, die bereits in den 1970er-Jahren von Hannah Arendt formuliert worden war. „Das Recht, Rechte zu haben“ wird und muss von Menschen eingefordert werden, die aufgrund gegenwärtiger europäischer Migrationspolitik, anstelle eines Anspruchs auf Leben auf ihr pures Überleben reduziert werden. Der Politikwissenschaftler Achille Mbembe aus Kamerun, der sich auf Theorien des Postkolonialismus spezialisiert hat, bezeichnet diese Art der Politik als „Necropolitics“1. Im gleichnamigen Artikel spricht er dabei vom Management des Lebens, also der Entscheidungsmacht darüber, wer leben oder sterben soll. Wenn wir den Migrationsdebatten sowie den politischen und gesetzlichen Entwicklungen in Österreich folgen, so sehen wir, dass Migration als ein „Testfeld“ dient, um einen zunehmenden Abbau von Rechten, eine Destabilisierung, Selektion, Hierarchisierung, rassistische Diskriminierung und Ausschlussverfahren von gesellschaftlicher Teilhabe einzuüben. Es handelt sich um einen Test an gewissen Bevölkerungsgruppen, jenen der Migrant_innen.2 Das Asyl- und das Fremdengesetz in Österreich sind die am meisten novellierten Gesetze: Es werden laufend neue Regeln und Paragrafen geschrieben oder umgeschrieben. Dabei handelt es sich um Bereiche wie Asyl-, Aufenthalts- und 1 Vgl. Achille Mbembe, „Neoropolitics“, übers. v. Libby Meintjes, http://www.dartmouth.edu/ ~lhc/docs/achillembembe.pdf [22. 07. 2016]. 2 Der Begriff „Migrant_in“ wird hier im Sinne des durch maiz [http://www.maiz.at/] eingeführten Begriffs von konstruierter Identität verwendet, der politisch eingesetzt wird.

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Arbeits-, Wahl-, Staatsbürgerschaftsrecht u. a. allesamt gerichtet auf Restriktion, Disziplinierung und Ausschluss.

November 2012 Im November 2012 demonstrierten zum ersten Mal in der Geschichte Österreichs Menschen ohne europäischen oder österreichischen Pass, Migrant_innen und Flüchtlinge. Sie protestierten gegen die vorherrschenden Missstände ihrer Lebensbedingungen in Österreich. Dieser Protest war einer der radikalsten und zahlenmäßig größten, der von Menschen mit prekärem oder auch ohne Status initiiert und getragen wurde. Der Protest begann im Erstaufnahmezentrum Traiskirchen mit einem Demonstrationsmarsch von ebendort nach Wien, das sind ca. 35 km. Es beteiligten sich hunderte Flüchtlinge und politische Aktivist_innen.

Abb. 1: „Der ,Sigmund Freud Park‘, umgangssprachlich auch ,Votivpark‘ genannt, galt über mehr als einen Monat als Zentrum der Refugee-Protestbewegung. In Anlehnung daran, dass Sigmund Freud selber ein Flüchtling war, wurde der Park mittags in einer feierlichen Zeremonie nun symbolisch in ,Refugee Protest Park‘ umgetauft.“ Aus der Presseaussendung der Refugee Protestbewegung zum 1. Mai, http://no-racism.net/article/4448/ [08. 06. 2016].

Zwei Jahrzehnte zuvor, 1990 fand bereits ein Demonstrationszug von Traiskirchen ausgehend statt. Damals marschierten rumänische und andere osteuropäische Flüchtlinge zum Bundesministerium für Inneres nach Wien. Nur ein Jahr nach dem Mauerfall wurde gegen die Abschaffung und Aberkennung des Asylgrunds für Menschen aus dem ehemaligen „Ostblock“ protestiert. Dieses Ereignis ist, abgesehen von kurzen Berichten und kleineren Kolumnen in Tageszeitungen kaum belegt oder dokumentiert. Ein Dokument allerdings stellt eine künstlerische Arbeit dar : Die Diplomarbeit von Ovidiu Anton an der

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Abb. 2: Protestmarsch in Traiskirchen.

Akademie der Bildenden Künste Wien 2010. In dieser beschäftigt er sich mit der Migrationsgeschichte seines Vaters, der aus Rumänien nach Wien kam. Der Refugeeprotest des Jahres 2012–13 fand unmittelbar anschließend an den dreitägigen Protest somalischer Migrant_innen vor dem Parlament in Wien statt. Sie hatten dort ein Zeltcamp errichtet, um auf den prekären und unregulierten Subsidärschutz in Österreich hinzuweisen.3 Alle diese Refugeeproteste in Wien bzw. in Österreich sind auch als Teil der zahlreichen Proteste, Märsche und Platzbesetzungen zu verstehen, die in Berlin, München, Würzburg, Hamburg, Amsterdam, Paris und anderen Städten stattfanden. Flüchtlinge, Migrant_innen und Papierlose protestieren und kämpfen seit Jahren in ganz Europa gegen den Umstand, dass Menschenrechte immer weniger gelten sowie gegen die verschärften Lebensbedingungen. Konkret richten sich diese Kämpfe gegen die schrittweise Abschaffung des Rechts auf Asyl, die bis hin zur Verweigerung der Mobilitäts- und Bewegungsfreiheit führen, wie durch das Dubliner Übereinkommen manifest geworden. Wie aber kam es konkret zum Protest in Wien 2012, wie hat er begonnen? Folgende Situation war gegeben: Das überfüllte österreichische Erstaufnahmezentrum Traiskirchen, die Verweigerung der Aufnahme und des Transfers von Refugees in die Bundesländer, ein Mangel bzw. erschwerter Zugang zu medizinischer Versorgung im „Lager Traiskirchen“, schlechte bis unzureichende oder gar keine Halal-Nahrungsmittel, kein Zugang zu Basisbildung oder Deutsch3 r.d., „Gerechtigkeit für somalische Flüchtlinge – Kampagne vom 10.–12. Oktober 2012 in Wien“, http://www.labournetaustria.at/gerechtigkeit-fur-somalische-fluchtlinge-kampagnevom-10-12-oktober-2012-in-wien/ [22. 07. 2016].

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kursen, keine unabhängige und keine kompetente Rechtsberatung sowie ein Mangel an Dolmetscher_innen, sexistische Übergriffe, tägliche Rückschiebungen aufgrund des Dubliner Übereinkommens in ost- und südeuropäischen Länder (einschließlich des gewalttätigen Umgangs und der dort vorherrschenden Lebensbedingungen), überwiegend abgelehnte Asylbescheide, die im krassen Gegensatz zur Anerkennungspraxis und -quoten anderer europäischer Länder standen, Verbot von Erwerbstätigkeit u. v. m. All diese Missstände wurden auf eine lange Liste mit Forderungen zur Verbesserung gesetzt und öffentlich gemacht. Aus diesen wurden zwei fundamentale Forderungen als Hauptforderungen formuliert und vorgestellt, damit sie als Verhandlungsbasis mit der Regierung, dem Bundesministerium für Inneres und zur öffentlichen Diskussion herangezogen werden konnten. Erstens, faire Asylverfahren und das Recht auf Arbeit: „Wir wollen für uns selbst sorgen und nicht vom Staat abhängig sein.“ Zweitens: die Abschaffung von Dublin-III: „Wenn Österreich unsere Fluchtgründe nicht anerkennt, sollen unsere Fingerprints aus der Dublin-III Datenbank gelöscht werden. So können wir in einem anderen EU-Land um Asyl ansuchen, ein Leben aufbauen und werden nicht abgeschoben.“

Abb. 3: Protestcamp aus Zelten vor der Votivkirche.

Denken wir an die Migrationsbewegung, die seit 2015 im Gange ist, d. h. an den „langen Sommer der Migration“4 so ist ersichtlich, dass Dublin-III gekippt ist. Angela Merkel war gezwungen, die Verordnung auszusetzen, die sie zu diesem 4 Bernhard Kasparek / Marc Speer, „On Hope. Ungarn und der lange Sommer der Migration“, 07. 09. 2015, http://bordermonitoring.eu/ungarn/2015/09/of-hope/ [22. 07. 2016].

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Zeitpunkt selbst als ein weder sinnvolles noch funktionierendes System bezeichnete. Zusätzlich wurde das Recht auf Arbeit für Flüchtlinge in der Öffentlichkeit lauter und zunehmend zogen auch immer mehr Befürworter_innen aus der politischen Zivilgesellschaft nach. Der Protest durchlief mehrere Phasen, an verschiedenen Orten und mithilfe unterschiedlicher Strategien. Nach einer Räumung der „Occupiers“ des Protest-Camps im Wiener Votivpark durch die Polizei, gingen die Refugeeaktivist_innen mit der Forderung auf Kirchenasyl in die am Ende des Parks befindliche Votivkirche. Nach mehreren Monaten Verhandlungen und in Folge von zwei Hungerstreiks, laufenden Medienberichten, begleitet von Solidarität und Ressentiments der breiten Bevölkerung übersiedelten die Aktivist_innen schließlich ins Servitenkloster, eines von der Kirche verwaltetes leerstehendes Kloster im 9. Wiener Gemeindebezirk.

Abb. 4 und 5: Protestcamp in der Votivkirche.

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Hungerstreik ist eine sehr häufig gewählte Protestform – gerade von Flüchtlingen und Papierlosen, der Einsatz ihres Körpers als einziger Ressource minimale Rechte in ihrer miserablen Lage zu erkämpfen. Ob in Flüchtlingsheimen, auf öffentlichen Plätzen oder in Abschiebegefängnissen, es wird der eigene Körper und das eigene Leben riskiert, als letztes Mittel, um zu überleben. Die Forderungen der Geflüchteten, die auf Veränderung und Verbesserung ihrer Lage gerichtet waren, wurden von der Regierung und den reaktionären Kräften verweigert. Das selbstreferentielle Argument des Rechtsstaats als primärer Form westlicher Demokratien wurde deterministisch als Absage an politische Rechte „von unten“ eingesetzt. Kämpfe für ein besseres Leben und gleiche Rechte für alle wurden durch den Rechtsstaat für unmöglich erklärt und blockiert. Der Protest im Jahr 2012 politisierte viele gesellschaftliche Akteur_innen in Österreich: von der Zivilbevölkerung, über NGOs, von der Kirche bzw. deren Hilfsorganisation Caritas, über Ministerien, Bildungsinstitutionen bis hin zu politischen Parteien. Einerseits wurden Solidaritätsbekundungen und humanitäre Unterstützung der liberalen Teile der Bevölkerung und Politik sowie von Leuten aus universitären, schulischen, Kunst-, Kultur-, Wissenschafts- und Medienbereich wie autonomen politischen Gruppierungen in unterschiedlicher Form ausgesprochen. Andererseits haben konservative und rechtsradikale Kräfte diesen Protest für nicht legitim erklärt und kein Verständnis für das Demonstrationsrecht von Refugees aufgebracht. Denunzierende Kommentare und „Empörungen“ wie „nicht einmal die Mehrheitsbevölkerung ginge für ihre Anliegen auf die Straße, warum also Asylwerber_innen“ haben einen neuen Tiefstand von Chauvinismus und rassistischen Ressentiments in Teilen der österreichischen Gesellschaft markiert. Die Geschichte des Kampfes von Geflüchteten in Österreich, die als selbstbestimmte und politische Subjekte für sich selbst sprechen und sich selbst repräsentieren, ist eine lange. Der Refugee Protest Vienna 2012–13 hat schließlich Geflüchtete als eigenständige politische Subjekte im Diskurs etabliert und ein radikal-politisches Denken der Mehrheitsgesellschaft gefordert.

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Abb. 6: Collage aus Artikel österreichischer Tageszeitungen.

Abb. 7: Collage aus Artikel österreichischer Tageszeitungen zum Zeitpunkt der Unterkunft im Kloster.

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Bildproduktion Nun zur Frage, welche Bilder dabei produziert wurden – von wem und auf welche Weise? Vor allem stellt sich die Frage, welche Bilder dieser Bewegung sind emanzipatorische und selbstrepräsentativ? Aufgrund der enormen Bilderflut, die während der Proteste entstanden ist, stellt sich außerdem die Frage, welche davon überhaupt selbstbestimmt und emanzipatorisch sein können. Lässt sich hier eine Politik des Sehens beobachten? Dabei ist Sehen als Begriff für einen Komplex zu verstehen, in dem sich Praktiken und Gegenstände des Visuellen formieren, wobei diese Praktiken und Gegenstände andere menschliche Sinne als jene des Auges umfassen können. Und Politik ist als jener Bereich zu verstehen, in dem die Verteilung von Macht und den Zugängen zur Sichtbarkeit im Gemeinwesen stattfindet. Tom Holert stellt in seinem Text „Politik des Sehens“ folgende Frage: „Politik des Sehens zielt damit auf die Veränderung und Redefinition dessen, was gesehen und gesagt werden kann, wobei die ästhetischen Formen, mit denen diese Veränderung angestrebt wird, von Fall zu Fall neu zur Disposition stehen und ihre Beziehungen zur Kunst aushandeln müssen.“5 In diesem Sinne ist es spannend, die Pressekonferenzen der Refugeebewegung zu analysieren.

Abb. 8: Pressekonferenz in der Votivkirche.

Pressekonferenzen sind genau die Momente, in denen die jeweils öffentliche Sichtbarkeit/Unsichtbarkeit, Selbst- bzw. Fremdbestimmung reproduziert oder – wie im Fall der Pressekonferenzen der Refugee-Proteste – durchbrochen wird. 5 Tom Holert, „Politik des Sehens“, in: Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst 37/2015, S. 8f., hier S. 8.

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Seien es die politischen Inhalte, Kräfteverhältnisse, Artikulations- und Repräsentationsformen, sie werden innerhalb einer Pressekonferenz performativ verhandelt und auch vermittelt. Bilder von selbstorganisierten politischen Migrant_innen, die für sich selbst sprechen (können), die kollektiv ihre Forderungen an Medien sowie an die Öffentlichkeit richten, erreichen die Gesellschaft und zeichnen damit einen Bruch in der gewohnten Wahrnehmung der Österreicher_innen (und der traditionellen Medien). Es sprechen und artikulieren nicht wie üblich „professionelle“ österreichische Aktivist_innen mit Deutsch als Erstsprache. Denn üblicherweise setzen die meisten der Mainstream-Medien wiederum genau diese ins Bild – wohl des „besseren Verständnisses“ wegen. Die Pressekonferenzen der Refugeeaktivist_innen waren hingegen selbstbestimmt und radikal anders. Die Gestaltung der und das Auftreten in der Pressekonferenz stehen im Bruch zu jeglichen Logiken hegemonialer österreichischer Repräsentationspolitik und (medialer) Verhältnisse. Die Refugeeaktivist_innen treten als Kollektiv von Vielen auf, sie sprechen als solches auf der Bühne. Gesprochen wird in verschiedenen Sprachen: Englisch, Deutsch, Urdu, Farsi und weiteren. Die Zeitspanne, die die Artikulation der Forderungen braucht, wird so lange in Anspruch genommen, wie sie es für nötig halten ohne auf „Zeitregeln“ der Mainstream-Medien zu achten. Die Forderungen selbst werden auf unterschiedlichste visuelle Weise vorgetragen: mittels Banner, Plakate, Flugzetteln und vor allem durch die eigenen Körper. Es sprechen unterschiedlichste Frauen und Männer als Vertreter_innen unterschiedlichster Migrant_innengruppen, die am Protest beteiligt sind, und mit unterschiedlichem Status: sei es als „noncitizen“ oder als „citizen“.6 Die Form der Repräsentationspolitiken während der Pressekonferenzen waren selbstbestimmt und gleichzeitig selbststärkend. Auch re-organisieren sie das Feld der Sichtbarkeit oft auf buchstäbliche Weise. Politische Anliegen visuell zu markieren wurde eine Methode und Technik, die sich alle Facetten des Kampfes um Sichtbarkeit und Sagbarkeit zu Eigen macht. Die Politik des Sehens ist dabei eine Politik, die das Recht zu sehen einfordert: „Politische Anliegen visuell zu markieren wurde dabei zu einer Methode und Technologie, die sich alle Seiten des Kampfes um Sichtbarkeit und Sagbarkeit zu eigen machten. Die Politik des Sehens ist dabei nicht zuletzt eine Politik, die das Recht zu Sehen einfordert, indem sie das Feld der Sichtbarkeit reorganisiert, oft auf sehr buchstäbliche Weise.“7 Bis heute entstehen, d. h. gehen zahlreiche Texte, Filme, Publikationen, Songs, Posteraktionen, Theaterstücke u. a. von Refugeeaktivist_innen in Zu6 Diese Bezeichnung wurde im Refugee-Struggle Congress, März 2013, in München ausverhandelt, gerade um derartige Ausschlüsse benennen zu können. 7 Holert, „Politik des Sehens“, S. 9.

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Abb. 9: Bild-Collage von Pressekonferenzen in der Votivkirche.

Abb. 10: Bild-Collage von Pressekonferenzen im Kloster.

sammenarbeit mit Unterstützer_innen daraus hervor. Sie sind einerseits als Dokumente zu sehen und stärken andererseits die Bedeutung der „Refugee Protest Bewegung Wien“. Viele dieser Projekte versuchen, sich innerhalb des Komplexes von Ästhetik und Recht zu bewegen. Die Politik des Sehens bringt allerdings nicht automatisch Kunst hervor. Dennoch ist die Produktion ästhetischer Strategien eine der bedeutendsten im Rahmen aktueller politischer Kämpfe und Interventionen. Es sind Allianzen zwischen migrantischen und promigrantischen Gruppen zu beobachten. Dabei ist die aktuelle Refugeebewegung von 2015 als eine dieser Allianzen zwischen migrantischen und pro-migranti-

Überlegungen zur Politik des Sehens

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schen Gruppen nicht ohne Vorarbeit der Protestbewegungen der letzten 20 Jahre in Europa zu denken. Die massive Flüchtlingsbewegung des Sommers 2015 bis heute stellt die wiederkehrende Frage auf das Recht auf Rechte. Kurz: das Recht auf menschenwürdiges Leben. Durch die Märsche gegen die Grenzen Europas wurden dessen Grenzen (wenn auch nur für kurze Zeit) gekippt. Proteste und Hungerstreiks nehmen wieder zu. Die Forderungen nach Anerkennung von Asyl, das Recht auf Schutz und darauf, ein würdiges Leben aufbauen zu können, sind aktueller denn je. Gleichzeitig wird die Mobilisierung von rassistischem Denken und von Gewalt seitens rechtskonservativer Regierungen in Europa weiter vorangetrieben, was eine permanente Lebensbedrohung gegenüber rassifizierten Subjekten und Antirassist_innen darstellt. In Österreich, Deutschland, in Ungarn usw. werden neuerlich Verschärfungen im Asylbereich vorgenommen. Menschen werden in die Obdachlosigkeit geschickt, ohne jegliche ihnen zustehende soziale und rechtliche Unterstützung. Solidaritätsbewegungen wie „Refugees Welcome“, „Moving Europe“, „W2Europe“, „Watch the Med“, „Alarmphone“ und viele andere basieren alleine auf zivilgesellschaftlichem Engagement. Hier wird auf Humanität und auf das Recht für alle gebaut, dort leben zu dürfen, wo sie sich niederzulassen wünschen. Bis heute muss darum gekämpft werden, denn es gibt kein gutes Leben für Europäer_innen, während an der Grenze Europas täglich Menschen sterben.

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„Ich sehe die Welt vielleicht ein wenig anders.“ Ein Interview mit Ibrahim Amir am 15. 04. 2016 von Josepha Andras und Marius Schiener

Schön, dass Sie sich für dieses Interview Zeit genommen haben. Wir freuen uns sehr, dass Sie auf diese Art in der Publikation vertreten sein werden. Sie wohnen mittlerweile schon mehr als 14 Jahre in Wien, haben hier Ihr medizinisches Studium absolviert und üben diesen Beruf auch aus. Was ist Ihnen in letzter Zeit zum Thema Migration aufgefallen? Wie stehen Sie zu dem Begriff Integration oder wie sehen Sie ihn? Es hat sich einiges verändert. Vor 14 Jahren war der Kontakt zu den „Österreicher_innen“ schwieriger als heute, so kommt es mir zumindest vor. Jetzt sind es die Menschen mehr gewöhnt, „Fremde“ auf den Straßen zu sehen und das ist auch gut so. Denn wie man merkt, ist die Xenophobie da am stärksten, wo es eintönig und kaum durchgemischt ist. Am Land deutlich mehr als in den Hauptstädten. Inwiefern hat sich das Thema der Schutzsuchenden bei Ihnen geäußert und erkennbar gemacht? Es hat sich meiner Meinung nach auf der europäischen und internationalen Ebene sehr viel verändert, logischerweise auch in Österreich. Die Kriege, die sich in den letzten Jahren an den Grenzen von Europa abgespielt haben, haben jetzt viel mehr Einfluss auf unsere Lebensweise. Diese Probleme kann man nicht einfach abschalten. Syrien ist nicht so weit weg, wie man denkt. Mit dem Flugzeug nur drei Stunden. In Griechenland oder Italien war dieses Thema schon viel früher und stärker präsent als in Österreich. Davon hat man nicht viel mitbekommen. Erst in dem Moment als ein Lastwagen mit Toten auf der Autobahn gefunden wurde, hat es uns aufgeweckt. Es spielt sich nicht mehr auf der Insel Lesbos ab. Es ist hier. Dieses Thema ist mehr ins Zentrum der Medien gerückt und hat für eine Zeit lang Panik ausgelöst. Dann haben sich die Menschen in einer Art Welle solidarisiert und kurz danach war es wieder vorbei. Ich würde es jetzt nicht nur auf eine „Mode“ reduzieren, es war eine Bewegung. Die

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„Ich sehe die Welt vielleicht ein wenig anders.“

meisten Politiker_innen haben sich dann am Thema bedient und es für ihre eigenen Interessen genutzt. Aus dieser Solidarität gegenüber den Geflüchteten ist dann klarerweise auch „Publicity“ entstanden. In den Medien werden des Öfteren zwei Seiten erwähnt: „Grenzen öffnen“ oder „Grenzen ziehen“. Was ist nun eine Grenze für Sie? Wollen Sie in Ihren Stücken auch Grenzen öffnen oder gar welche schließen? Ich sehe die Welt vielleicht ein wenig anders. Die Erfahrung mit den Grenzen machte ich früh genug. Sie waren da, wo ich meine Sprache nicht sprechen durfte, in Syrien. Das war für mich eine Grenze, wie jede andere Grenze, die einem unfreiwillig zugefügt wird. Man wird zu etwas gezwungen. Als Kurde habe ich mit Bitterkeit diese Grenze gespürt. Zu Hause, auf der Straße und in der Schule. Daher bin ich absolut gegen Grenzen, sowohl auf der Landkarte, als auch in den Köpfen der Menschen, weil man sie uns aufgezwungen hat. Das bringt mich zu meiner Heimatlosigkeit. Dieser Begriff wird oft durch Grenzen missbraucht: Meine Heimat, deine Heimat. Es existiert offensichtlich auch in Europa, wo man jahrelang davon ausgegangen ist, dass die EU endlich ein Projekt wäre, das Ausgrenzungen, wie den Nationalismus zum Beispiel, abgeschafft hat. Hat sie aber nicht. Es war nur ein wirtschaftliches Interesse, um für kurze Zeit die Grenzen zu verdrängen und sobald eine Krise kommt, können sie sogleich wieder hochgezogen werden. Im Übrigen kann man das auch auf die Geschlechter und die Sexualität beziehen, „die Grenzen“ meine ich. Ab der sechsten Klasse durften wir nicht mehr mit Mädchen in einer Klasse sein. Da war also auch eine Grenze gegeben. Grenzen wurden auf der nationalen Ebene, auf der Geschlechterebene und auf der sozialen Ebene hochgezogen. Sie existieren immer. Es muss ja nicht sein, dass du einen Stacheldraht vor dir hast. Das ist einfach eine Art Metapher, ein Bild, was dir von klein auf eingepflanzt wird. In Wahrheit wird es uns tagtäglich von den Medien, von verschiedenen Systemen, eingeredet, egal ob im Okzident oder im Orient, dass Grenzen gegeben sind. Man versucht also unermüdlich Grenzen zu schaffen, um damit Geschäfte zu machen, daraus Profite zu erzielen und somit die einzig wahre Grenze zu verdecken: die Grenze zwischen „reich und arm“. Ihre Stücke, wie beispielsweise Habe die Ehre, thematisieren den Umgang und das Aufeinandertreffen verschiedener Kulturen. Ein_e jede_r würde demnach annehmen, dass es sich dabei um eine ernste Angelegenheit handeln könnte, jedoch überraschen Sie die Zuschauer_innen mit humoristischen Mitteln. Was ist Humor für Sie? Warum setzen Sie ihn ein?

Ein Interview mit Ibrahim Amir am 15. 04. 2016

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Also zu Habe die Ehre: Hans Escher, der mich entdeckt und begleitet hat, hat einen meiner ersten Texte gelesen und hat mich gefragt, ob ich Theaterstücke schreiben will. Ich habe gesagt: „Ja, ich habe das zwar noch nie gemacht, aber probieren wir es“. Er meinte: „Fangen wir an“, und ich hatte die Idee mit dem Ehrenmord. Es war nicht meine Absicht, eine Komödie zu schreiben und ich sehe mich eigentlich eher als einen sehr ernsten Menschen, der eher zum Drama tendiert. Während des Schreibprozesses entstand jedoch eine Komödie. Damit habe ich nicht gerechnet. Es entstanden so viele witzige, absurde Momente. Zuerst war ich total skeptisch, doch habe ich ihm dann die 30 geschriebenen Seiten gezeigt. Er hat sie gelesen und meinte, ich solle unbedingt weitermachen, da ich ein so derart ernstes Thema, so witzig aufbereitet hätte. Das tat ich dann auch. Es hat mir einen riesigen Spaß gemacht. Seitdem denke ich, dass es sehr schwierig ist, Komödien zu schreiben und vor allem auch das Niveau zu halten. Nicht, dass Tragödien leichter wären, aber mit Komödien, finde ich, kann man ernstere Themen besser hinnehmen, wenn man das Niveau hochhalten kann. Darin liegt nämlich die Herausforderung. Oft ist es so, dass sich der Mensch zuerst schämt über solche ernsten Themen zu lachen, aber dann ist es derart witzig und absurd, dass sie das Lachen nicht mehr unterdrücken können. Eben das finde ich genial, weil es dann besser bei den Leuten hängen bleibt, als wenn schon wieder jemand kommt, der auf die Tränendrüse drückt. Wie sind Sie dazu gekommen humorvoll zu schreiben? Haben Sie, als Sie nach Wien gekommen sind, gleich sehr viel Erfahrung mit Humor gemacht? Es hat mehr oder weniger einen syrischen Hintergrund. Man kann in Syrien drei Arten von Theater unterscheiden. Die erste ist ein billiger Boulevard, dann gibt es sozialkritischen Boulevard, welcher aber einfach gehalten ist, das heißt du darfst nichts gegen den Präsidenten sagen, darfst aber arm und reich sehr wohl kritisieren. Diese Art des Boulevards hat mich sehr interessiert. Dann gibt es noch die dritte Variation, die sehr überheblich ist, aber, wie ich finde, eher die Minderheit vertritt. Hierbei sind alle mit sich selbst beschäftigt und machen in ihren Augen hochliterarisches, intellektuelles Theater. Ich mag solche Stücke, sehe sie mir auch an, aber es ist jetzt nicht meine Art, Menschen so darzustellen, vor allem nicht bei aktuellen Themen. Der „einfache“ Mensch ist immer der Mittelpunkt meiner Stücke. Der einfache „Hin-und-Her-Dialog“ ist mein Instrument. Also ist ein sozialkritischer Boulevard ein hervorragendes Mittel, um den „jetzigen“ Menschen mit diesen Themen zu beschäftigen und, ja, auch zu unterhalten. Vielen Menschen erscheint der Islam als „wenig humorvoll“. Warum meinen Sie, wird uns dieses Bild vermittelt?

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„Ich sehe die Welt vielleicht ein wenig anders.“

Der Islam ist eine Religion, wie jede andere Religion. Ich kann nicht sagen, dass der Islam gut oder schlecht ist. Es handelt sich einfach um eine Religion, die gut oder schlecht sein kann. Es kommt darauf an, wie man sie verwendet. Ich finde ein jeder, eine jede muss auch wissen, wenn er oder sie den Islam kritisieren will, darf man, meiner Meinung nach, bestimmte Elemente nicht verwenden. Wenn man zum Beispiel eine Mohammed Karikatur zeichnen will, sollte man ihn nicht wie einen pakistanischen Gastarbeiter aussehen lassen, wie im Fall von dem dänischem Karikaturisten Kurt Westergaard, denn das ist schlicht und einfach Rassismus und hat nichts mit einer Kritik am Islam zu tun. Das Beispiel gilt übrigens auch für die Kritik an Recep Tayyip Erdogan. Er kann und muss ruhig kritisiert werden, aber nicht mit irgendwelchen sexistischen und rassistischen Begriffen. Ihn zu entblößen und in einem Gedicht zu sagen: „Tayyip du bist schwul“?! Wieso? Ist „schwul“ ein Schimpfwort? Oder der Ausdruck „Ziegenficker“. Was soll das heißen? Es ist ein Bild von europäischen Kolumnist_innen gegenüber muslimischen Männern. Von muslimischen Männern, die Anfang des 20. Jahrhunderts als Gastarbeiter gekommen sind. Für mich ist das rassistisch und wenn jemand als schwul beschimpft wird, ist das sexistisch. Es ist genauso mit dem Islam. Man sollte wirklich vorsichtig sein. Wie ich schon vorhin erwähnt habe, wenn man beispielsweise eine Mohammed Karikatur zeichnet, kann und darf das niemand verbieten, aber man sollte es nicht in der Form eines pakistanischen Gastarbeiters vollziehen. Sie haben den Nestroy-Preis für die Produktion Habe die Ehre erhalten. Wie verhält sich Ihr Theater zu dem Autor Johann Nestroy? Inwieweit fühlen Sie sich mit Nestroy verbunden? Er wurde mir erst hier in Wien bekannt. Ich habe einige seiner Stück gelesen. Ich finde seine Behandlung von der Realität mit einfachen und zum Teil sentimentalen Figuren sehr bemerkenswert. Vielleicht ist Wien deswegen die richtige Adresse meiner Stücke. Die einfache Darstellung der Realität mit Humor und Romantik, so brutal sie sein mag. Das hat meiner Meinung nach Nestroy in seinen Stücken getan. Ihr letztes Stück Homohalal hätte im April diesen Jahres am Wiener Volkstheater Premiere feiern sollen. Das Ensemble sei zuerst auf die Intendantin Anna Badora zugekommen und hätte Veränderungen im Text, der 2013 entstanden ist, angeregt. Letzten Endes wurde die Produktion abgesagt, „die Zeitwalze habe das Stück überrollt“, so Badora. Sie wurde dafür medial beklatscht und auch kritisiert. Wie stehen sie zur Absage?

Ein Interview mit Ibrahim Amir am 15. 04. 2016

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Es gab verschiedene Meinungen aus dem Ensemble. Es hieß, dass dieses Stück politisch nicht korrekt sei und den Geflüchteten und mir selbst Schaden zufügen könnte. Ich selbst habe nicht mit den Schauspieler_innen gesprochen, so wurde es mir nur mitgeteilt. Nun wurde es abgesetzt und ob die Schauspieler_innen dahintersteckten oder nicht, es steht hier fest, dass die Meinung vertreten wurde, dass es politisch nicht korrekt wäre, es jetzt zu zeigen. Das Stück handelt von der Zukunft, wurde von Geflüchteten zusammengestellt und von einem Syrer verfasst, von mir. Es ist unser Werk. Es hat kein Mensch aus Österreich gemacht, sondern Menschen aus Syrien, Pakistan, Algerien und Afghanistan. Wenn ich mich nicht täusche, ist dieses Stück im Rahmen eines Workshops mit Geflüchteten entstanden? Ja, wir haben eine Förderung bekommen, damit die „Refugees“ an etwas arbeiten können. Später habe ich gehört, dass der Text inadäquat wäre und ein schlechtes Bild auf die Geflüchteten werfen würde, da die genannte Zukunft in dem Stück düster angelegt ist. Ich respektiere andere Meinungen. Was mich nur wirklich gestört hat, ist die Arroganz, dass man uns sagt, „uns“ in dem Sinne Migrant_innen: „Nein, das dürft ihr jetzt nicht sagen, sonst schadet es euch“. Sich dieses Recht zu nehmen, uns zu zeigen, was selbstkritisch ist, was nicht und was uns schadet und was nicht … Ich wollte niemanden frontal angreifen, das ist mir zu billig. Dafür habe ich zu gute Freundschaften geknüpft. Die Medien haben es wiederum auch geschrieben, als würde es mir nichts ausmachen, wenn mein Stück nicht aufgeführt wird. Ich habe die Bedenken verstanden, jedoch die politische Korrektheit wollte ich nicht anerkennen. Sie haben sich also bevormundet gefühlt? Ja, nicht nur mich, sondern uns alle. Es war wiedermal ein bisschen kolonial, dass man Menschen aus der „Dritten Welt“ etwas „beibringen“ soll. Dieses Vorgehen ging überraschenderweise von linksdenkenden Menschen aus. Wir wollten auch den 2013 entstandenen Text an die derzeitige Situation anpassen, weil sich in den letzten Jahren schon vieles verändert hat. Es ist vor allem nach der Besetzung der Votivkirche einiges passiert. Ich will hier niemanden angreifen, nur ist die Idee, die hinter allem steht, sehr westlich, in dem Sinne, dass die Leute sagen: „Das darfst du nicht. Das kannst du nicht“. Es ist eigentlich ein extremer Fall, dass wir unser Projekt, unsere in diesem Workshop entstandene Arbeit, nicht verwirklichen können.

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„Ich sehe die Welt vielleicht ein wenig anders.“

Wie schon erwähnt, leben Sie seit längerer Zeit in Wien. Es würde uns noch interessieren, wie Sie sich selbst in Ihrem Beruf, Ihren Tätigkeiten in der Hauptstadt sehen? Wie haben Sie sich zu Beginn hier gefühlt? Ich hatte schon meine Probleme. Die Leute hier kommen nicht auf einen zu, sind verschlossen. Erst mit der Universität gelang es mir die ersten Freundschaften zu knüpfen. Es war ein Prozess, der klarerweise auch dauerte. Mittlerweile fühle ich mich mehr als ein Wiener. Ich bin seit 14 Jahren hier, kenne mich gut aus und empfinde die Sprache als sehr wichtig, um mich ausdrücken und Dinge vermitteln zu können. Danke für das Gespräch.

Moritz Hartmann

Von Verbindungen und Übergängen. Transkulturalität auf der Bühne

Wenn im Zuge der politischen und gesellschaftlichen Debatte über die Aufnahme und Integration von Flüchtlingen über das integrierende Potenzial von Theater gesprochen und debattiert wird, so geht es meist um postdramatische und performative Theaterformen, um Inszenierungen, die den traditionellen Theatersaal verlassen und anderswo aufgeführt werden: im öffentlichen Raum, als Bürger_innentheater in improvisierten Hallen und Sälen, in Hörsälen von Universitäten. Aber auch traditionellere Formen von Theater, die in den großen Institutionen zur Aufführung kommen, lassen Grenzen verschwimmen und schaffen Übergänge. Sie reflektieren somit eine gesellschaftliche Realität und stellen den transkulturellen Charakter west- und zentraleuropäischer Gesellschaften aus. Im öffentlichen Diskurs über die sogenannte Flüchtlingskrise ist die Frage der Grenze wieder in den Vordergrund gerückt. Während der Schengen-Vertrag nach und nach die Grenzen in Europa in ihrer materiellen Form hat verschwinden lassen, ist die Errichtung von Zäunen und Grenzanlagen seit einigen Monaten wieder zu einer Form politischer Machtausübung geworden. Eine Ausgrenzung von Menschen auf der Flucht verschließt jedoch die Augen vor einer gesellschaftlichen Realität. Der Glaube, dass Kulturen voneinander unabhängige Entitäten sind, die sich von anderen abschotten, ist in Zeiten, in denen Menschen, Waren und Informationen permanent um den Erdball zirkulieren obsolet geworden. Menschen in unseren heutigen Gesellschaften sind transkulturell geworden, jeder und jede begegnet im Alltag permanent Menschen mit anderen kulturellen Hintergründen. Der Philosoph Wolfgang Welsch schreibt: „Die Alternativen zum Standard von einst liegen heute nicht mehr außer Reichweite, sondern sind Bestandteil des Alltags geworden. Heutige Menschen werden zunehmend in sich transkulturell“.1 1 Wolfgang Welsch, „Was ist eigentlich Transkulturalität?“, in: Dorothee Kimmich / Schamma Schahat (Hg.): Kulturen in Bewegung. Beiträge zur Theorie und Praxis der Transkulturalität, Bielefeld 2012, S. 25–40, hier S. 30.

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Moritz Hartmann

Kulturen sind, mit dem Konzept der Transkulturalität von Welsch gesprochen, als Geflechte zu verstehen. Das Sichtbarmachen dieses Geflechts oder der Übergänge zwischen verschiedenen Einzelkulturen innerhalb einer Kultur ist Aufgabe der Kunst, und im Besonderen des Theaters. Vor allem das Theater, so glaube ich, ist in besonderer Weise geeignet, das Konzept der Transkulturalität darzustellen, zu reflektieren und zu fördern. Vor allem in der Schauspielerei, aber auch in anderen Aspekten des Theaters wird eine Analogie zum Konzept der Transkulturalität offenbar. Ich orientiere mich dabei an dem Modell der Transkulturalität von Wolfgang Welsch. Das Konzept Transkulturalität begreift – anders als dies im Modell der Interbzw. Multikulturalität der Fall ist, Kulturen nicht als Kugeln. Kultur als Kugel konstituiere sich durch ein „internes Homogenitätsgebot und ein externes Abgrenzungsgebot“.2 Dabei befördert das Modell der Multikulturalität die Entstehung von Ghettos, während die Interkulturalität zwar den Dialog zwischen verschiedenen Kulturen fördert, dieser aber aufgrund der Annahme von grundsätzlich verschiedenen Kulturen von Beginn an zum Scheitern verurteilt ist.3 Statt Kulturen als Kugeln zu verstehen, geht Welsch bei der Transkulturalität von Verflechtungen und Verbindungen einer Vielzahl von Einzelkulturen aus. Diese Verflechtungen lassen sich, so betont er, nicht nur in der Konsumkultur wiederfinden, sondern in allen Bereichen der Hoch- und Popkultur, der Wissenschaft, in Alltagsroutinen.4 Strukturell lässt sich dieses Konzept auch auf der Theaterbühne wiederfinden, und dies schon seit mehreren Jahrhunderten. Theater ist an sich eine Kunstform, die die Verflechtung von verschiedenen Einzelkulturen, von verschiedenen Identitäten in den Körpern von Darsteller_innen ausstellt, sodass das Konzept der Transkulturalität sichtbar wird. Schaupielerei ist eine Form von Körper-Inszenierung. In den Körpern der Schauspieler_innen auf der Theaterbühne manifestiert sich immer eine Spannung zwischen der Person des/der Schauspielers/Schauspielerin und der dargestellten Rolle. Helmuth Plessner schreibt um 1950, dass „[d]ie Verwandlung [von Schauspieler_in zur Figur] […] durch die Persönlichkeit getragen [bleibt]“.5 Schauspiel ist, so schreibt Plessner einige Seiten später, „die Verkörperung einer Figur mit dem eigenen Leibe“.6 Schauspielerei entsteht also im Spannungsfeld von mindestens zwei Identitäten. Die Identität der Schauspieler_innen kann dabei nicht klar von der Figur getrennt werden. Schauspieler_in 2 3 4 5

Ebd., S. 27. Vgl. ebd., S. 32f. Vgl. ebd., S. 28ff. Helmuth Plessner, „Zur Anthropologie des Schauspielers“, in: Günter Dux / Odo Marquard / Elisabeth Ströker (Hg.), Helmuth Plessner. Gesammelte Schriften VII, Frankfurt/Main 2003, S. 399–418, hier S. 405. 6 Ebd., S. 407.

Von Verbindungen und Übergängen. Transkulturalität auf der Bühne

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und Figur befinden sich also im Spiel auf der Bühne in einem Geflecht von Bezügen und Interdependenzen, von Verbindungen und Verflechtungen. Besonders postmoderne Formen von Theater und Performance stellen noch weitere Grenzen und Grenzüberschreitungen dar: zum einen die bereits angesprochene Grenze zwischen Figur und Darsteller_in, die schon von vornherein keine unüberwindbare ist, sondern immer schon Bezüge zwischen Figur und Darsteller_in schafft. Besonders das zeitgenössische Theater inszeniert dabei Situationen, in denen die Figuren aus der Rolle fallen und somit Übergänge von Figur zu Darsteller_in und umgekehrt sichtbar werden. Des Weiteren inszenieren zeitgenössische Inszenierungen die Grenze zwischen Bühne und Zuschauer_innenraum, in dem die vierte Wand durchbrochen wird und Schauspieler_innen sowohl im Zuschauer_innenraum agieren als auch Zuschauer_innen eingeladen werden, eine aktive Rolle im Bühnengeschehen einzunehmen. Außerdem werden im zeitgenössischen Theater die Grenzen zwischen verschiedenen Kunstformen zum Oszillieren gebracht, Theater ist heute mehr und mehr als ein transmediales Spektakel zu verstehen, in das Elemente aus der Bildenden Kunst, der Videokunst und/oder der Musik Einzug halten. Das Modell in sich ruhender Kugeln, die einander abstoßen, kann hier nicht mehr herangezogen werden. Vielmehr ist von einem Geflecht auszugehen, wie auch Wolfgang Welsch es vorschlägt. Doch das Theater muss sich auch auf einer vordergründigen Ebene mit dem transkulturellen Charakter von Gesellschaften auseinandersetzen und ihn sichtbar machen. Die Diversität verschiedener Menschen, mit verschiedenen kulturellen Hintergründen und Herkünften, die kulturellen Geflechte, die ihre Biografien und ihre Identitäten bestimmen, kommen auf der Theaterbühne zur Zeit meist noch zu kurz.7 Die Mehrheit der Ensemblemitglieder der Stadt- und Staatstheater in Deutschland und Österreich weisen meist einen ausschließlich christlich-europäischen Hintergrund auf, Schauspieler_innen mit anderen Hintergründen und kulturellen Kontexten sind meist nicht Teil von Schauspieler_innenensembles. Genau jene Menschen sind es jedoch, die oft nur für stereotype Rollen besetzt werden, wie die Kopftuch tragende Muslima oder den Dönerbudenbesitzer. Theaterhäuser könnten jedoch genau hier ein Zeichen für mehr Integration setzen und traditionelle Rollenkanons mit diversen Schauspieler_innen besetzen und auch hier die Geflecht-Struktur von Kultur und Identität sichtbar machen. Die diverse Struktur von Bevölkerung würde nicht mehr als Irritation oder Gefahr empfunden werden, sondern als Teil einer Kultur, nämlich hier theatraler Kultur. Nicht rassifizierende „Merkmale“ wie Haut- oder Haarfarbe etc. bestimmen die Rollenbesetzung, sondern die schauspielerische 7 Als Ausnahmen fungieren hier im deutschsprachigen Raum u. a. die Berliner Häuser Ballhaus Naunynstraße und das Maxim Gorki Theater, die beide der Diversität einer zeitgenössischen Stadtgesellschaft eine Bühne bieten.

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Moritz Hartmann

Leistung oder besondere Verkörperung einer Rolle der_des Schauspielers_Schauspielerin. Stereotypen werden so gar nicht erst perpetuiert: „Besonders wirksam lassen sich Stereotype verkaufen, wenn derjenige, der sie entworfen hat, selber Migrationshintergrund hat. Dann scheint auch der letzte Zweifel aus dem Weg geräumt zu sein, dass es sich bei den Darstellungen um nichts als die Wahrheit handeln muss“.8 Transkulturalität sollte von der Gesellschaft reflektiert werden und das Theater ist besonders dazu geeignet, dies zu tun. Theater macht immer schon Übergänge sichtbar und überschreitet Grenzen. Auch in Bezug auf eine immer diverser werdende Bevölkerungsstruktur kann das Theater noch Potenziale ausschöpfen, Sichtbarkeiten zu schaffen und Minorisierten eine Plattform zu bieten. Kunst, und besonders das Theater, sollte sich hier mehr seiner politischen Rolle in der Gesellschaft bewusst werden.

8 Azar Mortazavi, „Über das Bekenntnis zur Uneindeutigkeit. Die Konstruktion des ,Anderen‘ und was die Theaterkunst dem entgegensetzen kann“, in: Wolfgang Schneider (Hg.), Theater und Migration. Herausforderungen für Kulturpolitik und Theaterpraxis, Bielefeld 2011, S. 73–76, hier S. 74.

Anke Charton

Wie queer ist „queer“? Zur (Un)Markiertheit europäischer Identitätsentwürfe im Migrationskontext

Im Juni 2016, während dieser Aufsatz entsteht, lassen sich ohne Schwierigkeiten tagesaktuelle Meldungen über Flüchtende aus dem LGBTQ*-Spektrum finden, deren zugeschriebene Identitäten jenseits nationaler Zuordnungen zum Politikum werden. „Greece to return gay Syrian refugee to Turkey in migrant deal“, lautet etwa eine Schlagzeile der Times of Israel am 03. Juni 2016.1 Der Artikel geht, wie mehrere in diesen Tagen, der Frage nach, wie sicher jemand, der sich als „gay“ beschreibt, in der Türkei oder in Syrien sein kann, und inwiefern dies einen Asylantrag begründen kann. Die meist hochnotpeinliche Verknüpfung mit Fragen nach Nachweisen, gebotener Diskretion und Faktizität zeigen dabei bereits deutlich, wie sehr LGBTQ*-Zuschreibungen als offene Befindlichkeiten diskutiert werden. Vor dem Hintergrund des gegenwärtigen Migrationsdiskurses wird dabei aber auch weitergehend erkennbar, wie sehr die Begriffsunschärfe und ihre politische Rahmung zwischen Syrien und der Türkei, aber auch zwischen der Türkei und Griechenland, und wiederum zwischen Griechenland und nordwesteuropäischen Ländern schwanken. Im August 2015, auf dem Höhepunkt der europagerichteten Migrationsbewegung über die damals noch offene „Balkanroute“, publizierte Wording Translations2 ein Interview mit der griechischen Archäologin Vicky Bathrelou zu ihren Forschungen zum Umgang mit LGBTQ*-Flüchtenden in Griechenland.3 Die Situation von LGBTQ* sei allein aufgrund der Wirtschaftskrise bereits derart prekär, dass es kaum einen Fokus auf die spezifische Situation von LGBTQ*Flüchtenden gebe.4 Das Interview entwirft auch über identitätspolitische Fragen 1 AFP, „Greece to return gay Syrian refugee to Turkey in migrant deal“, http://www.timesofisrael. com/greece-to-return-gay-syrian-refugee-to-turkey-under-migrant-deal/ [09. 06. 2016]. 2 Der Blogbereich des Übersetzungsbüros Worded Translations, http://wordedtranslations. com/wordingtranslations/ [09. 06. 2016]. 3 Marcel Obst, „,Kaliarda‘ and Greek’s Queer Scene in Times of Crisis“, http://wordedtransla tions.com/wordingtranslations/vickybathrelou [09. 06. 2015]. 4 Vgl. ebd.: „The main idea is to explore what happens when an LGBTQ+ refugee claims asylum in Greece. I wanted to focus on the refugees themselves, but I don’t think that’s possible, so I

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Anke Charton

in verschiedenen kulturellen Kontexten hinaus – wer bezeichnet sich als LGBTQ*, und was bedeuten diese Zuschreibungen innerhalb verschiedener Systeme und für die markierten Individuen? – und anhand des Migrationsdiskurses einen interessanten Fokus auf innereuropäische Differenzen. Die vermeintlich klare Abgrenzung von „europäisch“ und „außereuropäisch“ verschwimmt angesichts der Erfahrungsberichte Bathrelous, die für Griechenland nicht nur fortgesetzte Diskriminierung seitens einer konservativ-orthodox geprägten Öffentlichkeit vor allem jenseits der Metropolen, sondern auch divergierende Begrifflichkeiten innerhalb der LGBTQ*-Szene anspricht. Ein derzeit im westlichen Kontext gängiger Terminus wie „queer“ findet beispielsweise kaum Verwendung.5 Griechenland, erst seit Ende 2015 mit einem Lebenspartnerschaftsgesetz ausgestattet, ist einerseits durch seine geographische Lage, andererseits aber auch durch seine gegenwärtige soziale und ökonomische Situation ein Brennglas, in dem westliche Hegemonialmuster im Benennen vermeintlich neutraler Identitäts- und Sexualpolitiken besonders sichtbar werden. Dadurch verdeutlicht sich, wie sehr Identitätsentwürfe von Flüchtenden, die aus europäischer Sicht in das LGBTQ*-Spektrum fallen, aus dieser Perspektive eben nicht erschöpfende Zuschreibungen sein müssen. Gerade im Umgang mit Trans*-Identitäten, der sich gegenwärtig im angloamerikanisch dominierten Forschungskontext als neue Kernfrage des QueerDiskurses herausstellt, lassen sich aus postkolonialer Perspektive Subjekträume jenseits einer westlich-hegemonial kodierten Binarität ausmachen. Das große Spektrum von Trans-Identitäten des Weiblichen, die in vielen Kulturen im asiatischen Raum in Bezug auf eine teilweise nicht gegebene Relevanz von biologistischer Geschlechtsangleichung die Enge des euroamerikanischen Blicks kontrastieren, bietet hier einen Ansatzpunkt. Auch lässt sich erneut Griechenland in den Fokus nehmen, wo es mit dem ebenfalls bei Bathrelou erwähnten Kaliarda (Jakiaqmt\) eine inzwischen verschwindende Subkultursprache gibt6 (auch dies eine Gemeinsamkeit mit einigen asiatischen Kulturen), die insbesondere in Trans*-Kreisen noch dokumentiert ist. Sie verweist auf die Notwendigkeit einer schützenden Kodierung, die durch einen heteronormativen

decided to interview people from LGBTQ+ organisations and look at how they conceptualise LGBTQ+ refugees. […] I don’t think that the organisations care much about immigration. They have so many internal problems that they can’t find time to think about LGBTQ+ refugees.“ 5 Vgl. Konstantinos Eleftheriadis, „Queer Responses to Austerity. Insights from the Greece of Crisis“, in: ACME 14/4 (2015), S. 1032–1057, hier S. 1034. 6 Vgl. zur Verortung C8sar Montoliu, „Is Kaliarda, Greek Gay Slang, a mixed gypsy language?“, in: Erytheia. Revista de estudios bizantinos y neogriegos 26 (2005), S. 299–318.

Zur (Un)Markiertheit europäischer Identitätsentwürfe im Migrationskontext

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Binarismus dezidiert christlich-europäischer Prägung mitverursacht worden ist.7 Im angloamerikanischen Kontext, jenseits der konkreten Erfahrung der gegenwärtigen europäischen Dynamik von Migration, gibt es ebenfalls ein wachsendes Bewusstsein für die koloniastische Perspektive eines binären Geschlechtermodells. Dieses steht im Vergleich zu häufig älteren Entwürfen in nicht-westlichen Kulturen. Als populäres Beispiel dafür gelten etwa die sogenannten Two-Spirits innerhalb der indigenen Kulturen Nordamerikas, die sich einer binären Geschlechtszuordnung entziehen. Sie ließen sich, jenseits einer Definition über Begehrensstrukturen, in einer Außenperspektive des westlichen Forschungsdiskurses derzeit am ehesten als trans* oder queer beschreiben, ohne dass es für diese Verwendung sehr junger und erneut dezidiert westlicher Terminologie aber eine Notwendigkeit gäbe. Two-Spirits in Selbstzuschreibung treten u. a. in Ellen Pages LGBTQ*-fokussierter Reise-Dokumentation Gaycation (2016)8 auf; in Staffel 1, Episode 4, trifft sie dort Two-Spirits in Saskatchewan (Kanada) und gibt den narrativen Rahmen größtenteils auf, um die Individuen selbst zu Wort kommen zu lassen. Dabei können Aneignungsstrategien vermieden werden. Die von Phoenix Singer im Zusammenhang mit dem als westlich verstandenen Konzept der Transfrau formulierten Positionen, das ein Festschreiben in eine sozial minderprivilegierte Position mit sich bringt (im Vergleich zur Akzeptanz von Two-Spirits innerhalb ihrer Ausgangskulturen), sind ebenfalls ein Beispiel hierfür.9 Sie verweisen auf den Ansatz, Flüchtende, die nach westlichen Standards keine einfache Selbstbeschreibung gemäß der LBGTQ*-Terminologie abgeben können, im Rahmen der Identitätszuschreibungen ihrer Ausgangskulturen und deren dort gegebenen soziokulturellen Möglichkeiten zu begreifen. Dies schließt nicht aus, eine Analogie zur westlichen Terminologie herzustellen, um beispielsweise die Notwendigkeit eines Asylberechtigungsstatus’ zu markieren, sollte jedoch nicht als austauschbare oder gar neutrale Begriffsgebung verstanden werden. Ein weiterer Punkt, an dem Identitätspolitiken entsprechend intersektional in Migrationsdiskurse greifen, zeigt sich in Bezug auf die sozioökonomischen Einflüsse auf soziokulturelle Klimata und damit auf der Seite möglicher Ursachen von Flucht. Hier bietet sich erneut Griechenland als Beispiel an, um die Demarkationslinie des Europäischen/Nicht-Europäischen aufzubrechen und 7 Vgl. Anna T: The Opacity of Queer Languages, in: e-flux 60 (2014), http://www.e-flux.com/ journal/the-opacity-of-queer-language-2/ [09. 06. 2016]. 8 Gaycation, Dokumentationsreihe, 2016, produziert von Viceland, vgl. http://www.imdb.com/ title/tt5430288/ [09. 06. 2016]. 9 Phoenix Singer, Two-Spirit Identity, and the Logics of White Supremacy (nicht publiziert, zugänglich via http://www.academia.eu, [09. 06. 2016]).

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Anke Charton

nicht in Strukturen eines migrantischen Othering zu verfallen. Parallel zur exponierten geographischen Lage an den Migrationswegen nach Europa, die eine intensivierte Auseinandersetzung von Ortsansässigen mit Migranti_innen erzwingt, zeigt sich deutlich, wie sehr eine andauernde Wirtschaftskrise und die durch sie überbeschleunigte Erosion sozialer und kultureller Vereinbarungen neofaschistische Rhetoriken hervorrufen können. Sie beeinflussen über Abgrenzungsstrategien auch die konkreten Lebenswirklichkeiten von Minderheiten.10 Hierzu gehören, nicht nur auf Griechenland bezogen, jedoch dort merklich spürbar insbesondere jenseits der Metropolen Athen und Thessaloniki, stark heteronormative Identitätsentwürfe. Sie verschärfen den Umgang mit Identitätszuschreibungen von und an Flüchtende aus dem – westlich gesprochen – LGBTQ*-Spektrum nochmals, sogar innerhalb der transnationalen und transkulturellen Verständigung zwischen ,queeren‘ Minderheiten, wie sie etwa bei Ellen Page inszeniert werden. Diese müssen sich, sowohl im europäischen als auch im außereuropäischen Kontext, mehr als andere gesellschaftliche Gruppierungen zu einer fortschreitenden Instabilisierung soziokultureller Positionen der Akzeptanz und Integration verhalten,11 die sich nationenübergreifend etwa in den vertretenen Positionen der Parteien der neuen europäischen Rechten findet. Migrantische LGBTQ* sind damit einer Mehrfachdiskriminierung ausgesetzt, die sich in transnationalen Strukturen Bahn bricht, deren spezifische kulturelle Differenzen aber unter einer Prämisse von Andersheit kaum Beachtung finden.12 Und trotzdem liegt hier auch die Chance eines proaktiven Umgangs mit den Umbrüchen innerhalb des eigenen kulturellen Kontextes europäischer Identitäten: im gemeinsamen Beschreiben eines postnationalen, postmigrantischen Raumes. Sie markiert einerseits die eigene, eben nicht neutrale, Position. An10 Vgl. Eleftheriadis, „Queer Responses to Austerity“, S. 1034: „It will become obvious through the analysis that queer groups have understood austerity as a process which has been producing effects not only at the economic, but also at the social-cultural, level.“ 11 Vgl. ebd., S. 1035: „I advance here the idea that queer groups’ discourses in Greece are constrained drastically by the broader political and economic transformations, brought by the implementation of austerity measures. Their discursive frames reveal a complex process of thinking social relations that take into consideration the way austerity has impacted on their lives.“ 12 Eine Ausnahme im deutschsprachigen Raum bildet die mit Juni 2016 für Deutschland in einer bundesweiten Ausgabe verfügbare Handreichung für die Betreuung und Unterstützung von LSBTTI*-Flüchtlingen. Diese entstand zunächst in einer regionalen Ausgabe für das Bundesland Nordrhein-Westfalen und wird in Zusammenarbeit des LSVD (Lesben- und Schwulenverband in Deutschland) dem Arbeiter-Samariter-Bund und dem Paritätischen Wohlfahrtsverband herausgegeben und vom entsprechenden Bundesministerium unterstützt. Die Handreichung ist als PDF u. a. beim Paritätischen Wohlfahrtsverband verfügbar : http://www.der-paritaetische.de/download/lsbtti [23. 06. 2016].

Zur (Un)Markiertheit europäischer Identitätsentwürfe im Migrationskontext

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dererseits werden dadurch Bedingungen für einen Dialog zwischen Ansässigen und Neuankommenden geschaffen, in dem für weitergehend queere Menschen kulturübergreifend Raum zur Selbstbeschreibung gegeben ist, und damit auch für den Verzicht auf eine solche Zuschreibung. Zentral hierbei ist vor allen Dingen, eine europäisch-aufgeklärte Position nicht a priori als Zielsetzung zu begreifen, sondern die europäischen Binärstrukturen in Auseinandersetzung mit eventuell abweichenden Vorstellungen kritisch zu hinterfragen. Dies ist nicht im Sinne einer Ergänzung durch das Andere gedacht, sondern im Sinne einer gemeinsamen Möglichkeit, die in Folge allerdings auch Integrationsprozesse mehrfach diskriminierter Migrant_innen erleichtern könnte.

Markus Pusnik

Stadtwanderweg #12. Ein flüchtiger Blick ins Verborgene

In diesem Text prallen Ideen aufeinander, welche sich im Sinne Lyotards als postmoderne Bricolage lesen lassen,1 also als thematische Abfolge und Konfrontation und daraus resultieren verwegene Anknüpfungen und Verbindungen. Einflüsse dieses Textes sind zunächst Gin Müllers Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung zum Spannungsbogen „LGBTI*, Identitäten und Grenzverletzer_innen“. Dieser Zugang hat die Idee zur flüchtenden und flüchtigen Perspektive innerhalb der Schwulenszene Wiens gelegt. Den zweiten Ausgangspunkt stellt eine Reportage von Christoph Feurstein aus der ORF-Reihe Thema zur Sexarbeiterszene in Wien dar.2 Die Stadt Wien verzeichnet elf Stadtwanderwege. Sie regen als Einladung an, auf diese Weise die Stadt zu erkunden und im kontemplativen Sinn auch bekannte Szenarien neu zu entdecken. Ich bin heute ein Flaneur, ein Wanderer in Wien, auf der getriebenen Suche nach Kehrseiten und dem Impuls folgend, verstörenden Assoziationen freien Lauf zu lassen. Dieser Wanderweg ist eine Fußnote oder eine Ergänzung zum bestehenden Programm, ein Hinweis dazu wird sich im Onlineportal der Stadt Wien nicht finden lassen – und er lässt sich ehest nächtlich erkunden. Als Flaneur bin ich keineswegs auf der Flucht, aber eine Ausreizung des Begriffs ist auch Thema dieses Textes. Ich kann stets zu meinem Ausgangspunkt zurückkehren und damit Distanz zur gegenwärtigen Erfahrung gewinnen. Das wird nicht allen gelingen, denen ich in diesem Text begegnen werde. Häuserfluchten begleiten oder leiten mich auf der Suche nach dem geflohenen oder flüchtenden „Anderen“ – worüber nicht gesprochen werden soll. Kein Walter Benjamin, keine Kulturkritik oder auch Lobgesang auf mögliche tragende Manifestationen einer prosperierenden oder sich – Au contraire! – verlierenden Gesellschaft in neurotischen Wiederholungen und Vervielfältigungen. Diese 1 Vgl. Jean-FranÅois Lyotard, Postmoderne für Kinder. Briefe aus den Jahren 1982–1985, Wien 2009, S. 104. 2 Christoph Feurstein, „Männliche Sexarbeit in Wien“, http://bit.ly/28Wx74X [13. 06. 2016].

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Markus Pusnik

Passagen hier stützen nicht, sie verhindern höchstens Einblicke in ein Gewirr aus Hinterhofszenarien und bewusst schlecht ausgeleuchteten Gängen und Räumen. Passagen dieser Art sind womöglich bedeutungsassoziativ „passager“, wie dies auch Thomas Düllo im Sinne umcodierter oder transformierter Räume benannt hat.3 Bahnhöfe, Parks als äußerliche Signifikanten, samten ausgeschlagene Verschleierungen poröser Oberflächen als überlagernde Fassung innerer Dramen. Hier ist Bewegung und kein Verweilen, kurze und flüchtige Begegnungen. Zuwendungen, Abwendungen und Vergessen. Die Abenddämmerung bricht herein, die Vorhänge dieser Inszenierungen schließen sich vor dem ungeübten Blick. Sie entfalten die Idee der „Bühnen der Stilisierung“4 so erfasst Düllo überaus treffend den Begriff der „passageren Räume“. Schließende Vorhänge leiten gemeinhin ein Ende der theatralen Erzählung ein, hier bestimmen sie als Ouvertüre die nächtliche Erzählung und eine geradezu beispielhafte Umkehrung heterotoper Verhältnisse im Sinne Foucaults. Wo sonst deutliche – auch ideologische – Grenzen und deren Umfriedungsstrategien den Austausch streng reglementieren, entäußert sich hier die Umkehrung ins Alltägliche. Zutritt, wenn sie nicht unerkannt schon Teil der Szenerie sind, haben alle, die die eigene Blickstrategie neufokussieren. Zeit, den Einlass zu erkennen in die Wunderkammern der Kehrseite: die flüchtige Wiener Stricherszene, womöglich ein sich endlos prolongierendes und absurdes Kulturgut. Ein Caf8. Die Aufteilung der Protagonisten ist zu klar in ihren Oppositionen, um nicht als solche erkannt zu werden. Theatral hervorgehoben ein Billardtisch, um den sich junge Männer posend dem sinnentleerten Spiel der bunten Kugeln hingeben. Ostentative Dehnung und Beugung der Körper erzählen von gekonnten und gekannten Fokussierungen der begehrenden Blicke der Umstehenden. Ältere Herren, welche – allesamt der Zeit entrückt – die Gegenwart des Totalverbots der Homosexualität in Österreich beschwören. Unaufgeregte Dramatik. Das Glas Rotwein unterstützt und berauscht den imaginierenden Gedanken. Wer sind die jungen Männer um den Billardtisch? Diese Frage ist mein Interesse, nicht das der Kunden – und auch nicht das der jungen Männer. Überwiegend Bulgaren, Roma, aber nicht nur. Wenn man den flüsternden, gesichtslosen und leicht beschämten Stimmen im Hintergrund glauben schenken möchte, verlieren sich auch andere, zu jung, um als Mann zu gelten, in diese Etablissements. Oder sie werden verloren und dorthin zwingend eingefunden. Eine Migration, die keine Artikulation hat, die es so nicht geben darf. Flüchtige, auch unbegleitete Minderjährige, wie sie zurzeit so populär begriffen werden, 3 Vgl. Thomas Düllo, Kultur als Transformation. Eine Kulturwissenschaft des Performativen und des Crossover, Bielefeld 2011, S. 32. 4 Ebd.

Stadtwanderweg #12. Ein flüchtiger Blick ins Verborgene

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welche an diesen Orten kurzfristig grotesk Begleitung finden. Die Bestimmung der eigenen Person wird inkongruent, so sie denn überhaupt vermittelt werden kann. Die Sprache dieses Milieus ist schweigend. Eine ursprüngliche kulturelle Erzählung der Männer und Jungen darf Begegnungen dieser Art nicht mit Worten bedeuten, höchstens drastisch sanktionieren. Homosexualität. Männlich begehrt werden. Sich dem männlichen Blick aussetzen und gesehen werden. Berührt werden, penetrierend oder empfangend. Gedankliche Sprünge, angeregt durch beobachtete sprachliche Verständnisschwierigkeiten zwischen zwei Männern, bemühen, kulturkritisch geleitet, Gayatri Chakravorty Spivak. Sie hat in ihrem bahnbrechenden Text zur Sprachlosigkeit der „Subalternen“ das Unvermögen der Artikulation beschriebener Gruppen dargelegt. Gruppen also, die zum Nutzen fremder uneigener Interessen sprachlich geprägt und so chancenlos innerhalb der Macht fremdbestimmter Diskurse überwältigt werden.5 Die Kritik mahnt jedoch zur Vorsicht, solcherart Konzepte voreilig anzuwenden. Allerdings, angesichts der nachahmenden und bemüht stimulierenden Körper möchte eine ausgedrückt gestikulierende und posierende Phrasendrescherei bemerkt werden, die kaum eigenes Körperempfinden oder eigene Körpersprache ausdrückt. Diese jungen Männer sprechen nicht über sich, drücken ihre Körper in vermuteten Haltungen aus, die auf zustimmende Akzeptanz der Kunden stoßen soll. Verzweifelt macht sich der Umstand bemerkbar, dass auch mein Blick auf Annahmen und verständnisvollen Konnotationen beruht. Dorian Gray, Adrian Mayfield – ein kurzes gedankliches Aufblitzen von Romanfiguren und Antihelden, die in romantisch verklärtem Licht der Liebe, die ihren Namen nicht zu nennen wagt, ihre Körper dargeboten haben. Oscar Wildes grüne Nelken verströmten ihren Duft zu posierenden jungen Männern, stets die Rechtfertigung der belehrenden Liebe des älteren zum jungen Mann strapazierend. Eine Neuinterpretation der verlorenen Jungs in Nimmerland? Märchenhafte Metapher. Hans Christian Andersen hat den standhaften Zinnsoldaten und die kleine Meerjungfrau als semiotische Oberflächen eben auch in diesem Sinne lesbar gemacht – aber das ist vielleicht anachronistisch gedacht. Eine gegenwärtige thematische Ergriffenheit in narrativen Gewändern beansprucht, so scheint es, stets die historische Distanz, um auch als entlegen gelten zu können. Es war einmal und ist schon lange her. Doch nein, es ist! Und dagegen verwehrt sich störrisch die bewusste Lesart. Vergeblich möchte sich mein Blick vom literarischen Einfluss befreien. Die jungen Männer in diesem Caf8 sind keine Puppenjungen, wie sie im ausgehenden 19. Jahrhundert in London benannt wurden. Was noch keine Ge5 Vgl. Gayatri Chakravorty Spivak, Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation, Wien 2014, S. 48ff.

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Markus Pusnik

schichten erzählen konnte, das muss Dokumentation bleiben. Dieser Gedanke ist Yann Martel entlehnt, der in seinem Buch Das Hemd des 20. Jahrhunderts seine Romanfiguren von der Frage quälen ließ, inwiefern traumatische Erfahrung erzählend interpretiert werden darf.6 Erst im rückwärtigen Begreifen und Benennen kommt die Erzählung ist Spiel. Und hier an diesem Billardtisch steht eben nicht Adrian Mayfield, ich befinde mich hier auch nicht am Setting des Films My Private Idaho mit Strichern der westlichen Welt, Sympathieträgern also, denen das Leben übel mitgespielt hat. Nein, hier entdecke ich Marginalien und ausgefranste Charaktere unserer Gesellschaft. Nein, noch einmal, damit auch ich es hören kann, diese Männer sind auf der Flucht vor Arbeitslosigkeit, wirtschaftlichen Benachteiligungen, sozialer Ausgrenzung und möglicherweise vor kaum begreifbaren Bedrohungen. Diese Männer waren auch einmal Kinder, die verwundert den großen, ursprünglichen und zutiefst prägenden traditionellen Erzählungen gelauscht haben und, weit verstörender noch, geglaubt haben: Du wirst eine Frau heiraten, du wirst Kinder erziehen, du trägst die Verantwortung! Wie drückt sich der Widerspruch zwischen nicht bereitgestellten Möglichkeiten zur Umsetzung der Tradition und der Identität aus? Welche dissoziativen Strategien wirken hier, um eine nach außen hin gefällig normierte Erzählung seiner selbst behaupten zu können? Jenseits der Opferung althergebrachter Mythen sind die Männer der solcherart überlieferten und zu manifestierenden Vorhersehung nachgekommen, der dominanten Bestimmung vielleicht sogar im Irrglauben der Freiwilligkeit gefolgt. An ihren Körpern arbeiten sie und arbeitet sich nun der ideologische Diskurs ab, hier im Versteck, dessen Exploration wohl auch mit der Entdeckung von mit Fühlern besetzten, schnell flüchtenden und mit Chitin bemäntelten Körpern einhergehen wird. Dieser Kafka würgt sich ausschließlich schmerzhaft hervor. Zeit, die Szenarien zu wechseln und sich auf die Spuren verborgener neuer Passagen zu begeben. Eve Kosofsky Sedgwick hat in ihrem gleichnamigen Text zur Epistemologie des Verstecks doppelbödige strukturelle Strategien aufgezeigt, die ein Coming-out im Sinne von gay fordern und gleichzeitig sanktionieren. Sexualität ist von öffentlichem Interesse, das hat Foucault festgestellt, Kosofsky Sedgwick hat diese Behauptung bestätigt.7 Der Kanon allerdings, wonach männlich, schwul, sucht sich dergestalt artikuliert, stimmt im vorliegenden Fall nicht in seiner simplen Parakausalität. Der Weg führt, Anknüpfungen zum nachgedachten Text zynisch überlagernd, unterdessen und weit nach Mitternacht schon, durch romantisch anmutende Wege eines öffentlichen Parks in Wien. Die Stricherszene hat sich in den öffentlichen Raum ausgedehnt, 6 Vgl. Yann Martel, Das Hemd des 20. Jahrhunderts, Frankfurt/Main 2010. 7 Eve Kosofsky Sedwick, „Epistemologie des Verstecks“, in: Andreas Kraß (Hg.), Queer Denken. Queer Studies, Frankfurt/Main 2003, S. 113–143, hier S. 116ff.

Stadtwanderweg #12. Ein flüchtiger Blick ins Verborgene

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schutzlos in die schummrig ausgeleuchtete Verborgenheit ungestümer bewaldeter Szenarien. Komm nicht vom Weg ab! Die Jungen hätten wohl auf Großmutter hören sollen, allein sie hätte kaum diesen Ratschlag geben können. Ein solches Märchen stand nicht im Repertoire, wenngleich die verkörperte Übernahme verdichteter tradierter Erzählungen überwältigt. Ein Coming-out im üblichen, schon beschriebenen Sinne gibt es hier demnach nicht. Migration, Flucht, sexuelles Begehren, Identitätskonzepte. Jeder Bezugspunkt in dieser fatalen Matrix scheint sich in der gedanklichen Achse zu sperren. Into the Woods! also. Nein, bitte nicht. Bloß raus hier. Ich kann gehen. Wohin jetzt? Diese Stadtwanderung dauert zu lange schon. Die von mir erlebte Hervorhebung einer Nacht steht allerdings einem immerwährenden nächtlich der Sexarbeiter entgegengesetzt. Aber auch die so gedachte Endlosigkeit stimmt nicht. Die Idee von Jugend ist unerbittlich in diesem Geschäft. Die jungen Männer sind schneller älter als die Nachfrage dies tolerieren könnte. Doch noch nicht heute Nacht. Vielleicht war das Geschäft gut, beruhigt und beschwichtigt die emotionalen Fragen nach dem Sinn, so sie denn überhaupt gestellt werden könnten. Die Dämmerung naht und mit ihr und den öffnenden Vorhängen der aufwachenden Stadt kommen jene Aufführungen der Nacht zu ihrem Ende. Wohin jetzt?, noch einmal diese Frage. In Gedanken tönt ein Lied. ¿Con qu8 la lavar8?: Ein mittelalterliches Lied, welches das Leid lediger Frauen beklagte und auch der Titel eines Kurzfilms von Mari# Tr8nor ist.8 Der Film erzählt von der morgendlichen Dämmerung, als sich ein_e Sexarbeiter_in nach Hause begibt, um sich die Begegnungen, Erfahrungen und auch die Einsamkeit abzuschminken, eine künstlerische Interpretation dessen, was sich tagtäglich erfahrbar und begreifend wiederholt. Im Film überlagert das elaboriert getragene Lied die vielstimmigen Erinnerungen. Die Lebenswirklichkeit hat eine schonungslosere Überlagerung der quälenden Stimmen bereitgestellt. Eingezwängt in einem Zimmer schlafen zahlreich junge Männer auf schmierigen Matratzen. Um sie herum laufen Kakerlaken aufgestört umher, auf der Flucht vor den Erschütterungen und den Lichtquellen der eintreffenden Sexarbeiter. Hier werden sie den Tag verbringen, ehe sie wieder ins nächtliche Wien aufbrechen. Der Raum, in dem die Stricher ruhen, ist im Nirgendwo. Im Schlaf erneut die Flucht. Vor der Sichtbarkeit, den Behörden, der Chancenlosigkeit.

8 Mari# Tr8nor, Womit soll ich es waschen?, 10 min., ES 2003.

Azelia Gülüm Opak

Hiç hikayen yok mu senin? Hast du denn keine Geschichte?

Ich bin migration! also mal so richtig. also eine art wanderschatten in fleisch. schliesslich wandert der schatten einem voraus. ich frage mal einfach nach der bewegung. der bewegten der bewegenden. nach dieser migration eben. dieser in uns allen verankerten orte fluktuation. ich bin dann einfach mal eben wie migration.

Das Theater der dritten Generation von Migrant_innen erzählt nicht über die Flucht, sondern über ihre Folgen; Mitleid mit Fluchtgeschichten und Gastarbeiter_innenerzählungen waren gestern. Verfremdung, Irritation und das Brechen der Erwartungshaltungen des Publikums sind die neuen Methoden des postmigrantischen Theaters. Wenn bei einer künstlerischen Vorführung eine Figur dargestellt wird, die einer klischeehaften Migrant_in entspricht und das Publikum mit deren fiktiver Schicksalsgeschichte Mitleid empfindet, hat die Kunst mit ihrer Katharsis keinen sinnvollen Beitrag zur Gesellschaft geleistet. Stattdessen bestätigt die Mitleidserzeugung soziale Stereotypen und führt dazu, dass die Migrant_innen in eine Opferrolle gesteckt werden. Es ist aber wichtig, Vorurteile abzubauen, nicht diese zu bestätigen. Das Publikum darf die erzählte Welt nicht als fremd empfinden, um sich daraufhin aufgefordert zu fühlen, die Zustände in der eigenen Realität zu verändern. Die Zuschauer_innen sollen nicht mitleiden, sondern nachdenken und dabei bewusst bleiben. Besonders, was das Erzählen und Inszenieren von migrantischen Lebensgeschichten angeht, ist ein theatralisch verfremdender Zugang sehr wichtig. In diesem Sinne ist für mich die Regisseurin Aslı Kıs¸lal mit ihrer Art und Arbeitsform in Österreich eine wichtige Pionierin. Das Theaterstück DoyÅlender : almanci wurde von Emre Akal geschrieben und von Kıs¸lal inszeniert. Ich durfte bei den in Wien gezeigten Vorstellungen des Stückes assistieren und Kıs¸lals Theaterarbeit miterleben. Für mich beruht die Inszenierung auf den Mitteln des postmigrantischen Theaters und jenen der Verfremdung. Obwohl der von Emre Akal geschriebene Theatertext sehr abstrakt ist und die Geschehen auf der Bühne mehr verfremden als empfinden lassen, ist die Story eigentlich klar : Eine türkische Migrantin will mit ihrem

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Azelia Gülüm Opak

österreichischen Freund nach Istanbul übersiedeln und dort ein neues, schöneres Leben aufbauen. Die Umsetzung dieses Entschlusses erweist sich aber als kompliziert. Schon zu Beginn der Vorstellung wird dem Publikum bewusstgemacht, dass es sich hier um kein klassisches Stück handelt: Die zwei Darsteller_innen Alev Irmak und Daniel Keberle befinden sich bereits auf der Bühne und bitten das Publikum selbst in den Saal. Im hinteren Teil der Bühne ist eine Leinwand aufgestellt, wo die auf der Bühne gefilmten Videos live übertragen werden. Es werden auch manchmal türkische Übersetzungen gezeigt, aber ihre Schriftart und Form ändern sich immer mehr, bis sie mit der Zeit einfach unlesbar werden und jene Zuschauer_innen, die versuchen es zu lesen, einfach nur nervt – die Theaterbühne als Geduldsprobe für die Zuschauer_in. Die Bühnentechnik ist sichtbar und bewirkt eine Verfremdung im Sinne Brechts.1 Während des Spiels kommt es vor, dass die Darsteller_innen den Techniker oder jemanden aus dem Publikum direkt adressieren. Sie interagieren wenig miteinander, stattdessen ist ihr Blick hauptsächlich in den Zuschauer_innenraum gerichtet. Dies soll bezwecken, dass die vierte Wand durchbrochen wird und die Zuschauer_innen ein außergewöhnliches Theatererlebnis erfahren. Es soll keine Illusion erzeugt werden und Geschichten einer fremden, weiten Welt erzählt werden, wo die Zuschauer_innen nur zusehen können. Es ist viel eher die Partizipation des Publikums gefordert, die Zuschauer_innen werden sogar hin und wieder in ihrer Rolle des passiven Zusehens provoziert. Es kommt zum Beispiel eine Szene vor, in der Alev vom Rassismus erzählt, den sie in ihrer Kindheit erlebt hat. Während der Erzählung fängt Alev an, sich langsam auszuziehen, eine Anspielung darauf, dass sie sich dem Publikum öffnet. Sie erlaubt den Zuschauer_innen, Mitleid zuzulassen. Die Katharsis steigt, bis Alev die traurige Geschichte beendet und nur noch in Unterwäsche vor dem Publikum steht und die Zuschauer_innen anstarrt. Alev unterbricht die kurze Stille, die auf die mitleidserregende Szene folgt, mit einem plötzlichen, lauten Lachen. Sie macht sich lustig darüber, dass das Publikum darauf hereingefallen ist, mitzuleiden. Bevor das Publikum überhaupt mitempfinden kann, erhebt die Schauspielerin Macht über ihre eigene Leidensgeschichte und lacht einfach alle aus, die davon berührt waren. Dieses Stück lebt von der Verfremdung. Zuschauer_innen werden szenenweise irritiert und verunsichert und deren beweinenden Haltungen und Emotionen werden als lächerlich dargestellt. Das Stück folgt somit dem Prinzip des Oberhausener Manifests: Tod dem Zuschauer!2

1 Theo Buck, „Verfremdung, Verfremdungseffekt“, in: Manfred Brauneck / Gerard Schneilin (Hg.), Theaterlexikon, Reinbeck bei Hamburg 31986, S. 766. 2 Nach dem Film von Vlado Kristl, www.filmzentrale.com/rezis/toddemzuschauerdk.htm [26. 06. 2015].

Hiç hikayen yok mu senin? Hast du denn keine Geschichte?

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diese meine geschichte erzähle ich so gerne. die geschichte mit dem namen: wie ein land ein kind in der dritten klasse verlor. die erzähle ich gerne. die berührt. die macht tränen in den augen. und die menschen die sie hören bekommen mitleid und so einen süssen bemitleidenden dackelblick. dann sehen sie so putzig aus. ich erzähle deshalb meine geschichte um die süssen mitleidigen welpengesichter zu sehen. da haben sie endlich mal emotionen gezeigt diese kühlen schweinsbratengesichter.

Den Augen der Zuschauer_innen wird aber keine Pause gegönnt. Das Paar Alev und Daniel tanzt, es singt, es streitet, es zieht sich aus und liebt. Jedes Gefühlsstadium findet seinen Platz. Das gesamte Theaterstück wird mit einem Zitat des Schauspielers Tim Breyvogel, der von eingespielten Videos ins Publikum spricht, zusammengefasst: „Migration, du bist eine kleine hinterfotzige Schlampe!“ Die Inszenierung ist eine Selbstdarstellung des Theaters an sich und zugleich hält es auch dem Publikum einen Spiegel vor, fordert zur Selbstreflexion auf. Durch das Aufbrechen der vierten Wand thematisiert sich das Theater selbst als Medium. Die Liebesgeschichte ist der einzige rote Faden in der Dramaturgie. Während der Inszenierung unterwerfen sich die Schauspieler_innen einem ständigen Rollenwechsel. In den verschiedenen Szenen sind sie jedes Mal eine neue Figur mit einem neuen Namen, einer neuen Identität. Doch der Rollenwechsel ist damit nicht begrenzt. Da Alev und Daniel gleichzeitig die echten Namen der Schauspieler_innen sind und die Migrationsgeschichte, die sie erzählen, wirklich auf ihren eigenen Erfahrungen beruht, verschwimmt die Grenze zwischen Fiktion und Realität. Indem sich die beiden zum Beispiel über die Lautstärke der Musik oder das Mikrofon austauschen, wird die Rolle der Schauspieler_in eingenommen. Sobald Daniel auf der Bühne filmt, übernimmt er aber die Rolle der Regie, des Subjekts und ihm wird eine Macht erteilt, welcher die gefilmte Alev als Objekt unterstellt ist. Das Wechseln der Identität wird auch vom Publikum verlangt, das teilweise aus seiner Rolle des Betrachtens herauskommen und sich hinterfragen muss. Das Publikum soll wach bleiben und von der erzählten Geschichte des Liebespaares einen Bezug zu seiner eigenen Lebensgeschichte herstellen. Mich regte das Stück dazu an, den Begriff der postmigrantischen Identität im Theater zu definieren und dabei auch meine eigene zu hinterfragen. Ich habe selbst eine türkische Herkunft, bin aber in Wien geboren. Mein Migrationshintergrund war für mich nie ein Thema, bis ich anfing, in der Kunstszene zu arbeiten. Es ist schwierig für mich, künstlerisch zu arbeiten, ohne den Migrationshintergrund mitschleppen zu müssen und Aufmerksamkeit für Projekte zu bekommen, wo nicht explizit darauf hingewiesen wird, dass ich ursprünglich nicht aus Europa stamme. Nachdem ich mich gewehrt habe, meine eigene Migrationsgeschichte zu erzählen, sondern ganz andere Themen behandeln wollte, begegnete ich vielen Menschen, die mir verwundert eine Frage

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Azelia Gülüm Opak

stellten: HiÅ hikayen yok mu senin? Hast du denn keine Geschichte? Da fällt mir eine Stelle aus einem poetischen Werk der türkischen Schriftstellerin Umay Umay ein: „Dog˘rum yok benim. Her yarım ¸sey gibi. Ne kederli, ne de mutlu. HiÅ hikayen yok mu senin.“ Ich versuche, das Zitat zu übersetzen: „Ich habe keine Richtigkeit. Wie jede halbe Sache. Weder traurig, noch glücklich. Hast du denn keine Geschichte“.3 Das Stück DoyÅlender : almanci hat mich nachdenklich gemacht und hat in mir das Bedürfnis geweckt, mehr über meine eigene Migrationsgeschichte zu erfahren und sie zu erzählen. Das Zurückwandern nach Istanbul ist für mich wie bei Alev zu einem Thema geworden und ich habe diese Möglichkeit hinterfragt. Ich möchte meine postmigrantische Identität ergründen, um eine neue Form künstlerischer Arbeit zu betreiben. Aber zuerst muss ich das „migrantische Ich“ finden. Meine Vergangenheit muss einmal aufgerollt werden, damit ich es dann nicht mehr tun muss. Es ist eine Hürde, aber da muss ich durch. So schlimm es auch ist, muss auch meine Migrationsgeschichte mal so, wie sie ist, erzählt werden, allein aus dem einen Grund, um sie später einmal verneinen zu können: Mein Großvater ist in den ’70ern nach Österreich gekommen, als Gastarbeiter für die Firma Asphalt Felsinger. In Istanbul, wo er in einer Fabrik am Fließband Socken bunt gefärbt hatte, hinterließ er eine Frau mit vier Kindern, die in einem Slum lebten, wo es viele zurückgelassene Frauen mit Kindern gab. Die Männer waren alle weg, in Deutschland oder Österreich arbeiten. Frauen mussten sich in der Millionenmetropole Istanbul solidarisieren und mit eigener Kraft ihr Haus und ihre Straße beschützen. Meine Oma ist zu einer sehr dominanten Frau geworden – sowohl innerlich als auch äußerlich, ja, vielleicht war es eine „Zwangsemanzipation“, aber sie war trotzdem stark. Mein Großvater schaffte es nicht jeden Sommer seine Familie zu besuchen, aber wenn, dann immer mit tollen Geschenken und Geschichten aus dem fernen Europa. Irgendwann nahm er dann alle mit. Ein Haus und ein kleines Geschäft in Istanbul: Das waren die einzigen Ziele, für die er Tag und Nacht die Straßenanlagen Wiens mit Asphalt beschüttete, bis er schließlich an Lungenkrebs starb. Mit dem ersparten Geld konnte er noch europäische Möbel kaufen. Diese landeten aber im Keller in Wien und niemand verwendete sie, mit dem Wunsch sie in die Türkei zu transportieren und in das neue, schöne Haus in einem angesehenen Istanbuler Stadtteil hinzustellen, bis die Möbel dann mit den Jahren zu schimmeln anfingen, und mit meinem Großvater und seinen Hoffnungen starben auch sie mit. Meine Oma war wieder allein, wieder in einer Metropole – dass diese Stadt, aber viel kleiner war, erleichterte nichts, es war diesmal noch schlimmer, denn sie war fremd. Nun, das ist alles leider nicht meine Geschichte. Oder ist es doch meine? Kann ich diese Geschichte künstlerisch verarbeiten – oder besser gefragt: Muss ich 3 Umay Umay, Orospu Kirmizi, (dt. Huren Rot), Istanbul 2014, S. 8.

Hiç hikayen yok mu senin? Hast du denn keine Geschichte?

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Ein Foto meiner Großeltern und ihrer Kinder beim ersten Urlaubsbesuch meines Großvaters in Istanbul, nachdem er in Wien zu arbeiten begonnen hatte.

das? Wenn ich mich an meine Kindheit erinnere, denke ich an meine besten Freundinnen Claudia, Julia, Marie, Elisabeth, die Zeit in der privaten Klosterschule, meine Vorlieben für die Deutsche Literatur, die Wiener Theaterkultur, den schönen, ruhigen 18. Bezirk und den Türkenschanzpark, der gleich in der Nähe unserer kleinen Gemeindewohnung lag und wo kaum mehr Türken waren. Meine Eltern haben jetzt beschlossen zurück nach Istanbul zu ziehen. Ich liebe Istanbul, auch abseits von der Schönheit der Stadt, liebe ich es, weil meine Aufenthalte dort für mich immer in Verbindung mit Sommer, Urlaub und Freizeit standen. Meine Eltern waren sehr streng und ich musste meine ganze Schulzeit in Wien viel lernen, schaute dabei den Kindern aus dem Fenster zu, wie sie draußen spielen durften und ich nicht; außer im Sommer in Istanbul – da konnte ich das Kind sein, das draußen war und nicht drinnen. Ich machte all die Sachen, die ich mir ein ganzes Jahr lang ersehnt hatte. Natürlich war ich als Wienerin unter den türkischen Nachbarskindern eine Prinzessin hochtausend und Freundschaften zu schließen fiel mir sehr viel leichter als in Wien. Unser Haus in Istanbul wurde von einem Gecekondu4 zu einem Apartment renoviert und es war eines der Schönsten in unserer Straße in Istanbul. Meine Mutter 4 Gecekondu ist ein kleines Haus, dass ohne rechtliche Erlaubnis heimlich „über Nacht“ in einem Slumgebiet der Türkei gebaut wird.

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Azelia Gülüm Opak

veränderte sich so sehr in der Zeit in Istanbul, dass ihre Augen strahlten. Sie fing an mehr zu lachen und schönere Kleider zu tragen. „Ich will nicht in Wien alt werden“, sagte sie immer : „Meine große Sehnsucht ist Istanbul.“ Als Kind war es meine Leidenschaft Geschichten zu erfinden – was sich auf meine Freundschaften schlecht auswirkte – aber ich liebte zum Beispiel, vor Straßenkindern in Istanbul von meinem Leben in Wien zu schwärmen. „Wir haben ein Haus mit Pool, sogar mit Delphinen und alles ist besser und ich bin als eine königliche Hoheit der Österreichischen Republik sehr anerkannt.“ Die Kinder saßen vor mir, ich erzählte und erzählte, Fantasie ohne Ende und wir waren alle glücklich. Sogar ein Theaterstück machte ich mit den Straßenkindern. Mit meinen noch nicht einmal zehn Jahren durfte ich alles bestimmen und sie gehorchten mir, weil ich eben von da kam, wo sie noch nie waren, das Land, welches sie nur durch meine Geschichten kannten, die fantastische Utopie der kleinen Prinzessin Azelia: Wien. Mit den Jahren zog meine Oma ihre Kinder und Enkelkinder auf, lernte sogar im Alter von 50 Jahren das Lesen und Schreiben und erhielt eine Pension. Als Kind verbrachte ich viel Zeit bei meiner Oma, meine Mutter studierte und musste arbeiten. Manchmal gab ich meiner Oma auch Nachhilfe. Was ich in der Volksschule lernte, zeigte ich ihr, und wir lasen aus Kinderbüchern. Die große Schrift war gut geeignet für ihre Sehschwäche und sie lernte auch ein, zwei deutsche Wörter nebenbei, die sie nie verwendete, außer im Sommer in Istanbul. Neben ihren 10 kg Milkaschokoladen und 8 kg Schwarztee packte sie also auch diese Wörter in ihren Koffer ein und begann in Istanbul plötzlich, mich Schatz zu nennen, obwohl ich doch ihr Gülüm war. Nun meine Eltern ziehen nach Istanbul. „Endlich, endlich!“, sagen sie und fragen mich, ob ich mitkommen möchte. Nein, ich möchte nicht. Ich frage mich: Was würde mein Großvater davon halten, der sich sein ganzes Leben in Wien aufgeopfert hat, um in die Türkei zu ziehen und genügend Geld zu haben, um dort ein schöneres Leben zu führen? Wäre er enttäuscht von mir? Verwundert? – „Was? In Wien bleiben? Warum zur Hölle in Wien bleiben? Jetzt endlich, nach drei ganzen Generationen, ist die Möglichkeit da und du bleibst hier?“ – „Ja, lieber Großvater, ich bleibe hier. Nicht weil ich Istanbul nicht als meine Heimat ansehe, nicht, weil Wien meine neue Heimat ist, nein, sondern ganz einfach, weil es für mich so etwas wie eine Heimat nicht mehr gibt. Meine Geschichte ist anders als deine. Ich werde deine aber erzählen und lieben und stolz sagen, mein Großvater, der türkische Gastarbeiter von Asphalt Felsinger, ja, der hat die Straßen Wiens, euer Zuhause gebaut und dabei meines vernichtet.“

Milena von Stosch

doyçlender: almanci. Zugehörigkeiten?

50 jahre ist das einzige was uns aufrecht gehalten hat. was uns in deutschland oder österreich nicht komplett ausflippen und auflehnen lassen hat ein gedanke: zurückkehren. aber was wenn du zurückkehrst und feststellst dass es dieses glück dass es das gar nicht gibt. oh. oh nein. oh. oh. dann sitzt du da alleingelassen mit dieser erkenntnis am bosporus, frisst einen sesamkringel und stellst fest: migration du bist im ernst ganz ehrlich eine kleine hinterfotzige schlampe.1

Aslı Kıs¸lals Inszenierung von doyÅlender : almanci fokussiert die Frage von Zugehörigkeiten am Beispiel von Deutschen oder Österreicher_innen mit türkischem Migrationshintergrund. Dabei wird eine doppelte Heimatlosigkeit sichtbar : Nirgendwo werden die Protagonist_innen als gleichwertiger Teil der Gesellschaft akzeptiert, sondern über ihre Verbindung zum jeweils als fremd wahrgenommenen Land definiert – sind eben in der Türkei „doyÅlender“ oder „almanci“, in Deutschland oder Österreich „Türken“ bzw. „Türkinnen“. Dabei steht weniger eine Problematik von Doppelidentifikationen im Raum als vielmehr geteilte, trennende und widersprüchliche Identifizierungen. Die Frage nach Unzugehörigkeit, nach Heimatlosigkeit, wird in diesem Moment in der Inszenierung spürbar – nirgendwo als zugehörig akzeptiert, konterkariert die eine Herkunft die zweite. Ich denke, dies steht im Gegensatz zu unserer Zeit: Einerseits leben wir inmitten der Globalisierung; nicht nur Waren, sondern auch Menschen scheinen so mühelos von einem Ort zum anderen zu gelangen, heterogene Bevölkerungsgruppen und gemischte Herkunftsverhältnisse sind alltäglich. Doch scheint es immer noch Schwierigkeiten zu geben entsprechend vielseitige Zugehörigkeit zu akzeptieren. Zu tief ist das Denken in einzelnen Nationalitäten und Zuordnungen in der Gesellschaft verankert. Sich in mehreren Ländern 1 Emre Akal, doyÅlender: almanci, 2015, http://werk-x.at/produktion/doyclender-almanci [17. 03. 2016].

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Milena von Stosch

zuhause oder beheimatet zu fühlen, scheint ungewöhnlich. Eine Nationalität relativiert eine andere. So erzählte mir ein Freund einmal, dass er hier in Wien nun endlich ein „richtiger Ausländer“ sei. In Deutschland (dem Land, in dem er aufgewachsen ist) und in der Türkei (dem Land, aus dem seine Eltern kamen) wurde er als „Ausländer“ angesehen, hatte sich als solcher gefühlt, wobei oder weil er sich sowohl mit Deutschland als auch mit der Türkei verbunden fühlte. In Kıs¸lals Produktion doyÅlender : almanci steht eben dieses Gefühl der Zerrissenheit zwischen der „neuen“ (häufig auch schon recht alten) Heimat Österreich oder Deutschland und der „alten“ Heimat im Zentrum. An beiden Orten gelten die Protagonist_innen nicht als gleichwertiger Teil der Gesellschaft. Dabei vermittelt Kıs¸lals Inszenierung den Eindruck, dass das Zugehörigkeitsgefühl der „doyÅlender“ tendenziell eher bei der „alten“ Heimat, der Türkei, liegt. Die Erfahrung des Andersseins in Österreich oder Deutschland lässt die andere „Heimat“ zum Sehnsuchtsort werden. Kıs¸lal präsentiert dies in ihrer Inszenierung mithilfe von verschiedenen persönlichen Blickwinkeln und inneren Monologen. Es geht vor allem um jene „almanci“, die sich auf Grund ihrer Zerrissenheit zwischen ihren „Herkünften“ auf den Weg in ihre vermeintliche „echte“ Heimat machen. Das Leben der „Rückkehrer“ stellt sie als einen Prozess der Desillusionierung dar. Schließlich haben sie meist nie längere Zeit in ihrem vermeintlichen Heimatland gelebt und kennen es nur aus Sommerurlauben und Erzählungen. Von vielen Türk_innen werden sie daher auch anders wahrgenommen und als almanci bezeichnet. Sie werden also auch nicht als vollwertige Mitbürger_innen wahrgenommen. Kıs¸lal führte in der Türkei mehrere Interviews, die auch in die Inszenierung einflossen. Hier sprechen Einheimische über die äußerlichen Erkennungsmerkmale, die ihnen zufolge die „doyÅlender“ ausmachen. Wie auch in Deutschland oder Österreich scheint der Fokus der Bewohner_innen vor allem auf den Unterschieden und nicht auf den Gemeinsamkeiten zu liegen. Durch diese Markierungen, Ausgrenzungen, werden Kıs¸lals Protagonist_innen zu Heimatlosen. Kıs¸lal zeigt auf, wie durch Äußerlichkeiten das Anderssein konstruiert wird. Diese Markierungen machen sich auch in der Theater- und Filmszene bemerkbar. Die erfolgreiche Schauspielerin Sibel Kekilli (u. a. Darstellerin der Shae in Game of Thrones) erhielt zahlreiche Preise. Bei ihrer Dankesrede zum Deutschen Filmpreis 2004, bei dem sie eine goldene „Lola“ für ihre schauspielerische Leistung als weibliche Hauptrolle in Fatih Akins Spielfilm Gegen die Wand bekam, beklagte sie trotz des Erfolges mangelnde Rollenangebote und äußerte wiederholt den Wunsch „nicht auf das Rollenbild türkischstämmiger Charaktere festgelegt zu werden“.2 2 News.de, „Sibel Kikelli. Axel Milberg hat eine Neue“, 06. 08. 2010, http://www.news.de/tv/ 855068226/axel-milberg-hat-eine-neue/1/ [19. 07. 2016].

doyçlender: almanci. Zugehörigkeiten?

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Türken über „Deutschtürken“: Ausschnitte aus Interviews in der Türkei zeigen die zahlreichen Vorurteile gegenüber „doyÅlendern“ auf.

Im Theater machte Schauspielerin und Regisseurin Kıs¸lal ganz ähnliche Erfahrungen. In ihrer Theaterarbeit strebt sie an, die postmigrantische Gesellschaft als solche auch im Theater darzustellen. Diesem Gedanken entsprechend gründete sie 2013 diverCITYLAB, eine Schauspielakademie „[f]ür junge Schauspieler mit und ohne Migrationshintergrund“,3 denn bei uns im 21. Jahrhundert müsse „das Theater die Vielfalt unserer Gesellschaft spiegeln“.4 DiverCITYLAB versteht „acting“ als „reacting“, sieht sich also als Reaktion auf gesellschaftliche Veränderungen, die schon längst stattgefunden haben (und noch immer stattfinden). Die kostenlose Schauspielakademie soll „dem Gegenwartstheater ein neues, unserer postmigrantischen Gesellschaft angemessenes Gesicht geben, mit neuen Akteur_innen und neuen Theatermacher_innen“.5 Anders als bei „Integration“ wird mit „postmigrantisch“ nicht eine einzelne Gruppe als Randphänomen problematisiert und deren Eingliederung gefordert, sondern die Wirklichkeit einer modernen diversen Gesellschaft gilt als Tatsache. Über das Theater richtet Kıs¸lal die Aufmerksamkeit auf „die Realität vielfältiger Namen, Gesichter und Geschichten der Individuen, die diese Gesellschaften bilden“.6 Heimatsuche als Identitätssuche, als Suche nach gesellschaftlicher Akzep3 Valentine Auer, „Migrantentheater. Ein verdammtes Dilemma“, 29. 02. 2016, http:// www.wienerzeitung.at/themen_channel/integration/gesellschaft/803548_Ein-verdammtesDilemma.html [26. 06. 2016]. 4 DiverCITYLAB: DiverCITYLAB AKADEMIE, http://divercitylab.at/divercitylab-akademie/ [19. 07. 2016]. 5 DiverCITYLAB: DiverCITYLAB – PERFORMANCE- und THEATERlabor. http://divercitylab. at/ [19. 07. 2016]. 6 Ebd.

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Milena von Stosch

tanz? In Kıs¸lals Inszenierung doyÅlender : almanci geht es ähnlich wie auch in Fatih Akins Spielfilm Gegen die Wand um „verlorene Seelen“,7 um das Ausbrechen aus vorgegebenen Identitäten. Regisseur Fatih Akin sprach davon, dass in der Hauptrolle viele seiner eigenen „Sehnsüchte und Bedürfnisse, Normen zu durchbrechen, enthalten“8 seien. Sowohl in Gegen die Wand als auch in doyÅlender : almanci scheint die einzige Lösung für die Identitäts- bzw. Heimatsuche, das Ausbruchbedürfnis, zunächst die Rückkehr in die „ursprüngliche“ Heimat – in diesem Fall die Türkei – zu sein. Bei Gegen die Wand bleibt die Erfüllung des Wunsches offen, bei doyÅlender : almanci wird deutlich, dass auch hier die Suche nicht zu Ende ist. Das Bedürfnis nach eindeutiger Zugehörigkeit kann nicht befriedigt werden. Der gesellschaftliche Fokus auf Nationalidentitäten wirkt als Irritation. Kıs¸lals Produktionen geben diesen Konflikten bedeutenden Raum. Sie stellt vermeintlichen Gewissheiten wie Identitäten in Form von eindeutigen Nationalitätszugehörigkeiten „zerrissene“ Identitäten zur Seite, die genauso Teil der Wirklichkeit sind. Durch die Sichtbarmachung ermöglicht sie auch einen positiven Wandel. Eine postmigrantische Gesellschaft, deren Individuen nicht auf eindeutige Identitäten oder Nationalitäten reduziert werden, blitzt als Utopie in Inszenierungen von Kıs¸lal, aber auch bei manchen Rollenbestzungen im Fernsehen und Kino, auf. Sibel Kekilli verkörpert die Rolle der Sarah Brandt im Kieler Tatort und Schauspieler Elyas M’Barek spielt den deutschen Deutschlehrer in Fack ju Göhte. Diese Besetzungen zeigen, dass Kekilli und M’Barek nicht mehr auf Rollen mit Migrationshintergrund reduziert werden. Ich möchte das zum Anlass nehmen, dafür zu plädieren Zugehörigkeit, „Heimat“ und „Heimatgefühle“, nicht auf die Grenzen einer Nation oder eines Staatsgebietes zu beschränken. Seit rund 3.000 v. Chr. ziehen Nomadenvölker mit Jurten im Gepäck von Ort zu Ort. Diese traditionellen Wohnzelte lassen sich einfach auf- und abbauen und transportieren. Der Name der Jurte stammt von dem türkischen Wort „yurt“ für „Heim“. Wenn Nomaden in Zentralasien schon vor so langer Zeit derartig flexibel ihr Zuhause auf Kamelen mitnehmen konnten, sollten wir uns im 21. Jahrhundert – im Zeitalter von Autos, Zügen und Flugzeugen – bei unserem Verständnis von Zugehörigkeit, Heimat und Zuhause auch etwas mehr Flexibilität zumuten können.

7 Andrew Bailey, Cinema Now, Köln 2007, S. 28. 8 Ebd.

doyçlender: almanci. Zugehörigkeiten?

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Szene aus Aslı Kıs¸lals Theaterstück doyÅlender : almanci. Die beiden Protagonist_innen diskutieren über eine Auswanderung in die Türkei, während im Hintergrund ein „Rückkehrer“ zu sehen ist.

Jutta Doppelreiter

„Du hast die falschen Werte. Du darfst nicht hinein!“

Was ist eigentlich gemeint, wenn „Flüchtlingen“ „europäische Werte“ näher gebracht werden sollen, bevor sie integriert werden können? Wenn Außenminister Sebastian Kurz in österreichischen Medien wiederholt von europäischen Werten spricht? Gibt es diese überhaupt? Gibt es eine europäische Identität, die einem in Kursen beigebracht werden kann? Was passiert, wenn diese Werte erst einmal gelernt sind und mit einem Zertifikat bestätigt wurden, wird der oder die Geflüchtete dann tatsächlich als Mitglied einer Gesellschaft wahrgenommen und akzeptiert? Flucht und Migration sind als gesellschaftliche Kräfteverhältnisse zu sehen, die wir maßgeblich beeinflussen können. Wesentlich ist jedoch die Frage nach dem angesprochenen „Wir“. Wer ist unter diesem „Wir“ zu verstehen? Es braucht zivilgesellschaftliche Courage und Engagement. Diese können, wie im vergangenen Jahr bemerkbar wurde, starke positive Emotionen innerhalb der Bevölkerung hervorrufen. Bestes Beispiel waren die vielen zivilen Netzwerke, die im Sommer 2015 am Wiener Haupt- und Westbahnhof gebildet wurden, um die Geflüchteten bei ihrer Ankunft zu begrüßen und mit dem Nötigsten zu versorgen. Nicht zuletzt trug die österreichische Medienlandschaft einen großen Teil dazu bei, wie der Diskurs gerahmt wurde und welches Bild der gegenwärtigen Situation in den Köpfen vorherrschte. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist das staatliche „Wir“, die Infrastruktur, die es geben muss, um Integration zu ermöglichen. Menschen, die helfen wollen, eine Möglichkeit bieten, welche sie nicht an den Rand der Erschöpfung bringt. Rahmenbedingungen, die von staatlicher Seite hergestellt werden können, umfassen verschiedenste Aspekte. Es gibt unterschiedliche Herangehensweisen, um die Zahl der ankommenden Flüchtlinge zu kontrollieren. Die Tatsache, dass es in den Herkunftsländern teilweise unmöglich ist, ein Visum zu bekommen, oder sich einen Pass ausstellen zu lassen, führt schon vor Beginn einer möglichen Flucht zu einer starken Hierarchisierung. Denn wer sich die Flucht leisten kann und wer nicht, hängt nicht zuletzt von finanziellen Mitteln ab. Eine weitere Barriere ist der starke Gender Gap. Frauen und Kinder bleiben häufig in

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Jutta Doppelreiter

Nachbarstaaten der Kriegsgebiete hängen oder nehmen die beschwerliche Reise gar nicht erst auf sich. Es werden Zäune gebaut, Obergrenzen beschlossen und Gesetze verabschiedet, die Asyl nur auf Zeit gewähren. Diese Migrationsbarrieren stehen allerdings erst am Ende einer langen Reise. Zur Klärung des Begriffs des „Wir“ sollte erwähnt werden, dass Migration keine Einbahnstraße ist. In den letzten Jahrzehnten sind transnationale Räume und Netzwerke entstanden, die es Migrant_innen ermöglichen, zwischen ihren Herkunftsländern und den neuen Wohnorten hin und her zu reisen. Wo kann also ein Wertediskurs verortet werden? Können wir erwarten, dass sich Geflüchtete voll integrieren, Werte annehmen, alles Erdenkliche tun, um akzeptiert zu werden, wenn sie es schon rein rechtlich gar nicht schaffen können? Bevor man sich aber der Frage annimmt, wieso es besagte Kurse für Migrant_innen braucht, muss zunächst darüber nachgedacht werden, was es für Europäer_innen bedeuten kann, sich als solche zu identifizieren. Wie wichtig sind europäische Werte für Europäer_innen? Begreift man europa¨ ische Identita¨ t zuna¨ chst als politisches Projekt, stellt sich die Frage, ob es notwendig ist, Europa als eine Gruppe von Menschen zu begreifen, die sich als politische Einheit selbst regieren soll. Ulrike Liebert versteht in ihrem Text europa¨ ische Identita¨ t als ein Repertoire an Symbolen und Bedeutungen, die das Selbstversta¨ ndnis der europa¨ ischen Gesellschaften artikulieren.1 Dieser Ansatz ist meiner Meinung nach sinnvoll. In diesem Zusammenhang kann eine Debatte u¨ ber europäische Identita¨ ten nicht losgelo¨st von nationalen Kontexten erfolgen. Besonders wichtig erscheinen mir zwei viel diskutierte, zum Teil sehr unterschiedliche Perspektiven. Einmal diejenige, welche in einem Verfassungspatriotismus und demokratischer Konstitutionalisierung verankert ist und diejenige, welche eine kulturell definierte europa¨ ische Identita¨ t behauptet. Liebert veranschaulicht sowohl die kontra¨ ren Ausgangspunkte beider Perspektiven als auch die existierenden Gemeinsamkeiten. Wa¨ hrend der Verfassungspatriotismus aufbauend auf Habermas, Sternberger und Mu¨ ller eine „bewusste Bejahung politischer, demokratisch-konstitutioneller Prinzipien“2 als notwendig fu¨ r das Entstehen einer europa¨ ischen Identita¨ t sieht, gehen Verfechter_innen einer kulturellen, europa¨ ischen Identita¨ tspolitik davon aus, „dass sich im Ru¨ ckgriff auf die Antike universale Prinzipien und Normen fu¨ r die Identita¨ tsbegru¨ ndung Europas bestimmen“3 lassen. Dabei wird von einer europa¨ ischen Identita¨ t als Ergebnis einer Sozialisation durch europa¨ ische, symbolische Politik, Kultur- und Bildungspolitik ausgegangen. 1 Vgl. Ulrike Liebert, „Ist eine europa¨ ische Identita¨ t notwendig und mo¨ glich? Zur deutschen Debatte“, in: Thomas Meyer / Johanna Eisenberg (Hg.), Europa¨ ische Identita¨ t als Projekt. Innen- und Außenansichten, Wiesbaden 2009, S. 89–112. 2 Ebd., S. 99. 3 Ebd., S. 103.

„Du hast die falschen Werte. Du darfst nicht hinein!“

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Hiervon unterscheidet sich eine kulturell gepra¨ gte Perspektive. Man geht davon aus, dass nicht die Verfassung europa¨ ische Identita¨ t schafft, sondern eine bereits existierende Wertegemeinschaft. Eine europa¨ ische Identita¨ t braucht wahrscheinlich beide Positionen, um entstehen zu ko¨ nnen. Kulturelle Pra¨ gung und Sozialisation sind vorhandene Parameter, auf denen aufgebaut werden kann. Wie schon Foucault argumentiert, eine „Revolution von Außen“ gibt es nicht, da wir alle Teil eines Systems sind, in dem wir aufgewachsen und sozialisiert worden sind. Jedoch erscheint mir eine Besinnung auf eine Konstitution, in welcher Werte und Ideale geschaffen werden, sinnvoll, da dies die Mo¨ glichkeit bietet, eine europa¨ ische Identita¨ t zu gestalten und sie nicht ausschließlich aus bereits vorhandenen Traditionen und Wertesystemen zu stampfen. Eine Verbindung beider Perspektiven wu¨ rde auch bedeuten anzuerkennen, dass Konzepte von Identita¨ t nichts Statisches sind, sondern durch die Vera¨ nderungen der sie umgebenden Gesellschaft einem sta¨ ndigen Wandel unterliegen. Wenn dieser Aspekt gesamtgesellschaftlich anerkannt werden würde, könnte man den kulturellen Input, der durch Migration entsteht, als etwas Positives begreifen. Mir stellt sich eine weitere Frage, die nach den Adressat_innen bzw. Tra¨ ger_innen einer europa¨ ischen Identita¨ t. Denn die vorgestellten Konzepte erscheinen mir doch sehr theoretisch und an politischen Eliten orientiert und somit schwer auf europa¨ ische „Normalbu¨ rger_innen“ umlegbar. Die EU hat in Artikel 2 des Reformvertrags von Lissabon ihr Selbstverständnis wie folgt formuliert: Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte, einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.4

Angesichts der momentanen Situation ist festzustellen, dass sich die politischen Entscheidungsträger_innen nicht immer an ihre eigenen Grundwerte halten. Die Solidarität der Mitgliedsstaaten untereinander wird meines Empfindens momentan nicht priorisiert. Daraus resultiert, dass immer mehr Staaten den Grundsatz des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen nicht mehr so genau nehmen und dazu übergehen, gerade die Binnengrenzen, die es nicht geben sollte, verstärkt zu kontrollieren und zu schützen. Diese Situation verdeutlicht, dass es sich bei Werten um Übereinkünfte handelt, die nicht immer eingehalten werden. 4 Parlament der Republik Österreich, „Parlament erklärt. Grundwerte der EU“, http://www. parlament.gv.at/PERK/PE/EU/GrundwerteEU/ [12. 07. 2016].

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Die in Print-, Rundfunk-, und Onlinemedien viel diskutierten europäischen Werte werden begrifflich in verschiedensten Kontexten synonym verwendet. Dementsprechend schwierig ist ein Lösungsansatz zu beurteilen, der Wertekurse für Flüchtlinge vorschlägt. Denn woher kommen diese Werte? Wer entscheidet, was gelehrt wird? Wie wird ein Wertbegriff begreiflich gemacht? Und was soll am Ende eines solchen Wertekurses für die Teilnehmer_innen stehen? In einer offiziellen Aussendung des Bundesministeriums für Europa, Integration und Äußeres im Dezember 2015 wurde das Burgenland als Pilotbundesland für die angekündigten Wertekurse für Flüchtlinge vorgestellt. Integrationsminister Sebastian Kurz beschreibt den Zweck der Kurse wie folgt: Unser Ziel ist es Flüchtlingen, die langfristig in Österreich bleiben, mit diesen Workshops ein klares Bild von den Chancen und Regeln des Lebens in unserem Land zu geben. Dabei geht es um grundlegende Werte wie Demokratie, die Gleichberechtigung von Mann und Frau oder Meinungs- und Religionsfreiheit als zentrale Säulen unseres Zusammenlebens, die alle, die hier mit uns leben wollen, verstehen und akzeptieren müssen.5

In der Aussendung heißt es weiter, eine Arbeitsgruppe von Expert_innen sei dabei die Grundlage für diese Werte- und Orientierungsworkshops zu erarbeiten. Sie sollen Überblick über das Leben in Österreich, Normen des Zusammenlebens sowie wichtiges Alltagswissen zu Bildungssystem, Arbeitsmarkt oder ehrenamtlichem Engagement liefern. Unbestreitbare europäische Werte, wie sie immer wieder so selbstverständlich in den Diskurs eingebracht werden, gibt es aber tatsächlich so nicht. Denn es macht einen wesentlichen Unterschied, ob von den vertraglich festgeschriebenen Grundwerten der Europäischen Union gesprochen wird, oder einem nicht trennscharf beschreibbaren, kulturell beeinflussten Wertbegriff, der auch stark nationalstaatlich geprägt sein kann. Die zentralen Säulen, welche von Sebastian Kurz angesprochen werden, sind in Österreich respektive der EU noch keine gelebten Idealvorstellungen des Zusammenlebens. Denn innerhalb der EU sind Werte wie Meinungsfreiheit oder Gleichberechtigung nicht überall gelebte Realität. Außerdem sollte nicht davon ausgegangen werden, dass die zu integrierenden Personen Werte wie gegenseitigen Respekt, Demokratie oder Religionsfreiheit erst lernen müssen. Der Schlüssel zu funktionierender Integration, mit der meiner Meinung nach automatisch ein gemeinsamer Wertekanon verbunden ist, kann nur Kommunikation sein. Je eher Barrieren abgebaut werden und wir mit 5 Bundesministerium für Europa, Integration und Äußeres, „Integrationsminister Kurz und Integrationslandesrat Darabos: Burgenland als Pilotbundesland für Wertekurse für Flüchtlinge“, Pressemitteilung, 11. 12. 2015, https://www.bmeia.gv.at/das-ministerium/presse/aus sendungen/2015/12/integrationsminister-kurz-und-integrationslandesrat-darabos-burgen land-als-pilotbundesland-fuer-wertekurse-fuer-fluechtlinge/ [12. 07. 2016].

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Menschen aus anderen Kulturkreisen in einen Dialog treten, umso leichter wird es sein, diese von einem respektvollen Miteinander nach einem europäischen Modell zu überzeugen. Wenn das die angekündigten Wertekurse schaffen könnten, wäre das natürlich wünschenswert. In einer verschulten Form des wir sagen euch, wie ihr zu sein habt, damit ihr bei uns bleiben dürft kommt ein solcher Dialog auf Augenhöhe aber womöglich zu kurz. Ulrike Liebert führt in ihrem Resu¨ mee den Wunsch nach der Frage einer europa¨ ischen Identita¨ t an, die keineswegs innerhalb der Grenzen einzelner Mitgliedsstaaten vonstattengeht, sondern als grenzu¨ berschreitende, europaweite Debatte verhandelt werden sollte. Besonders ihr Abschluss gefa¨ llt mir, wenn sie sagt: „aber was za¨ hlt ist das ,doing Europe‘, das Aushandeln und Praktizieren integrativer Werte im Alltag europa¨ ischer Politik“.6 Ich wu¨ rde diesen Ansatz noch um die bereits angesprochenen EU-Bu¨ rger_innen erweitern, denn eine europa¨ ische Identita¨ t wird letztlich nicht nur von ihrer Politik getragen, sondern von den Menschen, fu¨ r welche diese Politik gemacht werden sollte. Erst wenn auch die neuen EU-Bürger_innen in das gelebte Miteinander eines „doing Europe“ miteinbezogen werden, kann eine echte Chance auf eine Identifikation mit einer europäischen Identität, wie immer sich diese auch ausdrückt, bestehen.

6 Liebert, „Ist eine europa¨ ische Identita¨ t notwendig und mo¨ glich?“, S. 108.

Romy Pauline Rinke

„Wir können euch nicht helfen, wir müssen euch doch spielen!“

„Wir können euch nicht helfen, wir müssen euch doch spielen!“, lauten die Worte in der Inszenierung des Regisseurs Nicolas Stemann von Die Schutzbefohlenen nach dem Text von Elfriede Jelinek. Stemann warnt vor falscher Betroffenheit oder einem vermeintlich richtigen Bewusstsein, das sich vorschnell einzurichten droht. Der richtige Umgang mit der aktuellen, akuten Situation scheint für viele ein anderer zu sein. Ich sah Stemanns Inszenierung im Hamburger Thalia Theater im Sommer letzten Jahres. Das Ende der Aufführung sorgte für Betroffenheitsstille, so anklagend wirkte der Theatertext auf sein Publikum. Nach einigen Minuten der Stille dann der Applaus. Applaus, Applaus, Applaus. Langsam gingen die Lichter im Zuschauersaal an, die Darsteller_innen, darunter „echte Flüchtlinge“, erhoben sich, verbeugten sich, wurden von einer emotional aufgebrachten, mitfühlenden Menschenmenge bejubelt. Der Applaus wurde ruhiger und die Ersten verließen den Theatersaal. Die Zuschauer_innen strömten langsam ins Foyer des Thalia Theaters, teils schweigend und nachdenklich, teils in Unterhaltungen eingebunden. Ich hörte übliche Gespräche über die Ästhetik des Stückes, wie bei jedem anderen Theaterstück auch. Doch auch über die Moral und den Sinn des Repräsentationstheaters wurde unüberhörbar angespannt gesprochen. Vom Foyer bewegten sich die Zuschauer_innen weiter vor die Türen des Theaters. Es war noch sehr warm und draußen herrschte eine leichte Sommerstimmung. Die Gesichter der Zuschauer_innen hatten sich bereits entspannt. Der abgeschlossene, zeitlose und dunkle Raum des Theaters warf die Zuschauer_innen aus dem realen Alltag, in den sie jetzt wieder zurückkehrte. Vom Bühneneingang des Hauses kamen einige der Geflüchteten, die circa zehn Minuten zuvor als Darsteller_innen auf der Bühne zu sehen gewesen waren. Schüchtern blickten sie in die Menge der Besucher_innen, hofften vielleicht auf Anschluss, Gespräche oder einfach Aufmerksamkeit. Viele bemerkten ihr Auftauchen, schienen nicht zu wissen, wie genau sie mit der Situation, der direkten Konfrontation ohne im „gesicherten“, „schützenden“ Theaterraum zu sein, umgehen sollten. Über ein behagliches Zulächeln als vermutliches Lob kam die Interaktion zwischen bei-

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den „Parteien“ nicht hinaus. Das gewollt kommunizierte Ziel im Umgang mit Schutzsuchenden nach Erleben des Stückes erfolgreich umzusetzen scheiterte. Zumindest bei den Individuen dieses Abends. Zeitgleich ist jedoch die Rede von der Repolitisierung des Theaters und dessen Wichtigkeit als Aufklärungs- und Handlungsinstrument. Ein Zitat des Philosophen Hans Blumenberg (1920–1996) über den „Schiffbruch des Zuschauers“, scheint an dieser Stelle besonders in den Kontext zu passen: „Ich habe gar nicht zu klagen. Etwa wie ein Mann, der einen festen Felsen hinab den Schiffbrüchigen zwar keine Hilfe zu bringen vermag, aber auch von der Brandung nicht erreicht werden kann, und nach irgendeinem Alten soll das sogar ein behagliches Gefühl sein.“1 Im dunkeln Zuschauerraum sitzend, über die Aktualitäten Bescheid wissend, fällt das Theater hier hinter der Wucht der Wirklichkeit weit zurück. Durch die Mittel des Theaters, die Sprache, die Gestik, die Kostüme und das Bühnenbild, ist es der Institution möglich, eine besondere Stimmung, eine Assoziation zu erzeugen, eine ästhetische Vision, die das Darzustellende mit detaillierten Mitteln in das akute Blickfeld der Gesellschaft rückt. Theater bringt Probleme unmittelbar näher und rückt sie ins öffentliche Geschehen. Gleichzeitig kann Realität im Theater durch seinen künstlichen Charakter in die Ferne rücken, da Zuschauer_innen mit gewissen Fiktionserwartungen zu Vorstellungen gehen. Die political correctness ist ein Muss, kann jedoch auch zum Hindernis werden, denn ein Theaterabend und die Beschäftigung mit dem dramatischen Text auf der Bühne hört für viele beim Verlassen des Gebäudes auf. Umso wichtiger ist es, den/die Zuschauer_in aktiv einzubinden. „[F]or any thing so overdone is from the purpose of playing, whose end, both at the first and now, was and is, to hold, as ’twere, the mirror up to nature; to show virtue her own feature, scorn her own image, and the very age and body of time his form and pressure“,2 sind bereits 1609 Shakespeares Worte. Verdeutlicht wird, Kunst halte der Gesellschaft den Spiegel vor und „[d]ie Schauspieler [seien] der Spiegel und die abgekürzte Chronik des Zeitalters“.3 Kunst, bzw. Theater, reagiert also auf gesellschaftliche Realitäten und Änderungen. Mit dem Theaterbesuch kann ausschließlich sensibilisiert werden, bzw. auf eine Aktualität aufmerksam gemacht werden. Mit theatralen Mitteln zeichnet es hier unterschiedliche Bilder von dem, was Gesellschaft in Zeiten der Migration sein kann. Theatermacher_innen und Aktivist_innen, wie beispielsweise die Gruppe Die schweigende Mehrheit aus Wien, sorgen mit der Zusammenarbeit zwischen Flüchtlingen, Theaterschaffenden und hilfsbereiten Freiwilligen für mehr als 1 Eugen Korn, Goethes Gespräche, Stuttgart 1909, S. 18. 2 Anthony B. Dawson, Hamlet, Manchester 1995, Akt III, Szene 2, S. 20–26. 3 Johann Friedrich Unger, Shakespeares dramatische Werke, Bd. 3, Berlin 1789, S. 43.

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einen gelungenen Theaterbesuch. Sie stellen in Frage, wer Subjekt ist und wer für wen spricht. Auch von ihnen wurde Jelineks Stück Die Schutzbefohlenen inszeniert, auch hier wirkten auf der Bühne Flüchtlinge mit. Anders jedoch als beim Thalia Theater gab es die unmittelbare Möglichkeit, sich noch im Zuschauerraum mit der akuten Lage der Schutzsuchenden auseinanderzusetzen. Es finden direkte Gespräche statt, es werden Helfer_innen und Paten vermittelt, es wird über die genaue örtliche Situation aufgeklärt, es werden Spenden gesammelt. Fraglich ist schlussendlich dabei nur : Ist es hilfreich für eine_n Geflüchtete_n, Abend für Abend vom persönlichen Leidensweg zu erzählen und jeden Tag Fragen der häufig ungenügend informierten Zuschauer_innen zu beantworten? Ja! Einerseits, weil Netzwerke ausgebaut, Helfer_innen aktiviert werden und „Integration“ bzw. eine Einbindung in unsere Gesellschaft kann stattfinden. Für wen und ob es überhaupt hilfreich ist, mit Geflüchteten Theater zu machen, dessen Inhalte auf ihren persönlichen Geschichten basieren, bleibt dabei noch offen. Trotzdem findet hier eine Politisierung von Kunstschaffenden statt, zwischen politischer Inszenierung und theatralem Aktivismus, auch über die Grenzen des Theaters hinweg. Kunst und Realität vermischen sich. Mehr als deutlich wurde diese Verschmelzung von Schauspiel und Wirklichkeit bei der Vorstellung dieser Theatergruppe am 14. April 2016 diesen Jahres im Audimax der Universität Wien. Eine Gruppe junger rechtsextremer „Identitärer“ (nach eigener Namensgebung) stürmte während der Aufführung die Bühne, riss ein Banner mit der Aufschrift „Heuchler“ in die Höhe, spritze mit Kunstblut um sich und warf Flyer, auf denen „Multikulti tötet“ zu lesen war, in das Publikum. Gerade durch diesen Vorfall wird deutlich, wie Theater als Plattform für Politikund Gesellschaftskritik genutzt werden kann und von der Öffentlichkeit aufgenommen wird, bzw. Öffentlichkeit herstellen kann. Hierbei wurde die Aufführung der Theaterschaffenden von Seiten der rechtsextremen politischen Gruppe als Angriff, bzw. als Gefahr für das öffentliche Leben angesehen, das Sichtbarmachen einer vorherrschenden, realen Lage als Gefahr betrachtet. Um auf ein Theaterschaffen mit Flüchtenden zurückzukommen, möchte ich die Schauspielerin und Regisseurin Aslı Kıs¸lal erwähnen. Sie spricht in diesem Zusammenhang von einer Instrumentalisierung von Opfergeschichten. Die in der Türkei geborene Schauspielerin wollte in ihrer Karriere nichts lieber, als als Schauspielerin angesehen zu werden, das heißt je nach Rolle eine andere Person verkörpern zu können. Lange Zeit und noch heute bedauert sie, sie würde vorrangig für die Rolle der südländischen Migrantin, der muslimischen Frau oder der schönen Türkin eingesetzt werden. Jedoch strebt wohl ein_e jede_r Schauspieler_in, egal welcher Herkunft oder Glaubensrichtung, danach, nach individuellem Talent eingesetzt zu werden. Nun bleiben die Darsteller_innen in Inszenierungen von Flüchtlingstragödien nicht immer die Flüchtlinge? Wahrscheinlich, jedoch kann man nicht davon ausgehen, jede_r auf einer Bühne

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Romy Pauline Rinke

gezeigte Flüchtende sei ein_e Schauspieler_in. Und auch ist zu beachten, dass die vom Theater hergestellte Öffentlichkeit zwar Probleme sichtbar macht, diese eine reale Situation jedoch zum Kippen bringen kann – wie es im April im Audimax passierte. Gerade durch diesen Vorfall lässt sich Kunst, in diesem Falle das Theater, als Grenzgänger zwischen Kunst, Unterhaltung und politischer Diskussion verstehen. Außerdem sollte es als Plattform der Öffentlichkeit verstanden und aufgenommen werden, um komplexe Zusammenhänge verständlich zu machen. Trotz der Kritik gegenüber Rezipient_innen und Theatermacher_innen: ob Aktionen oder Geschichten über Flüchtlinge im Theater, jedes Mittel sollte dazu genutzt werden, gegen eine offenbar immer noch rassistische und menschenfeindliche Haltung in Deutschland oder Österreich anzugehen. Nach wie vor fehlt es wohl Menschen an Wissen, was flüchtende Menschen dazu bewegt, alles zurückzulassen und ihr Leben zu riskieren, um hier anzukommen. Nach den aktuellen Vorfällen im Audimax zu urteilen wird besonders deutlich, mit welcher Kraft und welchem Einfluss sich das Theater in der Gesellschaft positioniert. Es wird als Mittel der freien und realen Meinungsäußerung genutzt und als politische Plattform und Ort des Zusammentreffens anerkannt.

Martha Höschel

„Der fremdes Unglück sucht, wird eigenes finden.“ (Lucius Annaeus Senecio)

Vor dem Hintergrund der aktuellen Debatte um Flucht und Migration ist es unvermeidlich geworden, sich als Einzelne von der Problematik abzugrenzen. Täglich begegnen wir einer medial vermittelten Wirklichkeit, Nachrichten, die unsere Stellungnahme zu oder Dekonstruktion von Begriffen wie Identität und Differenz erfordern. Die Frage, ob wir uns als postmoderne Gesellschaft homogen oder im Zeitalter der Globalisierung als eine transnationale definieren, bleibt unmittelbar, eine noch zu entscheidende. Wo rührt die Angst vor dem Fremden her? – Und: Woher diese Angst in Europa vor der Veränderung einer Gesellschaft durch Zuwanderung, der Bedrängung der Kultur, insbesondere durch „islamischen Terrorismus“? Beim gegenwärtigen Anstieg von Nationalismus und Abgrenzung liegt es nahe von Zuständen kollektiver Hysterie zu sprechen. Die heutige Situation mag zunächst außergewöhnlich erscheinen, macht aber aufmerksam auf Rhythmen und Stoffe, die sich in der Geschichte wiederholen. Laut Alexander Kluge ist die Wirklichkeit vielschichtig: Auf der einen Seite befinde sich „das Reale“, die objektive Wirklichkeit, auf der anderen Seite sei die Wirklichkeit stets eine Erfindung.1 „Realität“ wird erzählt weitergegeben. Wir Menschen sind an Erzählungen gebunden, wir sind „fiktionsbedürftig“. Die Fähigkeit, Realität mithilfe der Erzählung, mit der Poesie und der Dramatik zu verbreiten, scheint jedoch verloren gegangen zu sein. Wir separieren den Begriff der Erzählung von Information und Wahrheit, doch war sie lange Zeit die entscheidende Form zur Vermittlung von aktuellen Themen. – Der Minnesänger hebt an und „berichtet“. Wurde vor etwa 350 Jahren ein Barockdrama unmittelbar als Fiktion rezipiert? Nach Kluge liegt die Kunst des Erzählens darin, alles Wahrgenommene aus der Wirklichkeit „ein kleines bisschen illusionistisch abzufälschen“.2 Das 1 Alexander Kluge, Theorie der Erzählung. Frankfurter Poetikvorlesungen 2012, DVD, 360 min., DE 2013, 12:45–13:24. 2 Ebd., 30:00–31:10.

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habe schon bei der Transkriptionsarbeit begonnen, wenn Mönche ihnen heilige Texte bei den Abschriften veränderten. Heute machen es Menschen mit ihren Erfahrungen. Erzählen sie von ihren Erfahrungen, generieren sie auch neue Wirklichkeiten. Gryphius’ Trauerspiel Catharina von Georgien oder bewehrete Beständigkeit aus dem Jahr 1657 stellt zwei Kulturen gegenüber : Auf der einen Seite ein konstruiertes Selbstbild Europas, auf der anderen Seite ein oppositionelles Fremd- beziehungsweise Feindbild: Kleinasien. Dieses Imago von Osmanen war zu Gryphius’ Zeit kein neues, sondern findet sich, wie die Theaterwissenschaftlerin Elke Krafka betont, bereits in einem Werk des tschechischen Bildhauers und Zeitgenossen Gryphius’, Ferdinand Brokoff (1688–1731), der Figurengruppe der Statue auf der Karlsbrücke in Prag wieder.3 Links unten steht ein Osmane vor dem Gefängnisgitter, der die eingesperrten, gemarterten Christen, die auf Befreiung hoffen, bewacht, während die Rettung in Gestalt der christlichen Heiligen (Felix und Johannes von Matha), zusammen mit dem Heiligen Iwan im oberen Teil der Statue situiert ist. Doch wir sehen nicht nur Figuren und Ereignisse, sondern können nicht anders, als in dieser Darstellung eine „Andersheit“ und „Differenz“ zu lesen. Was „sagt“ das Bild über Religion und kulturelle Identität, insofern mit jedem Bild neben dem Ereignis auch eine Botschaft transportiert wird, welche Stuart Hall „Konnotation“ oder Roland Barthes eine „Meta-Botschaft“ beziehungsweise einen „Mythos“ nennt? Die Figurengruppe trägt auch die Konstruktion eines Feindbildes mit Bedrohungspotenzial in der Gestalt des Osmanen. Im Lichte der bevorzugten Bedeutung der Figur als gewalttätiger, aggressiv-cholerischer Schah,4 verändert sich bei dem_der Betrachter_in auch die Bedeutung bezüglich einer ganzen Gruppe oder einer Ethnie. In Gryphius’ Drama ist das entscheidende Moment, wie Krafka betont, die Gegenüberstellung Europas und Persiens anhand des religiösen Konfliktes zwischen Christentum und Islam.5 Festzuhalten bleibt, dass Gryphius’ dargestellte Wirklichkeit, das islamische Bedrohungspotenzial, rein imaginär, eben jene (von Kluge beschriebene) „illusionistische Abfälschung“ ist – Gryphius’ (propagierte) Angst ist diffus, denn sein Drama vermittelt überhaupt kein fundiertes Wissen über die Glaubensinhalte des Islam. Angst ist manipulierbar und das Trauerspiel Catharina von Georgien verdeutlicht, wie Islamophobie durch Fiktion gefestigt wird. Gryphius griff eine Meinung aus seinem Alltag auf, übernahm unhinterfragt bestimmte 3 Vgl. Abb. 3 und 4 in Elke Krafkas Text „Europäische Islamfeindlichkeit. Theater als Spiegel propagierter Ängste“ in diesem Band, S. 442. 4 Um 1650 von Gryphius „erfunden“, finden sich jene Figurenbeschreibungen auch 130 Jahre später in Wolfgang Amadeus Mozarts Opern Said und Die Entführung aus dem Serail wieder. 5 Darüber hinaus werden die Geschlechter, Frau-Mann, sowie die Herrschaftsform der europäischen Königin versus der des persischen Schahs gegenübergestellt.

„Der fremdes Unglück sucht, wird eigenes finden.“ (Lucius Annaeus Senecio)

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Denkmuster und setzte sie in eine dramatische Form. Zur Barockzeit werden stereotype Vorstellungen vom Osmanen mithilfe des Theaters genauso effektiv evoziert wie heute ein „islamischer Terrorismus“ mithilfe von Bildern in den Massenmedien. Stereotype scheinen im Denken verwurzelt zu sein und sind nach Hall eine der wesentlichen Repräsentationspraktiken von Kultur. Er schreibt: „culture is about shared meanings […] and meaning is produced and exchanged“.6 Es geht nicht um die Frage: „Was ist Kultur?“, stattdessen gilt es zu beobachten, wer sich das Recht nimmt, die Antwort zu geben, also wessen Meinung repräsentiert wird, oder weitergehend; wer die Hegemonie in der Gesellschaft hat. Identität bleibt etwas Konstruiertes und ist stets veränderbar. Doch warum bedeutet eine Abgrenzung der eigenen Kultur von der fremden immer auch eine (Ab-)Wertung? Warum denken wir in Binaritäten über das „Eigene“ und „Fremde“? Hall begründet in seinem Aufsatz ,The Spectacle of the Other‘, dass nur durch ein Bild vom „Anderen“ eine Differenz konstruiert wird und damit eine Festigung von Kultur überhaupt möglich macht. Auch der linguistische Ansatz der Cultural Studies um Ferdinand de Saussure geht davon aus, dass ein Denken in Binaritäten unvermeidlich sei, um ex negativo ein Selbstbild zu konstruieren.7 Ebenso wird in der Sprachtheorie mit Mikhail Bakhtins Konzept der Dialogizität deutlich, „that we need ,difference‘ because we can only construct meaning through a dialoge [sic!] with the ,Other‘“.8 Auch eine anthropologische Erklärung von Levi-Srauss geht dahin, dass „Kultur darauf basiert […] Differenz kenntlich zu machen“, zu „klassifizieren“.9 Hall kommt zu der Erkenntnis, dass Differenz immer ambivalent und gefährlich ist: „It can be both, positive and negative. It is both necessary for the production of meaning, the formation of language and culture, for social identities and a subjective sense of the self“.10 Das Gefährliche besteht darin, wie mit Differenzen umgegangen wird, wie sie, sobald durch Bilder oder Sprache verbreitet, von Einzelnen und von der Mehrheit interpretiert werden. Denn kulturbildende Differenzen bergen gleichermaßen die Gefahr eines fließenden Übergangs zu Diskriminierung und „Rassisierung des ,Anderen‘“.11 Es ist unsere Aufgabe, als vernünftige und aufgeklärte Menschen, richtig beziehungsweise verantwortungsbewusst mit Differenzen umzugehen, uns im Klaren darüber zu sein, dass Kultur etwas ist, das Bedeutung erst (er-)schafft. Gesetzt den 6 Stuart Hall, Representation. Cultural Representations and Signifying Practices, London 2010, S. 1. 7 Vgl. ebd., S. 234f. 8 Ebd., S. 235. 9 Ebd., S. 236. 10 Ebd. 11 Ebd., S. 239.

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Martha Höschel

Fall, dass wir „Andersheit“ brauchen, um unser Selbstbild zu festigen, müssen wir uns fragen, ob mit „Andersheit“ auch Minderwertigkeit unterstellt und eine Wertung, bis hin zur „Inkarnation“ des Bösen verzerrt, vollzogen werden muss. Ich habe Gryphius’ Drama als historisches Dokument gelesen, in welchem Fiktion eine wichtige Rolle spielte und in dem dieselben stereotypen Bilder vorherrschen, die noch heute in unserem Denken verankert sind. Es gibt keine Erzählung ohne Subtext: Hier liest man hinter der Anschuldigung des Bösen im Osmanen einen Hinweis auf interne Konflikte des Christentums (die Hussitenkriege im 15. Jahrhundert, Kreuzzüge und Christianisierungen, Martin Luther und die Reformation sowie der 30-jährige Krieg als Glaubenskrieg zwischen Katholik_innen und Protestant_innen) heraus. Krafkas These, dass Gryphius, um von der Zerrissenheit und den internen Problemen des Christentums abzulenken, „Andersheit“ in einer anderen Religion suchte und Differenz auf religiöser Ebene inszenierte, ist glaubwürdig. Das Theater als Medium stellte das „Fremde“, „Exotische“ ebenso zur Schau wie es als Projektionsfläche für die Konstruktion eines Feindes diente. Dass dieses Feindbild mit einer ganzen Religion, dem Islam, zusammentraf, führt uns eine unbestreitbare Aktualität vor Augen. Wer kennt noch das Sprichwort: „Dem Fremden soll man die Ehre lassen“?

Corinne Besenius

We are all the same, we can grow together if we want

Wie leben wir eigentlich? Worauf basiert unser Wohlstand? Und worauf unsere vermeintlichen Werte? Inwiefern ist der globalisierte Kapitalismus eine Fortschreibung kolonialer Verhältnisse und jahrhundertelanger Ausbeutung? Warum macht man in dieser globalisierten Welt die Grenzen für Waren und Geld immer durchlässiger, für Menschen aber immer enger?1

Vor ein paar Wochen habe ich mir die dokumentarfotografische Ausstellung „Family of Man“ im Schloss von Clervaux in Luxemburg angesehen. 1955 versammelte der prominente Fotograf und ehemalige Leiter der Fotografieabteilung des Museum of Modern Art New York, Edward Steichen (1879–1973) 503 Fotografien von 273 Fotograf_innen aus 68 Ländern um die Themen „Menschheit“ und „Leben“. Dabei verfolgte Steichen das Konzept, der Devastierung der Welt diese Sammlung an Bildern als Abbild von Menschsein entgegenzusetzen. Fotografierte er im 2. Weltkrieg noch die Schlachtfelder, um die Grausamkeit von Krieg sichtbar zu machen, so bemerkte er, in den Nachkriegsjahren, wie unberührt Menschen vom Grauen blieben. Mit dieser Ausstellung, deren Objekte das menschliche Leben von Geburt bis zum Tod in 35 Stationen dokumentieren, appellierte er an die Rückbesinnung auf „Menschlichkeit“. Steichen wies auf die Gemeinsamkeiten verschiedener Kulturen hin. Diese „exhibition you see with your heart“, wie er es bezeichnet, benötigt keine Interpretation, es ist eine Ausstellung über alle Menschen für alle Menschen. Die USIA (United States Information Agency) zeigte diese Ausstellung in den folgenden Jahren des kalten Kriegs an mehr als 150 Orten in der westlichen Welt. Gegenwärtig frage ich mich, inwiefern wir uns seit der Eröffnung dieser Ausstellung verändert haben. Diese Gegenwart zeichnet sich durch das spürbare Auseinanderbrechen von vertrauten Strukturen: Brexit, massiver Zuwachs rechtspopulistischer Parteien, beispielsweise der AfD (Alternative für Deutschland) in Deutschland oder ähnlich positionierter Parteien in anderen europä1 O. A., „Theater ohne Grenzen. Menschenrechte für alle?“, ein Gespräch mit Amelie Deuflhard und Nicolas Stemann, in: Theater heute 2/2015, S. 21–25, hier S. 21.

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ischen Ländern, die Wähler_innen anziehen, wie man auch anhand der Bundespräsidentschaftswahlen in Österreich sehen kann. In den U.S.A. etwa will ein rücksichtsloser Unternehmer als Präsidentschaftskandidat seine Macht demonstrieren, indem er öffentlich Menschen aufgrund ihrer Zugehörigkeit, sei es Herkunft, Religion oder Geschlecht demütigt. Ob Edward Steichens Botschaft uns jemals erreicht hat oder wir sie vielleicht doch schon wieder vergessen haben? Stehen wir noch immer vor genau denselben „Hürden“ wie damals vor 60 Jahren? An vielen Orten der Welt müssen Menschen aus ihrer Heimat flüchten, aber wissen nicht wohin, sind ohne Zugehörigkeit. Alleine im Jahr 2014 waren 59,5 Millionen Menschen auf der Flucht,2 davon 14,4 Millionen neu Vertriebene und etwa 714.000 Asylsuchende, die Europa erreichten.3 Diejenigen, die die Möglichkeit haben, bis an die Grenzen Europas zu gelangen, stehen mittlerweile erneut vor Zäunen und Mauern, werden in Lager einquartiert und müssen warten. Die, die ihr Ziel erreichen, stehen vor den Problemen der Integration. Der Publizist Mark Terkessidis warnte bereits um 2000 vor dem europäischen Umgang mit der Wirklichkeit der Einwanderungsgesellschaft. Er entlarvte die Rede von „Integration“ als sinnentleerte Geste. Denn nicht die Gleichheit der Menschen bilde die Basis, sondern die Vorstellung eines einheimischen „Wir“, an das sich „Zuwanderer_innen“ anpassen sollen. Integration werde also gleichgesetzt mit einer von der Mehrheitsgesellschaft formulierten Norm, die anzunehmen ist. Dieses Denken geht davon aus, dass Migrant_innen „Defizite“ haben, nicht der Norm entsprechen. Müssen wir uns aber nicht eher fragen, was unsere „Norm“ ist, die wir den Migrant_innen abverlangen wollen: etwa ein „Stammtisch“-Verhalten für die Neuankömmlinge und Anwerter_innen auf die Nationalität? Doch Nationalität ist ein Konstrukt, das als vermeintlicher Schutz vor einer als zu groß stilisierten, globalisierten Welt dient, um künstlichen Zusammenhalt zu erzeugen. So wird beispielsweise bei Sportveranstaltungen von Teilnehmer_innen mit Migrationshintergrund gefordert, dass sie die Nationalhymne besonders laut mitsingen. Woher nehmen sich „gewisse Politiker“4 das Recht über den Integrationsstatus einzelner Mitbürger_innen anhand ihres scheinbar 2 UNHCR, UNHCR Statistical Yearbook 2014, 14th edition. http://www.unhcr.org/pages/ 4a02afce6.html [20. 06. 2016], S. 27. 3 Pro Asyl, Asyl in Zahlen 2014, https://www.proasyl.de/hintergrund/fakten-und-zahlen-2014/ [20. 06. 2016]. 4 Anspielung auf Herrn Gaulands Aussage über J8rime Boateng: „Ich habe […] mich an keiner Stelle über Herrn Boateng geäußert, dessen gelungene Integration und christliches Glaubensbekenntnis mir aus Berichten über ihn bekannt sind“, Wehner Markus / Lohse Eckart, „Gauland beleidigt Boateng“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29. 05. 2016, http://www.faz. net/aktuell/politik/inland/afd-vize-gauland-beleidigt-jerome-boateng-14257743.html [20. 06. 2016].

We are all the same, we can grow together if we want

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von der Norm abweichenden Aussehens zu urteilen, wenn die Frage nach Integration überflüssig ist? Sie sind in eben diesem Land geboren, aufgewachsen, ausgebildet und leben da.5 Es existieren aber auch Staaten, die eine „doppelte Nationalität“ erlauben. Inwiefern ist es dann noch notwendig, von Zugehörigkeiten zu sprechen, ist es überhaupt notwendig eine Nationalitätenbestimmung durchzuführen? In den letzten Jahrhunderten haben sich das Aussehen und die Grenzen Europas und damit der ganzen Welt verändert, Machtverhältnisse verschoben, ausgeweitet oder gerade ins Gegenteil verkehrt. „Ursprüngliche Herkunft“ ist zumeist nicht sichtbar, Spuren verlieren sich. Auch Familiennamen geben uns teilweise keine Angaben mehr darüber, da sie den Sprachen der eingefallenen Mächte angepasst wurden. Was bleibt, sind Familiengeschichten und -bilder, wie die von Steichen dokumentierten visuellen Erinnerungen. Er selbst wanderte von Luxemburg in die U.S.A. aus, behielt seinen Familienamen. Viele andere lateinisch- oder französischklingende Namen der in Luxemburg ausharrenden Familien wurden beispielsweise im 2. Weltkrieg germanisiert. Bertolt Brecht sagte: „Immer schreibt der Sieger die Geschichten der Besiegten“. Geschichte existiert meistens in Form von Nationalgeschichtsschreibung oder mit Blick auf das „große Ganze“. Es gibt nicht „die eine Geschichte“, genauso wenig besitzt eine eurozentristische oder westliche Sicht auf die Welt allgemeine Gültigkeit. Alle Geschichten sind gleichwertig. Geschichtsschreibung ist ein Ereignis, ein Teilnahme an den Prozessen, kein Spiegel. Alternativ zum Konzept der Integration diskutierte Terkessidis „Interkultur“. Ein Konzept des „in-between“, eine „Poetik der Beziehung“, „ein Prinzip für die gesamte Gesellschaft“ – eine „Querschnittsaufgabe“.6 Gerade weil Kunst und Kultur in allen Staaten maßgeblich zum „nation-building“ beigetragen haben, muss in der Migrationsgesellschaft der Kulturbereich zu einem notwendigen Schauplatz für transkulturelle Öffnung werden. Es ist die Aufgabe des Theaters in der gegenwärtigen Gesellschaft, politisch zu sein, als soziale Anstalt zu dienen. Die Anforderungen, mit denen sich das europäische Literaturtheater neu konfrontiert sieht, sind nicht mehr die eines Musentempels, sondern zunehmend die von soziokulturellen Zentren in der Mitte von sozial und kulturell divergierenden Stadtgesellschaften. Allerdings fällt es dem Kunsttheater hierzulande schwer, eine angemessene Darstellungspraxis zu finden. Was bleibt sind Fragen: Warum haben wir trotz jahrzehntelanger multikultureller, postkolonialer und postmigrantischer Diskussionen keine adäquaten Darstellungsweisen gefun5 Vgl. Sebastian Fischer, „AfD-Vize Gauland über Boateng. Ein bösartiger Satz“, Spiegel Online, 29. 05. 2016, http://www.spiegel.de/politik/deutschland/kommentar-zu-afd-vize-gauland-ge gen-nationalspieler-boateng-a-1094736.html [20. 06. 2016]. 6 Barbara Mundel / Josef Mackert, „Das Prinzip für die ganze Gesellschaft“, in: Theater heute 8/ 9 2010, S. 38–43, hier S. 38ff.

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Corinne Besenius

den?7 Warum führt Theater über Flucht, Theater mit Geflüchteten das Kunsttheater an seine Grenzen? Warum bleiben Konzepte wie „Family of Man“ Utopie?

7 Vgl. Julius Heinicke, „Wie geht Darstellung ohne Zurschaustellung? Flüchtlingstheater in Südafrika und Deutschland“, in: Theater heute 2/2015, S. 27–31, hier S. 27.

Youngmi Kim

Theater an der Schnittstelle von Gesellschaft und Kunst

Die Frage, wie die Geflüchteten in Europa aufgenommen werden sollen und was der beste Weg für ein friedliches Zusammenleben ist, bildet in der heutigen Zeit eine der meist diskutierten Problematiken und ist auch in den nicht-europäischen Ländern von einer großen Aktualität gekennzeichnet. Stimmen, die die Schutzsuchenden und ihre Integration als wenig zukunftsweisend für die Bevölkerung betrachten und deshalb ablehnen, werden als unmenschlich und engstirnig wahrgenommen, von jenen, die sich selbst als Teil einer globalen Welt sehen. Doch wie ist es möglich, den von Vorurteil und diffusen Ängsten geleiteten Meinungen einen anderen Blickwinkel zu eröffnen? Dieser Vorgang ist nicht einfach zu gestalten, entsprechend der Komplexität des Gegenstandes. Beide Seiten müssten sowohl vorurteilsfrei als auch wissbegierig sein, um den Standpunkt der jeweils anderen zu verstehen. Die Gegenwart der Subalternen von Hito Steyerl und auch die Einleitung im Buch Can the subaltern speak? von Gayatry Chakravorty Spivak stellen in diesem Zusammenhang interessante Bezüge her.1 Der Film Tout va bien von Jean Luc Godard und Jean-Pierre Gorin (1972) präsentiert ein Interview, das die Aufmerksamkeit auf die unglückliche Lage der Arbeiter_innen lenken soll. Aber selbst die Betroffenen bleiben skeptisch und lieber sprachlos, weil sie nicht glauben, dass ihre Worte einen Einfluss auf die Außenstehenden auszuüben vermögen. Menschen werden nur das hören, was ihren Erwartungen entspricht. Es ist klar, dass diese Situation einen Teil der fiktiven Erzählung darstellt, und sie ist größtenteils durch die Vorstellungskraft der Filmemacher entstanden. In diesem Kontext macht Steyerl deutlich, dass die Interpretation einer Sachlage stark von der jeweiligen Person abhängt, die ihr Urteil aufgrund ihrer Lebenserfahrungen und sozialen Tendenzen fällt. Mit anderen Worten: Die vollkommene Objektivität beim Entscheidungsverfahren gibt es nicht. Denn Menschen

1 Vgl. Hito Steyerl, „Die Gegenwart der Subalternen“, in: Gayatry Chakravorty Spivak (Hg.), Can the Subaltern speak?, Wien: Turia+Kant 2008, S. 5–16.

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Youngmi Kim

können nun einmal ihre persönlichen Meinungen, selbst bei Analyse und Reflexion spezifischer Fakten, nicht vollständig in den Hintergrund rücken. Auch in meinem Umfeld nehme ich immer wieder Meinungen von Menschen zur Kenntnis, die weltgewandt und offen zu sein scheinen, doch einseitig und verkürzt, ja hochaggressiv argumentieren. Dabei ist ihnen die Sachlage unbekannt, sie wissen beispielsweise nicht einmal annähernd, wie ein Asylverfahren verläuft, ebenso wenig ist ihnen bewusst, warum junge Männer ihre Heimat lieber verlassen als sie „umzuformen“ oder wieder aufzubauen. Die Fähigkeit, Mitgefühl für andere Menschen zu empfinden und sich in die Lage Unbekannter zu versetzen, ist sicherlich keine leicht zu erwerbende Fähigkeit. Die darstellenden Künste allerdings können hier einen wichtigen Beitrag leisten, empathisches Empfinden fördern, um so Vorurteilen entgegenzuwirken. In Menschenrechte für alle? sagt der Regisseur Nicholas Stemann in einem Interview: „Also eine Frau kann Faust spielen, eine Japanerin kann Mackie Messer spielen, Franz Moor kann vier Schauspieler sein“.2 Für Stemann gibt es also keine Grenzen, wenn es um den Ausdruck von Gefühlen geht: Solch ein Ausdruck ist nur möglich, wenn ein individueller Zugang zum Innenleben des „anderen“ Menschen gefunden wird, , wenn die Akteure_innen in der Lage sind sich in die Situation der „anderen“ hineinzuversetzen. Dieser Gedankengang führt zu dem Schluss, dass das Publikum, trotz der großen Abweichungen, zwischen ihrem Leben und der Lage von Geflüchteten dazu geleitet werden kann, sich mit ihnen zu identifizieren. An dieser Stelle wird die gesellschaftliche Rolle von Theater evident: Akteur_innen, die spezifische, unangenehme und verleugnete Aspekte aus der Realität herausnehmen und sie auf der Bühne verkörpern, können durch ihre Performance Empathie erzeugen, Lebensrealitäten und Verhältnisse erkennbar machen , die zuvor „fremd“ erschienen waren. Vor ein paar Jahren besuchte ich eine Sommeruniversität in den USA. Eines der Fächer, die ich damals belegte, war Applied Theatre and Drama Therapy. Ich interessierte mich für diesen Wissensbereich, weil mich sowohl die klassischen Theatertheorien als auch die Rolle des Theaters als Schnittstelle zwischen Fiktion und Wirklichkeit faszinierte. In einem der Lehrbücher fand ich ins Englische übersetzte Auszüge aus Bertolt Brechts Kleines Organon für das Theater If we ensure that our characters on the stage are moved by social impulses and that these differ according to the period, then we make it harder for our spectator to identify himself with them. He cannot simply feel: that’s how I would act, but at most can say : if I had lived under those circumstances. And if we play works dealing with our own time

2 Interviewgespräch zwischen Regisseur Nicholas Stemann und Amelie Deuflhard „Menschenrechte für alle“, in: Theater heute, 02/2015.

Theater an der Schnittstelle von Gesellschaft und Kunst

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as though they were historical, then perhaps the circumstances under which he himself acts will strike him as equally odd; and this is where the critical attitude begins.3

Nach diesen Zeilen war mir bewusst, wie aktuell sich seine Gedanken mit unserer Gegenwart verknüpfen lassen: Menschen neigen offenbar dazu ein komplexes Bild nicht wahrnehmen zu können oder zu wollen, um sich nicht von ihren Vorurteilen befreien zu müssen. Das Theater allerdings könnte hier bereichernd eine neue Perspektive eröffnen. Die Grenzen zwischen Öffentlichkeit und persönlichen Empfindungen verblassen zwangsläufig, indem die individuellen Erlebnisse so erzählt werden, dass sie den gemeinsamen Nenner zwischen den Betroffenen und Menschen, die ihnen fremd schienen, sichtbar machen. Es ist interessant zu beobachten, dass das Wort Grenze in vieler Hinsicht in den Mittelpunkt gerückt wird, wenn über die Existenz von Geflüchteten diskutiert wird: Wie vorhin schon erwähnt, ist diese Überschreitung der Grenzen sowohl im Alltagsleben als auch im Theater zu beobachten, wenn durch Theaterspiel ausgelöste Empathie es ermöglicht, für Momente etwas Verbindendes, vielleicht Gemeinsames zu erkennen. Das Theater wird so möglicherweise zu einem Ort menschlicher Nähe.

3 Bertolt Brecht, „A short Organum for the Theatre“, in: Brecht on Theatre. The development of an aesthetic, übers. v. John Millett. London 1964, S. 190.

Jasmin Falk

Wo werden wir unsere eigenen Knochen vergraben können?

„Du magst ein jemand gewesen sein da, wo du herkommst, aber hier bist du ein Sandkorn in der Wüste.“ (Mike Kenny, Der Junge mit dem Koffer)

Flor Kent: Für das Kind – Wien. Gewidmet den Briten, die 1938–39 mit den sogenannten Kindertransporten 10.000 jüdische und nicht-jüdische Kinder vor dem nationalsozialistischen Regime retteten. Statue am Westbahnhof in Wien. Fotografie der Autorin.

Sein Körper ist das, was einem Menschen bleibt, wenn er flieht. Wer keinen Zug nach Europa nehmen kann (und erst Recht nicht in ein Flugzeug steigen darf), hat meist keinen Koffer dabei. Der Koffer aber zieht sich als Symbol für den Flüchtenden durch unser gesamtes eurozentrisch geprägtes kulturelles Gedächtnis. Mike Kenny versucht diese Stigmatisierung des Flüchtenden in seinem Kindertheaterstück Der Junge mit dem Koffer gar nicht erst zu verbergen. Die Hauptfigur Naz kommt aus einem nicht näher spezifizierten nordafrikanischen

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Jasmin Falk

Land, ist der Sohn eines Kuhbauern und flieht vor dem Krieg. Mit einem Koffer macht er sich auf den Weg zu seinem Bruder nach London. Als er einen Bergpass überschreitet, wird Naz von einem Wolf angegriffen. Diesem schlägt er mit seinem Koffer über die Nase und kann sich so aus der brenzligen Situation retten. Mit dem Koffer schafft er es schließlich nach London und erst hier erfährt man von seinem Inhalt: Der Koffer ist leer, darin nur aufgeweichtes Papier, auf dem einst ein Familienfoto zu sehen war. Der Koffer bleibt ein Symbol, denn er hat nicht einmal einen Inhalt mit nostalgischem Wert. Die Vergangenheit des Jungen aus einem nicht näher spezifizierten nordafrikanischen Land hat sich auf dem Meerweg im Salzwasser aufgelöst. Meine Mutter erzählte mir, dass sie auf der Flucht aus der ehemaligen Sowjetunion nicht einmal Fotos mitnehmen durften, die Koffer wurden genau durchsucht, persönliche Gegenstände waren nicht erlaubt – genau drei Fotos aus ihrer Kindheit schickte ihr die Tante einzeln per Post nach Deutschland. Es sind die einzigen Fotos, die ihre Kindheit in Kasachstan bezeugen. Die Identität eines Menschen verbirgt sich für den Staat heute nicht (mehr) in einem Koffer, sie ist eine Zahlenkombination auf einem Reisepass, ein Dokument, das bei Flüchtenden in Kombination mit biometrischen Daten und dem Fingerprint tausendfach digital gespeichert und überprüft wird. Es braucht keinen nach außen sichtbaren Bedeutungsträger, um den Flüchtenden als solchen zu erkennen. Ein Mensch, der flieht, wird „ein Sandkorn in der Wüste“1 oder Teil der „Menschenflut“2 auf dem Mittelmeer. Der ertrunkene Geflüchtete ist kein Bürger mehr, jetzt hat er (keine) Menschenrechte, für die er mit nichts Anderem stehen und fallen kann, als mit seinem Körper. Der Körper eines Flüchtenden ist das einzige Kriterium, das ihn zu einem Menschen macht, und somit zu einem, der unter das Menschenrecht fällt.3 Wenn er auf seiner Reise stirbt, hat der Flüchtende keine Versicherung, die seinen Angehörigen etwas auszahlt, er hat nicht einmal ein ordentliches Begräbnis. „Die Opfer der Abschottung werden massenhaft im Hinterland südeuropäischer Staaten verscharrt. Sie tragen keine Namen. Ihre Angehörigen werden nicht ermittelt. Niemand schenkt ihnen Blumen“.4 Noch erschütternder werden die verschwiegenen Begräbnisse, wenn die Flüchtlinge innerhalb der EU sterben. 1 Mike Kenny, Der Junge mit dem Koffer (boy with a suitcase), übers. v. Herta Conrad. T Mike Kenny 2004, Dank von Gerald M. Bauer, Theater der Jugend, Wien zu Verfügung gestellt. 2 Elfriede Jelinek, „Die Schutzbefohlenen“, in der Fassung vom 29. 09. 2015, http://www.el friedejelinek.com/ [24. 03. 2016]. 3 kultvision, „Elfriede Jelinek ,Die Schutzbefohlenen‘: Eine Stimme für die Flüchtlinge“, 25. 05. 2015, https://www.youtube.com/watch?v=1Mf8Q4yi11M [21. 07. 2016]. 4 Zentrum für Politische Schönheit, „Die Toten kommen“, http://politicalbeauty.de/toten.html [21. 07. 2016].

Wo werden wir unsere eigenen Knochen vergraben können?

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„Ich aber gehe, / Ein Grab dem liebsten Bruder aufzuwerfen. […] Meinwegen. Laß die Tat nur niemand hören! Halt dich jetzt still!“5 Das Zentrum für Politische Schönheit plante 2015 an der Festung Europa zu Tode gekommene Geflüchtete vor dem Reichstag in Berlin zu begraben, musste aufgrund des angekündigten Widerstandes durch die Polizei aber auf andere Plätze in der Stadt ausweichen. Die Toten kommen gilt als die radikalste Aktion des Künstlerkollektivs:6 Sie „verwandelt Leichenberge in zu Tode gebrachte Einzelne. Sie verwandelt Flüchtlinge in Menschen“.7 Bernhard Dechant vom aktionistischen Theaterkollektiv Die schweigende Mehrheit sagt JA! sieht in der gegenwärtigen Flüchtlingssituation in Österreich und dem Rest Europas eine Reflektion dessen, was „wir“ seit langem in die Welt hinausstrahlen: Leben unter der Herrschaft eines Souveräns, das sich dem „nackten Leben“ widmet.8 Das nackte Leben sind nicht einzelne Menschen in einer Gesellschaft, es ist die statistische Verteilung biologischen Lebens: Geburten- und Totenraten, Demografie, Krankheitsfälle. Es sind Zahlen im Computer von Verwaltungsbeamten, die keine Entscheidungskraft mehr besitzen als die der Entscheidung für Menschlichkeit, und damit auch für den Betrug am System und seinen Zahlen. Die (ehemalige) Bundesinnenministerin Österreichs Johanna Miki-Leitner beschließt für das Jahr 2016 eine Obergrenze: 37.500 Asylanträge sollen maximal bearbeitet werden. Mehr schaffe die Verwaltungsmaschine nicht. Ihre Vertretung Gerald Dreveny rechtfertigt die Entscheidung in einer Diskussion an der Universität Wien:9 Es seien nicht genug Beamte zur Bearbeitung der Asylanträge da, diese müssten kurzfristig eingestellt werden, doch Beamte dürfe man auch nicht kündigen, so will es österreichisches Gesetz. Ein Verwaltungs-, kein Flüchtlingsproblem also. Der Ausnahmezustand der „Flüchtlingskrise“ legt Fehler im System frei. Sommer 2015, Mahnwache für Geflüchtete auf der Mariahilfer Straße, Wien: Ausgestopfte Schlafsäcke liegen dort herum, und einige Bürger_innen haben sich mit Isomatten und Schlafsäcken auf die Straße gelegt. Bernhard Dechant läuft mit Megafon und marineblauer Jacke zwischen den „unechten Flüchtlingen“ herum und liest Texte aus einem Lagerbericht aus Traiskirchen vor : „Es tut 5 6 7 8

Sophokles, Antigone, http://gutenberg.spiegel.de/buch/antigone-6244/1 [21. 07. 2016]. Vgl. Pressestimmen auf der Webseite des Zentrum für Politische Schönheit. Berliner Zeitung, zit. nach Zentrum für Politische Schönheit, „Die Toten kommen“. Vgl. Gorgio Agamben, Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt/ Main 2002. 9 Vgl. Redaktion uni:view, „Wer will, der kann. Und wir können viel, wenn wir nur wollen!“, zur Podiumsdiskussion „wiehelfen? – Flucht, Asyl & freiwilliges Engagement“ an der Universität Wien, Audimax am 04. 03. 2016, 10. 03. 2016, http://medienportal.univie.ac.at/uniview/veran staltungen/detailansicht/artikel/wer-will-der-kann-und-wir-koennen-viel-wenn-wir-nur -wollen/ [21. 07. 2016].

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uns leid, dass Sie warten müssen. Aber wir sind dran.“ – „Vertrauen Sie uns!“ – „Ich weiß, dass Sie jetzt den ganzen Tag angestanden haben, um Medikamente zu erhalten und dass es sehr heiß ist, aber bitte kommen Sie morgen wieder.“ – „Wir wissen, dass die medizinische Versorgung derzeit nicht gegeben ist“.10 Auf Dechants Jacke prangt ein selbstgeschriebenes Schild: ORS, das private Unternehmen, das sich für die katastrophale Lage im Lager – wo die Lage schon wortwörtlich im Lager liegt, und daher auch so bleibt, weil sich Dinge, die liegen (müssen) auch nicht bewegen (dürfen) – verantwortlich zeigt. Mit ihrer Mahnwache kämpft Die schweigende Mehrheit für die Rechte der Neuen, zeigt aber auch die Missachtung von Menschenrechten auf: „Wir sind gekommen, doch wir sind gar nicht da“.11 Vorweihnachtszeit 2015: Der Flucht-Punsch-Stand hat abseits vom offiziellen Weihnachtsmarkt auf dem Gelände des Alten AKH in Wien aufgebaut. Die Stimmung ist gelöst, Künstler_innen treten solidarisch auf, die Neuen verteilen Punsch und Gebäck an die Besucher_innen. Alle umarmen sich, lachen und tanzen zu Britney Spears. Aus den Mahnwachen im Sommer ist eine aus Geflüchteten bestehende Theatergruppe geworden. Gemeinsam haben sie das Stück Schutzbefohlene performen Jelineks Schutzbefohlene erarbeitet.12 Auf der Bühne werden die Neuen von Dechant als ORS-Angestellter herumkommandiert. Sie müssen sich in mehreren Reihen aufstellen, auch Kinder und „minderjährige unbegleitete Flüchtlinge“ sind auf der Bühne. Dechant liest ihnen die ersten Zeilen aus Jelineks Die Schutzbefohlenen vor und die Neuen sprechen es nach, manche verstehen nicht, was sie da gerade sprechen. Dechant spielt einen Integrations- und Sprachkurs und einen Erstaufnahmeprozess gleichzeitig nach. Immer wieder ruft er einzelne Personen aus dem Chor zu sich zum Interview. Dann stellt er ihnen Fragen: Ob sie glücklich seien oder jemals waren, woher sie kämen, wohin sie wollten und wie lange sie bleiben wollten. Manche der Neuen wollten ihre persönliche Geschichte erzählen, doch Dechant hat aufgepasst, dass das Publikum nicht zu sehr gerührt wird. Das „Ungerührtsein von Gerührten, von über Katzenvideos Gerührten, von Hundebabys Gerührten“13 ist ihm vielleicht lieber als ewiges Mitleid. Gerührtheit macht den Objektivierten zum Opfer, einen vom Schicksal aus dem Leben geworfenen Menschen, dem man mitleidig den Schopf streicheln darf, wie Angela Merkel es 2015 tut, als ein bestürztes palästinensisches Mädchen ihr in bestem Hoch10 Vgl. Russian Austria, „Aktion: ,Die schweigende Mehrheit sagt JA!‘ Mariahilferstraße“, 17. 08. 2015, https://www.youtube.com/watch?v=okWbgqgEMe0 [21. 07. 2016]. 11 Jelinek, „Die Schutzbefohlenen“. 12 Vgl. Die Schweigende Mehrheit sagt JA!, „Schutzbefohlene performen Jelineks Schutzbefohlene“ http://www.schweigendemehrheit.at/schutzbefohlene-performen-jelineks-schutz befohlene/ [21. 07. 2016]. 13 Jelinek, „Die Schutzbefohlenen“.

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deutsch von der bald anstehenden Ausweisung ihrer Familie aus Deutschland erzählt.14 Der bei YouTube hochgeladene Videoausschnitt zeigt die Ohnmacht der Politikerin und die Machtlosigkeit des Mädchens. Wie gut seine Argumente auch sein mögen, eine individuelle Entscheidung für Menschlichkeit ist nicht möglich. „Der Flüchtling auf der Bühne ist kein Flüchtling, er ist nicht mehr authentisch.“15 Auch auf den Bühnen der Repräsentations-Theater werden die Fragen um „Flüchtlingspolitik“ verhandelt:16 Mit den „großen“ Inszenierungen von Jelineks Die Schutzbefohlenen stehen sich zwei grundsätzlich verschiedene Regiekonzepte gegenüber : Michael Thalheimer hat auf die Neuen verzichtet. Die Bühne sei „kein Zoo“ und Flüchtlinge auf der Bühne lediglich eine „Pose“, heißt es in dem Interview.17 Dann spielen also hochbezahlte Künstler Die Schutzbefohlenen und beklagen sich im anschließenden Publikumsgespräch sehr authentisch über das Wasserbecken, das im Laufe der Vorstellung deutlich abkühle. Es sagt einer, er könne jetzt ein bisschen besser verstehen, wie die Flüchtlinge sich auf dem Meer fühlen müssen. April 2016: Aufführung von Schutzbefohlene performen Jelineks Schutzbefohlene im Audimax der Universität Wien. Identitäre stürmen den Saal, kämpfen sich auf die Bühne hoch, entfalten ein Banner, versprühen Kunstblut und werfen Flyer.18 Das Publikum schreit: „Nazis raus!“ und drängt die Mitglieder der Identitären-Bewegung aus dem Saal.19 Nach zehn Minuten Pause entschließen sich die Neuen weiterzuspielen. Es sind Tränen geflossen, einige wurden leicht verletzt, darunter eine im fünften Monat schwangere Kurdin aus dem Irak. Die Flüchtlinge auf der Bühne sind authentisch, als sie sprechen: „[W]o werden wir unsre eigenen Knochen vergraben können“?20 Hans-Thies Lehmann plädiert in einem Essay dafür, das Politische am Theater dort zu suchen, wo es für gewöhnlich gar nicht wahrgenommen wird.21 14 Vgl. ARD, „Flüchtlingskind bringt Merkel aus dem Konzept j NDR//Aktuell j NDR“, 16. 07. 2015, https://www.youtube.com/watch?v=Ji0D_aSUG8A [21. 07. 2016]. 15 Norbert Mayer, „Thalheimer : ,Die Bühne ist kein Zoo‘“, 21. 03. 2015, http://diepresse.com/ home/kultur/news/4690954/Thalheimer_Die-Buhne-ist-kein-Zoo [21. 07. 2016]. 16 Vgl. o. A., „Theater ohne Grenzen. Menschenrechte für alle?“, Ein Gespräch mit Amelie Deuflhard und Nicolas Stemann, in: Theater heute 2/2015, S. 21–25. 17 Vgl. Mayer, „Thalheimer : ,Die Bühne ist kein Zoo‘“. 18 Vgl. WienTV.org, „Angst und Schrecken verbreiten die Identitären im Audimax“, https://www. facebook.com/244906838879431/videos/991023810934393/?pnref=story [21. 07. 2016]. 19 Vgl. Die Schweigende Mehrheit sagt JA!, „Wo werden wir unsere eigenen Knochen vergraben können?“, 16. 04. 2016, http://www.schweigendemehrheit.at/wo-werden-wir-unsere-eige nen-knochen-vergraben-koennen/ [21. 07. 2016]. 20 Jelinek, „Die Schutzbefohlenen“. 21 Vgl. Hans-Thies Lehmann (Hg.), „Wie politisch ist postdramatisches Theater? Warum das Politische im Theater nur die Unterbrechung des Politischen sein kann“, in: Das politische Schreiben. Essays zu Theatertexten, Theater der Zeit, Berlin 2002, S. 11–21.

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Jasmin Falk

Nämlich nicht direkt und unbedingt auf der Bühne, also am Ort des sich ständig widerholenden Re-Präsentierens, sondern in der Struktur von Theater. Der schweigenden Mehrheit ist dies gelungen, als sie politischen Aktionismus mit Theater verbindet, und die Neuen selbst sprechen lässt. Es ist ein Theater entstanden, das „seiner politischen Verantwortung folgt, fremden Stimmen, die kein Gehör und in der politischen Ordnung keine Repräsentation finden, einzulassen“.22 Es geht, mit Lehmann, um den Einlass der Neuen in den Theaterbetrieb und es geht um die Öffnung des Theaters für das „politische Draußen“ wie auch die Öffnung der Grenzen der Festung Europa, die es sich in ihrer Repräsentationspolitik bequem eingerichtet hat.

22 Lehmann, „Wie politisch ist postdramatisches Theater?“, S. 14f.

Pascal Herowitsch

Selbstoptimierung. Wenn Apps die Angst fördern, Schutzsuchenden zu helfen

„Der Mensch von heute hat nur ein einziges wirklich neues Laster erfunden: die Geschwindigkeit.“ (Aldous Huxley)

„Schickt sie alle Heim“ oder „Heim mit ihnen“ als harmloseste Aufforderungen sind Beispiele, welche in den Social Media als Aufruf zu lesen sind, um Schutzsuchende nach Hause zu schicken. Befürchtet ein großer Teil unserer Gesellschaft hier einen Kontrollverlust? Kontrollverlust als das Schwinden von ständiger Beherrschung aller Facetten des Lebens – ein Umstand, der in einer immer schneller werdenden, vernetzten Welt als Schwäche angesehen wird? In einer Welt, in unserer Welt, die von einer neoliberalen Gesellschaft bestimmt wird, spielt Selbstoptimierung eine immer wichtigere Rolle. Wer sich ständig optimiert, selbst „managet“ und damit auf die Schnelllebigkeit unserer Zeit Einfluss nimmt, kann mit ihr Schritt halten. Was ist das Paradoxe daran, in einer Zeit zu leben, in der einerseits mit „Flüchtlingsobergrenzen“ Menschen die Sicherheit einer Zuflucht verwehrt wird und uns andererseits Optimierungsprogramme nahe legen, wie wir unser Budget richtig einteilen oder unseren Cholesterinspiegel senken? Vor dem Hintergrund der Angst, die Kontrolle zu verlieren, erscheinen begleitende und optimierende Programme, nicht wie diejenigen die uns Zwänge auferlegen, sondern als jene, die uns „helfen“ alles, uns und andere, regeln zu können und uns zu maximalem Ertrag führen. Betrachtet man die Funktionen der meisten Selbstoptimierungs-Programme (Apps wie beispielsweise: The Birdy, iDonethis, Digitale Tagebücher, Mappiness App, Smart Alarm Clock. MoneyBook, Home Budget Manager oder Sony Lifelog), wird schnell klar, dass diese größtenteils Themen behandeln, welche von Sicherheitsdispositiven als Probleme angesehen werden und dadurch in unserer Gesellschaft überhaupt erst als solche erkannt werden. Die Strukturierung des Alltags, die Gestaltung eines gesünderen und effektiveren Lebensstils oder die Verwaltung des Einkommens sind nur einige Beispiele dafür. Grundlegend geht es um die Organisation uns auferlegter, aber nicht zwingend intrinsisch verursachter Probleme. Eine Kal-

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kulation, die darauf abzielt, die Gesellschaft sich selbst kontrollieren zu lassen. Selbstoptimierungsprogramme und Applikationen, die eine völlig neue Art der Propaganda implizieren boomen regelrecht. Ihr Ziel ist es, das Individuum zu analysieren und dadurch zu optimieren. Dabei befinden sich diese Individuen, also wir, inmitten einer humanitären Katastrophe: Die Flüchtlingsproblematik beherrscht Medien, Politik und Sozialwesen zugleich.

Heimat-Los Wechselst du dein Facebook-Profilbild nach Anschlägen, bist du ein Heuchler oder eine Heuchlerin. Betrauerst du den Tod einer berühmten Persönlichkeit öffentlich im Internet, impliziert das gleichzeitig, du würdest dich nicht um Tote im Nahen Osten oder Afrika scheren. Ist dein Glaube der Islam, so behandelst du Frauen schlecht. Die Liste solcher kurz geschlossener Anschuldigungen ließe sich ewig weiterführen. Einer der neueren Vorwürfe dieser Art ist jener, man sei ein_e Verräter_in des eigenen Landes, würde man nicht auch wollen, dass Geflüchtete wieder nach Hause geschickt würden. Doch wo ist dieses Zuhause eigentlich? Wo liegt die Heimat dieser Menschen? Heimat als Nahwelt, die verständlich und durchschaubar ist, als Rahmen, in dem sich Verhaltenserwartungen stabilisieren, in dem sinnvolles, abschätzbares Handeln möglich ist – Heimat also als Gegensatz zu Fremdheit und Entfremdung, als Bereich der Aneignung, der aktiven Durchdringung, der Verlässlichkeit.1

Sicherlich ist Heimat nicht dort, wo man täglich um sein Leben fürchten muss. Sollten wir nicht vielmehr da Heimat finden, wo Sicherheit und Freiheit das Dasein bestimmen? Der Heimatbegriff schließt die Möglichkeit auf Beheimatung ein, auf Einnahme einer Lebenswelt und Zugehörigkeit.2 So gesehen, hat Heimat nichts mit Herkunft zu tun. Wohin sollen Geflüchtete zurückgeschickt werden? „Ubi bene, ibi patria“ – dieses Sprichwort ist auf den griechischen Dichter Aristophanes zurückzuführen und bedeutet frei übersetzt so viel wie: „Wo es mir gut geht, dort ist mein Vaterland.“ Die allgemeine UN-Erklärung der Menschenrechte besagt in Artikel 1: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Geschwisterlichkeit begegnen.“ Wo bleibt unsere Geschwisterlichkeit und die Würde sowie die Rechte jener durch Zäune ausgesperrter Menschen? Jede Person kann ihre Heimat durch Naturkatastrophen, menschliche Eingriffe oder Krieg verlieren. 1 Hermann Bausinger / Konrad Köstlin (Hg.), Heimat und Identität. Probleme regionaler Kultur, Neumünster 1980, S. 20. 2 Vgl. Beate Mitzscherlich, Heimat ist etwas, was ich mache, München 1997.

Selbstoptimierung. Wenn Apps die Angst fördern, Schutzsuchenden zu helfen

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Spätestens seit einer globalisierten Welt ist Heimat nicht mehr an einen Ort gebunden, vielmehr ist sie ein subjektives Empfinden.

Ich-App Heutzutage wird von „Agenda-Setting“ und „Framing“ gesprochen, eine Thematisierungs- und Strukturierungsfunktion der Massenmedien, welche uns in ein möglichst einheitliches Denkraster setzen soll. Das folgende Zitat von Gustave Le Bon aus dem Jahre 1911 gilt heute mehr denn je: „Der Schein hat in der Geschichte stets eine größere Rolle gespielt als das Sein. Das Unwirkliche hat stets den Vorrang vor dem Wirklichen“.3 Mit den Social-Media-Diensten und einem ständigen Internetzugriff durch Smartphones entwickelte sich eine völlig neue Form der Propaganda. In diesem Zusammenhang wurde auch der Begriff des „Smombie“ geboren, eine Mischung aus Smartphone und Zombie, und prompt von der Jury des Langenscheidt-Verlags zum Jugendwort des Jahres 2015 gekürt. Eigentlich ist das Mobiltelefon ein Hilfsmittel, uns mit Menschen zu verbinden – eine Tatsache, die von Geflüchteten im besonderen Maße genutzt wird, oft ist es einziges Mittel, um mit ihren Familien in Kontakt zu bleiben, Erinnerungsfotos mitzunehmen und sich auf ihrem Weg zu orientieren. So ist es verwunderlich, dass es dazu dient, Menschen immer mehr voneinander abzukapseln und zu lukrativen Datensammler_innen zu machen. Demnach ist es auch wenig überraschend, dass in der jüngsten Vergangenheit immer mehr Selbstoptimierungs-Applikationen und Programme unser Leben „bereichern“. Dabei lassen diese Optimierungsprogramme keine Wünsche offen. Diese „Lebenshelfer“ sollen unseren Alltag analysieren und optimieren. Meistens sind diese Apps kostenlos, was ihre Verbreitung noch steigert. So lassen sich Daten über den Schlaf, das Trinkverhalten, die Stimmung, bis hin zur Finanzlage des jeweiligen Verwenders sammeln und weiterverarbeiten. Ein Gerät, welches wir ständig bei uns tragen, ist somit in der Lage, beinahe jeden Bereich unseres Körpers zu analysieren.4 Keine Person wird gezwungen, solche Selbstoptimierungsprogramme zu verwenden! Uns wird aber ein Gefühl der Abhängigkeit von solchen Programmen suggeriert. Genauso wird die Verbreitung ideologischer Ideen und Meinungen unterstützt, um die Bevölkerung in einer bestimmten Weise zu beeinflussen. Genau dieser Aspekt sollte für uns alle befremdend wirken. Zwischen der Erfindung des Buchdrucks und den Selbstoptimierung-Applikationen liegen 3 Gustave Le Bon, Psychologie der Massen, übers. v. Rudolf Eisler, Hamburg 2009, S. 69. 4 Vgl. Selbstoptimierung. Der Weg zum optimierten Ich, „Apps für den Alltag“, 2016, http:// www.selbstoptimierung.com/alltag/apps [12. 07. 2016].

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Pascal Herowitsch

über 500 Jahre Propagandageschichte. Derartige Programme, die uns ständig begleiten und optimieren sollen, zwingen uns geradewegs dazu, alles kontrollieren zu müssen. Geschieht dann Unvorhergesehenes, das außer unserer Kontrolle entsteht, reagieren wir womöglich der Erwartung entsprechend mit Angst und Antipathie. Vielleicht sollten wir unsere Smartphones für einen Augenblick beiseite legen und unsere Energie nicht mehr zur Selbstoptimierung durch Apps verwenden, sondern dafür einsetzen, Heimat-Losen und Schutzsuchenden eine Zukunft zu ermöglichen.

Silke Felber und Gabriele C. Pfeiffer

Schau-Plätze der Diskrepanz. Ein Essay zu Aischylos in Syrakus und Jelinek in Wien

Andererseits. Griechisches Theater in Syrakus Im größten Theater der Antike, im griechischen Theater in Syrakus (Teatro greco di Siracusa) auf Sizilien, wird heute noch gespielt. Jährlich in den Sommermonaten Mai und Juni findet dort ein Aufführungszyklus von Klassikern statt (Ciclo di Rappresentazioni Classiche). Im Frühjahr 2015 kamen – wie üblich – drei Stücke der Antike zur Aufführung, darunter Die Schutzflehenden (ital. Le Supplici) von Aischylos unter der Regie von Moni Ovadia und gemeinsamer Bearbeitung mit Mario Incudine. Aischylos erzählt in dieser Tragödie die Geschichte der 50 Töchter des Danaos, die vor einer Zwangsheirat geflüchtet waren und bei König Pelasgos Schutz suchen und finden; die „Volksgemeinde“ ist einverstanden:1 „So lautet unsrer Volksgemeinde einige j Entschließung, nimmer auszuliefern der Gewalt j Den Zug der Frauen“.2 Auf dem Programm steht somit eine Tragödie, die sowohl das Idealbild demokratischer Redeführung propagiert, als auch die Grenzen der Demokratie auslotet. In Erscheinung treten Charaktere, die zum Entstehungszeitpunkt der Tragödie keinerlei Mitspracherecht hatten: Bei den Danaiden handelt es sich schließlich um schutzsuchende Frauen, d. h. um eine zweifach marginalisierte Gruppe der Gesellschaft, die realiter und idealiter im antiken Griechenland vom öffentlichen Diskurs, d. h. vom öffentlichen Leben, ausgeschlossen war. Bei Aischylos erhalten diese Frauen eine Stimme. Sie sind es, die die elementaren Fragen und Probleme der demokratischen Ordnung aufs Tableau bringen, um die das Stück kreist. Sie sind es, die das Gerechtigkeitsempfinden der Zuse-

1 Vgl. Istituto Nazionale del Dramma Antico Siracusa. Programmfolder 100+1. Fondazione Inda 1914–2015. 2 Aischylos, „Die Schutzflehenden“ in der Übersetzung von Oskar Werner, in: Aischylos, Tragödien und Fragmente, Tübingen 1959 (3. verbesserte Auflage 1980), S. 487–557 oder Aischylos, „Die Schutzsuchenden (IJETDES)“ in der Übersetzung von Walther Kraus, in: Aischylos, Die Tragödien, Stuttgart 2002, S. 235–279, hier S. 274.

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her_innen3 des Dionysostheaters im Athen um 460 v. Chr. ebenso provozierten wie sie heute jenes der Besucher_innen des Teatro greco di Siracusa herausfordern. Ca. 290 km Luftlinie von Syrakus entfernt befindet sich die vorgelagerte Insel Lampedusa. Sie gehört politisch zu Italien, mit ihrer ca. 140 km Entfernung zur tunesischen Küste ist sie aber geographisch Afrika nahe. So nahe, dass sie ein attraktives Ziel für Flüchtende bietet, die mit dem Boot nach Europa zu kommen versuchen. Nicht immer wird sie erreicht, die rettende Insel Lampedusa. Es heißt, das Mittelmeer sei der größte Friedhof Europas.

Einerseits. Burgtheater in Wien Im als bedeutendsten mystifizierten Staatstheater Österreichs, dem Wiener Burgtheater, wird seit Frühjahr 2015 Die Schutzbefohlenen der österreichischen Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek unter der Regie von Michael Thalheimer aufgeführt.4 Jelinek bezieht sich in ihrem Text auf Aischylos’ Tragödie „Die Schutzflehenden“ und auf die Situation der Geflüchteten heute, indem sie die „bittere Wahrheit, dass die Menschenrechte eben nicht für alle gelten, sondern nur für die, die es sich leisten können, an Europa teilzunehmen“ ausspricht.5 Jelinek nimmt damit auch Bezug auf die Schicksale im Mittelmeer vor der Küste Lampedusas. Ca. 1,3 km vom Burgtheater entfernt befindet sich der Sigmund Freud Park,6 unmittelbar vor der römisch-katholischen Votivkirche gelegen. Hier errichtete im November 2012 eine Gruppe von Asylwerber_innen und Refugee-Aktivist_innen nach einem Protestmarsch vom österreichischen Erstaufnahmezentrum Traiskirchen ausgehend, ungefähr 30 km südlich von Wien gelegen, ein Protestcamp. Ihre Einwände bezogen sich auf die menschenunwürdigen Bedingungen in Traiskirchen und die Forderung auf Rechte und Gleichbehandlung. Am „Internationalen Tag der Rechte für Migranten“ (sic), dem 18. Dezember, suchten sie nach den Tagen unter freiem Himmel in der Votivkirche (nach der Räumung des Camps durch die Polizei) symbolischen und faktischen 3 Bis heute herrscht in der Forschung Uneinigkeit darüber, ob es Frauen im antiken Griechenland möglich war, dem Tragödien-Agon beizuwohnen oder aber nicht. 4 Elfriede Jelinek, „Die Schutzbefohlenen“ – Das Stück, Beilage von Theater heute. Die Theaterzeitschrift, 55/7, Juli 2014. 5 Werbetext/Einführung auf der Website des Burgtheaters, http://www.burgtheater.at/Content. Node2/home/spielplan/premieren/Die-Schutzbefohlenen.at [03. 05. 2016] sowie vgl. Programmheft Die Schutzbefohlenen. Elfriede Jelinek, Burgtheater Wien 2015. 6 Die Grünfläche bei der Votivkirche wurde 1984 zum einen „Votivpark“, rund um die Kirche, und zum anderen Teil „Sigmund Freud Park“, Grünfläche in Richtung Ring, benannt.

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Schutz, da bis dahin ihre Stimmen ungehört geblieben waren. Die Erzdiözese Wien und die katholische Hilfsorganisation Caritas sicherten den Geflüchteten vorerst unter Berufung auf das sakrale Asylrecht den eingeforderten Schutz zu, drängten diese aber dann dazu, auf ein Kloster auszuweichen: „Wir haben uns eine Kirche erwählt, und dann hat ein Kloster uns erwählt, so, da wohnen wir jetzt wirklich, Sie können ruhig schauen kommen, na, wir könnten schließlich auch woanders wohnen, wir können es uns aussuchen“.7 Die Wohnoption, die König Pelasgos den Schutzsuchenden in der antiken Tragödie bietet, indem er ihnen zur Wahl stellt, entweder in Einzel- oder in Gemeinschaftsunterkünften unterzukommen,8 weicht im Wien des 21. Jahrhunderts einer Nötigung. Fazit der so genannten „Votivkirchen-Flüchtlingscausa“: 27 der 60 Besetzer_innen erhielten einen negativen Asylbescheid, zudem wurden sieben der acht Geflüchteten, die im Rahmen eines heftig kritisierten Fluchthilfeprozesses der Schlepperei angeklagt worden waren, schuldig gesprochen.

Einerseits und andererseits. Jelinek Die Schutzbefohlenen Die Ereignisse rund um Traiskirchen nimmt Jelinek zum Anlass, um den Theatertext „Die Schutzbefohlenen“ zu verfassen, den sie im Juni 2013 online veröffentlicht. Nach dem verheerenden Unglück vor Lampedusa im Herbst desselben Jahres, bei dem rund 300 Menschen auf der Flucht im Meer ertrunken waren, lässt Jelinek der ersten Version des Textes eine zweite folgen. Die Einstellung des italienischen Küstenwachprogramms „Mare Nostrum“ bzw. seine Ersetzung durch das von Frontex9 konzipierte Programm „Triton“ veranlassen sie zu einer weiteren Überarbeitung, die im November 2013 erscheint. 2015 wiederum folgen eine vierte Version sowie drei Zusatztexte, die die fragwürdigen europäischen Antworten auf die vermeintlich unvorhersehbaren, so genannten „Flüchtlingsströme“ sezieren. Abgeschlossen scheint das Projekt aber immer noch nicht zu sein – im April 2016 findet sich ein weiterer Appendix zu „Die Schutzbefohlenen“ auf der Website der Autorin.10 7 Elfriede Jelinek, „Die Schutzbefohlenen“, http://204.200.212.100/ej/fschutzbefohlene.htm [18. 05. 2016]. 8 Aischylos spielt damit auf eine damalige politische Tagesaktualität an, nämlich auf die baulichen Maßnahmen, die man um 460 v. Chr. für die Aufnahme von Metöken, also Fremden, getroffen hatte. Vgl. Christian Meier, Die politische Kunst der griechischen Tragödie, München 1988, S. 110. 9 Frontex: Akronym für französisch frontiHres ext8rieures. Außengrenzen; Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union. 10 Elfriede Jelinek, „Die Schutzbefohlenen. Appendix“, veröffentlicht in Theater heute. Die Theaterzeitschrift, 56/11, November 2015, S. 36–43.

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Der Theatertext, der in postdramatischer Manier weder Figuren, noch Sprechinstanzen, noch Regieanweisungen aufweist, kreiert im Überblenden der Lokalmetaphern Traiskirchen, Wien, Lampedusa und Argos ein Dazwischen, das die fliehenden Danaiden des Aischylos ebenso stigmatisiert wie die Geflüchteten, auf die Jelinek rekurriert. Befinden sich die Schutzflehenden der antiken Tragödie zwischen Hafen und Stadtkern (asty), so verweist auch das Sprechen bei Jelinek auf einen liminalen Status, in dem sich Asylwerber_innen im gegenwärtigen Europa befinden. „Wir sind gar nicht da. Wir sind gekommen, doch wir sind gar nicht da.“11 Menschen, die in Österreich auf ihr Asylverfahren warten, dürfen nur sehr eingeschränkt einer bezahlten Beschäftigung nachgehen, erhalten keine Mindestsicherung, keine Familienbeihilfe und kein Kinderbetreuungsgeld. Das oftmals jahrelange Warten auf einen Bescheid verdammt sie zu einer Existenz als „lebende Tote“.12 Ihnen gegenüber stehen diejenigen Nichtösterreicher_innen, für die andere Maßstäbe gelten. Diejenigen, die man gerne einbürgert, für die man eigens einen Kriterienkatalog13 entwickelt, der es ermöglicht, Gesetzgebung mit derselben Eleganz zu umschiffen, mit der sich Opernsängerin Anna Netrebko dem Publikum der Salzburger Festspiele präsentiert – diese gut gestimmte Sängerin, herrlich gekleidet immer, kostbar geschmückt, ja, das ist eine, die es nicht nötig hat, Stimmgabel zu werden, weil sie die Gabe der Stimme bereits besitzt. Die muß nicht die Gabel machen, nicht die Beine breit für jeden, der ihr ein Kurzvisum erteilt, eine Arbeitserlaubnis, der muß man keine Erlaubnis erteilen, die muß man bitten, auf Knien bitten, weil sie die Gabe dieser einmaligen Sopranstimme besitzt.14

Andererseits. Lampedusa Wer heute über Lampedusa spricht, erinnert sich nicht an „Der Gattopardo“15 von Giuseppe Tomasi di Lampedusa, sondern denkt an Tote am Strand, an viele Tote, die schon gar nicht mehr gezählt werden können. Sie kommen. Sie kom11 Elfriede Jelinek, „Die Schutzbefohlenen“, http://204.200.212.100/ej/fschutzbefohlene.htm [04. 06. 2016]. 12 Vgl. Giorgio Agamben, Homo sacer. Il potere sovrano e la nuda vita, Turin 1995. 13 Vgl. Irene Brickner, „Kriterienliste für Promi-Einbürgerungen bleibt Amtsgeheimnis“, in: Der Standard, 16. Juni 2014. 14 Elfriede Jelinek, „Die Schutzbefohlenen“, http://204.200.212.100/ej/fschutzbefohlene.htm [18. 05. 2016]. 15 „Der Gattopardo“ von Giuseppe Tomasi di Lampedusa. Im Original „Il Gattopardo“ Mailand 1958; deutsche Erstausgabe 1959. „Der Leopard“ übersetzt von Charlotte Birnbaum, München, neu übersetzt 2004 von Gik Waeckerlin Induni. „Der Gattopardo“ ebenfalls München; 1963 verfilmt von Luchino Visconti.

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men übers Meer, wie die Thalheimer-Inszenierung im Burgtheater durch eine mit Wasser befüllte Bühne andeutet, durch das die Schauspielenden waten, sich fallen lassen, liegen. „Die Toten kommen“16 wie das Zentrum für Politische Schönheit in seinen theatralen politischen Aktionen künstlerisch provokativ verdeutlicht17 – und damit ein Tabu bricht: das Sprechen über Zahlen und den Umgang mit den Toten, zumindest über jene, die das Meer frei gibt und an Land spült. Nur eine kleine Zahl ist bekannt,18 einige, doch nicht alle katastrophalen Unglücke vor Lampedusa sind dokumentiert. Die Bürgermeisterin Giusi Nicolini fragt sich im Jahr ihres Amtsantritts, wie groß der Friedhof ihrer Insel noch werden müsste und sagt: „Ich bin über die Gleichgültigkeit entrüstet, die alle angesteckt zu haben scheint. Ich bin entrüstet über das Schweigen Europas, […] wenn für diese Menschen die Reise auf den Kähnen der letzte Funken Hoffnung ist, dann meine ich, dass ihr Tod für Europa eine Schande ist“.19 Der gemeinnützige Verein Sea-Watch e. V. – Zivile Seenotrettung von Flüchtenden20 versucht über zunächst private Eigeninitiative in Seenot geratenen Menschen zu helfen, allerdings wäre es notwendig, die Rettungsaktionen europäisch zu organisieren, wie dies Pro Asyl festhält und dabei von der Zahl der durch die italienische Operation „Mare Nostrum“ Geretteten berichtet.21

16 Vgl. Zentrum für Politische Schönheit, Die Toten kommen, http://www.politicalbeauty.de/ [23. 04. 2016]. 17 „Das Zentrum für Politische Schönheit hat die Toten Einwanderer Europas von den EUAußengrenzen in die Schaltzentrale des europäischen Abwehrregimes geholt: in die deutsche Hauptstadt. Menschen, die auf dem Weg in ein neues Leben an den Außengrenzen der Europäischen Union ertrunken oder verdurstet sind, haben es über den Tod hinaus ans Ziel ihrer Träume geschafft. Gemeinsam mit den Angehörigen haben wir menschenunwürdige Grabstätten geöffnet, die Toten identifiziert, exhumiert und nach Deutschland überführt“, http://www.politicalbeauty.de/toten.html [23. 04. 2016]. 18 Vgl. Statistik der UNHCR Broschüre, Mid-Year Trends 2015. 19 Giusi Nicolini, L’appello del sindaco di Lampedusa all’Unione Europea, Rai Radio 3: http:// www.radio3.rai.it/dl/radio3/programmi/puntata/ContentItem-cb0328f7-f715-4c84-8822ca06b5de47d5.html [23. 04. 2016]; deutsche Übersetzung unter Archiv Pro Asyl, http://ar chiv.proasyl.de/fileadmin/fm-dam/NEWS/2013/Brief_der_Buergermeisterin_von_Lampe dusa.pdf [23. 04. 2016]. 20 „Mithilfe von zahlreichen ehrenamtlichen Aktivist*innen, die das Projekt in Deutschland aufbauten oder als Crewmitglieder*innen seit Juni 2015 im Mittelmeer zwischen Libyen und Italien mitfuhren, ist es uns gelungen, Tausende von Menschen effektiv zu retten.“ Website der Sea-Watch e. V. – Zivile Seenotrettung von Flüchtenden, http://sea-watch.org/ [23. 04. 2016]. Neben dieser Organisation gibt es noch einige andere private Initiativen, die sich europaweit vernetzen wie z. B. Watch the Med, http://www.watchthemed.net/ [04. 06. 2016]. 21 Vgl. Broschüre des Fördervereins Pro Asyl e. V., Flucht braucht Wege! Positionen für eine neue europäische Flüchtlingspolitik, Frankfurt/Main 2014, S. 12.

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Einerseits. Traiskirchen Wer heute an Traiskirchen denkt, denkt sofort an die dort eingerichtete Erstaufnahmestelle, eine der fünf österreichischen Bundesbetreuungsstellen für Asylwerber_innen.22 Spätestens seit Sommer 2015 weiß ganz Österreich, es braucht mehr – mehr Unterkünfte und mehr als nur Notunterkünfte oder eine helfende Zivilbevölkerung an Bahnhöfen. Wer ein wenig näher hinsieht, wird ein Künstler_innenkollektiv Die schweigende Mehrheit, das seit Juli 2015 „im Namen der Schweigenden Mehrheit das Wort“ ergreift, wahrnehmen. Auf deren Website ist zu lesen, sie „heißen Schutzsuchende in Österreich willkommen und protestieren gegen die beleidigende Unterstellung, wir, die Menschen in Österreich, wären alle rassistisch“.23 Diese Einstellung beweist auch die Wiener Vizebürgermeisterin Maria Vassilakou,24 wenn sie noch innerhalb der ersten 24 Stunden nach einer rechtsextremen Störaktion25 gegen eine Aufführung des Künstler_innenkollektivs von „Schutzbefohlene performen Jelineks Schutzbefohlene“ im Audimax der Universität Wien den Einladungswillen ins Wiener Rathaus ausspricht. Gemeinsam mit dem Bürgermeister Michael Häupl folgt am nächsten Tag die offizielle Einladung an die mit dem Nestroy-Preis ausgezeichnete Inszenierung und damit an das Künstler_innenkollektiv Die schweigende Mehrheit.26 22 Vgl. Statistik des BMI, http://www.bmi.gv.at/cms/bmi_asylwesen/statistik/start.aspx [23. 04. 2016]. 23 Die Schweigende Mehrheit sagt JA / über uns, http://www.schweigendemehrheit.at/ueberuns/ [29. 04. 2016]. 24 Maria Vassilakou (griechisch Laq_a Basik\jou, geb. am 23. Februar 1969 in Athen). 25 Am darauffolgenden Tag für die Website des tfm geschrieben: „Die schweigende Mehrheit, ein Künstler_innenkollektiv, von welchem im Wintersemester einige in der Ringvorlesung „Flucht Migration Theater“ zu Gast waren, spielte am 14. 04. 2016 auf Einladung der ÖH im Audimax ihre Inszenierung Schutzbefohlene performen Jelineks Schutzbefohlene. Nach etwa 30 Minuten kam es zu einer Störaktion der Identitären, die eine kurze Unterbrechung der Aufführung zu Folge hatte sowie ein Aufgebot von Polizei notwendig werden ließ. Gut, dass die Polizei schnell da war, nicht gut, dass Polizei zum Schutz einer Veranstaltung an der Universität Wien kommen musste. Allein die Courage der Spieler_innen und die Solidarität im übervollen Hörsaal ermöglichten eine Fortführung des Theaterabends, der schließlich mit Standing Ovations endete.“ Dieser Eintrag musste ein paar Tage später gem. mit Kollegin Birgit Peter ergänzt werden: „Eine neuerliche Attacke, dieses Mal aufs Burgtheater kurz vor der Aufführung „Die Schutzbefohlenen“ von Elfriede Jelinek am 26. 04. 2016, für welche Nationalratspräsidentin Doris Bures spontan den Ehrenschutz übernommen hatte, zeigt auf, wie die Freiheit von Kunst, die Freiheit von Meinungsäußerung, die Freiheit populistischer Hetze durch Theater entgegenzuwirken, von Rechtsextremen angegriffen wird. Demokratische Grundrechte werden attackiert, ein Theaterprojekt über geflüchtete Menschen für infame Hetze gegen diese missbraucht, und gegen alle jene, die für das Menschenrecht auf Asyl einstehen.“ Website des tfm j Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft, Schock – Courage – Solidarität, https://tfm.univie.ac.at/startseite/ [03. 05. 2016]. 26 „Am 2.11. wurde die Schweigende Mehrheit für die Produktion in der Nestroypreis-Gala mit

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Andererseits. Aischylos Le Supplici Am späten Nachmittag im Teatro greco versammeln sich über das Gelände streifend die Zuseher_innen der Le Supplici. Dies geschieht jeden dritten Nachmittag, zwei Monate lang, fünfzehn Mal insgesamt. Das Publikum ist stets heterogen: die Bevölkerung von Syrakus, Schulklassen aus Sizilien, am Theater interessierte Tourist_innen und Geflüchtete. Auffällig die sehr große Zahl an Menschen, die Ausgelassenheit, auch wenn es regnet, die Bereitschaft, sich bis in die Dämmerung und in den Abend hinein einem langen Theaterabend hinzugeben, der einen antiken Stoff in die Gegenwart holt, in der Inszenierung aber in den 1970er-Jahren bleibt. Die Musik treibt das Publikum – ähnlich wie bei Musicals – zum Mitsingen und Mitschwingen an, die heteronormativen Figuren der beiden Chöre – gezeichnet durch Kostüme, Körperhaltung und Attribute – konterkarieren jegliches postkoloniale und feministische Bewusstsein. Die Akustik und Stimmung unter freiem Himmel bis hin zum Ende zeichnen eine frühsommerlich und fröhliche, jedoch nicht dionysisch-orgiastische Ausgelassenheit. Am Ende der Aufführung wird ein Bekenntnis zu demokratischer Haltung und Handlung ausgerufen, ein gutes Ende für die Danaiden und ein fragliches für die Geflüchteten in der ersten Reihe. Die Geste der Demokratie von Sizilien wird als Abschiedsgruß von der Bühne in die Publikumsränge und die Gäste der Demokratie nach Hause geschickt. Das Publikum strömt den Hang hinunter, aus dem Gelände und zurück, woher es gekommen ist. Wohin gehen die Geflüchteten?

Einerseits. Jelinek Die Schutzbefohlenen Am frühen Abend im Burgtheater findet sich das Wiener Theaterpublikum im Haus am Ring zum „Jelinek-Stück“ ein. Die Inszenierung ist seit März 2015 regelmäßig am Spielplan. Die Zuseher_innen sind ein Konglomerat, gebildet aus Abonnent_innen, aus Theater- und/oder Jelinek-begeisterten Personen, aus Engagierten in der Flüchtlingsfrage und Studierenden oder von Menschen, die all das in einem mehr oder weniger vereinen. Auffällig die große Zahl an Menschen, die Ruhe im Theater, die Bereitschaft, sich der Jelinek’schen Sprache auszusetzen, die angelehnt an einen antiken Stoff die Gegenwart hervorholt, aus dem Text herausholt, die die Menschen über das Wasser lockt und den Schauspielenden-Chor durch das Wasser. Eine düstere Inszenierung, in der sich die Realität zu verstecken scheint, das helle Kreuz bis knapp zum Vorstellungsende einem Spezialpreis ausgezeichnet“, http://www.schweigendemehrheit.at/schutzbefohleneperformen-jelineks-schutzbefohlene/ [09. 06. 2016].

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leuchtend. Der Sarg und die Kirche, beides Zukunftsmusik für die Vertriebenen, füllen die Bühne und Geschichten. Die Sprache treibt das Publikum vor sich her und hinaus und die Schauspieler_innen in postdramatischer Weise und rhetorischer Spielmanier weg von Figuren hin zu Sprach- und Sprechhüllen. Da nützt auch die Gesangseinlage einer prominenten Sängerin nicht, die Anklage an Missstände und Ungleichheit bleibt aufrecht. Am Ende entweicht das Publikum durch die großen Türen, vielleicht in der Gewissheit, einem guten Werk gefolgt zu sein – dem Stück, der Inszenierung, der Stimme Jelineks und der Geflüchteten sowie dem Bildungsfonds der Caritas.27

Einerseits und andererseits Wenn Jelinek auf Aischylos’ Hiketiden zurückgreift und die Bruchstücke, die sie der antiken Tragödie entnimmt, mit Splittern des gegenwärtigen Diskurses um Asyl und Migration collagiert, dann bleibt kein Stein auf dem anderen, können Mauern abgerissen werden. Kategorien wie „damals“ und „heute“, „hier“ und „dort“ werden brüchig. Teleologische Zeitkonzepte versagen. So dechiffriert Jelineks „Tragödienfortschreibung“ etwa den Grundsatz der Volkssouveränität, der nicht nur im Mittelpunkt der Aischyleischen Tragödie steht, sondern auch dem ersten Satz der österreichischen Bundesverfassung entspricht, als zeitlos anmutendes, leeres Versprechen, das die Hypokrisie eines vermeintlich einenden Europas entlarvt: Das Land ist du, nein, das denn doch nicht, das Land erlaubt, deine Vorstellungen jederzeit einzubringen, aber das erlaubt es nur dir, nicht nur dir, aber auch dir, vor allem dir, uns erlaubt es gar nichts, wir sind nichts, und uns wird nichts erlaubt, obwohl wir gern mitmachen würden, ist besser als zuschauen, nicht wahr, damit das Recht auch von uns ausgeht, damit das Recht auch vom Volk ausgeht, das dann auch wir sein werden, aber das Recht geht nicht, und wenn es ausgeht, dann macht es sich fein, dann brezelt es sich auf, aber wir dürfen nicht mit, man läßt uns nicht mal ins Lokal hinein, das ist nicht gerecht, obwohl das Recht auch von uns ausginge, zumindest ausgehen könnte.28

Binäre, hierarchisierte Ordnungen werden in ihrer Konstruktion evident. Die Norm offenbart sich als Repräsentantin von Zivilisation und Rationalität, das Andere hingegen als zu kultivierendes Fremdes. „Einerseits“ und „andererseits“ verweisen aber auch auf ein, die gegenwärtige Flüchtlingspolitik prägendes, 27 Nach den Vorstellungen Die Schutzbefohlenen im Burgtheater wird jeweils für den Bildungsfond der Caritas gesammelt, um ein selbstbestimmtes Leben der Geflüchteten zu unterstützen, das konkret durch Deutschkurse und Basisbildungsangebote gefördert wird. 28 Elfriede Jelinek, „Die Schutzbefohlenen“, http://204.200.212.100/ej/fschutzbefohlene.htm [18. 05. 2016].

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Auseinanderklaffen von Reden und Handeln. Ein Auseinanderklaffen wiederum, das sich auch in der Diskrepanz widerspiegelt, die im postdramatischen Theater zwischen Rede und Aktion herrscht.29

29 „Ich möchte nicht sehen, wie sich in Schauspielergesichtern eine falsche Einheit spiegelt: die des Lebens. […] Bewegung und Stimme möchte ich nicht zusammenpassen lassen“, heißt es bereits 1983 in Jelineks programmatischem Aufsatz „Ich möchte seicht sein“. Elfriede Jelinek: „Ich möchte seicht sein“, in: Theater Heute, Jahrbuch 1983, S. 102.

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„Dieses Theater hütet und schützt vor der Angst wie ein warmer Mutterleib“ – Oder auch nicht. Neuverortungen der Funktionen von Theatergebäuden im Bosnienkrieg

Wenn Krieg, wie vom preußischen Militärwissenschaftler und Generalmajor Carl von Clausewitz im 19. Jahrhundert definiert, tatsächlich nichts anderes sei, als die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln,1 könnte man diesen Gedanken aufnehmen und jenseits der praktizierten Realpolitik weiterdenken: Man käme zur Schlussfolgerung, dass das zivile Alltagsleben im Krieg gleichwohl nichts anderes sei, als eine Fortsetzung des Lebens unter anderen Umständen. Dieses zynische Attest trifft eine gewisse Wahrheit, denn wie präsent der Krieg im Alltag auch immer sein mag: Alltag findet statt. Das Leben wird zum Überleben – Es wird fortgesetzt, wenngleich unter anderen Bedingungen. Dem Zusammenbruch staatlicher und gesellschaftspolitischer Strukturen, die mit der konkreten Einwirkung von Krieg Hand in Hand gehen, folgen stets neue Parameter, unter denen ein (Über-)Leben stattfindet, sei es auch noch so improvisiert und normabweichend. Theater besteht während eines Krieges und teilweise in Mitten von Konfliktzonen als kulturelle Praxis fort, ist demnach keine Anomalie und auch nicht – wie oftmals etwas romantisierend formuliert – der Beweis dafür, dass Kunst lebensnotwendig sei. Vielmehr ist es eine logische Auswirkung der Fortsetzung des Lebens unter anderen Bedingungen. Die Parameter, anhand denen man Formen von Theater im unmittelbaren Kriegskontext untersuchen und verstehen kann, sind vielfältig. Theatergebäude können als soziokulturelle und heterotopische Räume in einer Stadt begriffen werden. Hier sollen die möglichen neuen Funktionen dieses Raums im unmittelbaren Kriegs- bzw. Belagerungskontext skizziert werden. Dabei geht es nicht um ästhetische oder programmpolitische Positionen von Theaterinstitutionen und -macher_innen, sondern um neue, zweckentfremdete Funktionen von Theaterbauten als Topoi in Städten, die von Krieg unmittelbar betroffen sind. Als Beispiele werden Theaterhäuser in bosnisch-herzegowinischen Städten und Dörfern untersucht, in denen die jugoslawischen Nachfolgekriege 1991–1995 direkten Einfluss hatten. Wissen1 Carl v. Clausewitz, Vom Kriege, Hamburg 2008, S. 24.

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schaftsessayistische Reflexion tritt mit Aussagen von Zeitzeug_innen in Dialog und gibt Einblick in kriegsbedingte Umbrüche und deren Auswirkung auf Theaterhäuser.

Unterkunft. Das Theatergebäude als Zufluchtsort für Geflüchtete Als sich im Frühjahr 1992 der Bundesstaat Bosnien und Herzegowina vom jugoslawischen Staatenbund für unabhängig erklärte und somit den politischen Tendenzen und Entscheidungen in Slowenien und Kroatien folgte, war bereits vorhersehbar, dass ein etwaig darauf folgender militärischer Konflikt sich weitaus komplexer und verlustreicher gestalten würde als in den anderen Ländern Jugoslawiens. Die besonders vielfältige demographische Zusammensetzung des Landes2 und seine komplexen innerstaatlichen demographischen Grenzverläufe würden im Kontext der offensiv betriebenen großserbisch-zentralistischen Politik Belgrads zu zahlreichen Interessenskonflikten innerhalb der Umbrüche des ehemaligen Staatenbunds führen. Der unmittelbar darauf folgende Krieg zwischen der von Belgrad unterstützen Armee der Serbischen Republik bzw. der Jugoslawischen Volksarmee und der Armee der Republik Bosnien und Herzegowinas führte zu zahlreichen Ermordungen und Vertreibungen der Zivilbevölkerung. Der Ausbruch des Kriegs zwischen der Armee der kroatischen Bosnier und der bosnischen Armee im Frühjahr 1994 verkomplizierte die Frontverläufe zusätzlich und eröffnete einen weiteren „Krieg im Krieg“.3 Dadurch setzte die größte Migrationsbewegung innerhalb Europas seit dem Zweiten Weltkrieg ein. In Bosnien und Herzegowina bedeuteten die innerstaatlichen Migrationsprozesse Ab- und Neuzuwanderung in nahezu jeder Region. Serbische Minderheiten flohen in serbisch-kontrollierte Gebiete, während sich vertriebene muslimische Zivilist_innen in nahegelegene bosniakische Städte und Dörfer retteten. Es wurden unbewohnte Häuser besetzt und notgedrungen provisorische Flüchtlingsunterkünfte geschaffen. So dienten etwa auch einige Theaterhäuser als Unterbringungsort. Im Nationaltheater Mostar (Narodno Pozorisˇte Mostar), das sich auf der bosniakischen Ostseite der zwischen Kroaten und Bosniaken zweigeteilten Stadt befindet, waren Flüchtlinge im großen Theatersaal untergebracht. „[D]ort, wo heute das Publikum sitzt, waren ausschließlich Flüchtlinge. Da waren Betten und 2 44 % Muslime, großteils Bosniaken; 31,5 % Serbisch-Orthodoxe, großteils Serben; 17 % Katholiken, großteils Kroaten; weitere 14 offiziell anerkannte Minderheiten, Vgl. Steven L. Burg/Paul S. Shoup (Hg.), The War in Bosnia-Herzegowina, London 1999, S. 27. 3 Zˇeljko Ivankovic´ / Dunja Melcˇic´, „Der bosnisch-kroatische Krieg im Kriege“, in: Dunja Melcˇic´ (Hg.), Der Jugoslawien-Krieg. Handbuch zur Vorgeschichte, Verlauf und Konsequenzen, Wiesbaden 2007, S. 415ff.

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so, ein Flüchtlingslager. Wo heute die Sitzreihen sind, waren damals nur Flüchtlinge“,4 so Jasmin Krpo, der zu dieser Zeit in der bosnischen Armee diente und daneben als Laien-Schauspieler tätig war. Die Schauspieler_innen arbeiteten während des Kriegs auf der sich im obersten Stockwerk eingerichteten kleinen Probebühne5 und wichen somit zugunsten der Flüchtlinge in einen anderen Raum aus. Während (weitgehend muslimische) Flüchtlinge aus unterschiedlichen Ecken der Herzegowina im größten Theaterraum Mostars kochten, schliefen und sich warm hielten, wurden im Stockwerk darüber Texte geprobt und regelmäßig aufgeführt.

Abb. 1: Improvisierte Unterkunft für Geflohene im Foyer des Narodno Pozoriste Mostar.

Eine Flüchtlingsunterkunft unter einem Theaterdach und damit an einem Ort der Theaterproduktion, war keine Mostarer Besonderheit: Ähnliches wird von Zeitzeug_innen aus dem belagerten Sarajevo und anderen Regionen des Landes berichtet. Eine textliche Aufarbeitung und Reflexion dieser Überlappung eines Ortes der Theaterproduktion und einer Flüchtlingsunterkunft findet sich in der 1992 uraufgeführten Groteske Sklonisˇte (Der Unterschlupf) von Safet Plakalo und Dubravko Bibanovic´. Diese spielt in einem Sarajevoer Theaterfundus in den Anfangstagen der Belagerung und handelt vom Sinn und Zweck des Theaterschaffens in Kriegszeiten. Zu Beginn des Stücks schreibt eine Hauptfigur einen

4 Jasmin Krpo im Gespräch mit Senad Halilbasˇic´ am 27. 02. 2015, unveröffentlicht, Privatarchiv. Geführt im Rahmen des Dissertationsprojekts „,Spielende, Zuschauende sowie eine Granate, die weit genug entfernt ist.‘ – Bosnisch-Herzegowinisches Theater 1992–1995“. 5 Vgl. Senad Halilbasˇic´, „Geteilte Stadt, geteiltes Theater“, in: THEATER DER ZEIT 2015/11, S. 46ff., hier S. 46f.

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Brief an einen Verwandten im Ausland und schildert diesem das Leben als Flüchtling mitten im Theaterfundus: Vor sieben Tagen hat die heftige und furchteinflößende Bombardierung der Stadt begonnen, in der auch unsere Wohnung zerstört wurde. Ich befinde mich gerade im Theater, genauer gesagt, in dessen Keller, wo […] der Theaterfundus untergebracht ist. Wir haben hier einen Unterschlupf improvisiert. Ich schlafe auf einem alten Bett, decke mich mit Vorhängen zu, verwende Geschirr aus der Requisitenabteilung.6

Die Requisite, zuvor künstlerisch-ästhetisches Element von Theateraufführungen, erlebt hier eine Neukodierung. Ihre Zeichenfunktion innerhalb einer Aufführung weicht der abermaligen Überführung des Gegenstands in seine Alltagsfunktion. Was hier anhand der Requisite und ihrer Funktion in einem von Flüchtlingen bewohnten Theaterhaus aufgezeigt wird, kann als programmatisch für das Theatergebäude im Krieg begriffen werden. Der Ort der Kunst wird zum praktikablen Wohnraum und in einer belagerten Stadt zum Ort des physischen Überlebens – zu einer Art Schutzbunker. Elemente der darstellenden Kunst werden hier zu Alltagsgegenständen. Theaterkunst und physisches (Über-)Leben überlappen sich und koexistieren in einer symbiotischen Neukodierung.

(Schein-)Sicherheit. Das Theatergebäude als ein kollektiv empfundener Schutzort Dort, wo es eine Wechselbeziehung zwischen Zuschauenden und Spielenden gab und wo Theater noch als kulturelle Praxis fortgeführt wurde, muss der Theaterraum stets in seinem unmittelbaren Kontext zum Kriegsgeschehen begriffen werden. Wir stellen eine neue Definition des Theaters in Sarajevo auf: Theater – das sind ein Schauspieler und ein Zuschauer in aktiver, durch dramatischen Text artikulierter Wechselbeziehung, sowie eine Granate, die weit genug entfernt ist, um weder Schauspieler noch Zuschauer zu töten. Dieses Theater hütet und schützt vor der Angst wie ein warmer Mutterleib.7

Der Schriftsteller Dzˇevad Karahasan geht in seiner 1993 formulierten Definition von Theater zunächst von einem textbasierten Theaterverständnis aus und setzt dieser Definition einen räumlichen Aspekt als conditio sine qua non voraus: Die topographische Verortung des Gebäudes bestimmt die Sicherheit von Zuschauer_in und Schauspieler_in. An diesem Ort müssen beide Parteien vor dem 6 Safet Plakalo, Sklonisˇte. Der Unterschlupf, unveröffentlichtes Manuskript, übers. v. Senad Halilbasˇic´, Sarajevo 1992, S. 3. 7 Dzˇevad Karahasan, Tagebuch der Aussiedlung, Wien 1993, S. 44f.

Neuverortungen der Funktionen von Theatergebäuden im Bosnienkrieg

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Kriegsalltag geschützt sein, damit Theater stattfinden kann. Der metaphorische Vergleich mit einem warmen Mutterleib schließt auch an den Aspekt der Unterkunft im Sinne eines behüteten Rahmens an, der hier eingangs als Überlegung zum Theater als Ort der Flüchtlingsunterbringung formuliert wurde. Karahasans Überlegung ist jedoch in einer gewissen Hinsicht zu präzisieren: Im Kriegs- bzw. Belagerungskontext ist weniger der tatsächliche Schutz im Theatergebäude von Relevanz, als vielmehr das Gefühl von Sicherheit. Diese speist sich aus dem alleinigen zusammenkommen von Akteur_innen und Publikum, wie der Sarajevoer Schauspieler Miograd Trifunov berichtet: Wir haben den Menschen das Gefühl vermittelt, dass wir zusammengehören, dass wir eines sind, Publikum und Schauspieler. Und zwar wirklich. Nicht theatertheoretisch, nicht diese Ko-Präsenz von Zuschauer und Schauspieler, nicht so, wie das Theater sowieso ist, wenn Frieden herrscht. Sondern als Menschen, die ein gemeinsames Schicksal teilen.8

Ähnliches erinnert auch der Historiker Nihad Kresˇevljakovic´ : Ich glaube, dass das Wesen des Theaters das Erlebnis von Interaktion ist. Doch nur im Krieg hatte ich dieses wahrhafte Gefühl, dass ich während dem Betrachten des Bühnengeschehnisses zugleich ein Teil eben davon bin. Wenn draußen plötzlich auf einmal Granaten fallen, ist es vollkommen irrelevant wie sehr der Schauspieler in seiner Rolle ist: Er und ich denken in diesen Momenten genau dasselbe. Er spricht zwar seinen Text, denkt jedoch die ganze Zeit darüber nach, wohin die Granate wohl fallen wird, ob sie uns ja nicht erwischen wird. Dieses kollektive Erleben war einfach eine geniale Erfahrung.9

Das Theater ist also kein tatsächlicher Schutzort, was auch zahlreiche Granatenangriffe auf Kulturinstitutionen und eben auch Theatergebäude in ganz Bosnien und Herzegowina beweisen. Das Theatergebäude wird jedoch im Kriegskontext zu einem kollektiv wahrgenommenen Topos, der ein individuelles und zugleich kollektiv-empfundenes Gefühl von Sicherheit erzeugt, da der Kriegsalltag mit allen seinen Attributen in einer physischen Gemeinschaft wahrgenommen und geteilt wird.

Militärbasis, Folterkammer. Das Theatergebäude als Ort des Kriegs Eine weitere den Umständen geschuldete neue Funktion erlebten einige Theatergebäude während des Bosnienkriegs durch den Einzug von Militärinstanzen in die Stätten der Bühnenkunst. Bevor Geflüchtete in den Räumlichkeiten des 8 Senad Halilbasˇic´, „Umzingelte Bühnen. Zur Entstehung und Entwicklung des Sarajevoer Kriegstheaters“, Dipl.-Arb., Universität Wien 2012, S. 53. 9 Ebd.

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Mostarer Nationaltheaters – nach Ausbruch des kroatisch-bosniakischen Konflikts 1994 – Zuflucht fanden und Schauspieler_innen ihre Arbeit auf der dortigen Probebühne aufnahmen, war das Theater nahezu zwei Jahre lang nicht aktiv. Zahlreiche Ensemblemitglieder flohen auf die kroatisch-dominierte Westseite der Stadt oder ins Ausland. In dieser Zeit, als noch Kroaten und Bosniaken in einer Allianz gegen die Armee der bosnischen Serben in der Herzegowina kämpften, bezogen Militärs das zentral gelegene Theatergebäude. Ebenso wurde dort der serbische Radiosender der Herzegowina eingerichtet, welcher getreu der serbisch-nationalistischen Politik als regionales Propagandainstrument diente.10 Der Grund für die Wahl des Theaters als eine Kommandozentrale für Propaganda, aber auch andere militärische Wirkungsbereiche, liegt in den gebotenen Räumlichkeiten des Hauses: Obwohl zahlreiche andere Gebäude nach der Flucht großer Teile der Zivilbevölkerung Ostmostars ebenfalls frei standen (Caf8häuser, Klubs, Vereinsräumlichkeiten etc.), bot kein anderes Gebäude derartig viel Platz. Das bedeutete, dass in einer dicht besiedelten osmanischen Altstadt, in der große Räume eher rar sind, das Theaterhaus aus den praktikablen Gründen seines physischen Baus, seiner Größe sowie seiner zentralen Lage umfunktioniert wird: Als Ort der Militärstrategie bleibt es nach wie vor eine Heterotopie, in der Umgangsprotokolle, Hierarchien und Gesetze vorherrschen, die außerhalb dieses Raums nicht gelten. Doch Beispiele aus dem Bosnienkrieg zeigen, dass die neuen Funktionen von Theaterhäusern als Orte, in die der Krieg Einzug hält, noch bedeutend weiter gehen – von der Heterotopie zur Dystopie und zum Ort der Gewalt. Im Laufe der Jugoslawienkriege wurden Kunst- und Kulturstätten im Rahmen eines programmatischen Urbizids nicht nur oftmals gezielt zerstört,11 sondern auch in ihrer Funktion wiederholt entfremdet und missbraucht. In dem unˇ elopek, in der unmittelbaren Peripherie der Stadt scheinbaren bosnischen Dorf C Zvornik gelegen, fanden direkt auf einer Theaterbühne unvorstellbare Gräueltaten statt. In einem sogenannten „Dom Kulture“, einem multifunktionalen „Haus der Kultur“ aus jugoslawischer Zeit, wie es sie in der gesamten Region im ländlichen Raum gab und wo Theateraufführungen, Filmprojektionen, Konzerte und andere öffentliche Veranstaltungen abgehalten wurden, kam es in der frühen Phase des Bosnienkriegs zu grauenhaften Kriegsverbrechen. Paramilitärische Einheiten aus Serbien nahmen zwischen Mai und Juni 1992 zirka 150 muslimische Männer in Gefangenschaft, die sie später gezielt gegen serbische Gefangene aus bosniakischer Gefangenschaft austauschten.12 Die Gefangenen 10 Ivan Ovcˇar, Hrvatsko narodno kazaliste u Mostaru, Mostar 1999, S. 140. 11 Zum Begriff des „Urbizids“ vgl. Marie-Janine Calic, Krieg und Frieden in Bosnien-Hercegovina, Frankfurt/M. 1996, S. 131. 12 Vgl. Hannes Tretter / Stephan Müller / Roswitha Schwanke / Paul Angeli / Andreas Richter,

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ˇ elopek untergebracht. Mehrfach wurden sie gewaren im Haus der Kultur C zwungen, einander auf der Bühne zu foltern und zu vergewaltigen. Väter wurden dazu gedrängt Sexualakte mit ihren Söhnen einzugehen, während andere Gefangene von den Paramilitärs zum Zuschauen forciert wurden. Die Verantwortlichen wurden im Nachhinein im Rahmen von Kriegsverbrecherprozessen zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt,13 das Haus der Kultur kurz nach dem Krieg abgerissen und an ihre Stelle eine serbisch-orthodoxe Kirche erbaut. Bis zum heutigen Tage verweist keine Gedenktafel an die dort verübten Gräueltaten.

ˇ elopek, 1992 GräuelAbb. 2: Die Bühne des Dom Kulture Pilici. Hier wurden, genauso wie in C taten an bosniakischen Gefangenen verübt.

Der Missbrauch eines Kulturhauses bzw. einer Theaterbühne für Kriegsverbrechen stellt die extremste und abscheulichste Form einer Entwendung der ursprünglichen Funktion eines Theatergebäudes im Krieg dar. In diesem ,Ethnische Säuberungen‘ in der nordostbosnischen Stadt Zvornik von April bis Juni 1992, 1994, http://bim.lbg.ac.at/sites/files/bim/BIM%20Zvornik%20Studie%20Ethnische%20S% C3%A4uberungen.pdf [10. 06. 2016]. 13 Vgl. Branislav Jakovljevic´, „Zvornik 1992. Vernacular Imagination and Theatre of Atrocities“, Theatre During the Yugoslav Wars, Konferenz 2015, http://tdyw2015.univie.ac.at/ speakers-abstracts/branislav-jakovljevic/ [12. 06. 2016].

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„Theater der Kriegsgräuel“14 gibt es unfreiwillige Zuschauer und keine Spielenden, ein Bühnengeschehnis, doch keine freiwillige Wechselbeziehung. Der Ort der Kunst wird zu einer Folterkammer, die Bühne zum perversen Ausstellungsort realen sexuellen und anderweitig physischen und psychischen Missbrauchs.

Selten Alltag Wenn zu Beginn von Clausewitz weitergedacht attestiert wurde, dass Alltag im Krieg unter anderen Bedingungen stattfindet, da sich trotz Mord, Flucht, Vertreibung und anderer omnipräsenter Gefahren kulturelle Praktiken und damit verbundene Strukturen im stark eingeschränkten bzw. angepasstem Maße fortsetzen, mag dies für das Theaterschaffen gelten, sei es auch noch so sehr durch den Krieg geprägt. Theateraufführungen finden tatsächlich statt – jedoch unter den omnipräsenten Parametern des Kriegs. Auch wenn die Aufführungen kurzfristig potentiell ablenkende Wirkung auf das Publikum haben können, der Krieg ist auch im Theaterbau nicht zu vergessen.15 Doch die Ansicht der Fortsetzung des Alltags unter anderen Umständen mag für kulturelle Praktiken gelten, hinsichtlich der Rolle von Theaterbauten im Krieg aber greift dieser Gedanke viel zu kurz. Die gezielte Zerstörung von Theaterbauten hinsichtlich der Vernichtung kulturhistorischer Stätten, der Missbrauch von Theaterhäusern für militärische Zwecke und als Orte unaussprechlicher Kriegsverbrechen – diese pervertierten Praktiken bieten keinerlei Anknüpfungspunkt an Alltagsfortsetzungen. Sie sind Praktiken der physischen und psychischen Zerstörung jenseits jeglicher Kriegsjustiz, ohne die bewaffnete Konflikte selten auskommen. Krieg, Flucht und Vertreibung führen zu neuen Konnotationen eines Theatergebäudes. Es ist weiterhin häufig eine Produktionsstätte der Kunst – oftmals jedoch auch dem politisch-kontrollierten Geist der ihn umgebenden Ideologien freiwillig oder unfreiwillig unterworfen. Es kann mitunter als Unterkunft von Schutzsuchenden dienen. Es kann aber auch seiner Funktion als Ort kultureller Praxis entmündigt und als Gefangenenlager oder ähnliches missbraucht werden – denn, um Heinrich Heine abzuwandeln: Dort, wo man die Bühne missbraucht, missbraucht man am Ende auch Menschen.

14 Ebd. 15 Senad Halilbasˇic´, „,Die Illusion, ein normales Leben zu führen‘. (Realitäts-)flucht und Illusion im Theater während der Sarajevoer Belagerung 1992–1995“, in: Nicole Kandioler / Ulrich Meurer / Vrääth Öhner / Andrea Seier, escape. Strategien des Entkommens, Onlinepublikation, http://escape.univie.ac.at/die-illusion-ein-normales-leben-zu-fuehren/ [16. 06. 2016].

Peter Roessler

Rückblick und Spiegelung. Historische Betrachtungen zu Flucht, Exil und Theater

Ferne und Nähe der Flucht Das Thema der „Flucht“ wurde lange Zeit gerne in ferne Orte oder eine noch fernere Historie verschoben. Das vertrug sich durchaus mit dem paradoxen Erlebnis distanzierender Einfühlung in die Betroffenen, wie es sonst eigentlich mehr für die Theaterwelt reserviert ist. Inzwischen aber kann die Figur des Flüchtlings nicht mehr in die Ferne projiziert werden und ist sogar in der heterogenen, doch vielfach eher hermetischen Welt des zeitgenössischen Theaters präsent; selbst wenn die Texte und Stoffe aus der fernen Vergangenheit kommen. Die Erwartung, dass das Theater sich mit dieser wesentlichen Thematik der Gegenwart beschäftigt, also in diesem Sinne aktuell werden soll, mag dabei durchaus mit historischem Bewusstsein verbunden sein. Auch historische Verweise können allerdings die vielen theatralen Unternehmungen, die gegenwärtig das Thema „Flüchtlingskrise“ streifen, nicht auf einen Nenner bringen. Diverse Schlagworte, die Vergangenes mit Gegenwärtigem verbinden, werden freilich in der aktuellen Publizistik häufig verwendet. Das „Fremde“ – im Gegensatz etwa zum „Eigenen“ – ist so ein neuerlich in Gebrauch genommener Terminus, dem etwas Archaisches anhaftet und der zugleich zeitgemäß klingen soll.1 Zu den auf solche Weise wiederbelebten Gestalten gehört die Figur der Medea in ihren verschiedenen dramatischen Gehäusen; die überschaubare alte Welt, aus der sie kommt, ist in den jeweiligen Inszenierungen direkt oder indirekt auf die unbegriffenen neuen Welten bezogen.2 Die jüngere Wende zum politischen Theater – besser gesagt: dessen neuerliche Proklamation – kam nicht erst mit der Wahrnehmung jener Vorgänge, die 1 Vgl. o. A., „Das Fremde und das Eigene beschäftigt die Theater in Hamburg, München, Zürich und Basel mit unterschiedlichsten Vorlagen“, in: Theater heute 2/2016, S. 4. 2 Vgl. Cornelia Fiedler, „Die spinnen, die Griechen. Am Münchner Residenztheater holt Anne Lenk ,Das goldene Vlies‘ auf den dreckigen Boden europäischer Migrationspolitik“, in: Theater heute 2/2016, S. 8.

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gemeinhin als „Flüchtlingskrise“, „Flüchtlingsbewegung“, „Flüchtlingsströme“ klassifiziert werden. Unübersehbare krisenhafte Erscheinungen der Gesellschaft, manchmal als die eine Krise bezeichnet und mit dem Anfangsdatum der Finanzkrise von 2008 versehen, haben früher schon in- und außerhalb der Institutionen die Forderung hervorgebracht, man müsse auf eben diese Realität reagieren. „Migration“ tauchte bei der Suche nach dem Politischen dabei rasch als Thematik auf, und in den gegenwärtigen Texten, die – oft ohne Bezug auf die Geschichte – für ein neues politisches Engagement auf dem Felde des Theaters eintreten, geht es verstärkt um die „Geflüchteten und Asylsuchenden“ sowie nicht zuletzt um die Arbeit mit ihnen.3 Im Theater um das Theater, also in der medialen Sphäre, die nicht selten mehr Aufmerksamkeit erhält als die Aufführungen selbst, gehört das Engagement für Flüchtlinge inzwischen ebenfalls zu einem verbreiteten Phänomen. Die durchaus ehrlich empfundene Empörung über Restriktionen ist allerdings untrennbar mit Techniken der Werbung verbunden und letztlich durch andere Themen ersetzbar. In den entsprechenden Auftritten von Protagonist_innen großer Institutionen, die von der thematischen Garnierung der Spielplan-Ankündigungen bis zu karitativ ausgerichteten Veranstaltungen reichen, kommt das reale zeitgenössische Geschehen meist ebenso allgemein vor wie die Historie, auf die angespielt wird.

Vergleich und Erinnerung Der Versuch, den Blick auf die Geschichte zu lenken, kann nicht unmittelbar zum Verständnis gegenwärtiger Vorgänge führen. Vielleicht aber vermag die Thematisierung historischer Exile, in diesem Fall natürlich vor allem einiger Phänomene eines Exiltheaters, die Auseinandersetzung mit aktuellen Fragen und Problemen in einem tieferen, nicht immer strikt zu bestimmenden Sinn, zu beeinflussen. Es muss dabei nicht um einen Vergleich gehen. Claude Lanzmann hat Ende der 1990er-Jahre gemeint, dass nichts „abscheulicher [sei], als Schrecken miteinander zu vergleichen“4 und sich gegen die damals verbreitete Manier ausgesprochen, Vergleiche zwischen den Verbrechen im Jugoslawienkrieg und den Verbrechen der Nationalsozialist_innen zu ziehen 3 Vgl. Dramaturgische Gesellschaft, „was tun. politisches handeln jetzt“, jubiläumskonferenz 60 Jahre dramaturgische gesellschaft von 28. bis 31. januar 2016 im deutschen theater berlin, vgl. dramaturgie. zeitschrift der dramaturgischen Gesellschaft 1/2016, http://www.dramaturgische-gesellschaft.de/aktivitaeten/magazin-dramaturgie/ [27. 07. 2016]. Darin etwa: Tania Canas, „zehn punkte für künstler*innen, die mit geflüchteten arbeiten wollen“, S. 12f. 4 Claude Lanzmann, „Die Schrecken vergleichen“, in: Das Grab des göttlichen Tauchers, Reinbek bei Hamburg 2015, S. 379–383, hier S. 379.

Rückblick und Spiegelung. Historische Betrachtungen zu Flucht, Exil und Theater

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oder diese gar gleichzusetzen. Dem scheint zu widersprechen, dass Lanzmann Beispiele aus verschiedenen historischen Perioden anführt, wenn er im Anfangskapitel seiner Erinnerungen Der patagonische Hase über Hinrichtungen schreibt und dabei auf den jeweiligen juristischen Hauptakteur der Französischen Revolution, der Moskauer Prozesse, des Sl#nsky´-Prozesses sowie des NSRegimes mit dessen Staatsanwalt Freisler zu sprechen kommt.5 Aber es handelt sich hier nicht um Vergleiche, sondern um eine Reihe erschütternder historischer Erinnerungen und zeitgenössischer Beobachtungen, die unverkennbar durch die eine besondere Erfahrung mit den Verbrechen des Nationalsozialismus zusammengehalten und bestimmt werden. Die Singularität des Exils ab 1933 bzw. 1938 besteht darin, dass Flucht hier immer Flucht vor dem Konzentrationslager bedeutete. Der Regisseur und Schriftsteller Berthold Viertel notierte 1944 im Exil in den USA: Der hier spricht, wurde von den Nationalsozialisten erst in der Erziehungsanstalt eines Konzentrationslagers pädagogisch behandelt, dann nach Polen abgeschoben, schließlich – ein stammelndes Gespenst – vergast – [.] Daß es nicht tatsächlich geschah, ist einzig und allein die Folge einer rechtzeitigen Ortsveränderung. Eine solche historische Erledigung ist – auch wenn das Individuum verschont blieb – weder etwas Unwirkliches, noch etwas Zufälliges. Sie trifft und betrifft den Typus.6

Die Thematik selbst verbietet eine klare Trennung von Vergangenheit und Gegenwart, denn das – vielfach als historisch angesehene – Exil, von dem hier zunächst die Rede ist, war 1945 nicht zu Ende, ja kann bis ins Heute reichen. Zahlreiche vor den Nationalsozialisten Geflohene sowie deren Nachkommen sind in den Exilländern geblieben und sahen diese dann als ihre Länder an, ohne das Bewusstsein des Exils zu verlieren. Das galt ebenso für die literarische Produktion, denn unzählige Werke von Autor_innen des Exils entstanden lange nach 1945, nicht wenige erst in jüngerer Zeit. Unter den Theaterleuten – vor allem unter den Schauspieler_innen, deren Berufsausübung in besonderem Maß an die Sprache gebunden ist – war der Anteil derjenigen, die zurückkehrten, eher hoch. Aber war die Auswirkung des Exils damit abgeschlossen? Theatererfolge, die etwa der Regisseur Leopold Lindtberg oder der Dramatiker Fritz Hochwälder im Nachkriegsösterreich feiern konnten, haben sie nicht dazu veranlasst, dauerhaft aus ihrem Exilland Schweiz nach Wien zurückzukehren. Ungezählt wiederum sind jene meist jüngeren, deren Theaterlaufbahn durch das Exil jäh beendet wurde, die andere Berufe ergriffen und in den Exilländern verblieben. Sie sind kaum Thema der 5 Vgl. Claude Lanzmann, Der patagonische Hase. Erinnerungen, Reinbek bei Hamburg 22015, S. 15ff. 6 Zit. n. Konstantin Kaiser / Peter Roessler (Hg.), „Nachwort“, in: Berthold Viertel, Die Überwindung des Übermenschen. Exilschriften, Studienausgabe Bd. 1, Wien 1989, S. 403.

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Theatergeschichtsschreibung, obwohl sie doch weiterlebten und -arbeiteten, wie der junge Schauspieler und Regieassistent Kurt Reichert, von dem noch die Rede sein wird. Die Exilforscherin Siglinde Bolbecher hat früh die thematische Aktualität des Exils festgehalten: „Diejenigen, die heute Gesetze und Verordnungen gegen Flüchtlinge dekretieren, sollten die Geschichte des Exils kennen – ganz besonders in Österreich!“7 In der Aussage von Bolbecher, lange vor der gegenwärtigen Flüchtlingssituation formuliert, steckt ein aufklärerischer Gedanke, nämlich den Verantwortlichen durch historische Kenntnisse vor Augen zu führen, wie restriktive Maßnahmen in den Exilländern die Situation der vor dem Nationalsozialismus Flüchtenden verschlimmert haben: Einreiseverbot, Internierung in Lager, Abschiebung nach Hitlerdeutschland, die den Tod bedeuten konnte. Was hiermit verdeutlicht werden sollte, ist die Frage des historischen Maßstabs, denn Bolbecher wusste natürlich, dass die Kenntnis der Geschichte nicht unbedingt eine Umkehr bei den Verantwortlichen erzeugt. In der heutigen Situation können wir ihren Satz noch einmal aufgreifen und angesichts der jüngsten Erfahrungen neu formulieren: Diejenigen, die sich für Flüchtlinge einsetzen, sollten ebenfalls die Geschichte des Exils kennen. Zumindest könnten jene Bekundungen und Gesten der Menschlichkeit, die gering zu schätzen keineswegs angemessen wäre, durch historische Kenntnisse vertieft und konkretisiert werden. Die Bilder von Flüchtlingen ließen sich aus dem Status der isolierten Momentaufnahme lösen, um Verbindungen mit anderen Exilen herzustellen, aber ebenso um die gegenwärtigen Prozesse von ihnen zu unterscheiden und damit besser analysieren zu können.

Bilder der Flucht Freilich kann auch die gegenwärtige Vorstellung vom Exil zwischen 1933 bzw. 1938 und 1945 durch vage Bilder bestimmt sein, und die Übernahme von Realitätselementen muss noch nicht bedeuten, dass hiermit Realität abgebildet oder gar begriffen wäre. Wenn etwa das Motiv des Koffers in Erinnerungen von Exilierten anschaulich auf Vertreibung, Heimatverlust, Länderwechsel, Deportation verweist,8 so läuft dessen Verwendung in zeitgenössischen Ausstellungen oder in Theaterproduktionen Gefahr, zum Klischee zu werden. Zwar mag der Koffer auch dann noch das Erlebnis der Depersonalisierung illustrieren, dem die 7 Siglinde Bolbecher (Hg.), „Vorbemerkung“, in: Frauen im Exil. Zwischenwelt Jahrbuch 9, unter Mitarbeit von Beate Schmeichel-Falkenberg, Wien/Klagenfurt/Celovec 2007, S. 14. 8 Vgl. Susanne Bock, Mit dem Koffer in der Hand. Leben in den Wirren der Zeit 1920–1946, Wien 1999.

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Vertriebenen und Verfolgten ausgesetzt waren, aber in den Kontexten von Erinnerungsprojekten kann dies zu einer thematischen Entpersonalisierung führen: Die Reduktion der Menschen auf ein Requisit der Flucht stellt ein Objekt vor die Subjekte und blockiert – mit realistischen Mitteln – die Auseinandersetzung mit ihnen. Mit dem Koffer scheint dann alles gesagt und doch wurde nichts mehr erzählt. Aber jeglicher Rückblick wäre der Prüfung zu unterziehen, ob es hier um ein Entdecken geht, das nach dem Konkreten fragt, oder ob ein bloß formelles Gedenken stattfindet, das gegenüber den Subjekten und deren Besonderheiten gleichgültig bleibt. Gegenläufig hierzu wirkt vor allem die Auseinandersetzung mit wesentlichen Arbeiten der Exilierten auf dem Gebiet der Wissenschaft, der Literatur, des Theaters, der Malerei, der Musik, der politischen Programmatik. Die Geschichte der Kenntnisnahme dieser Zeugnisse, auch ihrer Missachtung und Verdrängung, kann als wichtiger Gradmesser für die Situation der Zweiten Republik genommen werden.9 Dabei handelte es sich bei der Rezeption des kulturellen Exils nicht eigentlich um einen Rückblick, sondern um eine Frage der Zeitgenossenschaft, des Wirksamwerdens und Verstehens von Werken und Positionen der Exilierten in einer Gegenwart, die noch immer im Bann des Nationalsozialismus steht. Die Exilforschung ist stets von der jeweiligen Gegenwart der Forschenden geprägt, wozu heute unverkennbar die Fluchtbewegungen zählen. Die Kenntnisnahme der Leistungen des Exils war nicht immer davor gefeit, bloß ein Pantheon der Prominenz und deren Leistungen zu errichten. Idealisierungen und die Fixierung auf einige bekannte Namen konnten die Geschichte der Bedingungen von Flucht und Vertreibung in den Hintergrund treten lassen. „Flüchtlingsdasein hat nichts Erhebendes“, hatte die – 1950 aus dem amerikanischen Exil nach Wien zurückgekehrte – Schriftstellerin, Dramaturgin und Theaterkritikerin Elisabeth Freundlich 1962 festgehalten und vom „zermürbende[n] Kampf um Aufenthaltspapiere und Arbeitserlaubnis“ im Exil, „vom Gezänk von Cliquen und Parteien, umgeben von einer gleichgültigen bis feindlichen Umwelt“10 geschrieben. Verklärungen waren nicht selten mit Verkleinerungen verbunden: Die Schauspielerin und Schriftstellerin Salka Viertel hatte in ihrem Haus in Santa Monica zahlreiche andere Exilant_innen als Gäste empfangen und beherbergt. Hier entstanden Kontakte, Gespräche und Initiativen, zudem half Viertel ihnen und unterstützte sie großzügig. Einer ihrer Söhne, Hans Viertel, kritisierte, dass 9 Vgl. Evelyn Adunka / Peter Roessler (Hg.), „Vorbemerkung“, in: Die Rezeption des Exils. Geschichte und Perspektiven der österreichischen Exilforschung, Wien 2003, S. 9. 10 Elisabeth Freundlich, „Bücher, die uns nicht erreichten“, in: Die fahrenden Jahre. Erinnerungen, hg. v. und mit einem Nachwort von Susanne Alge, Salzburg 1992, S. 155.

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diese Begegnungen später gerne bloß als „Salkas Salon“ dargestellt wurden.11 Salka Viertel aber war nicht nur eine wesentliche Gesprächspartnerin, sondern auch Autorin von Drehbüchern und einer wichtigen Autobiografie. Das Erzählen der eigenen Lebensgeschichte hat sie darin mit dem Erzählen über andere Menschen verbunden und dem trüben Medium der Schauspieler_innen-Memoiren somit eine Alternative entgegengesetzt, die Kenntnisse und Einsichten vermittelt.12 Diese Autobiografie hat früh eine gewisse Bekanntheit erlangt, obgleich das Exil der Frauen, auch das bekannterer Schriftstellerinnen, über Jahrzehnte hin wenig beachtet worden war. Auch auf diese Ignoranz hat übrigens Bolbecher verwiesen und ihr durch Erforschung der literarischen Werke ebenso wie der vielfältigen Aktivitäten exilierter Frauen entgegengewirkt. Ihre Beobachtung, dass sich die Verhältnisse zwischen den Geschlechtern unter den Bedingungen des Exils veränderten, kann wiederum entsprechende Fragen zu Flucht und Exil der Gegenwart aufwerfen.13

Erfahrungen von Flucht und Exil Beim Versuch, Flucht- und Exil-Erfahrungen zu skizzieren, bietet sich der Rekurs auf Schilderungen von exilierten Theaterleuten an, die meist viele Jahre später und oft auf Nachfrage, erfolgten. Etwas Szenisches kann darin enthalten sein und die Erinnerung an ein Handeln, das den Gewalten widerstrebte. Der bereits erwähnte Kurt Reichert war Absolvent des Reinhardt Seminars in Wien und wirkte als Regieassistent am Theater in der Josefstadt. Unmittelbar nach der Annexion Österreichs verlor er seinen Posten, weil er Jude war.14 Reichert, der auf seine Ausreisepapiere für die USA warten musste, ging vier Monate lang durch Wien, beobachtete das Geschehen in der Stadt, das ihn gleichermaßen bedrohte wie ausschloss, und verarbeitete seine Beobachtungen in kurzen Gedichten. Vorbild des jungen Schauspielers waren die Gedichte Heinrich Heines, 11 Vgl. Interview mit Hans und Thomas Viertel am 26. 09. 1993 in Wien, Privatarchiv P. R. 12 Vgl. Salka Viertel, Das unbelehrbare Herz. Erinnerungen an ein Leben mit Künstlern des 20. Jahrhunderts. Frankfurt/Main 2011 (Originaltitel: Das unbelehrbare Herz. Ein Leben in der Welt des Theaters, der Literatur und des Films, 1970) und Katharina Prager, »Ich bin nicht gone Hollywood!« Salka Viertel – Ein Leben in Theater und Film, Biographie, Wien 2007. 13 Vgl. Siglinde Bolbecher, „Frau Lot dreht sich um. Frauen und Rückkehr“, in: Frauen im Exil, S. 283–303 und dies., „Einen Untergang lang. Zur Literatur von ,Frauen im Exil‘“, in: Mit der Ziehharmonika. Literatur. Widerstand. Exil 3/1995, S. 3f. Siglinde Bolbecher war Initiatorin und Mitbegründerin der Frauen Arbeitsgemeinschaft (öge-frauenAG) der Österreichischen Gesellschaft für Exilforschung. 14 Vgl. Kurt Reichert, „[Erzählte Erinnerungen]“, in: Peter Roessler / Susanne Gföller (Hg.), Erinnerung. Beiträge zum 75. Jahrestag der Eröffnung des Max Reinhardt Seminars. Eine Dokumentation, Wien 2005, S. 57–62.

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des Exilanten aus dem 19. Jahrhundert, sowie die Rollengedichte der Wiener Kleinkunstbühnen, die bereits in einer Situation des Widerstands gegen das austrofaschistische Regime entstanden waren. In einigen Gedichten wird das Erlebnis der Auflösung von Realitätserfahrung angesichts der Bedrohung durch den Nationalsozialismus thematisiert, eine Art Irrealisierung des Lebensgefühls der Verfolgten, da Aktivitäten und Perspektiven zerstört werden und sogar die Frage entsteht, ob diese jemals existiert haben. Ist es möglich, dass noch Menschen Täglich in’s Theater gehen? Und dass andere sich schminken Und dann auf den Brettern steh’n? Nein! Dies alles sind gewiss Bunte Träume nur gewesen! Oder stand’s in einem Buch Das vor langem ich gelesen!15

Reichert vernichtete die Papiere mit seinen Gedichten – die er zuvor auswendig gelernt hatte – vor dem Grenzübertritt, da er Sorge hatte, dass sie von den NSBehörden entdeckt werden könnten. Auf dem Schiff in die USA schrieb er sie erneut nieder, in der Hoffnung, diese in Amerika auf einer Art Kleinkunstbühne präsentieren zu können. In den USA gelang es Reichert zwar kurzfristig, in einer Exilkabarett-Revue mitzuwirken, jedoch nicht, dauerhaft am Theater unterzukommen, er schlug sich in verschiedenen Brotberufen (unter anderem als Portier in einem Hotel) durch. Reichert studierte Sozialarbeit, arbeitete in diesem Beruf in verschiedenen sozialen Bereichen, unterstützte die Bürgerrechtsbewegung, und wurde schließlich Professor für Sozialarbeit an der San Diego State University. Nach seiner Pensionierung kehrte er zum Theater zurück und spielte in den USA in verschiedenen Inszenierungen sowie in Filmen. Ein glücklicher Ausgang gewiss, aber noch mehr : Reichert zog aus seinen Erfahrungen von Flucht und Vertreibung den Schluss, sich für die sozial Benachteiligten einzusetzen und vor allem für die Vertriebenen, aus welchen Ländern immer. Seine Gedichte, die er später öffentlich vortrug, widmete er den Millionen von anonymen Flüchtlingen aus allen Kontinenten, deren Schicksale ihn beschäftigten.16 Aus den Lebenszusammenhängen gerissen, auf sich selbst zurückgeworfen, bestand der Ausweg im erneuten Zusammenschluss mit anderen – die Theaterarbeit wurde zur Rettung. Maria Becker war mit ihrer Mutter, der Schauspielerin Maria Fein, 1936 von Deutschland nach Wien geflohen. Hier wurde sie 15 Kurt Reichert, „Träume“, in: The Vienna Poems: 1938. Gedichte aus Wien, übers. v. Julia Bentley und Kurt Reichert & John Kroll 2009, Albuquerque, New Mexico, S. 35. 16 Vgl. Julia Reichert, „Introduction“, in: The Vienna Poems: 1938. Gedichte aus Wien, o. S.

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am Max Reinhardt Seminar als Schauspielschülerin aufgenommen und erlebte prägende Begegnungen mit Lehrenden und Mitstudierenden – viele von ihnen mussten 1938 aus Österreich fliehen.17 In Wien konnte sie nicht gleich an die Konsulate heran, da sich vor ihnen Schlangen von Menschen gebildet hatten, die Visa zu erlangen suchten. So entschloss sie sich, nach Berlin zu fahren, „ins Auge des Hurrikans“;18 sie, die Flüchtende, saß hierauf im Zug mit zahlreichen Nationalsozialisten, die im „Anhaltelager Wöllersdorf“ inhaftiert gewesen waren, nun ihre Freiheit feierten und sich betranken. In Berlin bekam sie beim britischen Konsulat sofort ein Visum und reiste nach London, wo sie jedoch keine Arbeitsbewilligung erhielt. Becker ging schließlich nach Zürich, um am dortigen Schauspielhaus ihr Engagement anzutreten, und traf auf ein Ensemble, von dem sie lernen und in dem sie wirken konnte. Die Berichte über Flucht und Exil können jenen Widerspruch zwischen Ausgeliefertsein und Aktivität, der sich aus der realen Lage ergab, gleichermaßen enthalten wie lebendig veranschaulichen. „Die Emigration hat sich unheldisch vollzogen. Fliehen ist keine Tat“,19 hatte der Regisseur Max Ophüls in seiner Autobiografie Spiel im Dasein, die weitgehend 1945 entstanden und postum 1959 erschienen ist, geschrieben. In diesem Buch erzählt Ophüls dann aber mit einer gewissen Leichtigkeit, die stets anschaulich bleibt, über seine Kunst des Überlebens. Diese schwebende Erzählweise, erzeugt durch Ironie, Witz, Anekdote, hängt äußerlich zwar damit zusammen, dass er seine Erinnerungen für das Public Relations Office schrieb und für Zwecke der Publicity eine positive Darstellung seines Lebens zu geben hatte, von den inneren Motiven her aber, die freilich mit der äußeren Situation eng zusammenhängen, kann dieser Stil damit erklärt werden, dass hier ein Autor sich von einer Situation nicht überwältigen lassen wollte. Geschichten über Zufälle und Erfolge durchziehen das Buch, dessen Darstellungsweise etwas Spielerisches enthält. „Wie viele andere Exilanten“, schreibt der Herausgeber Helmut G. Asper, hatte auch Ophüls das Gefühl, verschont geblieben zu sein, und deshalb mochte er sich trotz seines eigenen Exilschicksals dem amerikanischen Publikum nicht als Opfer präsentieren. Das spiegelt sich in dem leichten Ton, mit dem er etwa von den sehr realen Gefahren seiner Flucht aus Frankreich erzählt.20 17 Vgl. Maria Becker, „[Erzählte Erinnerungen]“, in: Peter Roessler / Susanne Gföller (Hg.), Erinnerung. Beiträge zum 75. Jahrestag der Eröffnung des Max Reinhardt Seminars. Eine Dokumentation, Wien 2005, S. 40–46. 18 Ebd., S. 43. 19 Max Ophüls, Spiel im Dasein. Eine Rückblende, mit einem Vorwort von Marcel Ophüls und einem Nachwort von Hilde Ophüls, hg. und kommentiert v. Helmut G. Asper, Berlin 2015, S. 135. 20 Helmut G. Asper, „Zur Neuedition von Max Ophüls’ Erinnerungen Spiel im Dasein“, in: Spiel im Dasein, S. 302.

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Theaterarbeit Über 135.000 Menschen mussten aus Österreich fliehen, davon 100.000 zwischen der Annexion und dem Mai 1939, die meisten von ihnen waren Jüdinnen und Juden. Die Zahl der Schriftsteller_innen unter den Verfolgten und Geflüchteten beträgt ungefähr 1.200. Verlässliche Zahlen zu den exilierten Theaterleuten können nicht angegeben werden, was auch mit der Heterogenität der Berufe zusammenhängt: Schauspieler_innen, Dramatiker, Regisseure, Bühnenbildner, Theaterkritiker_innen. Theater war eines der am schwierigsten zu realisierenden Genres, dennoch hatte es im Rahmen des Exils eine große Bedeutung – für die Akteur_innen und für die Rezipient_innen.21 Wenigen exilierten Theaterleuten gelang es, an einer existierenden Theaterinstitution unterzukommen. Das bereits genannte Zürcher Schauspielhaus bot diese Möglichkeit, die zur Prägung eines Hauses durch Exilant_innen führte, denn das Ensemble bestand zu wesentlichen Teilen aus geflüchteten Schauspieler_innen, hinzu kamen Regisseure wie der in Wien geborene und aus Deutschland exilierte Leopold Lindtberg.22 Die Situation der gemeinsamen Arbeit, in die die Flucht der Einzelnen mündete, war keineswegs stabil und die Arbeitsbedingungen überaus hart, wenn auch eine Institution, ein Ensemble, ein Publikum Voraussetzungen boten, von denen andere Exilant_innen nur träumen konnten – beginnend mit den antinazistischen Zeitstücken der ersten Jahre bis zu den „Klassikern“, deren humanes Potential es gegen die Barbarei des NSRegimes zu mobilisieren galt. Die verhältnismäßig einfach herzustellenden Voraussetzungen und die Möglichkeit, rasch auf Aktuelles zu reagieren, lassen das Genre des Kabaretts oder der „Kleinkunstbühne“ als typisch für die Exilsituation erscheinen. In sich war dieses Genre allerdings keineswegs homogen, denn es reichte von den Unterhaltungsrevuen eines Karl Farkas, in denen das Kabarettistische aufgehoben war, über die szenischen Kleinformen in den Internierungscamps, bis zum Exilkabarett von Stella Kadmon in Palästina – mit der die Regisseurin und Theaterleiterin an ihre 1931 in Wien eröffnete Kleinkunstbühne „Der liebe Augustin“23 anknüpfte – und den Aufführungen der österreichischen Exilbühne 21 Im Folgenden muss ich mich auf wenige Literaturangaben beschränken. Einen Überblick bietet: Ulrike Oedl, „Theater im Exil – Österreichisches Exiltheater“, in: Österreichische Literatur im Exil seit 1933, 2002, S. 1–19, www.literaturepochen.at/exil/, [28. 07. 2016]. 22 Vgl. Ute Kröger / Peter Exinger, „In welchen Zeiten leben wir!“. Das Schauspielhaus Zürich 1938–1998, Zürich 1998, S. 31–83. 23 Zum Ende des „Lieben Augustin“ sowie zu Verfolgung und Exil der Beteiligten vgl. das Kapitel „Flucht und Exil“ in Birgit Peter, „Gewitzt. Stella Kadmons Kabarett ,Der Liebe Augustin‘. Ein Beitrag zur Wiener Unterhaltungskultur der dreißiger Jahre“, Dipl.-Arb. Universität Wien 1996, S. 85–89.

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„Laterndl“ in London, die im Rahmen der österreichischen Exilorganisation „Austrian Centre“ existierte.24 Satire, Parodie, Unterhaltung waren beliebt bei einem Publikum, das aus Exilierten bestand, was Diskussionen über die Berechtigung dieser theatralen Möglichkeiten angesichts der Verbrechen des Nationalsozialismus nicht ausschloss. Kabarett war (und ist) keine in sich geschlossene Gattung, was sich etwa daran zeigte, dass im „Laterndl“ 1942 ein Wechsel von den szenischen Formen der Kleinkunstbühne zur Aufführung von Stücken stattfand. Vom Kabarett zur Dramatik wechselte auch Stella Kadmon in Palästina und fand dabei zu einer Präsentationsform, die im Exil eine große Rolle spielte: der Lesung. Diese bot die Möglichkeit, unter Bedingungen, die größere Aufführungen nicht erlaubten, einem Publikum dennoch Stücke oder Szenen zu präsentieren. Lesungen fanden in zahlreichen Exilländern statt, meist im Rahmen von Exilorganisationen wie dem „Heinrich Heine Club“ in Mexico (in dem aber auch Inszenierungen, etwa 1944 die Uraufführung von Ferdinand Bruckners Denn seine Zeit ist kurz, in der Regie von Steffi Spira, zu sehen waren) oder der „Tribüne für freie deutsche Literatur und Kunst in Amerika“ (New York). Der Regisseur Berthold Viertel leitete 1942 an der „Tribüne“ eine Lese-Aufführung von Ferdinand Bruckners Schauspiel Die Rassen, 1947 gestaltete er für den „Austro American Council“ im Rahmen einer Karl Kraus-Feier eine Lesung von Szenen aus Die letzten Tage der Menschheit. Wollte man diese kursorische Phänomenologie des Exiltheaters weiterführen, müsste zwischen den einzelnen Unternehmungen, ja zwischen den jeweiligen Inszenierungen und Präsentationen differenziert werden, auch wäre auf die verschiedenen Akteur_innen einzugehen. Selbst für jene Theaterleute, die vor ihrem Exil eine hohe Reputation besessen hatten, sind Scheitern, Brüche, Rückschläge durch das Exil zu bitteren Erfahrungen geworden; wie bei Max Reinhardt und dessen vergeblichen Versuchen, in den USA seine Theaterarbeit fortzuführen. Die Auflehnung gegen die widrigen Bedingungen gehört allerdings ebenfalls zu diesen Biografien, sie manifestierte sich in den wenigen Inszenierungen, die Leopold Jessner, Erwin Piscator oder Berthold Viertel im Exil durchsetzen konnten.

24 Vgl. Erna Wipplinger, Österreichisches Exiltheater in Großbritannien (1938–1945), Diss. Universität Wien 1984.

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Flucht und Drama Brüche und Rückschläge können im Exil ebenso für die Gattung Drama konstatiert werden. Die Schwierigkeiten des Exildramas hatten, neben den institutionellen Hindernissen, auch stoffliche und gestalterische Gründe. Obwohl Flucht und Exil doch mit einer realen Dramatisierung des Lebens verbunden waren, folgte daraus nicht unbedingt eine Fülle an szenischen Möglichkeiten, die etwa eine Fortsetzung oder gar Intensivierung des Zeitstückes der Weimarer Republik bedeutet hätten. Die ohnehin überaus schwierige Darstellung der gegenwärtigen Schrecken stieß im Falle des Dramas – stärker noch als dies bei anderen Gattungen der Fall war – zunehmend an formale und inhaltliche Grenzen. Der häufige Rückgriff auf historische Stoffe dürfte hierin seinen Grund haben, ohne dass man diesen als bloße Ausweichbewegung vor der Gegenwart deuten könnte. Die Spiegelung gegenwärtigen Geschehens mittels der Historie führte wiederholt zum Genre der Komödie. Hierzu gehören die Stücke Figaro lässt sich scheiden (1936) von Ödön von Horv#th oder Heroische Komödie (1942) von Ferdinand Bruckner, die in der Epoche der Französischen Revolution bzw. den Jahren danach angesiedelt sind und in denen es um Flucht und Exil geht. Beide Autoren versuchen dramatische Analogien zur Gegenwart zu bilden und gelangen zu allgemeinen Aussagen, die sie meist ihrer Hauptfigur in den Mund legen. Trotz einer gewissen Nähe bei der Wahl von Zeit und Genre kommen sie allerdings zu entgegengesetzten Ergebnissen: Horv#th gelangt – mit seiner Figaro-Figur – letztlich zu einer humoristisch-harmonisierenden Absage ans Politische, Bruckner bei aller Ironie hingegen – mit der Schriftstellerin Madame de Sta[l, die er zur Protagonistin seiner Komödie macht – zu einem Appell für politisches Engagement. Gegenläufig zu den dramatischen Enthistorisierungen suchte Bertolt Brecht die Historie durch Bezug auf die Konstellationen der jeweiligen Epoche zu nutzen, in der er seine Stücke spielen ließ, und dennoch oder gerade deshalb – etwa mit dem Dreißigjährigen Krieg in Mutter Courage und ihre Kinder – auf tragische und komische Weise über etwas zu erzählen, das in der Gegenwart von Bedeutung sein konnte. Das Geschichtliche behielt in seinen Stücken durchaus etwas Funktionales, war aber nicht auf historische Kostümierung beschränkt und blieb auch dort präsent, wo die Form einer historischen Chronik keine Rolle spielte: Denn selbst seine Parabelstücke erwecken den Eindruck einer szenischen Ansiedlung in sozialen Verhältnissen der Vergangenheit. Fluchtbilder finden sich in Exildramen mit historischen, parabelhaften oder zeitgenössischen Stoffen, wobei die Figur des Flüchtlings keineswegs ein so häufiges Phänomen ist, wie zunächst angenommen werden kann. Diejenigen Gattungen, in denen das Erlebnis von Verfolgung, Flucht, Heimatlosigkeit,

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Isolation am deutlichsten ausgedrückt wird, sind wohl Lyrik und Autobiografie. Brechts Flüchtlingsgespräche enthalten zwar den Dialog als Gestaltungsmittel, dieser aber ist hier weniger dem Drama als dem Roman verwandt (was sich nicht zuletzt durch den freien Rückgriff auf den dialogisierten Roman des Denis Diderot erweist) und zudem mit epischen Passagen verbunden. Letztere sind gelegentlich als Kommentare zur Exilsituation eingesetzt – dabei dramatisch gesehen also der Szenenanweisung verwandt –, vorwiegend aber als monologischer Gesprächsteil einer der beiden Figuren, dem Physiker Ziffel oder dem Arbeiter Kalle, zugeordnet. In den Dialogen selbst taucht häufig etwas Epigrammatisches oder Aphoristisches auf, wodurch die beabsichtige Künstlichkeit des Gesprächs verstärkt und den beiden Figuren etwas Unpersönliches verliehen wird. Die Sentenzen lassen sich aus der Situation lösen und als Zitate verwenden, sie werden zu Pointen des Exils. „Die Schweiz ist ein Land, das berühmt dafür ist, daß sie dort frei sein können. Sie müssen aber Tourist sein“,25 lässt Brecht seinen Ziffel räsonieren.

Die Eigenschaften der Flüchtlinge „Komödie einer Tragödie in drei Akten“, betitelte Franz Werfel sein zwischen 1941 und 1942 entstandenes (1944 in Basel uraufgeführtes) Stück Jacobowsky und der Oberst, in dem es um die Flucht vor dem Nationalsozialismus geht und das nach 1945 überaus erfolgreich auf deutschen und österreichischen Bühnen gespielt wurde. Quer durch Frankreich lässt der Dramatiker seine Figuren, den jüdischen Flüchtling Jacobowsky – der bereits fünfmal in seinem Leben geflohen ist26 –, den polnischen Oberst Stjerbinsky und dessen Diener Szabuniewicz sowie die Französin Marianne Deloupe, Geliebte des Oberst, im Jahre 1940 mit einem Automobil fliehen. Dialogisch gebunden wird das Geschehen vor allem durch den Gegensatz zwischen Jacobowsky und dem Oberst, der sich rasch als Antisemit entpuppt. Werfel brachte eigene Erfahrungen in die objektive Welt des Dramatischen, führte das Geschehen gleichermaßen ins Anekdotische wie ins Allgemeine und allegorisierte Teile der Handlung, indem er Figuren wie den Ewigen Juden oder den Heiligen Franziskus auftreten ließ. All dies kann hier nicht näher behandelt werden, auch nicht die dramaturgische Konstruktion, zu

25 Bertolt Brecht, „Flüchtlingsgespräche“, in: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe Bd. 18, hg. v. Werner Hecht / Jan Knopf / Werner Mittenzwei / Klaus-Detlef Müller, Berlin / Weimar / Frankfurt/Main 1995, S. 248. 26 Vgl. Franz Werfel, Jacobowsky und der Oberst, Frankfurt/Main 1990, S. 18ff.

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der der Germanist Egon Schwarz bemerkte, „daß die Komödie nach dem Schema ,Frau zwischen zwei Männern‘ verläuft“.27 Stattdessen sei, dem Stück folgend, die Figur des Flüchtlings Jacobowsky hervorgehoben, der nicht als Opfer gestaltet ist, sondern als jemand, der sich behauptet, in den schwierigsten Situationen aktiv und erfindungsreich bleibt, mit List und Witz agiert. Wiewohl Jacobowsky die Kunstfigur einer Komödie ist, hat doch gerade die Darstellung seiner Selbstbehauptung problematische Seiten, die mit Vorstellungen korrespondieren, wie sie in der realen Welt existieren. Egon Schwarz, selbst Exilant,28 hat festgehalten, dass Jacobowsky vom Autor mit Attributen ausgestattet wurde, die zu den Klischees über Juden gehören: Geschäftsmann, Kapitalist, Generaldirektor, Experte für Finanzwesen, zugleich Förderer der modernen Architektur und Liebhaber alter Kunst – und mit „jüdische[r] Chuzpe“29 ausgestattet. Daß Jacubowsky [sic] ein unsteter Wanderer ist, kann man ihm angesichts der politischen Entwicklungen nicht verargen […]. Aber da er ewig auf der Flucht und immer unterwegs ist, haftet ihm der Makel der Unstetigkeit an. Kann man ihm unter den gegebenen Umständen übelnehmen, daß er nervös ist und eine Neigung zeigt, seine bedrohlichen Lagen so rational wie möglich zu analysieren? Kaum. Aber als Folge bleiben Nervosität und berechnende Logik zurück, Tendenzen, die in allen antisemitischen Pamphleten von Drumont bis Dühring den Juden angelastet werden.30

Während der Flüchtling Jacobowsky vom Autor beinahe im Übermaß mit Eigenschaften bedacht wurde, gibt es auch den Flüchtling ohne Eigenschaften, zumindest ohne genauer gezeichnete Konturen, was Denkweise und Herkunft betrifft. In Fritz Hochwälders Schauspiel in drei Akten Der Flüchtling (1944) findet sich erneut eine Dreieckskonstellation. Der – wie Hochwälder – ins Schweizer Exil geflüchtete Dramatiker Georg Kaiser hatte dem jungen Autor die Idee vermittelt. Das Stück, dessen Inhalt hier nur angedeutet werden kann,31 handelt davon, dass ein Flüchtling von einem Transport entkommt, mit dem nicht näher gekennzeichnete Okkupanten einheimische Männer als Zwangsar27 Egon Schwarz, „Franz Werfel ,Ich war also Jude! Ich war ein anderer!‘. Eine Darstellung der sozio-psychologischen Judenproblematik“, in: Wien und die Juden. Essays zum Fin de siHcle, München 2014, S. 79. 28 Vgl. Egon Schwarz, Unfreiwillige Wanderjahre. Auf der Flucht vor Hitler durch drei Kontinente, Nachwort von Uwe Timm, München 2005. 29 Schwarz, „Franz Werfel ,Ich war also Jude! Ich war ein anderer!‘.“, S. 79. 30 Ebd. 31 Vgl. dazu den Beitrag des Verfassers „Ein Exildrama im österreichischen Nachkriegsfilm. Von Fritz Hochwälders Flüchtling zum Film Die Frau am Weg“, in: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch Bd. 21, hg. v. Claus-Dieter Krohn et al., München 2003, S. 141–154. Dort finden sich auch entsprechende Angaben zu Stück, Entwurf, Film, Dokumenten usw. Das Bühnenmanuskript des Stückes befindet sich im Verlag Felix Bloch Erben, Berlin (Fassung von 1955).

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beiter über die Grenze deportierten. Die Frau des Grenzwächters gibt ihm aus spontaner Menschlichkeit Unterschlupf; auf seiner Flucht ist er in das allein am Berg gelegene Haus eingedrungen und hat sich einfach in das Ehebett gelegt, sodass seine Verfolger glauben, er wäre ihr Mann, und wieder abziehen. Der zurückgekehrte Grenzwächter stellt sich gegen den Flüchtling und möchte ihn erschießen, um sich und seine Frau vor etwaigen Repressionen durch die Okkupanten zu bewahren, zudem empfindet er bald Eifersucht. Nach langen Dialogen und etlichen szenischen Wendungen macht der Grenzwächter jedoch schließlich eine Wandlung durch: Er lässt Frau und Flüchtling über die Grenze fliehen, stellt sich den Verfolgern entgegen und wird an der Schwelle seines Hauses erschossen. Hatte Georg Kaiser in seinem Entwurf an das überfallene Frankreich gedacht, von dem Zwangsarbeiter nach Deutschland deportiert wurden, so gab Hochwälder im ausgearbeiteten Stück keine Ortsangaben und verzichtete auf zeitliche Hinweise. Die Nationalsozialisten und ihre Verbrechen blieben unerwähnt, aber gerade das Ungefähre, in dem hier Okkupanten, Diktatur und Flüchtling – der nicht einmal einen Namen trägt – belassen wurden, führte dazu, dass das Stück in den Jahrzehnten nach 1945 immer wieder gespielt wurde. Hochwälder selbst, der nach 1945 für längere Zeit als Dramatiker den Rückgriff auf historische Stoffe wählte, um auf die Erfahrungen der jüngsten Vergangenheit zu reagieren, hat sich später skeptisch gegenüber seinem, im zeitgenössischen Niemandsland spielenden, frühen Schauspiel geäußert. In autobiografischen Beiträgen hat Hochwälder über die eigene Flucht in die Schweiz und das Exil berichtet, seine Erzählungen darüber sind so anschaulich wie konkret.32 Die Konkretion durch Landschaften, Orte, Dialekte muss nicht immer ein reales Bild von Verfolgung und Flucht ergeben, auch das lässt sich am Flüchtling zeigen und zwar an dessen Verfilmung. Dieser Film mit dem Titel Die Frau am Weg wurde 1948 – allerdings ohne Mitwirkung Hochwälders, der mit dem Ergebnis äußerst unzufrieden war – von der Willi-Forst-Film Produktionsgesellschaft hergestellt und mit allen Versatzstücken des Heimatfilms ausgestattet. Aus dem nicht näher bestimmten Land wurde hier ein Österreich, von dem man den Eindruck hatte, dass es ebenfalls überfallen und von feindlichen Mächten, den Nationalsozialisten, besetzt worden war. Das Thema der Flucht vor den Nationalsozialisten war nach 1945 für die dramatische Gattung keineswegs ausgeschöpft, wenngleich die Probleme der Darstellung mit dem zeitlichen Abstand nicht geringer wurden. Der Rückgriff auf eigene Exil-Erfahrungen konnte dabei von Bedeutung sein, aber es bedurfte stets besonderer politischer wie personeller Konstellationen, um auf dem 32 Vgl. Fritz Hochwälder, „Als Bühnenschriftsteller im Exil“, in: Im Wechsel der Zeit. Autobiographische Skizzen und Essays, Graz / Wien / Köln 1980, S. 26–33.

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schwierigen Feld der Darstellenden Kunst, oft erst nach vielen Jahren der Vorbereitung, entsprechende Projekte zu realisieren. Zu den Werken, die hierbei besondere Beachtung verdienen, zählen Die Flucht von Ernst Waldbrunn und Lida Winiewicz (1965)33 sowie die Filmtrilogie Wohin und zurück in der Regie von Axel Corti (1982–85/86), deren Drehbuch von Georg Stefan Troller auch als Buch erschienen ist.34

Nebeneinander der Exile – Tschechisches Exiltheater der 1970erund 1980er-Jahre Andere Exile kamen im Österreich der Zweiten Republik hinzu, die für das Theater bedeutsam wurden. Dazu gehörten vor allem die tschechischen „Dissidenten“, deren Stücke am Burgtheater unter der Direktion von Achim Benning (1976 bis 1986) aufgeführt wurden. Einer von ihnen war der Schriftsteller Pavel Kohout, der an diesem Theater auch als Dramaturg tätig war. Kohout, zunächst Mitglied der kommunistischen Partei, von der er nach der Niederschlagung des „Prager Frühlings“ ausgeschlossen wurde, arbeitete bereits in Wien am Burgtheater, als ihm 1979 aufgrund seiner oppositionellen Haltung von den tschechischen Behörden die Staatsbürgerschaft aberkannt wurde und er nicht mehr ˇ SSR zurückkehren durfte. Zum Ensemblemitglied wurde Pavel Lanin die C dovsky´ – in seiner Heimat ein sehr bekannter Schauspieler –, der 1979 nach Wien ans Burgtheater gekommen war und 1980 ebenfalls durch Aberkennung der tschechischen Staatsbürgerschaft „ausgebürgert“ wurde.35 1981 fand am Akademietheater die Uraufführung seines Stückes Arrest statt. Eine besondere Stellung nahm V#clav Havel ein: Er war Hausautor des Burgtheaters,36 der seine eigenen Stücke nicht sehen konnte, denn er bekam etwa 33 Vgl. Ernst Waldbrunn / Lida Winiewicz, Die Flucht. Ein Stück in 2 Teilen, München / Wien / Basel, s. a. 34 Vgl. Georg Stefan Troller, Wohin und zurück. Die Trilogie. Drehbuch zur gleichnamigen Filmtrilogie, Wien 2009. 35 Die tschechischen Behörden hatten Pavel Landovsky´, der legal nach Wien gereist war, ausgebürgert, als er an einem geplanten Gastspiel des Burgtheaters in Moskau teilnehmen sollte. Da er durch dieses Manöver über keinen gültigen Pass mehr verfügte, wäre ihm die Teilnahme nicht möglich gewesen. Die Direktion des Burgtheaters sagte daraufhin aus Solidarität mit ihrem Ensemblemitglied das Gastspiel ab. Auch Fred Sinowatz, Bundesminister für Unterricht und Kunst, sagte seinen vorgesehenen Besuch in Moskau ab. 36 Vgl. Hans Haider, V#clav Havel 1976 bis 1989. Die Uraufführungen der Stücke von V#clav Havel im Wiener Burgtheater 1976 bis 1986. Mit einer Fortsetzung in Zürich, eine Ausstellung des Österreichischen Theatermuseums in Wien vom 11.06. bis 28. 11. 1999, Ausstellungskatalog, Wien 1999; Carol Rocamora, Acts of Courage. Vaclav Havel’s Life in the Theater, Hanover, New Hampshire 2005, S. 350–355. Vgl. auch die von der V#clav-Havel-Bibliothek in Prag (in Zusammenarbeit mit dem Tschechischen Zentrum Wien) konzipierte Ausstellung

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für die Uraufführung seiner Einakter Audienz und Vernissage (1976, Akademietheater)37 sowie auch späterhin keine Ausreisebewilligung; ihm wurde von den tschechoslowakischen Behörden der Reisepass verweigert. V#clav Havel – der die Bezeichnung „Dissident“ als fragwürdig ansah – wurde aufgrund seiner Haltung mehrfach verhaftet und musste mehrere Jahre im Gefängnis verbringen.38 Er war kein Exilant, lehnte sogar ein Ausreiseangebot, das ihm 1979 von den Behörden unterbreitet worden war, ab und nahm die Haft in Kauf.39 Sein Werk aber war Teil der Exilliteratur, es durfte, nach dem Ende des „Prager ˇ SSR nicht mehr publiziert oder aufgeführt werden; die Frühlings“, in der C Stücktexte wurden außer Landes geschmuggelt und nach den Uraufführungen am Burgtheater international vielfach nachgespielt.40 Pavel Kohout, Pavel Landovsky´ und V#clav Havel gehörten zu den Initiatoren der Charta 77 – der Petition gegen die Verletzung der Menschenrechte durch das Regime in der Tschechoslowakei –, deren Aktivisten bzw. Unterzeichnern von der sozialdemokratischen Regierung unter Bruno Kreisky Asyl in Österreich angeboten worden war. Sollen auch die verschiedenen Exile retrospektiv nicht gleichgesetzt werden, so bleibt doch auffällig, dass während der Direktionszeit von Achim Benning zumindest drei Exil-Erfahrungen am Burgtheater zusammenliefen, was die dort wirkenden Personen sowie die Spielplangestaltung betraf: Erstens wurden Dramen von Autoren, die von den Nationalsozialisten vertrieben worden waren, gespielt. Aufgeführt wurden Werke von Elias Canetti, Hermann Broch und Ro-

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„Seine Freiheit, unsere Freiheit. V#clav Havel und das Burgtheater“, Theatermuseum Wien, Eröffnung: September 2016. Das dritte an dem Abend gezeigte Stück war Die Polizei von Sławomir Mroz˙ek, der bei der Premiere anwesend war. Audienz und Vernissage waren die ersten Stücke von V#clav Havel, die am Burgtheater (Akademietheater) gespielt wurden. Erstmals in Wien waren Dramen Havels am Volkstheater zu sehen gewesen: Das Gartenfest, 1965; Die Benachrichtigung, 1967. 1968 hatte Havel den „Österreichischer Staatspreis für Europäische Literatur“ erhalten. (Unauffällige Überreichung in Prag durch den Österreichischen Botschafter Rudolf Kirschläger), vgl. Haider, V#clav Havel 1976 bis 1989, S. 14. Vgl. V#clav Havel, Versuch, in der Wahrheit zu leben. Essay, übers. aus dem Tschechischen v. Gabriel Laub, Reinbek bei Hamburg, S. 47ff. Havel befand, dass „der Begriff ,Dissident‘ von der westlichen Journalistik ausgewählt“ worden sei (ebd., S. 47); er verwendete ihn zwar selbst, problematisierte ihn aber und setzte ihn konsequent unter Anführungszeichen. In der Untersuchungshaft war Havel von den tschechischen Behörden gefragt worden, ob er die Einladung zu einem Arbeitsaufenthalt in den USA annehmen würde. Diese war auf Initiative des Filmregisseurs Milosˇ Forman erfolgt, der 1968 in die USA emigriert war, vgl. „Aus der Verteidigungsrede V#clav Havels vor dem Senat des Stadtgerichts in Prag (22.–23. 10. 1979)“, in: V#clav Havel, Briefe an Olga. Betrachtungen aus dem Gefängnis, übers. aus dem Tschechischen v. Joachim Bruss, für die deutsche Ausgabe bearbeitet von Jirˇ& Grusˇa, Reinbek bei Hamburg 1990, S. 320 sowie Michael Zˇantovsky´, V#clav Havel. In der Wahrheit leben. Die Biographie, Berlin 2014, S. 254ff. Vgl. Rocamora, Acts of Courage, S. 158.

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bert Musil, die bislang am Burgtheater nicht vorgekommen waren sowie Die Ermittlung (1981) von Peter Weiss. Zweitens inszenierten kommunistische „Dissidenten“ am Burgtheater ; enttäuschte Kommunist_innen, wie Adolf Dresen und Angelika Hurwicz, die sich selbst nicht als Exilant_innen oder Emigrant_innen bezeichneten, die DDR jedoch verlassen hatten, gerade weil sie nicht bereit waren, ihre politischen Haltungen aufzugeben und sich anzupassen. Hurwicz gehörte beiden Gruppen an: Sie war aus der DDR emigriert und hatte unter dem NS-Regime aufgrund ihrer jüdischen Herkunft nicht als Schauspielerin arbeiten dürfen, jedoch bei Theatertruppen im Erzgebirge die NS-Bürokratie umgehen können.41 Hurwicz und Dresen wirkten übrigens am Burgtheater parallel zu Regisseuren, die erfolgreich in der DDR arbeiteten, wie Manfred Wekwerth und Thomas Langhoff. Von Teilen der Presse wurde hier nicht unterschieden, sondern pauschalierend eine Kampagne gegen „DDR-Regisseure“ betrieben, wozu auch diejenigen gezählt wurden, die aus der DDR weggegangen waren. Drittens schließlich ist das tschechische Exiltheater mit den bereits angeführten Autoren zu nennen, das wiederum in Berührung mit Theaterleuten kam, die über andere Exil-Erfahrungen verfügten. Leopold Lindtberg inszenierte die Uraufführungen von Havels Protest sowie Kohouts Attest (1979) und Maria kämpft mit den Engeln (1981) am Akademietheater, Hurwicz war als Regisseurin für die Uraufführung von Havels Versuchung (1986) vorgesehen.42 1986 las Becker – als Matin8e – Texte von Havel, unter anderem aus den Briefen an Olga sowie dem Essay Politik und Gewissen. Angehörige aller drei Exile waren in Wien Angriffen ausgesetzt, die zwar in verschiedenen Formen stattfanden, immer jedoch auch die Leitung des Burgtheaters meinten, und daher ineinander übergehen konnten: Es gab die erwähnten Attacken gegen die „DDR-Regisseure“, und zwar im Rahmen einer länger andauernden antikommunistischen Kampagne von Kronen Zeitung und Presse sowie von FPÖ und Teilen der ÖVP gegen die Direktion Benning, weiters Ressentiments gegen Exilautoren wie Canetti und schließlich antitschechische Invektiven, vorwiegend in Briefen von Theaterbesuchern.43 In den Kulturkämpfen des Kalten Krieges wurde alles Bedrohliche dem ,kommunistischen Osten‘ zugeordnet, und da die „Dissidenten“ von dort kamen, zählte man sie gleich dazu. Die Kampagnen koexistierten aber mit einem allgemein verbreiteten Bedürfnis, Konflikte zu vermeiden, das sich wohl als 41 Vgl. Angelika Hurwicz, Die Nische des Insekts, Engelsbach [u. a.] 1989. 42 Angelika Hurwicz legte die Regie während der Proben (1986) zurück, die Inszenierung wurde von Hans Kleber fertiggestellt. Es existieren jedoch einige schriftliche Ausführungen von Angelika Hurwicz zum Stück, vgl. Sammlung Achim Benning. 43 Vgl. Achim Benning, „Jirˇ& Grusˇa – Mein bisschen Tschechien“, in: In den Spiegel greifen. Texte zum Theater, hg. v. Peter Roessler, Wien 2012, S. 278f. sowie ders., „Elias Canetti – Erinnerungen in Ruse“, in: ebd., S. 298.

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Ausdruck von Gleichgültigkeit, verbunden mit der Abneigung gegenüber kritischen Haltungen, interpretieren lässt: Bei einer „Repräsentativerhebung“ im Rahmen eines Forschungsprojekts äußerte sich eine Mehrheit der Befragten gegen ein Engagement Österreichs für die „Bürgerrechtsbewegungen“ in Osteuropa, eingeschlossen in diese Ablehnung war auch die Gegnerschaft zur „Aufführung systemkritischer Theaterstücke“.44 Diese Meinung, die den Menschenrechtsaktivitäten der österreichischen Bundesregierung zuwiderlief, wurde unter anderem damit begründet, dass man „nicht unnötig in die Streitereien anderer hineingezogen“45 werden wolle. Die „Streitereien anderer“ – diese Phrase reicht weit über den Anlass hinaus, denn mit ihr wird nicht nur das Engagement für die Bedrängten und Inhaftierten zurückgewiesen, sondern auch das Wiedererkennen der eigenen Situation in der Lage der Anderen. Die Stücke Havels jedenfalls, lassen sich durchaus auf andere Gesellschaftsformen beziehen.46 Das gilt nicht nur für seine Dramen, die in realabsurden Kunstwelten angesiedelt sind, sondern gerade auch für diejenigen ˇ SSR spielen, deren Realismus aber nicht weniger ans Absurde Werke, die in der C streift. Vornehmlich ist das bei den Einaktern der Fall, in denen der Dichter Ferdinand Vaneˇk – am Akademietheater dargestellt von Joachim Bißmeier – mit dem Konformismus und Opportunismus der ihm begegnenden Menschen konfrontiert wird. Die Figur des Vaneˇk ist von Havel nicht als Sprachrohr eingesetzt, wird also nicht dazu verwendet, Ansichten des Autors zu verkünden. In den politischen Stücken des antiideologischen Dramatikers ergibt sich schon durch die Existenz dieses Protagonisten, der eher passiv ist, höflich bleibt, keine Konflikte sucht, aber doch seinem Gewissen folgt, ein wie selbstverständlich wirkender Widerspruch zum Regime, vor allem aber zu den Angepassten, über deren Ängste und Wendungen gelacht werden kann. „Er hält“, schrieb Havel über seinen Vaneˇk, „Menschen aus unterschiedlichsten Bereichen unwillkürlich jenen Spiegel vor, in dem sie ihr wahres Gesicht zeigen“.47 In Audienz ersucht der Braumeister und Direktor den von ihm in der Brauerei als Arbeiter beschäftigten Vaneˇk, doch die abverlangten polizeilichen Berichte 44 Die Umfrage erfolgte 1981 im Rahmen eines wissenschaftlichen Forschungsprojektes des Instituts für Völkerrecht und internationale Beziehungen der Karl-Franzens-Universität Graz und wurde vom Fessel + GfK-Institut durchgeführt, vgl. Auszug aus einem Referat von Renate Kicker anlässlich des XIV. Außenpolitischen Gesprächs der Österreichischen Gesellschaft für Außenpolitik in Bernstein am 07. und 08. 05. 1982, o. S. sowie Die Presse, 08./ 09. 05. 1982, Sammlung Achim Benning. 45 Referat Renate Kicker, o.S. 46 Vgl. Hans-Peter Riese, „Havel“, in: Reinhard Urbach / Achim Benning (Hg.), Burgtheater Wien 1776–1986. Ebenbild und Widerspruch. Zweihundert und zehn Jahre, Wien 1986, S. 64. 47 V#clav Havel, „Vaneˇk“, in: Programmheft des Akademietheaters, Saison 1979/80, H. 3. Die Figur des Ferdinand Vaneˇk wurde auch von anderen Autoren aufgegriffen, etwa von Pavel Kohout und Pavel Landovsky´.

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über dessen Verhalten gleich selbst zu schreiben, sich also selbst zu bespitzeln, wofür er ihm auch Vorteile verschaffen würde, was dieser aber ablehnt. Vernissage handelt davon, wie ein Paar, Vera und Michael, den in der Brauerei arbeitenden Dichter Vaneˇk einlädt, um ihm die aufwändige Ausstattung der Wohnung vorzuführen; und wie diese angepassten Egoisten, ihn – der stets höflich bleibt, aber wenig Anteil an ihrem erkauften Glück nimmt, auch nicht zum Konsum bekehrbar ist und sich nach einiger Zeit verabschieden möchte – schließlich als „Egoisten“ und „Verräter“ beschimpfen. Protest (Uraufführung, Akademietheater 1979) zeigt, wie der konformistische Autor Stanek den Dichter Vaneˇk zu sich bittet, wortreich und sich in mutige Posen werfend über die Notwendigkeit des Protestes gegen die Inhaftierung eines Liedermachers – von dem seine Tochter ein Kind erwartet – eintritt, es allerdings dann, lavierend und aggressiv, ablehnt, selbst die von Vaneˇk bereits vorbereitete Protestresolution zu unterschreiben.48 Unerschöpflich scheint die menschliche Komödie des Opportunismus und Konformismus zu sein, aber nach Jahrzehnten der Unterdrückung fällt die Handlung des Stücks, mit dem die Vaneˇk-Trilogie gewissermaßen fortgesetzt wird, deutlich tragischer aus. Im Schauspiel Largo Desolato, 1985 am Akademietheater uraufgeführt, wird die Figur des intellektuellen „Dissidenten“ – nunmehr der Philosoph Leopold Kopriva, wiederum dargestellt von Joachim Bißmeier – als durch Verfolgung und Isolation gebrochener Mensch gezeigt. Das Lächerliche ist in dieser Tragödie nicht verschwunden, die Bedrohlichkeit jedoch gewachsen. Zur Entlarvung von Repression gehört die zur Schau gestellte Höflichkeit und Sachlichkeit der beiden Geheimpolizisten – vom Dramatiker als „Erster und Zweiter Kerl“ bezeichnet. Die beiden „Kerle“ haben Kopriva den Vorschlag zu überbringen, er solle eine Erklärung unterschreiben, dass er nicht der Autor eines von ihm verfassten kritischen Schriftstücks sei. Das wirkt komisch und erschreckend zugleich, ebenso wie die Berufung der Amtspersonen auf höhere Instanzen: „Wir selbst entscheiden natürlich nicht über diese Dinge“,49 lässt Havel den „Ersten Kerl“ sagen. Diese Distanzierung von der ei48 Vgl. V#clav Havel, Vaneˇk-Trilogie. Audienz – Vernissage – Protest und Versuchung, Sanierung. Theaterstücke, mit einem Vorwort von Marketa Goetz-Stankiewicz, Reinbek bei Hamburg 1991. 49 V#clav Havel, Largo Desolato. Schauspiel, mit einem Vorwort von Siegfried Lenz, Reinbek bei Hamburg 1990, S. 57. Außer den hier genannten kamen am Akademietheater noch folgende Stücke von V#clav Havel zur (Ur-)Aufführung: Das Berghotel (1981), Die Benachrichtigung (1983), Versuchung (1986). Am Zürcher Schauspielhaus, dessen Direktion Achim Benning 1989 übernommen hatte, wurden Havels Sanierung (1989, Uraufführung) sowie D’Benachrichtigung (1992, schweizerdeutsche Fassung von Urs Bircher) aufgeführt. Havel war 1989 erneut verhaftet, nach Protesten einige Monate später aber wieder freigelassen worden. 1990 ˇ SFR ernannte Havel als Privatbesuchte der inzwischen zum Präsident der nunmehrigen C person das Schauspielhaus, wo ihm zu Ehren ein Fest gegeben wurde.

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genen Verantwortung ist wahrlich in verschiedenen Verhältnissen zu finden – auch hier und heute.

Fabian Wingert

Georg Kreisler: Außenseitertum und internalisiertes Exil – Mittel der künstlerisch-performativen Selbstermächtigung

Der Begriff des „Exils“1 scheint untrennbar mit irgendeiner Form von „Heimkehr“ zusammenzuhängen. Denn wenn es sich schon um einen „langfristige[n] Aufenthalt außerhalb des Heimatlandes“2 handelt, so drängt sich doch wenigstens der Eindruck auf, dieser solle in zweierlei Hinsicht eingeschränkt sein: Einerseits soll das Exil nur begrenzten Einfluss auf die Identitätsbildung nehmen, denn die originäre Nationalität der Exilant_innen wird nie in Frage gestellt. Jede Person hat einen Geburtsort; und dieser liegt eben in einem (mehr oder weniger) bestimmten Land. Durch diese Herkunft wird die Identität der Exilant_innen maßgeblich definiert. So wird das Exil andererseits zeitlich befristet, indem man den Weggegangenen unterstellt, sie müssten ihre „Heimat“ immer wieder als Ausgangspunkt für neue Entscheidungen heranziehen, indem früher oder später eine Rückkehr zu dieser erfolgt. Diese Limitationen zeigen sich auch in den Kulturwissenschaften, wenn wir beispielsweise vom Exil „als Folge der Vertreibung durch die Nationalsozialisten“3 sprechen. Selbstverständlich kann das Exil als Reaktion einer ethnischen Gruppe oder Minderheit auf eine Form der (gewaltsamen) Ausgrenzung aufgefasst werden. Dennoch – und darauf möchte ich hinaus – ist das Exil weder nur ein Teil des eigenen Selbstverständnisses noch zeitlich zu umreißen: Vielmehr wird das Exil durch seine Internalisierung zu einem substanziellen Identitätscharakteristikum. Wir sollten daher Termini wie „Exil führt zu …/definiert …/ etc.“ vermeiden und konstatieren, dass ein Mensch maßgeblich durch das Exil definiert wird. Eine Engführung dieses Begriffes ist insofern sinnlos, als Exilant_innen – unabhängig von Herkunft, kulturellen Prägungen etc. – zu Außenseiter_innen werden. Ihre kleinsten gemeinsamen Nenner sind einerseits das 1 Mit Anführungszeichen gekennzeichnete Begriffe bzw. Phrasen, die nicht mit (in-)direkten Zitaten versehen sind, sollen als kritischer Hinweis bzw. Reflexion des Beschriebenen verstanden werden. 2 Vgl. Definition lt. Online-Duden, http://www.duden.de/rechtschreibung/Exil, [25. 01. 2016.]. 3 Vgl. Peter Roessler, „Theater des Exils. Rückblick und Spiegelung“, 14. 12. 2015, http://www. stadtrandforschung.at/Flucht_Migration_Theater_tfm_ws2015/, [19. 07. 2016].

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Gefühl, nirgends dazuzugehören und andererseits, nicht wahrgenommen zu werden.

Das internalisierte Außenseitertum Der Komponist, Dichter und Jude Georg Kreisler – geboren 1922 in Wien, gestorben 2011 in Salzburg – war gezwungen, nicht „nur“ als Jude, auch aus politischen Gründen (er verstand sich als Anarchist), im Jahr 1938 vor dem NSRegime nach Hollywood zu fliehen. Obwohl er im Laufe seines Lebens immer wieder nach Österreich und Wien zurückkehrte, fühlte er sich als „Außenseiter“. Dieses Gefühl, nicht dazuzugehören, prägte auch seine künstlerischen Arbeiten maßgeblich. So schreibt er in seiner Autobiographie: Außenseiter leben nicht gut, sie werden unschuldig benachteiligt und unverdient bewundert. Kein Wunder, wenn sie gelegentlich Aufträge annehmen, die den eigenen künstlerischen Ansprüchen widersprechen. Auch ich bekenne mich schuldig, billige Texte geschrieben, billige Musik komponiert und mich dabei nur auf meine Routine und mein Handwerk verlassen zu haben.4

Nun könnte man an dieser Stelle entgegnen, dies sei das Verhalten eines Revoluzzers, der die Welt mit den Mitteln seiner Künste – und diese waren bei Kreisler in jeder Hinsicht zahlreich – verbessern wollte. In gewisser Hinsicht mag dieser Einwand gerechtfertigt sein. Dennoch ist er nur das Symptom eines internalisierten Außenseitertums. Die lebenslange Exilerfahrung, die sich im Falle Kreislers trotz einer Rückkehr an den Geburtsort nicht milderte, führte zu dem oben genannten Exil als Identitätscharakteristikum. Dies wird umso deutlicher, wenn wir uns einen von Kreisler verfassten offenen Brief an die Stadt Wien vor Augen führen,5 den er im Jahr 1996 anlässlich seines 75. Geburtstags verfasste. Ich behaupte, dass dieser Text trotz seiner satirischen Überspitzung eine Abrechnung von Kreisler mit seiner Herkunft (Wien/Österreich) ist. Hierin spricht er von einer Tradition der Künstlerverhinderung und macht unmissverständlich klar, dass er sich weder „österreichisch“ noch „wienerisch“ fühlt. Was die meisten Menschen nicht wissen: Trotz seines markanten Dialekts war Georg Kreisler seit seiner Flucht im Jahr 1938 kein österreichischer Staatsbürger mehr : Diejenigen Österreicher_innen, die entweder Widerstand gegen das NS-Regime leisteten oder ins Ausland flohen, 4 Georg Kreisler, Letzte Lieder. Autobiographie, Zürich/Hamburg 2009, S. 105. 5 Vgl. Georg Kreisler, „Ein Brief nach Wien (1996)“, in: Süddeutsche Zeitung am 01. 10. 1996, http://www.georgkreisler.info/brief-nach-wien.html, 26. 01. 2016. Die im folgenden Absatz verarbeiteten Informationen beziehen sich auf diesen Brief und werden daher nicht gesondert ausgewiesen.

Mittel der künstlerisch-performativen Selbstermächtigung

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erhielten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die österreichische Staatsbürgerschaft nicht zurück. Angesichts der zu Kriegsbeginn stattgefundenen „Vereinheitlichung“, die allen Österreicher_innen automatisch die deutsche Staatsbürgerschaft verlieh, erscheint diese Entwicklung der Nachkriegszeit wie Hohn für alle aus Österreich Vertriebenen; somit auch für Kreisler. Seine Geschichte ist daher ein exzellentes Beispiel für die Internalisierung des Exils, die nicht einschränkbar, sondern vielmehr zu einem maßgeblichen Teil identitätsstiftend ist. Daher plädiere ich dafür, seine Kunst nicht als ästhetischen Selbstzweck, sondern als Mittel der Selbstermächtigung zu kontextualisieren.

Selbstermächtigung und Performativität Alle von Kreisler gewählten Formen der Selbstermächtigung sind in ihrer Realisation theatral. Selbst wenn es sich um geschriebene Texte in Form von Bearbeitungen, Biographien, etc. handelt, sorgte Kreisler immer für eine Inszenierung seiner eigenen Werke. Um mit dem von Rudolf Münz entwickelten Theatralitätsgefüge zu sprechen: Kreislers Arbeiten waren niemals Nicht-Theater.6 Sie waren erstens Lebenstheater, da seine Vorwürfe nicht fiktiv waren, sondern eine präzise Überspitzung dessen, was Kreisler einerseits historisch, andererseits biographisch analysierte. Es geht hierbei um das „Verhalten des/der Menschen im außerkünstlerischen Bereich: Selbstdarstellung im Alltag […], soziales Rollenspiel, Veranstaltungsverhalten […], Elemente der Alltagsunterhaltung“.7 Kreisler skizzierte die Folgen des internalisierten Außenseitertums mit theatralen Mitteln. Aus diesem Grund war Kreislers Arbeit zweitens Kunsttheater : Die von ihm gewählten Vermittlungsformen (Theaterstücke, Chansons, Hörspiele) sind eine „wie auch immer geartete (reine) Theaterkunst im weitesten Sinne“.8 Hierbei ist schon die Akribie bei der Komposition von Musik und dem Verfassen von Texten bezeichnend: Kreislers Arbeiten existier(t)en, um in Szene gesetzt zu werden, damit ihr Wirkungsradius erweitert wird. Gleichzeitig ist Kreislers Arbeit schließlich Theaterspiel. Hier wird „das ,Theatralische‘ […] kritisch durchleuchtet, ,entlarvt‘“,9 um den Rezipient_innen

6 Die Bezeichnungen Nicht-Theater, Lebenstheater, Kunsttheater und Theaterspiel sind, in Bezug auf das von Rudolf Münz entwickelte Theatralitätsgefüge, einer von Birgit Peter gehaltenen Vorlesungsreihe („Theatrale und mediale Inszenierungsformen“) am Institut für Theater- Film- und Medienwissenschaft im Wintersemester 2014/2015 entnommen. 7 Rudolf Münz, Theatralität und Theater. Zur Historiographie von Theatralitätsgefügen, Berlin 1998, S. 68. 8 Ebd. 9 Ebd., S. 70.

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eine (Selbst-)Reflexion auf das Wahrgenommene zu ermöglichen und sie dadurch zum Handeln aufzufordern. Diese, in Kreislers Werken beobachtbare Handlungs-Aufforderung, die weit über das Bedürfnis des bloßen Gehört-Werdens hinausgeht, ist der eigentliche Akt seiner künstlerischen Selbstermächtigung. Besonders herausragend für diese (Auf-)Forderung an die Außenwelt sind seine Chansons. Es sei angemerkt, dass diese als theatral-musikalische Gattung etwas von jenem internalisierten Exil beinhalten, dessen Signifikanz ich eingangs erwähnte. Wenn wir davon ausgehen, dass der Aufführung eines Chansons (im deutschsprachigen, nicht im französischen Sinne!) zunächst die Themenfindung sowie, damit zusammenhängend, das Verfassen von Text und Musik vorausgehen, dann birgt diese Vergegenwärtigung zwei maßgebliche Implikationen für das „End-Produkt“. Einerseits wird die Problematik, die das Chanson definieren soll, zunächst vom Künstler reflektiert, um sie dann in einem Schreibbzw. Kompositionsakt zu verewigen. Weil es jedoch, wenigstens bei Kreisler, nicht bei diesen Akten bleiben soll, sondern mittels der Aufführung bzw. des Verlautbarmachens eine Handlungsaufforderung ausgeht (/ la „Bitte machen Sie es nicht so, wie es im Chanson karikiert ist!“), befinden wir uns inmitten der Performativitätstheorie von John L. Austin. Diese hat uns eine revolutionäre Beschreibung der performativen Sprechakte gelehrt: Sprache ist niemals nur Selbstzweck, sondern immer auch Handlungssaufforderung.10 Somit kann das Chanson, andererseits, als theatrale Gattung in besonderem Maße performativ sein, weil der Handlungsaufforderung mehrere Reflexionen vorausgehen (vom Thema zum Text, vom Text zur Musik, von der Musik zur Instrumentation). Die Performativität von Kreislers Chansons kennzeichnet diese Handlungsaufforderung; und ist wiederum ein Symptom des internalisierten Exils. Denn wenn Kreisler behauptet, es gäbe „zwei wichtige Sünden: Patriotismus und Antisemitismus“,11 so können wir diese maßgeblichen Triebfedern seiner Werke direkt auf seine biographischen Erfahrungen zurückführen: Auch wenn Themenkomplexe wie „Exil“, „Flucht“, „Vertreibung“ fast niemals explizit in den Chansons erwähnt werden, so ist die Satire auf z. B. Patriotismus und Antisemitismus allgegenwärtig: Man erinnere sich hierbei beispielsweise an Titel wie „Schlag sie tot“ (1997)12 oder , „Wo sind die Zeiten dahin“ (1969).13 10 Die Details der Theorie gründen auf folgender Vorlesungsreihe: John L. Austin, How to do Things with Words. The William James Lectures delivered at Harvard University in 1955, hg. v. James Opie Urmson / Marina Sbis/, Oxford 1962. 11 Kreisler, Letzte Lieder, S. 123. 12 Vgl. Georg Kreisler, „Schlag sie tot“, Liedtext, http://www.georgkreisler.info/song/schlagsie-tot.html?liste=song [19. 07. 2016]. 13 Vgl. Georg Kreisler / Hans Weigel, „Wo sind die Zeiten dahin“, Liedtext, http://www.georg kreisler.info/song/wo-sind-die-zeiten-dahin.html?liste=song [19. 07. 2016].

Mittel der künstlerisch-performativen Selbstermächtigung

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Diese Beobachtung führt schließlich zu einem interessanten „Blinden Fleck“ in den Chansons von Kreisler, der jedoch auch, so behaupte ich, im Rest seines künstlerischen Schaffens wahrnehmbar ist.

Der blinde Fleck Kreisler betonte immer, dass er seine künstlerisch-performativen Mittel einsetze, um etwas „für andere“14 zu erreichen. Er selbst nahm sich immer von der möglichen „Wirkung“ aus, die in diesem Fall die ersehnte Aufarbeitung bzw. Verbesserung der oben genannten Themen war. Er exkludierte sich selbst von möglichen Veränderungen zu dem aus seiner Sicht Besseren: Dieser blinde Fleck ist das wahrscheinlich stärkste Merkmal des internalisierten Exils. Exilant_innen haben sich mit der Tatsache abgefunden, nicht dazuzugehören, obwohl sie – wie im Fall Kreisler – sogar immer wieder an ihren Geburtsort zurückkehren. Das Leben im Exil ist zu dem eingangs erwähnten existenziellen Identitätscharakteristikum geworden; Kreisler fühlte sich zeitlebens als Außenseiter : „In Wien war es mir unmöglich, Wiener zu werden, anderswo stand ich immer im Verdacht, einer zu sein.“15 Mit Dori Laub gesprochen, äußert sich das Trauma unter anderem durch seine „amorphe Präsenz“, die einerseits zu einer Unmöglichkeit der Verbalisierung und andererseits zu einem blinden Fleck in der Erinnerung der Traumatisierten führt;16 ganz im Sinne einer Exilerfahrung. Es kann aber nicht im Sinne einer kulturwissenschaftlichen Praxis sein, Künstler_innen ein wie auch immer geartetes Trauma zu unterstellen; besser erscheint mir von der nicht begrenzbaren Internalisierung des Exils zu sprechen. Auch schien das Erinnerungsvermögen Kreislers bestens zu sein, denn kaum ein anderer Künstler reflektierte das eigene Wirken mit vergleichbarem Nachdruck und ähnlicher Radikalität, was für ein Trauma nicht gelten würde. Die Antwort liegt, meiner Meinung nach, in der Tatsache, dass Kreisler seine Privatperson von einem auf der Bühne gezeigten „Typus Kreisler“17 trennte. In diesem Bühnentypus, dieser artifiziellen Figur, realisierte Kreisler all das, was er 14 In dem bereits erwähnten, „offenen Brief an die Stadt Wien“ schreibt er : „Aber ich persönlich finde es unpassend und vielleicht auch Ihren hohen Ämtern nicht entsprechend, daß Sie meine runden Geburtstage zu einer Art Reinwaschung verwenden, anstatt zumindest den Versuch zu unternehmen, Unrecht zu verhindern – nicht bei mir, denn dazu ist es zu spät, aber bei anderen.“ Vgl. Kreisler, „Ein Brief nach Wien (1996)“. 15 Kreisler, Letzte Lieder, S. 27. 16 Vgl. Dori Laub, „Eros oder Thanatos? Der Kampf um die Erzählbarkeit des Traumas“, in: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen 54, 9–10/2000, S. 860–894. 17 Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang, dass Kreisler seine Chansons auf der Bühne immer in persona performte; also sprach/sang und sich gleichzeitig am Klavier begleitete.

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als Privatperson nicht sagen konnte oder wollte. Die von ihm kreierte Bühnenfigur ist somit die Basis für jede Form der theatralen Selbstermächtigung(-en). Exil(-Erfahrung) kann, egal aus welchen Gründen und unabhängig von ihrer Dauer, schwer begrenzt werden; weder in zeitlicher noch örtlicher noch emotionaler Dimension. Künstlerisch-performative Mittel sind eine Möglichkeit, dieser (traumatischen) Erfahrung Gehör zu verschaffen, wobei das Exil als internalisiertes Identitätscharakteristikum bestehen bleibt. Es ist der Minimalkonsens einer Auseinandersetzung mit der Thematik „Flucht, Migration, Theater“; selbst wenn wir versuchen, „Themen (zu) entwickeln“18 und Tendenzen zu analysieren.19

18 Vgl. Roessler, „Theater des Exils“. 19 Die Tatsache, dass der vorliegende Essay einem häufigen Wechsel verschiedener Zeitformen unterliegt, ist mir bewusst. In jedem Fall soll dies nicht inkonsistent wirken oder den Anschein einer mangelhaften Orthographie erwecken; vielmehr bitte ich darum, diese Wandlungen als Folge der Aktualität des Themas aufzufassen: Obwohl Kreisler bereits im Jahr 2011 verstorben ist, bleibt sein Werk aktuell. Es ist so progressiv, dass wir dieses auch im Jahr 2016 kontextualisieren können, als sei seit seiner Entstehung kein einziger Tag verstrichen.

Armin Kirchner

Die Exil-Trilogie. Fritz Hochwälder und die Flucht

Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich Wien nie verlassen. So unablösbar fühlte ich mich dieser Stadt verbunden, daß ich fürchtete, anderswo würde mein Schicksal das eines Fisches auf dem Trockenen sein. Aber bekanntlich ging es nicht nach mir.1

Diese Worte Fritz Hochwälders lassen es noch unvorstellbarer wirken, wie sich der angehende Dramatiker in jener Sommernacht 1938 gefühlt haben muss. Ironischerweise nicht wie ein Fisch auf dem Trockenen, sondern wie ein Nichtschwimmer im Gewässer durchwatet der damals 27-Jährige den Rhein. Hinter ihm installieren unter Jubel der Bevölkerung die Nazis ihre Herrschaft, vor ihm liegt die neutrale Schweiz, die sich über ankommende Flüchtende gar nicht erfreut zeigt. In seiner geliebten Heimat Wien lässt er nicht nur seine ersten Erfolge als Autor und seine berufliche Grundlage als Tapezierer hinter sich, sondern vor allem seine Familie, die dort den Tod finden wird. Die Strapazen der Flucht, das Nicht-Willkommen-Sein, mit der er in der Schweiz empfangen wird, das Heimweh nach Wien, kurz: seine Flucht wird sein Schaffen und sein Leben lang beeinflussen. Doch Hochwälder beurteilt sein Exil zwiegespalten: „Ich habe mich in Zürich allezeit äußerst wohl, jedoch nie heimisch gefühlt. Das hängt mit inkommensurablen Dingen zusammen. Ich war und bin Österreicher durch und durch, genauer : Wiener“.2 Aber Wien wird er nie wieder seinen Wohnort nennen. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich Wien nie verlassen. Aber bekanntlich ging es nicht nach mir, und so kam ich im August 1938 als Flüchtling wie ein Dieb in der Nacht in die Schweiz nach Zürich, wo ich bis Kriegsende als Emigrant lebte und seither als österreichischer Staatsangehöriger sesshaft bin.3

Das Wort Flüchtling verwendet Hochwälder dabei in einem Kontext, der heute noch aktuell ist. Die Schweiz riegelt sich ab. Grenzsoldaten haben den Befehl, 1 Fritz Hochwälder, Im Wechsel der Zeit, Graz 1980, S. 81f. 2 Ebd., S. 26f. 3 Ebd., S. 26.

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Einreisende zurückzuschicken. Nur wer es schafft, sich nach Zürich durchzuschlagen, bekommt eine vorläufige Aufenthaltsbewilligung. Hochwälder schafft es. Die Situation ist trotzdem schlecht: Abschiebung ist nicht ausgeschlossen, Arbeiten ist ihm verboten. Hochwälders Biograph Wilhelm Bortenschlager ist sich sicher : „Die Emigration machte Hochwälder zum Dramatiker“.4 Und tatsächlich beschreibt der angehende Autor seine dichterischen Versuche in Wien eher als „Hobby“5 denn als ernsthafte Berufung. Das Arbeitsverbot in der Schweiz veranlasst ihn, seine „bisherige Liebhaberei in Form einer brotlosen Ganztagsbeschäftigung fortzusetzen“.6 Fritz Hochwälder setzt sein Schreiben in den Lebensmittelpunkt. Zunächst entsteht 1940 die Persiflage des biblischen Stoffes Esther, wie er sagt aus „innerer Notwendigkeit“.7 Es wäre jedoch haltlos zu behaupten das Stück sei aufgrund des Lebens im Exil entstanden. Inzwischen bessert sich Hochwälders Lage. 1941 weilt er noch in einem Arbeitslager, wo er neben dem Schreiben seine Zeit damit verbringt, „vergeblich, die Magadino Ebene fruchtbar zu machen“.8 Im Gegensatz zu diesen Bemühungen, folgt der ersten Ernüchterung in der Schweiz eine fruchtbare Phase in seinem Leben und der langsame Aufstieg als Dramatiker. Gefördert von Mäzenen und Freunden kann er der Belastung des Arbeitslagers entkommen und schreibt, befreit von den schwersten Lasten der Asylsituation, 1942 Das Heilige Experiment. Weit abgelegen, in einem Holzhaus in der Schweizer Gemeinde Ascona, schafft er in nur zwei Monaten jenes Werk, das Jahre später seinen Durchbruch als Dramatiker begründet. Das Stück handelt von dem Versuch, gegen den Willen der herrschenden spanischen Krone einen Jesuitenstaat im heutigen Paraguay zu installieren. Hochwälder schafft ein klassisches Drama in fünf Akten. Der politische Aspekt wird dem Vorhaben, das Geschehen künstlerisch fassbar zu machen, hintangestellt. Der Theaterhistoriker Otto Rommel würdigt Das Heilige Experiment in einem Nachwort zu eben jenem folgendermaßen: „Mit unerhörter Kraft hat er den komplizierten Vorgang auf seine einfachste und wichtigste Form gebracht“.9 Hochwälders erster größerer Erfolg beflügelt ihn und seine Mäzene, wodurch er es zu einem gewissen sozialen Aufstieg schafft: vom schreibenden Flüchtling zum emigrierten Autor. In den letzten drei Kriegsjahren schreibt er drei weitere Stücke, die ich hier als Exil-Trilogie festhalten will. In Casa Speranza, Hitel du Commerce und Der Flüchtling verarbeitet Hochwälder seine Erfahrungen mit der Situation als Emigrant. Allerdings darf nicht unerwähnt bleiben, dass Hochwälder die Be4 5 6 7 8 9

Wilhelm Bortenschlager, Der Dramatiker Fritz Hochwälder, Innsbruck 1979, S. 39. Hochwälder, Im Wechsel der Zeit, S. 82. Ebd. Ebd., S. 27. Ebd., S. 28. Ebd., S. 55.

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grifflichkeiten schwerfallen. Emigration bedeutet für ihn Auswanderung, und Auswanderung ist zu verharmlosend, um jene Schicksale der Flüchtenden zu beschreiben: „Es handelte sich vielmehr um eine blindwütige Rassenverfolung, um eine durch Massenwahn geförderte Austreibung unter ungünstigen Umständen“.10 Er gesteht ein, bis Kriegsende in der Schweiz Emigrant gewesen zu sein, danach allerdings bezeichnet er sich als ein „in der Schweiz Ansässiger, aber österreichischer Staatsangehöriger“.11 Diese Unterscheidung und Wortwahl, die Hochwälder hier trifft, ist spitzfindig und lässt darauf schließen, dass er sich mit seiner Rolle als Emigrant, Exilant, oder Flüchtling akribisch auseinandergesetzt hat. Eine solche akribische Auseinandersetzung mit der Exilsituation – seiner eigenen und derjenigen, die er beobachtet – findet sich auch in den letzten drei Werken Hochwälders als Emigrant wieder. Während die Stücke die Behandlung von Themen wie Emigration, Flucht und Exil eint, wählt er für jedes Schauspiel eine andere zeitliche Herangehensweise. Das 1943 vollendete Drama Casa Speranza – das Haus der Hoffnung – versieht Hochwälder mit einem deutlichen Gegenwartsbezug. Casa Speranza verortet sich in einer Pension am Luganer See und spielt in den Jahren des zweiten Weltkrieges im August. In jener Pension finden sich einige Flüchtlinge wieder, die nach der Besetzung Frankreichs in die Schweiz geflohen sind. Es herrscht eine nahezu friedliche Stimmung der Verdrängung der Schrecken des Krieges, die durch das Eintreffen eines weiteren Pensionsgastes, Dr. Frühberg, harsch zerstört wird. Der Fluchtweg des Dr. Frühberg erinnert an Hochwälders eigene Flucht. Der Doktor stellt unangenehme Fragen, versucht den Krieg wieder ins Bewusstsein zu rufen und rüttelt am Gewissen. Fritz Hochwälder zeichnet ein Bild abseits einer vermeintlichen Einigkeit der flüchtenden Menschen. Durch die Figur des Dr. Frühberg klagt er Lethargie und das Leben in einer Scheinwelt an. Frühberg spricht sich für ein Reagieren auf die Gewalt und gegen ein stilles Resignieren aus. Die Ausgangslage ist zunächst hoffnungslos und festgefahren. Allerdings betitelt Hochwälder sein Werk Casa Speranza, Hoffnung schwingt also doch mit. Mit der Pensionsbesitzerin Frau von Uexküll werden positive Aspekte des Exils manifestiert. Sie wurde im ersten Weltkrieg selbst aus ihrer Heimat vertrieben. Damit sie ihre Erfahrungen weitergeben und andere in der Exilsituation auffangen kann, eröffnet sie eben jene Pension, das Haus der Hoffnung. Hochwälder bildet mit dem Stück eine politische beziehungsweise moralische Instanz. Flüchtlinge werden nicht nur in einer passiven Opferrolle gezeigt, sondern sie verschließen aktiv die Augen vor den Geschehnissen und verstecken sich in einer vorgetäuschten Idylle. Es liegt nahe, dass Hochwälder 10 Ebd., S. 30f. 11 Ebd., S. 26.

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sich in dem Stück von seinen eigenen Erfahrungen, besonders von der Zeit im Arbeitslager inspirieren lässt. Er fühlt sich mittlerweile wohl in der Schweiz, schwebt aber immer noch zwischen einem Dasein als Flüchtling und dem eines Emigranten. Bortenschlager behauptet, dass Casa Speranza „das ehrlichste Emigrantenstück ist, das geschrieben wurde“.12 Nur wenige Monate nach Casa Speranza vollendet er sein nächstes Werk. Hitel du Commerce geht auf eine Novelle Guy de Maupassants zurück. Hochwälder betrachtet den Schreibvorgang der Komödie als eine Art Fingerübung. Trotz dieser Ansicht wird sie zu Hochwälders erstem internationalen Erfolg. Hitel du Commerce spielt in einem Hotel in der Nähe der französischen Stadt Rouen im Dezember 1870 und lässt sich an einer historischen Begebenheit festmachen: Der deutsch-französische Krieg ist auf seinem Höhepunkt und preußische Truppen überrollen Frankreich. In dem von den Preußen besetzten französischen Hotel findet sich eine sehr heterogene Reisegruppe beziehungsweise Fluchtgemeinschaft wieder. Sowohl Graf und Gräfin als auch Fabrikbesitzer, Weinhändler und Krankenschwester haben sich zur gemeinsamen Flucht vor den Deutschen zusammengefunden. Außerdem hat sich die „geschwätzige, naive, aber impulsive und menschenfreundliche“13 Prostituierte Elisabeth der Gruppe angeschlossen. Zunächst von allen verachtet, schafft sie es, durch Großzügigkeit und schließlich durch Bereitschaft zum Opfer für das Wohl der ganzen Gruppe zur Heldin zu werden. Sobald aber die sichere Weiterreise gewährleistet ist, findet sie sich wieder am Ende der sozialen Ordnung wieder. Hochwälder degradiert die Flüchtlinge nicht zu reinen Opfern. Er reflektiert und beobachtet die Gedanken, Antriebe und Beziehungen der Flüchtenden selbst. Daraus ergibt sich ein tief humanistisches Bühnenwerk, das nahezu als moralische Instanz fungieren könnte. Nicht zuletzt der Humor des Stückes – Bortenschlager nennt Hitel du Commerce eine politische Komödie – stellt die Abgründe des egoistischen Handelns der vermeintlich besseren Gesellschaft bloß. Im Gegensatz dazu steht das bitterernste Drama Der Flüchtling. Es ist das letzte Werk der Exil-Trilogie und auch das letzte, das während der Kriegsjahre entsteht – also das letzte Werk, das Hochwälder als, wie er es bezeichnet, Emigrant schreibt. Er lebt seit Ende 1942 in einer Züricher Dachgeschosswohnung, für die er beinahe nichts bezahlen muss. Diese Wohnung bezeichnet er als „schönstes Weihnachtsgeschenk“14 seines Lebens und denkt bis an sein Lebensende mit positivem Gefühl an diese einfache Behausung. Auch sozial ist er nun in der Schweiz verankert. Er pflegt einen Freundeskreis: Darunter sind einige mit demselben Flüchtlingsschicksal wie er, von denen er sich inspirieren 12 Ebd., S. 73. 13 Ebd., S. 76. 14 Ebd., S. 34.

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lässt. Zusätzlich kann sich Hochwälder dank verschiedener Gönner komplett dem Schreiben widmen. Auf Anraten und nach Handlungsskizzen seines väterlichen Freundes, dem Dramatiker Georg Kaiser, entwirft Hochwälder jenes dreiaktige Schauspiel, auf das der Autor selbst alles andere als stolz ist: „zwar versuche ich immer wieder, das Werk’chen zurückzuhalten, aber es gelingt mir selten: ,Der Flüchtling‘ hat sich selbstständig gemacht und entwischt seinem bekümmerten Erzeuger“.15 Im Gegensatz zu den beiden anderen Stücken der Trilogie lassen sich hier keine genauen Bezüge zu einer bestimmten Zeit oder einem bestimmten Ort festmachen, die Handlung erscheint allgegenwärtig. Der Flüchtling beginnt in einem Grenzgebiet, in welchem ein Grenzdiener gemeinsam mit seiner Frau eine kleine Hütte bewohnt. Regierungstreu leben sie ihr behütetes Leben, bis ein Flüchtling ihren Weg kreuzt. Es kommt zur entscheidenden Frage: Treue dem Regime oder Ungehorsam? Hochwälder nimmt in Der Flüchtling die Frage nach dem blinden Gehorsam vorweg, welche die Justiz in der Nachkriegszeit jahrelang beschäftigen wird. Der Grenzwächter, dessen Arbeit es ist, die Grenze vor unerlaubten Einreisen, aber vor allem vor unerlaubten Ausreisen zu sichern, nimmt die Anweisungen von Oben als gegeben hin. Die Konsequenzen für die Gefassten sind harte Strafen. Der Grenzwächter setzt das Recht durch. Hochwälder lässt den Grenzbeamten aber eine Gesinnungsänderung, eine Läuterung erleben. Der Flüchtling, so erkennt der Grenzwächter, ist nicht der vor dem Regime Fliehende, sondern er selbst. Er flüchtet sich in Blindheit, die Augen verschlossen vor dem Unrecht der Regierung, das er selbst durchzuführen hilft. So gesehen ist er die Titelfigur und muss sich entscheiden „zwischen Anpassung und kleinem Glück oder Gerechtigkeit und Menschlichkeit“.16 Das letzte Stück der Exil-Trilogie wird eines der meist aufgeführten Werke des Dramatikers, „wohl deshalb, weil politische Verfolgung und Flucht bedauerlicherweise nicht aufhören sollten“.17 Der Flüchtling kann als Beispiel für die Allgemeingültigkeit der Trilogie, aber dementsprechend auch als Abschluss gesehen werden. Die Trilogie wirft komplexe Fragen auf, die aus einer systematischen Vertreibung resultieren. Eine Schwierigkeit, derer sich Hochwälder bestimmt bewusst war, ist es, die Schrecken der Vertreibung und Flucht darstellbar zu machen und auf diese Problematik geht Hochwälder sehr behutsam ein. Er versucht das schwierige (vielleicht unmögliche) Unterfangen, Flucht zu verbildlichen erst gar nicht. Ihn interessiert viel mehr, was dabei mit den Menschen geschieht. Er fragt nach Moral und Gewissen, nach Verdrängung und nach Schuld. In einem 15 Ebd., S. 85. 16 Ebd., S. 82. 17 Fritz Hochwälder, „Bericht“, Katalog-Beitrag zur Ausstellung „Theater im Exil 1933–1945“ in der Akademie der Kunst in Berlin und Ergänzung zum Ausstellungskatalog, Berlin (ohne Jahr), S. 2.

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autobiographischen Text von 1976 schreibt Hochwälder : „Was Hunderttausende ins Elend trieb, widerfuhr Schuldlosen, sofern man Menschentum überhaupt als schuldlos bezeichnen darf“.18 Hochwälder vermeidet es in der Exil-Trilogie, Flüchtlinge als passive Opfer darzustellen und sie auf ein Podest zu erheben. Genauso wenig versteckt er aber die Grundschrecken, die Flucht, die Besetzer Frankreichs, die preußische Armee, das undefinierte Regime. Nach Kriegsende beendet Fritz Hochwälder, nach eigenen Worten, sein Emigrantendasein und wird zum in der Schweiz ansässigen österreichischen Staatsbürger. Schon rein formal kann danach von keinem Exildrama mehr gesprochen werden. Mit Das heilige Experiment gelingt Hochwälder dann 1947 am Burgtheater der Durchbruch und er avanciert dort in den 1950er-Jahren zum Hausautoren – keine Rede mehr von Flüchtling. Seine weiteren Bühnenwerke sind zumeist spannungsreich und in einem historisch-politischen Kontext verortet. Im Laufe der 1960er- und 1970er-Jahre wird es immer ruhiger um ihn. Zu verstaubt, zu klassisch, zu unmodern seien seine Stücke für das moderne Publikum. Heute wird er nahezu nicht mehr gespielt. Obwohl Hochwälder seine größten Erfolge am Burgtheater feierte und besonders von Österreich als eine Art Staatsdramatiker angesehen wird, wird er nie mehr seinen Wohnort Zürich wechseln. So sehr er sich Wien Zeit seines Lebens verbunden gefühlt hat und so schwer es ihm gefallen ist, seine Heimatstadt verlassen zu müssen, so unmöglich erscheint ihm eine Rückkehr. Die Bürde, ins Exil zu gehen, die ihm aufgezwungen wurde und die sein Leben und Werk so maßgeblich beeinflusst hat, jene Bürde erlaubt es ihm auch nicht mehr, zurückzukehren. Zu sehr fürchtet er, dem „wohldisziplinierten Mörder“19 seiner Eltern, mittlerweile Straßenbahnfahrer oder Caf8hausbesitzer, in Wien die Hand schütteln zu müssen. Die Exil-Trilogie erzählt vom Zurücklassen der Heimat, dem Verlust der Familie, den Strapazen der Flucht, dem Nicht-Willkommen-Sein, der Angst vor Abschiebung, dem Verstecken, dem Arbeitsverbot, der Isolation, aber auch von der Kluft in sich selbst und zwischen den Menschen gleichen Schicksals. Aber die Stücke geben auch Hoffnung, prangern an, fordern auf, reden ins Gewissen und richten sich gegen diktierte und selbst auferlegte Zwänge. Die Dramen mögen in ihrer Form verstaubt wirken, die Sprache außer Mode und der Aufbau wie von einer vergangenen Generation. Großteils vergessen, sucht man Hochwälder vergeblich auf den heutigen Spielplänen. Der Inhalt dieser Trilogie zeichnet sich aber durch eine erstaunliche Aktualität aus – vielleicht aktueller als jemals seit ihrer Entstehung: Die Stücke warnen vor den Fehlern der Vergangenheit, geben die Gegenwart wieder und mahnen für das Handeln der Zukunft. Und so bleibt das letzte Wort dem Autor selbst: 18 Hochwälder, Im Wechsel der Zeit, S. 31. 19 Hochwälder, Im Wechsel der Zeit, S. 16.

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(Ich bin) ein Bühnenmensch, ein „Stückeschreiber“ […]. Ich gehe noch darunter oder auch darüber und bezeichne mich als einfachen Wiener Hanswurst, ausschließlich der Szene und dem ernsten Spaß verpflichtet, dies allerdings als verdammter Moralist, der ich nun einmal bin.20

20 Ebd., S. 103.

Elke Krafka

Europäische Islamfeindlichkeit. Theater als Spiegel propagierter Ängste

Bis 1492 waren die Araber in Andalusien und hinterließen Wissen und Wissenschaft. Nahezu gleichzeitig expandierten die Osmanen und verbuchten Landgewinne am Balkan. Das christliche Europa schien „vom Fremden überrollt und umzingelt“ zu werden. Religion, Philosophie, Literatur, Bildende Kunst und Theater steuerten dagegen und betrieben (bis heute) eine Art geistige Landesverteidigung, bei der unsere sogenannten europäischen Werte definiert und durchgesetzt werden. Im Folgenden skizziere ich drei Theaterbeispiele aus unterschiedlichen Epochen und stelle sie jeweils in das politische oder historische Umfeld, indem sie geschrieben und aufgeführt wurden oder werden: Erstens die sizilianische Opera dei pupi, eine populäre Volkstheatervariante mit Stangenmarionetten, die im 19. Jahrhundert entstand und bis heute praktiziert wird. Zweitens das Schlesische Barockdrama mit dem Trauerspiel von Andreas Gryphius Catharina von Georgien (1647–57 in Schlesien entstanden) und drittens die Mozart-Opern Za"de (KV 344 und 336b, Libretto von Johann Andreas Schachtner) von 1780 und Die Entführung aus dem Serail (KV 384, Libretto von Johann Gottlieb Stephanie d. J.) von 1782. Diese stehen für drei unterschiedliche Theaterbeispiele aus unterschiedlichen Epochen und präsentieren dabei doch das gleiche Thema. Europäer_innen werden von „fremden Männern“ bedroht. Diese Übergriffe müssen abgewehrt werden. Ein europäischer Befreiungsschlag folgt und die angewandten Abwehrstrategien verändern sich von Zeit zu Zeit. Sie fluktuieren zwischen religiös-determiniert bis militärisch-brutal. Die europäische Angst heißt: gefangen und versklavt. Die Bedrohung kommt – scheinbar – von außen.

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Elke Krafka

Opera dei pupi. Eine sizilianische Tradition aus dem 19. Jahrhundert. Opera dei pupi ist eine spezifische und einzigartige Form des Puppentheaters – das sizilianische Marionettentheater wurde 2008 von der UNESCO ins immaterielle Weltkulturerbe aufgenommen. Opera dei pupi wird nur von einigen wenigen Puppenspiel-Dynastien auf Sizilien praktiziert. Puppen, Dekoration, Legenden, Spielweise und Duktus werden jeweils von Generation zu Generation innerhalb einer Familie weitergegeben. Die Stangenmarionetten sind sehr kunstvoll gestaltet, in der Hochzeit des Theaters wetteiferten die einzelnen Künstler um die schönsten Puppen. Es wird improvisiert auf Basis eines seit dem 19. Jahrhunderts etablierten Stoffes, der wie eine Fortsetzungsgeschichte beständig wiederholt wird. Gespielt wird mit 1,20 m großen Stangenmarionetten, die ungefähr 20 kg wiegen. An ihrem Kopf ist eine massive Eisenstange befestigt, an der sie mit ihrem gesamten Gewicht hängen. Die meisten Figuren der Opera dei pupi sind Kämpfer, die für den Krieg ausgerüstet sind: in ihrer rechten Hand tragen sie entweder Schwert, Säbel oder Krummdolch; an der anderen ein Schutzschild. Erstere lässt sich mit einem Seil bewegen, zweitere mit einem Draht. Wenn der Vorhang aufgeht, der Blick auf die Szenerie frei wird, schaut das Publikum meistens auf ein Sarazenenlager oder irgendeinen anderen als „orientalisch“ markierten Kriegsschauplatz. Das Spiel, der Kampf beginnt. Eine kampfbereite Marionetten-Gruppe tritt von rechts, eine andere von links auf, in der Mitte treffen sie sich und schlagen aufeinander ein. Damit das Schlachtgetöse laut und gefährlich klingt, werden die Geräusche, die die Stangenmarionetten von sich aus schon erzeugen – es trifft Eisen auf Holz oder Eisen auf Eisen –, durch die Schläge der Figurenspieler auf der Spielbrücke hinter den Kulissen verstärkt: Hier knallen die Spieler mit ihren hölzernen Schuhsohlen auf die Holzplanken der Hinterbühne und unterstützen den Kriegslärm. Eine lautstarke Angelegenheit, die keinerlei Nuancierung kennt. Und worum geht es inhaltlich? Die „Guten“ treten gegen die „Bösen“ an, kämpfen und siegen. D. h., die „Guten“ sind europäische Christen von Sizilien, die „Bösen“ nordafrikanische oder arabische Sarazenen, die anderen. Die Helden finden ihre historischen Vorbilder z. B. in Karl d. Großen, die Handlung entlang des Epos Der rasende Roland. Im Mittelpunkt steht der Kampf: Sie kämpfen bis ein großer Berg toter Kämpfer auf der Bühne liegt, Höhepunkt dabei sind geköpfte Sarazenenfiguren, deren Haupt makaber über die Bühne rollen, um gleich darauf von neuen Figuren ersetzt zu werden. Fällt der Vorhang, wird sofort aufgeräumt und das Spiel, d. h. der Kampf beginnt von neuem. Endlosschleifen und Fortsetzungsserien sind die tragenden Momente dieser Theaterform. Die Sieger, also die christlichen Sizilianer gebührt als Siegestro-

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phäe eine Frau – unnahbar, europäisch und weiß. Siege aber sind rar in der Opera dei pupi. Daher werden wenige dieser Frauenfiguren benötigt. Sarazenen lebten ursprünglich auf der Arabischen Halbinsel und stehen – inhaltlich verkürzt – als Synonym für arabische Krieger und Kämpfer. Als solche treten sie in der Opera dei pupi auf. Es stellt sich also die Frage, welche Erfahrungen Sizilien mit arabischer Besatzung überhaupt aufzuweisen hat: Im 9. und 10. Jahrhundert war Sizilien arabisch-muslimisch dominiert; einige Kirchen wurden in Moscheen umgewandelt; Araber brachten eine neue Bewässerungstechnik mit und reformierten die Landwirtschaft. Eine noch sichtbare Auswirkung zeigt sich in den bis heute auf Sizilien wachsenden Pflanzen wie, Zitronen, Orangen, Feigen, Datteln …, Exportschlager von heute. Die Arabisierung war also auch mit Fortschritt verbunden und liegt ca. 1.000 Jahre zurück. Warum nun findet sich gegenwärtig solch eine Abwehrhaltung und Aggression, wie sie das Opera-dei-pupi-Spiel transportiert?

Abb. 1: Osmanisches Reich in seiner größten Ausdehnung.

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Das Barockdrama Catharina von Georgien von Andreas Gryphius Der in Glogau/Schlesien (heute Polen) geborene Andreas Gryphius (1616–1664) gilt als der wichtigste Vertreter des religiös dominierten Schlesischen Barockdramas.1 Sein Trauerspiel Catharina von Georgien oder Bewehrete Beständigkeit ist an den folgenden Schnitt- und Konfliktlinien positioniert: Europa/Kleinasien, Christentum/Islam, Königin/Schah, Frau/Mann. Im Zentrum steht die schöne und verwitwete – was auch Ungebundenheit und Freiheit impliziert –, Königin Catharina von Georgien, die aus politischen Gründen nach Persien reist. Dort wird sie gefangen genommen und erpresst: Ihre Freiheit könnte sie jedoch wieder erlangen, würde sie dem christlichen Glauben abschwören, die Religion wechseln und gleichzeitig Chach Abas, König von Persien, heiraten. Aber sie widersetzt und verweigert sich. Catharina lässt sich auf die „Freiheitsangebote“ des für sie fremden Königs nicht ein. „Bewehrete Beständigkeit“ lautet der Untertitel des Dramas, der ihrer Weigerung einen wehrhaften, durchaus militanten Charakter gibt. Diese Zurückweisung kann der muslimische König nicht hinnehmen, er lässt sie martern und Catharina stirbt den Foltertod. Das ist die erste, nüchtern formulierte Ebene des Trauerspiels. Die zweite – weit wichtigere – Ebene ist religiös determiniert und handelt von ihren christlichen Tugenden. Die „Erste Abhandlung“ bzw. der erste Akt beginnt mit der allegorischen Figur der Ewigkeit, die vom Himmel herkommend, die thematischen Koordinaten zwischen irdischer Vergänglichkeit und himmlischem Zeitmaß verlegt und („Vnd lebt und sterbt getrost für Gott und Ehr und Land“)2 – damit tieferen Sinn inkludiert. In einem einleitenden Monolog spricht Catharina davon, dass ihr Leben beschlossen sei, nachts im Kerker sitzend erlebe sie eine Vorform des Todes. Chach Abas hingegen redet von Liebe und zwar von weltlicher, diesseitiger Liebe verbunden mit Lust und Leidenschaft: „… Die Liebe steckt diß Hertz mit heissen Flammen an/Der matte Geist verschmacht!“3 und wenig später folgt drohend: „CHACH Wir haben vor den Trotz wol Mittel an der Hand“.4 Der Zurückweisung folgt also die Drohung. In der „Anderen Abhandlung“, dem zweiten Akt erklärt sich Abas, Fürstin Catharin. Holdseligste Feindin! Vnüberwundne Schöne! […] Gefangene die uns fing! Die vns in Ketten schlegt! […] Es mangelt uns Verstand/ Es fehlt uns an 1 Seine jüngeren Kollegen sind Daniel Casper von Lohenstein und Johann Christian Hallmann, die biblische Stoffe bearbeitet haben oder Historien wie zum Beispiel Leo Armenius (Gryphius) oder Cleopatra (Lohenstein) oder eben interkulturelle Stoffe wie Ibrahim Sultan (Lohenstein) und Catharina von Georgien (Gryphius). 2 Andreas Gryphius, Catharina von Georgien, Stuttgart 1975 (I, 88). 3 (I, 789). 4 (I, 829).

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Vernunft/noch fehlt es uns an Kräften/Die mächtig deine Seel’ an vnsern Geist zu häfften … Wir selbst steht dir zu Dinst/vnd finden nichts denn Spott.5

So offenbart Abas, wie sehr er sich gedemütigt fühlt. Es stellt sich hier die Frage, was diese Doppelheit von Gefangensein bedeutet, woran Freiheit zu messen sei. Die Gegensätze Sein und Fühlen kollidieren. Wer von beiden ist der oder die Stärkere? Er ist verliebt und sie katholisch (in weiten Teilen Europas) oder evangelisch (zum Beispiel in Schlesien) oder orthodox (in der Heimat der Realperson Catharina, in Georgien). Er ist gefangen in seinen Gefühlen; sie hingegen frei in ihrem Glauben. Sie sitzt im Gefängnis, er in seinem Palast. Die Gegensätze könnten nicht größer sein. In der „Dritten Abhandlung“, dem dritten Akt ist der Schauplatz in den königlichen Lustgarten verlegt. Chach Abas setzt zu einem längeren Monolog an. Der Herrscher legt dabei nochmals seine Position klar dar und bietet Catharina die Freiheit an: „Frey von des langen Kerkers Pein. Sie sol recht frey/heut vnsern Thron besteigen/Wo nicht; ins Grab sich neigen. Wol Fürstin du bist frey. Nu wehle: Lust vnd Noth. Diß schlegt dir Abas vor : sein Eh’bett oder Tod“.6 In der „Vierten Abhandlung“, dem vierten Akt schwört sich Catharina noch einmal auf den Tod ein: … wer wünschte nicht den Tod/Für dieser langen Qual vnd steten Noht? … Der Cörper ist in Banden; Doch findt der Geist sich frey/der durch vil Creutz bewehrt … Du sihst daß weder Tod/ noch der Verlust der Crone/noch Untergang deß Reichs/noch diß/in dem ich wohne/diß Angsthauß/noch die Pracht die Persen vns verspricht … noch reissen mag von dir.7

Alles Weltliche erhält von ihr eine dezidierte Absage – nur ihr christlicher Glaube, für den sie den Tod nicht scheut, ist alleine von Bedeutung. Der letzte Akt zeigt und erläutert detailreich die Martern von Catharina: „Der Stahl zischt in dem Blut/das Fleisch verschwand als Schnee In den die Flamme felt“.8 „Und hat der gelinde Gott so grause That verhangen?“ – diese Frage ist rhetorisch, sie bestätigt allein das bereits Bekannte: dieser Foltertod habe einen höheren Sinn. „Das Blut sprützt vmb vnd vmb vnd leschte Brand vnd Eisen/Die Lunge ward entdeckt. Der Geist fing an zu reisen …“)9 – das Martyrium erhält breiten Raum, einige retardierende Momente kommen ins Spiel, bevor Catharina ihre letzten Worte sagen darf: „Willkommen süsser Tod! … Wir haben überwunden. Wir haben durch den Tod das Leben selbst gefunden. Ach Jsu kom“.10 5 6 7 8 9 10

(II, 48). (III, 403). (IV, 51). (V, 75). (V, 92). (V, 119).

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Catharina erwartet sehnsüchtig den Tod; sie spricht von „Wir“– sie und Jesus –, damit folgt sie der christlichen Heilslehre, die den Tod durch Leben überwindet. So stellt sie sich mit ihrem Tod in die Nachfolge Jesu – ganz und gar in ihrem Glauben verharrend erteilt Catharina allem Irdischen eine Absage: der Krone und damit verbundener Macht, dem Land, womit der Untergang des Reiches besiegelt ist, dem Leib. Sie wendet sich dem Jenseitig-Göttlichen zu. Die Tragödie gibt Catharina jegliche Gelegenheit, ihr christliches Glaubensbekenntnis zu verbreiten. Der islamische Glaube des persischen Königs Chach Abas wird hingegen in den fünf Abhandlungen ausschließlich als fremd und grausam dargestellt, ohne jegliche Differenzierung. Abas Glaube erscheint als Drohung; bleibt aber diffus und indifferent gezeichnet. Gryphius’ Drama wird durch Gegensätze belebt: Auf der einen Seite der persische König Chach Abas, der seine Gefühle offenbart, sich verliebt zeigt, aber auch verletzbar – auf einer rein menschlichen Ebene; so ist er die einzige Figur, die menschlich-gefühlvoll, weltlich und irdisch gezeichnet ist. Doch diese Zeichen von Mensch-Sein sind ausschließlich negativ konnotiert. Auf der anderen Seite agiert Catharina, die Gefangene. Sie weist den Liebenden zurück, flüchtet in ihren Glauben, der ihr spirituellen Halt gibt. Catharina wird von Gryphius grundsätzlich anders als Abas skizziert: Ihre Figur stellt die Personifikation der christlichen Heilslehre dar. Das irdische Leben und weltliche Güter verlieren vor der ewigen Liebe Gottes jegliche Bedeutung. Gryphius’ Catharina von Georgien stellt die christliche Heilslehre in den Mittelpunkt, das menschlich-diesseitige Handeln wird nur teleologisch ausgerichtet akzeptiert und als jenseitsgerichtetes transzendiertes Handeln für die Ewigkeit verstanden. Ein christlicher Märtyrertod ist per definitionem eine Todesart, die ein in seinem_ihrem Glauben bedrohte_r Christ_in erleidet, weil er_sie den eigenen Glauben standhaft verteidigt, nicht konvertiert. Mit Gryphius gesprochen: „bewehrete Beständigkeit“.11 Die historische Realperson Catharina von Georgien lebte zur gleichen Zeit wie Andreas Gryphius; Königin Catharina von Georgien-Gurgistan, nach dem Tod ihres Mannes reiste sie nach Persien, um dort bessere Bedingungen für ihr Land auszuhandeln. Sie wurde gefangen genommen und sollte gezwungen werden, zum Islam zu konvertieren und Ehefrau des Schahs zu werden. Catharina von Georgien-Gurgistan weigerte sich und starb 1624 unter Schah Abbas 11 Bemerkenswert ist auch das Vokabular : Catharina erleidet die Marter, sie stirbt einen Märtyrertod, die Jungfrauen berichten in der Art einer Teichoskopie vom Martyrium Catharinas. Märtyrer. Tod. Jungfrauen. Anfang Jänner 2016 wurde in Saudi-Arabien ein schiitischer Geistlicher namens Nimr al-Nimr hingerichtet, weil er seinem schiitischen Glauben nicht abschwor. Es ist das gleiche Thema und dasselbe Vokabular. Aber welcher Unterschied wird zwischen dem soeben beschriebenen christlichen und dem muslimischen Märtyrertod sichtbar?

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von Persien den Foltertod.12 Bestimmend in dieser Zeit war der Dreißigjährige Krieg, der von 1618–1648 in Europa ausgefochten wurde und bei dem großflächig Landstriche verwüstet wurden. Dabei ging es weitestgehend um innerreligiöse Konflikte, die das Christentum selbst betrafen und die dazugehörige Machtarchitektur. Katholiken traten gegen Hussiten, Reformierte und Protestanten an. Zur historischen Vorgeschichte gehören auch Martin Luther und die Reformation von 1517 sowie die sich daran anschließenden Verwüstungen wie etwa der Bildersturm ab 1525. Der später daraus erfolgte Dreißigjährige Krieg ist ein Glaubenskrieg zwischen Katholiken und Protestanten. Es stellt sich die Frage, warum Gryphius in diesem zeithistorischen Zusammenhang eine Tragödie verfasst, in der ein islamisches Bedrohungsszenarium aufgebaut wird. Im Drama findet sich kein Wort über den Islam, keine Erläuterung muslimischer Glaubensvorstellungen, Islam – Christentum werden einander gegenüber gestellt. Doch nur christliche Werte erhalten Raum, werden als Mittelpunkt der Eigenwahrnehmung dargestellt. Und noch dringender erscheint die Frage nach der Intention von Gryphius, gerade am Ende des Dreißigjährigen Krieges dieses Szenario zu entwickeln. Es liegt nahe, diese Intention als Ablenkung vor den internen Konflikten des Christentums zu deuten. Historisch betrachtet befinden sich Christentum und Islam in Konkurrenz um Macht- und Landgewinne (beispielsweise im östlichen Mitteleuropa und im Orient ab dem Ersten Kreuzzug 1098 zur Befreiung Jerusalems bis zum Tod Prinz Eugens 1736). Es kollidiert eine aggressive christliche Machtpolitik mit den realen Landgewinnen der Osmanen bis 1683. Das europäische Christentum fühlt sich durch die Osmanen von Südosten her bedrängt, bedroht und fürchtet Besatzung – damit verbunden wären der Verlust der Freiheit und der Selbstbestimmung. Europa scheint sich allerdings nicht alleine vom osmanischen Heer bedroht gefühlt zu haben, sondern insbesondere von der islamischen Religion. Konkretisieren lässt sich diese Angst nicht. Es entsteht zu dieser Zeit kein öffentlich verfügbares Fachwissen darüber, was die Glaubensinhalte des Islam sind oder was im Koran steht. Martin Luther – beispielsweise –

12 Joachim Harst, Heilstheater. Figur des barocken Trauerspiels zwischen Gryphius und Kleist, München 2012; Nicola Kaminski, Andreas Gryphius, Stuttgart 1998; Albrecht Koschorke, „Das Begehren des Souveräns. Gryphius’ ,Catharina von Georgien‘“, in: Daniel Weidner (Hg.), Figuren des Europäischen. Kulturgeschichtliche Perspektiven, München 2006, S. 149–162; Torsten W. Leine, „Das Martyrium als Politikum. Religiöse Inszenierung eines politischen Geschehens in Andreas Gryphius’ ,Catharina von Georgien‘“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 84, 2010, S. 160–175.; Hans-Jürgen Schings, „Catharina von Georgien. Oder Bewehrete Beständigkeit“, in: Gerhard Kaiser (Hg.), Die Dramen des Andreas Gryphius. Eine Sammlung von Einzelinterpretationen, Stuttgart 1968, S. 35–72; Christopher J. Wild, Theater der Keuschheit – Keuschheit des Theaters. Zu einer Geschichte der (Anti-)Theatralität von Gryphius bis Kleist, Freiburg 2003.

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verfasste 1529 die Streitschrift „Vom Kriege widder die Türcken“,13 in der er vom Irrglauben der heidnischen Osmanen ausging, die es vor allem zu bekämpfen galt. Allerdings waren die „Türcken“ in Luthers Auffassung nur ein Feind unter vielen; sein Hauptfeind blieb der Papst.

Abb. 2: Jaroslav Cermak: Razzia von Baschi-Bosuks in einem christlichen Dorf in der Herzegovina (Türkei), 1861. Ein anderes Bild des gleichen Malers trägt folgenden Titel: Kriegsbeute. Junge Christinnen von Baschi-Bosuks entführt und nach Andrinopel (heute: Erdine/Türkei) gebracht, um verkauft zu werden, 1868.

Während zu dieser Zeit kaum konkretes Fachwissen über die konkurrierenden Religionen existierte, entstanden Ängste. Es hat den Anschein als verdichte sich ein Konglomerat aus Unwissen und Furcht, ein mit den Mitteln der Vernunft und der Rationalität kaum zugängliches kollektives Unterbewusstsein. Der Begriff 13 Historische Ausgabe von Luthers Rede von 1529, Vom Kriege widder die Türcken, gedruckt zu Wittemberg, M.D.XXIX.

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„kollektives Unterbewusstsein“ sei hier als Gegensatz zum Terminus kollektives Gedächtnis/historisches Bewusstsein eingeführt. Der Unterschied zwischen kollektivem Gedächtnis und kollektivem Unterbewusstsein liegt darin: Das Bewusste ist durch Wissen, Vernunft und Rationalität veränderbar, aber das Unterbewusste entzieht sich diesem Prozess, ist aber dennoch unterschwellig vorhanden und arbeitet unsteuerbar weiter.

Zwei Singspiele aus dem 18. Jahrhundert. Zaïde und Die Entführung aus dem Serail von Wolfgang Amadeus Mozart Wolfgang Amadeus Mozart (1756–1791) komponierte 24-jährig die Oper Za"de im Jahr 1780.14 Sie gilt als Vorläufer der bekannteren Oper Die Entführung aus dem Serail von 1782.15 Die Oper Za"de ist ein Fragment, das sehr selten gespielt wird. Als fiktive Zeit ist das 16. Jahrhundert, als Ort die Türkei angegeben, und der Inhalt der Handlung ist kurz erzählt: Die Europäer Gomatz und Za"de werden im Palast des Sultans Soliman als europäische Sklave_innen gefangen gehalten. Gometz als Mann muss hart arbeiten; sie wird vom verliebten Sultan begehrt. Doch Za"de liebt nicht den Sultan, sondern Gomatz. Beide (Gomatz/ Za"de) wollen fliehen – mithilfe des Palastpersonals. Die Flucht gelingt. Sobald der Sultan davon erfährt, ist er maßlos zornig, sinnt auf Rache und verurteilt das Paar zum Tode. Nachdem aber die Details der Flucht bekannt werden, der Sultan von der Liebe der beiden erfährt, verzeiht er ihnen und schenkt allen die Freiheit. Großherzig, großzügig. Kurze Zeit später komponierte Mozart eine zweite Oper ähnlicher Thematik, die 1782 in Wien uraufgeführt wurde: Die Entführung aus dem Serail (Serail = türkischer Palast). Auch hier sind als fiktiver Ort und fiktive Zeit die Türkei im 16. Jahrhundert angegeben. Inhaltlich folgt diese Geschichte ebenfalls dem gleichen Muster wie Za"de: Die schöne Europäerin Konstanze und ihr europäisches Dienerpaar werden gefangen genommen und als Sklav_innen an den Osmanen Bassa Selim verkauft. Bassa Selim verliebt sich sofort in Konstanze und will sie als Lieblingsfrau für seinen Palast. Gleichzeitig gelingt es ihrem Verlobten Belmonte mit List in den Palast zu kommen. Während Bassa Selim in Konstanze verliebt ist, ist Osmin, der Oberaufseher des Harems, in Konstanzes Dienerin verliebt. Bassa Selim erinnert 14 Wolfgang Amadeus Mozart, Za"de. Deutsches Singspiel in zwei Aufzügen (KV 344 / 336b), Salzburg 1779–1780, Libretto: Johann Andreas Schachtner, Uraufführung: 27. 01. 1866 (postum), Frankfurt/Main. 15 Wolfgang Amadeus Mozart, Entführung aus dem Serail. Komisches Singspiel in drei Aufzügen (KV 384), 1782, Libretto: Johann Gottlieb Stephanie d. J., Uraufführung: 16. 07. 1782, Hoftheater Wien.

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Konstanze nach kurzer Bedenkzeit, dass sie sich zu entscheiden habe. Und Konstanze? Sie verweigert sich und meint, lieber möchte sie alle Marter erdulden als ihrem Verlobten untreu zu werden. Es ist die gleiche Situation und die gleiche Verweigerungshaltung wie im vorigen Beispiel. Konstanze heißt Beständigkeit! Trotz dieser ähnlich anmutenden Entwicklung ist der Unterschied zwischen Catharina und Konstanze gravierend und liegt in der Motivation der Verweigerung. Während Catharina ganz und gar in ihrem Glauben aufgeht, weltliche, gar körperliche Liebe als vergänglich ablehnt, sich dem Jenseits und den überirdischen Kategorien Ewigkeit, christliche Treue vor Gott und Tod als raum- und zeitloses Kontinuum hingibt und zuletzt sogar ein Martyrium als Sieg göttlicher Liebe über das Menschlich-Diesseitige auf sich nimmt, wird Konstanzes Verweigerung dezidiert weltlich verstanden: Sie will ihrem Verlobten Belmonte (körperlich) nicht untreu werden. Die Liebe wird also nicht mehr religiös determiniert, sondern sie ist im Diesseits angekommen. Die Liebe wird weltlich, persönlich und individuell gestaltet. Und die Liebe ist in ihrer Körperlichkeit nicht mehr das negativ konnotierte Attribut des Feindes, einem fremden Mann zugeordnet, sondern wird zum persönlich individuellen Gefühlsausdruck. So erfährt die weltliche Liebe eine positive Konnotation und wird als „europäischer Wert“ etabliert. Das Ende ist nach einigen Wirren kurz erzählt. Bassa Selim lässt großmütig alle Gefangenen frei, was ihm allseits verdankt wird. Was war am Ende des 18. Jahrhunderts? Wo sind die Osmanen? Und in welchem geistigen Umfeld schrieb Mozart seine Opern? 1736 starb Prinz Eugen, der wohl bekannteste Feldherr der Donaumonarchie, im Kampf gegen das osmanische Heer, und langsam verlagerten sich die europäischen Kriegsschauplätze mit oder gegen die Osmanen in Richtung Osten: Ukraine, Krim, Russland. Das kollektive Trauma „Türken vor Wien“ lag bereits 100 Jahre zurück; es war Joseph II., der „Reformkaiser“, der während Mozarts Schaffenszeit regierte. Zwischen der Entstehung von Catharina von Georgien und den beiden Singspielen von W. A. Mozart liegen 130 Jahre. Der Stoff sowie die Fabel sind allerdings die gleichen: Eine schöne Frau (Christin/Europäerin) wird von einem ihr fremden Mann (Muslim/Osmane) zunächst gefangen genommen, dann versklavt und körperlich begehrt (oder in umgekehrter Reihenfolge), sie aber verweigert sich. Die Beweggründe wiederum sind unterschiedlich. Während im 17. Jahrhundert religiöse Motive dominieren, sind es im 18. Jahrhundert persönliche. Das Ende ist tödlich oder befreiend. Tödlich als Märtyrertod; befreiend durch die Gnade des fremden Mannes, der die Hochzeit mit einem Europäer erst ermöglicht. Mit der Aufklärung verändern sich die ideellen Schwerpunkte: Religiosität war nicht mehr ausschließlich treibende gesellschaftliche Kraft; das Bürgertum gewann an Einfluss, Rationalität und Vernunft wurden zu den Schlagworten der Zeit. Die Vorboten der Französischen Revolution (1789) wurden spürbar und

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bereiteten damit das geistige Klima für die darauffolgenden Jahrzehnte vor z. B. Napoleons Ägyptenfeldzug (1798–1801), bei dem Wissenschaftler und Künstler involviert waren. Sie brachten Bilder und Beschreibungen mit, die bis heute das Bild vom Orient in Europa prägen. Oder Goethe, der sich mit arabischer Literatur und besonders mit dem persischen Dichter Hafiz befasste. 1819 entstand der West-östliche Diwan, 1820 begann Friedrich Rückert den Koran zu übersetzen, 1826 wurde dieser Professor für orientalische Sprachen in Erlangen und zum Mitbegründer der Orientalistik als universitärer Disziplin. Die hier genannten Beispiele zeigen den Geist und die Haltung, das Aufbrechen und eine konkrete geistige Auseinandersetzung, sich mit dem Islam und mit dem Orient zu beschäftigen.

Gefangen und versklavt Aber was bewegt-e Europa wirklich? Ist es die Angst vor dem Islam? Ist es eine diffuse Angst vor dem Fremden? Ist es eine Angst vor dem eigenen Identitätsverlust? Oder ist alles nur eine Projektion? Seit der Islamisierung im 7. Jahrhundert ist für das christianisierte Europa die „andere“ Religion wahrnehmbar. Sie befindet sich an den Rändern der eigenen Lebenswelt, deren Begrenzungen sich ständig verändern. Sei es durch die arabische Expansion im südlichen Mittelmeer oder die osmanischen Geländegewinne in Mittel- und Osteuropa. Diesen strategischen Landeinnahmen setzt das Christentum einiges entgegen: Rückeroberungen, Kreuzzüge, Missionierungen. Wir sind bereits beim militärischen Vokabular angekommen. Und gerade bei inner-christlichen Konflikten und Kriegen findet eine Aktivierung des externen Feindbildes statt. Hussiten gegen Katholiken, Reformierte gegen den Papst, der Dreißigjährige Krieg als ein mit militärischen Mitteln ausgetragener Glaubenskampf unterschiedlicher christlicher Gruppierungen (aber die Schweden 1645 am Bisamberg verursachten kein vergleichsweise großes Trauma wie die Türken vor Wien, obwohl auf dem Weg dorthin Mähren/Olmütz geplündert, abgebrannt und besetzt worden war und eine Schneise der Verwüstung entstand. Hat heute jemand Angst vor Schweden?). Gleichzeitig hält die Angst vor dem Islam gegenwärtig an. Zwar bleibt das Wissen um islamische Glaubensinhalte unartikuliert und diffus; bis ins 19. Jahrhundert existierte über die andere Religion kaum verwertbares Wissen. Und selbst bei positiven Berührungspunkten mit dem Fremden, findet zwar ein Assimilierungsprozess statt, entfaltet sich aber anschließend keine positive Wirkung. Selbst an Orten, an denen sich zwei Kulturen gegenseitig bereichern konnten, bleibt eine positive Bewertung aus. Als bekannte und allgegenwärtige Beispiele seien hier Pecs und seine Architektur erwähnt oder die türkischen Bäder. Was wäre Wien ohne Kaffee und Kipferln

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und andere identitätsstiftende und staatstragenden Accessoires des Alltags als Hinterlassenschaft der Osmanen? „Gefangen und versklavt“ heißt hier die Chiffre der Angst, die sich durch das europäische Kunstschaffen zieht. So zeigt z. B. eine Figurengruppe auf der Prager Karlsbrücke den Heiligen Jan von Matha (1154–1213) mit dem Heiligen Felix von Valois (1127–1212), Gründer des Trinitarierordens (1198). Die Aufgabe des Trinitarierordens war die Befreiung christlicher Gefangener aus muslimischen Gefängnissen. In einem Detail sieht man einen Osmanen, der die gefangenen Christen bewacht. Die Figurengruppe entstand 1714 und ist von Ferdinand Brokoff. Warum kreiert ein Barockbildhauer dieses Sujet, das Personen der Realgeschichte aus der Zeit der Kreuzzüge zeigt, an diesem Ort?

Abb. 3 und 4: Karlsbrücke/Prag: Figurengruppe von Ferdinand Brokoff, 1714. Detail: Osmane bewacht die gefangenen Christen; über ihm befindet sich eine Hirschkuh mit Kreuz im Geweih.

Eine ähnliche Frage stellt sich bei populärer Genremalerei des 19. Jahrhunderts und dem mehmals variierten Thema „muslimischer Mann entführt europäische Christin (um sie dann zu verkaufen)“: Jean-Baptiste Huysmans, Henri-F8lix Philippeaux oder Jaroslav Cermak sind berühmte Vertreter dieser Kategorie. Wenn Osmin in Mozarts Entführung aus dem Serail die Grausamkeiten aufzählt, die von Fremden begangen werden: „Erst geköpft, dann gehangen,/Dann gespießt auf heißen Stangen,/Dann verbrannt, dann gebunden/Und getaucht;

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zuletzt geschunden“,16 dann könnte dieses Gewaltregister gleichzeitig auch ein Auszug aus den gesammelten Gräueltaten christlicher Gewalttäter oder amtlicher Rechtsvollstrecker in Europa bis zur Jahrhundertwende 18./19. Jahrhundert sein. In diesem Zusammenhang kann nur vermutet werden, dass die Chiffre „gefangen und versklavt“ als eine bewusst aufgerichtete europäische Projektionsfläche mit Drohkulisse anzusehen ist, die das externe Feindbild braucht, um von inneren und internen Kampfzonen abzulenken – das kollektive Unterbewusstsein ist dafür der ideale Ort, um diese Ängste zu pflegen und sie am Leben zu erhalten.

16 (1. Aufzug/4. Auftritt).

Definitionen befragen

Korrespondenz von Ljubomir Bratic´ und Gabriele C. Pfeiffer im Mai 2016

„Es kann keinen Kapitalismus ohne Migration geben.“*

Gabriele C. Pfeiffer : Bei Deiner Rede anlässlich des Transnationalen-Migrant_innen-Streiks im März 2011 am Viktor-Adler-Markt in Wien fielen folgende Sätze: „Dieses Land ist ein Einwanderungsland! Von den Herrschenden ist also zu verlangen, dass sie sich in die neuen gesellschaftlichen Realitäten integrieren sollen! Wir sind schon längst darin integriert und ein für alle Mal hier zu Hause!“ Von Dir habe ich auch den „Alle, die von hier sind, sind von hier“-Sticker erhalten. Was hat es mit diesem „Wir“ auf sich? Ljubomir Bratic´ : Immer wieder wird in der Diskussion rund um Migration ein „Wir“ und ein „Sie“ konstruiert. Diese Konstruktion baut sich entlang der uralten Wertvorstellung von einem „primitiven Sie“ und einem „entwickelten Wir“. Deutschland und Österreich sind postnazistische Gesellschaften und so gesehen, liegt es in deren Pflicht und Verantwortung, vorsichtig mit Migration umzugehen. Stattdessen wird aber behauptet, dass sich Migration angeblich negativ auf die Öffnungstendenzen der Gesellschaft auswirkt. Einmal abgesehen davon, dass ich als Migrant diese offene Gesellschaft in Europa nie so recht kennenlernen konnte, denn es handelt sich um Gesellschaften, die für Migrant_innen von Anfang an ein restriktives und diskriminierendes Parallelsystem eingeführt haben, gibt es gewisse Aspekte, die innerhalb dieser Gesellschaft durchaus als positiv zu bewerten sind, wie etwa Frauenrechte oder die Rechte der Homosexuellen. Hier sind in der Tat bestimmte Fragestellungen angeschnitten, die einen Weg in eine offene Gesellschaft aufweisen könnten, die sich allerdings von Anfang an nie auf Migrant_innen bezogen, nicht wahr? Im Übrigen müssten wir – wie Du auch * Vorliegende Korrespondenz fußt auf einen Beitrag von Ljubomir Bratic´ für die im Radiosender Ö1 ausgestrahlte Sendung „Diagonale – Radio für Zeitgenoss/innen: Die große Wanderung. Über Licht und Schatten von Migration“, Präsentation von Peter Lachnit am 14. Mai 2016. Bratic´ war außerdem mit Renata Schmidtkunz am 9. und 10. Juni 2016 ebenfalls auf Ö1 im Gespräch „Ich sammle Objekte der Migration“.

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immer wieder betonst – wohl von verschiedenen Anfängen und verschiedenen Migrationsintensitäten sprechen. Wie siehst Du denn beispielsweise die Zusammenhänge von Migration und Frauenrechten? Alles, was wir in Österreich und Deutschland (wohl auch in der Schweiz) unter dem Migrationsregime kennen, sind Restriktionen, die mal härter und mal schwächer Anwendung fanden. Sehen wir uns einmal den Migrationsprozess der Gastarbeitermigration an. Die Frauenrechte waren im Westen gerade ad acta gelegt worden, als die Migrant_innen kamen, derentwegen sie wieder diskutiert wurden. Diese Vorstellung ist eine zu einfache Darstellung. Denn erstens sind die Frauenrechte im Westen, d. h. der zweite Feminismusprozess, in etwa genauso alt wie die angesprochene Migration. Vor den 1960er-Jahren gab es keine Frauenrechte, sondern ein wirksames Patriarchat, in dem die Frauen zu Hause kochten und die Männer genug verdienten, um eine Familie ernähren zu können. Es kamen also nicht die Migrant_innen und warfen alles über Bord, vielmehr lief der Prozess der Emanzipation der Frauen und jener der Migration der Gastarbajteri1 gleichzeitig ab. Die Frage, wie die beiden miteinander verwoben sind, ist dabei natürlich legitim. Mit einem Blick auf die Migration aus dem ehemaligen Jugoslawien nach Österreich, welche bekanntlich keine geringe war, zeigen sich bestimmte Verbindungen: so waren etwa anfangs, im Jahr 1973, 47 % der Migrant_innen aus Ex-Jugoslawien Frauen, viele davon alleinstehend. Gesamt gesehen handelt es sich hierbei um einen signifikant höheren Prozentsatz an Frauen, die beschäftigt waren im Vergleich zu österreichischen Frauen. Du hast von einem „erstens“ gesprochen: der Zeitgleichheit von Migration der 1960er-Jahre und der Frauenbewegung. Was wäre dann zweitens? Die zweite Tatsache der Ereignisse besteht darin, dass sich die Emanzipation der westlichen Mittelklasse-Frau dort abgespielt hat, wo meist Migrant_innen deren bisherige Aufgaben im Haushalt eingenommen haben. D. h., es kam nicht der Mann nach der Arbeit nach Hause und hat das Putzen und Kinder-Aufpassen übernommen, also Reproduktionsarbeit verrichtet, sondern andere Frauen haben dies in Lohnarbeit getan. Mussten es tun, da deren Männer zu wenig verdienten, um überteuerte Wohnungen zu bezahlen. Die Migration in Gestalt der Migrantinnen war damit eine direkte (unfreiwillige) Unterstützerin der Emanzipation eines Teiles von westlichen Frauen. Vielleicht ist dies zu hören unangenehm, es muss dennoch darüber diskutiert werden. Es gibt auch genug

1 Vgl. Hakan Gürses / Cornelia Kogoj / Sylvia Mattl (Hg.), Gastarbajteri, Wien 2004.

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Migrant_innen, die bereits auf diesen Konnex hingewiesen haben.2 Dieser Prozess transnationaler Versorgungsketten und der Feminisierung der Migration ist auch noch nicht abgeschlossen und es ist wohl davon auszugehen, dass es auch nach wie vor gilt: Tausende von Altenpflegerinnen aus der Slowakei beispielsweise übernehmen Aufgaben österreichischer Familien für die andernfalls nach wie vor Frauen zuständig wären, ebenso die vielen illegalen Reinigungskräfte. Es bedürfte einer genaueren Untersuchung dieser Zustände, was aber nicht unterstützt wird, da es kein eindeutiges Bild einer positiven Emanzipation und eines negativen Patriarchats zeigt. Hier haben sich die Emanzipationsbestrebungen mit einem strukturellen Rassismus in eine Allianz begeben, um einem vermeintlichen Patriarchat ein Ende zu machen. Jedoch ist es Täuschung und Selbsttäuschung. Wie siehst Du und was sind persönlich Deine Erfahrungen mit den oft diskutierten Themen wie Entfremdung und Einsamkeit in der Fremde und „heimisch fühlen“? Ich habe Migrant_innen kennengelernt, die nicht von Einsamkeit, sondern von Mangel an Freizeit gesprochen haben und jene, die sich über die Möglichkeit gefreut haben, aus der Dorfgemeinschaft auszubrechen. Für das 20. Jahrhundert, also ausgehend von der Situation der Migrant_innen aus Jugoslawien, kommen zwei zentrale Aussagen immer wieder vor, wenn man mit der ersten Generation redet. Erstens erzählen sie, dass sie freiwillig gegangen sind, sie waren jung, neugierig und auf der Suche nach Arbeit. Sie waren bereit, ihr Leben und das Leben ihrer Umgebung zu verändern. Und zweitens erzählen sie, dass sie gar keine anderen Möglichkeiten hatten, so gesehen waren sie gezwungen zu gehen, da die Verhältnisse dementsprechend waren. Die Gastarbajteri wurden direkt vom Südbahnhof in Wien zu ihrer Arbeitsstelle geführt, es kam damals sogar zu Unstimmigkeiten zwischen Österreich und Deutschland aufgrund der großen Nachfrage nach billigen Lohnarbeitern. Die Gastarbajteri kamen in reiche Gesellschaften, in denen es genug für alle gab. Vor allem an Arbeit, die sie suchten. Anstatt zu sagen: „Wir haben überall verloren“, könnte auch gesagt werden: „Wir haben überall gewonnen.“ Der Wahrheitsgehalt dieser beider Aussagen ist gleich. Beide treffen nicht 100-prozentig zu und doch sind beide „richtig“. Es ist zu fragen, wer fühlt sich in welchen Vierteln „heimisch“. Abgesehen davon, dass jede und jeder von uns, sich irgendwo nicht heimisch fühlen kann. Wenn überhaupt irgendwo etwas für die Integration von Menschen getan wurde, 2 Vgl. Mirjana Morokvasic, „Migration, Gender, Empowerment“, in: Helma Lutz (Hg.), Gender Mobil? Geschlecht und Migration in transnationalen Räumen, Münster 2009, S. 28–51.

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Korrespondenz von Ljubomir Bratic´ und Gabriele C. Pfeiffer

dann in den kleinen mikropolitischen Nachbarschaftszusammenhängen. Es gibt Viertel in Wien, wo es selbstverständlich ist, dass der Gemüsehändler, der Hausmeister und der Installateur ein „Jugo“ ist, dass der Kaffeehausbesitzer aus der Türkei kommt und der vom kleinen Laden ums Eck aus Tunesien, wo es auch noch Platz für tschechische und neulich auch mehr tschetschenische Modegeschäfte gibt. Das stellt keine Verunsicherung dar, sondern eine Weiterführung von bestimmten für die Lebensqualität wichtigen Einrichtungen. Aber es gibt auch andere Viertel, wo die Menschen Angst haben, dass es anders kommen könnte. Dahinter steht aber nicht die Angst vor dem „Ausländer“, sondern vor der Wertminderung der Immobilien. Was ich damit sagen will, ist, dass es einerseits eine Ebene des Alltags gibt, auf der es eigentlich gut funktioniert (das Zusammenleben), aber dann eine, jene des materiellen Werts. Und hier geht es nicht gut. Warum? Könntest Du näher darauf eingehen? Es werden die etablierten Besitzverhältnisse in Frage gestellt, die monoethnischen Netzwerke. Die neuen Gruppen von Menschen streben Gleichheit an. Sie artikulieren ihre Bestrebungen, indem sie die alten Verhältnisse – schon allein durch ihre Anwesenheit – in Frage stellen. Das sehe ich als den eigentlichen Grund an, sich nicht mehr heimisch zu fühlen: Die Verweigerung, die neuen Realitäten anzuerkennen. Außerdem gibt es natürlich auch die Konkurrenz unter den Armen, jedoch noch gewichtiger ist – denke ich – jene zwischen den Privilegierten, der Zugang zu Privilegien. Die Folgegeneration ist hier nicht bereit, Kompromisse einzugehen und hier kommt es zu diesem Gefühl von „Unheimlichkeit“. In Wien gibt es in diesem Zusammenhang berühmt-berüchtigte Aussagen von Politiker_innen, die jene Menschen ernst nehmen wollen, denen es im Hinterhof von Seiten „türkischer Familien“ zu sehr nach gebratenem Hammel stinkt. Es gibt jedoch nur eine Antwort auf diese Probleme: Sie heißt, mehr Geld für diejenigen, die am untersten Ende der Gesellschaft leben. Keiner hätte etwas dagegen, wenn alle etwas bekämen. Aber der Neid entsteht aus Situationen, in denen von verlorenem Posten aus und ohne Perspektive auf eine bessere Zukunft gesprochen wird. Solange die soziale Frage nicht gelöst wird, werden wir – trotz der Verschärfung der „Ausländergesetze“ in Österreich seit 1975 – langsam aber sicher ein Wachsen der Unsicherheit und einen Ruf nach einer starken Hand erleben. Du sagtest einmal, dass die so oft zitierten Konflikte in der Gesellschaft nicht von den Migrant_innen ausgehend zu sehen seien. Du jedenfalls, sieht sie nicht. Was siehst Du und wie in diesem Zusammenhang?

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Richtig, ich sehe keinesfalls Konflikte, die die Grundideen der Gesellschaft in Frage stellen. Es gibt auch keine organisierte Kraft, die die bestehenden Konflikte bis zur Gewalt führen. Es gibt Verbrechen – die hat es immer gegeben. Die Refugees kommen nach Europa, weil sie in Ruhe und Frieden leben können, die Gastarbajteri sind gekommen, weil sie hier arbeiten konnten. Das ist per se kein Feld aus dem Konflikte entstehen. Diese entstehen erst, wenn es – um George Orwell zu zitieren – wenn es Gleichere gibt. Die Interessenskonflikte sind nicht auf Migration zurückzuführen, sondern auf die grundsätzliche Struktur der Gesellschaft, die nicht auf Gleichheit, sondern auf Ungleichheit aufgebaut ist. Wenn also weniger Konflikte in der Gesellschaft erwünscht sind – und es ist nicht ausgemacht, dass dies tatsächlich von allen Interessenvertretungen gewünscht wird – dann sollte auf Gleichheit aller in einer Gesellschaft lebender Personen hingearbeitet werden. Dies hieße beispielsweise bei den „Ausländer_innen“ könnte damit begonnen werden, das gesamte restriktive Fremdenrecht aufzuheben – sodass für sie gilt, was für die „Einheimischen“ gültig ist. Aber … mehr Gleichheit bedeutet gleichzeitig weniger Mehrwert. Und das entspricht nicht, es widerspricht dem wirtschaftlichen System, in dem wir leben. Daher ist es notwendig, genau zu spezifizieren, um welche Konflikte es sich handelt. Es stehen nicht Kulturen und Werte gegeneinander, sondern materielle Interessen. Eine Analyse auf dieser Ebene würde wahrscheinlich zeigen, dass es zwischen den Blöcken eines „Wir“ und „Ihr“ viele Bruchlinien gibt, die andere Gruppierungen sichtbar machen: z. B. zwischen Arbeiter_innen und wohlhabenderen Schichten oder zwischen Männern und Frauen oder der Generation, die im Fordismus groß geworden ist, und jener im Postfordismus usw. Du versuchst hier auch globaler zu denken, richtig? Das Thema der Migration überhaupt als globales Phänomen zu betrachten, als einen integralen Bestandteil der Globalisierung und auch des Kapitalismus. Wie denkst Du denn in diesem Kontext den Zusammenhang mit dem Kapitalismus? Es kann keinen Kapitalismus ohne Migration geben. Migration – d. h. sich aus herkömmlichen Sicherheiten zu entfernen und das Risiko auf sich zu nehmen, um einen Neuanfang zu wagen. Mit diesem Risikodenken folgt die Bereitschaft, unter bestimmten Bedingungen seine oder ihre Arbeitskraft zu verkaufen, was aus einer gesicherten Position heraus nicht stattgefunden hätte. Das ist der Grund, warum die Industrie sich über diese mobilen und flexiblen Arbeitskräfte freut und die Gewerkschaften sich ärgern. Allerdings genügt es nicht, einfach nur dagegen zu sein, um diesen Prozess zu stoppen. Es genügt auch nicht, diese Arbeiterinnen und Arbeiter zu verfolgen, denn das würde das gleiche bedeuten wie früher, als gegen Maschinen gekämpft wurde. Diese wurden zerstört und boykottiert, da sie Arbeitsplätze ersetzt haben. Nein, so geht es nicht. Wenn man

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die Migration stoppen will, muss man sich mit deren Ursachen beschäftigen und auf diesen Ebenen intervenieren. Alles andere ist vergeudete Kraft. Solange Kapitalismus und Neoliberalismus nicht in Frage gestellt werden, wird es Migration geben, gezwungenermaßen. Die Orte, von denen die Menschen weggehen, bieten keine Möglichkeiten, diese Menschen ausreichend zu ernähren. Die Menschen kommen aus der ganzen Welt und sie fühlen sich moralisch dazu legitimiert. Diese moralische Legitimation ist die Stärke der heutigen Migrant_innen. Nicht die Migration ist die Ursache von Unsicherheiten, sondern ein zunehmender Mangel an Einkommen. Ein zunehmend größer werdender Teil der Bevölkerung verdient zu wenig. Kommen wir zum Bereich „Kultur“. Auch hier wird tendenziell von Problemen und von Spannungen gesprochen. Kannst Du bitte ein wenig aus Deiner Erfahrung und Deinen Beobachtungen diesbezüglich in Wien berichten? Ich sehe in Österreich keine kulturellen Spannungen. Jedoch wird vieles in die Sprache der Kultur übersetzt – so wie z. B. die heutigen Jugendbanden nicht als Zusammenführung von Armut und Adoleszenz gesehen werden, sondern als Ausdruck eines afghanischen oder tschetschenischen Kulturverständnisses gedeutet. Aber machen wir uns auch nichts vor: Hätten die Jugendlichen, die in den Parks in Simmering herumlungern, eine Perspektive wie jene des 18. und 19. Bezirks, würden sie keine Banden bilden. Es ist also nicht eine Frage unterschiedlicher Kulturen, sondern eine der sozialen Stellung in der Gesellschaft. In letzter Zeit wurde viel über die U-Bahnlinie U6 in Wien gesprochen. Wie würdest Du diese Situation beschreiben? Hast Du Lösungsvorschläge? Die „Jungs“, die bei der U6-Station Thaliastraße herumlungern, erzählen nichts. Wir wissen nicht, woher sie kommen, wohin sie gehen. Wir wissen nichts von deren Familiengeschichten. Wir wissen nicht, wie viele, die sie kannten, im Mittelmeer gestorben sind, wie viele ihrer Freund_innen oder wo sie sich befinden. Alles, was wir sehen, ist ein Fremdkörper und die erste Reaktion darauf ist eine medizinische: „entfernen“. Wollen wir aber tatsächlich eine Lösung des Problems, eine Lösung im Sinne einer „offenen Gesellschaft“, dann können wir nicht umhin, als Miteinander zu sprechen. D. h., dass wir als sprechende Wesen uns ebenbürtig anerkennen, ab da kann etwas Gemeinsames oder aber auch nichts entwickelt werden. Jedenfalls gibt es mindestens die Möglichkeit zur Kommunikation. Solange aber in diesem Bereich das große Schweigen herrscht, so lange werden wir mit einer wachsenden Unsicherheit in der Gesellschaft leben. Um es klar zu sagen: Anerkennung beruht nicht auf irgendeiner Wil-

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lensäußerung, sondern auf dem Akt der Bewusstwerdung einer Gesellschaft, auf dem Akt der Rationalität der Vorgänge in einer Gesellschaft. Was also konkret könnte gemacht werden hinsichtlich der Jugendlichen entlang der U6? Wie werden sie Teil der Gesellschaft? Die große Frage dabei ist wohl, wie soll eine konstruktive, soziale Selbstbehauptung geschaffen werden – ohne dass dabei eine Bevormundung praktiziert wird. Daher : Bitte keine sozialarbeiterische Hilfeleistung. Diese hat mit politischer Selbstbehauptung als sprechende Wesen nichts zu tun.3 Soziale Hilfeleistung ist dafür da, um sozialen Frieden mittels sanfter polizeilicher Methoden zu erhalten, das Zuckerbrot sozusagen. Diese Maßnahmen sind natürlich wichtig, aber nicht im Bereich des Politischen zu verorten. Auch kulturelle Maßnahmen sind keine politische Lösung, da diese unter dem gegenwärtigen identitären Verständnis von Kultur zu einer Ethnisierung führen, d. h. zur „Selbstbehauptung für sich“ (das kann in bestimmten Situationen durchaus Sinn haben)4 wird und nicht zum allerwichtigsten Postulat, zur „Selbstbehauptung für andere“.

3 ðtienne Balibar, Sind wir Bürger Europas? Politische Integration, soziale Ausgrenzung und die Zukunft des Nationalen, Hamburg 2003. 4 Vgl. dazu das Konzept des „strategischen Essentialismus“ von Gayatri Chakravorty Spivak.

Katharina Lehner

Asylpolitiken. Inszenierungsstrategien in Australien und Österreich

Spätestens seit dem Schiffsunglück im Mittelmeer vom 19. April 2015 mit über 800 Toten ist die Asyl- und Fluchtthematik ein Gegenstand, der sich auf ganz Europa ausgeweitet hat.1 Auch in Australien steht dieser Themenkomplex, vor allem aber die irreguläre Migration über den Seeweg, immer wieder im Zentrum der politischen und medialen Aufmerksamkeit. Auf internationaler Ebene ist Australien dabei vor allem für seine restriktive Asylpolitik bekannt. Im Zusammenhang der europäischen Flüchtlingsthematik des letzten Jahres taucht die Art und Weise wie Asylpolitik in Australien politisch und medial inszeniert wird, immer wieder als Referenzposition auf. Auch Binnenländer wie Österreich, die keine direkte Seegrenze haben, orientieren sich an diesem Konzept. Besonders deutlich wird das in der Informationskampagne sichtbar, die Österreich im März 2016 in Afghanistan gestartet hat und die starke visuelle und rhetorische Parallelen zu Australiens jüngster Kampagne zur Abschreckung potenzieller Asylsuchender aufweist.2 Australien und Österreich verwenden ihren unterschiedlichen Ausgangspositionen zum Trotz ähnliche mediale Strategien, um ihre Asylpolitiken öffentlich zu inszenieren. Die Inszenierung von Politik bedient sich vor allem der rhetorischen und der visuellen Kommunikationsebene und ist in beiden Spielformen stark auf Medien und soziale Medien als Vermittlungskanäle angewiesen. Politische Akteur_innen können durch strategische Inszenierungstaktiken die mediale Resonanz ausgewählter Ereignisse beeinflussen und so bestimmte Punkte ihrer politischen 1 Vgl. Alessandra Bonomolo / Stephanie Kirchgaessner, „UN says 800 migrants dead in boat disaster as Italy launches rescue of two more vessels“, in: The Guardian, 20. 04. 2015, http:// www.theguardian.com/world/2015/apr/20/italy-pm-matteo-renzi-migrant-shipwreck-crisissrebrenica-massacre [05. 06. 2016]. 2 Vgl. o. A., „,Noch strenger‘: Mikl-Leitner startet Kampagne in Afghanistan“, in: Die Presse, 01. 03. 2016, http://diepresse.com/home/politik/innenpolitik/4936610/Noch-strenger_Mikl Leitner-startet-Kampagne-in-Afghanistan- [05. 06. 2016] und vgl. o. A., „Mikl-Leitner weitet Anti-Asyl-Kampagne auf Pakistan aus“, in: Die Presse, 09. 03. 2016, http://diepresse.com/ home/politik/innenpolitik/4942764/MiklLeitner-weitet-AntiAsylKampagne-auf-Pakistanaus-?from=simarchiv [05. 06. 2016].

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Katharina Lehner

Agenda unterstreichen. Solche Arrangements können die öffentliche und mediale Diskussion der entsprechenden Themen hervorheben oder unterdrücken. Die dabei angewendeten Strategien werden als Agenda-Setting bzw. AgendaCutting bezeichnet. In Situationen, wo ein einziges Thema die mediale Berichterstattung in einem Maße dominiert, dass diese beiden Strategien wirkungslos bleiben, kommt eine dritte Taktik, das Agenda-Surfing, zum Einsatz: Nach Stephanie Geise ist das „Ziel […] hierbei, das aktuell existierende ThemenSet zur eigenen Kompetenzprofilierung zu nutzen“.3 Besonders interessant ist die Betrachtung der medialen Inszenierung von Asylpolitik im Kontext der australischen Parlamentswahlen 2013. Die herausfordernde Liberal Party verfolgte in ihrem Wahlkampf eine erfolgreiche AgendaSetting-Strategie und machte Asylpolitik und besonders irreguläre Migration auf dem Seeweg zu einem dominanten Thema. Sie beschrieb ihr geplantes Regierungsprogramm folgendermaßen: „An incoming Coalition government will treat the border protection crisis as a national emergency and tackle it with the focus and the energy an emergency demands“.4 Der Sachverhalt zum Thema Flucht und Asyl wird hier als Krisensituation dargestellt, für die das Parteiprogramm der Liberals schnelle und nachhaltige Lösungsmaßnahmen verspricht. Laut Statistik des Department for Immigration and Border Protection wurden im Rekordjahr 2012/13 insgesamt 26.427 Asylanträge gestellt, davon 18.119 von Menschen, die mit dem Boot nach Australien kamen.5 Bei einer Einwohnerzahl von rund 23,29 Millionen im Jahr 2013 entspricht dies 0,11 Prozent der Gesamtbevölkerung.6 Diesen Zahlen stehen 190.000 Immigrant_innen gegenüber, die sich im Rahmen anderer Langzeitvisa in Australien niederließen, sowie 724.000 Menschen, die mit temporären Visa (Touristenvisa nicht eingeschlossen) einreisten.7 Asylsuchende, die über den 3 Stephanie Geise, Vision that matters. Die Funktions- und Wirkungslogik Visueller Politischer Kommunikation am Beispiel des Wahlplakats, Wiesbaden 2011, S. 152. 4 Liberal Party of Australia, The Coalition’s Operation Sovereign Borders Policy, Juli 2013, http://sievx.com/articles/OSB/201307xxTheCoalitionsOSBPolicy.pdf [05. 06. 2016], S. 10. Im Zuge des Wahlkampfbeginns für die Parlamentswahlen im Juli 2016 wurde das Material zum Wahlkampf von 2013 von der offiziellen Parteiwebsite entfernt und ist nur noch über externe Quellen und gezielte Suche online zugänglich. 5 Vgl. Australian Government Department of Immigration and Border Protection, Asylum Trends. Australia. 2012–13 Annual Publication, 2013, https://www.border.gov.au/ReportsandPublica tions/Documents/statistics/asylum-trends-aus-2012-13.pdf [05. 06. 2016], S. 4 und vgl. Australian Government Department of Immigration and Border Protection: Australia’s migration trends 2012–13 at a glance, 2013, https://www.border.gov.au/LegacyPagesandAboutUs/Docu ments/statistics/migration-trends-2012-13-glance.pdf [05. 06. 2016], S. 2f. 6 Vgl. Statista, „Australien. Gesamtbevölkerung von 2006 bis 2016“, 2016, http://de.statista. com/statistik/daten/studie/19291/umfrage/gesamtbevoelkerung-in-australien/ [05. 06. 2016]. 7 Vgl. Australian Government Department of Immigration and Border Protection, Asylum Trends. Australia. 2012–13 Annual Publication, S. 2f.; vgl. Janet Phillips, „Asylum seekers and

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Seeweg nach Australien kommen, werden in Internierungslagern („detention centres“) außerhalb des australischen Staatsgebiets auf Nauru und Manus Island (Papua-Neuguinea) untergebracht und haben auch im Falle eines positiven Asylbescheids nur in diesen Ländern das Recht, sich niederzulassen. Trotz ihres verhältnismäßig geringen Anteils an der australischen Gesamtimmigration werden die Ankunftszahlen der Asylsuchenden, die Australien auf dem Seeweg erreichen, als akutes Problem inszeniert, bei dem es um den Schutz der nationalen Grenzen geht.8 Die Liberal Party selbst wird dabei als potenter und kompetenter Lösungsträger dargestellt und als solcher in scharfen Kontrast zu der damals amtierenden Labor-Regierung gesetzt: „Labor has failed on our borders like no other government in Australia’s history“.9 Gleichzeitig erfolgt eine Stigmatisierung der Asylsuchenden als „illegale“ und unmoralische Menschen: More than 14.500 desperate people have been denied a place under our offshore humanitarian programme because those places have been taken by people who have arrived illegally by boat. These people are genuine refugees, already processed by United Nations agencies, but they are denied a chance at resettlement by people who have money in their pocket to buy a place via people smugglers.10

Obwohl es nach Artikel 31 der Genfer Flüchtlingskonvention nicht als illegal gilt, ein Land zum Zweck eines Asylgesuchs ohne gültige Einreisegenehmigung zu betreten,11 werden hier die Grenzen zwischen irregulärer Migration und Illegalität verwischt. Gleichzeitig suggeriert die Formulierung, diese Menschen würden sich bewusst für die irreguläre Einreise entscheiden, um Plätze aus dem humanitären Visakontingent zu beanspruchen, die andernfalls dem Resettlementprogramm zufallen würden. Die Betonung der Tatsache, dass diese Asyl-

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refugees. what are the facts?“, in: Parliamentary Library Research Paper Series, 02. 03. 2015, http://parlinfo.aph.gov.au/parlInfo/download/library/prspub/HGNW6/upload_binary/ HGNW6.pdf [05. 06. 2016], S. 1 und Patrick van Berlo, „Australia’s Operation Sovereign Borders. Discourse, Power, and Policy from a Crimmigration Perspective“, in: Refugee Survery Quarterly 34/2015, S. 86f. Vgl. Phil Glendenning, „Asylum Seekers, Refugees and Human Dignity“, in: Social Alternatives 34/2015, S. 31 und vgl. Julian Burnside, „The larger idea: human rights matter“, in: Robyn Cadwallader (Hg.), We are Better than This, Hindmarsh 2015, S. 7ff. Liberal Party of Australia, The Coalition’s Operation Sovereign Borders Policy, S. 3. Ebd. Vgl. UNHCR, „Abkommen über die Rechtsstellung von Flüchtlingen vom 28. Juli 1951 und Protokoll über die Rechtsstellung von Flüchtlingen vom 31. Januar 1967“, 1951/1967, http:// www.unhcr.de/fileadmin/user_upload/dokumente/03_profil_begriffe/genfer_fluechtlings konvention/Genfer_Fluechtlingskonvention_und_New_Yorker_Protokoll.pdf [05. 06. 2016], S. 15; Phillips, „Asylum seekers and refugees“, S. 4; Glendenning, „Asylum Seekers, Refugees and Human Dignity“, S. 28 und Anne Pedersen / Susan Watt / Susan Hansen, „The role of false beliefs in the community‘s and the federal government‘s attitudes toward Australian asylum seekers“, in: Australian Journal of Social Issues 41/2006, S. 116.

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suchenden Schlepper bezahlen, um nach Australien zu gelangen, stellt eine zusätzliche Assoziation mit dem Bereich der Illegalität her. Diese Darstellungsweise kreiert einen Kontrast zwischen „vermögend und unfair“ und „arm und aufrichtig“ und zielt darauf ab, den Eindruck der Illegitimität eines Asylgesuchs auf dem Seeweg zu erzeugen. Der damalige Premierminister der Labor Party Kevin Rudd stellte im Vorfeld des Wahlkampfes 2013 in einer Rede an die Nation ein neues Asylabkommen mit Papua-Neuguinea vor : „People who come by boat now have no prospect of being resettled in Australia. The rules have changed. If you come by boat, you will never permanently live in Australia“.12 Noch am selben Tag lancierte die LaborRegierung eine Medienkampagne mit dem Titel „By boat, no visa“, die die neu beschlossenen Verschärfungen im Asylrecht zum Thema hatte. Bereits am nächsten Tag wurden in ganz Australien Plakate und Zeitungsanzeigen veröffentlicht, die ein auf dem Ozean treibendes Boot mit der Bildüberschrift „If you come here by boat without a visa, you won’t be settled in Australia“ zeigten (vgl. Abb. 1).13 Die Werbeanzeigen sollten sich zusammen mit Radioschaltungen und einer Website an ethnische Communities in Australien richten und noch vor der internationalen Ausweitung der Kampagne über Mundpropaganda potenzielle Asylsuchende in den Herkunftsländern erreichen.14 Trotz dieser Stellungnahme zum Zielpublikum der Kampagne lässt die großflächige Werbung innerhalb Australiens die Vermutung zu, dass im Hinblick auf den bevorstehenden Wahlkampf und dessen Themensetzung auch die australischen Wähler_innen adressiert waren.15 In den folgenden zwei Monaten veröffentlichte die LaborRegierung auf YouTube mehrere Videos in verschiedenen Sprachen, die sich direkt an Menschen in den Herkunftsländern richten.16 Die Verschärfung des Asylrechts wird hier als Maßnahme gegen den Menschenschmuggel präsentiert und die Strenge des neuen Gesetzes unterstrichen: 12 „Kevin Rudd addresses the nation on asylum seekers – video“, in: The Guardian, 19. 07. 2013, https://www.theguardian.com/world/video/2013/jul/19/kevin-rudd-address-asylum-seekers -video [05. 06. 2016]. 13 Vgl. Bridie Jabour, „Immigration department launches ad campaign to back asylum policy“, in: The Guardian, 19. 07. 2013, http://www.theguardian.com/world/2013/jul/19/immigration -department-asylum-seekers-advertising [05. 06. 2016]. 14 Vgl. ebd. 15 Vgl. Heath Aston, „Asylum boat ads hit home, but not in target countries“, in: Sydney Morning Herald, 27. 07. 2013, http://www.smh.com.au/national/asylum-boat-ads-hit-homebut-not-in-target-countries-20130726-2qpuu.html [05. 06. 2016] und Nic Christensen, „Government ,No Visa‘ campaign draws fire for being politically motivated“, in: Mumbrella, 22. 07. 2013, https://mumbrella.com.au/government-no-visa-168352 [05. 06. 2016]. 16 Vgl. Notopeoplesmuggling, „You won’t be settled“, https://www.youtube.com/channel/ UCRopaCv2_tawuXdnV9nZiNA [05. 06. 2016] und ABF TV: Operation Sovereign Borders, „No change to Australia’s boat turn back policy“, 20. 06. 2016, https://www.youtube.com/ playlist?list=PLAGur7-GAVv8xo8v_xjfa4fEaKEssCaiv [05. 06. 2016].

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Abb. 1: Australian Government: You won’t be settled in Australia, 2013.

This rule applies equally to men, women and children arriving by boat. There are no exceptions. The rules have changed. If you come by boat without a valid visa you will never permanently live in Australia. Don’t be deceived by the lies of people smugglers and waste your money. Australia is not a destination by boat.17

In einigen der Videos findet sich am Ende neben dem Emblem der australischen Regierung das Bild eines durchgestrichenen Papierschiffchens. Diese Symbolik wird in späterem Werbematerial der Liberal-Regierung aufgegriffen und abgewandelt: Statt eines Schiffs ist hier der durchgestrichene Umriss Australiens abgebildet (vgl. Abb. 2). Die seit 2013 amtierende Liberal-Regierung hat seit Beginn der Legislaturperiode im Rahmen ihrer Informationsoffensive zur australischen Asylpolitik eine Reihe an Videos in mehreren Sprachen veröffentlicht.18 Der international wohl bekannteste Teil dieser Offensive ist die im Februar 2014 lancierte „No Way“-Kampagne, bestehend aus Plakaten, Flugblättern, Videos und einer Website, die über die restriktive Asylpolitik Australiens informieren. Als zentrales Bild der Kampagne scheint folgende Konstruktion auf: ein Boot auf stürmischer See mit der Bildüberschrift „No way, you will not make Australia home“ (vgl. Abb. 2). Die mediale Politikinszenierung der Liberal-Regierung greift in vielen Punkten auf die von der Labor-Regierung etablierte Rhetorik zurück. Mit der militärisch geführten Initiative Operation Sovereign Borders, die sämtliche unautorisierte Boote in australischen Gewässern zur Umkehr

17 ABF TV, „By boat, no visa campaign – Afghanistan and Pakistan (Dari) – September 2013“, 02. 09. 2013, https://www.youtube.com/watch?v=99Te2GuimrE& index=198& list=PLAGu r7-GAVv8xo8v_xjfa4fEaKEssCaiv [05. 06. 2016]. 18 Vgl. ABF TV, „No change to Australia’s boat turn back policy“.

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Abb. 2: Australian Government: No Way, 2014.

zwingt, wird das Ziel, die „Boote zu stoppen“,19 unter Stichworten wie Abschreckung, Grenzsicherung und Rückführung rigoros umgesetzt.20 Australiens Medienkampagnen zur Asylpolitik haben internationale Reichweite und erhielten vor allem im Zusammenhang mit der aktuellen europäischen Flüchtlingssituation positives Echo von rechtspopulistischen Gruppierungen wie der niederländischen Partij voor de Vrijheid (PVV),21 der deutschen Pegida 19 Vgl. Shalailah Medhora, „Tony Abbott sticks to ,stop the boats‘ in face of claims people smugglers paid“, in: The Guardian, 14. 06. 2015, http://www.theguardian.com/australia-news/ 2015/jun/14/tony-abbott-sticks-to-stop-the-boats-in-face-of-claims-people-smugglers-paid [05. 06. 2016]. 20 Vgl. van Berlo, „Australia’s Operation Sovereign Borders, S. 84. 21 Vgl. PVVpers, „No Way. You will not make the Netherlands home“, 21. 04. 2015, https://www. youtube.com/watch?v=wgCSw1JKl7 A [05. 06. 2016]. Geert Wilders, Parteivorsitzender der PVV, tritt hier in einem Video auf, das unter dem Slogan „No Way. You will not make the

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(Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes),22 der Alternative für Deutschland (AfD),23 von verschiedenen europäischen Gruppierungen der sogenannten „Identitären Bewegung“24 und der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ),25 die die „No Way“-Kampagne zitierten und die harte Linie der australischen Regierung als Vorbild für eine europäische Lösung darstellten. So forderte der Bundesparteiobmann der FPÖ Heinz-Christian Strache im September 2015: „No Way. Wir müssen es wie Australien machen: Wer aus wirtschaftlichen Gründen aufbricht, der hat keine Chance“.26

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Netherlands home“ in Ästhetik und Rhetorik die Videos der australischen „No Way“Kampagne kopiert. Vgl. o. A., „Germany’s far right admires Australia’s ,no way‘ immigration policy – video“, in: The Guardian, 13. 10. 2015, http://www.theguardian.com/world/video/2015/oct/13/germanfar-right-pegida-admires-australias-no-way-immigration-policy-video [05. 06. 2016]. Julian Flak, Bundesvorstandsmitglied der AfD, forderte schon im September 2015 eine europäische Asylpolitik nach australischem Vorbild unter dem Motto „No Way – You will not make Europe home“, vgl. Dietmar Neuerer, „AfD-Politiker fordert ,Schutzanlagen‘ gegen Migranten“, in: Handelsblatt, 08. 09. 2015, http://www.handelsblatt.com/politik/deutsch land/alternative-fuer-deutschland-afd-politiker-fordert-schutzanlagen-gegen-migranten /12292864.html [15. 06. 2016]. Die Identitäre Bewegung in Österreich verteilte im Juni 2015 in Traiskirchen Flugblätter an Asylsuchende, die die australische „No Way“ Kampagne unter dem Titel „No Way You will not make Europa [sic] home“ zitierten; vgl. Interdisziplinäres Institut für Verhaltenswissenschaftlich Orientiertes Management (WU Wien): „Blog. Polarisierung, Lagerbildung, Spaltung“, 28. 04. 2016, https://www.wu.ac.at/ivm/blog-details/detail/polarisierung-lager bildung-spaltung/ [15. 06. 2016] und You are Welcome, „Briefe für Traiskirchen“, 2015, http://youarewelcome.at/ [15. 06. 2016]. Das Flugblatt wurde von der Website gegenARGUMENT.at aufgegriffen und abgewandelt und steht dort zusammen mit dem Aufruf zur Verteilung an „Fremdlinge“; vgl. GegenARGUMENT.at, „NO WAY – Es reicht! Jetzt aktiv werden!“, 28. 07. 2015, http ://www.gegenargument.at/texte/265_NO_WAY__Es_reicht_ Jetzt_aktiv_werden [15. 06. 2016]. Die Website wird vom Aula-Verlag betrieben, der vom DÖW – Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes als rechtsextrem eingestuft wird; vgl. DÖW, Die Aula, 2016, http://doewweb01.doew.at/frames.php?/projekte/ rechts/organisation/aula.html [15. 06. 2016]). Hanna Herbst, seit Spätsommer 2015 stellvertretende Chefredakteurin von VICE Alps, dokumentierte ein Foto des ursprünglichen Flugblatts auf ihrem Twitter-Account; vgl. Hanna Herbst, „Diese Flyer verteilen die Identitären an Flüchtlinge in Traiskirchen“, 22. 06. 2015, https://twitter.com/HHumorlos/status/ 612999990445756416/photo/1?ref_src=twsrc%5Etfw [15. 06. 2016]). Auch die französische „G8n8ration Identitaire“ greift den australischen Slogan auf: Transparente mit der Aufschrift „No Way You will not make Europa [sic] home“ kamen bei einer Demonstration an der französisch-italienischen Grenze im Juni 2015 zum Einsatz; vgl. Identitäre Generation, „No way! – eine identitäre Aktion“, 18. 06. 2015, http://www.identitaere-generation.info/no-wayeine-aktion-der-generation-identitaire/ [15. 06. 2016]. Vgl. Freiheitliche Partei Österreichs, „HC Strache: ,Australisches Flüchtlingsmodell ist Vorbild für Europa‘“, 04. 05. 2015, http://www.hcstrache.at/artikel/hc-strache-australischesfluechtlingsmodell-ist-vorbild-fuer-europa/ [05. 06. 2016]. Heinz-Christian Strache in APA OTS: „FPÖ-TV. Moderne Völkerwanderung – HC Strache sagt: ,No Way‘“, 10. 09. 2015, http://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20150910_OTS0077/ fpoe-tv-moderne-voelkerwanderung-hc-strache-sagt-no-way [05. 06. 2016].

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Auch in der europäischen und österreichischen Politik wird im Zusammenhang der Flüchtlingsthematik von einer Krise gesprochen, wobei es sich zu hinterfragen lohnt, worin die Krise für die jeweiligen Betrachter_innen liegt: „Verteilungskrise“, „Europakrise“, „Solidaritätskrise“ und „Völkerwanderungsproblem“ sind einige der gängigen Interpretationen.27 Laut Asylstatistik des österreichischen Innenministeriums wurden im Jahr 2015 insgesamt 88.340 Asylanträge gestellt. Wie viele dieser Anträge jedoch auch tatsächlich zur Einleitung eines Asylverfahrens führten, geht daraus nicht hervor. Die Statistik gibt 79.723 offene Asylverfahren per 31. Dezember 2015 an, wobei in dieser Gesamtsumme auch Verfahren mit eingeschlossen sind, die aus einem Antrag vor 2015 folgten. Resettlementfälle im Zuge humanitärer Hilfsabkommen sind aus dieser Statistik ausgenommen.28 Die Einwohnerzahl Österreichs beträgt Anfang 2016 8.699.730,29 der Anteil der Asylsuchenden an der Gesamtbevölkerung liegt demnach bei 0,91 Prozent. Trotz dieses vergleichsweise geringen Anteils werden immer mehr Stimmen laut, die eine Reduktion der Asylantragszahlen fordern. War es im Juni 2015 noch Heinz-Christian Strache, der verlangte: „Das Boot ist voll – ziehen wir die Gangway ein“,30 sprach im Herbst 2015 auch die damalige Innenministerin Johanna Mikl-Leitner31 vom „Ende des Asyltourismus“32 und im Februar 2016 von der Notwendigkeit, „Maßnahmen [zu] setzen, um Österreich unattraktiver zu machen“.33 Der Kandidat der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) Andreas Khol erklärte im Zuge des Präsidentschaftswahlkampfs 2016, er sei ein „Freund der Nächstenliebe“, die aber nicht nur eine „Ferns-

27 Vgl. Karin Riss, „Parlament: Eine Krise, viele Namen“, in: Der Standard, 11. 11. 2015, http:// derstandard.at/2000025546801/Parlament-Eine-Krise-viele-Namen [05. 06. 2016]. 28 Vgl. Bundesministerium für Inneres, „Asylstatistik 2015“, 2016, http://www.bmi.gv.at/cms/ BMI_Asylwesen/statistik/files/Asyl_Jahresstatistik_2015.pdf [05. 06. 2016]. 29 Vgl. Statistik Austria, „Bevölkerung zu Jahres- und Quartalsanfang“, 22. 06. 2016, http:// www.statistik.at/web_de/statistiken/menschen_und_gesellschaft/bevoelkerung/bevoelke rungsstand_und_veraenderung/bevoelkerung_zu_jahres-_quartalsanfang/index.html [25. 07. 2016]. 30 Freiheitlicher Parlamentsklub in APA OTS, „Asyl. Strache: Das Boot ist voll – ziehen wir die Gangway ein“, 13. 06. 2015, http://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20150613_OTS0017/ asyl-strache-das-boot-ist-voll-ziehen-wir-die-gangway-ein [05. 06. 2016]. 31 Johanna Mikl-Leitner (Österreichische Volkspartei, ÖVP) war von 2011 bis 2016 österreichische Innenministerin. Im Vorfeld der Bundespräsidentschaftswahlen 2016 wechselte sie überraschend als Landeshauptmann-Stellvertreterin und Finanzlandesrätin Niederösterreichs in die Landespolitik und löste dort Wolfgang Sobotka (ÖVP) ab, der seinerseits seit dem 21. April 2016 neuer österreichischer Innenminister ist. 32 SIA Schulbuch InterActive, „Johanna Mikl-Leitner nach dem EU-Gipfel am 22. 9. 2015. 2015“, https://www.youtube.com/watch?v=XKcPrwWaxdk& list=PLWlZPM_g9rNYu2sr_ vD8oKMEna9blMGsu& index=9 [05. 06. 2016], 01:45ff. 33 ORF 2, „Österreich beschließt Asyl auf Zeit“, ZIB 20, 26. 01. 2016, https://www.youtube.com/ watch?v=RcTGZs6yn_w [05. 06. 2016], 00:46–00:49.

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tenliebe“34 sein könne und der damalige Bundeskanzler Werner Faymann (Sozialdemokratische Partei Österreichs, SPÖ),35 der im September 2015 noch vom „[Ö]ffnen d[er] Grenze im Zeichen der Menschlichkeit“36 gesprochen hatte, erklärte im Jänner 2016: „Ich habe niemanden eingeladen, ich lade auch niemanden ein – aber ich kämpfe darum, dass weniger Flüchtlinge kommen“.37 Am 27. April 2016 beschloss der Nationalrat mit den Stimmen 98 Abgeordneter von ÖVP, SPÖ und Team Stronach eine neue Asylnovelle,38 mit der Österreich nun über „eines der schärfsten Asylgesetze in ganz Europa“39 verfügt. Betrachtet man dieses asylpolitische Maßnahmenpaket unter dem Gesichtspunkt der Inszenierung von Asylpolitik, lässt sich – ähnlich wie in Australien – ein Fokus auf Abschreckungsmechanismen feststellen. Vizekanzler Reinhold Mitterlehner (ÖVP) bekräftigt, dass die Verschärfung des Asylrechts eine doppelte Botschaft enthalte: einerseits ein Signal an die österreichische Bevölkerung, dass die Politik Maßnahmen setze, um die Zahl der Asylanträge zu reduzieren, andererseits ein Signal an die Asylsuchenden selbst, dass ein Asylantrag in Österreich „ein gewisses Rückführungsrisiko“40 beinhalte. Auch MiklLeitner hatte prognostiziert, der erschwerte Familiennachzug „allein [werde] zu weniger an Asylanträgen und zu geringeren Strömungen Richtung Österreich führen“.41 34 ORF.at, „Khol startet mit ,Nächstenliebe‘ in Hofburg-Wahlkampf“, 14. 01. 2016, http://orf.at/ stories/2318946/ [05. 06. 2016]. 35 Werner Faymann war von 2008 bis 2016 österreichischer Bundeskanzler und Bundesparteivorsitzender der SPÖ. In der Folge der Bundespräsidentschaftswahl 2016, bei der die beiden ehemaligen Großparteien SPÖ und ÖVP starke Verluste zu verzeichnen hatten, trat er am 09. Mai 2016 von beiden Funktionen zurück. Christian Kern (SPÖ) löste ihn am 17. Mai 2016 als neuer Bundeskanzler ab. 36 Bundeskanzleramt, „Interview mit Werner Faymann“, 06. 09. 2015, https://www.bka.gv.at/ site/cob__60394/currentpage__0/6857/default.aspx [25. 04. 2016]. {Vermerk!} Die Interviews mit dem ehemaligen Bundeskanzler Werner Faymann wurden im Zuge des Amtsantritts von Bundeskanzler Christian Kern von der Website des Bundeskanzleramts entfernt und sind nun nur mehr da zugänglich, wo sie in Zeitungsartikeln zitiert wurden. 37 O. A., „Keine Wirtschaftsflüchtlinge mehr ins Land lassen“, in: Neue Zürcher Zeitung, 12. 01. 2016, http://www.nzz.ch/international/strengere-kontrollen-oesterreichs-keine-wirtschafts fluechtlinge-mehr-ins-land-lassen-1.18675878 [05. 06. 2016]. 38 Vgl. Republik Österreich Parlament, „Recht auf Asylverfahren kann künftig zeitweilig eingeschränkt werden“, Parlamentskorrespondenz Nr. 411 vom 27. 04. 2016, https://www.par lament.gv.at/PAKT/PR/JAHR_2016/PK0411/index.shtml [10. 06. 2016]. 39 O. A., „Verschärfungen bei Familiennachzug für Flüchtlinge beschlossen“, in: Der Standard, 26. 01. 2016, http://derstandard.at/2000029788189/Mikl-Leitner-mit-Asyl-auf-Zeit-zufrieden [05. 06. 2016]. 40 Ebd. 41 ARD Mediathek, „Wohin mit den Flüchtlingen – lässt Europa uns um Stich?“, Hart aber fair, 15. 02. 2016 (verfügbar bis 15. 02. 2017), http://www1.wdr.de/daserste/hartaberfair/ videos/video-wohin-mit-den-fluechtlingen-laesst-europa-uns-im-stich-100.html [05. 06. 2016], 00:48:27–00:48:34.

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Mikl-Leitner und Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP) sind die beiden politischen Akteur_innen, die die Neupositionierung der österreichischen Asylpolitik seit Herbst 2015 am deutlichsten nach außen hin repräsentierten: „[W]ir müssen weg von der grenzenlosen Willkommenskultur, hin zu einer Kultur mit Augenmaß. Wir müssen hier auf die Bremse steigen“,42 so Mikl-Leitner. Innenpolitisch ginge es ihrer Argumentation zufolge darum, die Sicherheitspolitik in den Vordergrund zu stellen und so den Vertrauensverlust der Wähler_innen und deren Hinwendung zu nationalistischen Parteien zu verhindern. Der Bundestagsfraktionsvorsitzende der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) Thomas Oppermann hatte der ÖVP vorgeworfen, durch ihre harte Linie der FPÖ „das Wasser abgraben“43 zu wollen.44 Auf außenpolitischer Ebene inszeniert sich Österreich als Staat mit strengen asylpolitischen Richtlinien, der nicht vor harten Maßnahmen auf nationaler Ebene zurückschreckt, um eine europapolitische Lösung zu erzwingen: „Unser Ziel ist: Flüchtlingsströme dämpfen, Flüchtlingsströme stoppen. Und hier setzen wir nationale Maßnahmen, damit auf europäischer Ebene was weitergeht“.45 Mikl-Leitner spricht von einem „Dominoeffekt der Vernunft“,46 der eintreten würde, wenn man das „staatliche Durchwinken“47, so Sebastian Kurz, der Asylsuchenden beende. Um dies zu erreichen müsse man, so Kurz, auch „hässlich[e] Bilder bei der Grenzsicherung“48 in Kauf nehmen: „[W]ir sollten nicht den Fehler machen zu glauben, dass es ohne diese Bilder gehen wird“.49 Solche „hässlichen Bilder“ waren beispielsweise infolge der Schließung der sogenannten Westbalkanroute entstanden, als Geflüchtete in Idomeni an der griechisch-mazedonischen Grenze in einem überfüllten Flüchtlingslager festsaßen und durch den „Dominoeffekt der Verschärfungen“50 an der Weiterreise gehindert wurden. Ein Nebeneffekt dieser 42 ARD Mediathek, „Zäune, Transitzonen, Abschiebungen – Ist das die richtige Flüchtlingspolitik?“, Anne Will, 04. 11. 2015 (verfügbar bis 04. 11. 2016), http://www.ardmediathek.de/ tv/Anne-Will/Z%C3 %A4une-Transitzonen-Abschiebungen-Ist/Das-Erste/Video?document Id=31466050& bcastId=328454 [05. 06. 2016], 00:37:54–00:38:01. 43 Ebd., 00:57:19f. 44 Vgl. o. A., „Flüchtlinge: Mikl-Leitner : ,Ein Zaun ist nichts Schlechtes‘“, in: Der Standard, 05. 11. 2015, http://derstandard.at/2000025120111/Fluechtlinge-Mikl-Leitner-Ein-Zaun-istnichts-schlechtes [05. 06. 2016]. 45 Johanna Mikl-Leitner in ARD Mediathek, „Hart aber fair“, 00:57:05–00:57:14. 46 Johanna Mikl-Leitner in ORF.at, „Willkommenskultur gibt es nicht mehr“, 27. 01. 2016, http://orf.at/stories/2321093/2320809/ [05. 06. 2016]. 47 ORF 2, „Sebastian Kurz: Flüchtlingen Anreize für Europa nehmen“, ZIB 2, 08. 03. 2016, https://www.youtube.com/watch?v=dqDJA6VaBoc [05. 06. 2016], 01:44f. 48 Silke Mülherr, „Es wird nicht ohne hässliche Bilder gehen“, in: Die Welt, 13. 01. 2016, verfügbar unter : http://www.welt.de/politik/ausland/article150933461/Es-wird-nicht-ohnehaessliche-Bilder-gehen.html [05. 06. 2016]. 49 ORF 2, „Sebastian Kurz: Flüchtlingen Anreize für Europa nehmen“. 50 Johanna Mikl-Leitner in ARD Mediathek, „Hart aber fair“, 00:53:30ff.

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Bilder liegt auch in der abschreckenden Wirkung auf potenzielle zukünftige Asylsuchende, was strategisch der Regierungslinie in Sachen Asylpolitik entspricht. Die angestrebte harte Positionierung in Asylfragen wird auf sprachlicher Ebene besonders von Johanna Mikl-Leitner mit Formulierungen wie „Europa ist kein Wunschkonzert“51 und „Wir müssen an einer Festung Europa bauen“52 reflektiert. Die Metaphorik „Festung Europa“ ist dabei hochproblematisch, denn dieser Begriff bezeichnete zur Zeit des Zweiten Weltkrieges die nationalsozialistisch besetzten Gebiete des Kontinents.53 Die Rhetorik Faymanns in der medialen Repräsentation der Asylpolitik ist dagegen von deutlichen Richtungswechseln geprägt: Im September 2015 forderte er „Balken auf für die Menschlichkeit“54 und vertrat in der in kürzester Zeit entstandenen österreichischen „Grenzzaundiskussion“ zunächst die Ansicht „Zäune [hätten] keinen Platz in Europa“.55 Als in Spielfeld kurz darauf schließlich doch Grenzsicherungsmaßnahmen eingeführt wurden, sprach Faymann nicht von einem Zaun, sondern von einem „Türl mit Seitenteilen“.56 Zuletzt vertrat der ehemalige Bundeskanzler eine wesentlich schärfere Position und forderte: „Das Durchwinken ist zu Ende. Alle Routen sind zu schließen“,57 denn Österreich sei nicht das „Wartezimmer der EU“.58 In Abgrenzung zu der vielzitierten Willkommenskultur spricht Mikl-Leitner von einer „Kultur des normalen Ausmaßes“59 und Heinz-Christian Strache gar von einer „Rückführungskultur“,60 die ange51 Johanna Mikl-Leitner in ORF 2, vgl. Ferdinand Römer, „Johanna Mikl-Leitner über Zäune, Flüchtlinge und Verbrechen 2016“, Pressestunde, 20. 03. 2016, https://www.youtube.com/ watch?v=52pjgvwkWkQ [05. 06. 2016]. 52 Johanna Mikl-Leitner in o. A.: „Verzweiflung und Verwirrung unter Flüchtlingen in Spielfeld“, in: Der Standard, 23. 10. 2015, http://derstandard.at/2000024380033/TausendeFluechtlinge-kamen-in-der-Nacht-aus-Kroatien-nach-Slowenien [05. 06. 2016]. 53 Vgl. Cornelia Berning-Schmitz, Vokabular des Nationalsozialismus, Berlin/New York 2000, S. 232. 54 spoevideos, „Bundeskanzler Werner Faymann – SPÖ Themenrat - 05. 09. 2015“, 05. 09. 2015, https://www.youtube.com/watch?v=vI4S1afU4jg [05. 06. 2016], 02:36f. 55 O. A., „Juncker und Faymann: ,Zäune haben keinen Platz in Europa‘“, in: Der Standard, 28. 10. 2015, http://derstandard.at/2000024699062/Juncker-und-Faymann-Zaeune-haben-kei nen-Platz-in-Europa [05. 06. 2016]. 56 Karin Riss, „Faymann: ,Wir bauen keinen Zaun, wie ihn Ungarn gebaut hat‘“, in: Der Standard, 28. 10. 2015, http://derstandard.at/2000024654140/Faymann-Wir-bauen-keinenZaun-wie-ihn-Ungarn-gebaut-hat [05. 06. 2016]. 57 O. A., „Faymann: ,Alle Routen sind zu schließen‘“, in: Die Presse, 16. 03. 2016, http://die presse.com/home/politik/innenpolitik/4947360/Faymann_Alle-Routen-sind-zu-schliessen[05. 06. 2016]. 58 Werner Faymann in o. A., „,Noch strenger‘“. 59 Johanna Mikl-Leitner in ORF 2, Goldfinger200, „Johanna Mikl-Leitner und Horst Seehofer zur Flüchtlingskrise“, ZIB 2, 08. 11. 2015, https://www.youtube.com/watch?v=3_S4Ood m9gM [05. 06. 2016], 10:25f. 60 O. A., „Strache besuchte AfD: ,Wir brauchen eine Rückführungskultur‘“, in: Der Standard,

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strebt werden solle. Der Diskurs bedient sich einer Metaphorik aus dem Bereich der Naturkatastrophen: „Migrationswelle“,61 „Flüchtlingsstrom“,62 „Zuwanderungslawine“.63 Ein sich ebenfalls rasch etablierender Begriff ist „Wirtschaftsflüchtling“, der in Abgrenzung zum sogenannten „Konventionsflüchtling“ Menschen bezeichnen soll, die aus vorrangig ökonomischen Gründen ihr Herkunftsland verlassen. Da Fluchtgründe jedoch oft vielschichtig sind und der Begriff „Wirtschaftsflüchtling“ in den österreichischen Gesetzestexten nicht festgehalten ist, lässt sich hier allerdings keine genaue Trennlinie ziehen.64 Am 4. Juni 2016 bezeichnete Außenminister Kurz die australische Asylpolitik konkret als Role Model für Europa. Nach dem Vorbild der Operation Sovereign Borders sollen Boote im Mittelmeer künftig direkt abgefangen und zur Umkehr gebracht werden. Wenn dies nicht möglich sei, so der Plan, sollen Asylsuchende in sogenannten „Asylzentren“, Internierungslagern auf Inseln wie Lesbos, festgehalten und schließlich in die Herkunftsländer oder „sichere Drittländer“ zurückgeschickt werden.65 Kurz dazu im Interview mit Armin Wolf: „Die EU sollte klar festlegen: Wer illegal versucht, nach Europa durchzukommen, soll seinen Anspruch auf Asyl in Europa verwirken. Zweitens müssen wir sicherstellen, dass die Rettung aus Seenot nicht mit einem Ticket nach Mitteleuropa verbunden ist“.66 Ziel einer solchen Politik sei die Abschreckung potenzieller Asylsuchender und die Förderung einer als „freiwillig“ bezeichneten Rückkehr : „Wer auf einer Insel wie Lesbos bleiben muss und keine Chance auf Asyl hat, wird eher bereit sein, freiwillig zurückzukehren, als jemand, der schon eine Wohnung in Wien oder Berlin bezogen hat“.67 Die EU solle sich „Teile des australischen Modells als

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14. 02. 2016, http://derstandard.at/2000031058987/Strache-besuchte-rechtspopulistische-A fD-brauchen-eine-Rueckfuehrungskultur [05. 06. 2016]. Johanna Mikl-Leitner in ARD Mediathek, „Anne Will“, 00:38:32. Sebastian Kurz in o. A., „Westbalkangipfel: Österreich und Balkanländer wollen gemeinsam Flüchtlingszahl reduzieren“, in: Der Standard, 24. 02. 2016, http://derstandard.at/2000031 715775/Griechischer-Migrationsminister-Grenzschliessungen-sind-wie-ein-Putsch [05. 06. 2016]. Heinz Christian Strache in Walter Müller, „Strache heizt in Spielfeld die Stimmung an“, in: Der Standard, 15. 12. 2015, http://derstandard.at/2000027565082/Strache-heizt-in-Spielfelddie-Stimmung-an [05. 06. 2016]. Vgl. Michael Matzenberger / Christa Minkin, „Wirtschaftsflüchtlinge: Eine Kategorie ohne Definition“, in: Der Standard, 14. 01. 2016, http://derstandard.at/2000029008447/Wirt schaftsfluechtlinge-Eine-Kategorie-ohne-Definition [05. 06. 2016]. Vgl. o. A., „Kurz will Flüchtlinge auf Mittelmeerinseln sammeln und internieren“, in: Der Standard, 05. 06. 2016, http://derstandard.at/2000038263249/Kurz-will-Migranten-zurueck schicken-oder-internieren [05. 06. 2016] und o. A., „Kurz: Rettung aus Seenot ist kein Ticket nach Europa“, in: Die Presse, 04. 06. 2016, verfügbar unter : http://diepresse.com/home/ politik/aussenpolitik/5003144/Kurz_Rettung-aus-Seenot-ist-kein-Ticket-nach-Europa [05. 06. 2016]. Sebastian Kurz in o. A., „Kurz: Rettung aus Seenot ist kein Ticket nach Europa“. Ebd.

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Vorbild nehmen“,68 da es dort gelungen sei, Flüchtlingsboote zu stoppen und Schiffsunglücke wie jene auf dem Mittelmeer zu verhindern. Hier bleibt allerdings unerwähnt, dass Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International die von Australien betriebenen Internierungslager scharf kritisieren.69 Proteste der dort festgehaltenen Asylsuchenden führten in der Vergangenheit zu Selbstverletzung70 und -tötung71 und der oberste Gerichtshof Papua-Neuguineas erklärte das dortige Lager Ende April 2016 als menschenrechtswidrig und illegal.72 Mit einem Verweis auf die australische Beteiligung an Resettlementprogrammen meinte Kurz außerdem: „Jeder, der Australien vorwirft, nicht solidarisch zu sein, lügt. Denn Australien nimmt freiwillig zehntausende Menschen auf“.73 Tatsächlich wurden allerdings in Australien in einer entsprechenden Regierungsreform die Visakontingente für das humanitäre Resettlementprogramm mit jenen für die direkt in Australien gestellten Asylanträge zusammengelegt, sodass sie nun aus demselben Pool schöpfen.74 Gleichzeitig reduziert Australien durch die Auslagerung der Asylverfahren nach Nauru und Papua68 Ebd. 69 Vgl. Amnesty International, „The truth about Manus Island. 2013 report“, 11. 12. 2013, http://www.amnesty.org.au/refugees/comments/33587 [05. 06. 2016]. 70 Vgl. Ben Doherty, „Nauru asylum seekers sew lips shut in protest over Cambodia transfer“, in: The Guardian, 01. 10. 2014, http://www.theguardian.com/world/2014/oct/02/nauru-asy lum-seekers-sew-lips-shut-protest-cambodia-transfer [05. 06. 2016]. 71 Vgl. Helen Davidson / Ben Doherty, „Wife of man who died after setting fire to himself in Nauru slams delay in care“, in: The Guardian, 29. 04. 2016, http://www.theguardian.com/ world/2016/apr/29/wife-of-man-who-died-after-setting-fire-to-himself-in-nauru-slamsdelay-in-care [05. 06. 2016]. 72 Vgl. Eric Tlozek / Stephanie Anderson, „PGN’s Supreme Court rules detention of asylum seekers on Manus Island is illegal“, in: ABC News, 26. 04. 2016, http://www.abc.net.au/news/ 2016-04-26/png-court-rules-asylum-seeker-detention-manus-island-illegal/7360078 [05. 06. 2016]. Bisher hatte die australische Firma Broadspectrum die Internierungslager auf Nauru und Manus Island im Auftrag Australiens betrieben. Die Betreiberfirma ließ sich in unmittelbarer Folge auf das Urteil des obersten Gerichtshofes Papua-Neuguineas auf eine Übernahme durch die spanische Firma Ferrovial ein, die sie zuvor aufgrund eines zu niedrigen Übernahmeangebots abgelehnt hatte. Ferrovial gab Anfang Mai 2016 bekannt, keine Kenntnis über die Höhe von Broadspectrums Einnahmen durch die Internierungslager auf Manus und Nauru zu haben, die entsprechenden Verträge aber nicht verlängern zu wollen, vgl. Jenny Wiggins, „Ferrovial CFO says no ,access‘ to Broadspectrums Manus, Nauru profits“, in: The Sydney Morning Herald, 05. 05. 2016, http://www.smh.com.au/business/ ferrovial-cfo-says-no-access-to-broadspectrums-manus-nauru-profits-20160505-goms6l. html [10. 06. 2016] und Skynews, „Ferrovial extends offer for Manus operator“, 02. 05. 2016, http://www.skynews.com.au/business/business/national/2016/05/02/ferrovial-extends-offerfor-manus-operator.html [10. 06. 2016]. 73 O. A., „Kurz: Rettung aus Seenot ist kein Ticket nach Europa“. 74 Vgl. Pedersen / Watt / Hansen, „The role of false beliefs in the community‘s and the federal government‘s attitudes toward Australian asylum seekers“, S. 114; vgl auch Glendenning, „Asylum Seekers, Refugees and Human Dignity“, S. 29 und Phillips, „Asylum seekers and refugees. what are the facts?“, S. 1.

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Neuguinea die Anzahl der Asylsuchenden auf dem eigenen Staatsgebiet auf ein Minimum. Eine Ausnahme stellen jene Menschen dar, die mit dem Flugzeug nach Australien kommen und Asyl beantragen. Diese Vorgehensweise erfordert allerdings im Vorfeld den Erwerb eines Visums, was Menschen in Krisengebieten gegenwärtig kaum mehr möglich ist. Im März 2016 stellte Mikl-Leitner eine neue Medienkampagne vor, die potenzielle Asylsuchende bereits in den Herkunftsländern über die Richtlinien österreichischer Asylpolitik informieren soll. Die Offensive startet vorerst in Afghanistan, wird aber in weiteren Schritten auf Länder wie Pakistan und die nordafrikanischen Staaten ausgeweitet.75 Geplant sind eine Plakatkampagne in den fünf größten afghanischen Städten, Onlinewerbung, Zeitungsinserate und TV-Spots sowie die Bespielung von Social-Media-Kanälen.76 Ziel der Offensive, so das offizielle Wording, sei die Aufklärung über das österreichische Asylsystem: „[I]ch glaube, es ist auch ein Akt der Fairness, die Menschen direkt in den Herkunftsregionen […] zu informieren, dass Österreich eines der strengsten Asylsysteme hat und dass bei uns Wirtschaftsflüchtlinge keine Chance haben“.77 Die Plakate tragen Slogans wie „Österreichs Asylrecht nun noch strenger“, „Bei subsidiärem Schutz: Ohne Einkommen kein Familiennachzug“ und „Asyl nur auf Zeit“, übertitelt von dem Schriftzug: „Schlepper lügen! Informieren Sie sich!“ (vgl. Abb. 3).78 Das Werbematerial wurde in zweisprachiger Ausführung vorgestellt. Da bei der Präsentation von einer Durchführung der Kampagne in Österreich nicht die Rede war, lässt das Bestehen einer deutschen Version der Plakate – ähnlich wie im Fall Australiens – die Frage zu, ob die österreichische Bevölkerung nicht ebenfalls Zielpublikum der Werbeoffensive ist. Dies ist allerdings nicht die einzige Parallele zur australischen Inszenierung von Asylpolitik: Auf Vorwürfe der visuellen Ähnlichkeit der Plakate zu Plakatkampagnen der FPÖ entgegnete Mikl-Leitner, man habe sich nicht an der FPÖ, sondern an der australischen „No Way“-Kampagne orientiert.79 Eine Medienkampagne mit 75 Vgl. o. A., „Mikl-Leitner weitet Anti-Asyl-Kampagne auf Pakistan aus“ und VOL.AT – Vorarlberg Online, „Asyl-Obergrenze und Streit mit Griechenland: Innenministerin MiklLeitner im Interview“, 02. 03. 2016, https://www.youtube.com/watch?v=NVFAu3bGaZk& index=3& list=PLWlZPM_g9rNYu2sr_vD8oKMEna9blMGsu [05. 06. 2016]. 76 Vgl. Bundesministerium für Inneres, „Innenministerium startet Informations-Offensive in Afghanistan“, 01. 03. 2016, http://www.bmi.gv.at/cms/bmi_asyl_betreuung/_news/bmi.aspx ?id=477833493269586B2B2F6F3D& page=0& view=1 [05. 06. 2016]. 77 Johanna Mikl-Leitner in: VOL.AT, „Asyl-Obergrenze und Streit mit Griechenland“. 78 Vgl. o. A., „,Noch strenger“ und migration_österreich, Twitterpräsenz Bundesministerium für Inneres (BMI), 01. 03. 2016, https://twitter.com/Migration_Oe/status/7046050549348 84352/photo/1 [05. 06. 2016]. 79 Vgl. o. A., „Mikl-Leitner weitet Anti-Asyl-Kampagne auf Pakistan aus“ und Richard Schmitt, „Mikl-Leitner plakatiert: ,Die Schlepper lügen!‘“, in: Kronen Zeitung, 01. 03. 2016, http:// www.krone.at/Oesterreich/Mikl-Leitner_plakatiert_Die_Schlepper_luegen!-WerbeoffensiveStory-498561 [05. 06. 2016].

Asylpolitiken. Inszenierungsstrategien in Australien und Österreich

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ähnlichem Design fand bereits Anfang 2015 im Kosovo statt und hatte einen starken Rückgang der kosovarischen Asylanträge in Österreich zur Folge.80

Abb. 3: Bundesministerium für Inneres: Kein Asyl in Österreich. Plakat auf Dari und Deutsch, 2016.

Die genaue Dokumentation der medialen Inszenierung australischer und österreichischer Asylpolitiken zeigt bemerkenswerte Parallelen: Vor dem Hintergrund von Wahlkampfsituationen unterstreichen sie die Strenge des jeweiligen Asylsystems und zielen auf die Abschreckung zukünftiger Asylsuchender ab. Dabei bedienen sie sich ähnlicher rhetorischer und visueller Stilmittel. Besonders deutlich wird dies anhand der medialen Werbekampagnen in den 80 Vgl. o. A., „,Noch strenger‘“ und o. A., „,Schlepper lügen!‘: Innenministerium startet Informationskampagne“, in: Der Standard, 01. 03. 2016, http://derstandard.at/2000032047401/ Schlepper-luegen-Innenministerium-startet-Informationskampagne [05. 06. 2016].

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Herkunftsländern, wobei sich die österreichische Offensive explizit auf die australische bezieht. Beide Kampagnen sind in den Kontext einer aktuellen politischen Thematisierung von Flucht, Asyl und Migration im jeweiligen Land eingebettet und richten sich potenziell an ein Zielpublikum sowohl inner- als auch außerhalb des eigenen Landes. Der strategische Fokus auf eine (mediale) Politik der Abschreckung in beiden Ländern unterstreicht dabei eine asylpolitische Haltung, die den Aspekten von Abwehr und Grenzsicherung gegenüber einer nach humanitären Aspekten ausgerichteten Sichtweise auf die Themen Flucht und Asyl den Vorzug gibt.

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Szenen einer widerspenstigen Zähmung. Die Grenzen der Migrationskontrolle

Mein Eröffnungsvortrag der Ringvorlesung „Flucht Migration Theater“ im Oktober 2015 stand noch im Zeichen des „Sommers der Migration“, in dem rund eine Million Menschen nach Europa flüchten konnten. Grenzüberschreitungen und Szenen der Widerspenstigkeit gegen Migrationskontrolle waren ebenso wie eine spontane „Willkommenskultur“ („Refugees welcome“) für kurze Zeit erlebbar. Nach diesem Spätsommernachtstraum wurde ab 2016 jedoch erneut auf restriktive nationale Zuwanderungspolitiken gesetzt. Verhandelt wurde also im übertragenen Sinne, ob es dem alten Petruchio damit gelingen würde, die Widerspenstige (Migration) zu zähmen? Ziel dieses Beitrags ist es, im ersten Teil eine Einführung in Begriffe und Theorien (kritischer) Migrationsforschung zu geben. Der zweite Teil ruft dazu auf, aktuelle Entwicklungen der Asyl- und Migrationspolitiken zur Steuerung von (Flucht-)Migration und den Versuch ihrer Kontrolle kritisch zu hinterfragen und als Teil sich verändernder und beeinflussbarer gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse zu verstehen.

Begriffsdefinitionen rund um Migration und Flucht Dieser Abschnitt widmet sich der Definition von Begriffen, beginnend mit Migration und einer ihrer Formen, der Flucht, und stellt den Ablauf eines Asylverfahrens in Österreich dar, für dessen Verständnis europäische Übereinkommen wie das Schengener Abkommen und das Dublin Übereinkommen wichtig sind. Die Auseinandersetzung mit der Macht der Sprache ist bedeutsam, da Begriffe die Wahrnehmung der Wirklichkeiten und ihrer entsprechenden Bewertungen sowie Handlungen beeinflusst.1 Gerade beim Thema Migration sagen Begriffe viel über die weltanschauliche Perspektive aus. Bezeichnungs1 Vgl. Ruth Wodak, „Ich will mich nicht an ertrinkende Menschen gewöhnen“, in: asyl aktuell 01/2016, S. 16–22, hier S. 16.

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praktiken dienen zumeist der Etikettierung und der Differenzsetzung zwischen einem (imaginierten) „Wir“ und den „Anderen“. Im Anschluss an die Termini Migration und Flucht folgt daher jeweils eine kursorische Analyse gängiger Begriffe auf sprachlicher Ebene.

Migration In den Schlüsselwerken der Migrationsforschung2 wird unter Migration eine längerfristige3 grenzüberschreitende4 Verlagerung des Lebensmittelpunktes verstanden, mit dem Ziel der Verbesserung der Lebenssituation. Flucht ist eine Form der Migration und wird auch als Fluchtmigration bezeichnet. Eine nach wie vor gängige Erklärung zu den Ursachen von Flucht und Migration sind die sogenannten Push- und Pull-Faktoren.5 Dieser stark vereinfachende Ansatz wurde in den 1960er-Jahren basierend auf einem rein ökonomischen Rationalismus entwickelt.6 Migrationsprozesse sind jedoch nicht so einfach zu kategorisieren, sie basieren auf einer Vielzahl verschiedener Faktoren: In diesem Modell weitgehend unberücksichtigt bleiben die Kategorie Geschlecht, historische (z. B. postkoloniale) Zusammenhänge, politische Migrationsbarrieren (z. B. die Gefährlichkeit und Kosten der Grenzüberschreitung), die individuelle Bewertung bestimmter Faktoren oder die von Migrant_innen erschlossenen transnationalen Räume und Netzwerke, die Einfluss auf die Migrationsentscheidung sowie deren Umsetzung haben. Wird Migration und besonders die als Flucht bezeichnete Migration als Bedrohung dargestellt, geschieht dies durch Metaphorik aus dem Bereich der Naturkatastrophen mit Schwerpunkt Wasser („Flüchtlingsströme“, „Wellen“, „Das Boot ist voll“).7 Mit Metaphern aus dem Krieg („Ansturm“) wird legitimiert, Migration im Sicherheitsdiskurs zu verorten. Eine häufige Wortkombination ist „illegale Migration“, die hervorhebt, dass die Einreise oder der Auf2 Julia Reuter / Paul Mecheril (Hg.), Schlüsselwerke der Migrationsforschung. Pionierstudien und Referenztheorien, Wiesbaden 2015. 3 Laut UNO Definition eine Wohnsitzverlegung ab einer Dauer von einem Jahr. 4 Internationale Migration im Gegensatz zur Binnenmigration innerhalb eines Nationalstaates. 5 Als Push-Faktoren werden jene Umstände bezeichnet, die im Herkunftsland ihre Ursachen haben, wie instabile politische Verhältnisse, Krieg und Verfolgung, schlechte Arbeitsmarktchancen, oder Umweltzerstörung. Pull-Faktoren hingegen stehen für die Attraktivität eines Ziellandes, das sich durch stabile politische Verhältnisse, bessere Arbeitsmarkt- oder Ausbildungschancen, oder Religionsfreiheit auszeichnet. 6 Vgl. Everett S. Lee, „A Theory of Migration“, in: Demography 01/1966, S. 47–57. 7 Constanze Spieß, „,Zäune‘ oder ,bauliche Maßnahmen‘ für eine ,Festung Europas‘. Das Sprechen über Fluchtbewegungen und Migrant*innen im öffentlich-politischen Diskurs“, in: O B S T. Osnabruecker Beitraege zur Sprachtheorie 89, 2/2016, S. 57–84.

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enthalt rechtlich nicht zulässig wären. Das Wort „illegal“ impliziert eine kriminalisierende Zuschreibung.8 Kampagnen wie beispielsweise „Words matter!“ von PICUM, „Drop the I word“ oder im deutschsprachigen Raum „Kein Mensch ist illegal“ fordern schon lange deren Vermeidung und die Ersetzung durch „informelle“ bzw. „undokumentierte“ Migration. Die Definitionsmacht geht von der Mehrheitsgesellschaft aus, die sich nicht als Migrationsgesellschaft begreift und Personen, die als nicht zugehörig definiert werden, strukturell diskriminiert. Die unterschiedlich interpretierbaren Begriffe „Fremde“, „Ausländer_innen“, „Migrant_innen“, „Menschen mit Migrationshintergrund“ oder „mit Migrationserfahrung“ zielen auf die vermeintliche „Fremdheit“ ab und sind so unscharf, dass ihnen die wissenschaftliche Aussagekraft zur Beschreibung sozialer Realitäten abgesprochen werden kann.9 Sie dienen also weniger der präzisen Bestimmung denn als ideologische Marker. . Dennoch können negativ konnotierte Begriffe auch angeeignet und umgedeutet werden, wie beispielsweise die Musikgruppe „Wiener Tschuschenkapelle“ bereits Ende der 1980er Jahre demonstriert hat.

Flüchtling Aus völkerrechtlicher Sicht haben Flüchtlinge Anspruch auf besonderen Schutz, ihre Rechtsstellung unterscheidet sich von jener anderer Migrant_innen. Ein Flüchtling ist laut Definition der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) aus dem Jahr 1951 eine Person, die sich außerhalb ihres Heimatlands befindet und eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung aufgrund ihrer „Rasse“/Ethnizität, Religion, Nationalität, politischen Meinung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe hat.10 Aus zwei unterschiedlichen Richtungen wird dieser Flüchtlingsbegriff angegriffen: einerseits sei er zu weit interpretierbar und beträfe zu viele Menschen, andererseits wird kritisiert, dass wichtige Ursachen von Flucht nicht erfasst werden, wie beispielsweise Bürgerkriege, Kriege, frauenspezifische Fluchtgründe wie etwa Genitalverstümmelung aber auch Umweltkatastrophen oder Hungersnöte als Folgen des Klimawandels.11 Das 8 Vgl. PICUM – Plattform for International Cooperation on Undocumented Migrants, „Terminology campaign. Why ,undocumented‘ and never ,illegal‘“, 2014, http://picum.org/en/ our-work/terminology-words-matter-campaign/ [18. 06. 2016]. 9 Vgl. Bernhard Perchinig, „Migration, Integration und Staatsbürgerschaft – was taugen die Begriffe noch?“, in: Herbert Langthaler (Hg.), Integration in Österreich. Sozialwissenschaftliche Befunde, Innsbruck 2010, S. 13–33. 10 Vgl. UNHCR, „Questions & Answers: Genfer Flüchtlingskonvention“, 2016, http://www.unhcr. at/mandat/questions-und-answers/genfer-fluechtlingskonvention.html [18. 06. 2016]. 11 Vgl. Annette Treibel, Migration in modernen Gesellschaften. Soziale Folgen von Einwanderung, Gastarbeit und Flucht, Weinheim/München 2011.

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während des Kalten Krieges geprägte Bild des Flüchtlings (z. B. Ungarn 1956 oder im Prager Frühling 1968) hat sich drastisch gewandelt: Während aufgrund der politischen Verhältnisse Flüchtlinge aus dem so genannten Ostblock gerne aufgenommen wurden bzw. viele ohnehin weitergewandert sind, dominiert seit den 1990er-Jahren der Kampf gegen den vermeintlichen „Asylmissbrauch“. Eine Unterscheidung zwischen „echten“ Flüchtlingen und Menschen mit anderen Migrationsmotiven („Wirtschaftsflüchtlinge“) ist kaum möglich und greift zu kurz: Verfolgung kann auch in Ausgrenzung sowie in wirtschaftlicher und sozialer Benachteiligung münden. Zudem sind gewalttätige Konflikte für die meisten Menschen mit wirtschaftlicher Perspektivlosigkeit verbunden. Die juristisch korrekte Bezeichnung für eine Person im Asylverfahren lautet in Österreich „Asylwerber_in“. „Asylant“,12 ist ein abwertender Begriff, der u. a. durch die Assoziation mit „Scheinasylant“ als „Kill-wort“ gilt.13 Der Begriff „Flüchtling“, der von beinahe allen politischen Spektren verwendet wird, ist aus sprachwissenschaftlicher Sicht allein aufgrund des Wortbildungsmusters mit der Endsilbe „-ling“ problematisch und betont die Wahrnehmung als passive Opfer.14 Als Alternative wurde in aktivistischen Debatten der Begriff der „Geflüchteten“ vorgeschlagen, der stärker auf den Prozess und die Erfahrung der Flucht fokussiert, und der ab Herbst 2015 vermehrt Eingang in den allgemeinen Sprachgebrauch fand. Analog zum Begriff „Menschen mit Migrationserfahrung“ wurde der Begriff „mit Fluchterfahrung“ geprägt. Besondere Aufmerksamkeit verdienen gegenhegemoniale Bezeichnungspraktiken, die als Selbstbezeichnung erarbeitet wurden: „Refugee“ erfuhr im Zuge des „Refugee Protest Camps“ 2012/2013 eine Neuinterpretation. Eine weitere Neuschöpfung stellt die Selbstbezeichnung der „Newcomer“ dar, die im Zuge der Vorbereitungen des Theaterprojekts der schweigenden Mehrheit „Schutzbefohlene performen Schutzbefohlene“ entwickelt und 2015 in Umlauf gebracht wurde. Diese Begriffe werden fast ausschließlich in aktivistischen und wissenschaftlichen Diskursen benutzt.

Asylverfahren in Österreich15 Ein Asylantrag kann laut geltendem Recht nur persönlich gestellt werden, folglich müssen Schutzsuchende eine gefährliche Reise auf sich nehmen und die 12 Hier wurde bewusst auf eine geschlechtergerechte Schreibweise verzichtet. 13 Vgl. Jürgen Link, „Asylanten, Ein Killwort“, in: kultuRRevolution 2/1983, S. 36–38. 14 Vgl. Anatol Stefanowitsch, „Flüchtlinge und Geflüchtete“, 01. 12. 2012, http://www.sprach log.de/2012/12/01/fluechtlinge-und-gefluechtete/ [26. 07. 2016]. 15 Die rechtlichen Rahmenbedingungen können nur kursorisch dargestellt werden, da das nationale Asyl- und Fremdenrecht viel zu komplex und zudem ständigen Änderungen un-

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abgesicherten Grenzen mithilfe von Schlepper_innen überschreiten.16 Wird ein Schutz- bzw. Asylbegehren in Österreich registriert, werden die Daten auf- und Fingerabdrücke abgenommen, um zu überprüfen, ob die Person überhaupt zum Verfahren zugelassen wird (oder ob ein anderer Staat zuständig ist, siehe Dublin Regelung). Erst nach dem Zulassungsverfahren wird im inhaltlichen Asylverfahren vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) und übergeordneten Instanzen überprüft, ob die „Flüchtlingseigenschaft“ zuerkannt wird. Eine positive Entscheidung bedeutet Recht auf Aufenthalt und Familiennachzug sowie unmittelbarer Zugang zum Arbeitsmarkt. Jene Personen, die nach Ansicht des BFA nicht in die (enge) Definition des Flüchtlings fallen und daher einen abweisenden Asylbescheid erhalten, aber denen geglaubt wird, dass ihr Leben im Herkunftsland z. B. aufgrund eines bewaffneten Konflikts in Gefahr ist, erhalten für jeweils ein Jahr den Status des „subsidiär Schutzberechtigten“. Für diese Gruppe ist der Familiennachzug erst nach drei Jahren möglich. Eine negative Entscheidung im Asylverfahren bedeutet die geplante Ausweisung und Abschiebung.17 Als „Flüchtlinge“ werden sowohl Menschen auf der Flucht, im Zulassungs- bzw. Asylverfahren, „subsidiär Schutzberechtigte“ und „anerkannte Flüchtlinge“ bezeichnet, obwohl juristisch differenziert werden muss. Der rechtliche Status entscheidet wie aufgezeigt über Einreise- und Aufenthaltsperspektiven, Zugang zum Arbeitsmarkt und Ansprüche auf Sozialleistungen oder Familiennachzug. Während des mehrere Monate und manchmal Jahre dauernden Asylverfahrens sind Asylwerber_innen in der so genannten Grundversorgung, die Unterbringung, Verpflegung und Krankenversicherung umfasst. Die Unterbringungssituation in „Totalen Institutionen“ wie Flüchtlingslagern oder abgelegenen Tourismusbetrieben ist häufig unzufriedenstellend und führt „zu einer vermehrten Isolierung der Asylsuchenden, zu eingeschränkten Möglichkeiten des Aufbaus von sozialen Netzwerken, politischer Handlungsfähigkeit und der aktiven Teilhabe an der Gesellschaft“.18 terworfen ist. Aktuelle Informationen zum Ablauf des Asylverfahrens: www.asyl.at, http:// www.menschen-leben.at/asyl, vgl. Asylkoordination Österreich, „Das Asylverfahren seit 2015“, 2016, http://www.asyl.at/infoblaetter/infoblatt_asylverfahren_2016.pdf [18. 06. 2016]. 16 Zur Thematik „Schlepperei“ bzw. „Fluchthilfe“, vgl. Gabriele Anderl / Simon Usaty (Hg.), Schleppen, Schleusen, Helfen. Flucht zwischen Rettung und Ausbeutung, Wien 2016. 17 Zahlreiche Menschen können wegen fehlender Papiere oder Staatenlosigkeit nicht so einfach abgeschoben werden, manche Herkunftsländern verweigern die Kooperation bei der Rücknahme von Personen. Die Kluft zwischen erlassenen Aufenthaltsbeendigungen und tatsächlichen Außerlandesbringungen wird als „deportation gap“ bezeichnet, vgl. Sieglinde Rosenberger / Florian Trauner (Hg.), „Abschiebungen: staatliche Zwangspolitik zwischen Migrationskontrolle und sozialer Selektion“, in: ÖZP 2/2014, S. 141–150. 18 Nina Valerie Kolowratnik / Johannes Pointl, „Fluchtraum Österreich – Orte für Menschen“, Österreich Pavillon Biennale Architettura 2016, http://www.ortefuermenschen.at/index. php?inc=file& id=5689 [18. 06. 2016], S. 2.

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Schengener Abkommen und Dublin Übereinkommen Auf europäischer asyl- und migrationspolitischer Ebene sind zwei Abkommen von besonderer Bedeutung: Das Schengener Abkommen und das Dublin III Übereinkommen. Das Schengener Abkommen hatte die Abschaffung der Grenzkontrollen an den Binnengrenzen der teilnehmenden Staaten zum Ziel.19 An ihren Binnengrenzen werden Reisende nur stichprobenartig oder bei besonderen Ereignissen kontrolliert. Mit dem Wegfall der Binnengrenzen ging eine verschärfte Kontrolle der EU-Außengrenzen einher. Das Dublin Übereinkommen regelt, welcher seiner Mitgliedsstaaten für die Durchführung eines Asylantrages zuständig ist, und zwar jenes Land, in dem die Person erstmals behördlich registriert wurde.20 Für den dafür notwendigen Informationsaustausch dient EURODAC, ein Datenbanksystem zum Vergleich der Fingerabdrücke von Asylsuchenden. Die Praxis des Dublin-III-Übereinkommens wird kritisiert, weil sie Staaten an der EU-Außengrenze wie Italien oder Griechenland besonders stark in die Pflicht nimmt und diese Länder aufgrund dieses Ungleichgewichts diesen Verpflichtungen nicht nachkommen (können). Es ist oft schwierig, festzustellen, über welches Land Menschen tatsächlich in die EU eingereist sind. Dies liegt einerseits daran, dass nicht alle Personen an den EU-Außengrenzen tatsächlich registriert werden, andererseits werden Einreiseroute oft nicht bekannt gegeben, um ein bestimmtes EU-Land zu erreichen oder um eine Rückschiebung zu vermeiden. Eine grundlegende Reform des Dublin-Systems scheiterte bisher stets am Widerstand von EU-Staaten, die sich entweder nicht an der EU-Außengrenze befinden oder nicht Hauptziel von Flüchtlingen sind.21

19 Es wurde 1985 unterzeichnet und 1990 um das Schengener Durchführungsübereinkommen ergänzt. Mitglieder sind 22 EU-Staaten (alle außer Großbritannien, Irland, Zypern, Bulgarien, Rumänien und Kroatien) sowie die Schweiz, Island, Norwegen und Liechtenstein. 20 Das Dublin Übereinkommen ist seit 1997 in Kraft, seit März 2003 galt die Dublin-II-Verordnung, im Juli 2013 trat die Dublin-III-Verordnung in Kraft und ist seit dem 1. Januar 2014 unmittelbar anzuwenden. Mitglied sind alle 28 EU-Staaten sowie Norwegen, Finnland, Lichtenstein und Schweiz. 21 Vgl. Andreas Meyerhöfer / Ulrich Hartl / David Lorenz / Sebastian Neumann / Adrain Oeser, „Dublin II kippen! Kämpfe um selbstbestimmte Migration in Europa“, in: Forschungsgruppe „Staatsprojekt Europa“ (Hg.): Kämpfe um Migrationspolitik. Theorie, Methode und Analysen kritischer Europaforschung, Bielefeld 2014.

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Entwicklungen in Migrations- und Asylpolitiken Logiken des Migrationsmanagements Auf die zunehmende informelle Zuwanderung in den 1990er-Jahren wurde durch die (militärische) Absicherung der Außengrenzen und den weiteren Ausbau der „Festung Europa“ reagiert. Da weiterhin Menschen aus aller Welt mittels teurerer Schlepper_innendienste und unter größerem Risiko kamen, musste langsam akzeptiert werden, dass Migration nicht so einfach zu stoppen sein würde. Ein Paradigmenwechsel zu Migrationsmanagement setzte ein: Migration wurde nicht generell abgelehnt, sondern nach vermeintlich rationalen Kriterien der ökonomischen „Nützlichkeit“ gemessen.22 Migration wird von nationalen und internationalen Akteuren auf vielfältige Weise zu steuern und kontrollieren versucht. Diese Steuerungs- und Kontrollmechanismen erlauben je nach erwartetem „volkswirtschaftlichen Profit“ und je nach Nationalitäts-, Klassen-, und Geschlechtszugehörigkeit unterschiedliche Formen der Migration. Während Migration von EU-Staatsangehörigen innerhalb der EU – geregelt in der „Freizügigkeit von Personen“ – als erwünschte Mobilität gefördert wird, gilt Migration aus Nicht-EU-Staaten, also jene der „Drittstaatenangehörigen“ zunehmend als problematisch. Für diese Gruppe gibt es kaum Möglichkeiten einer legalen Zuwanderung in europäische Staaten. Ausnahmen bilden die internationale Anwerbung hochqualifizierter Eliten und die Familienzusammenführungen. Die zunehmende Nachfrage nach Carearbeiter_innen wird hingegen durch illegalisierte und zumeist weibliche Migration abgedeckt. Die beiden diametralen Figuren des männlichen Hochqualifizierten und der Haushaltsarbeiterin zeigen auf, wie unterschiedliche Gruppen hochgradig vergeschlechtlichten nationalen Migrationsregimen unterworfen sind. Privilegiert werden die besser bezahlten Wissenschafts-, Finanz- und Management-Sektoren gegenüber der körperlich und emotional anstrengenden Pflegearbeit.23 Geflüchtete Menschen passen sehr häufig nicht in die gängigen Logiken des Migrationsmanagements, und sollten diesen Ansprüchen auch nicht genügen müssen. Dennoch wird auch ihr Wert für die Aufnahmegesellschaft an mitgebrachten und verwertbaren Ausbildungen, Sprachkenntnissen usw. gemessen. Die Kehrseite des „erfolgreichen“ Migrationsmanagements stellen die Toten an den Grenzen dar. Es ist daher unumgänglich, das Fehlen legaler Einreisemög22 Vgl. Fabian Georgi, „Kritik des Migrationsmanagements. Historische Einordnung eines politischen Projekts“, in: juridikum. Zeitschrift für Politik, Recht, Gesellschaft, 02/2009, S. 81–84. 23 Vgl. Sonja Buckel, „,Managing Migration‘. Eine intersektionale Kapitalismusanalyse am Beispiel der Europäischen Migrationspolitik“, in: Berliner Journal für Soziologie 01/2012, S. 79–100.

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lichkeiten zu skandalisieren und Erscheinungsformen und Wirken rassistischer Strukturen und Diskurse zu benennen.

Refugees (not) Welcome! Zahlen und Quoten in Österreich Etwa 60 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht, nur ein kleiner Teil von ihnen verlässt das Herkunftsland oder die Region, nur rund 2 % kommen bis nach Europa.24 Dennoch wird von einer „Flüchtlingskrise“ gesprochen, die vielmehr eine Krise der Politik darstellt, adäquate Antworten zu finden.25 Ende August 2015 gingen Bilder um die Welt, die zahlreiche Menschen und letztlich auch die Politik bewegten: 71 Menschen, die in einem hermetisch verschlossenen Kühlwagen auf der Autobahn A4 östlich von Wien erstickt waren, und erneut hunderte Tote im Mittelmeer, symbolisiert durch die Leiche des 4-jährigen Aylan Kurdi an einem Strand in der Nähe von Bodrum. Tausende Schutzsuchende machten sich ausgehend von den ungarischen Bahnhöfen zu Fuß auf den Weg. Durch die Bewegung der Flüchtenden begann der „March of hope“: Basierend auf der von der deutschen Bundespräsidentin Angela Merkel am 4. September 2015 verlautbarten Entscheidung Deutschlands, sie aufzunehmen bzw. nicht nach Syrien zurück zu schicken, kam es zu einem politischen Diskurswechsel. Auch Österreich kontrollierte die aus Ungarn mit dem Zug Einbzw. nach Deutschland Weiterreisenden nicht. Mit der faktischen Aussetzung der Dublin-Verfahren haben viele Zufluchtsuchende selbst entschieden, in welchem Land sie Asyl beantragen wollen. In Österreich führten Berichte über obdachlose Flüchtlingskinder, mangelhafteste Gesundheits- und Essensversorgung im überfüllten Flüchtlingslager Traiskirchen zu Empörung seitens der Zivilgesellschaft.26 Nach vielen hundert Menschen, die den Sommer über versucht haben, das staatliche Versagen in Traiskirchen zu kompensieren, kamen Tausende zu den Bahnhöfen, um dort die Flüchtlingsbetreuung zu übernehmen und zu organisieren. Begleitet wurde diese soziale und teilweise politische Bewegung von Akten der grenzenlosen Solidarität und der Unterstützung, nicht nur in Österreich, sondern auch entlang der wechselnden Fluchtrouten.27 Obwohl die weitaus meisten Geflüchteten nach Deutschland wollten, er24 Vgl. UNHCR, „Questions & Answers: Genfer Flüchtlingskonvention“. 25 Vgl. Wodak, „Ich will mich nicht an ertrinkende Menschen gewöhnen“, S. 16–22. 26 Vgl. Amnesty International, „Quo Vadis Austria? Die Situation in Traiskirchen darf nicht die Zukunft der Flüchtlingsbetreuung in Österreich werden“, 2015, http://www.integrations haus.at/cgi-bin/file.pl?id=995 [18. 06. 2016]. 27 Vgl. Ilker AtaÅ, „Freiwilligenarbeit als Notnagel oder Neuformierung von Zivilgesellschaft?“, in: Kurswechsel 4/2015, S. 80–84.

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reichte auch Österreich einen Höhepunkt bei der Zahl der Asylanträge: Es wurden 2015 knapp 90.000 Asylanträge gestellt, also etwa dreimal so viele wie im Vorjahr und fünfmal so viele wie in den Jahren davor.28 Die Nationalitäten der Antragsteller_innen spiegeln die weltweiten Kriege und Krisen wider, sie kommen also vor allem aus Syrien, Afghanistan, Irak und Somalia. Die Anerkennungsquoten im Asylverfahren sind bei Syrer_innen aktuell am höchsten. Während weltweit die Gruppe von Frauen mit Kindern oder wenig mobilen Angehörigen rund 80 % der Flüchtlinge ausmachen,29 ist das Verhältnis jener, die es bis nach Europa schaffen, fast umgekehrt, so sind unter 30 % der Asylwerber_innen in Österreich weiblich.30 Dieser beeindruckende Gendergap zeugt von struktureller Ungleichheit, kann aber auch durch die Risiken bei der Flucht erklärt werden. Die Vermischung von Asyl und Zuwanderung zeigt sich in politischen Diskussionen über die Zahl jener Menschen, die ein Land aufnehmen kann, soll oder muss. Bei Flüchtlingen ist eine Quote unzulässig, da sich die Unterzeichnerstaaten der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) dazu verpflichtet haben, Menschen aufzunehmen, die bei ihnen um Schutz ansuchen und diesen benötigen. Kein Land kann sich folglich aussuchen, wie viele Geflüchtete es aufnehmen will. Innerhalb der EU wurde 2015 die Verteilungsquote diskutiert, vor allem die osteuropäischen Länder verweigerten die Aufnahme von Geflüchteten. Im Februar 2016 lud Österreich ausgewählte Balkanstaaten zur Konferenz „Managing Migration Together“ zur Lösung der „Flüchtlingskrise“ ein. Im Alleingang entschied sich Österreich für eine Obergrenze von 37.500 Flüchtlingen jährlich, danach soll die im Juni 2016 inkraft getretene Asylrechtsnovellierung mit der sogenannten „Notfallsverordnung“ angewandt werden.

Tatort Mittelmeer Das Mittelmeer ist die tödlichste Fluchtroute nach Europa. Das Projekt „The Migrants’ Files“ analysiert laufend die Berichterstattung über Todesfälle und Vermisstenmeldungen. Genannt wird die Zahl von über 30.000 dokumentierten Toten allein für den Zeitraum ab 1. Januar 2000 bis heute, die Dunkelziffer ist wesentlich höher.31 Das Schiffsunglück vor Lampedusa im Oktober 2013 mar28 Vgl. BM.I – Bundesministerium für Inneres, „Asylstatistik 2015“, 2016, http://www.bmi.gv. at/cms/BMI_Asylwesen/statistik/files/Asyl_Jahresstatistik_2015.pdf [26. 07. 2016], S. 2f. 29 Vgl. UNHCR, „Questions & Answers: Genfer Flüchtlingskonvention“. 30 Vgl. BM.I, „Asylstatistik 2015“, S. 4. 31 Vgl. The Migrants’ Files, „The human and financial cost of 15 years of Fortress Europe“, Juni 2016, http://www.themigrantsfiles.com/ [18. 06. 2016]. The Migrants’ Files stellte mit 24. 06. 2016 seine Arbeit ein.

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kierte einen tiefen Einschnitt im europäischen Diskurs um die tödliche Grenze im Mittelmeer. Als Reaktion wurde von der EU die italienische Operation „Mare Nostrum“ für die Seenotrettung eingeführt. Es sollten zwar Menschenleben gerettet werden, gleichzeitig blieb jedoch die restriktive Migrationspolitik bestehen, weshalb sich weiterhin viele Menschen in Lebensgefahr bringen müssen. Am 1. November 2014 löste die Operation „Triton“ unter Führung der EUGrenzschutzagentur Frontex die Operation „Mare Nostrum“ ab. Primäre Aufgabe der Operation „Triton“ ist die Sicherung der EU-Außengrenze vor „illegaler Einwanderung“. Obwohl sich privat initiierte Organisationen der Rettung von Geflüchteten verschrieben haben, wie watch the med oder einzelne Schiffe, kann deren Einsatz in keinster Weise der sich dort abspielenden humanitären Krise gerecht werden. An verschiedenen mit neuester Sicherheitstechnologie überwachten Grenzen können ähnliche Auswirkungen beobachtet werden: Abschreckung und Abschottung funktionieren nicht, vielmehr kosten sie unzähligen Menschen an den Grenzen das Leben und zwingen diese – haben sie sich einmal für ihre Flucht entschieden – den Dienst von Schlepper_innen anzunehmen, welcher sich im Gegensatz zu potenziell möglichen legalen Fluchtwegen jenseits jeglicher rechtlicher Kontrolle befindet und somit ein Risiko darstellen kann. Das gegenwärtige Grenz- und Migrationsmanagement wird nicht von allen Menschen unterhinterfragt geduldet, fast überall gibt es Protest und Widerstand dagegen – von Geflüchteten selbst und Teilen der Zivilgesellschaft, die sich nicht daran gewöhnen wollen, dass an ihren Grenzen täglich Menschen sterben.32

Zusammenfassung Der Sommer der Reisefreiheit 2015 stellte wohl den Albtraum der Befürworter_innen strenger Migrationskontrolle und effizienten Migrationsmanagements dar. Migrationskontrolle und -steuerung sind beliebte Themen, um politische Entschlossenheit zu demonstrieren, doch diese Politik ist eine (kostspielige) Illusion. Die sichtbaren Grenzen der EU rücken nur dann ins mediale Interesse, wenn es zu „größeren Zwischenfällen“ kommt, also zahlreiche Menschen zugleich an diesen Grenzen sterben. Statt zu erkennen, dass die europäischen und nationalen Migrationspolitiken mitverantwortlich für die Toten sind, wird die Verantwortung auf „Schlepper“ ausgelagert. Es stellt sich nun die anfangs aufgeworfene Frage, ob die widerspenstige Migration zu zähmen sei. Auch wenn rechtspopulistische Rhetorik argumentiert, dass informelle Migration einfach zu stoppen wäre und dazu immer neue unmenschliche Vorschläge 32 Vgl. Wodak, „Ich will mich nicht an ertrinkende Menschen gewöhnen“, S. 22.

Szenen einer widerspenstigen Zähmung. Die Grenzen der Migrationskontrolle

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vorbringt, ist ihre Vernetzung, Autonomie und Widerstandskraft mit zu bedenken, die wohl nur durch Gewalt gebrochen werden kann: Gewalt in Form von Grenzkontrollen, Zäunen, Mauern und Waffen; Gewalt, die Menschen dazu zwingt in unwürdigen und lebensbedrohlichen Situationen zwischen den Grenzen zu verharren; Gewalt, die nur einem kleinen Teil der Menschheit das Recht einräumt, sich frei zu bewegen auf der Suche nach einem besseren Leben und dasselbe dem größten Teil verwehrt.

Sarah Itohan Fink

Überlegungen zu „Mensch mit Migrationshintergrund“

„Mensch mit Migrationshintergrund“ – der vermeintlich politisch korrekte Begriff ist uns allen geläufig und geht leicht über die Lippen. Er hat sich in unserem Alltagsjargon eingebürgert wie die pejorative Bezeichnung des „Ausländers“ oder die viktimisierende des „Flüchtlings“. Ähnlich wie diese ist mittlerweile auch „Mensch mit Migrationshintergrund“ negativ konnotiert. Ein „Mensch mit Migrationshintergrund“ wird gedacht als ein Mensch, der sich von der homogenen, einheimischen Bevölkerung unterscheidet und sich sowohl im statistischen als auch im kulturellen Sinn von der breiten Masse abgrenzt. Definitionsversuche zu diesem Begriff sind zahlreich, allerdings unterscheiden sie sich stark voneinander und jede Beschreibung wirkt in sich unschlüssig. Allgemein gültig ist jedoch, dass unter „Menschen mit Migrationshintergrund“ jene Gruppe von Individuen zusammengefasst wird, die primär oder sekundär Migration und/oder ihre Folgen miterlebt haben. Das fasst eine breite, heterogene Menge zusammen, die sich kulturell, ethnisch und sprachlich voneinander unterscheidet und aus einer Vielzahl von Milieus stammt. Warum also brauchen wir diese distinktiven Ausdrücke, die unterschiedliche Menschen zu einer vermeintlich homogenen Gruppe vereinen, um sie dann den anderen, der Mehrheit, gegenüberzustellen? Ist eine solche Differenzierung wirklich notwendig? Wenden wir unseren Blick nach Deutschland. Dort schossen in Folge der Reform des Staatsbürgerschaftsnachweises im Jahr 2000 die Einbürgerungszahlen rein statistisch in die Höhe. Aus den früher als „Ausländer“ bezeichneten Menschen wurden deutsche Staatsbürger_innen. Um dennoch eine Grenze zwischen dem „Wir“ und den „Anderen“ zu erhalten, führte man den Begriff des „Menschen mit Migrationshintergrund“ ein. Dazu zählt in Deutschland, gemäß Statistischem Bundesamt, jede nach 1949 auf das heutige Staatsgebiet eingewanderte Person, sowie alle in Deutschland geborenen „Ausländer“ plus alle „Deutschgeborene“ mit zumindest einem nach 1949 zugewanderten Elternteil.1 1 Vgl. Statistisches Bundesamt Deutschland (Hg.), Bevölkerung und Erwerbstätigkeit. Bevöl-

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Unter diesen Terminus fallen in Deutschland so knapp über 20 Prozent der dort lebenden Menschen.2 Offiziell dient diese Einteilung dem amtlichen Erstellen von Statistiken, um Migrationsströme zu messen und auf weitere Jahre berechnen zu können sowie dem Erfassen von Minderheiten. Andererseits wird die Bezeichnung „Mensch mit Migrationshintergrund“ zur politischen Instrumentalisierung genutzt: Auf rechtspopulistischen Wahlveranstaltungen und in gleichgesinnten Magazinen werden fremdenfeindliche, rassistische Termini benutzt. Mit „Menschen mit Migrationshintergrund“ erfolgt eine politisch korrekt gemeinte Distanzierung von pejorativer und hasserfüllter Rhetorik. Während der Terminus in Deutschland sehr weit gefasst wird und statistisch gesehen eine relativ breite Bevölkerungsgruppe betrifft, richtet man sich in Österreich nach den Begrifflichkeiten der UNECE (United Nations Economic Commission for Europe). Hier wird zwischen Migrant_innen der ersten und zweiten Generation unterschieden. Unter der ersten Generation ist jene Gruppe von Menschen zusammengefasst, die wie ihre Eltern außerhalb von Österreich geboren worden sind. Migrant_innen zweiter Generation sind jene, deren eigener Geburtsort in Österreich liegt, deren Eltern jedoch beide im Ausland auf die Welt kamen.3 Der letzte Punkt ist interessant: Hier wird davon ausgegangen, dass es für das Kind der Migration beider Elternteile bedarf, um Migration auch sekundär miterleben zu können. Stammen beide Erziehungsberechtigten nicht aus Österreich, haben sie einen anderen kulturellen, ethnischen und sprachlichen Hintergrund, der dem Nachwuchs auch vermittelt wird, so der Subtext der Gesetzesdefinition. Das Kind lernt, so die Annahme, die „Sitten“ des „Heimatlandes“, die nicht selten in Kontrast zu denen des „Aufnahmelandes“ zu stehen scheinen. Stammt jedoch nur ein Elternteil aus dem Ausland, der zweite aus Österreich, so wächst das Kind in einem „kulturell gemischten Heim“ auf. Da das restliche Umfeld ebenfalls österreichisch geprägt ist, überwiegt diese kulturelle Prägung statistisch gesehen, wodurch der Migrationshintergrund aufgehoben wird. Dass diese vereinfachte Betrachtung die Alltagswelt nicht wirklich zutreffend abbildet, steht außer Frage. Kinder beispielsweise, die nur mit dem immigrierten Elternteil aufwachsen, werden von der Statistik nicht erfasst. Sie erleben in erster Linie den Migrationshintergrund des Erziehers oder der Erzieherin und bilden ihre Identität vielleicht stark nach diesem. Migrant_innen der dritten Generation zählen per se nicht mehr zur Gruppe der „Menschen mit Migrationshinkerung mit Migrationshintergrund – Ergebnisse des Mikrozensus 2014, Wiesbaden 2015, S. 4. 2 Vgl. ebd., S. 7. 3 Vgl. Statistik Austria (Hg.), In Österreich leben 1,4 Mio. Menschen mit Migrationshintergrund, 2008, http://www.statistik.at/web_de/presse/032181.html [26. 03. 2016].

Überlegungen zu „Mensch mit Migrationshintergrund“

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tergrund“, können sich aber unter Umständen stärker als ihre Eltern mit der Heimat der Großeltern identifizieren. Menschen, die aus unseren deutschsprachigen Nachbarländern stammen, also der Schweiz, Deutschland, Liechtenstein und Luxemburg, werden im Alltag nicht als Migrant_innen oder „Menschen mit Migrationshintergrund“ wahrgenommen. Statistisch zählen sie jedoch zu dieser Gruppe. Hier zeigt sich die Ambivalenz und Alltagsferne des Begriffes. Welche Vorstellungen löst die Bezeichnung „Mensch mit Migrationshintergrund“ im Alltagsleben aus? – Ich beziehe mich auf die Wahrnehmung von männlichen Migranten. Die wenigsten werden ein gut funktionierendes Mitglied der Gesellschaft mit Studienabschluss und ordentlich gebügelten Hemden vor Augen haben. Denn das von den besonders auflagenstarken Medien rechtspopulistischer beziehungsweise nationalistischer Propaganda gezeichnete Bild, zeigt einen Menschen aus der sogenannten Unterschicht, eventuell sogar einen „Sozialschmarotzer“ mit einem als fremd markierten Aussehen, der außerdem schnell mit dem Gesetz in Konflikt gerät. Das Bild, welches damit assoziiert wird, ist das einer Person, die über keine hohe Bildung verfügt, niedriges Gehalt bekommt oder gar arbeitslos ist, dem Thema der Gleichberechtigung der Geschlechter skeptisch, ablehnend oder ignorant gegenübersteht, und im Grunde durch die Sozialisation seines ursprünglichen Heimatlandes tief religiös (beziehungsweise traditionalistisch) geprägt ist. Kurz, er ist mangelhaft integriert und schon gar nicht assimiliert. Hiermit kehre ich zurück zu meiner anfänglichen Frage: Müssen Menschen wirklich aufgrund ihrer Herkunft oder gar der ihrer Eltern differenziert werden? Muss man ihnen einen Begriff zuordnen, der ihnen einen negativ konnotierten, kulturellen, ethnischen oder religiösen Stempel aufdrückt und sie allein auf diesen reduziert? Im Jahr 2010 führten der Politikwissenschaftler Bernhard Perchenig und der Soziologe Tobias Troger von der Universität Wien eine Befragung im Rahmen einer europäischen Wertestudie durch.4 Teil dieser waren 2.105 Proband_innen, von denen 369 „Menschen mit Migrationshintergrund“ waren. Die primäre Fragestellung richtete sich darauf, ob Unterscheidungsmerkmale zwischen den „Einheimischen“ und den „Eingebürgerten“ per se existieren. Sagt ein Migrationshintergrund, egal welcher, genug über die Wertevorstellungen eines Menschen aus? Die Fragen umfassten Themen zu Autoritarismus und Gehorsam, Solidarität in der Familie, Frauenrollen und religiöser Orientierung. Die empirischen Ergebnisse ergaben, dass es sich bei „Menschen mit Migrationshintergrund“ um eine stark heterogene Gruppe mit einer Vielzahl an Milieus handelt, 4 Vgl. medienservicestelle, „,Migrationshintergrund‘: ForscherInnen uneinig“, 15. 03. 2012, http://www.medienservicestelle.at/migration_bewegt/2012/03/15/forscher-migrationshinter grund-sensibel-verwenden/ [26. 03. 2016].

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Sarah Itohan Fink

es jedoch in machen Kategorien sehr wohl Unterscheidungsmerkmale zu den restlichen Befragten gab. Demnach findet der Begriff seine Notwendigkeit auch im Beschreiben von Alltagswelten, um Probleme und Benachteiligungen, mit denen „Menschen mit Migrationshintergrund“ zu kämpfen haben, analysieren zu können. Sollten kurzerhand alle Begriffe abgeschafft werden, die Diskriminierungen in sich tragen. Doch mit welcher Konsequenz? Der Terminus würde durch einen neuen ersetzt werden, so wie der „Mensch mit Migrationshintergrund“ den „Migranten“ ablöste, so wie dieser zuvor den „Ausländer“. Die Begriffe selbst sind unschuldig. Wir müssen sprechen, Bezeichnungen suchen, Namen finden, um Diskussionen aufrechtzuerhalten. Nur so können wir Entwicklungen vorantreiben, alte Konstrukte umstürzen, Gesellschaften neu formen. Damit in Zukunft Begrifflichkeiten wie „Mensch mit Migrationshintergrund“ vorurteilslos ausgesprochen werden können, muss gegen Vorurteile angesprochen werden.

Hakan Gürses

Der kleinste Radius des Theaters Für S¸efik Kıran, der immer da war.

Als der Denkende in einen großen Sturm kam, saß er in einem großen Fahrzeug und nahm viel Platz ein. Das erste war, dass er aus seinem Fahrzeug stieg, das zweite war, dass er seinen Rock ablegte, das dritte war, dass er sich auf den Boden legte. So überwand er den Sturm in seiner kleinsten Größe.

Nur wenige Sätze haben mich über Jahre hinweg so intensiv beschäftigt wie diese, die Bertolt Brecht den Sprecher in seinem Badener Lehrstück vom Einverständnis sagen lässt. Alles ablegen und den eigenen kleinsten Radius finden: Mag dieses Gebot zunächst an einen mystischen Akt erinnern; Brechts Worte sind indes pragmatisch. Es geht hier um Widerstand. Durch das Verkleinern der Widerstandsfläche kann man, so paradox es klingt, einem Sturm widerstehen. In diesem Essay will ich über einige Bezugspunkte reflektieren, die es zwischen dem Theater und dem wohl politisch brisantesten „Problem“ unserer Zeit, Flucht und Migration, gibt bzw. geben kann.1 Ein solcher Bezug kann freilich funktional hergestellt werden, indem man beispielsweise die pädagogische, „integrative“ oder sogar therapeutische Rolle des Theaters für geflüchtete oder ausgewanderte Personen herausarbeitet. Ebenso möglich ist umgekehrt ein pragmatisches Ausloten der „Lehren“, die das zeitgenössische Theater aus der Migration und den Erfahrungen der Geflüchteten zieht. Ich will indes einen anderen Weg einschlagen und historisch-kritischen Ausführungen über die Funktionen und die Dichotomien, die der Kunst zuteil werden, einige Gedanken nachschicken, die einen leeren Raum als kleinsten Radius für das Theater in der „Migrationsgesellschaft“ forcieren sollen. Ich orientiere mich in diesem Beitrag weniger an theaterwissenschaftlichen Theorien als vielmehr an der Arbeit eines Theaters, das ab Mitte der 1980erJahre etwa zwei Dekaden lang mit Sitz in Wien international tätig war und dessen 1 Dieser Text korrespondiert stark mit einem anderen Aufsatz von mir, vgl. Hakan Gürses, „Theater und Identität“, in: Michael Hüttler / Susanne Schwinghammer / Monika Wagner (Hg.), Aufbruch zu neuen Welten. Theatralität an der Jahrtausendwende, Frankfurt/Main 2000, S. 49–57.

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Hakan Gürses

– wenn auch unerheblicher – Wegbegleiter ich sein durfte. Dieses Theater wird im Weiteren nicht erwähnt, obwohl es mit den hier angeführten Gedanken eng verbunden ist; darum sei sein Name eingangs genannt: das Theater des Augenblicks.2

Dualismen der Kunst Wenn vom Theater im Zusammenhang mit der Migration und Flucht die Rede ist, fallen wohl als Erstes die Begriffe Nation, Ethnie, Kultur, Sprache und Identität. Interessanterweise hatten diese Konzeptionen bereits viel mit Theater zu tun, bevor wir in den europäischen Ländern begonnen haben, „Migrationsgesellschaft“ und „postmigrantisches Theater“ zu sagen. Entlang zweier struktureller Probleme, die das Kunstverständnis in okzidentaler Tradition lange dominieren, will ich den historischen Wurzeln dieser Konzeptionen nachgehen. Das erste Problem betrifft den Zwang der Funktion. Kunst und Philosophie weisen zwar spätestens seit der Romantik ein gefälliges Nebeneinander auf. Keineswegs so selbstverständlich war dieses Verhältnis der Gleichberechtigung aber in der früheren Geschichte. Die Philosophie trat der Kunst gegenüber seit jeher als paternalistische, autoritäre und konservative Erziehungsberechtigte auf. Die größten Philosophen, die normative Überlegungen über die Kunst anstellten, besaßen allerdings zumeist einen schlechten Kunstsinn.3 Nicht nur befand Platon in seiner Politeia bekanntlich die Gymnastik nützlicher als die Dichtung und wollte in seiner idealen Stadt die Tätigkeit der Dichter verbieten. Er schrieb der Kunst auch vor, welchen Inhalt und welche Form die Mimesis haben dürfe. Von der zulässigen Darstellungsart der Götter und Heroen über die zu behandelnden Themen bis hin zu den zulässigen Rhythmen oder Tonarten und Instrumenten listete Platon einen Katalog der Nachahmungskunst auf – allein nach dem Gesichtspunkt ihrer Funktion. Doch auch der scheinbare Freund der Kunst, Aristoteles, erlaubte in seiner Poetik die mimetische Kunst insofern, als diese die Funktion seelischer Reinigung erfüllt: die Katharsis. 2 Nähere Informationen über das (nicht mehr existente) Theater sind auf seiner Website zu finden: http://www.theaterdesaugenblicks.net/ [23. 07. 2016]. Vgl. Michael Hüttler, „TheatermacherInnen türkischer Herkunft in Wien“, 2004, http://www.univie.ac.at/theaterethnologie/gte_buchsite2.Huettler.html (= Onlineversion des 2003 erschienen Aufsatzes, in: Monika Wagner / Susanne Schwinghammer / Michael Hüttler (Hg.), Theater. Begegnung. Integration? Frankfurt/Main 2003, S. 93–110). 3 Susan Sontag verwies bereits 1964 auf dieses Problem des Funktionszwangs, den sie mit der Kunstkritik verband. Ihr Gegenentwurf lautet: „Statt einer Hermeneutik brauchen wir eine Erotik der Kunst“ (Susan Sontag, „Gegen Interpretation“, in: Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen, München/Wien 1980, S. 9–18, hier S. 18).

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Die künstlerische Praxis und die philosophische Metasprache über Kunst klafften jedoch im antiken Athen – wie auch sehr oft später – auseinander. Für diesen Zustand lieferte wiederum die Philosophie rechtfertigende Erklärungen, die eine erkenntnistheoretisch-logische Figur heraufbeschworen: den Dualismus und speziell die Dichotomie. Das dichotome Verhältnis zwischen Theorie und Praxis, die als einander bedingende Gegensätze nie ineinander aufgehen und ein Machtverhältnis abbilden, wurde schon in der Antike postuliert – so wie der Dualismus von Mann und Frau, Gut und Böse, Leib und Seele usw. Damit bin ich bereits beim zweiten Problem. Kunst (bzw. „Kultur“) ist jene gesellschaftliche Sphäre, in der auch heute die meisten Dualismen bzw. Dichotomien zu finden sind. Manche von ihnen betreffen die kulturelle Nomenklatur : Hochkultur/Subkultur, Kunst/Kommerz, E-Fach/U-Fach, Tradition/Avantgarde; manche die Funktion: Unterhaltung/Erziehung, Kunst für das Volk/Kunst für die Kunst, Nachahmen/Produzieren, Illusion/Wirklichkeit; andere wiederum die innere Taxonomie, also vornehmlich die künstlerischen Mittel: figurativ/ non-figurativ, darstellend/abstrakt, tonal/atonal … Es ist wohl kein Zufall, dass gerade die „okzidentalste“ aller Kunstgattungen, das Theater, ein beliebtes Feld für diese Gegensätze darbietet und die Frage nach der Funktion stets in Evidenz hält.

Das Staatstheater Wenn eine chinesische Theatergruppe Shakespeares Hamlet aufführt, ist das wohl kein „chinesisches Theater“. Dennoch: Hamlet mag zwar nicht als ein Nationalkulturgut Chinas gelten, es auf Chinesisch aufzuführen kann heute durchaus Bestandteil chinesischer Kulturpolitik sein. Umgekehrt wäre „englisches Theater“ eine allzu enge Kategorie für Shakespeares Werk, wird es doch in jedem Staatstheater gespielt. Wir gebrauchen Bezeichnungen wie „chinesisch“ und „englisch“ sowie ähnliche Eigenschaftswörter allerdings oft im Zusammenhang mit dem Theater. Manche von ihnen beziehen sich auf eine Nation, manche auf eine ethnische Gruppe, auf eine Religion, andere wiederum sollen eine Kultur oder eine Tradition bezeichnen.4 Peter Brook schrieb einst, dass das kulturelle Leben eines Landes drei Arten vom Theater nebeneinander aufweisen müsse, um „gesund“ genannt zu werden:

4 Samuel Huntington listet in seinem berühmten Text bekanntlich sieben civilizations auf: den Westen, den Islam, den Konfuzianismus, den Hinduismus, die slawisch-orthodoxe Zivilisation, die japanische Zivilisation, Lateinamerika und Afrika – eine Mischung aus Religionen, Nationen, Ethnien, philosophischen Lehren, Kontinenten – und einer Himmelsrichtung, vgl. Samuel P. Huntington, „Clash of Civilizations?“, in: Foreign Affairs, 3/1993, S. 22–49.

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das Staatstheater, die musikalische Komödie und das experimentelle Theater.5 Das Staatstheater erhebt die nationalen Unterschiede zum Prinzip und nivelliert sie zugleich. Das Vorhandensein des Staatstheaters macht aus einem beliebigen Stück Erde einen Nationalstaat. Es hat eine identitätsstiftende Funktion und einen Symbolcharakter : wie die Fahne, das Staatsoberhaupt und die Staatsgrenzen. Da aber eben nahezu jeder Nationalstaat ein solches Theater besitzt, sind die kulturellen Unterschiede zwischen ihnen auf dieser Ebene der „Hochkultur“ belanglos. Staatstheater funktionieren auf der ganzen Welt nach ähnlichen Prinzipien und spielen mehr oder weniger das gleiche Repertoire. Nicht der besondere Spielplan, nicht die spezifischen Spieltechniken, ja nicht einmal die Nationalität seiner Autor_innen oder Regisseur_innen zeichnen das Staatstheater zunächst als national aus – sondern allein die Tatsache, dass der Staat imstande ist, ein Nationaltheater zu unterhalten. Diese Tatsache verweist auf weitere wesentlichere Tatsachen: Auf dem nämlichen Territorium wird eine gemeinsame Sprache gesprochen, die zudem dafür geeignet ist, universelle Inhalte zu transportieren – sei es in Übersetzungen (wie jene von Hamlet) oder als Originalwerke in jener Sprache. Die Bühnensprache am Staatstheater, die in der Regel die Idealform der Nationalsprache darstellt, imaginiert eine historisch gewachsene und kulturell-literarisch ausgedrückte „Gemeinschaft“, so wie das Publikum des Staatstheaters seinerseits diese Gemeinschaft verkörpert. Alles hingegen, was als kulturell besonders gilt, als einzigartig und „inkommensurabel“, wird im Theater in vornationalen oder vormodernen Zusammenhängen gesucht: im Ethnischen. Das Experimentaltheater lotet bereits seit Langem in ethnischen Gewässern neue Darstellungsformen aus.

Sprechen oder Bewegen Zurück zu den funktionalen Dualismen im Theater: In der besonderen abendländischen Entwicklung trennten sich die internen Elemente – Tanz, Chor, Maske, Stimme, Körper, Mimik, Gestik, Musik, Bild, Text etc. – nach und nach von der antiken Darstellungskunst und wurden zu externen Mitteln, die man zur Untermalung der Darstellung heranziehen kann. Das größte Interesse galt vom 18. Jahrhundert an dem literarischen Aspekt des Theaters, dem Text. Der dramatische Text trägt alle Voraussetzungen einer Nationalliteratur in sich: Sprache, Geschichte, Helden, Mythen, Gründungssage – und Moral. Schiller, der die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtete, gilt nicht zufällig als ein Nationaldichter. Spätestens in der Romantik war Theater bereits eine Kunst der Rezitation. Der unerlässliche Kern des Theaters bestand aus Text und Stimme. 5 Vgl. Peter Brook, Wanderjahre. Schriften zu Theater, Film und Oper, Berlin 1989, S. 82f.

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Der Körper des Schauspielers oder der Schauspielerin war bloß eine Hülle, in der diese beiden Elemente zueinander fanden, um geäußert zu werden: ein Resonanzkörper – somit (wie auch Gestik und Mimik) kein genuiner Bestandteil der Darstellung –, sondern ihr ebenso äußerlich wie Maske, Bühnenbild, Chor oder Tanz. Erstes Fazit: Das abendländische Theater, verstanden als nationalstaatlichrepräsentative, hochkulturelle Darstellungsform, war bis in die 1960er-Jahre eine Kunst der berührenden Rezitation eines ergreifenden Textes. Der Dualismus, den die avantgardistischen Reaktionen auf einen solchen Reduktionismus heraufbeschworen,6 hieß nun folgerichtig: Stimme versus Körper bzw. Sprache versus Bewegung. Bereits um die Wende zum 20. Jahrhundert setzten Versuche ein, das Theater aus den Fesseln der Literatur zu befreien und andere Performancekünste und körperbetonte Techniken wieder ins Theater einzugliedern. Etienne Decroux, Edward G. Craig, Konstantin Stanislawski und Wsewolod E. Meyerhold sind nur einige von vielen Theatermacher_innen, die ihre Arbeit der Vergrößerung schauspieltechnischer Möglichkeiten gewidmet haben. Der einflussreichste unter ihnen war aber zweifelsohne Jerzy Grotowski, auf den (und wohl auf den „Urahn“ Antonin Artaud) sich Peter Brook und Eugenio Barba ebenso berufen haben, wie viele andere, weniger bekannte Theaterleute. Deren avantgardistische Versuche hatten und haben Eines gemeinsam: dem nationalen Texttheater vornationale und körperbetonte Traditionen entgegenzuhalten. Dem „Sprech-“ steht seit den 1960er-Jahren ein „Bewegungstheater“ (seit den 1980er-Jahren auch ein „postdramatisches Theater“) gegenüber. Die Devise lautet seither : Die antiken Wurzeln des Theaters, in dem Chor und Tanz, Stimme und Körper, Bild und Text unzertrennlich waren, sind wieder freizulegen und zu pflegen. Alles, was archaisch anmutete, wurde zu diesem Zweck herangezogen, der Mythos wiederbelebt, das Ritual wachgeküsst, das Ethnische aufgewertet. Die politisch motivierte Suche nach neuen Darstellungsformen aus der Zwischenkriegszeit, etwa jene von Brecht oder Piscator, verwandelte sich zunehmend in eine anthropologische Suche nach der universalen Konstante des menschlichen Ausdrucksbedürfnisses. Das Theater wurde „anthropologisiert“ und ethnisiert. Zweites Fazit: Die Reaktion auf das textbezogene nationale Theater mündet über die Suche nach neuen Performance-Formen ins Ethnische. Das Experimentaltheater zieht ebenso wie das Nationaltheater identitätsstiftende Wir-

6 Einen guten Überblick hierzu bietet Jean Grädel, „Der Körper als Werkzeug der Erinnerung“, in: Walter Pfaff / Erika Keil / Beat Schläpfer (Hg.), Der sprechende Körper. Texte zur Theateranthropologie, Berlin 1996, S. 9–36.

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kungen nach sich – beim Ersten handelt es sich um nationale, bei Zweiten eben um ethnische Identitäten.7

Die ethnischen Ressourcen Das Ethnische ist seit jeher eine Lieblingskonzeption der politischen Rechten. Die Linke und die liberale „Mitte“ wiederum halten nicht allzu viel von ethnischen Identitäten und Zugehörigkeiten – auch im künstlerischen Kontext. Allerdings gibt es da zwei Ausnahmefälle: Wenn es um das „globale Ethno“ oder um die „bedrohten Völker“ geht, bekommt das Ethnische eine andere Bedeutung. Im ersten Fall haben wir es mit der Idee zu tun, dass Globalisierung eine „Weltkultur“ schaffe, die auf der Synchronität differenter Kulturen fuße. Der deutsche Soziologe Ulrich Beck konstatierte ein „babylonisches Herz der Weltgesellschaft“, das nicht in sprachlicher Uniformierung, sondern „im Sprachen- und Identitätswirrwarr“ seinen Impuls finde.8 Der US-amerikanische Anthropologe Richard Wilk wiederum sprach von einem „Universalismus der Differenz“ und erläuterte diese paradox anmutende Genitivbildung wie folgt: „Wir werden nicht alle gleich, aber wir präsentieren und kommunizieren unsere Unterschiede zunehmend auf eine Art und Weise, die einander ähnelt, die daher in ihren Bedeutungen über Grenzen hinweg prinzipiell verständlich ist“.9 Wir sind unterschiedlich, und das macht uns einander ähnlich – so könnte man die Ressource umschreiben, aus der sich die Weltkultur des „globalen Ethno“ speist. Die künstlerisch wohl berühmteste Form davon kennen wir unter dem Titel „Weltmusik“. Im zweiten Fall geht es um die Anderen, die bedroht sind und dabei nicht bedrohlich – diese Unterscheidung scheint ja den Umgang mit der „Fremdheit“ zu bestimmen. Wenn eine Kultur mit dem Prädikat „zwar anders als die unsere, aber wertvoll“ versehen wird, geht es darum, sie – ähnlich wie beim Prädikat „Weltkulturerbe“ – zu akzeptieren und zu schützen. Die aus diesen kulturellen Ressourcen relativ beliebig übernommenen Elemente fließen auch seit jeher in

7 Zwar finden das Experimentaltheater oder seine Elemente nach und nach Eingang in das Theater-Pantheon, das Staatstheater. Parallel dazu wurden manche enfants terribles zunehmend „seriöser“ und dürfen nun ihre im Off gesammelten Erfahrungen in hochkarätig besetzten Mainstream-Operninszenierungen nutzbar machen. Doch blieb die Dichotomie Sprache/Bewegung bis heute erhalten, und sie dominiert immer noch weltweit das Theatergeschehen. 8 Vgl. Ulrich Beck (Hg.), Politik der Globalisierung, Frankfurt/Main 1998, S. 45. 9 Zit. nach Beck, Politik der Globalisierung, S. 59.

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die Arbeiten „westlicher“ Künstler_innen ein: No¯-Theater und indonesische Masken sind mittlerweile Meterware bei Off-Inszenierungen. Natürlich ist Theater etwas Konkretes, das an Zeit und Ort gebunden ist; es gibt kein „Universaltheater“, das immer und überall dieselben ästhetischen, sozialen oder politischen Effekte hervorbringen könnte. Sogar in der Aufführung ein und desselben Stücks an ein und demselben Ort kann es große Unterschiede zwischen zwei Abenden geben, was für erfahrene Theaterleute eine Binsenweisheit darstellt. Und dennoch sind das Ethnische, das Identitäre, das archaisch Anmutende und das Exotisierte im Theater ebenso problematisch wie das Nationale und das National-Repräsentative. Das Adjektiv „postmigrantisch“, das die deutsche Theatermacherin Shermin Langhoff vor etwa zehn Jahren eingeführt hat, ist vielleicht auch einer der Versuche im Theater, diesen Aspekt der Zugehörigkeit spielerisch zu überwinden. Tatsächlich leben wir in Gesellschaften, die von der Migration geprägt sind und durch die Fluchtbewegungen der letzten (und wohl kommenden) Jahre viel stärker geprägt werden. In dieser Gesellschaft ein Theater zu gestalten, das auf Zugehörigkeiten (somit politische Partikularismen) ebenso verzichten kann wie auf den nationalstaatlich fundierten Universalismus, der ohnehin nur eine machtvolle Spielart des Partikularismus darstellt – diese Herausforderung scheint mir als politisch bedeutsam.

Ein verzichtendes Theater – Funktion und Dichotomien sind die natürlichen Feinde des Theaters. Sowohl die Sprache/Bewegung- als auch die Nation/Ethnie-Dichotomie sind Sackgassen, die in Machtverhältnisse münden. Auch die Funktionen, die dem Theater in diesen (und anderen) Zusammenhängen aufgebürdet werden, etwa Identitätsbildung oder Kulturerhalt, sind eigentlich abwertende Zuschreibungen. Dass kulturelle Bildung und politische Bildung theatrale Mittel und theaterpädagogische Elemente einsetzen (hier denke ich etwa an das Forumtheater nach Augusto Boal als eine in der Volksbildung sehr beliebte Methode), steht auf einem anderen Blatt. – Zurück zu dem Zitat von Brecht zu Beginn über den Verzicht auf Größe, das Ablegen der Kleider und die Verkleinerung der Widerstandsfläche. Drei Assoziationen lösen die Worte Brechts in mir aus. Erstens, seit den 1960er-Jahren wurde eine Frage von unterschiedlichen Theaterleuten immer wieder gestellt: Was kann das Theater an Ballast abwerfen, ohne aufzuhören, Theater zu sein? Welcher ist der „kleinste Radius“ des Theaters, den es finden muss, um den Stürmen der Zeit widerstehen zu können?

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Hakan Gürses

Peter Brooks 1973 unternommene „Theater-Safari“ bildet den experimentellen Kulminationspunkt dieser Frage. John Heilpern, der diese Afrika-Reise Brooks mit Schauspieler_innen begleitet hatte, schreibt in seinem Buch: „Peter Brook ist ein Mann auf der Suche nach einer aus dem Ursprung neu entstehenden Form des Theaters.“10 Nach seiner Reise hat Brook bekanntlich den „leeren Raum“ entdeckt – als den kleinsten Radius des Theaters. Zweitens: In einem Aufsatz untersucht Michel Foucault Friedrich Nietzsches Verwendung des Begriffs „Ursprung“. Insbesondere in Anlehnung an dessen Genealogie der Moral konstatiert Foucault: „Am historischen Anfang der Dinge findet man nicht die immer noch bewahrte Identität ihres Ursprungs, sondern die Unstimmigkeit des Anderen“.11 Auch die Suche des Theaters darf sich niemals an der auf der Bühne inszenierten Wiederholung der anderswo als Wahrheit fixierten Lehrsätze erschöpfen. Der Ursprung im Sinne der Entstehung vollzieht sich, so Foucault weiter, immer innerhalb eines bestimmten Kräfteverhältnisses – also der Machtverhältnisse.12 Drittens: Hannah Arendt hat den Begriff Natalität als Möglichkeit eines Neuanfangs eingeführt: Der Neuankömmling bekommt die Fähigkeit, einen neuen Anfang machen zu können – also zu handeln.13 Handeln ist laut Arendt „die politische Tätigkeit par excellence“.14 Ist nicht jede Migration, insbesondere jede Flucht eine Möglichkeit des Neuanfangs? Das (in der Regel gezwungene) Ablegen des bisherigen Lebens und das Ankommen als Neubeginn – Migrant_innen und Geflüchtete handeln auf diese Weise, ihr Handeln ist politisch. – Theater entsteht in dem Augenblick, den es selbst schafft, und dieser Augenblick schöpft sich aus der jeweiligen Situation ebenso wie aus dem Theater selbst; aus dem, was Theater bisher war und später sein kann. Um einen Satz von Ferdinand de Saussure über Sprache abzuwandeln: Das Theater ist ein Kleid, das besetzt ist mit Flicken, die aus seinem eigenen Stoff genommen sind.

10 John Heilpern, Peter Brooks Theater-Safari, Hamburg 1979, S. 32. 11 Michel Foucault, „Nietzsche, die Genealogie, die Historie“, in: Von der Subversion des Wissens, Frankfurt/Main 1978, S. 83–109, hier S. 86. 12 Vgl. ebd., S. 92. 13 Vgl. Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 1999, S. 18. 14 Ebd.

Eva Julia Hoffmann

Das Theater als Ort der Fabulation

SCHWARZ steht auf dem T-Shirt des weißen Schauspielers, der eindringlich von Armut, Flucht und Mord monologisiert. Er steht vor einem Bühnenbild aus überdimensionalen Lettern, auf denen WIR und SIE zu lesen ist. Am Ende von Michael Simons Inszenierung der Schutzbefohlenen von Elfriede Jelinek wird der weiße Mann zusammen mit anderen weißen Schauspieler_innen qualvoll langsam die Planken von der Bühne reißen, auf deren Rückseite die Todesdaten hunderter Unbekannter aus dem vorangegangenen Sommer 2014 zu lesen sind.1 Ganz so, als ahnte er schon jetzt auf dieser Freiburger Bühne, dass im kommenden Jahr eine noch größere Zuflucht als „Sommer der Migration“ in die zentraleuropäische Geschichte eingehen wird. Dass allein im Folgejahr 2015 knapp eine Million Menschen den lebensgefährlichen Weg über das Mittelmeer riskieren werden, dass für mehr als 4.000 weitere Geflüchtete im kommenden Jahr die Reise mit dem Tod enden wird.2 Mit mehr als 3.000 Toten und Vermissten auf der Mittelmeerroute zeichnet sich auch schon im ersten Halbjahr 2016 ab, dass die Thematik der Grenzregimes keineswegs an Brisanz verloren hat. Die Dringlichkeit der Frage nach Flucht und Zuflucht dominiert das Theater, Jelineks Schutzbefohlene wurden im Original seit der Uraufführung 2014 auf mehr als einem Dutzend deutschsprachiger Bühnen aufgeführt, es folgten zahlreiche freie Interpretationen, wie die des Theaterkollektivs Die schweigende Mehrheit sagt JA, bei deren Inszenierung unter anderem Geflüchtete selbst auf der Bühne stehen.3 Neben dem Lob für die wütende Vortragsweise der Schauspieler_innen des Hamburger Thalia Theaters,4 das raffinierte Bühnenbild in Michael Thalheimers Inszenierung am

1 Michael Simon, Die Schutzbefohlenen, Theater Freiburg, Premiere 28. 11. 2014. 2 Vgl. Jahresbericht der UNHCR 2015, data.unhcr.org/mediterranean/regional.php [05. 06. 2016]. 3 Vgl. „Schutzbefohlene performen Jelineks Schutzbefohlene“, Die Schweigende Mehrheit sagt Ja, Uraufführung 12. 9. 2015. 4 Vgl. Pressestimmen zu „Die Schutzbefohlenen“ am Thalia Theater in Hamburg, https://www.

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Eva Julia Hoffmann

Wiener Burgtheater5 oder die Klarheit des Chors im Schauspiel Leipzig6 schwingt seit der Uraufführung des Stücks eine Frage mit, die auch in diversen Presseberichten nicht beantwortet wird: Wer spricht und wer darf sprechen? Beim Ensemble der schweigenden Mehrheit fällt das Urteil einstimmig aus: „Die Schutzbefohlenen performen die Schutzbefohlenen“, heißt es im Titel der Inszenierung. Die Schutzbefohlenen sind die Schutzbefohlenen. Keine Frage. Nirgends wird ihnen das Recht abgesprochen, ihre persönlichen Erfahrungen in Jelineks dichtem Text einfließen zu lassen, angesichts posttraumatischer Belastungen auch auf der Bühne authentisch erschüttert zu sein und im Nachhinein gnadenlos ehrliche Gespräche mit dem Publikum zu führen. Bei der Uraufführung im Mai 2013 beim Festival Theater der Welt in Mannheim, wurde die Frage nach dem Sprechen und Sprechen lassen schon weniger eindeutig beantwortet. Das Stück beginnt mit weißen Männern, deren Sprecherposition zunehmend und spätestens mit dem Auftreten eines Flüchtlingschors im Hintergrund infrage gestellt wird. Ein bemühter Krampf, wie eine Kritikerin Esther Boldt findet.7 Regisseur Nicolas Stemann „ringe“ mit dem Jelinek-Text. Denn die Bühne werde vor dem Hintergrund eurozentristischer Maximen von Humanismus, Menschenrechten und Moral niemals vollständig an die vermeintlich „Anderen“ abgetreten, diese Problematik werde zwar bewusst gemacht, doch gleichzeitig zum Hauptthema des Stücks erhoben, meint Boldt: Anstelle einer Politisierung der europäischen Flüchtlingspolitik könne das vornehmlich weiße, bürgerliche Theaterpublikum in selbstbezogener Meta-Problematisierung schwelgen und sich in der Ratlosigkeit über Sprechberechtigungen verlieren, statt tatsächlich über Grenzregime nachdenken zu müssen. Nicht nur die verschiedenen Jelinek-Inszenierungen, das Theater präge momentan maßgeblich den Topos der vermeintlich „Anderen“, besonders wenn versucht wird, Themen von Flucht und Migration zu verhandeln: Bei schmerzlich gegenwärtigen Themen braucht es plötzlich einen Erfahrungshintergrund, um ihre Verhandlung auf der Bühne zu legitimieren, braucht es echte Asylbewerber, die als verkörperte Geschichte der dürren Inszenierung Gewicht verleihen. Gerade diese Geste macht die großen Anderen – ohnehin eine westliche Konstruktion – nur wieder zu großen Anderen.8

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thalia-theater.de/de/spielplan/repertoire/pressestimmen-zu-die-schutzbefohlenen [05. 06. 2016]. Norbert Mayer, Burgtheater. Die verzweifelte Klage der Schutzbefohlenen, Die Presse, 29. 03. 2015. Gesammelte Pressestimmen zu „Die Schutzbefohlenen“ im Schauspiel Leipzig, www.schau spiel-leipzig.de/buehnen/grosse-buehne/inszenierungen/die-schutzflehendendie-schutzbe fohlenen/#c26911 [05. 06. 2016]. Esther Boldt, Nachtkritik. „Sprecht lieber selbst!“, 23. 05. 2014, http://tinyurl.com/z45jyfl [01. 06. 2016]. Ebd.

Das Theater als Ort der Fabulation

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Der Kommentar lässt erkennen, dass es um viel mehr geht, als die Meta-Reflexion über Machtpositionen und Sprechakte. Zwischen den Zeilen bleibt die Frage: Was ist ehrlich? Welche Repräsentationsformen braucht es, damit eine Erfahrung als glaubwürdig rezipiert wird? Und warum bedarf es beim Thema Flucht und Migration dieses Wahrheitsanspruchs, wo das Theater doch eigentlich Ort legitimer Täuschungen ist? Wir fragen uns heute nicht mehr, ob Ibsens oder andere alsbald historische Frauenfiguren so oder so ähnlich dargestellt werden dürfen, von Männern entworfen, inszeniert und aufgeführt. Bei der Fluchtthematik ist das anders: Hier herrscht ein hoher Wahrheitsanspruch. Vielleicht, weil es um vermeintlich essenzielle Identitätsverständnisse geht, die auch außerhalb des Theaters aktuell verhandelt werden. Durch die Abgrenzung zu „dem Anderen“ entsteht das, was als „Eigenes“ bleibt: Obwohl die Konstruktion des Anderen ein Versuch ist, das, was wir nicht sind, an seinem Platz zu fixieren, in sicherer Entfernung zu halten, können wir selbst uns doch nur verstehen in Beziehung zu diesem Anderen. Deshalb ist zu bezweifeln, dass unsere kulturellen und nationalen Identitäten authentisch von innen definiert werden. Wer wir kulturell sind, wird immer in der dialektischen Beziehung zwischen der Identitätsgemeinschaft und den Anderen bestimmt.9

Das Theater ist ein Ort, an dem diese Dialektik in besonderer Form verhandelt wird. Es repräsentiert ein Kräfteverhältnis, nach Gilles Deleuze, in dem Identitätsbildung stets als relationaler Prozess stattfindet.10 Zwar beschreibt Deleuze diesen Prozess originär am Beispiel des Films,11 es handelt sich jedoch um ein Werden von Kollektivitäten, das so in verschiedensten Bereichen des Alltags, der Kunst oder den Wissenschaften durch Formen der Selbst- und Fremddarstellung stattfindet. Das „Sprechen über“ aus der Fremd- oder das „Erzählen von“ aus der Eigenperspektive sind dabei gleichermaßen Teil der Legendenbildung, die eine Volksgemeinschaft als solche erst konstruiert: „Die Völker sind nicht vorher da. In gewisser Weise ist das Volk das, was fehlt“.12 Fabulieren, nennt Deleuze diesen konstitutiven Prozess des Werdens einer Gruppe, eines Volkes,13 einer Nation

9 Stuart Hall, „Rassismus als ideologischer Diskurs“, in: Nora Räthzel, Theorien über Rassismus, Hamburg 2000, S. 7–16, hier S. 15. 10 Vgl. Gilles Deleuze, „Die Fürsprecher“, in: Unterhandlungen 1972–1990, Frankfurt/Main 1993, S. 175–196, hier S. 175ff. 11 Vgl. Gilles Deleuze, Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt/Main 1991. 12 Deleuze, „Die Fürsprecher“, S. 182. 13 Deleuze nutzt diesen Begriff des „Volkes“ um ihn gleichzeitig vom essentialisierenden Gebrauch David L. Griffiths und dessen Film Birth of a Nation abzugrenzen. Ihm geht es um das aktive Bejahen der Erfindung dieses Begriffs, bei dem Fabulierte wie Fabulierende gleichermaßen im Werden begriffen sind: „Es geht nicht mehr nur um The Birth of a Nation, sondern um die Entstehung oder Wiederentstehung eines Volkes, bei der der Filmautor und

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durch ihre Erzählung. Individuelle Erzählungen müssen dabei nicht zwangsläufig in eine kollektive Meistererzählung münden, sondern können innerhalb der eigenen Gruppe variieren. Demnach wird innerhalb dieses narrativen Prozesses der Wahrheitsanspruch an eine einheitliche kulturelle Identität hinfällig. Identität weicht einer fabulierten Kollektivität aus Multiplizitäten, die den Individuen gegenüber keinen Anlass mehr gibt eine Frage wie: „Wo kommst du her?“, mit einer Ursprungserzählung bedienen zu müssen. Bei der Frage, wer erzählt, wenn es im Theater um Flucht und Migration geht, wird besonders in der Berichterstattung über postmigrantisches Theater deutlich, das nach wie vor an essentialisierenden Identitätszuschreibungen festgehalten wird. Will man doch „echte“ Geschichten von „den Geflüchteten“ erzählen und nicht zuletzt an moralische Werte und Normen appellieren. In dieser Logik sind Schauspieler_innen entweder geflüchtet oder professionell, beides zusammen fällt selbst der Tageszeitung taz schwer zu denken. So gerät auch der Initiator der „Asylmonologe“14 Michael Ruf in Rechtfertigungszwang, wenn er das Stellvertreter_innenprinzip seiner Inszenierung in einem Interview zu erklären versucht: Taz: Und wer erzählt die Geschichten? Die Flüchtlinge selber? Michael Ruf: Unsere „realen Protagonisten“ haben ein Leben, das es zu bewältigen gilt: sie haben Kinder, um die sie sich kümmern. Sie haben ein Studium, das es zu meistern gilt. Oder sie kämpfen um einen sicheren Aufenthalt. Wir arbeiten mit professionellen SchauspielerInnen. Natürlich achten wir auch auf diversity im Ensemble, aber es sind jetzt nicht per se Menschen mit eigener Fluchterfahrung. Stellvertreter erzählen die Geschichten, die uns in den Interviews anvertraut worden sind. Wir nennen das wortgetreues oder wortwörtliches Theater. Alles was die Schauspieler auf der Bühne sagen, wurde uns auch genau so in den Interviews erzählt. Das hat offenbar einen enormen Echtheitsanspruch. Aber die Geschichten von Schauspielern erzählen zu lassen – ist auch irgendwie ein Bruch? Natürlich. Es ist ein Stellvertreterprinzip. Es wäre etwas anderes, wenn Geflüchtete ihre Geschichte selbst erzählen würden. Das ist klar. Ein entscheidender Vorteil des Stellvertreterprinzips ist aber, dass das Publikum dadurch eine gewisse Distanz wahren kann. Wenn die Geflüchteten selbst sprechen, begibt man sich als Zuhörer schnell in eine Mitleidsposition.15

Mitleid entsteht Ruf zufolge, wenn der Wahrheitsanspruch auf der Bühne erfüllt wird. Wenn die Schutzbefohlenen die Schutzbefohlenen sind. Doch woher kommt die Gewissheit, dass diese nicht ebenso fabulieren wie jene, denen die seine Figuren andere werden“, Gilles Deleuze, „Die Mächte des Falschen“, in: Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt/Main 1992, S. 168–204, hier S. 202. 14 Bühne für Menschenrechte, Asylmonologe, Uraufführung 09. 06. 2011. 15 Mareike Barmayer et al., Keine Mitleidsposition, Interview mit der Bühne für Menschenrechte, http://www.taz.de/!161745/ [04. 06. 2016].

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Worte anderer in den Mund gelegt wurden? Als Schauspieler_innen überwinden Laien wie Professionelle unentwegt die Grenzen zwischen Fiktion und Realität. Diese „Macht des Falschen“ ist laut Deleuze das Potenzial jeder Kunst, die ihren Wahrheitsanspruch längst überwunden hat und zur Simulation ohne jegliche Wahrheitserzählung geworden ist. Schauspieler_innen sind in erster Linie Schauspieler_innen, ob mit oder ohne „authentische“ Fluchterfahrung. Und so wird auch der Wahrheitsgehalt dessen, was sie erzählen, hinfällig: „Die Erzählung bezieht sich nicht mehr nur auf ein Ideal des Wahren, das seinen Wahrheitsgehalt konstituiert, sondern wird zu einer ,Pseudo-Erzählung‘, einem Gedicht, einer simulierenden Erzählung.“16 Sobald das Publikum diesen Simulationsmodus annimmt, statt weiter beharrlich nach Wahrheitsindikatoren zu suchen, läuft es auch nicht mehr Gefahr, in einem Mitleidsmodus zu erstarren, sondern kann selber produktiv werden. Das Falsche kann inspirieren, wenn ihm keine Wahrheit mehr im Weg steht und die Kunst ist der Bereich, in dem sich die Mächte des Falschen über die Epochen hinweg schon immer ausprobieren: Allein der schöpferische Künstler führt die Macht des Falschen auf eine Stufe, die sich nicht mehr in der Form, sondern in der Transformation ausdrückt. Es gibt dann weder Wahrheit noch Schein. […] Der Künstler ist Schöpfer der Wahrheit, denn die Wahrheit kann weder erlangt oder gefunden noch reproduziert werden, sie muss geschaffen werden.17

In diesem Schaffen liegt für Publikum, Autor_innen und besonders für die Protagonist_innen, sei es mit oder ohne Fluchterfahrung, ein identitätsstiftendes Moment. Deleuze geht es nicht um das Absprechen von Erfahrungen oder die Negation der Person als solcher, „vielmehr handelt es sich um eine Person, die Übergänge und Grenzen überwindet, weil sie als eine reale Person erfindet und umso realer wird, je besser sie erfunden hat“.18 Wenn alles Sprechen als Fabulation begriffen wird, ist eine Genealogie der Erzählung hinfällig. Als Teil der Legendenbildung steht das Erzählte in einem dynamischen Austausch mit seinem Vorher und Nachher, lässt sich aber auf keinen Ursprung mehr zurückführen. Genauso wenig lässt sich die Identität der Erzählenden als SIE oder WIR, wie es im Freiburger Bühnenbild der „Schutzbefohlenen“ dargestellt wird, essenzialisieren. Warum trotzdem so oft die Frage nach der Glaubwürdigkeit oder der Berechtigung der Erzählenden im Theater aufkommt, wenn es um die Thematisierung von Fluchterfahrungen geht, kann einer grundlegenden Angst vor Identitätsverlust geschuldet sein, aus der sich zurzeit auch rechte Bewegungen in ganz Europa speisen. Im Theater einer 16 Deleuze, „Mächte des Falschen“, S. 196. 17 Ebd., S. 193f. 18 Deleuze, „Die Fürsprecher“, S. 200.

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identitätsstiftenden Katharsis aufzusitzen, die sich im Nachhinein als Täuschung entpuppt ist schmerzlich genug. Wesentlich unangenehmer wird es jedoch, sich auch im Alltag und im Umgang mit den vermeintlich Anderen von einer intrinsischen Identität, einem „Ich bin Ich“, zu verabschieden. Begreift man das Theater mit Deleuze als Ort des produktiven Fälschens, eröffnet sich Raum für Fabulationen. Für ein Publikum, das unabhängig vom Wahrheitsgehalt der Erzählung mitfühlen kann. Für Kritiken, die nicht mehr anhand selbstauferlegter Wahrheitsmaxime zwischen professionellen Schauspieler_innen und Geflüchteten unterscheiden. Für Schauspieler_innen mit und ohne Fluchterfahrung, deren individuelle oder inszenierte Erzählungen zu einer großen Fabulation ohne einheitliche Autor_innenschaft verschmelzen. Für ein Theater, das die Erfindung einer neuen Kollektivität bejaht, die nicht mehr auf Gleichheit im Sinne von Identität beruht, sondern Raum für Multiplizitäten eröffnet.

Anja Kundrat

Transitraum „Flüchtlingslager“. Ein Nicht-Ort?

1992 – Das Flüchtlingslager Traiskirchen wird in Betreuungsstelle Traiskirchen umbenannt. Sowohl der Bosnienkrieg als auch der Kosovokonflikt prägen die Asylpolitik in Österreich kurz vor dem Millennium. Tausende Asylwerber_innen treten an die Erstaufnahmestelle heran, um Schutz zu suchen und werden aus Sicherheitsgründen und Überfüllung nur spärlich aufgenommen. Im Jahre 2015 scheint sich die Situation in Traiskirchen zu wiederholen. Tausende Menschen sind in den Räumen und Zelten der Aufnahmestelle untergebracht und sollen schnellstmöglich weitergeschickt werden, nachdem sie wochenlange Fußmärsche hinter sich gebracht haben, einen Stopp an der ungarischen Grenze machen mussten und endlich in Österreich angekommen sind. Der Alltag in Geflüchteten-Lagern ist oft geprägt von mangelnder Hygiene, dürftigen Unterkünften und Abhängigkeit von Sachspenden. In diesem komprimierten Raum findet eine Gemeinschaft Platz, die doch keine ist. Aus verschiedensten Herkunftsorten kommend, tummeln sich zahlreiche Geflüchtete in den Behausungen und müssen miteinander auskommen. Dabei kommt es oft zu Rangeleien um verschiedene Spenden, es herrscht also ein Verteilungsregime / la „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst“. Folglich finden Konflikte innerhalb des vermeintlich geschützten Raumes statt. Kann ein von Anonymität und verschwommener Identität geprägter Ort überhaupt als eben solcher, als Ort bezeichnet werden?

Was ist ein Ort? Ein Ort befindet sich in einem Bezugssystem von Lage und Position. Es ist ein fixierter Punkt ohne Bewegung, dem bestimmte gemeinsame Eigenschaften eingeschrieben werden können. Per Definition wird ein Ort als: „a) lokalisierbarer, oft auch im Hinblick auf seine Beschaffenheit bestimmbarer Platz [an dem sich jemand, etwas befindet, an dem etwas geschehen ist oder soll] und b) im Hinblick auf die Beschaffenheit besondere Stelle, besonderer Platz (innerhalb

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eines Raumes, eines Gebäudes o. Ä.“1 beschrieben. Lässt sich somit dem Lager Traiskirchen eine bestimmte Qualität zuweisen und kann man das Lager daher als Ort oder als Nicht-Ort bezeichnen? „So wie ein Ort durch Identität, Relation und Geschichte gekennzeichnet ist, so definiert ein Raum, der keine Identität besitzt und sich weder als relational noch als historisch bezeichnen lässt, einen Nicht-Ort“.2 Was Marc Aug8 als Nicht-Ort bezeichnet, ist ein Ort, der durch das Fehlen von Geschichte, Relation und Identität, sowie eine Art kommunikativer Verwahrlosung charakterisiert ist.

Mensch sein? Die Identität von Menschen, die einen Ort bewohnen ist ein Bewertungskriterium im Rahmen des Versuchs einer Kategorisierung von Geflüchteten-Lagern als potenzielle Orte. Diese lässt sich im herkömmlichen und vor allem rechtlichen Sinne durch ein Ausweisdokument feststellen. Dieses Dokument enthält Daten zu Name, Geburtsdatum, Anschrift und weiterem, wodurch die Identität einer Person bestimmt werden kann. Ohne Nachweis der Nationalität ist üblicherweise keine Grenzüberschreitung möglich. Nach welchen Kriterien soll ein_e Einreisende_r beurteilt werden, wenn er oder sie dieses Dokument nicht vorweisen kann? In dieser Logik lässt sich spekulieren, ob ein Mensch ohne Ausweis als Person gesehen werden kann. Doch wie menschlich ist dieser Ansatz? Ich finde nicht, dass man eine Person auf ein Dokument reduzieren kann. Man sollte bei der überhandnehmenden Bürokratie der europäischen Staaten einmal innehalten und sich fragen wie entmenschlichend Kontrollprozesse mittlerweile geworden sind. Die Behörden stoßen in Anbetracht der extremen Umstände an ihre Grenzen. Flüchtende haben oft keine Ausweisdokumente, da sie im Krieg des Heimatlandes oder auf der langen Reise zerstört wurden oder sie besser ohne diese unterwegs waren, und können ihre Herkunft oder Fähigkeiten, die sie dort erlernt haben, nicht mehr nachweisen. Sind sie deshalb weniger Mensch? Viele Menschen und Organisationen haben dies bereits erkannt und diese Ansicht in ihrem Slogan „Kein Mensch ist illegal“ in die Öffentlichkeit getragen. Die Geflüchteten werden in den Flüchtlingslagern meist ohne Dokumente stationiert und müssen vorerst „ohne Identität“ auskommen.

1 Duden Online, „Ort“, http ://www.duden.de/rechtschreibung/Ort_Platz_Stelle_Ortschaft [25. 02. 2016]. 2 Marc Aug8, Nicht-Orte, München 2010, S. 92.

Transitraum „Flüchtlingslager“. Ein Nicht-Ort?

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Traiskirchen – Ein Ort der Einsamkeit? In den Geflüchteten-Lagern werden zwar oft tausende Menschen untergebracht, doch heißt das nicht, dass sie dadurch weniger einsam sind. Die Anwesenheit von vielen Menschen garantiert noch keine ausreichende Befriedigung sozialer Bedürfnisse. Die herrschende Anonymität kann den Kontakt zwischen den Menschen erheblich erschweren und den Konflikt-Kochtopf in der angespannten Lebenssituation zum Brodeln bringen. Viele verlieren auf der Reise Familienangehörige, Freund_innen oder lassen geliebte Menschen in ihrer von Krieg beherrschten Heimat zurück. Durch diese Verluste fühlen sich einige sicher einsam, was durch die mangelhaften Unterkünfte und fehlende Kommunikationsmöglichkeiten noch verstärkt wird. Die Frage nach einem „Wer bin ich? Was definiert ein Individuum?“ – Geschichte, Kultur oder der Pass – wirft wichtige Diskussionsansätze in der „Flüchtlingsdebatte“ auf. Ich frage mich zunehmend, wie menschlich wir mit Menschen umgehen. Die Zuordnung zur Kategorie Ort erweist sich hier genauso unpassend wie die zum Nicht-Ort. So schaffen Orte „lebendige Gemeinschaft“ und „Kultur“, NichtOrte nur eine „solitäre Verträglichkeit“ und können als bessere Beschreibung in diesem Kontext herangezogen werden.3 Diese Kriterien sind in einem Übergangszufluchtsort nicht gegeben und werden sich nicht etablieren. Die nach Sicherheit Suchenden befinden sich an einem Transitort ihres Lebens an der Schwelle zu neuen Möglichkeiten. So wenig wie sich eine gemeinsame Kultur etabliert, kann auch nicht von Abwesenheit von Kultur gesprochen werden. Nationalitäten und sprachliche Einflüsse treffen auf engstem Raum zusammen und bilden ein heterogenes Kulturbild, welches großen Fluktuationen unterworfen ist.

Woher und Wohin? Ein weiteres Charakteristikum für die Definition eines Ortes bildet die Geschichte derer, die ihn bewohnen. Woher kommen die Flüchtenden und wo werden sie hingehen? Da der Verlust von Ausweisdokumenten zu Unsicherheiten bezüglich der Herkunft einiger führt, kann dies als Geschichtsverlust gesehen werden. Jemand ohne Historie ist schwer in seinem Charakter zu fassen, da er so eine Ungewissheit gegenüber anderen verkörpert und das kann Angst hervorrufen. In den Geflüchteten-Lagern wird der Mensch auf seine Flucht reduziert. Hinzu kommt, dass viele ihre Heimat bereits verloren haben, da sie gewaltvoll zerstört worden ist. Die Betroffenen können demnach nicht in ihre 3 Vgl. ebd.

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Anja Kundrat

Heimat zurückkehren und befinden sich in einem Zustand der temporären Obdachlosigkeit. Das „Auffanglager“ kann zwar einen Platz der Sicherheit darstellen, ist für die Betroffenen jedoch nicht als Zuhause anzusehen. Aufgrund dieser Fremdheit des Wohnortes und des Verlustes der Heimat sind die Menschen in einem vorübergehenden Zustand der Zugehörigkeitslosigkeit. Im Folgenden können sich die wenigsten an diesem Ort dauerhaft einrichten und wünschen, so schnell wie möglich in einen potenziellen neuen Lebensabschnitt zu starten. Dieser Weg in eine neue Heimat und somit neue Geschichte ist sehr ungewiss zum Zeitpunkt des Aufenthalts. Nicht zu wissen, wohin es geht, führt – dem Geschichtsverlust gleich – zu einer undurchsichtigen Zukunft (gewissermaßen einer Zukunftslosigkeit), welche folglich der Kategorie Nicht-Ort zugewiesen werden kann. Der Mensch befindet sich in einem Zustand des Dazwischen-Seins – „Der Passagier der Nicht-Orte ,macht‘ die Erfahrung der ewigen Gegenwart“.4

Eine Ausnahmesituation? Plätze repräsentieren Gesellschaftsstrukturen und soziale Verhältnisse und können diese negieren oder umkehren. Diese Räume sind notwendig, damit einer sozialen Gemeinschaft ihre Grenzen und Ungereimtheiten aufgezeigt werden können. So wird der Begriff hier für die Beschreibung der Gesellschaft, in der sich Traiskirchen lokal unweigerlich einordnet, verwendet. Menschen verhalten sich in Krisen anders als im Alltag und tragen dies an Außenstehende heran. Brauchen wir als vermeintlich Außenstehende die „Flüchtlingsheime“ vielleicht, um uns unserer eigenen sozialen Schwächen und Verantwortungslosigkeit gegenüber anderen bewusst zu werden? Das Engagement vieler Bürger_innen lässt darauf hinweisen, dass ein Potenzial an helfenden Händen gegeben ist. Jedoch frage ich mich, ob es sich hierbei um eine Form der selbstlosen Hilfe handelt oder ob es lediglich eine Selbsthilfe darstellt. Einige Helfer_innen scheinen mit ihren Sachspenden nur ihr eigenes schlechtes Gewissen zu beruhigen anstatt wirklich helfen zu wollen. Die an den Straßen vor dem Geflüchteten-Lager Traiskirchen abgeladenen Haufen unbrauchbarer Spenden weisen darauf hin, dass oft mehr Schein als Sein in die Motivation der Spender_innen einfließt. Durch solche Sachspenden kann die eigene Verantwortungslosigkeit im Leben beziehungsweise gegenüber den außenpolitischen Konflikten gerechtfertigt werden. Durch die Vorgabe verantwortungsvoll zu handeln wird der Trug genährt und das eigentliche Helfen nur noch mehr gefährdet, da es die Hilfssituation verschleiert. 4 Ebd.

Transitraum „Flüchtlingslager“. Ein Nicht-Ort?

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Wie wir als Menschen in diesen „Krisensituationen“ agieren, egal ob wir uns in ihr selbst befinden oder von außen in sie hineinblicken, bestimmt den Charakter der „Extremsituation“ und kann zu Veränderungen in der sozialen Wahrnehmung einer Gesellschaft führen. Es gibt verschiedene Ansätze Geflüchteten-Lager zu betrachten. Die Debatte um die Zuordnung von Geflüchteten-Lagern in die Kategorie Ort oder Nicht-Ort eröffnet eine Diskussion, welche keine Antwort bietet. Ich selbst befinde mich im Zwiespalt bei Betrachtung der Frage, ob Definitionen allgemeine Gültigkeit erlangen können und möchte daher lediglich einen Ansatz für vorhandene Denkmodelle bieten, um sie zu diskutieren.

Katharina Danner

Sehen und Gesehen Werden. Politiken der Sichtbarkeit im Kampf um die Rechte Geflüchteter

Eine florierende Stadt im 5. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung: Ein Marktplatz. Buntes Treiben. Disputierende Menschen. Debatten um das Wahre, Gute und Schöne; Debatten um das bessere Argument und die bessere Verwaltung der Stadt. Schon im Bild der athenischen Agora rücken Fragen von Partizipation und Demokratie und die Frage nach der Transparenz von politischen Unterredungen zusammen. Als Ideal bildet die griechische Agora eine transparente Plattform, auf der sich Interessierte treffen und an politischen Prozessen teilhaben können. Doch schon ein näherer Blick auf das Geschehen lässt Risse im Bild erkennbar werden: Wer ist es, der sich da in der philosophischen Unterredung übt und an politischen Debatten teilnimmt? Wo sind die Frauen, wo die sogenannten unfreien Bürger_innen – die Sklav_innen? Die Realität der griechische Agora evoziert vornehmlich ein Bild: das des alten griechischen Philosophen mit weißem Bart. Die attische Demokratie aufgrund der unvollständigen demokratischen und gleichberechtigten Partizipation aller Bürger_innen zurückzuweisen, wäre dennoch zu leichtfertig. Das Verständnis einer wesenhaften Gleichheit aller Menschen ist im antiken Griechenland noch nicht in dem gleichen Sinne etabliert, wie es heute der Fall ist. So legitimiert sogar der große Aristoteles das Halten von Sklav_innen qua Natur: Menschen seien eben von Natur aus das was sie sind und der rechtmäßige Platz von Sklav_innen damit jener unter Sklav_innen.1 Obzwar unter je sich verändernden historischen Voraussetzungen, bilden Fragen nach Teilhabe und Mitbestimmung zentrale Motive in der Entwicklung des Zoon politicon, des sich organisierenden und gemeinschaftlich lebenden Menschen. Der Repräsentation kommt dabei besondere Bedeutung zu, weil sie danach fragt wer wen und wessen Interessen wie vorbringt und vertritt. Präsentation und Repräsentation, sehen und gesehen werden sind zentrale Modi und 1 Vgl. Rigobert Günther, „,Sklaven‘“, in: Johannes Irmscher (Hg.), Lexikon der Antike, Köln 2013, S. 546.

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Katharina Danner

Praxen, über welche Teilhabe realisiert, aber auch zu verhindern gesucht wird. In den gegenwärtigen Bewegungen von Geflüchteten werden diese Fragen in einer lange nicht dagewesenen Intensität verhandelt und zu einer Politik des Sehens verdichtet. Sowohl die künstlerische als auch die politische Sphäre bilden hier zentrale Austragungsorte. Die hier zur Geltung gelangenden Mechanismen müssen analysiert und in die Debatten mitaufgenommen werden, sofern man sie sich zu Nutze machen und nicht dem Zufall überlassen will. Zunächst aber kurz zurück zu den sich verändernden historischen Voraussetzungen, die noch einmal aufgenommen werden sollen, um die Tragweite gegenwärtiger Diskussionen über (und wohlgemerkt viel seltener mit) Geflüchtete(n) zu verdeutlichen: Während noch die antike Trennung von nomos und physis die Entrechtung einer bestimmten Menschengruppe legitimierte, konnten sich seit dem Zeitalter der Aufklärung und der bürgerlichen Revolutionen nach und nach die Ideen von Gleichheit und Universalität der Menschen durchsetzen. Ob dies eine Veränderung des Begriffes vom Menschen nach sich zog oder damit ein verändertes Naturrecht Einzug hielt, sei dahingestellt. Besonders bedeutend ist jedenfalls die Entwicklung und Anerkennung einer Idee von Menschenrechten, die allen – auf Basis ihres Mensch-Seins – zustehen. Der Umgang mit Migrant_innen, Zugewanderten und Geflüchteten zeigt aber, dass mit der proklamierten philosophischen Gleichheit nicht auch die entsprechenden juristischen und politischen Konsequenzen in Bezug auf politische Teilhabe und Mitsprache verbunden sind.2 Zumindest nicht immer und vor allem: nicht überall. In den Flüchtlingsgesprächen merkt auch Brecht ironisch an, dass wohl der Pass „der edelste Teil“ eines Menschen sei, edler noch als der Mensch selbst. Systematisch wird Menschen mit dem „falschen“ Pass Mitsprache und die selbsttätige, eigene – das heißt nicht über die Umwege von Menschenrechtsorganisationen geforderte – Vertretung ihrer Interessen verwehrt. Über die Motive des Sehens und Gesehen-Werdens wird deutlich, was dies in letzter Konsequenz bedeutet: Menschen und ihre Interessen werden in die Unsichtbarkeit getrieben und verlieren ihren Status als politische Subjekte. Ganz abgesehen davon, dass auch der Zugang zu allen anderen Bereichen, in denen das eigene Subjekt-Sein für gewöhnlich realisiert wird – Arbeit, Wohnen, Freizeitbeschäftigungen und gesellschaftliches Leben – massiv erschwert wird. Nicht nur geht es hier um die Frage der Verteilung von Macht, um Hierarchien und das Abdrängen von Positionen. Radikaler wird die Möglichkeit der Teilhabe an diesen Spielen von Macht und Verteilung überhaupt verwehrt. Nicht Teilhabe 2 Eine genauere historische Analyse würde freilich zeigen, dass auch die philosophische Idee der Gleichheit nicht in jeder geschichtlichen Epoche alle Menschen gleichermaßen umfasste. Die Kämpfe um das Recht auf Anerkennung und Mitsprache lassen zudem eine Vielzahl weiterer Minderheiten und an den Rand gedrängte Gruppen erkennen: Frauen, FLIT-Personen, People of Colour, Sprachminderheiten, Juden_Jüdinnen, et al.

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selbst, sondern das Recht darauf steht zur Disposition – eine Situation deren Konsequenzen in ihrer Radikalität in den letzten Jahren vornehmlich von den Postcolonial Studies oder in der Frage nach der Rolle der Subalternen erkannt wurde. „Politik ist das Medium, in dem und mit dem die Verteilung von Macht und Zugängen zu Sichtbarkeit im Gemeinwesen stattfindet“3, könnte das Beschriebene mit Tom Holert zusammengefasst werden. Ergänzt werden muss aber, dass nicht nur die politische Sphäre über (Un-)Sichtbarkeiten entscheidet, sondern sehen und gesehen werden selbst politische Felder und Strategien bilden. Politiken des Sehens und Gesehen-Werdens spielen so auch in einer Reihe von politischen Debatten, Bewegungen und Kämpfen – gerade auch im Bereich der Rechte von Geflüchteten – der letzten Jahre eine große Rolle. Die Selbstorganisierung einer Gruppe von Refugees4 aus Traiskirchen im Jahr 2012 und der damit verbundene Demonstrationsmarsch nach Wien, sowie der Aufbau eines Protest Camps im zentral gelegenen Votivpark hatte vor allem auch eine starke visuelle Komponente. Eine zum Großteil ihrer Rechte beraubte Gruppe, die eine Erstaufnahmestelle im abgelegenen Traiskirchen bewohnte, wurde aktiv und verschaffte sich Gehör. Indem ein zentraler und gut einsehbarer Platz des öffentlichen Raumes zur Basis des Protestes wurde, erhielt dieser performativen Charakter in Bezug auf die Forderungen der Geflüchteten: Sie praktizierten das, was sie forderten, nämlich Teilhabe und Inklusion anstatt Isolation in eigens eingerichteten, abgeschotteten Warteräumen. Der Protest der Aktivist_innen gipfelte schließlich in einem Hungerstreik und einer Besetzung der Votivkirche. Allein die Anwesenheit Geflüchteter, ihre Sichtbarkeit, die Artikulation ihrer Anliegen im öffentlichen Raum können schon als Forderung gelesen werden. Welche Kraft diese Präsenz von Entrechteten haben kann, wurde und wird nicht zuletzt auch in den anhaltenden Flüchtlingsbewegungen deutlich: Die Bewegungen und die Anwesenheit der Refugees selbst waren und sind es, die das europäische Grenzregime in einer Art und Weise herausfordern, wie es ein isolierter politischer Protest einer Menschenrechtsgruppe wohl nie erreicht hätte. Nicht unerwähnt bleiben dürfen dabei zwar die jüngsten Reaktionen der Festung Europa und ihrer Verteidiger_innen: Nach einer anfänglichen Willkommens-Solidarität wird wieder restriktiver und repressiver auf die Fliehenden reagiert. Obergrenzen, Hotspots an den Außengrenzen der EU, Asylrechtsverschärfung: Die Stimmung hat sich gewendet. Und dennoch haben es die Geflüchteten geschafft, wenn auch nur für einen kurzen Zeitraum, das ge3 Tom Holert, „Politik des Sehens“, in: Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst 37/2015, S. 8f., hier S. 8. 4 Der Begriff Refugees wird zumeist im Kontext von politischen Bewegungen verwendet und dient an dieser Stelle dazu, Geflüchtete als politische Akteur_innen zu benennen. Er soll zudem der häufig verwendeten Selbstbezeichnung von Aktivist_innen Rechnung tragen.

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setzliche Gefüge von Grenzregimen auf die Probe zu stellen, aktiv auf seine (un-)menschlichen Konsequenzen hinzuweisen und letztlich auch wieder an den veränderlichen Charakter von Gesetzen zu erinnern. Die Selbstorganisierung von Refugees nimmt in den skizzierten Fällen eine zentrale Bedeutung ein: Ein wenngleich auch wohlgemeintes paternalistisches Fürsprache-Halten von nicht-geflüchteten Aktivist_innen würde die Anerkennung von Geflüchteten als eigenaktive Subjekte wiederum hinterfragen. Dennoch muss betont werden, dass die Grenzen zwischen Solidarität und Stellvertreter_innentum fließend sind. Häufig ist es nötig, pragmatische (z. B. sprachliche) oder politisch-strategische Fragen („Wer kann sich wo leichter Gehör verschaffen?“) zu bedenken. Doch nicht nur im realpolitischen Geschehen ist Teilhabe ein umkämpftes Terrain. Auch in der weiteren Sphäre des Politischen sowie im künstlerischen Bereich – und all ihren Zwischenräumen – stellt sich die Frage von (Re-)Präsentation. Dort, wo sich emanzipatorische Ansprüche mit der eigenen künstlerischen Arbeit verbinden, ergeben sich oft eine Reihe von Unsicherheiten und Fragen. Die Frage nach Einzelfall und Verallgemeinerung beispielsweise, die immer auch mit Fragen der Zurschaustellung einer individuellen Geschichte, mit Fragen des Umgangs mit Emotionen und damit auch ethischen Fragen verbunden ist. Abgesehen davon, scheint die Krux dieses Spannungsverhältnisses zu sein, inwiefern eine singuläre Geschichte für die vielen weiteren ungehörten Geschichten stehen kann und darf. Repräsentiert eine geflüchtete Person eine ganze Gruppe? Eine Frage, die sich beispielsweise an das Stück Lost and Found von Yael Ronnen binden ließe: Ein ferner Verwandter flieht aus dem Irak und bringt von einem Tag auf den anderen das Leben seiner in Österreich lebenden Verwandten durcheinander. Wir hören die Geschichte eines einzelnen Geflüchteten, aber für wen spricht er? Natürlich ließe sich fragen, warum der Mensch oder die verkörperte Figur überhaupt für jemand anderes stehen sollte als für sich selbst. Aber gerade, wenn das Merkmal Geflüchteter so präsent, so bedeutend ist, wird oft erwartet, dass die gesehene Person mit ihrer Geschichte repräsentativen Charakter hat.5 Paradigmatisch für die Problematik von Selbst- und Stellvertreter_innentum und damit für die Frage von Präsentation und Repräsentation steht auch Elfriede Jelineks Text Die Schutzbefohlenen beziehungsweise dessen Inszenierung über 5 Die Tendenz, Geflüchtete vorrangig als Geflüchtete zu sehen, schlägt sich im Übrigen auch sprachlich in der verbreiteten Bezeichnung ,Flüchtling‘ nieder. Geflüchtete werden in dieser Bezeichnung zu einer Projektionsfläche und zu Repräsentant_innen von allem, was sich unter Flucht und der Lage von Geflüchteten vorgestellt wird. Die anderen Eigenschaften einer Person rücken damit zumindest temporär in den Hintergrund. Aus diesem Grund wurde hier zumeist auf den etwas sperrigen Begriff ,Geflüchtete_r‘ zurückgegriffen, weil es den attributiven Charakter des Geflüchtet-Seins stärker akzentuiert.

Politiken der Sichtbarkeit im Kampf um die Rechte Geflüchteter

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das Theater- und Geflüchteten- Hilfsprojekt Die schweigende Mehrheit sagt JA! Jelineks Text ist zum Teil aus der Perspektive von Geflüchteten geschrieben; während der Performance wird der Text meist von Theatermacher und Schauspieler Bernhard Dechant in der Figur eines ORS-Mitarbeiters vorgesprochen, während die zur Gruppe zusammengedrängten Geflüchteten nur nachsprechen. Gleichsam ließe sich in der Inszenierung aber auch eine Persiflage der eben skizzierten realpolitischen Verhältnisse lesen, zumal Dechant als ORS-Mitarbeiter auch als Symbol einer nicht zu leugnenden österreichischen Erwartungshaltung an die Geflüchteten gelesen werden kann: Er gibt ihnen vor wie sie zu sein hätten. Das Stück spielt so mit Verallgemeinerungen und spitzt freilich zu, es reproduziert aber auch Passivität, was Dechant selbst in einem Vortrag zu bedenken gibt. Weiter spricht Dechant beispielsweise auch von der Schwierigkeit der Umsetzung der im Stück integrierten Interviews, in denen einzelne Geflüchtete ihre Geschichten erzählen: Wer soll erzählen? Besteht die Gefahr, wieder bestimmte Bilder und Verallgemeinerungen im Publikum zu evozieren, wo die Geschichten doch nur exemplarischen Charakter haben sollen? Was, wenn das Selbstbestimmungsrecht der Geflüchteten mit der zu erwartenden Reaktion des Publikums konfligiert? Die Antworten auf diese Fragen sind lange nicht eindeutig. Deutlich wird, dass Modi des Sehens und Gesehen-Werdens auch in der künstlerischen Sphäre politischen Charakter haben und in ihnen Fragen von Teilhabe und (Re-)Präsentation verhandelt werden. Viele Kunst- aber auch andere Projekte, die von emanzipatorischen und solidarischen Haltungen gegenüber Geflüchteten getragen werden, haben sich darum verdient gemacht, mit einer gewissen Sensibilität und gewissem Scharfsinn auf eine Reihe subtiler Mechanismen aufmerksam zu machen, über die Ungleichheiten und asymmetrische Repräsentationsweisen reproduziert werden. Sie dienen als Verhandlungsplatz wichtiger Fragen und Unsicherheiten im Umgang mit oder der Darstellung von Geschichten Betroffener. Im Gegensatz dazu stellen sich die öffentlichen und als explizit politisch auftretenden Kämpfe als Räume dar, die viel schnellere und einschneidendere Konsequenzen zeitigen. Theater erhält damit eine zwiespältige Position: Einerseits kann es in klassischer Diktion als konsequenzverminderter Raum einen Rahmen bieten, in dem in aktiver Auseinandersetzung mit und von Geflüchteten oder anderen Betroffenen gemeinsame Praxen des Sehens und Gesehen-Werdens entwickelt werden. Wie anhand der Gruppe der schweigenden Mehrheit illustriert, müssen diese Praxen nicht isoliert im Theaterraum verbleiben: Die schweigende Mehrheit geht auch in den öffentlichen Raum, positioniert sich zur „Flüchtlingsmisere“ und bietet konkrete Unterstützung für die geflüchteten Mitglieder ihres Theaterensembles. Darüber hinaus kann das Theaterereignis die aktive Auseinandersetzung mit einem Thema initiieren und damit über die Vorstellung hinaus Wirksamkeit

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Katharina Danner

entfalten. Synergie-Effekte zwischen Theater und Politik sind hier schon gelebte Praxis. Gerade wenn es aber um die Sichtbarkeit von marginalisierten Positionen geht, muss auf die andere Seite der Konsequenzverminderung im theatralen Raum hingewiesen werden. Zwar wird hier ein Raum zur Verhandlung der Thematik gegeben, allerdings ist dieser Raum eben auch ein explizit als solcher deklarierter. Die Verhandlung der Situationen von Geflüchteten wird in einen spezifischen und isolierten Raum verwiesen, der nur über den Übertritt einer bestimmten Schwelle einsehbar wird. In einem krassen Gegensatz dazu stehen jene Konsequenzen, die die pure Präsenz von Geflüchteten im öffentlichen Raum für diese oft nach sich zieht. Man denke nur an das persönliche Risiko, das Geflüchtete mit ihrem politischen Aktivismus eingehen.6 Aber auch Aufenthaltsregelungen, Wohnsitzverordnungen oder die DublinRegelungen können als Beispiele der Restriktion öffentlicher, freier Präsenz und Artikulation innerhalb des Asylrechts gesehen werden. Sie haben massive psychische wie physische Auswirkungen auf das Leben Betroffener. Diese Differenz muss im Hinterkopf behalten werden, um die Wirkung künstlerischer Projekte nicht zu überschätzen. Wird sie aber gesehen, können durchaus auch Überschneidungen und sinnvolle Verbindungen von künstlerischen und politischen Praxen herausgearbeitet werden. Auch über das Theater können die Geschichten Geflüchteter Eingang in gesellschaftliche Sphären finden. Weiter kann gerade das Theater als zentraler Ort der Präsentation und Repräsentation einen Rahmen für die Verhandlung von politischen Praxen geben, deren Resultate wiederum in polit-aktivistische Felder einfließen können.

6 An dieser Stelle sei auch an die Ereignisse nach dem Tod von Marcus Omofuma im Jahr 1999 erinnert, der bei seiner Abschiebung erstickte, nachdem ihn Polizist_innen zur Ruhigstellung gefesselt hatten. Die vornehmlich aus Afrika stammenden Aktivist_innen, die sich im Nachgang dieses Vorfalles politisch gegen Rassismus engagierten, wurden verstärkt Ziel polizeilicher Ermittlungen und Repressionen im Kampf gegen „Drogenkriminalität“, die in der Operation Spring gipfelten.

Melina Marcher

Verletzte Grenzen der Identität

Grenzen sind (un-)sichtbare Materialisierung von Machtstrukturen, von Mechanismen des Ein- und Ausschlusses. Sie trennen das Eine vom Anderen, treffen so eine Zuordnung und werden konstitutiv für Identität, Selbst- und Fremdwahrnehmung. Nationale Identitäten werden durch Grenzen mitbestimmt und stärken somit nationale Herrschaftsansprüche. Mit der Nation wird eine nationale Identität konstruiert, die sich stark an den Pass knüpft. Gin Müller sprach in seinem Vortrag über Grenzverletzer_innen diese Aspekte an,1 die für mich jedoch unbeantwortete Fragen aufwerfen: Wenn Menschen sich selbst über Grenzen definieren, die Grenzen ihres Selbst, ihrer Zugehörigkeit, ihrer Nation – was bedeutet das für die Identität jener, die Grenzen überschreiten, verletzen, ignorieren? Für jene ohne Pass? Was geschieht mit der eigenen Identität, wenn Grenzen nicht mehr eingehalten werden? Werden Identitäten geöffnet und von Grenzregimen gelöst oder haben wir es nur mit der anderen Seite derselben Medaille zu tun und die Identität von grenzverletzenden Menschen wird genauso über Grenzen konstruiert wie die Identität jener, die den Grenzregimen gehorchen? Um sich diesen Fragen und ihrer Beantwortung anzunähern, müssen wir erst klären, was wir unter den Begriffen Grenze und Identität verstehen und wie beide Konzepte zusammenwirken. Der Begriff der Grenze wird von unterschiedlichen Disziplinen aufgegriffen, die jeweils einen anderen Fokus legen und doch Gemeinsamkeiten in ihren Definitionen haben. In der Philosophie wird die Grenze nach Aristoteles als „der letzte Punkt eines Dinges, jenseits dessen es keinen Teil des Dinges gibt, diesseits dessen alle Teile des Dinges sind“2 verstanden. Damit steht die Grenze bereits in engem Zusammenhang mit einerseits der Ordnungsfunktion von Grenzen, damit verbunden aber auch mit Identität und Zugehörigkeit: Auf derselben Seite 1

Gin Müller, „Grenzverletzer_innen und aktivistische sowie künstlerische Praktiken“, Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung Flucht Migration Theater, Universität Wien am 16. 11. 2015. 2 Marco Bonato, „Grenze“, in: Peter Prechtl / Franz-Peter Burkhard (Hg.), Metzler Philosophie Lexikon. Stuttgart / Weimar 21999, S. 220.

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Melina Marcher

der Grenze sind Teile eines gemeinsamen Ganzen, an der Grenze endet dieses Ganze, beginnt somit etwas Anderes. Auch Hegel sieht die Grenze als „innere Bestimmtheit des Etwas, das sich damit von seinem Anderen abscheidet und sich zugleich mit ihm zusammenschließt“3 und betont so Aspekte von Zugehörigkeit und Identität. Einen weiteren Fokus legt die Philosophie auf den Aspekt der Wahrnehmung, der wieder eng verbunden mit Selbst- und Fremdwahrnehmung und so auch Identität ist. Die Grenzen des Dinges sind die Voraussetzung für seine Wahrnehmbarkeit.4 In Definitionen anderer Fachrichtungen finden sich diese grundlegenden Aspekte der Ordnung, Zugehörigkeit, Wahrnehmung und Identitätsstiftung wieder. Die Psychologie sieht Grenzen als „Kriterium der Gliederung der phänomenalen Welt“,5 die Kulturwissenschaft legt den Fokus auf die Konstruktion kollektiver Identitäten und die Zurückweisung des Anderen.6 Hier zeigt sich bereits, dass Grenzen kaum ohne die Identitätsfrage gedacht werden. Gehen wir nun zur Identität über – wird sie in Grenzen gedacht? Identität wird im Duden definiert als „Echtheit einer Person od. Sache; völlige Übereinstimmung mit dem, was sie ist od. als was sie bezeichnet wird“.7 Hier ergibt sich bereits ein philosophisches Problem. Das Sein, somit die Identität einer Person, können wir nie ganz erfassen, uns ihr nur annähern – wiederum über unsere Wahrnehmung. Die Psychologie definiert Identität als „die Art und Weise, wie Menschen sich selbst […] in der ständigen Auseinandersetzung mit ihrer sozialen Umwelt wahrnehmen und verstehen“.8 Wichtig sind dafür unter anderem Zugehörigkeiten wie Nationalität (die sich durch Grenzen mitkonstruiert), sozialer Status oder Geschlecht. Identitäten erfolgen in Wechselwirkung von Selbstwahrnehmung und Rückmeldungen des sozialen Umfeldes.9 Somit sind Eigen- und Fremdwahrnehmungen zentral für die eigene Identitätsbildung. Die Wahrnehmung eines Menschen stellt im Wesentlichen fest, wo ein Mensch anfängt und wo er aufhört, was zu ihm gehört und wozu er gehört. Hiermit sind wir wieder bei der Aristotelischen Definition von Grenzen: Die 3 Ebd. 4 Ebd.: „die Substanz als G[renze] bzw. Bedingung der Erkenntnis des Dinges“. 5 Gerhard Kaminski, „Grenze“, in: Markus Antonius Wirtz (Hg.), Dorsch Lexikon der Psychologie, Bern 172014, S. 683f. 6 Michael C. Frank, „Grenze / Grenzziehung“, in: Ansgar Nünning (Hg.), Metzler Lexikon Literatur und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, Stuttgart / Weimar 22013, S. 282f. 7 Lemma „Identität“, in: Dudenredaktion (Hg.): Duden. Deutsches Universal-Wörterbuch. Das umfassende Bedeutungswörterbuch der deutschen Gegenwartssprache. Mannheim 62007, S. 866. 8 Gabriele Lucius-Hoene, „Identität“, in: Markus Antonius Wirtz (Hg.), Dorsch Lexikon der Psychologie, Bern 172014, S. 759. 9 Vgl. ebd.

Verletzte Grenzen der Identität

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Identität des Menschen bestimmt sich über die Grenzen, innerhalb derer er sich bewegt: seien es Grenzen der eigenen Sexualität, Werte, sozialen Stellung oder Nation. Nationale Grenzen sind zugleich der Ort der Identitätskontrolle: Die Grenze selektiert und definiert jene, die sie passieren wollen, die sie ein- oder ausschließt.10 Christopher Pollmann beschreibt das Verhältnis von Identitäten und Grenzen folgendermaßen: Da Individuen und Kollektive weder homogen noch stabil, sondern inhaltlich letztlich leer sind, gibt es nämlich keine interne, materielle Grundlage für Identität. […] [Die Grenze] trennt nicht nur das Individuum bzw. die Gruppe von der jeweiligen Umwelt, sondern errichtet dadurch auch eine Schranke um die eigene Leere, d. h. Substanzlosigkeit, die auf diese Weise dem Bewusstsein verborgen bleibt.11

Abgrenzung müsse deshalb umso „intensiver und aggressiver“ betrieben werden, „je stärker die Suche nach Identität ist“.12 So wird bei Pollmann die nationale Identität nicht zu einem Nebenprodukt der Nationalgrenze, umgekehrt ist der Zweck der Grenze vielmehr die Erhaltung und Sicherung der nationalen Identität. Grenze und Identität lassen sich nur gemeinsam denken, was zu unserer ursprünglichen Fragestellung zurückführt: Was bedeutet dieses Zusammenspiel aus Abgrenzung und Identität für Grenzverletzer_innen? Wie werden sie definiert und wie definieren sie sich selbst? Wie erwähnt, betont die Psychologie das Wechselspiel aus Selbst- und Außenwahrnehmung. Für die Fremdwahrnehmung sind meiner Meinung nach zwei Faktoren ausschlaggebend: Warum wurde die Grenze überschritten und von welchem Grenzverständnis wird ausgegangen? Geht es um eigene Bereicherung oder Hilfestellung? Werden Grenzen als Grundlage der eigenen Identität gesehen oder als Einschränkung? Je nachdem werden Grenzverletzer_innen zu Helden, Heldinnen und Helfenden oder zu Kriminellen und Mitschuldigen. Sie bewegen sich zwischen „Subversion und Affirmation von Souveränität“.13 Sie stellen Grenzregime in Frage, umgehen Barrieren und bewirken damit eine Verstärkung des Grenzschutzes.14 Von außen werden diese Handlungen meist stark negativ oder stark positiv besetzt. Die 10 Auch hierauf geht Gin Müller kurz in seinem Vortrag ein, vgl. Fußnote 1. 11 Christopher Pollmann, „Globalisierung und Atomisierung. Zur Individualisierung von Grenzen durch Recht, Uhrzeit und Geld (mit angehängter Auswahlbibliographie zur Grenze)“, in: Christoph Kleinschmidt / Christine Hewel (Hg.), Topographien der Grenze. Verortungen einer kulturellen, politischen und ästhetischen Kategorie, Würzburg 2011, S. 117–146, hier S. 120f. 12 Vgl. ebd., S. 121. 13 Eva Horn / Stefan Kaufmann / Ulrich Bröckling (Hg.), „Einleitung“, in: Grenzverletzer. Von Schmugglern, Spionen und anderen subversiven Gestalten, Berlin 2002, S. 7–22, S. 10. 14 Vgl. ebd., S. 8ff.

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Melina Marcher

einen fürchten um die Grenze wie um ihre eigene Identität, die anderen fühlen sich von nationalen Identitäten eingeengt und bejubeln die Grenzüberschreitung. Doch in beiden Fällen werden Grenzverletzer_innen auf den Akt der Grenzverletzung reduziert und nicht als Menschen mit unterschiedlichen Fähigkeiten, Eigenschaften und Zugehörigkeiten wahrgenommen. Die Identität von Grenzverletzer_innen wird auf die Grenze limitiert. Komplizierter ist die Frage, wie sich Grenzverletzer_innen selbst wahrnehmen, denn die Antworten werden von Mensch zu Mensch unterschiedlich ausfallen. Ich will mich nun auf Geflüchtete beschränken.15 Jene Geflüchteten, die ich bis jetzt getroffen habe, nahmen sich nicht als Grenzverletzer_innen war. Sie definieren sich nach denselben Zugehörigkeiten wie jene, die innerhalb der Grenzen bleiben: als Frauen und Männer, jung oder alt, muslimisch oder christlich, afghanisch oder syrisch, Professor_in oder Tischler_in. Das Wort „Flüchtling“ ist ihnen nach einem halben Jahr Deutschkurs und einem Jahr in Österreich noch immer nicht bekannt, das englische „refugee“ hat für sie nicht viel mit ihrer Identität zu tun und mehr mit bürokratischen, rechtlichen Problemen. Ähnlich wie ich mich nicht der Wiener Gebietskrankenkasse oder dem Magistrat an der rechten Wienzeile zugehörig fühle. Wie werden hier eigene und fremde Wahrnehmung abgeglichen? Diese Menschen spüren, wie sie wahrgenommen werden. Gerade ihr Fremd-Sein ist ihre Zugehörigkeit im fremden Land. Sie spüren, wie sie nach Mechanismen eingeordnet werden, die sie nicht ganz verstehen, weil sie sich nicht mit ihrer Selbstwahrnehmung decken. Sie definieren sich also nicht mehr bloß über Nationalität, vielmehr sind sie einer fehlenden Zugehörigkeit zugehörig. So entstehen Grenzen innerhalb der Gesellschaft, zwischen Stadtteilen, Sprachen, zwischen dem einen und dem anderen Menschen. Grenzverletzer_innen nehmen die Grenze mit. Sie tragen sie in sich und helfen so unfreiwillig, nicht nur Grenzen zu brechen, sondern auch sie auszuweiten. Solange Grenzregime weiter bestehen, ist eine völlige Loslösung der Identität von ihnen utopisch. Doch bleibt Identität eine Frage der Wahrnehmung. Deshalb ist es wichtig, Menschen sich selbst definieren zu lassen, sie sprechen zu lassen und so ihre Selbstwahrnehmung öffentlich zu machen – sodass sich die öffentliche Wahrnehmung, wenn auch nicht revidiert, doch zumindest erweitert.

15 Ich möchte hiermit keine Verallgemeinerungen treffen, sondern beziehe mich auf jene Menschen, die ich kennengelernt habe.

Barbara Schneider

Beim Sprechen und Schreiben handeln. Gendern – aber wie jetzt?*

Abb. 1: Gegendertes Studentenfutter?

Durch die Mitarbeit an dieser Publikation haben wir Student_innen die Möglichkeit bekommen, Essays von anderen Studierenden zu lektorieren und zu korrigieren. Das bedeutete eine intensive Auseinandersetzung mit dem Medium „Text“. Gleichzeitig bot es die Chance, den eigenen Schreibstil weiterzuentwickeln und zu verbessern. Für mich war es das erste Mal, dass ich an einer wissenschaftlichen Publikation mitarbeiten und dabei miterleben konnte, wie so etwas im Hintergrund abläuft und was es alles zu beachten gibt. Relativ schnell wurde die Frage nach dem Gendern diskutiert. Wie gendert * Dieser Text wurde am 07. 07. 2016 als Blogbeitrag an der Universität Wien veröffentlicht. (http://blog.univie.ac.at/beim-sprechen-und-schreiben-handeln-gendern-aber-wie-jetzt/).

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Barbara Schneider

man „richtig“? Welche Variante schließt alle Personen mit ein und niemanden aus? Und welche Art des Genderns passt in den jeweiligen Text? In einer Publikation wie dieser, in der besonders darauf geachtet wird, keine (auch unbewusst) diskriminierenden oder herabwürdigenden Begriffe zu verwenden, spielt auch die Wahl der Gender-Form eine wichtige Rolle. Es sollen alle Personen sprachlich sichtbar gemacht und gleichwertig benannt werden. In meinen vorherigen wissenschaftlichen Arbeiten an der Universität habe ich das Gendern nicht immer einheitlich durchgezogen. Oft habe ich die Paarform verwendet (die Studentinnen und Studenten), das Binnen-I (die StudentInnen) oder den Schrägstrich (der/die Student/in), ohne viel darüber nachzudenken. Ich habe schnell gemerkt, dass eine intensivere Auseinandersetzung einen zum Nachdenken bringt: Wo möchte ich mich theoretisch verorten und wen möchte ich miteinbeziehen beziehungsweise sichtbar machen? So entsteht langsam ein Konzept, dass das geschlechtergerechte Formulieren in den eigenen Texten erleichtert. Beginnt man zu recherchieren, kommen plötzlich GenderAlternativen zum Vorschein, die Möglichkeiten abseits einer binären Geschlechterstruktur bieten. Schon einmal von der x-Form oder dem dynamischen Unterstrich gehört? Ich bis vor kurzem jedenfalls nicht.

Abb. 2: Vielfältige Gender-Alternativen.

Beim Sprechen und Schreiben handeln. Gendern – aber wie jetzt?

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Einx Studierx schreibx einx Text Professx Lann Hornscheidt beschäftigt sich in dem Buch feministische w_orte unter anderem mit Formen, die nicht nur Frauen und Männer miteinbeziehen, sondern die Möglichkeit zur Dekonstruktion des Geschlechts bieten. Hornscheidt schlägt die x-Form vor, eine Variante für eine geschlechtsneutrale Bezeichnung. Hierbei wird ein x an den Verbstamm oder an einen anderen Teil eines Wort angehängt, ausgesprochen wird es „iks“. Steht das x allein, kann es das Wort „man“ ersetzen. Hornscheidt betont, dass diese Form nur ein Vorschlag und nicht dazu gedacht ist, überall und immer angewendet zu werden. Sie dient vielmehr als eine Ergänzung zu den bestehenden Formen und soll dazu anregen, einen kreativen Umgang mit Sprache zu schaffen und die eigene Sprachhandlung zu reflektieren. Vor allem Personen, die sich nicht als männlich oder weiblich verstehen und sich deshalb in den bestehenden Gender-Varianten nicht angesprochen fühlen, wird hier eine Möglichkeit geboten, sich sichtbar zu machen und kritisch zu verorten. „die x-form ist […] eine möglichkeit, kategorialgenderung sprachlich zu irritieren und eine kritik an kategorialgenderung sprachlich umzusetzen“,1 so Hornscheidt.

Dyn_amisch wande_rnder Gend_er Gap Eine Alternative zu dem statischen Unterstrich, auch als Gender Gap bekannt (der_die Student_in) ist der dynamische Unterstrich, welcher an einer beliebigen Stelle eingefügt wird, zum Beispiel so: die_r Studenti_n. Im Gegensatz zum statischen Pendant fällt das Problem weg, dass die Teilung von männlicher und weiblicher Form durch den Unterstrich betont wird: „das wandern des unterstrichs durch ein wort macht deutlich, dass es nicht einen festen ort gibt, an dem ein bruch in zweigenderung stattfindet“.2 Die Sternchen-Form funktioniert ähnlich, das Sternchen (Asterisk) wird dynamisch oder statisch an Wörter oder Wortstämme angehängt und lässt somit mehrere Bedeutungsmöglichkeiten offen, zum Beispiel: der*die student*in oder de*rdie studenti*n. Das Sternchen kann auch an Begriffe angehängt werden, zur Sichtbarmachung der Infragestellung eines hinter dem Begriff stehenden, konventionellen Konzepts, zum Beispiel: Demokratie* und Bildung*.

1 Lann Hornscheidt, feministische w_orte. ein lern-, denk- und handlungsbuch zu sprache und diskrminierung, gender studies und feministischer linguistik, Frankfurt/Main 2012, S. 295. 2 Hornscheidt, feministische w_orte, S. 303f.

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Barbara Schneider

Mut zur sprachlichen Kreativität Es gibt nicht die einzig richtige Gender-Form, das betont auch Hornscheidt immer wieder. Die vorgestellten Formen dienen dazu, selbst einmal darüber nachzudenken, was es für unterschiedliche Möglichkeiten gibt, mit Gendern und Sprache allgemein umzugehen. Ein Ausprobieren verschiedener Gender-Varianten fordert somit zur Reflexion auf und ermöglicht eine kreative Auseinandersetzung mit Sprache, die unsere festgefahrenen Denkweisen ein wenig aufrütteln kann. Ich stoße allerdings auch immer wieder auf Argumente gegen das Gendern. Es sei überflüssig und störe den Lesefluss, zu kompliziert, zu irritierend. Aber wozu sollte auf dem generischen Maskulinum beharrt werden,3 wenn sich dabei andere Personen nicht angesprochen fühlen, nicht miteinbezogen werden, unsichtbar bleiben? Sprache befindet sich in ständiger Veränderung und das schon immer. Unser Wortschatz ändert sich laufend, Wörter, die bis vor ein paar Jahren nicht in unserem Sprachgebrauch waren, verwenden wir heutzutage ständig (ich denke hier zum Beispiel an englische Begriffe wie „Selfie“ oder „Hashtag“). Sprache bestimmt gleichzeitig die Vorstellungen und Werte unserer Gesellschaft mit. Dass Sprache die Macht hat, unser Denken und damit auch unser Verhalten zu beeinflussen, ist unumstritten. Dass es ein langandauernder Prozess sein wird, auf mehreren Ebenen in die sprachliche Unsichtbarmachung und Diskriminierung zu intervenieren, auch. Vorschläge wie die x-Form oder der dynamische Unterstrich bieten die Möglichkeit, sich sprachlich auszuprobieren und schaffen damit Platz für neue, geeignetere Varianten. Die vielen wissenschaftlichen Arbeiten, die ich innerhalb meines Studiums bereits schreiben musste und voraussichtlich noch schreiben werde, bieten einen Raum für solche Sprachexperimente. Wir haben uns übrigens in der Publikation im Endeffekt für den Gender Gap entschieden. Der Gender Gap macht auch die weibliche Form sichtbar und zugleich bietet er als „Gap“ einen Raum für Personen, die sich weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zugehörig fühlen. Weitere Alternativen bieten zum Beispiel das Generische Femininum, die Neutralisierung und die yke/tryke-Form, die ich hier nicht ausführlicher beschrieben habe.4 3 Vgl. Elke Heise, „Sind Frauen mitgemeint? Eine empirische Untersuchung zum Verständnis des generischen Maskulinums und seiner Alternativen“, in: Sprache und Kognition 2000/19, S. 3–13. 4 Leitfäden für einen geschlechtergerechten bzw. nicht-diskriminierenden Sprachgebrauch: vgl. Mareen Hauke und Rosemarie Schöffmann, „Geschlechtergerechter Sprachgebrauch. Ein Leitfaden von Studierenden“, Folder, April 2014, http://www.uni-klu.ac.at/gender/downloads/ A3Folder_Geschlechtergerechter_Sprachgebrauch.pdf, [21. 07. 2016]; Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur, „Geschlechtergerechtes Formulieren“, 32012, https://www.bmbf. gv.at/ministerium/rs/formulieren_folder2012_7108.pdf?4e4zxz [21. 07. 2016]; Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit, „Leitfaden fu¨r einen nicht-diskriminierenden Sprachgebrauch“, 2008, http://www.bmwfw.gv.at/Presse/Archiv/Archiv2008/Documents/Leitfaden_nicht_diskr_ Sprachgebrauch.pdf [21. 07. 2016].

Sarah Auer

Repräsentation und Abwesenheit

„Wir leben. Wir leben. Hauptsache, wir leben, und viel mehr ist es auch nicht als leben nach Verlassen der heiligen Heimat.“1

Als Elfriede Jelinek 2013 Die Schutzbefohlenen schrieb, reflektierte sie damit unmittelbar und direkt die im vorangegangenen Jahr begonnenen Proteste von Schutzsuchenden aus dem Aufnahmelager Traiskirchen gegen ihre menschenunwürdige Unterbringung. Die seitdem zahlreich gewordenen Bühnenadaptionen des Textes lassen sich wie ein ideologisches Mosaik deuten; in den Projekten wird für oder gegen eine direkte Arbeit mit Schutzsuchenden entschieden, Grenzen werden gezogen und ein gesellschaftlicher Rahmen für die Aufführung (inklusive Zielpublikum) bestimmt. Jede Inszenierung hat für sich eine Reihe von Fragen zu beantworten: Wird mit den Menschen, um die es geht, zusammengearbeitet und wenn ja, in welcher Weise? Wo wird das Jemandemeine-Stimme-Geben zum Zur-Schau-Stellen? Wie kann die Beschäftigung mit Theater dabei helfen, Grenzen sichtbar zu machen und im besten Fall umzudenken? Eine von vielen Inszenierungen der Schutzbefohlenen ist die medienwirksame Adaption des Wiener Burgtheaters unter der Regie von Michael Thalheimer, welche im März 2015 prämierte.2 Sie setzt auf maximale Distanz. Es wird bewusst keine Verbindung zu tatsächlich in Österreich anwesenden Geflüchteten hergestellt und jedwede Referenzen erfolgen rein metaphorisch. Die Gesichter der Schauspieler_innen sind die meiste Zeit verhüllt, sie stehen für die anonyme Masse, als welche Schutzsuchende oft wahrgenommen werden. Die sprachliche Vorlage bleibt dabei weitgehend intakt. Einen dieser Herangehensweise entgegengesetzten Weg wählten die Übersetzungsgruppe Versatorium und das Drama 1 Elfriede Jelinek, „Die Schutzbefohlenen“, 2016, http://www.elfriedejelinek.com/ [11. 07. 2016]. 2 Vgl. Burgtheater Online, „Elfriede Jelinek. ,Die Schutzbefohlenen‘“, 2015, http://www.burg theater.at/Content.Node2/home/spielplan/event_detailansicht.at.php?repertoireView=true & eventid=963462761 [24. 07. 2016].

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Sarah Auer

Forum des Vereins uniT für ihr Projekt. Die Initiator_innen übersetzten den Ausgangstext gemeinsam mit Schutzsuchenden ins Urdu, Pashto, Tuschetische, Englische, Italienische, Koreanische, Arabische, Kasachische und Farsi, die deutschsprachige Vorlage dabei zu einem vielfältigen Stimmengeflecht weiterformend. Unter dem Titel Die should sea be fallen in wurde die Arbeit in Rezitation und Gesang auch als Performance inszeniert.3 Einer reflektierten Inszenierung der Schutzbefohlenen muss eine eingehende Auseinandersetzung mit Sprachlichkeit vorausgehen. Wie kann – auch über sprachliche Barrieren hinweg – eine Annäherung an menschliche Erfahrungen gelingen? Wie werden diese Erfahrungen übersetzt, verständlich gemacht und auf der Bühne dargestellt? Es geht um eine bewusste Entscheidung für eine oder mehrere Sprachen und die Art ihrer Vermittlung, bedeutet weiters: Darum, wer für sich selbst sprechen darf und für wen gesprochen wird. Im Fall der erwähnten Inszenierungen wurde für das Projekt Die should sea be fallen in vermutlich der beschwerlichere, bestimmt aber der respektvollere Weg gewählt. Wo zum Thema Flucht inszeniert wird, werden Schutzsuchende auf der Bühne repräsentiert oder sind selbst präsent; sie erscheinen teils als anonyme Masken, wie in der Inszenierung am Burgtheater, dann wieder als einzelne – im wahrsten Sinne des Wortes reale – Menschen, wie im Projekt von Versatorium und Drama Forum. Was es aber überhaupt bedeutet, auf der Flucht zu sein, was einen Menschen zum „Flüchtling“ macht, kann definitorisch kaum festgemacht werden, selbst die Genfer Flüchtlingskonvention bleibt in ihren Formulierungen undeutlich.4 Die Literaturwissenschaftlerin Eva Horn meint, Schutzsuchende werden in erster Linie über das offenbare Fehlen einer gesellschaftlichen Identität wahrgenommen, über die Abwesenheit eines sozialen Status’. In den Augen regulierender (über-)staatlicher Instanzen werde das Ich zum bloßen Leben; das primäre Ziel der meisten Schutzsuchenden sei es darum, sich die eigene Existenz zurückzuerarbeiten und so schnell wie irgend möglich wieder zum_r Bürger_in zu werden.5 Denn so selten diese Tatsache im Alltag auch ins Bewusstsein gerufen wird, realpolitisch ist es die überprüfbare und feststellbare Identität, materialisiert in den Papieren und im Pass, die die Anwesenheit eines Körpers an einem bestimmten Ort rechtfertigt.6 Bertolt Brecht urteilte in seinen Flüchtlingsgesprächen:

3 Vgl. Peter Waterhouse / Edith Draxl (Hg.), Die should sea be fallen in, Programmheft 2015. 4 Vgl. Eva Horn, „Der Flüchtling“, in: Grenzverletzer. Von Schmugglern, Spionen und anderen subversiven Gestalten, Berlin 2002, S. 23–40, hier S. 29. 5 Vgl. ebd., S. 30f. 6 Vgl. ebd., S. 25.

Repräsentation und Abwesenheit

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Der Paß ist der edelste Teil von einem Menschen. Er kommt auch nicht auf so einfache Weise zustand wie ein Mensch. Ein Mensch kann überall zustande kommen, auf die leichtsinnigste Art und ohne gescheiten Grund, aber ein Paß niemals. Dafür wird er auch anerkannt, wenn er gut ist, während ein Mensch noch so gut sein kann und doch nicht anerkannt wird.7

Der Pass macht in der Grenzpolitik die Menschen aus, er bestimmt, wohin und wie weit Bewegung zugelassen wird – die Verortung ist wichtig, die Nachvollziehbarkeit des Standortwechsels, die offizielle Registrierung. Erste Bedingung dieser Reglementierung ist die Grenze. Von ihr geht eine reale Macht aus, die nur schwer übergangen werden kann: „Praktisch funktionieren Grenzen als Selektionsmaschinen, welche die Unterscheidung ,durchlassen – nicht durchlassen‘ prozessieren: Sie regeln, welche Menschen und Sachen in ein Staatsgebiet hinein- oder aus ihm herausdürfen, welche herausmüssen und welche nicht“.8 Interessen einzelner Länder können so über das Weiterkommen tausender Staatenloser bestimmen; wenn durch politische Entscheidungen Bewegung unterbunden wird, haben die Körper sich zu fügen. Um einen ungeregelten Übergang von einem Gebiet ins andere zu verhindern, werden – vor allem der Abschreckung dienende – sichtbare Grenzmedien wie Zäune mit Techniken des Tracking und der visuellen Überwachung kombiniert und kontinuierlich adjustiert.9 Grenzen sind da, um zu regulieren, Daten und Waren ebenso wie Menschen. Sie wirken auf diese Weise nicht nur zwischen Nationalstaaten, sondern auch in jeder sozialen Realität und im kulturellen Bereich: in der Literatur, im Film, am Theater. Jede Gemeinschaft, sei sie staatlich, regional, kulturell oder religiös definiert, formiert sich auch über Gesten der Ein- und Ausgrenzung. In der Repräsentation Schutzsuchender auf der Bühne entdecken sich einige dieser Grenzen – sie werden unter anderem dort offenbar, wo überlegt wird, ob es nicht ein Zur-Schau-Stellen von Menschen sei, wenn diese für sich selbst sprechen. Eine Inszenierung der Schutzbefohlenen lässt sich nicht vom Kontext isolieren, sondern trägt intrinsisch viele Diskurse in sich: Welche Arten von Grenzen werden auf-/abgebaut? Welche Regeln werden für oder gegen wen geltend gemacht? Wenn grundlegende Fragen kulturell reflektiert werden, wer hat dann Zugang zu den Ergebnissen dieser Reflexion? Meist davon ausgeschlossen sind die Menschen auf der Flucht, über die schlicht hinweggesprochen 7 Bertolt Brecht, Flüchtlingsgespräche. Frankfurt/Main 1998, S. 7. 8 Vgl. Eva Horn / Stefan Kaufmann / Ulrich Bröckling, „Einleitung“, in: Grenzverletzer. Von Schmugglern, Spionen und anderen subversiven Gestalten, Berlin 2002, S. 7–22, hier S. 7. 9 Vgl. Hedwig Wagner, „(Supra-)Nationalstaatliche Grenze, elektronischer Raum und globale Medienkommunikation“, in: Dorit Müller / Sebastian Scholz (Hg.), Raum, Wissen, Medien. Zur raumtheoretischen Reformulierung des Medienbegriffs, Bielefeld 2012, S. 105–125, hier S. 115.

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Sarah Auer

wird. Oder, in den Worten der Schutzbefohlenen: „Wir sind gar nicht da. Wir sind gekommen, doch wir sind gar nicht da“.10

10 Jelinek, „Die Schutzbefohlenen“.

Nadine Damblon, Imke S. Pioch und Stefanie Schimanski de Lima unter Mitarbeit von Antonio Zapata

Bewegliche Begriffe

„Sprache ist ambivalent: Sie kann als Mittel hegemonialer Disziplinierung und Gewalt eingesetzt werden, ist aber das grundlegende Mittel der Zivilisierung des Menschen“,1 schreibt die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann. Diese Potenzialität von Sprache hat uns dazu veranlasst, die Begriffe zu untersuchen, welche den Weg der Menschen nachvollziehen, die ihre Heimat verlassen mussten. In diesem Beitrag unterziehen wir Bedeutungen und Auslegungen von Begriffen, die diese Spur beschreiben – Migration, Flucht, Exil, Asyl – einer kritischen Reflexion. Dem deutschen Sprachgebrauch stellen wir als Relativierungsversuch eine spanischsprachige Perspektivierung bei.

Heimat Nach dem Etymologischen Wörterbuch des deutschen Sprachwissenschaftlers Friedrich Kluge findet „Heimat“ seit dem 11. Jahrhundert Verwendung.2 Im Herkunftswörterbuch des Duden wird dieser frühe Gebrauch als „Stammsitz“ beschrieben, wobei sich das Wort im Mittelhochdeutschen und Althochdeutschen aus dem Wortstamm „Heim“ gebildet hat.3 Die Form des Begriffs „heimat ist seit dem 15. Jahrhundert aus verschiedenen gegenden nachweisbar […], luther braucht diese form, ebenso kennt sie Maaler“,4 berichten die Gebrüder Grimm. Das Geschlecht des Begriffs Heimat ist ursprünglich ein neutrales gewesen, im Mittelhochdeutschen erscheint jedoch im 15. Jahrhundert das weib1 Aleida Assmann, Einführung in die Kulturwissenschaft. Grundbegriffe, Themen, Fragestellungen, Berlin 2006, S. 49. 2 Vgl. Lemma „Heimat“, in: Friedrich Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin 2002, S. 402. 3 Vgl. Lemma „Heimat“, in: Dudenredaktion (Hg.), Duden. Das Herkunftswörterbuch. Etymologie der deutschen Sprache Bd. 7, Berlin, [u. a.] 2014, S. 480. 4 Lemma „Heimat“, in: Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch Bd. 4.2.: H–Juzen, Leipzig 1877, Sp. 864.

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liche, welches bald am häufigsten benutzt wird und sich im Laufe der Jahre durchsetzt. Nach dem Grimm’schen Wörterbuch kann Heimat sowohl für ein Land/einen Landstrich, in welchem man geboren wurde, als auch für einen Geburtsort oder den Ort, an dem man ständig wohnt, stehen. In Bayern heißt „selbst das elterliche haus und besitzthum“5 Heimat. Das Christentum gebrauchte ihn auch für die Bezeichnung einer himmlischen Heimat.6 In diesem frühen Sprachgebrauch ist die örtliche Bedeutung auffallend, ebenso lässt sich die Verwendung als Rechtsbegriff erkennen. Menschen mit Heimatrecht durften sich in einer Siedlung niederlassen und einem Handwerk nachgehen. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts findet eine prägnante Bedeutungsänderung statt. Heimat entwickelt sich als Gegenentwurf zur Realität, in der sich die Menschen „entfremdet“ fühlten, verursacht durch Technisierung und Industrialisierung. Literarische Strömungen als „Heimatdichtung“ subsumiert, kennzeichnen das späte 18. und 19. Jahrhundert. Dichter wie Joseph von Eichendorff (1788–1857) setzen sich mit ihrer „Heimat“ lyrisch auseinander, dabei stehen Natur und Landschaft im Zentrum. Der österreichische Dichter Peter Rosegger (1843–1918) schildert in seinen Werken die Beschaulichkeit seiner kleinen „Waldheimat“ mit Haus, Hof und Stall, Wald, Wiese und Alm sowie den Familienmitgliedern, den Knechten, Mägden und wandernden Sonderlingen.7 Diese Romantisierungen erhalten im Zeitalter der Nationalismen eine Politisierung. Heimat wird zum Synonym von Nation und Vaterland. Im Nationalsozialismus wandelt sich dieses Synonym zu einem ideologischen Kampfbegriff. So lautet der Eintrag in Trübners Wörterbuch 1939,8 dass „zuweilen Heimat und Vaterland völlig gleich“9 erscheinen, doch dem Begriff der Heimat die politische Bedeutung fehle. Dieser Vaterlandsbegriff stand nun für etwas Negatives, den Ausschluss von Menschen.10 Der Heimatfilm der Nachkriegsjahre transportiert die Begriffsgeschichte von Heimat ungebrochen weiter. Beispielhaft sei hier der direkt nach Kriegsende produzierte österreichische Heimatfilm Echo der Berge11 genannt, in dem der 5 6 7 8

Ebd., Sp. 865. Vgl. ebd., Sp. 865f. Vgl. Wendelin Schmidt-Dengler / Karl Wagner, Peter Rosegger im Kontext, Wien 1999, S. 1. Da sich auch Lexikographen zu dieser Zeit oftmals in den Dienst der nationalsozialistischen Propaganda stellten, ist dieser und die folgenden Einträge besonders kritisch zu hinterfragen, vgl. Ulrike Haß-Zumkehr, „Wörterbücher im Dienst der NS-Propaganda“, in: Deutsche Wörterbücher. Brennpunkt von Sprach- und Kulturgeschichte, Berlin / New York 2001, S. 202–223. 9 Max Gottschalk, „Heimat“, in: Alfred Götze (Hg.), Trübners Deutsches Wörterbuch Bd. 3: G–H, Berlin 1939. 10 Vgl. Hermann Bausinger, Typisch deutsch: wie deutsch sind die Deutschen?, München 2009, S. 71. 11 Echo der Berge, R: Alfons Stummer, AT 1945.

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Antagonismus von Stadt und Land im Mittelpunkt steht. Die Stadt fungiert als Symbol für Karriere, Kälte und Enge, das Land als rettende überschaubare Welt. Menschen im Einklang mit der Natur, ein harmonisches, einfaches und ursprüngliches Leben wird suggeriert. Im vom Krieg zerstörten Österreich wurden für diesen Film „die idyllischsten Schauplätze [ausgesucht und] zu einem Klischeebild von Heimat zusammenmontiert“.12 Heimat ist ein historisch hoch aufgeladener Begriff, die wissenschaftliche Diskussion über seine potentiellen Bedeutungen ist mittlerweile weitverzweigt. Im Kontext einer empirischen Erhebung zeigt sich, dass es für „Menschen gar nicht so leicht ist, ihre […] Heimatvorstellungen in Worte zu kleiden“.13 Das Bedeutungswörterbuch des Duden führt das „Land, Landesteil oder Ort, wo jmd. [geboren und] aufgewachsen ist, woher jmd., etwas stammt“14 als Bedeutung an, wobei als Synonym „Geburtsort, Vaterland“ vorgeschlagen wird. Demzufolge steht die Vertrautheit im Vordergrund: Indem man sich etwas vertraut macht, einen bestimmten Raum (z. B. Elternhaus/Geburtsort/Landschaft, in dem das heranwachsende Individuum sich Schritt für Schritt Vertrautheit schafft) oder einen Menschen, wird diesen eine Einzigartigkeit verliehen, in welcher das individuelle Heimatgefühl begründet ist.15 Das Duden-Universalwörterbuch fügt diesem Sinngehalt noch einen weiteren hinzu, nämlich „sich durch ständigen Aufenthalt zu Hause fühl[en] (oft als gefühlsbetonter Ausdruck enger Verbundenheit gegenüber einer bestimmten Gegend), […] (ich fühle mich jetzt in Wien zu Hause, obwohl ich nicht dort geboren bin)“.16 Auch die Möglichkeit einer geistig verorteten Heimat wird genannt,17 welche Jean Am8ry als „Heimatersatz“18 bezeichnet. Der österreichische Schriftsteller Jean Am8ry (1912–1978, eigentlich Hanns Mayer), Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus und Ausschwitzüberlebender, 12 Ruth Esterhammer, „Heimatfilm in Österreich. Einblicke in ein facettenreiches Genre“, in: Stefan Neuhaus (Hg.), Literatur im Film. Beispiele einer Medienbeziehung, Würzburg 2008. S. 177–198, hier S. 178. 13 Herbert Schneider, „Heimat. ,Wohnort – Gemeinde – Landkreis. Einige empirische Befunde‘“, in: Heimat Heute, Der Bürger im Staat 33,4/1983, S. 211–217, hier S. 211. 14 Lemma „Heimat“, in: Dudenredaktion (Hg.), Duden. Deutsches Bedeutungswörterbuch, Berlin 2010, S. 480. 15 Vgl. Andrea Bastian, „Der Heimat-Begriff. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung in verschiedenen Funktionsbereichen der deutschen Sprache“, in: Helmut Henne et al. (Hg.), Reihe Linguistik Germanistik 159. Tübingen 1995, S. 24. 16 Lemma „Heimat“, in: Dudenredaktion (Hg.), Duden. Deutsches Universalwörterbuch, Berlin 2015, S. 816. 17 Vgl. ebd. 18 Vgl. Jean Am8ry, „Wieviel Heimat braucht der Mensch?“, in: Joachim Riedl (Hg.), Heimat. Auf der Suche nach der verlorenen Identität, Wien 1995, S. 12ff., S. 12. Zuerst erschienen in: Jean Am8ry, „Wieviel Heimat braucht der Mensch?“, in: Jenseits von Schuld und Sühne: Bewältigungsversuche eines Überwältigten [1966], Stuttgart 2002, S. 82–113.

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schreibt in Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten einen Text mit dem Titel „Wieviel Heimat braucht der Mensch?“. Die Erfahrung des absoluten Verlusts von jeglicher Vertrautheit, Zugehörigkeit zeigt das illusionäre Moment von Heimat auf. So konstatiert Am8ry die Existenz eines „Heimatersatz[es]“,19 welcher aus Religion, Geld, Ruhm oder Ansehen bestehen kann. Sei diese „mobile Heimat“20 nicht vorhanden, so erkenne der Mensch wie dringend er eine Heimat benötige. „[H]eimatlos“, so Am8ry, bedeute „Ordnungslosigkeit, Verstörung und Zerfahrenheit“,21 die umgebende Sinneswirklichkeit bestehe nicht länger aus deutbaren Zeichen. Für Am8ry gibt es keine „neue Heimat“, da Heimat das Kinder- und Jugendland sei, und „wer dies verloren hat, bleibt ein Verlorener“.22 Die Beschränkung des Begriffs Heimat „auf das dt. Sprachgebiet“,23 wie es im Herkunftswörterbuch des Duden zu lesen ist, wird durchaus kritisch betrachtet. So läuft für den deutschen Volkskundler und Germanisten Hermann Bausinger die oft behauptete These der Unübersetzbarkeit des Begriffs Heimat auf die Unterstellung hinaus, die Menschen entwickelten anderswo „keine besonders innige Beziehung zu dem Ort, an dem sie aufgewachsen sind oder an dem sie leben“.24 Er ist der Ansicht, bei der Übersetzbarkeit seien es weniger die allgemeinen Gefühle persönlicher Aneignung eines Ortes oder Landschaft, welche Probleme bereiten würden, sondern vielmehr die „spezifische Färbung“, die „romantischen Hypotheken“25 des Heimatbegriffs. Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive steht der Mensch als ein Kulturwesen im Zentrum, der einen sozialen Raum benötigt, den er sich in einem schöpferischen Prozess aneignen kann. „Heimat also als Gegensatz zu Fremdheit und Entfremdung, als Bereich der Aneignung, der aktiven Durchdringung, der Verlässlichkeit“,26 wie Bausinger es formuliert. Die These beinhaltet die Chance, das Unbekannte durch eine aktive Auseinandersetzung zu einer vertrauten Heimat umzuwandeln. Bei den Versuchen, diese Bedeutungseinschreibungen von Heimat ins spanische zu übersetzen, scheitern wir : Auch wenn das Wort „Heimat“ an sich Geborgenheit ausstrahlen sollte, geht von ihm eine Bedrohung aus. Der Versuch, 19 20 21 22 23

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 14. Lemma „Heimat“, in: Dudenredaktion (Hg.) Duden. Das Herkunftswörterbuch. Etymologie der deutschen Sprache Bd. 7, Berlin, [u. a.] 2014, S. 375. 24 Bausinger, Typisch deutsch, S. 72. 25 Ebd. 26 Hermann Bausinger, „Kulturelle Identität. Schlagwort und Wirklichkeit“, in: Konrad Köstlin et al. (Hg.), Heimat und Identität. Probleme regionaler Kultur, Neumünster 1980, S. 9–24, hier S. 20.

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es ins Spanische zu übersetzen bleibt vergebens: „Hogar“ bezeichnet nur das Heim (eigentlich die Kochstelle darin) und die familiäre Wärme in den eigenen vier Wänden. Ein Konzept, das zu klein für Heimat ist. „Mi pa&s“, also mein Land, ist zu weitläufig und beinhält nicht die im deutschen „Heimat“ miteinbegriffenen Emotionen und Sehnsüchte. „Patr&a“, das Vaterland, hat eine eindeutige politische Konnotation. „Mi tierra natal“, mein Geburtsort, bedeutet schlicht den Ort der Geburt. Der Begriff der Heimat mit allen seinen Facetten scheint allein der deutschen Sprache zu gehören. Von außen betrachtet, aus dieser lateinamerikanischen Perspektive, scheint die Heimat mehr mit Wünschen, Erwartungen und Hoffnungen zu tun zu haben als mit der physischen Realität, sie trägt ein Konzept des Gelobten Landes in sich. Festzuhalten ist, dass Heimat als illusionärer Begriff ab dem 19. Jahrundert romantisierend aufgeladen wurde, zum politischen Kampfbegriff transformiert wurde und diese Bedeutungen noch immer in Heimat eingeschrieben sind.

Migration, Flucht Der Begriff der Migration beschreibt zunächst eine dauerhafte Verlagerung des Lebensmittelpunktes. Interessanterweise wird im Duden Migration mithilfe eines biologischen Ansatzes definiert, nämlich als Wanderung einer bestimmten Gruppe von Tieren oder Menschen. Der hier angeführte soziologische Ansatz bezeichnet Migration als Abwanderung in ein anderes Land oder eine andere Gegend.27 Der Ursprung des Wortes liegt im lateinischen Verb migrare, „wandern“.28 Ziel dieser Wanderung sei eine Verbesserung des Lebensstandards. Die Ungenauigkeit des Begriffs zeigt sich in Empfehlungen wie jener der UN, ab wann von Migration gesprochen werden kann: erst ab einer Wohnortänderung von mindestens einem Jahr sei von Migration die Rede,29 sonst handele es sich um eine Reise. Zudem wird eine Unterscheidung zwischen Binnenmigration und internationaler Migration vorgenommen, wobei die Binnenmigration die Wanderung innerhalb eines Landes beschreibt.30 Eine vollkommene Erfassung der Migration stellt sich als schwierig dar, da es keine ausreichende Möglichkeit gibt, Migrant_innen aufzuzeichnen. Beispielsweise kritisiert die deutsche Bun27 Vgl. Lemma „Migration“, in: Dudenredaktion (Hg.) Duden. Deutsches Universalwörterbuch, Berlin 2015, S. 1196. 28 Ebd. 29 Vgl. United Nations, International Migration Report 2002, New York 2002, http://www.un. org/esa/population/publications/ittmig2002/2002ITTMIGTEXT22-11.pdf [22. 06. 2016]. 30 Vgl. Demokratiezentrum Wien, Migration – Migrationsgeschichte und Einwanderungspolitik in Österreich und im europäischen Kontext, Wien 2008, http://www.demokratiezentrum. org/fileadmin/media/pdf/wissen_migration_begriffe.pdf [20. 06. 2016].

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deszentrale für Politische Bildung die Erfassung der Staatsangehörigkeit zu diesem Zwecke, da nicht mitberücksichtigt werden kann, wenn eine Staatsbürgerschaft angenommen wird, oder wenn es sich um Migrant_innen der zweiten oder dritten Generation handelt.31 Kann Flucht als Migration bezeichnet werden? Der Begriff Flucht lässt sich nicht so einfach neutralisieren wie der der Migration. Denn es ist mit der Wortbedeutung schon geklärt, dass das migrare, die Wanderung aus einer Notsituation heraus entsteht. Die Flucht erfolgt vor einer Gefahr, ist selbst jedoch ebenso gefährlich. Etymologisch besitzt Flucht zwei Bedeutungen, zum einen wird sie als „altes Abstraktum“32 des Verbes fliehen geführt, zum anderen als Bezeichnung einer „zusammenfliegende[n] Schar Vögel“.33 Beide Definitionen fallen in das Spektrum der (Fort-)Bewegung, erstere wird jedoch im weiteren Zusammenhang für die Annäherung an den Begriff der Flucht als „Handlung des Fliehens“ gewählt.34 Der Vorgang des Fliehens ist so bei Kluge zum einen als Tätigkeit eingeführt; die Festlegung als Abstraktum, als Gegensatz des Konkretums, verweist auf die fehlende Möglichkeit zur Sichtbarmachung oder Greifbarkeit dieses Begriffs. Neben der Schar Vögel, ist „die Reihung in gerader Linie“ ein weiteres Homonym der Flucht. Dieses wird als architektonischer Fachausdruck geführt.35 Die Etymologie von Fliehen ist allerdings ungeklärt.36 Im deutschen Standardwortschatz ist Flucht seit dem neunten Jahrhundert zu finden, ein Jahrhundert zuvor existierte bereits „fluhtig“. Aus dem Substantiv sind das Verb flüchten, das Adjektiv flüchtig und die Nominalableitung Flüchtling entstanden.37 Bereits 1890 betont der Mediävist und Germanist Moriz Heyne den Zusammenhang von Flucht und Verfolgung, dieser Gedanke wird auch bei Trübner 1939 aufgegriffen.38 1993 formuliert Luise Drücke: „Seit Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts haben große Fluchtwellen unbeschreibliches

31 Vgl. Oliver Razum / Jacob Spallek, „Definition von Migration und von der Zielgruppe ,Migranten‘“, 2009, http://www.bpb.de/themen/14T33T,0,Definition_von_Migration_und_von_ der_Zielgruppe_Migranten.html [22. 06. 2016]. 32 Friedrich Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin / Boston 1989, S. 223. 33 Ebd. 34 Lemma „Flucht“, in: Moriz Heyne, Deutsches Wörterbuch Bd. 1, Leipzig 1890, S. 944. 35 Vgl. Boris Paraschkewow, Wörter gleicher Herkunft und Struktur, Berlin / New York 2004, S. 104. 36 Vgl. Friedrich Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin / Boston 25 2011, S. 303. 37 Vgl. ebd., S. 306. 38 Vgl. Lemma „Flucht“, in: Heyne, Deutsches Wörterbuch Bd. 1, Sp. 944; Lemma „Flucht“, in: Götze, Trübners Deutsches Wörterbuch Bd. 3, S. 398.

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menschliches Leid in Europa verursacht“.39 Eine Aussage von brennender Aktualität.

Exil / Asyl Exil und Asyl beschreiben die Orte, die am Ende der Flucht erreicht werden. Exil wird laut dem Etymologischen Wörterbuch von Kluge als „Verbannung(sort)“ beschrieben. Es wird seit dem 9. Jahrhundert gebraucht und dem lateinischen ex(s)ilium, ex(s)ul entlehnt, was mit der oder die Verbannte übersetzt werden kann.40 Dies gehörte seinerseits laut dem Duden-Herkunftswörterbuch zu lat. exul, exsul, übersetzt mit „in der Fremde weilend, verbannt“.41 Wahrig fügt in seinem Herkunftswörterbuch dem lateinischen ex(s)ilium die Übersetzung der „Flucht aus dem Vaterland“42 hinzu, Weigand führt die „Landesverweisung“43 an. Exil ist ein Begriff mit vielschichtigen Bedeutungen, laut dem Duden-Bedeutungswörterbuch beschreibt es einen „langfristige[n] Aufenthalt außerhalb des Heimatlandes, das aufgrund von Verbannung, Ausbürgerung, Verfolgung durch den Staat oder unerträglichen politischen Verhältnissen verlassen wurde“.44 Exil beschreibt jedoch nicht nur die Form der geografischen Entwurzelung, sondern auch einen emotionalen beziehungsweise mentalen Zustand, der eng verbunden ist mit Fragen von Zugehörigkeit und Identität. In der Exilliteratur bezieht sich das Konzept Exil auf Menschen, welche die schmerzhafte Erfahrung teilen, aus ihrer Heimat vertrieben worden zu sein. Das Gastland bleibt für Exilierte ein provisorischer, vorübergehender Aufenthalt als „Fremde“, der Hauptbezugspunkt ihrer Loyalität bleibt ihre Heimat.45 Edward W. Said, ein US-amerikanischer Literaturtheoretiker und -kritiker palästinensischer Herkunft, beschreibt Exil als einen grundsätzlich unterbro39 Luise Drüke, „Einleitung“, in: dies. / Klaus Weigelt (Hg.), Fluchtziel Europa, München / Landsberg 1993, S. 13–36, hier S. 13. 40 Vgl. Lemma „Exil“ in: Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin / Boston 252011, S. 266. 41 Dudenredaktion (Hg.) Duden. Das Herkunftswörterbuch. Etymologie der deutschen Sprache Bd. 7, Berlin, [u. a.] 2014 S. 264. 42 Lemma „Exil“, in: Wahrig Redaktion (Hg.), Herkunftswörterbuch. Das grundlegende Nachschlagewerk zur Bedeutungsgeschichte interessanter Wörter der deutschen Sprache, Gütersloh 2009, S. 272. 43 Vgl. Lemma „Exil“, in: Herman Hirt (Hg.), Deutsches Wörterbuch von Fr. L. K. Weigand Bd. 1: A bis K, Gießen 1909, S. 483. 44 Dudenredaktion (Hg.), Duden. Deutsches Bedeutungswörterbuch, Berlin 2010, S. 357. 45 Vgl. Jenny Kuhlmann, „Exil, Diaspora, Transmigration“, in: Bundeszentrale für politische Bildung, 06. 10. 2014, http://www.bpb.de/apuz/192563/exil-diaspora-transmigration [04. 06. 2016].

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chenen Daseinszustand, der aus der erzwungenen Trennung der Exilierten von ihren Wurzeln, ihrem Land und ihrer Vergangenheit resultiert.46 Exilierte scheinen also als im doppelten Sinn ausgegrenzt: Sie sind ausgeschlossen vom Leben in ihrer Ursprungsgemeinschaft und gehören nicht zur Gesellschaft, in der sie leben (müssen). Ihre Identität orientiert sich klar an ihrer Heimat, ohne das Bedürfnis der kulturellen Anpassung an eine Aufnahmegesellschaft, in der sie nur gezwungenermaßen zu Gast sind und für die sie (noch) kein Gefühl der Zugehörigkeit empfinden. „Muttersprache und Heimatwelt wachsen mit uns, wachsen in uns hinein und werden so zur Vertrautheit, die uns Sicherheit verbürgt“, bemerkt Am8ry, weshalb es „keine ,neue Heimat‘“47 für die im Exil lebenden Menschen geben kann. Der Begriff des Exils kann auch als ein Ausgangspunkt verstanden werden. Wenn sich über einen langen Zeitraum keine politischen Veränderungen in der Heimat der Exilierten ergibt und sie die Hoffnung auf eine Rückkehr aufgeben, könnten sie sich graduell auf ein Leben im Aufenthaltsland physisch als auch gedanklich einlassen. So könnte eine Neuverhandlung von „Heimat“ trotz des Wunsches nach Rückkehr zugelassen werden und die Exilierten würden sich in der Lage sehen, Wurzeln an einem Ort zu schlagen, der ihnen zuvor lediglich vorläufig und vorübergehend erschien.48 Dies lässt sich laut dem Universalwörterbuch des Duden mit dem Begriff der „Exilheimat“ beschreiben, er bezeichnet die „Heimat, die jmd. im Exil gefunden hat“,49 allerdings wird dieser Begriff teilweise kritisch betrachtet. Asyl ist laut dem Universalwörterbuch des Duden ein Heim oder eine Unterkunft für Obdachlose. Erst die zweite Definition beschreibt den weiteren Begriff der Aufnahme und des Schutzes von Schutzsuchenden.50 Die Herkunft des Wortes ist aus dem Griechischen „asy´lon“ das mit „Freistätte“ übersetzt wird. Der Begriff setzt sich aus dem Präfix „a“, also „nicht“, und „sy´lon“, das mit „Raub“ oder „Plünderung“ übersetzt wird, zusammen. Folglich ist es ein Ort, der nicht geplündert werden darf.51 Diese Form wurde auch ins Lateinische „asylum“ übernommen. In der Antike wurde damit eine heilige Stätte beschrieben, die Schutz bot. Diese Bedeutung setzte sich schließlich für christliche Kirchen fort. Kluge führt die Verwendung des Begriffs im Deutschen ins 46 Vgl. Edward Said, „Reflections on Exile“, in: More Robinson (Hg.), Altogether Elsewhere. Writers on Exile, Boston 1994, S. 137–149, hier S. 140. 47 Am8ry 1995, S. 14. 48 Vgl. Nicholas von Hear, From Durable Solutions to Transnational Relations: Home and Exile Among Refugee Diasporas, Genf 2003, S. 1. 49 Lemma „Exilheimat“ in: Dudenredaktion (Hg.), Duden. Deutsches Universalwörterbuch, Berlin 2015, S. 561. 50 Vgl. Lemma „Asyl“, in: ebd., S. 188. 51 Vgl. Lemma „Asyl“, in: Dudenredaktion (Hg.), Duden. Das Herkunftswörterbuch. Etymologie der deutschen Sprache Bd. 7, Berlin, [u. a.] 2014, S. 134.

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15. Jahrhundert zurück, allerdings noch in der lateinischen Form und nur für das Kirchenasyl verwendet. Schließlich wird der Begriff für Zufluchtsstätten generell gebräuchlich und die Endung verliert sich im Sprachgebrauch. Ab dem 19. Jahrhundert findet sich auch die Bedeutung eines Heims für Bedürftige.52 Heute wird Asyl als politischer Begriff verwendet, deutlichster Beleg dafür stellt der Artikel 14 der Menschenrechte der Vereinten Nationen, dar : „Jeder hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu genießen“.53

Begriffe des Ausschlusses Ich und alles, was ich nicht bin. Wir und jene, die nicht zu uns gehören. „Von Natur aus sind wir alle Individuen“, stellt Assmann fest: „Individuum bezeichnet den einzelnen Menschen unter dem Gesichtspunkt seiner Differenz gegenüber allen anderen Menschen“.54 Kollektive Identitäten werden im Gegensatz dazu als diskursiv hergestellte, kulturelle Konstrukte verstanden, „die es Individuen erlauben, sich als Zugehörige zu einer bestimmten Gruppe zu fühlen“55 – oder außerhalb einer bestimmten Gruppe positioniert zu werden. Die österreichische Sprachwissenschaftlerin Ruth Wodak beschäftigte sich jüngst mit der Normalisierung eines öffentlichen fremdenfeindlichen Diskurses rechtspopulistischer Parteien, die „Politik mit der Angst“ betreiben, indem Bedrohungsszenarien für das gemeinschaftliche „Wir“ konstruiert werden, um einen Sündenbock zu identifizieren und zu instrumentalisieren.56 Für Wodak fand mit der EU-Erweiterung 2004 „[eine] Vermischung der Konzepte von Flüchtlingen, Migranten und Asylsuchenden [statt]: Das Feindbild des ,Fremden/Anderen‘“ begann, politische Auseinandersetzungen und Debatten zu beherrschen. Dieses Feindbild hat viele lokale Formen und Gestalten angenommen: ein vager Begriff, den jeder nach seinen politischen Interessen füllen kann“.57 Doch auch wenn vertraute Ausdrücke wie Fremde_r, Asylwerber_in oder Flüchtling auf den ersten Blick in ähnlicher Weise auf Personen(-gruppen) rekurrieren, die von der persönlich oder kollektiv konstruierten Identität abgegrenzt werden, lassen sich (sprach-)geschichtliche und kontextbezogene Diffe52 Vgl. Lemma „Asyl“, in: Kluge, S. 67f. 53 United Nations Menschenrechtscharta, Asylrecht, http://www.menschenrechtserklaerung. de/asylrecht-3625/ [20. 06. 2016]. 54 Assmann, Einführung in die Kulturwissenschaft, S. 205. 55 Ebd., S. 219f. 56 Vgl. Ruth Wodak, Politik mit der Angst. Zur Wirkung rechtspopulistischer Diskurse, Wien / Hamburg 2016, S. 11–18. 57 Wodak, Politik mit der Angst, S. 12.

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renzen feststellen, die Bedeutungsunterschiede begründen und den Wandel ihres Gebrauchs erklären. Hierbei ist zu bedenken, dass die Wirkungskraft solcher Ausschließungsmechanismen nicht auf sprachlicher Ebene endet, sondern Konsequenzen für die soziale Realität dieser Menschen besitzt.58

Der / die / das Andere „Ich verwende diese Unterscheidung vor allem, um Europäer, Menschen des Westens, Weiße von jenen zu unterscheiden, die ich die Anderen nenne – das heißt Nichteuropäer, Nichtweiße, wobei ich mir bewusst bin, dass für sie die Erstgenannten ebenfalls Andere sind“,59 formulierte der polnische Journalist Ryszard Kapus´cin´ski. Diese selbstreflexive Aussage positioniert den/die/das Andere_n in den westlichen Diskurs, dem immer wieder jegliche kritische Perspektive fehlt. Der/die/das Andere steht auf den ersten Blick im Gegensatz zum Selbst. Wie Identität und Alterität, findet sich auch der/die/das Andere immer in einer Wechselbeziehung zum Selbst. Andere könnten ohne das Selbst nicht existieren, ebenso wie das Selbst den/die/das Andere_n benötigt, um sich zu positionieren. Jakob und Wilhelm Grimm beschreiben „ander“ als eines der „ältesten wörter unserer sprache“.60 Adjektive mit „ander“ haben seit dem neunten Jahrhundert Einzug in den deutschen Sprachraum gefunden, mit „anders“ als dazugehörigem Adverb und „ändern“ als artverwandtem Verb.61 Dem lateinischen Begriff Alterität folgend, dem das Wörterbuch der Gebrüder Grimm eine Verwandtschaft attestiert,62 bezeichnet alter „der eine von beiden, der eine (von zweien), der andere“.63 Der Eine ist für das Andere notwendig. In diesem Zusammenhang ist die Nähe des Anderen, alius, zum Fremden, alienus, interessant.64 Heyne definierte ander in seinem Wörterbuch aus dem Jahr 1890 als „nicht derselbe“.65 Ander wird auch noch im von Friedrich Weigand herausgebrachten Wörterbuch 58 Vgl. Ruth Wodak, Zur diskursiven Konstruktion nationaler Identität, Frankfurt/Main 1998, S. 275. 59 Ryszard Kapus´cin´ski, Der Andere, Frankfurt/Main 2008, S. 8. 60 Lemma „ander“, in: Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch Bd. 1: A–Biermolke, Leipzig 1854, Sp. 306. 61 Vgl. Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin / Boston 252011, S. 43. 62 Vgl. Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch Bd. 4.1.1: Forschel–Gefolgsmann, Fotomechan. Nachdr. d. Erstausg. Leipzig 1878, München 1984, Sp. 305f. 63 Lemma „alter“, in: J. M. Stowasser / M. Petschenig / F. Skutsch, Stowasser. Österreichische Schulausgabe. Lateinisch-deutsches Schulwörterbuch von J. M. Stowasser, M. Petschenig und F. Skutsch, Berlin 2015, S. 30. 64 Vgl. Michael Erb, „Der Fremde und der ,Andere‘“, in: Erwin Bartosch (Hg.), Der „Andere“ in der Selbstpsychologie, Wien 2003, S. 35–48, hier S. 35. 65 Lemma „Ander“ in: Heyne, Deutsches Wörterbuch Bd. 1, Sp. 78.

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aus dem Jahr 1909 als veraltetes „Ordnungszahlenwort der Zweitzahl“66 geführt. Somit steht Ander für einen Begriff, der erst durch einen vorhandenen ersten Gegenstand eine Bedeutung gewinnt und diesem hierarchisch untergeordnet ist. Diesem Gedanken folgt auch die weiterhin vorgenommene Ableitung als „über bereits Bezeichnetes vorhanden; außer dem Bezeichneten vorhanden und davon verschieden“.67 Das neueste Bedeutungswörterbuch von Duden definiert „anders“ als „der Zweite, Weitere“, „der nächste, folgende“, „nicht gleich“ und „(vom Bestehenden, Üblichen, Gewohnten) sich grundlegend, sich wesentlich unterscheidend“.68 Insbesondere die letzte Definition ist hier interessant. Jene Ausgabe führt unter der/dem Anderen „die Suche nach dem Anderen (nach einer neuen Welt)“ und „de[n] Dialog mit dem Anderen (dem Gegenüber, Philos.)“69 auf. Der/die/das Andere wird somit in einen Zusammenhang mit Entdeckung und Austausch gebracht, wobei der eurozentristische Blick bezüglich der Erwähnung der Entdeckung der „neuen Welt“ dabei zu beachten ist. Bemerkenswert ist, dass Kluges Etymologisches Wörterbuch „in anderen Umständen“ als Euphemismus aufführt.70 Diese Betonung der positiven Verwendungsweise lässt eine neutrale bis negative Grundkonnotation des Begriffs vermuten. Assoziationen mit „Anders“ im Lexikon der deutschen Umgangssprache beziehen sich Anfang der 1980er-Jahre in zwei Fällen auf Homosexualität, weiterhin als Alternative für „sehr“ oder die Bezeichnung „dumm“.71 Homosexualität, aber auch Dummheit, können in diesem Fall als gegen die gesellschaftlich gesetzte Norm widersprechend als negativ aufgeladenes Anderssein gesehen werden, so die Erklärung. Inwieweit der Begriff der Anderen heute im politischen Kontext gebraucht wird, führt Wodak aus: Dieses Kernland, so argumentieren viele Wissenschaftler, richtet sich überwiegend antagonistisch gegen ,Andere‘, wozu auch ,Eliten‘ (ethnische oder religiöse), ,Minderheiten‘, ,Flüchtlinge‘ oder ,Migranten‘ gehören können. Der Begriff ,Kernland‘ (oder ,Heimat‘, ,Vaterland‘) richtet sich nach innen und schließt dämonisierte ,Andere‘ aus.72

Somit ist die Bedeutung des / der Anderen schwer fassbar und bezieht sich auf einen spezifischen Kontext, sowie eine subjekt- und gruppenbezogene Haltung des Ausschlusses, doch „[w]ir leben […] in einer multikulturellen Welt; die 66 67 68 69 70 71 72

Lemma „Ander“ in: Hirt, Deutsches Wörterbuch von Fr. L. K. Weigand Bd. 1, S. 57. Ebd. Dudenredaktion (Hg.), Duden. Deutsches Bedeutungswörterbuch, Berlin 2010, S. 84. Ebd. Vgl. Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin / Boston 252011, S. 43. Heinz Küpper, Wörterbuch der deutschen Umgangssprache, Stuttgart 1982, S. 120. Wodak, Politik mit der Angst, S. 43f.

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Anderen werden in dieser Welt zu anderen als sie gestern waren, doch zu wem genau, das ist Thema einer Diskussion, die wohl nicht so rasch abgeschlossen sein wird“.73

Der / die / das Fremde Der Wiener Kultur- und Sozialwissenschaftler Christian Ehalt beginnt das Vorwort in dem Sammelband Grenzen des Menschseins mit der Feststellung, dass „Grenzen […] der Festlegung des ,Eigenen‘ und des ,Fremden‘ [dienen]. Sie polarisieren und emotionalisieren, schaffen Distanz, geben den Individuen auf beiden Seiten zu verstehen, wer sie sind – als Negation dessen, was sich auf der anderen Seite befindet“.74 Kluge führt in seinem Etymologischen Wörterbuch lediglich fremd als Adjektiv, somit etwas Beschreibendes, auf.75 Dieses Wort ist bereits seit dem 8. Jahrhundert Teil des deutschen Standartwortschatzes.76 Das Adjektiv fremd leitet sich vom niederhochdeutschen „*fram“ mit der Bedeutung „vorwärts, weiter ; von – weg“ ab. So kann die Ausgangsbedeutung von fremd als „fort seiend“77 definiert werden, oder als „außerhalb der gewohnten Umgebung“.78 Die Einteilung in fremd kann also nur von einem bestimmten Standpunkt aus geschehen. Das vom Duden herausgegebene Bedeutungswörterbuch attestiert fremd einen Bedeutungswandel von entfernt zu unbekannt, unvertraut.79 Die Gebrüder Grimm beschäftigen sich über mehrere Spalten mit dem Adjektiv fremd und setzen dies zunächst mit „ausländisch“ gleich, wobei bereits in den Beispielen eine Gleichsetzung mit dem Gast folgt, „man sagt, wir haben heute fremde d. h. gäste zu tisch, auch wenn es nachbarn sind“.80 Fremde können demnach schon in unmittelbarer Nähe zu finden sein, „selbst die eigenen Kinder können einander fremd werden oder entfremdet scheinen“.81 Fremd wird mit dieser Definition eine gewisse Dynamik gegeben. Bezüglich der Fremde ist die Aussage, dass „in ausland […] blosz der gegensatz von inland [liegt], ohne die 73 Kapus´cin´ski, Der Ander, S. 48. 74 Christian Ehalt, „Vorwort“, in: Justin Stagl / Wolfgang Reinhard (Hg.), Grenzen des Menschseins. Probleme einer Definition des Menschlichen, Wien / Köln / Weimar 2005, S. 1ff., S. 1. 75 Vgl. Lemma „fremd“, in: Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin / Boston 252011, S. 317. 76 Vgl. ebd. 77 Ebd., S. 317. 78 Ebd. 79 Vgl. Dudenredaktion (Hg.), Duden. Deutsches Bedeutungswörterbuch, Berlin 2010, S. 235. 80 Lemma „fremd“, in Grimm, Deutsches Wörterbuch Bd. 4.1.1, Sp. 125. 81 Ebd.

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vorstellung der fremdheit“82 erwähnenswert. Hier wird auf die abstrakte Ebene des Begriffs, auf ein Gefühl, das sich nicht an Landesgrenzen festmacht, verwiesen. Im Jahr 1890 beschreibt Heyne fremd als „ausheimisch“, als weitere Bedeutung einem anderen Land oder Volk angehörig, wobei auch eine engere Verwendung auf den Stamm, die Gesellschaftsbande, den Ort oder sogar das Haus möglich ist.83 Die Fremde als Femininum wird als „Zustand des Unbekanntseins oder Fernseins“ geführt.84 Weigand definiert fremd zwei Jahrzehnte später ähnlich als „anderswoher gebürtig oder kommend, nicht einheimisch, nicht angehörig, nicht eigen, nicht vertraut, unbekannt, ungewöhnlich, seltsam“.85 Trübners Deutsches Wörterbuch stellt 1940 eine Sinnverwandtheit und zunächst ähnliche Entwicklung des/der Fremden mit dem Gast fest, wovon Ausdrücke wie Fremdenhaus, Fremdenbuch oder Sommerfremde berichten, die laut Trübner nur noch von älteren Personen benutzt wurden, da sie mittlerweile durch Gasthaus, Gastbuch oder Kurgäste Ersatz fanden.86 Dies kann als Spur nationalsozialistischer Umdeutung von Sprache gelesen werden, da Fremde nicht mehr als willkommenen Gäste, sondern potentiell gefährliche Unbekannte interpretiert werden. „Im allgemeinen begegnet man den Fremden mit Mißtrauen, sie gelten als Vorboten der Pest und des Kriegs“.87 Der Fremde sei, durch die Ausgangsbedeutung der Entfernung, fern, sowie rechtlos und von Nichtzugehörigkeit geprägt, „[v]erwerflich ist die Überschätzung und Bevorzugung des Fremden“.88 Das Lemma Fremdarbeiter, die Bezeichnung für Zwangsarbeiter im Nationalsozialismus,89 wird nicht geführt. Laut des Universalwörterbuchs der Dudenredaktion von 2015 kann fremd weiterhin „ungewohnt, nicht zu den Vorstellungen, die jmd. von jmdm., etw. passend“90 bedeuten. Im Gegensatz dazu wird Fremdenhass lokalisiert als „Hass auf Menschen aus einer anderen Region, einem anderen Volk od. Kulturkreis“,91 die Fremdenfeindlichkeit selbst aber nicht weiter erklärt, sondern lediglich als Gesinnung und Handlung92 beschrieben; „fremdenfeindlich“ ohne weitere 82 83 84 85 86 87 88 89 90 91 92

Ebd., Lemma „Fremde“, in: ebd., Sp. 129. Vgl. Lemma „fremd“, in: Heyne, Deutsches Wörterbuch Bd. 1, Sp. 972. Vgl. Lemma „Fremde“, in: ebd., Sp. 973. Hirt, Deutsches Wörterbuch von Fr. L. K. Weigand Bd. 1, Sp. 581. Vgl. Lemma „Fremd“ in: Götze, Trübners Deutsches Wörterbuch Bd. 2: C–F, Berlin 1940, S. 439. Ebd. Ebd. Vgl. Lemma „Fremdarbeiter“, in: Dudenredaktion (Hg.) Duden. Deutsches Universalwörterbuch, Berlin 2015, S. 643. Lemma „fremd“, in: ebd. Lemma „Fremdenhass“, in: ebd. Vgl. Lemma „Fremdenfeindlichkeit“, in: ebd.

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Konkretisierung wird als „Fremden gegenüber ablehnend eingestellt“93 angeführt. Angst vor der Entfremdung, Verfremdung94 und „Überfremdung“95 der eigenen Gesellschaft weist auf die politische Instrumentalisierung des Begriffs hin. Der Brockhaus konkretisiert in einer Auflage Ende der 1980er-Jahre den Begriff „Fremde“ anhand juristischer Maßstäbe des Staats- und Völkerrechts als „Personen, die nicht die Staatsangehörigkeit (bei natürl. Personen) oder die Staatszugehörigkeit (bei jurist. Personen) des Aufenthaltsstaates besitzen“.96 Dieser Definition folgt ein Verweis auf „Ausländer und Fremdenrecht“ sowie auf den Roman L’8tranger von Albert Camus.97 Der Brockhaus-Eintrag ist höchst bemerkenswert, da sich sonst in den von uns untersuchten Lexika die Verbindung von „Fremde“ und juridischer Sprache nicht finden lassen. Dies ist unter dem Aspekt, dass es in Paragraph 1 des österreichischen Fremdenpolizeigesetzes von 1954 heißt, „Personen, die die österreichische Staatsbürgerschaft nicht besitzen, sind Fremde im Sinne des Bundesgesetzes“, verwunderlich, da diese Begriffsdefinition auch in Gesetzen des Jahres 1993 noch genutzt wurde.98 Der/die/das Fremde ist Teil von alltäglichen privaten, öffentlichen, soziopolitischen und medialen Diskursen der Vergangenheit sowie Gegenwart als auch Untersuchungsgegenstand verschiedener Sozial- und Kulturwissenschaften.99 Der/die/das Fremde wird also immer aus einer subjektiven Position konstruiert. Sprachlicher Ausschluss ist selbstverständlich nicht nur ein deutschsprachiges Phänomen, sondern auch in anderen Sprachen aufzufinden – beispielhaft seien hier einige aus dem Spanischen im lateinamerikanischen Raum angeführt.

93 Lemma „fremdenfeindlich“, in: ebd. 94 Vgl. Lemma „fremd“, in: Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin / Boston 252011, S. 317. 95 „Der historisch belastete Begriff „Überfremdung“, mit dem die Wiener FPÖ im NationalratsWahlkampf 1999 hetzte, kam auch in den Bescheiden der MA vor, er wurde erfolgreich zum Transport rassistischer Politikinhalte eingeführt und gehört zum Grundvokabular fremdenfeindlicher Äußerungen. Bezeichnend in diesem Zusammenhang ist, dass die FPÖ ihre Wortwahl damit verteidigt, dass auch die Wiener Aufenthaltsbehörde diesen Begriff verwendet hätte“, Reinhold Jawhari, Wegen Überfremdung abgelehnt. Ausländerintegration und symbolische Politik, Wien 2000, S. 2. 96 F.A. Brockhaus GmbH (Hg.), Brockhaus. Die Enzyklopädie in 24 Bänden Bd. 7, Mannheim 1988. 97 Vgl. Albert Camus, Der Fremde, Düsseldorf 1948. 98 Vgl. Martin Sturm, „Vorwort“, in: Offenes Kulturhaus des Landes ÖÖ: Das Fremde – Der Gast Bd. 2, Linz 1993, S. 6f., hier S. 6. 99 Vgl. Alois Wierlacher (Hg.), „Vorrede“, in: Kulturthema Fremdheit. Leitbegriffe und Problemfelder kulturwissenschaftlicher Fremdheitsforschung, München 1993, S. 9–15, hier S. 9.

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Mor@ und Morisc@100 Das spanische Wort Moro mit der Bedeutung „dunkelhäutig“ hat seinen Ursprung im lateinischen „Maurus“ sowie griechischen „Mauros“. Als Mor@s wurden die Einwohner_innen der römischen Provinzen Mauretania Tingitana (Marokko) und Mauretania Cesariense (Algerien) bezeichnet. Später erhielten Bewohner_innen von Al-Andalus diese Benennung/Bezeichnung. Das muslimische Reich Al-Andalus bestand von 711 bis 1492 beinahe acht Jahrhunderte auf der Iberischen Halbinsel, bevor die katholischen Könige das Emirat von Granada besiegten. Konvertierte Maur_innen wurden Cristian@s Nuev@s (de Moros) genannt, um sie von den einfachen Cristian@s Nuev@s zu differenzieren, den konvertierten Jüdinnen und Juden. Nach einem 1502 erlassenen Taufzwang für alle Maur_innen, werden die Konvertierten nun abwertend Morisc@s genannt. Im spanischen Sprachgebrauch wird das Wort Mor@ fälschlicherweise gleichgesetzt mit Moslem/Muslima und Araber_in. Mor@ ist enger mit der Religion als einer bestimmten Hautfarbe verbunden, wobei die aus Mor@ abgeleitete Bezeichnung Moren@ einen Hauttyp zwischen heller und dunkler Haut beschreibt. Moren@ kann viele Ethnien umfassen, so werden „Gitan@s“ „Mestiz@s“ oder auch mit dem problematischen Begriff „Mulat@s“ bezeichnete Menschen als Moren@ begriffen, aber eben auch Südeuropäer_innen und Spanier_innen.

INDI@ Aufgrund des Irrtums der spanischen Eroberer in Indien gelandet zu sein, statt auf den Westindischen Inseln und Südamerika, wurden die Einheimischen Indi@s genannt, dieselbe Bezeichnung, die auch Inder_innen im Spanischen haben. Im alltäglichen Gebrauch sind in Spanien immer noch sowohl amerikanische Ur-Einwohner_innen als auch Inder_innen Indi@s, während sich in Lateinamerika der Begriff „Hindffl“ für Inder_innen eingebürgert hat. Diese Bezeichnung stammt von der in Indien weit verbreiteten Religion des Hinduismus, bezeichnet aber auch fälschlicherweise nicht-hinduistische Inder_innen als Hindus. Da der Begriff „Indio“ immer die Geschichte der spanischen Unterdrückung mit sich trägt, wird er heute als sehr abwertend empfunden, weshalb sich nun als Bezeichnung für amerikanische Ur-Einwohner_innen der 100 Die @-Endung ist eine gängige Weise, um im Spanischen gendergerechte Sprache umzusetzen. Im @-Zeichen sind sowohl das „-o“ für die maskuline Endung von Nomen als auch das „-a“ für die feminine Endung inkludiert. Eine weitere Möglichkeit bietet die Endung auf „-x“, die zusätzlich eine Inklusion für Geschlechter abseits von „männlich“ und „weiblich“ bietet.

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Begriff „Ind&gena“ durchgesetzt hat. Auch wenn die Begriffe ähnlich klingen, hat Ind&gena einen anderen Wortursprung. Er stammt aus dem lateinischen „indigena“, was mit „Ur-Einwohner eines Landes“ übersetzt werden kann. Aufgrund der klanglichen Ähnlichkeit zwischen den beiden Begriffen und der geschichtlichen Belastung, die bei Indi@ noch mitschwingt, wird nach neuen Bezeichnungen für die Ur-Einwohner_innen gesucht: „Originari@s de Am8rica“ (Ursprüngliche aus Amerika), „Primer@s habitantes“ (Erste Bewohner), „Comunidades originarias“ (Ursprüngliche Gemeinschaften), „Habitantes aut8ntic@s“ (Authentische Bewohner_innen) und auch „Abor&genes“ (von „origen“ dem Ursprung stammend, aber weitgehend nur für australische Urbewohner_innen verwendet), sind einige Möglichkeiten. Auch wenn dies möglicherweise nach Fortschritt klingen mag, werden indigene Ethnien in Lateinamerika noch immer stark diskriminiert und dazu gedrängt, ihre Herkunft zu verleugnen.

Der / die Asylant_in Aus dem Wortstamm des Asyls wird die Bezeichnung für die schutzsuchende Person selbst, der/die Asylant_in, gebildet, die weitere Abwandlungen, wie jene des/der Asyl(be)werber_in oder auch Asylsuchenden gefunden hat. Autor_innen der Duden-Wörterbücher erkennen an, dass der Begriff gelegentlich als abwertend empfunden werden kann,101 bemerkenswerterweise wird folgender Satz als Beispielsatz angeführt: „Der Asylant sollte abgeschoben werden“ .102 Zum ersten Mal aufgeführt wird der Begriff im Rechtschreibduden aus dem Jahr 1980.103 Der Sprachwissenschaftler Martin Wengeler weist auf die Erfindung des Begriffs als Opposition zum legitimen Flüchtling aus der DDR und anderen kommunistischen Staaten hin.104 Bereits mit dem ersten Aufkommen des Begriffs setzte auch eine kritische Auseinandersetzung mit diesem ein,105 stigmatisierende Wortschöpfungen wie „Scheinasylant“ wurden angegriffen, Alternativen gesucht, Versuche der Etablierung nicht-wertender, eher bürokratisch klingender Bezeichnungen wie „Asylwerber, Asylsuchende und Asylberechtig-

101 Vgl. Lemma „Asylant“, in: Dudenredaktion (Hg.) Duden. Deutsches Universalwörterbuch, Berlin 2015, S. 188. 102 Lemma „Asylant“, in: Dudenredaktion (Hg.), Duden. Deutsches Bedeutungswörterbuch, Berlin 2010, S. 119. 103 Vgl. Martin Wengeler, „Multikulturelle Gesellschaft oder Ausländer raus? Der sprachliche Umgang mit der Einwanderung seit 1945“, in: Georg Stötzel / Martin Wengeler, Kontroverse Begriffe. Geschichte des öffentlichen Sprachgebrauchs in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin / New York 1995, S. 711–749, hier S. 735. 104 Vgl. ebd., S. 736. 105 Vgl. ebd., S. 735.

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te“106 erfolgten. Dass das Suffix „-ant“ eine negative Implikation bedingt, ist umstritten, da zwar Begriffe wie „Ignoranten und Simulanten“ existieren, jedoch ebenso neutrale Berufsbezeichnungen, wie „Praktikanten und Fabrikanten“ und das Suffix „-ant“ im Fachjargon, zum Beispiel unter Signifikant, ebenfalls Verwendung findet.107 In den 1990er-Jahren erhielt „Asylant“ in Deutschland durch Diskussionen über Asylrechte und Anschläge auf Asylheime ein breites mediales Echo.108 Im österreichischen Kontext fand der Begriff vorwiegend bei der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ)Verwendung, wie zuletzt im Video eines Grazer FPÖ-Politikers, der unter der polemischen Anrede „Sehr geehrte Herren Asylanten“ den Umgang mit Frauen „erklärte“.109 Die pejorative Verwendung von „Asylant“ zeigt sich in der Häufigkeit des Gebrauchs in Zusammenhang mit Berichten zu angeblichem „Asyl(rechts)missbrauch“. Aufgrund der bereits ausgeführten rechtspopulistischen Aneignung, wird der Begriff gegenwärtig durch Asylwerber_innen (Österreich), Asylbewerber_innen (Deutschland) und Asylsuchende_r (Schweiz) abgelöst. Der Status von Asylwerbenden ist von rechtlicher Ambivalenz gekennzeichnet. Die Germanistin Eva Horn fasst dies wie folgt zusammen: „Der Asylant muss sich die politische Natur seiner Verfolgung und Flucht in einem Verfahren anerkennen lassen. Erst wenn er damit vom Asylbewerber zum anerkannten politischen Flüchtling geworden ist, verlässt er den Status der Irregularität, wenn nicht der Illegalität“.110 Der „Asylant“ befindet sich somit in einem Zustand der Schwebe, der noch keine Informationen über seinen Verbleib im Asylland erkennen lässt.

Der Flüchtling „Wir Flüchtlinge“, im englischsprachigen Original „We refugees“, betitelte die politische Theoretikerin Hannah Arendt einen Essay im Jahr 1943, mitten im 2. Weltkrieg, der mit den Worten, „Vor allem mögen wir es nicht, wenn man uns ,Flüchtlinge‘ nennt“,111 beginnt. Mit diesem Einstieg, benennt Arendt eine soziale Gruppe, die von anderen erschaffen wird und in diesem Prozess mit einem

106 107 108 109

Ebd., S. 734. Vgl. ebd., S. 736. Vgl. ebd. S. 737. Spiegel, „FPÖ-Video: ,Sehr geehrte Herren Asylanten‘“, 01. 06. 2016, http://www.spiegel.de/ video/fpoe-video-sorgt-fuer-spott-video-1678160.html [28. 07. 2016]. 110 Eva Horn, „Partisan, Siedler, Asylant. Zur politischen Anthropologie des Grenzgängers“, in: Monika Eigmüller / Georg Vorbruda (Hg.), Grenzsoziologie. Die politische Strukturierung des Raumes, Wiesbaden 2006, S. 239–250, S. 245f. 111 Hannah Arendt, „Wir Flüchtlinge“, in: Marie Luise Knott (Hg.), Zur Zeit. Politische Essays, Hamburg 1999, S. 7–21, hier S. 7.

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Namen ausgestattet wird, der der Selbstauffassung dieser Gemeinschaft widerspricht. Im Wort Flüchtling steckt Flucht. Es handelt sich also um eine Person, die fliehen musste. Die Flucht selbst wird somit zum Bezugspunkt des Konzepts Flüchtling gemacht. Hierbei ist anzumerken, dass Flüchtling in der Gegenwart ein maskuliner Begriff ist, der durch das Suffix -ling eine abwertende Eigenschaft zugeschrieben bekommt.112 In vielen anderen Sprachräumen haben Entsprechungen zum Flüchtling den Wortursprung im lateinischen „refugium“, der Zuflucht, zum Beispiel das englische „refugee“. Refugee ist die Person, die in einem Refugium angekommen ist und angenommen wurde. Um dort anzukommen, war aber ein sehr langer Weg notwendig, der im Begriff nicht unbedingt mit ausgedrückt wird. Als Flüchtling hatte bislang gegolten, wer aufgrund seiner Taten oder politischen Anschauung gezwungen war, Zuflucht zu suchen. Es stimmt, auch wir mußten Zuflucht suchen, aber wir hatten vorher nichts begangen, und die meisten unter uns hegten nicht einmal im Traum irgendwelche radikalen politischen Auffassungen. Mit uns hat sich die Bedeutung des Begriffs ,Flüchtling‘ gewandelt. ,Flüchtlinge‘ sind heutzutage jene unter uns, die das Pech hatten, mittellos in einem neuen Land anzukommen, und auf die Hilfe von Flüchtlingskomitees angewiesen waren,113

erläutert Arendt die komplexe Situation. Das größte Problem des Flüchtlings bestehe, so die Philosophin, in der Tatsache, dass der „soziale[r], politische[r] und juristische[r] Status völlig verworren ist“,114 was dazu führt, „daß […] Juden keinerlei rechtlichen Status in der Welt besitzen“115 – zu einer Zeit, in der „Pässe und Geburtsurkunden, und manchmal sogar Einkommenssteuererklärungen, […] keine formellen Unterlagen mehr, sondern zu einer Angelegenheit der sozialen Unterscheidung geworden [sind]“.116 Gegenwärtig basiert die Definition des Flüchtlings auf der Genfer Flüchtlingskonvention des UNHCR. Nach Artikel 1 des 1951 beschlossenen und 1967 ergänzten Dokuments, wird jede Person als Flüchtling bezeichnet, die sich durch begründete(n) Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung […] außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will; oder die sich als staatenlose infolge solcher Ereignisse außerhalb des Landes befindet, in welchem sie ihren gewöhnlichen 112 Vgl. Duden Online, „Das Suffix ,ling‘“, http://www.duden.de/sprachwissen/sprachratgeber/ das-suffix-ling [06. 03. 2016]. 113 Arendt, „Wir Flüchtlinge“, S. 7. 114 Ebd., S. 16. 115 Ebd., S. 19. 116 Ebd., S. 20.

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Aufenthalt hatte, und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen der erwähnten Befürchtungen nicht dorthin zurückkehren will.117

Jene Personen, die unter die Richtlinien der Genfer Flüchtlingskonventionen fallen, werden auch als Konventionsflüchtlinge bezeichnet, im Gegensatz dazu stehen die „nicht anerkannten Flüchtlinge“, wobei Begriffe wie „Wirtschaftsflüchtling“ und „Umweltflüchtling“ entstanden sind. Diese Definitionen von anerkannten und nicht-anerkannten Flüchtlingen zeigen die politische Dimension der Definitionsmacht auf. Im Artikel 28 folgt der Hinweis „[n]icht auf Grund der Anerkennung wird er ein Flüchtling, sondern die Anerkennung erfolgt, weil er ein Flüchtling ist“.118 Bereits die Gebrüder Grimm führen den Flüchtling, sowie die weibliche Form der Flüchtlingin, welche als „fliehendes Mädchen“119 beschrieben wird, an. Der Flüchtling wird mit dem Beispielsatz „wir sind flüchtlinge und bitten um ein obdach; ihr sollt dem flüchtling herberge geben“120 beschrieben. Hierbei wird die Möglichkeit in Betracht gezogen, zwei mögliche Positionen einzunehmen: Als Gruppe um Asyl zu bitten oder einer einzelnen Person Asyl zu gewähren. Der Brockhaus aus dem Jahr 1988 führt den Flüchtling als einen der weiter ausgeführten Schlüsselbegriffe und zeichnet ihn in diesem Artikel als „unpräzise[n] und umstrittene[n] Sammelbegriff“121 aus. Der Flüchtlingsbegriff der Genfer Konvention wird als enger Begriff, der „die Furcht vor Verfolgung als Fluchtmotiv und den Grenzübertritt als Fluchtfolge voraus[setzt]“122 kritisiert, sich somit nur an internationale Flüchtlinge, die um Asyl suchen, richtet. Nationale Flüchtlinge, im Fall deutscher Zeitgeschichte die „Heimatvertriebenen“, sind als Quasi-Flüchtlinge im eigenen Land von diesem Begriff zu unterscheiden.123 Das Duden Universalwörterbuch definiert den Flüchtling als eine „Person, die aus politischen, religiösen, wirtschaftlichen oder ethnischen Gründen ihre Heimat eilig verlassen hat oder verlassen musste und dabei ihren Besitz zurückgelassen hat“.124 Auch hier ist eine starke Anlehnung an die Genfer Flüchtlingskonvention erkennbar. Dieser Eintrag lässt vermuten, dass ein Eigentum wie ein Smartphone dem Status als Flüchtling widersprechen würde, da 117 UNHCR, Genfer Flüchtlingskonvention, http://www.unhcr.de/fileadmin/user_upload/do kumente/03_profil_begriffe/genfer_fluechtlingskonvention/Genfer_Fluechtlingskonven tion_und_New_Yorker_Protokoll.pdf [22. 06. 2016]. 118 Ebd., S. 9. 119 Grimm, Deutsches Wörterbuch Bd. 4.2, Sp. 1835. 120 Ebd. 121 F. A. Brockhaus GmbH (Hg.), Brockhaus. Die Enzyklopädie in 24 Bänden Bd. 7, S. 400. 122 Ebd. 123 Vgl. ebd. 124 Lemma „Flüchtling“, in: Dudenredaktion (Hg.) Duden. Deutsches Universalwörterbuch, Berlin 2015, S. 623.

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an den Flüchtling der Anspruch gestellt wird, seine Besitztümer zurückzulassen und er seinen Status erst durch diese Besitzlosigkeit erhält.

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# Interview mit Johnny Mhanna Abb. 1–12 & 19–21: Fotografien aus dem Privatarchiv von Johnny Mhanna. Abb. 13: die schweigende Mehrheit: Schutzbefohlene performen Jelinek Schutzbefohlene nach Die Schutzbefohlenen von Jelinek, Elfriede, 2015, Wien; Foto: Mark Henley, http://markhenley.photoshelter.com/ [01. 08. 2016]. Abb. 14: die schweigende Mehrheit: Schutzbefohlene performen Jelinek Schutzbefohlene nach Die Schutzbefohlenen von Jelinek, Elfriede, 2015, Wien; Foto: Barbara Semmler, http://i1.wp.com/www.schweigendemehrheit.at/wp-content/ uploads/2015/10/DSC00162.jpg [01. 08. 2016]. Abb. 15: Jakub Kavin: „Outsiders. Eine ganz alltägliche U-Bahnfahrt“, 2015, ehemalige Ankerbrotfabrik, Expedithalle, Wien; Foto: Jakub Kavin. Abb. 16: Jakub Kavin: „Outsiders. Eine ganz alltägliche U-Bahnfahrt“, 2015, ehemalige Ankerbrotfabrik, Expedithalle, Wien; Foto: Jakub Kavin, https:// scontent.xx.fbcdn.net/v/t1.0-9/12342650_1016499601705695_459591536707334 7050_n.jpg?oh=75976e0e5cccfb315a4778d40a460e14& oe=5806914B [25. 06. 2016] Abb. 17: Jakub Kavin: „Outsiders. Eine ganz alltägliche U-Bahnfahrt.“, 2015, ehemalige Ankerbrotfabrik, Expedithalle, Wien; Foto: Shirin Kavin, http://i1. wp.com/www.jakubkavin.com/wp-content/uploads/12-johnny-mhanna1.jpg [06. 07. 2016] Abb. 18: Jakub Kavin: „Outsiders. Eine ganz alltägliche U-Bahnfahrt.“, 2015, ehemalige Ankerbrotfabrik, Expedithalle, Wien; Foto: Jakub Kavin.

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# Anja Kundrat: Wie viel Politik steckt in Theater? Abb. 1–3: Schutzbefohlene performen Schutzbefohlene, 2016, Wien, Audimax Universität Wien. Fotografien aus dem Privatarchiv der Autorin.

# Esther Holland-Merten, Genia Enzelberger & God’s Entertainment Abb. 1–5: T God’s Entertainment.

# Interview mit den Ahmad und Mohammed Alian Abb. 1–3 & 5: Fotos aus dem Privatarchiv von Ahmad Alians Smartphone. Abb. 4: Foto: Google Maps, Ausdruck; https://www.google.at/maps/dir/Istan bul,+Türkei/Bodrum,+Mug˘la,+Türkei/Athen,+Griechenland/Thessaloniki,+ Griechenland/Idomeni,+Griechenland/Belgrad/Stephansplatz,+1010+Wien/@ 42.1971463,13.6879081,5z/data=!3m1!4b1!4m44!4m43!1m5!1m1! 1s0x14caa7040068086b:0xe1ccfe98bc01b0d0!2m2!1d28.9783589!2d41. 0082376!1m5!1m1!1s0x14be6c4faeb0d669:0x51a6e218f706590a!2m2!1d27. 43054!2d37.034407!1m5!1m1!1s0x14a1bd1f067043f1:0x2736354576668ddd! 2m2!1d23.7275388!2d37.9838096!1m5!1m1!1s0x14a838 f41428e0ed:0x9bae715b8d574a9!2m2!1d22.9444191!2d40.6400629!1m5!1m1! 1s0x1356243b695466e1:0xa1c8ea70bc140453!2m2!1d22.5104771!2d41. 1224928!1m5!1m1!1s0x475a7aa3d7b53fbd:0x1db8645cf2177ee4!2m2!1d20. 4489216!2d44.786568!1m5!1m1!1s0x476d079f3e69c281:0x20563c156aa1fde! 2m2!1d16.3728875!2d48.2091369!3e2 [10. 07. 2016].

# Peter R. Horn: „… machen Sie ein Foto, schnell, bevor sie wieder weg ist, die Menschenwürde …“ Abb. 1: Wien 2016, Copyright Peter R. Horn. Abb. 2–5: Die Ensemblemitglieder Bernhard Dechant und Rohullah Mohseni. Wien April/Juni 2016, Copyright Peter R. Horn.

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Abb. 6: Wien 2016, Collage aus dem Livestream vom 30. 01. 2013, Copyleft NCSA Peter R. Horn / ZIGE TV. Abb. 7: Wien 2013, Copyright Peter R. Horn.

# Antionio Zapata: „Moros en la Costa“ Abb. 1: Antonio Zapata, Oro y sangre, 2008, Öl auf Leinwand, 3 x 3 m. Abb. 2: Batalla de Cantigas, 13. Jh.; Foto: unbekannt, http://www.hist.umn.edu/ courses/hist3613/calendar/art/images/Las%20Cantigas%20de%20Santa%20Ma ria.jpg [25. 06. 2016]. ¨ l auf Leinwand, 0,7 x 1 m. Abb. 3: Antonio Zapata, Africa, 2006, O Abb. 4: Cremissimo / la Mohr im Hemd, 2009; Foto: unbekannt, http://images. derstandard.at/2009/07/22/1246601477812.jpg [25. 06. 2016]. Abb. 5: Süßspeise Mohr im Hemd, 2012; Foto: VH-Halle, https://upload.wiki media.org/wikipedia/commons/f/fb/Mohr_im_Hemd.jpg [25. 06. 2016]. Abb. 6: Süßspeise Mohr im Hemd, 2012, Detail; Foto: VH-Halle, https://upload. wikimedia.org/wikipedia/commons/f/fb/Mohr_im_Hemd.jpg [25. 06. 2016]. Abb. 7: Thos. W. Keene. Othello, 1884; Foto: W. J. Morgan & Co. Lith, https:// upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/1/14/Thomas_Keene_in_Othello_ 1884_Poster.JPG [25. 06. 2016]. Abb. 8: Gedenktafel Mozart, 2012; Foto: GuentherZ, https://upload.wikimedia. org/wikipedia/commons/b/b8/GuentherZ_2012–04–30_0658_Wien01_Milchga sse01_Gedenktafel_Wolfgang_Amadeus_Mozart.jpg [25. 06. 2016]. Abb. 9: Völkerschau in Stuttgart, 1928; Foto: unbekannt, https://upload.wiki media.org/wikipedia/commons/d/de/Humanzoogermany.jpg [25. 06. 2016]. Abb. 10: Hamburg, Kaiser Wilhelm II. im Tierpark Hagenbeck, 1909; Foto: unbekannt, https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/3/3d/Bundesar chiv_Bild_183-R52035%2C_Hamburg%2C_Kaiser_Wilhelm_II._im_Tierpark_ Hagenbeck.jpg [25. 06. 2016].

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Abb. 11: Angelo Soliman, 1750, Stich aus dem 18. Jahrhundert; Foto: Haid, Gottfried, https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/7/77/Angelo_So liman.jpg [25. 06. 2016]. Abb. 12: FPÖ-Anzeige, Österreich 16. Juni, 2016; Foto: Zapata: eigenes Foto, 2016. Abb. 13: Symbol der Identitären Bewegung Deutschland, 2015; Foto: Leedti0r, https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/0/01/Lambda_-_Identitäre _Bewegung.svg [25. 06. 2016]. Abb. 14: Antonio Zapata, Welt des Verwaltungsvollstreckungsgesetzes, 2005, Öl auf Leinwand, 2 x 3 m. Abb. 15: Antonio Zapata, Migrationes, 2015, Öl auf Leinwand, 1 x 2 m, Detail 1. Abb. 16: Antonio Zapata, Migraciones, 2015, Öl auf Leinwand, 1 x 2 m, Detail 2. Abb. 17: Antonio Zapata, Oro y Sangre, 2008, Öl auf Leinwand, 2,7 x 2,7 m, Detail 1. Abb. 18: Cuzco Schule: Santiago Matamoros, 17. Jh.; Foto: unbekannt, https:// upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/b/b4/Santiago_Matamoros%2C_ 18th_century.jpg [25. 06. 2016]. Abb. 19: Virgen de Guadalupe, 16. Jh.; Foto: unbekannt, https://upload.wiki media.org/wikipedia/commons/2/2c/Virgen_de_guadalupe1.jpg [25. 06. 2016]. Abb. 20: Cuzco Schule: Santiago Mataindios, zwischen 1690 und 1720; Foto: unbekannt, https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/5/5b/Santiago_ Mataindios.jpg [25. 06. 2016]. ¨ l auf Leinwand, 2 x 1 m. Abb. 21: Antonio Zapata, Blanco y negro, 2015, O ¨ l auf Abb. 22: Antonio Zapata, Das Floß der Meduse I, nach T. Gericault, 2005, O Leinwand 1,4 x 1,4 m. ¨ l auf Abb. 23: Antonio Zapata, Das Floß der Meduse II, nach T. Gericault, 2005, O Leinwand 1,4 x 1,8 m.

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Abb. 24: Antonio Zapata, Des Verwaltungsvollstreckungsgesetzes, 2005, Öl auf Leinwand, 2 x 3 m, Detail 2. Abb. 25: Map of Africa, 1812; Foto: Arrowsmith and Lewis, https://maliafricapastandpresent.wikispaces.com/file/view/Map%20of%20Africa-1812%20Bos ton.jpg/442312202/888x719/Map%20of%20Africa-1812%20Boston.jpg [25. 06. 2016]. ¨ l auf Leinwand, Abb. 26–30: Antonio Zapata, Abu Ghraib (Serie) , 2010, O 0,8 x 0,6 m. ¨ l auf Leinwand, 3,7 x 2,5 m. Abb. 31: Antonio Zapata, Eurocentrismo, 2013, O Abb. 32: Antonio Zapata, Europa y el Mediterr#neo, 2015, Öl auf Leinwand, 1 x 2 m. Abb. 33: Logo der ehemaligen Kaffeerösterei Julius Meinl, 2012; Foto: Herzi Pinki, https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/8/80/Julius_Meinl_ logo_-_Operngasse%2C_Vienna.jpg [25. 06. 2016]. Abb. 34: Völkertafel, 1725; Foto: unbekannt, https://upload.wikimedia.org/wi kipedia/commons/e/ed/Völkertafel.jpg [25. 06. 2016]. Abb. 35: Preziosi, Amadeo: Türkischer Harem, 1842; Foto: unbekannt, https:// upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/b/b6/Preziosi_painting_of_Turkish_ harem.jpg [25. 06. 2016]. Abb. 36: H. C. Strache beim Wiener Wahlkampfauftakt der FPÖ in der Lugner City, 2010; Foto: Prenner, Thomas, https://upload.wikimedia.org/wikipedia/ commons/c/c0/Strache_Lugner_City_2.jpg [25. 06. 2016]. ¨ l auf Leinwand, 1 x 2 m. Abb. 37: Antonio Zapata, Grenzen, 2015, O Abb. 38: Antonio Zapata, Brief meines Großvaters, Privatarchiv. Abb. 39: Antonio Zapata, Foto meiner Großmutter mit Tante Luciola und ihrem Freund. Privatarchiv. Abb. 40: Antonio Zapata, Foto meines Vaters und Onkel Efrain. Privatarchiv.

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Abb. 41: Antonio Zapata, Miss Colombia in der Welt des Verwaltungsvollstreckungsgesetzes, 2005, Öl auf Leinwand, 2 x 3 m, Detail 3. Abb. 42: Antonio Zapata, Hier entlang, 2006, Öl auf Leinwand, 2 x 1 m. Abb. 43: Antonio Zapata, Medellin-Kartell, 2005, Öl auf Leinwand, 1,8 x 0,7 m. ¨ l auf Leinwand Abb. 44: Antonio Zapata, Kleine Isabelle, nach Velasquez, 2009, O 2 x 1 m. ¨ l auf Leinwand, 1,4 x 1,8 m, Detail. Abb. 45: Antonio Zapata, Evente, 2007, O ¨ l auf Leinwand Abb. 46: Antonio Zapata, In die schöne neue Welt, 2006, O 2 x 2 m, Detail. Abb. 47: Posada, Guadalupe: Virgen de Guadalupe, 1895; Foto: unbekannt, https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/8/8a/Posada_guadalupe.jpg [25. 06. 2016]. Abb. 48: Black Madonna of Cze˛stochowa, 1382; Foto: unbekannt, https:// upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/3/30/Czestochowska.jpg [25. 06. 2016]. Abb. 49: Antonio Zapata, Welt des Verwaltungsvollstreckungsgesetzes, 2005, Öl auf Leinwand, 2 x 3 m. Abb. 50: Antonio Zapata, A la luz, 2003, Öl auf Leinwand, 1,3 x 1,4 m. Abb. 51: Antonio Zapata, Libertad, 2006, Öl auf Leinwand, 2 x 2 m. ¨ l auf Leinwand 1,2 x 1,2 m. Abb. 52: Antonio Zapata, Civilizacion, 2006, O Abb. 53: Antonio Zapata beim Malen von Oro y Sangre, 2008.

# Petja Dimitrova: Refugee Protest Camp Vienna Abb. 1–10: Privatarchiv Petja Dimitrova.

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# Azelia Gulüm Opak: Hiç hikayen yok mu senin? Abb. 1: Fotografie aus dem Privatarchiv der Autorin.

# Milena von Stosch: Doyçlender: almanci Abb. 1: Aslı Kıs¸lal: „DOYC ¸ LENDER: ALMANCI“ von Emre Akal, 2015, Wien Foto: Potter, Chloe, http://werk-x.at/media/produktionen/almanci/almanci4_ bg.jpg [06. 07. 2016]. Abb. 2: Aslı Kıs¸lal: „DOYC ¸ LENDER: ALMANCI“ von Emre Akal, 2015, Wien Foto: Potter, Chloe, http://werk-x.at/cms/app/cache/smarty/cache/52271876690 a74743b60201ca4599a11.jpg [06. 07. 2016].

# Jasmin Falk: Wo werden wir unsere eigenen Knochen vergraben können? Abb. 1: Flor Kent: Für das Kind – Wien. Gewidmet den Briten, die 1938–39 mit den sogenannten Kindertransporten 10.000 jüdische und nicht-jüdische Kinder vor dem nationalsozialistischen Regime retteten. Statue am Westbahnhof in Wien. Fotografie der Autorin.

# Senad Halilbasˇ ic´ : Neuverortungen der Funktionen von Theatergebäuden im Bosnienkrieg Abb. 1: Improvisierte Unterkunft für Geflohene im Foyer des Narodno Pozoriste Mostar ; Quelle: Ovcˇar, Ivan (Hg.), Hrvatsko narodno kazaliste u Mostaru, Mostar : Hrvatsko Narodno Kazaliste 1999. S. 120. ˇ elopek, Abb. 2: Die Bühne des Dom Kulture Pilici. Hier wurden, genauso wie in C 1992 Gräueltaten an bosniakischen Gefangenen verübt; Quelle: http://radio glasdrine.com/vijesti/lokalne-vijesti/bosnjaci-zvornika-posjetili-dom-kultureu-pilici-mjesto-zatocenja-njihovih-najmilijih-foto/.

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# Elke Krafka: Europäische Islamfeindlichkeit Abb. 1: The Ottoman Empire in 1683 AD, at its greatest extent; Urheber : Peter Hermes Furian, http://de.123rf.com/photo_34617022_stock-photo.html [02. 08. 2016]. Abb. 2: Roger Diederen und Davy Depelchin: Orientalismus in Europa von Delacroix bis Kandinsky. Ausstellungskatalog Brüssel, München, Marseille 2010, Abbildung 32. Abb. 3 und 4: Karlsbrücke/Prag: Figurengruppe von Ferdinand Brokoff, 1714 und Detail: Osmane bewacht die gefangenen Christen; über ihm befindet sich eine Hirschkuh mit Kreuz im Geweih; Fotografien der Autorin.

# Katharina Lehner: Asylpolitiken Abb. 1: Australian Government: You won’t be settled in Australia, 2013; Foto: Twitter/@SandiHLogan, https://twitter.com/sandihlogan/status/3581221224066 78528 [25. 06. 2016]. Abb. 2: Australian Government: No Way, 2014; Foto: Department of Immigration and Border Protection, Counter People Smuggling Communication, https:// www.border.gov.au/about/operation-sovereign-borders/counter-people-smugg ling-communication [25. 06. 2016]. Abb. 3: Bundesministerium für Inneres: Kein Asyl in Österreich, Plakat auf Dari und Deutsch, 2016; Foto: Die Presse T APA/BMI, http://diepresse.com/home/ politik/innenpolitik/4936610/Noch-strenger_MiklLeitner-startet-Kampagnein-Afghanistan- [25. 06. 2016].

# Barbara Schneider: Beim Sprechen und Schreiben handeln Abb. 1 & 2: Fotografien der Autorin.

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Alian, Ahmad ist 26 Jahre alt und kommt aus Syrien. Wegen der drohenden Verpflichtung zum Militärdienst und weil er aufgrund seiner Beteiligung an regimekritischen Demonstrationen von der Polizei gesucht wurde, musste er Ende 2012 das Land verlassen. Er floh zuerst in die Türkei und dann nach Zypern, wo er 2015 sein Studium beendete. Danach kehrte er in die Türkei zurück. Aufgrund fehlender Lebensgrundlagen und Perspektiven entschloss er sich jedoch noch im selben Jahr zur Flucht nach Österreich, wo er nun versucht, ein neues Leben aufzubauen. Alian, Mohammed kommt aus Syrien und studierte dort Rechnungswesen. Er floh 2015 gemeinsam mit seinem Bruder Ahmad Alian und seinem Onkel nach Europa. Er versucht nun in Wien, einen Laden zu eröffnen. Amir, Ibrahim geboren in Aleppo (Syrien), studierte Theater- und Medienwissenschaft. Aufgrund des Abhaltens einer Schweigeminute für kurdische Kriegsopfer wurde ihm die Fortsetzung seines Studiums verboten. Er kam 2002 nach Wien und beendete hier sein Medizinstudium. 2009 erhielt er den ExilLiteraturpreis „schreiben zwischen den kulturen“ für die Kurzgeschichte In jener Nacht schlief sie tief. Im Rahmen der Wiener Wortstätten verfasste er das Stück Habe die Ehre, dessen Aufführung mit dem Nestroy-Kulturpreis in der Kategorie „Beste Off-Produktion“ ausgezeichnet wurde. Andras, Josepha, Halbchilenin, ist in Wien geboren und hat sich nach einer dreijährigen Schauspielausbildung dazu entschlossen Theater- Film und Medienwissenschaft an der Universität Wien zu studieren. Momentan engagiert sie sich für mehrere Projekte, die Geflüchteten helfen sollen, sich in Wien besser einzuleben. Weiteres verfolgt sie noch immer den Weg des Schauspielens und wirkt in mehreren Theaterstücken mit.

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Assmann, Natalie Ananda ist Kunst- und Kulturschaffende in Wien und arbeitet als Schauspielerin sowie als Regisseurin im In- und Ausland. 2014 gründete sie das Kollektiv I Need Lovers, 2015/2016 übernahm sie Regiearbeiten für freie Produktionen und Projektarbeiten im Rahmen des Festivals Wienwoche. Sie ist Gründungsmitglied des Künstler_innen Kollektivs Die schweigende Mehrheit sagt JA!, Mitorganisatorin bei der Fluchthilfeaktion Refugee Konvoi, Mitglied bei der Hilfsorganisation Help KobanÞ und Mitinitiatorin der Kampagne #WELCOMEoida/NewHere? Auer, Sarah lebt derzeit in Wien, wo sie Deutsche Philologie, English and American Studies sowie Theater, Film und Medienwissenschaften studiert. Trotz breit gefächerter Interessen fokussiert sie sich dabei auf die Neuere deutsche Literatur vornehmlich des 17. bis 19. Jahrhunderts. Ihr Bezug zum Thema Flucht entstand und besteht vor allem durch das Abhalten von Deutschstunden für schutzsuchende Kinder sowie die aus diesen Begegnungen erwachsenen Freund wie Bekanntschaften. Berger, Mirjam hat im Rahmen ihres Theater- und Tanzwissenschaftsstudiums das SS2016 an der Universität Wien verbracht. Die Schweizer Erasmusstudierende interessiert sich besonders für die nationalen Unterschiede u. a. auch im Umgang mit Geflüchteten im öffentlichen sowie im theatralen Raum. Besenius, Corinne ist in Luxemburg geboren und hat in Deutschland ein Studium als Mediendesignerin absolviert. Sie entschied sich, nachdem sie als Produktionsassistenz an verschiedenen Performance- und Filmprojekten teilnahm, für ihr zweites Studium in Theater-, Film- und Medienwissenschaft nach Wien zu ziehen, welches sie im Sommer 2016 abschloss. Sie interessiert sich für Kulturpolitik, vor allem für den Bereich der Transkulturalität. Bratic´, Ljubomir ist Philosoph, Aktivist und freier Publizist mit Fokus auf Politik der Gleichheit, Migrationsgeschichte, Diversitätspolitik, politischen Antirassismus und Aktivismus, Widerstandstrategien, Politik und Kunst. Er war Mitglied des Ausstellungsteams „Gastarbajteri. 40 Jahre Arbeitsmigration“ der Initiative Minderheiten im Wien Museum 2004, gemeinsam mit Arif AkkılıÅ Organisator der Kampagne „Für ein Archiv der Migration, jetzt!“ im Rahmen der Wienwoche 2012 sowie Initiator und Mitglied im Arbeitskreis Archiv der Migration. Bauer, Gerald M. Studium der Philosophie, Theater- und Musikwissenschaft an der Universität Wien sowie der FU Berlin. Seit 1990 Arbeit als Dramaturg (Wiener Volkstheater, Schauspielhaus Wien, Wiener Festwochen, Festival stei-

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rischer herbst). Chefdramaturg am Schlossparktheater Berlin. Seit 2002 stellvertretender künstlerischer Leiter und Chefdramaturg des Theaters der Jugend Wien. Lehraufträge an der Universität Wien und am Mozarteum Salzburg. 2011 Gastprofessur für Regie am Max-Reinhardt Seminar Wien. Charton, Anke studierte Theaterwissenschaft an den Universitäten in Leipzig/ Deutschland, Bologna/Italien sowie Berkeley/U.S.A. und promovierte zu Geschlechterrollen in der Oper („prima donna, primo uomo, musico. Körper und Stimme: Geschlechterbilder in der Oper“, Leipzig 2012). Derzeit ist sie als Universitätsassistentin am tfm mit den Forschungs- und Publikationsschwerpunkten in Musiktheater/Gesangsgeschichte, Gender Studies, Theatergeschichte der Frühneuzeit, Theater/Anthropologie tätig. Danielczyk, Julia, Literatur- und Theaterwissenschaftlerin, geboren 1972 in Wels. Bis 2013 stellvertredene Leiterin der Handschriftensammlung der Wienbibliothek im Rathaus, Literaturreferentin der Stadt Wien, Lehrbeauftragte an den Universitäten Wien, Bern und Mainz, Theaterkritikerin bei den Salzburger Nachrichten und der Furche. Zahlreiche Publikationen zur österreichischen Literatur und zum Theater. Danner, Katharina, BA studiert Theater-, Film- und Medienwissenschaft und Bildungswissenschaft an der Universität Wien und versucht sich dort in kritischer Wissensaneignung und -produktion mit den Schwerpunkten Bildungsund Kulturpolitik, Bildungstheorie und unterschiedlichen Formen der Diskriminierung auseinanderzusetzen. Lohnarbeitend ist sie im sozial- und freizeitpädagogischen Bereich tätig. Damblon, Nadine geboren in Düsseldorf, lebt in Wien und absolviert das Studium der Theater-, Film und Medienwissenschaft. Durch Tätigkeiten im Bereich der bildenden Kunst konnte das Interesse für Performance-Kunst und Performativität vertieft werden, aktuell liegt der Fokus auf theatralen Protestformen. Durch die Teilnahme am Wohnprojekt „Flüchtlinge Willkommen“ bereichernde Freundschaften mit Geflüchteten aufgebaut. Defrancesco, Julia studiert derzeit im Master Theater-, Film- und Medientheorie und steht kurz vor dem Abschluss des Bakk. Publizistik- und Kommunikationswissenschaft. Neben dem Studium beteiligte sie sich mehrmals an ErsthilfeFlüchtlings-Projekten am Wiener Hauptbahnhof und in Traiskirchen. Dimitrova, Petja ist Künstlerin aus Sofia/Bulgarien, lebt seit 1993 in Wien. Ihre künstlerischen Arbeiten mit den Schwerpunkten Migration, soziale Bewegun-

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gen und Antirassismus bewegen sich im Bereich bildender Kunst sowie politischer und partizipativer Kulturarbeit. Sie lehrt an der Akademie der bildenden Künste Wien, ist Mitglied des Netzwerks für kritische Migration- und Grenzregimeforschung, u. a Mitherausgeberin von Migrationsskizzen, war Co-Leiterin des Festivals Wienwoche und Mitorganisatorin von „1. März – transnationaler MigrantInnenstreik Österreich“. Dobner, Nicholas wurde in Princeton geboren und wuchs in der Nähe von Regensburg und anschließend in Hamburg auf. Nach einem Auslandsaufenthalt begann er ein Studium der Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien. Schon davor befasste er sich mit Politisierungsprozessen und anschließend vermehrt auch mit der Fluchtthematik. Ein physisches, eigenes Bild machte er sich beim Votivkirchenprotest, worüber er in der vorliegenden Publikation schreibt. Doppelreiter, Jutta schloss neben dem Bachelorstudium Theater-, Film- und Medienwissenschaft, auch das Masterstudium der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft ab. Nebenbei studierte sie einige Semester Spanisch. Außerdem engagiert sie sich ehrenamtlich bei der Studierendenvertretung IG Publizistik und war mehrere Semester als Fachtutorin tätig. Engler Alonso, Sandra hat ursprünglich wegen ihrer Liebe zu Film und Medien ihr Studium der Theater-, Film- und Medienwissenschaft begonnen. Im Laufe der letzten Jahre hat sie auch ihre Vorliebe zum Theater entdeckt – durch die Uni und durch die Arbeit als Regieassistentin an einer Theatergruppe. Sie ist in Madrid aufgewachsen. Enzelberger, Genia Dramaturgin und Theaterwissenschaftlerin. Studium der Theaterwissenschaft an der Universität Wien. Dissertation: „Das ,Choreographische Theater‘ von Johann Kresnik als ,Theater der Szenographie‘“. Regieassistenzen bei Johann Kresnik und Martin Kusˇej. Lehraufträge an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart bei Martin Zehetgruber, am tfm der Universität Wien und an der Akademie der Bildenden Künste Wien bei Erich Wonder und Anna Viebrock. Arbeitet als Dramaturgin für Sprech- und Tanztheater. Engagements u. a.: Burgtheater, Thalia Theater Hamburg, dietheater, Ensembletheater Wien, Drachengasse, Hamburg Kampnagel, Bregenzer Festspiele, Oper Graz, WUK. Seit 2013 ist sie Kuratorin für Theater, Tanz und Performance im Auftrag der Kulturabteilung der Stadt Wien. Falk, Jasmin, wuchs als Tochter Russlanddeutscher Aussiedler in der Nähe von Frankfurt auf und verbrachte ihr 16. Lebensjahr in Brasilien. Ihr Bachelorstu-

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dium der Kultur-, Musik- und Medienwissenschaft verschlug sie in die deutsche Hauptstadt, wo sie Projekte zur Förderung des Dialogs zwischen Deutschland und Brasilien organisierte. Während ihres Masterstudiums der Theater-, Filmund Medientheorie an der Universität Wien war sie als Tutorin der Lehrveranstaltung, die diese Publikation erarbeitete, tätig. Felber, Silke studierte Theaterwissenschaft und Romanistik an den Universitäten Wien und Bologna. Derzeit arbeitet sie im Rahmen des Hertha-FirnbergProgramms (FWF) am tfm an ihrem Habilitationsprojekt „Dramaturgien des (Dis-)Kontinuitiven“. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Ästhetiken des deutschsprachigen und italienischen Theaters des 20. und 21. Jahrhunderts, Prä- und Postdramatische Dramaturgien, Theater und politische Theorie. Zuletzt von ihr erschienen Kapital Macht Geschlecht. Künstlerische Auseinandersetzungen mit Ökonomie und Gender (Hg., Praesens 2016). Fink, Sarah Itohan wurde 1995 in Gmunden geboren und wuchs in Wien im Kreise einer nigerianisch-österreichischen Familie auf. Schon früh stellten sich ihr Fragen nach multikultureller Identität, ethnischer Zugehörigkeit und der Bedeutung von Heimat. Im Zuge der Lehrveranstaltung „Flucht, Migration, Theater“ ergab sich die Möglichkeit, das sowohl heikle, als auch nach wie vor aktuelle Thema um die Herkunft eines Menschen aufzugreifen und ausführlicher zu diskutieren. God’s Entertainment ist das Kollektiv einer der vielen experimentell arbeitenden Theatergruppen in Österreich, das über (Theater-)Konventionen zu transzendieren versucht. GE arbeitet in den Bereichen Performance, Happening, Visual-Art und Sound. Die Gruppe versucht kontinuierlich die Form der Performance neu zu definieren. Ihre Arbeit steht in Konfrontation mit der politischen und kulturellen Identität Österreichs. Gürses, Hakan, Dr. ist in Istanbul geboren, studierte in Wien Philosophie sowie Theaterwissenschaft und ist der wissenschaftliche Leiter der Österreichischen Gesellschaft für Politische Bildung (ÖGPB). 1997–2011 war er über Lehraufträge und eine Gastprofessur am Institut für Philosophie, am Institut für Internationale Entwicklung der Universität Wien und an der Donau-Universität Krems tätig. 1993–2008 war er Chefredakteur der Zeitschrift Stimme von und für Minderheiten. Halilbasˇic´, Senad arbeitet seit 2014 im Rahmen des uni:docs-Programms am tfm an seiner Dissertation zum Theater während des Bosnienkriegs. 2016 forscht er, finanziert durch ein Marietta-Blau-Stipendium, in Bosnien vor Ort.

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Zu seinen Publikationen zählt die Anthologie Bibliothek Sarajevo. Literarische Vermessung einer Stadt, für die er 2013 den Ehrenpreis der Sarajevoer Buchmesse erhielt. Weiters ist er als freier Drehbuchautor und Dramaturg tätig. Hartmann, Moritz überschritt im Rahmen seines deutsch-französischen Studiums der Medien- und Kommunikationswissenschaft in Weimar und Lyon mehrmals den Rhein. Für das Studium der Theater-, Film- und Medientheorie zog er nach Wien. Inter- und Transkulturalität sowie Migration und Flucht waren Themen, die ihn immer wieder im wissenschaftlichen, aber auch außeruniversitären Kontext begleitet haben. Herowitsch, Pascal stammt aus dem Burgenland, mit Beginn seines Studiums verlegte er seinen Lebensmittelpunkt nach Wien. Zu der Wahl seines Themas hat ihn einerseits die zurzeit vorherrschende Lage vieler schutzsuchender Menschen veranlasst und andererseits auch die Erforschung neuer medialer Erscheinungen und deren Wirkung. Diese Umstände dienten ihm als Motivationsgrundlage für das folgende Schriftstück und gaben ihm die Chance, seine Interessen voll und ganz einfließen zu lassen. Hoffmann, Eva studierte Medienkulturwissenschaft und Kulturanthropologie (BA) in Freiburg – mit Schwerpunkt Medienästhetik, Theorien der Wahrnehmung, postkoloniale Theorie sowie visuelle Anthropologie. Im Wiener Master Theater-, Film- und Medientheorie spezialisiert sie sich auf mediale Dispositive der Kontrolle, Überwachung und widerständige Medienpraxen. Hödl, Thomas, BA absolvierte das Bachelorstudium der Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien und schreibt derzeit seine Masterarbeit für das Studium der Theater-, Film- und Mediengeschichte. Er interessiert sich unter anderem für die künstlerische Verarbeitung und Diskussion von tagespolitischen Themen im Theater, im Besonderen für die Parallelen, die zwischen Stücken vergangener Epochen und gegenwärtigen Problematiken gezogen werden können. Höschel, Martha geboren in Berlin, nach musikalischer Ausbildung und Abitur an einem musikbetonten Gymnasium in Berlin seit 2014 Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaft in Wien. Schwerpunkte und Interessen: Avantgarde und Moderne, Ästhetik und Kulturphilosophie, Philosophie, Theater, Kulturwissenschaft, Theater-, Film- und Medienwissenschaft, künstlerische Forschung, Bildende Kunst, zeitgenössische Malerei und Film, Musikwissenschaft, Ausstellungen. Derzeit Regieassistentin im Max Reinhardt Seminar/mdw

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für „Die Braut oder moderne Frauen“, eine Koproduktion mit isa, Joseph Haydn Institut für Kammermusik und Spezialensembles. Holland-Merten, Esther studierte Theaterwissenschaft, Kulturwissenschaft und Französisch in Leipzig, Berlin und Paris. Sie arbeitete für Performance-Festivals am Podewil Berlin, auf Kampnagel Hamburg und an der Acad8mie Exp8rimentale des Th8.tres in Paris und zeichnete für zahlreiche nationale und internationale Theaterfestivals als Kuratorin und Koordinatorin verantwortlich. Stationen ihrer Arbeit als Dramaturgin von 2004 bis 2016 waren das Theater Magdeburg, das Schauspiel Chemnitz und zuletzt das Schauspiel Leipzig, wo sie sowohl das Programm für Gegenwartsdramatik gestaltete als auch als künstlerische Leiterin ein Artists-In-Residence-Programm für performative Künstler_innen neu installierte. Sie hat ein Kind und lebt in Wien. Horn, Peter R. studierte „Interkulturelle Kompetenzen“ an der Donauuniversität Krems und arbeitet derzeit als Erwachsenenbildner in Wien. Seit 2011 produziert er umfangreiche Video- und Fotodokumentationen zu politischem Aktivismus und politischer Bildung. Karl, Matthias entwickelte früh eine Begeisterung für Musik, wodurch der Übertritt nach der Volksschule auf das Musikgymnasium der Regensburger Domspatzen nahe lag. Nach dem Abitur 2012 und einer halbjährlichen Erholungs- und Selbstfindungspause im australischen Outback stellte er sich ab dem Wintersemester 2013 den Herausforderungen des Studiums der Theater, Film und Medienwissenschaft in Wien, welches er im Sommer 2016 mit dem Bachelor of Arts abschloss. Der weitere Werdegang liegt noch in der Zukunft, weshalb keine näheren Angaben dazu gemacht werden können. Kielhorn, Gabriela wuchs in einer kurdisch-deutschen Familie in der Nähe von Hamburg auf. Seit 2014 ist sie bei der antirassistischen Initiative #SchauHin tätig und und forscht im Masterstudiengang Theater-, Film- und Medientheorie in Wien zu sozialer Ungleichheit und Repräsentation im Film. Kim, Youngmi, Jahrgang 1983, wurde in Seoul geboren und studierte nach der AHS-Matura Vergleichende Literaturwissenschaft und Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Uni Wien. Sie absolvierte auch den Master-Lehrgang ,European Studies‘ im Postgraduate Centre der Uni Wien. Zurzeit schreibt sie an ihrer Masterarbeit über Literaturverfilmungen am tfm. Kirchner, Armin lebt und studiert seit seinem 19. Lebensjahr in Wien. In der ersten Hälfte seines Studiums setzte er den Schwerpunkt auf das Schaffen Bert

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Brechts, besonders auch mit dessen Verarbeitung des Lebens im Exil. Im Masterstudium hat er sich auf die jüngeren Jahre der österreichischen Filmgeschichte konzentriert, die sich im erhöhten Maße mit Migration beschäftigt. Kıs¸lal, Aslı geboren in Ankara, lebt seit 1990 in Wien. Sie ist als Schauspielerin, Regisseurin, Theaterleiterin, -gründerin und Lehrende tätig, studierte Soziologie an der Universität Wien und Schauspiel am Schubert Konservatorium. Nach einem langjährigen Engagement am Theaterhaus in Stuttgart gründete sie 2004 in Wien daskunst und war u. a. 2011–2012 Initiatorin und Kuratorin der Projektreihe „Pimp My Integration“. Derzeit engagiert sie sich als Gründerin und künstlerische Leiterin für diverCITYLAB. Klös, Julia Maria geboren 1993 in Bremen, studierte von 2012 bis 2015 Germanistische Literaturwissenschaft, Linguistik und Geschichte an der JustusLiebig-Universität Gießen. Dort arbeitete sie von 2013 bis 2015 als studentische Hilfskraft in der Professur für Neuere deutsche Literatur und Kulturwissenschaft. Seit 2015 studiert sie Theaterwissenschaft im Masterstudiengang an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Krafka, Elke Kindheit in Kairo. Abitur in Nürtingen, Deutschland. Studium der Theaterwissenschaft, Kunstgeschichte und Philosophie in Wien. 1988 Promotion zum Doktor der Philosophie. 2007–10 Studium der arabischen Sprache in Damaskus. Spezialisierung: Figuren- und Objekttheater, arabische Sprache und interkulturelles Theater. Kundrat, Anja, BA Theater-, Film- und Medienwissenschaft setzt ihren Studienfokus auf die Medienwissenschaft und damit einhergehende ästhetische Gestaltungs- und Produktionsweisen von Bildinhalten. Sie ist neben dem Studium als Fotografin tätig und begleitete die Aufführung Die Schutzbefohlenen performen Jelineks Schutzbefohlene im Audimax der Universität Wien. Lehner, Katharina, BA BA studierte Theater-, Film- und Medienwissenschaft, Vergleichende Literaturwissenschaft sowie Soziologie und Anthropologie mit Schwerpunkt Migration und interethnische Beziehungen in Wien, Paris und Sydney. Ein weiterer kulturwissenschaftlicher Fokus mit europäischer Ausrichtung ergab sich durch einige Studiensemester im interuniversitären Projekt Dutch Language, Literature and Culture in a Central European Context an der Universität Wien. Ihre Masterarbeit behandelt Gesellschaft und Zivilgesellschaft im Kontext der Asyl- und Transitfluchtthematik 2015/16 in Österreich. Sie interessiert sich für aktuelle gesellschaftspolitische Themen am Schnittpunkt von Theater, Medien und Gesellschaft.

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Marcher, Melina ist Absolventin der Transkulturellen Kommunikation und Studentin der Theater-, Film- und Medienwissenschaft. Seit Sommer 2015 engagiert sie sich intensiv im Verein Deutsch ohne Grenzen, der offene Deutschkurse und Freizeitgestaltung mit Geflüchteten organisiert und durchführt. Sie interessiert sich für gesellschaftliche Phänomene und den aktiven, performativen Umgang mit selbigen. Messinger, Irene, Dr.in, ist Politikwissenschaftlerin und im Bereich Migrationsund Exilforschung tätig. Ihre mehrfach ausgezeichnete Dissertation „Verdacht auf Scheinehe“ behandelte das Thema Scheinehe im aktuellen Fremdenrecht. Seit 2014 führt sie das Forschungsprojekt „Scheinehen in der NS-Zeit“ durch. Sie lehrt an der Universität Wien und der Fachhochschule für Sozialarbeit zu den Themen Flucht und Migration, Migrationspolitik und -forschung sowie Sozialstaat und soziale Ungleichheit. Mhanna, Johnny ist 25 Jahre alt und kommt aus Damaskus, Syrien. Er ist ausgebildeter Schauspieler und hat in Syrien, Libanon und Österreich bereits an Theater- und Filmprojekten teilgenommen. Im Dezember 2012 entschloss er sich aus seiner Heimat zu fliehen um dem Militärdienst zu entkommen. Er lebte zunächst in Libanon, wo er 2 Jahre lang arbeitete und als Schauspieler tätig war. Als es für ihn jedoch keine Möglichkeit mehr gab, sein Leben dort weiter aufzubauen, floh er über die Türkei nach Griechenland und weiter nach Europa, mit dem Ziel zu seinem Onkel nach Wien zu kommen. Mithilfe der „schweigenden Mehrheit“ konnte er innerhalb von ein paar Monaten in Österreich Fuß fassen und verfolgt nun hier seine Schauspielkarriere weiter. Müller, Gin, Dr. ist Dramaturg, Theater/Queertheoretiker_in, Performer_in und Ar/ctivist, ist als Lektor_in an der Universität Wien und der Universität für Musik und Darstellende Künste Wien tätig. Zu den Theater/Performancearbeiten und Initiativen in Wien und Mexiko zählen u. a.: Volxtheaterkarawane 2001–2004, Performanceband SV Damenkraft 2004–08, Melodrom 2012/13, Rebelodrom – NoborderZone 2013, Trans Gender Moves 2014/15; war im Refugee Protest Vienna 2012–2013 aktiv und ist seit 2014 bei Queer Base, dem LGBTIQ-Welcome and Support Project der Rosa Lila Villa engagiert. Opak, Azelia Gülüm wurde 1993 in Wien geboren. Im Frühjahr 2016 schloss sie ihr Studium Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien ab. Sie ist als Regie- und Produktionsassistenz in unterschiedlichen Theaterprojekten tätig, darunter auch InBetween, einer Produktion des COCON Theatervereins in Kooperation mit WerkX und doycleneder : almanci, einer Koproduktion von daskunst mit diverCITYLAB und ebenfalls WerkX. Beide Insze-

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nierungen vertreten postmigrantische Positionen. Als Schriftstellerin und Kritikerin arbeitete sie unter anderem für Online-Zeitschriften und wirkte bei dem Buchprojekt In den Augen der Anderen. Interviews und diverse Migrationsgeschichten aus Wien mit. Peter, Birgit studierte Theaterwissenschaft und Philosophie an der Universität Wien, Dissertation und Habilitation zu Zirkusgeschichte. Leitung des Archivs und der Sammlungen am tfm. Lehraufträge an den Universitäten Wien, Leipzig und Bern. Forschungsschwerpunkte und Publikationen: Zirkus, Fachgeschichte, verdrängte Theatergeschichte, Antisemitismus. Vizepräsidentin der Gesellschaft für Theaterwissenschaft, mit Aufgabengebiet Nachwuchsförderung. Pfeiffer, Gabriele C. studierte Theaterwissenschaft und Philosophie in Wien und Pisa, arbeitete als wissenschaftliche Mitarbeiterin sowie Projektleiterin bei universitären und außeruniversitären Forschungsinstituten sowie in der Lehre an den Universitäten Catania/Ragusa, Bern, Leipzig, Mainz und Wien. Derzeit hat sie eine Elise Richter Stelle (FWF) am tfm mit dem Forschungsprojekt „(Re)Präsentation theatraler Konzepte des Daseins“ inne. Sie forscht und lehrt vornehmlich zu europäischer Schauspielgeschichte und -theorie des 20. Jahrhunderts sowie zur Theateranthropologie. Pioch, Imke S. wuchs in Hannover auf, zog nach dem Abitur nach London, später für das Studium nach Wien und Dublin. Aus der persönlichen Erfahrung und dem Kontakt mit Asylwerber_innen in ehrenamtlichen Deutschkursen, hat sich ein wissenschaftliches Interesse für Migration in allen drei Studienrichtungen (Europäische Ethnologie, Deutsche Philologie, Theater-, Film- und Medienwissenschaft) entwickelt. Pusnik, Markus Dipl.-Päd. BEd. BA, geb. 1974, verheiratet mit seinem Mann. Aktuell Studium der Theater-, Film- und Medientheorie an der Universität Wien, beruflich als Sonderpädagoge für den Stadtschulrat für Wien tätig, in diesem Kontext betont mit Flucht und Migration konfrontiert. Außerdem Schwerpunkte im Themenspektrum Bildung, Pädagogik und LGBTIQ und in diesem Sinne auch mit diversitäts- und kulturtheoretischen Fragestellungen beschäftigt. Rabinowich Julya, 1970 in St. Petersburg geboren, lebt seit 1977 in Wien. Sie ist bildende Künstlerin, Autorin, Simultandolmetscherin, Kolumnistin in der österreichischen Tageszeitung Der Standard. Für ihren Debütroman Spaltkopf (2008) erhielt sie u. a. den Rauriser Literaturpreis (2009), das Buch wurde in mehrere Sprachen übersetzt. 2011 nahm Rabinowich am Ingeborg-Bachmann-

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Wettbewerb teil. Ihre Theaterstücke wurden an mehreren Bühnen aufgeführt (u. a. Volkstheater, Schauspielhaus Wien). Bei Deuticke erschienen außerdem Herznovelle (2011, nominiert für den Prix du Livre Europ8en) und die Romane Die Erdfresserin (2012) und Krötenliebe (2016). Rinke, Romy Pauline wuchs in Norddeutschland auf und verbrachte lange Zeit im Ausland. Aus einem tänzerischen Hintergrund kommend, entschied sie sich 2014 für ein Studium der Theater-, Film- und Medienwissenschaft und beschäftigt sich nebenbei mit Produktionen künstlerischer Natur und als Köchin. Ihr Interesse für Politik und Kunst wird in dem hier publizierten Essay besonders deutlich. Roessler, Peter ist Professor für Dramaturgie an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, Max Reinhardt Seminar. Arbeiten zu Dramaturgie, Theater, Literatur. Zuletzt Beiträge u. a. zu Angelika Hurwicz, Hans Weigel, Fritz Hochwälder, Dramatische Geschichtsbilder, Volkstheater. (Mit-)Herausgeber der Essays Berthold Viertels und der Texte von Achim Benning sowie von Büchern über Berthold Viertel, Exiltheater, Theater und Geschichte, Wiener Theater nach 1945, Rezeption des Exils, Geschichte des Max Reinhardt Seminars, Subjekt des Erinnerns. Schneider, Barbara studiert neben dem Masterstudium Theater-, Film- und Mediengeschichte auch Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Auf der Suche nach einer angemessenen wissenschaftlich-theoretischen Auseinandersetzung mit den Themen Flucht und Migration, hat sie begonnen sich eingehender mit Grenzüberschreitungen in Theater und Film zu beschäftigen. Schiener, Marius wurde 1972 in Wien geboren und wuchs an der Grenze zur DDR auf. Er studierte Schauspiel und war u. a. in Linz, Bregenz und Innsbruck engagiert. Mittlerweile inszeniert er fast ausschließlich. Dabei interessiert ihn kultureller Dialog in Kooperationen (seit 2006 TheaterHerbst Grenzenlos). Er schrieb Kolumnen und eigene Theaterstücke („Lili Marleen“) und singt bei „dahirsch“. Schimanski de Lima, Stefanie hat sich durch ihre Kindheit in einer deutschbrasilianischen Familie schon früh mit multikulturellen Identitäten auseinandergesetzt. Dieses Interesse zieht sich weiter durch ihr Leben fort, auch in der Forschung für das Studium der Theater-, Film- und Medienwissenschaft in Wien.

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Stadlober, Maria ist neben ihrem Studium immer an der Schnittstelle zwischen Kunst und Politik interessiert. Sie war unter anderem als Flüchtlingshelferin in ganz Europa unterwegs, hat darüber geschrieben und arbeitet momentan für eine Flüchtlingsorganisation in Wien. Steiner, Christian hat Theater-, Film- und Medienwissenschaft studiert und spezialisierte sich dabei auf die Intersektionen von Medien, Politik und feministischer Theorie. Die Aufgabe der Theater-, Film- und Medienwissenschaft liegt für ihn in der kritischen interdisziplinären Verhandlung medialer und gesellschaftspolitischer Sachverhalte. Stosch, Milena von kam 2012 für den Beginn ihres Bachelorstudiums in Wien von Deutschland nach Österreich. Auch sonst geht sie zwecks kleinerer und größerer Reisen und Auslandsaufenthalte gerne über Grenzen. Sie interessiert sich für künstlerische Adaptionen aktueller Thematiken und transkulturelle Möglichkeiten der Gesellschaft. Voss, Hanna MA studierte Theaterwissenschaft und AVL sowie Wirtschaftswissenschaften an der JGU Mainz und ist dort seit 2012 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Film-, Theater- und empirische Kulturwissenschaft. Derzeit arbeitet und promoviert sie im Rahmen der DFG-FOR 1939 „Un/ doing Differences“ zu Ethnizität in der Institution des deutschen Sprechtheaters. Eine erste Monographie zu Reflexion von ethnischer Identität(szuweisung) im deutschen Gegenwartstheater ist 2014 erschienen. Wingert, Fabian geboren und aufgewachsen im Stuttgarter Umland. Nach dem Studium der Internationalen Volkswirtschaftslehre in Tübingen erfolgte der Umzug nach Wien, um das Studium der Theater-, Film- und Medienwissenschaft aufzunehmen. Unterschiedlichste Tätigkeiten im Theaterumfeld, dem Bankensektor, der Erwachsenenbildung und der Marketingberatung hatten einen gemeinsamen Nenner, nämlich die Leidenschaft für Kunst und Kultur. Dazu gehört unbedingt die Faszination für die wissenschaftlich-theoretische Auseinandersetzung mit den „Bruchstellen“ zwischen den einzelnen Fachbereichen (z. B. die mediale Konservierung/Vermittlung von Performance-Kunst). Zapata, Antonio aus Kolumbien, wohnt seit 30 Jahren in Wien und arbeitet im Österreichischen Lateinamerika-Institut. Malen, schreiben, schauspielen, protestieren, unterrichten und tanzen sind seine Hauptbeschäftigungen: oft gleichzeitig.